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German Pages 385 [390] Year 1972
WOLFGANG GRAF VITZTHUM
Der Rechtsstatus des Meeresbodens
Schriften zum Völkerrecht Band 22
Der Rechtsstatus des Meeresbodens Völkerrechtliche Probleme der Zuordnung und Nutzung des Grundes und Untergrundes der Hohen See au.6erhalb des Festlandsockels
Von
Dr. Wolfgang Graf Vitzthum LL. M. (Columbia)
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1972 bel Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Prlnted In Germany
© 1972 Duncker
IBN 3 428 02715 9
Vorwort Mein Interesse an dem Meeresbodenthema wurde durch eine Klausur geweckt, die Professor Wolfgang Friedmann an der New Yorker Columbia Universität im Frühjahr 1968 stellte - kurz nachdem der maltesische UN-Botschafter Pardo in den Vereinten Nationen die "Internationalisierung" und Demilitarisierung des Meeresbodens gefordert hatte. In den Jahren 1969170 konnte ich dann mehrere Monate am Center for the Study of Democratic Institutions in Santa Barbara, USA, Elisabeth Mann Borgese bei der Entwicklung ihres seerechtspolitischen Projektes "Pacem in Maribus" zur Hand gehen. Die gleichzeitig vor allem im UN-Meeresbodenausschuß vorangetriebenen Bemühungen um eine Reform des Meeresvölkerrechts sollen 1973 in der Dritten UN-Seerechtskonferenz kulminieren. Meine Arbeit versucht, dazu einen Beitrag zu leisten. Die Untersuchung wurde im Dezember 1971 abgeschlossen. Spätere Entwicklungen konnten nur noch vereinzelt in die Anmerkungen eingearbeitet werden, nicht mehr jedoch die Frankfurter Dissertation (Rigorosum Juli 1971) von K. Zeiher über den "Begriff des Festlandsockels". Auf ein Sachregister und ein gesondertes Verzeichnis der ausgewerteten Dokumente wurde angesichts der detaillierten Gliederung und meiner Pacem in Maribus-Bibliographie (Malta 1971, S. 15 ff., 38 ff.) verzichtet. Dank schulde ich neben Elisabeth Mann Borgese und dem Center der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die auch mein Studium in den USA ermöglicht hat. Die Freiburger Wissenschaftliche Gesellschaft und die Preußag AG haben die Drucklegung der Arbeit großzügig gefördert. Mein besonderer Dank gilt Professor Werner von Simson. Der langjährigen Assistentenzeit bei ihm und seiner steten Förderung verdanke ich, daß ich das Meeresbodenthema bearbeiten und 1971 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. als Dissertation vorlegen konnte. Ferner möchte ich Professor J. H. Kaiser Dank sagen für sein Interesse an meiner Untersuchung, insbesondere an ihrem Aspekt "Recht und Technologie". Freiburg, im Juni 1972
Wolfgang Graf Vitzthum
Inhalt Einführung
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Der Vorstoß zum Meeresboden - Die völkerrechtliche Fragestellung Terminologie - Meeresboden-Sachverhalt und "Meeresbodenrecht" Der Gang der Untersuchung Teil I
Der naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Sachverhalt Erstes Kapitel: Der Meeresboden ...................................... 1. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts
43 43 43
II. Die Großformen des Meeresbodens ........... ... ................ 54 Der Kontinentalrand - Die Tiefseeebene und die Mittelozeanischen Rücken III. Die Meeresbodenschätze
73
IV. Ergebnis: Formen, Rohstoffprovinzen und "natürliche Grenzen" des Meeresbodens .... . ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 87 Zweites Kapitel: Die Nutzung des Meeresbodens . . . . . .. .. . . . . .. . . . . ... ..
97
1. Der Meeresbergbau ..............................................
97
1. Die Bedeutung des rohstoffwirtschaftlichen Sachverhalts ......
97
2. Die Erdölgewinnung aus dem Kontinentalabhang . . . . . . . . . . . . .. 103 3. Der Manganknollenbergbau auf dem Tiefseeboden ............ 112 4. Ergebnis: Die Regelungsbedürftigkeit und -fähigkeit des rohstoffwirtschaftlichen Sachverhalts .. . .. ..... ........ ..... ..... 120 11. Die nicht-rohstoffwirtschaftliche Nutzung des Meeresbodens . ... .. 122 1. Die militärische Nutzung des Meeresbodens .................. 122
2. Die sonstige Nutzung des Meeresbodens ...................... 133 Schadstoffbeseitigung - Intensivforschung - Nachrichtenübermittlung - Ergebnis
Inhalt
8
Teil 11
Der Rechtsstatus des Meeresbodens
156
Erstes Kapitel: Der gegenwärtige Rechtsstatus des Meeresbodens
156
I. Grundlagen: Meereszonen und küstenstaatliche Hoheitsrechte .... 156
"Meeresboden" und Küstenmeer sockel
"Meeresboden" und Festland-
11. Die gebietsrechtliche lex lata .......... . ....... . ............... .. 174 1. Die völkerrechtliche Existenz und Ausdehnung des "Meeresbodens" ........................... ... ........................ 174
Die völkerrechtliche Existenz des "Meeresbodens" - Die Außengrenze des Festlandsockels nach Völkervertragsrecht - Die Außengrenze des Festlandsockels nach allgemeinem Völkerrecht 2. Der Meeresboden als zwingend hoheitsfreies Gebiet .......... 233 III. Die nutzungsrechtliche lex lata ...................... ... ... .. .. . . 247 1. Zulässigkeit, Schutz und Schranken des Meeresbergbaus ...... 247 Meeresbergbau und Freiheit der Meere - Meeresbergbau, Heritage-Grundsatz und Moratoriumresolution - Schutz und Schranken des Meeresbergbaus
2. Die völkerrechtliche Ordnung der sonstigen Nutzung des Meeresbodens ................................................ 283 Militärische Nutzung - Nachrichtenübermittlung forschung - Schadstoffbeseitigung
Intensiv-
IV. Ergebnis: Die Reformbedürftigkeit des gegenwärtigen "Meeresbodenrechts" .................................................... 308 Zweites Kapitel: Der künftige Rechtsstatus des Meeresbodens ... . ...... 311 I. Vorschläge zum materiellen Recht des künftigen Meeresboden-
regimes
........................................................ 311
1. Die Außengrenze des Festlandsockels und die Schaffung einer übergangszone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 316
2. Das spezielle Meeresbergrecht und die Verteilungsregelungen des Regimes ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 324 II. Vorschläge zum organisatorischen Aufbau des künftigen Meeresbodenregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 340
Ausblick .................. . ........................................... 347
Inhalt Anhang
9
358
1. UN-Meeresboden-Grundsatzerklärung ............................ 358
2. UN-Seerechtskonferenz-Erklärung ................................ 360 3. Pecora-Erklärung ................................................ 363 4. Empfehlungen der deutschen Industrie zu einer völkerrechtlichen Regelung des Meeresbergbaus .................................... 364
Literatur ........... .. .. . ..................................... . ........ 373
Abkürzungen A/A/AC. 138/ . . .
UN-Symbol für UN-Vollversammlungs-Dokument UN-Symbol für Unterlagen und Sitzungsberichte des UN -Meeresbodenausschusses a. A. andere Ansicht ABA American Bar Association Abs. Absatz AJIL American Journal of International Law AöR Archiv des öffentlichen Rechts API American Petroleum Institute A/RES oder UN Gen. UN-Vollversammlungsresolution Ass. Res. ARSP Archiv für Rechts- und Sozial philosophie Art. Artikel AVR Archiv des Völkerrechts ASIL American Society of International Law Bad. Zeitg. Badische Zeitung Bd. Band Bundesgesetzblatt BGBL Billion(en) Bio. BRD Bundesrepublik Deutschland BRT Bruttoregistertonnen Buchst. Buchstabe BVerfGE Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BYIL British Yearbook of International Law CCD Conference of the Committee on Disarmament (UNAbrüstungsausschuß) CLP Current Legal Problems CMSER Commission on Marine Science, Engineering and Resources (USA) CNEXO Centre National pour l'Exploitation des Oceans (Frankreich) ders. derselbe Diss. Dissertation Doc. Dokument DRiZ Deutsche Richterzeitschrift Drs. Drucksache ECOSOC (UN -) Economic and Social Council EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
Abkürzungen FAO Festschr. F.A.Z. Gen. Ass. GG Hrsg. h.M. IAEA ICAO ICJ ICJ Reports ICLQ i. d. R.
IGH ILA ILC IMCO IOC
IRuD Int. Leg. Mat. JIR m
Mia. Mio. ms. MTS (Journal) m.w.N. NATO NE-Metall No.oderNr. NJW NPC N.Z.Z. OECD Off. Ree. o. J. OPEC Reeueil des Cours RGBl. Res.
11
(UN-)Food and Agrieultural Organization Festschrift Frankfurter Allgemeine Zeitung (UN-) General Assembly Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Herausgeber herrschende Meinung International Atomie Energy Ageney International Civil Aviation Organization International Court of Justiee International Court of Justice, Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders International and Comparative Law Quarterly in der Regel Internationaler Gerichtshof International Law Association (UN-) International Law Commission (UN-)Intergovernmental Maritime Consultative Organization Intergovernmental Oeeanographie Commission (der UNESCO) Internationales Recht und Diplomatie International Legal Materials Jahrbuch für Internationales Recht Meter Milliarde(n) Million (en) maschinengeschrieben (Journal of the) Marine Technology Society mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization Nichteisenmetall Nummer Neue Juristische Wochenschrift National Petroleum Council Neue Zürcher Zeitung Organization for Eeonomic Cooperation and Development (UN -) Official Records ohne Jahr Organization of Petroleum Exporting Countries Recueil des Cours de l'Academie de Droit International Reichsgesetzblatt (UN-) Resolution
12 S. Sen. sm StIGH SZ
t u.a. UdSSR UN oder UNO UN Doc.
UNESCO USA UNTS vol. VuRü WHO WIM WVB YBWA ZaöRV ZRP ZVR
Abkürzungen Seite(n) (US-) Senate Seemeile (1 sm = 1,852 km) Ständiger Internationaler Gerichtshof Süddeutsche Zeitung Tonnen unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations (Organization) Dokument veröffentlicht von den Vereinten Nationen (die Anfangsbuchstaben bedeuten: AI ... Vollversammlung; A/AC. 138/ ... Unterlagen und Sitzungsberichte des UN-Meeresbodenausschusses; A/CN. 4/ ... International Law Commission; A/CONF.13/. .. 1. Genfer Seerechtskonferenz [1958]; EI... Wirtschafts- und Sozialrat) Uni ted Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United States of America United Nations Treaty Se ries volume Verfassung und Recht in übersee (UN-)World Health Organization Wirtschaftsvereinigung Industrielle Meerestechnik Wirtschaftsvereinigung Bergbau Yearbook of World Affairs Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Völkerrecht
Einführung Der Vorstoß zum Meeresboden Die Faszination des Menschen durch den Raum ist ein Element der Geschichte. Im Kampf um bereits beherrschte Gebiete traf sich diese historische Grundkraft mit dem Willen zur Macht. Zusammen mit ihm und dem ebenso elementaren Verlangen nach Wissen und Wohlstand, Rohstoffen und Ruhm entwickelte der Raumimpuls stets dann eine besondere Dynamik, wenn es um unbekannte oder noch herrschaftsfreie Gebiete ging. Zeitpunkt und Intensität des Erforschens, Besitzergreifens, Nutzens, Begrenzens und rechtlichen Ordnens solcher seit alters her lockender Räume hingen im Einzelfall von zusätzlichen Faktoren ab. Unter ihnen waren in den letzten Jahrzehnten naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen - ihrerseits früher von Fortschrittsglauben getragen, heute von Wissenschafts-, Rüstungs- und Wirtschaftspolitik langfristig geplant - treibende, rechtliche Unsicherheiten oft retardierende Kräfte. Im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution wirken dabei in jüngster Zeit sicherheits- und rohstoffpolitische Gesichtspunkte besonders beschleunigend. Der während der letzten dreißig Jahre außerordentlich gestiegene Energie- und Metallverbrauch der Menschheit, der mit dem sich abzeichnenden starken Bevölkerungszuwachs und der angestrebten Industrialisierung in vielen Entwicklungsländern noch erheblich zunehmen dürfte, zwingt zum Aufsuchen und Ausbeuten immer entlegenerer Lagerstätten. Gleichzeitig erhalten im Zeitalter der globalen Bedrohung und Abschreckung bisher unzugängliche Räume und nahezu jede rohstoffwirtschaftliche und naturwissenschaftlich-technische Entwicklung militärische Bedeutung. Benutzt man Zeit und Raum als Bezugspunkte für dieses so unterschiedlich motivierte Vordringen des Menschen auf, über und unter der Erde, so handelte es sich jahrtausendelang um einen bloß horizontalen Vorstoß. Die Kontinente und ihre "weißen Flecke" wurden ebenso entdeckt, erforscht und verteilt wie die Meere und Weltozeane. Nach und neben der Erdoberfläche und der oberen Schicht der Meere wurden schließlich auch der Boden unter dem Ufersaum und die unteren Luftschichten genutzt. Die intensive Erschließung der Polargebiete, des
14
Einführung
Luftraumes und des flachen, küstennahen Schelfs 1 während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat diese horizontale Inbesitznahme der Erde abgeschlossen. Die Benutzung des Luftraumes hat mittlerweile ebenso ihren Pioniercharakter verloren wie die Erforschung der polaren Eiskappen und die Erdölgewinnung aus dem unterseeischen landnahen Sockel der Kontinente. Spätestens seit dem Chicagoer Luftfahrtsabkommen (1944), der Genfer Festlandsockelkonvention (1958) und dem Antarktisvertrag (1959) werfen diese Gebiete auch völkerrechtlich keine prinzipiellen Probleme mehr auf. Erst seit der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts stößt der Mensch in vertikaler Richtung durch diese Außenschicht der Erde hindurch. Das sich vor unseren Augen abspielende systematische Erschließen des Weltraumes und der Himmelskörper, der tiefen Schichten der Ozeane und des küstenfernen Meeresbodens, dieses Vordringen in Räume, die seit alters her gerade wegen ihrer Unerreichbarkeit die Phantasie der Menschheit beflügelt haben, erweitert unsere wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und strategischen Möglichkeiten buchstäblich um eine neue Dimension. Die damit rasch herandrängende Frage nach dem Rechtsstatus dieser vertikalen Dimension wurde zuerst für den extraterrestrischen Raum als Problem erkannt und in Ansätz'e n bereits beantwortet. Seit Abschluß der Intelsatabkommen (seit 1964) und des Weltrawnvertrages (1967) begegnen die nachrichtentechnische Nutzung des Alls, das immer weitere Vordringen von Weltraumfahrzeugen und -sonden und das Betreten des Mondes (zum erstenmal am 21. 7. 1969) keinen grundsätzlichen rechtlichen Schwierigkeiten. Anders steht es mit dem vorerst weniger spektakulären Vorstoß in umgekehrter Richtung: durch die Wasserhülle der Erde hindurch und über den flachen Boden der Schelfzone hinaus in die küstenfernen Tiefen der Ozeanbecken. Mit geowissenschaftlicher Fragest'ellung schon seit einem Jahrhundert nadelstichartig betrieben, wurde dieses Vordringen in den 60er Jahren durch die umfassende Rüstungs- und Ressourcenplanung der Großmächte erheblich beschleunigt. Heute markiert es vieUeicht die wichtigere Stoßrichtung des Raumzeitalters. Denn achtmal so groß wie die Mondoberfläche und reich an Naturschätzen birgt der zunehmend erreichbar und nutzbar werdende Meeresboden jenseits des Schelfsaumes die relativ nächsten und größten Raum- und Rohstoffreserven der Menschheit. Im Schnittpunkt vielfältiger Herrschafts- und Nutzungsansprüche enthält dieser Vorstoß zum landfernen Meeresboden zugleich Stoff für sich gefährlich zuspitzende internationale Interessengegensätze. 1 Als Schelf (Festlandsockel) bezeichnet man jenen Meeressaum, der die Kontinente von der Küste bis etwa zur 200-m-Tiefenlinie umgibt.
Der Vorstoß zum Meeresboden
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Damit wird auch dieser neue Raum rechtlich relevant. Seine herrschaftliche Zuordnung und die Regelung seiner intensiven Erschließung und Nutzung wird zu einer völkerrechtlichen Aufgabe ersten Ranges. Die Rechtswissenschaft ist hier zu Leistungen aufgefordert, die im Wettlauf mit dem technischen und politischen Handeln erbracht werden müssen. Versagt das Recht, so müßten die herandrängenden Fragen eine faktische, die sinnvolle rechtliche Entwicklung präkludierende Lösung finden 2 • Die mit dem Vorrücken an der wohl letzten Front menschlichen Entdeckerstrebens auf der Erde auftauchenden völkerrechtlichen Fragen werden im In- und Ausland von amtlichen und privaten Stellen seit 1966 diskutiert. Die Bemühungen, die einschlägigen Völkerrechtsregeln zu ermitteln und zu entfalten und Entscheidungen de lege ferenda vorzubereiten, sind nach den intensiven Erörterungen der letzten Jahre in ein entscheidendes Stadium getreten:
1968 wurde ein 42 Staaten umfassender permanenter UN-Meeresbode na usschuß eingerich tet3 ; -
1970 einigte sich die UN-Vollversammlung über die Grundsätze eines Meeresbodenregimes 4 ;
-
gleichzeitig erweiterte die UN-Vollversammlung den Meeresbodenausschuß auf 86 Mitglieder und beauftragte ihn mit intensiven Vorbereitungen für eine alle Fragen des Meeresvölkerrechts umfassende diplomatische Seerechtskonferenz; sie soll schon 1973 stattfinden und u. a. eine detaillierte und institutionell verfestigte Ordnung der Meeresbodennutzung vereinbaren5 ;
2 Vgl. Präsident Nixons Erklärung über die US-Meerespolitik vom 23.5. 1970, abgedruckt in AVR 15 (1971), S. 102 ff.: "The nations of the world are now facing decisions of momentous importance to man's use of the oceans for decades ahead. At issue is whether the oceans will be used rationally and equitably and for the benefit of mankind or whether they will become an arena of unrestrained exploitation and conflicting jurisdictional claims in which even the most advantaged states will be losers '" The stark fact is that the law of the sea is inadequate to meet the needs of modern technology and the concerns of the international community. If it is not modernized multilaterally, unilateral action and international conflict are invitable." 3 Vgl. Rauschning, Die Behandlung der Rechtsordnung für die Tiefsee im Rahmen der Vereinten Nationen, in: Kiel-Symposium, S. 146 ff. (152 ff.). 1967 war bereits ein ad hoc-Ausschuß eingesetzt worden (ebd., 149 ff.); Andrassy, International Law and the Resources of the Sea, 1970, S. 136 ff. 4 Die Grundsatzdeklaration 2749 (XXV) stammt vom 17. 12. 1970. Diese ohne Gegenstimme bei 14 Enthaltungen mit 100 Jastimmen angenommene 15-Punkte-Erklärung ist in Anh. 1 abgedruckt. Deutsche übersetzung (Deklaration der Vereinten Nationen über die für den Meeresboden und den Meeresuntergrund außerhalb der nationalen Hoheitsgrenzen gültigen Grundsätze) in: Europa-Archiv 26 (1971), S. D 119 ff. S UN Gen. Ass. Res. 2750 C (XXV), ebenfalls vom 17.12.1970. Sie wurde mit 108 Ja-, 7 Neinstimmen und 6 Enthaltungen angenommen. Sie ist in
16
Einführung 1971 unterzeichneten 62 Staaten ein übereinkommen über die Freihaltung des Unterseegebietes jenseits einer küstennahen 12-sm-Zone von Massenvernichtungswaffen6 •
Die völkerrechtliche Fragestellung Konkreter Anlaß der Rechtsstatusfrage ist die angedeutete unmittelbar bevorstehende und zum Teil schon einsetzende Nutzung des küstenfernen Meeresbodens. Die Themenfrage gewinnt deshalb schnell an Kontur, wenn man sich die Nutzungsprobleme, die wirtschaftlichen und politischen Chancen und Risiken vergegenwärtigt, um die es "dort unten" geht, und sie den Normen konfrontiert, über die das positive Recht für ihre Ordnung verfügt. Hinzukommen muß eine Erörterung der Frage, wieweit dieser Rechtsbestand den Bedürfnissen der Praxis genügt, sowie eine theoretische Bestandsaufnahme der Rechtsprobleme, welche aus Anlaß des Vorstoßes zum Meeresboden entstehen, der Lösung bedürfen und von den vorgefundenen Rechtsnormen nicht befriedigend geregelt werden. Vor einem derart erarbeiteten Hintergrund läßt sich dann würdigen, welchen Teil der Probleme die jüngsten rechtspolitischen Schritte erfassen und welcher Teil noch offen bleibt7 • Anh. 2 wiedergegeben, deutsche übersetzung in: Vereinte Nationen 5 (1971), S. 147 f. Die Konferenz ist provisorisch auf 1973 festgesetzt worden, kann jedoch verschoben werden, wenn die Generalversammlung 1972 die Vorbereitungen nicht für ausreichend hält. Der dem Resolutionsteil C und den Aund B-Teilen dieser Res. 2750 (XXV) gemeinsame Titel lautet: Reservation exclusively for peaceful purposes of the sea-bed and the ocean floor, and the subsoH thereof, underlying the high seas beyond the limits of present national jurisdiction and the use of their resources in the interests of mankind, and convening of a conference on the law of the sea. - Die Neinstimmen gegen die Konferenzresolution und die Stimmenthaltungen bei der Meeresboden-Grundsatzerklärung kamen vor allem von den sozialistischen Staaten. So erklärte die UdSSR am Tag vor der entscheidenden Abstimmung im UN-Meeresbodenausschuß: "We do not believe it to be the task of the conference to break up the international legal order that has matured through long historical development and forms the basis for the use of the world's oceans by States. Attempts to revise that regime, which was embodied in the Geneva Conventions and to replace it with some new regimes, could seriously damage the development of international co-operation in the use of the world's oceans" (A/C. I/PV. 1800, S. 54 f.). - Am 17.3.1971 einigte sich der erweiterte UN-Meeresbodenausschuß über sein Vorgehen im Hinblick auf die 3. Seerechtskonferenz (A/AC. I38/SR. 45/Corr. 1). Die Fragen der Errichtung eines neuen Meeresboden- und Meeresbergbauregimes wurden dem 1. Unterausschuß, die Neufestsetzung der Festlandsockelgrenze dagegen im wesentlichen dem Hauptausschuß übertragen. 6 Treaty on the Prohibiton of the Emplacement of Nuclear Weapons and Other Weapons of Mass Destruction on the Seabed and the Ocean Floor and in the SubsoH Thereof, am 7.12.1970 von der UN-Völkerversammlung "commended" in Res. 2660 (XXV); von der BRD ratifiziert am 12.5.1972. 7 Eine derartige einführende theoretische Erörterung ist nicht nur unerläßlich zur Erfassung des neuen, technologisch bedingten und in schnellster
Die völkerrechtliche Fragestellung
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Im einzelnen handelt es sich dabei - wie im Untertitel der Arbeit angedeutet - um einen gebiets- und einen nutzungsrechtlichen Problemkreis, nämlich um -
den Status des tieferen, küstenferneren Meeresbodens in der Gebietslehre des Völkerrechts (die Zuordnung des Meeresbodens) und um
-
den Ordnungsrahmen für die Erforschung, Nutzung, Benutzung und Ausbeutung dieses riesigen Unterwassergebietes, insbesondere für die Gewinnung seiner Naturschätze (die völkerrechtlichen Fragen der Nutzung des Meeresbodens).
