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German Pages 252 [253] Year 1978
Probleme der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis
Probleme der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis Herausgegeben von Ernst Engelberg und Wolfgang Küttler
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1977
Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Geschichte
Redaktionelle Bearbeitung: Hans-Peter Jaeck
Erschienen im Akademie-Verlag. 108 Berlin. Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/363/77 Umschlaggestaltung: Rolf Kunze Gesamthersiellung: VLB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 753029 5 (6340) • LSV 0215 Printed in G D R DDR 30— M
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
8
Ernst Engelberg Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte
9
M. Ä. Barg Die Kategorie des Welthistorischen als Erkenntnisprinzip der marxistischen Geschichtswissenschaft
39
Manfred Kossok Über Typ und Typologie bürgerlicher Revolutionen
59
Jerzy Topolski Struktur und Prozeß in der Geschichte
73
Wolfgang Eichhorn I Zur Problematik gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze
79
Dieter Pasemann Bemerkungen zur Struktur der Geschichte bei Karl Marx
87
Günter Lewin Probleme der uni- oder multilinearen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft
103
Rolf Barthel Klassenwiderspruch und historischer Fortschritt
115
Georgi Bojadziev Die wachsende Rolle der Volksmassen — eine objektive gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit des weltgeschichtlichen Prozesses 121 S. O. Smidt Geschichtsdenken, Geschichtsforschung und Probleme der Quellenkunde
127
Wolfgang Wächter Zum Problem der wissenschaftlichen Erklärung in der Geschichtswissenschaft. . . 137 Brygida Kürbis Methodik, Methodologie, Quellenkritik und Quellenkunde
151
Andrzej F. Grabski Probleme der Erforschung des Geschichtsbewußtseins
155
6
Inhaltsverzeichnis
K. Vasilev Merkmale der welthistorischen Tatsache Helmut
Lötzke
Historische Tatsache, Quellenkritik und die Quellenbearbeitung in den Archiven Peter
161
. 167
Wiek
Zur Widerspiegelung historischer Tatsachen und Erscheinungen mit Hilfe einer Informationssprache 175 Wolfgang
Küttler
Zur Frage der Begriffsbildung und Begriffsgeschichte in der Geschichtswissenschaft 183 Joachim Streisand Über Begriffsbildung in den Gesellschaftswissenschaften Hans-Peter
Jaeek
Bemerkungen zum Ursprung des Marxschen Terminus „Gesellschaftsformation" Karl-Heinz
195
. 203
Noack
Aspekte der historischen Begriffsbildung am Beispiel des Militarismusbegriffs . . .
213
Hans Schleier Zu den gegenwärtigen Versuchen bürgerlicher Historiker der B R D , Elemente des Historismus, des Neopositivismus und der Kritischen Theorie zu integrieren . . . 229 Gyula Merei Ereignis, Entwicklung, Gesetz und die Theorie von der „Industriegesellschaft" in der westdeutschen bürgerlichen Geschichtswissenschaft 245 Autoren Verzeichnis
251
Vorwort
Der vorliegende Band entstand auf der G r u n d l a g e eines Kolloquiums zum T h e m a „Struktur und Prozeß in der Weltgeschichte", das am 18. und 19. Juni 1974 in Berlin stattfand und an dem neben Historikern und Philosophen der D D R Fachleute aus der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern teilnahmen. Der Band trägt nicht den Charakter eines Protokolls; die einzelnen Studien beruhen jedoch auf den Diskussionsbeiträgen und spiegeln so Probleme und Diskussionsverlauf der Veranstaltung wider. Das Hauptanliegen dieser Veröffentlichung besteht darin, wesentliche Probleme der geschichtsmethodologischen und geschichtstheoretischen Forschung in den sozialistischen Ländern in F o r m zusammenfassender Studien und Skizzen zur Diskussion zu stellen. Den thematischen Rahmen steckt vom Gegenstandsbereich her der im einleitenden Aufsatz von E. Engelberg behandelte Problemkomplex Ereignis — Struktur — Entwicklung a b ; er wird unter dem besonderen \ s p e k t des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses behandelt, und zwar gegliedert nach folgenden Sachgebieten: Erstens Probleme der Erkenntnis von Struktur und Entwicklung (M. A. Barg, M . Kossok, J. T o polski, W . Eichhorn, I. D. Pasemann, G . Lewin, R. Barthel und G . Bojadziev) unter besonderer Berücksichtigung der Formationstheorie u n d -analyse, der Kategorie Weltgeschichte u n d der historischen Gesetzmäßigkeiten; zweitens Fragen der historischen Erklärung, der Tatsachen- und Quellenanalyse (S. O. Smidt, W . Wächter, B. Kürbis, A. Grabski, K. Vasilev, H. Lötzke, P. Wiek); drittens Begriffsbildung und Begriffsgeschichte (W. Küttler, J. Streisand, H.. -P. Jaeck, K.-H. Noack) und viertens Probleme der Auseinandersetzung mit modernen theoretischen u n d methodologischen Richtungen der bürgerlichen Historiographie, besonders in der B R D (H. Schleier, G. Merei). Der Band soll in F o r m einer Problem- und Diskussionsübersicht, die neue Erkenntnisse mit gedrängten Resümees bereits erarbeiteter Resultate benachbarter Disziplinen zum Fachgebrauch für die Historiker verbindet, Anregungen für die weitere theoretische und methodologische Forschung innerhalb der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft vermitteln. Sein besonderer Charakter liegt nicht zuletzt in der Widerspiegelung internationaler Zusammenarbeit von Fachleuten aus der U d S S R , der VR Bulgarien, der D D R , der VR Polen und der VR Ungarn und ihrer gemeinsamen Anstrengungen auf dem so wichtigen und immer mehr an Bedeutung gewinnenden Feld der Methodologie und Theorie der Geschichtswissenschaft.
Berlin, Mai 1975
Die Herausgeber
Ernst Engelberg
Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte
1. Zum Thema In diesem Beitrag soll versucht werden, Erkenntnisse von Philosophen und Forschungserfahrungen von Historikern im InteresSfe der weiteren Klärung von Fragen der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis zusammenzufassen. Das Krisenbewußtsein in weiten Kreisen der bürgerlichen Geschichtswissenschaft hat sich verstärkt; vor allem muß sich der idealistisch-individualisierende Historismus nicht zuletzt gegen den Vorwurf verteidigen, er habe die Erforschung der Strukturen in der Geschichte im Unterschied zu der der Ereignisse vernachlässigt. Damit ist schon angedeutet, daß unser Thema in das seit etwa den sechziger Jahren erneut diskutierte Verhältnis zwischen Geschichte und Soziologie, Geschichte und Ökonomie hineinreicht. Es ist auffällig, daß das Verhältnis zur Philosophie, in der bürgerlichen Welt jedenfalls, wenig erörtert wird. Das mag mit jener Abwehrhaltung zusammenhängen, die einmal schroff als Erbfeindschaft zwischen Historie und Philosophie bezeichnet wurde. 1 Die Scheu vor dieser mag wohl auch darauf zurückzuführen sein, daß sowohl der vornehmlich deutsch-bürgerliche Historismus als auch der vornehmlich westeuropäischbürgerliche Positivismus die Dialektik, die höchste Errungenschaft der Philosophie, als Ganzes negieren. Die Krisen, Kriege und Revolutionen der letzten siebzig Jahre mit ihren Höhepunkten von 1917 und 1945 erzwangen die Ausdehnung der Forschungsfelder in die Tiefe und Weite von Raum und Zeit: Die Beschäftigung mit allen ökonomischen und sozialen Erscheinungen (ihren Strukturen, Prozessen und oft dramatischen Ereignisssen) wurde immer intensiver und institutionell immer weiter ausgebaut; das gleiche gilt in bezug auf die Dimensionen der Zeit, die von der Urgeschichte bis zur unmittelbaren Gegenwart reichen; schließlich erweiterte sich das Forschungsinteresse über Europa und Nordamerika hinweg auf Asien, Afrika und Lateinamerika und überwand dabei alle Einseitigkeiten einer vornehmlich philologischen Betrachtungsweise. 2 Die enorme Erweiterung der Forschungsgebiete der Geschichtswissenschaft läßt die Frage, ob und wie der innere Zusammenhang zwischen Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte hergestellt werden kann, eindringlicher denn je stellen. Bliebe es, wie es vielfach der Fall ist, bei einem Auseinanderfallen von Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichtsmethodologie und -darstellung, dann würde beispielsweise die historische Soziologie, die bei der Untersuchung der Strukturen eine Bereicherung sein könnte, zu einem Sprengmittel der Geschichtswissenschaft. Die Beantwortung der hier gestellten
1 Goetz,
W„ Historiker in meiner Zeit, Köln-Graz 1957, S. 299.
2 Vgl. Barraclough,
G„ Bericht für die U N E S C O 1973, bes. S. 144.
10
Ernst Engelherg
Frage ist nur auf G r u n d theoretischer Überlegungen und praktischer Erfahrungen möglich. Wenn wir an die Untersuchung unseres thematischen Problemkomplexes herangehen, d a n n entsteht sogleich die weitere Frage, ob denn der von uns gesuchte Z u s a m m e n h a n g zwischen Ereignis, Struktur und Entwicklung im geschichtlichen Erkenntnis-OA/fA/ selbst liegt oder nur vom Erkenntnis-Swfr/cAf in Gestalt des forschenden Historikers hergestellt wird. 3 Der Problematik, die sich im Verhältnis von Subjekt und Objekt zeigt, begegnen wir auch bei der Analyse der historischen Tatsache, von der wir bei unseren speziellen Untersuchungen ausgehen wollen. 4 In der Geschichtswissenschaft stoßen wir vielfach auf einen Subjektivismus, der sich sowohl auf die erkenntnistheoretische Konzeption als auch auf die tatsächlichen Aussagen bezieht. Den Subjektivismus als erkenntnistheoretische Konzeption treffen wir zwar in allen Wissenschaften a n ; aber es will scheinen, d a ß er sich in den Naturwissenschaften vornehmlich auf die weltanschauliche Verarbeitung der festgestellten Tatsachen und Gesetze auswirkt — nicht aber auf die Tatsachen und Gesetze selbst, die auf Schritt und Tritt in der Praxis (nicht zuletzt in der industriellen Produktion) angewendet und nachgeprüft werden können. Weit verhängnisvoller wirkt sich der Subjektivismus in den Gesellschaftswissenschaften aus, insbesondere in der Geschichtswissenschaft. In ihr bedeutet Subjektivismus nicht nur Negierung der objektiven Wahrheit im allgemeinen Verständnis der Geschichte und damit Leugnung ihrer Gesetzmäßigkeit, sondern auch eine Überbetonung, wenn nicht gar Verabsolutierung der subjektiven Seite in der Geschichtsiku
Stellung.
Arthur Schopenhauer, zu seiner Zeit nur Einzelgänger, hat mit der ihm eigenen schriftstellerischen Meisterschaft, aber auch Unverfrorenheit seiner Aussage und seinen antihegelschen Haßausbrüchen den Subjektivismus in der Historik, ja überhaupt den Geschichtsnihilismus besonders prägnant formuliert. Dem geschichtlichen Selbstbewußtsein der Menschheit, so meinte Schopenhauer, müsse m a n den Rang einer Wissenschaft aberkennen. Die Geschichte sei „zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft". Die historische Erkenntnis sei als Erkenntnis des Allgemeinen unmöglich und als Erkenntnis des Individuellen unzuverlässig. Die Geschichtsschreibung sei,,nicht nur in der A u s f ü h r u n g , sondern auch schon in ihrem Wesen lügenhaft". 5 ' Schopenhauer ist der gern verleugnete und aus dem Bewußtsein verdrängte Klassiker eines starren geschichtswissenschaftlichen Subjektivismus; von ihm aus reicht eine Linie bis in unsere Tage. Dagegen konnten weder der Historismus noch der Positivismus antidialektischer Prägung wirksame Gegenkräfte entfalten — jedenfalls auf die D a u e r nicht. Ihre Vertreter, dem Krisenhaften der sozial historischen Verhältnisse a b Ende des 19. Jahrhunderts ausgesetzt, wurden selbst vom Zweifel befallen, ob denn die menschliche Erkenntnis nicht doch nur subjektiv und ob eine Wissenschaft der Geschichte überhaupt möglich sei.
Dieser Trend mehr oder weniger ausgereift bei Koselleck, R., Mommsen, W. I., Radkau, J. u. O. und anderen. 4
Salov,
V. /.. Kioriceskij fakt i sovremennaja burzuaznaja istoriografija , in: Novaja in novejsaja istorija
6/1973. 5
Schopenhauer, S. 1213 ff.
A'„ Sämtliche Werke, Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe,
Leipzig 1906—10, Bd. II,
Ereignis. Struktur und Entwicklung in der Geschichte
11
Der, wie gesagt, von Schopenhauer besonders stark geprägten Linie des Subjektivismus und Geschichtsnihilismus ganz und gar entgegengesetzt ist die Linie, die von Hegel über Marx/Engels bis zu Lenin reicht. Wenn Engels 1844 schrieb, d a ß die Geschichte „unser Eins und Alles" sei und „von uns höher gehalten" werde „als von irgendeiner andern früheren philosophischen Richtung, höher selbst als von Hegel", d a n n hat er an dieser Überzeugung auch später festgehalten — so wenn er 1867 in einer Rezension über das Hauptwerk seines Freundes den „historischen S i n n " hervorhob, „der durch das ganze B u c h " hindurchgehe. 6 U n d Lenins theoretisches Geschichtsverständnis k a m wohl am konzentriertesten in seinen kritischen Hegel-Exzerpten zum Ausdruck. 7 An diese beiden schroff entgegengesetzten Linien, von denen jede in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, muß m a n aus mehreren G r ü n d e n erinnern; auf jeden Fall schon deswegen, weil gegenwärtig manche Vertreter eines mehr oder weniger ausgeprägten Subjektivismus als Quasi-Neuerer auftreten. Sie, die ihr Verhaftetsein im 19. Jahrhundert durch modische Elastizität in allen Fragen der Terminologie verhüllen, tun die Vertreter des dialektischen und historischen Materialismus gern als Konservative ab, die mit altbackenen Begriffen hantieren. Es mag angebracht sein, in der wissenschaftlichen Diskussion mit den Argumenten des Modernen oder Nicht-Modernen vorsichtig umzugehen, aus ihr jedenfalls den Geist der sonst achtenswerten M o d e s c h ö p f e r zu verbannen. i Die trügerische Überhebung des Subjekts über das Objekt zeigt sich auf zweierlei Weise — offen und versteckt. Offen ist der Subjektivismus, wenn beispielsweise erklärt wird, d a ß die Notwendigkeit nur das subjektive Postulat unseres Denkens sei und es keinen objektiven Z u s a m m e n h a n g der Kausalreihen gäbe. H Offen subjektivistisch ist es auch, wenn behauptet wird, d a ß der Historiker die Probleme, mit denen er an das Material herantritt, nur (ich betone, nur\) aus sich selbst nimmt. Versteckt ist der Subjektivismus in jener Auffassung, die meint, der Historiker könne der Vergangenheit, da er sie nur bruchstückhaft vor sich habe, lediglich durch seine Interpretation und Darstellung Inhalt und Sinn verleihen. In der Erkenntnis der historischen Tatsachen sowie ihrer Struktur- und Entwicklungszusammenhänge zeichnet sich kein abstrakter, sondern ein dialektischer Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt a b . . Das Objekt, das in N a t u r und Gesellschaft dem Subjekt gegenübertritt, ist sicherlich die Voraussetzung der menschlichen Erkenntnis, zumal der Mensch nur in der N a t u r und Gesellschaft existiert. Aber das Subjekt ist weder im Denken noch im Handeln machtlos gegenüber dem O b j e k t ; die Dialektik der Erkenntnis bringt es mit sich, d a ß das erkennende u n d h a n d e l n d e Subjekt Freiheit gewinnt gerade in der Gebundenheit an das Objekt. Die geschichtswissenschaftliche Erkenntnis verliert ihren sicheren Boden, wenn s c die objektiv-reale Existenz ihres Erkenntnisgegenstandes — außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein — nicht voraussetzt. Die Abhängigkeit und Bestimmtheit der Gedanken von den objektiv-realen Gegenslcinclen (oder Sachverhalten) machen die eine Seite der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus aus. Die andere Seite dieses Materialismus umfaßt die Abhängigkeit und Bestimmtheit der G e d a n k e n von den 0 Marx, K./Engels, F., Werke, Berlin 1956ff. (MEW), Bd. 1, S. 545; Bd. 16, S. 208, vgl. auch S. 218 1 Lenin, W. /., Werke Berlin 1961 ff. Bd. 38. » Vgl. Meyer, E„ Kleine Schriften, Bd. 1, Halle 1924, S. 3ff.
12
Ernsl Lngelhcrg
gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie entstehen. 9 Die beiden Seiten in der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus müssen zwar unterschieden werden, stehen aber in einem Wechselverhältnis zueinander; das heißt: man muß das Verhältnis von gegenständlicher und sozialökonomischer Bestimmtheit von Erkenntnissen in seiner Dialektik erlassen. Mit der materialistischen Determiniertheit im doppelten Sinne hängt die doppelte Bestimmung des Begriffs „Gegenstandzusammen. Die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende objektive Realität mit ihren unmittelbaren Tatsachen und ihren Struktur- und Entwicklungsgesetzen bildet den potentiellen Gegenstand menschlichen Erkennens. Aber aus der qualitativ und quantitativ unendlichen Mannigfaltigkeit der objektiven Realität suchen sich die Menschen die Gegenstände ihrer Erkenntnisbemühungen entsprechend der sozialhistorischen Entwicklung ihrer materiellen und ideellen Bedürfnisse, und Erkenntnismittel aus. So entwickelt sich aus dem potentiellen der reale Erkenntnisgegenstand. Indem der reale Erkenntnisgegenstand in Beziehung steht zum Erkenntnis-SWy'e/ci, ist er ErkenntnisObjekt. Den objektiven Sachverhalt (das Erkenntnis-Objekt) betrachten wir als Grundlage der Erkenntnis; umgekehrt ist ihre subjektive Seite bedeutsam, weil ohne sie der Prozeß des Erkennens nicht zu begreifen ist. Die Widerspiegelung des vom erkennenden Subjekt ausgesuchten und objektiv-real existierenden Erkenntnisgegenstandes wird durch das Prisma der Lebensbedingungen und Interessen der verschiedenen Klassen gefiltert und geformt. 10 Deshalb ist das Erkennen insbesondere gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen in einem hohen Maße vom objektiven sozialen Standort des Erkenntnissubjekts abhängig. Die wissenschaftliche Aneignung der Wirklichkeit, gerade auch die der geschichtlichen Wirklichkeit, ist also nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit selbst. Das erkennende Subjekt kann keine Photokopie der Vergangenheit herstellen. Die viel verschriene marxistische Widerspiegelungs- und Abbildtheorie ist dialektisch, hat also auch den Prozeßcharakter der Erkenntnis im Auge. Es ist keine Utopie, einen möglichst hohen Grad von Übereinstimmung der Erkenntnisse (der Resultate der Erkenntnistätigkeit) mit dem Erkenntnisobjekt zu erstreben, d. h. einen möglichst hohen Wahrheitsgehalt. Der dialektische Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt muß in einem ständigen, nie abgeschlossenen Prozeß der Erkenntnis von den Individuen wie der Gesellschaft gelöst werden. Der Prozeßcharakter der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis zeigt sich im doppelten Sinne, einmal im Hinblick auf die allgemeine Geschichte der Geschichtswissenschaft, zum anderen im Sinne der Struktur und des Ganges der Erkenntnis sozusagen im Einzelverfahren, bezogen also auf einen bestimmten Gegenstand (oder Komplex von Gegenständen) und vollzogen in einem bestimmten Zeitraum. Diesen Prozeßcharakter der Erkenntnis haben wir in den folgenden Ausführungen stets im Auge zu behalten; zu ihm gehört auch das Verhältnis von Empirie, Theorie und Methode. Durch diese Art von Dreiecksverhältnis sind wir jetzt unausweichlich auf die Tatsachenforschung als methodologischen Ausgangspunkt gestoßen. Allerdings ist
« Vgl. Gößler, K., Erkennen als sozialer Prozeß, in: Dt. Ztschr. f. Philosophie, 20, 1972, H. 5, S. 517ff. Vgl. Kosing, A., Die Entwicklung der marxistischen Erkenntnistheorie durch W. I.' Lenin, in: Dt. Ztschr. f. Philosophie, Sonderheft 1970, S. 182.
10
Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte
13
die Kennzeichnung der Tatsachenforschung als methodologischer Ausgangspunkt in mancher Hinsicht problematisch, jedenfalls nur relativ zu nehmen. Allein schon die Notwendigkeit, an die Tatsachenforschung mit einem Problembewußtsein heranzugehen, das durch praktische Zwecke und vorgegebenes Wissen und Können 11 letzten Endes sozialhistorisch determiniert ist, zeigt an, daß es eine reine Empirie kaum gibt. Diese reine Empirie gibt es sogar umso weniger, je mehr die Erkenntnistätigkeit in und mit der menschlichen Geschichte voranschreitet. Wie dem auch sei: Jede Wissenschaft (und damit auch jede wissenschaftlich fundierte Weltanschauung) ist auf Tatsachen gegründet und geht in ihrer Forschung von Tatsachen aus. Bei allen praktischen Determinanten des Erkenntnisprozesses und den damit verbundenen Emotionen ist immer noch gültig: „Je mehr wir unsere Sympathien und Antipathien aus dem Spiel lassen, desto besser können wir die Tatsachen selbst und ihre Folgen beurteilen."12 Mit diesem moralischen Grundgebot des sine ira et studio aber ist das Problem der Tatsache und ihrer methodologischen Funktion erst gestellt und noch lange nicht gelöst. Über das Elementare, womit es jeder Wissenschaftler bei der Tatsache zu tun hat, sind sich weder die Philosophen noch die Historiker einig, zumal auch schon in die Erfassung der historischen Tatsache das dialektische Wechsel- (oder Spannungs-)verhältnis von objektivem Sachverhalt (Erkenntnisobjekt) und subjektiver Aussage, kurz: von Objekt und Subjekt hineinreicht. Alle objektiven Erscheinungen des materiellen und geistigen Lebens werden für uns erst dann Tatsachen, sobald es für sie Aussagen gibt, die wahr und gewiß sind, d. h. durch ein ständig zu verbesserndes Beweisverfahren belegt, nachgeprüft bzw. überprüft, also bewiesen sind. Wir gehen an die Analyse der historischen Tatsache mit dem Ziel heran, den dialektischen Zusammenhang von Ereignis, Struktur und Bewegung zu erhellen. Durch diese Art des Fortschreitens in unserer Betrachtung wollen wir versuchen, das Komplexe, das im Elementaren enthalten ist, zur Entfaltung zu bringen. Es sei aber auch vermerkt, daß das durch die Darstellung aufgezwungene Nacheinander der Gliederung: Ereignis, Struktur und Entwicklung zugleich ein wechselseitiges Zueinander bedeutet. Das zwingt den Autor gelegentlich zum Vorgreifen oder Zurückblenden in der Entwicklung seiner Argumentation.
