Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise: Beschäftigungszusagen im Günstigkeitsvergleich und außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages [1 ed.] 9783428503520, 9783428103522

Immer lauter werden die Rufe nach einer Reform des Tarifrechts. Ob nicht bereits das geltende Tarifrecht flexibel genug

119 103 25MB

German Pages 265 Year 2001

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Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise: Beschäftigungszusagen im Günstigkeitsvergleich und außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages [1 ed.]
 9783428503520, 9783428103522

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DIRK FREIHUBE

Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht

Band 191

Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise Beschäftigungszusagen im Günstigkeitsvergleich und außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Von

Dirk Freihube

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Freihube, Dirk: Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise ; Beschäftigungszusagen im Günstigkeitsvergleich und außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages I Dirk Freihube. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 191) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10352-1

D 188 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Gennany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-10352-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 2000 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Sie entstand während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtstheorie, Arbeits- und Zivilrecht von Prof. Dr. Klaus Adomeit. Unsere Zusammenarbeit, die für mich in vielerlei Hinsicht lehrreich und förderlich war, wird mir unvergessen bleiben. Zu großem Dank bin ich auch Prof. Dr. Jochern Schmitt für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens verpflichtet. Meinen Eltern und meinen Brüdern danke ich für ihre stetige Unterstützung. Die Arbeit widme ich meinen Großmüttern Erna Ackva und Marta Freihube. Berlin, den 08.02.2001

Dirk Freihube

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung in der Sozial- und Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I.

Schuldrechtlicher Teil des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II.

Normativer Teil des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

III. Funktionen des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

IV. Die Anwendbarkeit von tariflichen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Die Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 V.

Ausnahmen von der Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Günstigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

B. Betriebsnahe Regelungen durch einzelvertragliche Abweichungen vom Tarifvertrag im Wege der Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips . . . . . . 27 I.

Begriff/Sinn und Zweck des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

II.

Die Geschichte des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tarifvertragsordnung von 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Günstigkeitsprinzip im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Günstigkeitsprinzip nach dem zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . .

29 29 29 30

III. Der Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung beim schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages . . . . . . . . 2. Anwendung auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen .................................................... . a) Betriebliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Betriebsverfassungsrechtliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendbarkeit auf Inhaltsnormen, insbesondere Arbeitszeitbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 32

IV. Grundlagen des Günstigkeitsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beurteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergleichsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der isolierte Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Gesamtvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 42 45 45 46

35 35 37 37

8

Inhaltsverzeichnis c) Der Gruppenvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 aa) Objektiv innerer Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 bb) Subjektiv innerer Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 V. Zulässigkeit des Vergleichs unsicherer/sicherer Arbeitsplatz . . . . . . . . . . 51 1. Meinungen in der Literatur .. .. . . .. . . . . . . . . .. . .. . . .. . . .. . . . . .. . 52 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 VI. Die Auslegung des § 4 III TVG und der Schutz des Arbeitsplatzes durch Verfassung und arbeitsrechtliche Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung des Wortlautes . . .. .. . .. . . . . . . .. . .. .. . . .. . . . . .. . .. . . 2. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Relevante Verfassungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtseingriff durch§ 4 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Voraussetzungen für Eingriff in Art. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Uneingeschränkte Anwendbarkeit der Vorgaben des BVerfG . . . aa) Unmittelbare Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mittelbare Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konsequenzen für die Prüfung der verfassungsmäßigen Vereinbarkeit eines Eingriffs in Art. 12 GG durch § 4 TVG i. V. m. tarifvertragliehen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) § 4 TVG als Ausdruck praktischer Konkordanz von Verfassungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Legitimer Zweck/Geeignetheit/Erforderlichkeit . . . . . . . . . . bb) Verhältnismäßigkeit i. e. S./ Angemessenheitsprüfung/praktische Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (I) Abstraktes Werteverhältnis des Art. 12 GG zu Art. 9 Ill GG .. .. .... . ................................. (2) Funktionszusammenhang zwischen Art. 9 III GG und Art. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konkrete Abwägung/ Ausgleich der beiden Grundrechtspositionen im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Schutz der Tarifautonomie .. .. .. . .. . . .. . . . . .. . . (b) Gesundheitspolitische Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Beschäftigungspolitische Motive . . . . . . . . . . . . . . . . t) Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wandel der Normsituation als Auslegungskriterium . . . . . . . . . . . . . . a) Änderung hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers .. .. ....... . ................................ . ........ aa) Wandel hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . bb) Der freie Beitritt zum "Beschäftigungspakt" als ausreichender Schutz vor dem ,,Diktat" von Arbeitsbedingungen . . . . .

57 61 64 64 65 66 68 69 70 71 71

72 78 78 79 80 81 83 89 94 96 97 99 99 99 108

Inhaltsverzeichnis

9

b) Wandel der wirtschaftlichen Situation in Deutschland 113 6. Das Streben nach einer gerechten und sachgemäßen Fallentscheidung als Auslegungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ll9 VII. Ergebnis zu B. . .................. . .............. . ... . . .. ...... 121 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf § 77 111 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 I.

Anwendung des Günstigkeitsprinzips auch im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung ................................... 124

II.

Bewertung/keine Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung ........................ I. Analoge Anwendung des § 4 III TVG .................... .. .... 2. Günstigkeitsprinzip als allgemeines Rechtsprinzip des Arbeitsrechts a) Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis der Betriebsvereinbarung zur Einzelabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der kollektive Günstigkeitsvergleich des Großen Senats ... bb) Unzulässige Umfunktionierung des Günstigkeitsprinzips mittels des kollektiven Günstigkeitsvergleichs . . . . . . . . . . . .

126 127 129 129 131 132 133

III. Umdeutung einer unwirksamen .,beschäftigungssichernden" Betriebsvereinbarung gern. § 140 BGB ..................... . ............. 135 I. Umdeutung der nichtigen Betriebsvereinbarung in entsprechende Angebote bzw. Annahmen hinsichtlich eines Einzelarbeitsvertrages . 136 2. Umdeutung der nichtigen Betriebsvereinbarung in eine Regelungsabrede ........... .. ................................... . . . ... 138 IV. Ergebnis zu C. . ..... .. ........................... .. .... .. ...... 141 D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise ... . .... . . . ........... . ... . .......... ... .. .. ....... 142 I.

Zulässigkeit der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen .... 142

II.

Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung durch den Verband analog zu§ 626 BGB ............ . .... . . . . .. ...... .... .. ... .... . I. Wichtiger Grund ..... . ... . . . .. .. ..... ... .... . .. . ..... . . .. . .. . a) Schwere Pflichtverletzung/ Anfechtungberechtigung wegen Täuschung, Drohung oder Irrtums .. ... . . .. ... . .... . .... . . .. .... b) Wirtschaftliche Veränderungen als wichtiger Grund . . . . . . . . . . . 2. Unzumutbarkeit ..... ... ............. .... .................... . a) Begriff der Unzurnutbarkeit .......... .. ............ .... . ... b) Leitlinien für die richterliche Unzumutbarkeitsbewertung . . . .. . aa) Vorhersehbarkeit der nachteiligen Veränderung ... .... . .. . bb) Verursachung der nachteiligen Entwicklung .. .. . .... .. .. .

145 145 145 148 153 153 156 156 158

10

Inhaltsverzeichnis cc) Verfassungsvorgaben der Art. 12, 14 GG ............ ... . (1) Schutzbereich der Art. 12, 14 GG im Hinblick auf Arbeitgebergrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Eingriff in Arbeitgebergrundrechte aus Art. 12, 14 GG durch Tarifvertragsabschluß .................... ... . (3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs/ Bedeutung für die Unzumutbarkeitsprüfung .... . ... .. (a) Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 12 GG....... (b) Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 14 GG .. . . .. c) Quantitative Unzumutbarkeit/Wieviele Unternehmen müssen von der Unzumutbarkeit des Tarifvertrages betroffen sein? . ... . III.

Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefahrdeten Unternehmens . . . 1. Eigenes Recht zur fristlosen Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abhilfe durch individualvertragliche Regelung der Arbeitsverhältnisse . . ..... . .................. . ..... . ... . ..... . ........ ..... 3. Feststellungsklage gern. § 256 ZPO mit Bindungswirkung analog § 9 TVG als flankierende Maßnahme zur Sicherung der einzelvertraglichen Abweichung vom Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aspekt der Rechtssicherheit ....... ... ..... . ........... . . ... b) Richtigkeitsgewähr des Feststellungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . .

158 160 161 162 163 164 168 175 175 177 179 182 183

IV.

Das Verhältnis von außerordentlicher Kündigung zu tarifvertragliehen Anpassungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

V.

Ultima ratio-Prinzip/Verhandlungspflicht/Teil- und Änderungskündigung . . . .............. . ....... . ...... . ......................... 186 1. Teilkündigung ..... . ................ . . .. ................ . .... 187 2. Änderungskündigung und Verhandlungspflicht ....... . ........... 192

VI.

Nachwirkung des Tarifvertrages analog§ 4 V TVG ................. 1. Analogievoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Planwidrige Regelungslücke . . .. ... . . . ............ . ......... b) Gleiche Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine unzulässige Beschränkung des Rechts zur außerordentlichen Kündigung ............. .. .......... ... .... .. ............. .. . a) Einzelvertragliche Abänderung .... . . . ......... . ......... . .. b) Änderungskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abschluß von Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abschluß eines neuen Verbands- bzw. Firmentarifvertrages . ..

195 197 197 197 201 202 202 203 204

VII. Überprüfbarkeit der behaupteten Existenzgefahrdungen/wirtschaftliche Notlage des Unternehmens - ein justitiahier Rechtsbegriff! . . . . . . . . . . 209 I. Anlehnung an die Bewertungskriterien der Deregulierungskomrnission hinsichtlich des "Notfalles" i. S. v. gesetzlichen Öffnungsklauseln . . .. . ..... ... ..... . ............. . . . ..... . .... . ........ .. . 210

Inhaltsverzeichnis

11

2. Anlehnung an die Bewertungskriterien zu § 112 V Nr. 3 BetrVG . 212 3. Anlehnung an die Bewertungskriterien zu§ 16 BetrAVG ....... . . 213 VIII. Darlegungspflicht bezüglich Existenzgefährdung und Unternehmensautonomie . .. . ...... . .... .. .... . . ... ................ . ......... 215 IX.

Gerichtliche Unzumutbarkeitsprüfung und Tarifautonomie .......... 217

X.

Form der außerordentlichen Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

XI.

Wegfall der Geschäftsgrundlage oder außerordentliche Kündigung? . . 220

E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . 227 I.

Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

II.

Streik/kollektives Zurückbehaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässiges Streikziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verletzung der Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollektives Zurückbehaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227 227 228 229 233

III. Einstweiliger Rechtsschutz der Arbeitgeber gegen Arbeitsniederlegungen ................ .... .............. .. . . ............... . ..... 237 I. Einwände gegen die Zulässigkeil der einstweiligen Verfügung im Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Kein besonderes Arbeitskampfverfügungsrecht/uneingeschränkte Anwendung der§§ 935 ff. ZPO . ...... .. .. . . ... . ....... . . . . . ... 240 IV. Ergebnis zu D. und E ... .... ....... . ..... .. . .. .......... ..... . ... 245 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Abkürzungsverzeichnis a.a.O. AcP a.F. AiB AOG AöR AP ArbG ArbGG Art. AuA AuR BAG BAGE BAT BB Bd. BenshSamml BeschFG BetrAVG BetrVG

BFH

BGB BGBI I BGH BGHZ BRG BUrlG BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE DAF

am angegebenen Ort Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) alte Fassung Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift) Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Arbeit und Recht (Zeitschrift) Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, amtliche Sammlung Bundes-Angestelltentarifvertrag Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Band Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte, verlegt bei Bensheimer Gesetz über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäftigungsförderung Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt, Teil I Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, amtliche Sammlung Betriebsrätegesetz Bundesurlaubsgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, amtliche Sammlung Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, amtliche Sammlung Deutsche Arbeitsfront

Abkürzungsverzeichnis DB DGB DVBl e.V. EZA f. F.A.Z.

ff.

Fn. FS GewGer GewKfGer GewO GG

GWB

HGB h.M.

Hrsg.

i.d.R. IHK i.V.m. JA JArbSchG Jher Jb. JuS

JW

JZ KfGer KG KSchG LAG LAGE LG NJ

NJW Nr.

NZA

NZfA M.E. MitbestG Münch AR. Hb. MünchKomm

Der Betrieb (Zeitschrift) Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) eingetragener Verein Entscheidungsammlung zum Arbeitsrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Fußnote Festschrift Gewerbegericht Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht (ab 1927: Das Arbeitsgericht) Gewerbeordnung Grundgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Handelsgesetzbuch herrschende Meinung Herausgeber in der Regel Industrie und Handelskammer in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jugendarbeitsschutzgesetz Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kaufmannsgericht Kammergericht Kündigungsschutzgesetz Landesarbeitsgericht Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts Landgericht Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Nummer Neue Zeitschrift ftir Arbeits- und Sozialrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Meines Erachtens Mitbestimmungsgesetz Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Münchener Kommentar

13

14 RAG RdA Rdn. RG RGBl I RGZ SächsOVG SAE SGB -s.o. TVG TVO vgl. WM WSI ZfA ZIP ZPO ZRP

ZTR

Abkürzungsverzeichnis Reichsarbeitsgericht Recht der Arbeit (Zeitschrift) Randnummer Reichsgericht Reichsgesetzblatt, Teil 1 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Sächsisches Oberverwaltungsgericht Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Siehe oben Tarifvertragsgesetz Tarifvertragsordnung Vergleiche Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) Mitteilungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Tarifpolitik

Einleitung Immer wieder wurde in den letzten Jahren eine heftige Diskussion darüber geführt, ob das bestehende Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht dem Flexibilisierungsbedarf, hervorgerufen durch die fortschreitende Entwicklung in der Arbeitswelt und den wachsenden wirtschaftlichen Schwankungen, noch gerecht wird. Zunehmend wird behauptet, daß die bestehende tarifliche Normsetzungsmacht zu groß und deshalb tarifunterworfenen Unternehmen in wirtschaftlich schlechten Zeiten die Schaffung von betriebsangepaßten, überlebensnotwendigen Regelungen unmöglich sei. 1 "Einheitsrezepte für unterschiedliche Konjunkturlagen können nicht tragen", weshalb Einflüsse der Verbände in die Betriebe abzugeben seien. So zuletzt der Präsident der bayerischen Metall- und Elektroindustrie Rodenstock. 2 Dem angeblich zu starren Tarifvertragsrecht wird somit mehr und mehr die Verantwortung für die bestehende Beschäftigungsmisere gegeben, Verhandsaustritte und Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (OT Mitgliedschaft) sind die Reaktionen der Arbeitgeber. Der firmenbezogene Dienstleistungstarifvertrag bei debis, der Flexibilisierung insbesondere durch leistungsorientierte, variable Vergütung und Arbeitszeitbudgets ermöglichen soll, gilt als große Hoffnung und hat auch bei der Industriegewerkschaft großen Anklang gefunden. 3 Die arbeitsrechtlichen Modebegriffe lauten: Deregulierung, Flexibilisierung und Dezentralisation. Den Höhepunkt erreichte die Diskussion wohl mit der Aufforderung des BDI Präsidenten Henkel an die Arbeitgeber, sich nicht an die abgeschlossenen Tarifverträge zu halten, was praktisch einer Aufforderung zum Rechtsbruch gleichkam. Entsprechend heftig waren die Reaktionen auf Gewerkschaftsseite. Henkels Aufruf wurde als Anstiftung und Beihilfe zum Betrug angesehen. Er sei ein "Tarifverbrecher", der in den "Knast" gehöre.4 1 Bereits im Jahre 1986: Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung e. V. (sog. Kronherger Kreis), Mehr Markt im Arbeitsrecht 1986; im Jahr 1991: Gutachten der Deregulierungskommission in Marktöffnung und Wettbewerb 1991, 8. Kapitel Arbeitsmarkt, S. 133 ff. (138). 2 Vgl. F.A.Z. vom 28.9.1999, S. 17. 3 Dies hat zumindest der Vorsitzende des Konzernbetriebrates von debis Schiller beim debis Kongreß im November '99 über seine Gespräche mit führenden IG Metall-Vertretern berichtet.

16

Einleitung

Tatsache ist, daß der Tarifvertrag regelmäßig eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen regelt und für Betriebe unterschiedlichster wirtschaftlicher Kraft Wirkung entfaltet. Grundsätzlich kann der Tarifvertrag nur sehr allgemein gehaltene Regelungen treffen und birgt deshalb tatsächlich die Gefahr in sich, auf die speziellen Bedürfnisse der einzelnen Betriebe nicht ausreichend Rücksicht zu nehmen. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob eine Verschiebung der Regelungsmacht zugunsten der Betriebsautonomie deshalb unumgänglich ist oder ob nicht doch das geltende Tarifrecht flexibel genug ist, um in wirtschaftlichen Notzeiten betriebsnahe Regelungen zu ermöglichen. Geprüft werden soll die Loslösungsmöglichkeit von der Tarifbindung durch konsequente Anwendung des Günstigkeilsprinzips sowie durch außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit.

4

Vgl. F.A.Z. vom 6.3.1998, S. 19.

A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung in der Sozial- und Wirtschaftsordnung Zunächst ein kurzer Überblick über das Wesen und die Bedeutung des Tarifvertrages: Eine für das Verständnis maßgebliche Bestimmung enthält § l I TVG: Danach regelt der Tarifvertrag "Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können." Der Tarifvertrag bedarf nach § l II TVG der Schriftform. Auf § 1 TVG basierend entwickelte Nipperdey seine mittlerweile als "klassisch" 1 bezeichnete Definition des Tarifvertrages: "Tarifvertrag ist der schriftliche Vertrag zwischen einem oder mehreren Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und einer oder mehreren Gewerkschaften zur Regelung von arbeitsrechtlichen Rechten und Pflichten der Tarifvertragsparteien (schuldrechtlicher Teil) und zur Festsetzung von Rechtsnormen über Inhalt, Abschluß und Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen und gemeinsame Einrichtungen der Vertragsparteien (normativer Teil)"?

I. Schuldrechtlicher Teil des Tarifvertrages Nach Satz l des § 1 I TVG werden durch den Abschluß von Tarifverträgen wie bei jedem anderen Vertrag Rechte und Pflichten der Vertragsparteien begründet. Dieser schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages begründet nur für die Tarifparteien Rechte und Pflichten, nicht jedoch für den einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, es sei denn letzterer war am Abschluß eines Firmentarifvertrages beteiligt. Welche Rechte und Pflichten hierbei vereinbart werden, steht den Tarifvertragsparteien aufgrund ihrer Vertragsfreiheit frei. 3 Typischer Inhalt des schuldrechtlichen Teils ist z. B. die Aufnahme von Schlichtungsvereinbarungen, d.h. die Verpflichtung der Tarifvertragsparteien, vor Durchführung eines Arbeitskampfes Verhandlungen im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens durchzuführen. Der Ablauf solcher 1

2 3

Als ldassich bezeichnet Schaub, ArbR Hb., S. 1304 Nipperdeys Definition. Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 207. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rdn. 267; Wiedemann, TVG, § 1 Rdn. 753.

2 Freihube

18

A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung

Schlichtungsverfahren wird regelmäßig in sog. Schiedsvereinbarungen geregelt. Häufig sind auch Regelungen über die Errichtung gemeinsamer Einrichtungen4 (z. B. Kontroll-, Informations- oder Beratungskommissionen) sowie über Vertragsstrafen, Beiträge oder Schadensersatz.5 Wie im allgemeinen Vertragsrecht gibt es auch beim Tarifvertrag gewisse Verpflichtungen, die auch ohne ausdrückliche Vereinbarungen gelten, weil sie mit dem Wesen des Vertrages untrennbar verbunden sind. Einen solchen ungeschriebenen Bestandteil des Tarifvertrages stellt z. B. die Friedens- und Durchführungspflicht dar, wonach die Tarifparteien auch ohne besondere Vereinbarung verpflichtet sind, für die Durchführung und die Erfüllung des Tarifvertrages zu sorgen. Die Friedenspflicht untersagt den Vertragsparteien, während der Geltung des Tarifvertrages Kampfmaßnahmen mit dem Ziel der Änderung tariflicher Regelungen durchzuführen und verlangt von ihnen, im Rahmen ihrer Einwirkungspflichten die Mitglieder von Kampfaktionen abzuhalten. 6

II. Normativer Teil des Tarifvertrages Die eigentliche Bedeutung des Tarifvertrages liegt jedoch in seiner sog. normativen Wirkung gern. § 4 I TVG; sie ist das Kernstück des Tarifvertrages7 . Durch sie werden Rechte und Pflichten für Arbeitsverhältnisse zwisehen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unmittelbar begründet, obwohl diese gar nicht bei den Tarifvertragsverhandlungen beteiligt waren. Dieser normative Teil des Tarifvertrages besteht nach § I I 2. Halbs.TVG aus Inhalts-, Abschluß-, Beendigungs-, sowie betriebs-, und betriebsverfassungsrechtlichen Normen. Die Inhaltsnormen bilden den größten Teil der Tarifnormen und sind seit jeher Schwerpunkt tarifpolitischer Auseinandersetzungen. Darunter fallen alle Rechtsnormen, die den Inhalt des einzelnen Arbeitsverhältnisses regeln. Eine erschöpfende Aufzählung aller möglichen Inhalte soll hier aufgrund ihrer großen Bandbreite nicht erfolgen. Den wichtigsten Platz bei den Inhaltsnormen nehmen in der Praxis die Regelungen von Lohn, Arbeitszeit, Urlaub, Zulagen und Nebentätigkeiten ein. 8 4 Zu solchen Vereinbarungen in der chemischen Industrie vgl. Eich, NZA 1995, S. 149 (150 ff.). 5 Wiedernano a.a.O. 6 Ausführlich zur Friedens- und Durchführungspflicht: Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrages in Deutschland, S. 234 ff. 7 Hueck/Nipperdey a.a.O., S. 210. 8 Siehe nur Löwisch/Rieble TVG, § I Rdn. 43.

III. Funktionen des Tarifvertrages

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Abschlußnormen sind Bestimmungen über das Zustandekommen von Arbeitsverhältnissen, wie z. B. Quotenregelungen zur Gleichstellung von Frauen im Arbeitsverhältnis oder Abschlußverbote, welche die Einstellung bestimmter Personen, z. B. Jugendlicher, Heimarbeiter oder Auszubildender verbieten. 9 Zu den Beendigungsnormen gehören Vereinbarungen über die Dauer und die Möglichkeit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, insbesondere also über die Kündigung und die Befristung von Arbeitsverhältnissen. 10 Betriebliche Normen legen die Organisation eines Betriebes fest. Sie dienen vor allem dem Schutz und der Fürsorge der Belegschaft. Zu ihnen gehören z. B. Regelungen hinsichtlich der Einrichtung von Kantinen, Lärmschutzvorrichtungen, des Rauchverbots usw. 11

Da bei den betrieblichen Normen eine Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit wenig sinnvoll wäre, gelten sie gern. § 3 II TVG bei Tarifbindung des Arbeitgebers für alle Arbeitnehmer des Betriebes unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit. 12 Betriebsverfassungsrechtliche Normen schließlich befassen sich mit der Rechtsstellung der Arbeitnehmerschaft im Betrieb, einschließlich der Rechte und Pflichten ihrer Organe und ihrer Beziehung zum Arbeitgeber. 13 Betriebsverfassungsrechtliche Normen regeln also die Aufgaben des Betriebsrates als Arbeitnehmervertretung im Betrieb und dessen Verhältnis zum Arbeitgeber.

111. Funktionen des Tarifvertrages Die Entstehung des Tarifvertragswesens war Folge der oft als "industrielle Revolution" bezeichneten ökonomischen, technischen und politischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts. Durch Gebrauch der neu entwickelten technischen Arbeitsmittel - vor allem der Dampfmaschine - wurde das gewerbliche Leben mehr und mehr durch Arbeitsteilung und Massenproduktion geprägt 14 ; der Stand der unselbständigen Lohnarbeiter war geboren. Siehe nur Löwisch/Rieble a. a. 0., Rdn. 63 ff. Anstatt vieler Kempen/Zachert, TVG § 1 Rdn. 32; Löwisch/Rieble a. a. 0. Rdn. 73. 11 Kempen/Zachert, TVG, § I Rdn. 35. 12 Ausführlich zu der Entwicklung des Betriebsnormbegriffes Wiedemann, TVG, § 1 Rdn. 555 ff. 13 Wiedemann, TVG, § 1 Rdn. 587; ausführlich zu den betriebsverfassungsrechtlichen Normen: Dreschers a. a. 0. S. 321 ff. 14 Hueck/Nipperdey Bd. I, S. 8; zur raschen Entwicklung der industriellen Produktion H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands Bd. II, S. 78 ff. 9

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A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung

Freilich hat es den Eintritt in fremde Dienste schon seit dem Mittelalter gegeben. Das Dienstverhältnis war zu jener Zeit jedoch durch eine starke persönliche Bindung und gegenseitige Treuepflicht gekennzeichnet, die sich darin äußerte, daß sich der Dienstnehmer zum Gehorsam gegenüber dem Dienstherrn, letzterer sich zur Fürsorge und für das Wohl seines Untergebenen verpflichtete. 15 Meistens wurde der Dienstnehmer sogar in die häusliche Gemeinschaft des Dienstherren aufgenommen. 16 Diese persönliche Bindung war in den großen Fabrikhallen der nun industriell produzierenden Großbetriebe natürlich nicht mehr vorzufinden. Das Arbeitsverhältnis wurde entpersonalisiert; der Arbeitsvertrag war nur noch ein auf Lohn und Arbeit gerichteter rein schuldrechtlicher Vertrag. 17 Mit diesem technischen Wandel ging auch ein Umdenken in wirtschaftspolitischer Hinsicht einher. Die Idee des wirtschaftlichen Liberalismus drängte den Merkantilismus mit seiner staatlichen Beaufsichtigung und Bevormundung mehr und mehr zurück. Durch das "laissez faire, laissez passer"-Prinzip glaubte man die Harmonie des Wirtschaftslebens am besten herbeiführen zu können. Frei von staatlichem Zwang sollte "die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden und den gewerblichen Arbeitern Gegenstand freier Übereinkunft sein", wie es § 105 GewO bis heute 18 noch vorsieht. Die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt gegen Ende des 19. Jahrhunderts dokumentierten jedoch das Scheitern des so gewollten freien Vertrages auf dem Arbeitsmarkt: Sechzehnstundenarbeit an allen sechs Werktagen, Hungerlöhne, Bergwerksarbeit von sogar 4 jährigen Kindern 19 , Sonnund Feiertagsarbeit bei täglicher Kündbarkeit des Arbeitsvertrages bestimmten den sozialen Alltag.2° Diese unmenschlichen Arbeitsbedingungen resultierten aus der anormalen Erhöhung des Arbeitsangebotes mit Lohnsätzen an der Verelendungsgrenze bei sinkender Nachfrage, was dazu führte, daß die Not weitere Familienangehörige als "industrielle Reservearmee" zur Arbeitssuche zwang. 21 Hinzu kam, daß durch die Vereinfachung der Arbeitsvorgänge aufgrund fortschreitender Technik viele Arbeiten nun auch 15 Zu den starken persönlichen Bindungen vgl. W. Ebel, Gewerbliches Arbeitsvertragsrecht im deutschen Mittelalter, § 3 I, S. 27 ff.; derselbe, Quellen zur Geschichte des deutschen Arbeitsrechts, mit anschaulichen Beispielen auf S. 33. 16 Nikisch Bd. I, S. 14. 17 Hueck/Nipperdey a. a. 0 . S. 9. 18 Zum beschränkten Anwendungsbereich des § 105 GewO in den "neuen Ländern" und Ost-Berlin vgl. Anlage I, Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 3 EinigungsvertragsG v. 23.9.1990 (BGBI. II S. 885). 19 H. Herkner, Die Arbeiterfrage Bd. 1, S. 39. 20 Zu den damaligen Arbeitsbedingungen ausführlich H. Herkner a. a. 0 . S. 37 ff. 21 Konzen in: Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand, S. 26.

III. Funktionen des Tarifvertrages

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von Frauen und Kindem bewältigt werden konnten. Der sich im Besitz der Produktionsmittel befindende Unternehmer war dem mittellosen Arbeitnehmer weit überlegen. Dieser mußte die vom Arbeitgeber diktierten Arbeitsbedingungen akzeptieren, wenn er die Arbeit erhalten wollte. Diese Umstände dokumentierten, daß der Einzelarbeitsvertrag als Regelungsmittel versagte; er führte zu einem chronischen Machtungleichgewicht zu Lasten der Arbeiter. Um diesen Zustand zu beseitigen, schlossen sich die Arbeitnehmer sehr bald - die erste bedeutende Arbeitervereinigung war die Arbeiterverbrüderung im Jahr 184822 - zu Verbänden zusammen, um durch den Abschluß von Kollektivvereinbarungen, den Tarifverträgen, ein Gegengewicht zu der wirtschaftlichen Überlegenheit der Arbeitgeber zu bilden.23 Den Tarifverträgen kam somit und kommt auch heute noch eine Schutifunktion gegenüber den Arbeitgebern zu, wobei diese aufgrund der enormen Errungenschaften der Gewerkschaften heute eine nicht mehr so große Rolle spielt wie damals. Auf die auf der Basis des heutigen status-quo geringere Bedeutung der Schutzfunktion ist später noch einzugehen. Neben der Schutzfunktion kommt den Tarifverträgen eine Ordnungs- und Friedensfunktion zu. 24 Tarifverträge sollen während ihrer Laufzeit für alle Beteiligten klare Verhältnisse schaffen, d. h. die ausgehandelten Lohn- und Arbeitsbedingungen sollen während der Dauer des Tarifvertrages nicht geändert werden. Dadurch daß die Löhne für die Laufzeit des Tarifvertrages verbindlich festgelegt sind, können die Arbeitgeber während der Laufzeit mit einer sicheren Kalkulationsgrundlage arbeiten und sind vor neuen Lohnforderungen geschützt. 25 Von Vorteil für die Arbeitgeberseite sind weiterhin die Auswirkungen des Flächentarifvertrages auf den Unternehmerischen Wettbewerb. Da der Flächentarifvertrag für den gesamten Bereich einer bestimmten Branche überregional abgeschlossen wird, schafft er in seinem Geltungsbereich hinsichtlich der Arbeitsbedingungen gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Arbeitgeber dieser Branche, die Mitglieder im entsprechenden Arbeitgeberverband sind. Die so erzeugte Gleichmäßigkeit der Arbeitsbedingungen in verwandten Betrieben führt volkswirtschaftlich gesehen zu einer "Kartellwirkung" der Tarifverträge26• Däub1er, Arbeitskampfrecht, Rdn. 9. Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung: K. Zwing, Die Geschichte der deutschen freien Gewerkschaften, S. 6 ff.; S. Nestriepke, Die Gewerkschaftsbewegung Bd. I, S. 115 ff.; H. Herkner a. a. 0., S. 39 ff. 24 Zur ordnenden und befriedenden Wirkung des Tarifvertrages siehe Nikisch Bd. II, S. 204 ff.; Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 233 ff.; Löwisch/Rieb1e, TVG, Grundl. Rdn. 5 ff. 25 Löwisch/Rieb1e, TVG, Grundl. Rdn. 6; Nikisch a. a. 0., S. 205. 22 23

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A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung

Die Ordnungsaufgabe zeigt sich auch in der gleichmäßigen rechtlichen Gestaltung der Einzelarbeitsverhältnisse durch den Tarifvertrag. Der Tarifvertrag führt zu einer Typisierung der Arbeitsverträge und stellt somit eine Art branchenspezifisches Arbeitsgesetzbuch dar.27 Darüber hinaus stellt der Abschluß von Tarifverträgen ein institutionalisiertes Verfahren dar, um das vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu entschärfen. Durch die Tarifvertragsverhandlungen wird den Beteiligten die Möglichkeit gegeben, einen Informations- und Gedankenaustausch vorzunehmen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen hierbei das Gefühl haben, daß die Tarifabschlüsse das Ergebnis von Verhandlungen zweier ebenbürtiger Partner sind. Die Arbeitsbedingungen werden von den Arbeitsvertragsparteien eher akzeptiert, wenn ihre Vorstellungen über ihre Interessenvertretung im Tarifvertrag Eingang gefunden haben. Der Taifvertrag dient somit in bedeutsamer Weise auch der Sicherung des sozialen Friedens.28

IV. Die Anwendbarkeit von tariflichen Normen 1. Der Geltungsbereich Tarifnormen können nur dann zur Anwendung kommen, wenn sie unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen, § 4 I TVG. Festgelegt wird der Geltungsbereich nach der freien Vereinbarung der Tarifvertragsparteien im Tarifvertrag. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen räumlichem, betrieblich-fachlichem, persönlichem und zeitlichem Geltungsbereich. Der räumliche Geltungsbereich bestimmt die geographischen Grenzen, innerhalb derer der Tarifvertrag gelten soll. Im Gegensatz zu den meisten Tarifverträgen im Öffentlichen Dienst, gelten die sonstigen Tarifverträge nicht für das gesamte Bundesgebiet29, sondern für bestimmte Tarifgebiete, wie z. B. ein Bundesland, einen Regierungsbezirk oder auch nur eine Stadt. Der betrieblich-fachliche Geltungsbereich bestimmt nach fachlichen Gesichtspunkten die Anwendbarkeit des Tarifvertrages, wobei sowohl die DGB-Gewerkschaften als auch die meisten Arbeitgeberverbände nach dem sog. Industrieverbandsprinzip organisiert sind. Danach bestimmt sich die 26 Jarass, NZA 1990, S. 505 (505); Löwisch, BB 1991, S. 56 (61); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 179. 27 Wiedemann, TVG, Einl. Rdn. 15. 28 BVerfGE 18, 18 (28); Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 27. 29 Im Öffentlichen Dienst wird eine Aufteilung in Ost- (BAT Ost) und Westgebiet (BAT West) vorgenommen.

IV. Die Anwendbarkeit von tariflichen Normen

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Geltung der Tarifverträge nicht nach der Beschäftigung der Arbeitnehmer als solche, sondern nach den Industriezweigen. So werden z. B. vom betrieblich-fachlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrages der Druckindustrie auch Arbeitnehmer erfaßt, die in einer Druckerei mit Metallverarbeitung beschäftigt sind. Entscheidend ist also nicht ihre Tätigkeit, sondern die Zugehörigkeit zu einem Betrieb einer bestimmten Branche. 30 Bei Mischbetrieben kommt es für die Tarifgeltung darauf an, welche Tätigkeit im Betrieb überwiegt. 31 Nach dem persönlichen Geltungsbereich bestimmen die Tarifvertragsparteien, für welche Arbeitnehmer der Tarifvertrag gelten soll. Herkömmlich wurden stets für Arbeiter, Angestellte und Auszubildende getrennte Lohnund Gehaltsabkommen getroffen. Diese Unterscheidung geht jedoch immer weiter zurück und ist z. B. in der chemischen Industrie schon völlig abgeschafft.32 Der zeitliche Geltungsbereich schließlich bestimmt den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Tarifvertrages. Ist kein besonderer Zeitpunkt vereinbart, so gelten die Tarifnormen schon mit Abschluß des Tarifvertrages. Die Tarifparteien können dem Tarifvertrag eine rückwirkende Kraft beilegen. Ein Tarifvertrag kann auf verschiedene Art beendet werden. In der Praxis wird i. d. R. vereinbart, daß der Tarifvertrag zu einem bestimmten Termin ordentlich gekündigt werden kann? 3 Ein befristeter Tarifvertrag endet mit Ablauf der Zeit, aber auch vor Zeitablauf kann durch Aufhebungsvertrag der Tarifparteien der Tarifvertrag beendet werden?4 Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Tarifvertrag außerordentlich gekündigt werden kann, ist umstritten und wird Gegenstand des 2. Kapitels sein.

2. Die Tarifbindung Von dem Geltungsbereich zu unterscheiden ist die Tarifbindung. Trotz der Zugehörigkeit zu dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages kommen die tariflichen Normen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer nur dann zur Anwendung, wenn sie der Tarifbindung35 , d.h. der tariflichen RechtsetWiedemann - Wank, TVG, § 4 Rdn. 99. Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 136. 32 Zum Geltungsbereich siehe statt vieler nur Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rdn. 20 ff. 33 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 170. 34 Wiedemann - Wank, TVG, § 4 Rdn. 15. 35 Zur Entstehung des Begriffs der Tarifbindung, Hersehe!, ZfA 1973, S. 183 (190): "Die Vokabel der Tarifgebundenheit wurde nur geprägt, weil man in der damaligen Übergangszeit allergisch gegen alles war, was an Herrschaft, Unterworfenheil usw. auch nur von fern erinnerte." 30 31

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A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung

zungsmacht unterliegen. Im Gegensatz zum Geltungsbereich ist die Tarifbindung im TVG verbindlich festgelegt. Die maßgebliche Vorschrift zur Bestimmung der Tarifbindung ist § 3 TVG. Nach § 3 I TVG sind tarifgebunden die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrages ist. Nach § 2 I TVG können Tarifvertragsparteien Vereinigungen von Arbeitgebern, einzelne Arbeitgeber sowie Gewerkschaften sein. Am häufigsten ist die beiderseitige Taritbindung, d. h. die Tarifgebundenheit eines Arbeitsverhältnisses ergibt sich daraus, daß beide Parteien Mitglieder der vertragsschließenden Verbände sind. Die Tarifgebundenheit kann auch durch Beitritt nach oder beim Abschluß des Tarifvertrages entstehen.36 Bei den sog. Firmentarifverträgen wird die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers durch seine Stellung als Tarifvertragspartei begründet. Da er selbst nach § 2 I TVG tariffähig ist, ist die Verbandsmitgliedschaft nicht notwendig. Für den einzelnen Arbeitnehmer wird der Firmentarifvertrag meistens dadurch verbindlich, daß er Mitglied der vertragsschließenden Gewerkschaft ist. Ist dies nicht der Fall, kann der Firmentarifvertrag - wie dies auch bei sonstigen Tarifverträgen für sog. Außenseiter (Nichtorganisierte) üblich ist - kraft Bezugnahme innerhalb des Einzelarbeitsvertrages Geltung erlangen. Ein weiteres Mittel, die Geltung der Tarifverträge auf die nicht in einem Verband organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erstrecken, ist die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages nach § 5 TVG. Indem der Bundesarbeitsminister einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, finden die Normen des einschlägigen Tarifvertrages Anwendung, auch wenn weder der Arbeitnehmer noch der Arbeitgeber Mitglied in einem Verband bzw. Tarifvertragspartei sind. Zweck dieses auf Sinzheimer31 zurückzuführenden Rechtsinstitutes ist es, einen tariflosen Zustand für Branchen mit einer großen Anzahl kleiner Betriebe (z. B. Bau, Handel) zu verhindern, deren Inhaber keinem Verband angehören. 38 Des weiteren soll durch die Allgemeinverbindlicherklärung eine "Schmutzkonkurrenz" durch Einstellung Unorganisierter zu untertariflichen Bedingungen ("Lohndrückerei") verhindert werden. Die Allgemeinverbindlicherklärung stellt daher das arbeitsmarktpolitische Gegenstück zum Verbot des Tarifverzichts nach § 4 IV TVG dar. 39 Hanau/ Adomeit C li, S. 67. H. Sinzheimer, korporativer Arbeitsnormenvertrag 1. Teil, S. 297. 38 Hanau/ Adomeit C li., S. 68. 39 Kempen/Zachert, TVG, § 5 Rdn. 1; ausführlich zur Entstehung und Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung: Dreschers a. a. 0 ., S. 473. 36

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V. Ausnahmen von der Taritbindung

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Trotz Beendigung der Mitgliedschaft in einer Koalition und trotz Zeitablaufs des Tarifvertrages kann sich die Tarifbindung aufgrund der Nachwirkung des Tarifvertrages gern. § 4 V TVG fortsetzen. Danach gelten die Tarifnormen solange weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Dies entspricht der Ordnungsfunktion des Tarifvertrages. Auch nach Ablauf des Tarifvertrages sollen seine Regelungen zur Vermeidung eines tariflosen Zustandes und zur Ordnung des Arbeitsverhältnisses zur Verfügung stehen. Im Unterschied zur Normwirkung des Tarifvertrages während seiner Laufzeit entfällt im Nachwirkungszeitraum seine zwingende Wirkung, d. h. die tariflichen Normen können nun unabhängig vom Günstigkeitsprinzip (dazu gleich) einzelvertraglich abbedungen werden. Ebenso wie die zwingende Wirkung der Tarifnormen entfällt im Nachwirkungszeitraum auch die Friedenspflicht.40

V. Ausnahmen von der Tarifbindung Die Ausnahmen von der zwingenden Geltung tariflicher Normen legt § 4 III TVG fest. Danach sind vom anzuwendenden Tarifvertrag abweichende Abmachungen zulässig, wenn der Tarifvertrag dies gestattet oder eine Änderung der tariflichen Regelung zugunsten des Arbeitnehmers erfolgt.

1. Öffnungsklauseln Wie jeder Normgeber können auch die Tarifvertragsparteien auf die zwingende Wirkung ihrer Normsetzung verzichten, indem sie Abweichungen von ihren Regelungen im Tarifvertrag ausdrücklich zulassen. Bezüglich arbeitsvertraglicher Abweichungen kommen solche Öffnungsklauseln nach § 4 III 1. Fall TVG in der Praxis jedoch nur selten vor. 41 Häufiger dagegen sind tarifliche Klauseln, die die Differenzierung bzw. die Anpassung von Tarifvertragsnormen durch die Tarifvertragsparteien selbst vorsehen. Die Normsetzung bleibt hier in der Hand der Tarifvertragsparteien. Mit der Aufnahme solcher "Revisions"-"Anpassungs"- bzw. "Härtefallklauseln" versuchte man den tariflichen Regelungen mehr Flexibilität zu geben, um insbesondere auf wirtschaftliche Veränderungen während der Laufzeit des Tarifvertrages reagieren zu können.42 Vgl. nur Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 305. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 185; Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 376; Kempen/Zachert TVG, § 4 Rdn. 160. 42 Zu den Anpassungsklauseln: Lohs, Anpassungsklauseln in Tarifverträgen; Sontowski, Löhne in der Untemehmenskrise. 40

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A. Der Tarifvertrag und seine Bedeutung

Die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt und die verbandspolitische Diskussion um das Verhältnis der Tarifautonomie zur betrieblichen Regelungsmacht43 waren die Grunde für die vermehrte Aufnahme von Öffnungsklauseln im engeren Sinn44 seit Anfang der 90er Jahre. Durch diese wurde die Flexibilisierung und Differenzierung von tariflichen Regeln Dritten, zumeist den Betriebspartnern, überlassen.45 Erstmals im sog. LeberRüthers-Kornpromiß46 im Jahr 1984, durch den eine flexiblere Arbeitszeit in der Metallindustrie durch Vereinbarungen der Betriebspartner erreicht werden sollte.47

2. Günstigkeit Der zweite Fall des § 4 III TVG läßt eine Abweichung vom Tarifvertrag zu, wenn dies zugunsten des Arbeitnehmers erfolgt. Dieses sog. Günstigkeitsprinzip und seine Eignung zur Flexibilisierung tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen, insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten, ist Untersuchungsgegenstand des nächsten Kapitels.

43 Zusammenfassung dieser Diskussion bei Wiedemann - Wank, TVG, § 4 Rdn. 546 mit ausführlichem Literaturnachweis. 44 Als Öffnungsklauseln i. e. S. bezeichnet Wiedemann, TVG, § 1 Rdn. 259 solche Klauseln, die es Dritten ermöglichen, zu bestimmen, in welchem Umfang von den tariflichen Regeln abgewichen wird. Z. B. die Tariföffnungsklausel des ChemieBundesentgelttarifvertrages vom 3.7.1997, abgedruckt in RdA 1997, S. 242. 45 Zur Stärkl!~g der betrieblichen Regelun~.smacht der Betriebsparteien durch tarifvertragliche Offnungsklauseln vgl. Seite!, Offnungsklauseln in Tarifverträgen; v. Langen, Von der Tarifautonomie zur Betriebsautonomie; Rosdücher, WSI-Mitteilungen 1997, S. 459 ff.; Schellhaaß Wirtschaftsdienst 1993 S. 286 ff.; Otto, NZA 1992, S. 97 ff.; v. Hoyningen-Huene, NZA 1985, S. 9 ff.; Hanau, AuR 1983, S. 257 (204); v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1988, S. 293 (301 ff.). 46 Abgedruckt in NZA 1984, S. 79. 47 Dazu BAG AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972.

B. Betriebsnahe Regelungen durch einzelvertragliche Abweichungen vom Tarifvertrag im Wege der Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, inwieweit dem Einzelunternehmen durch das in § 4 III TVG enthaltene Günstigkeitsprinzip eine Möglichkeit zur Verfügung steht, in existenzbedrohenden Krisenzeiten von der Tarifbindung loszukommen, um abweichende Regelungen zu treffen, die den individuellen Rahmenbedingungen des Unternehmens gerechter werden. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet dabei die Frage, ob der Aspekt der Arbeitsplatzsicherung beim Günstigkeitsvergleich nach § 4 III TVG zu berücksichtigen ist. 1 Zunächst ein Überblick über Begriff, Zweck und geschichtliche Entwicklung des Günstigkeitsprinzips.

I. BegritT/Sinn und Zweck des Günstigkeitsprinzips In § 4 I I TVG ist festgelegt, daß die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die Inhalt, Abschluß oder Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen gelten. Die unmittelbare Wirkung in diesem Sinne bedeutet, daß die Tarifbestimmungen des normativen Teils des Tarifvertrages automatisch den Inhalt der Arbeitsverhältnisse gestalten, ohne daß es auf die Billigung oder auch nur die Kenntnis der betroffenen Vertragsparteien ankommt. Eine tarifwidrige Abänderung bestehender Arbeitsverhältnisse ist aufgrund dieser zwingenden Wirkung des Tarifvertrages unzulässig (Unabdingbarkeit des Tarifvertrages). Nach dem sog. Günstigkeitsprinzip des § 4 III 2. Fall TVG sind jedoch vom Tarifvertrag abweichende Abmachungen dann zulässig, wenn dies zugunsten des Arbeitnehmers geschieht. Die Hauptbedeutung des Günstigkeitsprinzips wird heute im arbeitsrechtlichen Schutzgedanken gesehen. 2 Durch das Günstigkeitsprinzip soll dem 1

Siehe B. IV. u.V.

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B. Betriebsnahe Regelungen

Arbeitnehmer ein sozialer Mindeststandard gesichert werden, ohne ihm die Möglichkeit zu nehmen, diesen Standard durch individuelle Vereinbarung zu verbessern. 3 Neben dem arbeitsrechtlichen Schutzgedanken wird als Zweck des Günstigkeitsprinzips der Schutz der freien Selbstbestimmung des Arbeitnehmers gegenüber der Regelungsmacht der Kollektivvertragsparteien genannt. 4 Das Günstigkeitsprinzip soll verhindern, daß die kollektive Interessenwahrnehmung zum Schutz des einzelnen Arbeitnehmers in eine Bevormundung des einzelnen umschlägt5 • Zweck der kollektiven Interessenwahrnehmung sei es, die aufgrund der sozialen Abhängigkeit des Arbeitnehmers gegebene Unterlegenheit desselben auszugleichen und die gestörte Vertragsfreiheit wieder herzustellen. Die Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers dürfe aber dann nicht durch die Kollektivparteien ausgeschlossen werden, wenn der Arbeitnehmer einen gewissen Mindeststandard durch den Tarifvertrag erworben habe und seine Interessen darüber hinaus im Wege der Vertragsfreiheit wahrnehmen kann.6 In diesem Fall käme das Günstigkeitsprinzip zur Anwendung, welches dann die durch die Art. 2, 12 GG gewährleistete Privatautonomie schütze.7 Schließlich wird darauf hingewiesen, daß das Günstigkeitsprinzip dem Leistungsprinzip, das ein verfassungsrechtlicher Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung sei, zur Geltung verhelfen solle.8 Nach dem Leistungsprinzip müsse es dem Arbeitnehmer möglich sein, daß seine persönliche Leistung stets Anerkennung in den Arbeitsbedingungen, vor allem in der Entlohnung, finden müsse. Diesem Grundsatz, daß der Arbeitnehmer durch Steigerung seiner Leistung in der Lage sein muß, vom Tarifvertrag abweichende höhere Entgelte zu erlangen, trage das Günstigkeitsprinzip Rechnung. 9 Im Hinblick darauf, daß Tarifverträge heute auch viele Leistungen regeln, die mit der Leistung des Arbeitnehmers nichts zu tun haben, wie 2 Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 164,Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 386; Nikisch Bd. II, S. 418; BAG AP Nr. 17 zu§ 77 BetrVG. 3 Nikisch a. a. 0. 4 BAG AP Nr. 4 zu § 4 TVG Effektivklausel; Nr. 2 zu § 4 TVG Günstigkeitsprinzip; Martens, RdA 1983, S. 217(222); v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1988, S. 293 (311); Nikisch Bd. II, S. 420; Belling, DB 1982, S. 2513 (2514); wohl auch Reuß, AuR 1958, S. 321 (326). 5 Nikisch a. a. 0 . 6 Auf den Schutz der Vertragsfreiheit stellt auch das BAG AP Nr. 2, 3 zu § 4 TVG Angleichungsrecht ab. 7 v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz a.a. O. 8 Nikisch Bd. II, S. 421; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 17; Schulze, Günstigkeitsprinzip, S. 29; Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 572. 9 Nikisch a. a. 0.

II. Die Geschichte des Günstigkeitsprinzips

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z. B. die Aufstockung der Entgelte nach Betriebszugehörigkeit, Lebensalter oder Familienstand, kann das Leistungsprinzip ein Motiv für die Vereinbarung günstigerer Regelungen sein; es mag ein Aspekt des Günstigkeitsprinzips sein, jedoch kann daß Günstigkeitsprinzip heute nicht mehr allein mit dem Leistungsprinzip begründet werden. 10

II. Die Geschichte des Günstigkeitsprinzips 1. Die Tarifvertragsordnung von 1918 Die erste gesetzliche Normierung des Günstigkeitsprinzips stellte § 1 I 2 der Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter - und Angestelltenausschüsse und die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten (TVO) dar, die von dem Rat der Volksbeauftragten am 23.12.1918 erlassen wurde. 11 Danach waren von tariflichen Regelungen abweichende Normen nur dann wirksam, wenn sie im Tarifvertrag grundsätzlich zugelassen wurden oder wenn sie eine Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers enthielten und im Tarifvertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen waren. Wie der letzte Halbsatz dieser Vorschrift zeigt, stand die letzte Entscheidung darüber, ob die für den Arbeitnehmer günstigere Regelung Vorrang vor der Tarifnorm haben sollte, den Tarifparteien zu. Ihnen war es also möglich, die ausgehandelten Tarifnormen als Höchstarbeitsbedingungen festzulegen.

2. Das Günstigkeilsprinzip im Nationalsozialismus Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften im Jahr 1933 aufgelöst, verboten und durch die "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) ersetzt. Dieser Organisation kam jedoch bei der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse keine große Bedeutung mehr zu. 12 Mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) vom 20.1. 1934 13 wurden alle bestehenden Tarifverträge aufgehoben. Die Regelungen von Arbeitsbedingungen wurden nun den sog. Treuhändern der Arbeit überSo auch Wiedernano- Wank, TVG, § 4 Rdn. 388. RGBl. I. S. 1450. 12 Die DAF sollte nicht zur Regelung der allgemeinen Arbeitsbedingungen, sondern vielmehr zur Erziehung aller im Arbeitsleben stehenden Deutschen beitragen. Vgl. dazu Wolfgang Siebert, Deutsche Arbeitsverfasssung, S. 48. 13 RGBl. 1934 S. 45. 10

II

B. Betriebsnahe Regelungen

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geben, die die Koalitionen ersetzten. Nach § 32 AOG hatten die Treuhänder Richtlinien für den Inhalt von Einzelarbeitsverhältnissen und Betriebsordnungen festzulegen. Durch § 32 II AOG schien das Günstigkeitsprinzip seinen Durchbruch erlangt zu haben. Danach waren die Bestimmungen der Tarifordnung für die von ihr erfaßten Arbeitsverhältnisse als Mindestbedingungen rechtsverbindlich. Im Gegensatz zur TVO von 1918 konnte eine Tarifordnung eine günstigere Individualvereinbarung nicht mehr verdrängen; das Günstigkeitsprinzip hatte also erstmals zwingende Wirkung. Aufgrund einer stark zunehmenden Rüstungsindustrie und der Einberufung einer großen Anzahl der Arbeitnehmer zur Wehrmacht drohte ein für die Kriegsindustrie gefährlicher Anstieg der Lohnkosten. Um diesem Anstieg entgegenzuwirken, wurde am 25.6.1938 14 das Lohnstoppgesetz und am 4.9.1939 15 die KriegswirtschaftsVO erlassen. Darin wurden die Treuhänder der Arbeit zur Festsetzung von Höchstarbeitsbedingungen (§ 18 KriegswirtschaftsVO) ermächtigt. Die zweite Durchführungsverordnung zum Abschnitt III der KriegswirtschaftsVO, erlassen am 12.10.1939, brachte ein endgültiges Verbot von Lohn - und Gehaltserhöhungen und das vorläufige Ende für das Günstigkeitsprinzip. 16

3. Das Günstigkeilsprinzip nach dem zweiten Weltkrieg Nach der Wiederzulassung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände im Jahre 1946 und der Aufhebung des AOG am 30.11.1946 wurde am 9.4.1949 das TVG erlassen 17 , welches am 22.4.1949 in Kraft trat. Das Günstigkeitsprinzip fand in § 4 111 TVG seinen Niederschlag. Danach sind vom Tarifvertrag abweichende Abmachungen zulässig, wenn der Tarifvertrag dies gestattet oder die Abweichung zugunsten des Arbeitnehmers erfolgt. Dem Erlaß des TVG gingen mehrere Entwürfe voraus, die sich alle hinsichtlich des Günstigkeitsprinzips mehr oder weniger am Wortlaut des § 1 I 2 der TVO von 1918 orientierten.

- Lemgoer Entwurf (Referentenentwurf des Zentralamtes für Arbeit der britischen Zone) vom März 1948 § 4 I des Entwurfes enthielt folgenden Wortlaut: ". . . Abweichende Vereinbarungen sind jedoch zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder soweit sie im Rahmen der geltenden Vorschriften eine Ände14 IS

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RGBI. I 1938 S. 691. RGBI. I 1939 s. 1609. Hierzu im einzelnen Schutz a. a. 0., S. 38. RGBI. 1949, Nr. ll S. 55.

II. Die Geschichte des Günstigkeitsprinzips

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rung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten und durch den Tarifvertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind". 18 - Stuttgarter Entwurf (Entwurf des Arbeitsrechtsausschusses des Länderrates vom Juli 1948) § 3 I lautete: " ... Abweichende Vereinbarungen sind zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten und durch den Tarifvertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind." 19 - Der Entwurf des Bundesvorstandes des deutschen Gewerkschaftsbundes für die britische Zone vom 26. April 1948 enthielt in § 5 I hinsichtlich der Abweichung von tariflichen Regelungen den gleichen Wortlaut wie § 3 I des Stuttgarter Entwurfes. 20

- Diese drei Entwürfe wurden dem Hauptausschuß für Sozialpolitik und Arbeitsrecht des Gewerkschaftsrates der Vereinten Zonen vorgelegt, der im Gewerkschaftsratsentwurf vom 7. 9. 1948 in § 5 I ebenfalls vorschlug, daß vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen nur zulässig sein sollten, wenn sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder zugunsten des Arbeitnehmers erfolgen und durch den Tarifvertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. 21 - Der Entwurf des Gewerkschaftsrates wurde daraufhin als Initiativantrag der SPD Fraktion in den Wirtschaftsrat des vereinigten Wirtschaftsgebietes eingebracht. 22 - Nach der Beratung des Ausschusses für Arbeit des Wirtschaftsrates legte dieser den Entwurf des Ausschusses für Arbeit vom 3.11.1948 erneut dem Wirtschaftsausschuß vor. Dieser sah überraschenderweise als erster Entwurf nicht die Möglichkeit vor, daß die Tarifvertragsparteien Höchstarbeitsbedingungen vereinbaren konnten, indem § 4 III des Entwurfes lautete: "Abweichende Vereinbarungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten." Das hier vorgesehene Günstigkeitsprinzip konnte also nicht wie in den vorausgegangenen Entwürfen durch die Tarifvertragsparteien ausgeschlossen werden. "23 18 Vgl. Materialien zur Entstehungsgeschichte des TVG vom 9.4.1949, ZfA 1973, S. 129 (130) ohne Angabe des Verfassers. 19 Materialien zur Entstehungsgeschichte a. a. 0., S. 138. 20 Materialien zur Entstehungsgeschichte a. a.O., S. 141. 21 Materialien zur Entstehungsgeschichte a. a. 0., S. 144 f. 22 Vgl. Drucksachen des Wirtschaftsrates Nr. 613. 23 Materialien zur Entstehungsgeschichte a. a. 0., S. 157.

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B. Betriebsnahe Regelungen

Am 9.11.1948 wurde der Entwurf des Ausschusses für Arbeit als Gesetz angenommen, das am 9.4.1949 im Gesetzesblatt des vereinigten Wirtschaftsgebietes erschien und am 22.4.1949 verkündet wurde. 24 Die Tatsache, daß sich letzlieh der Entwurf des Ausschusses für Arbeit des Wirtschaftsrates durchsetzte, ist als ein bewußter Entschluß des Gesetzgebers zu werten, die Möglichkeit der Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien auszuschließen. 25

111. Der Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips 1. Anwendung beim schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages Nach § 4 I TVG kommen den Regelungen, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regeln, normative Wirkung zu26, d.h. sie gelten zwingend und unmittelbar für die Tarifgebundenen. § 4 III TVG läßt Abweichungen davon nur zu, soweit der Tarifvertrag dies gestattet oder sie für den Arbeitnehmer günstiger sind. Der Wortlaut des § 4 III TVG legt deshalb nahe, daß von § 4 III TVG insofern auch nur die in § 4 I TVG genannten normativen Regelungen erfaßt werden, schuldrechtliche Vereinbarungen hingegen nicht. Die Frage der Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips auch auf schuldrechtliche Vereinbarungen ist für die hier zu untersuchende Frage, ob das Günstigkeilsprinzip in wirtschaftlichen Krisenzeiten durch die flexible Handhabung tariflicher Konditionen Abhilfe schaffen kann, nicht unbedeutend, da die Tarifparteien durch schuldrechtliche Abreden Höchstarbeitsbedingungen durchsetzen könnten. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Günstigkeilsprinzips und den Wortlaut des § 4 III TVG verneint ein beachtlicher Teil der Literatur27 die Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips auf schuldrechtliche Abreden der Tarifparteien. Der durch das Günstigkeilsprinzip verkörperte arbeitsrechtliche Schutzgedanke realisiere sich nun einmal in den tarifautonomen Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien. 28 Indem der Gesetzgeber bewußt von der in den Entwürfen zum TVG vorgesehenen Möglichkeit der VereinMaterialien zur Entstehungsgeschichte a. a. 0., S. 130. Nipperdey RdA 1949, S. 81 (87); Kreis, RdA 1961, S. 97 (98); Zur Entstehungsgeschichte des TVG im einzelnen vgl. Wiedemann - Oetker, TVG, Geschichte; Materialien zur Entstehung des TVG a.a.O., S. 129 ff. 26 Zum Begriff der Inhalts-, Abschluß- und Beendigungsnormen s.o. A. II. 27 Zeuner, DB 1965, S. 630 (631); Molitor, BB 1957, S. 85 (86 f.); Kraus, Günstigkeilsprinzip und Autonomiebestreben, S. 72; Dietz, DB 1965, S. 591 (594); Kempen/Zachert, TVG, 4 Rdn. 172. 28 Kempen/Zachert a. a. 0. 24

25

III. Der Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips

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barung von Höchstarbeitsbedingungen abgewichen ist, hätte er lediglich die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien einschränken wollen, um eine Einengung der Vertragspartner des Einzelarbeitsverhältnisses zu vermeiden.29 Hinweise dafür, daß das Günstigkeilsprinzip als allgemeines Rechtsprinzip im Tarifvertragsrecht auch schuldrechtliche Abreden der Tarifparteien erfassen sollte, ließen sich der Entstehungsgeschichte des TVG nicht entnehmen.30 § 4 III TVG beziehe sich aufgrund seines Wortlautes und seiner Stellung im Gesetz eindeutig auf § 4 I TVG. § 4 I TVG enthalte aber nun einmal nur einen Bezug auf die normativen Abreden der Tarifvertragsparteien. § 4 III TVG spreche nur von dem Verhältnis des tarifgebundenen Arbeitgebers zum tarifgebundenen Arbeitnehmer, aber nicht über das schuldrechtliche Verhältnis zwischen den Tarifpartnern. Auch rechtspolitisch sei die Anwendung des Günstigkeilsprinzips auf schuldrechtliche Normen nicht wünschenswert, weil dadurch die Ordnungsfunktion des Tarifvertrages beeinträchtigt werde, indem man die unlautere Abwerbung von Arbeitnehmern durch höhere Löhne ermöglicht. Diese "Schmutzkonkurrenz" durch Anlockung von Arbeitskräften durch besonders leistungsfahige Arbeitgeber müsse genauso verhindert werden wie die "Schmutzkonkurrenz" durch untertarifliche Arbeitsbedingungen. Ein Mittel hierfür sei die schuldrechtliche Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen?1 Die überwiegende Meinung32 will jedoch die Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf den schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages ausdehnen. Das Günstigkeilsprinzip garantiere die Vertragsfreiheit und das Leistungsprinzip33. Das Leistungsprinzip wiederum stelle sicher, daß der einzelne Arbeitnehmer sich voll entfalten könne, indem seine gesteigerte Leistung in einem höheren Entgelt seine Anerkennung finde. Eine schuldrechtliche Vereinbarung, wonach eine übertarifliche Entlohnung verboten und somit auch dem natürlichem Streben des Arbeitnehmers, durch größere Leistung seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, ein Riegel vorgeschoben wird, sei in einem freiheitlich sozialen Staat nicht zu rechtfertigen. 34Aufgrund der EinMolitor a. a. 0. S. 86. Krause a. a. 0. S. 72. 3I Molitor a.a.O. S. 87. 32 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 75; Nikisch, DB 1963, S. 1254 (1255); Hueck/Nipperdey II 1. Hb., S. 575; Maus, RdA 1958, S. 241 (246); Däubler, Tarifvertragrecht, Rdn. 195; Schulze a. a. 0., S. 64; Kreis, Die Zulässigkeit von Höchstarbeitsbedingungen, S. 35 ff.; Kaufmann, NJW 1966, S. 1681 (1683); Hersehe!, AuR, 1965, S. 65 (68); Richardi, Kollektivgewalt und lndividualwille, S. 373, der jedoch die Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen durch Arbeitgeberverbände zulassen will, da ihre Verbandsmacht nicht durch das Günstigkeitsprinzip beschränkt werde. 33 Zum Leistungsprinzip s.o. B. I. 29

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3 Freihube

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B. Betriebsnahe Regelungen

wirkungs- und Durchführungspflicht der Tarifvertragsparteien könnten diese durch schuldrechtliche Vereinbarungen von Höchstarbeitsbedingungen verhindern, daß der Arbeitnehmer in Ausübung seiner Vertragsfreiheit günstigere Vereinbarungen trifft. 35 Der h. M. ist zuzustimmen: M. E. ist entscheidend hierfür die zwingende Wirkung, die der Gesetzgeber dem Günstigkeilsprinzip zukommen ließ. Dadurch, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der Zulässigkeil von Höchtsarbeitsbedingungen die Entwürfe abänderte und damit die Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen auschloß, brachte er eindeutig zum Ausdruck, daß das Günstigkeilsprinzip nicht dispositiv sein sollte. Dem Tarifvertrag wohnt eine Schutzfunktion inne. Mittels des Tarifvertrages soll dem Arbeitnehmer vor allem ein Mindestlohn zugesichert werden. 36 Deshalb nimmt der einzelne Arbeitnehmer die Einschränkung seiner Vertragsfreiheit hin. Kollektivismus und Individualismus kollidieren hier und müssen voneinander abgegrenzt und in Ausgleich gebracht werden. Mit der Streichung des Zusatzes in den Entwürfen, daß die Abänderung zugunsten des Arbeitnehmers zulässig ist, soweit das durch den Tarifvertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird, hat der Gesetzgeber das alte Problem der Grenzziehung zwischen Kollektivismus und Individualismus eindeutig zugunsten des Individualismus entschieden. Die Kollektivmacht der Tarifparteien hat nach dem Willen des Gesetzgebers dann zurückzutreten, wenn es dem Arbeitnehmer möglich ist, seinen Arbeitsvertrag mit für ihn günstigeren Bedingungen abzuschließen. Verfehlt ist es deshalb, die Zulässigkeil der Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen mit kollektiven Interessen zu begründen. 37 Weiterhin ist es unzulässig, den gesetzgebensehen Willen dadurch zu unterlaufen, indem durch schuldrechtliche Absprachen der Abschluß günstigerer Arbeitsbedingungen ausgeschlossen wird. Es ist ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip, daß zwingende Vorschriften nicht durch anderweitige Abreden der Vertragsparteien umgangen werden dürfen. So ist z. B. jede Abrede zwischen den Vertragsparteien, die das nicht dispositive Recht zur außerordentlichen Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses gern. § 626 BGB ausschließt oder erschwert, unwirksam? 8 Auch § 950 BGB, der bestimmt, daß der Hersteller einer neuen beweglichen Sache Eigentümer derselben wird, ist zwingend. Hier ist es den Vertragsparteien ebenfalls verwehrt, durch Vereinbarung über die Herstellereigenschaft zu disponieren, um somit die zwingende Wirkung des § 950 BGB zu umgehen.39 Der Grundgedanke ist stets derselbe: Was hilft es, wenn einer Vorschrift aufgrund ihres bedeuten34 35 36 37

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Nikisch Bd. II, S. 421. Schulze a. a. 0. BAG AP Nr. 2 zu Art. 9 GG - Arbeitskampf. So aber Kempen/Zachert a. a. 0 . Vgl. anstatt vieler nur Palandt - Putzo, § 626 Rdn. 2.

III. Der Anwendungsbereich des Günstigkeilsprinzips

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den Schutzzweckes auf der einen Seite vom Gesetzgeber eine zwingende Wirkung beigemessen wird, wenn es den Vertragsparteien auf der anderen Seite möglich wäre, die Vorschrift durch schuldrechtliche Abreden zu umgehen und somit auszuhöhlen. Das Günstigkeitsprinzip ist deshalb aufgrund seines zwingenden Charakters auch auf schuldrechtliche Abreden der Tarifvertragsparteien anzuwenden.

2. Anwendung auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen Nach § 4 I 2 TVG haben auch die Vorschriften des Tarifvertrages über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche4 Fragen zwingende Wirkung, wobei aufgrund des § 3 II TVG für die zwingende Wirkung unerheblich ist, ob neben dem Arbeitgeber auch der Arbeitnehmer tarifgebunden ist.

°

a) Betriebliche Normen Hinsichtlich der Frage, ob das Günstigkeitsprinzip auf betriebliche Normen anwendbar ist, besteht Uneinigkeit. Krause41 und Tech42 begründen die Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips auch auf betriebliche Normen mit dem Worlaut des § 4 III TVG. § 4 I TVG werde nach dem Wortlaut des§ 4 III TVG

("abweichende Vereinbarungen sind zulässig, wenn ... ") in seiner Gesamtheit von § 4 III TVG erlaßt. Eine Herausnahme der betrieblichen Normen aus dem Günstigkeitsprinzip entspreche nicht dem Wortlaut des § 4 III TVG. Nikisch43 und Wank44 verneinen die Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf betriebliche Normen mit dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der durch eine uneinheitliche Anwendung der Betriebsnormen 39 MünchKomm - Quack, § 950 Rdn. 29 mit ausführlichem Literatur- und Rechtsprechungsnachweis in Fn. 78. Für die Möglichkeit, in Ausnahmefallen durch Vereinbarung über die Herstellerfunktion den Eigentumserwerb einem anderen als dem tatsächlich Verarbeitenden zukommen zu lassen Staudinger - Wiegand, § 950 Rdn. 31 ff. 40 Zu dem Begriff der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen s.o. B. II. 41 Krause a.a.O., S. 81. 42 Tech, Günstigkeitsprinzip, S. 88 ff. 43 Nikisch Bd. II, S. 425. 44 Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 415.

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B. Betriebsnahe Regelungen

mittels des Günstigkeilsprinzips gefährdet werde. Weil es sich bei den betrieblichen Normen i. d. R. um Dienst- oder Ordnungsvorschriften handele, die Ordnung des Betriebes aber nur einheitlich regelbar sei, könne eine solche vom Tarifvertrag abweichende Regelung nur zugunsten aller Arbeitnehmer im Betrieb erfolgen. Die Begünstigung des einen würde gleichzeitig auch immer die Benachteiligung des anderen mit sich bringen. Das gegebene Mittel hierfür sei deshalb nicht die einzelvertragliche Abweichung, sondern die Betriebsvereinbarung. Nach Ansicht des Verfassers hängt die Frage der Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips auf betriebliche Normen von der Definition des Betriebsnormbegriffes ab. Nach dem BAG kommen als Betriebsnormen nur solche Regelungen in Betracht, "die aus tatsächlichen oder sachlichen Gründen nur einheitlich gelten können" und deren Regelung im Arbeitsvertrag "wegen evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit ausscheidet". 45 Diese Definition hat das BAG im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter entwickelt. Da die Betriebsnormen auch ohne Tarifbindung des einzelnen Arbeitnehmers gern. den §§ 3 ll, 4 I TVG Normwirkung entfalteten, sei die Bindung von tariflichen Außenseitern nur damit zu rechtfertigen, daß die Bestimmungen in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich gelten könnten46• Es ist sinnvoll, entsprechend der Definition des BAG zu unterscheiden, ob eine Norm vorliegt, bei der es in der Natur der Sache liegt, daß ihre individuell unterschiedliche Anwendung auf die einzelnen Arbeitnehmer nicht möglich ist. So wäre es z. B. mit der Sicherung des Betriebsfriedens unvereinbar, einen einzelnen Arbeitnehmer im Rahmen des Günstigkeitsprinzips vom Rauchverbot zu befreien, für ihn die Öffnungszeiten der Kantinen zu verlängern u.s.w.. Alle anderen Regelungen, die solche Materien ordnen, die eine unterschiedliche Behandlung im Einzelfall zulassen, ohne daß dies die Mißgunst der anderen Arbeitnehmer hervorruft, wären dagegen dem Günstigkeitsprinzip zugänglich. Nach der Definition des BAG würde sich bei ihnen die Frage der Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips jedoch erst gar nicht stellen: Da solche Normen aufgrund ihres Inhalts nicht nur kollektiv, sondern auch individuell regelbar sind, handelt es sich bei ihnen nach dem BAG nicht um Betriebsnormen, sondern um Inhalts- oder Abschlußnormen. Festzuhalten ist also, daß das Günstigkeilsprinzip auf Betriebsnormen nicht anwendbar ist. 45 46

BAG AP Nr. 57 zu Art. 9 GG. BAG a. a. 0.

III. Der Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips

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b) Betriebsverfassungsrechtliche Normen

Die Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf betriebsverfassungsrechtliche Normen ist ebenfalls abzulehnen. Zwar ist anerkannt, daß die Verbesserung der Rechte und Pflichten des Betriebsrates nach dem BetrVG, durch eine tarifliche Regelung möglich ist. 47 Eine individuelle Besserstellung des einzelnen ist jedoch aus den gleichen wie unter 1.) angeführten Gründen nicht möglich. Die Rechte des Betriebsrates z. B. können denklogisch nur einheitlich in bezug auf den ganzen Betrieb verändert oder neu gestaltet werden. Der Betriebsfrieden wäre erheblich gestört, wenn nur einzelne Arbeitnehmer ihre betriebsverfassungsrechtliche Stellung ändern könnten durch beispielsweise erhöhte Mitwirkung des Betriebsrates bei Kündigungen, andere sich dagegen mit dem alten Standard begnügen müßten. Für Unruhe unter der Belegschaft würde auch eine Vereinbarung führen, mit der ein Arbeitnehmer seine Rechtsposition im Hinblick auf Auswahlrichtlinien, die die Tarifvertragsparteien ebenso aufstellen können wie die Betriebspartner nach § 95 BetrVG48, verbessert. Solche Auswahlrichtlinien, die Vorgaben treffen für die mit erheblichen Folgen verbundene Kündigung, Versetzung oder Umgruppierung, haben zum Erhalt des Betriebsfriedens für alle Arbeitnehmer in gleicher Weise zu gelten. Gleiches muß für die Behandlung der Belegschaft im Hinblick auf tarifvertragliche Sozialpläne gelten. Bei betriebsverfassungsrechtlichen Fragen handelt es sich nun einmal um eine betriebliche Gesamtordnung, deren Regeln bei ihrer Aufstellung und Durchführung voneinander abhängen und deshalb einer Abänderung im Einzelfall nicht zugänglich sind. Würde man die Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf betriebsverfassungsrechtliche Normen zulassen, würde man den Willen der Tarifparteien, eine Gesamtregelung für alle Betriebsangehörigen zu schaffen, konterkarieren.49

3. Anwendbarkeit auf Inhaltsnormen, insbesondere auf Arbeitszeitbestimmungen Einigkeit besteht über die Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips auf Inhaltsnormen, also der Normen, die die Arbeitsverhältnisse inhaltlich regeln, wie z. B. Lohn, Urlaub, Nebentätigkeiten, Zulagen usw. 47 BAG AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG; Nr. 11 zu § 611 Akkordlohn; GK BetrVG Wiese,§ 87 Rdn. 11 m.w.N. 48 Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rdn. 89. 49 Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 167.

38

B. Betriebsnahe Regelungen

Sie sind der wichtigste Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips50; auf sie ist das Günstigkeitsprinzip zugeschnitten.51 Uneinig ist man sich darüber, ob das Günstigkeitsprinzip auch auf die Inhaltsnorm Arbeitzeitregelung anwendbar ist. Zur Erörterung dieser Problematik soll zur besseren Veranschaulichung der "Fall Viessmann" herangezogen werden - nur ein Beispiel der vielen52 in der Praxis getroffenen "Beschäftigungspakte", das in den Medien für großes Aufsehen sorgte. In diesem hatte das ArbG Marburg folgenden Sachverhalt zu beurteilen: Die Viessmann Werke GmbH & Co. ist im Bereich des Heizungsbaues mit 6500 Arbeitnehmern tätig und Mitglied im Arbeitgeberverband der hessischen Metallindustrie. Die Tarifverträge der hessischen Metallindustrie fanden zum Teil aufgrund gewerkschaftlicher Organisation, zum Teil aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung Anwendung. Wegen starker Auftragseinbrüche hatte die Firma Viessmann GmbH & Co. im Jahr 1995 450 Arbeitsplätze abgebaut. Zum Ende des Jahres 1995 teilte die Geschäftsleitung dem Betriebsrat mit, daß ein neues Produkt nicht in Deutschland, sondern an einer neuen Produktionsstätte in MytoiTschechien produziert werden solle. Als Grund für diese Entscheidung gab die Geschäftsleitung an, daß die Arbeits- und Produktionskosten in Deutschland zu hoch seien. Eine Arbeitsstunde in Tschechien koste 5,73 DM bei einer Wochenarbeitszeit von 40-42 Stunden, während in Deutschland das Unternehmen die Arbeitsstunde mit 41,80 DM brutto bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden zu vergüten habe. Das neue Produkt könne daher nicht wettbewerbsfähig in Deutschland produziert werden. Aufgrund der Größe des geplanten Werkes in Myto befürchtete der Betriebsrat weitere Produktionsverlagerungen nach Tschechien und somit einen Arbeitsplatzabbau in den deutschen Werken. Der Betriebsrat nahm deswegen Verhandlungen mit der Geschäftsleitung auf, um zu klären, unter welchen Bedingungen das neue Produkt anstatt in Tschechien doch noch in Deutschland im Werk AllendorflEder gefertigt werden könnte. Die Geschäftsleitung wies darauf hin, daß für eine Produktion in AllendorflEder eine Kosteneinsparung i. H. v. 29 Millionen erforderlich wäre. Nach langen Verhandlungen einigten sich schließlich Geschäftsleitung und Betriebsrat in einer "Regelungsabrede" auf folgende Punkte. I. Die Wochenarbeitszeit wird von bisher 37 Stunden auf 38 Stunden ohne Lohnausgleich für eine Dauer von 3 Jahren heraufgesetzt. 2. Im Gegenzug verpflichtet sich die Geschäftsleitung für eine Dauer von 3 Jahren keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen. Gleichzeitig ver-

so Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 846.

KempeniZachert, TVG, § 4 Rdn. 165; Linnekohl/RauschenbergiReh, BB 1990, s. 628 (630). 52 Zu weiteren Beispielen aus der Praxis s. o. B. IV. 2. c) bb). SI

III. Der Anwendungsbereich des Günstigkeilsprinzips

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pflichtet sie sich, das neue Produkt nicht in Tschechien, sondern in AllendorfjEder zu fertigen. Dabei stimmten 14 nicht gewerkschaftlich organisierte Betriebsratsmitglieder der Regelungsabrede zu, 9 gewerkschaftlich organisierte Mitglieder lehnten sie ab. Die Geschäftsleitung forderte daraufhin durch Rundschreiben die Arbeitnehmer auf, das zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung getroffene "Bündnis für Arbeit" im Wege von Einzelarbeitsverträgen umzusetzen. Dieser Aufforderung kamen 94 % der Belegschaft nach. 53 Die IG Metall beantragte daraufhin beim ArbG Marburg, die Geschäftsleitung zu verpflichten, es zu unterlassen, ihre Beschäftigten über die tarifliche durchschnittliche Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche hinaus ohne entsprechenden Lohnausgleich zu beschäftigen. Sie berief sich u. a. darauf, daß für die tarifgebundenen Arbeitnehmer die tariflich vereinbarte Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche gern. § 4 I TVG unmittelbar und zwingend gelte. Die Geschäftsleitung könne sich nicht darauf berufen, daß die Einzelarbeitsverträge gern. § 4 III TVG zulässig seien. Das Verhalten der Geschäftsleitung höhle letzlieh die Tarifautonomie aus. 54 Die Geschäftsleitung der Viessmann Werke berief sich hingegen auf § 4 III TVG. Nach einer neuen Sichtweise des Günstigkeilsprinzips sei der Erhalt des Arbeitsplatzes im Wege einer Gesamtschau zu berücksichtigen. Die selbstbestimmte Entscheidung der Arbeitnehmer sei deshalb als günstiger i. S. v. § 4 III TVG zu werten. Im Fall "Viessmann" hat man also unter Berufung auf das Günstigkeitsprinzip die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängert, um dadurch langfristig Arbeitsplätze zu erhalten. Kann aber das Günstigkeitsprinzip auf Arbeitszeitbestimmungen überhaupt angewendet werden? Wenn ja, ist es zulässig, bei der Beurteilung der Günstigkeit (Günstigkeitsvergleich) den Aspekt des Arbeitsplatzerhaltes mit zu berücksichtigen. Dies Fragen sind im folgenden zu klären.

Hueck/Nipperde/ 5 sowie Richardi56 treffen keine Aussage hinsichtlich

der Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips auf Arbeitszeitbestimmungen, stellen jedoch nicht in Frage, daß eine einzelvertragliche Verlängerung der Arbeitszeit stets als ungünstiger zu bewerten sei. Eine Erhöhung der Arbeitszeit sei aufgrund des das gesamte Arbeitsrecht prägenden Schutzgedankens hinsichtlich des Arbeitnehmers und dem seit ihrem Bestehen verfolgten Ziel der Gewerkschaften, die Arbeitszeit zu verkürzen, stets als Verschlechterung der Arbeitsbedingung zu werten. 57 Vgl. die ausführliche Darstellung des Sachverhalts des ArbG Marburg, NZA s. 1331. 54 Des weiteren stellte die Gewerkschaft den Antrag, die Betriebsratsmitglieder, die dem Bündnis für Arbeit zustimmten, wegen Verstoßes gegen die §§ 2 I, 80 I BetrVG ihres Amtes zu entheben. Auf diese im Ergebnis erfolglosen Anträge soll jedoch nicht näher eingegangen werden. 55 Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 609. 56 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 378. 53

1991,

40

B. Betriebsnahe Regelungen

Man kann ihren Äußerungen also nicht entnehmen, daß sie die Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips auf Arbeitszeitbestimmungen schlechthin ablehnen. Es ist nämlich nicht eine Frage der Anwendbarkeit, wenn sie behaupten, daß die Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit stets als ungünstiger zu bewerten sei, sondern Ergebnis der Anwendung des Günstigkeitsprinzips. Allerdings überzeugt ihre inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Günstigkeilsprinzip nicht. Dies gilt insbesondere für ihr Argument hinsichtlich der tarifpolitischen Absichten der Gewerkschaften. Tarifpolitische Zielsetzungen können nicht die rechtliche Prüfung einer Regelung am Maßstab des Günstigkeitsprinzips ersetzen. Dieses soll ja gerade als Schranke der Fremdbestimmung der Arbeitnehmer die Interessen des einzelnen Arbeitnehmers und nicht irgendwelche Gesamtinteressen sichern. Die Einbeziehung solcher kollektiver Interessen sprengt den Rahmen des dem einzelnen dienenden Günstigkeitsprinzips. 58 Hinzu kommt, daß es mit dem verfassungsrechtlichen Verständnis von der Arbeitsleistung als Verwirklichung persönlicher Freiheit im beruflichen Bereich nicht zu vereinbaren ist, eine übertarifliche Arbeitszeit von vornherein als ungünstiger für den Arbeitnehmer zu bewerten. Ein Arbeitnehmer kann aus wirtschaftlichen oder ideellen Gründen durchaus ein berechtigtes Interesse an der Erbringung einer im Vergleich zur tariflichen Regelung längeren Arbeitszeit haben. So kann z. B. nicht nur die Erzielung eines höheren Einkommens, sondern gerade auch die vermehrte Arbeit in einem Arbeitsbereich, der einen beruflichen Aufstieg in Aussicht stellt, durchaus als verständliche Motive des Arbeitnehmers für eine längere Arbeitszeit in Betracht kommen. Auch das BAG59 hat eine einzelvertragliche Verlängerung der Arbeitszeit im Rahmen des Günstigkeilsprinzips für zulässig erachtet, solange dem Arbeitnehmer die freie Wahl zwischen den beiden Arbeitszeiten verbleibe.60 Nikisch61 verneint die Anwendbarkeit des Günstigkeilsprinzips damit,

daß es sich bei Arbeitszeitbestimmungen um Verbotsnormen (auch negative Inhaltsnormen genannt) handele, die es den Parteien des Einzelarbeitsverhältnisses verbieten würden, über die im Tarifvertrag gesetzte Grenze hinauszugehen. Auch Wank62 will das Günstigkeilsprinzip dann nicht zur Anwendung kommen lassen, wenn die tariflichen Arbeitszeitregelungen als negative Hueck/Nipperdey a. a. 0.; Richardi a. a. 0. Bengelsdorf, AuA 1994, S. 97 (99). 59 BAG DB 1989, S. 2028. 60 Auf die Freiwilligkeit stellen auch das ArbG Nümberg DB 1990, S. 2605 (2606) sowie Löwisch DB 1989, S. 1185 (1187 f.) ab. 61 Nikisch Bd. II, S. 433. 57 58

III. Der Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips

41

Inhaltsnormen anzusehen sind, die einen Abschluß von übertariflichen Arbeitszeiten verbieten, um dadurch die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen.63 Abgesehen davon, daß das Gesetz keine Unterscheidung zwischen negativen und positiven Inhaltsnormen trifft, spielt der Gesichtspunkt des Arbeitnehmerschutzes bei der Festlegung von Arbeitszeiten heute nur noch eine geringe Rolle. Das Motiv des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer wird bei der Festlegung von Arbeitszeiten zunehmend von beschäftigungspolitischen Motiven verdrängt. Die Bestrebungen der Gewerkschaften, die Arbeitszeiten möglichst gering zu halten, sollen heute vorwiegend der gerechten Verteilung des knappen Gutes Arbeit dienen. 64 Nach Gamillscheg verfolgen die Tarifpartner vor allem dieses sozialpolitische Ziel der Beschäftigungsförderung, was sie jedoch nicht erreichen könnten, wenn mittels des Günstigkeitsprinzips dem Tarifvertrag und somit den beschäftigungsfördernden Arbeitszeitregelungen der Boden unter den Füßen entzogen würden. Selbst wenn dem einzelnen die Arbeitszeit günstiger erscheine, so habe er ein Sonderopfer, das der Solidaritätsgedanke verlange, zu erbringen. 65 M. E. ist das Streben nach Verbesserung der Arbeitsmarktsituation nicht dazu geeignet, die Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips auf Arbeitszeitregelungen zu verneinen. Zwar ist die Schaffung von Arbeitsplätzen stets zu unterstützen, im Zusammenhang mit dem Günstigkeitsprinzip auf Solidaritätsgedanken und Sonderopfer abzustellen, jedoch verfehlt. Bei § 4 III TVG geht es gerade nicht um das Kollektiv, das durch Rückstellung von Einzelinteressen, durch Sonderopfer und Solidarität zu schützen ist. Vielmehr geht es hier um die Abgrenzung des das Individuum repräsentierenden Einzelarbeitsvertrages zum Kollektivinteresse, das durch den Tarifvertrag geschützt wird. In § 4 III TVG ist die Rede von einer Änderung zugunsten des Arbeitnehmers und nicht der Arbeitnehmerschaft. Individuum und nicht Kollektiv sind also bei der Bestimmung der Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips entscheidend. Das Günstigkeitsprinzip ist somit auch auf Arbeitszeitregelungen anzuwenden.

Wiedernano- Wank, TVG, § 4 Rdn. 412 ff. Ausdrücklich im Hinblick auf Arbeitszeitregelungen Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Auf!., § 4 Rdn. 424. 64 Näher dazu unten B. IV. e) 4. bb (3) (b). 65 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 848 f. 62 63

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B. Betriebsnahe Regelungen

IV. Grundlagen des Günstigkeitsvergleichs Zu klären bleibt die Frage, was als "günstiger" für den Arbeitnehmer i. S. v. § 4 III TVG anzusehen ist. § 4 III TVG selbst liefert keinen Hinweis dafür, welche Abweichungen von den tariflichen Bestimmungen als günstiger für den Arbeitnehmer anzusehen sind. So verwundert es nicht, daß die Frage nach Maßstäben und Umständen der Bewertung einzelvertraglicher Abweichungen sich stets großer wissenschaftlicher Auseinandersetzung erfreute. Dabei wurden i. d. R. drei Fragen diskutiert. Die Frage nach

- dem Berurteilungsmaßstab, d. h. ob die gesamte Arbeitnehmerschaft oder lediglich der einzelne Arbeitnehmer Bezugspunkt des Günstigkeitsvergleichs sind, ob sich also die Abweichung für die gesamte Arbeitnehmerschaft oder lediglich für den einzelnen Arbeitnehmer als günstiger erweisen muß. - dem Vergleichsgegenstand, d.h welche Gegenstände der einzelvertraglichen bzw. der tariflichen Regelung miteinander zu vergleichen sind und welche Umstände im Vergleich Berücksichtigung finden können. - der Beurteilungsperspektive, d.h. aus wessen Sicht die Günstigkeit festzulegen ist. Kann der betroffene Arbeitnehmer selbst entscheiden, ob die Abweichung für ihn eine Besserstellung bedeutet oder muß dies, um ihn vor sich selbst zu schützen, von dritter Seite bestimmt werden?