Die völkerrechtliche GebietsZehre untersucht den Raum als Grundlage staatlicher Herrschaftsentfaltung. Es geht ihr um die Frage, wieweit bestimmte Räume einzelnen Staaten in der Weise zugeordnet sind, daß diese dort Territorialrechte haben, also über sie in bestimmter Weise verfügen dürfen (Verdross - Verosta - Zemanek, Völkerrecht, 5. Aufl., 1964, S. 265 ff.). Die gebietsrechtliche Fragestellung schließt auch weniger intensive Zuordnungsformen als die umfassende ausschließliche und vollständige Zuordnung (Gebietshoheit) ein. Sie befaßt sich auch - und dabei tauchen die interessantesten Probleme auf - mit solchen absoluten (also gegenüber allen Völkerrechtsubjekten wirksamen) Rechten, die sich nur auf einzelne Tätigkeiten in einem Gebiet erstrecken (= beschränkte Gebietsrechte), also mit der Zuordnung eines Gebietes zu einem Staat nur zu bestimmten begrenzten Zwecken. - Angesichts des rohstoffwirtschaftlichen Schwerpunktes des Vorstoßes zum Meeresboden wird hier unter Nutzungsordnung verstanden die Gesamtheit der für die Entscheidung von Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Mineralnutzern oder zwischen Mineralnutzern einerseits und den Nutzern anderer Nutzungsarten andererseits erforderlichen völkerrechtlichen Regeln (Böhmen, Natur und Umfang der der Bundesrepublik Deutschland am Kontinentalschelf zustehenden Rechte, IRuD 1967, S. 101 ff., 103).
Gebietsrechtlich gilt es zunächst, den Meeresboden de lege lata et ferenda "koordinatenmäßig" zu lokalisieren. In horizontaler Hinsicht ist er insbesondere gegenüber dem Sonderrechtsgebiet "Festlandsockel", in vertikaler Hinsicht gegenüber der über ihm stehenden Wassersäule der Hohen See abzugrenzen. Auf dem Hintergrund dieser Ortsbestimmung geht es um die herrschaftsrechtliche Zuordnung des derart lokalisierten Teils des Meeresraumes, vor allem darum, ob er eine res nullius, eine res communis oder eine res extra commercium ist. Dabei fragt es sich auch, welche Schlußfolgerungen aus der jeweiligen hoheitsrechtlichen Charakterisierung für die Veränderbarkeit der Gebietszugehörigkeit und für die Modalitäten der Erforschung und NutBewegung befindlichen Sachgebietes. Erst eine solche Darstellung der Probleme, die sich auf Grund neuerer technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen ergeben haben und der rechtswissenschaftlichen Lösung bedurften und bedürfen, gibt darüber hinaus erste Hinweise auf die methodischen Möglichkeiten, die sich aus der Regelung eines Einzelgebietes für andere, ähnlich gelagerte Problemstellungen ergeben könnten. 2 Vltzthum
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Einführung
zung zu ziehen sind. Denn etwa die Regelungen über Aufsuchung und Abbau von marinen Rohstoffen sind nach gegenwärtigem Recht aus dem Status der jeweiligen benutzten Meereszone (Küstenmeer, Festlandsockel, "Meeresboden") abzuleiten. Gebietsrechtliche Schwerpunkte sind die Lage der Außengrenze des Festlandsockels und die Frage, ob der mit seinen Naturschätzen jüngst zum "common heritage of mankind" erklärte landferne Meeresboden8 den gleichen Status besitzt wie die Wassersäule über ihm, ob er also ein Teil der Hohen See ist. In Fragefonn gefaßt geht es gebietsrechtlich um Folgendes: - Welches ist der räumliche Umfang des hier interessierenden tieferen und küstenferneren Meeresbodens? Wo liegen die Grenzen des Teils des Meeresraumes bzw. wo sollen sie in Zukunft gezogen werden, der sich in vertikaler Hinsicht vom Wasserkörper der Hohen See und in horizontaler Hinsicht von den uferstaatlich kontrollierten Unterwasserzonen unterscheidet? - Wem gehört der Meeresboden? Steht er bereits unter einzelstaatlicher (z. B. uferstaatlicher) Hoheit? Läßt er sich "nationalisieren", z. B. durch Okkupation oder durch seewärtiges Vorschieben der Außengrenze des Festlandsockels? - Soll der Meeresboden bei einer Neuregelung internationalisiert oder zu UN-Territorium erklärt werden? - Hat der Untergrund den gleichen Status wie der Grund (das Meeresbett), besitzt der Meeresboden (Grund und Untergrund) also einen vertikal einheitlichen Rechtsstatus? - Was bedeutet die gebietsrechtliche Ordnung des Meeresbodens für Status und Ausbeutung seiner Naturschätze, was für die anderen Möglichkeiten, den Meeresboden zu erforschen und zu nutzen? Nutzungsrechtlich interessieren vor allem die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen Staaten, internationale Organisationen und natürliche und juristische Personen den Meeresboden erforschen, nutzen und ausbeuten dürfen. Aus der Sicht potentieller Nutzer fragt es sich dabei zunächst, ob "dort unten" ein nutzungsrechtliches Vakuum, ein Nutzungsverbot, beschränkte oder uneingeschränkte Nutzungsfreiheit herrschen. Falls eine Nutzung grundsätzlich zulässig ist, sind Inhalt und Schranken dieser "Meeresbodenfreiheit" zu klären. Außerdem ist zu prüfen, ob die bestehende Rechtslage bei etwaigen Interessenund Nutzungskonflikten über die benötigten ausgleichenden Regeln 8 Die UN Gen. Ass. Res. 2749 (XXV), s. Anh. 1, enthält als moralischpolitisch-juristisches Kernprinzip für ein internationales Meeresbodenregime: "The sea-bed and ocean floor, and the subsoil thereof, beyond the limits of national jurisdiction ... as weIl as the resources of the area, are the common heritage of mankind." Dieses neue "Heritage-Prinzip" spielt in der rechtspolitischen Diskussion eine wichtige Rolle. Sein juristischer Gehalt und seine rechtspolitischen Implikationen sind zwar umstritten, seine motivierende Kraft dürfte aber weiter zunehmen und sich auch auf die Lösung anderer Ordnungsaufgaben im Meeresraum auswirken, und zwar selbst dann, wenn seine vollständige "Verrechtlichung" nicht gelingen sollte.
Die völkerrechtliche Fragestellung
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verfügt oder ob sich Lücken nachweisen lassen. Die Kernfrage lautet: Führt die geltende Ordnung zu einer weitgehend ungehemmten und ungeschützten Aktivität am Meeresboden? Bejahendenfalls sind Neuregelungen erforderlich, falls man will, daß die neuen technischen Möglichkeiten kontrolliert ausgenutzt werden können. Dabei träte das Recht dann als Bedingung und Schranke des technischen Fortschritts auf. Im Mittelpunkt der Nutzungsfrage stehen Probleme des Meeresbergbaus, insbesondere potentielle Auseinandersetzungen zwischen Rohstoffgewinnungsfirmen um die gleichen Lagerstätten. Da bei der Erdölgewinnung erfahrungsgemäß das beste Abbauergebnis dann erzielt wird, wenn eine bekannt gewordene Lagerstätte - so groß sie im Einzelfall auch sein mag als Einheit erschlossen und abgebaut wird, kommt es für eine möglichst ergiebige Ausbeutung darauf an, daß ein einziger Interessent - z. B. der Finder der Lagerstätte oder ein Kreis kooperierender Nutzer - eine ausschließliche Gewinnungsberechtigung für dieses Vorkommen erhält. Andernfalls könnte es zu goldrauschartigen Situationen kommen, in denen z. B. wegen zu schnellen Druckabfalls innerhalb der Lagerstätte keine vollständige und rentable Aufschließung des Vorkommens möglich wäre. Dann würden nicht nur die Schürfenden um die Früchte ihrer Investitionen gebracht, sondern auch wichtige Rohstoffreserven vertan. In Frageform gefaßt geht es nutzungsrechtlich demnach um Folgendes: Wer darf den Meeresboden erforschen und nutzen, wer seine Naturschätze ausbeuten? Was sind die Modalitäten der Nutzung? Besteht ein Recht auf freien Zugang, freien Wettbewerb und freie Betätigung, bedarf man einer Nutzungserlaubnis, oder ist das Nutzungsrecht gar zugunsten bestimmter Staaten oder Behörden monopolisiert? Genießen einzelne Nutzungsarten Vorrang? Sind bestimmte Betätigungen - z. B. die Stationierung von Nuklearwaffen - verboten? - Ist der Finder einer Lagerstätte gegen Konkurrenten geschützt? Besitzt der erfolgreiche Erstnutzer einen durchsetzbaren Anspruch auf ausschließliche Ausbeutung "seines" Feldes ("nutzungssingularer Konflikt")?
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Darf man sich die erbeuteten Naturschätze aneignen, darf man sie frei abtransportieren, kann man über sie nach Belieben verfügen? Muß man Abgaben zahlen, bejahendenfalls an wen und warum? Wofür sollen Abgaben de lege ferenda verwendet werden?
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Wie läßt sich der Interessengegensatz zwischen Nutzern des Meeresbodens und solchen des restlichen Meeresraumes ausgleichen, wie der zwischen den verschiedenartigen, miteinander konkurrierenden Meeresbodennutzern, z. B. der zwischen Meeresforschung und Meeresbergbau ("nutzungspluraler Konflikt")? Besteht eine internationale Schadenersatzregelung? Wer ist für Schäden verantwortlich, die bei der Erforschung und Nutzung des Meeresbodens auftreten? Wie sind Haftung, Rechtswahrung und Streitschlichtung geregelt?
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Der enge Zusammenhang zwischen den gebiets- und nutzungsrechtlichen Teilen der Rechtsstatusfrage macht Besonderheit und Reiz der völkerrechtlichen Problematik aus. De lege lata besteht ein sachlicher Zusammenhang bereits insofern, als die nutzungsrechtlichen Regelun-
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Einführung
gen im Meeresraum vor allem aus dem Gebietsstatus der jeweiligen Meeres- und Meeresbodenzone abgeleitet werden. Mit der Klärung des "territorialen" Regimes wird also zugleich festgestellt, unter wessen Hoheit und unter welchem Reglement die Nutzung dieses Teils des Meeresraumes steht bzw. - z. B. durch Okkupation, falls eine solche zulässig und möglich ist - stehen könnte. Aus der Antwort auf die gebietsrechtliche Frage folgt somit auch, welchem Rechtskreis - dem Völker- oder Landesrecht - die Nutzungsordnung für den Meeresboden zu entnehmen ist, und ob sich diese Situation in Zukunft durch "Nationalisierung" des Gebietes ändern läßt. Auf den ersten Blick ist ersichtlich, daß es sich hierbei im wesentlichen um völkerrechtliche Probleme handelt, und zwar um solche, die unmittelbar oder mittelbar vom Meeresvölkerrecht erfaßt werden. Aber die Nutzungsfrage beeinflußt auch ihrerseits das "territoriale" Problem. Denn dieses gewinnt Aktualität und praktisches Gewicht vor allem aus den Nutzungsvorhaben und -problemen "dort unten". Die Frage etwa: Wem gehört der Mittelatlantische Rücken? besitzt neben ihrem gebietstheoretischen Interesse einen konkreten Hintergrund. Sie ist sowohl für die militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Instanzen der Länder wichtig, die auf diesem riesigen Tiefseegebirge in der Mitte zwischen Europa und Amerika z. B. die Errichtung von Unterwasserstationen planen, als auch für die Staaten, die sich mangels technischer Fähigkeiten an derartigen Projekten nicht beteiligen können. Letzteren könnte daran liegen, derartige Installationen zu verhindern oder zumindest ein Informations-, Mitbenutzungs- oder "Besteuerungsrecht" zu erhalten. Die technisch fortgeschrittenen Staaten könnten dagegen daran interessiert sein, sich durch Okkupation ein ausschließliches Nutzungsrecht an diesem Teil des Meeresbodens zu sichern - eine Möglichkeit, die ausgeschlossen wäre, wenn der Meeresboden wie die Wassersäule der Hohen See zwingend gebietshoheitsfrei wäre. Ist der Nutzungssachverhalt darüber hinaus regelungsbedürftig und regelungsfähig, so läge der Versuch nahe, die geplante Installation völkerrechtlich durch Okkupation der benötigten Teile dieses unterseeischen Gebirgsmassivs zu schützen. Das Verlangen nach schützenden (und i. d. R. nach ausschließenden) Nutzungsregeln wäre dann die treibende Kraft hinter dem Versuch einer gebietsrechtlichen Statusänderung. Schon die Truman-Proklamation vom 28.9.1945 (Pres. Proc. No. 2667, 10 Fed. Reg. 12303), die mit der "Nationalisierung" des US-FestIandsock:els den Beginn der Meeresbodenfrage markierte, rechtfertigte dieses Vorgehen mit der Regelungsbedürftigkeit des Nutzungssachverhalts: "recognized jurisdiction over these resources is required in the interest of their conservation and prudent utilization ... " Damit war aber nur festgestellt, daß die Nutzung rechtsschutz- und regelungsbedürftig ist, nicht schon, wer die Regelungs- und Nutzungskompetenz besitzen, noch wie eine ausgebildete Nutzungsordnung aussehen sollte. Auch engagierte Gegner des uferstaatlichen FestIandsock:elmonopols bestritten
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nie, daß die früher "dort unten" bestehende rudimentäre Nutzungsordnung zur Absicherung des Meeresbergbaus nicht ausreichte. So verlangte selbst Böhmert (Meeresfreiheit und Schelfproklamation, JIR V [1955], S. 1 ff. und S. 177 ff., VI [1956], S. 7 ff. [hier: V, S. 2-5]) drastische rechtspolitische Nutzungsvereinbarungen, ja die Entwicklung eines umfassenden "maritimen Montanrechts" . Angesichts der Tatsache, daß auf absehbare Zeit die Nutzung des landfernen Meeresbodens weniger intensiv sein wird als jene Festlandsockelnutzung, auf die sich der damalige US-Präsident Truman und der Kieler SeerechtIer Böhmert in den 40er und 50er Jahren bezogen, kann von der Rechtsschutzbedürftigkeit in Küstennähe nicht schon ohne weiteres auf die der uns interessierenden küstenferneren Meeresbodennutzung geschlossen werden. Vielmehr bedarf es dazu einer besonderen, auf die speziellen Fakten des Nicht-Festlandsockels und seine Nutzungsprobleme abstellenden Untersuchung.
Terminologie Im Rahmen dieser völkerrechtlichen Fragestellung bezeichnet der Begriff "Meeresboden" als juristische Kurzformel den Teil des Meeresraumes D, der den Grund und Untergrund der Hohen See außerhalb des Festlandsockels umfaßt. Synonyme Ausdrücke sind Meeresboden und -untergrund in Gewässern außerhalb der Grenzen nationaler Hoheit10 , deep ocean floor beyond the continental shelfl l , Tiefsee- und Ozeanboden12 , the ocean bed and its subsoil13 , deep ocean14 , the deep seas (that is, the high seas beyond the outer limits of the continental shelf)15. In horizontaler Hinsicht bezeichnet "Meeresboden" zunächst sowohl den Boden der drei Ozeane (Atlantik, Pazifik, Indik), als auch den der 9 Den übergeordneten Begrüf "Meeresraum" bezeichnet E. D. Brown, The Legal Regime of Hydrospace, 1971, S. XIX als "hydrospace" und definiert ihn als "that part of the globe which extends vertically downwards from the air/sea interface to inc1ude the bed and subsoil of the seas and horizontally from land outwards to inc1ude the deep oceans." 10 Kehden, Die Vereinten Nationen und die Nutzung des Bodens und Untergrundes des Hohen Meeres außerhalb der Grenzen nationaler Hoheitsgewalt, VuRü 2 (1969), S. 131 ff. (131). Ähnlich Rauschning, Die Behandlung der Rechtsordnung für die Tiefsee im Rahmen der Vereinten Nationen, in: KielSymposium, S. 146 ff., wo er von Meeresgrund und -untergrund "unter der hohen See jenseits der gegenwärtigen Begrenzung der nationalen Hoheitsgewalt (im folgenden: freier Meeresboden)" spricht (S. 148). 11 Oda, International Law of the Resources of the Sea, in: Recueil II (1969), S. 355 ff. (366). 12 Krüger-Sprengel, Die Vereinten Nationen und die Nutzung des Meeresbodens für militärische Zwecke, Wehrkunde 12 (1969), S. 622 f. (624 Anm. 18). 13 International Law Association, Buenos Aires Conference (1968), DeepSea Mining, Report of the Committee. 14 E. D. Brown, The Present Regime of the Exploration and Exploitation of Sea-Bed Resources in International Law and in National Legislation: An Evaluation, in: Rom-Symposium 1970, S. 241 ff. (241). 15 Commission on Marine Science, Engineering and Resources, Report, Our Nation and the Sea: A Plan for National Action, 1969, S. 147.
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zahlreichen (nicht-ozeanischen) Neben-, Mittel- und Randmeere, umfaßt also "seabed and ocean floor". Dieses Begriffspaar spiegelt u. a. die Einteilung der Erde in zwei "Größträume" wider, in die Kontinentalblöcke mit den ihnen eingefügten Meeren einerseits und in die zwischen den Kontinentalmassen gelegenen Ozeane andererseits. Soweit unmittelbar aus diesem natürlichen Unterschied Rechtsfolgen abgeleitet werden sollen, handelt es sich um später zu behandelnde Fragen der Außengrenze des Festlandsockels. Hier ist nur darauf hinzuweisen, daß im folgenden "Meer" als Oberbegriff, "Ozeane" und sonstige Meere als seine Unterbegriffe verwandt werden. Dadurch läßt sich für die Zwecke dieser Arbeit das verwirrende Begriffspaar "sea-bed and ocean floor"16 durch den Terminus "Meeresboden" bzw. "Unterseegebiet" ersetzen. In horizontaler Hinsicht läßt sich der hier interessierende Meeresboden stichwortartig weiterhin dadurch lokalisieren, daß es bei ihm nur um das seewärts von Küstengewässer und Festlandsockel gelegene Unterwassergebiet geht, also um das Gebiet, das nicht bereits umfassend oder für bestimmte Zwecke uferstaatlicher Kontrolle unterstellt ist. Versucht man diesen "Meeresboden" genauer zu erfassen, so bezieht er sich in vertikaler Hinsicht sowohl auf das Meeresbett (den Meeresgrund), als auch auf dessen Untergrund17 . Wie das Staatsgebiet drei16 Der Terminus "ocean floor" stellt in der gegenwärtigen politischen Meeresbodendiskussion entgegen Menzel und Schott, Diskussionsbeiträge, in: Kiel-Symposium, S. 78 keinen Oberbegriff gegenüber "sea-bed" und "subsoil" dar. Vielmehr geht es bei der Verwendung des Begriffspaares "sea-bed and ocean floor" um die Frage, ob der Grund und Untergrund der Rand-, Neben- und Mittelmeere sich von dem der zwischen den Kontinenten gelegenen Welt-Ozeane unterscheidet, ob z. B. der Boden jener Meere über die Festlandsockeldefinition leichter von den Uferstaaten "nationalisiert" werden kann als der Grund und Untergrund der Ozeane (die Rand- und Nebenmeere sind im geographischen Sinne von den Ozeanen durch Inseln oder Schwellen teilweise abgeschlossen [z. B. die Nordsee], die Mittelmeere sind nahezu vollständig von Landrnassen umgeben). Die umständliche Terminologie etwa in den UN-Dokumenten ("seabed and ocean floor") ergibt sich demnach aus dem Wunsch, von vornherein klarzustellen, daß es nicht nur um den Status der Gebiete unter dem Atlantik, Pazifik und Indik geht. 17 Der vom Kiel-Symposium im Untertitel verwandte Begriff "Meeresgrund" eignet sich kaum als Oberbegriff für beide Bereiche (Bett [Grund] und Untergrund), da er dies bisher weder im allgemeinen Sprachgebrauch, noch in der Facherörterung leistete. So spricht etwa Hoog, Die Genfer Seerechtskonferenzen von 1958 und 1960, Dokumente, Bd. XXXVI, 1961 - wie die vorliegende Arbeit - von "Meeresgrund", wenn er das Meeresbett, also die untere Begrenzung des Wasserkörpers meint. So auch Menzel, Diskussionsbeitrag, in: Kiel-Symposium, S. 78: "Man unterscheidet bisher das SeaBed - das ist das, was wir den Meeresgrund nennen - und den Subsoil das, was wir den Meeresuntergrund nennen." Ebenso schon Giese, Zur Rechtslage in staatlosem Landgebiet, AöR 68 (1938), S. 310 ff. (358). Im folgenden wird deshalb der Begriff "Meeresboden" als Oberbegriff für Meeresgrund und -untergrund verwandt. - Im Englischen lauten die entsprechenden Begriffe "seabed", "sea bottom", "ocean floor" (= Meeresgrund) bzw. "the subsoil thereof" (= Untergrund, vgl. schon U. N. Gen. Ass. Res. 2340 [XII]).