2. Der Doppelaspekt im Ereignis und die Tatsachenproblematik Der Historiker hat es zunächst, so scheint es wenigstens, nur mit Ereignissen zu tun. Darum spielte in der Geschichte der Geschichtswissenschaft die „Ereignisgeschichte" lange Zeit eine so überragende Rolle. Die vornehmliche Beschäftigung mit singulären Tatsachen, wie diesen oder jenen interessant oder wichtig erscheinenden Ereignissen, erlaubte — wie es schien — ziemlich leicht die Deskription dessen, „wie es einmal gewesen ist". Auch von der Quellenlage her fühlte man sich zu dieser Art von Deskription gedrängt. 11
Vgl.
Topolski, J., O
1973/5. 12 MEW, Bd. 38, S. 363f.
znacenii vnoistoenikogo znanija v istoriceskom issledovanii, in: Voprosy
filosofii
Ei ns! Mngelhcrg
14
Werfen wir beispielsweise vom theoretisch-methodologischen Standpunkt aus einen Blick auf das Ereignis des Streiks. Wir setzen voraus: Das Ereignis des Streiks können wir auf Grund von einwandfreien Quellenstücken als eine zweifelsfrei festgestellte Tatsache betrachten. Im Vergleich mit den selbst wieder aus ungezählten Ereignissen zusammengesetzten Ereignis-Komplexen, wie Krieg und Revolution, sind Streiks relativ einfach zu erfassen. Aber auch sie haben methodisch ihre T ü c k e n ; wer sich mit Streikstatistik beschäftigt und dabei ökonomische und politische Streiks unterscheiden soll, weiß davon ein Lied zu singen. Wir haben es innerhalb des Ereignisses „Streik" mit einer mehr oder weniger großen Zahl von solchen Ereignissen zu tun, wie Streikversammlung, Aufruf, Streikpostenaktion und Polizeiintervention, Demonstrationen und vielleicht sogar Schießereien, M a ß n a h m e n und Erklärungen der Unternehmer, Pressepolemiken usw. Wir können die Vielfalt dieser Art von Ereignissen innerhalb des Gesamtereignisses Streik nur dann einigermaßen adäquat wiedergeben, wenn wir spezifizierende Termini wie Anlaß, Begebenheiten, Taten, Vorfälle etc. gebrauchen. Selbst wenn wir die Tatsache des Streiks im Sinne eines Ereignisses noch auf der Ebene der deskriptiven Empirie analysieren, stoßen wir auf Erscheinungen, die nach Ort und Zeit vor und nach dem Ereignis existieren und wirken. Von Betrieben und Polizei und anderen Institutionen wollen wir nicht sprechen. Vor allem sind da die Arbeiter und die Unternehmer. Sie bilden, noch rein empirisch betrachtet, deutlich unterschiedene soziale G r u p p e n , die sich in einer nicht zu übersehenden sozialen Konfliktsituation (nämlich Streik) befinden. Die Arbeiter und Unternehmer haben als Träger eines Klassenverhältnisses keinen singulären Charakter, sind sogar — jedenfalls im Vergleich zu dem einmaligen Ereignis Streik — als invariant anzusehen. Aber Arbeiter und Unternehmer, die schon auf der Ebene der empirischen Betrachtungsweise auf gesellschaftliche Strukturen hinweisen und deshalb als Sirukluvelemente bezeichnet werden können, existieren und wirken. Und was existiert und wirkt — das ist auch eine Tatsache. Aus dem Ereignis „Streik" können wir mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, d a ß in jedem geschichtlichen Ereignis der Doppelaspekt von sowohl spezifischen, individuellen als auch allgemeinen, sich wiederholenden Elementen zu beachten ist. 13 Nach dieser Feststellung können wir wagen, die Tatsachen, die als historisch (oder geschichtswissenschaftlich) zu bezeichnen sind, zunächst in zwei G r u n d t y p e n einzuteilen; demnach unterscheiden wir zunächst zwischen Strukturelementen und Ereignissen im Handeln und Denken der Menschen. Diese Unterscheidung zwischen zwei in der historischen Wirklichkeit keineswegs getrennten Tatsachentypen bedarf hinsichtlich der Struktur schon jetzt einiger Präzisierungen, die wir allerdings erst im nächsten Abschnitt abschließen können. Mit einigem Recht wird gelegentlich behauptet, d a ß der Begriff „ S t r u k t u r " schillernd sei, weshalb er beispielsweise durch den Ausdruck „ F i g u r a t i o n " ersetzt wurde. 1 4 Damit ist m a n aber der Beantwortung der unumgänglichen Frage, worauf sich die Struktur beziehe, wie sie in sich differenziert und historisch abgegrenzt werden soll, ausgewichen. Der Ausdruck „Sozialstruktur" k o m m t der ins Auge gefaßten Sachlage schon n ä h e r ; das bedeutet: bei der Gesellschaft wird m a n ausgehen müssen von ihrer G r u n d s t r u k t u r mit ihren " Vgl. Kon, I. S„ Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, Bd. I, S. 125. 14
Radkau, J., Geschichtswissenschaft heute — Ende der Selbstmystifikation? in: Neue politische Literatur, XVII, 1972. H. 1, S. 3.
Ereignis. Struktur und E n t w i c k l u n g in der G e s c h i c h t e
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Teilstrukturen und Strukturelementen. Es bleibt vorläufig dahingestellt, in welchem Zusammenhang sich die verschiedenen Elemente innerhalb der Grundstruktur der Gesellschaft zueinander befinden und wie diese Gesellschaft historisch abgegrenzt werden soll. Das Ereignis eines Streiks zeigt das Proletariat als konstituierendes Strukturelement der kapitalistischen Gesellschaftsformation; die sozialökonomische Analyse zeigt, daß das Proletariat nicht isoliert, sondern dialektisch verbunden ist mit seinem Gegensatz, der Bourgeoisie. Das Kapitalverhältnis bildet die Einheit und den Kampf der Gegensätze, von Proletariern und Kapitalisten. Die beiden gegensätzlichen Klassen bedingen also einander, durchdringen sich, und obwohl ihre Interessen sich gegenüberstehen, so sind sie doch insofern identisch, als sie zwei notwendige Glieder im Kapitalverhältnis sind: Einheit und Kampf der Widersprüche! Die beiden Gegensätze in der widerspruchsvollen Einheit der gesellschaftlichen Struktur (oder Grundstruktur), die wir Kapitalismus nennen, bringen notwendigerweise eine Bewegung hervor — eine Arbeiter-Bewegung, die sich in einer Unzahl von Ereignissen ausdrückt, zu denen auch Streiks gehören. Und gerade die Arbeiterbewegung ist ein Demonstrationsbeispiel dafür, wie eine geschichtliche Bewegung zu einer Entwicklung führen kann, die die Lösung der Widersprüche in einer prinzipiell neuen, höheren Einheit anstrebt. Wer Struktur sagt, muß gerade in der Geschichte Bewegung und Entwicklung mitdenken. Darum genügt es nicht allein, von Strukturdementen zu sprechen; es handelt sich auch um Entwicklungse\emente. Struktur, Bewegung und Entwicklung schlagen ständig ineinander über. 15 Diese Dialektik schafft auch abgeleitete Strukturen (Praxisformen), wie beispielsweise Gewerkschaften und Parteien. Das Beispiel des Streiks eröffnet noch weitere methodische Aspekte. Wenn wir dieses Ereignis in seiner direkten Beziehung zum Strukturverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten, entstehen weitere Fragen, beispielsweise nach der Struktur der Arbeiterklasse in diesem oder jenem Lande, in dieser oder jener Region, in dieser oder jener Periode. Weiterhin ist nach dem methodischen Grundsatz, einen Erkenntnis-Gegenstand (Objekt) in möglichst vielen Zusammenhängen zu betrachten, folgende Erfahrung unabweisbar: Das Ereignis eines Streiks kann, auch wenn es in seinem Umfang, in der Art der Forderungen und in seinem Ablauf noch so präzise analysiert und dargestellt wird, nur dann in seiner historisch-politischen Bedeutung erfaßt werden, wenn es im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Klassenbezienungen, der Intensität der politischen Kämpfe und dem Charakter der jeweiligen Epoche und Periode gesehen und gewertet wird. Streiks von etwa gleichem Umfang und etwa gleichen Forderungen erhalten ein verschiedenes Gewicht, je nachdem, ob sie in der relativ friedlichen Periode des Kapitalismus oder in einer revolutionär zugespitzten Situation stattfinden. Auch von dieser Sicht her erkennen wir die methodische Bedeutung der Periodisierung, d. h. der Bestimmung des historischen Platzes eines jeweiligen Zeitabschnitts. Doch das sei hier nur erwähnt, nicht weiter erörtert. Kurz: In Streiks von einigem Umfang äußern sich, wie in allen Ereignissen, die inneren und äußeren Widersprüche der sozialökonomischen und politischen Strukturen und damit deren Bewegung und Entwicklung. Das bedeutet, daß wir von der Theorie her, die in Methode umschlägt, gezwungen sind, 15
Vgl.
Kultier, W.jLozek, G.,
Marxistisch-leninistischer H i s t o r i s m u s und G e s e l l s c h a f t s a n a l y s e , in: P r o b l e m e
der G e s c h i c h t s m e t h o d o l o g i e , hrsg. v. Engelberg, E., Berlin 1972, S. 37.
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Ernst Engelberg
neue Tatsachen (Fakten) zu erforschen, zu ordnen und im konkreten Struktur- und Entwicklungszusammenhang zu betrachten. Die methodische Seite der Theorie muß uns in allen Phasen der Forschung bewußt sein und von uns wirksam gemacht werden. Die Theorie darf der Empirie nicht angeklebt werden, vielmehr müssen Theorie (als Methode) und Empirie im ständigen Wechselverhältnis miteinander wirksam sein, ständig ineinander übergehen. Das Verhältnis zwischen den beiden Tatsachentypen (Struktur- und Entwicklungselement einerseits und Ereignis andererseits) ist bei den entsprechenden Beispielen, die sich auf das Proletariat (mit seinem notwendigen Korrelat, der Bourgeoisie) und auf ein solches Klassenkampfereignis wie Streik beziehen, relativ einfach. Weit komplizierter und methodisch schwieriger zu bewältigen ist der Fall, wo wir es mit solchen Struktur- und Entwicklungselementen, mit ihren inneren und äußeren Widersprüchen zu tun haben, wie Konzentration der Produktion und des Kapitals, Umschlag in das Monopol, Veränderungen in den herrschenden Klassen oder überhaupt in der Klassenstruktur, ihrer bewußtseinsmäßigen Widerspiegelung in den Ideologien der verschiedenen Klassen, oder mit solchen Ereignissen, wie diplomatischen und militärischen Aktionen, Vertragsabschlüssen, parlamentarischen Interventionen, Gesetzen, Demonstrationen usw. Die Beispiele deuten schon an, daß sich beide Tatsachentypen sowohl auf die Basis als auch auf den Überbau beziehen können und, auch hier in einem unmittelbaren oder vermittelten Verhältnis zueinander stehen. Die Konzentration der Produktion und des Kapitals als Struktur- und Entwicklungselemente stehen in Deutschland beispielsweise mit solchen Ereignissen des Jahres 1870, wie der Gründung der Deutschen Bank am 10. März und der Aktiennovelle vom 11. Juni, in unmittelbarer Beziehung, von dramatischen Ereignissen, wie Bankenkrachs, ganz abgesehen. Oder: Der wissenschaftliche Sozialismus ist ein dem Bereich des Überbaus zugehörendes Struktur- und Entwicklungselement, aber die Veröffentlichung des „Manifests der Kommunistischen Partei" ist ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung, die Bekundung einer ideologischen Revolution und damit der Vorbote der sozialen und politischen Weltrevolution, die mit dem Oktober von 1917 begann. Das Einzelereignis vom Februar 1848 ist, genau besehen, unerhört vielschichtig; es steht in Zusammenhang mit der ökonomischen, politischen und ideologischen Entwicklung der dreißiger und vierziger Jahre in Europa und Nordamerika, mit dem Vorabend der internationalen Revolution von 1848/49 und, wie wir festgestellt haben, mit einer kolossalen Fernwirkung. Ein Ereignis kann als historische Tatsache also nur dann richtig und voll gewürdigt werden, wenn es nicht nur in seinem zeitgenössischen Strukturzusammenhang, sondern auch nach dem Grad seines fernwirkenden Entwicklungszusammenhangs betrachtet wird. Wir haben die These vom Doppelaspekt eines jeden historischen Ereignisses am Beispiel des Streiks relativ leicht demonstrieren können. Es gibt jedoch viele historische Ereignisse, wo die Vermittlungen im dialektischen Zusammenhang zwischen singulärem Geschehen und längerwährenden, wenn auch dynamisch bewegten Strukturen viel verwickelter und zugleich verdeckter sind. Betrachten wir nur aus dem Ereigniskomplex Krieg das Faktum entscheidender Schlachten. Sie können erforscht werden einmal im Hinblick auf die möglichst getreue, mit allen dramatischen Effekten versehene Wiedergabe dessen, wie es gewesen war, zum anderen mit dem Ziel, die strategisch-taktische Anlage der gegnerischen Streitkräfte nachzuzeichnen. Aber gerade damit wird sich der methodisch geschärfte Blick auf die dynamisch bewegten Strukturen richten, die vom Ökonomischen bis zum Politisch-
Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte
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Moralischen reichen — auf bewegte Strukturen also, die auf das dramatische Ereignis hinsteuerten und sich in ihm bewährten oder nicht bewährten. Wenn darüber hinaus gesagt wird, daß jedes Ereignis mehr und zugleich weniger zeitigt, als in seinen Vorgegebenheiten (strukturellen Voraussetzungen) enthalten sei, dann ist dies richtig 1 6 ; nur m u ß hinzugefügt werden, daß diese Feststellung ein Beweis mehr für die Dialektik von Notwendigkeit und Zufall ist. Was nun die historische Persönlichkeit betrifft, so wird manchmal erklärt, d a ß sie Strukturen zerstören, bewahren oder begründen könne. Dieses Argument kann sicherlich nicht mit leichter Hand abgetan werden; aber es ist auch nicht zu leugnen, d a ß jode historische Persönlichkeit, gleich von welcher biologischen Konstitution, durch Erziehung, Zeit- und Lebensumstände in soziale und politische Strukturen gleichsam hineinwächst und damit — bewußt oder unbewußt — Bindungen eingeht. Dabei ist die soziale Herkunft eines Politikers nur eine Komponente im Kräftefeld der Strukturund Entwicklungszusammenhänge, die auf ihn einwirken und ihn bilden. Marx und Lenin, beide aus bürgerlichen Intellektuellenkreisen stammend, konnten proletarische Ideologen und Führer werden, weil ihr bewußtes politisches Leben und Wirken in einer Zeit und in einem Lande begann, wo die Widersprüche zweier Gesellschaftsformationen (zweier sozialer Grundstrukturen) sich verknoteten und zur Lösung drängten. Überdies m u ß auch bei dem Verhältnis von „Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte" 1 7 die Dialektik von Notwendigkeit und Zufall mit berücksichtigt werden. Davon hängt die ideologische Physiognomie des Politikers ab, der sich den Charakter seiner Zeit geistigpraktisch (empirisch), wie etwa Bismarck, oder wissenschaftlich-theoretisch, wie etwa Lenin, aneignet. 1 8 Auf jeden Fall hängen Erfolg, Dauer des Erfolgs oder Mißerfolg auch davon ab, in welchem M a ß die historische Persönlichkeit das Kräftespiel, das in den Strukturen wirksam ist, berücksichtigt oder nicht. Jeder bedeutende Politiker wußte mehr oder weniger deutlich, d a ß es für ihn Freiheit des Handelns nur in der Gebundenheit an vorgegebene Strukturen gab. In unseren Betrachtungen über den Begriff der Tatsache haben wir den Zusammenhang und zugleich die Unterscheidung von Ereignissen und Strukturen anhand von Beispielen aus dem Kapitalismus zu beleuchten versucht. Wir zweifeln nicht, daß solche Zusammenhänge in vorkapitalistischen Klassen-Gesellschaften ebenfalls existieren. In dieser Hinsicht sei als Beispiel der millionenfach zitierte G a n g nach Canossa von 1077 angeführt. Damals begegneten sich auf der Felsenburg am N o r d a b h a n g des Apennin der deutsche König und präsumtive Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. nicht bloß als Personen, sondern als personifizierte Institutionen. Es stießen aufeinander die königlich-kaiserliche Zentralgewalt und das Papsttum mit ihren gegenseitig unvereinbaren Ansprüchen auf Hegemonie. Merkwürdig ist, d a ß man mit dieser Feststellung einerseits offene Türen einrennt, andererseits erkennen läßt, daß man bisher in solchen und ähnlich spektakulären Ereignissen den Zusammenhang mit politischen und sozialen Strukturen nicht zum vollen theoretischen Bewußtsein erhoben und daraus erst recht k a u m 16
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Koselleck, R., Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Geschichte heute, hrsg. v. Schulz, G., Göttingen 1973, S. 312. Vgl. Schieder, Th., Strukturen und Persönlichkeit in der Geschichte, in: Historische Ztschr., 195, 1962, S. 265ÍT. Marx unterscheidet wissenschaftliche, künstlerische, religiöse, praktisch-geistige Aneignung der Welt, vgl. MEW, Bd. 13, S. 633. Engelberg/Küttler
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methodologische Schlußfolgerungen gezogen hat. Das singuläre Ereignis von Canossa war nur der dramatisch zugespitzte Ausdruck eines weit ausgebreiteten und tief hinabreichenden Struktur- und Entwicklungszusammenhangs der feudalen Gesellschaft. Es ging um viel mehr als nur um den Gegensatz zwischen Kaisertum und Papsttum; es ging ganz allgemein um jenen innerfeudalen Gegensatz, der entstanden ist aus der Verschmelzung von Grundherrschaft und Kirche und der Beherrschung der letzteren durch die erstere, und dies auf allen Stufen der sozialen Hierarchie: angefangen von dem Kirchenpatronat in kleinen Grundherrschaften bis zur Investitur der Bischöfe. Diese virulent gewordenen Gegensätze brachten noch andere in Bewegung, nämlich die zwischen Fürstentum und Königtum, zwischen Städten und Fürsten weltlicher und geistlicher Observanz, zwischen Bauern und Aristokratie, das Königtum nicht ausgenommen. Der ganze, im 10. Jahrhundert eingespielte feudale Strukturzusammenhang kam in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in lebhafte Bewegung und modifizierte die bisherige Entwicklung. Wir fühlen uns jetzt in der Lage, die Unterscheidung und den Zusammenhang der zwei Tatsachentypen zu präzisieren. Demnach unterscheiden wir erstens Struktur- und Entwicklungselemente innerhalb einer ökonomischen Gesellschaftsformation, in der die Menschen in geschichtlich konkret bestimmten Produktions- und Klassenverhältnissen handeln, zweitens Ereignisse im Handeln und Denken der Menschen, d. h. der von Klassen geprägten Volksmassen und Persönlichkeiten. Wir haben gesehen, daß sich eine zunächst relativ einfach erscheinende Tatsache wie ein Streik als recht komplex enthüllt, auch wenn wir noch im Deskriptiven verbleiben, ohne die im Streik verborgenen ökonomisch-sozialen Zusammenhänge einer, theoretischen Analyse zu unterziehen. Die Komplexität jeder Tatsache ist bei aller Beachtung von Gradunterschieden nicht zu leugnen. Auf der anderen Seite haben diejenigen recht, die sagen, daß jede Tatsache eine „herausgegriffene Tatsache" sei und diese Art von Abstraktion, diese Isolierung oder Ablösung aus Strukturzusammenhängen im Begriff der Tatsache liege. 19 Sehr oft wird von der „Einzeltatsache" gesprochen. Aber wo beginnt sie, und wo hört sie auf? Diese Frage setzt sich in die Frage um, wie und in welchem Umfang Tatsachen herausgelöst aus dem objektiven geschichtlichen Zusammenhang betrachtet werden sollen. Die Art dieser Herauslösung aus dem Gesamtzusammenhang zu Beginn eines Forschungsprozesses hängt nicht allein von der Natur des zu untersuchenden Gegenstandes ab, sondern auch von der Problemstellung. Nehmen wir die Verhandlungen um den Nikolsburger Vorfrieden vom Juli 1866. Es hängt vom besonderen Interesse des Forschers ab, ob er den ganzen Komplex oder im wesentlichen nur das Verhältnis Bismarcks zur preußischen Armeeführung in jenen Tagen als eine Tatsache ins Auge faßt. Im letzteren Falle mag es dem Forscher um die Klärung von Machtstrukturen im damaligen Preußen gehen. Wenn hier zur besonderen Untersuchung Tatsachen aus einem größeren Komplex herausgelöst werden, so zeigt sich, daß die gelegentliche Frage, ob man von der Strukturanalyse oder von der historischen Detailanalyse ausgehen soll, müßig ist. 20 " Kulow, H., Zur Subjektivität von Tatsachen, in Begriff und Funktion der Tatsache in der wissenschaftlichen Forschung, Universität Rostock 1969, S. S. 79 (Rostocker Philosophische Manuskripte 6). 20
Vgl. Ludr,
P. Ch., Der Strukturbegriff in der marxistischen Gesellschaftslehre, in: Soziologie und
Sozialgeschichte, Sonderheft 16/1972 der Kölner Ztschr. f. Soziologie und Sozialpsychologie, S. 422
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Darüber entscheiden eben der Charakter des speziellen Forschungsgegenstandes und zugleich das Forschungsinteresse, die Problemstellung des Historikers. Die geschichtswissenschaftliche Tatsache, wie auch jede Tatsache im naturwissenschaftlichen oder soziologischen Experiment, hat nicht nur Abbild-, sondern auch Funktionscharakter. Doch dieser Aspekt kann hier nicht weiter verfolgt werden. Wir sagten bereits, daß Tatsachen-Aussagen durch ein ständig verbessertes Beweisverfahren belegt, nachgeprüft bzw. überprüft, also bewiesen werden müssen. Wir berühren damit das Gebiet der Quellen-Forschung und -Kritik. Der Historiker hat es zunächst mit Quellen zu tun, die die historische Praxis geschaffen hat und die Teil dieser Praxis sind. Deshalb kann aus ihnen „Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden". 21 Die Quellen reichen in großer Bandbreite mit fließenden Grenzen von Produkten intim individueller Herkunft bis zu solchen von öffentlichem Charakter: Privatbrief, Erinnerung, Chronik, Erzählung, Diplomatischer Erlaß oder Bericht, Urkunde, Akten, Vertrag, Artikel, Rede, Aufruf, Parteiprogramm, Gegenstände aller Art, Architektur usw., Gesetz und Verordnung, zeitgenössische Statistik, Register aller Art, Matrikel, Personalverzeichnisse, Karteien, Enquêten, Fragebogen usw. Quellen von ganz neuen Dimensionen sind neuerdings Dokumentarfilme und Fernsehsendungen. Alle angeführten Quellen geben, grob gesprochen, harte und weiche Daten an 2 2 ; auch hier gibt es fließende Grenzen. Denken wir nur an Urkunden etc. einerseits und Erzählungen, Berichte etc. andererseits, an die Unterscheidung der quellenkundlichen Sammelbegriffe von „Überresten" und „Tradition". Es liegt in der Natur der Sache, daß Quellen von Massencharakter besonders geeignet sind für Informationen über geschichtliche Strukturen; aber auch Quellen individueller Herkunft (Briefe, Erinnerungen, Viten etc.) können zumindest unbeabsichtigte Nebeninformationen über sozialstrukturelle Bedingungen geben. 23 Es zeigt sich, auch hier, daß jedes Ereignis (unter anderem politisch relevante Handlungen von Persönlichkeiten) einen Doppelaspekt hat; d. h. neben den spezifischen und individuellen Elementen auch allgemeine, sich wiederholende Elemente enthält. Die von der Vergangenheit überlieferten Quellen sind voneinander isolierte Ausgangsstoffe der historischen Analyse (eines Teils der Erkenntnistätigkeit), nicht mehr und nicht weniger. Nach ihrem Inhalt wie nach ihrer Form sind sie, einzeln genommen, in ihrer Aussage beschränkt und bedürfen deshalb einer kritischen Analyse, deren spezielle Methodik hier nicht erörtert werden kann. Wenn gelegentlich aus der unbestreitbaren Tatsache, daß ein solches Ereignis, wie beispielsweise eine Schlacht, vom Soldaten ganz anders erlebt wird als vom General, gefolgert wird, daß eine objektive Geschichtsschreibung nicht möglich ist, darin werden in einem geistreich erscheinenden Kurz-Schluß die erprobten Möglichkeiten der Quellenkritik, zu der auch der Quellenvergleich gehört, recht leichtfertig negiert. 24 Es steht jedoch fest: Wenn Quellen voneinander isolierte Ausgangsstoffe der 21
Kirn, P., Einführung in die Geschichtswissenschaft, Berlin 1947, S. 28.