1. Beurteilungsmaßstab Die Frage, ob die Günstigkeit der Abweichung aus Sicht der gesamten Arbeitnehmerschaft oder aus Sicht des einzelnen Arbeitnehmers zu beurteilen ist, ist heute weitgehend geklärt. Die in der Weimarer Zeit weit verbreitete Ansicht66, als günstig könne nur diejenige Abweichung betrachtet werden, die den Interessen der gesamten Arbeitnehmerschaft diene, wird heute allgemein abgelehnt. Begründet wurde diese Ansicht damit, daß die Tarifnormen als Kollektivvereinbarungen das Gesamtinteresse aller Arbeitnehmer und nicht das Interesse einzelner verfolgten. Durch die TVO würden für die Arbeitnehmerschaft Mindestarbeitsbedfngungen geschaffen. 66 RG JW 1927 S. 241 (242), Sächs. OVG NZfA 1927, S. 184 (185); GewGer. Oberlahnstein Gew KfGer 1924, S. 46 (47), LG Bautzen NZfA 1925, S. 553 (554); Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, S. 121; Flatow, Betriebsvereinbarung und Arheilsordnung, S. 69.

IV. Grundlagen des Günstigkeitsvergleichs

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Das darauf zurückgehende Prinzip der Unabdingbarkeil tariflicher Normen werde gefährdet, wenn man es dem einzelnen Arbeitnehmer gestatte, seine Sonderinteressen ohne Rücksicht auf die Belange der Gesamtarbeitnehmerschaft durchzusetzen. 67 Dieser Ansicht ist schon damals Nipperdey mit dem Hinweis auf den Wortlaut des § 1 I 2 TVO entgegengetreten: In § 1 I 2 TVO werde die kollektive Vereinbarung der individuellen gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung sei nicht durchzuführen, wenn man beim Vergleich kollektive/ individuelle Regelung wieder auf das kollektive Interesse abstelle. Ein solches Vorgehen bei der Beurteilung des Günstigkeitsprinzips, das als Ausnahmevorschrift in der TVO das Einzelinteresse schütze, führe zu einem Zirkelschluß. 68 Die heute herrschende Lehre69 stellt ebenfalls auf das Individualinteresse ab. Däubler hebt die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gesamtinteresses, z.B hinsichtlich der Bewertung von Überstunden hervor. 70 Joost71 betont die Beschränkung der Kollektivmacht zugunsten der Pri-

vatautonomie durch das Günstigkeilsprinzip zur Sicherung der individuellen Vertragsfreiheit Die Interessen der Gesamtarbeitnehmerschaft solle der Kollektivvertrag zwar wahren, jedoch nur im Rahmen seiner Grenzen, die ihm u. a. durch das Günstigkeilsprinzip gesetzt würden. Die Anwendung dieser Schranke könnte folglich nicht von Kriterien, die durch das Gesamtinteresse gebildet werden, abhängen. Das Günstigkeilsprinzip schütze die Privatautonomie, welche gerade der Verfolgung des subjektiven Einzelinteresses diene. 72 Wlotzke schließlich stellt darauf ab, daß das Günstigkeitsprinzip den individuellen Leistungsgedanken fördert. Dem stehe die Berücksichtigung des Gesamtinteresses entgegen. Die vertraglich besser gestellten Arbeitnehmer würden sich nicht mehr mit der gleichen Kraft für eine allgemeine Erhöhung der Tarifleistungen einsetzen wie bisher und damit die gemeinsame Front der Arbeitnehmer zur Erreichung günstigerer Arbeitsbedingungen schwächen.73 Siehe anstatt aller Hueck a. a. 0 ., S. 121. Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, S. 9; Buschmann, NZA 1990, S. 387 (388). 69 Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 446; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 381, Wlotzke a.a. O. S. 77, Joost, ZfA 1984, S. 173 (184); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 202; Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 186. 70 Däubler a. a. 0 . 71 Joost, ZfA 1984, S. 173 (179). 72 Joost a. a. 0. 67

68

B. Betriebsnahe Regelungen

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Anders sieht dies Käppler74 : Aufgrund verbandsrechtlicher Loyalitätspflichten der Koalitionsmitglieder gegenüber der Gewerkschaft könne nicht auf subjektive Interessen abgestellt werden. Zentraler Verbandszweck der Koalitionen sei die Festlegung und Durchsetzung gerechter Arbeitsbedingungen. Das Aushandeln der gerechten Konditionen erfolge durch die Gewerkschaften, womit sie gleichzeitig die Einzelinteressen ihrer Mitglieder standardisierten.75 Durch dem Gesamtinteresse widersprechende, subjektiv für günstiger empfundene einzelvertragliche Abweichung76 verletze der Arbeitnehmer seine verbandsrechtliche Bindung. Maßgeblich sei beim abweichenden Individualvertrag deshalb das Gesamtinteresse. M. E. bedarf es seit Schaffung des TVG einer Diskussion um den erörterten Berurteilungsmaßstab nicht mehr. Indem § 4 Ill TVG auf eine Abweichung zugunsten des Arbeitnehmers abstellt, wird deutlich, daß es den Vätern des TVG nicht auf die Interessenberücksichtigung der Mehrzahl der Arbeitnehmer ankam. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß sie um die genannte Diskussion in der Weimarer Zeit wußten und mit der bewußten Wahl des Wortlautes "Arbeitnehmers" den Streit zugunsten des Individualinteresses entscheiden wollten. Andernfalls wäre es ihnen ein leichtes gewesen, anstelle der Begünstigung des "Arbeitnehmers" eine Begünstigung der "Arbeitnehmerschaft" zur Voraussetzung einer individuellen Abweichung zu machen. Nur ein solches Verständnis des § 4 III TVG wird dem individuellen Charakter des Günstigkeilsprinzips gerecht. Wie soll das Günstigkeitsprinzip seiner Funktion als Sicherungsinstrument vor einer eventuell übermächtigen, bevormundenden Kollektivmacht gerecht werden, wenn diese durch die Hintertür des Beurteilungsmaßstabes letzlieh wieder zum Zuge kommt? Bei einem Abstellen auf das Gesamtinteresse würde dieses wieder durch die Gewerkschaften definiert. § 4 III TVG soll jedoch dem einzelnen zur Ausübung seiner Vertragsfreiheit ohne jeglichen Einfluß von Verbänden verhelfen. Dies ist entgegen Käppler auch verbandsrechtlich unbedenklich. Käppler stellt selbst fest, daß bei verbandsrechtlichen Loyalitätspflichten die "Realstruktur" des Verbandes, seine etwaige Monopolstellung und seine soziale Mächtigkeit zu berücksichtigen sind.77 Die Gewerkschaften müssen aber über eine gewisse soziale Mächtigkeit und folglich eine große Mitgliederzahl verfügen, um überhaupt die Tariffähigkeit78 erlangen zu können. Diese Wlotzke a. a. 0. Käppler, NZA 1991, S 745 (751 ff.); für ein Abstellen auf das Gesamtinteresse auch Buschmann, NZA 1990, S. 387 (388). 75 Käppler, NZA 1991, S. 745 (752). 76 Käppler spricht hier zwar nicht vom Gesamtinteresse, sondern vom standardisierten Individualinteresse. Dies ist aber nichts anderes als das Gesamtinteresse. 77 Käppler, a. a. 0., S. 752. 73

74

IV. Grundlagen des Günstigkeitsvergleichs

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Realstruktur macht eine Mitwirkung des einzelnen Mitgliedes bei der Bestimmung des "standardisierten Einzelinteresses" in der Praxis nahezu unmöglich. Auch gibt es in den einzelnen Branchen wegen der hohen Anforderungen an die Tariffähigkeit zumeist nur eine Gewerkschaft, der damit eine Monopolstellung einnimmt, das Mitglied also nicht einfach zu einem anderen Verband wechseln kann, durch den es seine Interessen besser verwirklicht sieht. Die Bindung an tarifliche Vorgaben ,,komme was da wolle", 79 entgegen dem subjektiven Günstigkeilsverständnis des einzelnen, mit verbandsrechtlichen Loyalitätspflichten zu begründen, ist deshalb nicht zulässig. Die Bestimmung der Reichweite des Günstigkeitsprinzips, das die gewerkschaftliche Regelungsmacht beschränken soll, kann nicht mittels Loyalitätspflichten den Gewerkschaften zugewiesen werden. Dies wäre ein Widerspruch in sich. Für die Beurteilung der Günstigkeit ist daher allein die Situation des einzelnen entscheidend und somit ein individueller Maßstab anzulegen.

2. Vergleichsgegenstand Unproblematisch ist die Beurteilung der Günstigkeit einer einzelvertraglichen Abweichung vom Tarifvertrag, solange jede einzelne Abweichung die tariflichen Mindestbedingungen überschreitet. Problematischer wird die Günstigkeitsbestimmung jedoch dann, wenn die Abweichungen des Einzelarbeitsvertrages Vereinbarungen enthalten, die Verbesserungen für den Arbeitnehmer bringen, zum Teil jedoch auch als Verschlechterung im Vergleich zum Tarifvertrag zu werten sind. Zur Vorgehensweise der Günstigkeitsbeurteilung in solchen Fällen wurden von Rechtsprechung und Literatur im wesentlichen drei Möglichkeiten entwickelt. a) Der isolierte Vergleich Nach dem sog. isolierten Vergleich soll jede einzelne Abweichung des Arbeitsvertrages der entsprechenden tariflichen Norm gegenübergestellt werden. Diese Methode wird heute jedoch einhellig abgelehnt, da sie zu dem Ergebnis führt, daß die günstigere Regelung wirksam, die ungünstigere unwirksam gern. § 4 III TVG ist, der Arbeitnehmer sich somit die wirksamen, günstigeren Regelungen herauspicken kann (sog. Rosinentheorie). 80 Die Unwirksamkeit der untertariflichen und damit ungünstigeren Bestim78

Zu den Voraussetzungen der Tariffähigkeit vgl. BVerfG AP Nr. 1 zu Art. 9

79

So Käppler a. a. 0., S. 753.

GG.

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B. Betriebsnahe Regelungen

mung wird dem Willen der Parteien, durch die Unterschreitung einen Ausgleich bzw. einen Zusammenhang zur Überschreitung der tariflichen Vereinbarung an anderer Stelle zu schaffen, nicht gerecht. Der isolierte Vergleich reißt den gewollten Zusammenhang der Regelungen auseinander und ist deshalb abzulehnen. b) Der Gesamtvergleich

Nach dem sog. Gesamtvergleich soll der abweichende Arbeitsvertrag als Ganzes mit dem gesamten Tarifvertrag verglichen werden. Die Abweichung soll dann zulässig sein, wenn sie insgesamt als vorteilhafter zu bewerten ist.81 Aber auch der Gesamtvergleich wird heute überwiegend abgelehnt.82 Ein solcher Vergleich bedeute eine Gegenüberstellung inkommensurabeler Bestimmungen, der zu einem Vergleich Äpfel mit Birnen führe, wenn z. B. die Verteilung des Betriebsrisikos mit zusätzlichem Urlaubsgeld83 oder die Aussicht auf ein Jubiläumsgeld mit dem freien Faschingsdienstag verglichen wird. 84 Des weiteren wird auf die erheblichen praktischen Schwierigkeiten des Vergleichs des Arbeitsvertrages mit dem gesamten Tarifvertrag hingewiesen.85 c) Der Gruppenvergleich

Aus den oben genannten Gründen beschreitet die h.M. 86 den Mittelweg des sog. Gruppenvergleichs. Nach diesem werden solche Regelungen des Tarifvertrages und des Arbeitsvertrages gegenübergestellt und verglichen, die sich auf ein bestimmtes Sachgebiet beziehen und dabei in einem inneren sachlichen Zusammenhang stehen. 80 RAGE 19, 55 (57); Bengelsdorf, AuA 1994, S. 97 (99); Schulz a.a. O., S. 216; Wlotzke a.a.O., S. 83; Krause a.a.O., S. 85; Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., s. 610. 81 ArbG Bremen 1950 AP Nr. 50 Nr. 293; LAG München AP 50 Nr. 275; Kaskel, Arbeitsrecht, S. 38; Linnekohl/Rauschenberg/Reh, BB 1990, S. 628 (629). 82 Zachert/Kempen TVG, § 4 Rdn. 188; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 179; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 4; Etzel, NZA 1987 Beilage 1, S. 19 (24). 83 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 204. 84 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 852. 85 Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 188; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 84; Nikisch Bd. II, S. 434. 86 BAG DB 1984 S 2143 (2144); BAG AP Nr. 9 zu § 339; LAG Hamm DB 1958, S. 519 (520); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 853; Joost, ZfA 1984, S. 173 (177); Bengelsdorf, AuA 1994, S. 97 (99); Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 471 f. Zachert/Kempen TVG, § 4 Rdn. 205; Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 611; Nikisch Bd. II, S. 434; Wlotzke a.a.O., S. 85; Schulze a. a.O., S. 218.

IV. Grundlagen des Günstigkeilsvergleichs

47

Die Feststellung eines inneren Zusammenhanges soll dabei sowohl nach objektiven als auch nach subjektiven Kriterien möglich sein. aa) Objektiv innerer Zusammenhang

Von einem objektiv inneren Zusammenhang ist dann auszugehen, wenn die Regelungen der Natur der Sache nach als zusammengehörend anzusehen sind, wenn sie also derart wesensgleich sind, daß sie für sich allein keine selbständige Existenz aufweisen können. Erst mit der wesensverwandten Vorschrift, mit der sie eine Vergleichseinheit bilden, verschmelzen sie zu einer rechtlichen Einheit. 87 Beispielhaft hierfür sind die Urlaubsregelungen. 88 So muß z. B. die gesamte Urlaubsregelung eines Tarif- oder Arbeitsvertrages in einem rechtlichen Zusammenhang gesehen werden: Ist z. B. die arbeitsvertragliche Urlaubsvergütung geringer als die tarifliche, die Urlaubsdauer des Einzelvertrages jedoch wesentlich höher als die tarifliche, so ist die vertragliche Abrede in der Gesamtschau als günstiger zu bewerten. Die geringere Urlaubsvergütung wird durch die wesentlich höhere Urlaubsdauer derart kompensiert, daß im Ergebnis der arbeitsvertragliche Gesamtkomplex Urlaub als günstiger gegenüber der tariflichen Regelung zu beurteilen und deshalb gern. § 4 III TVG wirksam ist. 89 An diesem Beispiel der Urlaubsregelung wird deutlich, daß mit der Begründung eines inneren Zusammenhanges und der damit verbundenen Gegenüberstellung von Gruppenkomplexen der Weg für kompensatorische Regelungen frei gemacht wird (die geringere Urlaubsvergütung wird durch die wesentlich höhere Urlaubsdauer kompensiert). Einer solchen Zulassung von kompensatorischen Regelungen innerhalb des Gruppenvergleichs wird entgegengehalten, sie verstoße gegen das in § 4 I TVG verankerte Unabdingbarkeitsprinzip.90 § 4 I TVG i. V. m. § 4 III TVG sei nicht zu entnehmen, daß die Unterschreitung von tariflichen Mindestbedingungen zulässig ist, soweit sie nur an anderer Stelle durch übertarifliche Vereinbarungen ausgeglichen wird. 91 Dem Arbeitnehmer kaufe man damit tarifliche Mindestbedingungen durch übertarifliche Zusagen an anderer Stelle im Arbeitsvertrag ab92 ; Mindestkonditionen würden dadurch zum Handelsobjekt der Arbeitsvertragsparteien gemacht.93 Entscheidender Gesichtspunkt gegen die RAG a.a.O.; Hueck/Nipperdey a.a.O.; Wlotzke a. a.O.; Belling a.a.O. Hueck/Nipperdey a.a.O.; Wlotzke a.a.O.; Schulze a. a.O. 89 Ein ausführlicher Überblick darüber, welche Konditionen objektiv zu einer Gruppe zusammengefaßt werden können, findet sich bei Gamillscheg a. a. 0., S. 853 f. 90 Belling a.a.O., S. 182 ff.; Tech a.a.O., S. 107. 91 Belling a.a. O., S. 182. 92 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 206. 87 88

48

B. Betriebsnahe Regelungen

Zulässigkeit kompensatorischer Vereinbarungen sei jedoch die Schwierigkeit, einen sicheren Günstigkeilsmaßstab zu finden. 94 Richtig ist, daß § 4 TVG keine Aussage bezgl. der Zulässigkeit der Unterschreitung einzelner tariflicher Konditionen durch Kompensation anderorts macht, ersichtlich ist deshalb auch nicht, warum dies nicht möglich sein soll. Sinn und Zweck des § 4 III TVG stehen der Vereinbarung kompensatorischer Arbeitsbedingungen jedenfalls nicht entgegen: Die Funktion des Günstigkeilsprinzips besteht darin, dem Arbeitnehmer die Wiedererlangung seiner Arbeitsvertragsgestaltungsfreiheit zu sichern, wenn er die Arbeitsbedingungen durch Einzelabrede günstiger gestalten kann. Er nimmt dann wieder die Aufgabe wahr, die er zuvor seiner Gewerkschaft übertragen hatte.95 Das Aushandeln von Arbeitsbedingungen durch Einzelarbeitsvertrag wie durch Tarifvertrag ist aber nun einmal ein "Kompromißpaket", das durch gegenseitiges Geben und Nehmen entsteht. Diese Form des Kontrahierens bringt typischerweise mit sich, daß ein großzügiges Geben an einer Stelle durch starkes Nehmen an anderer Stelle kompensiert wird. Was ist also so schändlich daran, daß Arbeitsbedingungen zum "Handelsobjekt" werden? Sie waren doch auch beim Tarifvertragsabschluß Verhandlungsgegenstand. Auch die Schutzfunktion des Tarifvertages wird durch kompensatorische Vereinbarungen nicht beeinträchtigt, da diese erst dann wirksam werden, wenn aus der Günstigkeitsbeurteilung resultiert, daß im Vergleich zum tariflichen Mindeststandard eine Verbesserung der Rechtsposition vorliegt. Diese Beurteilung obliegt dem einzelnen Arbeitnehmer selbst, so daß er frei entscheiden kann, ob er von den tariflichen Vorgaben abweicht oder nicht. 96 bb) Subjektiv innerer Zusammenhang

Läßt sich ein Zusammenhang der Regelungen nach den Kriterien des objektiv inneren Zusammenhanges nicht begriinden, so ist nach h.M.97 dennoch ein Verbund verschiedener Regelungen zu einer Vergleichseinheit möglich, solange dies dem Willen der Arbeitsvertragsparteien entspricht. Hätten die Parteien den Zusammenhang im Vertrag nicht ausdriicklich Däubler a.a.O., Rdn. 218. Helling a. a. 0., S. 183. 95 Dazu ausführlich unten B. IV. 4 e) (bb) (2). 96 Dazu ausführlich unten B. IV. 4.e) (bb) (3). 97 BAGE 7, 149 (151); Joost a.a.O.; Nikisch a.a.O.; Gamillscheg a.a.O.; S. 854; Wiedemann -Wank, TVG, § 4 Rdn. 472 Hueck/Nipperdey a.a.O., S. 612; Etzel, NZA 1987, Beilage 1, S. 19 (24); Bengelsdorf, ZfA 1990, S. 563 (594). 93 94

IV. Grundlagen des Günstigkeitsvergleichs

49

bestimmt, so könnte der Zusammenhang der Bestimmungen auch im Wege der Auslegung gern. den §§ 133, 157 BGB ermittelt werden. 98 Mit dieser Möglichkeit, inkommensurable Arbeitsbedingungen aufgrund eindeutiger Parteivereinbarung gegenüberzustellen und zu vergleichen, wird der dem Gesamtvergleich entgegengehaltene Einwand, er führe entgegen dem Parteiwillen zur Gegenüberstellung von nicht vergleichbaren Bedingungen, relativiert: Ist der Vergleich von nicht objektiv zusammenhängenden Konditionen innerhalb einer Gruppe möglich, so muß dies auch für die größere Einheit des gesamten Einzel- bzw. Tarifvertrages und somit für den Gesamtvergleich gelten. In der Regel wird man jedoch nur wenige einzelvertragliche Abweichungen vornehmen, so daß es richtiger erscheint, einen Vergleich innerhalb der kleineren Einheit "Gruppe" vorzunehmen, der die Einbeziehung der zahlreichen Arbeitsbedingungen des komplexen Tarifvertrages nicht erfordert und somit der verfahrensmäßig einfachere Weg ist. Der Günstigkeitsvergleich ist also richtigerweise anband des Gruppenvergleichs durchzuführen. Zurückzukommen ist nun auf die Ausgangsfrage: kann ein Unternehmen mittels des Günstigkeitsprinzips von den nicht mehr zu erfüllenden tariflichen Regelungen abweichen, wenn dadurch bedrohte Arbeitsplätze gerettet werden können? Ist es den Arbeitsvertragsparteien der bedrohten Arbeitsverhältnisse möglich ist, den tariflichen Lohn zu reduzieren bzw. die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich zu verlängern bei gleichzeitiger Zusicherung des Arbeitgebers, keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen. Ist dies der Fall, so könnten die in letzter Zeit vermehrt auftretenden, höchst umstrittenen "Beschäftigungspakte" legitimiert werden. So wurde wie bereits gesagt - im "Fall Viessmann" die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit ohne Lohnausgleich von 37 auf 38 Stunden heraufgesetzt, um die deutschen Werke wettbewerbsfahig zu halten. Wie die ViessmannWerke hat auch die Duntop GmbH Hanau mit Wirkung vom 1.4. 1998 für eine Laufzeit von zwei Jahren die bisherige wöchentliche Arbeitszeit von bisher 37,5 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich heraufgesetzt. Im Gegenzug wurde auch hier zugesichert, für diesen Zeitraum auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten.99 Gleiches beim Reifenhersteller Continental AG im Werk Hannover. Die Continental AG verlagert zunehmend ihre Produktion ins Ausland, weil sie dort wesentlich billiger, z. B. in Portugal bis zu 40%, produzieren kann als in Deutschland. 100 Bereits im Jahre 94 verHueck/Nipperdey a.a.O; Belling, a.a.O., S. 179. Vgl. F.A.Z. vom 20.12.1997, S. 21. 100 Vgl. "Konkurrenz der Standorte bei Continental", F.A.Z. vom 31. August 1998, s. 30. 98 99

4 Freihube

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B. Betriebsnahe Regelungen

einharte man bei der Schlajhorst 101 AG Mönchengladbach eine Steigerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich bei gleichzeitigem Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen. Ähnliches bei der Burda 102- GmbH Offenburg. Nach der Schließung des Standortes Darrnstadt wegen Unrentabilität, schlossen sich in Offenburg die Betriebsparteien zusammen, um die Wettbewerbsfähigkeit und somit die Arbeitsplätze durch Streichung von Zuschlägen und Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit von 35 auf 39 Stunden ohne vollen Lohnausgleich sicherstellen. Auch hier während der Laufzeit der Vereinbarung eine Beschäftigungsgarantie durch den Arbeitgeber. Der Regeltechnikhersteller Neways Electronics Production Kassel führte eine Spreizung der wöchentlichen Arbeitszeit ein und reduzierte die Gehälter bis zu 15 %. Als Ergebnis konnte man im nächsten Geschäftsjahr einen Gewinn von l Millionen DM (im Vorjahr ein Verlust von 3 Millionen DM) und 10 % Neueinstellungen vorweisen. 103 Als weitere Beispiele sind zu nennen die Adam Opel Rüsselsheim 104, die AG Progress AG Oberkirch 105 , die Rohwedder GmbH & Co KG Markdorf106, beide Zulieferer in der Automobilindustrie, die Homag Maschinenbau AG Schopfloch 107, die Sachsen Zweirad GmbH in Neukirch 108, sowie die Krone AG in Berlin. 109 Gegenstand dieser Abmachungen waren zumeist Betriebsvereinbarungen bzw. Regelungsabreden. Die Betriebsvereinbarung ist ein schriftlicher Vertrag zwischen den Betriebsparteien zur Festsetzung von Rechtsnormen über Inhalt, Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen oder betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen. 110 Ob solche Betriebsvereinbarungen mittels des Günstigkeitsprinzips, weil arbeitsplatzerhaltend, Wirksamkeit erlangen können, ist Gegenstand des Kapitels C. Unter einer Regelungsabrede, oftmals auch Betriebsabsprache genannt, versteht man eine formlos mögliche Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber, die auch nur dieselben verpflichtet. 111 Im Gegensatz zur Vgl. Handelsblatt vom 27.1.1994. Vgl. BAG NZA 1999, S. 887 ff. Dazu näher unten B. V. 2., S. 51. 103 Vgl. F.A.Z. vom 11.2. 1997, S. 20. 104 Bereits im Jahr 1993, dazu Linnekohl, BB 1994, S. 2081 (2080). los Vgl. F.A.Z. vom 22. 9.1997, S. 22. 106 Vgl. F.A.Z. a. a.O. 107 Vgl. F.A.Z. a. a. 0. 108 Vgl. F.A.Z. vom 8.4.1994, S. 23. 109 Vgl. auch den vom LAG Baden-Württemberg 11 SA 141196 zu beurteilenden "Beschäftigungspakt", der in einem Unternehmen in der Elektroindustrie mit 350 Arbeitnehmern geschlossen wurde. 110 Siehe nur Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 77 Rdn. 3. 111 Münch AR. Hb. - Matthes, § 139 Rdn. 90. 101

102

V. Zulässigkeit des Vergleichs unsicherer/sicherer Arbeitsplatz

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Betriebsvereinbarung wirkt sie nicht unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis ein, sondern bedarf erst ihrer einzelvertraglichen Umsetzung. 112 Diese einzelvertraglichen Umsetzungen könnten, trotz der Abweichung von den tariflichen Konditionen, gern. § 4 III TVG wirksam sein. Aufgrund der Ausführungen zum Gruppenvergleich scheint dies durchaus möglich. Die betroffenen Parteien könnten vertraglich festlegen, daß zwischen der Senkung des Tarifniveaus und dem Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen, entsprechend ihrem Willen, ein innerer Zusammenhang besteht (Theorie des subjektiv inneren Zusammenhanges). Wenn sich der Erhalt des Arbeitsplatzes durch Lohnkürzung bzw. Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich 113 nach der noch zu bestimmenden Beurteilungsperspektive als günstiger gegenüber dem tariflich entlohnten, aber stark gefahrdeten Arbeitsplatz erweist, wäre eine solche Abrede gern. § 4 III TVG wirksam. Das Günstigkeitsprinzip stellt dann ein bedeutendes Mittel für die Unternehmen dar, auf wirtschaftliche Notzeiten mit einer Senkung der Lohnkosten unter gleichzeitiger Erhöhung der Produktivität flexibel zu reagieren. Dies setzt jedoch den Vergleich des unsicheren mit dem sicheren Arbeitsplatz voraus.

V. Zulässigkeil des Vergleichs unsicherer/ sicherer Arbeitsplatz Daß der Erhalt des Arbeitsplatzes im Wege einer "Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips" bei dem Günstigkeitsvergleich miteinzubeziehen ist, hat grundlegend Adomeit114 im Jahre 1984 gefordert. Als Anlaß zu seinem Vorstoß nahm er die Stundung der Löhne von Werftarbeitem, wodurch das konkursbedrohte Unternehmen und damit auch die Arbeitsplätze gerettet werden sollten. Unter der Voraussetzung, daß die Stundungsvereinbarung zu einer realisierbaren, nachweisbaren Möglichkeit der Rettung des Unternehmens und damit der Arbeitsplätze führt, sei die Stundungsvereinbarung als günstiger für den Arbeitnehmer zu werten. Ein solches Verständnis des Günstigkeitsprinzips würde nicht gegen schutzwürdige Interessen der Tarifvertragsparteien stoßen, da diese als Standesorganisationen kein eigeBAG AP Nr. 4 zu § 615 Kurzarbeit. Im folgenden soll hier nur noch von einem im Verhältnis zum Tarifvertrag geringeren Lohn gesprochen werden, da die Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich einem Lohnverzicht und somit i.E. einem untertariflichen Lohn gleichkommt. 114 Adomeit, NJW 1984, S. 26 (26 f.), später bekräftigt in: Das Arbeitsrecht und unsere wirtschaftliche Zukunft, S. 13 und: Regelungen von Arbeitsbedingungen und ökonomische Notwendigkeiten, S. 38 ff. 112

113

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B. Betriebsnahe Regelungen

nes schutzwürdiges Interesse hätten, das nicht auch ein Interesse der Organisierten wäre. 115

1. Meinungen in der Literatur Adomeits "Neuinterpretation" des Günstigkeilsprinzips führte damals zu einer heftigen Debatte in der Literatur, die bis heute anhält. Einhellig 116 wurde die Meinung Adomeits verworfen.

Die rechtspolitisch motivierte (wie soll man Arbeitsrecht und Politik voneinander trennen?!) Meinung Adomeits würde von dem bisherigen Verständnis des Günstigkeilsprinzip nichts mehr übrig lassen und letztlich auf eine Beseitigung der zwingenden Wirkung des Tarifvertrages hinauslaufen.117 Wer eine solche Meinung unter Berufung auf eine weite Interpretation des Günstigkeilsprinzips vertrete, der wolle in Wahrheit die gesamte zwingende Wirkung des Tarifvertrages und somit seine verfassungsrechtliche Kartellfunktion in Frage stellen. 118 Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 4 III TVG müsse stets der einzelne Arbeitsvertrag mit dem Tarifvertrag verglichen werden. Der Günstigkeitsvergleich gehe immer vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses aus, so daß ein Vergleich zwischen tariflichen Arbeitsbedingungen mit einem zu befürchtenden vertragslosen Zustand von vornherein ausscheide. Dieser Gedanke sei schließlich so alt wie das Günstigkeilsprinzip selbst." 9 Ferner verlange der Günstigkeilsvergleich einen Vergleich von Leistung und Gegenleistung, der Vergleich des untertariflichen Lohns mit der Arbeitsplatzerhaltgarantie habe mit dem Günstigkeilsvergleich nichts mehr zu tun. 120 Mit einer solchen ökonomischen Gesamtbetrachtung würde man "Äpfel mit Birnen" in einen Vergleichskorb legen. 121 Der Gesichtspunkt der Arbeitslosigkeit könne als etwas völlig "Außerrechtliches" im Günstigkeilsvergleich keine Berücksichtigung finden 122; Sinn und Zweck des Unabdingbarkeilsprinzips liege ja gerade in der kollekAdomeit, NJW 1984, S. 26. Henssler, ZfA 1994, S. 487 (506), Zöllner, ZfA 1988, S. 265 (287); Lieb, NZA 1994, S. 289 (292); Hanau RdA 1993, S. 1 (7); Junker ZfA 1996, S. 383 (399); Walker ZfA 1996, S. 353 (377); Krumme!, Unabdingbarkeitsgrundsatz, S. 246 f.; Konzen, NZA 1995, S. 913 (919); Tyska, AuR 1985, S. 276 (280 ff.); Wiedemann - Wank, TVG, § 4 Rdn. 436 ff. 117 Lieb a. a. 0. 118 Lieb a. a. 0 ., S. 293. 11 9 Krumme! a. a. 0 ., S. 246. 12 Konzen a. a. 0. 121 Junker a.a.O., S. 414. l22 Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 607. 11s

116

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V. Zulässigkeit des Vergleichs unsicherer/sicherer Arbeitsplatz

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tiven Festlegung der Arbeitsbedingungen auch für wirtschaftliche Krisenzeiten. 123 Die Unterschreitung der tariflichen Bedingungen mittels des Günstigkeitsprinzips gefährde eine funktionierende Tarifautonomie und somit den Schutz der Arbeitnehmer.124 Man ging sogar soweit, eine solche Anwendung des Günstigkeitsprinzips mit der Abschaffung der Tarifautonomie gleichzusetzen, zu der kein Anlaß bestehe, da nicht ersichtlich sei, warum der Arbeitsvertrag das geeignetere Mittel zur Anpassung an veränderte Umstände sein sollte. 125

2. Die Rechtsprechung Daß der Gedankengang Adomeits im Jahre 1984 nicht so abwegig war, wie in der Literatur der Eindruck erweckt wurde, zeigt allein schon die Tatsache, daß bereits im Jahr 1924 das GewGer Oberlahnstein 126 die Vereinbarung eines untertariflichen Lohns, der die Wiederaufnahme einer zuvor stillgelegten Grube ermöglichte, für günstiger i. S. v. § 1 I 2 TVO befand. In dem damals zu beurteilenden Sachverhalt hatten die Betreiber der Grube den Arbeitern angeboten, den Betrieb der Grube wieder aufzunehmen, wenn sie bereit wären, anstau für den mit den Arbeitnehmerverband vereinbarten Durchschnittslohn i. H. v. 3,30 Reichsmark für einen Durchschnittslohn i. H. v. 2,50 Reichsmark zu arbeiten. Dieser Vorschlag wurde später mit den dazu bereiten Arbeitnehmern in den entsprechenden Einzelarbeitsverträgen umgesetzt. Das Gericht befand damals, daß die Unterschreitung des Tariflohns als günstiger anzusehen sei, da für die Arbeitnehmer keine Aussicht bestünde, Arbeit nach tariflicher Bezahlung zu finden. Die Arbeitnehmer hätten, so das Gericht, ohne die Wiederaufnahme des Betriebes zu untertariflichen Löhnen langfristig in Not gelebt, weil die gewährten Arbeitslosenunterstützungen auf Dauer unzureichend gewesen wären. Eine Auslegung des § 1 I 2 TVO, in dem damals das Günstigkeitsprinzip normiert war, dahingehend, daß nur tatsächliche Verbesserungen des Tarifvertrages als günstiger zu bewerten sind, sei zu formalistisch.127 Die Vermeidung der Arbeitslosigkeit sah auch das LG Bautzen 128 als maßgeblich für die Günstigkeitsbeurteilung nach § I 2 TVO an. Den Weg aus der Arbeitslosigkeit hätten die Kläger nur durch Abschluß von untertariflichen Löhnen finden können (damals 35 Reichspfennige statt der tariflich vereinbarten 45; die Kläger erklärten sich erst zur Unterschreitung des 123 124 l25 126 127 12s

Hueck/Nipperdey a. a. 0. Tyska a. a. 0., S. 281 ff. Däubler, AuR 1996, S. 347 (352). Urteil vom 9. September 1924 GewKfGer, S. 46 (47). GewGer Oberlahnstein a. a. 0. LG Bautzen NZfA 1925, S. 553 (554).

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B. Betriebsnahe Regelungen

Tariflohns bereit, klagten später jedoch auf Zahlung der tariflichen Löhne). Da die Vereinbarung der tariflichen Löhne erneut die Stillegung des Betriebes heraufbeschworen hätte, sei die Unterschreitung der Tariflöhne eine Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten der Arbeitnehmer gewesen. 129 Anderer Auffassung war jedoch auch schon damals das RAG. 130 Zu beurteilen war hier die untertarifliche Bezahlung eines Bankangestellten. Das RAG führte hierzu aus: "Die Frage, ob eine Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers vorliegt, kann wie sich schon aus dem Worlaut der Bestimmung ergibt (§ I I 2 TVO) nur durch einen Vergleich der tariflichen Bedingungen mit den von den Vertragsparteien gewollten Bedingungen entschieden werden. Bei der Frage ist daher regelmäßig darauf abzustellen, ob eine durch Arbeitsvertrag abweichende Arbeitsbedingung sich für den Arbeitnehmer günstiger darstellt, als wenn die entsprechende Bedingung des Tarifvertrages für ihn maßgebend wäre. Es ist also immer von dem Bestehen eines Arbeitsverhältnisses auszugehen und es können die allgemeinen wirtschaftlichen Erwägungen, daß unter Umständen ein Arbeitsvertrag mit ungünstigeren Bedingungen dem Arbeitnehmer günstiger erscheinen könne, als ein Zustand ohne Arbeit, für die Entscheidung der Frage, ob eine vom Tarifvertrag abweichende Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers erfolgt oder nicht, nicht in den Kreis der Erörterungen einbezogen werden". 131

Auf den Wortlaut des § 1 I 2 TVO stellte auch das SächsOVG 132 ab, indem es betonte, daß "nach der klaren Fassung des § 1 I 2 der Verordnung es für die Zulässigkeil abweichender Vereinbarungen nur auf das Verhältnis zwischen den vereinbarten Arbeitsbedingungen und den Tarifnormen ankomme. Die auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Werkes begründete Notwendigkeit, einen Arbeitnehmer zu entlassen, wenn nicht sein Lohn herabgesetzt werde, stelle keinen zu berücksichtigenden Umstand dar".

Zuletzt haben sich das ArbG Marburg ("Fall Viessmann" 133) und der 1. Senat134 mit ihren "Burda" Entscheidungen mit der Problematik der Berücksichtigung von gesamtwirtschaftlichen Umständen beim Günstigkeitsvergleich beschäftigt. 135 Nach den im Bündnis für Arbeit getroffenen Vereinbarungen, so das ArbG Marburg, hätten die Arbeitnehmer praktisch auf einen Teil ihres LG Bautzen a. a. 0. RAG Nr. 1 BenshS. Bd. 1, S. 1 (3 f.). 131 Bestätigt durch RAG Nr. 36 BensheimS. Bd. 3, S. 125 (127). 132 SächsOVG Urteil vom 18.12.1925 NZfA 1925, S. 184 (185). l33 Zum Sachverhalt des Fall Viessmann vgl. B. III. 3., S. 29. 134 BAG NZA 1999, S. 887 ff.; die Vorinstanz, LAG Baden-Württemberg 10 TaBV 1/97, ging auf diese Frage nicht ein. 135 ArbG Marburg NZA 1996, S. 1331 ff. 129 13o

V. Zulässigkeil des Vergleichs unsicherer/sicherer Arbeitsplatz

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Lohnes verzichtet (3 Stunden wöchentliche Mehrarbeit ohne Lohnausgleich). Der durch die Arbeitgeber im Gegenzug erklärte Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen stelle keine gleichwertige Leistung dar. 136 Dies folge daraus, daß das Unternehmen gerade erst einen Personalabbau in Höhe von 450 Personen vorgenommen habe, so daß für die verbleibenden 3300 Arbeitnehmer des betroffenen Werkes mit einer betriebsbedingten Kündigung in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden müsse. Der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen sei deshalb nur theoretischer NaturY7 Dies würde dadurch untermauert, daß gerade erst 100 Arbeitnehmer neu eingestellt wurden. Der Kündigungsverzicht sei deshalb hypothetischer Natur und stelle somit keine echte Gegenleistung für die Arbeitszeiterhöhung ohne Lohnausgleich dar. Das Gericht begründete die fehlende Günstigkeit also lediglich damit, daß in Wirklichkeit keine Entlassungen zu befürchten gewesen seien, ohne auch nur mit einem Wort hierbei auf die Frage einzugehen, ob der Aspekt der Arbeitsplatzsicherung in den Günstigkeilsvergleich nach § 4 III TVG überhaupt miteinbezogen werden kann. Die Tatsache, daß das Gericht mehrfach auf das Nichtbestehen einer adäquaten Gegenleistung abstellt, legt den Umkehrschluß nahe, daß es den Erhalt des Arbeitsplatzes grundsätzlich als Gegenleistung für die Unterschreitung von tariflichen Leistungen und somit als dem Günstigkeilsvergleich zugänglich anerkennt oder dies zumindest nicht ausschließt. Die Begründung des Gerichts erweckt den Eindruck, als hätte es das "Bündnis für Arbeit" für wirksam gern. § 4 III TVG erachtet, wenn dadurch tatsächlich ein zu befürchtender Arbeitsplatzabbau hätte verhindert werden können. Es ist davon auszugehen, daß dem Gericht das Argument der "Außerrechtlichkeit" des Arbeitsplatzerballaspekts bekannt war. Trotzdem geht es überhaupt nicht auf diese viel diskutierte Problematik ein, sondern stellt lediglich darauf ab, daß die Arbeitgeber hier nur eine Gegenleistung vorgespiegelt hätten, da in Wahrheit kein Abbau zu befürchten war. Der Aspekt des Arbeitsplatzerhaltes schien für das Gericht daher nicht etwas "Außerrechtliches" zu sein, das nicht Vergleichsgegenstand im Rahmen einer Günstigkeilsbeurteilung sein kann. Andernfalls hätte es erst gar nicht zu der Frage Stellung nehmen müssen, ob hier tatsächlich die Freisetzung von Arbeitsplätzen zu befürchten war, wenn es dies ohnehin als irrelevant für einen Günstigkeilsvergleich angesehen hätte. Für die Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Umstände des Arbeitnehmers scheint sich auch das LAG Köln 138 auszusprechen, wenn es 136 137 138

ArbG Marburg a. a. 0., S. 1336. ArbG Marburg a.a.O. LAG Köln Urteil DB 1986, S. 1344 (1344).

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B. Betriebsnahe Regelungen

in einem Satz beiläufig feststellt, daß "im übrigen bei einer Günstigkeilsprüfung berücksichtigt werden muß, daß der Kläger durch den Verzicht auf eine Anwartschaft auf Betriebsrente ein neues Arbeitsverhältnis erlangt hat". Das ArbG Frankfurt a. M. 139, das sich ebenfalls mit dem Fall Viessmann auseinandersetzte, scheint gegen die Berücksichtigung einer möglichen Arbeitslosigkeit zu sein, wenn es anmerkt: "Die Kammer teilt hingegen nicht die Meinung der Beklagten, im Verhältnis zur organisierten Arbeitnehmerschaft sei ihr Verhalten (gemeint ist die Vereinbarung des Bündnisses für Arbeit) durch das Günstigkeilsprinzip gedeckt. Diese Sichtweise, nach der jede selbstbestimmte Abweichung vom Tarifvertrag als günstiger angesehen werden kann, ist schlechterdings unzutreffend". Ein näheres Eingehen befand die Kammer jedoch nicht für notwendig, da der mit dem Antrag begehrte Unterlassungsanspruch mangels einer Wiederholungsgefahr aufgrund des Rücktritts der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer vom "Bündnis für Arbeit" nicht gegeben sei. 140 Das BAG 141 nahm erstmals zu dieser Frage in seiner "Burda"-Entscheidung vom 20.4.1999 Stellung. Der 1. Senat hatte hier u. a. die Wirksamkeit einzelvertraglicher Umsetzungen eines durch Regelungsabrede vereinbarten ,,Sparmaßnahmekataloges zur Sicherung von Arbeitsplätzen und zur Vermeidung von Entlassungen" zu beurteilen. Nach Auffassung des Gerichts waren die einzelvertraglichen Unterschreilungen des Tarifniveaus bei gleichzeitiger Beschäftigungsgarantie nicht durch das Günstigkeilsprinzip des 4 III TVG gedeckt. Die Einbeziehung einer Beschäftigungsgarantie im Günstigkeilsvergleich sei nach dem anzuwendenden Sachgruppenvergleich methodisch unmöglich, weil Regelungen verglichen würden, die sich thematisch nicht berührten und somit zu einem Vergleich "Äpfel mit Birnen" führten. 142 Arbeitszeit oder Arbeitsentgelt einerseits und Beschäftigungsgarantie andererseits seien völlig unterschiedlich geartete Regelungsgegenstände, für deren Bewertung es keine gemeinsamen Maßstäbe gäbe und die deshalb nicht miteinander verglichen werden könnten. Einschränkend fügte das Gericht hinzu, daß der Sachgruppenvergleich nicht die allein verfassunsgkonforme Art des Günstigkeilsvergleichs sein müsse. 143 Der Gesetzgeber könne die Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit einschränken. Solange solche gesetzlichen Grundlagen fehlten, müßte § 4 III TVG im Lichte der Verfasl39 140 141 142 143

ArbG Frankfurt a.M. NZA 1996, S. 1340 (1342). ArbG Frankfurt a.M. a. a. O. BAG NZA 1999, S. 887 ff. BAG a. a. 0., S. 893. BAG a. a. 0.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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sung so ausgelegt werden, daß der Vorrang der Tarifautonomie gewahrt bleibe. Außerdem seien Beschäftigungsgarantien nicht geeignet, Verschlechterungen beim Arbeitsentgelt oder bei der Arbeitszeit hinzunehmen. Nur dieses Verständnis entspreche dem Sinn und Zweck des TVG, welches zum Schutz der Arbeitnehmer die Normwirkung von Tarifverträgen gewährleiste.144 Eine Berücksichtigung der Beschäftigungsgarantie im Günstigkeitsvergleich scheitere schon an handhabbaren Kriterien, da Arbeitsplatzrisiken nicht hinreichend objektivierbar seien. Maßgebliche Kriterein wie Gewinn, Einschätzung von Marktchancen und Kosten seien einer richterlichen Kontrolle nicht zugänglich. Durch die Berücksichtigung der Beschäftigungsgarantie im Günstigkeitsvergleich stelle man die zwingende Wirkung des Tarifvertrages zur Disposition des einzelnen Arbeitgebers. Dieser Betrachtungsweise stünde auch nicht entgegen, daß die Arbeitnehmer freiwillig (in dem zu beurteilenden Sachverhalt 98,5% der Belegschaft) auf ihre tariflichen Rechte verzichteten. Eine solche Entscheidung sei die in dieser Situation möglicherweise vernünftige Reaktion auf eine vorangegangene unternehmecisehe Entscheidung und die dem Arbeitnehmer verbleibende Alternative und daher keineswegs völlig frei. 145 Mit Spannung wurde der 16.6.1999 erwartet, an dem der 4. Senat zu der gleichen Frage Stellung nehmen sollte.146 Enttäuscht war man deshalb, als einem am 16.6.1999 nach telefonischer Anfrage mitgeteilt wurde, daß die Revision zurückgenommen worden war. Wahrscheinlich hatte man auf Gewerkschaftsseite zu viel Befürchtungen vor einer unangenehmen Entscheidung des 4. Senats.

VI. Die Auslegung des § 4 111 TVG und der Schutz des Arbeitsplatzes durch Verfassung und arbeitsrechtliche Gesetzgebung Die bisherige Diskussion um das Günstigkeitsprinzip war nach Auffassung des Verfassers stark ergebnisorientiert und emotionsbeladen. Äußerungen wie Adomeits Ausführungen zum Günstigkeitsprinzip seien "wohl eher in die Kategorie Adomeitscher Provokationen einzuordnen, mit der er die Belastbarkeit des dogmatischen Gewissens seiner Kollegen testen will" 147 belegen dies. Verwunderlich ist dies jedoch nicht, wenn man bedenkt, daß 144 145

146 147

BAG a. a. 0. BAG a. a. 0. Vgl. Terminvorschau NZA 1999, Heft 11, VIII. So Zöllner, ZfA 1988, S. 265 (287).

B. Betriebsnahe Regelungen

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mit der Diskussion um das Günstigkeilsprinzip oftmals eine Diskussion um die Tarifautonomie einherging. Die Debatte um die Tarifautonomie ist jedoch zugleich auch immer eine Debatte um Gemeinschaft und Individuum, um Marktmechanismen und politische Entscheidungstindung sowie um Grenzen der Sozialpolitik. Kurz: Die Festsetzung von Lohn- und Arbeitsbedingungen ist stark gesellschaftspolitisch geprägt. Diskussionen mit politischen Inhalten wurden aber seit jeher sehr emotional geführt. § 4 III TVG enthält keinerlei Angaben darüber, wie die Günstigkeil zu beurteilen ist. Dementsprechend heftig war die bisherige Diskussion darüber, was bei der Ermittlung der Günstigkeil zu berücksichtigen sei. Ganz überwiegend will man den Aspekt der der Arbeitsplatzsicherung als etwas "Außerrechtliches" außen vor lassen. 148 Der 1. Senat will keinen sachlichen Zusammenhang zwischen Beschäftigungssicherung und Entgeltfragen sehen. Auch bei ihm der altbekannte "Äpfel mit Birnen"-Einwand. Der Schutz des Arbeitnehmers verbiete die Herabsetzung tariflicher Konditionen durch Einzelabrede, selbst wenn mit der Unterschreitung Beschäftigungsgarantien einhergingen.

Es scheint so, als wolle man den Aspekt des Arbeitsplatzerhaltes mit allen Mitteln aus dem Günstigkeitsvergleich heraushalten. Dies wirkt befremdend, hält man sich vor Augen, daß § 4 III TVG zuvörderst auf den Schutz des Arbeitnehmers abzielt (s.o.) und sich somit einreiht in die Reihe zahlreicher anderer arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften, die zumeist denselben Zweck verfolgen, nämlich den Erhalt bzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen. So z. B. das KSchG. Unter dem Kapitel "Grundlagen" findet man in sämtlichen Kommentaren zu diesem Gesetz, daß vorrangige Funktion des KSchG der Schutz des Arbeitsverhältnisses sei, an dessen Bestand existentielle Interessen des Arbeitnehmers hingen. 149 Auch das MuSchG zielt mit dem in § 9 normierten Kündigungsverbot auf den Erhalt des Arbeitsplatzes ab. Ebenso der Kündigungsschutz des BerzGG (§ 18) und des SchwbG (§§ 15 ff.). Die Schaffung bzw. der Erhalt von Arbeitsplätzen ist auch vornehmliebstes Ziel des BeschFG. Gleiches gilt für das SGB III, in dem in § 2 die besondere Verantwortung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern für die Beschäftigung herausgestellt wird. Danach sollen Arbeitgeber "vorrangig durch betriebliche Maßnahmen . . . die Entlassungen von Arbeitnehmern vermeiden", § 2 I Nr.2 SGB III. Die Pflicht des Arbeitnehmers zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit ist in § 2 III SGB III näher ausgestaltet. 148 149

s.o. B. V. 1. Siehe antatt vieler: Kittner/Trittin, KSchG, Grundlagen Rdn. 1.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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Aber nicht nur in der arbeits- bzw. sozialrechtlichen Gesetzgebung kommt der Sicherung bestehender und der Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse eine herausragende Bedeutung zu, sondern auch in unserer Verfassung. So verpflichtet das in den Art. 20 I, 28 I GG verankerte Sozialstaatsprinzip den Staat zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Daß BVerfG 150 führt hierzu aus: "Die Minderung von Arbeitslosigkeit ist für das ganze Volk von entscheidender Bedeutung und gehört zu der dem Staat obliegenden, ihm durch das Gebot der Sozialstaatlichkeil übertragenen Aufgabe"

In einer anderen Entscheidung stellt unser höchstes Gericht fest: ,,Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz [gemeint ist der Bestandsschutz des Arbeitsplatzes] dient der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips, er sichert die Arbeitnehmer in ihrer beruflichen Position und damit in ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Berufsfreiheit." 151

Nach Art. 109 II GG obliegt dem Staat die Wahrung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, indem er seine wirtschafts- und finanzpolitischen Mittel so einsetzt, daß die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage im Rahmen eines hohen Beschäftigungsgrades dem volkswirtschaftlichen Angebot entspricht. 152 Dieser verfassungsrechtliche Auftrag wurde durch § 1 StabG einfachgesetzlich ausgestaltet, wonach Bund und Länder ihre Wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen derart zu gestalten haben, daß sie u. a. zu einem hohen Beschäftigungsgrad beitragen. Daß in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit staatliche Eingriffe in die Tarifautonomie zwecks Schaffung von Arbeitsplätzen gerechtfertigt sein können, hat das BVerfG 153 unlängst in seiner Entscheidung zu den Lohnabstandsklauseln der§§ 265, § 275 SGB III klargestellt: "Die in Art. 9 III GG garantierte Koalitionsfreiheit kann . . . zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt ... Das mit der angegriffenen Regelung [§§ 265, 275 SGB III] verfolgte Ziel, Massenarbeitslosigkeit durch Förderung von zusätzlich bereitgesteHen Arbeitsplätzen zu bekämpfen, hat Verfassungsrang. Der Gesetzgeber kann sich dabei auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) berufen. . .. Solche Bemühungen [der Beschäftigungsförderung] verleiht das Sozialstaatsprinzip legitimierendes Gewicht, das auch einschränkende Auswirkungen auf die Tarifautonomie zu rechtfertigen vermag." 150 151 152 153

BVerfGE 21, 245 (251) . . BVerfGE 59, 231 (266). v. Münch/Kunig, GG, § 109 Rdn. 10. BVerfG NZA 1999, S. 992 (993).

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B. Betriebsnahe Regelungen

Warum soll gerade im Rahmen der Günstigkeitsbeurteilung nach § 4 III TVG die Beschäftigungssicherung außer Betracht bleiben? Warum soll gerade hier die Beschäftigungssicherung etwas "Außerrechtliches" sein? wird ihr doch auch sonst - wie gezeigt - in unserer Rechtsordnung größte Bedeutung beigelegt, sie also etwas sehr "Rechtliches" ist. Daß die Einbeziehung von Beschäftigungsgarantien im Günstigkeitsvergleich mittels des Sachgruppenvergleichs und der Bildung eines subjektiv inneren Zusammenhanges methodisch möglich ist, wurde bereits oben dargelegt.t54 Gibt eine Rechtsvorschrift mangels einer genauen, endgültigen Konkretisierung - wie dies bei § 4 III TVG hinsichtlich des Günstigkeitsvergleichs der Fall ist - von vomherein kein eindeutiges Ergebnis vor, bleibt dem Rechtsanwender nur übrig, über die Auslegung der Norm zu ihrer richtigen Anwendung zu gelangen. Eine Norm auszulegen heißt, sich für eine unter mehreren möglichen Bedeutungen aufgrund von Überlegungen zu entscheiden, die gerade diese Deutung als die zutreffende erscheinen läßt. 155 Im Mittelpunkt der Beurteilung des § 4 III TVG steht dabei der unbestimmte Rechtsbegriff156 der Günstigkeit, dessen Wesenserkenntnis ebenfalls nur nach den anerkannten Regeln der Gesetzesauslegung erarbeitet werden kann. Im folgenden will der Verfasser unter Anwendung der anerkannten, klassischen juristischen Auslegungsmethoden (auch klassische Methodenlehre genannt) 157 untersuchen, ob der Günstigkeitsvergleich bzw. der Begriff der Günstigkeit die Berücksichtigung einer zu befürchtenden Arbeitslosigkeit erlaubt, vielleicht sogar verlangt. Zentrale Rolle spielen dabei die Vorgaben unserer Verfassung, was auch der 1. Senat zu erkennen scheint, wenn er feststellt, daß die Anwendung des Günstigkeitsvergleichs verfassungskonform sein müsse, eine Auslegung des § 4 III TVG im Lichte des Art. 9 III GG also den Vorrang des Tarifvertrages gebiete. Wenn das BAG nun schon einmal die verfassungskonforme Auslegung ins Spiel gebracht hat, hätte man sich eine ausführlichere Auseinandersetzung des Gerichts mit derselben gewünscht. Das Gericht hätte erkennen müssen, daß bei der Anwendung von § 4 III TVG nicht nur die Verfas1s4

s.o. B. IV. c) bb). tss Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 26. 1s6 Zum Begriff des unbestimmten Rechtsbegriffes siehe nur Ossenbühl in Brichsen, AllgVerwR, § 10 III 2. Rdn 23 ff. IS7 Die genauere Darstellung der Entwicklung der klassischen Auslegung bzw. der klassischen Methodenlehre würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zur näheren Darstellung der klassischen Methodenlehre vgl. Schmalz, Methodenlehre, Rdn. 219 ff.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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sungsvorgaben nach Art. 9 III GG zu berücksichtigen sind, sondern auch der verfassungsrechtliche Schutz des Arbeitsplatzes nach Art. 12 GG eine entscheidende Rolle spielt. Dies soll mit den Ausführungen im Abschnitt "verfassungskonforme Auslegung" näher dargelegt werden. Zunächst jedoch die Auslegung des Wortlautes, die historische und systematische Auslegung des § 4 TVG.

1. Auslegung des Wortlautes Den Ausgangspunkt jeder Gesetzesauslegung bildet die Auslegung des Wortlautes. 158 Der Normtext steht am Anfang eines jeden Konkretisierungsvorganges, in dessen Verlauf die Rechtsnorm gebildet und an dessen Ende der Fall entschieden wird. 159 Diejenigen, die den Vergleich mit einer zu befürchtenden Arbeitslosigkeit ablehnen, berufen sich in erster Linie auf den Wortlaut des § 4 I i. V. m. § 4 III TVG. 160 § 4 I TVG lautet: "Die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tatrifvertrages fallen. Diese Vorschrift gilt entsprechend für Rechtsnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen."

§ 4 III TVG lautet: ,,Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten".

Dieser Wortlaut der beiden Vorschriften soll die Einbeziehung einer zu befürchtenden Arbeitslosigkeit von vomherein ausschließen. Ob dies so selbstverständlich ist, wie dies behauptet wird, ist zu untersuchen. Welche Bedeutung einem Wortlaut zuzuschreiben ist, richtet sich zunächst danach, ob er durch definierende oder ergänzende Bestimmungen an anderer Stelle im Gesetz näher beschrieben wird. 161 Fehlt jedoch wie beim Begriff der Günstigkeil in § 4 III TVG ein Hinweis für die Wortbedeutung an anderer Stelle im Gesetz, kommt dem Wort Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141. F. Müller, Juristische Methodik, S. 125. 160 s.o. B. V. l. 161 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 42. So ist z. B. für den Begriff der Fahrlässigkeit in § 823 I BGB die Umschreibung der Fahrlässigkeit in § 276 I BGB heranzuziehen. Der Begriff des Eigenbesitzers in § 985 BGB wird in § 872 BGB erklärt. 158 159

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B. Betriebsnahe Regelungen

die Bedeutung zu, die es durch den Sprachgebrauch der Rechtsgemeinschaft erhält. Die Rechtsgemeinschaft besteht aus einer Vielzahl von Individuen, so daß es nur allzu natürlich ist, daß nicht jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft dem auszulegenden Wort die gleiche Bedeutung beimißt. Es besteht ein Auslegungsspielraum, der jedoch durch die Grenze des möglichen Wortsinns beschränkt wird. Abzustellen ist somit darauf, welche Bedeutung einem Wortlaut - wenn auch vielleicht nur unter besonderen Umständen - gerade noch beigemessen werden kann 162 ; die Auslegung muß noch innerhalb des Bedeutungsfeldes des Ausdrucks liegen. 163 Im Interesse einer größtmöglichen Bindung an die Legislative ist einer in der juristischen Fachsprache geltenden Konvention der Vorrang gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch eingeräumt werden. 164 Da der Begriff der Günstigkeit i. S. v. § 4 III TVG jedoch nicht durch eine juristische Fachsprache geprägt ist, der sich der Gesetzgeber bedient, um sich präziser ausdrükken zu können, ohne Angabe vielfacher, umständlicher Bedeutungen (z.B. Anfechtbarkeit, Nichtigkeit, Vertrag u.s.w.), ist hier der allgemeine Sprachgebrauch entscheidend. Zwar kann auch dieser nicht immer eindeutig bestimmt werden, in den meisten Fällen läßt sich aber sehr wohl sagen, ob die in Erwägung gezogene Auslegung noch innerhalb des möglichen Wortsinnes liegt. Als Hilfsmittel ist die Berufung auf die Definitionen in deutschen Wörterbüchern sinnvoll. 165 In Anwendung des Gesagten ist zu untersuchen, ob die Berücksichtigung einer zu befürchtenden Arbeitslosigkeit im Günstigkeitsvergleich, die ohne die Abweichung vom Tarifvertrag eintreten würde, noch innerhalb der Grenzen des möglichen Auslegungsspielraumes des Wortlautes von § 4 I i. V. m. § 4 III TVG liegt oder ob dies die weiteste sprachübliche Bedeutung, die dem Wortlaut zugeschrieben wird, überschreitet. Nach § 4 III TVG sind abweichende Abmachungen nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten, wobei sich die Abweichungen auf die normativen Bestimmungen des § 4 I TVG beziehen. Der hier maßgebliche Wortlaut ist also: Abweichungen von den normativen Regelungen sind nur zulässig, soweit sie zugunsren des Arbeitnehmers erfolgen, wobei hier wiederum der entscheidende Begriff der der Günstigkeif ist. Wie bereits gesagt, für die Bedeutungstindung ist ein Blick in ein deutsches Wörterbuch hilfreich. Nach dem Duden sind beim Begriff der Günstigkeil folgende Schlagworte angeführt: wohlwollend, Vorteil, fördern, 162 163 164 165

Zippelius a. a. 0.; Larenz/Canaris a. a. 0. Vgl. BGHZ 46,74 (76), BGHSt 3, 300 (303). Koch/Rüßmamm, Juristische Begründungslehre, S. 189. Koch/Rüßmann a.a.O., S. 191.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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gedeihen, einer Sache förderlich sein. Dem allgemeinen Sprachgebrauch zufolge wird somit dem Begriff der Günstigkeit die gleiche Bedeutung beigemessen wie den Begriffen des Vorteils und des förderlich seins. Dem Wortlaut des § 4 III TVG i. V. m. § 4 I TVG kommt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch somit der Aussagegehalt zu, daß Abweichungen von den tariflichen normativen Regelungen zulässig sind, solange sie für den Arbeitnehmer förderlich, für seine Interessen gedeihlich sind, sie also im Ergebnis einen Vorteil für ihn bedeuten. Daß die Vermeidung der Arbeitslosigkeit (dies wird bei der Untersuchung unterstellt) durch die Abweichung von den tariflichen normativen Regelungen der Arbeitszeit und des Lohns für den Arbeitnehmer förderlich b.z.w. vorteilhaft ist, bedarf nach Auffassung des Verfassers keiner weiteren Diskussion. Die Behauptung, eine solche Sichtweise, die den Vergleich mit einem vertragslosen Zustand als etwas "Außerrechtliches" zulasse, liege außerhalb der Grenzen des möglichen Auslegungsspielraums des Wortlautes des § 4 I TVG i. V. m. § 4 III TVG, ist unverständlich. Erstens wird hier nicht etwas "Außerrechtliches", also ein vertragsloser Zustand mit einem bestehenden Arbeitsverhältnis verglichen, sondern die Bedingungen zweier bestehender Arbeitsverhältnisse, nämlich das den tariflichen Vorgaben entsprechende, unsichere mit dem von den Tarifnormen abweichenden, sicheren. Des weiteren kann dem Wortsinn der § 4 I TVG i. V. m. § 4 III TVG nicht entnommen werden, daß die Günstigkeit nur unter Ausschluß der Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Umstände ermittelt werden kann. Vielmehr liegt die Behauptung, der Wortlaut der genannten Vorschriften gehe stets von der Annahme eines bestehenden Arbeitsverhältnisses aus, außerhalb der Grenzen der möglichen Wortbedeutung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch. Dies vor allem deshalb, weil der Wortlaut des § 4 I i. V. m. 4 III TVG nichts über das Vorgehen bei der Vorteilsermittlung aussagt. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß der Wortlaut des § 4 TVG die Einbeziehung des Aspektes des Arbeitsplatzerhaltes nicht ausschließt, er eine solche Vorgehensweise vielmehr nahelegt, da der Arbeitsplatzerhalt natürlicherweise auch den Begriffen vorteilhaft und nachteilig zugeordnet werden kann. Nicht nachvollziehbar ist, warum die Vermeidung von Arbeitslosigkeit durch eine untertarifliche Abweichung als nicht vorteilhaft angesehen werden soll. Eine solche Betrachtungsweise ist als in den Wortlaut "hineininterpretiert" anzusehen. Unverständlich ist deshalb, wie zäh man immer wieder den Wortlaut des § 4 I i. V. m. § 4 III TVG für den Ausschluß der Arbeitsplatzsicherheit im Günstigkeitsvergleich heranziehen will.

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B. Betriebsnahe Regelungen

2. Systematische Auslegung Eine weitere Hilfe zur Ermittlung der Bedeutung eines Gesetzeswortlautes ist die systematische Auslegung. Bei ihr sollen die verschiedenen Bedeutungsvarianten eines Wortlautes dadurch begrenzt werden, daß der auszulegende Wortlaut als ein Teil eines Kontextes zu sehen ist, er also in den Sinnzusammenhang des ganzen Gesetzes gestellt wird. 166 Dies im Hinblick darauf, daß sich der Sinn eines einzelnen Rechtssatzes zumeist erst dann ergibt, wenn man ihn als Teil der Regelung betrachtet, der er zugehört. 167 Durch die Wechselbeziehung irgendwie zusammenhängender Gesetzestexte sollen bestimmmte Kriterien für die Sinnfindung gefunden werden. So soll z. B. gleichen Wortlauten in unterschiedlichen Normen keine verschiedene Bedeutung beigemessen werden (sog. Einheitlichkeit der Terminologie).168 Die Regeln der systematischen Auslegung können für die hier zu findende Lösung hinsichtlich der Durchführung des Günstigkeilsvergleiches jedoch nichts beitragen. Weder gibt es in anderen Gesetzen eine vergleichbare Regelung, an der sich die Auslegung des Günstigkeilsbegriffs des § 4 III TVG orientieren könnte, noch gibt es im TVG irgendwelche Regelungen, die anband einer Gesamtschau erkennen ließen, daß der Günstigkeitsvergleich vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses ausgeht.

3. Historische Auslegung Auch die historische Auslegung, bei der die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte zu einem Auslegungsergebnis beitragen sollen, hilft hier nicht weiter. Maßgeblich für die historische Auslegung sind in erster Linie die verschiedenen Entwürfe, die Beratungsprotokolle und die den Entwürfen beigegebenen Begründungen sowie die Parlamentsberichte. Diese sind wiederum unter der Berücksichtigung der damaligen Lehre und Rechtsprechung zu interpretieren. 169 In den wenigen Materialien, die es zur Entstehungsgeschichte des TVG gibt, 170 lassen sich keine Hinweise dafür finden, die zu Lasten oder zu Gunsten einer der beiden hier diskutierten Meinungen zu Buche schlagen Zippelius a. a. 0 ., S. 48. Larenz/Canaris a. a. 0., S. 146. 168 Zippelius a. a. 0., S. 49; Larenz/Canaris a. a. 0. l69 Larenz/Canaris a. a. 0., S. 151. 170 Abgedruckt sind die Materialien zur Entstehungsgeschichte des TVG in ZfA 1973, S. 129-182 mit anschließender Kommentierung Hersche1s, beginnend ab S. 183; zur Entstehungsgeschichte des TVG vgl. auch Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland. 166 167

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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könnten. Weder die Entwürfe noch ihre Begründungen haben sich mit der hier erörterten Problematik befaßt. Herschel, der von Anfang bis zum Ende an der Schaffung des TVG beteiligt war, führt in seiner Kommentierung zur Entstehungsgeschichte schlichtweg an, daß es über die Schaffung der Möglichkeit einer beschränkten Abbedingung (gemeint ist die Abweichung von den tariflichen Regelungen nach § 4 III TVG) nichts zu berichten gäbe. 171 Die ebenfalls bei der historischen Auslegung zu berücksichtigende Lehre und Rechtsprechung zur Zeit der Schaffung des TVG führen auch zu keinem eindeutigen Ergebnis. Auch wenn diejenigen, die gegen Adomeit argumentieren, den Eindruck erwecken wollen, daß sein Vorstoß völlig abwegig sei, weil seit dem Bestehen tariflicher Regelungen klar sei, daß die Berücksichtigung mittelbarer Faktoren wie z. B. der Arbeitslosigkeit als etwas "Außerrechtliches" außen vor bleiben müsse, trifft dies einfach nicht zu. Richtig ist wohl, daß die überwiegende Meinung zur Zeit des Entstehens des TVG den Umstand einer zu befürchtenden Erwerbslosigkeit in den Günstigkeitsvergleich nicht miteinbeziehen wollte. Es gab - wie bereits gesagt - aber auch mehrere Meinungen, die die Gesamtsituation des Arbeitnehmers berücksichtigt wissen wollten, also auch die zu vermeidende Erwerbslosigkeit. Bereits im Jahre 1928 trat Kronenburg 172 in seiner Dissertation für die Berücksichtigung des Arbeitsplatzerhaltes im Günstigkeitsvergleich vehement ein. Auch die historische Auslegung spricht also nicht nur für den Ausschluß der Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Umstände.

4. Verfassungskonforme Auslegung Besondere Bedeutung für die Auslegung von Gesetzen kommt den rechtsethischen Prinzipien von Verfassungsrang zu. 173 Nach der sog. verfassungskonformen Auslegung sind die in der Verfassung niedergelegten Prinzipien und Werteentscheidungen - vor allem die des Grundrechtsteils - bei der Auslegung des einfachen Gesetzesrechts zu berücksichtigen. Da Verfassungsnormen als ranghöchste Normen allen anderen Normen vorgehen, ist bei der Auslegung des einfachen Gesetzes derart vorzugehen, daß keine Widersprüche zu Verfassungswerten entstehen. Es ist also nur die Auslegung von mehreren in Betracht kommenden zulässig, die mit der Werteordnung der Verfassung in Einklang zu bringen ist, 174 Verfassungskonformität 17 1

172 173 174

Herschel a. a. O., S. 193. Kronenburg, Die Ausnahmen von der Abdingbarkeit der Tarifnormen, S. 27 ff. Larenz/Canaris a. a. 0., S. 159. Zeppelius a.a.O., S. 49; Larenz/Canaris a.a.O., S. 160.

5 Freihube

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B. Betriebsnahe Regelungen

ist ein Auslegungskriterium. 175 Die Auslegung anband von Verfassungsprinzipien kommt insbesondere bei solchen Normen zum Tragen, die durch die Verwendung ausfüllungsbedürftiger Begriffe - wie z. B. der Begriff der Günstigkeit in § 4 III TVG- einen Konkretisierungspielraum vorgeben 176• Zu untersuchen ist, ob eine verfassungskonforme Auslegung des § 4 TVG für den hier zu behandelnden Streit weiterhilft, ob eventuell nur die eine von den beiden Auslegungsmöglichkeiten - Arbeitsplatzssicherheit als Gegenstand des Günstigkeitsvergleichs Ja oder Nein? - mit den Vorgaben der Verfassung im Einklang steht und deshalb allein Bestand haben kann. Dabei sind im folgenden die Unabdingbarkeitswirkung nach Abs.l und das Günstigkeitsprinzip nach Abs. 3 als eine Einheit anzusehen, auch wenn der Gesetzgeber beide Grundsätze in verschiedenen Absätzen geregelt hat. 177 Abs. 3 bezieht sich eindeutig auf Abs. 1, wenn es in ihm heißt: "Abweichende Abmachungen [von der in Abs. 1. angeordneten zwingenden Wirkung] sind nur zulässig ... " a) Relevante Verfassungsvorgaben Die maßgeblichen Vorschriften für die Ermittlung der hier entscheidenden Verfassungsvorgaben sind die Art. 2 I GG, 9 III GG, 12 GG. Die Art. 2 I, 12 GG belegen den hohen Stellenwert des persönlichen Freiheitsraumes eines jeden einzelnen: Art. 2 I GG soll die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleisten. Dabei wird der Schutzbereich des Art. 2 I GG heute weit ausgelegt. Anlehnend an die Entstehungsgeschichte und die Entwurfsfassung (,,Jeder kann tun und lassen was er will") soll Art. 2 I GG jedes menschliche Verhalten schützen, nicht nur im Hinblick auf solche Betätigungen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit gewichtig sind 178• Art. 2 I schützt also die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn. 179 Ferner steht Art. 2 I GG mit dem Recht auf Achtung und Schutz der unantastbaren Würde des Menschen in sachlichem Zusammenhang. 180 Nach Art. 2 I GG gibt die Verfassung dem einzelnen aufgrund seiner Menschenwürde das Recht, das zu tun und zu lassen, was er für richtig hält, solange er nicht die Rechte anderer oder die verfassungsmäßige Ordnung verletzt. Art. 2 I GG und somit die Verfassung stuft den Bürger deshalb als einen mündigen Bürger in dem Sinne ein, daß ihm die Entscheidungsfreiheit für 175 176

177 178 179 180

Larenz/Canaris a. a. 0. Vgl. Larenz/Canaris a.a.O., S. 162. Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 23; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 15. So aber die früher h. M. Siehe anstatt aller Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 400. Badura, Staatsrecht, Rdn. 32.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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sein Verhalten in allen Lebensbereichen obliegt, also auch dem des Arbeitslebens. Auf der Grundlage dieser Privatautonomie gestalten die Arbeitsvertragsparteien ihre Rechtsbeziehungen eigenverantwortlich. Sie bestimmen selbst, wie ihre gegenläufigen Interessen angemessen auszugleichen sind und verfügen damit zugleich ohne staatlichen Zwang über ihre grundrechtlieh geschützte Position. 181 Nach Art. 12 GG haben alle Deutschen das Recht, Beruf und Arbeitsplatz sowie Ausbildungsstätte frei zu wählen. Das Grundrecht der Berufsfreiheit versteht sich dabei als Garantie selbstverantwortlicher Existenzgestaltung, individueller Persönlichkeitsbildung sowie sozialer Statusbestimmung des einzelnen. 182 Das BVerfG hat für die Berufsfreiheit "den Bezug zur Persönlichkeit des Menschen im ganzen" betont. 183 Das Recht zur Berufsfreiheit erweist sich als ein besonderes Freiheits- und Persönlichkeitsrecht, das in ganz engem Zusammenhang mit den Gewährleistungen von Menschenwürde gern. Art.1 I GG und freier Entfaltung der Persönlichkeit gern. Art. 2 I GG steht. 184 Auch aus Art. 12 GG läßt sich somit das allgemeine Verfassungsprinzip ableiten, daß der Mensch als ein selbstständiges Individuum von der Verfassung betrachtet wird, das im Rahmen eigenständiger Selbstverantwortung für sein eigenes Wohlergehen zu sorgen hat. 185 Das Grundgesetz enthält somit, um es noch einmal zu betonen, eine gesamtverfassungsrechtliche Freiheitsentscheidung mit allen persönlichen Risiken und Verantwortlichkeiten, indem Art. 2 I GG die umfassende Privatautonomie im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährt, Art. 12 GG die Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien als spezielles Freiheitsgrundrecht 186 Dies ist bei der Auslegung des § 4 TVG, insbesondere bei der Frage, ob der Arbeitnehmer selbst für sich bestimmen kann, ob die Herabsetzung tariflicher Konditionen bei gleichzeitiger Beschäftigungsgarantie günstiger für ihn i. S. d. 4 III TVG ist, zu berücksichtigen. 187 Im folgenden kann Art. 2 I GG jedoch außen vor bleiben, da diesem bei der hier zu behandelnden Problematik neben Art. 12 GG keine eigenständige Bedeutung zukommt: Beide Rechte sind Ausfluß des Persönlichkeitsrechts, wobei die freie Entfaltung der Persönlichkeit im Berufs- und Arbeitsleben ihre spezielle Rechtsgrundlage in Art. 12 GG findet. 188 Indem BVerfG AP Nr. 65 zu Art. 12. Maunz/Dürig/Herzog - Scholz, Art. 12 Rdn. 9. IsJ BVerfGE 7, 377 (400); 50, 290 (362). 184 Maunz/Dürig/Herzog a. a. 0 . 1ss Vgl. BVerfGE 7, 377 (400). 186 Siehe nur Stern, Staatsrecht Bd. III 1. Hb., S. 591; Maunz/Dürig/Herzog Scholz, Art. 12 Rdn. 132. 187 Dazu ausführlich B. VI. 4. e) (bb) (3). 1ss Maunz/Herzog/Dürig- Scholz, Art. 12 Rdn. 132. 18 1

182

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B. Betriebsnahe Regelungen

sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber vertraglich binden, üben sie ihr Grundrecht nach Art. 12 GG aus. 189Da es bei der Auslegung des § 4 TVG um Fragen des Berufs- und Arbeitslebens geht, bringt hier Art. 2 I GG neben Art. 12 GG daher keine weiteren, zu berücksichtigenden Aspekte.

b) Grundrechtseingriff durch§ 4 TVG Dadurch daß gern. § 4 TVG die Vereinbarungen des Tarifvertrages unmittelbare und zwingende Wirkung für das Einzelarbeitsverhältnis haben, wird in das durch Art. 12 GG gewährleistete Recht des tarifunterworfenen Arbeitnehmers, seine Existenz autonom zu sichern und zu gestalten, eingegriffen190. Nicht mehr der Arbeitnehmer kann die Bedingungen seines Arbeitsvertrages wie durch Art. 12 GG gewährleistet frei gestalten. Dies übernehmen nun die Verbände in Ausübung ihres Rechts nach Art. 9 III GG auf eigenständige und staatsfreie Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen191 . Dieser Eingriffsqualität des § 4 TVG steht auch nicht entgegen, daß von seiner einschränkenden Wirkung nur diejenigen erfaßt werden, die sich selbst durch freiwilligen Beitritt zur Koalition in autonomer Entscheidung der Grundrechtseinschränkung unterworfen haben. Den Beitritt zum Verband könnte man als eine Art Grundrechtsverzicht 192 des Arbeitnehmers im Hinblick auf die beschriebenen Rechte aus 12 GG verstehen 193, der bei der Auslegung des § 4 TVG eine Heranziehung der in Art. 12 GG enthaltenen Verfassungsvorgaben au.sschließen könnte. In dem Gewerkschaftsbeitritt des Arbeitnehmers ist jedoch kein Grundrechtsverzicht im Hinblick auf Art. 12 GG zu sehen. Ein Grundrechtsverzicht erfordert immer eine Erklärung dahingehend, daß der Betroffene seine ihm zustehende grundrechtlich geschützte Rechtsposition aufgibt. 194 Durch den Beitritt gibt der Betreffende jedoch keineswegs eine solche Verzichtserklärung ab. Im Gegenteil, durch den Beitritt will er die Optimierung seiner aus Art. 2 I, 12 GG fließenden Rechte, weil er glaubt, daß die Gewerkschaft als dem Arbeitgeber ebenbürtiger Verhandlungspartner seine Rechte besser durchsetzen kann als er. 195 Die freiwillige Selbstunterwerfung des Arbeitnehmers unter die Wirkung des § 4 TVG im Wege des GewerkBVerfGE 81, 242 (254). So auch Helling/Hartmann NZA 1998, S. 57 (59). 191 Vgl. BVerfGE 44, 322 (431). 192 Zum Grundrechtsverzicht Pieroth/Schlink a.a.O., Rdn. 141; Stern, Staatsrecht Bd. I1I 2. Hb., S. 927. 193 In diese Richtung BAG AP Nr.l2 zu§ I TVG Rückwirkung. 194 Stern a. a. 0.; ausführlich zum Grundrechtsverzicht Frieß, Der Verzicht auf Grundrechte, S. 134 ff. 189

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VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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Schaftsbeitritts schließt somit einen Rückgriff auf Art. 12 GG bei der Auslegung des § 4 TVG nicht aus. Der Eingriffsqualität des § 4 TVG steht ebenfalls nicht entgegen, daß die Rechtsbeschränkung des Arbeitnehmers letzlieh auf den durch die Tarifvertragsparteien ausgehandelten Tarifvertrag zurückzuführen ist. Nach dem heute geltenden und allgemein anerkannten erweiterten Eingriffsbegriff196 ist als Grundrechtseingriff jedes staatliche Handeln zu werten, das dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechtes fällt, unmöglich macht, gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich erfolgt. 197 Daß es für die unmittelbare Einschränkung der grundrechtliehen Position des Arbeitnehmers erst noch eines weiteren Aktes, nämlich des Abschlusses eines Tarifvertrages bedarf, ist nach der oben angeführten sog. modernen Eingriffsdefinition, die im Interesse eines umfassenden Grundrechtschutzes auch den Schutz vor mittelbaren Beeinträchtigungen ermöglichen will, unerheblich. c) Voraussetzungen für Eingriff in Art. 12 GG Durch § 4 TVG wird also in die Rechte des Arbeitnehmers aus Art. 12 GG eingegriffen. Diese werden jedoch nicht vorbehaltlos durch die Verfassung geschützt, sondern unterliegen dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 I 2 GG, nach dem die Berufsausübung durch oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden kann. In welchem Rahmen Beschränkungen der durch Art. 12 GG geschützten Berufsfreiheit zulässig sind, hat das BVerfG durch seine sog. "Stufenlehre" des "Apothekenurteils" festgelegt. 198 Danach macht das BVerfG die Anforderungen an die Einschränkungen von der Eingriffsintensität abhängig. Es unterscheidet danach, ob ein Eingriff in die Berufsausübungs- oder in die Berufswahlfreiheit vorliegt. Ein Eingriff in die Ausübungsfreiheit (Eingriff auf erster Stufe) liegt dann vor, wenn es um die Regelung der Art und Weise, wie der Beruf auszuüben ist, geht. Die Berufswahl ist dann betrof195 Ähnlich Käppler, NZA 1991 , S. 745 (750); i.E. ebenso Jarass, NZA 1990, S. 505 (510); Wiedemann, Anmerkung zu BAG AP Nr. 12 § I TVG Rückwirkung: "Der Verbandszweck wird nicht um den Preis des Grundrechtsverlustes gefördert". 196 Zum Unterschied klassischer/moderner Begriff des Grundrechtseingriffs vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 238; Bleckmann/Eckhoff, DVBL 1988, S. 373 (373) m. w. N. in Fn. 2. 197 Pieroth/Schlink a.a.O., Rdn. 240; Bleckmann/Eckhoff a.a.O., S. 373 ff. 198 BVerfGE 7, 377 (393 ff.).

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B. Betriebsnahe Regelungen

fen, wenn es um die Zulassung der beruflichen Tätigkeit überhaupt geht. Bei der Berufswahlfreiheit unterscheidet das BVerfG noch einmal, ob bei der Wahl des Berufes an subjektive (Eingriff auf zweiter Stufe) oder an objektive Zulassungsbeschränkungen, d.h. an persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten (Eingriff auf dritter Stufe) angeknüpft wird. Mit der Zunahme der Eingriffsintensität geht nach dem Gericht eine Abnahme der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers einher. Dieser steht unter um so höheren Rechtfertigungsanforderungen, je intensiver er eingreift, wobei die Ausübungsbeschränkung als die schwächste und die objektive Zulassungsbeschränkung als die stärkste Eingriffsstufe zu werten sei. Diese vom BVerfG entwickelte Dreistufentheorie ist im Grunde nichts anderes als die spezifische Modifizierung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitgrundsatzes199, der aus dem Verfassungsrecht und dem Verwaltungsrecht hinreichend bekannt ist: "Die Stufentheorie ist das Ergebnis strikter Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bei dem vom Gemeinwohl her gebotenen Eingriff in die Berufsfreiheit".200

Unsere Verfassung läßt also Eingriffe in Rechtspositionen aus Art. 12 GG zu, solange dies im Rahmen der durch das BVerfG abgesteckten Grenzen der Verhältnismäßigkeit geschieht. Diese (Verfassungs-) Vorgaben sind bei der Auslegung des § 4 TVG und somit bei der Frage nach der Berücksichtigung des Aspekts des Arbeitsplatzerhalts innerhalb des Günstigkeitsvergleiches zu berücksichtigen. d) Uneingeschränkte Anwendbarkeit der Vorgaben des BVerfG

Die genannten Grundsätze hat das BVerfG für staatliche Eingriffe in Art. 12 GG entwickelt. Fraglich ist deshalb, ob diese Grundsätze bei der

vorliegenden Auslegungsproblematik uneingeschränkt angewendet werden können, da die Art. 12 GG beschränkende Maßnahme auf § 4 TVG und einen Tarifvertragsabschluß zurückzuführen ist. Der Abschluß eines Tarifvertrages ist jedoch Ergebnis privatrechtliehen Handelns, weshalb andere Maßstäbe anzusetzen sein könnten als bei der Beeinträchtigung durch den Gesetzgeber als Träger hoheitlicher Gewalt. Keine Bedeutung kommt diesem Aspekt jedoch dann zu, wenn die Tarifpartner bei der Beschneidung grundrechtlich gewährter Freiheiten im gleichen Umfang an die Verfassungsvorgaben gebunden sind wie der staatliche Gesetzgeber.

199 Stern, Staatsrecht Bd. III /2, S. 801. zoo BVerfGE 13, 97 (104).

VI. Die Auslegung des § 4 111 TVG

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aa) Unmittelbare Grundrechtsbindung In der arbeitsrechtlichen Literatur201 und in der Rechtsprechung202 geht man überwiegend von einer unmittelbaren Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien aus. Begründet wird dies zunächst damit, daß durch die §§ 1 I, 4 TVG den tarifvertragliehen Regelungen ausdrücklich Rechtsnormcharakter beigemessen werde. Bei der Normsetzung der Tarifparteien handele es sich um Gesetzgebung im materiellen Sinne, die Normen im rechtstechnischen Sinne erzeuge203, weshalb der Tarifvertrag dem Gebiet des privaten Vertragsrechts nicht mehr zuzurechnen sei. 204 Aufgrund dieser materiellen Rechtssetzung durch die Tarifvertragsparteien seien diese auch gern. Art. 1 III GG unmittelbar zur Berücksichtigung der Grundrechte verpflichtet.205 Daneben stellt man darauf ab, daß der Gesetzgeber seine Rechtssetzungsbefugnis auf die Tarifvertragsparteien delegiert habe. Der Staat könne jedoch nicht mehr Macht verleihen als er selbst habe. 206 Während einige die Übertragung der staatlichen Gesetzgebungskompetenz auf die §§ 1 I, 4 TVG zurückführen wollen207 , sehen andere208 die rechtliche Grundlage hierfür unmittelbar in Art. 9 III GG.

bb) Mittelbare Grundrechtsbindung Andere hingegen lehnen eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifparteien ab mit dem Argument, es handele sich bei den Abschlüssen von Tarifverträgen gerade nicht um die Umsetzung staatlich delegierter Rechtsetzungsmacht, sondern vielmehr um eine von "unten nach oben auf die höhere Ebene der Koalitionen heraufgehobene Privatautonomie".209 Die Tarifautonomie sei nicht vom einfachen Gesetzgeber verliehen, sondern von diesem als Grundrecht gern. Art. 9 III GG zu respektieren, womit die Argu201 Hromandka, DB 1992, S. 1042 (1044); Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 73; Löwisch, BB 1991, S. 59 (60); Schlüter/Belling, NZA 1988, S. 297 (300); Söllner, AuR 1991, S. 45 (49); Rieble, ZTR 1993, S. 54 (59); Gitter/Boerner, RdA 1990, S. 129 (132); Scho1z, ZfA 1981, S. 265 (295); H. Müller, Tarifautonomie, S. 147; Hueck/Nipperdey Bd. li 1. Hb., S 373 ff.; Hinz, Tarifhoheit und Verfassungsrecht, S. 158; Küchenhoff in FS Nipperdey Bd. li, S. 317 (340). 202 Grundlegend BAGE 1, S. 259 (262), seitdem ständige Rechtsprechung. 2o3 BVerfGE 44, S. 322 (341). 204 BVerfGE 4, 96 (108). 2os Vgl. nur BAG a.a.O. 206 Gamillscheg, AcP 164, S. 385 (399). 207 Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 136 f.; Nikisch Bd. li, S. 45. 208 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 104. 209 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 7 S. 93.