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dimensional und zum Erdinnern hin offen, rückt die untere Grenze des Meeresbodens mit dem technischen Fortschritt potentiell bis zum Erdmittelpunkt vor. Problematischer ist seine obere Grenzfläche. Die Vorkommen im Meerwasser gehören nicht mehr zum Meeresboden, die freiliegenden Lagerstätten auf dem Meeresbett dagegen zweifellos 18 • Auch der stark wasserhaltige Erzschlamm in tiefen Wannen im Meeresboden (Thermallaugensedimente) ist ihm noch zuzuordnen, da er eindeutig von den ihn überlagernden Schichten (hochkonzentrierte Salzsolen) und von der darüber stehenden Wassersäule getrennt werden kann. Anderer Ansicht ist wohl Kausch (Technische Möglichkeiten der Gewinnung von Mineralien aus dem Meer, Glückauf 106 [1970], S. 6 f.), der diesen Erzschlamm als "Mineralkonzentration im Meerwasser" klassifiziert und offenbar dem Regime der Wassersäule unterstellen will. Es handelt sich aber um Vorkommen, die - anders, als es etwa bei den Manganknollen der Fall ist wohl nicht aus dem Meerwasser, sondern aus dem festen Untergrund stammen. Diese offenbar bis zu 100 m mächtige "Schlammschicht" steht deshalb nach ihrer Herkunft und natürlichen Beschaffenheit dem festen Erdreich näher als dem flüssigen Wasserkörper. Dies gilt erst recht bei wirtschaftlicher und technischer Betrachtungsweise. Denn die Erzschlammförderung wird weder ohne nachhaltige Auswirkung auf den Meeresboden möglich sein, noch wird sie sich technisch entscheidend von der Gewinnung anderer typischer Bodenresourcen - z. B. der Manganknollen ..,-- unterscheiden (für beide Vorkommen wird u. a. eine hydraulische Förderung mit Saugkopf und Bypaßpumpen erwogen). Für eine Klassifizierung dieser Thermallaugensedimente als Bodenvorkommen spricht auch, daß das Festlandsockelregime sogar auf weitaus "losere" Vorkommen erstreckt wurde, nämlich auf am Meeresboden "seßhafte" Lebewesen (vgl. Art. 2 Abs. 4 Festlandsockelkonvention) 19. Der Versuch liegt nahe, für die blassen bzw. umständlichen Begriffe "Meeresboden" bzw. "Grund und Untergrund "einen plastischen und präziseren Spezialterminus zu entwickeln. Der einzige bisher als 18 Die Trennung von Boden und Wassersäule bereitet allenfalls im Flachwassergebiet Schwierigkeiten. Vgl. in meeresbiologischer Hinsicht Hempel, Diskussionsbeitrag, in: Kiel-Symposium, S. 37 f.: "Sie können unter biologischem Aspekt keine Trennung zwischen Boden und freiem Wasser im Bereich des Festlandsockels machen ... Festlandsockel und Tiefseegebiet dagegen sind zwei sehr verschiedene Dinge. Während im Bereich des Festlandsockels eine untrennbare Einheit zwischen dem Lebensraum des Bodens und dem Lebensraum des freien Wassers besteht, spielt sich in der '" See jenseits des Festlandsockels das Leben überwiegend in den obersten 800 m ab. Was sich darunter befindet, hat noch eine gewisse Beziehung zu den oberflächennahen Schichten, aber diese Beziehung ist sehr gering." 19 Mit den drei anderen Genfer Konventionen vom 29.4.1958, denen "über die Hohe See", "über das Küstenmeer und die Anschlußzone" und "über die Fischerei und die Erhaltung der lebenden Schätze der Hohen See" gibt das Festlandsockel-übereinkommen jetzt den geltenden Stand des internationalen Seerechts wieder. Die vier übereinkommen sind bei Hoog, Seerechtskonferenzen, abgedruckt. Sie bilden die wichtigste Rechtsgrundlage für die Behandlung der Meeresbodenfrage.
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Kurzformel benutzte Begriff "Tiefsee"20 ist dazu aber ungeeignet21 . Denn er besitzt eine geowissenschaftliche Spezialbedeutung, die sich mit dem juristischen Inhalt nicht deckt, mit dem er jetzt befrachtet wird. In den Naturwissenschaften bezeichnet die Tiefseebene eine Großform der Erdoberfläche, nämlich die weiten, landfernen, relieflosen "abyssal plains" mit ihren ca. 20000 Tiefseehügeln, -kuppen und -vulkanen. In diesem Sinne bezeichnet der Terminus zwar plastisch den Formengegensatz zum Festland, deckt sich aber keineswegs mit dem weit größeren Unterwassergebiet, das außerhalb des Festlandsockels im juristischen Sinn liegt. Insbesondere schließt der Tiefseeboden den Kontinentalabhang und -anstieg zwei wichtige und noch relativ küstennahe Meeresbodenformen - nicht ein, während es juristisch gerade darum geht, ob diese Gebiete zum hier interessierenden "Meeresboden" oder zum Festlandsockel im juristischen Sinn gehören. Würden Kontinentalabhang und -anstieg noch zu einer "juristischen Tiefsee" zu zählen sein, so entstünde ein verwirrender Bruch zwischen rechts- und naturwissenschaftlicher Nomenklatur. Derartige terminologische Unklarheiten haben bereits die Entwicklung des Festlandsockelprinzips überschattet, bei der ein relativ exakter morphologisch-geologischer Begriff (Schelf) mit teilweise veränderter Bedeutung als "Festlandsockel" in der juristischen Begriffsbildung und Argumentation verwandt worden ist. Ebensowenig überzeugen Wortschöpfungen wie "Weltinnenraum" oder gar "nasser Weltraum"22. Denn setzt man vereinfachend den Festlandsockel mit der 200-m-Tiefenlinie gleich und läßt man in Gedanken den Spiegel der Hohen See um diese 200 m sinken, so ist nicht nur das gesamte, dann noch vom offenen Meer bedeckte Gebiet "Meeresboden" 20 Alternativ werden auch die Termini "Boden und Untergrund der Tiefsee" (Kehden, Die Vereinten Nationen, S. 131 Anm. 1), Tiefseeboden oder "deep seas" verwandt. 21 Die terminologische Verwirrung der gegenwärtigen Meeresbodendiskussion zeigt sich etwa daran, daß der Begriff "Tiefsee" sowohl als Bezeichnung des hier behandelten Meeresbodens benutzt wird (F. Münch, Die International Law Association und die Mineralgewinnung aus der Tiefsee, in: KielSymposium, S. 133 ff., in Anlehnung an die ILA-Terminologie "deep-sea mining als auch als Bezeichnung der "unter der Oberfläche des Meeres liegenden Wassermassen", also der über dem Meeresboden stehenden Wassersäule (Döll, Elemente einer Ordnung des Meeresgrundes, Außenpolitik 21 [1970], S. 616 ff. [623 f.D. 22 Die entsprechenden Wortschöpfungen sind in nachfolgenden Zitaten hervorgehoben: E. D. Brown, Deep-Sea-Mining: The Legal Regime of ,Inner Space', YBWA 22 (1968), S. 165 ff. 1969 wurde ein Subcommittee on Ocean Space des US-Senatsausschuß für Auswärtige Beziehungen gebildet. - Diese Bezeichnungen beziehen sich jedoch meist nicht nur auf den hier allein interessierenden Meeresboden, sondern offenbar auf den gesamten Meeresraum jenseits des Festlandsockels. Da es auf den Wasserkörper aber bei der Untersuchung des "Meeresbodenrechts" nur mittelbar ankommt, müssen jene Autoren (z. B. US-Senator Pell in der von ihm eingebrachten S. Res. 33 [1969]) zwischen "Ocean Space exept sea-bed and subsoil of Ocean Space u einerseits und "seabed and subsoil of Ocean Space" andererseits unterscheiden, den Raumbegriff also mangels rechtlicher Einheit der einzelnen "Schichten" dann doch wieder aufgeben. U ),
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i. S. unserer Fragestellung. Gleiches gilt vielmehr auch von den dann oereits aus der Wasseroberfläche hinausragenden (also "trockenen") küstenfernen unterseeischen Hügeln und Gebirgsrücken23 •
Die hier gewählte Bezeichnung "Grund und Untergrund der Hohen See außerhalb des Festlandsockels" ist für unsere Zwecke auch dem synonymen Ausdruck Meeresboden "außerhalb der Grenzen nationaler Hoheitsgewalt" vorzuziehen. Diese Formel wird in der völkerrechtlichen Literatur und in der diplomatischen Praxis seit dem 17.7.1967 verwandt, als die Regierung von Malta mit Erfolg beantragte, die Frage der Nutzung des Meeresbodens "beyond the limits of ... national jurisdiction" auf die Tagesorndung der XXII. UN-Vollversammlung zu setzen. Die Terminologie ist hinsichtlich der Meeresbodenfrage bereits insofern verwirrend, als sie zweierlei bezeichnet: Neben den "territorialen" Grenzen (also der hier interessierenden Grenze zwischen Festlandsockel und "Meeresboden") betrifft sie auch die funktionalen Beschränkungen, d. h. den sachlichen Umfang der uferstaatlichen Kompetenzen in ihrem jeweiligen Unterseegebiet. Diese zweite Frage aber hat mit dem unmittelbaren Gegenstand unserer Untersuchung nichts zu tun, da es dieser nur um den Meeresboden jenseits des Festlandsockels geht, obwohl für viele Nutzungsarten der Festlandsockel als eine küstenstaatlich kontrollierte Sonderrechtszone überhaupt nicht existiert. Unsere Formel bezeichnet dagegen von vornherein die beiden Grenzen im Meeresraum, auf die allein es de lege lata ankommt: die Grenze zwischen Küstenmeer und Hoher See und, vor allem, die Außengrenze des Festlandsockels. Damit läßt sich verhindern, daß die Debatte über das geltende "Meeresbodenrecht" auch mit den zahlreichen anderen Grenzfragen des Meeresraumes belastet wird24 • 23 Außerdem implizieren alle derartigen Analogien zum Weltraum ("outer space"), zum Luft- und Weltraum ("aerospace"), oder zum Regime der Hohen See (vgl. Breuer, Diskussionsbeitrag, in: The Law of the Sea, 1971, S. 124 ["high ocean seabed"]), daß die jeweiligen "Raumrechte" auch analogen Inhalts sind. Solche Implikationen sind aber bei der Begriffsbildung zu vermeiden. Ihnen ist der aussageneutrale Terminus "Meeresboden" vorzuziehen, der das Ergebnis der Untersuchung nicht bereits durch die Begriffsbildung vorwegnimmt. Er schließt z. B. die vertikale Rechtseinheit von Meeresboden und Wassersäule nicht aus, impliziert sie aber auch nicht. %( Z. B. die Breite und Zulässigkeit von uferstaatlichen Anschluß-, Fischerei-, Umweltschutz-, "Nuklear"- und Sicherheitszonen. De lege ferenda ist der Einfluß der bestehenden oder angestrebten Meereszonengrenzen auf die Meeresbodenfrage (und umgekehrt!) dagegen kaum zu überschätzen. Die Reformdiskussion bewegt sich hier zwischen folgenden Extremen: Einerseits wird gesagt, daß angesichts dieser Fülle von Grenzen und Spezialzonen erst recht eine Meeresbodenzone für die wichtigste neue Nutzungsart - den Meeresbergbau außerhalb des Festlandsockels - geschaffen werden sollte. Aus dieser Einstellung heraus werden neben einer Neubestimmung der Außengrenze des Festlandsockels die Einrichtung verschiedener übergangs-, "Puffer-" und Treuhandzonenvorschläge gerechtfertigt. Andererseits wird
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Außerdem beschränkt sich unsere Begriffswahl auf die Umschreibung der untersuchten Unterwasserzone, impliziert also keine über die bloße Qualifizierung als Nicht-Küstenmeer und Nicht-Festlandsockel hinausgehende Aussage über ihre Rechtslage 25 • Dies täte dagegen eine Begriffsbildung in Analogie zum "Freien, Offenen Meer" oder zur "Hohen See", ein Sprechen also vom "freien", "offenen" Meeresboden, von der "Tiefen See". Denn ob der küstenfernere und tief-ere Meeresboden ebenso frei, "eigentumsunfähig" und nichtokkupierbar ist wie die Hohe See, ist ja gerade Gegenstand der Untersuchung.
Meeresboden-Sachverhalt und "Meeresbodenrecht" Aufgabe der Untersuchung ist die kritische Analyse des bestehenden gebiets- und nutzungsrechtlichen Zustandes und die Diskussion der Alternativen, Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Neuregelung. Dazu bedarf es zuvor einer für eine rechtswissenschaftliche Untersuchung ungewöhnlich detaillierten Bestandsaufnahme der Grundfakten, der Technik und der Ökonomie dieses Gebietes. Di'e zu untersuchende Sachlage besteht in der Entdeckung riesiger Mineralvorkommen auf dem Meeresboden und in der Tatsache, daß sich hierfür offenbar Abbauverfahren entwickeln lassen, daß ferner auch das Unterwassergebiet außerhalb d-es Festlandsockels militärische Nutzungsmöglichkeiten bietet, daß dort Schadstoffe abgelagert und Nachrichtenkabel verlegt werden können. Diese Fakten, die bereits nach ihrer Relevanz für die Erkenntnis der rechtlichen Probleme auszuwählen sind, sind aus drei Gründen für das "Meeresbodenrecht" von besonderer Bedeutung.
Erstens verlangt schon die Tatsache, daß der Meeresboden - vor kurzem noch terra incognita - nun zu einem wichtigen Feld menschlicher Tätigkeit wird, daß einführend veranschaulicht wird, wie es "dort unten" überhaupt aussieht, und um was es geht26 • Angesichts der Undavor gewarnt, das ohnehin schon komplizierte und konfliktträchtige Mosaik der Meeres- und Meeresbodenzonen weiter zu vergrößern. Statt dessen wird vorgeschlagen, die jetzige Meeresbodendebatte als Ansatz zu einer allgemeinen Grenzbereinigung im Meeresraum zu benutzen und alle Sonderzonen in einem - z. B. auf 200 sm - verbreiterten Küstenmeer aufgehen zu lassen. 25 Deshalb ist auch Mexikos Vorschlag abzulehnen, den hier interessierenden Teil des Unterwassergebietes der Welt bereits jetzt als "international submarine zone" (A/C. 1/L. 430) zu bezeichnen. 26 So heißt es von der insoweit vergleichbaren weltraumrechtlichen Diskussion: "It is by now almost a custom of the trade to begin any serious treatment of ... outer space [law] with at least a brief review of the physical structure of space. The custom . .. sets the nature of our legal problems in an appropriately limited context ... The problems of human and international relationships are essentially the old and persistent ones; it is the milieu which is new. The interactions of the old problems in the constraints of the
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übersichtlichkeit der Meeresbodenfragen ist eine solche Sachverhaltsermittlung besonders nötig: Nur auf diese Weise lassen sich die wichtigen Probleme VOn den nur peripheren Aspekten absondern. Ein "Steckbrief" des Gebietes und seiner Nutzungsprobleme kann außerdem von vornherein klarmachen, ob es sich um einen weitgehend akademischen Sachverhalt oder um eine aktuelle und brisante Rechtsfrage handelt2 7 • Wichtig ist dieser Sachverhalts aufriß, zweitens, für das Ermitteln, Verstehen und kritische Durchleuchten des bestehenden Rechtsstatus des Meeresbodens. Denn losgelöst von der Materie, zu deren Regelung sie entstanden ist, von ihrer Dynamik und ihren besonderen Bedingungen kann eine rechtliche Bestimmung weder vollständig ~rfaßt, noch auf ihre Lückenhaftigkeit hin geprüft werden. Dieser für die Bereiche des Handels-, Wirtschafts- und Steuerrechts vertraute Umstand gilt erst recht für die Meeresbodenfrage. Denn die konkreten Regelungen auf einem so neuen und in rascher Bewegung befindlichen Gebiet betreffen einen fast zufälligen Ausschnitt aus den anstehenden Fragen, teils weil sie früher nicht aufgetreten sind, teils weil die politischen Voraussetzungen zu ihrer Lösung nicht vorlagen, man die Fragen daher ausklammerte. Das bisher Erreichte und Verwirklichte kann deshalb nur gewürdigt werden, wenn es dem Katalog der lösungsbedürftigen und regelungsfähigen Fragen kritisch konfrontiert wird. Ein Beispiel für eine sachverhaltsferne und deshalb spezifische Entwicklungen übersehende Untersuchung stellt Giese, Rechtslage, dar. Giese behandelte 1938 die Meeresbodenfrage als ein vorwiegend rechts- und gebietstheoretisches Problem. Er vernachlässigte die außerhalb des eigentlich Normativen liegenden naturwissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen, strategischen und politischen Daten. So taucht das schon damals bekannte und zur Untermauerung von nutzungs- und gebietsrechtlichen Monopolansprüchen bereits gelegentlich benutzte Phänomen Schelf (vgl. Menzel, Der deutsche Festlandsockel in der Nordsee und seine rechtliche Ordnung, AöR 90 [1965], S. 1 ff. [9 ff.]) bei Giese noch nicht auf. Kenntnis von diesem den Uferstaaten vorgelagerten ölhöffigen unterseeischen Glacis hätte gerade Giese, der "Hinterland"- und "Interessensphären"-Theorien ausführlich erörtert (S. 351 ff., allerdings eben nicht im neuartigen Meeresboden-, sondern nur im überkommenen Kolonialkontext), darauf hingewiesen, daß das Meeresvölkerrecht künftigen Ansprüchen der Uferstaaten hier eine offene new setting are what challenge us". Lay-Taubenfeld, The Law Relating to Activities of Man in Space, 1970, S. l. 27 Vgl. Richter Jessups Kritik an der Verhandlungsführung der Parteien im Streit um die Abgrenzung des deutschen Festlandsockels in der Nordsee: "It is apparent ... that the problem of the exploitation of the oil and gas resources of the continental shelf of the North Sea was in the front of the minds of the Parties but that none of them was prepared to base its case squarelyon considerations of this factor, preferring to argue on other legal principles which are sometimes advanced with almost academic detachment from realities". North Sea Continental Shelf Cases, Urteil vom 20.2.1969, I. C. J. Reports 1969, Separates Votum des Richters Jessup, S. 67 ff. (72).
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Flanke bot. Es war dieses Naturphänomen, an dem bald darauf - unter Anwendung einer modifizierten Kontiguitätstheorie - der Hebel angesetzt wurde, der zur grundlegenden Umformung des damaligen internationalen Seerechts und damit auch zum unverdient schnellen Obsolet-Werden zahlreicher scharfsinniger Aussagen Gieses führte. Hinsichtlich der Meeresbodenfakten sind vor allem die konkreten Gebiets- und Nutzungskonflikte herauszuarbeiten. Mittels der Breite natur- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsmethoden28 , aber unter auswählendem, normorientiertem Gesichtswinkel ermittelt, zeigen diese Tatsachen zunächst, ob überhaupt ein Ordnungsbedürfnis 29 und eine Regelungsfähigkeit bestehenso. Darüber hinaus eröffnet erst diese Plattform den Zugang zu den eigentlichen völkerrechtlichen Problemen, zur konkreten rechtswissenschaftlichen Prüfung. Die Fakten leisten dabei Formulierungshilfe beim Herausarbeiten des Fragenkatalogs, mit dem die bestehende rechtliche Ordnung zu ermitteln und auf ihre Effektivität hin zu überprüfen ist. Nur an Hand eines solchen sachverhaltsnahen Maßstabes kann das geltende Recht wirksam daraufhin durchleuchtet werden, wie weit es eine geordnete, auf lange Sicht hin geschützte Meeresboden-Nutzung ermöglicht oder hemmt. Die Beurteilung der Frage, ob die traditionellen Regelungen den dringendsten Ansprüchen des neuartigen Phänomens gegenüber versagen, setzt die Kenntnisse der Natur und Vielgestaltigkeit des MeeresbodenSachverhaltes voraus. - So sind etwa die Großformen des Meeresbodens für die rechtswissenschaftliche Fragestellung unmittelbar interessant, weil sich die traditionelle Gebietslehre des Völkerrechts an Landzusammenhängen 28 Vgl. zu den entsprechenden "realwissenschaftlichen" Methoden K. König, Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft, 1970, S. 63 ff. Bei der kritischen Analyse des nicht-normativen Materials ist der Völkerrechtler auf die Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern angewiesen. 29 Ob ein Sachverhalt regelungsbedürftig ist, "kann nur durch eine Vergegenwärtigung der wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Grundtatbestände" beantwortet werden. N. PelzeT, Rechtsprobleme der Beseitigung radioaktiver Abfälle in das Meer, 1970, S. 3; vgl. auch S. 15 Anm. 45. PelzeT unterstreicht die Notwendigkeit, dabei auch die "rechtssoziologischeAusgangslage" (Rechtsfortbildungsprozeß, politische Faktoren, "die unsichere Gesamtsituation des heutigen internationalen Rechts") in die Untersuchung miteinzubeziehen. Diese Faktoren seien darüber hinaus auch bei der Rechtsreform, also dann "zu berücksichtigen, wenn eine der Problematik ... adäquate völkerrechtliche Regelung gefunden werden soll" (S. 29). PelzeT weist dabei in Anlehnung an ETleT auch auf die Wirkung neuer technischer Entwicklungen als "Initialzündung" im internationalen Rechtsfortbildungsprozeß hin (S. 25 f ., 29 f .). 30 Auch bei der Frage, ob ein lösungsbedürftiger Sachverhalt falls eine Regelung überhaupt gewollt wird - schon regelungsfähig ist, kann nur eine Sachverhaltsermittlung helfen. Sie muß also u. a. Antwort auf die Frage geben, ob detailliertere Regeln trotz unserer beschränkten Kenntnisse und der noch nicht zu übersehenden Entwicklung der Nutzungstechnologie bereits heute möglich sind. - Angesichts der irreparablen, aber z. T. noch unübersichtlichen Gefährdungen des Meeres, die von den modernen Nutzungsmöglichkeiten ausgehen können, mag auch hier die Notwendigkeit zu entscheiden, größer sein, als unsere Fähigkeit, zu erkennen.