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Diese von Historikern neuerdings viel benutzten Termini stammen von dem
Naturwissenschaftler
Bertrand Russell. 21
Albrecht,
G„ Zur Stellung historischer Forschungsmethoden und nicht-reaktiver Methoden im System
der empirischen Sozialforschung, in: Soziologie und Sozialgeschichte, a. a. O., S.'254. 24
2«
Aron, R., La philosophie de l'histoire, in: L'activité philosoph, contemp., t. 2, S. 115.
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historischen Analysen sind, so sind erst die Resultate dieser Analysen mehr oder weniger vollgültige geschichtsivissenschaftliche Tatsachen, die aber immer noch nicht das Wesen der Erscheinungen wiedergeben. Es handelt sich, wie schon gesagt, um geschichtswissenschaftliche Tatsachen im Sinne von länger währenden Struktur- und Entwicklungselementen oder von einmaligen, aber mit diesen zusammenhängenden Ereignissen. Die historische Analyse beginnt also mit der Kritik von Quellen, die in der einen oder anderen Weise „versachlichte Taten" und damit zugleich Informationsträger sind. Die Quellenkritik in ihrer ganzen Vielschichtigkeit macht die historische Methode ersten Grades aus. Es wird Aufgabe der Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft sein, das Verhältnis zwischen den vielfältigen Quellen einerseits, die von der Vergangenheit überlieferte, „versachlichte Taten" sind, und den Tatsachentypen andererseits, die durch Quellenkritik eruiert werden sollen, zu untersuchen. Es gibt keine Quelle, die nicht nach Vergleich und begrifflicher Verallgemeinerung verlangt; es gibt keine vollgültige geschichtswissenschaftliche Tatsache ohne Quelle als historischen Rohstoff. Archivalien, Originalausgaben, museale Gegenstände und historische Bauten etc. sind durch ihre ursprüngliche, den Hauch des Unmittelbaren vermittelnde Materialität in ihrer Aussagekraft stärker und zugleich schwächer (wesentlich schwächer) als die wissenschaftliche Geschichtsliteratur, soweit sie auf quellenkritisch eruierten Tatsachen beruht und das Wesen der Struktur- und Entwicklungszusammenhänge annähernd adäquat und formgerecht widerspiegelt. Auch von diesem Gesichtspunkt aus wird die Dialektik von Subjekt und Objekt in der Erkenntnistätigkeit des Historikers relevant. Im Zusammenhang mit diesem Abschnitt über das Verhältnis von Quellen und Tatsachen-Aussagen mag noch etwas über den Platz der quantitativen Methode innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gesagt sein. Die weitere Entwicklung quantitativer Methoden in der Geschichtsforschung dient der Eruierung von mehr oder weniger isolierten Tatsachen-Reihen wie auch von Tatsachen-Zusammenhängen in historischen Strukturen und Prozessen, kann sich aber auch auf relativ kurzlebige Ereignisse beziehen. 25 Die Erfolge der quantitativen Methoden, insbesondere in der Wirtschaftsgeschichte und darüber hinaus bei der Erforschung von sozialen und politischen Massenkräften, sind unbestreitbar. Darüber ist auf internationalen Kongressen und Kolloquien überzeugend berichtet worden. Auf quantitative Methoden wird man in Zukunft schon deswegen nicht verzichten können, weil beträchtliches Quellenmaterial mehr und mehr aus Zahlen, Lochkarten, Computertabellen und -programmen bestehen wird. Allerdings darf nicht der positivistische Aberglaube überhandnehmen, wonach „nichts zählt, was nicht gezählt, gemessen oder gewogen werden kann", wie der scharfsinnige Fritz Redlich sarkastisch meinte. 26 Wie alle Analysen, setzen auch die quantitativen Untersuchungsmethoden, wie die die Erfahrungen gezeigt haben, folgendes voraus: a) eine Problem- und Fragestellung, die von der gesellschaftlichen und politischen Praxis oder der Wissenschaftsentwicklung aufgezwungen wird (also eine praktische Determinante der Forschung); b) eine wissen25
Aydelotte, W., O.,
Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Soziologie, hrsg.
v. H.-U. Wehler, Köln 1972, S. 259ff. 26
Redlich, F., ,Neue' und traditionelle Methoden der Wirtschaftsgeschichte, in: Geschichte und Ökonomie, hrsg. v. H.-U. Wehler, Köln 1973, S. 242.
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schaftlich fundierte und bewährte Theorie, die methodisch umgesetzt werden kann; c) eine kritische Aufbereitung der vorhandenen Quellen, und zwar hinsichtlich ihrer Quantität wie ihrer Qualität, wobei man methodische Errungenschaften der traditionellen Quellenkritik durchaus berücksichtigen muß; d) kritische Berücksichtigung des vorgegebenen Wissens. Schon diese Aufzählung theoretisch-methodologischer Voraussetzungen für jene quantitativen Methoden, die in den USA auch gelegentlich Cliometrik genannt werden, zeigt uns, daß die Quantifizierung alles andere als ideologiefrei ist und nicht als Musterbeispiel posivistischer Entideologisierung angepriesen werden kann. Was die praktische Determinante betrifft, so wurde z. B. hinsichtlich jener Arbeiten, die unter Anwendung quantitativer Methoden über die Entstehung und den Ausbruch des ersten Weltkriegs in den USA Anfang der sechziger Jahre in Angriff genommen worden sind 27 , übereinstimmend festgestellt, daß der praktische Impuls für diese Arbeiten das Interesse für die Beherrschung des Rüstungswettlaufs und das sogenannte Krisenmanagement war; aus dem negativen Verlauf der Vorgeschichte des ersten Weltkriegs und der Juli-Krise 1914 sollten »Lehren für die Gegenwart gezogen werden. Der Ausdruck „Krisenmanagement" ist außerordentlich aufschlußreich und verräterisch, man lebt mit der Krise, will sie meistern (managen), kann sie aber nicht beseitigen. Ein anderes Beispiel: Einen Zusammenhang zwischen der praktischen Determinante und der Untersuchungsmethode gibt es vermutlich auch bei der Arbeit von Robert W. Fogel 28 , der nachweisen wollte, daß der Bau von Eisenbahnen für die wirtschaftliche Expansion der Vereinigten Staaten unnötig war. Hier kann man schwer die Frage unterdrücken, ob denn eine solche Thematik nicht mit der öffentlichen Kontroverse über den weiteren Ausbau von Autobahnen zuungunsten des Baus von Eisenbahnen — unbewußt oder bewußt — zusammenhängt. Was nun die methodisch umsetzbare Gesellschafts-Theorie betrifft, so ist sie auch für die Forschungspraxis der „Cliometriker" relevant. So kann beispielsweise der Behaviorismus dazu führen, daß die Analyse auf die Handlungsweise der führenden Politiker verengt wird. Je nach der Auffassung über den konkreten Zusammenhang der verschiedenen geschichtswirksamen Kräfte, anders ausgedrückt: den Zusammenhang zwischen den spezifischen, individuellen und den allgemeinen, sich wiederholenden Elementen in einem geschichtlichen Ereignis wird — damit kommen wir zur dritten Voraussetzung der quantitativen Methode — die Frage nach der Quantität und Qualität der heranzuziehenden Quellen anders gelöst. Es kann nicht bestritten werden, daß manche methodologischen Himmelsstürmer im Hinblick auf die Quellenbasis ausgerechnet wieder bei Ranke angekommen sind, darüber hinaus vorgegebenes Wissen in Form gesicherter Forschungsergebnisse rigoros negieren. 29 Es bleibt dabei: die Vorstellung von der wert- und ideologiefreien Quantifizierung ist ein Märchen; zum anderen bedarf diese einiger theoretisch-methodologischer Prinzipien, 27
Vgl. zahlreiche übersetzte Untersuchungen amerikanischer Historiker in: Konflikt — Eskalation —
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Vgl. Demm,
Krise, hrsg. v. K.-J. Gantzel, G. Kress u. V. Rittberger, Düsseldorf 1972. E., Neue Wege in der amerikanischen Geschichtswissenschaft, in: Saeculum, 22, 1971,
H. 4, S. 369f. 29
Vgl. die Kritik von Geiss, I. in: Konflikt — Eskalation — Krise, a. a. O.
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die sozusagen außerhalb des Modellbaus bzw. Computerverfahrens liegt. Damit ist die quantitative Methodik („Cliometrik") in die Zone der Hilfswissenschaften verwiesen. 30 Im Hinblick auf die Erfolge der quantitativen Methoden sei noch folgendes hervorgehoben: Gerade die erwähnten, höchst problematischen Studien über die Vorgeschichte und den Ausbruch des ersten Weltkriegs haben gezeigt, daß die Quantifizierung — gleich welche theoretisch-methodologischen Prinzipien ihr zugrunde liegen — eine Verfeinerung, Präzisierung und Erweiterung des Begriffsapparates erzwingt. Es ist eigenlich unmöglich geworden, Begriffe wie „Konflikt", „Krise", Eskalation" ohne genauere Reflexion niederzuschreiben. Es ist zumindest problematisch geworden, sie nur durch entsprechende Adjektive differenzieren zu wollen. Jedenfalls ist die Unterscheidung der verschiedenen historischen Krisentypen, die versucht worden ist, beachtens- und nachdenkenswert. Schließlich sei noch festgehalten, daß u. a. die auf den Ausbruch des ersten Weltkriegs bezogene Quantifizierungsmethode, auch wenn sie in ihrer Quellenbasis noch so eingeengt und darum mißglückt ist, den Blick geschärft hat für einige der Vermittlungen zwischen Ökonomie und Politik, wie beispielsweise Willensbildung und Entscheidungsfindung oder zwischen- und innerstaatliche Kommunikationen. Kurzum: In der Frage der quantitativen Methoden geht es nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie, es ist der konkrete Platz der Quantifizierung in der Historik, also im System der geschichtswissenschaftlichen Forschungsmethodik, zu fixieren. Dabei wird sowohl heilsbewußter Expansionismus als auch konservative Abwehrhaltung aufzugeben sei.
3. Struktur, Bewegung und Entwicklung Um auf dem Wege der Analyse und Synthese der historischen Tatsachen und ihrer Struktur- und Entwicklungszusammenhänge weiterschreiten und die Übergänge von der historischen Methode ersten Grades zu der zweiten oder dritten Grades finden zu können, ist es notwendig geworden, unsere Betrachtungen über Struktur und Entwicklung der Gesellschaft weiterzuführen und zu präzisieren. Mit und nach der Quellenkritik hat es der Historiker zunächst mit dem Konkreten im herkömmlichen Sprachgebrauch zu tun, d. h. mit der Gesamtheit der unmittelbaren Tatsachen, die die Grundlage aller begrifflich zu verarbeitenden „Anschauung und Vorstellung" ist. 31 Anschauung und Vorstellung sind mehr oder weniger identisch mit dem Empirischen. Das Konkrete im herkömmlichen Sprachgebrauch, „Ausgangspunkt" des Erkenntnisprozesses, wird zu dessen „Resultat", zum Konkreten höherer Ordnung erst dann, wenn die unmittelbar gegebenen Tatsachen in ihrem spezifischen, eben anschaulich-faßbaren Zusammenhang innerhalb einer gesetzmäßig strukturierten und sich bewegenden gesellschaftlichen Totalität gesehen sind. „Das Konkrete ist, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen." 3 2 Wenn wir nach der „Zusammenfassung verschiedener Bestimmungen", nach der „Einheit ™ Vgl. Barraclough, G„ a. a. O., S. 126ff. M E W , Bd 13, S. 631 f. 32 M E W , Bd. 13, S. 632.
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des Mannigfaltigen", nach dem konkreten Zusammenhang von Tatsachen fragen, dann ist im Grunde die Frage nach den Strukturen im Gesellschaftlich-Historischen gestellt: Was sind Strukturen und was sind keine? Müssen Strukturen in einer räumlich-zeitlichen Grundstruktur zusammengefaßt werden? Diese Fragen sollen jetzt ausdrücklicher und eindringlicher gestellt werden, als dies bisher geschehen ist. Keine Strukturen sind beispielsweise: Angaben über Beschäftigungen in einem bestimmten Zeitraum, über Einkommen und Preise, Daten über das Bruttosozialprodukt, die durchschnittliche Steigerung von Löhnen, Lebenshaltungskosten, Export- und Importzahlen etc.3-1 Hier handelt es sich um Faktenreihen, die Struktur- und Entwicklungselemente (z. B. Arbeiterklasse, Bourgeoisie etc.) mitbestimmen, nicht mehr und nicht weniger. Diese Faktenreihen erscheinen nur deswegen als Strukturen, weil Verhältnisse zwischen Personen und Klassen an sachliche Gegebenheiten und Dinge gebunden sind. Gelegentlich werden als Strukturen noch folgende historische Erscheinungen genannt: „Verfassungsbauformen, Herrschaftsweisen, die sich nicht von heute auf morgen zu ändern pflegen, die aber Voraussetzung politischen Handelns sind. Oder die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die sich nur langfristig, manchmal schubweise, wandeln, jedenfalls die gesellschaftliche Organisation bedingen und mit bewirken. Hierher gehören die Freund-Feind-Konstellationen, in denen Krieg oder Frieden beschlossen liegen,. . . Dazu kommen geografisch-räumliche Vorgegebenheiten in Beziehung zu ihrer technischen Verfügbarkeit, woraus anhaltende Möglichkeiten politischen Handelns, wirtschaftlicher oder sozialer Verhaltensweisen entspringen." 34 Wie man zu diesen Beispielen und Formulierungen auch kritisch stehen mag, dem Problem der Strukturen sind wir hier dennoch näher gekommen. Es sei auch ausdrücklich hervorgehoben, daß in dem zitierten Text solche dem Marxismus entlehnten Begriffe, wie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, erwähnt werden. Aber wenn dann bemerkt wird, daß man das Verhältnis all der oben angegebenen Strukturen nicht gegeneinander abwägen wolle, dann ist die Gefahr unverkennbar, „daß das Faktenchaos des Individualitätspostulats zum Strukturchaos transformiert wird". 3 5 Offensichtlich ist das Bedürfnis weit verbreitet, über Faktenreihen hinaus zu denken, um zu einer Vorstellung des Zusammenhangs in und zwischen den Strukturen zu kommen, um den Charakter der Strukturen zu erfassen. Wie vage oder bestimmt dieses Bedürfnis auch sei, hier beginnt erst der wissenschaftliche Streit: Dabei schwingt bewußt oder unbewußt die bereits in der Einleitung etwas näher beleuchtete Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt mit — die Frage nämlich, ob das erkennende Subjekt den gesuchten Zusammenhang in einer ideal-typischen Gedankenkonstitution gleichsam selbstherrlich herstellt oder im zu erkennenden Objekt, sich ihm unterordnend, entdeckt, begrifflich verarbeitet und anschaulich macht. Diese erkenntnistheoretische Grundfrage haben wir immer im Auge zu behalten, wenn wir Antwort suchen auf die kontroversen Fragen nach dem objektiven Zusammenhang in und zwischen den Strukturen. Die Versuchung liegt nahe, daß man Strukturen, ähnlich denen, die wir bereits ange33 Rittner, V., Zur Krise der westdeutschen Historiographie, in: Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft 1, hrsg. v. I. Geiss u. R. Tamchina, München 1974, S. 71 f.
3t Koselleck, R„ a. a. 0., S. 309. 35 Rittner, V., a. a. O., S. 73.
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führt haben, in dieser oder jener Reihenfolge fixiert und den Zusammenhang zwischen ihnen lediglich in ihrer Wechselwirkung sieht. Indem man somit auf eine solche Grundstruktur verzichtet, die durch die dynamisch bewegte Ordnung mit bestimmten Dominanten gekennzeichnet ist, hätte man die alte Faktorentheorie, die A. Labriola als „Halbtheorie" bezeichnet hat, nur modernisiert. Zugegeben, mit dieser Modernisierung könnte ein Fortschritt verbunden sein, wenn man beispielsweise den Allerweltsbegriff „ökonomischer Faktor" durch die konkreteren und nicht zuletzt im Hinblick auf die Strukturerfassung weiterführenden Begriffe „Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse" ersetzte; entsprechend würde man den nicht minder oberflächlichen Begriff „politischer F a k t o r " konkretisieren usw. Welches aber in dieser Richtung die Fortschritte sein mögen, die sich auch in monographischen Forschungsergebnissen niederschlagen könnten, ein Durchbruch im Interesse der Erfassung des gesamtgesellschaftlichen Struktur- und Entwicklungszusammenhangs wäre dennoch nicht erzielt. Es müssen also zur Erfassung der gesellschaftlichen Grundstruktur andere Wege gefunden — unumwunden gesagt — schon längst entdeckte Wege wiederentdeckt, wenn auch in jeder Hinsicht weiter ausgebaut werden. Es wird gelegentlich behauptet, daß der Terminus Struktur in jüngster Vergangenheit „explosionsartig" aufgetaucht und an die Stelle „altmodisch gewordener Termini, wie etwa Ordnung, Organisation, System, Zusammenhang oder Gefüge" gerückt sei. 36 Es ist nicht zu leugnen, daß der Terminus Struktur unversehens zu einem Modewort werden kann, das sich einstellt, wo eben der Begriff fehlt. Aber das muß nicht sein, ebensowenig wie man sich etwa der Termini Ordnung, Zusammenhang oder Gefüge entledigen dürfte und könnte. Selbst der Terminus System braucht trotz seines (übrigen keineswegs bloß vergangenen, sondern erst recht modernen) Mißbrauchs keineswegs verbannt zu werden. Das führt uns zu der Frage, ob man in der Geschichtswissenschaft den systemtheoretischen oder den soziologisch-historischen Strukturbegriff verwenden solle. 37 Im systemtheoretischen Strukturbegriff wird im allgemeinen davon abgesehen, aus welchen Elementen sich das System konstituiert; es wird vielmehr nur die Gesamtheit der zwischen den Elementen bestehenden Relationen ins Auge gefaßt. Es mag überspitzt sein, aber es ist im Kerne doch richtig, wenn der systemtheoretische Strukturbegriff folgendermaßen umrissen wird: „Untersuchen wir die Struktur eines Systems, so sehen wir im allgemeinen nicht nur vom konkreten Material seiner Elemente ab, sondern zugleich von der Bewegung, Veränderung und Entwicklung des Systems." 38 Hier wird sowohl vom relativ statischen als auch vom dynamischen Aspekt der historischen Wirklichkeit derart übertrieben abstrahiert, daß der Historiker den systemtheoretischen Strukturbegriff nicht unreflektiert übernehmen kann. In ihm ist die Abstraktion dem Gegenstand der historischen Untersuchung derart unangemessen, daß man sich, wie Marx in einem anderen Zusammenhang einmal schrieb, nicht zu wundern brauche, wenn „man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in der Welt der Abstraktionen, der
™ Faber, K.-G. Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1971, S. lOOf. 37
Vgl. Pasemann,
D., Bemerkungen zur Struktur der Geschichte bei Karl Marx, in: Probleme der
geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis, hrsg. v. E. Engelberg u. W. Küttler, Berlin 1977 (S. 87 dieses Bandes).