B. Betriebsnahe Regelungen

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mentation, die Tarifparteien übten staatlich delegierte Gesetzgebungskompetenz aus, nicht zu vereinbaren sei. Die Tarifparteien agierten vielmehr im Privatrechtsverkehr, weshalb die Grundrechte auch nur nach den Grundsätzen der Grundrechtsgeltung im Privatrecht zur Anwendung gelangten, also nur mittelbar.2 10 Außerdem seien Tarifverträge zwar Rechtsnormen, jedoch solche privater und nicht öffentlich-rechtlicher Natur. Entscheidend für die Grundrechtsgeltung sei aber, daß eine Maßnahme von der öffentlichen Hand vorgenommen werde, die gern. Art. 1 III GG grundrechtsgebunden sei. 211 Bei der tarifvertragliehen Nonnsetzung handele es sich jedoch nicht um einen Anwendungsbereich des Art. 1 III GG, da dieser nur die Gesetzgebung als formelle Gewalt, also als Gesetzgebung von den Organen her und nicht bereits die bloße Befugnis, normative Regelungen zu schaffen, erfasse. 212

cc) Konsequenzen für die Prüfung der verfassungsmäßigen Vereinbarkeil eines Eingriffs in Art. 12 GG durch § 4 1VG i. V. m. tarifvertragliehen Regelungen M. E. ist es für die Frage der Vereinbarkeil einer tariflichen Regelung mit Art. 12 GG unerheblich, ob die Rechtsnormsetzung der Tarifvertragsparteien aufgrund einer Delegation des Gesetzgebers erfolgt oder aufgrund der privatrechtliehen Nutzung ihres Grundrechts auf Ordnung und Gestaltung des Arbeitslebens. Entscheidend kann somit auch nicht sein, ob der Tarifvertrag privatrechtlicher213 oder öffentlich-rechtlicher214 Natur ist. Maßgeblich ist die tatsächliche Rechtsmacht der Tarifparteien, für Dritte, die tarifunterworfenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, verbindlich Recht zu setzen. Zwischen den vertragsschließenden Verbänden und ihren Mitgliedern besteht durch die zwingende Wirkung der Tarifnormen ein tatsächliches Über- und Unterordnungsverhältnis, das seit jeher als Qualifikationsmerkmal staatlichen Handeins und der damit einhergehenden Grundrechtsbindung gedient hat. Es ist deshalb nicht einzusehen, warum die Tarifpartner nicht in gleicher Weise an die Grundrechte derjenigen, die sie mit ihrer Normsetzung erfassen, gebunden sein sollten wie der Staat. Nicht überzeugend ist der Einwand hiergegen, eine solche These verkenne die freiwillige Verbandsmitgliedschaft als Ergebnis privatautonomen Handelns?15 Mit der Freiwilligkeit der Tarifunterwerfung und der dadurch sugSinger, ZfA 1995, S. 611 (620). Jarass, NZA 1990, S. 503 (508). 212 Münch ArbR Hb. - Richardi, Bd. 1, § 10 Rdn. 22; derselbe, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 347. 213 Jarass a. a. 0. 2 14 Nikisch a.a.O., S. 217. 210

211

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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gerierten Möglichkeit, sich den tariflichen Regelungen auch jederzeit wieder zu entziehen, ist es in der Tarifpraxis nämlich nicht so weit her. Dies deshalb, weil aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit vieler Tarifverträge und der Regelung des § 3 II TVG nicht immer nur Verbandsmitglieder, sondern auch Außenseiter von Tarifverträgen betroffen sind. Hinzu kommt, daß schon aufgrund der Vereinfachung von Arbeitsvertragsabwicklungen in den meisten Unternehmen der Tarifvertrag auch bei Außenseitern wie "Allgemeine Geschäftsbedingungen"216 durch einzelvertragliche Bezugnahme zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses gemacht wird. Tarifverträge setzen somit fast immer eine allgemeine Ordnung - auch für Außenseiter. Das Verbandsmitglied könnte sich zwar rechtlich, aber aus den soeben genannten Gründen nicht faktisch den Tarifnormen entziehen. Für eine staatsgleiche Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte spricht vor allem aber der Inhalt der tariflichen Vereinbarungen, durch die das Dasein der Arbeitnehmer erheblich betroffen wird. Die Regelungsmaterie des Tarifvertrages reicht von der Nutzung der Betriebskantine bis hin zu Urlaubs- und Lohnregelungen. Sie berühren damit einen sozialen Bereich, der für die Lebensführung des Arbeitnehmers von größter Bedeutung ist. Nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch seine Familie ist in ihrer sozialen Verhaltensweise durch tarifliche Regelungen tangiert, da auch sie beispielsweise ihren Urlaub, ihre Essenszeiten usw. (Anpassung an Früh- oder Spätschicht, Samstagsarbeit) auf die tariflich geregelten Arbeitsabläufe auszurichten hat. Kurz: Der Tarifvertrag regelt die für den Menschen bedeutenste Materie, die Arbeit. Von der materiellen Tragweite und der Intensität der Einflußnahme her sind deshalb Tarifnormen der staatlichen Gesetzgebung vergleichbar. 217 Weitreichenden Einfluß haben die tariflichen Regelungen jedoch nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Arbeitgeber. Auch die Unternehmen sind einem erheblichen Einfluß der Tarifnormen ausgesetzt. Gern. Art. 9 III GG steht den Tarifparteien eine Regelungsbefugnis nicht nur für den Bereich der Lohngestaltung, sondern auch hinsichtlich der Gestaltung der betriebs- und unternehmensverfassungsrechtlichen Ordnung zu218. Damit haben die Tarifpartner z. B. die Möglichkeit, durch Mitbestimmungs- und Rationalisierungsschutzabkommen219 in den Entscheidungsbereich typischer Arbeitgeberaufgaben vorzudringen. 220 215 So Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 348; C. J. Müller, Berufsfreiheit des Arbeitgebers, S. 238. 2l6 So wörtlich Söllner, AuR 1966, S. 257 (261). 217 Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 228. 218 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 60, 75. 219 Dazu im einzelnen Stark, Verfassungsfragen einer Arbeitsplatzsicherung durch Tarifvertrag, S. 6 ff.; Rieth, Steuerung untemehmerischen Handelns, S. 21 f.

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B. Betriebsnahe Regelungen

Nicht zu verkennen ist, daß die weitere Entwicklung eines Unternehmens stark von den Tarifabschlüssen abhängt. Dies macht allein schon die vorliegende Untersuchung deutlich, die Möglichkeiten zur Überwindung einer wirtschaftlich nicht mehr zu tragenden Tarifbindung aufzeigen will. Daß Tarifverträge weitgehenden Einfluß auf Unternehmensentscheidungen haben können, zeigt auch die in der Vergangenheit viel diskutierte Abgrenzungsfrage der Tarifautonomie zur Unternehmensautonomie, d.h. inwieweit den Unternehmern ein von der Tarifautonomie unabhängiger Bereich bleiben muß, mittels ihres Eigentums an Produktionsmitteln eigenverantwortlich, auf eigenes Risiko und im eigenen Interesse Unternehmensziele am Markt zu verfolgen. 221 In der Vergangenheit waren Entwicklungen dahingehend zu erkennen, daß man die grundrechtlich geschützte Unternehmensautonomie (Art. 12, 14 GG) dadurch beeinträchtigte, indem man unter Berufung auf die Tarifautonomie mehr und mehr versuchte, über die reine Regelung der Arbeitsbedingungen und der Unternehmensorganisation hinaus Einfluß auch auf Unternehmerische Sachentscheidungen zu nehmen. Dies geschah vorwiegend durch eine tarifvertragliche Stärkung der betriebsrätlichen Rechte, insbesondere in der Mitbestimmung im wirtschaftlichen Bereich. 222 Dieses Problem soll hier nicht weiter vertieft werden. Es verdeutlicht jedoch, daß die Arbeitgeber genauso fundamental von tariflichen Regelungen beeinträchtigt werden können wie die Arbeitnehmer. Unverständlich ist dehalb die Differenzierung Däublers, der eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien gegenüber den Arbeitgebern, nicht aber den Arbeitnehmern verneint. 223 Dies, obwohl er selbst feststellt, daß der Abschluß von Tarifverträgen ein "Stück (kollektiver) Ausübung unternehmerischer Betätigungsfreiheit ist". 224 Eine staatsgleiche Grundrechtsbindung der Koalitionen entspricht auch dem modernen Verständnis eines umfassenden Grundrechtschutzes. In der heutigen Zeit, in der der Staat mehr und mehr seine Aufgaben durch privatrechtlich organisierte juristische Personen ("outsourcing") abwickeln läßt, ist eine strikte Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ohnehin nicht mehr in der Form möglich wie in vergangeneo Zeiten. Die strikte Unterscheidung einer Grundrechtsbindung nach der Zugehörigkeit zum öffentlichen oder privaten Recht ist deshalb nicht mehr tauglich. Wend, die Zulässigkeil tarifvertraglicher Arbeitsplatzbesetzungsregeln, S. 132. Zum Begriff der Unternehmensautonomie siehe Beuthien, ZfA 1988, S. I (1 ff.). 222 Dazu Beuthien a. a. 0., S. 6. 223 Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 230; derselbe, Tarifvertragsrecht, Rdn. 417. 224 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1061. 220 221

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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Die Grundrechte sind verfassungsrechtliche Fundamentalrechte des einzelnen als Mensch und Bürger.225 Durch sie werden dem einzelnen unentziehbare Rechtspositionen gewährleistet, die aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für Freiheit und Würde des einzelnen nicht einmal der Staat, dem ansonsten die Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens obliegt, beeinträchtigen kann. Dem Grundrechtsträger ist jedoch wenig geholfen, wenn er vor staatlichen Eingriffen in seine grundrechtlich gewährten subjektiven Rechte geschützt wird, gleichzeitig ein Dritter, der über eine staatsähnliche soziale oder wirtschaftliche Macht verfügt, diese "unentziehbaren" Grundrechte als Elemente objektiver Ordnung des Gemeinwesens beschneidet. Entscheidend ist doch, daß der einzelne vor dem Entzug der Grundrechte auf jeden Fall bewahrt bleiben soll, egal durch wen die Grundrechtsbeeinträchtigung erfolgt. Wer über eine dem Staate vergleichbare Macht verfügt, besitzt auch die abstrakte Macht, grundrechtswidrigen Einfluß auszuüben?26 Daß die Tarifvertragsparteien, insbesondere die hinter ihnen stehenden Dachverbände, auch heute noch eine überragende Macht haben, wurde besonders während der letzten Bundestagswahl deutlich. Der DGB hat sich mit einer neun Millionen schweren Werbekampagne für einen Regierungswechsel stark gemacht, während man sich auf Arbeitgeberseite in einer bisher noch nicht dagewesenen Art und Weise offen für die derzeitige Regierung einsetzte und vor den schlimmen wirtschaftlichen Folgen eines Regierungswechsels warnte. Durch die große Anzahl ihrer öffentlich-rechtlicher Befugnisse, wie z. B. ihre Mitwirkung am Erlaß von Durchführungsvorschriften, der Ernennung der Vorsitzenden beim Arbeitsgericht, ihre Teilnahme in Verwaltungsausschüssen und Beiräten227 , neuerdings auch die primäre Umsetzung von Europäischen Richtlinien, 228 sind die Verbände auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und allgemein politischen Bereichs tätig. 229 Die Bedeutung des gewerkschaftlichen Votums in der Gesellschaft hat das BVeifG unterstrichen, indem es feststellt: ,,Die Gewerkschaften sind in den letzten Jahrzehnten über ihre ursprüngliche Zielsetzung - Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeitnehmer weit hinausgewachsen; sie beanspruchen die Repräsentation der Arbeitnehmerinteressen in Staat und Gesellschaft in umfassender Weise und bilden heute einen bestimmenden Faktor im Wirtschafts- und Sozialleben. Es läßt sich nicht leicht eine die Arbeitnehmerinteressen auch nur mittelbar berührende Maßnahme 225 226 227 22s 229

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 129. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 407. Hanau/ Adomeit C I. 5., S. 64. Vgl. dazu Zachertin FS Schaub, S. 8ll (812). Scheffler, NJW 1965, S. 849 (850).

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B. Betriebsnahe Regelungen

denken, bei der ihnen nicht auch ein Mitspracherecht eingeräumt wird. Soweit sie diese Aufgaben in diesem Bereich nicht selbst an sich ziehen, besitzt ihr Votum in der Öffentlichkeit und auch bei staatlichen Stellen, bei Legislative und Exekutive erhebliches Gewicht...."

Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände verfügen daher über eine sozialökonomisch und auch politisch begründete Macht, so daß eine staatsgleiche Grundrechtbindung vonnöten ist. Ist eine staatsgleiche Grundrechtsbindung der Tarifparteien geboten, so ist es nur konsequent und selbstverständlich230, daß sie bei einer Grundrechtsbeschränkung im gleichen Umfang an die Verfassung gebunden sind wie der Gesetzgeber, nicht mehr und nicht weniger. Für den hier maßgeblichen Art. I 2 GG bedeutet dies, daß die Tarifparteien bei seiner Beschränkung nur dann verfassungskonform handeln, wenn sie den vom BVerfG im Rahmen der ,,Stufenlehre" bestimmten Anforderungen entsprechen. Der Anwendung der Stufenlehre wird entgegengehalten, der vom BVerfG auf allen drei "Eingriffsstufen" gebrauchte GemeinschaftsbegrifrZ31 sei für die Bewertung von Tarifverträgen untauglich, da es nicht die Aufgabe der Tarifpartner sei, das Gemeinwohl zu fördern. Durch den Abschluß von Tarifverträgen würden sie vielmehr Mitglieder- und Verbandsinteressen und damit Partikulärinteressen wahmehmen. 232 Richtig ist zwar, daß die Tarifparteien in den Tarifrunden einen Ausgleich der Mitgliederinteressen und somit singuläre Sonderinteressen verfolgen. Sie verfolgen somit zumindest nicht formell Interessen, die dem Wohl des gesamten Volkes zu dienen bestimmt sind. Gleichwohl wäre es zu formalistisch, die Anwendung der Stufenlehre auf Tarifverträge aus diesem Grund abzulehnen. Auch wenn sich die Koalitionen auf eine entsprechende verfassungsrechtliche Grundlage nicht berufen können, so spricht das BVerfG von der Erfüllung einer "öffentlichen Aufgabe"233, oftmals ist die Rede von den "öffentlichen Verbänden" 234, der BGH spricht ihnen die Trägerschaft "zahlreicher öffentlicher Funktionen" zu235 . Die Koalitionen, so stellt man fest, seien aufgrund ihres volkswirtSo Loritz, ZfA 1990, S. 133 (141). "Sachgerechte und vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls" - erste Stufe, zur Abwehr von "Gefahren oder Schäden für die Allgemeinheit" - zweite Stufe, zur Abwehr "nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" - dritte Stufe. 232 Richardi, OB 1990, S. 1613 (1617); C. J. Müller, Die Berufsfreiheit des Arbeitgebers, S. 242; Däub1er, OB 1989, S. 2534 (2536). 233 BVerfGE 28, 295 (304). 234 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 368. 235 So der BGH NJW 1965, S. 29 (30). 23o 231

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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schaftliehen Einflusses maßgeblich dem Gemeinwohl verpflichtet, auch wenn dieses zwar nicht als politisches, sondern als soziales Gemeinwohl zu verstehen sei. 236 Tatsächlich ist es nur schwer möglich, zwischen Koalitionsinteressen und Allgemeininteressen zu unterscheiden. Die Ziele, die sich die Koalitionen auf ihre Fahnen schreiben, sind meist auch die Ziele der Allgemeinheit. Dies wird am Beispiel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die in den letzten Jahren ihr vorrangigstes Ziel war, am deutlichsten. Die Vollbeschäftigung ist nicht nur ein verbandsmäßiges Sonderinteresse, sie zählt vielmehr zu den allgemein anerkannten Belangen der ganzen Volksgemeinschaft?37 Daß die Koalitionsinteressen i. d. R. kongruent mit den Interessen der Allgemeinheit sein werden, zeigt auch ein einfacher Blick auf Art. 9 III GG, auf den das Handeln der Koalitionen zurückzuführen ist. Danach obliegt ihnen die "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen". Man kann kaum behaupten, daß diese Förderung nicht auch im Interesse der Allgemeinheit liegt. Dies schon deshalb, weil die Koalitionsmitglieder in ihrer Zusammensetzung die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen widerspiegeln. So spricht auch das BVeifG davon, daß die Tarifautonomie und somit die Koalitionen den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck verfolgen, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen. 238 Daß man im Rahmen der Anwendung der Stufenlehre die Begriffe der Gemeinschaftsgüter durch die der "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" austauscht239, ist m. E. nicht erforderlich, da die Ordnung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Interesse der Allgemeinheit erfolgt und daher als Gemeinschaftsgut anzusehen ist. Abschließend ist festzuhalten, daß die Stufenlehre auf die Bewertung von Tarifverträgen unverändert angewendet werden kann. Es spielt somit für die folgende verfassungsmäßige Bewertung keine Rolle, daß hier ein Eingriff in Art. 12 GG erst im Zusammenhang mit einem Tarifvertragsabschluß erfolgt.

236 237 238 239

Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 221. BVerfGE 21, 245 (251). BVerfGE 18, 18 (28). So aber Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 265.

B. Betriebsnahe Regelungen

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e) § 4 TVG als Ausdruck praktischer Konkordanz

von Verfassungsprinzipien

aa) Legitimer Zweck/Geeignetheit/Erforderlichkeit Nach dem Exkurs zur Grundrechtsbindung zurück zum Ausgangsproblem: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt zunächst, daß der Eingriff einen legitimen Zweck verfolgt und auch dazu geeignet ist, diesen Zweck zu erreichen240, wobei bei Art. 12 der Zweck der Regelung immer gemeinwohlorientiert sein muß. Außerdem muß der Eingriff erforderlich sein, d.h. der Zweck darf nicht durch ein den Arbeitnehmer schonenderes, gleich effektives Mittel zu erreichen sein?41 Die Tarifparteien wollen durch den Abschluß von Tarifverträgen ihr durch Art. 9 III GG gewährleistetes Recht, das Arbeitsleben zu wahren und zu fördern, umsetzen. Durch § 4 TVG hat es der Gesetzgeber den Tarifparteien ermöglicht, die oftmals mühsam errungenen Ergebnisse der Tarifverhandlungen unmittelbar und zwingend zum Inhalt der tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse zu machen. Erst § 4 TVG ermöglicht es den Tarifparteien, ihre Absicht, durch das Aushandeln von gerechten Arbeitsbedingungen das Arbeitsleben zu stabilisieren und zu befrieden, auch tatsächlich umzusetzen. § 4 TVG ist somit eine Vorschrift, die als Kernstück der verfassungsrechtlich gewährten Tarifautonomie anzusehen ist, ohne die das Funktionieren des Tarifwesens kaum möglich wäre. Durch die Schaffung des § 4 TVG verfolgte der Gesetzgeber daher einen legitimen Zweck, nämlich die Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens, die nach den obigen Ausführungen dem Gemeinwohlinteresse dient. § 4 TVG ist hierzu auch geeignet, da er einen Beitrag zur Zielerreichung leistet. 242 Die Regelung des § 4 TVG, mit der der Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 GG einhergeht, ist auch erforderlich. Bei der Erforderlichkeit, d.h. bei der Frage ob nicht ein milderes, ebenso effektives Vorgehen angezeigt wäre, steht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative derart zu, daß im Zweifel von der Erforderlichkeit auszugehen ist. 243 Ohne die Anordnung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des § 4 TVG hätten die Tarifpartner keine Möglichkeit, ihre Verhandlungsergebnisse umzusetzen. Nach den Tarifrunden könnten alle Verhandlungserfolge wieder in Frage gestellt werden. Erst das TVG gibt den Koalitionen 240 241 242 24 3

Siehe nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 279. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 285. Siehe nur Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rdn. 59. Pieroth/ Schlink a. a. 0.

VI. Die Auslegung des § 4 Ili TVG

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die Mittel, die von Art. 9 III GG intendierte autonome Regelung des Arbeitslebens verwirklichen zu können. 244 Die Normsetzungsbefugnis i. S. d. §§ 1 I, 4 TVG ist die Folge der Tarifautonomie245 und daher erforderlich. bb) Verhältnismäßigkeit i. e. S.! Angemessenheitsprüfung/praktische Konkordanz Das BVerfG hat die Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e. S. für Eingriffe in Art. 12 GG durch die Dreistufenlehre näher konkretisiert. Danach soll ein Eingriff auf erster Stufe (Ausübungsfreiheit s. o.) dann verhältnismäßig i.e.S. bzw. angemessen sein, wenn er nach vernünftigen Erwägungen des Allgemeinwohls zweckmäßig ist. 246 Ein Eingriff auf der zweiten Stufe (Beschränkung der Berufswahl durch das Anknüpfen an subjektive Zulassungskriterien) soll zulässig sein, wenn dies zum Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsgutes notwendig ist. Ein Eingriff auf der dritten Stufe (Beschränkung der Berufswahlfreiheit durch das Anknüpfen an objektive Zulassungskriterien) soll schließlich dann rechtmäßig sein, wenn dies zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher Gefahren für überragend wichtige Gemeinschaftsgüter notwendig ist. 247 Aufgrund der schwammigen und blassen Begriffe wie "vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls" oder "zum Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter" empfiehlt es sich auch bei Art. 12 GG wie bei jeder anderen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs die klassische Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. vorzunehmen248, die oft auch als Herbeiführung einer praktischen Konkordanz bzw. eines schonenden Ausgleichs bezeichnet wird. 249 D. h., es ist zu prüfen, ob die Folgen der Beeinträchtigung für den einzelnen und der mit dem Eingriff verfolgte Zweck im recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Kurz: Es hat eine umfassende Güterahwägung stattzufinden. 250 Konkret bedeutet dies hier folgendes: Nachdem festgestellt wurde, daß die Berufsfreiheit des einzelnen zum Zwecke der Förderung und Wahrung BVerfGE 44, 322 (341, 345 ff.); Reuter, ZfA 1978, 1 (12,14,17). Waltermann, NZA 1991, 754 (758). 246 BVerfGE 7, 377 (405). 247 BVerfG a. a. 0 .; Pieroth/Schlink, a. a. 0 ., Rdn. 855. 248 Vgl. BVerfGE 13, 97 (104): "Die Stufentheorie ist das Ergebnis strikter Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bei vom Gemeinwohl her gebotenen Eingriffen in die Berufsfreiheit". 249 Zu den unterschiedlichen Begriffen und derselben Bedeutung dergleichen vgl. Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 814 f. 250 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 782 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 855 ff. 244 245

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B. Betriebsnahe Regelungen

des Wirtschafts- und Arbeitslebens (Art. 9 III GG) eingeschränkt werden darf, ist nun im Rahmen einer Angemessenheilsprüfung bzw. Güterahwägung zu untersuchen, in welchem Maß eine Zurückdrängung der privatautonomen Arbeitsvertragsgestaltung der Verbandsmitglieder möglich ist, ohne als außer Verhältnis zu dem mit dem Eingriff verfolgten Zweck stehend angesehen zu werden. (1) Abstraktes Werteverhältnis des Art. 12 GG zu Art. 9 III GG Um einen gerechten Interessenausgleich zwischen den betroffenen Interessen herbeizuführen, empfiehlt es sich, das abstrakte Werteverhältnis der beiden Interessen zu bestimmen, um einen vielleicht von Anfang an bestehenden verfassungsmäßigen Werteüberhang zugunsten einer Rechtsposition zu finden. 251 Zunächst ist festzustellen, daß beide in Ausgleich zu bringenden Positionen von der Verfassung geschützt werden. Das Recht des Arbeitnehmers, seine Arbeit autonom zu gestalten, durch Art. 12 GG. Das Recht der Koalitionen auf Wahrung und Föderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Art. 9 III GG. Insbesondere wird ihnen garantiert, Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtssetzung freigelassenen Raum in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen252 , was gemeinhin auch als Tarifautonomie bezeichnet wird. Das BVerfG hat aber oftmals eine Gewichtung von einzelnen Grundrechten vorgenommen, indem es auf die besondere Rolle eines Grundrechts in der Gesamtordnung des Gemeinwesens hingewiesen hat. So hat es z. B. Art. 5 GG als schlechthin konstituierend für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung herausgestellt. 253 Aber auch die besondere Bedeutung des Art. 12 GG hat das BVerfG betont. So führt es hierzu aus: "Art. 12 GG normiert eines der bedeutendsten Grundrechte. Er ist daher Ordnungsatz für das gesamte soziale Leben. Der oberste Wert des Grundgesetzes ist die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Ihr muß deshalb auch bei der Wahl des Arbeitsplatzes im weitesten Sinn die größtmögliche Freiheit gewährt bleiben. Die besondere Bedeutung des Grundrechts erhellt daraus, daß es praktisch das gesamte Leben jedes einzelnen Bürgers gestaltet, im Gegensatz zu den Grundrechten, die nur gelegentlich der Abwehr der Einzelangriffe der öffentlichen Gewalt dienen. "254 251 252 253 254

Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 829 f. BVerfGE 4, 96 (106 f.); 18, 18 (26, 28); 28, 295 (304); 38, 281 (306). BVerfGE 12, 113 (125); 35, 202 (223). BVerfGE 13, 168 (176); BVerfGE 7, 377 (400, 405).

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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In einer anderen Entscheidung führt es zu Art. 12 GG aus: ,,Maßstab der Prüfung ist Art. 12 GG. Die Auslegung dieser Bestimmung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist an dem Grundgedanken orientiert, daß im Hinblick auf den besonderen Rang dieses Grundrechts, der in seinem engen Zusammenhang mit der freien Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im ganzen begründet liegt, die aus Gründen des Gemeinwohls unumgängliche Einschränkungen nur unter dem Gebot der strikten Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit stehen." 255

Dieses Zusammenspiel mehrerer Grundrechte wie hier der Schutz des Berufes nach Art. 12 GG als spezielle Ausgestaltung des Persönlichkeitsschutzes nach den Art. 2 I und 1 GG ist Ausdruck der besonderen Bedeutung des Grundrechts. 256 Eine vergleichbare Hervorhebung der besonderen Wichtigkeit des Art. 9 III GG durch das BVerfG hat es bisher nicht gegeben. Beim Harmonisierungsvorgang bzw. bei der Abwägung zwischen Art. 12 GG und Art. 9 III GG ist also von vomherein die herausragende Bedeutung des Art. 12 GG zu beachten. (2) Funktionszusammenhang zwischen Art. 9 III GG und Art. 12 GG Aussagekräftiger für die Gewichtung und das Verhältnis des Art. 9 III GG zu Art.12 GG ist der Funktionszusammenhang der beiden Grundrechte. Art. 12 GG und Art. 9 III GG stehen in einer Wechselbeziehung derart zueinander, daß die Koalitionen auf der einen Seite ein unverzichtbares Instrument zur Realisierung der Berufsfreiheit darstellen. 257 Da jede Kollektivierung immer zugleich die Anlage hat, Unfreiheit zu erzeugen, begründet Art. 12 GG auf der anderen Seite eine Schranke für die Koalitionsfreiheit. Art. 12 GG bildet das subjektive Gegengewicht gegenüber einer zu weitgehenden Einschränkung der Normunterworfenen in ihrer Berufsfreiheit durch das ausgeübte Recht der Koalitionen, die Arbeitsverhältnisse zu regeln. 258 Auch wenn oben festgestellt wurde, daß die Tarifpartner aufgrund tarifvertaglichen Ausgleichs der Mitgliederinteressen, die ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Sonderinteressen darstellen, zugleich auch im Interesse der Allgemeinheit handeln, so darf nicht vergessen werden, daß den Koalitionen vorrangig die Aufgabe zukommt, die Grundrechtsposition ihrer Mitglieder aus Art. 12 GG durchzusetzen. 255 Grundlegend BVerfGE 19, 330 (336 f.); bestätigt durch BVerfGE 59, 172 (210); 59, 302 (315); 63, 266 (286); 75, 284 (292); 82, 209 (223). 256 Stern a. a. 0 ., S. 830. 257 Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 251. 258 Säcker/Oetker a. a. 0., S. 252. 6 Freihube

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B. Betriebsnahe Regelungen

Durch die im Laissez-faire-Liberalismus gewonnene Erkenntnis, daß der Arbeitsvertrag zum Instrument der Unfreiheit des Arbeitnehmers pervertierte, sollte durch Assoziierung der einzelnen Arbeitnehmerautonomien in den Koalitionen die Parität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hergestellt werden. Die Tarifautonomie wurde somit ins Leben gerufen. Zweck dieser Addition der einzelnen Arbeitnehmerautonomien war aber damals wie heute lediglich die Unterstützung, die Effektuierung der Privatautonomie der einzelnen Arbeitnehmer. Dort, wo der einzelne Arbeitsvertrag wegen offensichtlicher Imparität an seine faktischen Grenzen stößt, soll die Verbandsmacht die Privatautonomie funktionsfähig halten, indem die kollektive Regelung hilfsweise zur Geltung gelangt und für die Durchsetzung und Ausbildung der in Art. 12 GG angelegten Individualinteressen sorgt. Die Kollektivmacht hat die individuelle Privatautonomie demnach zu unterstützen und zu bestärken, nicht aber dieser zu widerstreiten oder sie ohne soziale Not zu ersetzen.259 Eine Vollmacht260 zur Regelung der Arbeitsverhältnisse ihrer Mitglieder steht den Koalitionen nur dann zu, wenn das Mitglied bei der Arbeitsvertragsgestaltung solche Rahmenbedingungen vorfindet, die ihm einen Vertragsabschluß entsprechend den sozialstaatliehen Grundsätzen der Arbeitsvertragsgerechtigkeit von vornherein nicht ermöglicht261, der Individualarbeitsverlag seine Funktion als Gestaltungsmittel im Bereich der abhängigen Arbeit also nicht erfüllen kann. Das Zurückdrängen der Privatautonomie des Arbeitnehmers zugunsten der kollektiven Privatautonomie kann also nur im Hinblick auf diese Finalität und Akzessorität durch Art. 9 III GG gerechtfertigt werden. Liegt eine Machtungleichheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht vor, so kann diese durch den Verband auch nicht ausgeglichen werden. Die kollektive Handlung tritt dann hinter der individuellen Rechtsgestaltung zurück, was durch § 4 III TVG gewährleistet wird. Die aus dem Beitritt resultierende Tarifbindung ist ausweislich des verfassungsrechtlichen Wertesystems also nicht Selbstzweck, sondern sie ist Grundrechtsverstärkung einer oftmals fehlenden, privatautonomen Grundrechtseffektivität Wie schon Hueck/Nipperdey festgestellt haben, "sind die Koalitionen nicht Selbstzweck, sondern um der einzelnen Arbeitnehmer willen dar". 262 Festzuhalten bleibt, daß das Grundrecht des Art. 9 III GG mit Art. 12 GG in einem Wirkungszusammenhang derart steht, daß Art. 9 III GG Picker, ZfA 1986, S. 199 (204), Heinze, NZA 1991, S. 329 (331). Reuter, ZfA 1978, S. 1 (37) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß die Tarifvertragsparteien im Innenverhältnis zu ihren Mitgliedern als Treuhänder anzusehen sind. 261 Heinze a. a. 0., S. 331. 26 2 Hueck/Nipperdey Bd. I., S. 29. 259

260

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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gegenüber Art. 12 GG als "Ausübungsrecht" anzusehen ist. 263 Die Rechte der Koalitionen stellen die Bündelung der Einzelrechte ihrer Mitglieder aus Art. 12 GG dar, weshalb die koalitionäre Verhandlungs- und Regelungsmachtnurkraft fremdnütziger kompetentieller Beleihung besteht.264 Nach abstrakter Betrachtungsweise besteht von Verfassungs wegen daher ein wertmäßiger Vorrang der individuellen Privatautonomie gern. Art. 12 GG gegenüber der kollektiven Privatautonomie nach Art. 9 III GG. Denn wenn das eine Recht zuvörderst der Verwirklichung des anderen Rechts dient, kommt letzterem eindeutig die größere verfassungsmäßige Bedeutung zu. Vielfach wird aufgrund des beschriebenen Funktionszusammenhanges deshalb unterstrichen, daß es zwischen den Rechten der Koalitionen aus Art. 9 III GG und den Rechten der Mitglieder aus Art. 12 GG gar nicht zu einem Spannungsverhältnis kommen könnte, da die Anerkennung eines eigenen Grundrechts der Koalitionen lediglich externe Wirkung, d. h. im Verhältnis zum Staat und zu anderen Grundrechtsträgem außerhalb der Koalitionssphäre (gemeint sind wohl die Außenseiter), entfalte.265 Aufgrund des individualrechtliehen Verständnisses des Art. 9 III GG käme den Koalitionen keine schutzwürdige Position gegenüber ihren Mitgliedern zu, d.h. sie dürften sich nicht bei der Beschneidung ihrer verfassungsmäßigen Rechte durch ihre Mitglieder auf ihre Koalitionsfreiheit gern. Art. 9 III GG berufen. 266 Auch wenn hier auf diese Frage der sog. Theorie des Doppelgrundrechts nicht näher eingegangen werden soll, unterstreicht doch auch sie, daß nach den Vorgaben unserer Verfassung dem Recht des Arbeitnehmers auf autonome Regelung seines Arbeitsleben der Vorrang vor dem Recht der Koalitionen zur Ordnung des Arbeits - und Wirtschaftslebens gebührt. (3) Konkrete Abwägung/ Ausgleich der beiden Grundrechtspositionen im Einzelfall In Erinnerung soll noch einmal gerufen werden, daß anband der verfassungskonformen Auslegung des § 4 I TVG i. V.m. § 4 III TVG untersucht werden soll, ob beim Günstigkeitsvergleich der Aspekt des Arbeitsplatzerhalts berücksichtigt werden kann bzw. berücksichtigt werden muß. Da die Abwägung bzw. der Ausgleich der beiden Rechtspositionen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e. S. stets einzelfallbezogen erfolgt267 , ist an 263 264 265 266 6*

Scholz, Koalitionfreiheit, S. 146. Picker, "Ein Rechtsinstitut auf Abruf' in F.A.Z. vom 11. 7. 1998, S. 15. Reuter a. a. 0. Loritz, ZfA 1990, S. 133 (157).

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B. Betriebsnahe Regelungen

dieser Stelle zu hinterfragen, ob das Recht der Koalitionen zur Ausgestaltung des Einzelarbeitsverhältnisses soweit gehen kann, daß das Mitglied derart an die tariflichen Regelungen gebunden ist, daß es notfalls sogar den Verlust seines Arbeitsplatzes hinzunehmen hat. Es ist zu prüfen, ob es noch als verhältnismäßig i. e. S. anzusehen ist, wenn dem einzelnen Arbeitnehmer versagt wird, durch individuelle Vereinbarung untertariflicher Konditionen seinen gefährdeten Arbeitsplatz zu erhalten, mit den Argumenten, darin sei ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie zu sehen, die Berücksichtigung der Arbeitsplatzsicherheit könne als etwas "Außerrechtliches" im Günstigkeitsvergleich keine Berücksichtigung finden bzw. der Arbeitnehmer müsse vor sich selbst geschützt werden. Wurde oben festgestellt, daß das Recht des Arbeitnehmers auf eigenverantwortliche Existenzgestaltung gern. Art. 12 GG abstrakt gesehen dem Recht der Koalitionen auf kollektive Regelung der Arbeitsverhältnisse nach Art. 9 III GG vorgeht, so muß dies erst recht für den hier zu beurteilenden Einzelfall gelten, in dem der Arbeitnehmer von seinem Recht aus Art. 12 GG Gebrauch machen will, um seinen bedrohten Arbeitsplatz durch individuelle Abweichung von den tariflichen Regelungen zu retten. Wie bereits gesagt, dienen die Koalitionen der Grundrechtsverwirklichung ihrer Mitglieder. Deshalb übergeben die Mitglieder die Ausgestaltungsbefugnisse ihrer Arbeitsverhältnisse dem Verband, wenn sie in die Gewerkschaft eintreten. Darin ist jedoch keine Übertragung ihrer Rechte in dem Sinn zu sehen, daß der einzelne seine Entscheidungskompetenz restlos und unwiederbringlich verliert. Er verfallt nicht in völlige Subordination268, so daß ihm immer noch eine Verfügungsmacht hinsichtlich solcher Rechte verbleibt, die den Kernbereich seines den Koalitionen übertragenen Selbstbestimmungsrechtes betrifft. Bei der hier zu beurteilenden Konstellation geht es aber gerade um diesen Kernbereich. Wenn ohne die einzelvertragliche Abänderung der Arbeitsplatz vernichtet würde, ist eine Materie betroffen, die das "ob" der Berufsausübung betrifft. Das Recht, selbst zu bestimmen, ob man in seinem Unternehmen weiterhin tätig bleiben will, gehört aber zu dem unantastbaren Kernbereich der Entscheidungsbefugnis des Mitgliedes, dessen Ausübung ihm auch noch nach Koalitionsbeitritt erhalten bleiben muß.269 Es würde mit dem Wirkungszusammenhang der Art. 9 III GG und 12 GG unvereinbar sein, wenn aufgrund der Durchsetzung von tariflichen Regelungen zum Schutz der Tarifautonomie der Verlust von Arbeitsplätzen Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 818. Adomeit in FS Kelsen, S. 9 (19). 269 A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 177; Münch ArR Hb. - Richardi, § 10 Rdn. 60. 26'

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VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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geduldet werden müßte, da es gerade die Aufgabe von tariflichen Regelungen ist, die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse der Mitglieder zu optimieren und damit auch, sie zu erhalten. Selbst wenn man der Auffassung ist, daß das Recht der Koalitionen so weit gehen kann, daß sie letztlich über die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers in einem Unternehmen entscheiden270, so wäre eine solche Regelungsbefugnis strengen Anforderungen unterworfen: Die freie Wahl des Arbeitsplatzes, die durch Art. 12 GG gewährleistet wird, umfaßt nicht nur das Recht des einzelnen, einen zur Verfügung stehenden Arbeitsplatz zu erwerben, sondern auch seine Entscheidung, den erworbenen Beruf beizubehalten oder aufzugeben. 271 Bezüglich des hier zugrunde gelegten hypothetischen Arbeitsplatzverlustes kann man somit sagen, daß § 4 TVG im Zusammenhang mit den tariflichen Regelungen in das Recht der freien Arbeitsplatzwahl eingreift, da er letztlich ursächlich für die Insolvenz des Unternehmens ist, das die tariflichen Vorgaben nicht mehr erfüllen kann, und damit auch für den Verlust der Arbeitsplätze. Die Arbeitnehmer, die weiterhin in dem bedrohten Unternehmen arbeiten wollen, wenn auch zu untertariflichen Bedingungen, werden in ihrem Recht auf freie Arbeitsplatzwahl, das auch die Entscheidung über die Aufgabe eines Arbeitsplatzes umfaßt, beeinträchtigt. Daß der Verlust des Arbeitsplatzes natürlich von den Gewerkschaften nicht gewollt ist, ist unerheblich. Die Grundrechtsgewährleistung des Art. 12 GG unterscheidet nämlich nicht zwischen unmittelbaren (gezieHen) und mittelbaren Beeinträchtigungen. Art. 12 GG ist vielmehr Maßstabsnorm auch für solche Vorschriften, die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Freiheit der Berufswahl mittelbar zu beeinträchtigen, auch wenn sie keinen unmittelbar berufsregelnden Charakter haben.272 Zu beachten ist, daß das Recht auf die freie Arbeitsplatzwahl, in das in den genannten Fällen eingegriffen würde, keinesfalls geringer geschützt als die Berufswahl, deren strenge Eingriffsvoraussetzungen das BVerfG im Apothekenurteil herausgearbeitet hat. 273 Die Auffassungen274, die für geringere Eingriffsanforderungen hinsichtlich der freien Arbeitsplatzwahl, wie sie etwa bei bloßen Berufsausübungsregeln bestehen, plädieren, weil mit So C. J. Müller, Die Berufsfreiheit des Arbeitgebers, S. 253. BVerfGE 84, 133 (146). 272 BVerfGE 13 181 (185 f.); 22 380 (384); 41, 251 (262); 46, 120 (137); Tettinger, AöR 108 (1983), S. 92 (115 f.); vgl. dazu auch Walterrnann, Berufsfreiheit im Alter, S. 95, 100; Riede!, Berufsfreiheit, S. 31. 273 Zu den Eingriffsvoraussetzungen s.o. B. VI. 4. e) bb). 274 Bachof in Grundrechte Bd. III 1. Hb., S. 155 (250); Riedel a. a. 0., S. 31; BHGZ 38, (17 f.). 270

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B. Betriebsnahe Regelungen

der Beeinträchtigung der freien Arbeitsplatzwahl geringere Beinträchtigungen der Persönlichkeitsentfaltung einhergingen, sind abzulehnen. Sie werden dem Wortlaut und der Systematik des Art. 12 GG nicht gerecht. Art. 12 GG führt die freie Wahl des Berufes, des Arbeitsplatzes sowie der Ausbildungsstätte in Satz 1 in einem Atemzug auf, während die Berufsausübungsregelung, verbunden mit einem Regelungsvorbehalt, in Satz zwei aufgeführt wird. Zwar ist heute allgemein anerkannt, daß Art. 12 GG als ein einheitliches Grundrecht anzusehen ist, so daß auch die Wahl des Arbeitsplatzes, des Berufs sowie der Ausbildungsstätte durch Gesetz geregelt werden kann.275 Es ist jedoch auch anerkannt, daß aus der Tatsache, daß nach dem Verfassungstext nur das Recht der Berufsausübungsregelung mit einem Regelungsvorbehalt versehen ist, die Schlußfolgerung zu ziehen ist, daß die in Satz eins genannten Freiheiten als besonders schutzwürdig zu betrachten sind. Im Apotekenurtei1276 hat das BVerfG dies durch die Dreistufenlehre explizit für die Berufswahl festgelegt. Die besondere Schutzwürdigkeit muß jedoch auch für die freie Wahl des Arbeitsplatzes gefordert werden, da auch sie in dem ohne Regelungsvorbehalt stehenden ersten Satz des Art. 12 GG aufgeführt ist. Ausgangspunkt für die Aufteilung des Art. 12 GG in verschiedene Schutzzonen mit unterschiedlicher Bedeutsamkeil ist der unterschiedliche personale Bezug der einzelnen Freiheitsgarantien des Art. 12 GG, d.h. die Frage, inwieweit das verbürgte Recht als Voraussetzung bzw. Grundlage der wirtschaftlichen Existenz und der Entfaltung der Persönlichkeit des Grundrechtsträgers tangiert ist. Es ist anerkannt, daß die Werteordnung des Grundgesetzes die Würde des Menschen, ergänzt durch freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen, als obersten Rechtswert betrachtet. 277 Deshalb ist auch anerkannt, daß den Grundrechten aufgrund ihres unterschiedlichen personalen Bezuges eine unterschiedliche Bedeutung zukommt, sie unterschiedlich starke Schutzzonen aufweisen.278 Das BVerfG führt in diesem Zusammenhang aus: ,,Je mehr der Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfaltiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe _gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden".27"§

Der freien Arbeitsplatzwahl kommt aber gerade eine starke Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen zu: An seinem Arbeitsplatz verbringt der Arbeitnehmer die überwiegende Zeit seines Lebens, dort m Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 808.

BVerfGE 7, 377 (397 ff.). Vgl. nur BVerfGE 12, 45 (53). 278 F. Müller, die Positivität der Grundrechte, S. 89; Grabitz, AöR 98 (1973), s. 568 (580). 279 BVerfGE 17, 306 (313 f.). 276 277

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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setzt er Tag für Tag einen unwiederbringlichen Teil seiner Kräfte ein. Es ist der Arbeitsplatz, mit dem der Mensch sich grundsätzlich identifiziert, und um den sich seine Gedanken auch zumeist noch in der Freizeit drehen. Dem Arbeitsplatz kommt das ideelle Interesse zu, "durch Ausübung der vertragsmäßigen Tätigkeit seine Persönlichkeit zu entfalten sowie die Achtung der Wertschätzung der Menschen seines Lebenskreises zu erwerben oder zu erhalten".Z80 "Erst im Beruf formt und vollendet sich die menschliche Persönlichkeit, für die der Beruf Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist"281 ; die Arbeit ist unentrinnbarer Schauplatz menschlicher Selbstverwirklichung. 282 "Die Erfahrung, nicht gebraucht zu werden, kann in einer Gesellschaft, die den Wert des einzelnen in hohem Maße an seiner beruflichen Leistung mißt, zu schweren seelischen Belastungen führen." 283 Für viele Arbeitnehmer ist deshalb der Arbeitsplatz nicht nur wegen des Geldes von immenser Bedeutung, sondern wegen der Beschäftigung an sich. "An der mehr und mehr humanisierten Arbeitswelt teil zu haben, ist ein in Geld nicht ausdrückbarer Vorteil".Z84 Die überragende Bedeutung von Arbeit für die Bevölkerung wird uns immer wieder in Zeiten des Wahlkampfes vor Augen gehalten. Priorität in jedem Parteiprogramm hat die Sicherung und die Neuschaffung von Arbeitsplätzen, weil man weiß, daß dies die Wähler am meisten beschäftigt, da trotz des "sozialen Netzes" in der Bundesrepublik die Arbeitslosigkeit nichts von ihrer menschlichen und gesellschaftlichen Dramatik für die Betroffenen verloren hat. Man könnte nun einwenden, daß der Arbeitnehmer bei Verlust seines Arbeitsplatzes seine Persönlichkeit an einem anderen Arbeitsplatz, der vielleicht sogar eine Verbesserung für ihn bedeutet, entfalten kann. Hätte man dieses Argument vielleicht noch in Zeiten der Vollbeschäftigung ins Feld führen können, so kann dies in der heutigen Zeit nicht mehr überzeugen. Heutzutage bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes für viele Betroffene gleichzeitig das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit, zumindest für eine längere Zeit. Für viele bedeutet dies sogar oftmals das Ausscheiden aus der Arbeitswelt für immer. Wer aufgrund von tariflichen Regelungen gezwungen wird, seinen Arbeitsplatz aufzugeben, verliert daher die Möglichkeit der Entfaltung seiner freien Persönlichkeit. Zwar kann der Mensch sich auch in der Freizeit entfalten, es ist jedoch der Arbeitsplatz, BAG NJW 1985, S. 2968 (2973). BVerfGE 30, 292 (334). 282 Badura in Hersehe! FS, S. 21 (23). 283 BVerfG NZA 1999, S. 992 (994). 284 Adomeit, NJW 1986, S. 901 (901), zur Bedeutung der Arbeit für die Persönlichkeitsentfaltung vgl. auch BAGE 44, 141 (152). 28o 281

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B. Betriebsnahe Regelungen

mit dem der Mensch sich meistens identifiziert, so daß er hier auch am besten seine Persönlichkeit entfalten kann, zumal er sich hier in einem gewohnten Umfeld unter Arbeitskollegen befindet. Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes geht auch der tägliche soziale Kontakt, die sachliche Koorporation und das zwischenmenschliche Gespräch verloren. Die Kommunikation beschränkt sich nur noch auf wenige Bezugspersonen und die notwendigen Gänge zu Ämtern und Behörden.285 Daneben verliert der Arbeitnehmer mit dem Arbeitsplatz auch die Grundlage seiner wirtschaftlichen und sozialen Existenz, da eine Wiedererlangung einer ebenbürtigen Erwerbstätigkeit zumeist sehr schwierig sein dürfte. Die Verschlechterung der finanziellen Situation führt auch im innerfamiliären Bereich häufig zu Streitigkeiten. Die hohe Scheidungsrate bei Arbeitslosen286 belegt dies. Hinzu kommt, daß auch heutzutage leider immer noch die Arbeitslosigkeit dem Ruf des Betroffenen in der Gesellschaft schadet. Der "Makel" der Arbeitslosigkeit, mit dem zu schnell der Ruf des "Drückebergers" verbunden wird, ist auch heute noch unter der Bevölkerung gefürchtet. Die Arbeitslosen in Deutschland haben noch nicht ein solches Selbstbewußtsein wie z. B. die Arbeitslosen in Frankreich aufgebaut, die in den Anfangsmonaten des Jahres 1998 in Massendemonstrationen auf ihre schwierige Situation aufmerksam machten. Nach dem Gesagten kommt dem Recht der Arbeitsplatzwahl die gleiche Bedeutung und Schutzbedürftigkeit zu wie dem Recht auf freie Berufswahl, weshalb die Rechtmäßigkeit von Beschränkungen der freien Arbeitsplatzwahl nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen ist wie die der freien Berufswahl.287 Nach den Vorgaben der Stufentheorie des BVeifG ist die Einschränkung der Berufswahlfreiheit und somit auch der Arbeitsplatzwahlfreiheit nur dann verhältnismäßig i. e. S., wenn dies zur "Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Schäden für ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut"288 zwingend erforderlich wäre. Es stellt sich nun die Frage, welches Gemeinschaftsgut von so überragend wichtiger Bedeutung sein könnte, daß es dem tarifgebundenen Arbeitnehmer verwährt bleibt, selbst in der Unternehmenskrise von den tariflichen Regelungen abzuweichen, um seinen Arbeitsplatz zu retten.

Brakelmann in, Arbeitnehmer oder Arbeitsteilhaber, S. 14. Brakelmann a. a. 0., S. 15. 287 Waltermann, Berufsfreiheit im Alter, S. 119; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 860. 288 BVerfGE 7, 377 (408). 285

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(a) Schutz der Tarifautonomie

Als einen solch überragend wichtigen Belang der Gemeinschaft könnte man die generelle Einhaltung der tariflich vereinbarten Bedingungen sehen, um somit den Bestand der Tarifautonomie, der nach dem BVerfG289 auch im öffentlichen Interesse liegt, zu gewährleisten. Daß § 4 TVG ein erforderliches Mittel zur Verfolgung dieses legitimen Zweckes darstellt, wurde bereits oben gesagt. Der Schutz der Tarifautonomie wird deshalb immer wieder gegen die einzelvertragliche Abweichung angeführt. Man könnte argumentieren, daß die Sicherung der Tarifautonomie und die generelle Einhaltung der ausgehandelten tariflichen Arbeitsbedingungen von derart überragend wichtiger Bedeutung ist, daß dafür notfalls auch der Verlust einzelner Arbeitsplätze hingenommen werden muß. Eine solche Betrachtungsweise verkennt aber von vornherein, daß bei der einzelvertraglichen Abweichung vom Tarifvertrag zur Rettung des Arbeitsplatzes die Tarifautonomie schon begrifflich gar nicht geflihrdet sein kann. Das Recht der Koalitionen, insbesondere der Gewerkschaften, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist keinesfalls dekkungsgleich mit der stetigen Erhöhung der Lohnsätze oder der Verkürzung der Arbeitszeit, auch wenn der Begriff der Tarifautonomie in den letzten 40 Jahren für derartige Entwicklungen stand.290 Der Begriff der Tarifautonomie umschreibt vielmehr den Bereich eigenständiger und staatsfreier Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Koalitionen. 291 Die einzelvertragliche Abbedingung der tariflichen Regelungen kann jedoch dieses Recht der Koalitionen nicht in seinen "Grundfesten" - wie so oft behauptet - erschüttern. Die Tarifabschlüsse als Mittel zur sinnvollen Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sollen nur für die Masse der Arbeitsverhältnisse angemessene und soziale Arbeitsbedingungen schaffen.292 Wenn sich herausstellt, daß ein Unternehmen die tariflichen Vorgaben wirtschaftlich nicht verkraften kann, betreiben die Arbeitsvertragsparteien durch ihre einzelvertragliche Abweichung vom Tarifvertrag gerade keine Tarifpolitik. Die Abweichung soll nur erfolgen, wenn feststeht, daß andernfalls das Unternehmen Arbeitskräfte freisetzen müßte. Alle anderen Arbeitsverhältnisse sind nach wie vor der zwingenden und unmittelbaren Wirkung des § 4 I TVG unterworfen. Die Abweichung vom Tarifvertrag bleibt nach wie vor eine Ausnahme in "Notsituationen", die restliche Masse 289 290

291 292

BVerfGE 4, 18 (28). Rüthers, NJW 1993, S. 1628 (1629). BVerfGE 44, 322 (341). Henssler, ZfA 1994, S. 487 (505).

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B. Betriebsnahe Regelungen

der tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse bleibt davon unberührt. Ein solches Vorgehen der Arbeitsvertragsparteien gefährdet deshalb weder die Staatsfreiheit noch die Eigenständigkeil der Arbeit der Koalitionen hinsichtlich der Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Sie sind nach wie vor die "Herren des Tarifvertrages". Diejenigen, die behaupten, daß dadurch die Tarifautonomie abgeschafft werde, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob es ihnen in Wirklichkeit nicht um den gefürchteten Machtverlust der Gewerkschaften geht. Wie alle Kollektivmächte haben auch die Gewerkschaften die eigendynamische Tendenz, möglichst viele Regelungsmaterien an sich zu ziehen und sie zu erhalten. Tarifautonomie ist jedoch nicht mit Machterhalt der Verbände um jeden Preis gleichzusetzen. Gerade von Gewerkschaftsseite stellt man immer wieder darauf ab, daß die Tarifautonomie darauf angelegt sei, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Abeitnehmer durch kollektives Handeln auszugleichen, die Tarifverträge daher zum Schutz der Arbeitnehmer unbedingt eingehalten werden müßten. Wenn es den "Rettern" der Tarifautonomie aber gerade um das Wohl der Arbeitnehmer geht, so kann es nicht dem genannten Zweck der Tarifautonomie widersprechen, wenn man von den zwar "gut gemeinten", aber nicht zu realisierenden tariflichen Regelungen mit dem Willen des betroffenen Arbeitnehmers abweicht, da es schließlich auch im Interesse der Gewerkschaft als Interessenvertreter des Arbeitnehmers liegen muß, wenn dieser seinen Arbeitsplatz erhält. Die Tarifautonomie stellt ein grundrechtlich geschütztes Verfahren zur Verfügung, in dem die Koalitionen die verschiedenen Interessen ihrer Mitglieder bündeln und zu einem Ausgleich bringen. 293 Voraussetzung für den Ausgleich bzw. die Konsensfindung hinsichtlich der das Arbeitsleben bestimmenden Individualgrundrechte ist jedoch, daß ein Arbeitsverhältnis bzw. ein Arbeitsleben überhaupt besteht. D. h. die den Koalitionen auferlegte Konsensfindung durch Abschluß des Tarifvertrages darf nicht soweit gehen, daß das Individuum bzw. das Mitglied die Grundlage seiner Rechtsausübung gern. den Art. 12, 14 GG verliert: den Arbeitsplatz bzw. für den Arbeitgeber der Bestand seines Unternehmens. Ein solches Vorgehen entspricht nicht dem Koalitionszweck. Im Gegenteil: den Verbänden kommt gern. Art. 9 III GG auch die Aufgabe zu, durch bestandsschutzsichernde Maßnahmen dafür Sorge zu tragen. daß gefährdete Arbeitsverhältnisse erhalten bleiben. Allein der Wortlaut des Art. 9 III GG - "Wahrung der Arbeitsbedingungen"- macht deutlich, daß es bei der Aufgabe der Tarifparteien nicht nur um einzelne Bedingungen hinsichtlich der Abwicklung von Arbeitsverhältnissen geht, sondern auch um den Bestand ("Wahrung") derselben als Grundlage der einzelnen 293

Dazu Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 319 ff.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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Arbeitsbedingungen.Z94 Art. 9 III GG stellt neben der Wahrung der Arbeitsbedingungen ausdrücklich auch auf die Wahrung der Wirtschaftsbedingungen ab. Die grundrechtlich geschützte Tarifautonomie soll die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gleichermaßen fördern; die Tarifautonomie umfaßt deshalb in ihrem Schutzbereich also von vornherein nur solche Tarifverträge, die die Unternehmen wirtschaftlich verkraften können. 295 Es verwundert deshalb, daß die Gewerkschaften bei Unterschreitung der tariflichen Regelungen in der wirtschaftlichen Krise die Abschaffung der Tarifautonomie beklagen. Es sind doch auch die Gewerkschaften, die sich zunehmend durch Aufnahme von Revisions-, Härtefall- und Öffnungsklauseln in Flächentarifverträgen mit der Abgabe von Regelungskompetenzen auf die Betriebsebene einverstanden erklären, wenn dies ökonomisch erforderlich ist. So wurde z. B. in dem Chemie- Bundesentgelttarifvertrag vom 3. Juni 1997 folgender Entgeltkorridor vereinbart: ,,Zur Sicherung der Beschäftigung und/oder der Wettbewerbsfahigkeit am Standort Deutschland, insbesondere bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten können Arbeitgeber und Betriebsrat mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien für Unternehmen und Betriebe durch befristete Betriebsvereinbarungen bis zu 10% von den bezirkliehen Tarifentgeltsätzen abweichende niedrigere Entgeltsätze unter Beachtung des § 76 VI BetrVG vereinbaren. "296

Im "Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung" zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen e. V. und der IG Metall, Bezirksleitung Dortmund und Wuppertal, der am 1.1.1997 in Kraft trat, wurde unter § 6 vereinbart: "Die Tarifvertragsparteien werden sich wie bisher, in besonders gravierenden Fällen, z. B. zur Abwendung einer Insolvenz, darum bemühen, für einzelne Unternehmen Sonderregelungen zu finden, um damit einen Beitrag zurm Erhalt der Unternehmen und der Arbeitsplätze zu leisten."

Bereits im Jahr 1992 wurde für dieost-deutsche Textilindustrie folgende Öffnungsklausel vereinbart: ,,Die Tarifparteien sind sich darüber einig, daß in besonderen Ausnahmefällen abweichende tarifliche Regelungen möglich sind, wenn Betriebe in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefahrdet sind und somit unausweichlich werdende Entlassungen von Arbeitnehmern vermieden werden können."

Ähnliches im Tarifvertrag des Groß- und Einzelhandels für NordrheinWestfalen aus dem Jahr 1992 unter§ 4 Ziffer 3: "Tarifgebundene Firmen, die nicht in der Lage sind, die im Lohnabkommen festgesetzten Mindestlöhne zu zahlen, können bei dem für ihren Bereich zuständigen 294 295 296

Buchner, DB 1996 Beilage 12, S. 9 (13). Sodan, JZ 1998, S. 421 (424). Abgedruckt in RdA 1997, S. 242.

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B. Betriebsnahe Regelungen

Arbeitgeberverband einen Antrag auf Unterschreitung der Tarifmindestlöhne stellen, über den ein paritätisch besetzter Ausschuß der Tarifvertragsparteien entscheidet." In der Metall- und Elektroindustrie für die neuen Bundesländer vereinbarte man 1993 folgende Härtefallklausel: "In Härtefällen, insbesondere zur Abwendung drohender Insolvenzgefahr, zur Sicherung von Arbeitsplätzen, insbesondere zur Vermeidung drohender Entlassungen sowie zur Verbesserung der Sanierungschancen aufgrund eines vorgelegten Sanierungsplans können Arbeitgeber oder Betriebsrat bei den Tarifvertragsparteien eine tarifliche Härtefallregelung beantragen. Der Antrag ist schriftlich an beide Tarifvertragsparteien zu richten und hat Tatsachen mit den dafür erforderlichen Unterlagen anzugeben, die das Vorliegen eines Härtefalles begründen"?97

Mit der Aufnahme solcher Klauseln in die Tarifverträge konstatieren die Gewerkschaften, daß es durchaus mit der Tarifautonomie zu vereinbaren ist, wenn zur Rettung eines Unternehmens in bezug auf einzelne gefährdete Betriebe der Tarifvertrag abbedungen werden kann. Es stellt sich die Frage, ob es nicht sogar die Pflicht der Koalitionen ist, eine Härtefallklausel in jeden Tarifvertrag miteinzubringen, da nie auszuschließen ist, daß ein Unternehmen den Tarifvertag wirtschaftlich nicht verkraften kann. Dies wird wohl kaum von Gewerkschaftsseite bestritten werden können, hat sie z. B. selbst in dem genannten Tarifvertrag für die ost-deutsche Textilindustrie des Jahres 1992 schriftlich festgehalten, daß von den tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen abgewichen werden kann, wenn "der Betrieb bzw. das Unternehmen unmittelbar durch die vorgesehenen tariflichen Erhöhungsbeträge in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet wird ..." 298 Es ist doch nicht so, daß die Tarifrunden stets durch Abschlüsse beendet werden, die in jedem Fall für jedes tarifgebundene Unternehmen wirtschaftlich zu verantworten sind. Zwar geht man grds. davon aus, daß bei den Tarifabschlüssen ein Verhandlungsgleichgewicht besteht und die Tarifnormen deshalb zu einem optimalen Ausgleich der von den Beteiligten eingebrachten, kollidierenden Interessen führt. 299 Ob diese "Richtigkeitsgewähr" dem Tarifvertrag zu Recht zugeschrieben wird, ist angesichts seiner vielen zweifelhaften Ergebnisse in der Vergangenheit höchst fraglich. 300 Die 297 Die genannten Härtefallklauseln sind ausführlich abgedruckt bei Lohs, Anpassungsklauseln bei Tarifverträgen, S. 14 ff. 298 Öffnungsklausel abgedruckt bei Lohs a. a. 0. 299 BAG NJW 1980, S. 1642 (1643). 300 Vgl. Adomeit, Regelung von Arbeitsbedingungen und ökonomische Notwendigkeiten, S. 57 f.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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zunehmenden Verflechtungen und Abhängigkeiten der Unternehmen aufgrund steigender Arbeitsteilung im Produktionsprozeß geben den Gewerkschaften mehr und mehr die Möglichkeit, durch gezielte Bestreikung einzelner Unternehmen Produktionsabläufe auch in anderen Unternehmen erheblich zu stören?01 Durch diese "minimax"-Taktik (große Wirkung mit minimalem finanziellen Einsatz) sind die Arbeitgeber immer weniger in der Lage, Arbeitskämpfe anzunehmen, um sich gegen Tarifabschlüsse zu wehren, die für ihre Mitglieder, wenn überhaupt, nur schwer wirtschaftlich zu verkraften sind. 302 Kommt es zu ökonomisch nicht zu verkraftenden Abschlüssen, ist der Erhalt des Unternehmens und somit der Arbeitsplätze gegenüber der Einhaltung des Tarifvertrages um jeden Preis als vorrangig anzusehen. Dies gilt heute um so mehr. Mag in Zeiten der Vollbeschäftigung der siebziger Jahre vielleicht noch der Grundsatz unter der Arbeitnehmern gegolten haben: "Lieber kein Job als einen zu untertariflichen Bedingungen", so entspricht dies heute nicht mehr der mehrheitlichen Auffassung der Arbeitnehmer. Nach einer Umfrage des Emnid Institutes unter Beschäftigten der Metallund Elektroindustrie plädierten 80 % der Befragten für eine Verkürzung der Arbeitszeit bei entsprechend geringerem Lohn. 64 % der Befragten würden Einschränkungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld in wirtschaftlichen Notsituationen in Kauf nehmen. 45% wären bereit, Mehrarbeit bei gleichem Lohn zu leisten.303 Das Umfrageergebnis macht deutlich, daß große Teile der Arbeitnehmerschaft bereit sind, in schlechten Zeiten auf die Durchsetzung ihrer tariflichen Ansprüche zu verzichten. Aussagekräftig war auch die Bereitschaft der Arbeitnehmer des Phillip Holzmann-Baukonzerns, auf 6% Lohn zu verzichten bei gleichzeitiger Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 39 auf 43 Stunden, um damit das Unternehmen doch noch vor der Insolvenz zu bewahren. 304 Der Erhalt des Arbeitsplatzes hat für die Arbeitnehmer also absolute Priorität. Die Gewerkschaften haben m. E. also alles ihnen mögliche zu tun, um den Verlust von Arbeitsplätzen für ihre Mitglieder zu vermeiden. Eine Möglichkeit hierfür ist die Vereinbarung von Öffnungs- und Härtefallklauseln. Sie sind, um dem Mehrheitswillen ihrer Mitglieder gerecht zu werden, verpflichtet, der Gefahr eventueller Insolvenzen infolge zu hoher Abschlüsse Vgl. Gentz in, FS Däubler, S. 421 (425 ff.). So z.B die Abschlüsse für die ostdeutsche Stahlindustrie 1998. Der Verhandlungsführer der Arbeitgeber bezeichnete den Abschluß als langfristig nicht zu verantworten. Er hätte ihm aber trotzdem zustimmen müssen, weil ansonsten die Unternehmen kaputtgestreikt worden wären; vgl. F.A.Z. vom 9.1.1998, S. 18. 303 Vgl. F.A.Z. vom 21.1.1998, S. 17. 304 Vgl. F.A.Z. vom 23.11.1999, S. l. 3°1 302

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B. Betriebsnahe Regelungen

durch die Vereinbarung von Öffnungs- bzw. Härtefallklauseln entgegenzuwirken. Das BAG hat jetzt sogar die nachträgliche Genehmigung von betrieblichen "Beschäftigungsbündnissen" durch die Tarifvertragsparteien für zulässig erachtee05 . Schließen die Tarifvertragsparteien Öffnungsklauseln pflichtwidrig nicht ab, und genehmigen sie auch nicht nachträglich beschäftigungssichernde Betriebsvereinbarungen, so können sie nicht die Verletzung ihrer Rechte und die "Abschaffung" der Tarifautonomie beklagen, wenn die Arbeitsvertragsparteien als "Notwehrmaßnahme" in Eigeninitiative das Unternehmen und die Arbeitsplätze durch den Abschluß von Einzelarbeitsverträgen retten wollen. Den Verlust ihrer Regelungsmacht an die Arbeitsvertragsparteien haben sich die Gewerkschaften in diesem Fall selbst zuzuschreiben. Festzuhalten bleibt, daß die strikte, ausnahmslose Einhaltung von tariflichen Regelungen zum Schutz der Tarifautonomie als wichtiger Belang der Gemeinschaftsinteressen nicht so weit gehen kann, daß dies zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führt. Nebenbei bemerkt: Als im Herbst 1969 die IG Metall eine Anhebung der Löhne wegen der unerwartet positiven Veränderung der Konjunkturlage verlangte, hatte sie auch keine Bedenken, daß ein solcher Eingriff in den laufenden Tarifvertrag die Tarifautonomie gefahrde. Nicht einzusehen ist deshalb, warum im umgekehrten Fall der negativen Konjunkturentwicklung die Anpassung der Tarifbedingungen mit der Abschaffung der Tarifautonomie gleichgesetzt wird. (b) Gesundheitspolitische Motive

Wie bereits in Kapitel B. dargestellt, wurde im Rahmen der "Beschäftigungspakte" bei den genannten Unternehmen die wöchentliche Arbeitszeit ohne Lohnausgleich heraufgesetzt. Bei Viessmann von 37 auf 38, bei Dunlop von 37,5 auf 40, beiBurdavon 35 auf 39 Wochenstunden. 306 Der durch die Gewerkschaften in Ausübung ihres Rechts aus Art. 9 III GG verfolgte Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer könnte als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut einer solchen Abweichung von tariflichen Arbeitszeiten entgegenstehen. Gesundheitspolitische Motive zur Sicherung der Volksgesundheit hat das BVerfG seit jeher als Gemeinschaftswert angesehen, der eine Beschränkung der Berufswahlfreiheit legitimieren kann. 307 Der Schutz der Arbeitnehmergesundheit, so könnte man argumentieren, ist als "überragend wichtiger Belang" durch Vereinbarung von tariflichen Höchstarbeitszeiten zu gewährleisten, auch wenn dadurch Arbeitsplätze verloren gehen. 3os Vgl. BAG NZA 1999, S. 1059 ff. 306 307

Ausführlich oben B. 2. c) bb). BVerfGE 7, 377 (414); 9, 338 (346).

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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Gesundheitspolitischen Motiven kommt heutzutage jedoch nur noch eine geringe Bedeutung bei der Festlegung von tariflichen Wochenarbeitszeiten zu. Mag der Gesundheitsschutz noch in den Anfangszeiten des Tarifrechts eine große Rolle gespielt haben, in denen die Arbeitgeber, den Vorstellungen des wirtschaftlichen Liberalismus entsprechend, die Produktion ihrer Betriebe durch unmenschliche Arbeitszeiten maximieren wollten. In der heutigen Zeit der 35-Stunden-Woche ist dies nicht mehr der Fall. Seit den 50er Jahren waren die Gewerkschaften mit Erfolg kontinuierlich um eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit bemüht. Bereits im Juni 1956 wurde die 40- Stunden-Woche durchgesetzt. Seit Beginn der 80er Jahre versuchte man die 35-Stunden-Woche tariflich durchzusetzen. Im Jahre 1994 betrug die tariflich vereinbarte Wochenarbeitszeit in der Gesamtwirtschaft nur noch durchschnittlich 37,5 Stunden?08 In den westdeutschen MetallTarifverträgen ist die 35- Stunden-Woche bereits vorgeschrieben. Nach den neusten Forderungen der IG Metall soll im Jahr 2001 die wöchentliche Arbeitszeit sogar nur noch 32 Stunden betragen. 309 Hinzu kommt, daß die in den letzten Jahren allgemein eingeführten Arbeitszeitverkürzungen weniger aus gesundheitlichen Erwägungen heraus erfolgten, als vielmehr aus dem sozialpolitischen Motiv nach mehr Freizeit310und dem Streben nach Beschäftigungsförderung. So hat der DGB als Grund für den Einstieg in die 35-Stunden-Woche genannt: "1. Ohne eine nachhaltige Verkürzung der Wochenarbeitszeit ist die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung auch in den 90er Jahren ausgeschlossen. Die Arbeitszeitverkürzung ist eine Voraussetzung zur Verringerung der Arbeitslosigkeit; nur sie beseitigt den Widerspruch zwischen Wachstum und stärkerer technologisch bedingter Produktivitätssteigerung". 311

Wenn also auf einem solchen relativ niedrigen Niveau die wöchentliche Arbeitszeit vorübergehend um eine oder zwei Stunden erhöht wird, um durch eine erhöhte Produktion die wirtschaftliche Krise zu meistern (im Fall "Viessmann" wurde die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 37 auf 38 Stunden erhöht), kann hier wohl kaum von einer Gesundheitsgefährdung der Arbeitnehmer gesprochen werden, die es durch die strikte Einhaltung der tariflichen Vereinbarungen zu verhindern gilt. Eine wöchentliche Arbeitszeit, die unter 40 Stunden liegt, ist gesundheitlich unbedenklich. Dies allein schon deshalb, weil sogar für Jugendliche die 40 Stunden Woche gern. § 8 II JArbSchG als zulässig angesehen wird. Auch das 308

309

s. 17.

Vgl. Kempen/Zachert,TVG, § 1 Rdn. 123 ff. Vgl. hierzu die Vorschläge des IG Metall-Vorstandes F.A.Z. vom 5.5.1998,

BAG 63, 221 (225); BAG AP Nr. 1 zu § 8 JugArbSchutzG. DGB (Hrsg.), Arbeit für alle durch Arbeitszeitverkürzung, S. 4. Zum beschäftigungspolitischen Motiv der Arbeitszeitverkürzung vgl. auch Buchner, in Arbeitszeitrecht im Umbruch, S. 3 (15 f.). 3 10 311

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B. Betriebsnahe Regelungen

ArbZG legt in § 3 die zulässige Grenze auf 40 Wochenstunden fest. Nach der EG Richtlinie 93/ 104/EG vom 23.11.1993 Art. 6 II ist sogar eine wöchentliche Arbeitszeit bis zu 48 Stunden zulässig. Im übrigen haben auch die Gewerkschaften mehrfach gezeigt, daß sie eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden für unbedenklich erachten, indem sie durch Tarifverträge die individuelle Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden zugelassen haben, so z.B. im Jahr 1984 in der Metallindustrie. 312 Der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer kommt daher, solange die 40 Stunden Grenze nicht überschritten wird, ebenfalls nicht in Betracht, um die Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer derart zu beschränken, daß sie notfalls den Verlust ihres Arbeitsplatzes hinzunehmen haben.

(c) Beschäftigungspolitische Motive Des weiteren kommt das beschäftigungspolitische Motiv der gerechten Verteilung der zu wenig vorhandenen Arbeit in Betracht. Die Gewerkschaften rechtfertigen ihre Bemühungen, die Arbeitszeit kontinuierlich zu verringern damit, daß nur durch eine gerechte Umverteilung der vorhandenen Arbeit der Beschäftigungskrise begegnet werden könne. [)jwisch/Rieble 313 sehen es deshalb für zulässig an, wenn aufgrund der schlechten Arbeitsmarktsituation durch tarifliche Bestimmungen die Leistung von Überstunden verboten wird. Eine solche Einschränkung der grundrechtliehen Position der Koalitionsmitglieder sei von dem durch Art. 9 III GG gedeckten Zweck getragen, die knappe Arbeit unter den Mitgliedern der Arbeitnehmerkoalitionen gerecht zu verteilen. Die Vollbeschäftigung und somit die Verringerung der Arbeitslosigkeit ist ein allgemein anerkannter Gemeinschaftswert, "der für das ganze Volk von entscheidender Bedeutung ist"? 14 Die Beschränkung der freien Berufswahl kann somit zulässig sein, wenn dies für die Verringerung der Arbeitslosigkeit unentbehrlich ist. 315 Es leuchtet ein, daß es gerecht ist, durch eine Senkung der Arbeitszeit und deren strikte Einhaltung das knappe Gut Arbeit auf möglichst viele Beschäftigte zu verteilen. In Deutschland werden jährlich ca. 1,7 Milliarden Überstunden geleistet. 316 Dieser Anzahl der Überstunden entspricht rechne312

3l3 314

315 316

Vgl. Löwisch, DB 1984, S. 2457 (2459); derselbe, BB 1991, S. 59 (62). Löwisch/Rieble TVG, § 1 Rdn. 173. BverfGE 21, 245 (251). BVerfG a. a. 0. Adamy, Soziale Sicherheit 1994, S. 294 (294).

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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risch eine Beschäftigungszahl von ca. 1,1 Millionen, effektiv etwa 275000 Arbeitsplätze. 317 Die große Anzahl der geleisteten Überstunden legt den Schluß nahe, daß in Höhe der Überstunden ein Bedarf an mehr Arbeitskräften besteht. Würde man also auf die strikte Einhaltung der tariflichen Arbeitszeiten achten, so könnte der vorhandene Bedarf durch die Einstellung von neuen Arbeitskräften gedeckt werden. Dem würden einzelvertragliche Abweichungen, wie geschehen im "Fall Viessmann", bei denen die tarifliche Arbeitszeit verlängert wurde, entgegenstehen. Zu beachten ist jedoch, daß in diesen Fällen die Mehrarbeit - wie auch sonst eine große Anzahl der Überstunden - unentgeltlich geleistet wird. Dem Unternehmen ist es gerade nicht möglich, neue, bezahlte Arbeitskräfte einzustellen. Der bedrohliche Zustand des Unternehmens soll ja gerade durch eine erhöhte Produktivität, die keine weitere finanzielle Belastung für das Unternehmen mit sich bringt, überwunden werden. Hinzu kommt, daß die wöchentliche Mehrarbeit regelmäßig nur für eine geringe Laufzeit bis zur Überwindung der Durststrecke vereinbart wird. Die Mehrarbeit wird durch Arbeiter durchgeführt, die mit der betrieblichen Arbeit bereits vertraut sind. Sie brauchen nicht erst, wie dies bei Neueinsteilungen der Fall sein würde, eingearbeitet zu werden und können somit flexibel auf die Krisensituation reagieren. Die Verkürzung von Arbeitszeiten mag ein geeignetes Mittel zur gerechten Umverteilung und somit zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen sein. Ob dies auch in der Wirklichkeit zutrifft, ist aufgrund des ausgebliebenen Erfolges der letzten Jahre trotz kontinuierlicher Verringerung von Arbeitszeiten zu bezweifeln. Dies braucht hier jedoch nicht näher erörtert zu werden, da das beschäftigungspolitische Motiv der Arbeitszeitverkürzung bei den hier zu beurteilenden Fällen nicht in Betracht kommt: Bezahlte neue Arbeitskräfte können hier nicht eingestellt werden. Das Argument, daß die strikte Einhaltung von tariflichen Höchstarbeitszeiten zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation eine Verlängerung der Arbeitszeit wie im "Fall Viessmann" ausschließt, kann nicht überzeugen. Durch die Verlängerung wird hier nicht die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert, sondern der Bestand der gefährdeten Arbeitsplätze gesichert.

0 Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung Durch § 4 TVG i. V. m. den tariflichen Regelungen wird in das Grundrecht der Gewerkschaftsmitglieder auf autonome Regelung ihrer Arbeitsver317

Adamy a.a.O., S. 295 ff.

7 Freihube

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B. Betriebsnahe Regelungen

hältnisse gern. Art. 12 GG eingegriffen. Beschränkungen der Berufsfreiheit sind nur dann als verfassungskonform anzusehen, wenn sie der Verhältnismäßigkeilsprüfung standhalten. Zwar ist § 4 TVG ein geeignetes und erforderliches Rechtsinstrumentarium zur Verfolgung des legitimen Ziels der Förderung und Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Der Eingriff ist jedoch wegen Unverhältnismäßigkeil nicht mehr für den Fall von dem Regelungsvorbehalt des Art. 12 I 2 GG gedeckt, in dem die tariflichen Regelungen den Arbeitnehmer entgegen seinem Willen zur Aufgabe seines Arbeitsplatzes zwingen. Dies deshalb, weil aufgrund des Funktionszusammenhanges zwischen Art. 12 GG und Art. 9 GG dem Arbeitnehmer die letzte Entscheidungskompetenz zustehen muß, ob er seinen Arbeitsplatz beibehält oder nicht, da diese zu dem unübertragbaren Kernbereich seiner Entscheidungsmacht gehört. Selbst wenn man den Gewerkschaften eine Regelungskompetenz hinsichtlich des Beibebalts bzw. der Aufgabe eines Arbeitsplatzes zukommen lassen will, muß eine entsprechende Regelung durch überragend wichtige Belange des Arbeits- und Wirtschaftslebens gerechtfertigt sein. Diese sind für den Fall, daß die vorübergehende Unterschreitung der tariflichen Regelungen mit Zustimmung der Arbeitnehmer das Unternehmen und somit die Arbeitsplätze retten soll, nicht vorhanden. Für die verfassungskonforme Auslegung des § 4 I, III TVG bedeutet dies folgendes: Nach der durchgeführten Untersuchung steht allein dem Arbeitnehmer die Entscheidung zu, ob er sich vorübergehend mit untertariflichen Bedingungen zufrieden gibt, wenn er dadurch die Arbeitslosigkeit verhindern kann. Dies gilt auch dann, wenn er einer Gewerkschaft beigetreten ist. § 4 III TVG stellt eine gesetzliche Umsetzung des Grundsatzes der praktischen Konkordanz dar, der einen Ausgleich zwischen kollidierenden Verfassungsgütern herstellen soll und somit den Arbeitnehmer vor unverhältnismäßigen Beschränkungen durch die Koalition schützt. Nach der Werteentscheidung der Verfassung liegt eine solche vor, wenn die tariflichen Regelungen zum Verlust des Arbeitsplatzes führen. Die Auslegung des Günstigkeitsprinzips, die den Aspekt des Arbeitsplatzerhalts beim Günstigkeitsvergleich unberücksichtigt lassen will, verstößt gegen diese Verfassungsvorgaben hinsichtlich der Abgrenzung der kollektiven Privatautonomie nach Art. 9 III GG und der individuellen Privatautonomie nach Art. 12 GG. Nur die Auslegung, die eine mögliche Erwerbslosigkeit im Günstigkeitsvergleich berücksichtigen will, ist als verfassungskonform anzusehen.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

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5. Wandel der Normsituation als Auslegungskriterium Bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift kommt einem eventuellen Wandel der Normsituation eine hervorragende Bedeutung zu. Es ist zu prüfen, ob die tatsächlichen Verhältnisse, die der historische Gesetzgeber vor Augen hatte, und für die er seine Regelung entworfen hatte, sich in solcher Weise geändert haben, daß die bisherige Auslegung einer Norm auf die gegebenen Verhältnisse nicht mehr paßt. Es ist also der Zeitfaktor bei der Auslegung eines Gesetzes stets zu berücksichtigen. 318 Ist die bisherige Auslegung einer Norm nicht mehr zeitgerecht, so ist eine Änderung der bisherigen Auslegung geboten. So kann es durchaus sein, daß eine Auslegung die einmal richtig war, es heute nicht mehr ist. 319 Die bisherige h. M. hat eine Auslegung des Günstigkeitsprinzips dahingehend, daß gesamtwirtschaftliche Umstände berücksichtigt werden, strikt abgelehnt. Es ist zu untersuchen, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse (die Normsituation) in solcher Weise geändert haben, daß das bisherige Günstigkeitsverständnis der h. M. den veränderten Umständen nicht mehr gerecht wird. a) Änderung hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers aa) Wandel hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses

Dem oben aufgezeigten Ergebnis hält die h. M. u. a. entgegen, es verkenne die Möglichkeit, daß freiwillige Unterschreitungen des Tarifniveaus vielleicht nur aufgrund arbeitgebensehen Druckes unter bloßer Vorspiegelung der wirtschaftlichen Krise zustande kämen. Die weite Interpretation des Günstigkeitsprinzips werde dem gebotenen Schutz des Arbeitnehmers vor sich selbst nicht gerecht, da die Gefahr bestünde, daß der Schutz des Tarifvertrages "durch mangelnde Einsicht des betroffenen Arbeitnehmers oder seine Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen des Arbeitgebers vereitelt werden könnte". 320 Fraglich ist, ob dieses Bild des Arbeitgebers bzw. des Arbeitsverhältnisses der heutigen Zeit noch gerecht wird. Ausdrücklich weist der Verfasser daraufhin, daß hier nicht der Arbeitgeber als "frommes Lamm" dargestellt werden soll, bei dem von vornherein Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 170 f. Larenz/Canaris a.a.O., S. 173; zum Wandel der Auslegung vgl. auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 10 II, S. 51. 320 Schlüter in FS Stree/Wessels, S. 1061 (1075). Ebenso z. B. Zachert, DB 1990, S. 986 (986); Joost, ZfA 1984, S. 173 (178); Löwisch, DB 1989, S. 1185 (1187 f.). 318

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7•

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B. Betriebsnahe Regelungen

ein Mißbrauch des Günstigkeitsprinzips völlig auszuschließen ist. Es soll jedoch auf nicht zu übersehende, für die Auslegung des Günstigkeitsprinzips relevante Änderungen hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses hingewiesen werden. Das Arbeitsrecht, insbesondere das Tarifvertragsrecht waren immer stark von dem Gedanken geprägt, daß der Arbeitgeber als Inhaber der Produktionsmittel in der Lage sei, die Arbeitsbedingungen allein nach seinem Willen zu bestimmen. Aufgrund des bestehenden Überangebots von Arbeitskräften, der "Schmutzkonkurrenz" der Arbeitnehmer untereinander, bestehe eine ungleiche Verhandlungssituation zu Lasten des Arbeitnehmers, so daß dieser der Gefahr der "Lohndrückerei" ausgesetzt sei. Es galt, den Arbeitnehmer zu schützen. Der Schutzgedanke des Tarifrechts werde durch § 4 IV TVG deutlich, nach dem ein Verzicht auf tarifliche Rechte des Arbeitnehmers nur unter Mitwirkung der Tarifvertragsparteien möglich sei.321 So sahen auch Hueck/Nipperdey den Sinn des Tarifvertrages zuvörderst darin, das Diktat der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber im Wege des Einzelarbeitsvertrages auszuschalten?22 Das Arbeitsrecht insgesamt wurde und wird auch heute noch als eine Art Arbeitnehmerschutzrecht verstanden. Das BVerjG spricht immer noch von "einer strukturellen Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluß von Arbeitsverträgen"323 , beim BAG ist vom "kollektiven Betteln" die Rede, auf das der Arbeitgeber ohne die gewerkschaftliche Gegenmachtbildung angewiesen wäre. 324 Aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit, seiner Weisungsgebundenheit und Arbeit für fremde Rechnung sei der Arbeitnehmer dem Schutz des Arbeitsrechts, was gemeinhin als Sonderrecht des abhängigen Arbeitnehmers verstanden werde, zu unterstellen. 325 Das Ungleichgewicht der Arbeitsparteien sei der Grund, seine Kompensation das Ziel des Arbeitsrechts. 326 Daß das Schutzprinzip im Arbeitsrecht jedoch an Bedeutung verloren hat, wurde schon in den 70 er Jahren erkannt. So stellte man bereits damals fest, daß es der Vergangenheit der Tarifvertragsgeschichte angehört, daß der Arbeitnehmerschutz im Vordergrund steht. Vorrangige Aufgabe des Tarifvertrages sei es heute, als Ordnungsinstrument zu fungieren, 327 das SchutzJoost, ZfA 1984, S. 173 (178). Hueck/Nipperdey, Grundriß des Arbeitsrechts, S. 152. 323 BVerfGE 84, 212 (229). 324 BAG EZA Nr. 36 zu Art. 9. 325 Hueck/Nipperdey Bd. II, S. 1; ebenso Schaub, ArR Hb., S. 3, Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 1. 326 Dieterich, RdA 1995, S. 129 (134). 327 Müller, DB 1975, S. 205 (207). 321

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prinzip im Arbeitsrecht habe seinen Kulminationspunkt überschritten?28 Zu beachten ist freilich, daß zum Zeitpunkt solcher Äußerungen die Arbeitsmarktlage besser als heute war und die effektiv gezahlten Löhne teilweise über den Tariflöhnen lagen. Dennoch - auch das BVeifG sieht den Zweck der Koalitionsfreiheit darin, "das Arbeitsleben im einzelnen durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, insbesondere die Höhe der Arbeitsvergütung für die verschiedenen Berufstätigkeiten festzulegen und so letztlich die Gemeinschaft sozial zu befriedigen"?29 Das Arbeitsrecht und die Gewerkschaften haben von Anfang an das Ziel verfolgt, die Arbeitnehmer vor Ausbeutung und Gesundheitsgefahren zu schützen. Dieses Ziel ist inzwischen in nahezu optimaler Weise erreicht. Viele ursprünglich tariflich erkämpften Schutzrechte, wie z. B. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Konkursausfallgeld, Erholungsurlaub, Kündigungsfristen, sind gesetzlich verankert und gesellschaftspolitisches Allgemeingut geworden. 330 Die durch die Landflucht und die Industrialisierung hervorgerufenen Arbeitsmarktbedingungen des 19. Jahrhunderts lassen sich nicht mehr mit denen vergleichen, die wir im heutigen Sozialstaat vorfinden. In diesem bildet die Sozialhilfe die Untergrenze des Arbeitslohnes, vielfältige Arbeitsschutzmaßnahmen sorgen für die Gesundheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz, die Höchtsdauer der Arbeitszeit ist gesetzlich vorgeschrieben. Das vielfach bestehende Geld- und Realvermögen des Arbeitnehmers zwingt diesen nicht zur Annahme jeder beliebigen Arbeit. Durch den umfangreichen Kündigungsschutz ist eine willkürliche Entlassung als Druckmittel des Arbeitgebers so gut wie ausgeschlossen. 331 Soweit Arbeitslosigkeit aus Unterqualifikation resultiert, antwortet die Arbeitsmarktpolitik mit Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung? 32 All dies vermittelt dem Arbeitnehmer einen Grad von Unabhängigkeit, wie er seit Beginn der Industrialisierung noch nicht dagewesen ist, so daß sich die "Arbeiterfrage" heute in der Bundesrepublik nicht mehr so stellt wie damals. 333 Hersehe!, RdA 1975, S. 332 (336). BVerfGE 18, 18 (28). 330 Gentz in FS Schaub, S. 205 (215). 331 Wie schwierig es für den Arbeitgeber ist, sich auch bei berechtigtem Interesse von seinem Angestellten zu trennen, stellt Adomeit anband von Fällen aus der Praxis dar in, Wen schützt das Arbeitsrecht? S. 39 ff. 332 Zu den Arbeitsbedingungen im heutigen Sozialstaat vgl. Deregulierungskomission in Marktöffnung und Wettbewerb, S. 136 ff.; Reuter, RdA 1991, S. 194 (195); Möschel, ZRP 1988, S. 48 (50); Brernkamp, die Flexibilisierung des deutschen Tarifvertragssystems, S. 213; Bruhn, Tariffähigkeit von Gewerkschaften und Autonomie, S. 72 f. 333 Vgl. auch Beuthien, Das Arbeitsverhältnis im Wandel, S. 28: "Die Arbeitnehmer erhalten immer höhere Löhne, sie genießen immer stärkeren Sozialschutz, sie bestimmen immer stärker im Betrieb und Aufsichtsrat, sie werden zunehmend am 328

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Alle Arbeitnehmer pauschal als unselbständig und hilfsbedürftig zu bezeichnen, geht deshalb an der Realität vorbei. 334 Eine zu starke Betonung des Arbeitnehmerschutzes im Zusammenhang mit einem selbstbestimmten Verzicht auf tarifliche Leistungen ist deshalb nicht erforderlich. Der großen Furcht vor dem "bösen" Arbeitgeber liegt die Fehlvorstellung zugrunde, daß das Arbeitsverhältnis grds. von einem Interessengegensatz der Arbeitsparteien geprägt ist. Schon v. Gierke hatte darauf hingewiesen, daß es falsch sei, im Arbeitsvertrag "lediglich einen auf Austausch von Arbeit und Lohn gerichteten Dienstvertrag zu sehen".335 Daß aufgrund eines vollzogenen Wandels des Arbeitsverhältnisses eine solche Sichtweise nicht mehr den Realitäten der heutigen Arbeitswelt entspricht, hat Adomeit ausführlich dargestellt.336 Nach ihm ist das Arbeitsverhältnis durch gesellschaftsrechtliche Elemente überlagert und ist heute mehr als ein "kooperatives Austauschverhältnis" anzusehen als ein Abhängigkeitsverhältnis zweier Parteien mit antagonistisch wirkenden Interessen.337 § 705 BGB, der den Begriff der BGB Gesellschaft definiert, setze den vertraglichen Zusammenschluß der Gesellschafter zur Erreichung und Förderung eines gemeinsamen Zwecks voraus. Genau dies sei bei dem Abschluß eines Arbeitsvertrages der Fall. Arbeitnehmer und Arbeitgeber setzten sich den gemeinsamen Zweck, durch Kapitaleinsatz des Unternehmers und Arbeitskrafteinsatz des Arbeitnehmers einen Gewinn zu erzielen, der teils als Profit, teils als Lohn ausgeschüttet würde. 338 § 706 II BGB mache deutlich, daß die Gesellschafter ihre Beiträge nicht nur durch Bereitstellung von Kapital, sondern auch durch das Leisten von Diensten erbringen könnten. Letzteres sei die Beitragsform des Arbeitnehmers.