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unter dem Wasser orientiert. Auch sind die Meeresbodenformen wichtig für die Vermutung weiterer, bisher nicht entdeckter Vorkommen und damit für die anstehenden Verteilungsfragen (welcher Staatengruppe sollen welche marinen Rohstoffe unter welchen Bedingungen zufallen?). Hat diese Ermittlung der rechtlich bedeutsamen Tatsachen schon der Auswahl, Anwendung und überprüfung des geltenden Rechts voranzugehen, so gilt dies, drittens, erst recht für die Vorbereitung31 , Abwägung und Bewertung rechtspolitischer Entscheidungen. Denn auch die meisten Kriterien, Standards und Bedingungen für eine sachlich richtige und international akzeptable Neuregelung der Meeresbodennutzung sind nicht "vorgegeben", sondern müssen den Besonderheiten des Tatbestandes entnommen werden, den Modalitäten, Zwangsläufigkeiten und Tendenzen der Nutzung des Meeresbodens. Dabei ist jeweils das System der internationalen Beziehungen wenigstens andeutungsweise mitzuberücksichtigen, in dem die rechtspolitischen Auseinandersetzungen stattfinden. So bezweckte die FAO Technical Conference on Marine Pollution and its Effects on Living Resources and Fishing, die in Rom vom 9.-18. 12. 1970 abgehalten wurde, die bisher fehlende "scientific basis for international legislative control of marine pollution" zu erarbeiten, der Rechtsetzung also insofern "zuzuarbeiten" (FAO, Rom 1969, FRm/CMP/CIRCULAR 1, S. 5). Im einzelnen sollte die Fachkonferenz eine internationale Konvention gegen Meeresverschmutzung vorbereiten und entsprechende Empfehlungen für die UN-Konferenz über Umweltschutz ausarbeiten, die 1972 in Stockholm zusammengetreten ist. Auch ermöglicht erst eine gute Sachverhaltskenntnis eine Antwort auf die Frage, ob die faktischen Voraussetzungen für eine Rechtsschöpfung überhaupt schon vorliegen. Es wäre z. B. denkbar, daß eine Neuregelung zwar grundsätzlich nötig, der richtige Zeitpunkt für sie aber wegen der vorerst nicht überschaubaren Natur der zu normierenden Fragen noch nicht gekommen ist. Die Sachverhaltsermittlung kann 31 Das erkennen auch Anhänger der normativen Betrachtungsweise an. Vgl. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 22 ff.: Es wäre "zu begrüßen, wenn vor allem vor Bildung völkerrechtlicher Normen die der Regelung zugrunde liegenden Tatsachen, d. h. die Fakten des natürlichen und geistigen Lebens, das, was Eugen Huber die ,Realien der Gesetzgebung' nennt, mit soziologischen Methoden weit mehr und besser erforscht würden, als das auch heute noch der Fall ist. Gerade dieser vor-rechtliche Raum ist als Gegenstand einer Tatsachenforschung genauer zu erkunden, um die Voraussetzung für material-gerechtes Völkerrecht zu schaffen". Diese Forschung habe "der Rechtsetzung und ebenso der Rechtsanwendung wie auch der normativen Wissenschaft vom Recht (Theorie und Dogmatik) voraufzugehen". Dadurch komme es zu einer besseren Ermittlung des sozialen Bezugs und der Durchsetzbarkeit der Neuregelungsalternativen. Als Normativist betont Rudolf aber, daß dies alles "nicht mit der Jurisprudenz gleichzusetzen" sei. "Denn nicht alles, was ist, soll auch sein; und nicht alles, was sein soll, ist", Trotz der als notwendig erkannten Rechtstatsachenforschung komme es nicht zu einer "Kapitulation des Rechts vor den Tatsachen".
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aber auch das Gegenteil erbringen, nämlich Druck in Richtung auf eine möglichst frühzeitige Regelung. Sie kann den Eindruck verstärken, daß sich die Rechtspolitik in einem Wettlauf mit dem technischen und politischen Handeln befindet. Dies gilt in der Meeresbodenfrage vor allem deshalb, weil es bei ihr um eine ihrem Wesen nach besonders technische Materie geht32 • Hinsichtlich dieses Technologieaspektes handelt es sich um einen der ungewöhnlichen Sachverhalte, die seit dem Zweiten Weltkrieg im Gefolge von neuen Techniken und von Groß- und "Projektwissenschaften" wie Atomwissenschaft, Datenverarbeitung, Weltraumtechnik, "Ozeanologie" und Biologie auftauchten. Auch und gerade die Einflußnahme auf diese Sachverhalte ist Aufgabe des Juristen, besonders des Rechtspolitikers 33 • Dabei steht er vor einem Dilemma: Entweder greift er vorschnell, vorwegnehmend und ungewollt die Entwicklung hemmend ein, oder aber er unterwirft sich abwartend Sachzwängen ("sachlogische Eigengesetzlichkeiten haben die Frage bereits entschieden"), eine Haltung, die zu einer stillschweigenden Kapitulation vor außerrechtlichen Trends und Determinanten führen kann. Angesichts dieses technologischen Sachverhalten eigenen Dilemmas muß der Jurist, will er bedachte, material-gerechte und politisch akzeptable Regeln vorschlagen, die neue Wirklichkeit mit ihren Veränderungen gegenüber "Altbekanntem" erst einmal begreifen. In der bisherigen Meeresbodendebatte besteht hinsichtlich einer derartigen Sachverhaltsaufbereitung zur Erkenntnis- und Entscheidungshilfe ein Nachholbedarf. Mit einer solchen Datenermittlung ist aber nicht schon der Frage vorgegriffen, welche Ziele rechtspolitisch im einzelnen anzustreben sind. Die "Technizität", Neuartigkeit und Kompliziertheit eines Sachverhaltes selbst beantwortet diese Frage noch nicht, sondern sie bedeutet nur, daß gewisse Fragen der Mittelwahl bereits positiv oder negativ beantwortet sind34 • Genauer Kenntnis der zu regelnden Materie bedarf es neben dieser Einschätzung des Regelungszeitpunktes schließlich auch für ein Urteil darüber, ob einzelne rechtspolitische Vorschläge bewußt oder unbewußt 32 Aus dieser Besonderheit des Sachverhalts folgt z. B., daß ein Recht, das nach Art des case law der tatsächlichen Entwicklung folgen und diese nur "in Begriffe fassen" würde, bei dem raschen Fortschritt der technischen Materien und dem politischen Gehalt ihrer Lösungen hinter den Erfordernissen internationaler Ordnung zurückbleiben müßte. Die Lücke zwischen Technik und Gesetz ist zu gefährlich, als daß sie länger als unvermeidlich offen bleiben dürfte. 33 Die "Technizität" des neuartigen, sich schnell entwickelnden und vielgestaltigen Sachverhaltes ist schon für die Bewertung der vorhanden Normen wichtig. Vor allem aber de lege ferenda legt sie nahe, den Ordnungsrahmen in besonders engem Kontakt mit der "Meeresbodenwirklichkeit" zu entwikkeIn. Dabei ist das politische Moment der Berufung auf "Sachgesetzlichkeiten" und "natürliche Grenzen" ebenso herauszuarbeiten, wie der Umstand, daß die Rechtspolitik auf bestimmte Tatsachen und auf konkrete Bedürfnisse reagiert, und daß es innerhalb vorgefaßter Ziele Sachzwänge gibt. 34 Zum Problem von Zielsetzungen und Mitteln, insbesondere zur "rationalen" Mittel- und "irrationalen" Wertewahl, König, Erkenntnisinteressen, S. 114 ff. (S. 117: "Im technokratischen Selbstverständnis der neuen Experten kann sich als Logik der Tatsachen tarnen, was doch wie eh und je in Wahrheit Politik ist") .
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von falschen Voraussetzungen ausgehen, ob die angegebenen nützlichen Zukunftsaussichten neuer Normen und Institutionen empirischer Nachprüfung standhaltens5 , und ob einzelne lex ferenda-Initiativen mit Leitbildern an den zu regelnden Tatbestand herangehen, die mit den Eigentümlichkeiten der Nutzung des Meeresbodens nicht vereinbar sind. In diesen Fällen könnte eine wirklichkeitsfremde Neuregelung - wenn sie beschlossen und durchgesetzt würde - entweder ins Leere gehen oder die Nutzung in einer unbeabsichtigten Weise beeinflussen. Der Entwurf eines neuen Ordnungsrahmens setzt die Kenntnis der Merkmale der Unordnung voraus, der Wunsch nach Einflußnahme auf konkrete Vorgänge Kenntnis ihrer Zwangsläufigkeiten und Entwicklungsgesetze. Das benötigte Erwerben von Faktenkenntnissen verlangt eine besondere Erkenntnishaltung auf Seiten des Völkerrechtlers. Gerade gegenüber den interessantesten Refonnvorschlägen muß er kritische Distanz wahren, um das jeweils als vordringlich bezeichnete Problem, die vorgeschlagenen Regelungen und die hinter ihnen stehenden Wertvorstellungen, Kräfte und Interessen zunächst eingehend studieren zu können. Orientierungspunkt seiner Analyse sollte neben der Sachgerechtigkeit der Vorschläge auch die Frage sein, ob das jeweilige Neuordnungsmodell die Unsicherheitselemente der lex lata beseitigen und zu einer stabilen und gerechten Verteilung der Meeresbodenschätze und der unterseeischen Nutzungsvorteile führen würde. Was "gerecht" ist, wäre dabei - um ein hinter dieser Untersuchung stehendes Forschungsinteresse offenzulegen - nicht nur an der staatlichen oder privaten Nutzungsleistung, sondern auch am Bruttosozialprodukt der einzelnen Staaten zu messen. Der Meeresboden sollte genützt werden "for the benefit of mankind as a whole irrespeetive of the geographical loeation of States, whether land-Iocked or eoastal, and taking into partieular eonsideration the interests and needs of the developing eountries" (Ziff. 7 der UNMeeresbodengrundsatz-Resolution vom 17. 12. 1970 [2749 - XXV -]). über die Notwendigkeit derartiger Tatbestandsermittlungen für das Begreifen nahezu jeder rechtswissenschaftlichen Frage, vor allem im Hinblick auf eine Reform, bestehen keine ZweifeL Methodische Schwierigkeiten tauchen bei diesem empirisch-induktiven Vorgehen nicht auf. Angesichts der Besonderheiten der rechtspolitischen Problematik ist der Datenkranz zwar ungewöhnlich weit zu fassen und auch in die Zukunft hinein zu extrapolieren36 • Aus dem Meer der nicht-normativen Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 177 ff. Dabei ist der Völkerrechtler in besonders hohem Maße auf die Hilfe anderer Disziplinen angewiesen. Obwohl er den technologischen Entwicklungen und ihren Auswirkungen ohnehin stets nur mit Mühe wird nachlaufen können, darf er von dieser interdisziplinären Zusammenarbeit nicht zu viel erwarten. Insbesondere muß er sich stets vergegenwärtigen, daß es bei der Tatbestandsermittlung vor allem um naturgemäß unsichere Extrapolation und Prognosen geht. Schon die Unsicherheit darüber, ob die Entwicklungen richtig und vollständig prognostiziert worden sind, muß dem Völkerrechtler Zurückhaltung beim Heranziehen der Daten und ein Ausweichen auf möglichst vielfältige Informationsquellen nahelegen. Dabei hilft der Umstand, 35
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Meeresbodenaspekte werden aber nachfolgend von vornherein nur die Informationen herangezogen, die unmittelbar für die völkerrechtliche Fragestellung erheblich sein können37 • Darüber hinaus erfolgt auch das Ermitteln und Aufbereiten dieser Daten nicht isoliert und enzyklopädisch, sondern unter dem gebiets- und nutzungsrechtlichen Blickwinkel des Themas, erfüllt also eine direkte rechtswissenschaftliche Funktion. Außerdem richtet sich die Tatbestandserforschung weitgehend nach den bekannt gewordenen Bedürfnissen und Erfahrungen der unmittelbar Beteiligten, der potentiell Geschädigten oder Begünstigten38 • Dies verhindert den müßigen Versuch, Regelungen für unbekannte Sachverhalte, die sich ergeben könnten, oder für rechtlich irrelevante Fakten zu erörtern. Angesichts dieser dreifachen Bedeutung der Meeresbodenfakten für die Rechtsstatusfrage läge eine eingehende Untersuchung des Verhältnisses von "Meeresbodenrecht" und "Meeresbodenwirklichkeit" nahe. Eine solche Erörterung, die nur aus der Sicht der Reinen Rechtslehre von einer unjuristischen Fragestellung ausginge, würde einige methodische und rechtstheoretische Grundprobleme anschneiden, berührte sie doch die Einheit von Sein und Sollen, die Trennlinie von Recht und Wirklichkeit. Diese beiden "Sphären" stehen in einem umstrittenen, z. B. als zeitlich, räumlich, komplementär, kompensatorisch, polar, korrelativ, prägend, gespannt oder funktionell bedaß viele Voraussagen ohnehin kontrovers und offensichtlich lückenhaft sind, ein Umstand, der kein Grund zum Aufgeben, wohl aber zur Vorsicht ist. 37 Dazu, daß die Auswahl der festzustellenden Fakten bereits zur Rechtsanwendung gehört, diese also nicht die bloße rechtliche Qualifikation eines schon festgestellten Sachverhaltes ist, vgl. etwa König, Erkenntnisinteressen, S. 80 f. Wenn die darin liegende Gefahr der Sachverhaltsverkürzung oder ,,-verbiegung" die Skylla der Erörterung der völkerrechtlichen Aspekte neuerer technologischer Entwicklungen ist, so ist die Charybdis die mehr oder weniger ungegliederte Darstellung des riesigen, verstreuten und in dauernder Bewegung befindlichen Materials heutiger wissenschaftlich-technischer Vorgänge. 38 Eine Problemschilderung aus der Sicht eines unmittelbar Betroffenen hat z. B. von einem deutschen Unternehmen auszugehen, das an der Erdölgewinnung aus dem Kontinentalabhang vor der nordamerikanischen Küste interessiert ist. Bedarf es dort zur Prospektion, Exploration und Exploitation einer Lizenz des Uferstaates, oder wie sonst wird es im Besitz eines angemessenen Feldes geschützt? - Die Rolle privater "ehrlicher Makler" bei dieser Problemermittlung ist groß. Die Interessengegensätze zwischen Nord und Süd, Ost und West, zwischen Ozeananrainern und von der Natur weniger begünstigten Staaten, Meeresökologie und Rohstoffindustrie usw. lassen sich vor einem nichtamtlichen Forum, wie der alljährlichen "Pacem in Maribus"-Konferenz auf Malta, vor dem auch Regierungs- und Verbandsvertreter nur in ihrer privaten Eigenschaft auftreten, oft rationaler diskutieren als in Ministerien, in regierungsamtlichen internationalen Einrichtungen oder bei offiziellen Konferenzen. Dies ist angesichts der großen Schwierigkeiten kaum zu überschätzen, denen sich die Politiker bei der Sachverhaltsermittlung zwecks Neuordnung des internationalen Seerechts gegenübersehen, Schwierigkeiten, die sich vor allem aus der Unübersichtlichkeit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, dem politischen Konflikt zwischen armen und reichen Ländern und dem gelegentlich auf eine Art "Blut- und Meeresboden"-Ideologie gestützten Expansionswunsch mancher Uferstaaten ergeben.
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zeichneten Verhältnis. Daß beide Bereiche miteinander verschränkt, aber prinzipiell voneinander getrennt sind, wird nicht bestritten. Dies bestätigen gerade die zahlreichen Versuche, diesen "Dualismus" (wie andere Dualismen, z. B. den von Staat und Gesellschaft, von öffentlichem und privatem Recht) von der faktischen oder von der normativen Seite her ("Anschmiegung der Norm an ihr Substrat") zu mildern, zu "unterlaufen" oder zu "überbrücken"so. Die Trennlinie zwischen Recht und Wirklichkeit rückt auch im Völkerrecht 40 immer mehr in den Vordergrund der Diskussion 4!. Die prinzipielle Entgegensetzung von Norm und Normsubstrat ließe sich hier auf dem Hintergrund des engen Zusammenhangs zwischen den Meeresbodenfakten und dem "Meeresbodenrecht" ebenso wie die Methodenfrage 42 , die Problematik 30 Die außerrechtlichen Lebensverhältnisse lassen sich auf zwei normative Fragestellungen hin untersuchen. Zum einen handelt es sich - wie in unserem Zusammenhang - um die Ermittlung der für Rechtsauswahl, -anwendung und -fortbildung bedeutsamen Tatsachen. Zum anderen geht es um die Frage, in welchem Verhältnis einzelne außerrechtliche Verhaltensweisen und Ordnungselemente zur Rechtsordnung stehen. - Diese zweite Frage wird im Folgenden nicht behandelt und sei deshalb hier wenigstens angedeutet. Die nicht-normativen Strukturen können juristisch entweder irrelevant sein oder, das andere Extrem, das Recht ganz verdrängen. Dieses Problem taucht z. B. im Zivilrecht auf, wenn man das übereinstimmen oder Abweichen allgemeiner Geschäftsbedingungen - ein fester Bestandteil der modernen Wirtschaftspraxis - mit dem Gesetzesrecht untersucht. Wird das Recht in seiner motivierenden Kraft von den Rechtstatsachen verdrängt, so wird eine ausschließlich normative Betrachtungsweise zum "Glasperlenspiei", liegt doch die Quelle des "realen und lebendigen Rechts" dann im Außerrechtlichen. Vgl. W. von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965, S. 33 ff. 40 Die Impulse der neueren Diskussion sind zwar vom Zivil- und Verfassungsrecht ausgegangen. Diese Problematik besitzt aber im weitgespannten internationalen Recht wegen dessen uneinheitlicher Dichte und Dynamik, seiner umstrittenen Geltungsfrage und seines politischen Charakters eine besondere Bedeutung. Sie hat deshalb gerade im Völkerrecht zu einem Methodenpluralismus geführt, bei dem die extremen Positionen von der soziologischen und von der normativen Betrachtungsweise gebildet werden. In unserem Fall würde die soziologische Methode die Meeresboden-Wirklichkeit bereits bei der Ermittlung der lex lata ausgiebig berücksichtigen, während die normative Betrachtungsweise dies allenfalls bei der Diskussion der rechtspolitischen Vorschläge täte. 4! Eine eindrucksvolle Zusammenfassung der neueren verfassungsrechtlichen Methodendebatte - unter Hervorhebung des Zusammenhangs von Normverständnis und praktischer Rechtsanwendung - gibt F. Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, 1966. Müller zeigt in seiner Rechtsprechungsanalyse, daß das Bundesverfassungsgericht durch Rückgriff auf empirisch feststellbare Fakten der sozialen Wirklichkeit Gesichtspunkte gewinnt, die bei der Rechtsauslegung dann eine entscheidende Rolle spielen (S. 23). Er weist nach, daß in den einzelnen Rechtsnormen die Wirklichkeit nicht nur vorausgesetzt, sondern auch rezipiert wird: Die Rechtsvorschrift als Ordnungsentwurf sei durch das zu Ordnende vorgeprägt (S. 170 ff.). Eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse gibt ders., Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, ARSP LVI (1970), S. 493 ff. 42 Zur soziologischen Methode vgl. W. Friedmann, Recht und sozialer Wandel, 1969, S. 373 ff., 406 ff., 414 ff. (zum Verhältnis des Völkerrechts zu neuen außerrechtlichen Entwicklungen, wobei das Völkerrecht sowohl Regulator,
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des "normativen Tatbestandes" und die "Rechtsfindung aus dem Sachverhalt"43 unter Stichworten wie "Natur der Sache"44, "Recht und Politik"45 und "wirklichkeitswissenschaftliche Methode" erörtern48 . Dieses in lebendiger Diskussion befindliche Thema ist hier jedoch aus zwei Gründen beiseite zu lassen. So ist es nur dann erforderlich, am Beginn einer Spezialuntersuchung eine methodische und rechtstheoretische Konzeption als auch Funktion dieser gewandelten Wirklichkeit sein kann); ders., The Changing Structure of International Law, 1964; Landheer, On the Sociology of International Law and International Society, 1966. Landheers überzeugung von "the necessity of viewing international law ... as a science that needs elose contact with social reality in order to fulfil its function" (S. 46) führt ihn zur wiederholten Forderung nach "eloser relationship between international reality and international law" (S. 35). Kritisch gegenüber dieser Betrachtungsweise, insbesondere der soziologischen Schule der amerikanischen Völkerrechtslehre Rudolj, Völkerrecht, S. 21 f. - Zur Methodendiskussion und zur normativen Betrachtungsweise Schüle, Völkerrechtswissenschaft, Methoden der, in: Strupp-Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 111, 1962, S. 775 H., 778. 43 C. de Visscher, Les eHectivites du droit international public, 1967, versucht, diesen Einfluß des Faktischen auf das Völkerrecht zu systematisieren. Neuartige Sachverhalte - wie der Vorstoß in den Weltraum - hätten zu einer zeitweiligen spannungsgeladenen Nichtangepaßtheit des Rechts geführt und Kodifikationsversuche erzwungen (S. 17). 44 Vgl. auch die Formeln von den "sachlogischen Strukturen", vom "sachrichtigen Handeln" und von den "Sachzwängen". Auf die Frage, wieweit es "absolute" Sachzwänge oder nur solche innerhalb vorgefaßter Ziele gibt, kann hier ebensowenig eingegangen werden wie auf die Formel von der "Verbindlichkeit aus dem Sachverhalt". Im klassischen Rechtsstaat trug der Gesetzgeber die Verantwortung dafür, daß im Gesetz "ein Stück jener durch die Natur der Sache bedingten Ordnung" geboten wird. E. Schmidt, Gesetz und Richter. Wert und Unwert des Positivismus, 1952, S. 7. Zur "Natur der Sache" vgl. auch Grimmer, Die Rechtsfiguren einer "Normativität des Faktischen", 1971 (S. 20 ff. zu den "sachlogischen Strukturen"). 45 Zur Affinität von Völkerrecht und Politik Krülle, Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-Neisse-Problems, 1970, S. 6 f. (dort auch S. 22 H. zu den verschiedenen Lehren vom Geltungsgrund des Völkerrechts); Rudolf, Völkerrecht, S. 97 ff. m. Nw., 25 f. Zum "politischen Charakter" des Völkerrechts Schüle, Völkerrechtswissenschaft, S. 777. Das Völkerrecht dürfte jedenfalls weit mehr als das Landesrecht unter diesem Spannungsverhältnis von Recht und Politik stehen, und diese Spannung wird mit zunehmender Heterogenität der Völkerrechtsgemeinschaft wohl weiter wachsen. 48 Die "wirklichkeitswissenschaftliche" Betrachtungsweise geht auf H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 37 H., 184 ff., 259 ff. zurück. Sie betrachtet die Normen als unlösbaren Teil der außerrechtlichen Wirklichkeit. Nach dieser Sicht sind die Fakten bis in den Kernbereich der Norm vorgedrungen bzw. haben sich von ihm nie emanzipiert. Wieweit Heller seine Wirklichkeitswissenschaft außer auf den Staat (ein "wirkliches Sozialgebilde") auch auf das Recht selbst (ein "abstraktes Sinngebilde") erstreckte, mag hier dahingestellt bleiben. Die Vorklärung der Bedingungen des Rechts mittels dieser Methode dürfte die Hauptaufgabe der Rechtssoziologie sein. Zu den Recht und Wirklichkeit integrierenden Denkhaltungen - z. B. Pragmatismus und Pluralismus - vgl. König, Erkenntnisinteressen, S. 28 ff. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht unterscheidet man zwischen Formalwissenschaften (Logik, Mathematik) einerseits und Realwissenschaften (Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften) andererseits, vgl. Essler, Wissenschaftstheorie I. Definition und Reduktion, 1970, S. 127.