Kröber, G., Die Kategorie .Struktur' und der kategorische Strukturalismus, in: Dt. Ztschr. f. Philosophie, 1968, H. 11. S. 1314.
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Welt der logischen Kategorien". 3 9 Hierin liegt der rationelle Kern der an sich unseligen Vorstellung von der Erbfeindschaft zwischen Historie und Philosophie. Die Abstraktionen dürfen am allerwenigsten in der Geschichtswissenschaft so sinnentleert sein, daß der dialektische Zusammenhang von Empirie und Theorie zerrissen wird. Die Kategorien der Geschichtstheorie, die in Methode umschlägt, müssen so gefaßt sein, daß sie die historische Wirklichkeit einigermaßen adäquat abbilden und den Historiker methodisch befähigen können, den dialektischen Zusammenhang von Ereignis, Struktur, Bewegung und Entwicklung zu erforschen und darzustellen. So wie im Ereignis, wie wir gesehen haben, Strukturelemente angelegt sind, so ist auch in der Struktur die Bewegung und Entwicklung angelegt. Um den wirklichen historischen Zusammenhang nicht zu zerreißen, bleibt es oberstes Gebot des Historikers, in seiner Forschung und Darstellung so vorzugehen, daß Struktur und Entwicklung nicht als einander entgegengesetzte Bestimmungen des historischen Geschehens erscheinen. Doch mit diesen methodischen Postulaten bewegen wir uns immer noch im Bereich des Formalen. So wichtig diese formalen Gesichtspunkte sind, methodisch sind sie erst dann fruchtbar, wenn die Grundlage aller historischen Betrachtungen, die Tatsache aller Tatsachen, daß nämlich das eigentliche Subjekt der Geschichte der Mensch ist, ständig im Auge behalten wird. Die Geschichte „ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen". 4 0 Wenn es der Historiker mit Verhältnissen und Beziehungen von Menschen zu tun hat, dann folgt unausbleiblich die Frage: Welche Verhältnisse gehen die Menschen ein, und wie bilden sie sich zu einem gesellschaftlichen Ganzen? Was ist in dieser gesellschaftlichen Totalität im Hinblick auf die menschliche Existenz absolut, und was ist relativ? Absolut ist, daß die Menschen in ihrer praktisch-sinnlichen Tätigkeit, in der Produktion und Reproduktion ihres Lebens sowohl Beziehungen zur äußeren Natur als auch Beziehungen untereinander eingehen und in dieser Praxis das dialektische Wechselverhältnis des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins wirksam ist; relativ ist, daß diese Grundbeziehungen in noch näher zu erforschenden Zeiträumen (Epochen, Perioden) Formwandlungen unterworfen sind. Zur Dialektik von Absolutem und Relativem sei noch folgendes gesagt: Der „historische Sinn", von dem Marx und Engels immer wieder sprachen, ist dadurch auf ein sicheres Fundament gegründet, daß die Menschengeschichte sowohl hinsichtlich ihrer Entstehung als auch ihrer ständigen Grundlage mit der Naturgeschichte verbunden bleibt. Es ist die Arbeit, die den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur vermittelt, reguliert und kontrolliert. Die Arbeit ist „eine von allen Gesellschaftsformationen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln." 41 Im „Stoffwechsel zwischen Mensch und N a t u r " entwickelt der arbeitende Mensch als „Resultat der angewandten Energie" 42 Produktivkräfte, die sich vor allem in Arbeitsmitteln vergegenständlichen. Da aber die Arbeit immer gesellschaftliche Tätigkeit, Quelle des Reichtums nur „in und durch die Gesellschaft" 43 ist, produzieren oder reproduzieren die Menschen
»
MEW, Bd. 4, S. 138.
40 MEW, Bd. 2, S. 98. MEW, Bd. 23, S. 57. «
MEW, Bd. 4, S. 548f. MEW, Bd. 19, S. 17.
26
Ernsl Engelbert;
ihre Existenzmittel nicht nur auf einem historisch jeweils erreichten Niveau ihrer Produktivkräfte, sondern zugleich auch in den ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnissen, also in Produktionsverhältnissen. In einem der oben wiedergegebenen Zitate führte ein Nichtmarxist — noch einmal sei darauf hingewiesen — unter den für den Historiker relevanten Strukturen gleichfalls die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse an, ließ jedoch die Frage offen, in welchem Verhältnis die erwähnten Strukturen zueinander stehen. Doch die Frage kann nicht unbeantwortet bleiben, zumal sich noch andere Fragen aufdrängen: Ist der Mensch in der gesellschaftlichen Struktur mit all ihren Teilbereichen gebunden oder frei? Wie ist er gebunden, und wie ist er frei? Es ist der Mensch, der in der materiellen Produktion die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen geschaffen hat — also das geschichtliche Grundgesetz, das sowohl für alle Bereiche und Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit als auch für alle Gesellschaftsformen wirksam ist. Zur besonderen Aufgabe der Historiker gehört es wohl, herauszuarbeiten, welchen Charakter und welches Ausmaß die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Menschen je nach der Epoche, je nach dem besonderen Gesellschafts- und Produktionsbereich und nicht zuletzt je nach der Klassenzugehörigkeit annimmt, wie sich die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit widerspruchsvoll entwickelt. Es gibt kein Fatum in der Geschichte. Auf der anderen Seite ist immer wieder dies zu beachten: Die jeweiligen Produktionsbedingungen, also die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, haben zwar die Menschen mit Bewußtsein geschaffen; aber einmal geschaffen, existieren sie unabhängig vom Bewußtsein und Willen der nachfolgenden Generation, die die jeweils geschaffenen Produktionsbedingungen nicht frei wählen kann, vielmehr als materielle Ausgangsposition für weitere produktive Tätigkeit nehmen muß, um sie allerdings mit Bewußtsein weiterentwickeln zu können. Dabei haben wir Historiker „die konkret-historische Vielschichtigkeit des Begriffs der Bewußtheit" 44 methodologisch fruchtbar zu machen. Diese Überlegungen. lassen erkennen, daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowohl die Struktur als auch die Entwicklung der Gesellschaft bestimmt. Im Zusammenhang mit dieser Dialektik entwickelt sich die Gesamtheit der Klassenbeziehungen in allen ihren ökonomischen, politischen und ideologischen Formen und Bereichen. Von dieser Sicht her erweist sich eine gleichsam oberste gesellschaftliche Totalität als unabweislich — eine Grundstruktur, die wir ökonomische Gesellschaftsformation nennen. Die weitere Konsequenz ist, daß wir alle Tatsachen, die die Quellen vermitteln, im Zusammenhang mit der Struktur, der Bewegung und der Ablösung der ökonomischen Gesellschaftsformationan betrachten können, ja müssen. Erst in diesem — zumeist vielfach vermittelten — Zusammenhang wird die Tatsache eine historische, kann ihr Gewicht gemessen und bewertet werden; erst in diesem Zusammenhang wird die historische Tatsache in ihrem Wesen erkannt und zu einem Moment des Gesetzmäßigen in Struktur und Entwicklung der Gesellschaft. Wir ordnen das geschichtliche Material, d. h. die Vielzahl der durch die Quellenanalyse gewonnenen Fakten gleichsam nach den einzelnen Schichten der gesellschaftlichen Struktur, wie wir das zuvor an einzelnen Beispielen gezeigt haben. Der Begriff der 44
Bollhagen,
P„ Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft, Berlin 1967, S. 170.
Ereignis. Struktur und E n t w i c k l u n g in der G e s c h i c h t e
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Ordnung (oder des Ordnens) kommt beispielsweise in der „Deutschen Ideologie" öfters vor: nur ist davor zu warnen, daß Begriffe wie Ordnung oder Schichtung uns dazu verleiten, in einer statischen Betrachtungsweise zu verharren. Die gesellschaftliche Grundstruktur ist in all ihren Schichtungen und im Verhältnis dieser Schichtungen zueinander eine sich ständig bewegende und sich entwickelnde Totalität. Es genügt nicht, beim Ordnen des geschichtlichen Materials im Geiste der Schubfachordentlichkeit zu prüfen, wo etwas seinem Inhalt nach hingehört, zu den Produktivkräften, zu den Produktions- und Klassenverhältnissen, zum ideologischen oder politischen Überbau etc. Wir müssen diese statische Betrachtungsweise durch eine dynamische ergänzen, d. h. durch die Vereinigung von Analyse und Synthese zum Zwecke der Erkenntnis der innerlich widersprüchlichen Tendenzen eines Faktums oder Faktenkomplexes und der ganzen Totalität ihrer mannigfaltigen Beziehungen. Es gehört zur Überlegenheit des soziologisch-historischen Strukturbegriffs, daß er den Historiker in den Stand setzt, das Wesen der historischen Selbstbewegung durch Aufdecken und konkrete Charakterisierung der Widersprüche in den verschiedenen Gesellschaftsformationen zu enthüllen. Dabei haben wir nicht nur die Einheit und den Kampf der Gegensätze mit den zahlreichen Form Wandlungen im Auge, sondern auch die Entwicklung vom Nebeneinander zur Kausalität und von der einen Form des Zusammenhangs und der wechselseitigen Abhängigkeit zu einer anderen, tieferen, allgemeineren. 45 " Gerade wegen der wechselseitigen Abhängigkeit der Tatsachen, Faktenkomplexe und der verschiedenen Bereiche (Strukturen) innerhalb der gesellschaftlichen Totalität (Grundstruktur = Gesellschaftsformation) gibt es keine absolute Selbständigkeit und Bewegungslosigkeit der verschieden gearteten Teilbereiche (oder Kräftefelder), so gibt es keine absolute Autonomie z. B. des Religiösen, und so kann die Reformation von der bürgerlichbäuerlichen Revolutionsbewegung und deren Ausnutzung durch die Fürsten nicht getrennt werden. Eine isolierbare Teilgeschichte gibt es nur im Wissenschafts-Organisatorischen, nicht aber im Prinzipiellen. Die gesellschaftlichen Teilbereiche können umso weniger voneinander isoliert werden, als es immer wieder Übergänge von einer Bestimmung zur anderen, manchmal in ihr Gegenteil, gibt. Denken wir nur daran, daß die Überbauerscheinung Wissenschaft eben auch in Produktivkraft umschlagen kann. Darum erweist sich die Formulierung „Wissenschaft ist Produktivkraft" als unglücklich; wesentlich präziser scheint es zu sein, wenn man sagt: „Wissenschaft wirkt als Produktivkraft." Eines darf allerdings nie außer acht gelassen werden: Die Dialektik behält in Theorie und Methode nur dann ihren materialistischen Charakter, wenn oberstes Prinzip bleibt, daß in allen Gesellschaftsformen eine bestimmte Produktionsweise insofern die Basis ist, als sie allen Elementen und Ereignissen in der widerspruchsvollen Struktur der gesellschaftlichen Totalität letzten Endes „Rang und Einfluß zuweist". 4 6 Die Produktionsweise als Basis im dynamisch bewegten Strukturzusammenhang der gesellschaftlichen Totalität schließt Monokausalität, die manchmal dem Marxismus unterstellt wird, aus; die These von der ökonomischen Basis schließt auch aus, daß eine Überbauerscheinung, so bedeutungsvoll sie sein mag, das Wesen einer Gesellschaft in ihrer räumlichen und zeitlichen Struktur kennzeichnen kann. Darum kann beispielsweise der Begriff „Zeitalter des Barock" irre-
«
Vgl. Lenin,
W. /., Werke, Bd. 38, S. 2 l 2 f .
•m M E W , Bd. 13, S. 637.
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Ernst Engelberg
führend werden, wenn damit ein Zeitalter in all seinen Lebensäußerungen gekennzeichnet werden soll. 47 Hier ist noch folgendes anzumerken: Jede geschichtlich entstandene Produktionsweise kann von einer bestimmten Entwicklungsstufe an als autonom erscheinen; sie reproduziert sich aus sich selbst heraus. Von diesem Moment an erscheint es überflüssig, zur Erklärung ihrer speziellen (besonders ökonomischen) Gesetze die Geschichte heranzuziehen. 48 An den Umstand, daß der aktuelle ökonomische Zusammenhang als Aufhebung der Geschichte angesehen werden kann, knüpft die geschichtsfeindliche, rigoros strukturalistische Marx-Interpretation der Althusserschen Schule in Frankreich an 4 9 Des weiteren: Wenn es durchaus im Sinne von Marx ist, die Struktur des Kapitalismus, die ein Resultat der Geschichte ist, als methodologische Grundlage zu nehmen, um die vorkapitalistische Vergangenheit zu erforschen 50 , so ist es nicht möglich, im Sinne einer anderen strukturalistischen Schule, nämlich der von Lévi-Strauss, von primitiven Gesellschaftsformen aus das Wesen der gesellschaftlichen Struktur schlechthin zu erhellen. 51 Der Begriff der Evolution wird bekanntlich in zweifachem Sinne verstanden, einmal als Synonym für die Dialektik von Struktur, Bewegung und Entwicklung überhaupt, zum anderen als Gegensatz zu Revolution. Da wir die Evolution im ersten Sinne schon oben umrissen haben, beschränken wir uns hier auf Bemerkungen über die Dialektik von Evolution und Revolution — und zwar vornehmlich unter dem Aspekt der gesetzmäßigen Abfolge von ökonomischen Gesellschaftsformationen. Die Evolution ist in Wirkung und Rückwirkung mit der Revolution dialektisch verbunden. .Die Evolution mit ihren antagonistischen Widersprüchen ökonomischer, sozialer und ideologischer Art bereitet die Revolution in Inhalt und Form vor, wie diese wiederum die ihr folgende Evolution bestimmt. 52 Die Frage nach der Revolution war die Seele der verdichtenden Zusammenfassung des historischen Materialismus im programmatischen Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie", die 1859 in Deutschland herauskam. 5 3 Dabei war der Kapitalismus mit all seinen in der Ökonomie wurzelnden Klassenkämpfen und revolutionären Perspektiven der methodische Bezugspunkt der dialektisch-materialistischen Analyse der Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Marx und Engels stießen, ausgerüstet mit dem aus der Analyse ihrer Zeit gewonnenen Begriffsapparat, vom Kapitalismus aus in die Vergangenheit vor, um zu entdecken, welches seine Voraussetzungen und zugleich die von ihm zu überwindenden Entwicklungshemmnisse waren; von einem ihnen gerade noch zugänglichen Punkt der Vergangenheit gingen sie den Forschungsweg wieder zurück 47
Engelberg, E./Bahner, W.jDietze, W./Weimann, R., Genese
und Gültigkeit von Epochenbegriffen, Berlin
1974 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , 1973, Nr. 1), S. 13ff. 48
Vgl. Pasemann, D., a. a. O.
49
Vgl. Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre „Kapital" (Frankfurter Colloquium September 1967) Frankfurt-Wien 1968, S. 5 8 - 8 0 .
5« MEW, Bd. 13, S. 636. 51
52
Vgl.
Mérei, G., Structuralisme,
Analyse structuraliste, Marxismo, Szeged 1971 (Acta histórica, t. XXXVII),
S. 12 ff.
Engelberg, E„
Fragen der Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, in: CISH, Vienne 1965,
Rapports IV, Méthodologie et Histoire Contemporaine, Wien 1965, S. 21—32. 53
Engelberg, E.,
Probleme der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen. Betrachtungen zu
einer Diskussion, in: Ztschr. f. Geschichtswiss., XXII, 1974, H. 2, bes. S. 154f.
Ereignis. Struktur und Entwicklung in der Geschichte
29
in die Gegenwart, um dann 1859 jene Reihenfolge von Gesellschaftsformationen zu fixieren, die bei allen Umwegen und Tempoverlusten im einzelnen in den Wetterstürmen der Geschichte den relativ kürzesten Weg zum Kapitalismus bezeichnete. Gerade diese damals fixierte und keine andere Reihenfolge der sich zum Kapitalismus und damit auch zum Sozialismus hin bewegenden Gesellschaftsformationen ist deshalb bedeutungsvoll und unabdingbar, weil sie die Hauptlinie der geschichtlichen Entwicklung darstellt. Wenn Engels schon sehr früh, nämlich 1847 in den „Grundsätzen des Kommunismus", von Ländern sprach, „welche bisher mehr oder weniger der geschichtlichen Entwicklung fremd geblieben waren", und dabei China und Indien erwähnte 54 , dann haben diese Worte nur einen Sinn, wenn eine Hauptlinie der geschichtlichen Entwicklung vorausgesetzt wird. Die These von der ganz bestimmten Reihenfolge progressiver Gesellschaftsformationen als Hauptlinie der Geschichte ist nicht nur eine theoretische Widerspiegelung der Wirklichkeit, sondern zugleich auch ein methodisches Hilfsmittel. Es hilft bei der Entscheidung, Wann und wie sich lange Zeit relativ stagnierende Länder und Kontinente in die progressive Folge der Gesellschaftsformationen im wahrsten Sinne des Wortes „einreihen" können. Hier greift die Theorie in die Praxis ein und wird von dieser gefordert. In der internatioal geführten Diskussion über die Gesellschaftsformationen gab es Kontroversen, ob ihre Entwicklung unilinear oder multilinear vor sich gegangen sei. Auf jeden Fall ist davor zu warnen, die Begriffe „unilinear" und „multilinear" im Blick auf den ganzen weltgeschichtlichen Prozeß in der Abfolge der Gesellschaftsformation einander starr gegenüberzustellen, als ob es da nur ein rigoroses Entweder-Oder gäbe. In die Auffassung von der unilinearen Entwicklung der Weltgeschichte schleicht sich leicht die Tendenz ein, der Marx-Engelsschen Reihenfolge von Gesellschaftsformationen einen quasi-normativen, weltweit allgemeingültigen Charakter zu geben. 55 Andererseits tendiert die Auffassung von der multilinearen Entwicklung dahin, die Hauptlinie des weltgeschichtlichen Prozesses in anderer Weise zu negieren oder zumindest zu verwischen; hier gibt es dann mehrere gleichartig akzentuierte Entwicklungslinien in der Abfolge der Gesellschaftsformationen. 56 Mit der Methode eines starren Entweder-Oder wird unsere wissenschaftliche Erkenntnis niemals der Vielgestaltigkeit des weltgeschichtlichen Prozesses zum Kapitalismus und Sozialismus hin gerecht werden können. Das ist nur möglich, wenn man unter Anerkennung der letzten Endes doch bestimmenden Hauptlinie in der Progression der Gesellschaftsformationen die Dialektik von Unilinearem und Multilinearem berücksichtigt. Bei dieser Sicht auf die scheinbar verwirrende Vielgestaltigkeit des weltgeschichtlichen Prozesses geht es nicht um eine kulturelle Wertbeurteilung, sondern um die Klärung seiner inneren Dynamik. Die Dialektik von Unilinearem und Multilinearem in der Progression der Gesellschaftsformationen — wir betrachten hier die Klassengesellschaften — liegt gerade in der Eigenart des historischen Grundgesetzes, nämlich in den dialektischen Wechselbeziehungen von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, begründet. Jeder 54 MEW, Bd. 4, S. 367. 55 Vgl. M E W , Bd. 19, S. 11. 56
Zur Diskussion über diese Problematik vgl. Shukow, J., Einige Fragen der Theorie der ökonomischen Gesellschaftsformationen, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 27, 1974, H. 2, S. 150ff.; Semjonow,
J. /., Zur Diskussion über die ökonomische Gesellschaftsformation als historisches
Entwicklungsstadium, in: Ebenda, S. 161 ff.