Daß der Arbeitnehmer über den Betriebsrat typische Arbeitgeberfunktionen wahrnimmt, zeige der in § 87 BetrVG aufgeführte Katalog der Mitbestimmungsrechte. Unternehmensvermögen beteiligt. Im gleichen Maße verringert sich ihre Schutzbedürftigkeit" 334 Vgl. dazu Hanau/Adomeit E 10. d, S. 158 f. 335 0. v. Gierkein FS H. Brunner 1914, S. 53. 336 Adomeit, Arbeitsrecht für die 90er Jahre, S. 3 ff.; derselbe, Gesellschaftsrechtliche Elemente im Arbeitsverhältnis (Vortrag gehalten am 22.1.1989 vor der juristischen Gesellschaft zu Berlin); derselbe, JA 1988, S. 173 (174 ff.), derselbe in Hanau/ Adomeit E 10 b, S. 155 ff. 337 Adomeit, Arbeitsrecht der 90er Jahre, S. 7 f. 338 Adomeit a. a. 0., S. 5.

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Adomeits Sichtweise des gemeinsamen Zwecks des Arbeitsverhältnisses kann man auch nicht die gewinnunabhängige, fixe Entlohnung des Arbeitnehmers, wodurch er nicht am Unternehmensrisiko beteiligt werde, entgegenhalten. 339 Zum einen ist die Gewinnbeteiligung nicht Voraussetzung für das Bestehen eines gemeinsamen Zwecks, zum anderen erfolgt die Vergütung des Arbeitnehmers aus den Erträgen des Unternehmens. 340 Ebenso ist die Risikobeteiligung des Gesellschafters keine zwingende Voraussetzung des gemeinsamen Zwecks. 341 § 722 BGB schreibt vielmehr eine gleiche Beteiligung an Gewinn und Verlust der Gesellschafter nur dann vor, wenn eine anderweitige Bestimmung nicht vorliegt, im übrigen ist § 722 BGB dispositiv. Außerdem ist es verfehlt, eine Risikobeteiligung der Arbeitnehmer gänzlich zu verneinen. Sie tragen durchaus das Risiko in wirtschaftlich schlechten Zeiten nachteilige Folgen, wie z. B. das "Herunterfahren" von erfolgsabhängigen Leistungen, die unerwünschte Versetzung im Betrieb, eventuell sogar den Verlust ihres Arbeitsplatzes nach betriebsbedingter Kündigung, hinnehmen zu müssen.

Tatsächlich kommt den Arbeitnehmern ihre betriebsverfassungsrechtlichen Mitwirkungsbefugnissse und ihrer Mitbestimmung auf der Unternehmensebene erheblicher Einfluß auf unternehmenspolitische Fragen, also Entscheidungen hinsichtlich der Ziele und Strategien sowie der Steuerung des Unternehmens bzw. Unternehmensbereiche, zu 342 : Mit der Verweigerung der Zustimmung des Betriebsrates zur Einstellung neuer Arbeitnehmer kann z. B. die Aufnahme eines ganzen Produktionszweiges gestoppt werden. Die Möglichkeit des Betriebsrates, einen Sozialplan zu erzwingen, kann die Stillegung von ganzen Unternehmensteilen beeinflussen. Ebenso können für die weitere Entwicklung des Unternehmens u. U. zwingend notwendige Rationalisierungspläne von der Zustimmung des Betriebsrates abhängen. 343 Durch die Mitbestimmung bei der Dauer und Lage der Arbeitszeit gern. § 87 I Nr. 2 und Nr. 3 BetrVG dringen die Arbeitnehmer in den unternehmenspolitischen Aufgabenbereich ein344, indem sie über die Kapazität und somit die Produktivität des Betriebes mitentscheiden.345 339 So Lieb, Wandelt sich das Arbeitsverhältnis zum Unternehmerischen Teilhaberverhältnis? S. 47. 340 Adomeit, Wen schützt das Arbeitsrecht? S. 85. 341 Schack, Gruppenarbeit, Mitarbeitsverhältnis und die Arbeitsrechtsordnung, S. 201 m. w. N. 342 So Gauglers Definition der Unternehmenspolitik in: Wandelt sich das Arbeitsverhältnis zum Unternehmerischen Teilhaberverhältnis? S. 73. 343 Vgl. Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 6. 344 Richardi, BetrVG, § 87 Rdn. 350. 34S Zu den weitreichenden Mitbestimmungsbefugnissen des Betriebsrates Badura/ Rittner/Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz - Gemeinschaftsgutachten, S. 117 ff.

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Durch die Mitbestimmungsrechte in personellen Angelegenheiten gern. den §§ 92 ff. BetrVG hinsichtlich der Ausschreibung von Arbeitsplätzen, Einstellung und Kündigung von Mitarbeitern, Beurteilungsgrundsätzen u.s.w. wird die Arbeitnehmerschaft über den Betriebsrat zu einem "personalpolitischen Mitunternehmer", da er die Einstellungspolitik des Unternehmes wesentlich beeinflußt. 346 Die Rechte des Betriebsrates bei personellen Einzelmaßnahmen i. S. v. § 99 BetrVG gibt ihm zahlreiche Möglichkeiten der Zustimmungsverweigerung, so daß der Arbeitgeber darauf angewiesen ist, auf die Vorschläge und Einwände des Betriebsrates einzugehen, wenn er in Zukunft eine reibungslose Personalpolitik führen wi11347 , die unternehmerische Handlungsfreiheit im personalpolitischen Bereich wird dadurch erheblich verkürzt. 348 Auch der Wirtschaftsausschuß als Hilfsorgan des Betriebsrates349, den gern. § 106 I BetrVG jedes Unternehmen mit über hundert Beschäftigten zu bilden hat, versetzt die Arbeitnehmervertretung in die Lage, frühzeitig Kenntnis über betriebsrelevante Unternehmerische Entscheidungen zu erlangen. Durch die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des BetrVG hat der Arbeitgeber also bei jeder Entscheidung, die mittelbar oder unmittelbar die Arbeitnehmerinteressen betreffen, einen Ausgleich zwischen sozialen, personellen und wirtschaftlich - Unternehmerischen Entscheidungen zu treffen ,jede betriebliche Entscheidung gerät in den Filter der Arbeitnehmerinteressen".350 Ferner erwirbt, so Adomeit, der Arbeitnehmer durch Eintritt in das Arbeitsverhältnis einen verbandsrechtlichen Status, verbunden mit dem Recht zur Wahl des Betriebsrates; nach 6 Monaten erhalte er bereits das passive Wahlrecht. Durch das Kündigungsschutzgesetz erlange er einen ausgeprägten Bestandsschutz. Seine Chance auf Erhalt einer Abfindung bei vorzeitigem Ausscheiden durch einen Sozialplan sowie die übliche Anwartschaft auf ein betriebliches Ruhegeld machten deutlich, daß das Arbeitsverhältnis heute mehr als ein Mitgliedschaftsverhältnis anzusehen sei.351 Das Arbeitsverhältnis nähere sich der Mitgliedschaft im Verein; die Begründung des Arbeitsverhältnisses habe Beitrittscharakter. 352 Auch nach Ehmann wandelt sich das Arbeitsverhältnis aufgrund der zunehmenden ökonomischen und rechtlichen Substanz der Arbeitnehmer im Betrieb zu einer Art Gesellschaftsverhiiltnis um.353 Wie Adomeif54 weist 346 347

348 349

Jso Jsi 352

Badura/Rittner/Rüthers a. a. 0., S 122. Schack a.a.O., S. 119. Kraft in FS Rittner 1991, S. 285 (293). Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 106 Rdn. 21. Schack a.a.O., S. 127. Adomeit a. a. 0., S. 6. Adomeit, Gesellschaftsrechtliche Elemente im Arbeitsverhältnis, S. 10.

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auch er auf die wachsende Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenskapital hin. Viele Arbeitnehmer würden von der Bezuschussung des Arbeitgebers von Lohnanteilen, die der Arbeitnehmer als Beitrag eines stillen Gesellschafters im Betrieb stehen läßt und dadurch im Laufe der Jahre erhebliches Beteiligungskapital erwirbt, Gebrauch machen. Verbunden mit den betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechten werde der Arbeitnehmer dadurch zum Mitarbeiter?55 Ebenso Löwisch: Nach ihm ist mit Einführung der paritätischen Mitbestimmung das Rechtsverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien vom Arbeitsverhältnis in eine gesellschaftliche Beteiligung umgeschlagen, da durch das MitbestG der Arbeitnehmer genauso wie der Kapitaleigner an wesentlichen unternehmenspolitischen Entscheidungen beteiligt werde. Durch diese Beteiligung an der Leitungsgewalt komme dem Arbeitnehmer selbst eine Unternehmereigenschaft zu?56 Hinzu kommt, daß oftmals Betriebsratmitglieder als Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten sitzen, was ihnen im Vergleich zu externen Aufsichtsratmitglieder oftmals einen nicht zu verachtenden Informationsvorsprung verschafft, den sie auch tatsächlich nutzen. 357 Durch den beschriebenen Einfluß der Arbeitnehmer auf die Unternehmensführung sind sie - wie dies § 709 I BGB für die Gesellschaft vorschreibt - an der Geschäftsführung beteiligt. 358 Ausdruck dieser Bindung an die Unternehmensführung ist im Bereich der Unternehmerischen Mitbestimmung das ihr zugrundeliegende KooperationsmodelL Für den Bereich der betrieblichen Mitbestimmung schreibt § 2 I BetrVG die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und dem die Arbeitnehmerschaft repräsentierenden Betriebsrat ausdrücklich vor. Die Frage, ob die beschriebene Zunahme der Arbeitnehmerrechte ein Wandel des herkömmlichen Arbeitsverhältnisses als schuldrechtlicher Austauschvertrag in ein unternehmerisches Teilhaberverhältnis, das dem Gesellschaftsrecht zuzuordnen ist359, begründet, soll hier nicht entschieden werden. Ehmann, NZA 1991, S. I (6 f.). Auf die Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer in Milliardenhöhe durch die verschiedensten Beteiligungsformen weist Adomeit hin in: Wen schützt das Arbeitsrecht? S. 85; Zur Arbeitnehmerbeteiligung arn Unternehmenskapital ausführlich: Guski/Schneider, Betriebliche Vermögensbeteiligung, S. 17 ff. 355 Ehmann, NZA 1991, S. 1 (7). 356 Löwisch, Mitbestimmung im Arbeitsverhältnis in: Mitbestimmung - Ordnungselement oder politischer Kompromiß, S. 140. 357 Gaugler, Wandelt sich das Arbeitsverhältnis zum Unternehmerischen Teilhaberverhältnis? S. 75. 358 Schack a.a.O., S. 206 m.w.N. 353

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Die bisherigen Ausführungen zu dieser Problematik zeigen jedoch, daß das herkömmliche, zu einseitige Bild vom Arbeitsverhältnis, nach dem der fremdbestimmte Arbeitnehmer vor dem "ausbeutenden" Arbeitgeber zu schützen ist, nicht mehr in die heutige Zeit paßt. Der Schutzgedanke im Arbeitsrecht, insbesondere im Tarifrecht, hat an Bedeutung verloren. Zwar gilt auch heute im Grundsatz immer noch, daß Rechtsvorschriften im allgemeinen als Schutzvorschriften des Schwachen, des Gefahrdeten angesehen werden, wenn sie nicht ausschließlich ordnenden Charakter haben. "Die Schutzfunktion ist in der Tat eine der vornehmsten Aufgaben jeder objektiven Rechtsordnung"360. Die Schutzfunktion kann daher auch trotz des Wandels des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitsrecht nicht gänzlich abgesprochen werden. Jedoch sollte man vermeiden, den Schutzgedanken als abstraktes Rechtsprinzip auf jeden Sachverhalt pauschal anzuwenden. Ausmaß und Art der schutzbegründenden Umstände sind vielmehr immer anband des konkreten Einzelfalles zu ermitteln. So hat das LAG Mecklenburg-Vorpommern zutreffend festgestellt, daß trotz des vorrangigen Schutzes des Arbeitsrechts kein allgemeiner, gewissermaßen entmündigender Schutz des Arbeitnehmers vor sich selbst eingeführt werden dürfe? 61 Die starke Betonung des Schutzprinzips scheint m. E. gerade für den hier erörterten Einzelfall unangebracht zu sein, in dem aufgrund einer drohenden Insolvenz, Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf eine Zusammenarbeit angewiesen sind. In einer solchen Krisensituation verschmelzen die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen miteinander. Arbeitgeber und Arbeitnehmer verfolgen ein gemeinsames Ziel, die Rettung des Unternehmens und der Arbeitsplätze. Das ArbG München 362 geht sogar von einer Treuepflicht des Arbeitnehmers gern. § 242 BGB gegenüber dem Arbeitgeber in der wirtschaftlichen Krise seines Unternehmens aus, die ihn zur Lohnstundung bis zur Überwindung der Not verpflichte. "Die Pflicht zur Stundung der streitgegenständlichen Ansprüche ergibt sich nach Ansicht der Kammer jedoch aus § 242 BGB ... Die Beklagte hat ihre wirtschaftliche Krise und die Maßnahmen, die zu ihrer Überwindung angelaufen sind, im einzelnen schriftsätzlich dargelegt . . . Aufgrund dessen kann dem Kläger . . . eine Stundung zugemutet werden. Denn die Maßnahme trägt dazu bei, dem Kläger seinen Arbeitsplatz zu erhalten ... " 359 Zu dieser Diskussion vgl. die Beiträge des Macburger Forums Philippinum 1986 "Arbeitnehmer und Gesellschaft - zur Zukunft des Arbeitsrechts in der Wirtschaftsordnung", abgedruckt in: Beuthien (Hrsg), Arbeitnehmer oder Arbeitsteilhaber? 360 Hersehe!, RdA 1975, S. 333 (337). 361 LAG Mecklenburg-Vorpommern NZA 1996, S. 535 (538). 362 ArbG München BB 1995, S. 1697 (1698).

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Daß die Arbeitnehmer selbst als die Betroffenen gar nicht solches Mißtrauen gegenüber ihrem Arbeitgeber empfinden, zeigt die bereits erwähnte Umfrage des Emnid Institutes. 363 Danach sprachen sich 73% der Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie für ein partnerschaftliebes anstelle eines konfliktorientierten Verhältnisses zwischen den Tarifpartnern aus. Daß künftig nur ein gemeinsames Miteinander aus der derzeitigen Beschäftigungskrise führen kann, hat der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall Stumpfe deutlich gemacht, indem er auf dem Gesamtmetall-Forum "Arbeitsplatz Deutschland" im März 1998 eine "Kultur der Zusammenarbeit" forderte. 364 Die Tarifpartner sollten auch in unserem Land eine solche Trendwende vollziehen - wie sie im übrigen in anderen Ländern schon längst stattgefunden hat, man denke nur an Schweden oder die Niederlande -, anstatt sich "rhetorisch in eine künstliche Gegnerschaft hineinzusteigern"365 , die aufgrund der tatsächlichen Interessenverschränkung, das Beschäftigungsproblem gemeinsam anzugehen, völlig unangebracht ist. Dies gilt für die Betriebsebene ebenso wie für die Verbandsebene. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, warum ausgerechnet in der wirtschaftlichen Krise eines Unternehmens dem Arbeitnehmer ein vernünftiges Handeln nicht zugetraut wird, er die Situation angeblich nicht richtig einschätzen könne und deshalb nicht nur vor dem Arbeitgeber, sondern auch vor sich selbst geschützt werden müsse. In der heutigen Zeit wird doch auch in allen anderen sozialen Bereiche ein autonomes, vernünftiges Handeln dem einzelnen zugetraut und auch abverlangt. Emanzipation ist doch überall sonst in der Rechtsordnung das große Ziel.366 Der Arbeitnehmer ist "eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit, ... Er wird als fähig angesehen, und es wird ihm demgemäß abgefordert, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen", so unser höchstes Gericht?67 In diesem Sinne stellt auch Blomeyer heraus, daß ein gesellschafts- und sozialpolitischer Wandel des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv in den letzten vierzig Jahren nicht zu verkennen sei. Die klassischen korporativen Motive und Modelle seien mittlerweile in Ideologieverdacht geraten. "Ein allgemeiner IndividualisierungsVgl. F.A.Z. vom 21.1.1998, S. 17. Vgl. F.A.Z. vom 7.3. 1998, S. 13. Ausdrücklich für dieses Angebot der neuen Partnerschaft hat sich auch der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel ausgesprochen, vgl. "Die neue Partnerschaft der Metallindustrie muß sich noch bewähren", F.A.Z. vom 8.4.1998, S. 20. 365 Adomeit, Arbeitsrecht für die 90er Jahre, S. 9. 366 Adomeit a. a. 0. 367 BVerfGE 5, 85 (204). 363

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prozeß hat dazu geführt, daß heute Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, kurz der mündige Bürger gefragt ist."368 Die beschriebenen Veränderungen können im Arbeitsrecht nicht ignoriert werden und sind deshalb auch bei der Auslegung des Günstigkeilsprinzips zu berücksichtigen. bb) Der freie Beitritt zum "Beschäftigungspakt" als ausreichender Schutz vor dem "Diktat" von Arbeitsbedingungen

Zu beachten ist weiterhin, daß die Abänderung des Tarifvertrages durch eine vertragliche Abrede zwischen dem einzelnen Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber zustandekommt Der Vertrag aber ist seit jeher ein wirksamer Mechanismus, um zwei korrespondenzfähige Interessen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten auszugleichen. Jeder der Beteiligten nimmt im Rahmen der Vertragsverhandlungen eine Verpflichtung auf sich um der Gegenleistung des anderen willen. Jeder entscheidet, ob der Inhalt des Vertrages ihm genügt, ob er die eigenen Interessen akzeptabel befriedigt findet. Dem Vertrag kommt deshalb eine Richtigkeilsgewähr zumindest in subjektiver Hinsicht zu, wobei das subjektiv Gewollte meist auch mit dem objektiv Vernünftigen übereinstimmen wird. Daß jeder einzelne konkrete Vertrag inhaltlich mit dem objektiven Gerechtigkeitsverständnis übereinstimmt ist, nicht erforderlich, da dies nicht mit dem Grundgedanken der Autonomie vereinbar wäre?69 Warum soll dieser auf Schmidt-Rimple?70 zurückgehende Gedanke der Richtigkeilsgewähr des Vertrages heutzutage nicht auch grds. für den Arbeitsvertrag gelten? Voraussetzung für einen gerechten Interessenausgleich durch Vertragsabschluß und somit für dessen Richtigkeilsgewähr ist die Chancengleichheit bei der Interessenverfolgung. Jeder Vertragspartner muß in der Lage sein, seine eigenen Interessen zu erkennen, zu artikulieren, sie bei Verhandlungen zur Geltung zu bringen, um sie schließlich im Vertragsergebnis durchzusetzen. Daß eine solche Verhandlungsparität zu Zeiten des "Manchester Liberalismus" nicht bestand und zu verheerenden Ergebnissen für die Arbeiterklasse führte, wurde oben aufgezeigt. Dargestellt wurden aber auch die heutigen Rahmenbedingungen des Arbeitsverhältnisses, wie Mitbestimmung, Kündigungsschutz und Sozialversicherungsrecht, welche die Annahme einer grundsätzlichen Unausgewogenheit beim Arbeitsvertrag in Frage stellen. 368 369 370

Blomeyer, NZA 1996, S. 337 (337). Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 53 m. w.N. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), S. 130 ff.

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Warum soll der Kaufvertrag der Prototyp eines gleichgewichtigen, der Arbeitsvertrag hingegen eines ungleichgewichtigen Vertrages sein?371 , weshalb das Arbeitsvertragsrecht sogar als "System der Inhaltskontrolle"372 bezeichnet wurde. Als Gründe dafür werden genannt: Die Ungleicheit der Marktmacht zwischen Angebot und Annahme von Arbeitsleistung. Die Angewiesenheit des Arbeitnehmers auf den Job zur Sicherung seiner Existenz. 373 Durch die bloße Unterzeichnung eines vorgefertigten, mit vorgegebenen Bedingungen versehenen Arbeitsvertrages, finde ein Aushandeln des Kontrakts als wesentliches Element des Vertragsmodelles überhaupt nicht statt. 374 Hingewiesen wird ferner auf das Produktivmitteleigentum des Arbeitgebers, seine Produktionsveranstaltung, seine intellektuelle und wirtschaftliche Überlegenheie75 gegenüber dem Arbeitnehmer. All dies bringe den Arbeitnehmer in eine schwache Verhandlungsposition. Diese Annahme der generellen Störung der Machtsymmetrie beim Arbeitsvertrag zu Lasten des Arbeitnehmers ist indes korrekturbedürftig. Zunächst einmal ist festzustellen, daß Ungleichgewichte ebenso wie der Abschluß von formularmäßigen Verträgen keine Besonderheit des Arbeitsvertragsrechtes sind, sondern auch bei sonstigen Vertragsarten vorkommen. Die Benutzung von vorgefertigten Verträgen ist nicht Ausdruck einer arbeitgebensehen Überlegenheit, sondern dient zuvörderst der Vereinfachung und Vereinheitlichung der Arbeitsvertragsabwicklung. 376 Natürlich wird der Arbeitsvertrag wie auch alle anderen Verträge von Angebot und Nachfrage bestimmt. Dies ist aber nichts außergewöhnliches: Ist der "Wohnungsmarkt" gut, so wird man eher einen günstigen Mietvertrag abschließen können. Neue Produkte, die erst in geringer Anzahl auf den Markt gelangen, können anfänglich nur zu einem hohen Preis erworben werden. So verhält es sich auch mit dem Arbeitsmarkt. Arbeitgeber aus neuen, innovativen Marktbereichen sind in der Regel nicht in der Lage, den Arbeitsvertrag dem Arbeitnehmer einseitig zu diktieren. Im Gegenteil, ein Informatiker beispielsweise hat zur Zeit die freie Auswahl. Der Arbeitgeber wird ihn nur halten oder einstellen können, wenn er ihm ein möglichst gutes Angebot unterbreitet. Im Bereich von veralteten, überkommenen Industriezweigen, wie z. B. des Kohleabbaues, ist der Arbeitgeber wahrSo Gamillscheg, AcP 176 (1976), S. 197 (205). Fastrich a.a.O., S. 201. 373 Gast, Das Arbeitsrecht als Vertragsrecht, S. 67; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 16; Säcker; Gruppenautonomie und Übermachtskontrolle im Arbeitsrecht, S. 256. 374 Zur fehlenden Parität bei vorgefertigten Vertragsbedingungen Ernst A. Kramer, Die Krise des liberalen Vertragsdenkens, S. 12. 375 Säcker a. a. 0., S. 88 ff.; Gast a. a. 0., S. 68. 376 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 287. 371

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B. Betriebsnahe Regelungen

scheinlieh in einer besseren Ausgangssituation. Hier stehen ihm die ökonomischen Daten günstig zur Seite, die viel zitierte "Reservearmee" der Arbeitslosen gibt dem Arbeitnehmer nicht die Möglichkeit, allzu große Forderungen zu stellen. Wie im sonstigen Vertragsrecht also auch hier ein Wechselspiel von Angebot und Nachfrage. Der sichere Nachweis dafür, daß zwischen den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und den Ausgestaltungen von Arbeitsverträgen ein Zusammenhang besteht, die Unternehmen also ihre Vertragsbedingungen an der jeweiligen Arbeitslosenstatistik orientieren, wurde allerdings bislang noch nicht erbracht. 377 Zu den anderen Argumenten: Daß der Arbeitnehmer dank des Sozialversicherungssystems und des nicht unerheblichen privaten Geldvermögens (im Jahr 1998 insgesamt 241,19 Mrd. DM privater Haushalte)378 heutzutage nicht mehr in dem Maße wie früher auf den Arbeitsplatz zur Sicherung seiner Existenz angewiesen ist, wurde bereits gesagt. Unabhängig davon fehlt es auch hier an der logischen Korrelation zwischen existentieller Angewiesenheit und Verhandlungsparität. Rein empirisch läßt sich nicht sagen, daß es für den Bewerber um einen freien Arbeitsplatz einen Unterschied macht, ob er auf den Arbeitsplatz wirtschaftlich dringend angewiesen ist oder nicht. 379 Auch das Argument der intellektuellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers ist wenig überzeugend. Ausführungen hierzu, wie z. B. die von Gast, sind m. E. nicht mehr zeitgemäß. Nach ihm ist der Arbeitnehmer nicht in der Lage, seine Interessen zu erkennen und zu formulieren, um zu einem angemessenen Kompromiß zu gelangen. Die vermeintliche Interessentindung des Arbeitsvertrages sei in Wirklichkeit ein bloßer Reflex des intellektuell Überlegenen, also des Arbeitgebers?80 Es mag sein, daß der "einfache" Arbeitnehmer aufgrund seiner Ausbildung intellektuell nicht in der Lage ist, einen Betrieb zu führen. Die steigende schulische und berufliche Bildung versetzen in jedoch sehr wohl in die Lage, die für seinen Vertrag wesentlichen Umstände richtig einzuschätzen. Der Arbeitnehmer erkennt durchaus, wann eine Urlaubs- oder Lohnregelung nicht mehr angemessen ist. Im Hinblick auf nicht einfach zu verstehende arbeitsvertragliche Regelungskomplexe kann er sich jederzeit den Rat eines Anwalts oder des Betriebsrats einhohlen. Eine die Richtigkeilsgewähr beeinträchtigende Unterlegenheit des Arbeitnehmers beim Arbeitsvertrag kann also nicht generell behauptet werden. Soweit Ungleichgewichtslagen auszugleichen sind, besteht zwischen Ver377 378 379 380

Preis a. a. 0. Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, S. 674. Zöllner, AcP 176 (1976), S. 221 (233). Gast a. a. 0., S. 68.

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tragsrecht des BGB und dem Arbeitsvertragsrecht kein prinzipieller Unterschied. Ebenso wie im sonstigen Vertragsrecht nicht hinnehmbare Imparitäten durch Schutzvorschriften zu korrigieren sind, wie dies z. B. für die Bürgschaftsfälle durch § 138 BGB häufig geschieht, muß auch im Arbeitsrecht das konkrete Vertragsverhältnis auf tatsächliche zur Fremdbestimmung führende Gegebenheiten hin untersucht werden. Handelsvertreter, freie Mitarbeiter, Zulieferer usw., sie alle können einer fremdbestimmten Vertragsgestaltung ausgesetzt sein und sind insofern dem Arbeitnehmer vergleichbar.381 Bei der hier diskutierten einzelvertraglichen Abweichung vom Tarifvertrag zwecks Arbeitsplatzsicherung besteht aber gerade kein gravierendes Übergewicht des Arbeitgebers, das die vertragliche Abweichung als sein bloßes Diktat erscheinen läßt. Wieder wollen wir uns den Fall "Viessmann" vor Augen halten: Das ArbG Marburg hat das Zustandekommen des "Bündnisses für Arbeit", das durch die Einzelvertragsabschlüsse umgesetzt wurde, genauestens dargestellt.382 In insgesamt fünf Sitzungen haben Betriebsrat und Geschäftsleitung gemeinsam versucht, die Produktionsauslagerung nach Myto/Tschechien zu verhindern. Zwar hat der einzelne Arbeitnehmer hier nicht direkt mit dem Arbeitgeber verhandelt, sondern der Betriebsrat. Jedoch gelten die genannten Grundsätze des Vertragsprinzips auch bei der Beteiligung des Betriebsrates an den Sitzungen mit der Geschäftsleitung. Die Beteiligung des einzelnen Arbeitnehmers an der Willensbildung hat hier stellvertretend durch den Betriebsrat stattgefunden, so daß die Verhandlungen des Betriebsrates zu Verwirklichung der Vertragsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers geführt haben. Dies deshalb, weil zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung eine Machtsymmetrie bestand. Das BetrVG garantiert, daß dem Betriebsrat eine gegenüber dem Arbeitgeber weitgehend unabhängige Stellung zukommt. Die einzelnen Betriebsratsmitglieder sind gern. den §§ 15 KSchG, 103 BetrVG nur aus wichtigem Grund außerordentlich kündbar. Dies gilt auch noch für den Zeitraum von einem Jahr nach Beendigung ihrer Amtszeit. § 78 BetrVG stellt sicher, daß der Arbeitgeber sie nicht aufgrund ihres Einsatzes für die Arbeitnehmerinteressen in irgendeiner Weise benachteiligen darf. Auch die Wahl des Betriebsrates erfolgt ohne jeglichen Einfluß des Arbeitgebers. Die Aufstellung der Kandidaten ist vielmehr Sache der Gewerkschaften. 383 Auch die inhaltlichen Aufgaben, die dem Betriebsrat nach dem BetrVG zugewiesen sind, setzen eine Unabhängigkeit des Betriebsrates von dem 381

382 383

Dieterich a. a. 0., S. 135.

ArbG Marburg, NZA 1996, S. 1331. BVerfGE 19, 303 (317 f.).

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B. Betriebsnahe Regelungen

Arbeitgeber voraus. Mit komplexen Arbeitszeitmodellen und detaillierten Regelungssystemen zur betrieblichen Lohngestaltung nach § 87 I Nr. 10 BetrVG beschränken sich die Aufgaben des Betriebsrates nicht mehr nur auf die bloße Organisation von Arbeitsprozessen. Die Zuweisung solcher Aufgaben zeigt, daß auch der Gesetzgeber den Betriebsrat als ein vom Arbeitgeber unabhängiges Gremium ansieht, ansonsten hätte er ihm wohl kaum die Regelung solch wichtiger Materien überlassen. 384 Der Betriebsrat ist bei den Verhandlungen über Maßnahmen zur Rettung der Arbeitsplätze also nicht durch den Arbeitgeber manipulierbar. Auch im Fall "Viessmann" hätte der Betriebsrat von Anfang an gar nicht auf das Ersuchen der Geschäftsleitung, gemeinsam eine Lösung zum Erhalt der deutschen Produktionsstätten zu finden, einzugehen brauchen. Mit der mächtigen Metallgewerkschaft im Rücken hätte er der Ankündigung der Geschäftsleitung vielmehr gelassen entgegensehen können. Der Bittsteller war hier also der Arbeitgeber, vor allem deshalb, weil er - von der Änderungskündigung abgesehen - keine Möglichkeit hatte, die veränderten Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Eine Änderungskündigung kann der Arbeitnehmer jederzeit auf die Zumutbarkeit überprüfen lassen. Weil der Betriebsrat aber tatsächlich eine Gefahrdung für die Arbeitsplätze sah, trat er freiwillig in die Verhandlungen mit der Geschäftsleitung ein, um im Wege eines gegenseitigen Gebens und Nehmens (Verzicht auf betriebsbedingte Kündigung gegen Erhöhung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich) zu einer vernünftigen Lösung zu gelangen. Nach dem Aufruf zur Umsetzung des "Bündnisses für Arbeit" hatte der einzelne Arbeitnehmer immer noch die autonome Entscheidung, ob er sich durch Abschluß eines neuen Arbeitsvertrages diesem Bündnis anschließen wollte oder nicht. Auf dieses Verbleiben der letzten Entscheidungsbefugnis bei dem betroffenen Arbeitnehmer stellt auch das BAG in seiner Entscheidung über die Zulässigkeil der Herabsetzung der Lebensarbeitszeit durch eine Betriebsvereinbarung ab. Der große Senat befand eine Betriebsvereinbarung als eine für den Arbeitnehmer ungünstigere Regelung für unwirksam, da sie eine Verkürzung der Wahlmöglichkeit des Arbeitnehmers bezüglich der Fortsetzung oder Beendigung seines Arbeitsverhältnisses bedeute. Altersgrenzenregelungen seien nur dann als günstiger für den Arbeitnehmer zu bewerten, wenn sie eine Vergrößerung seines Wahlrechts bewirkten. 385 Entscheidendes Kriterium für die Günstigkeilsbeurteilung ist also die Einräumung einer zusätzlichen Dispositionsmöglichkeit Genau diese wurde den Sontowski, Löhne in der Untemehmenskrise, S. 128. BAG DB 1990, S. 1724 (1726) = BAG AP Nr. 46 zu§ 77 BetrVG; Mit dem Gedanken des Wahlrechts hat auch Löwisch, DB 1989, S. 1185 (1187) im Zusammenhang mit der Diskussion um die Samstagsarbeit argumentiert; zustimmend Buchner, DB 1990, S. 1715 (1720). 384

385

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"Viessmann"-Arbeitnehmern aber eingeräumt, indem die letzte Entscheidung über eine individuelle Abbedingung der wöchentlichen Arbeitszeit bei ihnen blieb. Ein Machtüberhang der Geschäftsleitung, der den Arbeitnehmern eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich aufgedrängt hätte, bestand demnach nicht. Die Einwilligung von 96,4% der Arbeitnehmer hat vielmehr gezeigt, daß die Arbeitnehmer in dem "Bündnis für Arbeit" auch ihre Interessen befriedigt sahen. Noch deutlicher wurde dies im oben erwähnten "Burda Fall"386, in dem sogar 98,5% der Arbeitnehmer der Tarifunterschreitung zustimmten. Hier wurde in der durch Einzelvertrag umgesetzten Regelungsabrede unter Ziffer 3. ausdrücklich festgelegt: ,,Aus Respekt vor ihrer abweichenden Meinung wird die Betriebsvereinbarung [die das BAG als Regelunsgabrede qualifizierte] vom 29. Februar 1996 mit ihren Rechten und Pflichten nicht angewendet auf die Mitarbeiter der B Druck GmbH Offenburg sowie des Papierlagers und der Altpapierverwertung, die keine Vertragsergänzungen mit den Inhalten der Betriebsvereinbarung abgeschlossen haben ...

Der Vertrag als Verfahrensmodus hat auch hier garantiert, daß ein von allen Beteiligten gewolltes Ergebnis zustande kam. Den hier zustande gekommenen Verträgen war somit aufgrund der Beteiligung gleich starker Verhandlungspartner eine "Richtigkeitsgewähr" zu unterstellen. Das Argument, daß der Arbeitnehmer als unmündiges Individuum die einzelvertragliche Abänderung des Tarifvertrages nicht richtig einschätzen könnte und deshalb vor dem Ersuchen des Arbeitgebers geschützt werden müsse, ist deshalb nicht nachzuvollziehen. Insbesondere ist nicht einzusehen, warum der tarifgebundene Arbeitnehmer nicht beurteilen können soll, was günstiger für ihn ist, dem ungebundenen Arbeitnehmer hingegen, der frei über seine Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitgeber verhandelt, dies wohl zugetraut wird. b) Wandel der wirtschaftlichen Situation in Deutschland

Eine wesentliche Veränderung der Normsituation stellt die Globalisierung der Wirtschaft, das Zusammenwachsen der nationalen Märkte zu einer "single world economy" dar. Im Fall "Viessmann" sollte durch die im "Bündnis für Arbeit getroffenen Maßnahmen" eine zunehmende Auslagerung der Produktionsstätten nach Tschechien verhindert werden. 386

BAG NZA 1999, S. 887.

8 Freihube

114

B. Betriebsnahe Regelungen

Durch den Zusammenbruch des Ostblocks und dem Verschwinden des eisernen Vorhanges stehen die Unternehmensvorstände unter erheblichem Wettbewerbsdruck und zunehmend vor der Entscheidung, ganze Produktionzweige in sog. "Billiglohnländer", die sich heute "vor der Haustür" befinden, auszulagern. Aber nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern auch im asiatisch-pazifischen Raum und in Lateinamerika sind riesige neue Märkte entstanden. In Zeiten, in denen das Shareholder-Value-Prinzip die Unternehmensphilosophie prägt, ist es natürlich schwer für die Geschäftsleitung der Unternehmen, eine weitere Produktion in Deutschland zu rechtfertigen, wenn diese für dasselbe Produkt mit weitaus geringeren Kosten z. B. in Polen oder in Tschechien erfolgen kann. Zumal die ständig sinkenden Transaktionskosten und die zunehmende Vereinfachung von Technologietransfer die Regionalisierung von Produktionsprozessen mehr und mehr vereinfachen. 387 Die Einführung des Euro kommt erschwerend hinzu, weil man ohne die DM-Verdienstmöglichkeit dort hingehen wird, wo "unterm Strich" am meisten vom Euro übrig bleibt. 388 Auch das Argument früherer Tage, daß die hohen Lohnkosten in Deutschland durch ein Mehr an Qualität - "Made in Germany" - ausgeglichen würden, vermag heute nicht mehr zu überzeugen. Es ist nicht zu übersehen, daß andere Nationen, was die Qualität der Produkte und die Qualifikation der Arbeitnehmer anbelangt, mehr und mehr mit Deutschland gleichziehen. Weltweite Informationsnetze sorgen dafür, daß sich die Kenntnis technologischer Neuerungen rasch verbreitet und Innovationsvorsprünge schnell aufgeholt werden. Bezeichnend hierfür: Der erste marktHihige 64Megabit-Chip kam nicht aus Nordamerika oder Westeuropa, wo man stets die technologische Führerschaft für sich in Anspruch nahm, sondern aus Südkorea, entwickelt von dem Unternehmen Samsung.389 Der Chef der mM GmbH Deutschland LambertP90 hat unlängst darauf hingewiesen, daß in der Computerbranche, die wohl als zukunftsweisend anzusehen ist, 20000 Stellen in Deutschland mangels ausreichend ausgebildeter Computerfachkräfte nicht besetzt werden können. Er wies auf die Mängel im deutschen Bildungssystem hin. So können in den meisten Bundesländern Schüler der Oberstufe Mathemathik oder andere Naturwissenschaften einfach abwählen. Im westeuropäischen Vergleich weisen Deutschlands Schulen den größten Unterrichtsausfall aus?91 Mit dem einzigartigen, hohen deutschen Ausbildungsniveau ist es heute also nicht mehr so weit her. 387 388 389

390

Rösner, Wirtschaftsdienst 1995, S. 475 (475). Adomeit in FS Kraft, S. 1 (2). Vgl. Möschel, ZfW 1996, S. 39 (41). F.A.Z vom 23.12.1998, S. 15.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

ll5

Der Geschäftsführer von Talk Line Deutschland Vonderheit beklagte vor kurzem in einem Fernsehinterview, daß seine Gesellschaft in indischen Tageszeitungen annoncieren müsse, da in Deutschland nicht ausreichend geeignete Arbeitskräfte für die Informationsbranche zur Verfügung stünden. Die deutschen Arbeitnehmer seien außerdem so unflexibel, daß es einfacher sei, einen Inder zu bewegen, von Neu Dehli nach Elmshorn zu ziehen als einen Deutschen, von München nach Elmshorn zu gehen. Zutreffend stellt Buchner fest, daß es heute überhaupt kein Problem mehr bereitet, Stromkabel, Autozubehörteile oder ganze Kraftfahrzeuge an osteuropäischen und außereuropäischen Standorten zu produzieren. 392 Zu beachten ist, daß die höhere Qualifikation der Arbeitnehmer und der höhere Organisationsgrad der zum Teil für einzelne Branchen auch heute noch in Deutschland bestehen mag (dies war der Grund für die Entscheidung des letzten Jahres der Varta AG, ihre Produktion in Deutschland und nicht in Asien auszubauen) durch andere Standortvorteile im Ausland, insbesondere im osteuropäischen, mehr als ausgeglichen wird. So haben die Unternehmen dort grds. nicht mit so komplizierten und umfangreichen Genehmigungsverfahren wie in Deutschland zu kämpfen und müssen sich nicht im gleichen Umfang an Umweltvorschriften halten. Ebenfalls herrschen in diesen Ländern nicht in dem Maße wie hier diffuse Technikängste, die zumeist auch mit administrativen Hemmnissen verbunden sind, so daß dort Innovationen schneller auf den Markt gebracht werden können. Als Beispiel sollen hier nur die bio- und gentechnischen Verfahren genannt werden?93 Meistens stehen den Unternehmen im Ausland im Vergleich zu Deutschland weitaus billigere Grundstücke zur Errichtung ihrer Produktionsstätten zur Verfügung. Auch der Bau der Produktionsstätten selbst ist um ein vielfaches günstiger als in Deutschland. Diese immobilen Produktionsfaktoren sind, da es immer leichter wird mobile Produktionsfaktoren wie Kapital, Technologie und Wissen zu verlagern, entscheidend für die künftigen Standortentscheidungen der Unternehmen. Die "Global Player" sind zunehmend in der Lage, kostenintensiven Rahmenbedingungen ihres Herkunftsstandortes aus dem Wege zu gehen, indem sie ihre Produktion in die "attraktivste Liga" auslagern, in der die wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Bedingungen betriebswirtschaftlich wesentlich günstiger sind. Theoretisch möglich: Forschung in den USA, Finanzierung in der Karibik, Produktion in Asien, Vertrieb virtuell über das Internet. Ein anschauliches Beispiel für ein solches "Global Sourcing" bietet der weit391 Vgl. "Deutschland ist Schlußlicht bei der Unterrichtsversorgung" F.A.Z. 1.6.1999, s. 10. 392 Buchner, DB 1996, Beilage 12, S. 1 (6). 393 Vgl. dazu Bemhard, "Chemische Industrie/Bedeutung des Standorts Deutschland nimmt stetig ab", in Handelsblatt vom 29./30.12.1995, S. 36.

s•

116

B. Betriebsnahe Regelungen

weit gröJ3te Sportartikelanbieter Nike, der überhaupt keine eigenen Produktionsanlagen mehr besitzt, sondern nur noch für sich an den jeweils günstigsten Standorten herstellen läßt, zumeist in Indien und in Fernost. Aussagekräftig auch der zunehmende Rückzug der hiesigen Automobilindustrie. Seit Ende 1995 läuft erstmals in der Geschichte des Unternehmens BMW eine komplette Modellreihe, der BMW Roadster, im Ausland vom Band, in South Carolina USA. Ähnlich ist es bei den anderen deutschen Autokonzernen. Seit Herbst 1996 erfolgt die komplette Fertigstellung von Fahrzeugen des Stuttgarter Konzerns Mercedes Benz im US Werk Alabama. Nach der Jahrtausendwende soll die A-Klasse nur noch in Brasilien gefertigt werden. Audi investiert seit Jahren Millionen in das ungarische Werk Györ, der VW Käfer Nachfolger "Beetle" muß aus den USA importiert werden. 394 Alles Beispiele dafür, daß der Begriff "Made in Germany" stark an Bedeutung verloren hat. Dieser Intensivierung des globalen Wettbewerbs kann sich auch nicht der deutsche Arbeitsmarkt entziehen. Ein hoher Umweltstandard, hohe Steuern - Deutschlands Unternehmenssteuern liegen an der Spitze im internationalen Vergleich395 - hohe Arbeits- und Sozialkosten, die unserem Land schon seit Jahren den zweifelhaften Titel des Weltmeisters in Arbeitskosten zukommen lassen und nicht zuletzt ein großzügiges Streikrecht führen nicht gerade zu einem Sturmlauf der Investoren. Nach der jüngsten Statistik des unabhängigen Statistikamtes der EU Eurostat bleibt Deutschland innerhalb der EU das "Hochlohnland Nr. 1": Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit seinen Arbeitskosten weit vor den Vereinigten Staaten und Japan?96 Auch die geplante Ökosteuer397, die für die Unternehmen sehr kostenintensiv sein wird, dürfte nicht zu einer Verbesserung des Wirtschaftsstandortes Deutschland beitragen. Aussagekräftig in diesem Zusammenhang ist die Fusion der Chemiekonzerne Hoechst und Rhöne - Poulenc. Der Entschluß der Unternehmensleitungen, den Sitz des Unternehmens nach über 130-jähriger Ansässigkeil der Hoechst AG in Hessen nach Straßburg zu verlagern, war nach Auffassung vieler eine Reaktion auf die Wettbewerbsbedingungen in Deutschland für den Chemieriesen, insbesondere im Hinblick auf die Steuern und die Genforschung. Vgl. "Globalisierung als Überlebensfrage", in Handelsblatt vom 29./30. 12. s. 32. 395 Vgl. F.A.Z. vom 17.05.1999, S. 17 "Deutschland belastet Unternehmen wie kaum ein anderes Land", so das Untersuchungsergebnis des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. 396 Vgl. F.A.Z. vom 10.08.1999, S. 21. 397 Dazu "Die Mär von Ökosteuer und Arbeitsplatz" - Konflikt zwischen ökologischer Effizienz und Wettbewerbsfahigkeit", in F.A.Z. vom 28.11.1998, S. 18; Zur hohen steuerlichen Belastung der Unternehmen und der geringen Innovationskraft in Deutschland, Schaub, BB 1994, S. 2005 (2005). 394

1995,

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

117

Aufgrund des Gesagten hinterfragt Buchner deshalb zu Recht, woher man das Selbstverständnis für die weit verbreitete Auffassung nehmen soll, daß man in Deutschland doch keine osteuropäischen oder asiatischen Löhne zahlen könne. 398 Zutreffend auch die Äußerung des Gerichts im Rahmen der zweitinstanzliehen mündlichen Verhandlungen des Falles "Viessmann", der Weltmarkt halte sich nicht an das deutsche Tarifvertragsrecht. 399 Der Wandel der Normsituation, d.h. der Wandel der tatsächlichen Verhältnisse ist bei der Auslegung einer Norm zu berücksichtigen, so auch bei der Interpretation des Günstigkeitsprinzips. Das Arbeitsrecht hat sich zu lange der notwendigen Berücksichtigung von ökonomischen Verhältnissen verschlossen. Es ist heute aufgrund der gegebenen wirtschaftlichen Situation in Deutschland dazu gezwungen, einen engeren Zusammenhang von Wirtschafts- und Rechtsordnung anzuerkennen und den Gedanken zuzulassen, daß eine Abweichung von der ausschließlich kollektiven Bestimmung der Arbeitsbedingungen im Einzelfall unausweichlich sein kann. Die deutschen Arbeitnehmer sind im zunehmenden Maße der Konkurrenz ausländischer Arbeitnehmer, die mit niedrigen Löhnen mehr und mehr deutsche Unternehmen ins Ausland locken, ausgesetzt. Auf die drastischen Veränderungen hat die deutsche Wirtschaft und somit auch die deutsche Arbeitnehmerschaft zu reagieren. Wenn feststeht, daß ein Unternehmen zu deutschen Tariflöhnen keinesfalls mehr produzieren will oder produzieren kann, dann sind die Arbeitnehmer gehalten, auf Vorschläge der Unternehmensleitung, die u. U. auch untertarifliche Arbeitsbedingungen vorsehen, einzugehen. Die Veränderung der wirtschaftlichen Landschaft in Europa gebietet einen Günstigkeitsvergleich, der den Aspekt der Arbeitsplatzsicherheit miteinbezieht Die Forderung der h. M., daß der Günstigkeitsvergleich die Berücksichtigung einer zu befürchtenden Arbeitslosigkeit als etwas "Außerrechtliches" außer acht zu lassen habe, können sich die Beteiligten heute schlicht und einfach nicht mehr erlauben. Ist der Arbeitnehmer erst einmal durch die Stillegung einer deutschen Produktionsstätte erwerbslos geworden, so besteht heute oft nur eine geringe Chance auf den Wiedereinstieg in das Arbeitsleben. Im Januar 1998 vermeldete der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Jagoda, daß in Deutschland 4,82 Millionen Menschen ohne Arbeit seien, der bisher höchste Stand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In Ostdeutschland übersprang die Arbeitslosenquote mit 21,1% erstmals die 20% Marke. In Westdeutschland waren im Januar 1998 10,5% Arbeitslose zu verzeichnen, womit die gesamtdeutsche Arbeitslosenqoute bei 12,5% lag. Jagoda, der sich normalerweise mit tarifpolitischen Äußerungen sehr zurückhält, betonte ebenfalls, daß an dieser Situation auch die zu hohen Lohnkosten schuld seien. Nach der Aussage des Ministerialdi398 399

Buchner, DB 1996 Beilage 12, S. 1 (6). Vgl. "Richtererwachen", F.A.Z. vom 26. 9. 1997, S. 18.

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B. Betriebsnahe Regelungen

rigenten Scholl ist aufgrund der wesentlich geringeren Löhne ausländischer Betriebe ein weiterer Abbau von 70 0000 Arbeitsplätzen zu befürchten. Die viel zitierte Trendwende auf dem Arbeitsmarkt ist wohl allenfalls eine Stabilisierung, die keinen Anlaß dafür gibt, den Kurs moderater Lohnerhöhungen zu verlassen. 400 Bei solch erschreckenden Meldungen ist ein Verständnis des Günstigkeitsprinzips dahingehend, daß der Aspekt der Arbeitsplatzsicherung nicht berücksichtigt werden soll, nicht mehr zeitgemäß. Das Arbeitsrecht hat zu lange Zeit zur Beschäftigungskrise und Globalisierung geschwiegen. Festzuhalten ist, daß der Wandel der Normsituation hinsichtlich des Wirtschaftsstandortes Deutschland eine Abweichung von der bisherigen herrschenden Auslegung des Günstigkeitsverständnisses, die eine Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Umstände ablehnte, gebietet. Dieses Ergebnis geht auch konform mit der Entscheidung des BVeifG zu § 21 IV Flaggenrechtsgesetz. In dieser macht das Gericht deutlich, daß die Internationalisierung von Dienstleistungen nicht ohne Wirkung auf das deutsche Arbeitsund Tarifrecht bleiben könne.401 In der genannten Entscheidung hatte das Gericht den Ausschluß deutschen Arbeits- und Tarifrechts für Seeleute ohne deutschen Wohnsitz auf Schiffen unter deutscher Flagge zu beurteilen. In diesem Zusammenhang führt das Gericht aus: .,... Sie [die Handelsschiffahrt in internationalen Gewässern] ist dadurch gekennzeichnet, daß sie notwendig außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes stattfindet und sich auf einem Markt betätigt, der . . . sowohl hinsichtlich der angebotenen Dienstleistung als auch hinsichtlich der dazu benötigten Arbeitnehmer wie kein anderer im vollen Umfang internationalisiert ist. Soweit das deutsche Recht den Betreibern der Handelsschiffe Bedingungen auferlegt, die ihre Wettbewerbsflihigkeit erheblich mindern, haben sie die Möglichkeit, sich der Geltung des deutschen Rechts durch das Ausflaggen ihrer Schiffe gänzlich zu entziehen .. . Der deutsche Gesetzgeber steht deswegen vor der Alternative, den deutschen Grundrechtsstandard entweder ungeschmälert zu wahren, ihm damit im Bereich der Hochseeschiffahrt praktisch das Anwendungsfeld zu entziehen, oder ihm ein Anwendungsfeld zu erhalten, dann aber eine Minderung des Grundrechtsstandards in Kauf zu nehmen. Unter diesen Umständen ist es dem Gesetzgeber von Verfassung wegen nicht verwehrt, den zweiten Weg zu wählen und Positionen von Koalitionen aufzugeben, die sich in der internationalen Rechtswirksamkeit ohnehin nicht behaupten ließen ...."402

Das BVeifG stellt damit heraus, daß es grds. vorzuziehen sei, Arbeitsverhältnisse unter Inkaufnahrne der Reduzierung des tariflichen Status zu er400 Vgl. Lehari, .,Der Arbeitsmarkt in Deutschland- Realismus gefragt", in Handelsblatt vom 12. 1. 1998, S. 6 und .,die Wende auf dem Arbeitsmarkt bleibt weiterhin aus", F.A.Z vom 6.3.1998, S. 17. 401 BVerfG DB 1995, S. 483. 402 BVerfG a. a. 0., S. 484.

VI. Die Auslegung des § 4 III TVG

119

halten, als die uneingeschränkte Anwendung der tariflichen Nonnen durchzusetzen, wenn dies letztlich einen Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet. Zwar bezieht sich das Gericht in dieser Entscheidung ausdrücklich auf die problematische Situation deutscher Reeder. Wie Buchner403 zutreffend feststellt, haben die anderen deutschen Wirtschaftsbereiche mit denselben Problemen zu kämpfen. Auch hier sind die "Dienstleistungen stark internationalisiert" und führen zu Veränderungen der Unternehmensstrukturen wie kaum jemals zuvor. Die Unternehmensgruppen geben sich zunehmend eine Organisation, die ihnen ein Operieren auf internationalen und europäischen Geschäftsfeldern ermöglicht. Die Kollegen des deutschen Arbeitnehmers befinden sich oftmals nicht mehr in Deutschland, sondern beschäftigen sich als Mitarbeiter einer anderen nationalen Unternehmensgruppe mit den gleichen Aufgaben wie der deutsche Arbeitnehmer der deutschen Unternehmensgruppe. Zwischen den nationalen Unternehmensgruppen entsteht also vielfach eine ebenso harte Konkurrenz wie bei den verschiedenen Konzernen.404 Den Unternehmen ist es somit möglich, Aufgaben von einer nationalen Unternehmensgruppe einfach auf die andere zu übertragen, wenn diese günstiger arbeitet. Ein solches Handeln wäre dem Ausflaggen deutscher Schiffe ähnlich, die zu deutschen Tarifbedingungen nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Die Feststellungen des BVeifG zur Globalisierung des Wettbewerbs und seinem Einfluß auf das Tarifrecht sind deshalb nicht nur für die deutsche Handelsschiffahrt von Bedeutung.

6. Das Streben nach einer gerechten und sachgemäßen Fallentscheidung als Auslegungskriterium Das Ergebnis eines Auslegungsvorganges sollte stets als sachgemäß angesehen werden können, da auch dem gesetzgebefischen Willen unterstellt werden muß, daß er eine Regelung treffen wollte, die eine sachgemäße Lösung im Einzelfall ermöglicht. Als Auslegungskriterium ist deshalb auch die Sachgemäßheit eines Ergebnisses anzusehen. 405 Da die gesamte Rechtsordnung unter der verpflichtenden Anforderung der Idee der Gerechtigkeit steht, hat man sich bei der Auslegung einer Norm ebenfalls von dem Gedanken der Gerechtigkeit leiten zu lassen.406 Die Anwendung von Gesetzen sollte daher möglichst zu einem billigen Ergebnis führen, sie darf nicht "als ein logisches Glasperlenspiel verstanden 403 404

405 406

Buchner a. a. 0., S. 13. Junker, NZA 1997, S. 1305 (1313). Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 154. Larenz/Canaris a.a.O., S. 168.

120

B. Betriebsnahe Regelungen

werden, sondern vielmehr als ein finales Handeln, ausgerichtet auf ein vernünftiges Ergebnis, wie es der Gerechtigkeit entspricht".407 Übertragen auf die Auslegung des Günstigkeilsprinzips bedeutet dies folgendes: Obwohl die Begriffe der Gerechtigkeit und der Sachgemäßheil einen breiten Wertungsspielraum eröffnen, scheint es m. E. schwierig zu sein, einem Arbeitnehmer klarmachen zu wollen, daß sein freiwilliger, vorübergehender Verzicht auf seine tariflichen Rechte zur Rettung seines Arbeitsplatzes eine ungerechte und unsachgemäße Rechtsanwendung des § 4 III TVG ist. Nach Meinung des Verfassers bedarf es keiner weiteren Diskussion, daß es gerade als zweckmäßig und gerecht anzusehen ist, zur Überwindung der Krise von den tariflichen Vorgaben zeitweise abzuweichen und damit Arbeitsplätze zu retten. Es wäre als unvernünftig anzusehen, wenn man den Arbeitnehmer in die Erwerbslosigkeit schicken würde, indem man eine Auslegung des Günstigkeilsprinzips - wie hier gefordert nicht zulassen will. Ein solches Günstigkeilsverständnis ist, weil es in nicht vertretbarer Weise die Interessen des Betroffenen unberücksichtigt läßt, als ungerecht und unsachgemäß abzulehnen. Wenn die Arbeitnehmer die Notwendigkeit der Vomahme der entsprechenden Maßnahmen zur Erhaltung der Wettbewerbsfahigkeit ihres Unternehmens erkannt haben und diese im Wege einer freiwilligen und eigenständigen Entscheidung umsetzen wollen, weil sie dies als insgesamt günstiger für ihre Zukunft betrachten, dann wäre es unbillig, ihnen ein solches Vorgehen zu versagen. Das Auslegungskriterium einer sachgerechten und zweckmäßigen Entscheidung zwingt den Rechtsanwender, abschließend noch einmal zu überprüfen, ob das durch die bisherige Auslegung gefundene Ergebnis "überhaupt stimmen kann". Es soll dem Auslegenden abschließend die Möglichkeit geben, festzustellen, ob die Anwendung der Norm, so wie es das Auslegungsergebnis verlangt, nicht vielleicht doch als zu formal juristisch angesehen werden muß, weil es mit dem Gerechtigkeitsempfinden eines billig und gerecht Denkenden unvereinbar wäre. Genau diese "Abschlußkontrolle" bestätigt m. E. das gefundene Auslegungsergebnis: Die Forderung der h. M., daß ein Günstigkeilsvergleich eine zu befürchtende Arbeitslosigkeit außer acht zu lassen habe, würde dem Rechtsempfinden des Verfassers widersprechen: Es kann nicht sein, daß man den Arbeitnehmer gegen seinen Willen in die Arbeitslosigkeit schickt. Daß ein solches Rechtsverständnis nicht so abwegig sein kann, zeigt im übrigen ein Blick nach Frankreich, wo ein Günstigkeilsverständnis wie hier vertreten von der Rechtsprechung bereits anerkannt ist. Die Cour de Cassation hat bei dem Vergleich zweier kollektiver Regelungen diejenige 407 So für die richterliche Gesetzesauslegung Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, S. 5.

VII. Ergebnis zu B.

121

für günstiger bewertet, nach der der Arbeitnehmer einerseits zwar geringer entlohnt wird, anderseits ihm jedoch der Erhalt des Arbeitsplatzes zugesichert wird.408 Im Zuge der europäischen Rechtsangleichung ist es verwunderlich, daß man in Kassel auf die Entscheidung in Paris mit keinem Wort einging.

VII. Ergebnis.zu B. Die Auslegung des Günstigkeilsprinzips nach der klassischen Auslegungsmethode ergibt, daß bei dem Günstigkeilsvergleich der Aspekt der Arbeitsplatzsicherheit zu berücksichtigen ist. Die bislang h. M., die vielleicht rechtspolitisch Wünschenswertes vertritt, widerspricht dem genannten Ergebnis, zu dem man unter strikter Anwendung der anerkannten Auslegungskriterien gelangt. Dies scheint auch die Rechtswissenschaft zunehmend zu erkennen, wie dies die 34. Bitburger Gespräche vom Januar 1998 deutlich machten, wo sich Adomeit mit seinem bisher abgelehnten Günstigkeitsverständnis plötzlich in guter und größerer Gesellschaft befand als zuvor. 409 Mit der Feststellung, daß die Sicherung des Arbeitsplatzes einen im Günstigkeitsvergleich zu berücksichtigenden Aspekt darstellt, ist auch gleichzeitig die Frage nach der Zulässsigkeit kompensatorischer Vereinbarungen geklärt. Die gebotene Einbeziehung der Arbeitsplatzsicherheit ist natürlich nur möglich, wenn man auch die Vereinbarung von kompensatorischen Regelungen, wie z. B. den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen, als Gegenleistung für die vorrUhergehende Arbeit zu untertariflichen Bedingungen zuläßt. Mit der Frage des Günstigkeitsvergleichs ist ebenfalls die Frage der Beurteilungsperspektive geklärt, d.h. die Frage, wer die Günstigkeit zu beurteilen hat. Die Auslegung, insbesondere die verfassungskonforme, hat deutlich gemacht, daß die Frage des Günstigkeitsvergleichs und die Frage der Beurteilungsperspektive nicht voneinander zu trennen sind. Aufgrund der Verfassungsvorgaben (Art. 12 GG) hat der Arbeitnehmer selbst zu entscheiden, ob er bestimmte Aspekte, wie z. B. den Arbeitsplatzerhalt, in dem Günstigkeitsvergleich berücksichtigt wissen will, und ob er die Abweichung von der tranfliehen Regelung als günstiger betrachtet oder nicht. 408 Cour de cassation chambre sociale vom 19. 2. 1997, Bulletin de Ia cour de cassation 1997, cinquieme partie chambre sociale, Nr. 70, S. 48 (49); vgl. dazu Frik, NZA 1998, S. 525 (525 f.); Zumfelde, NZA 1998, S. 410 (412). 409 Vgl. "von der Ausbeutung der Arbeiter zur Ausgrenzung der Arbeitslosen", in F.A.Z vom 12.1.1998, S. 17; Für eine Berücksichtigung der Arbeitsplatzsicherheit im Günstigkeitsvergleich: G. Heckelmann in FS Döser, S. 317 (324); Ehmann/ Schmidt, NZA 1995, S. 193 (202); Trappehl/Lambrich, NJW 1999, S. 3217 (3220); Buchner NZA 1999, S. 897 (901).

C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf§ 77 111 BetrVG Stellt das Günstigkeitsprinzip somit eine Möglichkeit zur individualrechtliehen Reaktion auf ökonomische Krisen dar, so gerät man leicht in Versuchung, die oben genannten Grundsätze auch auf das Verhältnis von Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag anzuwenden. § 77 III BetrVG legt fest, daß Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können, soweit sie durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden. Eine § 4 III TVG entsprechende Vorschrift, die die Regelungssperre des § 77 III BetrVG für den Fall der Günstigkeit aufhebt, enthält § 77 BetrVG nicht.

Das Günstigkeitsprinzip mit dem oben vertretenen Günstigkeitsverständnis hinsichtlich der Tarifunterschreitung zwecks Arbeitsplatzerhaltes nicht nur für die individualrechtliche Ebene, sondern auch für den in § 77 III BetrVG normierten Tarifvorrang gelten zu lassen, hätte erhebliche Auswirkungen auf die Rechtswirklichkeit In dieser wird zunehmend durch Betriebsvereinbarungen das Tarifniveau unterschritten mit dem Argument, nur so könne man anstehende Entlassungen vermeiden. 1 Nach einer Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Winter 93/94 haben 35% der ostdeutschen Industrieunternehmen und 32% der ostdeutschen Handwerksbetriebe den Tariflohn unterschritten. Dasselbe Institut ermittelte für das Jahr 1995 eine Tariflohnunterschreitung von 33% der ostdeutschen Industrieunternehmen.2 Nach einer Schätzung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagebau (VDMA) aus dem Jahre 1995 wichen 30% der 3000 Mitglieder durch Betriebsvereinbarungen vom Tarifvertrag ab. 3 Nach Ehmann/Schmidt4 "weiß jeder Kundige, daß tagtäglich in unserer Republik Tausende solcher Vereinbarungen abgeschlossen werden". Nach Birk konnte der Gesetzgeber nicht ernsthaft davon ausgehen, daß § 77 III BetrVG generell befolgt wird. 5 Linnenkohf' spricht von "igeniöser 1

2

3 4

5

Vgl. die oben unter IV. 2. c) bb) genannten Beispiele aus der Praxis. C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, S. 13. C. Fischer a. a. 0 . Ehmann/Schmidt, NZA 1995, S. 193 (193). Birk, ZfA 1986, S. 73 (104).

C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeilsprinzips

123

Nichtanwendung" des § 77 III BetrVG, weshalb Reuter1 sogar von einer gewohnheitsrechtliehen Derogation8 dieser Vorschrift ausgeht, ohne jedoch näher darzulegen, in welchem Umfang der Tarifvorrang nach § 77 III BetrVG mißachtet wird. Vielmehr begnügt er sich mit dem Hinweis, daß "allen Informationen zufolge" ein solches Vorgehen der Praxis entspricht. Voraussetzung für das Entstehen von Gewohnheitsrecht ist jedoch eine tatsächliche, gleichmäßige, nicht bloß vorruhergehende Übung der Beteiligten des betreffenden Rechtskreises. 9 Zuverlässige Erhebungen, die genaue Angaben über das Vorkommen tarifunterschreitender Betriebsvereinbarungen liefern, gibt es bislang jedoch nicht. 10 Zu beachten ist auch, daß nicht jede Unterschreitung des Tarifniveaus auf eine Betriebsvereinbarung zurückzuführen ist, sondern vielfach auf einer Regelungsabrede zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber beruht. Des weiteren kann von einer gleichmäßigen Rechtsübung in Form einer ständigen Mißachtung des Tarifvorranges nicht ausgegangen werden. Seit Schaffung des § 77 III BetrVG im Jahr 1972 war vielmehr ein wechselndes Verhalten der Betriebspartner bezgl. der Beachtung der Regelungssperre zu beobachten, das durch die wirtschaftliche Lage beeinflußt wurde. In konjunkturell schwachen Phasen weicht man eher von (zu hohen) Tarifabschlüssen ab als in wirtschaftlich guten Zeiten. Hinzu kommt, daß die Übung der betreffenden Rechtskreise Ausdruck ihrer Rechtsüberzeugung sein muß. 11 Beteiligte des hier maßgeblichen Rechtskreises sind aber nicht nur Arbeitgeber und Betriebsräte, sondern auch die Gewerkschaften. Dies deshalb, weil § 77 III BetrVG nach einhelliger Auffassung die Funktionfähigkeit der Verbände schützen soll, indem die Regelung tarifvertraglicher Inhalte den Betriebsräten untersagt wird, um ihrer Entwicklung zu "beitragsfreien Ersatzkoalitionen" entgegenzuwirken.12 Daß die Gewerkschaften nicht der Überzeugung sind, daß die Mißachtung des Tarifvorranges rechtens ist, steht außer Zweifel und äußert sich darin, daß sie immer wieder gerichtlich gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen vorgehen. Zuletzt in der "Burda-Entscheidung" vom Linnenkohl, NZA 1994, S. 2077 (2078). Reuter, RdA 1991, S. 193 (199). 8 Die Frage der gewohnheitsrechtliehen Derogation warf bereits Zöllner, FS Nipperdey Bd. II, S. 699 (703), bezüglich § 59 BetrVG 1952 auf, ohne jedoch näher darauf einzugehen. 9 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 215; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 176; H. Hübner, BOB Allgemeiner Teil, Rdn. 37. 1 C. Fischer a.a.O., S. 14. 11 BVerfGE 32, 54 (75); Larenz/Canaris a.a.O., S. 177. 12 Siehe nur Richardi, BetrVG, § 77 Rdn. 66; GK BetrVG - Kreutz, § 77 Rdn. 66 mit ausführlichem Literaturnachweis. 6 7

°

124

C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips

20.04.1999, in dem das BAG 13den Gewerkschaften eine Klagebefugnis und ein Unterlassungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber bei Verletzung des § 77 III BetrVG durch die Betriebsparteien eingeräumt hat. Die Annahme einer gewohnheitsrechtliehen Derogation des § 77 III BetrVG würde außerdem zu dem unhaltbaren Ergebnis führen, daß die Betriebsparteien, denen die Rechtsnorm eine Verpflichtung auferlegt, durch ständige Nichtbeachtung der Norm dieselbe zu Lasten der Schutzadressaten, der Gewerkschaften, in ihrer Wirkung beseitigen könnten. Dennoch, auch ohne das Rechtsinstitut der Derogation könnte man in Anwendung der für die individuelle Unterschreitung des Tarifniveaus herausgearbeiteten Grundsätze die Unterschreitung tariflicher (Lohn-) Vorgaben durch Betriebsvereinbarungen mittels des Günstigkeilsprinzips rechtfertigen: tarifwidrige Lohnkürzungen mittels Betriebsvereinbarungen könnte man als günstiger bewerten, sofern dadurch drohende Entlassungen vermieden werden. Voraussetzung hierfür wäre die Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzip im Rahmen des § 77 ITI BetrVG.

I. Anwendung des Günstigkeitsprinzips auch im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung Vielfach ist man der Auffassung, daß der Günstigkeilsgedanke aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Verankerung 14 den Vorrang einer günstigeren Betriebsvereinbarung vor der entsprechenden tarifvertragliehen Regelung begründe 15 , solange sie als günstiger für den Arbeitnehmer anzusehen sei. Auch die Betriebsvereinbarung sei eine "Abmachung" i. S. d. § 4 III TVG. 16 Der Wortlaut des § 4 V TVG ("zugunsten des Arbeitnehmers") schließe eine Anwendung des Günstigkeilsprinzips auf Betriebsvereinbarungen nicht aus. Konsequenz einer solchen Wortlautdeutung wäre nämlich, daß bei einer Formulierung "zugunsten der Arbeitnehmer" der nicht hinnehmbare 13 BAG NZA 1999, S. 887 ff.; vgl. die Kritik gegenüber diesem vom BAG eingeräumten Unterlassungsanspruch von Löwisch BB 1999, S. 2080 ff. und Thüsing DB 1999, S. 1552 ff. 14 Überwiegend wird das Günstigkeitsprinzip als verfassungsrechtlich garantierter Ausgleich zwischen den Koalitionsrechten aus Art 9. III GG und den individuellen Rechten aus Art. 2 I GG gesehen, vgl. hierzu Ehmann/Schmidt, NZA 1995, S. 193 (195) mit ausführlichen Literaturnachweisen in Fn. 16. 15 Müller, AuR 1993, S. 257 (261); Löwisch/Rieble,TVG, § 4 Rdn. 161; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 64, § 4 Rdn. 227; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 199. 16 Münch ArR Hb. - Löwisch, § 265 Rdn. 8; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. ll9; G. Müller, Tarifautonomie, S. 216; Fischer, Die tarifwidrige Betriebsvereinbarung, S. 114.

I. Anwendung des Günstigkeilsprinzips

125

Umkehrschluß zu ziehen sei, daß zwar günstigere Betriebsvereinbarungen, jedoch keine günstigeren Einzelabreden zulässig wären. 17 Auch für Blomeyer ist das Günstigkeilsprinzip aus der durch Art. 2 I GG garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit und somit verfassungsrechtlich abzuleiten. Im Arbeitsrecht solle es die Vertragsfreiheit dort wiederherstellen, wo sie durch unabdingbare Bestimmungen zugunsten der Arbeitnehmer beschränkt werde. 18 Ist das Günstigkeilsprinzip Ausfluß der verfassungsrechtlich geschützten individuellen Selbstbestimmung, so sei eine Ausdehnung des Günstigkeilsprinzips auf die Betriebsvereinbarung nur dann nicht zulässig, wenn man die Betriebsautonomie als Fremdbestimmungsordnung ansehe. Die Betriebsvereinbarung wirke jedoch nicht fremdbestimmend für den Arbeitnehmer, sondern sei Ausfluß seiner Selbstbestimmung, weil sie das einseitige Diktat des Arbeitgebers durch die Mitbestimmung sozialverträglich gestalte. 19 Da die Betriebsvereinbarung aus Gründen der rechtstechnischen Vereinfachung20 anstatt einer vertraglichen Einheitsregelung erginge, sei sie funktional gesehen als "Quasivertrag" dem Vertragsrecht und nur formell der innerbetrieblichen Rechtssetzung zuzuordnen. Die Betriebsvereinbarung sei somit durch Art. 2 I GG verfassungsrechtlich abgesichert. Da der Tarifvertrag die durch Art. 2 I GG geschützte Vertragsfreiheit bei einer Störung der Vertragsparität schützen solle, müsse das Günstigkeilsprinzip auch im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag zur Anwendung gelangen, wenn ein Ungleichgewicht der Arbeitsvertragspartner nicht zu erkennen sei? 1 Für Ehmann/Schmidt ist die Anwendung des Günstigkeilsprinzips auf Betriebsvereinbarungen aufgrund historischer, systematischer und teleologischer Kriterien geboten. 22 Sowohl in der Zeit der TVO von 1918 als auch in der Zeit des Arbeitsordnungsgesetzes habe die herrschende Lehre und die Rechtsprechung das Spannungsverhältnis von Tarifvorbehalt und Günstigkeilsprinzip zugunsten der Zulässigkeil von begünstigenden Betriebsvereinbarungen gelöst. Aus der systematischen Zuordnung des § 77 III BetrVG zu § 4 III TVG lasse sich eine Iex specialis - Qualität des § 77 III BetrVG - wie so oft behauptet23 - nicht begründen, da sich die beiden Vorschriften schon in Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 118 f. Blomeyer, NZA 1996, S. 337 (338). 19 Blomeyer a. a. 0., S. 345 unter Hinweis auf Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, S. 545, für den die Betriebsvereinbarung als "Quasivertrag" anzusehen ist, weil sie den qualitativen Sprung von der vertraglichen Einheitsregelung zur betrieblichen Norm aus Gründen rechtstechnischer Vereinfachung wage. 2o So Reichold a. a. 0. 21 Blomeyer a. a. 0., unter Hinweis auf Reichold a. a. 0. 22 Ehmann/Schmidt a.a.O., S. 199. 17 18

I 26

C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips

ihren tatbestandliehen Voraussetzungen nicht überschneiden würden. § 4 I, lli TVG regele allein das Verhältnis von Tarifvertrag und Individualarbeits-

vertrag. "Abweichende Vereinbarungen" könnten folglich auch nur Individualvereinbarungen sein. Die Zulässigkeit begünstigender Betriebsvereinbarungen folge daher zwar nicht aufgrund gesetzlicher Anordnung nach § 4 lli TVG, weshalb ein Spezialitätsverhältnis zu § 77 lli BertrVG ausscheide, jedoch aufgrund der verfassungsrechtlich gebotenen generellen Anwendung des Günstigkeitsprinzips im kollektiven Arbeitsrecht. Auch aus teleologischen Gesichtspunkten lasse sich ein Ausschluß des Günstigkeitsprinzips zum Schutz der Tarifautonomie nicht begründen, da seit jeher in der Praxis abweichende Betriebsvereinbarungen geschlossen würden und dies zu keinem nachweisbaren Schaden für die Tarifautonomie geführt habe?4 Auch für von Langen ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Günstigkeitsprinzips, zum Schutz der Arbeitnehmer möglichst vorteilhafte Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Betriebsvereinbarungen geboten. Das in § 4 lli TVG verankerte individuelle Günstigkeilsprinzip werde dadurch nicht beeinträchtigt, vielmehr werde durch den zusätzlichen kollektiven Günstigkeitsvergleich der Arbeitnehmerschutz erweitert.25 Für ihn ist es deshalb möglich, daß durch Betriebsvereinbarungen tarifvertragliche Regelungen der Arbeitszeiten abbedungen werden, da dies durchaus günstiger für den Arbeitnehmer sein könne, wenn dieser z. B. das damit verbundene Entgelt dem tariflich zugesicherten Mehr an Freizeit vorziehe?6 Von Langen geht sogar soweit, daß er es für zulässig erachtet, wenn tariflich vereinbarte Löhne durch Betriebsvereinbarungen gesenkt werden, um dadurch den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Unternehmens abzuwenden.

II. Bewertung/keine Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung Im Gegensatz zu § 4 TVG sieht § 77 BetrVG keine Durchbrechung der Tarifbindung im Falle der Günstigkeit vor. Zur Anwendung des Günstigkeitsprinzips bei Kollision zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag kann man deshalb nur im Wege der analogen Anwendung des § 4 lli TVG 23 24 25

26

So Helling a. a. 0., S. 158. Ehmann/Schmidt a. a.O., S. 199 f. von Langen, Von der Tarif- zur Betriebsautonomie, S. 120. von Langen a.a.O., S. 127.

li. Bewertung/keine Anwendung des Günstigkeitsprinzips

127

oder der Anerkennung des Günstigkeitsprinzips als allgemeinen Rechtssatz des kollektiven Arbeitsrechts gelangen, der einer positivrechtlichen Regelung nicht bedarf.

1. Analoge Anwendung des § 4 111 TVG Erste Voraussetzung einer analogen Gesetzesanwendung, d. h. die Anwendung einer Rechtsnorm über ihren ausdrücklich festgelegten Inhalt hinaus auf weitere ähnlich liegende Fälle27 , ist das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke. 28 Es darf nicht im Plane der Regelungsabsicht des Gesetzgebers gelegen haben, der ähnlich gelagerten Rechtssituation keine Rechtsfolge zuzuordnen, wobei der dem Gesetz zugrundeliegende Regelungsplan unter historischen Aspekten zu ermitteln ist. 29 Eine analoge Anwendung des § 4 III TVG im Rahmen des Tarifvorranges nach § 77 III BetrVG scheitert jedoch bereits an dieser ersten Hürde. Wie sich aus folgendem ergibt, hat der Gesetzgeber bewußt keine § 4 III TVG entsprechende Regelung in § 77 III BetrVG aufgenommen, so daß die erforderliche planwidrige Regelungslücke nicht gegeben ist: Die Diskussion um die Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips bei Kollision kollektiver Regelungen gab es schon zu Zeiten der TVO von 1918. Der Tarifvorbehalt wurde damals in den §§ 13 I Satz 3 TV030 und 78 Ziff. 2 BRG festgelegt?' Zwischen den Gelehrten entbrannte schon damals die Diskussion, ob der durch die genannten Vorschriften begründete Tarifvorrang absolut gelte oder durch das Günstigkeitsprinzip eingeschränkt werde. Als Verfechter eines ausnahmslosen Tarifvorranges traten vehement Flatow32und Dersch33 auf; für eine Durchbrechung des Tarifvorranges durch das Günstigkeitsprinzip machten sich insbesondere Hueck34 , Jacobi35, Sinzheimer36 und Nipperdel 1 stark. Das RAG38 entschied sich Schmalz, Methodenlehre, Rdn. 389. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 194; Schmalz, Methodenlehre, Rdn. 385. 29 Larenz/Canaris a.a.O. 30 § 13 I Satz 3 TVO: "Soweit eine tarifliche Regelung nicht besteht, haben die Ausschüsse bei der Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsverhältnissen mitzuwirken". 31 § 78 BRG: " ... Der Betriebsrat hat die Aufgabe ... Ziff. 2: soweit eine tarifliche Regelung nicht besteht, bei der Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsverhältnissen mitzuwirken". 32 Flatow, Betriebsvereinbarung und Arbeitszeitordnung, S. 55. 33 Dersch, Die neue Schlichtungsverordnung, S. 26. 34 Hueck, NZfA 1923, Sp. 87 (96 ff.); derselbe NZfA 1926, Sp. 385 (403). 35 Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 232 i. v.m. 358 mit auführlichem Literaturnachweis in Fn. 9 auf S. 358. 27

28

128 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeilsprinzips

zunächst mehrfach gegen die Zulässigkeit günstigerer Betriebsvereinbarungen, kehrte jedoch zu Zeiten des AOG von dieser Rechtsprechung ab39. Diese Diskussion um die Wirksamkeit begünstigender betrieblicher Kollektivnormen war auch den Vätern des TVG bekannt. So legte z. B. Abs. 3 des Lemgoer Entwurfes40 vom März 1948 fest: "Abs.l und 2 gelten entsprechend für das Verhältnis von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung",41

wobei nach Abs. 1 vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen zulässig sein sollten, "soweit sie . . . eine Änderung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten." Günstigere Betriebsvereinbarungen sollten danach also zulässig sein. Ebenso der Entwurf des Arbeitsrechtsausschusses des Länderrats vom Juli 1948 (Stuttgarter Entwurf), der in § 3 Abs. 5 eine entsprechende Anwendung des Günstigkeitsprinzips für das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung vorsah. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1948 forderte Nipperdel2 für das TVG: 11. "Der Tarifvertrag geht der Betriebsvereinbarung (in dem zu 10. erwähnten Umfang) vor", wobei er sich unter Ziffer 10. für das Günstigkeilsprinzip im Verhältnis zwischen Individualabrede und Tarifvertrag aussprach.

In Kenntnis dieser zahlreichen Ansichten aus Rechtsprechung, Literatur und Ausschüssen entschied sich der Gesetzgeber gegen eine Normierung des Günstigkeitsprinzips für das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung. Dieser gesetzgebensehe Wille wurde durch Schaffung des BetrVG 1972 bestätigt: Die jahrzehntelang geführte Diskussion über Günstigkeitsprinzip und Tarifvorrang war auch zu Zeiten des BetrVG 1952 noch voll im Gange. Das BAG erachtete damals günstigere Betriebsvereinbarungen für wirksam, sofern keine Tarifüblichkeit vorlag43 • Dem schlossen sich Hueck/Nipperdey/Tophoven 44 , Nikisch 45 und Dietl6 an, Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 240. Nipperdey, Anmerkung zu RAG BensheimS. Bd. 1 Nr. 42, S. 132. 38 RAG BensheimS. Bd 1 Nr. 42, S. 132 (135), Bd. 2 Nr. 4, S. 15 (17). 39 RAG BensheimS. Bd. 31 Nr. 9, S. 44 (45); Bd. 31 Nr. 60, S. 347 (352 f.). 40 Zum Lemgoer Entwurf s.o. B. II. 3. 41 Vgl. Materialien zur Entstehungsgeschichte des TVG vom 9. 4. 1949, ZfA 1973, S. 130 ff. ohne Angabe des Verfassers. 42 Nipperdey, BB 1948, S. 157 (160). 43 BAGE 7, 340 (346), BAGE 19, 181 (186). 44 Hueck/Nipperdey/Tophoven, TVG, 4. Auflage 1964, § 4 Rdn. 183. 45 Nikisch Bd. III, S. 259. 46 Dietz, RdA 1955, S. 241 (242). 36

37

II. Bewertung/keine Anwendung des Günstigkeilsprinzips

129

während z. B. Maus47, Höcker48 und Zöllner49 für einen ausschließlichen Tarifvorrang eintraten. Auf die Wiedergabe der einzelnen Argumente soll an dieser Stelle verzichtet werden, da nur deutlich gemacht werden soll, daß die genannte Diskussion bis zur Neuregelung des BetrVG im Jahre 1972 fortbestand. Der Gesetzgeber hätte nun also die Möglichkeit gehabt, diesen Streit durch Aufnahme einer § 4 III TVG entsprechenden Regelung in § 77 BetrVG ein für allemal zu beenden. Dies hat er jedoch nicht getan, obwohl die Vorschrift des § 77 BetrVG im übrigen deutlich an § 4 TVG angelehnt ist.50 Anstatt den Tarifvorrang durch das Günstigkeilsprinzip zu lockern, hat er denselben noch verstärkt, indem er diesen neben der Tarifüblichkeil um die tatsächliche tarifliche Regelung erweitert hat. Dies spricht für eine bewußte Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine Beschränkung des Tarifvorranges durch das Günstigkeitsprinzip. Eine analoge Anwendung des § 4 III TVG für das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung scheidet somit mangels planwidriger Regelungslücke aus.