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detailliert auszubreiten, wenn es bei der Behandlung der besonderen Sachprobleme auf sie unmittelbar ankommt. Das ist dann nicht der Fall, wenn auch bei Anwendung der gegensätzlichen Methoden und theoretischen Auffassungen das gleiche Ergebnis erzielt würde 47 , ein Umstand, der - wie sich zeigen wird - für die wichtigsten hier angeschnittenen Fragen zutrifft. Dies sei am Beispiel der Außengrenze des Festlandsockels erläutert. Das Problem beruht hier u. a. darauf, daß der völkerrechtliche Festlandsockelbegriff an den Schelfbegriff der Naturwissenschaft anknüpft, sich aber nicht mit ihm deckt. Die Frage der Identität dieser Begriffsinhalte würde als rechtstheoretisches Problem u. a. ein Eingehen auf die angeblich pazifierende Wirkung "natürlicher Grenzen", auf die Norm als Ausdruck tatsächlicher Vorgegebenheiten, auf die "normative Kraft des Faktischen" und auf die Frage nahelegen, ob hier "aus Sein Sollen folgt". Aus der Sicht der speziellen Themenstellung jedoch ist die Behandlung der Grenzproblematik vordringlich eine konkrete rechtsdogmatische Aufgabe. Zu ihrer Lösung bedarf es vor allem einer Auslegung der Festlandsockelkonvention und der Staatenpraxis. Nur soweit dabei Besonderheiten theoretischer - z. B. bei der Gewichtung der Rechtsquellen - oder methodischer Art - z. B. bei der Anwendung der induktiven statt der deduktiven Betrachtungsweise - zur Ermittlung eines anderen Verlaufs der Grenze führten, wären auch diese Grundfragen "entscheidungserheblich". Andernfalls sind sie für die zu erfüllende spezielle Aufgabe (die praktische Konkretisierung des die Außengrenze des Festlandsockels festlegenden Rechts) nicht erforderlich 48 • Diese methodischen und rechtstheoretischen Grundfragen sind darüber hinaus schon deshalb vor47 Grundsätzlich ist zwar Rudolt, Völkerrecht, S. 25 Anm. 63 zuzustimmen, wenn er sich richtet gegen jenen "unsystematischen Methodensynkretismus, der so häufig vor Augen tritt, wobei offensichtlich vom Ergebnis her pragmatisch argumentiert und ,bald hier, bald da, bald mehr, bald weniger, systemlos' die Methode gewechselt wird". S. ebd., S. 96 f. Doch muß die Methodenfrage eben überhaupt erheblich sein, um eine genauere Untersuchung zu verlangen. Diesem Test brauchte sich Rudolt selbst nicht zu stellen, da es bei seiner grundlegenden rechtstheoretischen und -dogmatischen Untersuchung von vorneherein offensichtlich auf den Methoden- und Theorienstreit ankam. Bei der Untersuchung von Spezialfragen dagegen wie im vorliegenden Fall - wäre diese breite ("kopflastige") Arbeitsweise unzulässig. Auf die methodischen und rechtstheoretischen Streitfragen ist bei ihnen vielmehr erst "vor Ort", also nur dort einzugehen, wo dies für die Beantwortung des speziellen Problems unerläßlich ist. Sollte sich dann jedoch (wie bei der Außengrenze des Festlandsockels) ein solches "Einströmen" faktischer Gesichtspunkte in den rechtswissenschaftlichen Bereich nachweisen lassen, so muß dieser Zusammenhang dann auch detailliert aufgehellt werden. Auf diese Weise läßt sich ein einseitiges Ansammeln von Stoff verhindern und die Meeresboden-Wirklichkeit statt dessen als kritischer Ansatzpunkt für eine Konkretisierung der lex lata-Probleme benutzen. 48 Anders wäre z. B. vorzugehen, wenn die Meeresbodennutzung und ihr Regime im Dienste der Rechts- und Wissenschaftstheorie daraufhin zu überprüfen wären, was sie über den Bezug der Rechtsordnung zur Wirklichkeit aussagen. Diese reizvolle Aufgabe, das "Meeresbodenrecht" allgemein auf seine "Wirklichkeitsgeprägtheit", auf seinen Gehalt an "Wirklichkeitsausschnitten", oder auf seine normative Eigenständigkeit hin zu analysieren, ist hier aber nicht gestellt. Eine Ausnahme macht hier - wie sich zeigen wird die Frage der Außengrenze des Festlandsockels, für deren Beantwortung es in der Tat auf das natürliche Substrat der Festlandsockeltheorie, das geologisch-morphologische Phänomen Schelf, ankommt.
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läufig offen zu lassen, weil das Meeresboden-"Sein" selbst außerordentlich mannigfaltig und "zerklüftet" ist. Die bildliche Vorstellung vom Sachverhalt als einer Fläche, die fugenlos auf das Sollen als eine andere "Ebene"48 einwirkt, verfehlt jedenfalls die Komplexität der Meeresboden-Wirklichkeit. Das "Einströmen" faktischer Gesichtspunkte erfolgt vielmehr genauso uneinheitlich, "punktuell" und verschiedenartig, wie die Meeresboden-"Sache" selbst gefügt ist. So gehören zur einwirkenden "Wirklichkeit" des Meeresbodens neben der juristisch wichtigen Großform "Kontinentalrand" die rechtlich bis auf weiteres belanglosen - aber faktisch noch großartigeren - "Mittelozeanischen Rücken". Fragt man allgemein nach der Einwirkung der Großformen auf den Rechtsstatus des Meeresbodens, so müßte sich eine alle Einwirkungsgrade abdeckende Aussage nach diesen einwirkungsschwachen "Rücken" richten. Eine Aussage über die Verschränkung "der" Wirklichkeit mit den Normen wäre dann zu stark verallgemeinert und für die Rechtserkenntnis wertlos. Will man statt dessen konkrete Hilfsgesichtspunkte für die Rechtserkenntnis gewinnen, so muß man - wie nachfolgend - stark zwischen den einzelnen Elementen der einwirkenden "Sache" differenzieren50 • Für die Zwecke dieser Arbeit können deshalb allenfalls sehr differenzierte Aussagen über den Einfluß eines bestimmten Tatbestandselementes auf eine spezielle Rechtsfrage dienen, Aussagen, die dann nicht "vorab" und grundsätzlich, sondern nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen konkreten Rechtsproblem zu machen sind 51 •
Der Gang der Untersuchung Wegen der besonderen Bedeutung, die der Meeresboden-Sachverhalt für den Rechtsstatus des Meeresbodens besitzt, gliedert sich die Arbeit in zW€i Teile, in einen rechtstatsächlich-beschreibenden (Teil I) und in einen sowohl praktisch-dogmatischen als auch rechtspolitischen Abschnitt (Teil 11). Angesichts der gebiets- und nutzungsrechtlichen Ele48 Die gängige verräumlichende Darstellungsweise und die Metapher von der "Ebene" verwendet z. B. RudoZf, Völkerrecht, S. 25. Gegen eine Normauffassung, nach der "die Geltung einer rechtlichen Vorschrift ... und die .. eines empirischen Tatsachenbefundes ,in absolut heterogenen Ebenen der Problematik' liegen sollen", wendet sich Müller, Normstruktur, S. 20. Nach seiner polemischen Formulierung ist die "Rolle der Wirklichkeit im Recht nicht dadurch lösbar ... , daß man sie eleminiert". 60 In Einzelfällen allerdings können beide Fragestellungen "durchaus sinnvoll" nebeneinander gestellt werden, ohne sich auszuschließen (z. B. bei der Definition des traditionsbeladenen Prinzips "Meeresfreiheit" auf dem Hintergrund der neuartigen Nutzungsprobleme). Vgl. von Simson, Souveränität, S. 29 ff. 61 Es ist also auch zwischen der Methode der Darstellung des Sachverhaltes (geschlossen vorab oder "stückchenweise" bei der jeweiligen Rechtsfrage) und der der Untersuchung des Einflusses der Meeresboden-Wirklichkeit auf das "Meeresbodenrecht" zu unterscheiden. Während hinsichtlich der Sachverhaltsmitteilung schon aus Gründen der übersichtlichkeit eine geschlossene Darstellung erforderlich ist, wäre dies bei der Untersuchung der Verschränkung von "Sein und Sollen" unergiebig, so daß hier punktuell vorzugehen sein wird.
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mente der Rechtsstatusfrage sind beide Teile kapitelweise jeweils um diese Hoheits- und Nutzungsproblematik gruppiert, wozu im rechtspolitischen Abschnitt ein Unterabschnitt über die organisatorische Ausgestaltung des künftigen Meeresbodenregimes kommt. Der abschließende "Ausblick" versucht die wichtigsten Problemverschränkungen und rechtspolitischen Trends aufzuzeigen. Der erste Teil, die faktische Grundlegung des Themas, enthält in geschlossener Darstellung52 die speziellen Meeresbodendaten und -zusammenhänge (Großformen und Bodenschätze [Erstes Kapitel], Nutzungsarten und -konflikte [Zweites Kapitel]). Dabei erfolgt die Darstellung schon mit der auswählenden Unterscheidung, die sich aus der ThemensteIlung des zweiten Teils ergibt, und enthält bereits erste Hinweise auf die auftretenden Rechts- und Interessenkonflikte. Die Kenntnis dieser Daten ist zum Verständnis des geltenden "Meeresbodenrechts" und zur Ermittlung der benötigten und möglichen Regelungen unerläßlich53 • Im zweiten Teil der Arbeit werden dann mittels der so herausgearbeiteten sachverhaltsnahen Kategorien und Fragestellungen die positivrechtlichen Regelungen und die wichtigsten Vorschläge de lege ferenda kritisch durchleuchtet. Dabei geht es zunächst um eine Klärung und Darstellung der normativen Grundlagen und Details der gegenwärtigen Rechtslage (Erstes 52 Diese Meeresbodenfakten sind schon deshalb zusammenhängend darzustellen, weil bei den nachfolgenden juristischen Erörterungen häufig die gleichen Faktenprobleme auftauchen (z. B. die Frage nach den Meeresbodenformationen, an denen sich die Gebietslehre des Völkerrechts traditionellerweise orientiert, und nach den Meeresschätzen). Ein "Vor-die-KlammerZiehen" der gemeinsamen Daten strafft deshalb auch die rechtswissenschaftliche Untersuchung. Anders z. B. die weltraumrechtliche Untersuchung von Lay-Taubenfeld, Space, deren umfangreiche Faktenangaben über das ganze Buch verstreut sind. Diese gelegentlich irritierende Darstellungsweise läßt sich vielleicht dadurch rechtfertigen, daß das von Lay-Taubenfeld untersuchte Rechtsgebiet besonders uneinheitlich ist, nämlich nicht nur Völkerrecht, sondern auch (USA-)Landesrecht umfaßt. In die jeweiligen Rechtsfragen wird durch die vorangestellten bloßen "Sachverhaltsstücke" deshalb oft besser eingeführt, als dies durch eine geschlossene, notwendigerweise sehr umfangreiche Sachverhaltsschilderung hätte erfolgen können. 53 Der hier gewählten sachverhaltsnahen Methode kommen am nächsten Pelzer, Rechtsprobleme, S. 4 ff., 14 ff.; Andrassy, International Law; Friedmann, The Future of the Oceans. Ähnlich auch Jenisch, Das Recht der Vornahme militärischer übungen und Versuche auf Hoher See in Friedenszeiten, 1970, S. 13 ff. Noch umfangreichere tatsächliche Darlegungen enthalten Kausch, Der Meeresbergbau im Völkerrecht. Darstellung der juristischen Probleme unter Berücksichtigung der technischen Grundlagen, 1970, S. 17 ff. und Kehden, Die Vereinten Nationen. Im Unterschied zu der hier und von Pelzer, Andrassy und Friedmann verfolgten Betrachtungsweise stehen bei Jenisch, Kausch und Kehden aber Norm und Normsubstrat relativ isoliert nebeneinander.
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Kapitel). Für sie fehlen bisher weitgehend völkervertragliche Einzelregelungen. Es sind vor allem folgende Fragen zu erörtern54 : -
Welchen Inhalt haben die Rechtsnormen, über die das positive Recht zur seewärtigen Begrenzung des Festlandsockels und der Regelung der Meeresbodennutzung bereits verfügt, und wie weit genügt dieser Rechtsbestand den Bedürfnissen der Praxis?
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Ist die lex lata klar, sicher und flexibel genug, um potentielle Gebietskonflikte abzuwenden?
-
Werden die vorgefundenen Rechtsnormen den Erfordernissen der neuartigen Nutzungsprobleme gerecht, oder hinkt die lex lata den wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und militärischen Entwicklungen hinterher? Besteht ein Bedürfnis nach detaillierten völkerrechtlichen Regeln für das wichtigste Konfliktfeld, den Meeresbergbau, und wie müßte ein sachgerechtes internationales Meeresbergbauregime aussehen?
Es ist ein Charakteristikum der bisherigen Meeresbodendebatte, daß sie nur halbherzig versuchte, den bestehenden Rechtszustand zu ermitteln, auszubauen und durchzusetzen. Die Erörterungen bewegen sich vielmehr vorwiegend im Raum de lege ferenda. Gerade verantwortungsvolle Politiker, Völkerrechtler und Publizisten schrecken vor dem Versuch zurück, die modernen Möglichkeiten der Nutzung und die bald vielleicht schon unkontrollierbaren Gefährdungen des Meeresbodens und der Meeresökologie noch mit den traditionellen, auf ganz andere Bedürfnisse zugeschnittenen Rechtsfiguren in den Griff zu bekommen55 • Dies ist insofern bedenklich, als die beati possidentes des geltenden Rechts (z. B. die Ozeananrainer hinsichtlich 54 Der Umstand, daß wie sich zeigen wird - bei der Beantwortung dieser Fragen in der gegenwärtigen Diskussion außerordentlich gegensätzliche Auffassungen vertreten werden, ist kein Grund zum Verzicht auf die Ermittlung des gegenwärtigen Rechtszustandes, wohl aber Anlaß zur Zurückhaltung bei der Interpretation des einschlägigen Normbestandes. 55 Die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Meeresvölkerrecht läßt sich an Hand der Präambeln der UN-Seerechtskonferenz-Resolution (Anh. 2) und der UN-Meeresboden-Grundsatz-Resolution (Anh. 1) belegen. So hebt erstere nicht nur auf den Umstand ab, daß viele der heutigen UN-Mitglieder an den früheren Seerechtskonferenzen und der Entwicklung des traditionellen Seerechts nicht teilnahmen (weil sie damals noch nicht unabhängig waren); vielmehr wird auch die Notwendigkeit "for early and progressive development of the law of the sea" hervorgehoben, und die lex la ta wird dabei keines Wortes gewürdigt. Hinsichtlich des hier besonders interessierenden Meeresbergbaus geht die Grundsatzerklärung noch weiter. Sie stellt fest, "the existing legal regime of the high seas does not provide substantive rules", und verlangt, ein internationales Meeresbodenregime "should be established as soon as possible". Nimmt der Völkerrechtler diese Herausforderung nicht an, sondern verschließt er sich der Reformarbeit, so wäre es um Systematisierung und begriffliche Präzisierung der neuen Tendenzen und Zielvorstellungen wohl schlecht bestellt, also um die frühzeitig zu leistenden theoretischen Arbeiten, die unerläßlich sind für das sinnvolle Gliedern und rechtliche Ordnen des riesigen Materials der meerestechnologischen Vorgänge.