Ernst Luge]borg
30
der beiden Pole in diesen Wechselbeziehungen ist in sich kompliziert strukturiert und ist in jedem Moment von inneren und äußeren Widersprüchen bewegt, die je nach Intensität in der Evolution oder Revolution wirksam sind. So müssen wir nicht allein den jeweiligen Entwicklungsj/artd, sondern auch Entwicklungsweise und -tempo der drei Grundelemente der Produktivkräfte, nämlich Arbeitsgegenstände, Arbeitsmittel und arbeitende Menschen mit ihren physischen und kulturell-intellektuellen Fähigkeiten, berücksichtigen — und zwar in ihrem inneren dynamischen Zusammenhang und zugleich in ihren dialektischen Beziehungen zu den Produktions- und Klassenverhältnissen, ja sogar bisweilen zum politischen und juristischen, nicht zuletzt ideologischen und kulturellen Überbau (z. B. Wirtschaftspolitik und Gesetzgebung, Arbeitsqualifikation und -kultur). Wie steht es nun mit dem anderen Pol der dialektischen Wechselbeziehungen, mit den Produktions- und Klassenverhältnissen innerhalb einer ökonomischen Gesellschaftsformation? Hier ist die Klasse (als ökonomische und zugleich soziale Kategorie) im Strukturzusammenhang der gesellschaftlichen Totalität das Mittelglied zwischen Basis und Überbau; die Klasse bestimmt den sozialen Standort im Verhältnis von Gesellschaft und Individuum. Als soziale Kategorie ist sie der Schlüssel, der uns den Zugang zum Verständnis für die soziale Funktion aller Bereiche des ideologischen Überbaus öffnet. Marx wies darauf hin, „daß in einem vermittelten Verhältnis das vermittelnde Glied stets die zentrale Rolle gegenüber den Polen dieser Beziehung spielt". 57 Wir stoßen im Struktur- und Entwicklungszusammenhang der Gesellschaft stets auf Widersprüche, die den Kern der Dialektik ausmachen. Sie hat „Differentialcharakter", wie einmal gesagt wurde; „denn in jedem Gegenstand und in jeder Erscheinung, im Wesen aller Gegenstände und Erscheinungen liegt ein Widerspruch, der immer und überall, in jedem Augenblick ihres Daseins wirkt". 5 8 Wenn wir also die historischen Strukturen, die im Kern aktive Beziehungen von Menschen zur Natur und in der Gesellschaft sind, erfassen wollen, erweist sich die materialistische Dialektik als die zentrale Theorie und Methode.
4. Empirie — Theorie — Darstellung Die Theorie, das MLttelstück in diesem dreigliedrigen Verhältnis, muß so gestaltet sein, daß sie als Methode dazu dienen kann, das empirische Tatsachenmaterial in seinem objektiven Zusammenhang von Ereignis, Struktur und Entwicklung zu ordnen und, jedes willkürlich (subjektivistische) Arrangement verhindernd, zu sach- und formgerechter Darstellung zu bringen. Geradezu verhängnisvoll ist es, wenn sich die Theorie der Empirie entfremdet, wenn beide Erkenntnisphasen und -formen auseinandergerissen werden. Hat der idealistisch-individualisierende Historismus die Tatsachen mit Hilfe einer ihnen fremden Geschichtsphilosophie ausgewählt, gewertet und zusammenzufassen versucht, so glaubt der scheinbar realistische Positivismus die wissenschaftliche Philosophie (Theorie) so weit entbehren zu können, daß er sie bestenfalls auf formale Logik reduziert. Auch 57
58
Marx,
K., Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 237.
Kedrow, B.,
D a s Gesetz der „Negation der Negation", in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissen-
schaftliche Beiträge, 1957, H. 2, S. 150f.
Ereignis. Struktur und E n t w i c k l u n g in der G e s c h i c h t e
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der Positivismus vermag die geschichtlichen Tatsachen nicht im strukturellen und sich bewegenden Gesamtzusammenhang zu sehen. Angesichts dieser Erfahrungen muß man sich erst recht vergegenwärtigen, daß die Geschichtswissenschaft eine solche Theorie braucht, die geeignet ist, die Gesellschaft in ihrem eigenen Struktur- und Entwicklungszusammenhang und in keinem phantastischen zu erfassen. Es gibt eine beachtliche Zahl nichtmarxistischer Historiker, die Begriffe des historischen Materialismus als methodisch fruchtbar anerkennen, sogar solche Gruw/begriffe wie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, ja Basis und Überbau. Dennoch: Es geht nicht allein um eine mehr oder weniger wohlwollende Beachtung der Kategorien einzeln genommen. Damit ist der historische Materialismus, dessen Kategorien in einem inneren, funktional gegliederten Zusammenhang miteinander stehen, im gesamten noch nicht akzeptiert. Überdies kann der historische Materialismus nur dann fruchtbar wirken, wenn die Kategorien der materialistischen Dialektik bewußt, systematisch und konsequent herangezogen werden, als da sind: die Einheit und der Kampf der Gegensätze, also der innere und äußere Widerspruch einer Erscheinung, der — wie gesagt — den Kern der Dialektik ausmacht; Wesen und Erscheinung, Notwendigkeit und Zufall, Inhalt und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit usw. usf. Durch die gleichsam kombinierte Anwendung der Kategorien des historischen Materialismus und der noch allgemeineren der materialistischen Dialektik schärfen wir unseren theoretischen Blick für eine möglichst umfassende Analyse und Synthese der historischen Tatsachen. Zu den Begriffspaaren der materialistischen Dialektik Wesen und Erscheinung, Inhalt und Form nur wenige Bemerkungen: Werfen wir ein Streiflicht auf das Verhältnis von Wesen und Erscheinung. Verlegenheitsformeln, daß der allgemeine Begriff (die Kategorie) ein Schema sei, das mit historischem Material angefüllt werden müßte, führen schon deswegen nicht weiter, weil gerade der allgemeine Begriff der methodische Schlüssel ist, der den Inhalt (das Wesen) einer Erscheinung erschließt. Denken wir nur an Wesen und Erscheinung des Proletariers. Sein Wesen ist im Kapitalismus überall und allzeit gleich. Als Produzent besitzt er keine Produktionsmittel und ist deshalb gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Aber wie verschieden sind — sagen wir — der Hammerschmied vom Brauereiarbeiter, der Metalldreher vom Arbeiter in der Porzellanmanufaktur, die Arbeiterin, die am Fließband angelernt wurde, vom Werkzeugschlosser usw. Der moderne Arbeiter, der sich im Laufe der wissenschaftlich-technischen Revolution herausbildet, ist wiederum ein Problem für sich. Dabei geht es nicht allein darum, die Lebensbedingungen der Arbeiter in rein ökonomischer Hinsicht kennenzulernen, man muß auch wissen, welches beispielsweise ihre berufliche Eigenart, ihr direkter oder indirekter Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der innerbetrieblichen oder gesellschaftlichen Arbeitsteilung war und ist; schließlich sind die Kampftraditionenen und Kampferfahrungen von Beruf zu Beruf, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land nicht immer gleich. Die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung der Arbeiter kann sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die praktische Politik von erheblicher Bedeutung sein. Zur weiteren Beleuchtung des Verhältnisses von Wesen und Erscheinung seien noch einige Begriffe erwähnt, die Strukturen, Prozesse und Ereignisse aus dem politischen Überbau einer Gesellschaft widerspiegeln. Solche ursprünglichen Schlagworte oder roh umrissenen Begriffe wie Militarismus, Cäsarismus, Bonapartismus, Imperialismus entstan-
Ernsl Engclberg
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den in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im politischen Sprachgebrauch oder waren damals besonders im Schwange. Beispielsweise war ein solcher Begriff wie Cäsarismus, der viele Jahre häufiger gebraucht wurde als sein späteres Synonym Bonapartismus, bei Freund wie Feind gängig und zielte auf das politische und soziale Regime Napoleons III. ab. Sehr bald ging man dann noch weiter in der allerdings noch rein empirischen Verallgemeinerung; der Cäsarismus wurde mehr und mehr als sozusagen dritter Weg und drittes Ziel zwischen Absolutismus und Liberalismus betrachtet, anders ausgedrückt als Negation sowohl des ersten wie des zweiten. Scharfsinnige Beobachter merkten schon, daß es sich bei dem Cäsarismus bzw. Bonapartismus um eine besondere Art der bürgerlichen Herrschaftsform handelte. Hier stieß man auf dem Wege der Erkenntnis bis zu Wesensmerkmalen vor. Aufschlußreich wäre es auch, die Entstehung und die Geschichte des Begriffs „Revolution von oben" zu verfolgen. 59 Auf jeden Fall sind Bemühungen um Erfassung politischer Begriffsbildungen keineswegs philologische Kleinkrämerei ; diese Art von Begriffsgeschichte ist vielmehr geeignet, Material für die Erkenntnistheorie zu liefern. Die Geschichte gesellschaftswissenschaftlicher Begriffe kann uns helfen, allmählich die genetischen Zusammenhänge von Empirischem und Theoretischem, die konkreten Übergänge vom Empirischen zum Theoretischen aufzuklären und damit die Methode theoretischer Verallgemeinerung weiter auszubauen. Auch die Geschichtswissenschaft kommt ohne Begriffe, die sie in einem ständigen Prozeß der Erkenntnis verfeinern und vertiefen muß, nicht aus. Sie braucht die Begriffe selbst im Narrativen. Rein naturalistische Malerei ist auch im Historiographischen nicht möglich. Das bedeutet, daß auch hinsichtlich der geschichtswissenschaftlichen Darstellung, die von der Forschung zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen ist, theoretischmethodologische Probleme auftauchen. Es wurde die Frage gestellt: „ K a n n und soll sich die Geschichtswissenschaft hinfort auf die Darstellung der langfristigen Strukturwandlungen beschränken und die .histoire d'événements', die politische Ereignisgeschichte überkommener Art, den Amateuren überlassen?" 6 0 Eine solche Frage verkennt die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Ereignis, Struktur und Entwicklung auch in der Darstellung zum Ausdruck zu bringen-, anders ausgedrückt, das Narrative und Theoretische organisch miteinander zu verbinden. Hier hat der Historiker in die Schule des Künstlers zu gehen, nicht allein um der sprachlichen Kultur willen. Der Historiker hat sich mit dem Künstler zu treffen, wo dieser in Sorge um eine adäquate Gestaltung theoretisch-methodische Überlegungen anstellt. Wenn ein dialektischer Denker wie Bertolt Brecht beispielsweise bemüht ist, den Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus zu klären und ihre Antinomien in charakteristischen Hauptpunkten einander gegenüberzustellen 61 , dann haben die Historiker aufzumerken und mitzudenken — zu Nutz und Frommen ihrer historiographischen Aufgabe. Das Subjekt mit seinen besonderen Eigenschaften wird sich gerade in der historischen Darstellung nicht verdrängen lassen, aber gegenüber allen Neigungen subjektivistischer Willkür wird das Objekt mit seinen unumstößlichen Gegebenheiten imperativ seine 59
Engelberg,
£., Über die Revolution von oben. Wirklichkeit und Begriff, in: Ztschr. f. Geschichtswiss.,
1974, H. 11. 60
Mommsen,
W. I., Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf, 1971, S. 44.
Vgl. Bertolt Brechts Arbeitsjournal, hrsg. v.
Hecht, W.,
Bd. 2, Frankfurt 1973, S. 780 (30. 3. 47).
Ereignis. Struktur und Entwicklung in der Geschichte
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Rechte fordern. Erscheinungen in der Geschichte sind die aus den Quellen eruierten Tatsachen. Doch ihr Wesen muß die Geschichtswissenschaft in Begriffen und Gesetzen zu erfassen suchen. Wir wissen, daß das Gesetz wesentliche, d. h. allgemeine und notwendige Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen seiner Wirkungssphäre aufdeckt. Insofern ist es tiefer als die lebendige Anschauung der Erscheinung. Auf der anderen Seite ist die Erscheinung reicher als das Gesetz. Die Geschichtswissenschaft, deren Gegenstand besonders vielschichtig ist, hat die spezielle Aufgabe, die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Totalität anzustreben, Tiefe des Gesetzes und Reichtum der Erscheinungen organisch miteinander verbindend. Wegen dieser ihrer Eigenart wird die Geschichtswissenschaft gelegentlich als die allgemeinste (nichtsystematische) Einzelwissenschaft von der Gesellschaft bezeichnet. In der umfassenden und weitreichenden Art der Verbindung von Anschauung und Abstraktion liegt der Urgrund aller methodologischen Schwierigkeiten der Geschichtswissenschaft. Aber ihre Bewältigung macht zugleich ihre Würde und Größe aus.
Nachtrag* Hier sei noch auf einige Gesichtspunkte hingewiesen, um die auch die theoretischmethodische Literatur etwa des letzten Jahrzehnts kreist. In einer neuen österreichischen Veröffentlichung kennzeichnet man diese Literatur als „Denken über Geschichte" (in: „Wiener Beiträge zur Neuzeit", München 1974). Die theoretisch-methodologischen Veröffentlichungen erscheinen in der bürgerlichen Welt in einer nahezu verwirrenden Fülle und in einem leider auch terminologischen Wirrwarr. Der Theorien- und Methodenpluralismus reicht von religiöser Interpretation der Weltgeschichte bis zum Kokettieren mit dem Marxismus. Doch ist eine Grundtendenz unverkennbar, nämlich, Historismus und Positivismus, vor allem Hermeneutik und Neopositivismus, einander anzunähern — trotz aller noch bestehenden Differenzen und immer wieder auftauchenden Kontroversen. Unter diesem Blickwinkel seien vier Gesichtspunkte angeführt, zumal sie implizit und explizit auch im Referat erscheinen: 1. Zunächst sei auf die umstrittene Frage nach dem Wesen der historischen Erkenntnis hingewiesen. Die Auffassung, daß es in der historischen Erkenntnis um eine Widerspiegelung der objektiven gesellschaftlichen Realität gehe, wird vielfach abgelehnt oder zumindest abgeschwächt. Das hängt — einmal ideengeschichtlich gesehen — mit der Tatsache zusammen, daß der subjektive Idealismus Ende des 19. Jahrhunderts gegenüber dem objektiven Idealismus stark an Gewicht gewann, und zwar nicht zuletzt durch den Ausbau der hermeneutischen Verstehenslehre. Die Neopositivisten wiederum verlegen das Schwergewicht ihrer methodologischen Betrachtungen von der Erkenntnis der objektiven Gesellschaft und ihrer Gesetze auf die logische Konstruktion und Begründbarkeit
* In diesem Nachtrag werden die Ausführungen behandelt, mit denen der Vf. auf dem XIV. Internationalen Historikerkongreß in San Francisco 1975 (Zweite Sektion: Probleme der Methodologie) die Diskussion über sein schriftlich vorgelegtes Referat „Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte" eingeleitet hat. Der Vf. verdankt Informationen und Anregungen dem Aufsatz Hans Schleiers in diesem Sammelband und seiner weiteren Arbeit „Theorie der Geschichte — Theorie der Geschichtswissenschaft", Berlin 1975 (Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie H. 60). 3
Engelberg/Küttler
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der Aussagen. In diesem Sinne sagt Patrick G a r d i n e r , d a s Wie der E r k l ä r u n g interessiere u n d nicht d a s Was. A u c h in j ü n g e r e n westdeutschen Veröffentlichungen wird die P r o d u k t i v i t ä t der P r o blemstellung Subjektivität-Objektivität in F r a g e gestellt. Erst d u r c h die M o t i v a t i o n d e r Fragestellung w ü r d e n sich T h e m a u n d G e g e n s t a n d der G e s c h i c h t s f o r s c h u n g konstituieren. So urteilt u n t e r a n d e r e n Koselleck, „ d a ß die Geschichte ,als solche' gar kein O b j e k t h a t " , und W o l f g a n g J. M o m m s e n w a r n t a u s d r ü c k l i c h d a v o r , sich a n der vermeintlich objektiven Vorgegebenheit der F a k t e n f e s t k l a m m e r n zu wollen. Diese kurzen, a b e r m. E. repräsentativen Zitate bekräftigen eine oft g e m a c h t e Erf a h r u n g , d a ß nämlich richtige B e o b a c h t u n g e n eines Sachverhalts in der S a c h - A u s s a g e deswegen falsch werden, weil der besagte Sachverhalt aus seinem dialektischen Z u s a m m e n h a n g herausgerissen, verabsolutiert u n d subjektivistisch ü b e r h ö h t wird. Selbstverständlich ist auch in der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis, wie in j e d e r a n d e r e n , die Aktivität des S u b j e k t s mit seinen besonderen Problemstellungen u n v e r k e n n b a r . D a f ü r sind a u c h im Referat Beispiele gebracht. A b e r diese Aktivität des S u b j e k t s d a r f nicht ui s. der dialektischen Wechselwirkung zwischen O b j e k t u n d Subjekt, zwischen Objektivem u n d Subjektivem wie auch zwischen S i n n e s e r f a h r u n g u n d D e n k e n herausgerissen werden. D a s Subjekt, von praktisch-gesellschaftlichen u n d wissenschaftlich bedingten Interessen geleitet, n i m m t vermittels der Sinne und des D e n k e n s eine zielstrebige u n d selektive geistige A n e i g n u n g bestimmter O b j e k t b e r e i c h e vor. D a b e i wird die u n a b h ä n g i g v o m menschlichen Bewußtsein existierende objektive Realität in E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n gen, Vorstellungen, Begriffen, Aussagen und T h e o r i e n umgesetzt und übersetzt. D a r a u s erhellt — w o r a u f im Referat gleichfalls hingewiesen w u r d e —, d a ß die E r k e n n t n i s auch des historischen u n d gesellschaftlichen G e s c h e h e n s einmal Prozeßcharakter in individueller und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht h a t , z u m a n d e r e n verschiedene theoretische und m e t h o d i s c h e B e w u ß t s e i n s f o r m e n a n n i m m t . In diesem Z u s a m m e n h a n g sei noch auf einen weiteren methodischen G e s i c h t s p u n k t hingewiesen, der etwas mit der Verstehenslehre des Historismus zu tun hat. 2. In neueren bürgerlichen P u b l i k a t i o n e n scheint m a n der Verstehenslehre g r ö ß e r e n Spielraum geben zu wollen. Wir alle wissen, d a ß d a s Verstehen nach Dilthey d a s spezifische Mittel der E r k e n n t n i s in den sog. Geisteswissenschaften sein soll. Diese G r u n d a u f f a s s u n g m ü n d e t in d e n K e r n s a t z : „ D i e N a t u r erklären wir, d a s Seelenleben verstehen w i r . " D a s Verstehen f r e m d e n psychischen Lebens b e r u h e stets auf Intuition u n d u n m i t t e l b a r e m Erleben des e r k e n n e n d e n Subjekts. D a s Verstehen sei stets mit „ E i n f ü h l e n " , ja vielleicht auch mit „ S y m p a t h i e " v e r k n ü p f t . W a s d a s „ E i n f ü h l e n " betrifft, so wird kein Historiker dessen Erkenntniswert bestreiten, wenn er sich mit M e n s c h e n zu befassen h a t , die auf der historischen Szene agieren. D a ist auch heute noch G o e t h e s W o r t gültig: „ W e n n ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht e r j a g e n . " Erlebnis und Wissen, G e f ü h l u n d Verstand k ö n n e n wir nicht v o n e i n a n d e r trennen. A u c h die I n t u i t i o n ist nichts Mystisches. Sie ist eine gedankliche Erhellung, die in a u ß e r o r d e n t l i c h k o m p r i m i e r t e r Z e i t s p a n n e vor sich geht. D a d u r c h , d a ß sie eine Situation mit e i n e m m a l erfaßt, täuscht sie oft d a r ü b e r hinweg, d a ß ihr eine lange Periode mühseliger G e d a n k e n a r b e i t vorausging. D e r Historiker, der sich der materialistischen Dialektik verpflichtet fühlt, leugnet also keineswegs d e n m e t h o d i s c h e n W e r t des „ E i n f ü h l e n s " u n d der I n t u i t i o n ; er w e h r t sich
r r e i g n i s . S t r u k t u r u n d E n t w i c k l u n g in der G e s c h i c h t e
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jedoch gegen alle Tendenzen, das Verstehen dem Erklären starr gegenüberzustellen und beides aus seinem Zusammenhang herauszureißen; er wehrt sich vor allem dagegen, daß ein richtiger Aspekt der historischen Methodik zu einer reichlich unausgewogenen Verstehenslehre mit ihrem unverkennbaren Subjektivismus, Relativismus und Irrationalismus aufgebläht wird. 3. Die oft geradezu leidenschaftliche Ablehnung historischer Gesetze und Gesetzmäßigkeiten ist bekanntlich ein Grundzug sowohl des Historismus als auch des Neopositivismus. Durch den Ausbau der hermeneutischen Verstehenslehre und durch die neukantianische Methodentrennung von Gesellschafts- und Naturwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts wurde der K a m p f gegen die Gesetzesauffassung in der Geschichtswissenschaft noch verstärkt. Die absolute Gegenüberstellung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften kann man zwar nicht mehr aufrechterhalten; doch der Historie schreibt man nach wie vor in erster Linie die Suche nach dem Singulären zu. A u f der anderen Seite erkannte schon Windelband, der die ideographische Methode der bürgerlichen Geschichtswissenschaft gleichsam legitimierte, daß im Interesse ihrer Wirksamkeit das Versenken des Historikers in das Singuläre, in das Individuelle, ergänzt werden sollte durch Verallgemeinerungen, ohne diese auf Gesetzesbasis zu gründen. Im Bemühen um Bezüge auf allgemeine Betrachtungen entstand eine raffinierte Wertlehre, an der man bis zum heutigen Tage im Kerne festhält. Es wird erneut das von WindelbandRickert eingeführte und von M a x Weber übernommene und propagierte Begriffspaar: Wertbeziehung und Wertbeurteilung aufgegriffen. Im Interesse einer sogenannten Objektivität wird die Wertbeurteilung abgelehnt; in Wirklichkeit ist dies eine Absage an alle Traditionen der bürgerlichen Aufklärung und der moralisierenden Geschichtsschreibung im Stile von Schlosser, von Gervinus und einiger sozialistischer Historiker, wie etwa Kurt Eisner in Deutschland oder Jean Jaurès in Frankreich. An die Stelle der Wertbeurteilung trat als methodischer Begriff die Wertbeiiehung. Die von ultrakonservativen Historikern aufgestellten und auch von den Liberalen in mehr oder weniger modifizierter F o r m akzeptierten Wertbezüge und -bestimmungen waren u. a. solche Postulate wie Primat des Staates vor der Gesellschaft oder der Primat der Lebenstriebe der Staaten vor der der Massen usw. Nach solchen oder ähnlichen Gesichtspunkten sollte das historische Material erforscht und dargestellt werden, wodurch, gewollt oder ungewollt, der politische Praxisbezug im Interesse der Bourgeoisie vollzogen wird. Die Wertbezüge und -bestimmungen mögen heute anders formuliert werden, besonders unter dem Einfluß eines sozialreformerisch ausgerichteten Neopositivismus mit seinem starken Interesse für Sozialgeschichte, die jedoch kaum unter der Dominanz der Produktionsverhältnisse gesehen wird. Aber an den Grundpositionen der alten Wertlehre hält man fest, j a man hat sie wieder neu belebt. (Das hat sich auch in der Methodologie-Sektion auf dem X I V . Internationalen Historikerkongreß in SanFrancisco gezeigt.) Die Traditionen der Aufklärung müssen zwar kritisch aufgehoben werden, man darf sie aber keineswegs beiseiteschieben. Die moralischen Werte haben eine Geschichte, sie sind das Produkt der Menschheitsgeschichte. Sie haben eine funktionale Beziehung zu den Interessen einer Klasse; dabei stellt sich stets die Frage, welche Klasse in welcher Epoche die allgemeinen Interessen der Gesellschaft vertritt. Der Marxismus lehnt die Normten der angeblich ewigen Gerechtigkeit ab, die sich nur zu leicht als Illusionen und ideologische Verhüllungen irgendwelcher sozialer Interessen erweisen. Das bedeutet aber nicht, daß 3*
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Emst LiiüdK-rg
man die intellektuellen (und d a r u m auch die moralischen) Elemente der Vergangenheit übersehen soll. Das ist aber nur dann fruchtbar, wenn man alle Bereiche der Geschichte als einen einheitlichen Prozeß in einem gesetzmäßigen Zusammenhang, also in der Bewegung, Entwicklung und Ablösung von Gesellschaftsformationen erkennt und anerkennt. Nach unserer Auffassung ist das Gesetz — in allgemeinster Form ausgedrückt — ein „innerer und notwendiger Zusammenhang". (MEW, Bd 25, 235) Während in der Natur bewußtlose oder instinkthafte Agenzien aufeinander wirken, in deren Wechselspiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt, sind in der Geschichte der Gesellschaft die „Handelnden mit Bewußtsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen" (MEW, Bd 21, S. 296). Diese unbestreitbare Tatsache darf uns nicht dazu verleiten, die subjektive Seite des Geschichtsprozesses überzubetonen oder gar zu verabsolutieren. Historismus und Positivismus übersehen, daß gerade durch die subjektive Tätigkeit der gesellschaftlichen Individuen die objektiven gesellschaftlichen Gesetze Zustandekommen, sie setzen sich vermittels ihrer Tätigkeit durch. Dabei erweisen sich die objektiven gesellschaftlichen Gesetze als ein notwendiger, allgemeiner und wesentlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Lebens der Menschen. In ihrer praktischen-sinnlichen Tätigkeit, in der Produktion und Reproduktion ihres Lebens, gehen die Menschen sowohl Beziehungen zur äußeren Natur als auch Beziehungen untereinander ein und lassen in dieser Praxis das dialektische Wechselverhältnis des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins wirksam werden. Von dieser materialistischen-dialektischen Grundthese aus, durch die Marx und Engels eine kopernikanische Wende im gesellschaftswissenschaftlichen Denken vollzogen haben, gehen wir auf die weiteren Kategorien, wie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Klassen und Staat, nicht weiter ein. Wir haben beim Erwähnen der Gesetzesproblematik immer wieder auf die Kategorie des Zusammenhangs hinweisen müssen. Zusammenhang und Bewegung bilden in ihrer Synthese die Grundprinzipien der Dialektik. 4. Durch die idealistisch-subjektivistischen Grundpositionen sowohl des Historismus als auch des Positivismus war das Auseinanderfallen von Ereignis, Struktur und Entwicklung im Geschichtsdenken und -schreiben eine notwendige Folge. Die große Schwäche des Historismus — das erkennen immer mehr Historiker — bestand in seiner Vernachlässigung (wenn nicht Negierung) der gesellschaftlichen Strukturen. D a r u m neigten immer mehr Historiker, besonders der jüngeren Generation, der Sozialund Strukturgeschichte zu, die dem westeuropäischen Positivismus verpflichtet ist. Doch dessen strikteste Anhänger, besonders in Frankreich, verfielen in eine andere Einseitigkeit; sie leugneten jeglichen Zusammenhang von Ereignis und Struktur, ja sahen zwischen beiden einen „ A b g r u n d " . In diesem Hin und Her wurde von bürgerlicher Seite aus die Forderung gestellt, den „archimedischen P u n k t " zu finden, von dem aus die Verbindung zwischen dem historischen Ereignis mit der jeweiligen Struktur der Gesellschaft gefunden und analysiert werden könne. Vom Gesichtspunkt des hier erwähnten archimedischen Punktes, der gefunden werden soll, ist jene Problematik bedeutungsvoll, die sich mit dem Doppelaspekt im Ereignis
Hreignis. S t r u k t u r und E n t w i c k l u n g in d e r G e s c h i c h t e
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befaßt. Wir kommen dabei in der uns interessierenden Problematik nur weiter, wir können den organischen, objektiven Zusammenhang von Ereignis, Struktur, Bewegung und Entwicklung nur dann darstellen, wenn wir bereits im Singulären nicht nur das Singuläre, sondern auch das gesellschaftlich Strukturelle erkennen. Unter Singulärem verstehe ich nicht nur das Ereignis, sondern auch die historisch handelnde Persönlichkeit. Diese ist in ihrer Individualität nicht nur biologisch und psychologisch geprägt, sondern auch durch die Strukturen und Bewegungen ihrer Zeit. Die inneren und äußeren strukturellen. Zusammenhänge im Singulären selbst schon gilt es ins historische Bewußtsein zu heben und methodologisch auszuwerten. Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß das Bemühen um Abbau des „Theoriedefizits", das selbst bürgerliche Historiker feststellten, eine Chance für die weitere Entwicklung der Methodologie in der Geschichtswissenschaft bietet. Gegenüber dem bürgerlichen Theorien- und Methodenpluralismus hat der Marxismus-Leninismus die Aufgabe, umsichtiger als bisher allen Idealismus und Subjektivismus prinzipiell zu widerlegen, zugleich positiv nachzuweisen, daß die materialistische Dialektik durchaus imstande ist, alle rationellen Elemente in neu entwickelten Methoden wissenschaftlich zu integrieren und sich damit als offen zu erweisen.