2. Günstigkeitsprinzip als allgemeines Rechtsprinzip des Arbeitsrechts Zu klären bleibt die Frage, ob das Günstigkeilsprinzip als allgemeiner Grundsatz des Arbeitsrechts unabhängig von positivrechtlichen Regelungen im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung anwendbar ist. Ausdrücklich hat dies der GS in seiner Entscheidung vom 16.9. 1989 für das Verhältnis der Einzelabrede zur Betriebsvereinbarung festgestellt51 : ,,Als allgemeiner Grundsatz gilt das Günstigkeilsprinzip auch für das Verhältnis von Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung zu günstigeren vertraglichen Abreden."

a) Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis der Betriebsvereinbarung zur Einzelabrede

Der Feststellung des GS, daß das Günstigkeilsprinzip im Verhältnis der Einzelabrede zur Betriebsvereinbarung anzuwenden sei, wurde im Schrifttum richtigerweise zugestimmt52. Hier steht im Gegensatz zur Kollision Maus, TVG, § 4 Rdn. 89. Höcker, RdA 1956, S. 17 (17). 49 Zöllner in FS Nipperdey Bd. II, S. 699 (705). 50 Nach den Gesetzesmaterialien sollten sich die in den Abs. 4-6 des § 77 BetrVG getroffenen Regelungen an§ 4 TVG anlehnen. Vgl. BT-Drucks. VI 1786. st BAG GS NZA 1987, S. 168 (172). 47

48

9 Freihube

130 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips

von Betnebsvereinbarung und Tarifvertrag der Sinn und Zweck des Günstigkeilsprinzips seiner Anwendung nicht entgegen: Oben wurde dargelegt, daß das Günstigkeilsprinzip individuellen Charakters ist, daß ihm die Aufgabe zukommt, die kollektive von der individuellen Autonomie abzugrenzen. Wenn der Arbeitsvertrag wegen Imparität zwischen den Vertragsparteien nicht mehr in der Lage ist, eine Vertragsgerechtigkeit herzustellen, soll die Verbandsmacht unterstützend zur Seite stehen. Durch § 4 III TVG wird dem einzelnen Arbeitnehmer die Möglichkeit gelassen, sein Arbeitsverhältnis wieder selbst zu gestalten, wenn er durch direkte Verhandlung mit dem Arbeitgeber im Vergleich zum Tarifvertrag günstigere Arbeitsbedingungen aushandeln kann und deshalb die Hilfe der Gewerkschaft nicht mehr in Anspruch nehmen will. § 4 III TVG gewährleistet, daß der Schutz des Arbeitnehmers durch die Kollektivmacht nicht in eine ungewollte Bevormundung umschlägt, er dient dem "Schutz vor den Beschützem".53 Der beschriebene individuelle Charakter des Günstigkeitsprinzips, der eine kollektivfreie Individualsphäre garantieren, also den einzelnen schützen soll, entspricht auch dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzgedanken, der sich in zahlreichen Gesetzen, wie z. B. dem MutterschutzG, dem KSchG, SchwbG u.s.w., wiederfindet. Auch hier ist Schutzobjekt stets das Individuum und nicht das Kollektiv. Die Bevormundungsgefahr durch das Kollektiv liegt nicht nur dem Verhältnis der Einzelabrede zum Tarifvertrag, sondern auch dem Verhältnis der Einzelabrede zur Betriebsvereinbarung zugrunde. Auch die Betriebsvereinbarung ist wie der Tarifvertrag ein Vertrag über Arbeitsbedingungen, die normativ fixiert werden und für eine Vielzahl von Arbeitsbedingungen unmittelbar und zwingend gelten. Die Betriebsvereinbarung ist wie der Tarifvertrag eine kollektive Rechtsnorm, die in erster Linie den Arbeitnehmerschutz bezweckt, indem ein zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vermutetes Machtgefälle durch Kollektivierung ausgeglichen werden soll.54 Auch hier gilt es, durch das Günstigkeilsprinzip zu vermeiden, daß der verfolgte Schutz des Arbeitnehmers in seine Bevormundung umschlägt. Der Betriebsrat könnte ebenfalls in übereifriger Ausübung seines Mandats seinen ursprünglichen Auftrag, den Arbeitnehmer zu schützen, ins Gegenteil verkehren, indem er gegen den Willen des einzelnen Arbeitnehmers Arbeitsbedingungen durchsetzt, die der einzelne Arbeitnehmer als nachteilig empfindet. Auch hier muß deshalb das Günstigkeilsprinzip sicherstellen, 52 Richardi, NZA 1987, S. 185 (187); Tech a. a.O., S. 179; Krauss, a.a.O., S. 157; Buchner, DB 1985, S. 913 (921); Galperin/Löwisch BtrVG, § 77 Rdn. 94; a.A. Leinemann, DB 1990, S. 732 (737); kritisch auch Joost RdA 1989, S. 7 (15). 53 Joost, ZfA 1984, S. 173 (175). 54 W. Gast, Tarifautonomie und die Normsetzung durch Betriebsvereinbarung, s. 9.

II. Bewertung/keine Anwendung des Günstigkeitsprinzips

131

daß der Arbeitnehmer durch Einzelvertrag von der Betriebsvereinbarung abweichen kann, wenn dies günstiger für ihn ist. b) Keine Anwendung des Günstigkeilsprinzips im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung Bei der Frage nach der Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Fall der Regelungskollision zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag ist zunächst einmal der Sinn und Zweck des § 77 111 BetrVG zu beachten, der darin besteht, eine Überschneidung der Tätigkeiten von Betriebsrat und Gewerkschaften zu vermeiden. § 77 III BetrVG kommt eine zuständigkeitsbegrenzende Funktion zu, durch die vermieden werden soll, daß die Betriebsräte als eine Art "Ersatzkoalitionen" "Ersatztarifverträge" schließen, womit sie die Gewerkschaften in ihrer Bedeutung und somit in ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabenerfüllung erheblich gefährden könnten.55 Es ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber deshalb bewußt eine dem § 4 III TVG entsprechende Regelung ausgelassen hat, da eine solche Konkurrenz gerade durch Abschluß günstigerer Betriebsvereinbarungen gefördert würde. Entscheidend ist jedoch, daß dem Aufeinandertreffen von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung eine ganz andere Interessenlage zugrunde liegt, als dies bei der Regelungskollision von Einzel- und Tarifvertrag der Fall ist. Hier treffen zwei kollektive Regelungen aufeinander. Eine Abgrenzung zwischen Kollektiv- und Individualinteresse, die das Günstigkeitsprinzip bewirken soll, ist hier nicht möglich, da die Günstigkeit einer Betriebsvereinbarung gerade nicht durch das Individualinteresse, sondern nur durch das kollektive Belegschaftsinteresse bestimmt werden kann. Im Fall einer kollektiven Günstigkeitsbeurteilung würde aber von dem individuellen Charakter des Günstigkeitsprinzips nicht mehr viel übrig bleiben. Es wurde nachgewiesen, daß die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien bei einer Regelungskollision mit einer individuellen Vereinbarung von Verfassung wegen zurückzutreten hat, wenn der Betreffende sie für günstiger befindet. Dies kann im Verhältnis von Tarifvertrag zur Betriebsvereinbarung von vomherein nicht der Fall sein, weil die betriebliche Normsetzungskompetenz gegenüber der tariflichen wesentlich reduziert ist. Der einen kommt durch Art. 9 III GG Verfassungsrang zu, die andere ist durch das Betriebsverfassungsgesetz nur einfachgesetzlich normiert. 56 Zu einer 55 Vgl. hierzu Richardi, BetrVG, § 77 Rdn. 228; Belling a.a.O; BAG AP Nr. 13 zu§ 118 BetrVG 1972; Nr. 3 zu§ 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, Nr. 51 zu§ 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung sowie die amtliche Begründung BT-Drs. 111546, S. 55. 56 Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 157. 9*

132 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeilsprinzips

Kollision anscheinend gleichrangiger Rechtsbefugnisse, die über das Günstigkeitsprinzip in Ausgleich zu bringen sind, wie dies bei dem zu der tariflichen Regelung im Widerspruch stehenden Individualwillen der Fall ist, kommt es erst gar nicht. aa) Der kollektive Günstigkeitsvergleich des Großen Senats

Ungeachtet dieses heute allgemein anerkannten individuellen Verständnisses des Günstigkeitsprinzips57 hat der GS mit seiner Entscheidung vom 16.9.1986 den "kollektiven Günstigkeitsvergleich" ins Leben gerufen. 58 Hier betrachtete der GS eine ablösende Betriebsvereinbarung, mit der durch Gesamtzusage vertraglich begründete Ansprüche auf Sozialleistungen beschränkt werden sollten, ·als wirksam, wenn die ablösende Betriebsvereinbarung bei kollektiver Betrachtung günstiger für die Belegschaft sei. Dies sei dann der Fall, wenn die Neuregelung nur umstrukturierenden Charakter habe, weil die Gesamtleistung des Arbeitgebers gleich bleibt oder sich erhöht.59 Die Zulässigkeit dieses kollektiven Günstigkeitsvergleichs begründete der GS damit, daß die Gesamtzusage einer generellen Regelung durch eine Vielzahl abgestimmter Vertragsabsprachen Geltung verschaffe, die vertraglichen Ansprüche also kollektiven Bezug hätten. Dieser kollektive Bezug verbiete es, individuelle Maßstäbe für die Günstigkeitsbeurteilung heranzuziehen. 60 Unter Anwendung dieses kollektiven Günstigkeitsvergleichs des GS scheint die Anwendung des Günstigkeitsprinzips auch im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag keine Schwierigkeiten zu bereiten, da plötzlich die kollektive Günstigkeitsbestimmung bezgl. der Betriebsvereinbarung möglich ist. Indes weist der GS gleich zu Beginn seiner Entscheidung daraufhin, daß die vorgelegte Frage nur Ansprüche des Arbeitnehmers auf soziale Leistungen des Arbeitgebers betreffe.61 Bei solchen Leistungen spielten weder die persönliche Situation noch die besonderen Verdienste des Arbeitnehmers eine Rolle. Soziale Leistungen seien nicht auf individuelle Rechtsbeziehungen des einzelnen Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber zurückzuführen, sondern beträfen nur generelle Verteilungsmaßstäbe.62 57 58

59 60 61 62

s.o. B. IV. 1. BAG GS NZA 1987, S. 168 ff. BAG GS a. a. 0., S. 174. BAG GS a. a. 0. BAG GS a. a. 0., S. 169. BAG GS a.a.O., S. 173 f.

II. Bewertung/keine Anwendung des Günstigkeitsprinzips

133

Der GS beschränkt den Anwendungsbereich des kollektiven Günstigkeilsvergleichs somit von vornherein auf den Bereich der Sozialleistungen, die im Unterschied zu anderen Arbeitsbedingungen nicht durch die individuelle Situation des Arbeitnehmers geprägt seien. Konsequenterweise lehnte der GS in seiner Entscheidung vom 7.11. 1989 die Anwendung des kollektiven Günstigkeilsvergleichs bezüglich der Änderung vertraglicher Altersgrenzen durch Betriebsvereinbarung ab.63 Richtigerweise kommt deshalb die kollektive Günstigkeilsbestimmung des GS für die hier gestellte Frage nach der Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung, die durch Unterschreitung tariflicher Lohn- und Arbeitszeitvorgaben Arbeitsplätze sichern soll, nicht in Betracht. bb) Unzulässige Umfunktionierung des Günstigkeilsprinzips mittels des kollektiven Günstigkeilsvergleichs

Eine Unterschreitung tariflicher Vorgaben durch Betriebsvereinbarung mit dem Günstigkeilsprinzip zu rechtfertigen, würde in besonderer Weise dem gebotenen individuellen Günstigkeilsverständnis widersprechen: Wenn man im Zusammenhang mit der Beurteilungsperspektive allein auf das Individualinteresse abzustellen hat, so muß konsequenterweise auch die Zulässigkeil von angeblich günstigeren Betriebsvereinbarungen verneint werden, 64 zumindest für solche Abweichungen, die nicht eindeutig als günstiger zu bewerten sind und für die deshalb keine Kongruenz zwischen Belegschaftsund Individualinteresse von vornherein anzunehmen ist. Bei Lohnverringerungen, Arbeitszeitverkürzungen mit oder ohne Lohnausgleich ist dies nicht der Fall. Hinsichtlich der Beurteilung der Günstig- bzw. Notwendigkeit der Tarifunterschreitung wird in der Regel keine ausnahmslos übereinstimmende Meinung im Betrieb herrschen, auch wenn in der Praxis eine zunehmende Bereitschaft unter den Belegschaften festzustellen ist, in der wirtschaftlichen Not des Unternehmens auf tarifliche Rechte zu verzichten. 65 Wenn man, wie hier vertreten, schon so weit geht und eine Unterschreitung des Tarifniveaus - auch hinsichtlich der Löhne - gern. § 4 III TVG individualrechtlich zuläßt, dann geschieht dies nur deshalb, weil man den Arbeitnehmer für mündig genug hält, seine Entscheidung und deren Tragweite ausreichend einschätzen zu können. Dies entspricht dem VerfassungsBAG GS DB 1990, S. 1724 ( 1726). Wlotzke argumentiert auch insoweit widersprüchlich, wenn er bei der Beurteilung der Günstigkeit auf das Wohl des einzelnen Arbeitnehmers abstellen will, weil dieses "ausschließlich einen individualrechtliehen Charakter habe" (a. a. 0 . S. 77), später aber die Abweichung von begünstigenden Betriebsvereinbarungen befürwortet, die aber einen kollektiven Günstigkeitsvergleich voraussetzten (a. a. 0 . S. 118 f.). 65 s.o. VI. 4 . e) bb) (3) (a), S. 99. 63

64

134 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips

bild von einem freien, mündigen Individuum, konkretisiert durch Art. 2 I GG und den speziellen Freiheitsrechten nach Art. 12, 14 GG. Bei Lohnverringerungen gegen Beschäftigungsgarantie wird es immer einzelne geben, die keine Notwendigkeit in der Aufgabe ihrer tariflichen Rechte sehen. Auch dies ist aufgrund des Selbstbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer zu respektieren. Es würde ihrem Selbstbestimmungsrecht nicht dienen, sondern es in unzulässiger Weise verletzen, wenn der Betriebsrat sich über die ablehnende Entscheidung der Arbeitnehmer hinsichtlich Lohneinbußen mit dem Argument der Günstigkeit hinwegsetzen könnte. Welchen Unterschied macht es, wenn der Arbeitnehmer anstatt durch Tarifvertrag durch eine Betriebsvereinbarung in eine von ihm ungeliebte Regelung gedrängt wird? Allein die eigene, autonome Entscheidung verdient die Bezeichnung Selbstbestimmung, nicht jedoch die bevormundende des Betriebsrates. Es ist deshalb nicht richtig, wenn Blomeyer eine Abweichung vom Tarifvertrag durch Betriebsvereinbarung als Ausübung der arbeitnehmensehen Selbstbestimmung gern. Art. 2 I GG ansieht, um sie somit dem Günstigkeitsprinzip zuordnen zu können. Sicherlich wird der Betriebsrat durch die Arbeitnehmer gewählt, die Ausübung des Wahlrechts unterfällt der Selbstbestimmung. Eine solche Legitimation ist aber wesentlich geringer zu bewerten und nicht zu vergleichen mit derjenigen, die die Gewerkschaften durch den Eintritt des Arbeitnehmers in die Koalition erfahren. Hier ist die Mitgliedschaft freiwillig im Gegensatz zur Einbindung in den Belegschaftsverband.66 Die tariflichen Regelungen stehen dem Gedanken der Privatautonomie deshalb näher als die betriebsverfassungsrechtlichen, denen sich der Arbeitnehmer nur durch einen Arbeitsplatzwechsel entziehen kann. Der Betriebsrat verwirklicht deshalb in erster Linie die Betriebsautonomie und nicht die Privatautonomie. Festzuhalten bleibt, daß der Vergleich der zwei kollektiven Regelungen, Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag, im Rahmen des Günstigkeilsprinzips dessen Sinn und Zweck widerspricht. Das Günstigkeilsprinzip soll nämlich keine Abgrenzung zweier kollektiver Regelungen bewirken, in der der einzelne nur mittelbar beteiligt wird, sondern vielmehr die Gewichtung zwischen der kollektiven Privatautonomie nach Art. 9 III GG und der individuellen Privatautonomie nach Art. 12 GG vornehmen. Der kollektive Günstigkeilsvergleich ist nicht nur im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung, sondern generell abzulehnen. Unzulässig ist somit auch die Beschränkung von Arbeitnehmeransprüchen 66

Rieble, RdA 1996, S. 151 (152); Walker, ZfA 1996, S. 353 (373).

III. Umdeutung einer unwirksamen Betriebsvereinbarung

135

mittels Betriebsvereinbarung, selbst wenn die Ansprüche auf einer Gesamtzusage beruhen und die Belegschaft insgesamt nach kollektivem Günstigkeitsvergleich besser gestellt ist. Hält man sich die unter B) getroffenen Äußerungen und das Ergebnis, zu dem der kollektive Günstigkeitsvergleich in der genannten Entscheidung des GS letztlich führt, vor Augen, scheint der kollektive Günstigkeitsvergleich einen Wertungswiderspruch in sich zu tragen: Auch die auf einer Gesamtzusage beruhenden Arbeitnehmeransprüche sind vertragliche Ansprüche, die sich von individualvertraglich begründeten Ansprüchen nicht unterscheiden und daher nicht den kollektivrechtlichen Gestaltungsmitteln zuzuordnen sind. Dies hat der GS selbst ausdrücklich festgelegt67 . Nun sind im Ergebnis diese (individual)-vertraglich begründeten Ansprüche abänderbar zuungunsten des einzelnen Arbeitnehmers - mittels des Günstigkeitsprinzips - durch die kollektive Regelung Betriebsvereinbarung, wenn dies zugunsten des Kollektivs (der Belegschaft) erfolgt. Durch eine solche Anwendung des Günstigkeitsprinzips wird dessen Sinn und Zweck ins völlige Gegenteil verkehrt. Der Einzelvertrag und die durch ihn begründeten Ansprüche werden durch eine kollektive Regelung zurückgedrängt, wenn dies günstiger für das Kollektiv ist. Das Günstigkeitsprinzip wirkt somit in funktionswidriger Weise als Eingriffsermächtigung für die Beschneidung individueller Rechtspositionen durch das Kollektiv, anstatt dieses zum Schutz der individuellen Vertragsautonomie und individueller Rechte zurückzudrängen, was die eigentliche Aufgabe dieses Rechtsprinzips ist. Der kollektive Günstigkeitsvergleich ist deshalb insgesamt abzulehnen.

111. Umdeutung einer unwirksamen "beschäftigungssichernden" Betriebsvereinbarung gern. § 140 BGB Gelangt man nach dem oben Gesagten zu dem Ergebnis, daß einer "beschäftigungssichernden", tarifunterschreitenden Betriebsvereinbarung mittels des Günstigkeilsprinzips nicht zur Wirksamkeit verholfen werden kann, stellt sich die Frage, ob der mit der Betriebsvereinbarung verfolgte Zweck dennoch durch Umdeutung gern. § 140 BGB erreicht werden kann.

67

BAG GS a.a.O., S. 171.

136

C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Gönstigkeitsprinzips

1. Umdeutung der nichtigen Betriebsvereinbarung in entsprechende Angebote bzw. Annahmen hinsichtlich eines Einzelarbeitsvertrages Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung68, erstmals mit der Entscheidung vom 23.08.198969, die Umdeutung einer nach § 77 III BetrVG nichtigen Betriebsvereinbarung, mittels der der Arbeitgeber Lohn- und Gehaltserhöhungen regeln wollte, in entsprechende Angebote an die Arbeitnehmer umgedeutet. Diese Angebote, so das BAG, könnten die Arbeitnehmer gern. § 151 BGB annehmen. In Betracht kommt deshalb, die wegen ihrer Kompetenzwidrigkeit nichtigen beschäftigungssichernden Betriebsvereinbarungen gern. § 140 BGB in entsprechende einzelvertragliche Angebote des Arbeitgebers umzudeuten. Die genannte Rechtsprechung des BAG ist jedoch erheblichen Bedenken ausgesetzt: Angreifbar ist diese Rechtsprechung vor allem deshalb, weil sie zu einem Wechsel der Vertragspartner führt. Nicht mehr Betriebsrat und Arbeitgeber sind Kontrahenten, wie dies vor der Umdeutung der Fall war, sondern der Arbeitgeber und die einzelnen Arbeitnehmer. Der zuvor beteiligte Betriebsrat wird im Ergebnis aus dem nichtigen Rechtsgeschäft herausgedrängt, obwohl der Sinn und Zweck des § 140 BGB darin besteht, den erstrebten Erfolg der am gescheiterten Geschäft beteiligten Personen zu sichern.70 Die Anwendung des § 140 BGB kann nicht dazu führen, daß ein nichtiges Rechtsgeschäft mit einer Person in ein wirksames Rechtsgeschäft mit einer anderen Person umgedeutet wird.71 Andernfalls würde man den § 140 BGB zugrundeliegenden Gedanken, den Willen der Vertragsschließenden soweit es geht zu verwirklichen, ins völlige Gegenteil verkehren. Ein Vertragspartner würde entgegen seinem durch Abschluß des nichtigen Rechtsgeschäfts geäußerten Rechtsbindungswillen aus dem Vertrag "herauskatapultiert". Hinzu kommt, daß Voraussetzung der Konversion ist, daß das Ersatzgeschäft in dem nichtigen Rechtsgeschäft enthalten ist. 72 Auch wenn man sich über die Begrifflichkeit des .,Enthaltenseins" streitet73 , so ist unbestritten, daß die Rechtswirkungen des Ersatzgeschäftes nicht über die Rechts68 BAG EzA § 140 BGB Nr. 16; EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 55; EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 58. 69 BAG EzA § 140 BGB Nr. 16. 1o Vgl. nur MönchKomm - Mayer-Maly, § 140 Rdn. 1 f. 71 Staudinger - Dilcher, § 140 Rdn. 7 m. w. N.; Fischer, Anmerkung zu BAG EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 55. 72 BGHZ 19, 269 (275); 20, 363 (370). 73 Vgl. dazu MönchKomm- Mayer-Maly, § 140 Rdn. 13.

III. Umdeutung einer unwirksamen Betriebsvereinbarung

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wirkungen des nichtigen Rechtsgeschäftes hinausschießen dürfen. Ersatzund nichtiges Rechtsgeschäft müssen im wesentlichen gleichartig sein. 74 Führt die Umdeutung zu einem Parteiwechsel, so sind die Voraussetzungen des "Enthaltenseins" bzw. der "Gleichartigkeit" nicht mehr gegeben. Ein mit § 140 BGB unvereinbares "Plus"75 an Rechtswirkung ist weiterhin darin zu sehen, daß die einzelvertragliche Verpflichtung des Arbeitgebers zu einer stärkeren Rechtsbindung desselben im Vergleich zu seiner Leistungsverpflichtung aufgrund der Beriebsvereinbarung führt. Letztere kann unter Einhaltung der Dreimonatsfrist des § 77 V BetrVG jederzeit ohne Angabe von Gründen gekündigt werden. Gegen individualvertragliche (Lohn-) Ansprüche des Arbeitnehmers kann der Arbeitgeber jedoch nur unter den strengen Voraussetzungen der Änderungskündigung vorgehen. 76 Selbst wenn die ordentliche Kündbarkeit der Betriebsvereinbarung durch die Betriebsparteien ausgeschlossen ist, so ist die immer noch mögliche außerordentliche Kündigung der Betriebsvereinbarung einfacher als die außerordentliche Änderungskündigung des Einzelarbeitsvertrages.77 Besonders deutlich wird die Unvereinbarkeit der "Umdeutungsrechtsprechung" des BAG mit § 140 BGB, wenn das Gericht durch Anwendung des § 151 BGB den Annahmewillen der Arbeitnehmer unterstellt: "Es ist auf Seiten der Arbeitnehmer der Wille zu unterstellen, das im Sinne der Gesamtzusage umgedeutete Angebot des Arbeitgebers auf Gewährung der entsprechenden Leistungen anzunehmen.... kann die Erklärung in ein entsprechendes gebündeltes Angebot umgedeutet werden, dessen Annahme regelmäßig keiner besonderen Erklärung des Arbeitnehmers bedarf(§ 151 BGB)."78

Nicht nur, daß durch diese Rechtsprechung die am nichtigen Rechtsgeschäft beteiligte Partei (hier der Betriebsrat) aus dem Ersatzgeschäft herausgedrängt wird. Die neue Partei (hier der einzelne Arbeitnehmer) wird durch Unterstellung seines Annahmewillens in das neue Rechtsgeschäft hineingedrängt. Zwar wird man davon ausgehen können, daß die Arbeitnehmer grds. nichts gegen Lohnerhöhungen einzuwenden haben werden. Es kann jedoch nicht unterstellt werden, daß es ihnen gleichgültig ist, auf welcher rechtlichen Beziehung ihre Ansprüche beruhen. Ein rechtsgeschäftlicher Generalwille, jeden wie auch immer gearteten Anspruch gegenüber dem 74 BGHZ 19, 269 (275); MünchKomm a.a.O., Rdn. 14; Staudinger a.a.O.; Soerge1 - Hefermehl, § 140 Rdn. 5 jeweils m. w. N. 1s MünchKomm a.a.O., Rdn. 14. 76 Zu den Voraussetzungen der Änderungskündigung siehe D) VI. 2. b), S. 234. 77 Hromandka, Anmerkung zu BAG AP Nr. 74 zu § 77 BetrVG 1972; Fischer a.a.O. 78 BAG EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 55. unter IIl 2.

138 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeitsprinzips

Arbeitgeber erwerben zu wollen, würde zu einer die privatautonome Selbstbestimmung verletzenden Fremdbestimmung führen. 79 Ein solches Hineindrängen in eine rechtserhebliche Entscheidung ist mit § 140 BGB unvereinbar, da die Umdeutung niemals zu einer Bevormundung der Parteien führen darf. so Dieser Aspekt des Fremdbestimmungsverbotes wäre bei der hier in Frage stehenden Umdeutung einer beschäftigungssichernden, tarifunterschreitenden Betriebsvereinbarung besonders zu berücksichtigen. Da es hier nicht um eine Erhöhung, sondern um eine Reduzierung von Lohnansprüchen zur Sicherung von gefahrdeten Arbeitsplätzen geht, kann ein genereller Annahmewille um so weniger unterstellt werden. Hinsichtlich der Notwendigkeit der Tariflohnunterschreitung zur Erhaltung von Arbeitsverhältnissen wird es immer abweichende Auffassungen unter den Belegschaftsmitgliedern geben. Festzuhalten bleibt, daß eine Umdeutung einer nach § 77 III BetrVG nichtigen Betriebsvereinbarung in entsprechende Angebote des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern, die diese nach § 151 BGB annehmen, nicht vorgenommen werden kann.

2. Umdeutung der nichtigen Betriebsvereinbarung in eine Regelungsabrede Zu prüfen ist, ob die kompetenzwidrige Betriebsvereinbarung in eine Regelungsabrede umgedeutet werden kann. Dagegen wird eingewendet, daß der entscheidende Zweck einer Betriebsvereinbarung stets die normative Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern sei. Diese normative Wirkung könne die Regelungsabrede, die lediglich schuldrechtlich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wirke, nicht herbeiführen. Eine Umdeutung der nichtigen Betriebsvereinbarung in eine Regelungsahrede scheide deshalb von vornherein aus. 81 Dieser generellen Annahme, alleiniger Zweck einer Betriebsvereinbarung sei die normative Ausgest_altung von Rechtsbeziehungen, weshalb eine Umdeutung in eine Regelungsabrede ausscheide, kann nicht gefolgt werden. Bei einer Konversion nach § 140 BGB ist zuvörderst darauf abzustellen, welchen wirtschaftlichen Erfolg die Beteiligten erreichen Fischer a.a.O. MünchKomm a. a. 0., Rdn. 2. 81 v. Hoyningen-Huene, DB 1984, Beilage 1, S. 1 (7); Moll, Anmerkung zu BAG EzA § 140 BOB Nr. 16 u. BAG AP Nr. 60 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; GK BetrVG- Kreutz, § 77 Rdn. 107; Gegen eine Umdeutung in eine Regelungsabrede auch Nikisch Bd. III, S. 315. 79

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III. Umdeutung einer unwirksamen Betriebsvereinbarung

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wollten. 82 Durch Ermittlung des hypothetischen Willens ist zu fragen, ob die Parteien das Ersatzgeschäft geschlossen hätten, wenn sie bei der Vornahme des Geschäfts dessen Nichtigkeit gekannt hätten. 83 Maßgeblich für die Umdeutung ist also immer der zu beurteilende Einzelfall. Es ist anband des konkreten Sachverhalts nach dem bezweckten wirtschaftlichen Erfolg und dem mutmaßlichen Willen der Beteiligten zu fragen; eine rein objektive Bestimmung84 derart, daß bei Abschluß einer Betriebsvereinbarung stets die Erreichung normativer Wirkung bezweckt werde, ist deshalb unzulässig. Bei der hier zu beurteilenden beschäftigungssichemden Betriebsvereinbarung besteht das Ziel der Kontrahenten vor allem darin, durch Reduzierung der Lohnkosten gefährdete Arbeitsplätze zu sichern. Der Abschluß einer Betriebsvereinbarung ist bestimmt das geeignetste Verfahren zur Herstellung einer kollektiven Ordnung im Betrieb. Die Lohnhöhe mittels Betriebsvereinbarung zu regeln wird nun aber einmal grds. durch § 77 III BetrVG untersagt. Als "Ersatz"(-Geschäft) kommt deshalb die Regelungsabrede in Betracht, die ebenfalls zur kollektiven Regelung von Arbeitsbedingungen beitragen kann, auch wenn sie in ihrer Rechtswirkung schwächer ist und zur endgültigen Zielerreichung ihre einzelvertragliche Umsetzung erforderlich ist. Die Durchführung der individuellen Umsetzungen wird jedoch durch das Vorliegen einer Regelungsabrede erheblich vereinfacht. Erstens werden sich die Arbeitnehmer auf eine Umsetzung eher einlassen, wenn sie wissen, daß die Inhalte durch ihren Interessenvertreter, den Betriebsrat, "abgesegnet" sind. Zweitens liegt auch eine verfahrenstechnische Vereinfachung vor, da in den Einzelverträgen auf die Regelungsabrede Bezug genommen werden kann. Hinzu kommt, daß es einer Konversion nach § 140 BGB nicht entgegensteht, wenn das ursprüngliche Ziel der Parteien nicht in gleicher Weise erreicht wird bzw. das Ersatzgeschäft in seiner rechtlichen Wirkung schwächer ist. Dies ist vielmehr typisch für eine Umdeutung, da sich der Unterschied zwischen dem von der Rechtsordnung mißbilligtem und von ihr gestattetem Rechtsgeschäft schließlich in irgendeiner Weise äußern muß. Daß hier eine Umdeutung der Betriebsvereinbarung in eine Regelungsabrede überhaupt möglich ist, beruht gerade auf der unterschiedlichen Wirkungsweise von Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede. Eine Umdeutung ist logischerweise immer dann ausgeschlossen, wenn auch das Ersatzgeschäft von dem Normzweck der Verbotsnorm, hier § 77 III BetrVG, Siehe anstau vieler: Erman - Brox, § 140 Rdn 1; MünchKomm a. a. 0 ., Rdn. 1. Erman a. a. 0., Rdn. 16; Palandt- Heinrichs, § 140 Rdn. 8. 84 Zum Verbot der rein objektiven Ermittlung des Parteiwillens Erman a. a. 0., Rdn. 16. 82 83

140 C. Betriebsnahe Regelungen durch Anwendung des Günstigkeilsprinzips

erfaßt wird. Sinn und Zweck des § 77 III BetrVG besteht - wie bereits gesagt - darin, eine Normsetzungskonkurrenz zwischen betrieblicher und tarifvertraglicher Ebene zu vermeiden. Regelungsabreden wirken aber nur schuldrechtlich zwischen den Betriebsparteien, entfalten somit keine normative Wirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse. 85 Die Kompetenzgrenze des § 77 III BetrVG setzt aber an der Kollision von tariflicher und betrieblicher Normsetzung an. 86 Dadurch, daß sich die Regelungsabrede erst durch den individuellen Umsetzungsakt inhaltlich auf das Arbeitsverhältnis auswirkt, ist hier letztlich ein Zusammentreffen von individueller Vertragsgestaltung und tarifvertraglicher Normsetzung gegeben. Individuelle Verträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden von der Regelungssperre des § 77 III BetrVG aber nicht erfaßt, andernfalls verlöre § 77 III BetrVG die Tarifautonomie als Schutzgut völlig aus dem Blick. 87 Der Betriebsrat erscheint beim Abschluß einer Regelungsabrede im Gegensatz zum Abschluß einer Betriebsvereinbarung somit nicht als Alternative zur Gewerkschaft. Die Regelungsabrede unterfällt deshalb nach h. M.88 auch nicht der Sperrwirkung des § 77 III BetrVG, was das BAG89 in seiner Entscheidung vom 20.4.1999 nun erstmals ausdrücklich festgestellt hat. Weiterhin wird man bei Zugrundelegung des mutmaßlichen Willens der Parteien, der gern. den §§ 133, 157 BGB zu ermitteln ist90, davon ausgehen können, daß die Betriebsparteien angesichts ihres Wunsches nach Lohnsenkung die schwächere Regelungsabrede gewollt hätten. Ein hypothetischer Wille, das Ersatzgeschäft gelten zu lassen, ist immer dann anzunehmen, wenn durch das Ersatzgeschäft im Ergebnis derselbe wirtschaftliche Erfolg erreicht werden kann. 91 Die Regelungsabrede kann, wie bereits gesagt, ebenfalls die beschäftigungssichernde Lohnsenkung über den Umweg der individuellen Umsetzung erreichen.

Adomeit, Die Regelungsabrede, S. 70. BAG NZA 1999, S. 887 (890). 87 Fischer, a.a.O; BAG, a. a. 0. 88 GK BetrVG - Kreutz, § 77 Rdn. 114; Fischer a. a. 0., S. 217; Waltermann, RdA 1996, S. 129 (132); Wiedeman -Wank, TVG, § 4 Rdn. 577; Adomeit, BB 1972, S. 53 (53); Jahnke, Tarifautonomie und Mitbestimmung, S. 150; Heinze, NZA 1995, S. 5 (6); ArbG Marburg, NZA 1996, S. 1331 (1335); a.A. Veit/Waas, DB 1991, S. 1329 (1333 f.), weshalb sie die Umdeutung einer nichtigen Betriebsvereinbarung in eine Regelungsabrede ablehnen. 89 BAG NZA 1999, S. 887 (890). 90 Erman a.a.O., Rdn. 16. 91 Erman a. a. 0. 8S

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IV. Ergebnis zu C.

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IV. Ergebnis zu C. Festzuhalten ist: "beschäftigungssichemde" Betriebsvereinbarungen, mit denen durch Senkung tariflicher Leistungen Arbeitsplätze erhalten werden sollen, sind wegen des Tarifvorranges nach § 77 III BetrVG unwirksam. Diesen Betriebsvereinbarungen kann auch nicht mittels des Günstigkeitsprinzips zur Wirksamkeit verholfen werden, das dieses im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung nicht anwendbar ist. Solche Betriebsvereinbarungen können jedoch gern. § 140 BGB in eine Regelungsabrede umgedeutet werden.

D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise Eine weitere Möglichkeit zur Loslösung von einem in Krisenzeiten nicht mehr wirtschaftlich zu verkraftenden Tarifvertrag könnte die außerordentliche Kündigung desselben sein. Die außerordentliche Kündigung von Tarifverträgen zog erstmals im Jahre 1993 die Aufmerksamkeit der arbeitsrechtlichen Wissenschaft auf sich. Anlaß hierfür war die außerordentliche Kündigung der Arbeitgeberverbände der Metall-und Elektroindustrie in den neuen Bundesländern, damals ein bislang einmaliger Vorgang in der bundesdeutschen Tarifgeschichte. Dementsprechend rief die außerordentliche Kündigung heftige Reaktionen auf Gewerkschaftsseite hervor. Während der Arbeitgeberverband die fristlose Kündigung damals als "Hilfeschrei" angesichts der Entwicklung in den neuen Bundesländern ansah, betrachtete die IG Metall das Vorgehen der Arbeitgeberverbände als rechtswidrig und sah darin einen "eklatanten Rechtsbruch". Trotz intensiver Diskussion über dieses außergewöhnliche Ereignis im Jahr 1993 sind wichtige Fragen hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen bislang noch ungeklärt geblieben. 1 Im folgenden Kapitel soll deshalb untersucht werden, inwieweit die im Vertragsrecht entwickelten Grundsätze hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung auch auf den Tarifvertrag anwendbar sind.

I. Zulässigkeit der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen Auf den ersten Blick scheint die Zulässigkeit der außerordentlichen Kündigung eines Tarifvertrages im Hinblick auf dessen bedeutende Funktionen sehr bedenklich. Oben wurde bereits dargelegt, daß dem Tarifvertrag überragende Aufgaben zugeschrieben werden. So soll er u. a. für den vereinbarten Zeitraum klare und überschaubare Arbeitsbedingungen schaffen, egal welchen Veränderungen die Beteiligten unterliegen. Dadurch, daß die gesellschaftlichen Gruppierungen ihre Interessen durch die vermeintlich gleichstarken Verhandlungspartner optimal vertreten sehen, ist der Tarifvertrag für die Sicherung des sozialen Friedens von größter Bedeutung.2 1

Oetker, JZ 1998, S. 204 (208)- Anmerkung zu BAG JZ 1998, S. 203.

I. Zulässigkelt der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen

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Die Durchführung des Tarifvertrages, seine volle Geltung bis zum Ablauf der vereinbarten Laufzeit ist jedoch für die Umsetzung der genannten Ziele von entscheidender Bedeutung. Für die vereinbarte Laufzeit soll der Tarifvertrag das Arbeitsleben befrieden und all denjenigen, die seiner Wirkung unterworfen sind, das Gefühl der Sicherheit vermitteln. Sie sollen sich während der Laufzeit auf das Fortbestehen der ausgehandelten Arbeitsbedingungen verlassen können, auch wenn sich die Rahmenbedingungen im Vergleich zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses verändert haben. Wie soll die intendierte Wirkung des Tarifvertrages erreicht werden, wenn es den Vertragsparteien möglich ist, den Tarifvertrag aus wichtigem Grund außerordentlich zu kündigen? Hinzu kommt, daß Tarifverträge ohnehin in der Regel von vomherein mit kurzen Laufzeiten oder Kündigungsfristen versehen sind, um auf Veränderungen reagieren zu können. 3 Dennoch, trotz augenscheinlicher Bedenken und der Erkenntnis, daß Tarifverträge keine "Schönwettervereinbarungen sind",4 wird in der Literatur die Zulässigkeit der fristlosen Kündigung von Tarifverträgen überwiegend bejaht. 5 Zur Begründung wird immer wieder auf den allgemein anerkannten Grundsatz zurückgegriffen, daß jedes Dauerschuldverhältnis außerordentlich gekündigt werden kann, wenn die weitere Fortsetzung des Vertrages unzumutbar ist. Der Ordnungsgedanke des Tarifvertragsrechts und der Vertrauensschutz der gegnerischen Tarifvertragsparteien könnten nicht dazu führen, eine außerordentliche Lösungsmöglichkeit abzulehnen. 6 Da das TVG die außerordentliche Kündigung von Tarifverträgen nicht regele, sei § 626 BGB analog anzuwenden. 7 Die Besonderheiten, Sinn und Zweck des Tarifvertrages müßten vielmehr durch eine strengere Handhabung der einzelnen Voraussetzungen des § 626 BGB, insbesondere der Unzumutbarkeit und des wichtigen Grundes, gebührend berücksichtigt werden. 8 Allgemein wird also vorausgesetzt, daß durch den Abschluß des Tarifvertrages gleichzeitig ein Dauerschuldverhältnis begründet wird. Zwar ist die exakte Bestimmung des Dauerschuldverhältnisses nicht ganz einfach und Zu den Funktionen des Tarifvertrages s.o. A. III. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rdn. 369; Wank in FS Schaub, S. 761 (768). 4 Sieg, AuA 1993, S. 164 (164). 5 Oetker, RdA 1995, S. 82 (94); Thiele, RdA 1968, S. 424 (425); Otto in FS Kissel, S. 787 (789); Wiedernano - Wank, TVG, § 4 Rdn 26; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1443; Hueck/Nipperdey Bd. II 1 Hb., S. 471; Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 44; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rdn. 364; Kaskel!Dersch, Arbeitsrecht, S. 102. 6 Siehe anstau aller Däubler a. a. 0. 7 Kempen/Zachert a. a. 0. 8 Kempen/Zachert a. a. 0. 2

3

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

umstritten9 , anerkannt ist jedoch, daß es im Gegensatz zu den "einfachen Schuldverhältnissen" 10, die auf eine einmalige Leistung gerichtet sind, dadurch gekennzeichnet ist, daß es ein dauerndes Verhalten des Vertragspartners zum Gegenstand hat. 11 Dem Zeitmoment kommt daher essentielle Bedeutung zu. 12 Diese Erkenntnis beruht auf v.Gierke, der sich im Jahr 1914 als erster mit dem Wesen von Dauerschuldverhältnissen näher befaßt hat: ". . . haben wir ein dauerndes Schuldverhältnis anzunehmen, wenn der Schuldinhalt eine Leistungspflicht bildet, die sich auf einen Zeitraum erstreckt. Die Dauerschuld als solche soll nicht bei Eintritt eines bestimmten Fälligkeittennins, sondern während der ganzen Dauer ihres Bestandes erfüllt werden. Darum ist das Dauerschuldverhältnis darauf angelegt, eine konstante Wirkungskraft zu äußern." 13

Das BGB selbst trifft keine Unterscheidung zwischen einfachen und dauernden Schuldverhältnissen. Erst mit Schaffung des AGBG hat der Gesetzgeber erstmals den Begriff des Dauerschuldverhältnisses in den §§ 10 Nr. 3, 11 Nr. 1 und Nr. 12 AGBG verwandt. Nur die letztgenannte Vorschrift liefert eine inhaltliche Konkretisierung, indem sie unter der Überschrift "Laufzeit bei Dauerschuldverhältnissen" solche Vertragsverhältnisse erfaßt, die die regelmäßige Lieferung von Waren oder die regelmäßige Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen zum Gegenstand haben. Auch hier findet sich also das Anknüpfen an den Zeitraum. Dieses zeitliche Element wohnt dem Tarifvertrag inne. Die schuldrechtlichen Verpflichtungen der Tarifvertragsparteien, wie z. B. Friedens- und Durchführungspflicht, erstrecken sich über den Zeitraum der Geltung des Tarifvertrages. Auch dem normativen Teil des Tarifvertrages kommt die von v.Gierke geforderte ,,konstante Wirkungskraft" zu, da sie Leistungsverpflichtungen begründen, die sich nicht in der Herbeiführung eines einmaligen Leistungserfolges erschöpfen, sondern die von den Parteien geschuldeten Leistungen für einen längeren Zeitraum, nämlich bis zum Ablauf des Vertrages, normativ ausgestalten. 14 Richtigerweise ist somit § 626 BGB analog auf beide Teile - den schuldrechtlichen und den normativen - des Tarifvertrages anwendbar.

MünchKomm- Kramer, vor§ 241 Rdn. 85. G.Wiese in FS Nipperdey Bd I, S. 837 (837). 11 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 11 II. 7., S. 155. 12 MünchKomm- Kramer, vor § 241 Rdn. 84; ausführlich zum Dauerschuldverhältnis Staudinger- Weber, ll. Auflage, vor § 241 Rdn. 0 I ff.; G. Wiese a. a. 0. 13 0. v. Gierke, JherJb Bd. 64 (1914), S. 355 (358 f.). 14 Hueck/Nipperdey Bd. II 2. Hb., S. 468 Fn. 22. 9

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II. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

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II. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung durch den Verband analog§ 626 BGB 1. Wichtiger Grund Zunächst erfordert die fristlose Kündigung einen wichtigen Grund. Bisher ungenügend geklärt ist die Frage, welche Voraussetzungen an das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Rahmen der außerordentlichen Kündigung eines Tarifvertrages zu stellen sind. 15 Im Hinblick auf die Thematik dieser Arbeit soll in der nachfolgenden Untersuchung deshalb vordergründig der Frage nachgegangen werden, inwieweit die wirtschaftliche Unzumutbarkeit des Tarifvertrages einen wichtigen Grund i. S. d. § 626 BGB darstellen kann. Zunächst jedoch die kurze Darstellung anderer wichtiger Gründe. a) Schwere Pflichtverletzung/Anfechtungsberechtigung wegen Täuschung, Drohung oder Irrtums Als wichtiger Grund, der zur Kündigung eines Tarifvertrages berechtigt, ist die schwere Pflichtverletzung durch eine Tarifvertragspartei anerkannt. Diese kann bei einem laufenden Tarifvertrag z. B. darin liegen, daß zugesagte Verhandlungen über offene bzw. streitige Fragen abgelehnt oder bewußt verzögert werden. 16 Auch die Verletzung der Friedenspflicht, d.h. die Durchführung von tarifwidrigen Aussperrungen oder tarifwidrigen Streiks stellt eine schwere, zur fristlosen Kündigung berechtigende Pflichtverletzung dar.'7 Als ausreichend für ein außerordentliches Kündigungsrecht wird teilweise auch der Verlust der Tarifflihigkeit bzw. der Tarifzuständigkeit angesehen. 18 Ferner wird das Vorliegen von Tatsachen, die nach dem allgemeinen Vertragsrecht eine Anfechtung wegen Täuschung, Irrtums oder Drohung gern. den §§ 119, 123, 142 BGB rechtfertigen würden, als außerordentlicher Kündigungsgrund angesehen. Eine Anfechtung des Tarifvertrages käme wegen ihrer ex tune - Wirkung nicht in Betracht, da die daraus sich ergebenden Abwicklungsschwierigkeiten des komplexen Tarifvertrages eine erhebliche Rechtsunsicherheit begründen würden. 19 Oetker, BAG JZ 1998 S. 204 (209)- Anmerkung zu BAG JZ 1998, S. 203. BAG AP Nr. 4 zu § 1 TVG Friedenspflicht. 17 BAG a. a. 0 . 18 Schaub, ArR Hb., § 199 S. 1671; Wiedernano - Wank, TVG, § 4 Rdn. 51; offengelassen BAG AP Nr. 4 zu § 3 TVG. 15

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10 Freihube

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Die fristlose Kündigung wegen Täuschung einer Vertragspartei könnte z. B. darin liegen, daß von Seiten der Arbeitgeber bei den Tarifverhandlungen die wirtschaftliche Lage des Unternehmens wesentlich schlechter dargestellt wird, als sie tatsächlich ist, was die Gewerkschaften zu geringeren Lohnabschlüssen veranlaßt haben könnte. Eine widerrechtliche Drohung kann z. B. in dem Inaussichtstellen eines rechtswidrigen Streiks liegen.Z0 Ein Inhaltsirrtum könnte z. B. darin liegen, daß die Gewerkschaft oder der Arbeitgeberverband mit einer tariflichen Regelung eine ganz bestimmte Bedeutung verbinden, das Arbeitsgericht der Regelung im Streitfall jedoch einen ganz anderen Inhalt entnimmt. Gegen die Anfechtungsmöglichkeit wegen eines solchen Inhaltsirrtums wird eingewandt, die im Prozeß unterlegene Partei könnte mit ein bißeben Geschick ein Auseinanderfallen zwischen wirklich Gewolltem und dem nach Ansicht des Arbeitsgerichts objektiv Erklärtem behaupten und somit den Tarifvertrag jederzeit in Frage stellen?' Hierzu ist zu sagen, daß einer mißbräuchlichen Anwendung des Anfechtungsrechts immer noch § 242 BGB entgegensteht. Abwicklungsschwierigkeiten wegen der ex tunc-Wirkung kann man dadurch vermeiden, indem man wie bei der Anfechtung von Arbeitsverhältnissen lediglich eine ex nunc-Wirkung annimt. In diesem Fall stellt sich jedoch die Frage, ob dies die Anwendungskonkurrenz zwischen Anfechtung und a. o. Kündigung beseitigt, da sich die beiden Rechtsinstitute in ihrer Wirkung nicht mehr unterscheiden würden. 22 Teilweise will man deshalb die Anfechtung in das Recht zur a. o. Kündigung integrieren, indem man, wie bereits gesagt, die Anfechtungsgründe als wichtigen Grund i. S. v. § 626 BGB ansehen will.Z3 Auch wenn dieser dogmatische Streit in der Regel für die Praxis unbedeutend sein dürfte 24, soll hier kurz auf ihn eingegangen werden. Die Frage der Konkurrenz zwischen Anfechtung und a. o. Kündigung stellte sich bereits im Zusammenhang mit der Anfechtung von Arbeitsverhältnissen. Obwohl auch dort die Anfechtung lediglich ex nunc wirkt, führt dies nach ständiger Rechtsprechung des BAG nicht zu einer Verschmelzung von a. o. Kündigung und Anfechtung. Vielmehr seien auch hier die beiden Rechtsinstitue als selbständig voneinander anzusehen, da sie nach wie vor 19 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 162; Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 48; BAG SAE 1983, 101 (102); a.A. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rdn. 354. 20 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 162. 21 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 161. 22 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 773. 23 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1449, Gamillscheg a.a.O. 24 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 773.

II. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

I47

unterschiedliche juristische Funktionen verfolgten. Erstmalig hat dies das BAG in der Entscheidung vom 5.12. 1957 festgestellt: 25 Die a. o. Kündigung erfasse das Rechtsverhältnis im ganzen, die Anfechtung jedoch nur die Willenserklärung, wirke auf das Vertragsverhältnis also nur deshalb ein, weil mit der fehlenden Willenserklärung das gesamte Vertragsverhältnis entfiele?6 Weiterhin diene die Anfechtung dazu, den Anfechtenden von den Folgen einer auf einem Willensmangel beruhenden Willenserklärung zu befreien. Die a. o. Kündigung hingegen bezwecke ein "nachträglich krank oder sinnlos gewordenes Rechtsverhältnis für die Zukunft zu beseitigen'm. Ein weiterer Unterschied bestehe darin, daß die Anfechtung zur Nichtigkeit des Vertrages führe, weshalb sie von der durch a. o. Kündigung herbeigeführten Beendigung des Vertrages schon begrifflich zu unterscheiden sei.2s Schließlich verpflichte die Anfechtung den Anfechtenden zum Ersatz des Vertrauensschadens gern. § 122 BGB, eine Pflicht, die den Kündigenden nicht treffe?9 Überzeugend hat das BAG damit dargelegt, daß der Anfechtung auch im Falle ihrer ex nunc- Wirkung eine selbständige Berechtigung neben der a. o. Kündigung zukommt. Vor allem der Hinweis auf den unterschiedlichen zeitlichen Eintritt der "Störung" macht die unterschiedlichen Geltungsgründe der beiden Rechtsinstitute deutlich. Die a. o. Kündigung erfaßt die Fälle, in denen ein Störfaktor in den zunächst einwandfrei durchgeführten Vertrag hinzutritt und dadurch eine Unzumutbarkeit begründet ("nachträglich krank gewordenes Rechtsverhältnis"), sie erfaßt somit Anwendungsfälle, die im weiteren Sinne dem Recht der Leistungsstörung zuzurechnen sind. Im Gegensatz dazu erfaßt die Anfechtung lediglich Willensmängel bei Abschluß des Vertrages, also beim Begründungsakt Eine Unzumutbarkeit oder eine sonstige Leistungserschwernis braucht hier nicht vorzuliegen.30 Da die a. o. Kündigung nur als ultima ratio in Betracht kommt, führt sie nur dann zur Lösung vom Vertragsverhältnis, wenn eine Interessenahwägung unter Einbeziehung der Interessen beider Parteien zu dem Ergebnis 25 BAGE 5, I59 (16I), bestätigt durch BAG AP Nr. 2 zu § I23 BGB, Nr. 3 zu § II9 BGB. 26 BAG a. a. 0. 27 BAG a. a. 0. unter Hinweis auf Hersehe!, BB I953, S. I 069 (1 069). 28 BAG a. a. 0 . 29 BAG a. a. 0 . 30 Vgl. zum Vorstehenden Picker, ZfA I98I, S. I (25).

10•

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

gelangt, daß die Fortsetzung des Vertrages für den Kündigenden unzumutbar ist. 31 Diese "Offenheit" des Tatbestandes verlangt somit stets eine billige Lösung, die die Belange beider Parteien berücksichtigen muß. Ganz anders verhält es sich mit den klar umrissenen Anfechtungstatbeständen. Die Merkmale Irrtum, Täuschung oder Drohung lassen keinen Raum für eine Interessenahwägung und führen nicht zu der tatbestandliehen Offenheit wie sie der Unzumutbarkeitsbegriff bei der a. o. Kündigung begründet. Die Interessen des Gegners haben bei der Frage nach der Lösung vom Vertrag durch Anfechtung außen vor zu bleiben, werden jedoch aufgrund der Vertrauenshaftung des Anfechtenden nach § 122 BGB berücksichtigt. Warum sollte man ohne Not diese von den Vätern des BGB beabsichtigte Konkurrenz von Anfechtung und a. o. Kündigung im Tarifvertragsrecht aufheben? Der Vertrag ist Regelungsverfahren auch für die Tarifordnung, so daß maßgebliches Verfahrensrecht das allgemeine Vertragsrecht ist. Für dieses ist das Nebeneinander von Anfechtung und a. o. Kündigung aber "zu einer selbstverständlichen, nie wieder in Frage gestellten Erkenntnis geworden". 32 Daher ist auch im Tarifvertragsrecht eine Verschmelzung der beiden Rechtsinstitute durch Integration der Anfechtung in die a. o. Kündigung abzulehnen. b) Wirtschaftliche Veränderungen als wichtiger Grund Interessanter als die außerordentliche Kündigung wegen der soeben dargestellten Gründe, die in der Praxis kaum eine große Rolle spielen dürften,33 ist die außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit. Ursprünglich ging man davon aus, daß die außerordentliche Kündigung der Arbeitgeberverbände der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie im Jahr 1993 aufgrund der krassen Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, bedingt durch die Wiedervereiningung, ein einmaliger Ausnahmefall sein würde. Die fehlende Praxisrelevanz, die der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit zugeschrieben wurde34, hat sich indes nicht bewahrheitet: In den Folgejahren kam es mehrfach zur fristlosen Kündigung von Tarifverträgen wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit. So hatten sich das ArbG Vgl. anstau vieler Nikisch Bd. I, S. 724. Staudinger- Richardi, § 611 Rdn. 154. 33 Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 48. 34 Adomeit z. B. spricht davon, daß die a. o.Kündigung eher eine theoretische Lösungsmöglichkeit bleiben wird, in Regelungen von Arbeitsverhältnissen und ökonomischen Notwendigkeiten, S. 51. 3t

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Il. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

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Wiesbaden 35 und das ArbG Potsdam36 im Jahr 1997 mit der außerordentlichen Kündigung der Lohn- und Gehaltstarifverträge für die neuen Bundesländer durch die Arbeitgeberverbände der Bauindustrie/Handwerk zu befassen. Der 4. Senat des BAG37 hatte 1996 die außerordentliche Kündigung eines Anerkennungstarifvertrages im Bereich der Metall- und Elektroindustrie in den neuen Bundesländern zu beurteilen. Derselbe Senae8 mußte sich im Jahr 1997 abermals mit der außerordentlichen Kündigung eines Anerkennungstarifvertrages hinsichtlich des Tarifvertrages der Papier- Pappe- und Kunststoffindustrie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern beschäftigen. Im Februar 1998 hatte das BAG über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung eines Verbands- und Manteltarifvertrages in der Modellbauerhandwerksbranche zu befinden. 39 Eine nähere Auseinandersetzung mit der außerordentlichen Kündigung wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit ist daher wegen der zunehmenden Praxisrelevanz erforderlich. Fraglich ist zunächst, ob die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt einen wichtigen Grund darstellen und damit ein Recht zur außerordentlichen Kündigung liefern können. Dem wird vor allem der Gesichtspunkt des vertragsimmanenten Risikos entgegengehalten40, d.h. solche Veränderungen sollen nicht als Kündigungsgrund geeignet sein, für die die kündigende Vertragspartei aufgrund einer wertenden Betrachtung das Risiko ihres Eintritts übernommen hat. Dieser Einwand beruht auf folgenden Erwägungen: Grundsätzlich tragen bei jedem Vertrag die Parteien das Risiko ihrer Einschätzung, daß Leistung und Gegenleistung in einem äquivalenten Verhältnis stehen. So besteht z. B. keine Berechtigung des Arbeitnehmers, wegen eines besser bezahlten Angebots, daß Arbeitsverhältnis fristlos zu kündigen. Ebenso ist es dem Arbeitgeber nicht möglich, ohne Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Frist dem Arbeitnehmer zu kündigen, weil er über dessen Arbeitsleistung oder ihre Verwertbarkeit enttäuscht ist. Der Grundsatz des Vertragsrisikos entspricht dem Gebot pacta sunt servanda, das Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung ist und den Vertragsparteien abverlangt, "daß sie zu dem ArbG Wiesbaden NZA 1997, S. 451 ff. ArbG Potsdam AuR 1997, S. 82 ff. 37 BAG JZ 1998 S. 203 ff.; DB 1997, S. 782. 38 BAG NZA 1997, S. 1234 ff. 39 BAG NZA 1998, S. 1008 ff. = SAE 1999, S. 103 ff. mit Anmerkung Stein (S. 108). 40 Buchner, NZA 1993, S. 289 (296); Otto in FS Kissel, S. 787 (796 f.); Wiedernano- Wank, TVG, § 4 Rdn. 56; Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 45. 35

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Vertrag stehen, komme was da wolle und somit auch zu der Absicherung des erzielten Konsens gegen spätere Interessenverschiebungen oder veränderte Interessenbeurteilungen in der Folge veränderter Umstände". 41 Das Risiko einer nachteiligen Umstandsveränderung hat also grundsätzlich immer der nachteilig Betroffene zu tragen. Der Grundsatz pacta sunt servanda ist zwar im deutschen Recht im Gegensatz zum französischen Recht (art. 1134 cc) nicht ausdrücklich geregelt42, daß Verträge eingehalten werden sollen, folgt jedoch nicht erst dem Gebot der jeweiligen Rechtsordnung, sondern aus bindender Kraft des Versprechens als eines moralischen Aktes der Person und ist eine Voraussetzung für jede Ordnung unter einzelnen Menschen wie unter Staaten.43 Es drängt sich die Frage auf, warum diese Grundsätze nicht auch auf das Tarifrecht anwendbar sein sollten, so daß jede Tarifpartei das Risiko dafür übernehmen müßte, daß sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen während der Laufzeit des Vertrages erheblich verändern. Richtigerweise ist der Einwand der Risikoübernahme bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Veränderungen als wichtiger Grund zu berücksichtigen. Dies vor allem deshalb, weil dem Abschluß eines Tarifvertrages, insbesondere der Vereinbarung von Tariflöhnen, so gut wie immer eine Prognose der Tarifparteien bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung zugrunde liegt. Mit solchen Prognosen sind aber stets und zwangsläufig erhebliche Unsicherheiten verbunden. In der Marktwirtschaft kann es keine Garantie für ein bestimmtes Marktverhalten geben, vielmehr unterliegt der Markt stets konjunkturellen Schwankungen. Die normative Wirkung des Tarifvertrages soll die Rechtsposition der Tarifunterworfenen trotz solcher Veränderungen, stabilisieren. Ungeachtet all dieser Unsicherheiten schließen die Tarifvertragsparteien seit Jahrzehnten Tarifverträge ab. Die Tarifvertragsparteien nehmen also gerade die Prognoseunsicherheiten in Kauf, legen sie zugrunde, um durch vertraglich verbindliche Vereinbarungen auch die wirtschaftliche Entwicklung zu verstetigen. Daß die beteiligten Parteien in der Lage sein sollten, sich ein angemessenes Bild von der ökonomischen Lage und deren Entwicklung zu machen, ergibt sich auch aus den hohen Anforderungen, die die Rechtsordnung an die Tariffähigkeit und der damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Verantwortung knüpft. 44 41 42

43 44

Belling/Hartmann, ZfA 1997, S. 87 (91). Belling/Hartmann a. a. 0. Larenz, Schuldrecht Bd. I, § 2 II, S. 41. Vgl. dazu BVerfG AP Nr. 1 zu Art. 9 GG.

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Zu berücksichtigen ist jedoch auch hier wieder, daß die Arbeitgeber nicht immer bei dem Abschluß des Tarifvertrages davon ausgehen, daß der Abschluß wirtschaftlich vertretbar für sie ist, sondern sich u. U. auf die Vereinbarung einlassen, weil sie die andernfalls zu erwartenden Arbeitskämpfe als noch schlimmer in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung einschätzen als den ungeliebten Abschluß. Das Ringen der IG Metall mit Daimler um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 1996 und der Abschluß für die ostdeutsche Stahlindustrie 1998 haben dies deutlich gemacht. 45 In Erinnerung bleibt auch, wie General Motors in den USA im Jahre 96 in die Knie gezwungen wurde, nachdem der Konzern nach Bestreikung von Zulieferbetrieben bereits einen Verlust von zwei Milliarden US Dollar einstecken mußte. Wegen des Aspekts des vertragsimmanenten Risikos und der wichtigen Bedeutung der Vertragstreue (pacta sunt servanda) ist man allgemein46 der Auffasung, daß Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse nur dann als wichtiger Grund in Betracht kommen, wenn ihnen eine unvorhersehbare, umstürzende Wirkung zukommt, "den Tarifparteien also schon der Himmel auf den Kopf fallen muß"47, so daß sie bei einer wertenden Gesamtbetrachtung nicht mehr von der Risikostruktur des Vertrages erfaßt wurden. Als mögliche Beispiele für zur Lösung vom Tarifvertrag berechtigende Veränderungen werden genannt: die überraschend schwache Absatzlage, eine plötzliche Absatzssteigerung durch neue Maschinen und dadurch verursachte steigende Gewinne48• Belling/Hartmann verweisen auf die Inflationsrate von 61,1% in der Türkei im Jahre 1994, die für Deutschland in nächster Zukunft zwar unwahrscheinlich, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit jedoch nicht völlig auszuschließen sei.49 Auch die unerwartet starke Steigerung von Lebenshaltungskosten sowie Steuerlasten sollen nach Löwisch!Rieble zur außerordentlichen Kündigung berechtigen. 50 Nach Däubler soll hingegen eine Gewinnexplosion der Dazu bereits oben Fn 352. Henssler, ZfA 1994, S. 487 (491); Schaub, ArR Hb., § 199, S. 1671; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1444; Nikisch Bd. II, S. 351; Unterhemminghofen, AuR 1993, S. 101 (104); Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 472. 47 Sieg, AuA 1993, S. 164 (164). 48 Wiedernano- Wank, TVG, § 4 Rdn. 56; Löwisch/Rieble, TVG, § I Rdn. 369 "exorbitante Untemehmensgewinne". 49 Belling/Hartmann, ZfA 1997, S. 88 (88). Sie weisen nur auf die hohe Inflationsrate in der Türkei im Jahr 1994 hin. Aus dem Kontext heraus ergibt sich jedoch, daß ihrer Meinung nach eine solche Geldentwertung in Deutschland zur Loslösung vom Tarifvertrag berechtigen würde. 50 Löwisch/Rieble, TVG, a. a. 0. 45

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Unternehmen nicht ausreichend für ein außerordentliches Kündigungsrecht sein, da sie als typische, marktwirtschaftliche Erscheinung von dem Vertragsrisiko erfaßt würde. 51 Auch eine Ölkrise und eine damit verbundene Kostensteigerung für die Unternehernen soll nach Roth52 noch innerhalb ihrer Risikosphäre liegen. Für Wiedemann/Stumpf hingegen sollen die Ölkrise ebenso wie das Verbot einer Produktion und die Liefersperre zur außerordentlichen Kündigung berechtigen.53 Es wird deutlich, daß eine abschließende, allgemein gültige Definition für den außerordentlichen Kündigungsgrund aufgrund wirtschaftlicher Veränderungen bisher noch nicht geliefert wurde. Für die einen reichen die Ölkrise und explosionsartige Unternehmensgewinne aus, für die anderen nicht. Teilweise wird deshalb auch gefordert, daß man stets im Wege einer Einzelfallbetrachtung unter Heranziehung des Grundsatzes von Treu und Glauben zu ermitteln habe, ob die Ereignisse eine unvorhersehbare Veränderung der beim Vertragsschluß vorausgesetzten Verhältnisse darstellen. 54 Durch die Forderung, nach Treu und Glauben den jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, wird deutlich, daß eine klare Grenzziehung zwischen der Festsellung eines wichtigen Grundes und der anschließend durchzuführenden Zumutbarkeitsprüfung kaum möglich ist. Der Grundsatz der strikten Vertragsbindung (pacta sunt servanda), der der Anerkennung von ökonomischen Veränderungen als wichtigem Grund entgegensteht, wird in seiner Anwendung von dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit in Gestalt der Zumutbarkeit begrenzt.55 Ist dem Schuldner die Leistung nicht zumutbar, braucht er nicht zu leisten, obgleich er an sich dazu in der Lage wäre. 56 Der Grundsatz, daß niemand zu einer Leistung verpflichtet ist, die ihm nicht zugemutet werden kann, ist jedem geschriebenen Recht "naturrechtlich" vorgegeben und kann als wesentlicher Bestandteil unserer Rechtsordnung nicht einmal durch eine Änderung unseres Grundgesetzes beseitigt werden.57 Im bürgerlichen Recht findet der Unzumutbarkeitsgrundsatz seine Grundlage in § 242 BGB. Wer jemanden eine Leistung abverlangt, die diesem unzumutbar ist, verstößt gegen Treu und Glauben; seine Forderung liegt außerhalb der Grenzen des Rechts. Das Unzumutbarkeitsprinzip ist demnach im Rechtsgrundsatz von Treu und Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1444. MünchKomm - Roth, § 242 Rdn. 602. 53 Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Auflage,§ 4 Rdn. 28. 54 Hueck/Nipperdey a.a.O.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1444. 55 Nipperdey, Vertragstreue und Nichtzumutbarkeit der Leistung, S. 34 Fn. 3; Belling/Hartmann a. a. 0., S. 92. 56 Hersehe!, AuR 1968, S. 193 (195); Chiotellis, Rechtsfolgenbestimmung, S. 36 f.; Lücke, (Un-)Zumutbarkeit als allgemeine Grenze, S. 45. 57 Hersehe! a.a.O., S. 197. 51

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Glauben enthalten58 , es soll die starre Haltung des Rechtsprinzips "pacta sunt servanda" auflockern, um in außergewöhnlichen Fällen trotz dieser festen Rechtsregel - wenn auch unter Einbuße ihrer Ordnungsfunktion und der damit verbundenen Rechtssicherheit - eine gerechte Einzelfallentscheidung zu ermöglichen.59 Aufgrund des Unzumutbarkeitsbegriffs in § 626 BGB ist daher das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund Ausfluß des Prinzips von Treu und Glauben.60 Entscheidend bei der Frage nach der Zulässigkeit einer außerordentlichen Kündigung aufgrund wirtschaftlicher Veränderungen ist also nicht, in welcher Form diese erfolgt; ob es sich um eine Ölkrise, Geldentwertung oder ein Produktionsverbot handelt, ist nicht ausschlaggebend. Abzustellen ist vielmehr darauf, ob die Vertragstreue aufgrund der negativen ökonomischen Entwicklung dem nachteilig betroffenen Vertragspartner noch zugemutet werden kann. Die Voraussetzungen des wichtigen Grundes und der Unzumutbarkeit können daher nicht unabhängig voneinander geprüft werden. Die wirtschaftliche Veränderung stellt nur dann einen wichtigen Grund i. S. des § 626 BGB dar, wenn dadurch die weitere Vertragsbindung als unzumutbar anzusehen ist. Die Unzumutbarkeitsprüfung bildet somit den Schwerpunkt bei der analogen Anwendung des § 626 BGB im Tarifvertragsrecht

2. Unzumutbarkeit a) Der BegritT der Unzumutbarkeit

Die Unzumutbarkeitsprüfung im Rahmen der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen liefert die meisten Schwierigkeiten und ist bisher unzureichend geklärt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die Bemühungen, den Begriff der Unzumutbarkeit näher auszufüllen, bis heute unvollständig geblieben sind.61 Nach Weber, der als erster versuchte, den Begriff zu konkretisieren, liegt Unzumutbarkeit dann vor, wenn "es mit den anerkannten Persönlichkeitsrechten und der Menschenwürde unter Beachtung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Menschen nicht vereinbar ist, bei den nun einmal vorhandenen Umständen von ihm 58 Vgl. BAGE 13, S. 287 (290): "Richtig ist daran nur, daß die Anhörung unterbleiben kann, wenn sie nicht möglich oder dem Arbeitgeber nicht zuzumuten ist. Diese Einschränkung ist aber nichts besonderes, sondern nur ein Ausfluß des unser ganzes Recht beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben: Unmögliches und Unzumutbares kann von niemandem verlangt werden". 59 Henkel in FS Metzger, S. 249 (261). 60 Soergel - Teichmann, § 242 Rdn. 270. 61 Soergel - Hanau, § 626 Rdn. 40.

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ein bestimmtes, rechtlich relevantes Verhalten zu verlangen, das unter anderen, zwar als vorhanden vorausgesetzten, in Wirklichkeit aber nicht vorhandenen Umständen von ihm nach allgemeinen Rechtsauffassungen und bei Berücksichtigung einer eingegangenen rechtlichen Verbindung zu erwarten gewesen wäre". 62 Allein diese ellenlange Definition macht deutlich, wie schwer es ist, eine abstrakte allgemein gültige Bestimmung der Unzumutbarkeit zu liefern. Die Schwierigkeit, für den Begriff der Unzumutbarkeit eine subsumtionsfahige Definition zu finden, liegt darin, daß es sich bei der Unzumutbarkeit um ein Phänomen handelt, das der Mensch "weder kausal erklären noch durch Rückgriffe auf bekannte Merkmale beschreiben oder sonstwie darstellen kann"63 . Es handelt sich hierbei um einen Rechtsbegriff, dessen Inhalt vom Außerrechtlichen her, nicht zuletzt von ethischen Wertungen gefüllt werden muß64 • Im Schrifttum wurde versucht, den unbestimmten Rechtsbegrifr'5 der Unzumutbarkeit durch die Unterteilung in eine absolute und relative Unzumutbarkeit greifbarer zu machen. Zu einer absoluten Unzumutbarkeit der Leistungserfüllung sollen solche Umstände führen, die unabhängig von dem jeweiligen Einzelfall als unzumutbar gewertet werden müssen, weil von dem Verpflichteten etwas abverlangt wird, "was gegen die guten Sitten verstößt, was in jedem Falle seine Würde als Person kränkt, was unserer ethischen und juristischen Ordnung widerspricht, kurz was vor dem Recht keinen Bestand haben kann." 66 Die Gründe für eine absolute Unzumutbarkeit könnten wirtschaftlicher, ideeller oder sonstiger Art sein.67 Genannt wird die Gefahr der wirtschaftlichen Existenzbedrohung oder - vemichtung,68 die Unvereinbarkeit der Leistungserfüllung mit dem Gewissen des Verpflichteten69 oder die Verletzung seiner Menschenwürde70 oder Ehre.71 Die relative Unzumutbarkeit hingegen soll sich erst aus der zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsbeziehung ergeben;72 sie ist also nicht schon Weber in Juristen-Jahrbuch Bd. III, S. 212 (231). Hersehe) a. a.O., S. 195. 64 Hersehe) a. a.O., S. 196. 65 Bachhof, JZ 1955, S. 97 (101); Lücke a. a.O., S. 48; Köhler, clausula rebussie stantibus, S. 215; Steinberg, BB 1968, S. 433 (436). 66 Hersehe) in FS Nikisch, S. 47 (58 f.). 67 Lücke a. a. 0 ., S. 46. 68 Hilger, BB 1951, S. 618 (618); Felix, BB 1955, S. 118 (118)- Anmerkung zu BFH BstBI. 1955 III, S. 30; OLG Harnburg DB 1951, S. 433 (444). 69 Blomeyer, JZ 1954, S. 309 (311); Brecher in Festschrift für Nipperdey Bd. II, S. 29 (48); Bosch/Habscheid, JZ 1954, S. 213 (214 f.). 70 Hersehe) a. a. 0 . 71 Hersehe) a. a. 0 . 62 63

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anband absoluter Umstände, sondern erst aufgrund des Zusammentreffens verschiedenster Bedingungen des Einzelfalles festzumachen. Diese Kriterien, die im Rahmen der Lehre des Wegfalls der Geschäftsgrundlage73 entwickelt wurden, könnten auch auf den Unzumutbarkeitsbegriff des § 626 BGB angewendet werden, da beide Rechtsinstitute, Wegfall der Geschäftsgrundlage und a. o. Kündigung, aufgrund ihrer Anknüpfung an die Unzumutbarkeit der unveränderten Vertragsfortführung auf einem identischen Wertungsmaßstab beruhen. 74 Die Unterteilung in absolute und relative Unzumutbarkeit bringt uns indes nicht viel weiter auf dem Weg zu einer allgemeinen Definitionsfindung. Die genannten Formulierungen sind oftmals noch unbestimmter als der Begriff der Unzumutbarkeit selbst. Welche Leistungsverpflichtung widerspricht der ,juristischen und ethischen Ordnung", welche Leistungsverpflichtung verstößt gegen die "guten Sitten"75 und wann liegt ein Maß an Aufopferung vor, das nicht mehr abverlangt werden kann?76 Die getroffenen Formulierungen sind vielmehr Umschreibungen ein und derselben Sache unter Verwendung lediglich anderer Worte. Die Feststellungen, die hinsichtlich der absoluten Unzumutbarkeit getroffen worden sind, sind m. E. ohnehin nicht für die Konkretisierung der Unzumutbarkeit geeignet: Wenn hier auf den Verstoß gegen die guten Sitten und den Widerspruch zur ethischen Ordnung abgestellt wird, so erinnert dies doch stark an die Ausführungen, die üblicherweise zu § 138 I BGB gemacht werden. Danach ist ein Rechtsgeschäft nichtig, das gegen die guten Sitten, also gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. 77 Die Fälle, in denen eine absolute Unzumutbarkeit vorliegen soll, scheinen daher doch eher ein Anwendungsfall des § 138 I BGB zu sein. Dessen Rechtsfolge ist jedoch bekanntlich die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts. Die Diskussion um die Durchbrechung des Grundsatzes pacta sunt servanda wegen Unzumutbarkeit ist in diesem Fall aber entbehrlich, da die Leistungsverpflichtung erst gar nicht entstanden ist. Lücke a. a. 0., S. 48. Zur Abgrenzung Wegfall der Geschäftsgrundlage/a. o. Kündigung siehe D. XI., s. 257 ff. 74 Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, S. 419; Soergel Teichmann, § 242 Rdn. 270. 75 Anzumerken ist hier, daß der Verstoß gegen die guten Sitten untauglich für die Unzumutbarkeitsbewertung im Rahmen schuldrechtlicher Leistungsverpflichtungen ist, da dieser zu Nichtigkeit der Leistungsverpflichtung gern. § 138 BGB führt. 76 Darauf stellt das BVerfG NJW 1993, S. 1751 (1754) ab. Auf die "Opfergrenze" stellt auch der BGH häufig ab, vgl. BGH DB 1958, S. 1324 (1325); BGH GmbHRdschau 1981, S. 241 (242); BGH WM 1984, S. 662 (663): "Grenze des Tragbaren". 77 Siehe anstatt aller Palandt-Heinrichs, § 138 Rdn. 2. 72 73

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Es liegt nun einmal im Wesen eines unbestimmten Rechtsbegriffes, daß er nicht abstrakt definiert und somit auf jeden zu beurteilenden Sachverhalt schematisch angewendet werden kann, er ist eben keine konstante Größe, die einer endgültigen Begriffsbestimmung zugänglich ist. Damit ist zwar einerseits das rechtsstaatliche Gebot der Bestimmtheit von Rechtsbegriffen zwecks Vorhersehbarkeit von Rechtsfolgen und der damit verbundenen Rechtssicherheit nicht optimal erfüllt. Der Gesetzgeber kommt jedoch nicht darum herum, aufgrund der Vielzahl von möglichen, verschiedenen Sachverhalten unbestimmte Rechtsbegriffe wie den der Unzumutbarkeit in Gesetzestexte mitaufzunehmen, um somit eine gerechte, flexible Anpassung an die konkreten Umstände des Einzelfalles zu ermöglichen. Die Beurteilung der Unzumutbarkeit einer Leistungsverpflichtung hat für den konkreten Fall deshalb stets im Wege einer Interessen- und Güterahwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles stattzufinden.78 b) Leitlinien für die richterliche Unzumutbarkeitsbewertung Die Schwierigkeit einer abstrakten Definitionstindung hindert jedoch nicht daran, generelle Grundsätze für die Konkretisierung des Unzumutbarkeitsbegriffes herauszuarbeiten, die dem Richter Leitlinien zur Beurteilung der Unzumutbarkeit im konkreten Einzelfall liefern, um somit die Einzelfallbewertung übergeordneten Gesichtspunkten zu unterwerfen. aa) Vorhersehbarkeit der nachteiligen Veränderung

Anerkannt ist, daß die Vorhersehbarkeit der Veränderung für den nachteilig Betroffenen bei dem Unzumutbarkeitstatbestand zu berücksichtigen ist.79 Hat der Betroffene sich vertraglich verpflichtet, obwohl die Veränderung der Umstände für ihn vorhersehbar war, so soll er sich nicht ohne weiteres auf die Unzumutbarkeit der Leistung berufen können. Die Vorhersehbarkeit führt zwar nicht automatisch zur Vemeinung der Unzumutbarkeit, jedoch unterliegt sie dadurch strengeren Maßstäben als im NormalfalL 80 Die Besonderheiten des Tarifvertrags sind jedoch bei der begrenzenden Wirkung der Vorhersehbarkeit zu berücksichtigen. Der Vorhersehbarkeits78 Chiotellis a. a. 0., S. 46; Haarmann, Wegfall der Geschätfsgrundlage bei Dauerrechtsverhältnissen, S. 36; BGHZ 47, 49 (53); BGHZ 58, 355 (363); Köbler a.a.O., s. 223. 79 Larenz a.a.O., S. 107; Köhler a.a.O., S. 232; Lembke, Vorhersehbarkeit und Geschäftsgrundlage, S. 168 ff.; Chiotellis a.a.O., S. 58. 80 Chiotellis a.a.O.; Köhler a.a.O.; Belling/Hartmann, ZfA 1997, S. 87 (100).

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aspekt setzt nämlich voraus, daß eine etwaige Leistungserschwerung für den Vertragsschließenden im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses erkennbar war. Warum sollte er sich auf die Veränderungen berufen können, wenn er trotz ihrer Vorhersehbarkeit sich im Rahmen autonomer Vertragsgestaltung dem Risiko der Leistungserschwernis ausgesetzt hat? Im Tarifvertragsrecht ist jedoch dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Erbringung der vereinbarten Leistung nicht die Verbände als Vertragsparteien in Bedrängnis bringt, sondern die einzelnen, durch den Tarifvertrag fremdbestimmten Unternehmen. Diesen Aspekt vernachlässigt das Arbeitsgericht Wiesbaden 8 \ wenn es ausführt, daß bereits bei Abschluß der Tarifverträge 1996 eine krisenhafte Entwicklung der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern vorlag, deren Ausmaß im einzelnen noch nicht abzusehen war. Dies werde schon aus dem Vorbringen des Beklagten deutlich, wonach sich die ostdeutschen Mitgliedsverbände gegen die streitgegenständlichen Tarifverträge ausgesprochen hätten und in der Abstimmung von den westdeutschen Verbänden überstimmt worden seien. Auch im Schlichtungsverfahren sei die schwierige konjunkturelle Lage der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern ausführlich dargelegt worden. Das vorhersehbare Risiko möglicher Zahlungschwierigkeiten hätte die Arbeitgeberseite deshalb durch die Vereinbarung von kurzen Laufzeiten oder eines außerordentlichen Kündigungsrisikos begrenzen können. Da dies nicht geschehen sei, hätten sie das Risiko der Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf sich genommen. Das ArbG Wiesbaden führt selbst aus, daß sogar die Verbände in den neuen Bundesländern sich ohne Erfolg gegen den in ihren Augen nicht erfüllbaren Tarifabschluß gewehrt hätten. Wenn es aber nicht einmal den Verbänden gelingt, sich gegen den venneintlich wirtschaftlich "unvernünftigen" Abschluß durchzusetzen, wie soll dies dann dem einzelnen Unternehmen möglich sein, das letztlich einzig und allein von den Tarifvereinbarungen wirtschaftlich betroffen ist. Das Argument, daß sich die Unternehmen aufgrund von Vorhersehbarkeit und unterlassener Vorsorgemaßnahmen selbst in die unzumutbare Situation bringen, die sie dann auch "auszubaden haben", ist somit mangels ausreichender Einwirkungsmöglichkeiten der Unternehmen auf die Tarifvertragsinhalte im Tarifvertragsrecht nicht überzeugend.82

BI 82

ArbG Wiesbaden NZA 1997, S. 451 (453 f.). Ebenso Belling/Hartmann a. a. 0., S. 115.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

bb) Verursachung der nachteiligen Entwicklung

Ferner ist bei der Unzumutbarkeitsbewertung eine etwaige Verursachung der nachteiligen Entwicklung durch den Betroffenen selbst zu berücksichtigen. Hat er die Bedingungen, die ihm die Vertragserfüllung nun so sehr erschweren, selbst herbeigeführt, so muß sein Berufen auf die Unzumutbarkeit als venire contra factum proprium bewertet werden, das ebenso wie die Vorhersehbarkeit strengere Maßtäbe für die Zumutbarkeitprüfung zur Folge hat.s3 Indes kommt auch diesem Gesichtspunkt bei der Bewertung der Zumutbarkeit von Tarifverträgen hinsichtlich wirtschaftlichen Veränderungen keine Bedeutung zu. Es wird wohl kaum möglich sein, die Verbände für die negative ökonomische Entwicklung verantwortlich zu machen, erst recht nicht das einzelne Unternehmen, auf das ja letztlich abzustellen ist. cc) Veifassungsvorgaben der Art. 12, 14 GG

Wesentlich bedeutender für das Tarifvertragsrecht dürfte der Einfluß der Verfassung auf die Anwendung des Unzumutbarkeitsprinzips sein. Bereits im ersten Kapitel wurde dargelegt84, daß bei der Anwendung bzw. Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen die Werteaussagen unserer Verfassung zu berücksichtigen sind. Das BVeifG85 führt in diesem Zusammenhang aus: "... Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. . . . Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertesystem muß als verfasssungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf im Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden. ... Der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe wird sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privatrechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten und so einen Teil des ordre public - im weiten Sinne - bilden, d.h. der Prinzi83 BGHZ 129, 297 (310); Koebler a.a.O., S. 233; Köhler, Unmöglichkeit und Geschäftsgrundlage bei Zweckstörungen im Schuldverhältnis, S. 147. 84 s.o., VI. 4., S. 63 f. 85 BVerfGE 7 198 (204 ff.). Eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht erkennen ebenfalls an BGHZ 26, 349 (354); BGHZ 27, 284 (285); Palandt - Heinrichs § 242 Rdn. 8; MünchKomm - Roth, § 242 Rdn. 38.

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pien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Einzelnen verbindlich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Privatwillens entzogen sind. Diese Bestimmungen haben nach ihrem Zweck eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht, dem sie sich ergänzend anfügen. Das muß sie im besonderen Maße dem Einfluß des Verfassungsrechts aussetzen. Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses [der Einfluß des Verfassungsrechts] vor allem die "Generalklauseln die, wie § 826 BGB, zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja außerrechtliche Maßstäbe wie die "guten Sitten" verweisen .... Deshalb sind mit Recht die Generalklauseln als die ,,Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet worden.".

Nach diesen von dem BVeifG entwickelten Grundsätzen über die mittelbare Drittwirkung86 der Grundrechte findet die Werteordnung derselben Eingang in das Privatrecht, u. a. auch durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unzumutbarkeit87. Dieser Begriff füllt den Tatbestand des hier maßgeblichen § 626 BGB aus, eine Norm, die bekanntlich nicht abdingbar ist und somit zwingende Wirkung entfaltet. 88 Dem § 626 BGB kommt deshalb, entsprechend den Ausführungen des BVeifG, wie den öffentlich-rechtlichen Vorschriften eine bedeutende Rolle für die öffentliche Ordnung zu und ist deshalb im besonderen Maße an Verfassungsvorgaben gebunden. Wie im ersten Kapitel ist deshalb auch hier Art. 12 GG von entscheidender Bedeutung für die Unzumutbarkeitsbewertung im Rahmen der außerordentlichen Kündigung eines Tarifvertrages. Wurde oben bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Günstigkeit auf die Rechte des Arbeitnehmers, die ihm durch Art. 12 GG erwachsen, abgestellt, so ist hier zusätzlich der Frage nachzugehen, welche Rechte dem einzelnen Unternehmen gern. den Art. 12, 14 GG zukommen und welche Vorgaben dem Richter dadurch bei der Interessen- und Güterahwägung im Rahmen der Unzumutbarkeitsbewertung des Tarifvertrages gegeben werden.