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der "beweglichen" Außengrenze des Festlandsockels) kaum von bisher rechtmäßig erlangten Positionen ablassen werden. Außerdem ist die Möglichkeit, die für die Zukunft nötigen Entscheidungen bereits jetzt zu erkennen und zu treffen, wegen der Neuartigkeit und Unübersichtlichkeit der Materie noch begrenzt. Andererseits ist der allgemeine Vertrauensschwund gegenüber dem gegenwärtigen Rechtszustand nicht zu übersehen. Dieses verlorene Vertrauen läßt sich im Nachhinein wohl nicht mehr mittels gelehrter Erläuterung und Fortbildung des bestehenden Rechts wiederherstellen, sondern nur noch durch rechtspolitische Neuerungen überwinden. Die neuen politischen Ziele und technischen Entwicklungen - in ihrer Wirkung auf das Rechtsbewußtsein dem "frontier"-Erlebnis in den USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichbar - haben nun einmal zu der überzeugung geführt, daß nur noch schnelle Rechtsetzung mit neuartigen Inhalten und Rechtsformen den Vorstoß zum Meeresboden regeln kann, ja daß der gesamte Komplex des Erforschens, Nutzens und Schützens des Meeresbodens und der marinen Umwelt einer planmäßigen Regelung und Verwaltung bedarf 56 • Auf die Frage, ob aus dogmatischer Sicht die gegenüber der lex lata zu konstatierende Unzufriedenheit berechtigt ist oder nicht, kommt es für die Ordnungskraft des Rechts in einer solchen Situation nicht an. Was rechtswissenschaftlich überzeugen mag, besitzt allein deshalb im "politischen Recht" der immer heterogener werdenden Völkergemeinschaft noch keine motivierende Kraft57 • Da demnach eine deduktive, kasuistische und rechtskritische Erörterung dem Rechtsordnungsthema nicht gerecht würde, dieses vielmehr auch Fragen der Rechtsreform mit einschließt, ist außerdem (Teil II, Zweites Kapitel) zu untersuchen, welche rechtspolitischen Maßnahmen die aufgezeigten Probleme lösen könnten und welche diesbezüglichen Vorschläge gemacht werden58 • Von dem ermittelten Sachverhalt ist hier 58 Hinzu kommt, daß gelegentlich ein an sich nicht neues Rechtsprinzip, zugeschnitten auf ein modernes Regelungsbedürfnis und präsentiert in einem unverdächtigen Gewand, auch unter den mißtrauischen jungen Staaten Anhänger gewinnen kann. In einer solchen Situation kann es dann wichtig sein, den momentanen Konsens als z. Zt. erreichbares Minimum festzuhalten, zu konkretisieren und institutionell zu verfestigen. 57 Außerdem würde eine juristische "Leistungsverweigerung" in der nun einmal in Gang gekommenen Neuordnungsdebatte wenig bewirken. Sie würde die Rechtspolitiker zwar eines zusätzlichen Kontrollforums und eines spezifischen Erkenntnisschatzes berauben. Nachdem die Rechtswissenschaft ohnehin längst das Rechtsbildungsmonopol verloren hat, würden aber eben andere versuchen, die neuen Pläne und Rechtsfiguren zu entwickeln, um die hochgespannten rechtspolitischen Erwartungen zu erfüllen. Gegenüber etwaigen "Verfrüht"-Warnungen würden sie sich darauf berufen, daß bei der Reform des Seerechts die Notwendigkeit zu entscheiden eben weiter reicht als die Möglichkeit, alle Konsequenzen der gegenwärtigen Maßnahmen schon zu erkennen. SB ZU den zahlreichen Prinzipien und Leitbildern für ein lex ferendaMeeresbodenregime vgl. etwa: Graf Vitzthum, Der Meinungsstreit um ein internationales Meeresregime, ms. 1971, S. 5 ff.; Brown, Hydrospace, S. 103 ff.; Andrassy, International Law, S. 111 ff.; DöU, Elemente, passim; Jenisch, Modelle zur Ordnung der Tiefseenutzung, Außenpolitik 20 (1969), S. 709 ff.; Levy, Rechtspolitische Schwerpunkte einer Regelung der Besitz- und Nut-
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erst recht vollständig Gebrauch zu machen, ist doch die Verbesserung der Schutz- und Nutzungsmöglichkeiten Aufgabe der Rechtspolitik, nicht Teil der Konkretisierung des gegenwärtigen Rechtszustandes. Schwerpunkte auch der lex ferenda-Erörterung sind die gebiets- 59 und nutzungsrechtlichen Fragen, sowie ihre Verschränkung mit den allgemeineren Problemen der Rechtserzeugung, des internationalen Organisationsrechts und der Entwicklung neuer, den Zukunftsaufgaben adäquater Rechtsformen6o • Hinzu kommt die weit in die Zukunft weisende Erarbeitung einer durchgebildeten, politisch akzeptablen und institutionell abgesicherten Gesamtordnung für den Meeresraum61 • Die stark rechtspolitische Ausrichtung des Themas macht seinen besonderen Reiz und seine besonderen Schwierigkeiten aus. Denn es fragt sich nicht nur, wie eine künftige Nutzungsordnung inhaltlich möglichst funktionsfähig ausgestaltet werden kann. Zu untersuchen ist vielmehr auch, mittels welcher Kompromisse sich angesichts der Spannungen im gegenwärtigen System der internationalen Beziehungen die schwierige Regelung der Nutzungsmodalitäten und der Gebietszugehörigkeit erreichen und überwachen läßt. Wie sich zungsrechte des Meeresgrundes, Osterreichische Zeitschrift für Außenpolitik 8 (1968), S. 135 ff. 18 Die gebietsrechtliche Reformdiskussion spielt sich zwischen den Extremen Nationalisierung und Internationalisierung des Meeresbodens ab. Die erste Lösung befürwortet eine vollständige Aufteilung des Meeresbodens unter die Uferstaaten ("Totalteilung"), die zweite seine Unterstellung unter eine internationale Behörde, die auch Details der Nutzungsordnung ausarbeiten und ihre Einhaltung überwachen würde. Vgl. Menzel, Nationalisierung oder Internationalisierung der Ozeane, NJW 1969, S. 2071 ff.; ders., Die drei Grundtypen einer Rechtsordnung für den Meeresgrund der Tiefsee, in: Kiel-Symposium, S. 171 ff. 80 Auf diesem Zusammenhang beruht die spezielle Dynamik der rechtspolitischen Erörterungen: Manche Uferstaaten werden etwa einer engen Festlandsockel-Außengrenze (gebietsrechtliche Hauptfrage) allenfalls dann zustimmen, wenn das neue internationale Meeresbodenregime den Meeresbergbau jenseits dieses nationalen Sondergebietes zu ihrer Zufriedenheit regelt (nutzungsrechtliche Kernfrage), wenn das Regime über eine starke Institution verfügt (organisationsrechtliche Problematik), und wenn diese Neuregelung schnell zustande kommt und von einer breiten Staatenmehrheit getragen wird (Hauptfrage der Rechtsetzungsproblematik). 81 Die Frage nach Umfang und Verfahren der Neuordnung des "Meeresbodenrechts" wird zunehmend wichtig. Möglicherweise verbietet die wachsende ökologische, strategische, wirtschaftliche und damit politische Interdependenz des marinen Raumes so unkoordinierte Teilregelungen (Meeresbergbaurecht, Meeresbodensperrvertrag, regionale Konventionen über den Schutz der marinen Umwelt, Fischereiübereinkommen usw.), wie sie z. Zt. politisch allein möglich erscheinen. Die Unteilbarkeit des marinen Milieus scheint frühzeitige übergreifende Gesamtplanungen für alle sich ohnehin überschneidenden Nutzungsformen und -zonen zu verlangen, also eine Generalregelung, die dann in einer Serie von internationalen und regionalen Einzelvereinbarungen zu verwirklichen wäre. Diesen Ansatz hat auch die UN-Vollversammlung hinsichtlich der räumlich und funktional erschöpfenden Agenda der geplanten Seerechtskonferenz (s. Anhang 2) gewählt: "Conscious that the problems of ocean space are closely interrelated and need to be considered as a whole" (Präambel).
Der Gang der Untersuchung
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zeigen wird, steht der Meeresbergbau politisch und wirtschaftlich im Mittelpunkt der lex ferenda-Problematik, so daß deren Kernfragen lauten: Für welchen Teil des Unterwassergebietes soll ein internationales Bergrecht vereinbart werden? Welche Zielvorstellungen sollen dabei verfolgt werden? Wie soll dieses "maritime Montanrecht" durchgesetzt und künftigen technischen Entwicklungen angepaßt werden? Ein bereits erwähnter Orientierungspunkt der rechtspolitischen Diskussion ist das in der UN-Meeresboden-Grundsatzerklärung (s. Anh. 1) enthaltene Heritage-Prinzip. Dieses umstrittene Leitprinzip für ein künftiges Meeresbodenregime scheint - klammert man seine vagen Abrüstungsaspekte aus und begnügt man sich nicht damit, es als juristische Leerformel abzutun62 vor allem vier Ziele anzustreben. Um den Umfang der rechtspolitischen Herausforderung bereits an dieser Stelle anzudeuten, seien sie kurz angeführt: - Der Meeresboden und seine Naturvorkommen sollen als "common heritage of mankind" zum Wohle der gesamten Menschheit genutzt werden; der Meeresboden soll deshalb nationaler Appropriation unzugänglich sein; die Meeresbodenschätze sollen nicht dem exklusiven Zugriff der Uferstaaten, der Industrieländer oder der Rohstoffkonzerne unterliegen (vgl. die Präambel der Grundsatzresolution: "the exploration of the area and the exploitation of its resources shall be carried out for the benefit of mankind as a whole"); - die Nutzung des Meeresbodens soll den Unterschied zwischen reichen und armen Ländern nicht verschärfen, sondern auch der Förderung der Entwicklungsländer dienen (Ziff. 7 und 9 der Grundsatzresolution: "taking into particular consideration the interests and needs of the developing countries") ; - "mankind" soll im künftigen Meeresbodenregime durch wirksame internationale Einrichtungen ("machinery") repräsentiert und geschützt, und jeder "Miterbe" an der Verwaltung des Meeresbodens beteiligt werden (so spricht Ziff. 9 der Meeresboden-Grundsatzerklärung von der Errichtung eines Regimes "including appropriate international machinery to give effect to its provisions")63; - der Meeresboden und seine Schätze sollen nicht nur der Befriedigung des gegenwärtigen Rohstoffhungers dienen; schon im Interesse der künftigen Generationen darf es bei der Nutzung des Meeresbodens nicht zu einer irreparablen Gefährdung des Meeresraumes kommen (so ruft Ziff. 9 nach Regeln "for the orderly and safe development and rational management of the area and its resources", Ziff. 11 nach umweltschützenden Normen und "conservation of the natural resources of the area"; schon am 1. 11. 1967 schlug Pardo vor, ein künftiges Meeresbodenregime solle auch die Interessen von "future generations" berücksichtigen, vgl. A/AC. 13511, S. 27). 82 Nach Botschafter Pardo (Malta) ist das vornehmlich von ihm entwickelte Heritage-Prinzip "not one of a number of more or less desirable principles; rather, it is the very foundation of our work ... It is a new legal principle which we wish to introduce into internationallaw" (A/AC. l/PV. 1589, S. 27). 63 Die entwicklungspolitische und institutionelle Komponente des Konzepts wurde schon früh in den UN-Beratungen besonders von Schweden und Zypern hervorgehoben (A/C. l!PV. 1596, S. 28 ff. bzw. 1599, S. 16).
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Einführung
Aufrißartig lassen sich de lege ferenda demnach drei Problemkreise identifizieren:
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MaterieHrechtlich geht es vor allem um die Festlegung einer klaren Außengrenze des Festlandsockels, um die Internationalisierung der j'enseitigen Unterwassergebiete und um die Ausarbeitung einer durchgebildeten Nutzungsordnung, die z. B. auch - ein wichtiges Ziel der neueren rechtspolitischen Bestrebungen - dem Einsatz des küstenferneren Meeresbergbaus zur Verringerung des Abstandes zwischen industriellen und armen Ländern dienen soll.
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Die organisationsrechtlichen Zukunftserwägungen beziehen sich auf die Alternativen, die das internationale Organisations- und Verwaltungsrecht für den Fall zur Verfügung stellt, daß die Gründung einer internationalen Meeresbodenbehörde beschlossen wird. Soll es sich um eine Einrichtung mit supranationalen Kompetenzen oder um eine internationale Organisation mit den beratenden, allenfalls koordinierenden Aufgaben des älteren Typs handeln?
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Der verbleibende rechtspolitische Fragenkreis betrifft den Prozeß der internationalen Rechtsfortbildung in der Meeresbodenfrage, die Felder, auf denen er sich abspielt, die dort operierenden Akteure, "Allianzen" und Interessen, sowie die Frage der Problembemessung (bloßes Meeresboden- [oder gar nur Meeresbergbau-] regime oder Schaffung einer "new equitable legal order of an institution al character for the oceans as a whole to replace the existing law of the sea" [A/8421, S. 14]?).
Im Zusammenhang mit der Frage der Problembemessung (Neuordnung des gesamten Meeresraumes oder "nur" des Meeresbodens) ist auch zu untersuchen, welche Auswirkungen die gegenwärtige seerechtliche Diskussion auf die künftige Entwicklung des Völkerrechts haben könnte. Ein sich bereits jetzt abzeichnendes Ergebnis dieser Erörterungen dürfte ein Funktionsgewinn der internationalen Organisationen sein, auch hinsichtlich ihrer Rechtssetzungskompetenz, sowie eine stärkere Berücksichtigung der besonderen Probleme der Entwicklungsländer. Damit könnte der Vorstoß zum Meeresboden - um den Anfang dieser Einführung aufzugreifen - den Beginn einer neuen Phase des Völkerrechts markieren, wenn seine Regelung außer der traditionellen Raum- oder Rohstoffaszination ein ebenso klassisches, aber bisher weniger durchschlagendes Element der Geschichte widerspiegelte: den Wunsch nach internationaler Zusammenarbeit, Gerechtigkeit und Frieden.
TEIL I
Der naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Sachverhalt Erstes KapiteL
Der Meeresboden I. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts Die Elemente des Meeresboden-Sachverhaltes, mit denen der Rechtsstatus dieses riesigen Unterwassergebietes am engsten zusammenhängt und deren Darstellung unter dem Gesichtspunkt der rechtswissenschaftlichen Fragestellungen somit Voraussetzung für die kritische Durchleuchtung und sinnvolle Weiterentwicklung des geltenden Rechts ist, sind die Großformen (unten 11) und Naturschätze (unten 111) des Meeresbodens. Der Einfluß der Großformen des Meeresbodens ist bereits in terminoLogischer Hinsicht zu spüren. Denn bei ihrem Versuch, die verschiedenen Unterwasserzonen und ihre Sachprobleme differenzierend zu bezeichnen, greift die Rechtswissenschaft auf die naturwissenschaftliche Nomenklatur zurück. Sie tut dies - ohne daneben auf ihr eigenes begriffliches Werkzeug für die Bewältigung der Rechtsfragen zu verzichten - aus drei Gründen. Erstens beschleunigt und vereinfacht dieses übernehmen bereits eingeführter Termini das Verfahren der Begriffsbildung. Damit wird eine bessere Orientierung über die Problemlösungen und eine schnellere Verständigung der Juristen untereinander und der Juristen mit den Nicht juristen ermöglicht. So konnte sich etwa der Terminus "Festlandsockel" im völkerrechtlichen Sprachgebrauch so schnell durchsetzen, weil er in den Naturwissenschaften bereits eingeführt war. Er konnte im wesentlichen übernommen werden, ohne daß es der stets umstrittenen eigenständig'en terminologischen Neuschöpfung bedurft hätte!. 1 Angesichts dieser terminologischen Zusammenhänge war es konsequent, der Genfer Seerechtskonferenz von 1958, auf der u. a . die Festlandsockelkonvention beschlossen wurde, ein Treffen naturwissenschaftlicher Exper-
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Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
Ein solches Anknüpfen an die Begriffswelt der zu regelnden Materie kann zweitens dazu führen, daß dieser Sachverhalt besser erfaßt wird, und daß die Rechtssprache vor allem selbst plastisch und sachnah ist, eine sinnentleerte, übermäßig konstruierte und von der Wirklichkeit zu stark abstrahierte Terminologie also vermieden wird. Dieser Wunsch nach einer unverfremdeten und stichwortartigen Bezeichnung war ein Grund dafür, daß in der Festlandsockeldiskussion der Begriff "Festlandsockel" der unpräzisen und sterilen Bezeichnung "Unterwasserzone" vorgezogen wurde. Die UN -Völkerrechtskommission hatte sich nach mehrjährigem Schwanken darüber hinaus auch deshalb für den Begriff "continental shelf" entschieden, weil er bekannter und allgemeinverständlicher sei. So hieß es 1953 im ILC-Kommentar Nr. 65: "The Commission considered the possibility of adopting a term other than ,continental shelf' ... However, it was considered that, in particular, the wide acceptance of that term in the literature counselled its retention 2 ." Diese sprachliche Versachlichung kann sich auch als Zwang zur Versachlichung bei der Behandlung der Rechtsfragen auswirken. Die Wirklichkeitsnähe der Rechtssprache geht in der Meeresbodendiskussion sogar so weit, daß die Rechtsfragen und Lösungsvorschläge nur versteht, wer auch die naturwissenschaftlichen Fakten und Begriffe kennt. Ein Völkerrechtler, der heute unvorbereitet an einer Tagung über Rechtsprobleme des Meeresbodens teilnimmt, wird zunächst glauben, versehentlich auf einen Kongreß von Ozeanographen, Geologen und Meerestechnikern geraten zu sein, so stark sind die terminologischen und faktischen Anleihen der RechtswissenschaftIer an jene nicht-juristischen Wissensgebiete, und so viel wird als allgemeinbekannt vorausgesetzt, was dem "Normwissenschaftler" zunächst durchaus fremd sein muß3. So wird ein Völkerrechtler auch bei noch so guter dogmatischer Schulung etwa Präsident Nixons wichtigen seerechtspolitischen Vorschlag ten voranzuschicken. Ihr der Konferenz vorliegender Bericht Scientific Considerations Relating to the Continental Shelf (A/CONF. 13/2 and Add. 2) sollte den Staatenvertretern Definitionselemente und die Möglichkeit der Wahl geben, "in full awareness of all the circumstances". Der Bericht stützte sich seinerseits auf Definitionen des International Committee on the Nomenclature of Ocean Bottom Features (1953), die schon die UN-Völkerrechtskommission bei der Vorbereitung der Festlandsockelkonvention verwandt hatte (Yearbook of the International Law Commission, Bd. I 1956, S. 131). 2 Drei Jahre später wurde dieser Begriff auch deshalb beibehalten, "because the term ,submarine areas' used without further explanation would not give sufficient indication of the nature of the areas in question" (Yearbook of the International Law Commission, Bd. II 1956, S. 297). 3 Vgl. die Berichte über derartige Kongresse und rechtspolitische Projekte, z. B. Graf Vitzthum, Tiefsee-Tagung, passim; ders., Pacem in Maribus, AöR 96 (1971), S. 100 ff. Auch die Veröffentlichungen des Law of the Sea Institute der Universität von Rhode Island, die aus den seit 1966 abgehaltenen Jahrestagungen dieser führenden Seerechtsforschungsstelle der USA hervorgehen, bestehen jeweils nahezu zur Hälfte aus rechtstatsächlichen Untersuchungen.
I. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts
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vom 23. 5. 1970 (nach dem der Kontinentalrand jenseits der 200-mTiefenlinie den Uferstaaten als Treuhandzone unterstellt werden soll), nicht voll verstehen, geschweige denn sich mit seinen Fachkollegen schnell über die Initative verständigen können, wenn ihm nicht auch der naturwissenschaftliche Terminus "Kontinentalrand" vertraut und der lagerstättenkundliche Umstand der ölhöffigkeit dieses Teils des Meeresbodens bekannt ist4 • Der Vorschlag ist u. a. veröffentlicht in: Committee on Deep Sea Mineral Resources of the American Branch of the International Law Association, Second Interim Report, July 1970, S. 26 ff. Präsident Nixon schlug vor, die Außengrenze des Festlandsockels auf die 200-m-Tiefenlinie zurückzuführen. Das seewärts davon gelegene Unterwassergebiet soll dann für den Zweck der "Meeresbergbauhoheit" in zwei Zonen aufgeteilt werden: in eine "Treuhandzone" unter uferstaatlicher Kontrolle, die den seewärtigen Teil des rohstoffreichen Kontinentalrandes (der Schelf ist dessen landwärtiges Drittel) umfassen soll, und in den restlichen, einer internationalen Meeresbodenbehörde zu unterstellenden Teil (zu ihm gehören die Tiefseebene und die Mittelozeanischen Rücken). Für die Beurteilung des Vorschlages ist z. B. wichtig zu wissen, wo die Außengrenze des "Kontinentalrandes" liegt bzw. liegen soll, hängt doch von der Lage dieser Linie ab, welche Meeresbodengebiete uferstaatlicher und welche internationaler Verwaltungshoheit unterstellt werden sollen5 • Die Tatsache, daß sich synonyme natur- und rechtswissenschaftliche Begriffe inhaltlich gelegentlich nicht decken, ja daß sie z. T. gerade nicht die gleiche Bedeutung haben sollen, widerspricht dem nicht6 • Im Gegenteil: Die Kenntnis dessen, was - obwohl und z. T. weil Bestandteil des naturwissenschaftlichen Begriffsinhaltes - nicht Bestandteil der juristischen Definition sein soll, ist ein Erkenntnismittel bei der Einkreisung dessen, was positiv Inhalt des Rechtsbegriffes ist. Die Funktion der Meeresbodenbegriffe und -fakten als Orientierungshilfe für die Bewältigung der Rechtsfragen sei am Beispiel der Außengrenze des Sonderrechtsgebietes "Festlandsockel" erläutert. Der völkerrechtliche Fest4
Da der geowissenschaftliche Spezialbegriff "continental margin" von
Nixon ohne nähere Erklärung verwandt wurde und als Rechtsbegrüf im
Unterschied etwa zu dem des "Festlandsockels" bisher nicht existiert, muß davon ausgegangen werden, daß sein naturwissenschaftlicher Begriffsinhalt gemeint war. Um also die rechtspolitische Bedeutung der Nixon-Erklärung verstehen und beurteilen zu können, muß der Völkerrechtler zunächst die naturwissenschaftlichen Fakten kennen. 6 Auch darf nicht die Tatsache übersehen werden, daß der naturwissenschaftliche Begriff selbst nicht völlig eindeutig ist. Möglicherweise war es Nixons Absicht, sich durch die Verwendung eines derart mehrdeutigen Begriffes noch gewisse Optionen und Präzisierungsmöglichkeiten offenzuhalten. e Wissenschaftstheoretisch ist die Mehrdeutigkeit von Begriffen nichts Ungewöhnliches. Es wird auch "kaum jemals die Gemüter erregen, daß etwa der Begriff ,Masse' in der Physik und in der Soziologie verschiedene Intensionen hat", Essler, Wissenschaftstheorie, S. 57. Nachweise zum allgemeineren Thema "Recht und Sprache" bei König, Erkenntnisinteressen, S. 172 f., 178 ff.