M. A. Barg
Die Kategorie des Welthistorischen als Erkenntnisprinzip der marxistischen Geschichtswissenschaft
Die Lehre von der ökonomischen Gesellschaftsformation gestattet der Geschichtswissenschaft, ihren Forschungsgegenstand genau zu bestimmen und ihre Forschungsmethode zu formulieren. Die Schwierigkeiten, die sich ihr bei der Verwirklichung dieses von jedem Wissenschaftszweig angestrebten Zieles entgegenstellen, bestehen darin, daß die Geschichtswissenschaft ihr Forschungsobjekt, die menschliche Gesellschaft, mit vielen anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen teilt. Auch die sogenannte „historische Methode" ist durchaus nicht nur ein Instrument der Geschichte der Gesellschaft. Viele gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen und eine bedeutende Anzahl von Naturwissenschaften betrachten diese Methode als den nur ihnen eigenen Zugang zu ihrem Forschungsgegenstand. 1 Folglich besteht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft in eigentlichem Sinne darin, bei der Formulierung ihres Forschungsgegenstandes und ihrer Methode als Gesellschaftswissenschaft sui generis aufzutreten, d. h. mit einem nur ihr eigenen Gegenstand und mit einer nur ihr eigenen Erkenntnisfunktion im System der marxistischen Gesellschaftswissenschaft, aber auch mit der nur ihr eigenen Logik und Methodik der sozial-historischen Erkenntnis. 2 Im Rahmen unseres modernen Wissenschaftssystems ist klar geworden, daß der Beitrag der Geschichtswissenschaft zum gegenwärtigen Wissen von der Gesellschaft darin besteht, die Gesetzmäßigkeiten der konkret-historischen Entstehung, Entwicklung und Ablösung der ökonomischen Gesellschaftsformationen unter dem Aspekt der Raum-Zeit-Projektion zu untersuchen. Eine solche Auffassung vom Gegenstand der Geschichtswissenschaft verallgemeinert die Praxis der marxistischen Historiographie. Eine „Teilung" des Forschungsobjekts zwischen der Geschichtswissenschaft und der Soziologie in dem Sinne, daß die erstere die Vergangenheit der menschlichen Gesellschaft, das Vergangene, Verschwundene, nicht mehr Existierende, die Soziologie dagegen die bestehende Gesellschaft untersucht, ist unhaltbar. Der Marxismus betrachtet auch die Gegenwart als Objekt der historischen Forschung; vom allgemein-methodologischen Standpunkt gesehen, fungiert gerade die Gegenwartsgeschichte als „Ariadne-Faden" im Labyrinth der Vergangenheit. 3 Ebensowenig läßt sich eine Begründung für eine solche Teilung der Erkenntnisfunktionen zwischen den genannten Disziplinen finden, bei der der Geschichte nur die „Welt der Erscheinungen", der Soziologie hingegen
1 2
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Grusin, B. A., Ocerki logiki istoriceskogo issledovanija, Moskau 1961. Über die Schwierigkeiten der Präzisierung des Gegenstandes der Geschichtswissenschaft vgl. Pripisnov, V. /., O sootnosenii istoriceskogo materializma i istoriceskoj nauki, in: Voprosy filosofii, 1961; Kon, I. S„ K voprosu o spezifike i zadacach istoriceskoj nauki, in: Voprosy istorii, 1961, Nr. 6; Gulyga, A. V., O Charaktere i zadacach istoriceskogo znanija, in: Voprosy filosofii, 1962, Nr.9,u.a. Vgl. Lenin i problemy islorii, hg. v. M. V. Neckina, Moskau 1971.
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„die Welt der Wesensinhalte" zugewiesen wird. Nach Meinung einiger sowjetischer Philosophen untersucht die Geschichtswissenschaft „. . . die Geschichte der gesellschaftlichen Erscheinungen in ihrer Konkretheit, folgt den Spuren der Ereignisse . . ," 4 , d. h. erfüllt eine rein beschreibende Funktion, während die Soziologie erklären soll, was diese Ereignisse „ihrem Wesen nach, ihrer allgemeinen und besonderen Natur nach, darstellen, welcher Art die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung sind". 5 Kurz: durch eine solche Bestimmung der Geschichtswissenschaft als rein empirische Wissenschaft (Wissenschaft der Fakten) wird ihr die Fähigkeit abgesprochen, zum Wesen der Erscheinungen vorzustoßen, wird es ihr verwehrt, Gesetze der historischen Entwicklung der Gesellschaft zu formulieren. Die marxistische Geschichtswissenschaft entdeckte bekanntlich schon vor langer Zeit das nur ihr allein zugängliche Wechselverhältnis von Gesetz und Wesen im historischen Prozeß; deshalb ist es gestattet, sie nicht nur als beschreibende, sondern auch als gesetzesformulierende Wissenschaft zu betrachten. Diese These widerspricht in keinem Fall der Aussage, daß Gesetzmäßigkeiten, die durch die Geschichtswissenschaft entdeckt und untersucht wurden, durchaus einer weiteren theoretischen Analyse unterliegen können, d. h. der Abstraktion unter dem Gesichtspunkt allgemeinerer Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung. Nur gestützt auf die Lehre von den ökonomischen Gesellschaftsformationen ist die Geschichtswissenschaft in der Lage, den von ihr untersuchten Gegenstand zu bestimmen und spezifische Fragen ihrer Methodologie erfolgreich zu bearbeiten. Eine der wichtigsten ist die folgende: Worin besteht die für die historische Erkenntnis spezifische Realisierung der allgemein-dialektischen Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten? Die größte Schwierigkeit, mit der hier der Historiker konfrontiert wird, besteht darin, daß Allgemeines und Besonderes, Konkretes und Abstraktes, Teil und Ganzes usw. eine Einheit bilden. Diese innere Vermengung der Kategorien wird schon bei der Bestimmung des Ausgangspunktes der historischen Forschung in folgender Frage deutlich: Soll der Historiker mit der Feststellung der unteren Systemeinheiten (Bauer, Bürger usw.) beginnen und durch eine ständige Erweiterung der Beobachtungen, d. h. durch empirische Verallgemeinerungen, konsequent zu höheren Einheiten vorstoßen (bis zur Formationszugehörigkeit der jeweiligen Gesellschaft), oder soll er umgekehrt von der höchsten Systemeinheit (Bestimmung der welthistorischen Epoche) durch allmähliche Einengung und eine immer mehr ins Einzelne führende Analyse untergeordnete Einheiten bestimmen? D a ß die Antworten auf diese Frage auseinandergehen, erklärt sich leicht: Wenn der Historiker mit dem Studium der Quellen beginnt, so scheint es ihm, als ob er zunächst „konkret" denkt und erst am Ende seiner Foschungen, im Stadium der Verallgemeinerungen seiner Resultate, zu „Abstraktionen" gelangt. Dabei liegt auf der Hand, daß der Historiker schon zu Beginn seiner Untersuchungen bewußt oder unbewußt mit bestimmten Abstraktionen, mit wissenschaftlichen Hypothesen und Vorstellungen operiert, die notwendigerweise nicht vollständig, ja einseitig, „ d ü n n " (Marx) sein müssen. Die Konkretisierung dieser Abstraktionen, d. h. sie mit einem Inhalt zu erfüllen, ist schon das Ergebnis der Forschungen, deren Resultat. Es wird deutlich, daß das marxistische Prinzip des wissenschaftlichen Abstrahierens, d. h. der logischen Begriffsbildung, weder mit dem Apriorismus im Kantschen Sinne noch 4 5
Vgl. Marksistsko-leninskaja filosoßja. Ucebnoe sposobie, Moskau 1964, S. 294. Ebenda.
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mit dem positivistischen Empirismus, für den alle Erscheinungen der Wirklichkeit gleichrangig sind, etwas gemein hat. Im Unterschied zum Apriorismus und Empirismus orientiert die marxistische Methodologie die Forschung auf ein Herausarbeiten der „Hierarchie der Erscheinungen", d. h. auf die Begründung ihrer Zuordnung im Ablauf des gegebenen Prozesses und in der gegebenen historischen Situation; sie orientiert also auf das Erkennen des Systems der wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten. Dadurch allein wird es möglich, jedem Fakt „den ihm zukommenden Platz" zuzuweisen. Folglich besitzt der Weg, auf dem sich der Prozeß des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten in der historischen Forschung realisiert, eine ganz bestimmte Besonderheit. Der Bereich der eigentlich historischen Gesetzmäßigkeiten ist zugleich der Bereich der Konkretisierung jener Gesetze, die von der marxistischen Soziologie erforscht werden. Deshalb bewegt sich die Forschung in der Ausgangsetappe von den soziologischen Gesetzen der Formation weg zur konkret-historischen Wirklichkeit. Als vermittelndes Glied fungiert die konkret-historische Gesetzmäßigkeit, festgestellt als Ergebnis der WecA.se/wirkung der ersteren mit den Resultaten der Forschung, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegt, von der Erscheinung zum Wesen. Dem Historiker kann sie als Gesetzmäßigkeit einer besonderen raum-zeitlichen Spielart der gegebenen Formation entgegentreten. 6 Mit anderen Worten: Höhepunkt der Synthese in der historischen Forschung ist die Ebene des Besonderen im untersuchten Prozeß, die Formulierung der eigentlich historischen Gesetzmäßigkeiten. „Das Konkrete", schrieb Marx, „ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen". 7 Es ist nicht schwer, sich davon zu überzeugen, daß ein Verwechseln der formal-logischen und der dialektisch-logischen Handhabung der Kategorien des „Abstrakten" und des „Konkreten" eine besonders häufige Gefahr für den Historiker darstellt. Das ist z. B. der Fall, wenn die ökonomische Gesellschaftsformation als formal-logische Abstraktion behandelt wird, d. h. als empirische „Verallgemeinerung", als einfache Summierung konkreter Beobachtungen der „ganzen Vielfalt" der Prozesse auf regional-historischer Stufe. Tatsächlich haben wir eine dialektisch-logische Kategorie vor uns, eine inhaltsreiche Kategorie, die das innere Prinzip der Bewegung der Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung ausdrückt. Es versteht sich, daß für die Bestimmung einer solchen Kategorie die Analyse der Formationsstruktur in einer gegenüber anderen regionalen Erscheinungsformen dieser gleichen Formation „reineren", reiferen, vollendeteren stadialen Form von ungleich größerer Bedeutung ist als ein einfaches „Gegeneinanderabwägen" von „Gleichem" und „Unterschiedlichem" der Gesellschaft dieses Typs in all ihren bekannten Spielarten. s Damit kommen wir zu einem Problem von prinzipieller Wichtigkeit, zum Problem der Spezifik der objektiven Bedingungen, unter denen der Prozeß der wissenschaftlichen Abstraktion in der historischen Forschung verläuft. Man braucht den Historiker nicht 6
Lenin, W. /., Werke, Bd. 12, S. 492: „. . . daß jeder, der an spezielle Fragen herangeht, ohne vorher die allgemeinen gelöst zu haben, unweigerlich auf Schritt und Tritt. . . über diese allgemeinen
Fragen
,stolpern wird'." 7 MEW, Bd 13, S. 632. 8
Nicht richtig ist die Forderung, die Definition einer solchen Formation sollte das ganze Spektrum der empirisch beobachteten Formen widerspiegeln und einschließen. Es ist logischer zu fordern, daß sie als Ausgangspunkt, als methodologischer Schlüssel für die konkret-historische Erforschung jeder beliebigen lokalen Form dienen soll.
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darauf hinzuweisen, daß ihm kein Laboratorium zur Verfügung steht, daß er also keine Möglichkeit hat, das Vergangene im Experiment zu wiederholen; nein, und das ist besonders wichtig, er muß von Anfang bis Ende sozusagen „unter Feldbedingungen" arbeiten, d. h. er muß seine Forschungen unter Bedingungen betreiben, unter denen eine Vielzahl von zufalligen, unbedeutenden, fast schon überwundenen oder kaum erst entstandenen Erscheinungen nicht selten das eigentlich Wesentliche überdeckt. Die ganze Spezifik der historischen Erkenntnis liegt auch darin, daß das Vordringen zum Wesen nicht „in der Umgebung" möglich ist, sondern nur durch die schrittweise Erforschung der den Kern der Erscheinungen überlagernden Schichten, also durch empirisch-konkrete Forschung. Nicht zu verkennen ist jedoch, daß der Historiker ständig Gefahr läuft, das äußere Erscheinungsbild für das „eigentliche Wesen" der Erscheinung zu nehmen. Deshalb hat das Problem der „reinen Formen" für die historische Erkenntnis, insbesondere im Stadium der theoretischen Verallgemeinerung des Prozesses, eine — ohne Übertreibung — gewaltige Bedeutung. Dies ist natürlich ein allgemein-wissenschaftliches Problem, denn in allen Bereichen der Wissenschaft öffnen die „reinen Formen" den Weg zum Verständnis der Gesetzmäßigkeiten der untersuchten Wirklichkeit. Wie schon bemerkt, hat die Suche nach derartigen Formen für die historische Erkenntnis eine besondere Bedeutung, vor allem deshalb, weil der Historiker weder über „Mikroskope" noch über „Reagenzien" verfügt. Was ihm bleibt, ist die Kraft der Abstraktion, verstärkt durch die Suche nach solchen wirklich existierenden gesellschaftlichen Formen, die der abstrakten Vorstellung von ihnen nahekommen. Gerade diese, häufig als klassisch bezeichneten Formen besitzen in bezug auf alle Stadien des historischen Prozesses für die Erkenntnis eine Schlüsselbedeutung. Sie ersetzen dem Historiker das nicht vorhandene Laboratorium. „Der Physiker", schrieb Marx im Vorwort zur ersten Ausgabe des „Kapital", „beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form . . . erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise . . . Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies ist der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient." 9 In der Erforschung des inneren fVesens, der Grundtendenz der Gesellschaft eines gegebenen Formationstyps an einem historischen „Beispiel", das kraft seiner relativen Reife und Vollkommenheit vollständiger, reiner, ausgeprägter ist als andere und das dieses Wesen in seinem konkret-historischen Funktionieren und in seiner Bewegung zeigt, liegt eines der fundamentalen Erkenntnisprinzipien des marxistischen Historismus, das im Bereich der Logik als „Prinzip des Grenzfalls" bezeichnet wird. 10 Die Kategorie des Grenzfalls an sich ist selbstverständlich eine Abstraktion. Solche Begriffe wie „ideales Gas", „absolut elastischer Körper", „geometrischer Punkt", „Gerade" u. a. können für verschiedene Wissensbereiche zu ihrer Veranschaulichung dienen. Da real existierende Körper, Erscheinungen usw. kraft verschiedener „Hindernisse" diesen Idealzustand, d. h. den Zustand idealer Reinheit, Elastizität usw., nicht erreichen, so besteht die Anwendung der angeführten Erkenntnismethode darin, daß man die » MEW, Bd 23, Berlin 1962, S. 12. 10
Vgl.
Subbotin, A.
£., Idealizacija kak sredstvo naucnogo poznanija, in: Problemy logiki naucnogo
poznanija, Moskau 1964;
Vosyvillo, E. K.,
Ponjatie, Moskau 1967, S. 119.