86 Auf den Streit unmittelbare Wirkung/mittelbare Drittwirkung der Grundrechte soll hier nicht näher eingegangen werden, da letztlich entscheidend ist, daß bei der Unzumutbarkeitsprüfung die Werteordnung der Grundrechte zu beachten ist, unabhängig davon, ob dies unmittelbar oder nur mittelbar über die Generalklauseln erfolgt. Zum Streit unmittelbare Wirkung/mittelbare Drittwirkung vgl. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 285 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 173 ff. 87 So für den Begriff der Unzumutbarkeit ausdrücklich AK-Teubner, § 242 Rdn. 106. 88 RGZ 75, 234 (238); RGZ 96, 197 (199); BGHZ 8, 348 (360); BAG AP Nr.l zu § 626 Kündigungserschwerung; Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, S. 265 ff., 465; Staudinger - Neumann, § 626 Rdn. 59; Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, S. 59.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages (1) Schutzbereich der Art. 12, 14 GG im Hinblick

auf Arbeitgebergrundrechte

Der Arbeitgeber untersteht der Berufsfreiheit des Art. 12 GG ebenso wie der Eigentumsfreiheit des Art. 14 GG. Einschlägig ist Art 12 GG deshalb, weil der Arbeitgeber mit der Unternehmensgründung und -fiihrung von seinem Recht gern. Art 12 GG Gebrauch macht, eine bestimmte Tätigkeit zum Erhalt bzw. der Schaffung seines Lebensunterhaltes auszuüben. 89 Daneben sichert die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG dem einzelnen Unternehmer zu, mit seinem "gewerblichen" Eigentum und seinem produktiven Vermögen nach eigenem Ermessen zu verfahren; der Schutz des Art. 14 GG kommt immer dann in Betracht, wenn die Innehabung und die Verwendung dieser vorhandenen Vermögensgüter begrenzt wird. 90 Unser Grundgesetz schützt somit nicht nur durch Art 12 GG die Möglichkeit selbständiger gewerblicher Betätigung an sich, sondern durch Art. 14 GG ebenso die freie Betätigung in dem gewählten Gewerbe. 91 Die Eigentumsgarantie gern. Art. 14 GG ist daher aufgrundder vermögensmäßigen Qualifikation des Unternehmerdaseins ebenfalls verbindlich92, Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie schützen somit gemeinsam die Freiheit der unternehmefischen Betätigung93 und stehen daher in Idealkonkurrenz zueinander. Dies gilt unstreitig zumindest fiir solche Beschränkungen, die sowohl den vorhandenen Bestand an vermögenswerten Gütern, also das bereits Erworbene, als auch die Erwerbs- und Leistungstätigkeit, also die Erwerbschancen des einzelnen, beeinträchtigen. Nach dem BVerfG kommt Art. 14 GG dann zur Anwendung, wenn eine Regelung wegen ihrer Schwere in die Substanz eines Gewerbebetriebes eingreift, so daß sie eine "erdrosselnde Wirkung94" für den Bestand des Unternehmens hat. Anerkannt ist heute deshalb, daß als Eigentum i. S. v. Art. 14 GG auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb anzusehen ist, wodurch vor allem der eigentliche Bestand des Unternehmens geschützt wird. 95 Unerheblich für die Anwendbarkeit der Art. 12, 14 GG ist, daß der Arbeitgeber bzw. der Unternehmer in den meisten Fällen keine einzelne Zum Schutzbereich des Art. 12 GG s.o. VI. 4. a). BVerfGE 292 (335). 91 Rüfner, Der Staat 1968, S. 41 (51). 92 Vgl. hierzu und zum Begriff des Unternehmens Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 8. 93 Maunz/Dürig/Herzog - Scholz, Art. 12 Rdn. 123; Scholz, AöR 100 (1975), s. 80 (127 f.). 94 BVerfGE 38, 106 (102). 95 Maunz/Dürig/Herzog- Scholz, Art. 14 Rdn. 95. 89 90

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natürliche Person ist, sondern eine zur rechtlichen Willenseinheit verbundene Personenmehrheit, die als juristische Person selbst Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung des BverfG kann zwar eine juristische Person nicht einen Beruf im Sinne einer Lebensaufgabe, in der sich die menschliche Persönlichkeit voll ausformt und vollendet, ausüben, jedoch ist Art. 12 GG gern. Art. 19 III GG auch auf juristische Personen anwendbar, wenn eine zu Erwerbszwecken dienende Tätigkeit ihrem Wesen nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden kann. 96 Auch der Eigentumsschutz gern. Art. 14 GG wird nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG juristischen Personen zugeschrieben.97 (2) Eingriff in Arbeitgebergrundrechte aus Art 12, 14 GG durch Tarifvertragsabschluß Durch die zwingende Wirkung des Tarifvertrages wird in die so definierte Berufsfreiheit der tarifunterworfenen Arbeitgeber eingegriffen. Dem Arbeitgeber ist es ebenso wie dem Arbeitnehmer durch Art. 12 GG garantiert, die Bedingungen der Arbeitsverhältnisse seines Unternehmens frei auszuhandeln. Ihm steht das Dispositionsrecht über die Arbeitsplätze98 an sich sowie über alle weiteren Arbeitsinhalte, den Arbeitslohn eingeschlossen, zu. 99 Durch die zwingende Wirkung des Tarifvertrages werden dem tarifgebundenen Arbeitgeber diese Regelungsbefugnisse entzogen; die einzelnen Bedingungen, die die Arbeitsverhältnisse seines Unternehmens ausfüllen, werden nun durch den Tarifvertrag gern. § 4 TVG verbindlich vorgegeben. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die freie Berufswahl verletzt, wenn eine Regelung den aus der Berufsausübung erzielten Gewinn soweit mindert, daß der einzelne Unternehmer sich zur Aufgabe seines bisherigen Berufs veranlaßt sieht, weil er wirtschaftlich nicht mehr in der Lage ist, den gewählten Beruf ganz oder teilweise zur Grundlage seiner Lebensführung oder - bei juristischen Personen - zur Grundlage ihrer Unternehmerischen Erwerbstätigkeit zu machen 100. Der Tarifvertrag greift deshalb in die Berufswahlfreiheit des Unternehmens ein, wenn es den Unternehmen nicht mehr möglich ist, zu den tariflichen Bedingungen gewinnbringend zu produzieren. BVerfGE 21, 261 (266); 22, 380 (383); 30, 229 (312); 50, 290 (363). Siehe nur BVerfGE 53, 336 (345); 66, 116 (130). 98 Maunz/Dürig/Herzog- Scholz, Art.l2 GG Rdn. 52. 99 Maunz/Dürig/Herzog, a.a.O. Rdn. 125. 100 BVerfGE 30, 292 (314); 13, 181 (187); 16, 147 (165). 96

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II Freihube

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Auch Art. 14 GG ist durch den Tarifvertragsabschluß in seinem Schutzbereich betroffen, da die genannten Unternehmerfreiheiten auch Ausfluß der eigentumsrechtlichen Nutzung wirtschaftlicher Vermögensrechte, namentlich des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, sind. Durch die Gestaltung seines Betriebsablaufes, z. B. die Bestimmung der Länge der Arbeitszeiten, der Laufzeiten der Maschinen usw. handelt es sich um typische Nutzungs- oder Ausübungsformen eigentumsrechtlich vermittelter Betätigungsfreiheiten 101 , da der Eigentumsgarantie gerade die Aufgabe zukommt, "dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen." 102 Wenn nun der Tarifvertrag mit zwingender Wirkung z. B. anordnet, daß die wöchentliche Arbeitszeit nicht länger als 36 Stunden betragen darf, die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regelt und Vorgaben für den Urlaub der Arbeitnehmer gibt, so liegt damit ein Eingriff in das durch Art. 14 GG gewährleistete Recht des Unternehmers auf Vermögensnutzung vor. Dies gilt unzweifelhaft zumindest für den Fall, in dem der Tarifvertrag für das Unternehmen wirtschaftlich nicht mehr zu verkraften ist, denn dann kommt dem Tarifvertrag eine "erdrosselnde Wirkung" für den Gewerbebetrieb zu und wirkt durch die Bestandsgefährdung auf ein bereits erworbenes Vermögensgut103, das Unternehmen, ein. (3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs/Bedeutung für die Unzumutbarkeitsprüfung

Bei der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen wird der kündigende Verband sich stets darauf berufen, daß die Tarifbedingungen, insbesondere die tariflichen Löhne, von seinen Mitgliedern nicht mehr wirtschaftlieh zu verkraften sind und sie sich bei deren weiterer Einhaltung der Gefahr der Insolvenz bzw. des Arbeitsplatzabbaues aussetzen. Es ist deshalb der Frage nachzugehen, ob die Gefahr der Betriebsstillegung bzw. der Belegschaftsreduzierung aufgrund der genannten Grundrechte des Arbeitgebers, die als Maßstab bei der Unzumutbarkeitsprüfung heranzuziehen sind, die Unzumutbarkeit der weiteren tariflichen Bindung begründet. Wie bereits unter B. VI. 4. b) dargestellt, ist Art. 12 GG nicht vorbehaltlos gewährt. Vielmehr kann gern. Art. 12 I 2 GG die Berufsausübung durch oder aufgrund eines Gesetz geregelt werden. Maunz/Dürig/Herzog a. a. 0 . BVerfGE 24, 367 (389); 50, 290 (339). 103 Auf den Schutz des Art. 14 GG für bereits erworbene Vermögenspositionen stellt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung ab. Vgl. nur BVerfGE 30, 292 (334). 101

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Il. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

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Nach heute h. M. gilt der Regelungsvorbehalt nicht nur für die Berufsausübung, sondern auch für die anderen in Art. 12 GG genannten Freiheiten.104 Festgestellt wurde ebenfalls, daß den Tarifparteien eine Rechtssetzungrnacht zu Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zukommt, wobei einige annehmen, daß diese gern. den §§ 1 I, 4 TVG vorn Gesetzgeber auf die Tarifparteien delegiert wurde, andere hingegen diese Kompetenz unmittelbar aus Art. 9 III GG ableiten wollen. Weiterhin wurde dargelegt, daß die Koalitionen bei dem Gebrauch dieser Norrnsetzungsbefugnis in demselben Maß an die Grundrechte gebunden sind wie der staatliche Gesetzgeber. 105Die Tarifverträge sind also im vollen Umfang wie staatliche Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfbar. Ein Tarifvertrag, der ein Unternehmen der Gefahr der Insolvenz aussetzt und somit in die Art. 12, 14 GG eingreift, kann deshalb nur dann vor der Verfassung Bestand haben, wenn er den Schranken des Art. 12 GG und des Art. 14 GG gerecht wird. Dies deshalb, weil hier der Tarifvertrag in die Schutzbereiche zweier Grundrechte fallt (Idealkonkurrenz) und somit die Schutzwirkung und die Schranken beider Grundrechte zur Geltung gelangen. 106

(a) Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 12 GG Die Bewertung eines für einzelne Unternehmen wirtschaftlich nicht mehr zu verkraftenden Tarifvertrages anband des Art. 12 GG bereitet hier keine große Schwierigkeiten mehr, da im wesentlichen auf das oben Gesagte 107 zurückgegriffen werden kann. Was für den Arbeitnehmer in diesem Zusammenhang angeführt wurde, gilt natürlich auch für den Arbeitgeber: Zwar läßt sich hier die Verfassungswidrigkeit eines für das Unternehmen existenzbedrohenden Tarifvertrages nicht schon aus dem Funktionzusammenhang zwischen Art. 9 III und Art. 12 GG begründen, 108 jedoch kommt ansonsten die obige Argumentation an dieser Stelle voll zur Geltung: Auch hier gilt wieder, daß eine solche berufswahlbeschränkende Regelung nur dann verfassungsrechtlich legitimiert, also verhältnismäßig i. e. S. ist, wenn sie zur Abwehr von Schäden für überragend wichtige Gemeinschaftsgüter unerläßlich ist. s.o. B. VI. 4. e) bb) (3). s.o. B. VI. 4. d) cc). 106 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 343. 107 s.o. B. VI. 4. e) bb) (3). tos s.o. B. VI. 4. e) bb) (2). 104

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Als ein solches Allgemeingut kommt zunächst wieder das öffentliche Interesse am Bestehen eines funktionierenden Tarifwesens zur Schaffung eines Interessenausgleichs der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen in Betracht, welches nur dann als wirklich funktionstüchtig angesehen werden könnte, wenn die Tarifverträge auch tatsächlich eingehalten werden, bis hin zur Existenzvernichtung eines Verbandsunternehmens. Eine funktionierende Tarifautonomie setzt natürlich voraus, daß die im Tarifvertrag festgehaltenen Arbeitsbedingungen auch tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden. Oben 109 wurde jedoch ausführlich erläutert, warum die Tarifautonomie nicht gefährdet oder gar abgeschafft wird, wenn man einzelnen in ihrer Existenz bedrohten Unternehmen ein Ausscheren aus dem Tarifvertrag gestattet. Dies wurde u. a. mit der durch Art. 9 III GG den Koalitionen übertragenen Aufgabe begründet, neben der kollektiven Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse vor allem auch für den Bestand derselben zu sorgen. Zur Vermeidung von Wiederholungen soll an dieser Stelle lediglich auf die obigen Ausführungen verwiesen werden, insbesondere deshalb, weil für ihre Geltung unerheblich ist, ob eine Berufswahlbeschränkung des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers vorliegt. Auch das Streben nach einer Vollbeschäftigung als anerkanntes Gemeinschaftsgut kann eine Berufswahlbeschränkung der Unternehmen in der Form, daß sie durch die Tarifabschlüsse zur Einstellung des Betriebes gezwungen werden, nicht rechtfertigen. Verwiesen sei hier die oben 110 getroffenen Ausführungen, in denen insbesondere deutlich gemacht wurde, daß die Forderung nach einer strikten Einhaltung der Tarifbedingungen, vor allem der (kurzen) Arbeitszeiten, zwecks Beschäftigungsförderung im Falle der Existenzbedrohung eines Unternehmens unangebracht ist. Auch gesundheitspolitische Motive wie z. B. der Schutz der Arbeitnehmer vor gesundheitsschädigenden Arbeitszeiten spielen bei den heutigen niedrigen Arbeitszeiten keine Rolle mehr. 111 Es ist also nicht ersichtlich, inwieweit überragend wichtige Gemeinschaftsgüter die berufswahlbeschränkende, wirtschaftliche Vernichtung eines Unternehmens durch den Tarifvertrag rechtfertigen könnten.

(b) Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 14 GG Wie bereits gesagt, steht nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG der Schutz des Eigentums durch Art. 14 GG dem Unternehmen genauso zu wie 109 110

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s.o. B. VI. 4. e) bb) (3) (a). s.o. B. VI. 4. e) bb) (3) (c). s.o. B. VI. 4. e) bb) (b).

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dem individuellen Eigentümer. Beschränkungen der Unternehmenseigentumsbefugnisse können daher auch nur innerhalb der in Art. 14 GG festgelegten Schranken erfolgen. Nach Art. 14 I GG kann die Eigentumsfreiheit durch gesetzliche Inhaltsund Schrankenbestimmungen verkürzt oder erweitert werden. Da die Tarifvertragsparteien genauso an die Grundrechte gebunden sind wie der staatliche Gesetzgeber, können auch sie nur das unternehmerisch genutzte Eigentum in dem Rahmen inhaltlich bestimmen und beschränken, wie es dem Gesetzgeber erlaubt ist. Ob es sich bei dem das einzelne Unternehmen zur Aufgabe zwingenden Tarifvertrag um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 I GG oder sogar um eine Enteignung gern. Art. 14 III GG handelt, ist anband der durch das BVeifG herausgearbeiteten Abgrenzungkriterien festzumachen. Eine Inhalts- und Schrankenbestimmung liegt nach dem BVeifG dann vor, wenn die Rechte und Pflichten des Eigentümers generell und abstrakt festgelegt werden. 112 Eine Enteignung hingegen ist auf die vollständige und teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumsrechte gerichtet. 113 Zur Abgrenzung bietet es sich deshalb an, entsprechend der Rechtsprechung des BVeifG darauf abzustellen, ob die Regelung abstrakt oder konkret, individuell oder generell Eigentumspositionen beschränkt oder völlig entzieht. 114 Bei einer tarifvertragliehen Regelung, die ein Unternehernen zur Beendigung der wirtschaftlichen Tätigkeit zwingt, handelt es sich nach den genannten Abgrenzungskriterien um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung: Durch den Tarifvertrag werden generell die Verwendungs- und Nutzungsbefugnisse des grundrechtlich geschützten Eigentums aller tarifunterworfenen Verbandsmitglieder geregelt. Aufgrund der normativen Wirkung des Tarifvertrages sind nicht nur individuelle Unternehmen, sondern alle Verbandsunternehmen den Reglementierungen unterworfen. Auch werden hier nicht gezielt Eigentumspositionen völlig entzogen, selbst wenn im Ergebnis im Falle des tatsächlichen, tarifbedingten Konkurseintritts vom Unternehmenseigentum nicht mehr viel übrig bleibt. Ein Tarifvertrag ist aber natürlich nicht, wie dies für eine Enteignung erforderlich ist, von vornherein darauf angelegt, bestimmtes Unternehmenseigentum den Unternehmern gänzlich zu entziehen. Maßgeblich ist also, ob die tariflichen Bedingungen als Inhalts- und Schrankenbestimmungen noch mit Art. 14 GG vereinbar sind, wenn sie für 112 113 11 4

BVerfGE 58, 300 (330). BVerfGE 52, 1 (27). Vgl. dazu auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 922.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

einzelne Unternehmen mangels der Möglichkeit, noch wettbewerbsfähig zu arbeiten, das "wirtschaftliche Aus" bringen. Eine Inhalts- und Schrankenbestimmung ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. 115 Auch hier ist deshalb wie bei Art. 12 GG zu prüfen, ob die Belastung des Eigentümers in einem angemessenen Verhältnis zu den mit der Regelung verfolgten Interessen steht, ob sie also verhältnismäßig im engeren Sinne bzw. angemessen ist. Es verwundert nicht, daß man hier ebenfalls die Beschränkung der Unternehmerrechte bis hin zur Betriebseinstellung nicht durch Allgemeinbelange rechtfertigen kann. Wie bei Art. 12 GG sind m.E. keine Gründe ersichtlich, die die Einhaltung des Tarifvertrages als inhaltliche Ausgestaltung der Unternehmenseigentumsbefugnisse sogar dann noch als für das Unternehmen hinnehmbar erscheinen lassen könnten, wenn dieses dadurch zur völligen Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit gezwungen wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in Art. 14 II GG die besondere Sozialpflichtigkeit des Eigentums festgeschrieben wird. Aufgrund dieser kann nach dem BVerfG eine Inhalts- und Schrankenbestimmung in ihrer Wirkung um so weiter gehen, je mehr das Eigentum in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht. 116 Das Unternehmereigentum weist unstreitig einen großen sozialen Bezug auf, weil das Angewiesensein der in Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer auf ihren Arbeitsplatz dem Unternehmen eine soziale Verpflichtung auferlegt. Genau diese Abhängigkeit von der Bereitstellung von Arbeitsplätzen als sozialer Bezug des Unternehmenseigentums spricht hier aber gegen eine zu weitgehende Tarifbindung als Inhaltsbestimmung. Durch eine etwaige Insolvenz aufgrund der Tarifbindung und damit verbundenen Arbeitsplatzverlusten würde dem sozialen Bezug des Eigentums gerade nicht, wie vom BVerfG gefordert, ausreichend Rechnung getragen. Die soziale Funktion des Unternehmens, die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, würde durch die Stillegung des Betriebes gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Als Umkehrschluß zu der geforderten Berücksichtigung der sozialen Verpflichtung des Eigentums läßt sich also sagen, daß eine Inhalts- und Schrankenbestimmung umso restriktiver zu handhaben ist, je mehr dies zur Beeinträchtigung sozialer Allgemeininteressen führt. Als nicht mehr zulässig bzw. nicht mehr bindend muß deshalb ein Tarifvertrag als Inhalts- und Schrankenbestimmung angesehen werden, wenn dies zur Betriebsstillegung und damit zum den sozialen Allgemeinbedürfnissen zuwiderlaufenden Arbeitsplatzabbau führt. 115 BVerfGE 75, 78 (97 f.); BVerfGE 76, 220 (238); Pieroth/Schlink a. a. 0., Rdn. 929. 116 BVerfGE 53, 257 (292); 70, 191 (201); 79, 292 (302).

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Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob bei einer Stillegung des Unternehmens nicht sogar das Eigentumsgrundrecht in seinem Wesensgehalt betroffen und somit die tarifliche Regelung gern. Art. 19 II GG verfassungswidrig ist. Unstreitig ist, daß Art. 19 II auch auf Art. 14 GG Anwendung findet 117• Zu dem Kernbereich der Eigentumsgarantie gehört nach dem BVeifG "sowohl die Privatnützigkeit, also die Zuordnung des Eigentumsobjekts zu einem Rechtsträger, dem es als Grundlage privater Initiative von Nutzen sein soll, als auch die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand". 118 Kennzeichnend für die Privatnützigkeit des Unternehmenseigentums ist jedoch die Ertrags- bzw. die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Ein privater Nutzen ist nicht mehr vorhanden, wenn der Eigentümer keinen Gewinn mehr aus dem Unternehmen ziehen kann. Ohne die Möglichkeit einer rentablen wirtschaftlichen Nutzung des Unternehmens bleibt den Unternehmenseigentümern nur ein "formaler Rechtstitel", der den Namen des Eigentums nicht mehr verdient. Indem dem Unternehmer die Ertragsfähigkeit seines Unternehmens genommen wird, liegt keine Privatnützigkeit desselben mehr vor, wodurch die Eigentumsgarantie in ihrem substantiellen Bestand geschädigt und somit in ihrem Wesensgehalt i.S. v. Art. 19 II GG betroffen ist. 119 Ein Tarifvertrag, der dem Unternehmen die Rentabilität und somit die Privatnützigkeit nimmt, ist deshalb nicht nur als unzulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung, sondern ebenfalls wegen Verstoßes gegen Art. 19 II GG als verfassungswidrig anzusehen. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben hat der Richter bei der Anwendung des Unzumutbarkeitsprinzip zu beachten. Der unbestimmte Rechtsbegriff der Unzumutbarkeit wird durch die gefundenen verfassungsrechtlichen Erkenntnisse hinsichtlich des Tarifvertrages und seiner Vereinbarkeil mit den Art. 12, 14, 19 II GG dahingehend konkretisiert, daß die tarifliche Bindung als unzumutbar angesehen werden muß, wenn durch sie die Existenz von Betrieben aufs Spiel gesetzt wird, wobei noch zu klären ist, wieviele Verbandsmitglieder gefährdet sein müssen. Eine andere Beurteilung würde gegen die für die gesamte Rechtsordnung verbindlichen Verfassungswerte verstoßen. 117 Art. 19 II GG prüft das BVerfG wie selbstverständlich in BVerfGE 21, 92 (93}, so auch BVerwGE 11, 95 (96). 11s BVerfGE 91, 294 (308). 119 Badura, ZfA 1974, S. 357 (360 f.); Scholz, Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, S. 55 f.; derselbe, Paritätische Mitbestimmung und Gundgesetz, s. 80 f.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Einer solchen Betrachtungsweise steht auch nicht entgegen, daß der Verband, der wegen Unzumutbarkeit den Tarifvertrag außerordentlich kündigen will, nicht unmittelbar den Tarifbedingungen unterworfen ist. Erstens kann die unzumutbare Bindung seiner Mitgliedsunternehmen auch für ihn schwerwiegende Folgen haben, worauf noch später einzugehen ist. Zweitens ist es ja gerade die Besonderheit des Tarifvertrages, daß im Unterschied zum allgemeinen Vertragsrecht bei der Unzumutbarkeitsprüfung nicht auf die Vertragsparteien abzustellen ist, sondern vielmehr auf die Verbandsmitglieder, da sie als die Normunterworfenen die Folgen der tariflich festgelegten Arbeitsbedingungen zu tragen haben. 120 Maßgebliche Kriterien für die Bestimmung des Unzumutbarkeitstatbestandes sind somit die akute Gefahr der Betriebstillegung und ein damit verbundener Arbeitsplatzabbau. c) Quantitative Unzumutbarkeit/Wieviele Unternehmen müssen von der Unzumutbarkeit des Tarifvertrages betroffen sein? Ergibt sich als Maßstab für die Unzumutbarkeit die akute Gefahr der Betriebsstillegung und des Arbeitsplatzabbaues, stellt sich nun die Frage, bei wievielen Verbandsunternehmen diese Bedrohung vorliegen muß. Hier ist bisher keine klare Linie in Rechtsprechung und Literatur erkennbar. So wird teilweise die Betroffenheit der "überwiegenden Mehrzahl" 121 , des "Großteils" 122 der Verbandsmitglieder gefordert, wobei auf die Rechtmäßigkeit eines Streiks verwiesen wird, der sich auch nicht nach der Widerstandsfähigkeit des finanziell schwächsten Betriebes richte. Ein Streik sei erst dann als rechtswidrig anzusehen, wenn nicht lediglich einzelne Betriebe, sondern der ganze Industriezweig gefährdet sei. Es stünde im evidenten Wertungswiderspruch zu der Kartellfunktion des Tarifvertrages, wenn bereits die Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung für einzelne Unternehmen ein außerordentliches Kündigungsrecht begründen könnte. 123 Nach einer weiteren Auffassung 124 soll die schlichte Mehrzahl ausreichend sein. Andere wiederum erachten bereits eine akute Gefahr für zehn Prozent der Unternehmen 125 bzw. einige wenige Unternehmen für ausreichend.126 120 Löwisch/Rieb1e, TVG, § 1 Rdn. 364; Buchner, NZA 1993, S. 289 (298); Oetker, RdA 1995, S. 82 (95). 121 Oetker a. a. 0. 122 Buchner a. a. 0. 123 Oetker a.a.O. 124 Henssler ZfA, 1994, S. 487 (491).

II. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

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Einig ist man sich lediglich darüber, daß die Gefahrdung eines einzelnen Unternehmens auf keinen Fall genügen kann. 127 Bei der vorliegenden Frage ist zunächst einmal zu beachten, daß im Vergleich zum allgemeinen Vertragsrecht bei der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen natürlich ein strengerer, engerer Maßstab anzulegen ist. Die Gründe hierfür liegen einmal mehr in den überragend wichtigen Funktionen, die dem Tarifvertrag zukommen und die schon mehrfach erläutert wurden. Im Gegensatz zu den meisten Dauerschuldverhältnissen, die aus dem allgemeinen Zivilrecht bekannt sind, ist der Tarifvertrag in einer einzigartigen Weise darauf angelegt, eine Stabilisierung der Verhältnisse der Vertragspartner herbeizuführen, die die Beteiligten auch vor den Einflüssen wirtschaftlicher Veränderungen schützen soll. 128 Tarifverträgen kommt eine wichtige Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft zu, sie sind Motor bzw. Meßgröße für zahlreiche weitere Verteilungsprozesse gesellschaftlichen Ausmaßes, man denke nur an die Ankoppelung des Rentenniveaus an die Tarifentwicklung. Die außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrages bringt die Gefahr mit sich, diese gesamte Basis zu untergraben. Schließlich erklären sich die gesteigerten Anforderungen im Vergleich zu sonstigen Dauerschuldverhältnissen aus der Rechtsnormqualität der Tarifverträge und ihrer Mindestsicherungsfunktion. Wenn die Rechtsnormen, die durch Tarifverträge geschaffen werden, durch außerordentliche Kündigungen beseitigt werden können, so müssen an die Voraussetzungen des fristlosen Kündigungsrechts strengste Anforderungen gestellt werden. Andernfalls muß man sich die Frage stellen, welche Rechtsnormqualität, die der Gesetzgeber ihnen beimessen wollte, ihnen überhaupt noch zukommt. Diesem zu berücksichtigenden gesteigerten Zumutbarkeitsmaß würde man nicht gerecht, wenn man bereits bei bloßer Gefährdung einzelner Unternehmen eine Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze annehmen würde. Darüber hinaus muß das Nichtbestehen einzelner Unternehmen am Markt, die möglicherweise auch schon vor dem Tarifabschluß wirtschaftlich schwach "dastanden", kein Indiz für die Unzumutbarkeit des Tarifvertrages sein. Vielmehr kann das Nichtbestehen am Markt auch auf unternehmensspezifische Mängel wie z. B. Mißmanagement zurückzuführen sein. In Steffen, JuS 1993, S. 1027 (1029). Däubler, ZTR 1996, S. 241 (244). 127 Hromodka in FSWlotzke, S. 333 (351); Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 45; Heßhaus a.a.O., S. 140; Münch ArbR Hb.- Löwisch, § 244 Rdn. 44 im Zusammenhang mit dem außerordentlichen Austrittsrecht eines gefährdeten Unternehmens. 12s Heßhaus a. a. 0., S. 143. 125

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

diesem Fall könnte das unwirtschaftlich produzierende, schwache Unternehmen der viel beschworenen Kartellfunktion des Tarifvertrages zum Opfer gefallen sein. Damit steht aber noch immer nicht fest, wieviele Unternehmen betroffen sein müssen, um die Unzumutbarkeitsschwelle zu überschreiten. M. E. ist die Stellung des Verbandes selbst bei dieser Frage in den Vordergrund zu stellen. Zwar ist bei der Bestimmung der Unzumutbakeitskriterien auf die von den Tarifnormen tatsächlich betroffenen Verbandsunternehmen abzustellen. Doch darf trotzdem nicht gänzlich vernachlässigt werden, daß letztlich der Verband selbst die außerordentliche Kündigung auspricht. Eine Unzumutbarkeit aufgrund der wirtschaftlichen Veränderung muß auch für ihn begründet sein, da ihm ansonsten kein außerordentliches Kündigungsrecht analog § 626 BGB zustehen kann, weil ein Kündigungsrecht immer nur den am Vertrag Beteiligten zusteht. 129 Wann aber ist die Unzumutbarkeit für den Verband gegeben? Auch hier hilft wieder ein Blick auf die Verfassung, nämlich auf Art. 9 m GG. Nach Art. 9 m GG kommt den Koalitionen das Recht ZU, über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eigenverantwortlich, frei von staatlicher Einflußnahme zu bestimmen. 130 Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, hat das BAG131 in ständiger Rechtsprechung klargestellt, daß an der durch Art. 9 m GG gewährleisteten Tarifautonomie nur solche Koalitionen teilhaben sollen, die als tariffähig anzusehen sind, denen also soviel Gewicht zukommt, daß sie im Verhältnis der Koalitionspartner zueinander einen im Rahmen der Rechtsordnung zulässigen fühlbaren Druck ausüben können, um somit die Aufnahme von Tarifverhandlungen und den Abschluß von Tarifverträgen zu erreichen. Ein angemessener und sozialer Interessenausgleich könne nur dann zustande kommen, wenn aufgrund einer gewissen Mächtigkeit der Koalition der soziale Gegenspieler ernst genommen wird, so daß die Regelung von Arbeitsbedingungen nicht allein von einer Seite diktiert wird, sondern tatsächlich als Ergebnis von gleichwertigen Verhandlungen erscheint. Das BVerfG schloß sich dieser Auffassung des BAG im Zusammenhang mit der Beurteilung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition an. 132 Unverständlicherweise hat das BAG133 nach heftiger Kritik in der Literatur134 seine Rechtsprechung dahingehend modifiziert, daß eine unterschied129

Finkentscher, Schuldrecht, § 37 III 2 Rdn. 255.

no BVerfGE 44, 322 (340 f.).

131 BAG AP Nr. 24 zu Art. 9 GG; Nr. 25 zu § 2 TVG; Nr. 34 zu § 2 TVG; Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 132 BVerfGE 58, 233 (250); ansatzweise auch schon BVerfGE 18, 18 (28); 50, 290 (366 ff.).

II. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

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liehe Betrachtungsweise der Tariffähigkeitsvoraussetzungen, insbesondere des Mächtigkeitsgrundsatzes, für Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen geboten sei. Dies insbesondere deshalb, weil § 2 I TVG eindeutig festlege, daß jeder einzelne Arbeitgeber zum Abschluß von Tarifverträgen in der Lage sei. Unter Hinweis auf das BVerfG 135 stellte der Erste Senat heraus, daß durch die Ausdehnung der Tariffähigkeit auf die einzelnen Arbeitgeber der Abschluß von Tarifverträgen und somit mittelbar auch die Realisierung der Koalitionsfreiheit begünstigt werden solle. Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers an ein besonderes Erfordernis der Mächtigkeit zu knüpfen, widerspreche dem Zweck des § 2 I TVG. 136 Sei eine gewisse soziale Mächtigkeit bzw. Durchsetzungskraft des einzelnen Arbeitgebers für seine Tariffähigkeit unerheblich, so müsse dies erst recht für die Tariffähigkeit des Arbeitgeberverbandes gelten. Gegen diese neuere Rechtsprechung des BAG ergeben sich m. E. erhebliche Bedenken, da sie den hinter der Tarifautonomie stehenden Grundgedanken, eine soziale Befriedung des Arbeits- und Wirtschaftslebens durch einen gerechten Interessenausgleich herbeizuführen, nicht genügend berücksichtigt: Ein Interessenausgleich kann immer nur dann als gerecht angesehen werden, er kann nur dann eine "Richtigkeitsgewähr" für sich beanspruchen, wenn zwischen den Beteiligten von Anfang an ein ausgewogenes Machtverhältnis besteht, so daß - wie das BAG selbst festgestellt hat - ein Diktat eines übermächtigen Verhandlungsgegners ausgeschlossen ist. Deshalb haben sich im Laufe des Jahrhunderts die Arbeitnehmer in den heute so mächtigen Gewerkschaften 137 zusammengefunden, um das damals bestehende strukturelle Übergewicht der Arbeitgeber auszugleichen. Diese immer mächtiger werdenden Arbeitnehmervereinigungen führten umgekehrt auch auf der Arbeitgeberseite zur Bildung von Arbeitgeberverbänden zwecks Schaffung einer gegengewichtigen Marktmacht Nur dadurch konnte dem einzelnen Arbeitgeber der benötigte Rückhalt im Arbeitgeberverband zum Ausgleich der Machtüberlegenheit der Arbeitnehmerkoalitonen gegeben werden. 138 Die Bildung von Arbeitgeberverbänden erfolgte also deshalb, weil die Arbeitgeber trotz Produktionsmittelbesitzes durch die ihnen gegenüberstehende solidarisierte Arbeitnehmermacht in ihrer Beweglichkeit, möglicherweise sogar ihrer Existenz gefährdet waren. M. E. liegt BAG AP Nr. 40 zu § 2 TVG. Siehe nur Zöllner SAE 1969, S. 140 (141); Ramm, JuS 1966, S. 223 (227 f.); Kempen/Zachert, TVG, § 2 Rdn. 9. 13S BVerfGE 20, 312 (318); 58, 233 (256). 136 BAG a. a. 0. 137 Zu den gesellschaftlichen, insbesondere sozialpolitischen Einflüssen der Gewerkschaften s. o.VI. 4. d) cc). 138 Boldt, RdA 1971, S. 257 (263). 133

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deshalb eine zu einseitige Betrachtungsweise vor, wenn man behauptet, die Gründung von Arbeitgeberverbänden erfolgte ausschließlich, um die alten Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wiederherzustellen. 139 Vielmehr waren sie damals und auch heute erforderlich, weil der Sachkompromiß des Tarifvertrages nur dann erfüllt werden kann, wenn eine "Waffengleichheit" aufgrund Gleichgewichtigkeit beider Tarifparteien, also sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite, besteht. Angesichts der effektiven Kampfmittel, die den Gewerkschaften zur Verfügung stehen, 140 sind Äußerungen dahingehend, daß ein Übergewicht der Gewerkschaften nur selten "wider aller Erwartung" 141 vorkomme, nur schwer nachzuvollziehen. Eine "Wahrung und Förderung des Arbeits- und Wirschaftslebens" erlaubt eine alljährliche Umgestaltung der Arbeitsbedingungen nach den Wünschen und Vorstellungen nur eines Sozialpartners gerade nicht, weshalb eine Parität beider Tarifvertragsparteien unbedingt erforderlich ist. Als notwendige Voraussetzung eines funktionierenden Tarifvertragssystems genießt das Gegengewichtsprinzip dabei selbst den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 9 GG, der sich nicht nur zugunsten eines Verhandlungspartners auswirkt. Entsprechend seiner funktionellen Anlage erfordert das Gegengewichtsprinzip vielmehr, daß keine der beiden Parteien in die Abhängigkeit der Gegenseite gerät. 142 Auch der Hinweis auf die Regelung des § 2 I TVG kann diese Forderung nicht entkräften. Zwar kann danach der einzelne Arbeitgeber Tarifverträge mit den Gewerkschaften abschließen. Dies führt jedoch nicht automatisch zu der Schlußfolgerung, daß nach Auffassung des Gesetzgebers jeder einzelne Arbeitgeber aufgrund seines Produktivvermögens immer in der Lage sei, den Forderungen der Gewerkschaften genügend "paroli" zu bieten. Vielmehr sollte durch § 2 I TVG "nur an diejenigen Arbeitgeber gedacht werden, die aus irgendwelchen Gründen von einem Arbeitgeberverband nicht erfaßt würden". In einer entsprechenden amtlichen Verlautbarung wurde deshalb ausgeführt, daß die Tariffahigkeit des einzelnen Arbeitgebers anerkannt wurde, weil es Arbeitgeber gibt, für die aus irgendwelchen anerkennenswerten Gründen der Beitritt zu einer Arbeitgebervereinigung nicht in Betracht kommt. 143 Dies ist durch Art. 9 Kempen/Zachert, TVG, § 2 Rdn. 75. Zur Hilflosigkeit der Arbeitgeber gegenüber den Streiks in der ostdeutschen Stahlindustrie im Jahr 1998 bereits oben Fn. 352. 141 So Kempen/Zachert, TVG, § 2 Rdn. 69. 142 Wiedemann, RdA 1986, S. 231 (236). 143 Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 2 Rdn. 59, Wiedemann - Oetker, TVG, § 4 Rdn 94 ff. 139

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II. Die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung

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III GG auch unbedingt geboten, da dieser die negative Koalitionsfreiheit ebenso schützt wie die positive. Jedem Arbeitgeber ist es also selbst überlassen, darüber zu befinden, ob er sich in einer Position befindet, die es ihm ermöglicht, auch ohne Hilfe eines Arbeitgeberverbandes als gleichwertiger Verhandlungspartner der Gewerkschaft in Firmentarifvertragsverhandlungen gegenüberzutreten. Bei mächtigen Großunternehmen mit besonderer volkswirtschaftlicher Bedeutung wie z. B. VW scheint dies unbedenklich zu sein. Wie aber steht es mit kleinen Betrieben? Das BAG hat selbst erkannt, daß es problematisch ist, für jeden auch noch so kleinen Arbeitgeber die Tariffähigkeit anzuerkennen, indem es ausführt: "Ob die gesetzliche Regelung des § 2 I TVG in jedem denkbaren Fall anwendbar ist, insbesondere bei den "kleinen"Arbeitgebem, die nicht in der Lage sind, einen sinnvollen Druck oder Gegendruck auszuüben, kann hier offen bleiben". 144

Nicht weiter ging das Gericht damals auf diese Thematik ein, weil nach seiner Auffassung der Arbeitgeber zweifelsfrei über genügend Durchsetzungskraft verfüge. Entschließt sich ein Arbeitgeber zum Verbandsbeitritt, womit auch finanzielle Nachteile in Form von Beitragszahlungen verbunden sind, dann liegt der Grund dafür doch wohl auch darin, daß er sich nicht in der Lage sieht, allein dem gewerkschaftlichen Druck genügend Widerstand zu leisten, um ein Diktat überspitzter Arbeitnehmerforderungen zu vermeiden. Ihm muß genauso wie dem einzelnen Arbeitnehmer das Recht zustehen, sich zwecks Herstellung eines gleichwertigen Gegengewichts gegenüber der Gewerkschaftsmacht zu solidarisieren. So spricht Art. 9 III GG dieses Recht nicht nur den Arbeitnehmern zu; er wendet sich ausdrücklich an beide Seiten, indem er sowohl die Regelung von Arbeits-, als auch Wirtschaftsbedingungen unter den Koalitionsschutz stellt. Will der einzelne Arbeitgeber zu einer effektiven Grundrechtsverwirklichung kommen, setzt dies voraus, daß der Verband auch über ausreichende soziale Macht verfügt. Folglich ist es nur konsequent, auch für die Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände ein ausreichendes Durchsetzungsvermögen zu verlangen. Das Mächtigkeilsprinzip ist meiner Meinung nach bedeutend für die Ausgangsfrage nach der Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeberverband: Kann der Arbeitgeberverband seine ihm grundrechtlich übertragene Aufgabe nur sinnvoll erfüllen, wenn er über eine ausreichende Machtposition verfügt, ist die Schwelle des Zurnutbaren überschritten, wenn diese Macht wegzufallen droht. Dann ist seine Tariffähigkeit und somit auch das durch 144

BAGE 23, 292 (309).

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Art. 9 Ill GG gechützte kollektive Betätigungsrecht bedroht. Die Mächtigkeit des Verbandes steht in einem untrennbaren Zusammnenhang mit dem wirtschaftlichen Bestehen seiner Mitgliedsunternehmen. Mit der Existenzvernichtung seiner Mitgliedsunternehmen geht gleichzeitig eine Reduzierung seiner Schlagkraft und Stärke einher. Je größer der Mitgliederschwund ist, desto größer wird die Gefahr des Verlustes der Tariffähigkeitsvoraussetzungen und somit des Ausschlusses von der Tarifgestaltung.

Wenn die Tarifverträge Unternehmen in den wirtschaftlichen Ruin führen, so ist die Zumutbarkeit für den hinter ihnen stehenden Verband dann überschritten, sobald dieser wegen des Verlustes der Tariffahigkeit sein grundrechtlich geschütztes kollektives Betätigungsrecht, worauf seine Gründung überhaupt zurückzuführen ist, verliert. 145 Generell gültige Aussagen, wann die Verbandsmacht und somit die Tariffahigkeit bedroht sind, lassen sich nicht treffen, vielmehr ist das Vorliegen der Durchsetzungskraft bei jeder Koalition nach ihrer konkreten Situation im Einzelfall zu beurteilen.146 Daß dies möglich ist, zeigt die große Anzahl von RAG-Entscheidungen zur Beurteilung der Mächtigkeit. 147 Kriterien für die Beurteilung der Mächtigkeit können z. B. die Anzahl der verbleibenden Mitglieder im Verhältnis zu den überhaupt in Betracht kommenden Mitgliedern sein. Weiterhin ist auf die Rolle des einzelnen bedrohten Unternehmens in der betreffenden Branche abzustellen. Der Wegfall einer geringeren Anzahl von Unternehmen mit überragenden Schlüsselstellungen in der entsprechenden Branche kann für die Mächtigkeit des Verbandes ebenso bedeutend sein wie das "wirtschaftliche Aus" einer Vielzahl von kleinen unbedeutenden Unternehmen mit einer geringen Anzahl von Mitarbeitern.t48 Im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der außerordentlichen Kündigung hat das Gericht somit auch den Wegfall der möglichen Tariffahigkeit irrfolge des sozialen Machtverlustes zu berücksichtigen.

145 In diese Richtung auch Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 45; Winter/Zekau, AuR 1997, S. 89 (92). 146 BVerfGE 58, 233 (249); Löwisch, ZfA 1970, S. 295 (310). 147 s.o. Fn. 680. 148 Zu den Kriterien der Mächtigkeitsbestimmung vgl. G. Müller, Tarifautonomie, s. 250.

III. Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefahrdeten Unternehmens

175

111. Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefährdeten Unternehmens 1. Eigenes Recht zur fristlosen Kündigung Die soeben getroffenen Feststellungen führen zu der Frage, was geschieht, wenn nur so wenig Unternehmen existentiell bedroht sind, daß die soziale Mächtigkeit des Verbandes nicht gefährdet ist und ihm somit auch kein außerordentliches Kündigungsrecht zusteht? Sind diese einzelnen wirtschaftlich in Bedrängnis geratenen Unternehmen ihrem Schicksal überlassen? Nach Heßhaus soll dies der Fall sein. Ihrer Meinung nach ist die außerordentliche Kündigung des Flächentarifvertrages für einzelne gefährdete Unternehmen deshalb nicht möglich, weil dies unvereinbar mit der Stabilitätsfunktion des Tarifvertrages sei. 149 Außerdem habe das Interesse der Tarifparteien an einer einheitlichen, für alle Verbandsmitglieder geltenden Regelung Vorrang vor den Bedürfnissen einzelner verbandsangehöriger Mitglieder. Ferner würde mit dem Zugeständnis der Kündigungsmöglichkeit für einzelne Unternehmen diesen ein für die anderen tarifgebundenen Unternehmen nicht hinnehmbarer Wettbewerbsvorteil entstehen.150 Auf die Gefahr des Wettbewerbsvorteils weist auch Steffan hin. 151 Löwisch/Rieble und Däubler hingegen wollen auch dem einzelnen existenzgefahrdeten Unternehmen die Lösung vom Tarifvertrag durch außerordentliche Kündigung zugestehen. Nach Löwisch stellt die Existenzgefährdung eines Unternehmens durch den Tarifvertrag ein Eingriff in die Individualgrundrechte der einzelnen verbandsangehörigen Unternehmen dar. Die Ablehnung eines individuellen Kündigungsrechtes mit dem Argument, anderen Unternehmen sei der Tarifvertrag noch zumutbar, würde eine unzulässige Sozialisierung und Relativierung von Individualgrundrechten bedeuten. 152 Die Bedenken hinsichtlich ungerechter Wettbewerbsvorteile räumt er mit einem Hinweis auf § 13 [a. F.] GWB 153 aus: Diese Vorschrift zeige, daß es der marktwirtschaftliehen Ordnung entspreche, daß sich im Falle einer Existenzgefahrdung des Marktteilnehmers die Wettbewerbsfreiheit gegenüber der Wettbewerbsbeschränkung durchsetze. Soweit durch den Tarifvertrag Unternehmen in ihrer Existenz bedroht werden, verliere der Tarifvertrag deshalb seine Kartellwirkung. 154 Nach Rieble macht der Blick Heßhaus a.a.O., S. 188. Heßhaus a. a. 0. 15 1 Steffan, JuS 1993, S. 1027 (1029). 1s2 Löwisch, NJW 1997, S. 905 (906). 153 Das Kündigungsrecht des § 13 a.F. GWB wurde mangels praktischer Bedeutung im Rahmen der 6. GWB Novelle v. 1998 in § 13 n.F. GWB gestrichen, vgl. BT-Drucks.l3/9720. 149

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

auf § 13 [a. F.] GWB deutlich, daß das Kündigungsrecht des Arbeitgeberverbandes aus wichtigem Grund das Individualkündigungsrecht des Unternehmens nicht entbehrlich mache. § 13 GWB [a.F.] stelle den allgemeinen Grundsatz auf, daß das Kartellmitglied sich von der Kartellbindung durch Kündigung lösen kann, wenn es durch kollektive Vertragsvorgaben in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit unverhältnismäßig eingeschränkt werde. 155 In Übertragung dieses Grundsatzes auf das Tarifrecht könne das betroffene Verbandsmitglied den Tarifvertrag außerordentlich kündigen. 156 Für Däubler ist die Lösung vom Tarifvertrag für lediglich einzelne bedrohte Unternehmen deshalb erforderlich, weil ansonsten eine Reaktion außerhalb der Tarifebene die Folge wäre: "Würde man den Tarifvertrag weiterhin als voll gültig behandeln, wären Abreden über untertarifliche Bedingungen so sicher wie das Amen in der Kirche". 157 Unklar bleibt jedoch, ob er dem einzelnen Mitglied ein Kündigungsrecht zusprechen will oder lediglich dem Verband mit bloßer Wirkung bezogen auf das einzelne Unternehmen. Richtig ist die Feststellung, daß durch eine tarifvertraglich bedingte Existenzgefahrdung ein Grundrechtseingriff vorliegt; dies wurde oben ausführlich dargestellt. Nicht nachvollziehbar ist jedoch die Übertragung der Rechtsgedanken des § 13 a. F. GWB. Eine vergleichbare Interessenlage zwischen Kartellmitglied und Verbandsunternehmen liegt m. E. nicht vor. Zutreffend ist zwar, daß dem Tarifvertrag aufgrund der Gleichmäßigkeit der Arbeitsbedingungen ebenfalls eine Kartellwirkung zukommt. 158 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kartellwirkung und Tarifwirkung besteht jedoch darin, daß einer Kartellabrede im Gegensatz zum Tarifvertrag eine Drittwirkung mit normativem Charakter nicht zukommt. In ihrer rechtlichen Wirkung betreffen Kartellabreden unmittelbar nur die am Kartell beteiligten Unternehmen, die durch gegenseitige Versprechungen einen gemeinsamen Zweck verfolgen (§ 1 GWB), der i. d. R. auf das Erreichen von Marktvorteilen gerichtet sein wird. Die im Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer haben auf die Abreden des Kartells überhaupt keinen Einfluß. Der Kündigung eines Kartellbeschlusses bzw. Kartellvertrages kommt somit nur interne Wirkung für die beteiligten Unternehmen zu. Anders hingegen beim Tarifvertrag. Über die Gewerkschaft sollen die Interessen der im Unternehmen Beschäftigten Löwisch a. a. 0 . Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, S. 471 f., derselbe, RdA 1996, S. 151 (155); Löwisch a.a.O., S. 907. 1s6 Löwisch a. a. 0. 157 Däubler, ZTR 1996, S. 241 (244). 158 Zur Kartellwirkung des Tarifvertrages vgl. Wiedemann, TVG, Einleitung Rdn. 34 ff. 154

ISS

III. Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefährdeten Unternehmens

177

in die Tarifverhandlungen eingebracht werden, um somit eine Sicherung des sozialen Friedens herbeizuführen. Kündigt jedoch ein Verbandsunternehmen den Tarifvertrag, so hat daß eine erhebliche ,.externe" Wirkung für die vom Tarifvertrag erfaßten Arbeitsverhältnisse. Die Kündigung betrifft also nicht nur die Kartell- bzw. die Arbeitgeberverbandsebene, sondern wirkt sich auf die am Vertrag beteiligte Gewerkschaft sowie die durch sie vertretenen Arbeitnehmer und somit auf dritter Ebene aus. Ein außerordentliches Kündigungsrecht des einzelnen Unternehmens unter Heranziehung der Rechtsgedanken des § 13 a. F. GWB ist daher abzulehnen. Unabhängig von den verschiedenen Konstellationen zwischen Kartellund Tarifvertrag ist ein Kündigungsrecht des einzelnen Unternehmens auch dogmatischen Bedenken ausgesetzt. Zunächst steht das Kündigungsrecht nur den am Vertrag unmittelbar Beteiligten zu. 159 Des weiteren wäre es sehr zweifelhaft, wenn man aus dem einheitlichen Schuldverhältnis Tarifvertrag Rechte und Pflichten des einzelnen betroffenen Unternehmens der Kündigung unterwerfen wollte. Die Kündigung muß sich nämlich immer auf ein geschlossenes, selbständiges Rechtsverhältnis beziehen, andernfalls würde keine Beendigung des Rechtsverhältnisses, sondern eine Umgestaltung desselben vorliegen. 160 Eine außerordentliche Kündigung des einzelnen Arbeitgebers ist wie die Kündigung durch den Verband mit bloßer Wirkung für einzelne Mitglieder schon dogmatisch nicht zu konstruieren.

2. Abhilfe durch individualvertragliche Regelung der Arbeitsverhältnisse Es stellt sich die Frage, ob das einzelne Unternehmen überhaupt das Gestaltungsrecht der außerordentlichen Kündigung benötigt, um der ,.vernichtenden" Tarifbindung zu entgehen. Oben wurde dargelegt, daß bei einer Existenzgefahrdung § 4 I TVG aufgrund seiner zwingenden Wirkung als unverhältnismäßiger Grundrechtseingriff zu bewerten ist. 161 Da das Arbeitsrecht stets versucht, Nichtigkeit zu vermeiden 162, ist deshalb im Wege der verfassungskonformen Auslegung § 4 I TVG die zwingende Wirkung für die wirtschaftlich bedrohten Unternehmen zu versagen. 163 Die unzumutbaren Regelungen, meist werden es Lohn- oder Arbeitszeitregelungen sein, bestehen zwischen den Arbeitsvertragsparteien also nur noch mit dispositiver Wirkung. Die unternehmenschädlichen Tarifabreden können sie im Finkentscher a. a. 0. Molitor, Die Kündigung, S. 2, Belling/Hartmann, NZA 1998, S. 57 (66). 161 s.o. B. VI. 4. e). 162 Hanau/ Adomeit, B. II. 1., S. 38. 163 Schlüter in FS Stree/Wessels, S. 1061 (1083); Belling/Hartmann a. a. 0., S. 66; Hromodka, DB 1992, S. 1042 (1045). 159

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12 Freihube

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Wege des Einzelarbeitsvertrages abändern, so wie dies auch tatsächlich in der Praxis geschieht. 164 Bei einer drastischen Verschlechterung der wirtschaftlichen Unternehmenssituation wird zunehmend eine Parallelisierung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen eintreten, da das Fortbestehen der Arbeitnehmerexistenzgrundlage an den wirtschaftlichen Fortbestand des Unternehmens gekoppelt ist. 165 Wenn das Unternehmen der Insolvenzgefahr ausgesetzt ist, wird daher in der Regel auch in der Arbeitnehmerschaft eine große Bereitschaft hinsichtlich rettender Einschnitty bezüglich tariflicher Ansprüche vorhanden sein. 166 Den Abschlüssen von Einzelarbeitsverträgen dürfte somit nichts mehr im Weg stehen. Sollten sich dennoch einzelne Arbeitnehmer den Abschlüssen abändernder Verträge verweigern, so steht dem Arbeitgeber immer noch die Möglichkeit der Änderungskündigung offen, da ihre Voraussetzungen aufgrund der Existenzgefährdung des Unternehmens gegeben sein dürften. 167 Bedenken gegen ein solches Vorgehen bestehen lediglich im Hinblick auf die Rechtssicherheit Einem rechtlichen "Chaos" wäre das Unternehmen dann ausgesetzt, wenn für seine Arbeitnehmer unterschiedliche Arbeitsbedingungen gelten würden, weil die Gerichte in einem Fall die Änderungskündigung für wirksam, in dem anderen jedoch für unwirksam erachtet haben. Diese unterschiedliche Behandlung würde den Betriebsfrieden erheblich stören. Des weiteren würden die Gewerkschaften wohl alles tun, um die Arbeitnehmer zur Klage gegen die Änderungskündigung zu bewegen, wenn der Arbeitgeber "so mir nichts Dir nichts" das Weichen der zwingenden Wirkung für sich in Anspruch nimmt. Nach dem BAG Beschluß vom 20.04.1999 168 haben die Gewerkschaften jetzt sogar ein eigenes Klagerecht gegen die einzelvertragliche Unterschreitung des Tarifvertrages. Von großem Vorteil wäre es deshalb, wenn die Arbeitgeber zuerst die Dispositivität der tariflichen Reglungen eindeutig klären könnten. Zu untersuchen ist, ob die ZPO und das TVG dem Arbeitgeber entsprechende Möglichkeiten zur Verfügung stellen.

164 Siehe die oben unter B) IV. 2. c) bb), S. 43 f. geschilderten Fälle aus der Praxis. 165 Dazu Adomeit, Arbeitsrecht für die 90er Jahre, S. 10; Belling/Hartmann, ZfA 1997, s. 87 (116). 166 s.o. VI. 4. e) bb) (3), S. 98 f. 167 Zu den Voraussetzungen der Änderungskündigung zwecks Lohnsenkung, vgl. D. VI. 2. b). 168 BAG NZA 1999, S. 887 (890 ff.).

III. Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefahrdeten Unternehmens

179

3. Feststellungsklage gern. § 256 ZPO mit Bindungswirkung analog§ 9 TVG als flankierende Maßnahme zur Sicherung der einzelvertraglichen Abweichung vom Tarifvertrag Bevor die Arbeitsvertragsparteien beginnen, auf individualrechtlicher Ebene den Kollektivvertrag abzubedingen, könnte der Arbeitgeber das Weichen der zwingenden Wirkung im Wege der Feststellungsklage gern. § 256 I ZPO feststellen lassen. Trotz seiner normativen Wirkung handelt es sich beim Tarifvertrag um ein zwischen den Tarifparteien begründetes Rechtsverhältnis i. S. d. § 256 I ZP0. 169 Gegenstand einer Feststellungsklage können daher auch Streitigkeiten über den normativen Teil eines Tarifvertrages170 und somit auch über die zwingende Wirkung des Vertrages an sich sein. 171 Zwar war der die Feststellung begehrende Arbeitgeber als Kläger nicht unmittelbar am Abschluß des Rechtsverhältnisses beteiligt. Dies ist jedoch nach h. M. nicht erforderlich, solange der Kläger gerade gegenüber dem Beklagten ein rechtliches Interesse hat, die begehrte Feststellung treffen zu lassen. 172 Ein solches Feststellungsinteresse ist dabei immer dann gegeben, wenn der Rechtslage des Klägers eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und das Feststellungsurteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen. 173 Die rechtliche Ungewißheit besteht dabei in der Regel dann, wenn der Feststellungsgegner das vermeintliche Recht des Gegners ernstlich bestreitet, 174 wobei es ausreicht, wenn das Rechtsverhältnis lediglich in Aussicht steht. 175 Da es so sicher wie das Amen in der Kirche ist, daß die Gewerkschaften gegen eine Abweichung vom Tarifvertrag vorgehen werden, wie dies in der Praxis bisher auch geschehen ist, 176 Stein/Jonas ZPO- Schumann, § 256 Rdn. 181. Stein/Jonas a. a. 0. 171 Löwisch a.a.O., S. 909; Belling/Hartmann, NZA 1998, S. 57 (70). 172 Stein/Jonas a.a.O., Rdn. 37; BGHZ 34, 159 (165); 96 174 (177); BAG DB 1992 s. 275 (278). 173 BGHZ 69, 144 (147); BGH NJW 1992, 436 (437); Stein/Jonas a.a.O., Rdn. 63. 174 Zöller ZPO- Greger, § 256 Rdn. 7; Steiner/Jonas a.a.O., Rdn. 65. 175 KG AP Nr. 60 zu Art. 9 GG. Das KG stellt die Zulässigkeit der Feststellungsklage ausdrücklich für das Vorgehen eines einzelnen Arbeitgeberverbandsmitgliedes gegen die Gewerkschaft fest.' 176 So geschehen bei der einzelvertraglichen Abbedingung des Tarifvertrages im "Fall Viessmann", vgl. Hier ging die IG Metall im Wege des Beschlußverfahrens gegen den Arbeitgeber und den Betriebsrat wegen Verletzung der §§ 2 I, 77 III BertVG sowie ihres Grundrechts aus Art. 9 III GG vor und beantragte, den Arbeitgeber zu verpflichten, die Arbeitnehmer weiterhin zu tariflichen Bedingungen zu beschäftigen. Ein Unterlassungsanspruch seitens der Gewerkschaft wurde auch im "Burda-Fall" geltend gemacht. S. o. B) V. 2., S. 49 f. u. 51 ff. Möglich wäre es aber 169 170

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

besteht das notwendige Feststellungsinteresse gerade im Hinblick auf die einschreitende Gewerkschaft. 177 Fraglich ist, ob das im Wege der Feststellungsklage getroffene Urteil Rechtskraft für alle im Unternehmen bestehenden Arbeitsverhältnisse entfalten würde. Dies wäre angesichts des praktischen Bedürfnisses nach Entscheidungsharmonie und Verfahrensökonomie vonnöten. Eine solche verbindliche Feststellung könnte aufgrund einer erweiterten Bindungswirkung analog § 9 TVG ergehen. Sinn und Zweck des § 9 TVG liegt darin, widersprechende Entscheidungen über Inhalt und Reichweite von Tarifverträgen, die sich bei Individualprozessen zwischen tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ergeben könnten, zu verhindern und die einheitliche Auslegung und Anwendung von Tarifverträgen zu sichernY8 Aufgrund des auch hier bestehenden Interesses an einer einheitlichen Klärung tarifrechtlicher Fragen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bietet sich die analoge Anwendung des § 9 TVG an. Eine Analogie ist jedoch deshalb bedenklich, da es sich bei § 9 TVG um eine Rechtskraftnorm handelt, die Bindungswirkung für spätere Folgeprozesse entfaltet, so daß ein späteres Vorbringen präkludiert wird. Analogen Anwendungen von solchen sog. Präklusionsnormen stehen jedoch verfahrensrechtliche Bedenken insoweit entgegen, als den betroffenen Arbeitnehmern das rechtliche Gehör versagt wird (Art. 103 I GG), weshalb auch das BVerfG und der BGH die analoge Anwendung solcher Normen strikt ablehnen.179 Dieses grundsätzliche Analogieverbot auch auf § 9 TVG anzuwenden, ist jedoch - wie Zeuner nachgewiesen hat - nicht gerechtfertigt. Dies deshalb, weil es sich bei § 9 TVG um ein prozeßrechtliches Korrelat zu der in der Tarifautonomie getroffenen Aufgabenzuweisung handelt, nach der allein die Tarifvertragsparteien die für den Tarifvertrag "Zuständigen" sind. Aufgrund dieser "sachlichen Unterworfenheit" der von der Rechtskraftbindung erfaßten Dritten ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, den betroffenen Dritten rechtliches Gehör in bezug auf die Auslegung und Wirkung eines Tarifvertrages zu garantieren, da ihnen auch bereits beim Abschluß des Vertrages keinerlei Mitspracherecht eingeräumt wurde.180 auch, daß die Gewerkschaften die tariflichen Ansprüche ihrer im betreffenden Betrieb beschäftigten Mitglieder im Wege einer gewillkürten Prozeßstandschaft geltend machen. Zu dieser umstrittenen Möglichkeit vgl. Däubler, AuR 1995, S. 305 (309 f.). 177 Helling/Hartmann a. a. 0 . 178 BAG AP Nr. 10 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 179 BVerfGE 59, 330 (333 f.); BGH NJW 1979 S. 2109 (2110); BGHZ 86, 218 (224).

III. Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefährdeten Unternehmens

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Trotz der grundsätzlichen verlassungsrechtlichen Unbedenklichkeit einer analogen Anwendung des § 9 TVG 181 gehen die Meinungen bezüglich einer solchen Rechtskrafterstreckung auseinander: Das BAG scheint einem "Durchschlagen" des Feststellungsurteils auf die Individualvertragsebene ablehnend gegenüberzustehen. Ohne eine nähere Begründung zu liefern, verneint es in den entsprechenden Entscheidungen, in denen es stets um die Geltung des Tarifvertrages für einen einzelnen Arbeitgeber ging, das Vorliegen eines Feststellungsinteresses, da eine Bindungswirkung zwischen den Arbeitsvertragsparteien durch das Feststellungsurteil ohnehin nicht gegeben sei.'82 In der Literatur wollen Wiedemann/Stump/ 83 und Kempen/Zachert 184 eine erweiterte Rechtskraftwirkung ausschließen, wobei auch sie eine Begründung für ihre Rechtsauffassung schuldig bleiben. Prütting 185 lehnt unter bloßem Hinweis auf das genannte Urteil des BVerfG eine Rechtskraftausdehnung ebenfalls ab. Entscheidend ist jedoch, ob die generellen Voraussetzungen für die Möglichkeit einer parteiübergreifenden Rechtskraftbindung in der hier zu beurteilenden Konstellation vorliegen. Eine Rechtskrafterstreckung auf Dritte elfordert zunächst, daß dies zum Schutz der Rechtssicherheit unbedingt geboten ist, weil es ansonsten zu einer "Paralysierung von Rechtsbeziehungen" kommen würde. Dies wird in der Regel dann der Fall sein, wenn das präjudizielle Urteil inhaltlich für soviele Rechtsverhältnisse relevant ist, daß ohne eine einheitliche Rechtsanwendung aufgrund der Drittbindung eine "flächendeckende" Rechtsunsicherheit die Folge wäre 186, die Rechtskrafterstreckung also eine "rechtspolitische Notwendigkeit" darstellt. 187 Eine Rechtskrafterstreckung ist weiterhin nur dann gerechtfertigt, wenn der Erstprozeß aufgrund der besonderen Sachnähe der Parteien zu der verhandelten Materie eine höhere Richtigkeitsgewähr aufweist als der Folgeprozeß. Die Beteiligten des Erstprozesses müssen also über eine bessere 180 Zeuner, Rechtliches Gehör, materielles Recht und Urteilswirkungen, S. 29 f. Seiner Meinung angeschlossen haben sich: Otto, RdA 1989, S. 247 (253); Krause, Rechtskrafterstreckung und kollektives Arbeitsrecht, S. 255 ff.; Belling/Hartmann a.a.O., S. 68; a.A. Prütting, RdA 1991, S. 257 (265), der lediglich auf die zitierte Rechtsprechung des BVerfG und des BGH verweist. 181 Dazu im einzelnen Krause a. a. 0., S. 255 ff. 182 BAG AP Nr. 42 zu § 256 ZPO; Nr. 6 zu § 2 TVG. 183 Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Auflage, § 9 Rdn. 19. 184 Zachert/Kempen, TVG, § 9 Rdn. 2. 185 Prütting a. a. 0. 186 Krause a. a. 0., S. 202. 187 Calavros, Urteilswirkungen zu Lasten Dritter, S. 86.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Kenntnis sämtlicher tatsächlicher, entscheidungsrelevanter Umstände verfügen, so daß dem ersterkennenden Gericht ein Optimum an Rechtsgewinnungsmaterial zur Verfügung steht. 188 Schließlich ist die Begrenzung des umfassenden Rechtsschutzes der Beteiligten des Nachfolgeprozesses immer dann zulässig, wenn ohnehin die materiellrechtliche Ausgestaltungsbefugnis des streitgegenständlichen Rechtsverhältnisses bei den Parteien des ersten Prozesses liegt. In einem solchen Fall der materiellrechtlichen Unterworfenheit ist ein beschränkter Rechtsschutz deshalb unbedenklich, da die Anrufung eines Gerichts stets der Verwirklichung materiellen, objektiven Rechts dient, welches die Parteien im jeweiligen Prozeß als subjektives Recht für sich in Anspruch nehmen. 189 Wenn das Rechtsverhältnis des Dritten nun ohnehin materiellrechtlich von den Erstparteien gestaltet werden kann, so sind seine prozessualen Rechte, die ja der Verwirklichung des materiellen Rechts dienen, von vornherein geschwächt; ein uneingeschränkter Rechtsschutz ist nicht erforderlich. 190 Überträgt man diese Grundsätze auf die hier interessierende potentielle Prozeßkonstellation, so steht einer Rechtskraftausdehnung des Feststellungsurteils hinsichtlich der zwingenden Wirkung des Tarifvertrages nichts im Wege: a) Aspekt der Rechtssicherheit

Zunächst sind auch hier im Interesse der Rechtssicherheit und des Betriebsfriedens divergierende Entscheidungen hinsichtlich der Anwendung des Tarifvertrages unbedingt zu vermeiden. Die erstprozessuale Frage hinsichtlich der zwingenden Wirkung bildet gleichsam den Rahmen für alle Arbeitsverhältnisse im Unternehmen, so daß aufgrund ihrer materiellrechtlichen Breitenwirkung eine einheitliche rechtliche Beurteilung zwingend geboten ist. Es würde dem einzelnen Arbeitnehmer bestimmt nicht einleuchten, wenn sein Kollege im Gegensatz zu ihm nach dem Tarifvertrag entlohnt würde, da nach der richterlichen Wertung nach erhobener Klage eine Unternehmensgefährdung noch nicht vorliegt und somit die zwingende Wirkung noch fortbesteht. Eine solche unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer, die sich in der gleichen Situation befinden, wäre nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Die unterschiedliche richterliche Bewer188 Krause a. a. 0., S. 208; Jox, Bindung an Gerichtsentscheidungen über präjudizielle Rechtsverhältnisse, S. 135, stellt auf den Zugang zu den verfahrensmaßgeblichen Tatsachen ab; ähnlich, Wichmann, AuR 1975, S. 294 (296). 189 Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR, § I III 3., S. 2; Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 62; Gaul, AcP 168 (1968), S. 27 (47); Krause a. a.O., S. 198. 190 Krause a.a.O., S. 214.

III. Rechtliche Möglichkeiten des einzelnen gefährdeten Unternehmens

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tung hinsichtlich der zwingenden Wirkung würde daher gegen den Gleichbehandlungsgrundsalz gern. Art. 3 I GG verstoßen, der auch im Arbeitsrecht zu beachten ist. 191 b) Richtigkeitsgewähr des Feststellungsprozesses Die erforderliche Richtigkeilsgewähr bietet der Feststellungsprozeß zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber ebenfalls: Das Gericht hat sich in diesem Verfahren vordergründig mit der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens und seiner weiteren Entwicklung im Hinblick auf tarifliche Verpflichtungen zu beschäftigen. Über die Sachkenntnis der maßgeblichen Wirtschaftsdaten verfügt aber nur der Arbeitgeber, so daß eine optimale Bereitstellung maßgeblichen Erkenntnismaterials gewährleistet ist. 192 Möglicher Prozeßgegner des einzelnen Arbeitgebers in einem sich an die Feststellungsklage anschließenden Prozeß wird die Gewerkschaft oder der einzelne Arbeitnehmer sein. Bei der Gewerkschaft ist es ohnehin gerechtfertigt, daß sie an die Rechtskraft des Feststellungsurteils gebunden ist, da sie alle erheblichen Gesichtspunkte schon im Vorprozeß einbringen konnte. Bei dem einzelnen Arbeitnehmer besteht, wie schon oben ausgeführt, eine Unterwerfung unter die materiellrechtliche Dispositionsbefugnis der Tarifparteien, so daß die Begrenzung eigenständiger Prozeßführung hinsichtlich tarifvertraglicher Rechte unbedenklich erscheint. Eine auf den Wegfall der zwingenden Wirkung gerichtete Feststellungsklage des Arbeitgebers wäre somit entsprechend § 9 TVG für alle weiteren Verfahren bindend. 193 Dem einzelnen Unternehmen steht somit die Möglichkeit zu, das Weichen der zwingenden Wirkung im Urteilsverfahren gern. den §§ 2 I Nr. 1 ArbGG, 256 BGB, 9 TVG (analog) feststellen zu lassen, um den unzumutbaren Zustand individualvertraglich abzuändern. Auch ohne ein eigenes außerordentliches Kündigungsrecht ist das gefahrdete Unternehmen daher nicht seinem Schicksal überlassen.

Dazu Hanau/Adomeit, B II 3. S. 39; Schaub, ArbR Hb., § 112 I. S. 968 f. Belling/Hartmann a. a. 0., S. 69; Krause a. a. 0., S. 283. 193 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rdn. 1572; Löwisch a. a. 0., S. 909; Belling/Hartmann a. a. 0., S. 69. 191

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

IV. Das Verhältnis von außerordentlicher Kündigung zu tarifvertragliehen Anpassungsklauseln

Mitunter nehmen die Tarifvertragsparteien selber Klauseln in den Tarifvertrag auf, um auf wirtschaftliche Schwankungen reagieren zu können. Ein gängiges Beispiel hierfür sind die sog. Indexklauseln, auch Gleit- oder Anpassungsklauseln genannt, mit denen die Lohnentwicklung der allgemeinen Preisentwicklung angepaßt werden soll. 194 Eine weitere Möglichkeit ist Vereinbarung von Härtefallklauseln 195 oder Neuverhandlung- bzw. Revisionsklauseln. Eine Revisionsklausel wurde auch in den Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Sachsen-Anhalt im Jahr 1991 aufgenommen, den die Arbeitgeber 1993 außerordentlich kündigten. 196 Diskutiert wurde damals, ob ein solches tarifvertragliches Anpassungsinstrumentarium die außerordentliche Kündigung ausschließt. Teilweise197ist man der Auffassung, daß im Falle einer speziellen vertraglichen Regelung, die eine schwerwiegende Veränderung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse betrifft, diese als tarifautonome Regelung die außerordentliche Kündigung ausschließe. Eine fristlose Kündigung trotz vorgesehenen Revisionsverfahrens stelle nach den allgemeinen zivilrechtliehen Grundsätzen eine unzulässige Rechtsausübung dar (venire contra factum proprium) und verstieße daher gegen Treu und Glauben. Hierzu Nies RdA 1970, S. 169. Zu den Öffnungs- bzw. Härtefallklauseln s.o. B. VI. 4. e) bb) (3). 196 Die Revisionsklausel hatte folgenden Wortlaut: 13. "Revisionsklausel Überprüfung der Vereinbarung 1. Die Tarifparteien werden, wenn eine von ihnen dies wünscht, jedeneit vom 1. Januar 1993 an in die Verhandlungen darüber eintreten, ob die getroffenen Vereinbarungen durchführbar sind oder angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Sachsen-Anhalt angepaßt werden müssen. 2. Die Tarifparteien werden sich um eine einvernehmliche Beurteilung bemühen und mit dem Ziel verhandeln, gegebenenfalls eine abweichende Vereinbarung einvernehmlich zu treffen. 3. Sollte eine Einigung nicht möglich sein und eine Partei dies der anderen ausdrücklich erklären, so wird durch die Abgabe dieser Erklärung unter beiderseitigem Einlassungszwang ein Schlichtungsverfahren analog der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung vom Januar 1980 eingeleitet. 4. Die Tarifparteien verpflichten sich, bereits jetzt den Vorsitzenden einvernehmlich zu benennen, um den stimmberechtigten Vorsitzenden zu bestimmen. 5. Entgegen der Schlichtungsverordnung bedarf das Ergebnis der Mehrheit der abgegebenen Stimmen zuzüglich einer weiteren Stimme." 197 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1444; Unterhinninghofen, AuR 1993, S. 101 (103); HeBhaus a.a.O., S. 205; Zachert NZA 1993, S. 299 (301); Kempff, AiB 1993, s. 267 (270). 194

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IV. Das Verhältnis von außerordentlicher Kündigung

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Will man durch das Revisionsverfahren bzw. den Schlichtungsspruch eines eventuell folgenden Schlichtungsverfahrens die außerordentliche Kündigung ausschließen, so würde dies praktisch einem vertraglichen Ausschluß des Rechts zur fristlosen Kündigung gleichkommen. Bei dem außerordentlichen Kündigungsrecht handelt es sich jedoch um eine nicht dispositive Rechtsposition, die weder einzelvertraglich noch kollektivvertraglich eingeschränkt oder ausgeschlossen werden kann. Das Recht zur außerordentlichen Kündigung schützt das Recht auf Selbstbestimmung, indem es der Vertragspartei eine einseitige Abstandnahme vom Vertrag erlaubt, wenn die Fortführung des Vertrages die Schwelle der Unzumutbarkeit überschreitet. Nur dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, daß die verpflichtende Willenserklärung des Kündigenden bei Abschluß des Vertrages in dem Bewußtsein abgegeben wurde, daß er zur Erfüllung der Leistungspflicht in der Lage ist. Es würde einer Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts gleichkommen, wenn sich eine Vertragspartei ex ante zur Fortsetzung der Vertragsbeziehung verpflichten könnte, obwohl die Aufrechterhaltung für sie unzumutbar ist. 198 Tarifvertragliche Anpassungsklauseln, gleich welcher Art, können das Recht zur außerordentlichen Kündigung daher nicht ausschließen. 199 Allein schon deshalb nicht, weil sie kein Verfahren darstellen, das mit Sicherheit gewährleisten kann, daß der unzumutbare Zustand auch tatsächlich beseitigt wird. Die Schlichtungsstellen werden in der Regel mit der gleichen Zahl von Beisitzern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite besetzt. 200 Im Grunde stehen sich also auch hier wieder die Koalitionen gegenüber, die bedauerlicherweise nur in den seltensten Fällen einer Meinung sind, was die wirtschaftliche Verträglichkeit von Arbeitsbedingungen, insbesondere von Löhnen anbelangt. Daß die Auffassungen von Gewerkschaften und Arbeitgebern hinsichtlich der ökonomischen Zumutbarkeit von Tarifverträgen in der Praxis nur schwerlich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen sind, hat unlängt Sontowski am Beispiel der Härtefallklausel der Tarifverträge für die ostdeutsche Metall-und Elektroindustrie von 1993 nachgewiesen.Z01 Damals hatten insgesamt 61 Härtefallanträge wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit nur 9 Härtefallregelungen zur Folge. Die Tarifparteien konnten sich noch nicht einmal auf den Vorsitzenden der Schiedsstelle einigen, so daß dieser durch Losentscheid berufen werden mußte. Der damalige Vorsitzende der Schiedsstelle Niethammer, Präsident der InduVgl. Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, S. 265 ff. Ebenso Buchner, NZA 1993, S. 289 (297); Wiedemann - Wank, TVG, § 4 Rdn. 55. 200 Münchner ArbR Hb.- Otto, § 287 Rdn. 5. 201 Sontowski, Löhne in der Unternehmenskrise, S. 50 ff. 198 199

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

strie- und Handelskammer Frankfurt am Main, beklagte öffentlich, daß es trotz Einigkeit zwischen Belegschaft und Betriebsrat hinsichtlich der wirtschaftlichen Notlage ihrer Betriebe in der Regel zu keiner Einigung gekommen sei, weil die Gewerkschaften ihren Verhandlungsführern keine Handlungsfreiheit gelassen hätten?02 Auch tarifvertragliche Revisionsklauseln sind in ihrer Effektivität nicht viel besser als Härtefallklauseln. Beispiel: Die oben wiedergegebene Revisionsklausel des Tarifvertrages für die Metall- und Elktroindustrie SachsenAnhalt aus dem Jahre 1991: Nach dieser soll der aus dem Verfahren hervorgehende Schlichtungsspruch nur dann zustandekommen, wenn zu der Mehrheit der abgegebenen Stimmen noch eine weitere hinzukommt. Mit anderen Worten also nur dann, wenn auch die Gegenseite dazu bereit ist. Ein solches Verfahren ist aber - wie die Praxis gezeigt hat - von vomherein zum Scheitern verurteilt. Dies macht deutlich, daß die tarifautonomen Schiedsverfahren keinen Verfahrensmodus darstellen, der schnellstmögliche Abhilfe garantiert, die bei drohender Insolvenzgefahr unbedingt erforderlich ist. Eine schnelle, fristlose Lösung von der unzumutbaren Leistungsverpflichtung soll die außerordentliche Kündigung aber gerade bieten.

V. Ultima-ratio-Prinzip/Verhandlungspflicht/Teilund Änderungskündigung Nach dem Gesagten schließen tarifvertragliche Verhandlungsklauseln zwar das Kündigungsrecht nicht aus. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob die in solchen Klauseln vorgeschriebene Verhandlungspflicht vor dem Aussprechen der außerordentlichen Kündigung unbedingt erfüllt werden muß. Zu dieser Frage hat das BAG unlängst eindeutig Stellung bezogen: Mit Hinweis auf den im Kündigungsrecht zu beachtenden ultima-ratio-Grundsatz unterstreicht das Gericht, daß die außerordentliche Kündigung nur als letztes Mittel zur Beseitigung der Unzumutbarkeit in Betracht komme. Die unzumutbar belastete Partei müsse deshalb versuchen, die Möglichkeiten der tarifautonomen Anpassung als milderes Mittel auszuschöpfen. Diese Anpassungsverhandlungspflicht bestehe sogar dann, wenn eine entsprechende Klausel im Tarifvertrag gar nicht vorgesehen war. 203 Angesprochen ist damit die Frage, wie die einschneidende Wirkung der außerordentlichen Kündigung im Hinblick auf die Besonderheiten des TarifVgl. F.A.Z. vom 8.12.1993, S. 19 u. Sontowski a.a.O., S. 54. BAG NZA 1997, S. 830 (834); BAG NZA 1997, S. 1234 (1236); ebenso Däubler, ZTR 1996, S. 241 (242); Winter/Zekau, ArbuR 1997, S. 89 (94); Belling/ Hartmann, ZfA 1997, S. 87 (118 f.). 202 203

V. Ultima-ratio-Prinzip/Verhandlungspflicht/Teil- u. Änderungskündigung 187

vertrages abzufedern ist. Neben der Verhandlungspflicht zur Anpassung werden die Teilkündigung, die Änderungskündigung, als neuster Vorschlag die Beendigungskündigung, verbunden mit einer Auslauf- und Verhandlungspflicht von drei Wochen analog § 4 KSchG vorgeschlagen. 204 Hintergrund dieser Vorschläge ist der auch im Tarifvertragsrecht zu beachtende Grundsatz, daß stets zu prüfen ist, ob nicht ein für den Kündigungsadressaten milderes Mittel, welches für den Kündigenden gleich effektiv ist, zur Verfügung steht, um sicherzustellen, daß die außerordentliche Kündigung nicht weitergeht als dies zur Beseitigung des unzumutbaren Zustandes notwendig ist. 205

1. Teilkündigung Die Teilkündigung kommt zunächst durchaus in Betracht. Warum sollte man den ganzen mühsam ausgehandelten Tarifvertrag kündigen, wenn nur bezüglich einer bestimmten Regelung die Unzumutbarkeit der Fortgeltung behauptet wird? Eine Teilkündigung gibt es zwar kraft Gesetzes im Individualarbeitsrecht nicht. Gegenstand einer Kündigung ist immer das ganze Arbeitsverhältnis.206 Eine Teilkündigung, die sich nur auf einzelne Bedingungen des Arbeitsverhältnisses bezieht, wird einhellig abgelehnt, weil sie das von den Parteien vereinbarte Äquivalenzverhältnis und Ordnungsgefüge störe und nicht berücksichtige, daß Rechte und Pflichten vielfach in innerem Zusammenhang stehen. Der Kündigende könne sich nicht durch eine Teilkündigung der Vertragsbindung entziehen, um gleichzeitig die Rechte und Pflichten der anderen Vertragspartei für sich in Anspruch zu nehmen. 207 Beim Tarifvertrag ist jedoch zu beachten, daß er nicht selten sachlich zu trennende Materien, die in keinem deutlich inneren Zusammenhang stehen und ebensogut in getrennten Verträgen geregelt sein könnten, enthält. Dies könnte den Schluß zulassen, daß eine Teilkündigung dem im Sinnzusammenhang zum Ausdruck kommenden Parteiwillen entspricht. 208 Einig ist man sich darüber, daß eine Teilkündigung des Tarifvertrages dann möglich ist, wenn der Vertrag selbst eine entsprechende Vereinbarung enthält. Eine solche Vereinbarung sei Ausfluß der Tarifautonomie nach 204 Meyer, DB 1997, S. 2334 (2335) - Anmerkung zu BAG DB 1997, S. 782 und BAG DB 1997, S. 2331 - ; derselbe, RdA 1998, S. 143 (150). 205 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1446a. 206 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 22 1.2., S. 275. 207 BAGE 40, 199 (206); BAG AP Nr. I zu § 620 BGB Teilkündigung; Nr. 2 zu § 242 BGB betriebliche Übung; Nr. 25 zu§ 123 GewO; Münch ArbR Hb.- Wank, § 112 Rdn. 15. 2os So Hueck, RdA 1968, S. 202 (208).

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Art. 9 III GG. Diese gestehe den Parteien einen weiten Regelungsspielraum zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu, wobei dieser auch den Freiraum bezüglich der Regelung verfahrensrechtlicher Fragen, also auch solche bezüglich der Teilkündbarkeit, mitumfasse. 209 Unterschiedlich will man jedoch den Fall behandeln, in dem eine tarifvertragliche Regelung der Teilkündigung nicht vorliegt. Teilweise erachtet man auch ohne eine entsprechende Vereinbarung eine Teilkündigung für zulässig, soweit die Bestimmungen, auf die sich die Teilkündigung beziehen soll, teilbar und völlig alleinstehend sind, also in keinem sachlichen Zusammnehang mit den anderen Regelungen stehen.Z 10 Ein solches Teilkündigungsrecht sei aufgrund der dem Tarifvertrag innewohnenden Friedenspflicht geboten, da die Tarifparteien ohne die Möglichkeit der Teilkündigung gezwungen wären, den ganzen Tarifvertrag zu kündigen, womit sie zwangsläufig den Kampfrahmen im Tarifvertrag erweitern würden.211 Gegen ein solches grundsätzliches Recht zur teilweisen Lösung vom Tarifvertrag argumentiert die überwiegende Meinung wie auch schon im Individualarbeitsrecht mit dem Gedanken des inneren Zusammenhanges der einzelnen Regelungen, der durch eine Teilkündigung auseinandergerissen würde. Der Tarifvertrag sei als ein zusammenhängendes Gefüge zu werten, das unter Eingebung von Kompromissen im Wege des gegenseitigen Gebens und Nehmens mühsam errungen worden sei, so daß in diesem "Kompromißpaket" auch zwischen heterogenen Vertragsteilen eine Wechselwirkung bestehe. 212 S. 102; Hueck/Nipperdey Bd. II 1. Hb., S. 469 Fn. 30; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 771; Stather, AiB 1997, S. 308 (308) Anmerkung zu ArbG Stuttgart AiB 1997, S. 307 -; Hamacher, EzA § 1 TVG Nr. 3 fristlose Kündigung. Sicherlich stehen bei einem Tarifvertrag bestimmte Regelungen in einem inneren Zusammenhang; die eine Seite hat einer in ihren Augen unliebsamen Regelung nur zugestimmt, weil die Gegenseite bei einer anderen heiß umkämpften Frage nachgegeben hat. 209 Däub1er, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1448; Löwisch/Rieble, TVG, § I Rdn. 362; Wiedemann- Wank,TVG, § 4 Rdn. 24; Nikisch Bd. II, S. 350; Oetker, RdA 1995, S. 82 (98); BAG AP Nr. 19 zu 4 TVG Nachwirkung; Nr.l zu§ 74 BAT; BAG EzA § 1 TVG Nr. 21. 210 Löwisch/Rieble,TVG, § 1 Rdn. 362; Bruse/Hannig/Mosebach - Hannig, § 74 Rdn. 5. 211 Hannig a. a. 0 . 212 Hueck, RdA 1968, S. 201 (207 f.); Zachert, AuR 1993, S. 294 (295); Nikisch Bd. II, S. 350; Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 102; Wiedemann - Wank, TVG, § 4 Rdn. 24, 71.

V. Ultima-ratio-Prinzip/Verhandlungspflicht/Teil- u. Änderungskündigung 189

Der Möglichkeit einer Teilkündigung ist jedoch zuzugeben, daß sie dem Verhältnismäßigkeitsgedanken bzw. dem ultima-ratio-Prinzip im Gegensatz zur Beendigungskündigung weitgehend zum Durchbruch verhilft, solange es nicht zu einer Verzerrung der Kompromißstruktur des Tarifvertrages kommt. Nicht richtig ist, von vomherein die generelle Wechselwirkung aller tariflichen Regelungen anzunehmen. Es gibt durchaus auch Abreden, die unabhängig voneinander getroffen worden sind. So ist, um nur ein Beispiel zu geben, zwischen dem in § 5 des Tarifvertrages der sächsischen Metall-und Elektroindustrie von 1993213 geregelten Beurteilungsverfahren für eine tarifliche Leistungszulage und den Lohnvereinbarungen unter § 3 desselben Vertrages kein innerer Zusammenhang zu erkennen. Im Rahmen der Leistungszulagen haben sich die Tarifparteien über ein Beurteilungsverfahren zu einigen, in dem es um die zusätzliche Vergütung von überdurchschnittlichen Leistungen (Fleiß, Qualität der Arbeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit usw. geht). 214 Solche Bewertungsverfahren, in denen es um die schlichte Festlegung eines Verfahrensmodus geht, stehen nicht im Zusammenhang mit Lohn- und Gehaltsvereinbarungen. Warum sollten die tariflich geregelte Frauenförderung, die Bildschirmarbeit oder der Arbeits- und Gesundheitsschutz mit Lohn und Gehaltsregelungen in einem inneren Zusammenhang stehen? Das Problem erinnert an die im ersten Kapitel besprochene Frage des inneren Zusammenhanges von kompensatorischen Regelungen eines Arbeitsvertrages. So wurde oben festgestellt., daß ein Sachgruppenvergleich der abweichenden, arbeitsvertragliehen Regelungen mit den tarifvertragliehen Regelungen nur dann möglich sein soll, wenn sie isoliert keine selbständige Bedeutung haben, sondern nur in der Gesamtschau mit anderen Regelungen ihren Sinn erhalten; die eine Regelung also erst im Zusammenhang mit der anderen Regelung verständlich wird. 215 Ist ein solcher objektiv innerer Zusammenhang nicht gegeben, d. h. gehören die Regelungen nicht schon aufgrund der Natur der Sache zusammen, so kann der innere Zusammenhang immer noch nach dem Parteiwillen gegeben sein. Diese Grundsätze könnte man auf die Problematik der Teilkündigung übertragen. Auch hier könnte man zunächst danach fragen, welche Tarifregelungen nach einer objektiven Betrachtungsweise als wechselwirkend betrachtet werden müssen, weil sie für sich allein keine selbständige Existenz aufweisen. Für solche ist eine Teilkündigung ausgeschlossen. Es kann aber auch sein, daß die Parteien im Tarifvertrag in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht haben, daß sie einer Regelung nur im Hinblick auf eine 2l3 214 21s

Abgedruckt bei Sontowski, Löhne in der Untemehmenskrise, S. 194 ff. Hierzu Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 207. s.o. B. IV. 2. c) bb).