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Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
landsockelbegriff deckt sich u. a. 7 deshalb nicht mit der naturwissenschaftlichen Bedeutung dieses Terminus, weil bei der Herausbildung der neuen Doktrin auch den Staaten ein "Festlandsockel" gegeben werden sollte, die (z. B. weil der Meeresboden vor ihrer Küste ohne flache Zwischenzone gleich in sehr große Tiefen abfällt) keinen Schelf besitzen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht erhielten diese Steilküstenstaaten also ein Stück tiefen Meeresbodens als (potentiellen) Pseudoschelf. Die Kenntnis der natürlichen Verschiedenartigkeiten der Unterwasserzonen und dieses Versuches, sie juristisch zu "korrigieren", ermöglicht etwa die Schlußfolgerung, daß der "Wirklichkeitsgehalt" des Festlandsockelprinzips nicht absolut ist. Dies ist für die Auslegung der bestehenden Rechtssätze über die Außengrenze des Festlandsockels wichtig. Eine Vorstellung von den naturwissenschaftlichen Merkmalen des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisobjektes ist also auch dann für den Juristen nützlich, wenn sich die synonymen Termini inhaltlich nicht decken. Die "normwissenschaftliche" Begriffsbildung wird aber durch die "seinswissenschaftliche" Terminologie nicht nur vereinfacht und veranschaulicht. Auch der umgekehrte Vorgang findet statt. Er ist der dritte Grund dafür, daß auch der Völkerrechtler die naturwissenschaftlichen Termini kennen muß. Denn mit dem Fortschreiten der Meeresbodendebatte läßt sich auch ein Ausrichten der naturwissenschaftlichen Forschung und Terminologie an juristischen Fragestellungen beobachten, ein Vorgang, der die allgemeine Beeinflussung der Begriffsbildung (auch in den "objektiven" Naturwissenschaften) von der Stellung der Probleme, vom Vorverständnis und vom inhaltlich Gewollten belegt8 • Nicht nur die Begriffsbildung und Problemstellung, sondern auch die Erkenntnis selbst kann von Interessen beeinflußt, aber auch durch sie erst 7 Einen Grund dafür lieferten die Naturwissenschaftler selbst. Sie hatten sich damals auf eine einheitliche Schelfdefinition noch nicht geeinigt: "The varied use of the term by scientists is in itself an obstacle to the adoption of the geological concept as a basis for legal regulation of this problem", ILC-Kommentar 1956, Bd. 11, S. 297. - A. A. Finlay, The Outer Limit of the Continental Shelf, AJIL 64 (1970), S. 42 ff. Er kritisiert die Urheber der Festlandsockelkonvention für ihre angebliche Entscheidung, "to fly in the face of science by using a scientific term of precise meaning, ,continental shelf', to identify an area of the ocean floor which they had deliberately agreed went weIl beyond that meaning, thereby creating an anomalous ,legal' Continental Shelf. Nothing but confusion has resulted from this decision ... " Finlay impliziert hier eine negative Antwort auf die entscheidende Frage, ob der völkerrechtliche Sonderbereich "Festlandsockel" auch im Normalfall (d. h. beim Vorliegen eines weiten Schelfs) vom Inhalt des naturwissenschaftlichen Begriffs so sehr abweicht, daß man von einer vollständigen Aufgabe des natürlichen Substrats des Rechtsprinzips sprechen kann. 8 Vgl. von Simson, Souveränität, S. 27 f.: "Das Mögliche und Gewollte beeinflussen den Begriff, dessen wissenschaftlicher Charakter demnach nur zu erhalten ist, wenn man entweder das von diesem Einfluß Abhängige ausschaltet, und damit den Bedeutungsinhalt des Begriffes bis an die Grenze des Trivialen herabsetzt, oder wenn man nicht davor zurückscheut, seine Definition außerhalb der Rechtstheorie bzw. in dem Verhältnis zu suchen, in dem außerrechtliche Tatbestände zu den rechtlich geregelten Dingen stehen."
1. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts
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konkret vermittelt werden: Es gibt keine absolut "reine" Erkenntnis (vgl.
Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1970, S. 221 ff.). Habermas legt den Zu-
sammenhalt von Erkenntnis und Interesse bis zu den sozialkulturellen Bedingungen der Wissenschaft frei und belegt dabei die Interessengeleitetheit der Forschung. - Auf die aktuelle Diskussion, insbesondere Habermas' Unterscheidung zwischen "technischen", "praktischen" und "emanzipatorischen Erkenntnisinteressen", ist hier nicht einzugehen. Ihr ist für unseren Zusammenhang nur die Bedeutung zu entnehmen, die Ausbildung, Standort und Perspektive der jeweils Stellungnehmenden beizumessen ist, Umstände, die ebenso in eine interessenbewußte Untersuchung einzubeziehen sind wie etwaige konkrete und benannte Interessenfaktoren. So werden neue Forschungsprojekte und neuartig'e naturwissenschaftliche Begriffe (z. B. "Kontinentalblock") auch zu dem Zweck entwickelt, bestimmte rechts dogmatische oder -politische Auffassungen geowissenschaftlich zu stützen. Für den Juristen kann es natürlich nicht darauf ankommen, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der naturwissenschaftlichen Begriffs- und Ergebnisbildungen zu untersuchen9 • Dazu fehlen ihm Vorbildung, Handwerkszeug und Beruf. Er muß das Meiste auf Treu und Glauben hinnehmen1o • Auch der Normwissenschaftler benötigt aber eine sachverhaltsbezogene "Allgemeinbildung", um das faktisch Wichtige vom Irrelevanten und bloß Aktuellen trennen und Ver-
9 Die problematische Rolle des Juristen bei der Ermittlung außerrechtlicher Sachverhalts- und Begriffselemente kann hier nur angedeutet werden. Diese Fragestellung ist vor allem deshalb aufgetaucht, weil die fortschreitende Komplizierung, Bürokratisierung, Spezialisierung und Technisierung der Lebensverhältnisse und das zwangsläufige Erstrecken des Rechts auf die neu entstehenden technischen Bereiche - das Recht selbst wird damit im gleichen Maße komplizierter, differenzierter und "technisierter" - auch zu einer ständigen Verbreiterung des Spektrums juristischer Tätigkeit geführt hat. Einigkeit besteht darüber, daß diese Entwicklung zumindest dazu führt, daß sich der Jurist spezialisieren muß, daß der juristisch Allgemeingebildete von dem in seinem Gebiet beschlagenen Fachmann abgelöst wird. Vgl. Forsthoff, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, NJW 1960, S. 1273 ff. 10 Wieweit dieses Problem von einer neuen Juristenausbildung gelöst werden kann, steht dahin. Viele Autoren und Rechtspolitiker sind hier wohl zu optimistisch. Von der Beobachtung ausgehend, daß die Technisierung der Lebensverhältnisse auch den spezialisierten Juristen zwingt, sich in der besonderen Begriffswelt und in den Gesetzmäßigkeiten "seiner" Materie auszukennen, wird vielfach erwartet, daß sich der Rechtswissenschaftler darüber hinaus auch den diese Materie erforschenden und sie erklärenden Spezialwissenschaften öffnet, sich also ein spezifisches außerrechtliches Fachwissen aneignet. Vgl. Ostermeyer, Die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz und die Herausforderung der Soziologie, DRiZ 1969, S. 9 ff.; Redeker, Bild und Selbstverständnis des Juristen heute, 1970. So überspitzt und wohl unerfüllbar diese Forderung auch i. d. R. sein mag, so unentbehrlich dürfte die Kenntnis spezieller Nachbar- und Rahmenwissenschaften für den Juristen in zwei bereits erwähnten Sonderfällen sein: bei der Entwicklung und überprüfung rechtspolitischer Alternativen, sowie bei der material- gerechten Behandlung der neuartigen Technologie-Sachverhalte.
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Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
schleierungsmanöverl l , Zweckbildungen, Tatsachenverzerrungen und vorgebliche Evidenzen erkennen zu können. Das damit angeschnittene Problem, das in der Vieldeutigkeit oder gar Unrichtigkeit der naturwissenschaftlichen Information für die juristische Schlußfolgerung liegt, kann in diesem Zusammenhang nicht vertieft werden. Jacobsen - Stein, Diplomats, Scientists and Politicians, 1966, haben diese Frage für die Beratungen des Teststop-Abkommens untersucht. Das Problem bestand damals darin, daß sich die naturwissenschaftlichen Autoritäten jahrelang selbst nicht über die Konsequenzen des nuklearen fall-outs einig waren. Ihnen wurde erst relativ spät klar, daß die Atmosphäre ganz anders funktionierte, als man jahrelang angenommen hatte. Ähnliche Meinungsverschiedenheiten bestehen heute z. B. über die Gefährlichkeit mancher Schadstoffablagerungen auf dem Meeresboden und über die lagerstättenkundliche Bedeutung des Kontinentalanstiegs. - Die Konsequenzen dieser tatsächlichen Ungewißheiten für das Rechtsfortbildungsverfahren werden später unter dem Stichwort "Regelungsreife" (d. h. kann ein regelungsbedürftiger, aber faktisch noch äußerst umstrittener Sachverhalt schon jetzt rechtlich geordnet werden?) untersucht. An dieser Stelle ist nur auf die Existenz solcher naturwissenschaftlicher Meinungsunterschiede und auf die daraus resultierende Relativität der "seinswissenschaftlichen" Information hinzuweisen. Aus juristischer Sicht ist bei dieser Frage deshalb dreierlei auseinanderzuhalten: die naturwissenschaftliche Begriffsbildung (ihre "Reinheit" oder Interessenabhängigkeit), die rechtstatsächlichen Daten (ihr unbestrittener oder umstrittener Charakter) und die Relevanz dieser naturwissenschaftlichen Begriffe und Fakten für die Rechtsfrage (die rechtswissenschaftliche Anknüpfung an sie). Noch wichtiger sind die Großformen des Meeresbodens für die Fixierung von Meeresbodengrenzen und, damit zusammenhängend, als Erwerbstitel für die Erweiterung der uferstaatlichen Rohstoffmonopolbereiche. Da sich die traditionelle völkerrechtliche Gebietslehre an Landzusammenhängen unter dem Wasser orientiert, bilden die Großformen den faktisch-en Hintergrund für den gebietsrechtlichen Teil der Rechtsstatusfrage. Erinnert sei dabei besonders an das Festlandsockelprinzip, "arisen out of the recognition of a physical fact; and the link between this fact and the law, without which that institution would never have existed, remains an important element for the application of its legal regime"12. Außerdem sind die Großformen für die Vermittlung von 11 Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Außengrenze des Festlandsockels ist dabei vor allem der Versuch des (US) National Petroleum Council zu behandeln, dem Begriff "Festlandsockel" die Bedeutungen "Kontinentalblock" oder "Kontinentalrand" zu unterschieben. Pell hat die dabei aufgetretenen heftigen Begriffsstreitigkeiten pointiert als "semantic war" bezeichnet (Outer Continental Shelf, Hearing Before the Special Subcommittee on Outer Continental Shelf of the Committee on Interior and Insular Affairs, United States Senate, 91st Congress, Second Session on Issues Related to Establishment of Seaward Boundary of United States Outer Continental Shelf, Part 2, 1970, S. 412). Ebd., S. 380 ff. zum Hintergrund dieser Begriffskontroverse; S. 395 zum terminologischen "smoke screen", den der NPC habe hochgehen lassen. 12 IGH, Nordseefestlandsockel-Fall, S. 51. Der Gerichtshof fährt fort: "The
I. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts
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Kenntnissen über weitere, bisher nicht entdeckte Vorkommen von erheblicher Bedeutung. Bei der Festlegung von Grenzen haben zwar morphologische und geologische Gegebenheiten (Gebirgskamm, Wasserscheide, Fluß) seit jeher eine Rolle gespielt, früher ("Von der Maas bis an die Memel") mehr noch als heute. Die Meeresbodendebatte war von Anfang an in ungewöhnlich starkem Maße durch die Suche nach "natürlichen Grenzen" gekennzeichnet. In einem geradezu "naturrechtlichen" Sinn greifen hier lex lata-Interpretationen und lex ferenda-Vorschläge auf naturvorgegebene Merkmale zurück: auf die Formationen auf und unter dem Kontinentalrand, der in dieser Hinsicht wichtigsten Großform des Meeresbodens. Man benutzte sie zur Rationalisierung und Rechtfertigung von gewünschten ("natürlichen") oder zur Bekämpfung von unerwünschten ("willkürlichen") GrenzvorschlägenlS • Dabei wird impliziert, daß eine naturkonforme Grenze per se "besser" sei als eine "künstliche". Ob das der Fall ist, ist jedoch von Vorverständnis, Standort und Ziel des Stellungnehmenden abhängig, von Faktoren also, die ebenfalls der Nachprüfung bedürfen. Zur Beurteilung dieser Vorschläge und Interpretationen muß man deshalb zunächst wissen, welche Ansatzpunkte für eine "natürliche" Grenzziehung überhaupt vorhanden sind (z. B. morphologische, geologische, lagerstättenkundliche, technische Merkmale), auf welches dieser Kriterien sich die jeweilige Stellungnahme stützt (die morphologische Außengrenze des festländischen Bereichs etwa liegt vielerorts seewärts der geologischen), und welche anderen naturkonformen Grenzziehungen theoretisch möglich wären. An Hand dieser Kenntnisse läßt sich dann u. a. beurteilen, wie "natürlich" die vorgeschlagenen Grenzen sind. Denn gibt es eine noch "natürlichere" Grenze, so besitzen die anderen "naturgerechten" Grenzen für die Anhänger einer "natürlichen" Grenzziehung eine geringere Legitimation als jene naturkonforme "übergrenze". Vor allem ist zu fragen, was überhaupt ein natürlicher Grenzziehungsmaßstab ist. War z. B. das frühere Kriterium der "Kanonenschußweite" (3 sm) ein natürlicher Maßstab für die Bemessung der Breite des Küstenmeeres? Zu untersuchen ist auch, welche Interessen hinter den einzelnen Vorschlägen "natürlicher Grenzen" stehen, und inwiefern die Morphologie continental shelf is, by definition, an area physically extending the territory of most coastal States into a species of platform which has attracted the attention first of geographers and hydrographers and then of jurists. The importance of the geological aspect is emphasized by the care which, at the beginning of its investigation, the International Law Commission took to acquire exact information as to its characteristics .. ." 13 So versuchte etwa der NPC seiner Deutung der de lege lata-Außengrenze des Festlandsockels (sie soll am fuße des Kontinentalblocks in mehreren tausend Metern Tiefe liegen) dadurch eine höhere Legitimität zu verschaffen, daß er darauf hinweist, diese Linie entspräche einer ohnehin schon durch die Natur vorgezeichneten, geologisch festgelegten Meeresbodengrenze, und stelle darüber hinaus auch die "natürlichste" aller natürlichen submarinen Grenzen dar. National Petroleum Council, Petroleum Resources Under the Ocean Floor, 1969, S. 10, 65 ff. 4 Vltzthum
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Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
und Geologie des Kontinentalrandes heute noch sinnvollerweise zur Festlegung und Sichtbarmachung von Grenzen herangezogen werden können. Die Meeresbodenformen sind schließlich auch deshalb gebietsrechtlich wichtig, weil ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Grundlage für die Erstreckung uferstaatlicher Befugnisse besteht. Die Erweiterung staatlicher Hoheitsbereiche auf, über und unter den Land- und Meeresgebieten hat sich stets einer Fülle von Erwerbstiteln bedient14 • Hinsichtlich des küstennahen, flachen Unterwassergebietes wurde ein besonders naturbezogener Erwerbsgrund entwickelt, das Festlandsockelprinzip. In Anlehnung an die Lehre von der Kontiguität entstanden, stellt es auf den Lagerstätten- und "Land-Zusammenhang unter Wasser" abiS. Zur seewärtigen Begrenzung dieses Festlandsockelgebietes, also zum Ziehen der inneren Grenze des hrer interessierenden Meeresbodens, bedarf es wegen dieses engen Zusammenhanges von Natur und Recht der Kenntnis der unterseeischen landnahen Formationen und Vorkommen. Sie bilden das Indiz für die enge Verbindung des Landterritoriums mit der unterseeischen Zone und damit die Grundlage für die rechtliche Kontrolle beider Gebiete durch den Uferstaat. Zwischen dieser Erwerbsgrundlage und der " natürlichen " Grenzziehung besteht dabei ein doppelter Zusammenhang. Das Anlehnen an "natürliche Grenzen" soll auch hier in erster Linie Forderungen nach Gebietserweiterungen stützenl6 • Gleichzeitig wird impliziert, daß spätestens dort, wo der "Land-Zusammenhang unter Wasser" abreißt, die natürliche Außengrenze des uferstaatlichen Sonderrechtsgebietes liegt. 14 Vgl. Sontag, Der Weltraum in der Raumordnung des Völkerrechts, 1966, S. 1: "Zu Beginn des Zeitalters der Entdeckungen beriefen sich die Staaten auf päpstliche Schenkungen, so dann auf den Erwerb durch Entdeckung oder durch Okkupation, später darüber hinaus oder im Zusammenhang mit diesen auf die Erweiterung ihrer Herrschaftsbereiche auf Grund anderer Erwerbstitel wie die der Kontiguität, des ipso jure miterworbenen Hinterlandes oder der Sektorentheorien. " 15 Menzel, Festlandsockel, S. 7. Vgl. auch Busch, Der Festlandsockel im Schnittpunkt von Meeresfreiheit und Staatensouveränität, IRuD 1967, S. 79 ff. (83 Anm. 28, 87 m. Nw.). Busch weist besonders auf die fehlende seewärtige Begrenzbarkeit der Kontiguitätstheorie hin. Böhmert, Meeresfreiheit VI, S. 87 f. spricht unter Berufung auf Waldock, SceHe und Kelsen von "ihrer Maßlosigkeit - schließlich grenzt alles aneinander und ist jedes jedem benachbart -, die sie als Erwerbstitel der Gebietshoheit oder sonstiger Rechte ungeeignet macht". Für Böhmert handelt es sich "bei der auf der contiguity basierenden Schelfdoktrin um eine Abart der politischen Theorie vom ,Lebensraum"'. 18 Vgl. Helm, Artikel: Wasserscheidentheorie, Strupp-Schlochauer III, S. 811: "Die Wasserscheidentheorie als Teil der Theorie von den natürlichen Grenzen besagt, daß die Grenzen eines Staates natürliche sein müßten. Die Bedeutung der Theorie liegt auf politischem Gebiet. Sie soll in erster Linie Forderungen nach Gebietserweiterungen stützen. So diente sie bis zum Jahre 1919 der italienischen Politik zur Unterstützung ihrer Forderung auf Einverleibung Südtirols bis zum Alpenkamm (Wasserscheide)."
A
I OCEAr, HOOR
Abb. 1: Reliefkarte des Meeresbodens des Atlantik (Karte der National Geographie Soeiety, Washington, D. C., USA)
I. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts
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Die Naturschätze des Meeresbodens (unten IU) beeinflussen die Meeresbodendebatte noch stärker als die Formen und Gesteinsstrukturen des riesigen Unterwassergebietes. Denn der Meeresboden ist nicht "als solcher" und nicht primär als militärisch und wissenschaftlich wichtiger Raum interessant. Er ist dies vielmehr vor allem wegen seiner mineralischen Lagerstätten17 • Die großen marinen Rohstoffvorkommen standen bereits im Mittelpunkt der Festlandsockeldebatte der 40er und 50er Jahre 18 • Die Erwartung, mit der Verbesserung der Gewinnungstechnik auch die Lagerstätten der tieferen Gebiete ausbeuten zu können, ist die treibende Kraft hinter der aktuellen Diskussion um den Rechtsstatus des Nicht-Festlandsockelgebietes. Die Hoffnung, aus dem Kontinentalabhang Erdöl und -gas und von der Tiefseebene Manganknollen zu gewinnen, steht sogar in noch stärkerem Maße hinter der heutigen Meeresbodendiskussion, als es der "economic appetite" bei der Festlandsockeldiskussion vor einem Vierteljahrhundert tat. Das läßt sich z. B. an den Erörterungen der International Law Association (ILA) ablesen. Während sich die ILA damals (seit 1948) mit dem Rechtsstatus des Meeresbodens unter der breiten gebiets- und nutzungsrechtlichen Fragestellung "Rights to the Seabed and its Subsoil" befaßte (s. Böhmert, Meeresfreiheit VI, S. 50 ff.), beschäftigt sich diese private wissenschaftliche Vereinigung diesmal (seit 1966) nur mit Rechtsfragen des "deep-sea mining". Hier ist nicht der Frage nachzugehen, ob auf diese Limitierung der Fragestellung "Industrie-Interessen Einfluß" hatten (Münch, ILA, S. 135 Anm. 8 unter Berufung auf McDougal-Burke), und ob die schnelle und überspitzte Stellungnahme der nordamerikanischen ILA-Gruppe "will only give addi-: tional ammunition to those who in the past have accused the Branch of being lawyers for business interests, having no regard to other national and 17 So bezog sich bereits die Truman-Proklamation auf die "new sources of petroleum and other minerals". Die USA begründeten das uferstaatliche Monopol über dieses Unterwassergebiet u. a. damit, daß "these resources frequently form a seaward extension of a pool or deposit lying within the territory [of the coastal nation]". 18 Menzel, Festlandsockel, S. 10 ff., weist nach, daß das Schelfphänomen seit 1942 zur uferstaatlichen Monopolisierung der Erdölgewinnung benutzt wurde. Slouka, International Custom and the Continental Shelf, 1968, S. 42 ff. erklärt dies mit der besonderen Rohstoffsituation des Zweiten Weltkrieges, "when the need for petroleum pushed technology sufficiently ahead to bring oil and gas deposits under the bottom of the sea progressively within the reach of the oilman's drill. And it was primarily this mineral wealth which brought onto the shelves both Great Britain and the United States in 1942 and 1945 respectively, and afterwards a number of states in a rapid sequence ... The countries claiming their adjacent shelves were not interested in simply asserting on the shelf some abstract legal rights ... [The] economic and commercial interest in that exploitation, obviously compelled the governments to take political action with respect to the shelf. One can easily agree with Scelle that the governments acted mainly to satisfy the ,economic appetite' of the petroleum companies, and also, undoubtedly, to satisfy an even hungrier appetite of their own." Slouka, ebd., S. 72 spricht von "petroleum as the material object" des entstehenden Festlandsockelprinzips: Auch die Truman-Proklamation "did not pertain to the entire geographical area of the shelf ... (sondern) proclaimed a specific United States policy to regard only certain resources of the continental shelf.