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Gesamtheit der Erscheinungen (Fakten) einer gegebenen Klasse — nach einer bestimmten Eigenschaft — in Abhängigkeit vom Maß der Zu- oder Abnahme der entsprechenden Eigenschaft, folglich abhängig vom Maß der Annäherung an ihren oder der Entfernung von ihrem Grenzfall, ordnet. Im Fall historischer Erscheinungen bedeutet es, daß im Rahmen einer jeden gegebenen Formation (auf Grund einer ganzen Reihe von Ursachen, wie: Ungleichzeitigkeit des Auftretens dieser Formation in verschiedenen Ländern, Unterschiede in ihren Ausgangsbedingungen, ihrem Entwicklungsniveau usw.) einzelne Länder und Regionen im jeweiligen zeitlichen Schnittpunkt vor allem nach den Basismerkmalen objektiv-historisch geordnet sind; für die Reihenfolge bestimmend ist das Maß der Reinheil (Reife, Vollendung) des Prozesses der Formationsentwicklung. Engels und Lenin unterstrichen wiederholt zwei Seiten des uns interessierenden Begriffes: die ontologische und die erkenntnistheoretische. Einerseits erscheint die Entfaltung der ökonomischen Gesellschaftsformation in Raum und Zeit, ebenso wie das Spektrum von Spielarten der Formationsbeziehung in jeder historischen Gesellschaft im Rahmen einer Formation, als gerichtetes Streben des gesamten Prozesses zu seiner Grenzform, als Unterordnung aller anderen Formen unter die Gesetzmäßigkeiten dieser Grenzform, d. h. als Aneignung von Regulierungsfunktionen ersteren gegenüber. Andererseits ist der Begriff des Grenzfalls eine wissenschaftliche Idealisierung, in der die Tendenz des real-historischen Prozesses sozusagen von allen nebensächlichen Umständen gereinigt auftritt, d. h. bis zur logischen Konsequenz geführt wird. Die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser wissenschaftlichen Abstraktion besteht auch darin, daß sie gestattet, sich davon zu überzeugen, daß der Grenzfall in einem bestimmten historischen Prozeß nicht realisierbar ist. Lenin hat mehrfach betont, daß es unter den Bedingungen der Spontanität des historischen Prozesses „chemisch reine" Formationen nicht gibt und nicht geben kann; unter diesen Bedingungen wird die Formationsbeziehung durch eine Vielzahl andersartiger, systemfremder Beziehungen begleitet und in gewissem Maße auch modifiziert, die Erbe der Vergangenheit oder schon Produkt des Zerfalls einer Gesellschaftsformation sind. Der Grenzfall der Prozesse, die in der historischen Realität beobachtet werden können, tritt nur als größtmögliche Annäherung der Wirklichkeit an den Begriff auf. Man kann sich unschwer überzeugen, 1 daß dieser Begriff für die Orientierung des Historikers, der sich unaufhörlich (in jedem historischen Zeitpunkt) mit einer unermeßlichen Vielfalt gesellschaftlicher Formen konfrontiert sieht, unschätzbare erkenntnistheoretische Bedeutung besitzt. Der Umstand, daß sich zwischen der Wirklichkeit des Prozesses und seiner wissenschaftlichen Idealisierung eine größere oder kleinere Divergenz zeigt, entwertet diesen Begriff durchaus nicht, sondern verwandelt ihn im Gegenteil in ein unschätzbares Instrument der historischen Forschung. ,,Ist denn die Feudalität jemals ihrem Begriff entsprechend gewesen?", schrieb Engels am 12. März 1895 an Conrad Schmidt. „Im Westfrankenreich gegründet, in der Normandie durch die norwegischen Eroberer weiterentwickelt, durch die französischen Normannen in England und Süditalien fortgebildet, kam sie ihrem Begriff am nächsten — im ephemeren Königreich Jerusalem . . . War diese Ordnung deshalb eine Fiktion, weil sie nur in Palästina eine kurzlebige Existenz in voller Klassizität zustande brachte . . , " n Nach Übereinstimmung der Wirklichkeit mit ihrer wissenschaftlichen Idealisierung zu suchen, wäre das gleiche wie die Identität von Denken und Sein finden zu wollen. 11 M E W , Bd 39, Berlin 1968, S. 433.
M.A.B;ira
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„Dieser Unterschied beider ist eben der Unterschied, der es macht, daß der Begriff nicht ohne weiteres, unmittelbar, schon die Realität, und die Realität nicht unmittelbar ihr eigener Begriff ist." 1 2 Mit anderen Worten, die Wirklichkeit kann dem von ihr abstrahierten Begriff nur mittelbar, auf indirektem Wege, nur annähernd entsprechen. In einem anderen Brief an den gleichen Adressaten schrieb Engels: „. . . hier die konkrete Entwicklung, wie sie sich aus den Tatsachen ergibt, dort die abstrakte Konstruktion . . ," 1 3 Wenn man sich folglich das Ziel stellt, historische Erscheinungen auf der Ebene ihres abstrakten Gesetzes untersuchen zu wollen, so muß man gewärtig sein, daß das Einmalige in ihm „berücksichtigt", bei weitem aber nicht vollständig, sondern nur teilweise erfaßt ist, nur in dem Maße, wie es in das Allgemeine eingeht. 14 Dies ist ein notwendiges Merkmal jedes wissenschaftlichen Abstrahierens, und die Geschichtswissenschaft macht dabei natürlich keine Ausnahme. Um Allgemeingültigkeit zu erlangen, muß die Theorie von den konkreten Erscheinungsformen des abstrakten Gesetzes abstrahieren; sie widerspiegelt nur das abstrahierte, das heißt von allen Abweichungen und Modifizierungen freie Wesen des Gesetzes überhaupt. Diese Besonderheit der wissenschaftlichen Theorie veranschaulicht Lenin am Beispiel der Theorie des Kapitals. „Die Theorie vom Kapital setzt voraus, daß der Arbeiter den vollen Wert seiner Arbeitskraft erhält. Dies ist das Ideal des Kapitalismus, keineswegs aber seine Wirklichkeit. Die Theorie der Rente setzt voraus, daß die gesamte landwirtschaftliche Bevölkerung völlig in Grundbesitzer, Kapitalisten und Lohnarbeiter gespalten sei. Dies ist das Ideal des Kapitalismus, aber keineswegs seine Wirklichkeit." 15 Doch wenn die Geschichte selten ein beliebiges gesellschaftliches Verhältnis bis zu seiner reinen Ausprägung führt 1 6 , wenn „reine" Prozesse weder in der Natur noch in der Gesellschaft vorkommen noch vorkommen können 1 7 , so bedeutet das keinesfalls, daß es in der Gesellschaft keine „reineren" Formen gibt, d. h. keine solche Formen, die ihrem „Begriff' besonders nahe kommen und von dessen Verdunklung und Trübung besonders weit entfernt sind. Das dankbarste empirische Material für die „Ableitung" einer Theorie auf jedem beliebigen Gebiet der Forschung, d. h. auch in der Geschichtswissenschaft, sind die besonders ausgereiften und vollendeten Formen. Bekanntlich hat Lenin, anknüpfend an Marx, zum Beispiel folgendes mehrfach betont: „Logisch können wir uns durchaus eine rein kapitalistische Organisation der Landwirtschaft vorstellen, bei der das Privateigentum an Boden völlig fehlt, bei der der Boden Eigentum des Staates oder der Gemeinden usw. ist." 18 Das ist selbstverständlich eine Grenz-Vorstellung von der Organisation der kapitalistischen Landwirtschaft (was Lenin mit den Worten unterstrich: „Logisch können wir uns das durchaus vorstellen"). Es ist jedoch bekannt, daß in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaftsformation vor allem in Europa kein einziges Land diesen logisch denkbaren Grenzfall erreichte; in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße trat überall zur Monopolisierung des Bodens
'2 u 1" 15 16 17 i»
Ebenda, S. 431. MEW, Bd 38, Berlin 1968, S. 204. Lenin, IV. /., Werke, Bd 38, S. 340. Ebenda, Bd 4, Berlin 1955, S. 77. Ebenda, Bd 1, S. 205. Ebenda, Bd 3, S. 639 F.; vgl. ebenda, S. 54. Ebenda, Bd 5, Berlin 1955, S. 115.
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als Objekt der Wirtschaft dessen Monopolisierung als Objekt des Eigentumsrechtes.19 Wenn wir die Länder Europas z. B. im 19. Jahrhundert unter dem Aspekt dieser „Beimischung" betrachten, so springt als unbestreitbare Tatsache folgendes ins Auge: In seiner Agrarentwicklung kam England mehr als alle anderen Länder der erwähnten Grenz-Vorstellung der kapitalistischen Organisation der Landwirtschaft nahe. 20 Ähnlich fungiert Frankreich in den Arbeiten der Begründer des Marxismus nicht selten als „Muster" eines Landes, in dem der Klassenkampf immer bis zum Ende geführt wird. 21 Mit einem Wort, hier wird der Grenzfall als methodisches Prinzip der marxistischen Geschichtsforschung angewandt. Hier interessiert uns die Formationsebene nur in ihrer — historischen und logischen — „Grenzform". Mit der Makroanalyse der Gesellschaft — auf der Formationsebene — beginnend und mit der Mikroanalyse — auf der Ebene besonderer gesellschaftlicher Beziehungen — endend, bewegt sich die marxistische historische Forschung logisch gesehen von den höchsten Systemeinheiten zu den untersten oder von deren Grenzform (auf der theoretischen Stufe der Abstraktion) zur „getrübten". Konkret-historisch betrachtet tritt das genannte Prinzip als methodologische Direktive auf. Sie fordert, ausgehend vom welthistorischen Prozeß, sich den lokal-historischen Vorgängen zu nähern, die Untersuchung einer beliebigen historischen Erscheinung mit den klassischen, „reinen" Formen des betreffenden Verhältnisses in einem Prozeß oder einer Institution zu beginnen und schrittweise zu weniger ausgereiften, von anderen Verhältnissen, getrübten, „verwischten" Formen überzugehen. Nur so kann die Richtung der historischen Forschung der Hauptlinie der historischen Entwicklung der Gesellschaft selbst adäquat entsprechen. Im Rahmen einer Gesellschaftsformation bestimmen die Grenzformen die Entwicklungsrichtung aller abweichenden historischen Formen. Denn was beinhaltet letztlich das Prinzip der Entfaltung einer jeden historischen Gesellschaftsform, wenn nicht das ihr immanente Streben zur historischen und logischen „Vollendung"! 2 2 Der zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt klassisch ausgeprägte Entwicklungstyp ist nach Lenin „das Unterpfand der Zukunft" aller übrigen Formen im Rahmen der jeweiligen Epoche, und deshalb kommt ihm eine bestimmte Bedeutung im Prozeß der Erkenntnis ihrer Gegenwart zu. Es ist daher nicht schwer einzusehen, daß auf allen Ebenen der Analyse der Gesellschaft der Grenzfall nur als Ausdruck des welthistorischen Prinzips in Erscheinung tritt. Bis jetzt haben wir die Kategorie des Grenzfalls im Rahmen einer für sich genommenen Formation analysiert. Im Verlauf dieser Analyse haben wir festgestellt, daß die Untersuchung all der verwischten Formen eines bestimmten Formationsverhältnisses nur von den Grenzformen ausgehen kann, unabhängig davon, wie groß ihr spezifisches Gewicht in der jeweiligen historischen Gesellschaft ist, die zu der betreffenden Formation gehört. Ebenda, Bd 13, S. 170, 27 Ebenda, Bd. 1, S. 415: „In all diesen Fragen steht den russischen Marxisten insofern noch ein großes Stück Arbeit bevor, als sie . . . den Zusammenhang zwischen all den einzelnen, unendlich mannigfaltigen Formen der Aneignung des Mehrprodukts in den einzelnen Zweigen der ,Volks'produktion Rußlands und jener fortgeschrittenen, am meisten entwickelten kapitalistischen Form dieser Aneignung feststellen müssen, die die .Bürgschaft für die Zukunft' in sich einschließt. . ."
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Im Rahmen der uns interessierenden Problematik ist also der Kern, das Wesen der Kategorie des Welthistorischen in jedem geschichtlichen Stadium der gegebenen Formation nichts anderes als das (im betreffenden Stadium) den Grenzfall repräsentierende „reine", in reifer Form ausgeprägte Formationsverhältnis, das in einer der entwickelten Regionen der gegebenen Formation existiert. Damit wird in allen anderen Gesellschaftsformen die bestimmende Tendenz determiniert. Gerade diese dem Grenzfall nahe Tendenz verleiht der Weltgeschichte ihre Dynamik, formiert sie und gibt ihr eine bestimmte Richtung; und deshalb dient sie dem Historiker, der eine unvorstellbare Vielfalt der lokal-historischen Formen und Prozesse vor sich hat, als Orientierung. Wir wiesen darauf hin, daß die Kategorie des Welthistorischen ihre grundlegende Erkenntmisbedeutung unverändert behält, unabhängig davon, auf welcher Ebene die betreffende Erscheinung analysiert wird. Die folgende Untersuchung soll den Beweis liefern. Wir beginnen mit der Charakterisierung einzelner Prozesse, gehen dann zu einer globalen Betrachtung der Gesellschaft vom Standpunkt ihrer Formationszugehörigkeit über und wenden uns schließlich dem Problem der Ablösung der welthistorischen Epochen zu. Bekanntlich haben nicht wenige gelehrte Philister Marx noch zu dessen Lebzeiten vorgeworfen, er habe, als er in dem bekannten XXIV. Kapitel des 1. Bandes des „Kapital" den Prozeß der sogenannten Einhegungen in England beschrieb, fälschlicherweise einer „lokalen Erscheinung" welthistorischen Charakter beigemessen, als er in ihr das Wesen des Gesamtprozesses der ursprünglichen Akkumulation verkörpert sah. Bekannt ist auch, daß die „Widerlegung" der Marxschen Theorie von dem Prinzip ausging: „In Deutschland (Frankreich, Italien usw.) gab und gibt es nichts Ähnliches." 28 Die meisten Länder haben so etwas wie die englischen Einhegungen nicht erlebt usw. Die „Kritiker" nahmen sich jedoch nicht die Mühe, über die Logik dieser Theorie nachzudenken, die als ganzes und vollständig auf der Logik der Kategorie des Grenzfalls beruht. Als Marx diesen „typisch englischen" Prozeß in seiner konkret-historischen Form beschrieb, enthüllte er in der Tat an seinem „Beispiel" die mit der Genesis des Kapitalismus verknüpfte welthistorische Gesetzmäßigkeit. Er formulierte sie folgendermaßen: „Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage dieses Prozesses (d. h. der ursprünglichen Akkumulation — M. B.)". Marx fährt fort, als wollte er mögliche Einwände der „Kritiker" vorwegnehmen: „Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen. Nur in England, das wir daher als Beispiel nehmen, besitzt sie klassische Form. "29 Mit diesem unübertroffenen Muster einer sozial-historischen Analyse besitzen wir ein anschauliche^ Beispiel dafür, was Marx auf der Ebene der Erkenntnis unter der Kategorie des Welthistorischen verstand. Daraus folgt unzweifelhaft, daß es nicht um eine Aneinanderreihung von „Beispielen", nicht um eine Summierung lokaler Merkmale geht, sondern um die Auffindung jenes „lokalen", graphisch deutlichen" Prozesses, der kraft seiner objektiv-historischen und logischen Vollkommenheit das Geheimnis gerade des Prozesses erkennen läßt, der sich auf das Wesen bezieht, und zwar in allen Fällen, 2» MEW, Bd 23, S. 744. «
Ebenda.
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in denen er durch lokale Spezifika oder seine niedrige Entwicklungsstufe verschleiert erscheint. Es geht um die Auffindung jenes Prozesses, der das vollständige Areal von deren eigener Z u k u n f t demonstriert. 3 0 Mit anderen Worten, Marx sah den Zusammenhang und die Einheit des welthistorischen Prozesses augenscheinlich nicht in der Übereinstimmung der empirischen, lokalen Formen, sondern in der gemeinsamen, häufig verborgenen Tendenz dieser Formen. Der Schlüssel zur konkret-historischen Erkenntnis dieser „mit eiserner Notwendigkeit wirkenden" Tendenz war für Marx die klassische Form des Prozesses. „Sie (die Expropriation der Grundbesitzer — M. B.)", schrieb Marx, „ist bisher radikal erst in England d u r c h g e f ü h r t . . . Aber alle Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung." 3 1 D a ß Marx sich mit dem Hinweis auf die Länder Westeuropas begnügte, zeugt von dem hohen Grad seiner wissenschaftlichen Akribie. Wie Marx selbst unterstrich, hatte er keine „geschichts-philosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges" geschaffen, „der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden". Die Kategorie des Welthistorischen ist kein Universalschlüssel, sie ist nur im Rahmen ein und derselben welthistorischen Epoche auf die Geschichte der Länder anwendbar, die so oder anders von der gleichen „bestimmenden Tendenz" erfaßt wurden. „Strebt R u ß l a n d " , schrieb Marx an die Redaktion der „Otecestvennye zapiski", „dahin, eine kapitalistische Nation nach westeuropäischem Vorbild zu werden . . ., dann, einmal hineingeworfen in den Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft, wird es die unerbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie die andern profanen Völker." 3 2 Der Methode von Marx folgend, verglich Lenin in seiner Arbeit „ D a s Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907" die historischen Formen der „Umgestaltung" vorkapitalistischer Formen des Grundeigentums in Formen, die der kapitalistischen Produktionsweise in verschiedenen Ländern entsprachen. „In Deutschland", schrieb er, „verlief die Umbildung der mittelalterlichen Grundbesitzformen sozusagen reformerisch, wobei sie sich der Routine, der Tradition, den feudalen Gütern anpaßte . . . In England verlief diese Umbildung auf revolutionärem, gewaltsamen Wege, doch die Gewalt wurde zum Vorteil der Gutsbesitzer angewandt . . . In Amerika geschah diese Umbildung, was die Sklavenhalterwirtschaften der Südstaaten betrifft, auf gewaltsamem Wege." 3 3 Welche Schlußfolgerung ergab sich aus diesem Vergleich ? Die Idealform der Umgestaltung des mittelalterlichen Grundbesitzes, den Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise entsprechend — und dazu gehört vor allem die Nationalisierung des G r u n d und Bodens, seine Umwandlung in „Niemandsland", Allgemeinbesitz —, wurde in keinem einzigen Land, das den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus durchlief, historisch verwirklicht. Es konnte bei der entsprechenden Analyse folglich nur d a r u m gehen, die Variante zu entdecken, in der der untersuchte Prozeß dem Ideal am nächsten kam. Dies traf in den Grenzen des feudalen Europas bekanntlich auf England zu. „Nirgendwo
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Wir erinnern an Marx' sarkastische Bemerkung: „Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken . . . oder sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehen, so muß ich ihm zurufen: D e te fabula narratur!" MEW, Bd 23, S. 12.
"
MEW, Bd 19, S. 108.
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MEW, Bd 19, S. 111. Lenin, Werke, Bd 13, Berlin 1974, S. 273.