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

andere zugestimmt haben, auch wenn dies für den objektiven Betrachter nicht erkennbar ist. Notfalls ist ein solcher Parteiwille nach den §§ 133, 157, 242 BGB zu ermitteln. Nicht vergessen sollte man ferner, daß das ultima-ratio-Prinzip in erster Linie dem Schutz des Kündigungsadressaten dient. Eine Lösung von dem Vertrag ohne Übergangsfrist soll nur dann in Betracht kommen, wenn kein für den Adressaten weniger belastendes und für die Unternehmerischen Belange gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht.216 Es sollte deshalb dem Kündigungsadressaten, hier der betreffenden Gewerkschaft, überlassen sein, ob sie eine Teilkündigung anerkennt oder ob sie die (teil)- gekündigten Regelungen in einem untrennbaren Zusammenhang mit den restlichen Vertragsteilen sieht. Zwar stellt die Kündigung ein einseitiges Gestaltungsrecht dar217, so daß es auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen mag, wenn letztlich der Kündigungsadressat darüber entscheiden soll, ob hier eine Teil- oder eine Beendigungskündigung vorliegt. Es ist jedoch nicht hinzunehmen, daß der Kündigende, wenn er nur in einigen Punkten unzumutbar betroffen ist, den ganzen Vertrag beenden kann, unter Berufung auf die generelle Annahme, eine Teilkündigung gebe ihm die Möglichkeit, den Vertragspartner zur Fortsetzung des für ihn ungünstigeren Vertrages zu nötigen.218 Damit würde unter dem Deckmantel des Adressatenschutzes dem Kündigenden die Möglichkeit anheim gestellt, die einschneidendere, über das Ziel hinausschießende Wirkung herbeizuführen, und somit den Schutz des Adressaten in sein Gegenteil zu verkehren. Festzustellen, ob eine tatsächliche Benachteiligung durch die Teilkündigung vorliegt und der ultimaratio-Grundsatz wegen seiner Verkehrung ins Gegenteil nicht anwendbar ist, sollte jedoch demjenigen vorbehalten bleiben, der durch ihn geschützt werden soll, hier also die Gewerkschaft. Der Arbeitgeberverband hat somit das Recht aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips zunächst eine Teilkündigung auszusprechen, um die Kontinuität der Arbeitsbedingungen durch Weitergeltung der restlichen Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.219 Akzeptiert die Arbeitnehmerkoalition die Teilkündigung nicht, weil in ihren Augen durch sie das Kompromiß- und Äquivalenzgefüge des Tarifvertrages zerstört wird und deshalb nur noch die für sie nachteiligen Regelungen bestehen bleiben, so kann sie immer noch im Wege der FeststelWank, RdA 1987, S. 129 (136). Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz, Rdn. 1 ff.; Knorr/Bichlmeier/Kremhelmer, Handbuch des Kündigungsrechts, S. 103 f. 21s Hueck a. a. 0., S. 204. 219 Ebenso Löwisch/Rieble, TVG, § I Rdn. 366; Däubler a. a. 0.; Buchner, NZA 1993, S. 289 (298); Otto in FS Kissel, S. 778 (794); Belling/Hartmann, ZfA 1997, s. 87 (128). 216 217

V. Ultima-ratio-Prinzip/Verhandlungspflicht/Teil- u. Änderungskündigung 191

lungsklage die Unzulässigkeit einer Teilkündigung geltend machen. Eine solche gerichtliche Feststellung stellt auch keinen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie dar, denn "mit der begehrten Feststellung wird allenfalls tarifvertragliches Handeln an rechtsstaatliehen Normen gemessen, nicht aber eine regelungsbedürftige Rechtsmaterie unter Beschneidung der Tarifautonomie staatlicherseits". 220 Nicht überzeugend ist der immer wieder gegen die Zulässigkeit einer Teilkündigung angeführte Einwand, die Teilkündigung eines Tarifvertrages sei allein schon deshalb nicht möglich, weil sie durch die einseitige Umgestaltung eines Vertragsverhältnisses gegenüber der Beendigungskündigung als aliud anzusehen sei. 221 Es ist nämlich nicht ersichlich, inwieweit das ultima-ratio-Prinzip ein aliud als milderes Mittel ausschließt. Das ultima-ratio-Prinzip ist Ausfluß des in allen Rechtsgebieten zu beachtenden222 Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wiederum wird heute allgemein in die Teilgrundsätze der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit i. e. S. unterteilt. 223 Da überwiegend der Begriff "ultima ratio" mit dem Teilgrundsatz der Erforderlichkeit gleichgesetzt wird, kommt es also allein darauf an, ob die Teilkündigung nach Art und Maß das mildere Mittel darstellt. Entscheidend ist, ob sie im Vergleich zur Totalkündigung ein gleich geeignetes Mittel darstellt, das für den Betroffenen die geringsten nachteiligen Folgen hat. 224 Die Teilkündigung gegenüber der Beendigungskündigung als ein aliud zu betrachten, ist eine dogmatisch interessante Feststellung, jedoch für die Frage der Zulässigkeit einer Teilkündigung nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit unerheblich. Weder der Rechtsprechung des BVerfG, des BAG, des BVerwG noch des BGH ist zu entnehmen, daß die im Hinblick auf die Erforderlichkeit zu vergleichenden Rechtsmittel kein aluid zueinander darstellen dürfen. 225 Vielmehr ist ihr der Grundsatz zu entnehmen, daß für eine weitergehende Rechtsbeeinträchtigung kein Raum ist, wenn ein weniger weitgehender Rechtsbehelf, gleichgültig welcher Rechtsnatur, zur Interessenwahrnehmung ausreicht. 220 So das ArbG Stuttgart AiB 1997, S. 307 im Zusammenhang mit der von der Gewerkschaft HBV beantragten Feststellung der Unwirksamkeit einer Teilkündigung des Tarifvertrages. 221 Oetker, RdA 1995, S. 82 (99); HeBhaus a.a.O., S. 149; Hamacher a.a.O.; wohl auch Rieble, EzA § I fristlose Kündigung Nr. 2, der ein milderes Mittel nur dann für zulässig erachtet, soweit es dieselbe Rechtsfolge auslöst. 222 Dey, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kündigungsrecht, S. 15. 223 s.o. B. VI. 4. e) aa) u. bb). 224 Vgl. BVerfGE 38, 281 (302); 33, 171 (187). 225 Zur Rechtsprechung der obersten Gerichte zum Verhältnismäßigkeitsprinzip vgl. die Darstellung bei Dey a. a. 0 ., S. 9 ff.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Nicht überzeugend ist ebenfalls das Argument der Rechtsunsicherheit, mit dem teilweise gegen die Zulässigkeil der Teilkündigung argumentiert wird. Die Unklarheit bezüglich der Wirksamkeit einer Teilkündigung sei angesichts der Vielzahl der normunterworfenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht zu ertragen.226 Schon früh hat Hueck in diesem Zusammenhang festgestellt, daß über die Wirksamkeit einer normalen Beendigung ebenso Streit entstehen könne, die Unklarheit bezüglich der Wirksamkeit einer Teilkündigung also nichts Besonderes sei. 227 Daß dies zutrifft, hat der Rechtsstreit über die genannte außerordentliche Beendigungskündigung des Anerkennungstarifvertrages vom 26. Mai 1994 gezeigt, deren Unwirksamkeit erst mit Urteil des BAG vom 18.12 1996228 endgültig festgestellt wurde. Auch wenn hier die generelle Möglichkeit einer Teilkündigung von in sich abgeschlossenen, von übrigen Regelungen unabhängigen Tarifvertragsteilen vertreten wird, so ist doch darauf hinzuweisen, daß diese in der Praxis keine große Relevanz haben dürfte. Hier haben sich aufgrund des breiten tariffahigen Themenspektrums im wesentlichen drei Tarifvertragstypen herausgebildet. Die Lohn- und Gehaltsrahmentarifverträge, in denen die verschiedenen Lohn- und Gehaltsgruppen festgelegt, die Gruppenmerkmale definiert und die Regelungen zur Leistungsentlohnung getroffen werden. Des weiteren die Manteltarifverträge, in denen die lohnunabhängigen Arbeitsbedingungen wie Kündigungsfristen, Urlaub, Schichtarbeit, Arbeitszeit usw. geregelt werden. Die für die außerordentliche Kündigung wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit wohl bedeutensten Verträge sind die Lohnund Gehaltstarifverträge, in denen die Höhe der tariflichen Grundvergütung in Form von Lohn- und Gehaltstabellen festgelegt wird. 229 Im Hinblick auf diese werden Arbeitgeber die Unzumutbarkeit behaupten. Ein Lohntarifvertrag wird nach dem oben Gesagten aber freilich immer nur als Ganzes kündbar sein. Praktische Relevanz hat die Teilkündigung deshalb nur bei den Mischverträgen, in denen die genannten Vertragstypen mit ihren unterschiedlichen Inhalten ineinander verschränkt werden.

2. Änderungskündigung und Verhandlungspflicht Nach dem BAG und dem ArbG Wiesbaden besteht- wie bereits gesagtvor dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung "die Obliegenheit, mit der anderen Seite Verhandlungen zur Anpassung des Tarifvertrages aufHeBhaus a.a.O., S. 147. Hueck, RdA 1968, S. 201 (204). 22s BAG JZ 1998, S. 203 ff. 229 Zu den verschiedenen Tarifvertragsarten vgl. WSI Tarifhandbuch 1998, s. 255 f. 226

227

V. Ultima-ratio-Prinzip/Verhandlungspflicht/Teil- u. Änderungskündigung 193

zunehmen".230 Einige Stimmen in der Literatur wollen sich jedoch nicht mit einer solchen Obliegenheit begnügen, sondern fordern in Parallele zu § 2 KSchG die generelle Übertragung des im Individualrecht geltenden Vorranges der Änderungskündigung vor der Beendigungskündigung auf das Tarifrecht. 231 Diesem Vorschlag werfen andere wiederum vor, er verkenne die Gefahr einer damit einhergehenden unzulässigen Tarifzensur. Eine Änderungskündigung setze immer voraus, daß die kündigende Tarifpartei dem Kündigungsgegner ein zurnutbares Angebot unterbreite. Die gerichtliche Überprüfung der Zumutbarkeit stelle jedoch eine unzulässige richterliche Kontrolle des Tarifvertrages dar. 232 Des weiteren würde die außerordentliche Änderungskündigung dem allgemeinen Verhandlungs- und Konsensprinzip im Tarifrecht zuwiderlaufen, wenn man eine Partei vor die Wahl stelle, das Änderungsangebot anzunehmen oder die völlige Beendigung zu riskieren. In der Regel wirke sich die Änderungskündigung deshalb genauso aus wie die Beendigungskündigung, da kaum anzunehmen sei, daß das einseitige Angebot als "Tarifdiktat" von dem Kündigungsgegner in der Praxis angenommen werde. 233 Dem Vorwurf der Tarifzensur begegnet Rieble, indem er klarstellt, daß die Wirksamkeit der Beendigungskündigung nicht vom "Wie", sondern lediglich vom "Ob" des Änderungsangebots abhängen könne. Wie bei der Anwendung des ultima-ratio-Prinzips im Arbeitskampfrecht, wo die angreifende Partei ebenfalls ein abschlußfähiges Tarifangebot unterbreiten müsse,234 könnten auch bei der außerordentlichen Änderungskündigung die Gerichte den Tarifvertragsparteien nicht vorschreiben, mit welchem Inhalt und wie lange sie zu verhandeln hätten, ehe man ihnen das Recht zur außerordentlichen Beendigungskündigung zuspräche. 235 Den Gerichten stehe lediglich eine Evidenz- und Mißbrauchskontrolle zu. 236 Wie bei der ultima-ratio-Problematik im Arbeitskampfrecht wird dadurch die EinhalBAG JZ 1998, S. 203 (205). Rieble, EzA § 1 TVG fristlose Kündigung Nr. 2; HeBhaus a.a.O., S. 149 ff.; Oetker, RdA 1995, S. 82 (96); Löwisch, NJW 1997, S. 905 (908). 232 Hamacher, EzA § I TVG fristlose Kündigung Nr. 3, Oetker a. a. 0 ., der die Änderungskündigung selbst vorschlägt, weist ebenfalls auf dieses Problem hin. 233 Meyer, DB 1997, S. 2334 (2335)- Anmerkung zu BAG DB 1997, S. 782 -; derselbe, RdA 1998, S. 142 (150). 234 Rieble, EzA § 1 TVG fristlose Kündigung Nr. 2 unter Hinweis auf BAG EzA Art. 9 GG Nr. 98. 235 Belling/Hartman, ZfA 1997, S. 87 (126). 236 Belling/Hartman a. a. 0., die keinen Unterschied zwischen Änderungskündigung und Verhandlungspflicht machen; Belling, NZA 1996, S. 906 (911); ArbG Wiesbaden NZA 1997, S. 451 (452) ebenfalls im Zusammenhang mit der Verhandlungsobliegenheit 23o 231

13 Freihube

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

tung von ,,Minimalanforderungen"237 überprüft, indem ermittelt wird, ob die kündigende Partei überhaupt versucht hat, in Nachverhandlungen einzutreten. Ist die gerichtliche Kontrolle nach einhelliger Ansicht wegen des Schutzes der Tarifautonomie auf die Frage beschränkt, ob die kündigende Partei überhaupt der Gegenseite Angebote zur Abänderung des Vertrages unterbreitet hat, so ist m. E. eine Unterscheidung zwischen Verhandlungspflicht und Änderungskündigung nicht zwingend notwendig. Im Ergebnis sollen beide Rechtsinstrumentarien der kündigenden Tarifpartei aufgrund der strengen Maßstäbe einer fristlosen Lösung vom Tarifvertrag eine Kündigung "ins Blaue hinein" versagen. Ein Unterschied besteht nur darin, daß bei einer Änderungskündigung der Kündigende dem Kündigungsgegner ein konkretes Angebot liefern muß, so daß er mit bloßer Annahme des Änderungsangebotes den neuen Tarifvertrag wirksam werden läßt. Dies hat zwar den Vorteil, daß die Arbeitgeberseite sich schon genaustens überlegen und darlegen muß, in welchem Umfang der Tarifvertrag für sie unzumutbar ist. Durch ein Änderungsangebot, das konkrete Zahlen und Berechnungen aufweisen muß, inwieweit durch die Änderung des Vertrages das Unternehmen gerettet werden kann238 , wird der Mißbrauch des Kündigungsrechts auf Arbeitgeberseite durch pauschale, vorsorgliche Geltendmachung der Unzumutbarkeit erheblich vermindert. M. E. sollte man aber keine Exklusivität zwischen Verhandlungspflicht und Änderungskündigung begründen. Sinnvoll ist es, beide Formen der Vertragsanpassung einer fristlosen Kündigung vorauszustellen. 239 So wäre nach einer Ausschlagung des Änderungsangebotes nicht automatisch der Tarifvertrag beendet. Vielmehr müßte dem Scheitern einer Änderungskündigung die vom BAG geforderte Verhandlung folgen, in die die Gewerkschaftsseite ihre Vorstellungen einer sinnvollen Veränderung einbringt. Sehr wahrscheinlich wird in der Praxis der Kündigungsgegner das einseitige Änderungsangebot als aufgezwungen und diktiert ablehnen. Dennoch stellt die Änderungskündigung keine unnütze Formalie dar. Erstens liefert sie eine konkrete mit Zahlen und Vorschlägen versehene Ausgangsbasis für die sich eventuell anschließende Verhandlung. Zweitens ist nicht völlig auszuschließen, daß die Gegenseite das Änderungsangebot annimmt, wenn es nur sachgerecht und plausibel genug vorgetragen wird. Schlägt der Kündigungsadressat aus, so stellt die Änderungs237 So BAGE 58, 365 (383) im Zusammenhang mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Arbeitskampfes. 238 Zur Pflicht des Kündigenden, die Notwendigkeit der Entgeltreduzierung substantiiert darzulegen vgl. BAG EzA § 2 KSchG Nr. 2. 239 Ähnlich Oetker, JZ 1998, S. 206 (209)- Anmerkung zu BAG JZ 1998, S. 203 - der ein vorheriges Änderungsangebot als Indiz für die Ernsthaftigkeit eines späteren Verhandlungsangebotes sieht.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG

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kündigung keinen unnötigen Zeitverlust dar, den es aufgrund des gebotenen, schnellen, entschlossenen Handeins zur Abwendung der drohenden Insolvenz zu vermeiden gilt. Die Darstellung der wirtschaftlichen Situation, die in einer beiderseitigen Verhandlung ohnehin notwendig wäre, erfolgt nun eben in einem vorgeschalteten Änderungskündigungsverfahren. Nimmt die Gegenseite das Änderungsangebot an, so ist dies die optimale Anpassung, lehnt sie es ab, treten die Parteien in eine Verhandlung ein, in der die grundsätzlichen Positionen schon vorher geklärt wurden. Vor der fristlosen Kündigung ist somit aufgrund des Ultima-ratio-Grundsatzes eine Änderungskündigung auszusprechen. Wird durch diese das verfolgte Ziel nicht erreicht, weil die Gewerkschaft das Änderungsangebot nicht annimmt und um die Änderungskündigung streiten will, müssen die Parteien versuchen, eine Anpassung in anschließenden Verhandlungen zu finden.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG Ist eine außerordentliche Kündigung wegen Unzumutbarkeit erfolgt, ist zu klären, ob auch für diesen Fall der Tarifvertragsbeendigung der gekündigte Tarifvertrag der Nachwirkung des § 4 V TVG unterliegt. Gern. § 4 V TVG gelten nach Ablauf des Tarifvertrages seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Dies entspricht der Ordnungsfunktion des Tarifvertrages. Die Nachwirkung soll sicherstellen, daß nach Ablauf des Tarifvertrages seine Regelungen zur Ordnung der Arbeitsverhältnisse zur Verfügung stehen, bis sie durch eine neue tarifliche Regelung ausgefüllt werden?40 Betroffen von der Nachwirkung ist zwar nur der normative Teil des Tarifvertrages, in der Praxis spielt aber gerade dieser, da er die Regelungen über Löhne und Arbeitszeiten enthält, die wichtigere Rolle. Für eine Nachwirkung auch bei außerordentlicher Lösung vom Tarifvertrag wird der Wortlaut241 des § 4 V TVG ins Feld geführt; auch die außerordentliche Kündigung sei eine Form des Ablaufens des Tarifvertrages. Für die Beendigung des Tarifvertrages durch außerordentliche Kündigung 240 Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rdn. 222; Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 293 ff. 241 Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 4 Rdn. 185. In der Neuauflage will Wank in Wiedemann, TVG, § 4 Rdn. 46 zwischen den durch Kündigung angegriffenen Bestimmungen des Tarifvertrages - keine Nachwirkung - und den nicht gekündigten Tarifvertragsbestimmungen - Nachwirkung - unterscheiden. Aber auch bei den (teilgekündigten) Bestimmungen des Tarifvertrages stellt sich die Frage der Nachwirkung. 13*

196

D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

müsse die Nachwirkung deswegen uneingeschränkt zur Anwendung gelangen242 Indes ist die Argumentation mit dem Wortlaut wenig überzeugend. Wenn

§ 4 V TVG von dem "Ablauf' des Tarifvertrages spricht, so erinnert dies

doch stark an eine zeitliche Komponente im Sinne eines zeitlichen Auslaufens des Tarifvertrages. Daß nach dem Wortlaut des § 4 V TVG nur die zeitliche Beendigung des Tarifvertrages erfaßt werden soll, hat auch das BAG mehrfach klargestellt. 243 In Betracht käme deshalb nur eine analoge Anwendung des § 4 V TVG244, die voraussetzt, daß neben einer Regelungslücke bei der außerordentlichen Kündigung des Tarifvertrages eine der zeitlichen Beendigung des Tarifvertrages vergleichbare Interessenlage gegeben ist, die vom Normzweck des § 4 V TVG erfaßt wird. 245 Außerdem ist bei der Nachwirkungsproblematik zu beachten, daß die außerordentliche Beendigung den Kündigenden von den unzumutbaren "Fesseln" des Vertrages befreien soll. Diese Befreiung könnte in ihrer Wirkung durch eine uneingeschränkte Anwendung des § 4 V TVG erheblich beeinträchtigt werden. Die Beschränkung des Rechts zur fristlosen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ist aber nun einmal - wie an anderer Stelle ausgeführt wurde - unzulässig, so daß eine Nachwirkung der unzumutbaren Tarifnormen nicht in Betracht käme. 246

242 Buchner, NZA 1993, S. 289 (299); für die Nachwirkung ohne Angbabe einer näheren Begründung Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 772; Däubler, ZTR 1996, S. 241 (245); Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 46; Zachert, NZA 1993, S. 299 (301); Etzel, NZA 1987 Beilage 1, S. 19 (23); für die direkte Anwendung des § 4 V TVG bei a. o. Kündigung auch BAGE 40, 327 (343). 243 BAG EzA § 3 TVG Nr.11; BAG EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 17; BAG EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14. 244 Für die analoge Anwendung auch BAG a. a. 0., jedoch nicht im Zusammenhang mit a. o. Kündigung, sondern im Zusammenhang mit Verbandsaustritt des Arbeitgebers. BAG EZA § 4 Nr. 14: "Vorschrift ist auf jeden Fall des Wegfalls der Tarifbindung entsprechend anzuwenden"; BAG DB 1992, S. 1297 (1297): "Es kann nicht darauf ankommen, aus welchen Gründen im Einzelfall bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis die Tarifbindung entfällt". 245 Zu den Voraussetzungen der analogen Gesetzesanwendung Treder, Methoden und Technik der Rechtsanwendung, S. 90 ff. 246 Für den Ausschluß einer Nachwirkung im Falle der außerordentlichen Kündigung Bauer/Diller, DB 1993, S. 1085 (1090); Oetker, RdA 1995, S. 82 (95); Helling, NZA 1996, S. 906 (911); Belling/Hartmann, ZfA 1997, S. 87 (130); wohl auch Otto in FS Kissel, S. 787 (794); Hamacher, EzA § 1 TVG fristlose Kündigung Nr. 3.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG

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1. Analogievoraussetzungen a) Planwidrige Regelungslücke Erste Voraussetzung für die analoge Anwendung des § 4 V TVG ist das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Es darf also gerade nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben, der ähnlich gelagerten Konstellation nicht dieselbe Rechtsfolge zuzuordnen?47 Da § 4 V TVG nur das Ende der zeitlichen Geltung des Tarifvertrages durch zeitlichen Ablauf im Sinne der Vorschrift erfaßt248, besteht hinsichtlich der Beendigung durch außerordentliche Kündigung zunächst eine Regelungslücke. Diese Regelungslücke ist auch planwidrig, da die wenigen Materialien zur Entstehungsgeschichte249 nichts dafür hergeben, daß der Gesetzgeber bewußt auf die Nachwirkung des Tarifvertrages nach a. o. Kündigung verzichtet hat. Die Väter des TVG wollten mit Schaffung des TVG, das in seiner Kürze und Klarheit bis heute ein beispielhaftes Gesetz ist, die damals wichtigsten und "brennendsten" Fragen klären. Im Hinblick auf § 4 V TVG war dies die Klärung des zur Zeit der TVO bestehenden Streites bezüglich des "Ob" der normativen Nachwirkung250• Erfahrungen mit fristlosen Kündigungen von Tarifverträgen hatte man zur damaligen Zeit noch nicht gemacht, so daß davon auszugehen ist, daß der Gesetzgeber diese Variante des Fortfalls tariflicher Regelungen nicht bedacht hatte. b) Gleiche Interessenlage Tragendes Prinzip der analogen Gesetzesanwendung ist die Gleichbehandlung des Gleichartigen251 . Der Grund für die Übertragung der Rechtsfolge im Wege der Analogie liegt darin, daß die beiden Tatbestände im Hinblick auf den Sinn und Zweck der analog anzuwendenden Regelung gleich zu bewerten sind. Entscheidend ist also die ratio legis.252 Die fristlose Kündigung des Tarifvertrages müßte eine der zeitlichen Beendigung des Tarifvertrages vergleichbare Interessenlage zur Folge haben, die nach Sinn und Zweck des § 4 V TVG seine Anwendung erforderlich macht. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 194. BAG a. a. 0. 249 Zur Entstehungsgeschichte des § 4 V TVG: Herschel, ZfA 1973, S. 183 (193); derselbe, ZfA 1976, 89, 94 ff.; Nipperdey, RdA 1949, S. 81 ff.; Rotter, Nachwirkung der Normen eines Tarifvertrags, S. 51. 250 Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 322; Rotter a.a.O., S. 52 f. 251 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 195. 252 Vgl. Larenz/Canaris a. a. 0., S. 202 f. 247

248

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Sinn und Zweck des § 4 V TVG ist es, die bisher geltenden tariflichen Regelungen für eine Übergangszeit zu erhalten. Durch diese Überbrükkungsfunktion soll sichergestellt werden, daß die Arbeitsverhältnisse nicht inhaltsleer werden und einer einseitigen Leistungsbestimmung des Arbeitgebers ausgesetzt sind.253 § 4 V TVG ist daher vorrangig als Schutznorm für den Arbeitnehmer anzusehen, da die Vorschrift verhindert, daß die Aufrechterhaltung des bisherigen Standards von der freiwilligen Gewährung des Arbeitgebers abhängt. 254 Zu beachten ist, daß § 4 V TVG eine Überbrückungsfunktion nur dann zukommen kann, wenn sicher zu erwarten ist, daß die Tarifparteien auch tatsächlich einen neuen Tarifvertrag abschließen, denn ansonsten gibt es nichts zu überbrücken. Bedenklich ist es m. E. deshalb, § 4 V TVG auf die Arbeitsverhältnisse eines Unternehmens anzuwenden, das durch Verbandsaustritt deutlich gemacht hat, daß es an einem neuen Abschluß seines Verbandes überhaupt nicht interessiert ist. 255 Neben der Arbeitnehmerschutzfunktion wird der Überbrückungsfunktion des § 4 V TVG auch eine ordnende Komponente zugesprochen, die auch im Arbeitgeberinteresse liegen soll. Die Nachwirkung stelle sicher, daß das Arbeitsleben durch das tarifliche Regelungswerk eine Stabilität erfährt. Der Arbeitgeber habe rechtlich und tatsächlich keine Möglichkeiten, ein ähnlich ordnendes Regelungswerk zu erstellen.256 Dies trifft nur bedingt zu. In der Praxis werden vielfach durch Gesamtzusage allgemeine Arbeitsbedingungen geschaffen, die ebenfalls zur kollektiven Ordnung beitragen können. Daß die gesetzliche Anordnung der Nachwirkung nicht im Arbeitgeberinteresse lag, zeigten die Anstrengungen der Arbeitgeberverbände, die Schaffung des § 4 V TVG zu verhindern. 257 Nach dem genannten Normzweck des § 4 V TVG ist seine analoge Anwendung auch im Falle der außerordentlichen Kündigung geboten. Auch hier gilt es, eine Inhaltslosigkeit der Arbeitsverhältnisse zu verhindern. Durch die außerordentliche Kündigung hat der Verband auch nicht - etwa wie sein einzelnes Mitglied im Falle eines Verbandsaustrittes - deutlich gemacht, daß er an einer künftigen tariflichen Einigung nicht mehr interessiert ist. Zwar hat er die Unzumutabrkeit der vertraglichen Regelungen deutlich gemacht, die durch "andere Abmachungen" zu beseitigen sind. Die Zeit bis dahin ist jedoch durch die Nachwirkung zu überbrücken. Gegen die Notwendigkeit einer solchen Überbrückungs- und damit verbundenen Inhaltsschutzfunktion258 läßt sich auch nicht einwenden, den 253

254 255 256 257

BAG a.a.O.; Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 327. Wiedemann- Wank, TVG, § 4 Rdn. 327. Für analoge Anwendung im Falle des Verbandsaustrittes aber BAG a. a. 0. BAG a. a. 0. Rotter, Nachwirkung der Normen eines Tarifvertrages, S. 53, 59.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG

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Arbeitsvertragsparteien stehe auch ohne die Nachwirkung ein vor einseitigen, arbeitgebensehen Diktaten schützendes Regelungswerk zur Verfügung, indem man die vorher bestehenden einzelvertraglichen Abreden oder den vorherigen Tarifvertrag259 wieder aufleben läßt. Dies hat Rieble deutlich gemacht. Er weist daraufhin, daß die Vereinbarung des individuellen Arbeitsvertrages viele Jahre zurück liegen kann. So könnte das Arbeitsverhältnis inhaltlich mit einem Arbeitsvertrag von vor 10 Jahren, einschließlich des damaligen Lohnniveaus, ausgefüllt werden. Ein solches Vorgehen hätte jedoch eine nicht hinzunehmende Entgeltsenkung für den Arbeitnehmer zur Folge.260 Aber nicht nur hinsichtlich Entgeltfragen, sondern auch im Hinblick auf sonstige Veränderungen der im Tarifvertrag konkretisierten Prinzipien der Arbeits- und Sozialordnung würde das Wiederaufleben eines lang zurückliegenden Arbeitsvertrages, der inhaltlich nun völlig anders zu bewerten wäre, dem Willen der Arbeitsvertragsparteien nicht entsprechen. Zu beachten ist, daß die gewerkschaftliche Mitgliedschaft des Arbeitnehmers ihn ja gerade davon abgehalten hat, seine Arbeisbedingungen, insbesondere die Lohnregelung, an die fortschreitenden Veränderungen anzupassen. Der Arbeitnehmer hat m. E. somit einen Vertrauensschutz hinsichtlich der tariflich erstrittenen Verbesserungen erworben, der erheblich verletzt würde, wenn man ihn mit Beendigung der Tarifbindung durch ein Wiederaufleben des Arbeitsvertrages auf ein Niveau zurückversetzte, welches dem von vor etlichen Jahren entspricht. Die Verletzung des Vertrauensschutzes will Rieble dadurch verhindern, daß er den Tarifvertrag nach seiner, wie auch immer gearteten Beendigung, automatisch zum Inhalt des Arbeitsvertrages werden läßt.261 Eine derartige Konstruktion ist jedoch ein Rückfall in vergangene Zeiten, der gar nicht notwendig ist: Eine solche vertragsgestaltende Wirkung schrieb man dem Tarifvertrag noch zu Zeiten der TVO von 1918 zu, um eine Inhaltsleere bei Tarifvertragsbeendigung ohne einen schnellen Neuabschluß zu verhindern. Der Tarifvertrag sollte nach gewichtigen Stimmen in Literatur und Rechtsprechung direkt zum Inhalt des Einzelvertrages werden262 ; die Tarifregeln sollten also nach Ablauf des Tarifvertrages einzelvertraglich weitergehen. Mit der Schaffung des § 4 V TVG hat der Gesetzgeber sich jedoch eindeutig gegen eine solche Konstruktion entschieden. In § 4 V TVG hat er klargestellt, daß die Arbeitsverhältnisse auch nach Beendigung des Tarifvertrages weiterhin normativ durch ihn aus258 So auch Bernstein, Anmerkung zu BAG EzA § 3 TVG Nr. 3, nach dem Inhaltsschutz und Überbrückungsfunktion einander bedingen. 259 So Belling/Hartmann, ZfA1997, S. 87 (130). 260 Rieble, Anmerkung zu BAG AP Nr. 3 zu § 3 TVG. 261 Riebeie a. a. 0., derselbe, SAE 1995, S. 77 (82). 262 Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 221, 239; Kaskel, Arbeitsrecht, S. 36, RGZ 114, 194 (195); ausführliche Darstellung dieser Meinung bei Hersehe!, ZfA 1973, S. 183 (192 f.); derselbe, ZfA 1976, S. 89 (94 ff.).

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

gefüllt werden, 263 wenn auch nur mit dispositiver Wirkung. Der Streit über die vertragliche bzw. die normative Wirkung des Tarifvertrages ist zwar von dogmatischem Interesse, aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung aber überflüssig. Ohnehin gelangen im Ergebnis beide Meinungen zu einem dispositiven Anspruch des Arbeitnehmers auf die tariflichen Rechte. Der Inhalt des Arbeitsvertrages kann also nur nach dem geltenden Tarifvertrag inhaltlich bestimmt werden, nicht jedoch durch den zuvor abgeschlossenen Arbeitsvertrag. Abzulehnen ist auch die Ordnung der Arbeitsverhältnisse durch den vorherigen Tarifvertrag. Diesen haben die Tarifparteien durch einen neuen ersetzt, weil der alte der Interessenlage der Tarifparteien nicht mehr ausreichend Rechnung getragen hat. Ansonsten hätten die Tarifparteien keinen neuen Vertrag abgeschlossen. Ein Rückgriff auf diesen getreu dem Motto "lieber etwas als gar nichts" kann nicht zufriedenstellen, da es die "tarifautonome Entscheidung der Tarifparteien ignoriert".264 Eine Nachwirkung wegen drohender Inhaltslosigkeit ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil auch ohne sie ein Rückgriff auf gesetzliche Bestimmungen- wie z.B. § 612 BGB II für Entgelt-, das BUrlG für Urlaubs-, das ArbZG für Arbeitszeitfragen als Regelwerk zur Ausgestaltung und Ordnung der Arbeitsverhältnisse möglich ist. Zwar bestehen einige gesetzliche Regelungen, die Vorgaben für die Ausgestaltung des Arbeitsvertrages machen. Jedoch sind diese nicht vergleichbar mit dem Umfang der Bestimmungen der unterschiedlichen Tarifverträge vom Manteltarifvertrag bis hin zu den einzelnen . ausführenden Tarifverträgen. Für viele Fragen, die tarifvertraglich geregelt sind wie z. B. Zuschläge für Nacht- und Feiertagsarbeit, 13. Monatsgehalt, Rückzahlungsklauseln hinsichtlich Gratifikationen und Ausbildungskosten, Bewertungsverfahren für übertarifliche Leistungen u.s.w. liefern die Gesetze keine Anworten. § 612 II BGB kann die Forderung nach der tariflichen Nachwirkung ebenfalls nicht entkräften. Nach § 612 II BGB ist das übliche Entgelt die gewöhnlich gewährte Vergütung für gleiche oder ähnliche Leistungen an dem betreffenden Ort, diese soll in der Regel nach überwiegender Meinung die tarifliche sein.Z65 Warum also "soviel Wind um nichts", wenn es sowieso bei der tariflichen Vergütung bleibt? Im Interesse der Rechtssicherheit sollte man es von vornherein bei der tariflichen Vergütung kraft Nachwirkung des Tarifvertrages belassen, anstau den Richter - bei Lohnfragen 263 Vgl. Kempen/Zachert TVG § 4 Rdn. 10, 293, Hersehe!, ZfA 1973, S. 183 (192 f.); derselbe, ZfA 1976, S. 89 (92 ff.); Bauer/Diller, DB 1993, S. 1085 (1086); Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rdn. 225; BAG DB 1975, S. 2455 f. 264 Rieble a. a. 0. 265 BAG EzA § 4 TVG Ausschlußfristen Nr. 89; Palandt- Putzo, § 61 2 Rdn. 8.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG

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wird es stets zu Unstimmigkeiten kommen - mit der Bestimmung der Üblichkeit des Entgeltes zu beschäftigen. Darüber hinaus ist § 612 li BGB von seinem Anwendungsbereich her nur für reine Vergütungsfragen, d.h. für die Entgeltung der geleisteten Arbeit konzipiert. Aussagen über entgeltähnliche Leistungen, wie z. B. die Betriebsrente oder Vorruhestandsbezüge, über § 612 II BGB als eine Art "Supernachwirkungstatbestand" zu treffen266, ist höchst bedenklich?67 Solche Fragen sind aber von größter Wichtigkeit und sind über die tarifliche Nachwirkung zu klären. Im Ergebnis ist somit die tarifliche Nachwirkung die einzige Möglichkeit, die zwischen außerordentlicher Kündigung und Neuabschluß liegende Zeit zu überbrücken, um somit den notwendigen Inhaltsschutz herbeizuführen. Eine analoge Anwendung des § 4 V TVG scheint somit geboten zu sein.

2. Keine unzulässige Beschränkung des Rechts zur außerordentlichen Kündigung Freilich darf die analoge Anwendung des § 4 V TVG nicht dazu führen, daß das zwingende Recht zur fristlosen Lösung von einem Dauerschuldverhältnis unzulässig beinträchtigt wird, denn das außerordentliche Kündigungsrecht ist nicht nur der einzel- und kollektivvertraglichen, sondern auch der gesetzgebensehen Disposition entzogen.268 Eine Einschränkung durch§ 4 V TVG wäre daher unzulässig. Zu untersuchen ist deshalb, ob das Weichen der zwingenden Wirkung im Nachwirkungszeitraum dem Kündigenden ausreichende Möglichkeiten liefert, sich von dem unzumutbaren Zustand zu lösen, so daß die fristlose Kündigung auch trotz Nachwirkung noch ausreichende Wirkung entfaltet.

So BAG SAE 1995, S. 75 (76). Rieble SAE 1995 a. a. 0. Nicht zutreffend ist allerdings Riebles Einwand, durch die Gleichstellung der tariflichen Vergütung mit der üblichen werde der Gewerkschaftsbeitritt in Frage gestellt, da durch sie auch der nicht organisierte Arbeitnehmer an den gewerkschaftlich erzielten Lohnerhöhungen teilhabe. Dies trifft insofern nicht zu, da die Anwendung des § 612 II BGB voraussetzt, daß eine Vergütungsregelung nicht besteht. Dies wird aber in den wenigsten Arbeitsverträgen der Fall sein. 268 MünchKomm- Schwerdtner, § 626 Rdn. 65 m. w. N. 266 267

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

a) Einzelvertragliche Abänderung

Aufgrund der Disposivität der tariflichen Regelungen im Nachwirkungszeitraum steht den Arbeitsvertagsparteien die individuelle Abweichung vom Tarifvertrag als andere Abmachung i. S. d. § 4 V TVG offen. Natürlich bedarf es hierfür der Zustimmung des Arbeitnehmers zu einer untertariflichen und deshalb zu einer auf den ersten Blick ungünstigeren Regelung. Deshalb werden teilweise Bedenken hinsichtlich der Durchführbarkeit einer einvernehmlichen Lösung geäußert. 269 An dieser Stelle ist man wieder bei dem Problem angelangt, welches schon Untersuchungsgegenstand des ersten Kapitels war. Dort wurde ausführlich dargelegt, daß eine untertarifliche Abweichung gerade nicht als ungünstiger anzusehen ist, wenn durch sie der Arbeitsplatz erhalten bleibt. In der Regel wird es deshalb - wie oben dargelegt - eine hohe Bereitschaft zum vorübergehenden Verzicht auf tarifliche Leistungen geben, sofern dadurch die Schließung bzw. die Auslagerung des betreffenden Betriebes verhindert werden kann. Die Vermeidung einer konkret drohenden Betriebsstillegung ist nach den obigen Untersuchungen aber gerade Voraussetzung für die Wirksamkeit der fristlosen Kündigung wegen wirtschaftlicher Veränderungen und somit für den Eintritt der Nachwirkung. Es ist deshalb widersprüchlich, wenn man im Rahmen des Zumutbarkeitstatbestandes der außerordentlichen Kündigung argumentiert, bei wirtschaftlicher Existenzbedrohung des Unternehmens verschwinde ein natürlich bestehender Interessengegensatz zwischen den Arbeitsvertragsparteien; mit fortschreitender Bedrohung sei auch für den Arbeitnehmer das vorrangige Ziel der Erhalt des Betriebes, bei der Nachwirkungsfrage jedoch unterstellt, individuelle einvernehmliche Lösungen seien aufgrund der Interessengegensätze zwischen den Arbeitsvertragsparteien nicht herbeizuführen. 270 Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Unterschreitung des Tarifniveaus zur Rettung des Arbeitsplatzes als günstiger anzusehen, wenn nur dadurch die bedrohten Arbeitsplätze erhalten bleiben. Dies werden in der Regel auch die Arbeitnehmer erkennen wie die die Praxis zeigt und deshalb ihre Zustimmung überwiegend erteilen. b) Änderungskündigung

Selbst wenn einzelne oder auch mehrere Arbeitnehmer ihre Zustimmung verweigern, bleibt dem Arbeitgeber immer noch der Weg über eine Ände269 Bauer/Diller, DB 1993, S. 1085 (1090); auch Buchner, NZA 1993, S. 289 (299), der im Ergebnis aber für eine Nachwirkung plädiert. 270 In diese Richtung aber Belling/Hartmann a.a.O., S. 116 i. V.m. S. 130.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG

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rungskündigung eine individuelle Neuregelung zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise zu erzwingen. Eine andere Abmachung i. S. d. § 4 V TVG erfordert nämlich keine einvernehmliche Abänderung der bisherigen Regelungen. 271 Der Unzumutbarkeitstatbestand der außerordentlichen Kündigung erfordert u. a. die akute Gefahr der Betriebsstillegung und des Arbeitsplatzabbaus.272 Genau dies ist aber die Voraussetzung für die Zulässigkeit einer außerordentlichen Änderungskündigung273 zum Zwecke der Entgeltreduzierung.274 Liegen also tatsächlich die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung des Tarifvertrages vor, so steht § 4 V TVG einer schnellen, notwendigen Veränderung auch bei Weigerung des Arbeitnehmers, eine einvernehmliche Lösung zu finden, nicht entgegen. Der Arbeitgeber kann sich im Wege der außerordentlichen Änderungskündigung von den bedrohlichen Tarifregelungen lösen. Eine solche Vorgehensweise ist auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht durchführbar, da die außerordentliche Änderungskündigung ebenso wie die ordentliche als Massenänderungskündigung möglich ist. 275 Unabhängig davon ist der Einwand der Umständlichkeit massenhafter individualvertraglicher Gestaltungen276 ohnehin nicht verständlich. Man stelle sich nur vor, der Arbeitgeber wäre wegen fehlender Verbandsmitgliedschaft oder eines fehlenden Haustarifvertrages nie tarifgebunden gewesen! Würde sich in diesem Falle die wirtschaftliche Situation erheblich verschlechtern, so wäre er ebenfalls dazu gezwungen, mit individuellen Abänderungen zu reagieren. Warum sollte also die Tarifbindung bzw. die Nachwirkung ihn von dieser Gestaltungslast befreien? c) Abschluß von Betriebsvereinbarungen Des weiteren könnte der Nachwirkungszeitraum und somit auch der unzumutbare Zustand durch Abschluß von Betriebsvereinbarungen beendet werden. Da diese ebenfalls kollektiv wirken und somit betriebseinheitliche Regelungen ermöglichen, wäre ein solcher Abschluß erstrebenswerter als die individualrechtliche Lösung. Notwendig für die Überwindung der wirtschaftlichen Krise wäre allerdings auch hier die Zustimmung des die Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rdn. 232; Bauer/Diller, OB 1993, S. 1085 (1086). s.o. D. II. 2. b) cc) (3). 273 Die außerordentliche Änderungskündigung ist zwar nicht ausdrücklich gesetzlich normiert, als Rechtsinstitut jedoch allgemein anerkannt. Nach BAG AP Nr. 3 zu §55 BAT, Nr. 16 zu § 2 KSchG 1969 ist § 2 KSchG auf die außerordentliche Änderungskündigung entsprechend anzuwenden. 274 BAG AP Nr. 14 zu § 2 KschG; LAG Köln LAGE § 2 KSchG Nr. 10; Hromadka, NZA 1996, S. 1 (10); derselbe RdA 1992, S. 234 (265); R. Krause, DB 1995, S. 574 (577); H. Müller NZA 1985, S. 307 (310). 275 Schaub, ArR. Hb., § 137 S. 1227. 276 In diese Richtung Belling/Hartmannn, ZfA 1997, S. 87 (130). 271

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Arbeitnehmer vertretenden Betriebsrates, da die für die wirtschaftliche Gesundung entscheidenden Lohn- und Gehalts- sowie die Arbeitszeitregelungen nicht erzwingbar gern. § 87 I, II BetrVG sind. Nach der Rechtsprechung277 und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum278 soll mit der betrieblichen Lohngestaltung i. S. v. § 87 I Nr. 10 nicht unmittelbar die Ermittlung der Lohnhöhe im Einzelfall, sondern nur die Ausgestaltung der Entgeltformen gemeint sein. Zwar mehren sich die Stimmen, die den Begriff Lohngestaltung umfassend verstehen, also auch die Festlegung der Lohnhöhe der Mitbestimmung unterwerfen wollen?79 Auf diese Frage ist hier jedoch nicht weiter einzugehen. Im Falle der außerordentlichen Kündigung ist aufgrund der mittlerweile umstrittenen, aber eindeutigen gesetzlichen Lage der hier maßgebliche Abschluß von Lohn- bzw. Arbeitszeitregelungen durch eine Betriebsvereinbarung gern. § 77 III BetrVG ausgeschlossen. Die durch die außerordentliche Kündigung ausgelöste Nachwirkung ändert nämlich nichts an der die Sperrwirkung begründenden Tarifüblichkeit i.S. v. § 77 III BetrVG. Eine Unterschreitung des Tarifniveaus hinsichtlich Lohn- und Arbeitszeitbestimmungen durch Betriebsvereinbarungen ist auch nicht mittels des Günstigkeitsprinzips möglich280. Der Nachwirkungszeitraum nach außerordentlicher Kündigung wegen wirtschaftlicher Unmöglichkeit kann deshalb nicht durch eine Betriebsvereinbarung beendet werden. d) Abschluß eines neuen Verbands- bzw. Firmentarifvertrages Eine Neuregelung im Wege von Individualvereinbarungen bzw. Massenänderungskündigungen ist zwar eine denkbare Möglichkeit zur Beseitigung der wirtschaftlichen Notsituation und des Nachwirkungszustandes. Sie weisen jedoch im Verhältnis zu den in ihrer Regelungsmaterie komplexeren Tarifverträgen Defizite im Hinblick auf die Ordnung und die Befriedung des Arbeitslebens auf, da sie nicht alle regelungsbedürftigen Inhalte der Arbeitsverhältnisse abdecken. Hinzu kommt, daß sie als individuell rechtliche Gestaltungsmittel ohne normative Wirkung keine völlig betriebseinheitliche Regelungen garantieren281 , die zur Wahrung des Betriebsfriedens und 277 Vgl. statt vieler Beschluß des großen Senats vom 3.12.1991 DB 1992, S. 1579, BAG NZA 1996, S. 948 (949). 278 Hanau, BB 1977, S. 350 (353); Lieb, ZfA 1978, S. 171 (194); Jahnke, ZfA 1980, S. 863 (898); Säcker, BB 1979, S. 1201 (1203); Heinze, NZA 1986, S. 1 (7) Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, Rdn. 474; GK BetrVG - Wiese, § 87 Rdn. 700 ff.; Richardi, BetrVG, § 87 Rdn. 496. 279 Moll, Mitbestimmung des Betriebsrates beim Entgelt, S. 184 ff. ; Däubler/ Kittner/Klebe BetrVG, Rdn. 253m. w.N. 280 Ausführlich dazu Kapitel C. 281 Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 241.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog § 4 V TVG

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des reibungslosen Betriebsablaufes erforderlich sind. Am erstrebenswertesten ist deshalb der möglichst schnelle Abschluß eines neuen Tarifvertrages. Da jedoch ein neuer Verbandstarifvertrag auch diejenigen Betriebe erfassen würde, die nicht unzumutbar von dem gekündigten Tarifvertrag betroffen waren, würde der Abschluß eines solchen über das eigentliche Ziel der außerordentlichen Kündigung hinausschießen. Auf einen solchen, die gesamte Branche erfassenden Tarifvertrag wird sich die Gewerkschaft wohl kaum einlassen. Sachgerechter erscheint deshalb der Abschluß von Firmentarifverträgen mit den einzelnen betroffenen Unternehmen, die aufgrund des § 2 I TVG zu solchen Abschlüssen befähigt sind. Die Unternehmen müssen allerdings bei einer außerordentlichen Kündigung in ihrer Existenz akut bedroht sein, weshalb ein schnelles Handeln erforderlich ist. Die Gewerkschaften werden aber aller Erfahrung nach zum zügigen Abschluß der notwendigen, mit - im Vergleich zum bisherigen Verbandstarifvertrag - untertariflichen Bedingungen versehenen Firmentarifverträgen nicht bereit sein. Der Abschluß von Firmentarifverträgen ist also nur dann sinnvoll, wenn dem einzelnen Arbeitgeber auch ein Druckmittel zur Verfügung steht, die Gewerkschaft schnell an den Verhandlungstisch zwecks Abschlusses eines Firmentarifvertrages zu bringen. Ein solches Druckmittel kann die Angriffsaussperrung des notleidenden Arbeitgebers sein, der mittels der Aussperrung den Arbeitskampf zur Verfolgung eines tarifvertragliehen Regelungszieles beginnt. 282 Zwar kam es in Deutschland seit 1931 - damals erfolgte eine 12 %ige Lohnsenkung nach Angriffsaussperrung - nicht mehr zu einem solchen Vorgehen, durchaus vorstellbar ist eine derartige Reaktion der Arbeitgeber aber auch heutzutage. 283 Das BAG284 hat die Angriffsaussperrung als zulässiges Kampfmittel auch dem einzelnen Arbeitgeber zugeschrieben, indem es ausführt: "Im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips sind nicht nur Streiks der Arbeitnehmer, sondern auch als Kampfmaßnahme der Arbeitgeber Aussperrungen zulässig. Unsere Rechtsordnung geht davon aus, daß der Arbeitgeber derartige Maßnahmen - und zwar auch als den ersten Akt eines Arbeitskampfes - ergreifen kann. Denn andernfalls wäre nicht gewährleistet, daß es im Rahmen der Tarifautonomie durch Verhandlungen und notfalls durch die Ausübung von Druck und Gegendruck zum Abschluß von Tarifverträgen und damit zu einer kollektiven Regelung von Arbeitsbedingungen kommt. Könnte die eine Seite, nämlich die Arbeitnehmerschaft, vertreten durch die Gewerkschaft, allein das Kampfgeschehen bestimmen, und wäre der Arbeitgeber auf ein Dulden und Durchstehen des 282 So die Definition der Angriffsaussperrung bei Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rdn. 168 i. V. m. Rdn. 56; Scholz/Konzen a. a. 0 ., S. 49; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 39, S. 442. 283 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 1038 f. 284 BAG 23, 292 (308); Die Möglichkeit der Angriffsaussperrung des einzelnen Arbeitnehmers offengelassen, BAGE 33, 140 (152).

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Arbeitskampfes beschränkt, so bestünde die Gefahr, daß die Regelungen der Arbeitsbedingungen nicht mehr auf einem System freier Vereinbarungen beruhten, das Voraussetzung und innerer Grund des Tarifvertragssystems ist . . . Auch der einzelne Arbeitgeber hat dieses Aussperrungsrecht Art. 9 III GG besagt nichts Gegenteiliges. Er geht nach seinem Wortlaut gerade von der Koalitionsfreiheit des einzelnen aus. Das kollektive Element beim Arbeitskampf auf der Seite des einzelnen Arbeitgebers kommt darin zum Ausdruck, daß bei ihm gebündelt die zahlreichen Arbeitsverhältnisse der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer zusammenlaufen. Für den Bereich seines Unternehmens kann eine kollektive Regelung der Arbeitsbedingungen erfolgen."

In der Literatur wird der Aufassung des BAG überwiegend gefolgt. 285 Als Grund hierfür wird die Notwendigkeit einer effektiven Reaktionsmöglichkeit des Arbeitgebers in schweren Konjunkturkrisen genannt. 286 In Zeiten branchenspezifischer oder auch gesamtwirtschaftlicher Rezessionen müsse den Arbeitgebern ein Gestaltungsmittel zum Abbau tariflicher Leistungen zum Zwecke der Unternehmens- bzw. Arbeitsplatzerhaltung zukommen. Ohne die entsprechenden Kampfmittel sei der Arbeitgeber auf ein "kollektives Betteln beschränkt."287 Gegen die Zulässigkeit von Angriffsaussperrungen auf Arbeitgeberseite wird jedoch eingewendet, sie sei für die Senkung des Niveaus der Arbeitsbedingungen überhaupt nicht erforderlich, da sich die Unternehmer von sie überfordernden Arbeitsbedingungen im Wege von Massenänderungskündigungen lösen könnten. 288 Eine Angriffsaussperrung stehe außerdem im Widerspruch zu der historisch gewachsenen und aufgrund der Eigentums- und Wirtschaftsordnung bedingten Abwehrrolle des Arbeitgebers. Eine Angreiferrolle käme typischerweise nur den Arbeitnehmern zu, die in ihrem gewerkschaftlichen Zusammenschluß die durch das Eigentum an den Produktionsmitteln bedingte Übermacht des Arbeitgebers ausgleichen bzw. angreifen müßten. 289 Ein solches starres Bild der Rollenverteilung im Arbeitskampf entspricht jedoch nicht der Realität. Die Arbeitgeber schematisch auf ein defensives 28S Heckelmann, ZfA 1973, S. 425 (440); Rüthers, DB 1973, S. 1649 (1652); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 1039 f. Scholz/Konzen a. a. 0., S. 24; Brox/Rüthers a.a.O., Rdn. 187; Konzen, AcP 177 (1977), S. 473 (537); Zöllner/Loritz a.a.O.; Reuter in FS Böhm, S. 521 (541). 286 Rüthers a. a. 0.; Heckelmann a. a. 0.; Scholz/Konzen a. a. 0. 287 Brox/Rüthers a.a.O.; BAG EZA Nr. 36 zu Art. 9 GG m.w.N. 288 Däubler, JuS 1972, S. 642 (648); Evers, Arbeitskampffreiheit, Neutralität, Waffengleicheil und Aussperrung, S. 63 ff., 100. S 75; Seiter, Streik und Aussperrungsrecht, S. 334. 289 So Seiler a. a. 0., S. 290; Für eine historisch gewachsene Abwehrrolle des Arbeitgebers auch Scholz/Konzen a. a. 0., S. 239.

VI. Nachwirkung des Tarifvertrages analog§ 4 V TVG

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Verhalten zu beschränken, ist in der heutigen Zeit konjunktureller Schwankungen nicht angebracht. Man denke nur an die Asien- und Rußlandkrise und den Einbruch der Volkswirtschaften in Lateinamerika im Jahr 1989. Allzu schnell können diese Krisen sich auch erheblich auf die deutsche Wirtschaft auswirken. So beeinträchtigt die Rußlandkrise große Teile des auf Rußland zugeschnittenen ostdeutschen Exportes, auch wenn der ganz große Einbruch bisher noch ausgeblieben ist. Daß im Zeitalter der Globalisierung die nationale wirtschaftliche Entwicklung sich nie gänzlich dem Einfluß der ökonomischen Lage anderer Länder entziehen kann, hat der weltweite Einbruch der Finanzmärkte in Jahr 1999 gezeigt. Kurzum: Es kann durchaus sein, daß die Tarifabschlüsse aufgrund eines nicht vorherzusehenden wirtschaftlichen Tiefganges auf dem bisherigen Niveau für die Arbeitgeber nicht mehr einzuhalten sind. In diesem Fall muß den Arbeitgebern ein effektives Druckmittel zur Verfügung stehen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, genauso wie die Gewerkschaften durch Streik berechtigte Lohnanpassungsforderungen in wirtschaftlich guten Zeiten durchzusetzen versuchen. Wenn die Arbeitgeber als Reaktion auf eine schwere Konjunkturkrise mit einer tariflichen Neuregelung das Tarifniveau senken wollen, dann sind sie es, denen eine Angreiferrolle auf das bisherige Niveau zukommt. Die Arbeitnehmerschaft, vertreten durch die Gewerkschaften, übt in diesem Fall die Rolle des Verteidigers aus, um den tariflichen status quo zu erhalten.290 Die Angreifer- bzw. Verteidigerrolle kann also nicht von vomherein einer der beiden Tarifvertragsparteien zugeschrieben werden. Richtig ist, daß die Arbeitgeber durch Massenänderungskündigungen auf eine negative wirtschaftliche Lage reagieren können. Dies wurde oben dargelegt. Ebenfalls wurde jedoch darauf hingewiesen, daß eine Massenänderungskündigung keine betriebseinheitliche Regelung aller für die betrieblichen Arbeitsverhältnisse relevanten Materien liefern kann. So kann das betriebliche Erfordernis (akute Gefahr der Betriebsstillegung bzw. des Arbeitsplatzabbaues) zur Entgeltsenkung im Hinblick auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen nicht geltend gemacht werden, da solche Vorschriften wohl kaum verantwortlich für die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz eines Unternehmens sind. Die einheitliche Anwendung solcher Regelungen ist aber für den Betriebsfrieden unerläßlich. Des weiteren kommt die Arbeitgeberseite im Falle eines Verbands- bzw. Firmentarifvertrages in den Genuß der Friedenspflicht, auf die könnte sie sich bei Massenänderungskündigungen nicht berufen. Dies deshalb, weil die Friedenspflicht auf dem schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages beruht, der nicht gern. § 4 V TVG nachwirkt. 291 Zur Neubegründung der Friedens290 29I

Scholz/Konzen a. a. 0., S. 240. Siehe nur Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 305.

208

D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

pflicht ist somit ein neuer Tarifvertrag erforderlich. Auch wenn die Arbeitsgerichte die Massenänderungskündigung für sozial gerechtfertigt halten, sind die Arbeitgeber mangels einer Friedenspflicht nicht vor höheren Tarifforderungen der Gewerkschaften und damit verbundenen Streiks bewahrt. 292 Diejenigen, die die Angriffsaussperrung des Arbeitgebers mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer Massenänderungskündigung ablehnen, verkennen die Gefahr, daß der Tarifvertrag mit seiner u. a. aus der Friedenspflicht hervorgehenden Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion für die Gesellschaft von größter Bedeutung ist und deshalb als vorzugswürdig gegenüber kollektiven Maßnahmen des Individualrechts erscheint. Die kollektive Regelung von Arbeitsbedingungen, insbesondere von Löhnen und Gehältern, ist außerdem seit jeher das klassische Betätigungsfeld der Koalitionen, weshalb es ohnehin bedenklich erscheint, eine massenhafte Regelung solcher Fragen den Gerichten im Rahmen der Überprüfung der sozialen Rechtfertigung der Änderungskündigungen zu übertragen. Hinzu kommt, daß im Falle eines Finnentarifvertrages die Beteiligten aufgrund ihrer Sachnähe die wirtschaftliche Situation besser einschätzen können als der Arbeitssrichter, der mit der Festlegung eines vertretbaren Lohnes vielleicht überfordert sein könnte. 293 Grundsätzlich sollte es bei einer tarifautonomen Lösung von Arbeitsbedingungen für eine große Masse von Arbeitsverhältnissen auch zukünftig bleiben. Daß dies auch im Falle der Senkung von tariflichen Leistungen aufgrund negativer Entwicklung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen möglich ist, haben die Einigung der Tarifparteien nach der außerordentlichen Kündigung der ostdeutschen Tarifverträge und der Vergleich der Parteien im "Fall Viessmann" gezeigt. Eine Angriffsaussperrung des Arbeitgebers ist somit auch nicht mangels Erforderlichkeil abzulehnen. Da dem einzelnen Arbeitgeber somit ein effektives Mittel zur Erwirkung eines Finnentarifvertrages zusteht, kann der Nachwirkungzeitraum nach der außerordentlichen Kündigung auch durch den raschen Neuabschluß eines Finnentarifvertrages beendet werden. Der Arbeitgeber verfügt somit über mehrere Mittel zur Beseitigung des unzumutbaren Zustandes, so daß eine analoge Anwendung des § 4 V TVG den betroffenen Arbeitgeber nicht unzulässig in seinem zwingenden Recht zur Kündigung eines unzumutbaren Dauerschuldverhältnisses beschneidet. Im Ergebnis ist daher § 4 V TVG analog auch für den Fall der außerordentlichen Kündigung eines Tarifvertrages anzuwenden.

292 293

Reuter a. a. 0.; Scholz/Konzen a. a. 0. Ebenso Dahlbender, Austritt des Arbeitgebers aus seinem Verband, S. 135.

VII. Überprüfbarkeil der behaupteten Existenzgefährdungen

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VII. Überprüfbarkeit der behaupteten Existenzgerährdungen/wirtschaftliche Notlage des Unternehmens - ein justitiahier Rechtsbegriff? Viel wurde von der wirtschaftlichen Krise eines Unternehmens gesprochen, die durch den Tarifvertrag in unzumutbarer Weise verstärkt oder sogar hervorgerufen wird. Wie bei der einzelvertraglichen Tarifabweichung mittels des Günstigkeitsprinzips stellt sich auch hier die Frage, ob das außerordentliche Kündigungsrecht nicht auf Arbeitgeberseite dazu mißbraucht werden könnte, unangenehme Lohnvereinbarungen zu umgehen, obwohl deren Einhaltung betriebswirtschaftlich möglich wäre. Dies kann nur dann ausgeschlossen werden, wenn die behauptete Insolvenzgefahr und deren Kausalität zu den tariflichen Bedingungen einer Überprüfung überhaupt zugänglich ist. Die maßgebliche Frage ist hierbei, wie der "wirtschaftliche Notfall" und sein Zusammenhang mit den Tarifvereinbarungen anband objektiv nachprüfbarer Kriterien festgestellt werden kann. Ein System der zu berücksichtigenden wirtschaftlichen Faktoren ist bisher noch nicht entwickelt worden. Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur sind kaum Ansätze für einen systematischen Aufbau hinsichtlich der Beurteilung der "wirtschaftlichen Unzumutbarkeit" eines Tarifvertrages vorhanden. In seiner jüngsten Äußerung hat das BAG in diesem Zusammenhang lediglich festgestellt, daß bei einer fristlosen Kündigung wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit bereits bei Ausspruch der Kündigung anband einer auf greifbaren Tatsachen beruhenden Prognose die künftige Unzumutbarkeit festzumachen sein muß. 294 Überrachend war die in demselben Urteil getroffene Äußerung, ein wichtiger Grund liege vor, "wenn die jeweilige wirtschaftliche Belastung, um deren Beseitigung oder Milderung es dem Kündigenden geht, aufgrund nicht vorhersehbarer Umstände wenigstens tendentiell auf seiner Seite zu wirtschaftlicher Existenzgefahrdung führt". 295 Eine bloße Tendenz zur Unternehmensgefährdung ist jedoch aufgeund der bei außerordentlicher Kündigungen von Tarifverträgen anzulegenden strengen Maßstäbe nicht ausreichend. Wie oben aufgezeigt wurde, ist wegen der überragenden Bedeutung der tariflichen Vereinbarungen nur im Ausnahmefall der akuten Unternehmens- und der damit verbundenen Arbeitsplatzgefährdung eine außerordentliche Kündigung wegen wirtschaftlicher Veränderung möglich. Diese muß anband von objektiven Kriterien feststellbar sein. 294

295

BAG NZA 1998, S. 1008 (1009). BAG a. a. 0., S. 1010.

14 Freihube

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Nach Heßhaus sollen Indizien für die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation im Hinblick auf die Unzumutbarkeit des Tarifvertrages die Bereitschaft der Banken zur Kreditvergabe und die Bereitschaft des Eigners zur Vomahme weiterer Investitionen sein. Des weiteren sollen Produktivität und die Bilanz des Unternehmens als Hilfe zur Feststellung der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit der Tarifbedingungen herangezogen werden.Z96 Bei der Frage nach der Feststellung der tatsächlichen Unzumutbarkeit der weiteren Tarifbindung könnte man die Vorschläge, die im Rahmen der Diskussion um gesetzliche bzw. tarifliche Öffnungsklauseln gemacht wurden, heranziehen. In diesen Anpassungsklauseln, die zwar gesetzlich nicht umgesetzt worden sind, jedoch von den Tarifpartnern in der Vergangenheit immer wieder in ihre Verträge aufgenommen wurden297 , sollte eine Lösung von der Tarifbindung dann möglich sein, wenn mit ihr eine Existenzbedrohung von Unternehmen und Arbeitsplatzverlust einhergehen. Es liegt nun nahe, die Kriterien für die Härtefallbestimmungen i. S. dieser Anpassungsklauseln auf die außerordentliche Kündigung zu übertragen, da es auch hier um die Unzumutbarkeit der weiteren Tarifbindung wegen der Existenzbedrohung von Unternehmen und Arbeitsplätzen geht.

1. Anlehung an die Bewertungskriterien der Deregulierungskommission hinsichtlich des "Notfalles" i. S. d. gesetzlichen Öffnungsklauseln Im Zusammenhang mit den gesetzlichen Öffnungsklauseln will die sog. Deregulierungskomrnision die materiell-rechtliche Definition des "Notfalls" zunächst an § 7 I BetrAVG und § 112 BetrVG anlehnen. Da § 7 I S. 3 Nr. 5 BetrAVG den Begriff der wirtschaftlichen Notlage enthalte, könnten die Gerichte auch mit dem Begriff der wirtschaftlichen Notlage umgehen.Z98 Entsprechend diesem Hinweis der Deregulierungskommission könnte man also die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zu § 7 I S.3 Nr.5 BetrAVG a. F. 299 zur Bestimmung der wirtschaftlichen Unternehmenskrise heranzieHeBhaus a.a.O., S. 141. So z. B. die Härtefallklauseln der ostdeutschen Textilindustrie 1992, der ostdeutschen Druckindustrie 1992, der Tarifvertrag des Groß- und Außenhandels Nordrhein-Westfalen 1992, der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 1993, der ostdeutschen Eisen- und Stahlindustrie 1993; vgl. dazu im einzelnen Lohs, Anpassungsklauseln in Tarifverträgen, S. 14 ff. 298 Vgl. Deregulierungskommission in Marktöffnung und Wettbewerb 1991, s. 150. 299 Der Sicherungsfall der wirtschaftlichen Notlage wurde in der seit I. 1.1999 in Kraft getretenen Neufassung des § 7 BetrAVG gestrichen. Zum Wortlaut der neuen Fassung Höfer, BetrAVG, § 7 Rdn. 2699 ff. 296 297

VII. Überprüfbarkeil der behaupteten Existenzgefährdungen

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hen. Nach dieser hat der Arbeitgeber im Falle der Leistungsverweigerung wegen wirtschaftlicher Notlage i.S.d. § 7 I S. 3 Nr. 5 BetrAVG mit den Mitteln der modernen Betriebswirtschaft nachzuweisen, daß eine wirtschaftliche Notlage vorliegt. Zu einem solchen Nachweis gehöre, daß eine von einem unparteiischen Sachverständigen erstellte Betriebsanalyse die wirtschaftliche Notlage des Betriebes und deren Ursachen im einzelnen darlegt.300 Nachgewiesen werden muß, daß die bedrohende finanzielle Belastung und die damit einhergehende Existenzbedrohung ihre Ursache auch in der Altersversorgung findet. 301 Abzustellen sei allein auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens. Eine konzerndimensionale Betrachtung der wirtschaftlichen Notlage komme nur dann in Betracht, wenn der Konzern die Geschäfte der Tochtergesellschaft dauernd und umfassend geführt habe?02 Einer betriebswirtschaftlich-wissenschaftlichen Begutachtung der Existenzgefahrdung des Unternehmens bedürfe es aber dann ausnahmsweise nicht, wenn das unstreitige Zahlenwerk durch Bilanzen belegt ist und dem Gericht den Schluß auf das Vorliegen dieser Unternehmensgefahrdung geradezu aufdrängt. 303 Der Widerruf der Versorgungsleistungen soll des weiteren nur dann zulässig sein, wenn eine begründete Aussicht zur Rettung oder Sanierung des Unternehmens bestehe und auch nur soweit, wie es zur Rettung des Unternehmes unerläßlich ist. Erscheine eine Rettung des Unternehmens auch bei gemeinsamen Anstrengungen aller am Unternehmen beteiligten Gruppen nicht möglich, sei der Widerruf der Vesrorgungsleistungen unzulässig.304 Diese Grundsätze ließen sich freilich auch für die Beurteilung der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit der weiteren Tarifbindung im Rahmen der außerordentlichen Kündigung des Tarifvertrages heranziehen. Danach hätte der kündigende Arbeitgeberverband die Unzumutbarkeit der Tarifbindung in der Regel der Lohnvereinbarungen - durch die Betriebsanalyse eines unabhängigen Sachverständigen nachzuweisen. Dieser könnte z. B. eine unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sein, die aufgrund einer umfassenden Auswertung der Bilanzdaten eine Bewertung zu treffen hat, inwieweit die weitere Vergütung nach dem Tarifvertrag für das Unternehmen zum wirtschaftlichen Ruin führt. In dem Gutachten wäre weiter entsprechend den oben genannten Richtlinien zu belegen, daß eine Loslösung 300 Ständige Rechtsprechung des BAG, grundlegend BAG AP Nr. 154 zu § 242 BGB Ruhegehalt= BAG BB 1972, S. 317 = BAG DB 1972, S. 491, bestätigt durch BAG DB 1993, S. 1993 (1928). 301 BAG DB 1993 a. a. 0. 302 BAG a. a. 0. 303 LAG Frankfurt a.M. BB 1979, S. 273. 304 BAG AP. Nr. 154 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 14*

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

vom Tarifvertrag überhaupt das Unternehmen vor dem wirtschaftlichen "Aus" bewahren kann. Wenn eine Insolvenz des Unternehmens ohnehin nicht mehr abwendbar ist, so wäre die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt. Wenig hilfreich ist dagegen der Hinweis der Deregulierungskommission auf § 112 BetrVG. Das Anstehen einer Einschränkung oder Stillegung eines ganzen Betriebes oder wesentlicher Betriebsteile, welches die Kommission als Indiz für den wirtschaftlichen Notfall eines Betriebes nehmen wile05 , muß gerade nicht zwangsläufig immer mit einer schlechten wirtschaftlichen Situation des Unternehmens verbunden sein. Eine Betriebsänderung i.S.d. §§ 111, 112 BetrVG kann auch mit der Verlagerung der Unternehmensschwerpunkte bzw. mit der Erschließung neuer Marktsegmente zusammenhängen. Solche strategischen Unternehmensentscheidungen müssen nicht immer auf eine wirtschafttliche Krise des Unternehmens zurückzuführen sein. Vor allem aber ist die Grenze der Zumutbarkeit überschritten, wenn man die Lösungsmöglichkeit vom Tarifvertrag von der Stillegung von Betrieben oder Betriebsteilen abhängig machen will. Die Trennlinie zwischen der für die a. o. Kündigung erforderlichen akuten Unternehmensgefährdung und dem zu vermeidenden Insolvenzfall ist hier nicht mehr deutlich genug. Salopp gesagt: dann wäre es sowieso zu spät.

2. Anlehnung an die Bewertungskriterien zu § 112·V Nr. 3 BetrVG Es bietet sich jedoch an, § 112 V Nr. 3 BetrVG als weiteren Maßstab heranzuziehen. Nach dieser Vorschrift hat die Einigungsstelle bei der Bemessung der Sozialplanleistungen zu beachten, daß der Fortbestand des Unternehmens und die nach der Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze nicht gefährdet werden. In den zu § 112 V Nr. 3 BetrVG getroffenen Äußerungen in Rechtsprechung und Literatur findet sich jedoch auch hier nur ein pauschaler Hinweis auf die Notwendigkeit der Prüfung des wirtschaftlichen Zustandes des Unternehmens anband konkreter Wirtschaftsdaten.306 Etwas genauer werden Schaub/Schindele: Für sie bedarf es zur Bewertung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit der Sozialleistungen einer prognostischen Bewertung des Umsatzes und des zu erwartenden Gewinnes, wofür der Arbeitgeber die Bilanzen der letzten drei Jahre und UmsatzvorausbeDeregulierungskommission a. a. 0. Weber/Burmester, BB 1995, S. 2268 (2268) mit Hinweis auf BAG BB 1995, S. 407 u. BB 1995, S. 1591. 305

306

VII. Überprüfbarkeil der behaupteten Existenzgefährdungen

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rechnungen vorzulegen habe. Ferner müsse Sorge dafür getragen werden, daß Grund- bzw. Stammkapital und Rücklagen nicht unangemessen geschmälert würden. Für die wirtschaftliche Beurteilung des Unternehmens sei auf die Liquidität und die Kreditwürdigkeit desselben abzustellen, auch belastbare Grundstücke könnten von Bedeutung sein. Keinesfalls dürfe die Liquidität des Unternehmens soweit eingeschränkt werden, daß es nicht mehr über Mittel für Innovationen verfüge. 307 Für Hess/Schlochauer!Glaubitz darf das Sozialplanvolumen nicht so groß sein, daß das Unternehmen soviel an Eigenkapital verliert, daß die ordnungsgemäße kaufmännische Risikovorsorge nicht mehr gesichert ist. 308 Schließlich sollten cash flowBerechnungen in die Bewertung miteinbezogen werden. 309 Bei der Übertragung dieser Grundsätze auf die wirtschaftliche Unzumutbarkeit des Tarifvertrages wären dann die Berechnungen nicht mit dem Sozialplan, sondern mit den tariflichen Leistungen, insbesondere der Tariflöhne (um die wird es i. d. R. gehen), durchzuführen.

3. Anlehnung an die Bewertungskriterien zu§ 16 BetrAVG Wesentlich konkreter werden Rechtsprechung und Literatur bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Unternehmenssituation im Zusammenhang mit der Anpassungsprüfung bezgl. der betrieblichen Altersversorgung gern. § 16 BetrAVG. Hiernach ist bei der Anpassungsprüfung hinsichtlich der betrieblichen Altersversorgung die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Da auch die Leistungen des Tarifvertrages, vor allem der Tariflöhne, nach dessen Ablauf immer wieder eine Art Anpassung erfahren, um den Kaufkraftverlust auszugleichen, bietet sich die Übertragung der im Hinblick auf§ 16 BetrAVG entwickelten Grundsätze an. Daß die wirtschaftliche Bewertung der zukünftigen Leistungsfähigkeit eines Betriebes als Prognoseentscheidung naturgemäß keine hundertprozentige Richtigkeitsgewähr bietet, unterstreicht das BAG, indem es feststellt: "Absolut eindeutig kann eine langfristige Prognose nicht sein. Für die Anpassungsprüfung muß daher eine durch Tatsachen gestützte Wahrscheinlichkeit genügen." 310 In keinem Fall dürfe die Anpassung soweit gehen, daß das versorgungspflichtige Unternehmen so geschwächt wird, daß es Schaub/Schindele, Kurzarbeit, Massenentlassungen und Sozialplan, S. 123 f. Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 112 Rdn. 162. 309 Schaub/ Schindele a. a. 0., S. 124. Der cash flow ist eine in der Bilanz- und Unternehmensanalyse verwendete Kennzahl zur Beurteilung der Bilanz und Ertragskraft eines Unternehmens. Er gibt den Zugang liquider Mittel aus dem Umsatzprozeß innerhalb eines bestimmten Zeitraums an (Definition nach Schaub/Schindele a.a.O. S. 124). 310 BAG DB 1985, S. 1642 (1643). 3° 7 308

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

ausgezehrt wird oder Arbeitplätze in Gefahr geraten. Die Kosten einer Anpassung müßten daher aus den Erträgen eines Unternehmens und dessen Wertzuwachs finanzierbar sein, d.h. der Gewinn des Unternehmens darf nicht übermäßig durch die Anpassung belastet werden.311 Basierend auf dieser grundlegenden Entscheidung hat das BAG seither in ständiger Rechtsprechung festgestellt, daß der Arbeitgeber die Anpassung der Betriebsrenten an die Kaufkraftentwicklung ganz oder teilweise wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit ablehnen kann, wenn es dem Unternehmen mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird, den Teuerungsausgleich aus dem Wertzuwachs des Unternehmens und dessen Erträgen in der Zeit nach dem Anpassungsstichtag aufzubringen? 12 Auf dieser Grundaussage basiert auch das von Höfer entwickelte Modell zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage, das sich gegenüber den sog. ABA Modellen313 durchgesetzt hat. Da die wirtschaftliche Bewertung von Unternehmen immer auch Kenntnisse der Rechnungslegung und der Bilanzanalyse voraussetzen, über die der Jurist auch heute i. d. R. noch nicht verfügt, soll das Höfersche Modell nur in seinen wesentlichen Aussagen wiedergegeben werden: Beruhend auf der Forderung des BAG314, daß die Eigenkapitalverzinsung durch die Anpassung nicht unangemessen beeinträchtigt werden dürfe, soll der Gewinn das wesentliche Kriterium zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage sein, denn der Gewinn verkörpere den Zins für das eingesetzte Eigenkapital. 315 Die angemessene Eigenkapitalverzinsung ist nach Höfer anband des Verhältnisses von Gewinn vor Steuern zu Eigenkapital zu ermitteln, wobei vom gesamten Eigenkapital des Unternehmens, Stammkapital und offene Rücklagen eingeschlossen, auszugehen ist und Eigenkapital bzw. Gewinn nach handelsrechtliehen Grundsätzen zu ermitteln sind. Zwecks Ausschlusses der zu hohen Berücksichtigung eines außergewöhnlichen Jahresabschlusses ist die durchschnittliche Eigenkapitalrentabilität der letzten drei Jahre in der Prognoseentscheidung zugrunde zu legen. Schließlich ist zu prüfen, ob die auf dem beschriebenen Wege ermittelte Eigenkapitalverzinsung eine Verzinsung festverzinslicher Wertpapiere überschreitet.316 Ist dies nicht der Fall, so ist die Anpassung der Altersversorgung dem Unternehmen wirtschaftlich nicht zumutbar, da mangels RentabiHöfer, BetrAVG, § 16 Rdn. 3580. BAG DB a.a.O.; DB 1989, S. 1471; DB 1992, S. 2401. 313 Modell der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung (ABA Modell); dazu Heubeck/Löcherbach/Rößler, BB 1987 Beilage 3, S. 1 ff. 3 14 BAG a. a. 0 . 315 Höfer, BetrAVG, § 16 Rdn. 3548. 316 So auch BAG DB 1996, S. 2496 (2498). 3 11

3 12

VIII. Darlegungspflicht bezüglich Existenzgefährdung

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lität sich Investoren und Eigner vom Unternehmen abwenden würden, um in risikolosere festverzinsliche Wertpapiere zu investieren. Kommt man nach der vorstehenden Methode zu einem positiven Rentabilitätsergebnis, bedarf es zusätzlich noch einer Liquiditätsprüfung, da die Zahlungsfahigkeit unerläßlich für das weitere Überleben des Unternehmens ist. 317 Im übrigen kann auf die Grundsätze der betriebswirtschaftliehen Unternehmensbewertung zurückgegriffen werden. 318 Herauszustellen ist hier nochmals, daß bei Gewinnabführung auf die Lage des Konzerns abzustellen ist. Die geschilderte Bewertungsmethode läßt sich auf die Beurteilung der außerordentlichen Kündigung eines Tarifvertrages übertragen, um zu ermitteln, ob - nicht wie bei § 16 BetrVAG die betriebliche Altervorsorge - die tariflichen Leistungen den Unternehmen wirtschaftlich zugemutet werden können. Abschließend läßt sich sagen, daß es den Gerichten durchaus möglich ist, die Zumutbarkeit eines Tarifvertrages für die Arbeitgeber im Hinblick auf eine Unternehmens- und Arbeitsplatzgefahrdung anband objektiver Kriterien zu beurteilen. Die Kriterien für die Unzumutbarkeit des Tarifvertrages sind gerichtlich justitiabee 19, so daß das Recht zur fristlosen Kündigung des Tarifvertrages den Arbeitgebern nicht "Tür und Tor" öffnet, unliebsame Tarifabreden loszuwerden.

VIII. Darlegungspflicht bezüglich Existenzgefährdung und Unternehmensautonomie Wie bei jeder fristlosen Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses obliegt es der Arbeitgeberseite darzulegen, inwieweit wichtige Gründe, d.h. die Unternehmens- und Arbeitsplatzgefahrdung vorliegen. Eine lediglich pauschale Geltendmachung der Unzumutbarkeit reicht nicht aus, vielmehr ist eine substantiierte Darlegung der die Unzumutbarkeit begründenden Umstände erforderlich. 320 Da dies jedoch die Preisgabe hochsensibler Geschäftsinterna, insbesondere der Bilanzen sowie der Gewinn- und Verlustrechnungen bedeutet321 (s.o.), stellt sich die Frage, inwieweit dies den Unternehmen im Hinblick auf ihre grundrechtlich geschützte Unternehmerfreiheit zugemutet werden kann. Zur Methode Höfers im einzelnen vgl. Höfer a. a. 0., Rdn. 3579 ff. Dazu Ludewig/Kube, DB 1998, S. 1725 (1726). 319 So auch Löwisch, NJW 1997, S. 905 (909). 320 BAG DB 1992, S. 2641 (2643). 321 Zur Offenlegung der Bilanzen und der Gewinn- und Verlustrechnungen wären also alle Gesellschaften verpflichtet, obwohl dies nach den §§ 264 ff. HOB nur von den Kapitalgesellschaften verlangt wird. 317

3 18

216

D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Wenn sich die Arbeitgeberseite zu der außergewöhnlichen Maßnahme entschließt, einen Tarifvertrag, der ja keine "Schönwettervereinbarung" ist, außerordentlich zu kündigen, so haben die Gewerkschaften natürlich ein berechtigtes Interesse daran, sich genaustens zeigen zu lassen, inwieweit eine Existenzbedrohung tatsächlich vorliegt, um sich nicht von den Arbeitgebern "an der Nase herumführen zu lassen". Die Möglichkeit, durch bloße Behauptung der Unzumutbarkeit die Tarifbindung zu überwinden, wäre tatsächlich ein nicht hinzunehmender Angriff auf die Tarifautonomie. Gleichzeitig berechtigt dieses aus der Tarifautonomie abgeleitete Interesse der Gewerkschaften aber nicht zur Kontrolle unternehmerischer Entscheidungen322. Oben wurde bereits dargelegt, daß die Art. 12, 14 GG eine gewisse Unternehmensautonomie323 gewähren, d.h. den Unternehmenseignern werden bestimmte Entscheidungsfreiheiten, die frei von jeglichem Einfluß durch die Arbeitnehmervereinigungen bleiben müssen, garantiert, so daß ihnen genügend Spielraum zur Entfaltung ihrer Unternehmensinitiative verbleibt.324 Bei der arbeitsgerichtliehen Bewertung der Unternehmenssituation ist diesem von den Gewerkschaften zu berücksichtigenden Unternehmerischen Entscheidungsfreiraum Rechnung zu tragen. Die Gewerkschaft als Kündigungsadressat kann also nicht geltend machen, daß die schlechte Gewinnbzw. Ertragslage auf eine fehlerhafte Einkaufs-, Absatz- oder marktstrategische Unternehmenspolitik zurückzuführen sei. Auch kann der Kündigungsadressat eine durchzuführende Liquiditätsbeurteilung nicht deshalb anfechten, weil er die Bewertung des Betriebsvermögens anders einschätzt, weil seiner Meinung nach das Unternehmen über nicht betriebsnotwendiges und deshalb veräußerliches Betriebsvermögen wie z. B. Betriebsgrundstücke, Tochtergesellschaften usw. verfügt. Aufgrund der Unternehmerischen Entscheidungsfreiheit müssen solche wesentlichen strategischen Entscheidungen dem Unternehmensmanagement vorbehalten bleiben. Andererseits kann die Arbeitgeberseite die Offenlegung der zur Bewertung notwendigen Unterlagen nicht mit dem Argument verweigern, sie werde durch diese Preisgabe von Betriebsgeheimnissen in ihrer Unternehmensautonomie verletzt. Zwar handelt es sich bei der notwendigen Vorlage von internen Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen teilweise um Betriebsgeheimnisse, die nur einem eng begrenzten Personenkreis zugänglich sind. 325• Trotzdem ist die Vorlage dieser "sensiblen" Daten notwendig, schließlich geraten die Arbeitgeber bei der nur als ultima-ratio in Betracht Sontowski, Löhne in der Untemehmenskrise, S. 79 ff. Zur verfassungsrechtlich gewährleisteten Unternehmensautonomie ausführlich Beuthien, ZfA 1988, S. 1 ff.; Wiedemann, RdA 1986, S. 231 ff.; Sontowski a.a.O. 324 BVerfGE 50, 290 (350). 325 Zum Begriff des Betriebsgeheimnisses vgl. BAG DB 1982, S. 2247. 322 323

IX. Gerichtliche Unzumutbarkeitsprüfung und Tarifautonomie

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kommenden außerordentlichen Kündigung in erheblichen Rechtfertigungszwang. Außerdem stehen ausreichend rechtliche Mittel zur Verfügung, die Weitergabe vertraulicher Angaben auf die unmittelbar am Prozeß beteiligten Personen zu beschränken. So kann das Arbeitsgericht gern. den §§ 52 ArbGG, 172 GVG die Öffentlichkeit bei der Erörterung von Geschäftsgeheimnissen wie z. B. Kalkulationen, Kundenlisten, Bilanzen ausschließen, soweit die öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen eines Beteiligten verletzen würde. 326 Ferner stehen die Gewerkschaften als potentielle Prozeßgegner nicht mit dem Arbeitgeber im Wettbewerb hinsichtlich seiner Produkte. Die Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen an Wettbewerber durch die am Verfahren Beteiligten kann dadurch ausgeschlossen werden, daß das Gericht den der Sitzung beiwohnenden Personen ein Schweigegebot gern. § 174 III GVG auferlegt, dessen Verletzung gern. § 352 d Nr. 2 StGB strafbar wäre. 327

IX. Gerichtliche Unzumutbarkeitsprüfung und Tarifautonomie Ist die wirtschaftliche Notlage ein justitiahier Begriff, so drängt sich die Frage auf, ob es mit der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie vereinbar ist, wenn der Richter das Vorliegen des "akuten Notfalles" als Unzumutbarkeitstatbestand zu beurteilen hat. Vielfach ist man der Auffassung, daß das Unzumutbarkeitsprinzip ein untaugliches Mittel für die Bewertung von Tarifverträgen sei328 • Die inhaltliche Überprüfung des Tarifvertrages, insbesondere seiner Lohnregelungen, auf seine Unzumutbarkeit durch staatliche Gerichte sei als eine von dem BVerfG und BAG in ständiger Rechtsprechung abgelehnte "Tarifzensur" anzusehen? 29 Stimmten die Parteien den Tarifbedingungen zu, so hätten die Gerichte von der Zumutbarkeit der Bedingungen auszugehen? 30 Um diese Behauptung zu beurteilen, empfiehlt es sich, sich noch einmal vor Augen zu halten, was durch Art. 9 III GG als sog. Tarifautonomie gewährleistet wird. Dies ist in erster Linie die Betätigungsfreiheit der BAG DB 1985, S. 1642 (1645). BAG a. a. 0. 328 Unterhinninghofen, AuR 1993, S. 101 (103); HeBhaus a.a.O., S. 138; Buchner, NZA 1993, S. 289 (294); auch Biedenkopf, Sinn und Grenzen der Vereinbarungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, Gutachten für den 46. deutschen Juristentag, S. 97 ff. (124), will auf die Anwendung des Unzumutbarkeitstatbestandes wegen dessen schwieriger Konkretisierbarkeit verzichten. 329 Unterhinninghofen a. a. 0. 330 HeBhaus a. a. 0. 326 327

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Koalitionen, d.h. das Recht der Tarifparteien, das Arbeitsleben im wesentlichen frei von staatlichem Einfluß autonom zu regeln. 331 Im Bereich der Regelung von Arbeitsbedingungen tritt der Staat zurück, er schränkt hier seine Omnikompetenz ein, weil die Koalitionen als Vertreter der unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber besser wissen, was den Interessen ihrer Mitglieder entspricht als der Gesetzgeber. 332 Aufgrund seines ,.Rückzuges" hat der Staat deshalb auch die Willens- und Vertragsbildung der Koalitionen zu respektieren. Eine solche Staatsfreiheit wäre nicht gegeben, wenn die Richter, die als Judikative dem Staat zuzurechnen sind, nach Abschluß von Tarifverträgen im nachhinein inhaltlich Einfluß auf diese nehmen könnten. Fraglich ist deshalb, ob die gerichtliche Feststellung der Unzumutbarkeit wegen Existenzgefährdung und die daraus resultierende Beendigung des betreffenden Tarifvertrages einen mit Art. 9 III GG unvereinbaren staatlichen Eingriff bedeutet. Zu beachten ist, daß der Staat im Falle der außerordentlichen Kündigung nicht in Eigeninitiative den Willen der Tarifpartner durch seinen Willen ersetzt, sondern es der Arbeitgeberverband war, der wegen unzumutbarer Betroffenheit die sofortige Beendigung herbeizuführen versuchte. Das Gericht überprüft nur, ob die Ausübung der durch § 626 BGB gesetzlich vorgesehenen Maßnahme des Arbeitgeberverbandes rechtens war. Im Rahmen dieser Überprüfung hat das Gericht insbesondere zu klären, inwieweit der Tarifvertrag mit den Grundrechten des Kündigenden vereinbar ist. 333 Dies stellt aber keine unzulässige inhaltliche Ausgestaltung des Tarifvertrages dar, sondern vielmehr die gebotene Überprüfung, ob der Tarifvertrag in unzulässiger Weise gegen Grundrechte als ,.äußerste Grenze der Tarifmacht"334 verstößt. Eine solche richterliche Überprüfung ist nicht zu beanstanden, da auch das Tarifwesen kein rechtsfreier Raum ist und deshalb den allgemeinen verfassungsrechtlichen Schranken unterliegt.335 Für die Zulässigkeit einer solchen richterlichen Unzumutbarkeitsbewertung sprechen auch die Ausführungen des Großen Senats336, wenn er feststellt: . . . Zu den Grenzen der Funktionsgarantie der Koalitionen gehört nach Ansicht des Großen Senats auch, daß eine Koalition nichts Unzumutbares verlangen darf. § 242 BGB verbietet es, sich einfach über die Belange des anderen hinwegzusetzen und die eigenen Interessen in einer für den anderen umzumutbaren Weise durchzusetzen ... 33 1 332

333 334 335 336

BVerfGE 8, 212 (224); 44, 322 (341). Kempen/Zachert, TVG, Grundl. Rdn. 81. S.o. D) 11. 2. b) cc), S. 180 ff. Belling/Hartmann, ZfA 1997, S. 87 (109). Löwisch, NJW 1997, S. 905 (906). BAG AP Nr. 13 zu Art. 9 GG.