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Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
international interests and values" (Henkin, von dem Report dissentierend, in einem Brief an Ely, den Vorsitzenden der US-ILA-Gruppe, am 10.6.1968). Diese Verengung der Fragestellung auf die bloß rohstoffindustriellen Meeresbodenprobleme wiederholt sich darüber hinaus bei fast allen einschlägigen Untersuchungen, obwohl es ein Kennzeichen der heutigen Meeresbodenproblematik ist, daß die Bergbauaspekte zwar die Initialzündung und den Schrittmacher der Erörterungen darstellten, daß es daneben aber sicherheits-, forschungs- und umweltpolitische Aspekte von wachsender Bedeutung gibt. Lage, Umfang und Ausbeutbarkeit der Vorkommen beeinflussen das Verhalten der einzelnen Staaten in der Grenz- und Herrschaftsfrage. Schon de lege lata üben die Rohstoffräume einen erheblichen Gebietserwerbsanreiz aus 19 • Dies gilt erst recht für die Ausgestaltung der lex ferenda. Hier könnten einige Uferstaaten versuchen, die wichtigsten submarinen "Rohstoffprovinzen" unter ihre Kontrolle zu bringen, also die seewärtige Grenze ihres Monopolbereiches möglichst bis zur Außen- und Seitengrenze dieser höffigen Zonen vorzuschieben20 • Das rohstoffwirtschaftliche Interesse der Staaten dagegen, die - wie die Bundesrepublik Deutschland - nicht Ozeananrainer, wohl aber stark von Rohstoffimporten abhängig sind, richtet sich auf eine möglichst küstennahe Begrenzung der uferstaatlichen Ausschlußrechte, also auf Gewinnungschancen hinsichtlich einer möglichst großen Menge von Meeresbodenschätzen. 18 Auch bei der Interpretation und Anwendung des geltenden Rechts spielen die mineralischen Rohstoffe im Meeresboden eine große Rolle. So fragte im IGH-Festlandsockelfall Professor Jessup von der Richterbank aus den deutschen Vertreter, "ob das Wissen um Lagerstätten von Mineralien ein Kriterium zur Deutung dessen sei, was als ,just and equitable share' zu gelten hat" (Menzel, Der Festlandsockel der Bundesrepublik Deutschland und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 20. 2. 1969, JIR 14 [1969] S. 13 ff. [78 Anm. 111]). In seinem Separatvotum sagte Jessup dann (S. 67 ff.): Obwohl "the Parties in this case chose to deal obliquely in their pleadings with the actuality of their basic interests in the continental shelf of the North Sea, it is of course obvious that the reason why they are particularly concerned .. . is the known or probable existence of deposits of oil and gas in that seabed ... [In the German Memorial] Judge Hudson is quoted as stating that ,the economic value of proven deposits of minerals' should be taken into consideration in the delimitation of the continental shelf ... [The German Memorial] at least hints that the Court would be free to indicate that the location of mineral resources may be one of the criteria to be taken into account ,in order to acchieve a just and equitable apportionment' . .. [The] Danish Counter-Memorial argues that the German Memorial confuses the question of ,space' with the question of ,resourees' ... " 20 Der gleiche Vorgang ist bei der Diskussion um uferstaatliche Fischereirechte in der Hohen See zu beobachten. So beanspruchen einige Staaten an der südamerikanischen Pazüikküste u. a. deshalb eine 200-sm-Kontrollzone (und nicht eine solche von z. B. 12 oder 300 sm Breite), weil etwa in dieser Entfernung in der meisten Zeit des Jahres der besonders fischreiche Humboldtstrom fließt (Rojahn, Die Berechtigung der Ansprüche auf ein Küstenmeer von mehr als 12 sm Breite, in: Kehden - Henkmann, Die Inanspruchnahme von Meereszonen durch Küstenstaaten, 1967, S. 277 ff., S. 293).
1. Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Sachverhalts
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Dies ist allerdings nicht die einzige rechtspolitische Lösung, die den "Rohstoffhunger" der importabhängigen Industriestaaten löschen könnte. So könnte sich die deutsche Erdölindustrie z. B. über bilaterale Vereinbarungen mit Ozean anrainerstaaten (statt "multilateral" über eine internationale Lizenzbehörde) Zugang zu Lagerstätten zu verschaffen versuchen, sollten de lege ferenda die uferstaatlichen Kontrollzonen sehr breit ausfallen. Aus der Sicht der Finnen schließlich, die weniger an den Rohstoffen selbst, als an der Veräußerung von "know how", von System-, Verhüttungs- und Meerestechnik interessiert sind, käme es statt auf die Grenz- und Hoheitsfrage vor allem darauf an, daß überhaupt eine, ein günstiges Investitionsklima schaffende Regelung geschaffen wird, eine Regelung, die dann auch Rechtssicherheit für die Entwicklung und Anwendung spezieller "ozeanologischer Dienstleistungen" gewährte.
Anders - aber wiederum unmittelbar mit den marinen Rohstoffen zusammenhängend - sieht die Interessenlage der Entwicklungsländer aus. Aus faktischen Gründen können sich die armen Staaten an der marinen Rohstoffgewinnung nicht nur nicht beteiligen. Die wichtigsten Rohstofflieferanten unter ihnen haben den Meeresbergbau auch ganz unmittelbar zu befürchten, gibt es doch marine Lagerstätten, die ihre Landvorkommen übertreffen könnten. Sollten sich diese Meeresbodenschätze eines Tages kostengünstiger abbauen lassen, als die z. Zt. noch gewinnbringend ausgebeuteten terrestrischen Vorkommen, so wäre die Abbauwürdigkeit zahlreicher Landlagerstätten in Frage gestellt21 • Die Furcht unterindustrialisierter Rohstoffländer vor einem durch den Meeresbergbau potentiell verursachten internationalen Preisverfall bei mineralischen Rohstoffen spielt in der Meeresbodendiskussion eine erhebliche Rolle. Diese entwicklungs- und marktpolitische Seite unterscheidet die Meeresbodenfrage wesentlich von den Festlandsockeldiskussionen der 40er und 50er Jahre. Ging es damals "nur" um einen Ausgleich zwischen den Extremen allgemeiner Nutzungsfreiheit und Uferstaatenmonopol, so geht es heute zusätzlich um einen Interessenausgleich zwischen den Industrienationen einerseits, die auf Ermöglichung und Schutz des Meeresbergbaus dringen!!, und den Entwicklungsländern andererseits, die mangels technischer, finanzieller und organisatorischer Fähigkeit auf absehbare Zeit weder unmittelbar an der marinen Rohstoffgewinnung werden teilhaben können, noch - falls sie Kupfer-, Nickel- oder Kobaltexporteure sind - Gutes von dem Manganknollenbergbau erwarten können. 21 Zur Sorge vor einem ruinösen Konkurrenzkampf von terrestrischer und künftiger mariner Erzgewinnung vgl. UN Gen. Ass. Res. 2750 A (XXV) [operativer Teil] vom 17.12.1970; UN Gen. Ass. Res. 2749 (XXV) [Präambel] vom gleichen Tag; A/AC. 135/14 vom 11.6.1968 und A/AC. 138/36 vom 28.5. 1971. 22 Dabei spielen die Meeresbodenschätze auch gerade wegen ihrer Verschiedenartigkeit eine besondere Rolle. Das, was eine "sachgerechte" Regelung und "natürliche" Grenzziehung für die Gewinnung von Kohlenwasserstoffvorkommen aus dem Untergrund des Kontinentalrandes wäre, könnte aus der Sicht der Staaten und Unternehmen, die stärker an den TiefseeErzen interessiert sind, durchaus willkürlich sein, von den terrestrischen Buntmetallproduzenten ganz zu schweigen. Die Verschiedenartigkeit der Meeresbodenschätze und die Ungewißheit über die Auswirkung des Meeres-
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11. Die Großformen des Meeresbodens Satellitenphotos des Erdballs zeigen eine Erdoberfläche, die vom Formengegensatz Land/Meer gekennzeichnet ist. Im Unterschied zu anderen Himmelskörpern erweist sich die Erde dabei als "Meeresstern". Denn nur knapp ein Viertel ihrer Oberfläche ist nicht vom Meer bedeckt. Die Satelliten-Perspektive zeigt darüber hinaus, daß das Landgebiet die verschiedenartigsten Oberflächenformen aufweist. Trotz der unterschiedlichen Tönungen der Meeresoberfläche läßt sich den Bildern dagegen nicht entnehmen, daß auch die 71 Prozent der untermeerischen Erdoberfläche einen großen Formen- und Strukturreichtum aufweisen, ja daß ihre Mannigfaltigkeit die der Landgebiete noch übertrifft. Betrachtet man - auf der Suche nach "natürlichen Grenzen" und plastischen Begriffen - Reliefkarten dieser riesigen submarinen Landschaft und achtet man insbesondere auf die Neigungswinkel und die potentielle Bedeutung der Flächen für die Nutzung durch den Menschen, so ist das Antlitz des Meeresbodens von zwei hauptsächlichen Formen geprägt: vom Kontinentalrand (mit seinen "Kleinformen" Schelf, Kontinentalabhang und -anstieg) und von der restlichen, noch küstenferneren Unterwasserzone (der Tiefseebene mit den Mittelozeanischen Rücken)!. Martha. Viney"d" Kontfnenlalschelf
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Abb. 2: Das Relief des Meeresbodens (ein transatlantisches Profil) (aus Pfannensttel, Ozeanböden, S. 263 nach Heezen)
Hinsichtlich seiner Gesteinszusammensetzung weist der Meeresboden einen noch prinzipielleren Unterschied auf: den zwischen kontinentalem (continental crust) und ozeanischem Festgestein (oceanic crust)2. bergbaus auf den Rohstoffmarkt erweitern den Kreis der Diskussionsteilnehmer. Die Auseinandersetzungen um ein künftiges Meeresbodenregime werden damit nuancenreicher und schwieriger. 1 Die Untersuchung des oberflächennahen Formenreichturns ist Gegenstand der marinen Geographie, vor allem der Morphologie, Topographie und Bodenreliefkartographie. Sie erfolgt in enger Zusammenarbeit mit Ozeanographen und Geologen. Das Ergebnis, die Topographie des Meeresbodens, ist in Tief- und Bodenreliefkarten festgehalten. 2 über Unterbau, Gesteinstypen, Lagerstätten und Sedimentbedeckung des Meeresbodens gewinnt man vor allem durch die Meeresgeologie, die marine Geophysik und die physikalische und chemische Ozeanographie Aufschluß. Zu den geowissenschaftlichen Methoden, mit denen sich ein Einblick in die Tiefe des äußeren Erdkörpers gewinnen läßt, Berckhemer, Erdkruste und Erdmantel, in: Vom Erdkern zur Magnetosphäre, S. 135 ff.
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H. Die Großformen des Meeresbodens
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Denn wie riesige Eisberge schwimmen die Kontinente, die aus leichteren Sial-Gesteinen bestehen, auf und in dem schweren ozeanischen Gesteinstyp, dem Sima. Die Erde ist schalenförmig aufgebaut. Der äußere Teil der irdischen "Zwiebel" ist massiv mit strukturellen Unterschieden in den äußeren 1000 km. In einer Tiefe von 2900 km stößt man auf den flüssigen Erdkern; noch tiefer liegt der massive, innere Kern. Die äußerste Schicht der "Außenhaut", die Erdkruste, ist vergleichsweise nicht einmal halb so dick wie die Schale eines Hühnereies. Sie macht weniger als 11/% Prozent der Gesamtmasse der Erde aus und ist ca. 5 km (unter den Ozeanen) bzw. 35 km (unter den Kontinenten) dick. Für unsere Fragestellung kommt es nur auf diese "hauchdünne" Erdkruste, nicht auch auf den unter ihr liegenden Erdmantel an. - Vom Erdmittelpunkt her gesehen, liegt unmittelbar auf dem Erdmantel Simagestein. Dieser Gesteinstyp bildet also die unterste Schicht der Erdkruste. Nur auf dem Tiefseeboden liegt dieses ("ozeanische") Krustengestein "offen zu Tage" (meist allerdings von einer Sedimentsschicht [Lockergestein] bedeckt). Deswegen ist dort die Erdkruste auch so dünn. überall sonst ist dieses ozeanische Festgestein von der leichteren "kontinentalen" Kruste bedeckt3. Die Nahtstelle zwischen diesen beiden unterschiedlichen Bautypen der Erdkruste (die geologische "Kontinentalblocklinie") liegt weit draußen im Meeresraum, irgendwo unter der (Relief-)Großform "Kontinentalrand".
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Abb. 3: Der Bau des Meeresbodens (ein transatlantischer Schnitt) (aus NPC-Report, S. 26 nach Heezen; KontinentalblocklInie und KontinentalrandlInie vom Verfasser eingezeichnet)
Für das "Meeresbodenrecht" kommt es auf beide erdwissenschaftlichen Perspektiven an, auf die geomorphologisch-topographische ebensosehr wie auf die meeresgeologische 4 • Beide haben schon in der Fest3 Vgl. Cloos, Einführung in die Geologie. Ein Lehrbuch der inneren Dynamik, 1963, S. 415. 4 Bei der Darstellung dieser Relief- und Substanzunterschiede ist von den morphologischen Groß- und Kleinformen auszugehen und der jeweilige
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Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
landsockeldiskussion nebeneinander eine Rolle gespielt, sind doch für die rohstoffwirtschaftliche Bedeutung des Meeresbodens nicht nur die Wassertiefe, sondern - wegen der Lagerstättenverteilung - auch seine Entstehung und Gesteinszusammensetzung wichtig. Die Festlandsockelkonvention enthält u. a. die morphologische 200-m-Tiefenlinie. Insofern lehnt sie sich an folgende Kurzdefinition an: "Als Schelf wird der Meeressaum bezeichnet, der die Kontinente von der Küste bis etwa zur 200-m-Tiefenlinie umgibt. Bei - 200 m liegt ein Hangknick, an dem der Schelf in den steileren Kontinentalabfall übergeht" (Reineck, Der Schelf, in: Vom Erdkern zur Magnetosphäre, S. 237). Die Geologie versucht dagegen aus der gegenwärtigen Oberflächengestaltung den Ablauf der Ereignisse, die zu diesem Zustand geführt haben, zu rekonstruieren und die Vorgänge, nach denen sich der Wandel in der Erscheinung der Erde abgespielt hat, zu verstehen. In geologischer Hinsicht lassen sich die Schelfe als "mehr oder weniger breite Randstreifen, welche noch auf dem Sockel der Kontinente liegen", definieren (Reineck, ebd., S. 238). Der "Sial-Unterbau der Kontinente, der aus leichteren Gesteinen besteht als der tiefe Sima-Unterbau, erstreckt sich ... auch unter die Schelfe" (ebd., S. 239). Erst ein Zusammenziehen dieser beiden Definitionen (des Schelfreliefs und des -baus) führt zu einem vollständigen Verstehen des Naturphänomens "Schelf", dem ersten Schritt für die sachgerechte rechtswissenschaftliche Erörterung. Der Gang unserer Untersuchung folgt dabei der Richtung des menschlichen Vordringens zum Meeresboden: vom Festland, Uferstreifen und meeresüberspülten Schelf den Kontinentalabhang und -anstieg hinab in die Ozeanbecken und "hinauf" auf die Mittelozeanischen Rücken. Der Kontinentalrand
Diese nahezu ein Viertel des gesamten unterseeischen Gebiets der Erde bedeckende Großform, der übergang vom Kontinent zur Tiefseebene, besteht aus Schelf, Kontinentalabfall und -anstieg. Der Schelf ist der die Kontinente von der Küste bis etwa zur 200-m-Tiefenlinie umgebende Meeressaum. "Bei 200 m liegt ein Hangknick, an dem der Schelf in den steileren Kontinentalabfall übergeht5 ." "Die Breite des zur Tiefe strebenden Hanges kann zwischen einigen Kilometern und 40 bis 50 km betragen. Nahe dem unteren Ende wird das Gefälle sehr viel flacher und beträgt nur wenige Winkelsekunden; es ist der Kontinentalanstieg (eng!.: rise), welcher sehr breit, etwa 300 bis 400 km sein Festgesteinstyp der Kruste unter diesen Oberbegriffen mitzubehandeln. Dieses Vorgehen von der Oberflächengestaltung zur Gesteinssubstanz ist nicht nur erdwissenschaftlich üblich. Es ist hier auch deshalb anzuwenden, weil die zweidimensionalen morphologisch-topographischen Begriffe und Fakten die Meeresbodendiskussion bisher nachhaltiger beeinflußt haben als die schwieriger zu bestimmenden Bauunterschiede innerhalb der Erdkruste. 5 Reineck, Schelf, S. 237.
11. Die Großformen des Meeresbodens
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kann"', und zum Tiefseeboden (abyssal plain) hinableitet. Wie vielerorts 7 , so werden auch hier diese dreis Formen (Kontinentalschelf, -abhang und -anstieg)' zu der umstrittenen morphologischen1o Großform "Kontinentalrand" (continental margin, marge continentale) zusammengefaßt. Schelf und Kontinentalabfall sind zwar nicht durch gemeinsame Neigungscharakteristika miteinander verbunden - sie weisen extreme vertikale Reliefunterschiede auf -, und die Ausläufer des Kontinentalanstiegs stoßen z. T. sehr weit in die Ozeane vor. Gleichwohl ist es gerechtfertigt, diese drei e Pfannenstiel, Das Relief der Ozeanböden, in: Vom Erdkern zur Magnetosphäre, S. 249 ff. (249). 7 Z. B. Bybee, Petroleum Exploration and Production on the Nation's Continental Shelves - Eeonomie Potential and Risk, in: Marine Technology 1970, Bd. 11, 1970, S. 733 ff.; Guilcher, The Configuration of the Oeean Floor and its Subsoil; Geopolitieal Implieations, in: Rom Symposium, S. 3 ff.; Emery, An Oeeanographer's View of the Law of the Sea, ebd., S. 47 ff. (54: "Continental Margin: The combined continental shelf, continental slope, and continental rise U); Heezen et al., The Floors of the Oeeans: I, The North Atlantic, Spec. Paper No. 65, Geological Society of America, 1959. Nach USStaatsekretär Richardson, in: Outer Continental Shelf Hearings 11, S. 437 deckt sich auch Präsident Nixon's "eontinental marginU-Begriff mit diesem naturwissenschaftlichen Terminus, d. h. seine seewärtige Grenze wird durch "the bottom of the rise u gebildet. 8 Guileher, Continental Shelf and Slope, in: Hill (Hrsg.), The Sea, 1963, S. 281 ff. bezeichnete ursprünglich nur die Summe von Kontinentalschelf und -abhang als "eontinental margin". Gleiches tat die Wissenschaftlergruppe, zu der Guilcher gehörte, die 1957 zur Vorbereitung der Seerechtskonferenz ein Gutachten über "Scientifie Considerations Relating to the Continental Shelf" angefertigt hatte (A/CONF. 13/37, S. 39 ff.). Dies ist aber u. a. dadurch zu erklären, daß lange Zeit hindurch der Kontinentalanstieg nicht als eigenständige Meeresbodenform, sondern als Teil des Kontinentalabhangs angesehen wurde. Insofern besteht zwischen Guileher's früherer und jetziger Auffassung vom Kontinentalrand kein Widerspruch. Anders allerdings: Mineral Resourees of the Sea - Report of the Seeretary-General, E/4680 (2.6.1969), S. 5 f. Dort heißt es ausdrücklich: "The eontinental margins (shelves and slopes), also ealled the eontinental terraee"; und gleichzeitig wird unabhängig davon der Begriff "continental rise" definiert. 9 Eine ungewöhnliche Terminologie verwendet Kausch, Meeresbergbau, S. 17 f., 69. Er unterteilt nicht nur den Meeresboden in "Festlandsockel, Festlandsockelabhang und -anstieg sowie Tiefseeboden", sondern bezeichnet nur "Festlandsockelabhang und -anstieg" als "Festlandsockelrand" . Würde sich diese terminologische Feinheit durchsetzen, also "eontinental" nicht mit "Kontinental-", sondern mit "Festlandsockel-" übersetzt werden, entstünden geringere sprachliche Schwierigkeiten, wenn auch der Kontinentalabhang und -anstieg dem Festlandsockelregime unterstellt, d. h. der ganze Kontinentalrand juristisch als Festlandsockel behandelt werden soll. - Wie hier: Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung (Hrsg.), Bestandsaufnahme und Gesamtprogramm für die Meeresforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1969-1973, (1969), S. 50. 10 Der Begriff "Kontinentalrand" wird nicht nur wie hier und z. B. bei Brown, Hydrospaee, S. 76 f. - im geomorphologischen Sinn verstanden, sondern teilweise auch als geologischer oder geologisch-morphologischer Terminus aufgefaßt. Nachweise in NPC-Report, S. 104. Der NPC entwickelte einen allerdings bisher nur von ihm benutzten Mischbegriff ("a geomorphie/ geologie zone").
Teil 1: 1. Kap. Der Meeresboden
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verschiedenartigen Formen unter dem plastischen Begriff "Kontinentalrand" zusammenzufassen. Denn von dem restlichen Meeresboden (Tiefseebene und mO.,......._ ...
Kontinentalanstieg
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Abb. 4: Morphologie des Kontinentalrandes (Nordostküste der USA) (aus Pfannenstte!, Ozean böden, S. 250 nach Heezen)
Mittelozeanische Rücken) hebt sich der Kontinentalrand durch diese Reliefbesonderheiten (Tiefenlinien) und seine relative Nähe zum Festland (Breitenlinien) dennoch abu. Zwischen dem Kontinentalrand einerseits und der Tiefseebene und den Mittelozeanischen Rücken 12 andererseits besteht also ein markanter, diese Begriffsbildung rechtfertigender Unterschied. ABYSSAL PLAIN
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