Die Kategorie des Welthistorischen als Erkenntnisprinzip
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in der Welt", so zitiert Lenin Marx, „hat die kapitalistische Produktion . . . so rücksichtslos mit den traditionellen Verhältnissen des Ackerbaus geschaltet und sich ihre Bedingungen so adäquat (ideal entsprechend) gemacht und unterworfen. England ist in dieser Hinsicht das revolutionärste Land der Welt." 3 4 Mit einem Wort, England ist das „Muster-Land" der bürgerlichen Umgestaltung der Bodennutzungsformen, und alle anderen Länder, die diesen Weg einschlagen, erkennen in seiner Geschichte das Wesen der von ihnen selbst durchlebten „andersartigen", unähnlichen Prozesse. Auf dem Territorium des „kleinen England" wurde die Variante der Agrarstruktur verwirklicht, in der die neuen Formen der Bodennutzung historisch zielgerichtet so organisiert waren, daß sie in jedem Fall den Anforderungen der günstigsten Kapitalanlage entsprachen. Hier entstand Ricardos Theorie der Grundrente. Offensichtlich war Ricardo, von den englischen Bedingungen ausgehend, in seinen Ansichten nicht so beschränkt wie der pommersche Grundbesitzer Rodbertus, der nur in den Grenzen der pommerschen Verhältnisse denken konnte. Es war die Erkenntnisbedeutung der lokalen englischen Bedingungen auf diesem Gebiet, der Ricardo den welthistorischen Standpunkt verdankt, d. h. die Fähigkeit, vom Grundbesitz als dem störenden Faktor für beliebige Kapitalanlage auf dem Lande zu abstrahieren und eine Rententheorie zu schaffen, die für die gegenwärtige, d. h. kapitalistische Produktionsweise überhaupt klassisch ist. 35 Im Gegensatz dazu — stellten Marx und Lenin fest — erörtert die Theorie von Rodbertus die Entwicklung der Bedingungen vom Standpunkt der historisch niederen, noch nicht voll entwickelten (nichtadäquaten) Form der Verhältnisse. 36 Lenin zitiert Marx' oben angeführte Worte und bemerkt: „Das sind bemerkenswerte inhaltliche Ausführungen von Marx." 3 7 Das Lokale muß im Lichte des Welthistorischen, das unklar Konturierte im Lichte des deutlich Ausgeprägten, die niedere Form im Lichte der höchsten Form, mit einem Wort: alle Formen müssen im Lichte der Grenzform eines Prozesses oder einer Erscheinung und im Rahmen ein und desselben Stadiums der betreffenden Gesellschaftsformation untersucht werden. Das ist ein Erkenntnisprinzip des Marxismus; es gestattet, in der Forschung das „Welthistorische" zu realisieren. Untersuchen wir nun, welche Rolle dieses Prinzip bei der Bestimmung der Formationszugehörigkeit einer konkret-historischen Gesellschaft (der „römischen Gesellschaft" des 1. Jahrhunderts, der „Gesellschaft im Frankenreich" des 8. Jahrhunderts usw.) spielt. In Ergänzung des oben Gesagten 38 muß bemerkt werden, daß das spezifische Gewicht des im betreffenden Gemeinwesen den Grenzfall repräsentierenden Formationsverhältnisses, seine quantitative Ausprägung allein noch nicht als Kriterium der Bestimmung der Formationszugehörigkeit dienen kann. Wie Marx bemerkte, ist jeder Gesellschaft eine Form von Verhältnissen eigen, die den Platz und den Einfluß aller anderen Formen bestimmt. „Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm Ebenda, S. 271. 35 Ebenda, S. 272. Ebenda, S. 271. 37 Ebenda, S. 273. 38 Vgl. oben, S. 43 ff. 4*
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hervorstehenden Daseins bestimmt." 3 9 D o c h ebenso, wie sich das spezifische Gewicht des Äthers nicht mit dem spezifischen Gewicht des in ihm gewogenen Materials vergleichen läßt und es vielmehr als M a ß s t a b zu betrachten ist, m u ß das Gewicht des den Grenzfall repräsentierenden Verhältnisses bei der Bestimmung des Formationscharakters aller anderen Verhältnisse als M a ß s t a b betrachtet werden. Mit anderen Worten, auf die Formationszugehörigkeit kann auch eine quantitativ bei weitem nicht vorherrschende F o r m in der ökonomischen Basis hinweisen, die jedoch das innere Bewegungsprinzip der sozialen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Dieses „innere Gesetz der Bewegung" gestattet es, in jeder Raum-Zeit-Beziehung ein gewisses Beteiligtsein am größeren universellen Wesen zu finden, in der lokalen Zeit ein „Element" der welthistorischen Zeit zu entdecken. In der jüngsten Vergangenheit wurde einiges f ü r die A u f d e c k u n g der inneren Komplexität u n d Polyrhythmik der historischen Zeit getan ; diese Kategorie m u ß von der der chronologischen Zeit unterschieden werden. 4 0 Dabei konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die lokal-historische Zeit (ihre innere Struktur, in Abhängigkeit von der D a u e r der Erscheinung, des Ereignisses, Prozesses usw.). Nicht geringere, j a eigentlich weitaus größere Bedeutung besitzt — unter dem Aspekt der Erkenntnis — die Divergenz der welthistorischen und der lokal-historischen Zeit. Träger der ersten ist die den Grenzfall repräsentierende formationelle Region, Träger der zweiten sind alle anderen Regionen, die zu dieser F o r m a t i o n gehören. Deutlich wird, d a ß die erstere im Vergleich zur zweiten dynamischer ist, d a ß die erstere in ihrem Verhältnis zur zweiten das bewegende und integrierende Prinzip darstellt. Die erste verkörpert den progressiven Charakter des historischen Prozesses überhaupt, während die zweite dieses Fortschreiten nur in Zusammenhang mit der ersten widerspiegelt, nur in dem Maße, in dem sie an der ersten Anteil hat. Wenn wir die f ü r die gesuchte Definition entscheidende Rolle der qualitativen Charakterisierung unterstreichen, so negieren wir damit durchaus nicht deren dialektischen Z u s a m m e n h a n g mit der Quantität. D o c h nicht „ Q u a n t i t ä t " allein bestimmt die Irreversibilität der regionalen Entwicklung. Lenin hat wiederholt unterstrichen: um gesellschaftliche Erscheinungen richtig zu werten, m u ß m a n sie zur welthistorischen Epoche in Beziehung setzen, die sich in der gegebenen konkreten Gesellschaft verkörpert, zu der den Grenzfall repräsentierenden Basis. 41 Natürlich gibt es in jeder antagonistischen Klassengesellschaft Perioden langer Dauer, u n d zwar insofern, als das den Grenzfall repräsentierende Verhältnis entweder nur eine „unbedeutende Erscheinung" darstellt oder im allgemeinen ü b e r h a u p t durch unausgereifte und unvollendete F o r m e n verkörpert wird. Dennoch bestimmt gerade dieses Verhältnis die allgemeine Entwicklungstendenz der betreffenden Gesellschaft. Dies ergibt sich aus dem inneren, unauflöslichen Z u s a m m e n h a n g der regionalen Entwicklung mit d e m welthistorischen Prozeß. Bei der Bestimmung der Formationszugehörigkeit einer gegebenen Gesellschaft geht es vor allem u m die Frage nach M a ß und F o r m e n des Anteils des Lokal-Historischen
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MEW, Bd 13, S. 637. Vgl. Braudel, Fernand, Écrits sur l'Histoire, Paris 1969, S. 55; vgl. Barg, M. A. Voprosy metoda v sovremennoj burzuaznoj istoriografii, in: Voprosy istorii, 1972, Nr. 9. Lenin, Werke, Bd 3, Berlin 1972, S. 552.
Die Kategorie des Welthistorischen als Erkenntnisprinzip
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am Welthistorischen. Gefragt wird nach jenen Formen und Stadien, die das gegebene formationeile Produktionsverhältnis in seiner Entwicklung durchläuft, für die betreffende Region in Beziehung gesetzt zum Grenzfall des welthistorischen Prozesses. 42 Lenin betonte: „Erst wenn das Wesen dieser Formen und ihre sie unterscheidenden Besonderheiten klargestellt sind, hat es einen Sinn, die Entwicklung dieser oder jener F o r m durch richtig bearbeitete statistische Daten zu illustrieren." 4 3 Lenin antwortete seinen Gegnern, die sich mit dem statistischen „spezifischen Gewicht" der „englischen" und „volkstümlichen" Formen im Rußland des 19. Jahrhunderts befaßten: „Aber es kommt hier gar nicht auf die absoluten Zahlen an, sondern auf die Verhältnisse, die sie aufdecken . . ," 4 4 Und weiter heißt es: Sie (die Volkstümler) „werden es übrigens niemals fassen können, daß man es . . . bei der primitiven Technik und der geringen Anzahl der Lohnarbeiter, mit Kapitalismus zu tun hat. Sie können es nicht fassen, daß das Kapital ein bestimmtes Verhältnis zwischen Menschen darstellt, . . . das auf der höheren wie auf der niederen Entwicklungsstufe der zu vergleichenden Kategorie ein und dasselbe ist." 4 5 Die Bestimmung der Formationszugehörigkeit einer historisch-konkreten Gesellschaft reduziert sich tatsächlich auf die Aufgabe, den inneren dynamischen Zusammenhang zwischen dem nicht systemeigenen und dem den Grenzfall repräsentierenden systemeigenen Produktionsverhältnis festzustellen. In diesem Verhältnis — unabhängig von seiner Qualität — resümiert sich in jedem historischen Augenblick der grundlegende Klassenantagonismus der betreffenden Gesellschaft; es verkörpert die notwendige, historisch unausweichliche Entwicklungstendenz aller anderen Formen von Produktionsverhältnissen. Wenn z. B. für die Antike unter den Produktionsverhältnissen der Gesellschaft als das bestimmende das Gegensatzpaar Freier — Sklave festgehalten wird, so offenbart gerade die Sklaverei als Grenzfall der Negierung des positiven Inhalts der Freiheit 4 6 die Entwicklungstendenz aller Formen der Abhängigkeit und Ausbeutung durch äußeren Zwang, nicht nur der sich von ihr unterscheidenden, sondern auch der ihr entgegengesetzten. Alle anderen Formen der Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten verschleiern nur jene Wahrheit, daß sie ihrem Wesen nach zu diesem Grenzfall hinstreben, in ihm ihre Klärung finden, und zwar auch dann, wenn sie sich von ihm lösen, sich ihm formal im Recht und in der Ideologie entgegensetzen. Gerade deshalb läßt sich z. B. die Gesellschaft des klassischen Altertums nicht als bipolar (zum „ P o l " der Sklaverei oder zum „ P o l " der Freiheit strebend) kennzeichnen 4 7 Vom Standpunkt des Welthistorischen war der einzige wirksame Pol (das treibende Prinzip) dieser Gesellschaften die Sklavenhalterordnung, da gerade von ihr die innere Tendenz aller anderen gesellschaftlichen Formen ausging. Wie auch immer das Bewußtsein der Epoche den freien Arbeitenden gegenüber im Recht sanktioniert, ihre Freiheit bewahrt werden mochte, die Sklaverei erschien, auch wenn sie nur als Produktionsverhältnis existierte, als Grenzfall der Ausbeutung der Produzenten überhaupt. «
Ebenda.
«
Ebenda, S. 465.
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Ebenda, Bd 1, S. 211.
«
Ebenda, S. 213.
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Negation als Bewegungsprinzip des Prozesses.
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Lenin, Werke, Bd. 4, S. 88. — Diese methodologischen Erwägungen wurden für die Forschungen übernommen in: Zerin,
K. K.ITrochimova,
M. K., Formy zavisimosti v Bostocnom Sredizemnomor'e
v ellinisticeskij period. Moskau 1963. Der besondere Wert des von den Autoren vorgeschlagenen Herangehens besteht nach meiner Meinung im Herausstellen der Varianten und Übergangsformen.
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M. A. Biirg
Im gleichen Sinne ist das Los des „Proletariers" Grenzfall für das Schicksal der Mehrheit der kleinen Eigentümer unter den Bedingungen des Kapitalismus. Die Geschichte einzelner Völker kann, wenn man sie als Teil einer bereits charakterisierten weltgeschichtlichen Epoche betrachtet, als stadiale Variante der Entwicklung eines den Grenzfall repräsentierenden (formationellen) Verhältnisses erscheinen, aber auch als Unterschied in den Formen des Zusammenhangs zwischen dem den Grenzfall repräsentierenden Verhältnis einerseits und anderen aus früheren Epochen überkommenen Strukturen (,uklady') in der gegebenen Gesellschaft andererseits. Abschließend soll die Erkenntnisbedeutung der Kategorie des Welthistorischen bei der Bestimmung der Übergänge und der Ablösung der welthistorischen Epochen untersucht werden. 4 8 In diesem Zusammenhang interessieren uns drei Fragen: 1. In welcher Korrelation stehen Übergang und Ablösung der welthistorischen Epochen zur Bewegung der regionalen gesellschaftlichen F o r m e n ? 2. Was bedeutet, im Lichte des uns interessierenden Problems, das „Überspringen" dieser oder jener Formation durch einige Völker? 3. Besteht Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen von der „Unilinearität" der welthistorischen Entwicklung und der Kategorie der „Alternativität" dieses Entwicklungsweges? Zur Lösung dieser Fragen müssen wir von der Tatsache, daß einige Regionen in jedem historischen Zeitpunkt mit der welthistorischen Epoche formationell nicht übereinstimmen, absehen. Wenn man versucht, sich eine solche Epoche, gleichgültig, von welcher antagonistischen Klassengesellschaft die Rede ist, räumlich deutlich vor Augen zu führen, so fallt einerseits jenes Land (oder jene Gruppe von Ländern) besonders auf, wo die Produktionsweise, die den „Anteil" an der jeweiligen welthistorischen Epoche bestimmt, in besonders „reiner", „klassischer" F o r m ausgeprägt ist; und andererseits hebt sich jenes Land (oder jene Gruppe von Ländern) ab, wo die gleiche Produktionsweise besonders unausgeprägt und schwach entwickelt ist. Das hängt damit zusammen, daß die verschiedenen Länder in diese oder jene historische Epoche nicht zur gleichen Zeit und mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau eintreten. Natürlich gibt es einen Prozeß des Angleichens der Bedingungen, der im Laufe der Zeit diese innere Graduierung bedeutend einschränkt. Dennoch lehrt die Erfahrung der Geschichte, d a ß es nicht einer der uns bekannten antagonistischen Klassengesellschaften gelang, im Rahmen der ihnen entsprechenden welthistorischen Epoche das Bild der Welt so zu vereinheitlichen, daß die ganze Farbskala ihrer Entfaltung ausgelöscht worden wäre. Die Epochenbewegung — im Sinne der Entwicklung der sie bestimmenden sozialökonomischen Formation — verläuft viel schneller als die Entwicklung einzelner Regionen. Während die den Grenzfall repräsentierende Formationsregion eine neue weltgeschichtliche Epoche eröffnet und „ a n f ü h r t " , verharren andere Regionen zeitweilig noch in der vorangegangenen, überlebten sozialökonomischen Formation und können noch lange auf der Grundlage ihrer Gesetzmäßigkeiten funktionstüchtig bleiben. Gerade auf dieser Stufe der Analyse zeigt sich, daß das wirklich Gesetzmäßige in der Weltgeschichte niemals statistisch, nicht als das quantitativ Vorherrschende, am weitesten Verbreitete usw. in Erscheinung tritt, sondern als Unikales, das nirgends in „reiner" F o r m erscheint, mit einem Wort, als der den Grenzfall repräsentierende Ausdruck der versteckten, mehr oder weniger von „Zufällen" deformierten Tendenz. Deshalb besitzen die „einmaligen" und „unwiederholbaren" „klassischen" Erscheinungen
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Vgl. ¿ukov, E. M., V. I. Lenin i ponjatie epochi v mirovoj istorii, in: Novaja i novejnaja istorija, 1965, Nr. 5, S. 3—9.
D i e K ü t e g o r i e d e s W e l t h i s t o r i s c h e n als E r k e n n t n i s p r i n z i p
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(antike Sklaverei, Feudalismus im Gebiet zwischen Rhein und Seine) unter welthistorischem Aspekt eine so besondere Bedeutung. Eines ist klar: Nicht das quantitativ Vorherrschende, am weitesten Verbreitete und in diesem Sinne „Typische", sondern das im Grenzfall Ausgeprägte und deshalb in keiner der vorangegangenen Epochen Enthaltene verleiht jeder welthistorischen Epoche das Bewegungsprinzip; deshalb muß es im Bereich der Erkenntnis als synthetisierendes und auftauendes Prinzip der Weltgeschichte auftreten. A u c h in den Ubergangsepochen erscheint das welthistorische Gesetz nur einmal in besonders reiner Form, nämlich beim ersten irreversiblen Durchbrechen der alten Ordnung; danach werden die Erscheinungsformen dieses gleichen Gesetzes in bestimmter Weise modifiziert, sei es auch nur durch die Tatsache der Existenz und Entwicklung der neuen Formation in der Region, die als erste den Durchbruch vollzog. Daher die besondere Aktualität der Methodologie der Erforschung v o n Perioden, die den Übergang von einer weltgeschichtlichen Epoche zur anderen bilden; wir werden dies an einem Beispiel veranschaulichen. Bei der Erforschung der Übergangsepochen wird die Notwendigkeit deutlich, das „Überspringen einer Formation", z. B. der Sklavenhalterordnung, durch verschiedene Völker zu erklären; bestimmte „ K r i t i k e r " des marxistischen Historismus benutzen diese Tatsache als „ A r g u m e n t " gegen die Lehre von den ökonomischen G e sellschaftsformationen. Es ist wohlbekannt, daß für viele Völker nicht die Sklavenhalterordnung die erste historisch festgestellte Klassengesellschaft war, sondern die feudale Formation, was augenscheinlich dazu berechtigt, für eine Reihe von Ländern des Ostens von einer Periode eines eigenartigen „Synkretismus" der Elemente dieser beiden Formationen zu sprechen. Dies alles hat es in der Tat gegeben; wir sehen jedoch keinen Zusammenhang zwischen diesen regionalen Typen des Prozesses und der allgemeinen Theorie der sozialökonomischen Formationen, die auf der logischen Ebene des welthistorischen Prozesses in marxistischer Auffassung formuliert wurde. Einzig und allein die wissenschaftliche Auffassung des Welthistorischen als komplexer Entwicklung historischer Formen, die in jedem Stadium in der Gesetzmäßigkeit des Grenzfalls resümiert werden, gestattet es, in jeder der historisch lufeinanderfolgenden sozialökonomischen Formationen nicht nur eine notwendige, sondern , uch unausweichliche Stufe der historischen Entwicklung zu erkennen. Die Weltgeschichte kann keine der aufeinanderfolgenden Stufen ,,überspringen" und keiner ausweichen. Alle sind gleichermaßen notwendig und bilden den untrennbaren Zusammenhang eines aufsteigenden Entwicklungsprozesses. Ihre Kontinuität und gesetzmäßige A b f o l g e wird sowohl historisch eindeutig bestätigt als auch logisch begründet. Jene Tatsache, daß in der Geschichte einzelner Völker diese strenge Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder durchbrochen wird, konfrontiert uns mit dem Problem der Wechselwirkung welthistorischer und regionaler Prozesse. Woher sonst stammt die Behauptung, diese oder jene Völker (z. B. die Germanen oder die Slawen) könnten eigenständig, isoliert, direkt oder indirekt vom urgesellschaftlichen Gemeinwesen zum Feudalismus übergegangen sein und die Sklavenhalterordnung umgangen haben? In der realen Geschichte hat es diesen abgesonderten, vom welthistorischen Prozeß isolierten Übergang nicht gegeben. Dieser Übergang vollzog sich vielmehr, nachdem die welthistorische Epoche des Feudalismus schon begonnen hatte, d. h. nachdem die den Grenzfall repräsentierende Region auf der Basis der Synthese von Elementen der späteren Sklavenhalterordnung und der späten Barbarenordnung schon die Geschichte des Feudalismus eröffnet hatte. Folglich gingen die slawischen und skandina-
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vischen Völker nicht „eigenständig" zum Feudalismus über, sondern erst lange Zeit, nachdem sich die Sklavenhalterordnung welthistorisch schon überlebt hatte und die neue welthistorische Gesetzmäßigkeit des Feudalismus ihren Einfluß auf die barbarische Umwelt schon unter Beweis stellte. 49 Mitunter beruft man sich darauf, daß viele Gebiete innerhalb der politischen Grenzen des Römischen Reiches der „Feudalstruktur" der Gesellschaft näher gekommen seien, als es bei der klassischen Struktur im römischen Italien der Fall war. Daraus wird der Schluß gezogen, daß das Alte Rom kein klassischer Entwicklungstyp, sondern eine „Sackgasse" gewesen sei. Offensichtlich ist eine Untersuchung der in den römischen Provinzen vorherrschenden „atypischen" Formen von Produktionsverhältnissen, die von den den Grenzfall repräsentierenden Produktionsverhältnissen im römischen Italien absieht, nicht gerechtfertigt. Tatsächlich können die Formen der abhängigen, ausgebeuteten Kleinwirtschaft der spätrömischen Epoche nicht als feudale betrachtet werden; jene Gesamtheit von Beziehungen, die allein ihr einen „feudalen" Inhalt hätte geben können, existierte noch nicht. Solange das Römische Reich bestand, waren diese Formen vom Inhalt der Sklavenhalterordnung erfüllt, trotz ihrer Nähe zu „feudalen F o r m e n " . Außerdem gehört die Sklavenhalterformation unserer Ansicht nach zu jenen klassenantagonistischen Formationen, die die neue Produktionsweise nicht fertig zur Welt bringen. Dennoch bereitet sie, auch in der Basissphäre, objektiv eine Vielzahl unterschiedlicher Elemente — Elemente des Zerfalls der Sklavenhalterverhältnisse — vor, so auch in der Sphäre der Basis, die die neue Epoche nutzen kann. Das aber sind noch keine „Elemente des Feudalismus"; u m dazu zu werden, mußten sie einen komplizierten historischen Transformationsprozeß durchlaufen, der nach dem Untergang R o m s noch einige Jahrhunderte in Anspruch nahm. Mit einem Wort, den Kern der Sklavenhaltergesellschaft bildet die antike Produktionsweise, und alle „transformatorischen" Elemente sind, so oder so, Elemente der späten Sklavenhalterordnung, im besten Fall „proto-feudal". U m „Elemente des Feudalismus" zu werden, müssen die Elemente des Zerfalls der von der Sklaverei bestimmten Produktionsweise eine lange historische Evolution durchlaufen, die sich schon im Rahmen des Mittelalters vollzieht. Davon zeugt das historische Beispiel Byzanz, das die Variante der „synthetischen" Genesis des Feudalismus verkörpert, allerdings bei deutlichem Vorherrschen der Elemente der späten Sklavenhalterordnung. So führte der Hauptweg der Weltgeschichte in der Epoche der späten Sklavenhalterordnung über die klassische Struktur der Sklavenhaltergesellschaft. Eine Gesellschaftsordnung tritt — weltgeschichtlich gesehen — nicht von der Szene ab, ehe sie alle in ihr steckenden Möglichkeiten voll entfaltet h a t ; aus dem gleichen Grunde ist der Übergang zum Feudalismus als Formation ohne die welthistorische Erfahrung des Alten R o m undenkbar. Es wäre falsch, die Rolle der Sklaverei-Tendenz beim Übergang von der Antike zum Mittelalter in den Grenzen des Römischen Reiches zu unterschätzen. Ebenso falsch wäre es, die „feudale" Tendenz in den altgermanischen und slawischen Gesellschaften des 4. und 5. Jahrhunderts überzubewerten. Wie oben bemerkt, kann der direkte Übergang dieser Gesellschaften zum Feudalismus unter Umgehung der Sklavenhalterordnung durch eine dominierend „proto-feudale" Entwicklung keinesfalls erklärt werden. F ü r die barbarischen 49
Es sei daran erinnert, daß in allen Ländern der sog. .nichtsynthetischen' Genesis des Feudalismus sich dieser Übergang erst Jahrhunderte später vollzog.
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Gesellschaften sind zwei immanente Tendenzen charakteristisch — die SklavenhalterTendenz und die „ f e u d a l e " Tendenz. Erst in Abhängigkeit davon, in welche welthistorische Epoche ihr Zerfall mündet, in den Vorabend der Sklavenhalterordnung oder in den Vorabend der feudalen Produktionsweise, gewinnt die eine oder die andere Tendenz die Oberhand, erhält der Prozeß der Klassenbildung in diesen Gesellschaften einen entsprechenden Inhalt. A u s dem Gesagten folgt, daß sich das welthistorische Gesetz des Übergangs von der Antike zum Mittelalter in besonders reiner, seinen Grenzfall repräsentierender F o r m im „synthetischen W e g " der Entstehung des Feudalismus verkörpert; alle anderen „ W e g e " sind bereits nachfolgende Modifikationen dieses Gesetzes auf der Grundlage seine Sieges in der den Grenzfall repräsentierenden Region. Dies ist der wirkliche W e g der G e schichte.
Manfred
Kossok
Über Typ und Typologie bürgerlicher Revolutionen
Der revolutionstypologische Aspekt gehört zu den wichtigsten Problemen einer vergleichenden Analyse der bürgerlichen Revolutionen. Diese Fragestellung ist nicht absolut neu, wurde aber weniger von den Historikern als eher von Vertretern der Revolutionstheorie, -philosophie und -Soziologie aufgenommen. 1 Das merkliche Defizit an einer typologisch vergleichenden Revolutionsgesc/H'c/u