X. Form der außerordentlichen Kündigung

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Wenn den Tarifvertragsparteien unstreitig das Recht zukommt, den Tarifvertrag fristlos zu kündigen, wenn ein weiteres Festhalten daran unzumutbar ist, so muß man konsequenterweise auch eine gerichtliche Überprüfung des Unzumutbarkeitstatbestandes zulassen, wie dies auch bei jeder anderen Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses der Fall ist. Die Grenze der zulässigen Überprüfung wäre erst dann überschritten, wenn die Gerichte neben der Bejahung der Unzumutbarkeit wegen Unternehmensgefahrdung und daraus resultierender Grundrechtsverletzung den Tarifparteien inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der zukünftigen Ausgestaltung des Tarifvertrages machen würden. Solange dies nicht der Fall ist, bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Tarifautonomie?37

X. Form der außerordentlichen Kündigung Die außerordentliche Kündigung der ostdeutschen Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie warf damals die Frage auf, ob bei der außerordentlichen Kündigung Formvorschriften zu beachten sind. Der IG Metall ging seinerzeit das Kündigungsschreiben der Arbeitgeberseite per Telefax am 31.03.1993 zu. Die Gewerkschaft berief sich damals darauf, daß durch die eingegangene Telekopie das Schriftformerfordernis des § 1 II TVG nicht gewahrt worden sei. Bei der Schriftform des Tarifvertrages nach § 1 II TVG handele es sich um eine bestimmte gesetzliche Form i. S.d. § 126 BGB. Die für das Prozeßrecht entwickelten Grundsätze, wie etwa die Zulassung telegrafischer oder fernschriftlicher Übermittlung, könnten für die materiell-rechtlichen Prinzipien in bezug auf die Schriftform nicht gelten. Hierzu ist zunächst festzustellen, daß das Schriftformerfordernis des § 1 II TVG sich lediglich auf den Tarifvertrag selbst, jedoch nicht auf seine Beendigung bezieht. Gegen die Schriftformerfordernis spricht auch, daß im gesamten kodifizierten Arbeitsrecht die Kündigung grundsätzlich nicht schriftlich zu erfolgen hat. 338 Dennoch wird vereinzelt gefordert, § 1 II TVG aufgrund seines Sinn und Zweckes über seinen Wortlaut hinaus auch für die Kündigung anzuwenden. 339 Der Zweck dieser Vorschrift ist jedoch nur in der Rechtssicherheit für die Tarifparteien und Normadressaten zu sehen, die nur dann gewährleistet ist, 337 Für eine gerichtliche Unzumutbarkeitsprüfung hinsichtlich nachträglich eintretender Umstände auch Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, s. 228. 338 GK- Wolf, Grunds. Rdn. 261. 339 Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rdn. 52; Münch ArbR Hb. Bd. II - Löwisch, § 249 Rdn. 44.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

wenn diese jederzeit klar feststellen können, welchen Inhalt der Vertrag hat. § 1 II TVG kommt somit eine Klarstellungsfunktion zu, mit der dem rechtsstaatliehen Gebot entsprochen wird, daß Gesetze immer veröffentlicht werden müssen, da andernfalls die Normadressaten ihr Verhalten nicht nach ihnen ausrichten können. 340 Die außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages hat die Beendigung des Vertrages zur Folge, trifft jedoch keine inhaltlichen Aussagen über den Tarifvertrag. Die Kündigung des Tarifvertrages ist als einseitiger Akt der Beendigung nicht so facettenreich und schwierig im Verständnis der Normunterworfenen, an sie sind deshalb nicht solche hohen Anforderungen zu stellen wie an die konkreten inhaltlichen Ausgestaltungen des Tarifvertrages, die dem Schriftformerfordernis des § 1 II TVG unterworfen sind. 341 Dies gilt zumindest für die Totalkündigung. Ist jedoch aufgrund der Art des Tarifvertrages oder des Willens des Kündigungsgegners eine Teil- bzw. Änderungskündigung erforderlich342, ist m. E. die Formfreiheit bedenklich. Auch hier wird aufgrund der Teilbeendigung der Tarifvertrag letzlieh inhaltlich verändert. Im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit und die Normenklarheit ist sicherzustellen, daß den Normbetroffenen der Umfang ihrer Gebundenheit zur Kenntnis gelangen kann. Es sollte deshalb in diesem Fall die Kündigung in jedem Fall derart erfolgen, daß der Wille zur (Teil)-Beendigung klar und deutlich nach außen tritt. Die Kündigung mittels einer Fernkopie ist m. E. hierfür ausreichend. 343

XI. Wegfall der Geschäftsgrundlage oder außerordentliche Kündigung?

Nach Auffassung einiger, namentlich Otto, Belling/Hartmann und Hefthaus, ist die Lösung von der Tarifbindung wegen wirtschaftlicher Veränderungen nicht ein Anwendungsfall der außerordentlichen Kündigung, sondern des Wegfallls der Geschäftsgrundlage. Das Rechtsinstitut des Fehlens bzw. des Wegfalls der Geschäftsgrundlage wurde von Lehre und Rechtsprechung entwickelt, um auf Veränderungen nach Vertragsschluß bzw. Fehlvorstellungen bei Vertragsschluß, welche die bestehenden Verpflichtungen eines Rechtsgeschäfts unangemessen erscheinen lassen, reagieren zu können. Nach dem BGH wird die Geschäftsgrundlage eines Vertrages gebildet: Löwisch/Rieble, TVG, § I Rdn. 374. HeBhaus a.a.O., S. 153. 342 s. o. D. V. I. u. 2. 343 Für ein generelles Schriftformerfordernis scheint Wiedemann, Anmerkung zu BAG AP Nr. 5 zu § 1 TVG Form, zu sein. 340 341

XI. Wegfall der Geschäftsgrundlage oder außerordentliche Kündigung?

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"durch die nicht zum Vertragsinhalt erhobenen, aber beim Vertragsschluß zutage getretenen, dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen des einen Vertragsteiles oder durch entsprechende gemeinsame Vorstellungen beider Vertragspartner, auf denen der Geschäftswille aufbaut."344

Diese so beschriebene Geschäftsgrundlage kann entweder bei Vertragsschluß bereits gefehlt haben oder nachträglich weggefallen sein,345 wobei das Fehlen und der Wegfall der Geschäftsgrundlage zu denselben Rechtsfolgen führen. 346 Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage sind nur dann beachtlich, wenn der unveränderte Fortbestand der vertraglichen Verpflichtungen zu einem unzumutbaren Ergebnis für eine Vertragspartei führt. 347 Das Vorliegen dieser Voraussetzungen "führt aber nur ausnahmsweise zur völligen Beseitigung des Vertragsverhältnisses, in aller Regel ist - aus Gründen der Vertragstreue und der Verkehrssicherheit der Vertrag nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten und lediglich in einer den berechtigten Interessen beider Partner Rechnung tragenden Form der veränderten Sachlage anzupassen. "348

Kurz: Anpassung vor Auflösung, wobei die Anpassung im Gegensatz zur Auflösung, die einen entsprechenden Gestaltungsakt (Kündigung, Rücktritt) voraussetzt, ipso iure eintritt. 349 Für Otto steht der Normencharakter des Tarifvertrages der Anwendung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage350 nicht entgegen. Zwar sei den Tarifgebundenen als Normadressaten die Geschäftsgrundlage nicht hinreichend bekannt, dies ist für sie aber unerheblich, da heute allgemein anerkannt sei, daß die Rechtsfolge des Wegfalls der Geschäftsgrundlage bei einem Normenvertrag nicht ex iure eintrete, sondern stets eines Gestaltungsmittels bedürfe, in diesem Fall der Kündigung. 351 Ferner stellt er wie Heßhaus auf die unterschiedlichen Tatbestände und Rechtsfolgen zwischen außerordentlicher Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage ab. Die Tatbestandsseite habe in der Vergangenheit durch die Kriterien der Voraussehbarkeit, der Verursachung und der Über344 BGHZ 128, 230 (236); BGH NJW 1985, S. 313 (314); BGH NJW 1987, S. 1629 (1630); ähnliche Formulierung bei BAG NJW 1992, 2173 (2175). 345 Vgl. nur Staudinger- Schmidt, § 242 Rdn. 947. 346 BGH NJW 1986, S. 1348 (1349). 347 BGHZ 40, 334 (337); 47, 48 (51); 128, 230 (238); Staudinger a.a.O, Rdn. 948. 348 BGHZ 47, 48 (51 f.); 89, 226 (238 f.); 128, 230 (239). 349 Palandt - Heinrichs, § 242 Rdn. 130 f.; Staudinger a. a. 0 ., Rdn. 951; BGH NJW 1987, S. 2674 (2676). 350 Im folgenden ist nur noch vom Wegfall der Geschäftsgrundlage die Rede. 351 Otto in Kissel FS, S. 787 (790).

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

nahme des Risikos eine erhebliche Konkretisierung erfahren, was Vorzüge in ihrer Anwendung gegenüber der außerordentlichen Kündigung bringe?52 Außerordentliches Kündigungsrecht und Wegfall der Geschäftsgrundlage seien zwei eigenständige Rechtsinstitute, das eine gelte nur für Dauerschuldverhältnisse, das andere hingegen auch für sonstige Rechtsverhältnisse. 353 Des weiteren sei die außerordentliche Kündigung in ihrer Anwendung nur für solche Unzumutbarkeiten konzipiert, die der Sphäre der Gegenpartei zuzurechnen seien; der Wegfall der Geschäftsgrundlage erfasse aber auch solche Ursachen, die auf neutraler Ebene beruhen, also keiner Vertragpartei zuzurechnen sind. Im Gegensatz zur außerordentlichen Kündigung berücksichtige die Geschäftsgrundlagenlehre auch Erwartungen und Vorstellungen der Parteien.354 Wesentlich für die Befürworter der Lösung vom Tarifvertrag über die clausula-Lehre ist jedoch der Unterschied in der Rechtsfolge. Während die außerordentliche Kündigung das Vertragsverhältnis beende, ziele die Geschäftsgrundlagenlehre vorrangig auf die Vertragsanpassung, was für Otto eine verhältnismäßigere Berücksichtigung beider Interessen bedeutet.355 Den Einwand der Bedenklichkeit einer Vertragsanpassung im Hinblick auf die Tarifautonomie will er nur für solche Fälle gelten lassen, bei denen aufgrund der Regelungsmaterie die Gefahr der richterlichen Überforderung bei der Anpassung besteht. Bei Störungen der Geschäftsgrundlage rein finanzieller Art sei dies nicht der Fall. 356 Überraschend ist, daß Otto, nachdem er sämtliche Vorzüge und Unterschiede des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gegenüber der außerordentlichen Kündigung aufgeführt hat, als Ergebnis festhält, daß beide Institute insoweit nebeneinander anwendbar seien, als der Wegfall der Geschäftsgrundlage ein spezieller Unterfall des wichtigen Grundes i. S. d. außerordentlichen Kündigung darstelle. 357 Dieser Meinung schließen sich Belling/Hartmann an. Auch für sie sind außerordentliche Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage zwei verschiedene Rechtsinstitute, die nur dann in Anwendungskonkurrenz zueinander geräten, wenn die Unzumutbarkeit auf einer Umstandsänderung beruhe. In diesem Fall erwachse das Lösungsrecht analog den §§ 626, 723 BGB; der Wegfall der Geschäftsgrundlage stelle den wichtigen Fall dar?58 352 353 354

355 356 357 358

Otto a. a. 0., S. 791. HeBhaus a. a. 0., S. 63. Heßhaus a. a. 0., S. 66. Otto a.a.O., S. 791, 794; Heßhaus a.a.O. Otto a.a.O., S. 793. Otto a.a.O., S. 795. Belling/Hartmann, ZfA 1997, S. 87 (124).

XI. Wegfall der Geschäftsgrundlage oder außerordentliche Kündigung?

223

Der Verfasser sieht jedoch keine selbständige Berechtigung der Geschäftsgrundlagenlehre neben der außerordentlichen Kündigung im Tarifvertragsrecht. Dies vor allem deshalb, weil dafür - auch für den Fall der wirtschaftlichen Veränderung - keine Notwendigkeit besteht. Es gibt sehr wohl eine Anwendungskonkurrenz zwischen außerordentlicher Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage359, zumindest im Tarifvertragsrecht Die außerordentliche Kündigung verdrängt dabei, wie im folgenden zu zeigen ist, als die speziellere Regelung die clausula-Lehre. Zunächst ist nicht ersichtlich, warum der wichtige Grund i. S. d. § 626 BGB in seiner Anwendung nur auf solche Fälle beschränkt sein soll, die aus dem Lebens- und Geschäftskreis einer 'Vertragspartei herrühren. Richtig ist, daß sich im Laufe der Zeit in Rechtsprechung und Literaur bestimmte Fallgruppen zur Konkretisierung der Unzumutbarkeit herausgebildet haben, deren Ursprung in dem Verhalten einer Vertragspartei liegt. 360 Wenig überzeugend ist es hingegen, generell zu behaupten, der wichtige Grund könne nicht auf neutraler Ebene liegen, sondern müsse stets dem Risikobereich einer Vertragpartei zuzurechnen sein. Eine solche inhaltliche Beschränkung des Kündigungsgrundes ist mit § 626 BGB als Generalklausel, die "ein Stück offengelassene Gesetzgebung"361 darstellt, nicht vereinbar. Durch das Fehlen eines begrifflichen Kerns soll § 626 BGB gerade eine inhaltliche Festlegung von vornherein venneiden; der Gesetzgeber hat dem Richter die Nonnfindung im Einzelfall überlassen?62 Dafür, daß Einflüsse auf das Vertragsverhältnis, die keinem der Vertragsparteien zurechenbar sind, nicht über das Recht der außerordentlichen Kündigung berücksichtigt werden können, bietet § 626 BGB keine hinreichenden Anhaltspunkte; eine solche These ist mit der "tatbestandlichen Offenheit"363 des wichtigen Grundes nicht zu vereinbaren. Dies wird allein dadurch deutlich, daß der Unternehmensbereich ein Teilbereich ise64, dem der die Unzumutbarkeit begründende Umstand entspringen kann. So z. B., wenn eine außerordentliche Kündigung aus betriebsbedingten Gründen erfolgt, weil aufgrund der Unternehmenssituation der Fortbestand des Arbeitsplatzes nicht mehr möglich 359 Anders HeBhaus a. a. 0., S. 30 u. 66, für die aufgrund der unterschiedlichen Rechtsfolgen kein Konkurrenzverhältnis zwischen außerordentlicher Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage besteht. 360 Zu den verhaltensbedingten Fallgruppen, die grds. für eine außerordentliche Kündigung geeignet sind, aber stets der Prüfung im Einzelfall bedürfen, vgl. nur Münch Arb. Hb. - Wank,§ 117 Rdn. 49. 36 1 Hedemann, Die Flucht in die Generalklausel, S. 58. 362 Erman- Hanau, § 626 Rdn. 25. 363 Oetker, JZ 1998 S. 206 (207), Anmerkung zu BAG JZ 1998, S. 203. 364 Schaub, ArbR. Hb., § 125 V 3 a), S. 1130; Münch ArbR. Hb. Bd. II - Wank, § 117 Rdn. 30.

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

ist. 365 In diesem Fall ist aber ebenfalls nicht unbedingt eine der Vertragsparteien für die Unzumutbarkeit verantwortlich. Auch die außerordentliche Änderungskündigung zwecks Lohnsenkung setzt mit der akuten Gefahr der Betriebsstillegung und des Arbeitsplatzabbaues einen Umstand voraus, der auf einer neutralen, verhaltensunabhängigen Ebene liegt. Weiterhin geht der Tatbestand der a. o. Kündigung in seinem Anwendungsbereich über den des Wegfalls der Geschäftsgrundlage hinaus, weil er nicht wie die Geschäftsgrundlagenlehre auf veränderte Umstände beschränkt ist, sie aber einschließen kann. A. o. Kündigungsgrund können Leistungsstörungen sowie sonstige Umstände sein, die nicht im Vertrag berücksichtigt waren, also nicht zur Geschäftsgrundlage gemacht wurden. 366 Wenn die Geschäftsgrundlage entfallen ist, sind deshalb zugleich auch immer die Voraussetzungen für die a.o. Kündigung erfüllt. Umgekehrt kann eine a. o. Kündigung aber nicht bereits deshalb versagt werden, weil die Voraussetzungen für den Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht vorliegen. 367 Tatbestandlieh ist die außerordentliche Kündigung also flexibel genug, um alle Einwirkungen auf das Vertragsverhältnis zu erfassen, wenn sie nur eine Unzumutbarkeit begründen. Ein Rückgriff auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage ist insoweit nicht notwendig. Aber nicht nur hinsichtlich der Tatbestandsseite, sondern auch bezgl. der Rechtsfolgenseite ist ein Rückgriff auf die clausula-Lehre nicht erforderlich, da im Tarifvertragsrecht die Rechtsfolgen beider Rechtsinstitute dekkungsgleich sind. Wenn Otto eine richterliche inhaltliche Anpassung des Tarifvertrages für unbedenklich erachtet, sofern diese nicht zu einer Überforderung des Richters führt, so ist dies in keinem Fall mit der Tarifautonomie zu vereinbaren. Unabhängig davon, daß es in der Praxis schwer zu beurteilen sein dürfte, wann eine richterliche Überforderung gegeben ist, würde die gerichtliche Anpassung eine Festsetzung von Tarifvertragsinhalten darstellen. Eine richterliche Anpassung tariflicher Regelungen an veränderte Umstände wird jedoch zu Recht von Rechtsprechung368 und Literatu269abgelehnt. Indem der Richter den Willen der Tarifvertragsparteien durch seinen in der Anpassung zum Ausdruck kommenden Willen ersetzt, ist die Grenze Wank a.a.O., Rdn. 99 ff. (104). Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, S. 419; Haarmann, Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Dauerschuldverhältnissen, S. 128; Köhler, clausula rebus sie stantibus, S. 250. 367 BGH WM 1980, S. 380 (381); BAG AP Nr. 7 zu§ 242 BGB Geschäftsgrundlage; Chiotellis, Rechtsfolgenbestimmung, S. 161 f.; Oetker a.a.O., S. 419. 368 BAG AP Nr. 5, 12 zu § 33 BAT, Nr. 5 zu§ 1 TVG Seeschiffahrt. 365

366

XI. Wegfall der Geschäftsgrundlage oder außerordentliche Kündigung?

225

des Zulässigen überschritten. In diesem Fall überprüft der Richter nicht mehr nur die Einhaltung der Grenzen, denen die Tarifvertragsparteien aufgrund der objektiven Rechtsordnung, insbesondere der Grundrechte, unterworfen sind, sondern er begründet einen inhaltlichen staatlichen Einfluß auf das Tarifwesen, was eindeutig gegen das Gebot der Staatsfreiheit nach Art. 9 III GG verstößt. Art. 9 III GG garantiert allein den Tarifvertragsparteien die staatsfreie Rechtssetzungsbefugnis hinsichtlich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Jede Form der staatlichen Tarifzensur und Zwangsschlichtung ist dadurch untersagt. Darauf würde es aber hinauslaufen, wenn die Arbeitsgerichte Tarifverträgen durch Anpassung an veränderte Umstände neue Inhalte geben könnten. 370 Das gerichtliche Anpassungsverbot führt auch nicht zu unzumutbaren Ergebnissen, da die betroffenen Personengruppen die Beendigung der Normenwirkung durch a. o. Kündigung des Tarifvertrages selbst herbeiführen können. Ein richterliches Eingreifen in die Tarifautonomie ist also nicht notwendig.371 Hinzu kommt, daß eine richterliche Anpassung unvereinbar mit dem Klarstellungsgebot des § 1 II TVG wäre. Dieser soll den Normunterworfenen die Inhaltskenntnis bezgl. der sie bindenden Normen ermöglichen, was nach einer richterlichen Anpassung derselben nicht mehr möglich wäre. 372 Denkbar ist zwar auch, daß beim Wegfall der Geschäftsgrundlage der Richter nur das Vorliegen der Voraussetzungen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage prüft, die eigentliche Anpassung jedoch durch die Parteien selbst erfolgt. Diese Form der Vertragsanpassung ist jedoch aufgrund des im Kündigungsrecht geltenden ultima-ratio-Prinzips auch vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung notwendig, bringt somit also keinen Vorteil gegenüber der Kündigung. Bei dieser wird durch das zusätzliche Gebot einer Änderungs- bzw. Teilkündigung vor Beginn der Verhandlungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausreichend Rechnung getragen, so daß der Einwand, die Nichtanwendung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage führe zu einer unflexiblen, unverhältnismäßigen Belastung eines Vertragspartners, nicht zutrifft. 369 Wank in FS Schaub, S. 761 (787); Schaub ArbR.Hb., § 199 IV 1 e) S. 1671; Buchner, NZA 1993, S. 289 (295); Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rdn. 366; Kempf, AiB 1993, S. 267 (268); Bauer/Diller, DB 1993, S. 1085 (1090). 37° Für eine gerichtliche Anpassung plädiert Adomeit in seinem Vortrag vom 14.10.1999 auf dem debis Kongreß in Berlin (abgedruckt in der bald erscheinenden 12. Auflage Hanau/ Adomeit am Ende des Kapitels C. 371 Wiedemann, Anmerkung zu BAG AP Nr. 1 zu § 1 TVG Arbeitsentgelt 372 Oetker, RdA 1995, 82 (97); gegen richterliche Anpassung auch Wank in FS Schaub, S. 761 (787). 15 Freihube

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D. Außerordentliche Kündigung des Tarifvertrages

Als Rechtsfolge würde bei der Anwendung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach dem Scheitern der Verhandlungen daher ebenfalls nur die Beendigung des Vertrages, und zwar in Form der Kündigung, in Betracht kommen. Wenn aber die Tatbestandsvoraussetzungen der a. o. Kündigung weiter gefaßt sind als die des Wegfalls der Geschäftsgrundlage und beide Rechtsinstitute im Tarifvertragsrecht zu derselben Rechtsfolge führen, besteht für die tatbestandlieh engere clausula-Lehre kein Bedürfnis. Sie ist gegenüber der a. o. Kündigung subsidiär. Dieses Verhältnis zwischen a. o. Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage nimmt die h. M. allgemein für die Auflösung von Dauerschuldverhältnissen an. 373 Dem ist schon deshalb zuzustimmen, weil die außerordentliche Kündigung im Gegensatz zur clausula-Lehre in § 626 BGB gesetzlich geregelt ist und ihr als gesetzesnäherer Regelung der Vorrang einzuräumen ist. 374 Festzuhalten ist somit, daß die außerordentliche Kündigung die Geschäftsgrundlagenlehre im Tarifvertragsrecht als speziellere gesetzliche Regelung verdrängt. Wegen der Kongruenz in Tatbestand und Rechtsfolge beider Rechtsinstitute ist ein Rückgriff auf die subsidiäre Geschäftsgrundlagenlehre nicht notwendig. Die Vertreter der Gegenmeinung scheinen dies selbst zu erkennen, wenn sie meinen, daß der Wegfall der Geschäftsgrundlage als wichtiger Grund in dem außerordentlichen Kündigungsrecht aufgehe, er ein spezieller Unterfall des wichtigen Grundes see75 • Diese Erkenntnis mag als "dogmatische Feinheit" interessant sein, ändert jedoch - wie Belling!Hartmann376 selbst feststellen - nichts an den Voraussetzungen der Kündigung.

373 Soergel - Wiedemann, vor § 323 Rdn. 66 Fn. 50 mit ausführlichem Literaturnachweis; Palandt-Heinrichs, § 242 Rdn. 120; BGH ZIP 1997, S. 257 (259); MünchKomm - Roth, § 242 Rdn. 584; BGH WM 1980, S. 380 (381); BGH LM Nr. 1 zu § 247. 374 So auch Wank a.a.O. 375 Otto a. a. 0. 376 Belling/Hartmann a. a. 0 .

E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen Zu untersuchen bleibt, welche Maßnahmen die Arbeitnehmer und ihr Verband gegen die außerordentliche Kündigung des Arbeitgeberverbandes treffen können.

I. Rechtsschutz Die Gewerkschaften haben zunächst einmal die Möglichkeit, als Kündigungsgegner die Wirksamkeit der Kündigung mit der Feststellungsklage gerichtlich überprüfen zu lassen. 1 Stellt das Gericht in diesem Verfahren den Bestand des Tarifvertrages fest, so wirkt diese Entscheidung gern. § 9 TVG nicht nur zwischen den Tarifparteien, sondern auch im Verhältnis des einzelnen Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber? Bei einem Haustarifvertrag kann die betreffende Gewerkschaft mit der Leistungsklage unmittelbar die Durchführung des Haustarifvertrages verlangen? Auch der einzelne Arbeitnehmer kann mit der Leistungsklage die volle tarifliche Bezahlung begehren. 4 Dies wird er sich allerdings gut überlegen, wenn das Unternehmen glaubhaft dargelegt hat, daß die volle tarifliche Entlohnung das Unternehmen und somit auch seinen Arbeitsplatz gefährdet.

II. Streik/kollektives Zurückbehaltungsrecht 1. Streik Nicht so eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob die außerordentliche Kündigung die Arbeitnehmer zur Durchführung eines Streiks berechtigt. Dies ist im Hinblick auf einen zulässigen Streitgegenstand und die Friedenspflicht bedenklich. 1 Rieble, EZA § 1 Fristlose Kündigung Nr. 2; Rüthers, NJW 1993, S. 1628 (1629); Walker, NZA 1993, S. 769 (770). 2

3 4

s.o. D. III. 3. Rieble a. a. 0. Rüthers a. a. 0.

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E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

a) Zulässiges Streikziel Bekanntlich ist ein Arbeitskampf dann nicht zulässig, wenn den Angreifenden Rechtsschutz zur Seite steht. Nach dem BAG "gehört es zu den fundamentalen Prinzipien eines Rechtsstaates, daß die Rechtsgenossen von der eigenmächtigen Durchsetzung wirklicher oder vermeintlicher Rechte Abstand nehmen, solange dies die Rechtsordnung nicht ausnahmsweise zuläßt". 5 Da das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren gern. § 2 I Nr.l ArbGG die Beilegung eines Streits über das Bestehen eines Tarifvertrages ermöglicht, eine Feststellungsklage über den Fortbestand eines Tarifvertrages wegen unwirksamer Kündigung erhoben werden kann6 , ist ein Streik unzulässig, wenn dadurch die tatsächliche Durchsetzung tarifvertraglicher Rechte bezweckt wird. 7 Auch die Rücknahme der Kündigung ist kein möglicher Streikgegenstand, da die einmal ausgesprochene Kündigung als einseitige Willenserklärung im Zeitpunkt des Wirksamwerdens die Rechtsgestaltung unmittelbar herbeiführt, sie also nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann. 8 Zur Erlangung der erneuten Geltung des Tarifvertrages bedarf es deshalb eines Neuabschlusses, vorausgesetzt die Kündigung war wirksam. 9 Zulässiges Streikziel kann hier also nur der Abschluß eines neuen (Folge-) Tarifvertrages sein. Die Gewerkschaft setzt sich mit einem solchen Begehren jedoch dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens aus, sofern sie die Unwirksamkeit der Kündigung und somit die Weitergeltung des alten Tarifvertrages mit der Feststellungsklage geltend macht. Damit unvereinbar scheint die gleichzeitige Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen mit dem Ziel des Neuabschlusses zu sein. Indes muß der Gewerkschaft zugestanden werden, daß sie trotz der mit der Feststellungsklage behaupteten Weitergeltung des Tarifvertrages hilfsweise einen Arbeitskampf zwecks Neuabschlusses führt. Mit der Beschränkung allein auf den Rechtsweg, der u. U. Jahre in Anspruch nimmt, müßten sich die Gewerkschaften für sehr lange Zeit mit einem tariflosen Zustand abfinden. Weiterhin ist die Feststellungsklage nicht vorläufig vollstreckbar. Die daneben in Betracht kommende einstweilige Verfügung, mit der der Verband gerichtlich zur Einwirkung auf die BAG AP Nr. 58 zu Art. 9 GG. BAG AP Nr. 21 zu § 1 TVG. 7 Hueck/Nipperdey Bd. li 2. Hb., S. 1026 f.; Nikisch Bd. li, S. 123; Koch, NJ 1993, S. 407 (408); Löwisch/Rieble in Löwisch, Schlichtungs- und Arbeitskampfrecht, Rdn. 56; Münch ArbR. Hb. Bd. III - Otto, § 276 Rdn. 19 u. § 278 Rdn. 25 ff., derselbe in Kissel FS, S. 787 (708); Brox/Rüthers a.a.O., Rdn. 140. 8 Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsrecht, Rdn. 121 m.w.N. 9 Rieble a. a. 0. 5

6

II. Streik/kollektives Zurückbehaltungsrecht

229

Mitglieder verpflichtet werden kann, ist ebenfalls wenig ergiebig. Die Einwirkung des Verbandes, die ohnehin in der Praxis kein sinnvolles Mittel zur Beachtung von Tarifverträgen ist 10, wird im Fall existentieller Bedrohung auf wenig Zustimmung stoßen. Ein Unternehmen, welches sich durch den Tarifvertrag in seiner Existenz gefährdet sieht, wird der Durchführungsaufforderung des Verbandes wohl kaum nachkommen. Wenn die Arbeitgeberseite sich schon außerordentlich vom Tarifvertrag löst und somit einen tariflosen Zustand herbeiführt, so darf es den Gewerkschaften nicht verwehrt bleiben, mittels des Arbeitskampfes möglichst schnell einen Tarifvertrag neu abzuschließen. Die auf die Unwirksamkeit der Kündigung gerichtete Feststellungsklage ist nicht dazu geeignet, den (vorläufigen) tariflosen, durch erhebliche Rechtsunsicherheit geprägten Zustand zu beseitigen. Auch nach Klageerhebung kann die Gewerkschaft den Streik einleiten, ohne sich dem Vorwurf der Verfolgung einer unzulässigen Doppelstrategie auszusetzen. 11 b) Verletzung der Friedenspflicht

Aus den genannten Gründen bestehen rechtliche Bedenken auch im Hinblick auf die Verletzung der Friedenspflicht. Auch hier scheint sich die Gewerkschaft in Widerspruch zu setzen, wenn sie den Fortbestand des Tarifvertrages geltend macht, mit der Einleitung der Kampfmaßnahmen jedoch die, im Falle der Unwirksamkeit der Kündigung, ebenfalls fortbestehende Friedenspflicht mißachtet. Zu beachten ist jedoch Folgendes: Stellt sich später die Wirksamkeit der Kündigung heraus, so bestand zum damaligen Zeitpunkt der Kampfmaßnahmen keine Friedenspflicht, selbst wenn die Gewerkschaft von dem Fortbestand des Tarifvertrages ausging. Für die Verletzung der Friedenspflicht ist nämlich nicht die subjektive Vorstellung der Gewerkschaften, sondern allein die objektive Rechtslage, also die tatsächliche Geltung des Tarifvertrages, entscheidend.12 Stellt das Gericht die Unwirksamkeit der Kündigung fest, dann hat die Arbeitgeberseite ihrerseits durch den Ausspruch der Kündigung eine Vertragspflichtverletzung begangen. Otto will die Kündigung im Zusammenhang mit gleichzeitig abgegebenen, konkreten Angeboten der Arbeitgeber zu neuen Verhandlungen als 10 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdn. 1382; Schwarze bezeichnet in ZTR 1993, S. 229 (231) die Einwirkungsklage als "ungeeignetes Instrument, das keine Antwort auf die Rechtsschutzproblematik biete"; Hersehe!, ZfA 1976, S. 89 (105): "verkümmerte Bedeutung der Einwirkungspflicht in der Tarifrechtspraxis". 11 So aber Löwisch/Rieble a. a. 0., Rdn. 57; wohl auch Rüthers a. a. 0.; wie hier HeBhaus a. a. 0 ., S. 215. 12 Walker a.a.O.

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E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Kampfmaßnahme ansehen, mit denen die Arbeitgeber mit kollektiver Druckausübung eine neue tarifliche Regelung verfolgen. Ein Streik als Verteidigung gegen eine solche Kampfmaßnahme verstoße nicht gegen die Friedenspflicht. 13 Walker will deshalb die Verweigerung der Einhaltung der Friedenspflicht von Gewerkschaftsseite durch § 320 BGB gerechtfertigt sehen. Das darin normierte Leistungsverweigerungsrecht erfasse auch Unterlassungspflichten, wenn durch die Leistungsverweigerung kein Verstoß gegen Treu und Glauben zu sehen sei. Die Nichtbeachtung der Friedenspflicht ist für ihn in der genannten Situation keinesfalls treuwidrig: In diesem Fall reagierten die Gewerkschaften zu Recht auf die ungerechtfertigte außerordentliche Kündigung und die daraus hervorgehende Nichterfüllung der im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Durchführungspflicht 14• Für Rieble hingegen ist eine Berufung der Gewerkschaften auf § 320 BGB nicht möglich, da Friedensund Durchführungspflicht nicht in der erforderlichen synallagmatischen Beziehung zueinander stünden. Dem kann nicht zugestimmt werden. Friedens- und Durchführungspflicht stehen sehr wohl in einem synallagmatischen Verhältnis. Ausreichend hierfür ist die wechselseitige Abhängigkeit der beiden Verpflichtungen; die Erfüllung der einen Pflicht ist Voraussetzung für die Erfüllung der anderen. Nach Wiedemann reicht es für die Wechselseitigkeit bereits aus, daß der verweigerten Verpflichtung genügend Bedeutung zukommt, um die Verweigerung der anderen Verpflichtng zu rechtfertigen. 15 Dies ist bei Friedensund Durchführungspflicht der Fall. Die Gewerkschaft hat sich zur Einhaltung der Friedenspflicht natürlich nur unter der Prämisse bereit erklärt, daß die Arbeitgeber die tariflichen Kondiktionen auch tatsächlich durchführen. Nur für die Dauer der Tarifvertragseinhaltung "hält die Gewerkschaft ruhig". Die Zusicherung, das Arbeitsleben keinen Kampfmaßnahmen auszusetzen, haben die Arbeitgeber durch ihr Versprechen, die ausgehandelten Arbeitsbedingungen einzuhalten, eingetauscht. Die schuldrechtlichen Absprachen der Tarifvertragsparteien über Durchführungs- und Friedenspflicht verstehen sich daher als im Austauschzusammenhang (synallagmatisch) miteinander verknüpft. 16 Die Anwednung des § 320 BGB scheint hier trotzdem bedenklich, da es sich bei der Friedenspflicht um eine Unterlassungspflicht handelt. Zwar 13 Otto a. a. 0., S. 807 verweist auf Kündigung der Tarifverträge der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie im Jahr 1993, nach der die Arbeitgeberseite sich generell dazu bereit erklärte, freiwillige Lohnerhöhungen im Gesamtvolumen von 9% zu leisten und die Gegenseite zur Einführung von Öffnungsklauseln aufforderte. 14 Walker a. a. 0. 15 Soergel - Wiedemann, § 320 Rdn. 13. 16 So wohl auch Hueck/Nipperdey Bd. I 1. Hb., S. 717 f.

II. Streik/kollektives Zurückbehaltungsrecht

231

kann gern. § 241 BGB Gegenstand einer Leistungspflicht auch eine Unterlassung sein. Zu beachten ist jedoch, daß der Leistungsaufschub nach § 320 BGB lediglich eine zeitliche Zurückhaltung gewährt, jedoch nicht zur Unmöglichkeit des Anspruchs führen darf. Bei der Verletzung der Friedenspflicht ist - im Hinblick auf die besonders schweren (ökonomischen) Folgen eines Arbeitskampfes - die Leistung bzw. die Unterlassung nicht nur einbehalten, sondern unmöglich gemacht. Wesentliches Prinzip der tariflichen Einigung ist es, das Arbeitsleben für die Laufzeit des Tarifvertrages zu befrieden; Arbeitskämpfe sollen dadurch auf jeden Fall vermieden werden. Die Folgen eines Arbeitskampfes können jedoch nicht mehr gut gemacht werden, auch wenn sie in Zukunft unterlassen werden. Aber auch wenn § 320 BGB nicht greift, ist entgegen Rieble 17 eine ausdrückliche Lösung vom Tarifvertrag seitens der Gewerkschaft für die Vermeidung eines rechtswidrigen Streiks im Hinblick auf die Friedenspflicht nicht erforderlich. Die Gewerkschaft kann sich nämlich auf den auch hinter § 320 BGB stehenden 18 Gedanken von Treu und Glauben berufen. Entscheidend ist, daß bei tatsächlicher Unwirksamkeit der Kündigung ein Berufen der Arbeitgeber auf die Friedenspflicht nicht statthaft wäre: Stellt sich die spätere Unwirksamkeit des Vertrages heraus, so hat die Arbeitgeberseite durch die unberechtigte, vertragswidrige Kündigung das Vertragsverhältnis zuerst beeinträchtigt. Es ist ihr deshalb verwehrt, sich bei einer darauffolgenden Nichtbeachtung der Friedenspflicht, die sie selbst provoziert hat, die Gewerkschaften an dieser Pflichtverletzung festzunageln. Für das gesamte Recht der Leistungsstörung gilt, daß die eigene Vertragstreue Voraussetzung für die Geltendmachung von Pflichtverletzungen durch die Gegenseite ist. 19 Zumindest dann, wenn die Pflichtverletzung des Gläubigers den Vertragszweck gefährdet oder vereitelt, kann derjenige, der zuerst die Vertragstreue gebrochen hat, nicht mehr von den Maßstäben eines ungestörten Vertrages ausgehen. Seine vorausgegangene Beeinträchtigung des Vertragsgefüges versagt ihm die Beanstandung der sich anschließenden Pflichtverletzung des Schuldners. 20 Die aus diesem Synallagma der Pflichtverletzungen resultierenden Rechtsfolgen durchdringen das gesamte Leistungsstörungsrecht.21 So ist z. B. nach Literatur und ständiger Rechtsprechung ungeschriebene Voraussetzung des § 326 BGB die eigene Vetragstreue des Gläubigers. 22 17 18

19 20

21 22

Rieble a. a. 0., S. 52. Wiedeman a. a. 0., Rdn. 66. Otto a.a.O., m.w.N. Ausführlich hierzu Teubner, Gegenseitige Vertragstreue, S. 18 ff. Beispiele hierfür stellt ausführlich Teubner a. a. 0., S. 33 ff. dar. Vgl. nur Palandt- Heinrichs, § 326 Rdn. 10; BGH NJW 1984, S. 869 (869).

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E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Hinzu kommt, daß es widersprüchlich im Sinne eines venire contra factum proprium wäre, wenn die Arbeitgeberseite die tarifliche Behandlung der Arbeitnehmer ablehnt, sie aber im seihen Atemzug die Gewerkschaft auf die Friedenspflicht verweist, was voraussetzt, daß sie selbst von dem Fortbestand des Vertrages ausgeht. Die Friedenspflicht steht einem Streik also nicht entgegen. Bei Wirksamkeit der Kündigung bestand keine Friedenspflicht mehr. Bei Unwirksamkeit der Kündigung darf sich die Arbeitgeberseite auf die Verletzung der Friedenspflicht nach Treu und Glauben gern. § 242 BGB nicht berufen. Nicht notwendig, ja sogar schädlich ist es, wenn Otto23 die Kündigung in Verbindung mit einem konkreten Angebot als Kampfmaßnahme konstruieren will. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Teil- bzw. Änderungskündigung und bei deren Scheitern die Aufnahme von Verhandlungen ohnehin notwendig. Dies fordert das Gebot der Verhältnismäßigkeit, nach dem die vollständige Vertragsbeendigung und der Streik nur als letztes Mittel, als ultima ratio, in Betracht kommen, um das verfolgte Ziel zu erreichen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip soll also den Streik und die Vertragsbeendigung, soweit es nur geht, verhindern. Diesem Zweck läuft es zuwider, wenn man die mit einem Vertragsangebot verbundene Kündigung als Kampfmaßnahme ansieht und somit die Gewerkschaften zum Streik geradezu anhält. Änderungsangebot und Verhandlungspflicht sollen als milderes Mittel gerade die Aufrechterhaltung des Vertrages ermöglichen, um somit die weitreichenden wirtschaftlichen Folgen der Arbeitskämpfe zu verhindern.24 bem Beginn von Arbeitskampfmaßnahmen steht auch nicht der Ultimaratio-Grundsatz im Hinblick auf eine fehlende Erforderlichkeit entgegen. Die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen ist dann nicht erforderlich, wenn das angestrebte Ziel durch ein gleich effektives, schonenderes Mittel erreicht werden kann. Entgegen Walker schließt deshalb die Möglichkeit der Rechtswegbeschreitung den Streik nicht aus. Zwar ist der Rechtsweg ein für alle Beteiligten schonenderes Mittel, jedoch kommt ihm wegen der u. U. jahrelangen Dauer nicht die gleiche Effektivität zu wie dem Streik, der wegen seiner erheblichen Auswirkungen alle Beteiligten schnell an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zwingt. Dies hat die außerordentliche Kündigung der Metall- und Elektrotarifverträge in den neuen Bundesländern im Jahr 1993 gezeigt. Nach Aufnahme des Streiks kam es rasch zu neuen Verhandlungen mit Ergebnissen, zu denen es so schnell bei einem alleinigen Vertrauen auf eine zügige, gerichtliche Entscheidung bestimmt nicht gekommen wäre. 23

24

So Otto a.a.O., S. 807. s.o. D. V. 2.

II. Streik/kollektives Zurückbehaltungsrecht

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Eine grundsätzliche Verweisung auf den Rechtsweg würde deshalb die Koalitionen in ihrem durch Art. 9 III GG geschützten Arbeitskampfrecht verletzen. Es ist auch nicht einzusehen, warum bei außerordentlicher Kündigung die Einleitung von Arbeitskämpfen neben der gerichtlichen Klärung unverhältnismäßig sein soll, bei fehlender Einigung nach ordentlicher Kündigung dies jedoch ohne jegliche Beanstandung regelmäßig geschieht. Hinzu kommt, daß die beiden "Mittel" Rechtsweg und Streik grds. zwei unterschiedliche Ziele verfolgen. Mit dem Beschreiten des Rechtsweges wird die Klärung einer Rechtsfrage, hier der Frage nach der Wirksamkeit der a. o. Kündigung verfolgt. Beim Arbeitskampf geht es jedoch immer um Regelungsfragen, d. h. um die Vereinbarung von neuen Tarifinhalten durch Neuabschluß.

2. Kollektives Zurückbehaltungsrecht Eine weitere Möglichkeit für die Arbeitnehmer, auf die außerordentliche Kündigung zu reagieren, ist das kollektive Zurückhalten ihrer Arbeitsleistung. Ein solches kollektives Zurückbehaltungsrecht ist heute weitgehend anerkannt. 25 Der Einwand, Arbeitsleistungen könnten nicht zurückbehalten werden, weil diese nicht nachholbar seien, ihre Zurückhaltung deshalb zur Unmöglichkeit führe 26, hat sich nicht durchgesetzt und ist zu Zeiten der 35-Stunden Woche inzwischen auch tatsächlich unzutreffend. Sinn und Zweck von Zurückbehaltungsrechten ist es, dem Schuldner eine Möglichkeit zu geben, selbst zu bestimmen, in welchem Umfang er dem Gläubiger Kredit gewähren will. Dieses Recht würde dem Arbeitnehmer genommen, wenn man ihm ein Zurückbehaltungsrecht bezüglich seiner Arbeitsleistung verweigern wollte. 27 Des weiteren kennt das Gesetz keine Beschränkung von Zurückbehaltungsrechten auf eine jederzeit nachholbare Leistung. Ist der Arbeitgeber mit der Vergütung im Rückstand oder ist er aufgrund vertraglicher Einigung vorleistungspflichtig, so ist es dem Arbeitnehmer nicht zuzumuten, durch weitere Arbeitsleistung den als Gegenleistung geschuldeten Lohn zu kreditieren?8 Dadurch würde man dem Arbeitnehmer das Risiko aufbürden, für seine Arbeitsleistung keine Gegenleistung zu erhalten - ein hohes Risiko, da es durch die Nichtzahlung am Fälligkeitstermin bereits evident geworden ist. Hinzu kommt, daß selbst im Falle der Unmöglichkeit seiner Arbeitsleistung, der Arbeitnehmer den Anspruch auf Gegenleistung und somit sein Zurückbehaltungsrecht meistens nicht 25 26 27 2s

Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rdn. 594 m. w.N. So Abel, JW 1922, S. 554 (555); Grunsky, JuS 1967, S. 60 (61). Brox/Rüthers a. a. 0., Rdn. 597; Walker a. a. 0., S. 772. BAG AP Nr. 3 zu § 273 BOB; Bydlinski in FS Steinwenter, S. 140 (150).

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E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

verliert, da der Arbeitgeber die Unmöglichkeit in der Regel gern. § 324 I BGB zu vertreten hat oder sich gern. den §§ 298, 615 I BGB in Annahmeverzug befindet.29 Fraglich ist, ob ein kollektives Zurückbehaltungsrecht über § 273 BGB oder 320 BGB gerechtfertigt ist. Daß gern. § 614 BGB der Arbeitnehmer vorleistungspflichtig ist, spricht zunächst gegen § 320 BGB, weil danach dem Gläubiger ein Zurückbehaltungsrecht bei dessen Vorleistungspflicht nicht zusteht. Zu beachten ist aber, daß die Vorleistungspflicht des Arbeitnehmers nur für die jeweilige Lohnzahlungsperiode besteht, nicht jedoch bei rückständigen Löhnen. 30 Gegen § 320 BGB wird weiterhin eingewendet, daß der flir § 320 BGB erforderliche synallagmatische Zusammenhang zwischen rückständiger Vergütung und laufender Arbeitszeit nicht vorhanden sei und für letztere noch keine Vergütungspflicht bestehe,31 weshalb § 273 BGB für das kollektive Zurückbehaltungsrecht heranzuziehen sei. Diese Ansicht verkennt jedoch, daß nicht nur Arbeitsleistung und Vergütung ein und derselben Lohnperiode, sondern auch Vergütungen und Arbeitsleistungen vergangener Perioden im Gegenseitigkeitsverhältnis zueinander stehen. Der Arbeitsvertrag ist hier wie die sog. Sukzessivlieferungsverträge zu behandeln, flir die die Rechtsprechung klargestellt hat, daß nicht nur die einzelnen Teillieferungen mit der entsprechenden Forderung, sondern auch die gegenseitig geschuldeten Leistungen in ihrer Gesamtheit im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. 32 Auch wenn dieser dogmatische Streit im Ergebnis ohne Auswirkung bleibt und somit nicht mehr "als ein Gedankenspiel ohne rechtliche Bedeutung ist", 33 sei hier angemerkt, daß m. E. bei der a. o. Kündigung des Tarifvertrages wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit § 320 BGB die richtige Rechtsgrundlage für das Zurückbehaltungsrecht der Arbeitnehmer ist. Der Arbeitgeber will sich durch die a. o. Kündigung von den tariflichen Löhnen befreien, um eine Entgeltreduzierung zu erreichen. Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt stehen aber im Synallagma zueinander, typische Anwendungsvoraussetzung des § 320 BGB und Abgrenzungsmerkmal zu § 273 BGB. Durch die a. o. Kündigung macht der Arbeitgeber deutlich, daß er den tariflichen Lohn in Zukunft nicht mehr zahlen will. Bei einer Erklärung des Arbeitgebers, in Zukunft nicht mehr den vertraglich vereinbarten Lohn zu zahlen, kann der Arbeitnehmer anerkanntermaßen seine Arbeitsleistung gern. § 320 BGB zurückhalten, da seine Vorleistungspflicht 29 30 31 32

33

Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 18, S. 247. Brox/Rüthers a. a. 0., Rdn. 598. MünchKomm- Schaub, § 614 Rdn. 21; Tscherwinka, BB 1995, S. 618 (619). RGZ 68, 17 (22); 88, 254 (255); 120, 193 (196). Söllner, ZfA 1973, S. 1 (8).

II. Streik/kollektives Zurückbehaltungsrecht

235

nach § 614 BGB entfälle4 • Gerade die Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die die Lohnreduzierung begründen soll, rückt das Zurückbehaltungsrecht in die Nähe zu den Vorschriften der §§ 320, 321 BGB über gegenseitige Verträge mit wechselseitigen Leistungsverpflichtungen. § 321 BGB legt ausdrücklich fest, daß die Leistung zurückbehalten werden kann, wenn aufgrund der wesentlichen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des anderen Teils der Anspruch auf die Gegenleistung gefährdet wird. Voraussetzung ist hier jedoch eine Vorleistungspflicht. Da diese hier aber - wie bereits gesagt - entfällt, bleibt es bei § 320 BGB. Den Arbeitnehmern könnte somit das Recht zukommen, ihre Arbeitsniederlegung als Zurückbehaltungsrecht, hilfsweise als Streik durchzuführen: Erweist sich die Kündigung als unwirksam, dann hatten die Arbeitnehmer das Recht, ihre Arbeitsleistung gern. § 320 BGB zurückzuhalten. Sollte sich die Kündigung der Arbeitgeberseite als wirksam herausstellen, wäre die Arbeitsniederlegung als Streik zwecks Schließung eines neuen Tarifvertrages rechtmäßig gewesen. Ein solch "zweigleisiges" Vorgehen wäre nach der Rechtsprechung des

BAG allerdings nicht zulässig. Danach kann aufgrund der Unterschiedlich-

keit der Rechtsfolgen hinsichtlich der Lohnzahlungspflicht eine Arbeitsniederlegung nur dann nach den Maßstäben eines Zurückbehaltungsrechts beurteilt werden, wenn man dem Vertragsgegner "in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise" davon in Kenntnis setzt, ob es sich bei der Arbeitsniederlegung um einen Arbeitskampf oder um die Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts handelt. 35 Diese Aussage hat das BAG später relativiert, indem es nur noch forderte, daß das Zurückbehaltungsrecht stets als solches erkennbar sein müsse. 36 Bei der Deklaration der Arbeitsniederlegung als Streik wäre danach die Rechtmäßigkeit der Arbeitsverweigerung trotz objektiven Vorliegens eines Zurückbehaltungsrechtes an den Maßstäben des Streikrechts zu messen. Bei fehlender klarer Kennzeichnung soll es sich um einen wilden Streik handeln, der "in jedem Fall" rechtswidrig sei?7 Dieser Auffassung des BAG sind viele Stimmen in der Literatur entgegengetreten. 38 Bedenken hatte man vor allem hinsichtlich der rechtlichen Bewertung, die den Arbeitnehmern als juristischen Laien durch die Kenn34 Münch ArbR. Hb. Bd. I - Blomeyer, § 47 Rdn. 54 mit ausführlichem Literaturnachweis in Fn. 89. 35 BAG a.a.O.; BAG DB 1978, S. 1043 (1404). 36 BAG AP Nr. 58 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 37 BAG AP Nr. 32 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 38 Brox/Rüthers a.a.O., Rdn. 606; Münch ArbR. Hb. Bd. I - Blomeyer, § 47 Rdn. 63; Moll, RdA 1976, S. 100 (102); Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 433; Richardi, ZfA 1985, S. 101 (106); Buchner, DB 1988, S. 393 (398); Hueck/ Nipperdey Bd. II 2. Hb. S. 882.

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E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Zeichnungspflicht des BAG auferlegt wird. 39 Dieser Einwand ist verständlich: Mit der Arbeitsniederlegung bezwecken die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber zur Einhaltung der (tarif-) vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen zu bewegen. Den Arbeitnehmern ist es schwer möglich, ihr Verhalten durch rechtliche Wertung, die in diesem Fall ohnehin nicht ganz einfach ist, von vornherein einem bestimmten Rechtsbegriff zuzuordnen. Grundsätzlich ist deshalb lediglich zu verlangen, daß die Arbeitnehmer dem Gericht diejenigen Tatsachen vorzutragen haben, die sie ihrer Meinung nach zu ihrem rechtsstreitigen Handeln berechtigen. Die Subsumtion dieser vorgetragenen Umstände unter die Rechtsbegriffe Streik und Zurückbehaltung sollte dann Aufgabe des Gerichts sein. Hiervon zu unterscheiden ist jedoch die Möglichkeit, nach a. o. Kündigung des Tarifvertrages, die Leistungsverweigerung hilfsweise auf den Streik bzw. das Zurückbehaltungsrecht zu stützen. Ein solches Recht kann den Arbeitnehmern entgegen Walkel0 nicht zugebilligt werden, da dadurch die Arbeitsniederlegungen im Ergebnis immer gerechtfertigt wären und somit sanktionslos blieben: Erwiese sich die a. o. Kündigung als wirksam, könnten sich die Arbeitnehmer auf ihr Streikrecht berufen, im Falle der Unwirksamkeit der a. o. Kündigung auf das Zurückbehaltungsrecht. Dieses Ergebnis wäre unvereinbar mit dem unabdingbaren Recht zur unbeschränkten, fristlosen Kündigung eines unzumutbaren Vertragsverhältnisses.41 Die Arbeitnehmer könnten, ohne irgendwelche rechtlichen Folgen fürchten zu müssen, die Produktion des Betriebes stoppen, obwohl die Arbeitgeber durch ihre eventuell rechtmäßige Inanspruchnahme des a. o. Kündigungsrechts die existenzbedrohten Betriebe aus der kritischen Situation führen wollten. Eine Befreiung von der unzumutbaren Leistung würde damit im Ergebnis nicht stattfinden. Die Wirkung der a. o. Kündigung würde durch den eintretenden Produktionsausfall, der in keinem Fall Ersatzansprüche der Arbeitgeber begründen würde, vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt. Hinzu kommt, daß nach h. M. bei einer Leistungsverweigerung nach

§ 320 BGB, auf den das kollektive Zurückbehaltungsrecht zurückzuführen

ist, die Geltendmachung der Einrede erforderlich ist. Das objektive Bestehen der Einrede reicht hier nicht aus, um den Eintritt nachteiliger Folgen der Nichtleistung auszuschließen. 42 Siehe nur Brox/Rüthers a. a. 0. Walker, NZA 1993, S. 769 (773). 41 Zur Unabdingbarkeit des § 626 BGB s.o. D. VI. 2. 42 Vgl. nur Soergel- Wiedemann, § 320 Rdn. 10; Erman- Battes, § 320 Rdn. 1 u.ll; Münch Komm - Emmerich, § 320 Rdn. 57 alle mit auführlichen Nachweisen; a.A. Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. I, § 16 II S. 267; Löwisch/Hartje, RdA 1970, S. 321 (322); Larenz, Schuldrecht Bd. I, § 15 S. 206 f. 39

40

III. Einstweiliger Rechtsschutz gegen Arbeitsniederlegungen

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Ausreichend hierfür ist, daß aus der Gesamtheit des Vorbeingens des Zurückhaltenden deutlich wird, aus welchem Grund er seine Leistung verweigert.43 Gerade dies ist nicht gegeben, wenn der Arbeitnehmer seine Nichtleistung mit dem Streik, hilfsweise mit dem Zurückbehaltungsrecht rechtfertigen will, er somit, ohne sich von vornherein festzulegen, im Alternativverhältnis eine Neuregelung (Streik) bzw. die Einhaltung der gekündigten Arbeitsbedingungen (Zurückbehaltung) verlangt. Der Arbeitgeber kann dadurch nicht eindeutig in Erfahrung bringen, wie er den normalen Betriebsablauf wiederherstellen kann. Hinzu kommt, daß das BAcf4 für die lösende Aussperrung ebenfalls eine Kennzeichnung verlangt, die Kennzeichnungspflicht hinsichtlich des Zurückbehaltungsrechts entgegen Däubler45 also nicht völlig systemfremd ist. Auch ist bei der a. o. Kündigung des Tarifvertrages die Befürchtung, der Arbeitnehmer könnte als rechtlicher Laie mit der Kennzeichnungspflicht überfordert sein, nicht sehr praxisnah. Hier wird hinter den Arbeitsniederlegungen i. d. R. eine Gewerkschaft stehen46, wie dies auch im Jahr '93 bei der a. o. Kündigung der Stufentarifverträge der Fall war. Die arbeitskampferfahrenen Gewerkschaften sind aber durchaus in der Lage, die Arbeitsniederlegungen rechtlich einzuschätzen. Nach a. o. Kündigung eines Tarifvertrages müssen sich die Arbeitnehmer somit entscheiden, ob sie ihre Arbeitsniederlegung auf einen Streik oder ein Zurückbehaltungsrecht stützen wollen. Ein "zweigleisiges" Vorgehen der Arbeitnehmer - Streikrecht, hilfsweise Zurückbehaltungsrecht - ist rechtlich nicht möglich.

111. Einstweiliger Rechtsschutz der Arbeitgeber gegen Arbeitsniederlegungen Bei den geschilderten Reaktionsmöglichkeiten, die für die wirtschaftlich ohnehin schon angeschlagenen Unternehmen in ihrer Wirkung noch weitreichender sein können als die Tarifbindung selbst, stellt sich die Frage, ob die außerordentliche Kündigung die Situation der Unternehmen nicht noch verschlimmert. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn der Arbeitgeberseite ein Rechtsmittel zur Verfügung stünde, mit dem sie ohne großen Zeitverlust die wirtschaftlich so schädliche Arbeitsniederlegung verhindern kann. Palandt - Heinrichs, § 322 Rdn. 2. BAG GS AP Nr. 43 zu Art. 9 GG; BAG AP Nr. 44 zu Art. 9 GG. 45 Däubler, Arbeitskampfrecht- Däubler, Rdn. 1424. 46 Die Gewerkschaft darf auch ein kollektiv ausgeübtes Zurückbehaltungsrecht der Arbeitnehmer fördern vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 1096. 43

44

238

E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Bei der kollektiven Zurückbehaltung der Arbeitsleistung geht es nicht um die Durchsetzung künftiger Regelungen, sondern um eine Rechtsstreitigkeit. Die Grundsätze des Arbeitskampfes finden somit keine Anwendung, weshalb sich Maßnahmen gegen die Zurückbehaltung (z. B. Abmahnung, verhaltensbedingte Kündigung) nach den allgemeinen individualarbeitsrechtlichen Mitteln richten. 47 Möglich ist auch die Beantragung einer einstweiligen Verfügung gegen die Zurückbehaltung der Arbeit48 gern. den §§ 62 II ArbGG, 935 ff. ZP0. 49 Die Vollstreckung der einstweiligen Verfügung scheitert bei unvertretbaren Diensten zwar an § 888 III ZP0.50 Die einstweilige Verfügung weist den Arbeitnehmer jedoch auf seine rechtlichen Pflichten hin, so daß er vielleicht aus Furcht vor Schadensersatzforderungen auch ohne Zwang die Arbeit wiederaufnimmt. Der Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegenüber Streikmaßnahmen gern. den §§ 62 II ArbGG, 935 ff. ZPO ist allerdings sehr umstritten.

1. Einwände gegen die Zulässigkeit der einstweiligen Verfügung im Arbeitskampfrecht Der (uneingeschränkten) Anwendung des vorläufigen Rechtsschutzes im Arbeitskampf tritt man in der Literatur mit einigen Bedenken entgegen. Vorwiegend stellt man auf die Unvereinbarkeit der einstweiligen Verfügung im Arbeitskampf mit dem vorläufigen Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes ab. Erginge die gegen den Streik gerichtete einstweilige Verfügung, so würde sie den Streik nicht nur vorläufig, sondern endgültig abbrechen. 51 Jeder Streik sei so sehr mit einer bestimmten politischen und 47 Münch ArbR. Hb. Bd. 1 - Bloymeyer, § 47 Rdn. 64; Gamillscheg a. a. 0., S. 1096; Brox/Rüthers a.a.O. Rdn. 614. 48 LAG Baden-Württemberg AP Nr. 3 zu § 611 BGB Anspruch auf Arbeitsleistung; LAG Frankfurt 88 1961, S. 639 (639); LAG Bremen 88 1962, S. 1000 (1000); Hueck/Nipperdey Bd. I, S. 212 m. w.N. in Fn. 60; Stein/Jonas ZPO Grunsky, vor § 935 Rdn. 66; ausführlich H. Schäfer, Der einstweilige Rechtsschutz im Arbeitsrecht, Rdn. 51 ff. 49 In der Rechtsprechung werden mit überwiegender Zustimmung der Literatur einstweilige Verfügungen pauschal auf die §§ 935, 940 ZPO als einheitliche Rechtsgrundlage gestützt. Dazu und zur Frage, ob zwischen § 935 und § 940 ZPO eine Trennlinie besteht, oder ob § 940 ZPO eine bloße Ergänzungs- bzw. Klarstellungsfunktion gegenüber § 935 ZPO zukommt vgl. Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtliehen Verfahren, Rdn. 123 ff. so Grunsky a. a. 0. weist zu Recht darauf hin, daß keinesfalls sämtliche Dienste unter § 888 III ZPO fallen, da es dem Arbeitgeber in vielen Fällen gleichgültig sei, wer die Leistung erbringe. st Däubler, Arbeitskampfrecht- Colneric, Rdn. 1304; Däubler, Arbeitsrecht Bd. I, Rdn. 642.

III. Einstweiliger Rechtsschutz gegen Arbeitsniederlegungen

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sozialen Zeitsituation verknüpft, daß durch seinen vorläufigen Abbruch der einzige Zeitpunkt gerade für diesen Streik verpaßt werde. Durch die Schwerfälligkeit des Streiks im Hinblick auf seine Organisation könne er nicht beliebig auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, 52 man könne ihn eben nicht "an- und ausknipsen wie eine Taschenlampe". 53 Entgegen den Grundgedanken der §§ 935, 940 ZPO werde die einstweilige Verfügung aufgrundihrer Endgültigkeit zur "Befriedungsverfügung".54 Außerdem sei die einstweilige Verfügung deshalb bedenklich, weil das Arbeitskampfrecht im hohen Maße durch richterliche Rechtsfortbildung geprägt sei. Diese verlange aber eine Spezialisierung, hohe fachliche Qualifikation und gute sachliche Ausstattung des Gerichts, was in der Regel nur bei den Revisionsgerichten der Fall sei. Da gern. § 72 IV ArbGG die Revision zum BAG im Eilverfahren nicht zugelassen sei, sei das Schnellverfahren für eine Rechtsfortbildung nicht geeignet. 55 Schließlich weist man auf die Schwierigkeit der rechtlichen Beurteilung von Arbeitskampffragen hin, die sich dadurch ergebe, daß die Grenzen des Streikrechts durch die bisherige RAG-Rechtsprechung noch nicht exakt bestimmt worden seien. Für die Klärung diffiziler, ungeklärter Rechtsfragen biete sich das Eilverfahren daher nicht an; 56 schnell könne durch dieses ein rechtmäßiger Streik beendet und somit unzulässig in Art. 9 III GG eingegriffen werden, was gegen die generelle Vermutung für die Rechtmäßigkeit gewerkschaftlicher Arbeitsniederlegungen spreche.57 Aufgrund der genannten Einwände will man die Zulässigkeit der einstweiligen Verfügung deshalb von besonderen Voraussetzungen abhängig machen, wie der Sittenwidrigkeit58 , der existenzbedrohenden Wirkung59 oder der offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Streiks.60 Hoffmann geht Hoffmann, AuR 1968, S. 33 (45); Faupel, DB 1971, S. 816 (817). Gamillscheg, Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 23. 54 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 1293. 55 Domdorf/Weiss, Wamstreiks und vorbeugender Rechtsschutz gegen Streiks, s. 26 ff. 56 Gamillscheg a. a. 0. 57 Däub1er, Arbeitsrecht Bd. I, Rdn. 643. 58 Birk, AuR 1974, S. 289 (292); Hoffmann a.a.O., S. 39, nach dem Art. 9 III GG gerade das Streikrecht als ein unter konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen umstrittenes Interesse zugunsten der Gewerkschaften schütze. Die Rechte des Unternehmers aus dem Arbeitsvertrag oder dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb könnten das Streikrecht deshalb nicht begrenzen. Dies sei nur durch allgemeine Präferenzen, wie sie z. B. in der generellen Struktur der Sittenwidrigkeit zum Ausdruck kämen, möglich. 59 Heckelmann, AuR 1970, S. 166 (177); Domdarf/Weis a.a.O., S. 55; Faupel a.a.O., S. 816. 52 53

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E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

sogar soweit, daß er den Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen einen Streik generell für unzulässig erachtet.61

2. Kein besonderes Arbeitskampfverfügungsrecht/ uneingeschränkte Anwendung der §§ 935 ff. ZPO Die genannten Einwände können jedoch nicht eine Einschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Arbeitskämpfe begründen. Zunächst vermag die Argumentation, das Streikrecht der Arbeitnehmer sei durch Art. 9 III GG in besonderer Weise geschützt, nicht zu überzeugen. Zwar werden durch Art. 9 III GG Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluß eines Tarifvertrages gerichtet sind, geschützt. Von dem Schutzbereich des Art. 9 III GG nicht umfaßt sind aber selbstverständlich rechtswidrige Arbeitskämpfe.62 Folglich kann Art. 9 III GG entgegen Hoffmann63 auch nicht ein vorrangiger Schutz des Arbeitskampfes als widerstreitendes Interesse zweier gesellschaftlicher Gruppierungen zugunsten der Gewerkschaften entnommen werden, was gegen die Zulässigkeit einstweiliger Verfügungen spreche. Der Arbeitskampf wird nach Art. 9 III GG unter Grundrechtsschutz gestellt, wenn er rechtmäßig ist, nicht mehr und nicht weniger, andernfalls müßte man davon ausgehen, daß Art. 9 III GG jeden Streik garantieren will, es einen rechtswidrigen Streik also gar nicht geben könnte.64 Eine Rechtmäßigkeitsvermutung zugunsten des Streiks ist daher Art. 9 III GG nicht zuzuschreiben.65 Diejenigen, die eine zu schnelle Grundrechtsverletzung durch Zulassung vorläufigen Rechtsschutzes befürchten, verkennen, daß umgekehrt im Falle der Nichtgewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen Arbeitskämpfe ebenfalls eine hochgradige Gefahrdung von Arbeitgebergrundrechten anstehen könnte. Zum einen im Hinblick auf die in den Art. 19 IV, 20 III und 92 GG verankerte staatliche Rechtsschutzgewährleistungspflicht.66 Die Terminologie für diese ist unheitlich. Das BVerfG spricht von Rechtsschutzan60 LAG Baden-Württemberg AuR 1974, S. 318 (318); LAG Düsseldorf DB 1979, S. 167 (167); Zeuner, RdA 1971, S. 1 (7); Steinbrück, Streikposten und einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitskampfrecht, S. 205. 6 1 Hoffmann a. a. 0., S. 33 ff. 62 LAG München NJW 1980, S. 957 (958); Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtliehen Verfahren, Rdn. 716; Brox/ Rüthers a.a.O., Rdn. 766; von Hoyningen- Huene, JuS 1990, S. 298 (298). 63 s.o. Fn. 981. 64 Grunsky, RdA 1986, S. 196 (202). 65 Zur Vereinbarkelt des vorläufigen Streikverbotes mit Art 9 III GG ausführlich Luckscheiter, Der einstweilige Rechtsschutz gegen Streiks, S. 115 ff. 66 Dazu Stern, Staatsrecht Bd. III/1, S. 1440.

III. Einstweiliger Rechtsschutz gegen Arbeitsniederlegungen

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spruch der Verfassung,67 andere vom Justizgewährungsanspruch.68 Fest steht jedoch, daß die Verfassung aufgrund der genannten Normen dem einzelnen einen wirkungsvollen Rechtsschutz in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten garantiert. 69 Die Effektivität des Rechtsschutzes ist aber nur dann gewährleistet, wenn der einzelne auf vorläufigen Rechtsschutz zurückgreifen kann, wenn andernfalls unzumutbare, nicht anders abwendbare Rechtsnachteile für ihn entstünden.70 Zum anderen wären die Eigentümergrundrechte der Arbeitgeber ohne den vorläufigen Rechtsschutz nicht ausreichend geschützt. Wie oben dargestellt, schützt Art. 14 GG u. a. das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, welches die Gewerkschaften wegen ihrer staatsgleichen Grundrechtsbindung71 zu beachten haben. Ohne den Rückgriff auf das Eilverfahren wäre diese verfassungsrechtlich geschützte Rechtsstellung in nicht hinzunehmender Weise dem "Altar des Streikrechts" ausgesetzt. 72 Auch das Argument der Endgültigkeit einer einstweiligen Verfügung wegen der Nichtnachholbarkeit des Streiks ist nicht überzeugend. Zunächst gilt auch hier wieder, daß bei Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes die Arbeitgeber genauso einen endgültigen Rechtsverlust erleiden könnten wie die Gewerkschaften, wenn sich im Hauptsacheverfahren die Rechtswidrigkeit des Streiks herausstellt. Den Schaden, der ihnen durch die ausfallende Produktion entstünde, hätten sie in der Regel endgültig zu tragen, da in der Praxis in den seltensten Fällen zugesprochene Schadensersatzansprüche auch tatsächlich vollstreckt werden. 73 Ohnehin ist die Schadensersatzregelung für den Ausgleich nachteiliger Folgen einer Fehlentscheidung im Arbeitskampf höchst problematisch, da man gegen den Sozialpartner, auf dessen vertrauensvolle Zusammenarbeit man angewiesen ist, nur schwerlich vollstrecken kann. 74 BVerfGE 35, 348 (362); 49, 244 (251). Stein/Jonas ZPO- Schumann (20. Auflage), Ein!. III Rdn. 204 ff. 69 BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345). 70 BVerfGE 35, 263 (274); 46, 166 (178); 65, 1 (70); Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, S. 130. 71 Zur staatsgleichen Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien s.o. B. VI. 4.d) cc). 72 Für eine Berufung der Arbeitgeber auf Art. 14 GG bei einem rechtswidrigen Streik auch Grunsky a. a. 0.; Luckenscheiter a. a. 0 ., S. 115; Walker a. a. 0., Rdn. 716. 73 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, S. 1215, 1293. 74 Luckscheiter a.a.O., S. 120; für Steinbrück a.a. O., S. 205 ist der in § 945 ZPO geregelte Schadensersatzanspruch im Arbeitskampfrecht praktisch nicht realisierbar. 67

68

16 Freihube

242

E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Zum anderen kann auch das Argument der schwierigen, aufwendigen Mitgliedermobilisierung beim Streik, weshalb die einstweilige Verfügung endgültig wirke, nicht greifen. Ansonsten könnte die Gewerkschaft immer durch die Ingangsetzung von Kampfmaßnahmen vollendete Tatsachen schaffen, um somit auch rechtswidrige Arbeitskämpfe durchzuführen. 75 Ein Ausschluß der einstweiligen Verfügung in diesem Fall würde die Gewerkschaft zum rechtswidrigen Tun ermuntern.76 Zudem ist die beanstandete Befriedigungsverfügung dem vorläufigen Rechtsschutz auch sonst nicht fremd. Im Prinzip ist es heute allgemein anerkannt, daß zum Zwecke eines wirksamen Rechtsschutzes eine Befriedungsverfügung ergehen kann, wenn sich ansonsten das Recht des Antragstellers nicht verwirklichen läßt.77 Irrelevant ist auch die Kompliziertheit der Rechtsfragen im Bereich des Arbeitskampfes, zu deren Klärung das Schnellverfahren nicht geeignet sein soll. Es kann nicht sein, daß das Offenstehen vieler Fragen in dieser Rechtsmaterie zu Lasten des Rechtssuchenden geht. Den ungelösten Problemen mit Beschränkung des Rechtsschutzes zu begegnen, ist bestimmt nicht der richtige Weg. Der Begründung, die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte seien nicht ausreichend mit qualifizierten Leuten besetzt, um derartige Rechtsfragen zu lösen, liegt die wohl nicht zutreffende Annahme zugrunde, gute Juristen finde man erst auf der Bundesgerichtsebene. Auch im einstweiligen Verfahren ist der Richter nicht der Pflicht enthoben, schwierige Rechtsfragen zu lösen.78 Schließlich spricht für die einstweilige Verfügung auch im Arbeitskampfrecht § 254 BGB, nach dem nach Ansicht des BAG die Arbeitgeberseite wegen ihrer Schadensminderungspflicht versuchen muß, den Streik durch einstweilige Verfügung zu verkürzen. 79 Nach dem Gesagten und aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung des § 62 II ArbGG sind deshalb auch für die einstweilige Verfügung im Arbeitskampfrecht die §§ 935 ff. ZPO grds. ohne Einschränkung anzuwenden. Wegen der für beide Seiten endgültigen Wirkung der Entscheidung ergeht die einstweilige Verfügung als Befriedigungs- bzw. Leistungsverfügung, für die überwiegend § 940 ZPO als Rechtsgrundlage herangezogen 7S

76 77 78 79

Krauß in Löwisch, Schlichtungs- und Arbeitskampfrecht Bd. 17, Rdn. 1039. Gamillscheg a.a.O., S. 1293. LAG München a. a. 0 ., m. w. N.; Brox/Rüthers a. a. 0., Rdn. 768 m. w. N. Brox/Rüthers a. a. 0., Rdn. 767. BAGE 30, 189 (203).

III. Einstweiliger Rechtsschutz gegen Arbeitsniederlegungen

243

wird. 80 Der Arbeitgeber hat deshalb wie im sonstigen Eilverfahren nach § 940 ZPO Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund glaubhaft zu machen. Der Verfügungsanspruch ergibt sich dabei unstreitig gern. den §§ 1004, 823 BGB wegen Eingriffs in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. 81 Der Verfügungsgrund, der stets voraussetzt, daß ohne Erlaß der einstweiligen Verfügung dem Antragsteller wesentliche Nachteile enstünden, ist im Streikfall in der drohenden endgültigen Rechtsvereitelung zu sehen. 82 Da die Gewerkschaft aufgrund der Zeitgebundenheit des Streiks ebenso dieser Gefahr ausgesetzt ist, hat außerdem eine Interessenahwägung stattzufinden.83 Dies erfordert das verfassungsrechtliche Gebot der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzes, der bei gleicher Rechtsgefahrdung der Parteien für beide in gleicher Weise Rechtsschutz bieten muß. 84 Für diese Abwägung ist zuvörderst relevant, ob der Streik höchst wahrscheinlich rechtswidrig ist, da die Durchführung eines rechtswidrigen Streiks niemals rechtlich schutzwürdig sein kann.85 Da auch im vorläufigen Rechtsschutz bezüglich der Durchführung von Arbeitskampfmaßnahmen die Beteiligten gern. den §§ 62 II ArbGG, 920 II ZPO diejenigen Umstände darzulegen und glaubhaft zu machen haben, aus denen sie günstige Rechtsfolgen für sich ableiten wollen86, muß der Antragsteller dem Gericht die Tatsachen glaubhaft machen, nach denen die Rechtswidrigkeit des Streiks mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. 87 Zu beachten ist jedoch, daß aufgrund des summarischen Verfahrens die Anforderungen an die Glaubhaftmachung nicht überspannt werden dürfen, so daß die Behauptungen mit den Beweismitteln überwiegend wahrscheinlich gemacht werden müssen, die im Eilverfahren zur Verfügung stehen. 88 80 Ausführlich hierzu Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtliehen Verfahren, S. 125 ff. 81 Siehe nur Brox/Rüthers a.a.O., Rdn. 773; Dütz, BB 1980, S. 533 (534). 82 LAG München a.a.O., S. 958; Walker a.a.O., S. Rdn. 247, 721; Dütz a.a.O., s. 538. 83 Vgl. zur Notwendigkeit der Interessenahwägung Heinze, RdA 1986, S. 273 (279); Däubler, Arbeitskampfrecht - Colneric, Rdn. 1319; Grunsky, NJW 1979, S. 86 (89 Fn. 23); Heckelmann, AuR 1970, S. 166 (176); Dütz a.a.O. 84 Walker a.a.O., Rdn 71 f. u. 258. 85 Grunsky, RdA 1986, S. 196 (202); Walker a.a. O., Rdn. 723; Henniges, Einstweiliger Rechtsschutz gegen gewerkschaftliche Streiks, S. 77; Krauß a. a. 0 ., Rdn. 1039; Däubler, Arbeitskampfrecht - Colneric, Rdn. 1324. 86 Dütz a.a.O., S. 541. 87 Zum Kriterium der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bei der Glaubhaftmachung nach § 920 II ZPO vgl. Hirtz, NJW 1986, S. 110 (111) mit ausführlichem Literatur- und Rechtsprechungsnachweis in Fn. 12. 88 Dütz a. a.O.

16•

244

E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Bei einem Streik im Anschluß an eine außerordentliche Kündigung ist jedoch zu beachten, daß sich die Arbeitgeberseite nicht auf die Verletzung der Friedenspflicht wegen eventuellen Fortbestandes des Tarifvertrages aufgrund unwirksamer Kündigung berufen kann. Ein solches Vorgehen wäre, wie bereits gesagt, als venire contra factum proprium unzulässig. Ist die Rechtslage auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, was bei der Beurteilung von Arbeitskämpfen nicht selten der Fall sein dürfte, so ist zu untersuchen, ob eine Partei im besonderen Maße schutzbedürftig ist. 89 Diese im Abwägungsvorgang zu berücksichtigende besondere Schutzbedürftigkeit ist immer anband des Einzelfalles zu ermitteln und nicht anband allgemein gültiger Kriterien. So kann nicht mit dem Argument der typischen Angreiferrolle der Gewerkschaften generell eine gesteigerte Schutzwürdigkeit derselben angenommen werden. Zum einen ist die starre Beschränkung der Arbeitgeber auf bloße Verteidigungshandlungen nicht gerechtfertigt.90 Zum anderen sind auch gewerkschaftliche Angriffe an das geltende Recht gebunden; mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar wäre es deshalb, wenn die Arbeitgeber grds. das Risiko der Rechtmäßigkeit des Streiks zu tragen hätten. Auf der anderen Seite kann die Unerwünschtheit von Streiks wegen ihrer negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen nicht generell für den Erlaß der einstweiligen Verfügungen sprechen. Der Streik ist, solange er den Voraussetzungen, die die Rechtsprechung im Laufe der Zeit entwickelt hat, genügt, verfassungsrechtlich geschützt, unvermeidbar sind dabei seine wirtschaftlichen Auswirkungen. Dennoch ist zu beachten, daß aufgrund der wirtschaftlichen Verflochtenheit der Unternehmen, wie z. B. mit Vertragsstrafen versehene Liefer- oder Abnahmeverträge, im Zweifel den Arbeitgebern eine schutzwürdigere Rechtsposition zukommen wird91 , ohne daß dies die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung entfallen läßt. Dies gilt m. E. verstärkt für den Fall der außerordentlichen Kündigung des Tarifvertrages. Hier hat die Arbeitgeberseite die Notbremse zur Rettung der wirtschaftlichen Existenz der Unternehmen gezogen. Die Kündigung soll die Tarifgebundenen von dem unzumutbaren Zustand befreien, durch sie versucht der Arbeitgeberverband, die notleidenden Unternehmen vor der Insolvenz zu bewahren. Allein wegen dieser "Rettungsaktion", die ja eigentlich Abhilfe für die bedrängten Unternehmen schaffen sollte, sind die Gewerkschaften überhaupt in die Lage versetzt worden, einen eventuell rechtmäßigen Streik durchzuführen. Dadurch besteht jedoch die Gefahr des 89 90

91

Walker a.a.O., Rdn. 724; Dütz a. a.O., S. 539. s.o. D. VI. 2. d). s.o. auch Dütz a. a. 0.

IV. Ergebnis zu D. und E.

245

Funktionsverlustes des Rechts zur fristlosen Kündigung, das zur Wahrung der Selbstbestimmung nicht eingeschränkt werden darf. Es führte zu einem Wertungswiderspruch, wenn durch die fristlose Kündigung die wirtschaftliche Situation der gefährdeten Unternehmen nicht wie bezweckt stablisiert, sondern durch ihre Bestreikung noch verschlechtert würde. Es besteht daher eine besondere Schutzwürdigkeit der Arbeitgeberseite, wenn diese dem Gericht die tatsächliche wirtschaftliche Notlage der bestreikten Unternehmen glaubhaft machen kann. Dies erfordert zwar die umfasssende Würdigung der wirtschaftlichen Daten der betreffenden Unternehmen. Daß dieser Begriff justitiabei ist, wurde oben bereits dargelegt. Da davon auszugehen ist, daß sich die Arbeitgeberseite zu dem Schritt der außerordentlichen Kündigung erst nach entsprechenden Analysen der Unternehmensdaten durchgerungen hat, dürfte ihr die Glaubhaftmachung auch nicht allzu schwer fallen. Ausreichend für die Glaubhaftmachung ist, daß eine überwiegende Wahrscheinlichkeit aufgrund präsenter Beweismittel bejaht werden kann, die in einem summarischen Verfahren erreichbar ist. Ist die ökonomische Schieflage der Unternehmen danach zu bejahen, so muß aufgrund der besonderen Schutzwürdigkeit der Unternehmen die einstweilige Verfügung ergehen.

IV. Ergebnis zu D. und E. Die durchgeführte Untersuchung führt zu folgenden Ergebnissen: Der Tarifvertrag kann analog § 626 BGB außerordentlich gekündigt werden. Der Unzumutbarkeitstatbestand des § 626 BGB wird durch die Grundrechte der Tarifparteien, Art. 9 III, 12, 14 GG, konkretisiert. Die Unzumutbarkeitsschwelle des Tarifvertrages i. S. v. § 626 BGB ist dann überschritten, wenn einzelne Unternehmen durch die weitere Tarifbindung in ihrer wirtschaftlichen Existenz akut gefährdet sind. Ein solcher Tarifvertrag verletzt die Grundrechte der Arbeitgeber aus den Art. 12, 14 GG; diese Verletzung ist nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die wirtschaftliche Existenzbedrohung ist eine justitiable Tatbestandsvoraussetzung, bei deren Prüfung die Gerichte insbesondere auf die zu § 16 BetrAVG entwickelten Bewertungsmodelle zurückgreifen können. Von der Unzumutbarkeit müssen soviele Unternehmen betroffen sein, daß bei deren Insolvenz der kündigende Verband seine für die Tariffähigkeit erforderliche soziale Mächtigkeit verlieren würde.

246

E. Arbeitnehmerseitige und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen

Ein Kündigungsrecht des einzelnen betroffenen Unternehmens in diesem Fall ist nicht möglich, aber auch nicht notwendig, da diesem wegen des Weichens der zwingenden Wirkung der Tarifbindung Wege für individualrechtliche Lösungen offenstehen. Die Änderungs- bzw. Teilkündigung geht einer Totalkündigung vor, die auch nur dann zulässig ist, wenn die vorherigen erforderlichen Verhandlungen erfolglos geblieben sind. Der gekündigte Tarifvertrag wirkt gern. § 4 V TVG nach. Das geltende Recht liefert also neben den individualrechtliehen Abweichungen im Rahmen des Günstigkeitsprinzips mit der außerordentlichen Kündigung eine weitere Möglichkeit, auf wirtschaftliche Krisen zu reagieren. Von großem Nachteil sind jedoch die sich in der Regel anschließenden langwierigen Rechtsstreitigkeiten mit den Gewerkschaften und die daraus resultierende RechtsunsicherheiL Auch das sich an die außerordentliche Kündigung anschließende Streikrecht der Gewerkschaften bzw. das kollektive Zurückbehaltungsrecht der Arbeitnehmer läßt die außerordentliche Kündigung nicht als optimales Flexibilisierungsinstrumentarium erscheinen, auch wenn die Arbeitgeberseite dagegen durch Antrag einer einstweiligen Verfügung vorgehen kann. Zu bedenken ist auch, daß es bei überzeugender Darstellung der tatsächlichen Unternehmenssituation durch Betriebsrat und Unternehmensleitung den Gewerkschaften schwer fallen wird, die betroffenen Arbeitnehmer zur Bestreikung ihres gefährdeten Unternehmens aufzurufen. Auch die Ausübung ihres Zurückbehaltungsrechtes werden sich die Arbeitnehmer in diesem Fall gut überlegen. Eine wichtige Bedeutung kommt der außerordentlichen Kündigung m. E. in psychologischer Hinsicht zu. Indem man das Recht zur außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen anerkennt und ihre rechtliche Handhabung durch zunehmende Konkretisierung ihrer Voraussetzungen erleichtert, werden es sich die Beteiligten in Zukunft gut überlegen, ob sie durch übersteigerte Forderungen einen Tarifabschluß provozieren, der die andere Seite unzumutbar belastet und sie deshalb zur außerordentlichen Kündigung berechtigt.

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