Preußische Jahrbücher: Band 49 [Reprint 2020 ed.] 9783112364901, 9783112364895


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Preußische Jahrbücher: Band 49 [Reprint 2020 ed.]
 9783112364901, 9783112364895

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Preußische Jahrbücher Herausgegeben

von

Heinrich von Treitschke.

Neunundvierzigster Band.

Berlin, 1882. Druck und Verlag von G. Reimer.

Inhalt. Erstes Heft. Ueber daS Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit und deren moderne Widersacher.

(Hugo Sommer.)................. Seite

(Fortsetzung.)

1

Zur Geschichte der deutsche» Romautik.

(Heinrich von Treitschke.)

....

-

34

Ranke's Weltgeschichte.

(Iulian Schmidt.)...........................



80

Zweiter Theil.

Heinrich Rückert in seinem Leben und Wirken.

Dargestellt von Amelie Sohr.

(I. Caro.).................................................................................................

Die europäische Lage beim Jahreswechsel.

Notizen.

(Politische Correspondenz.)

(Zu den Kriegen Friedrich des Großen.)

89



98

.

(tt.)

(a./D.)...........................



108

(Herman Grimm.).....................................................



117

Zweites Heft. Raphael'S erste Zeiten.

Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit und deren

moderne Widersacher. Unsichtbare Feinde.

(Schluß.)

(Hugo Sommer.)......................

Die Bildung der Coalition des Jahres 1756 gegenPreußen.

Blinder Lärm. Notizen.



148

(Dr. M. Alsberg.)....................................................................—

(Politische Correspondenz.)

(Max Duncker.)



175 191



212



217

(O. Bähr.)............................................................... —

227

(tt.)

......................................

(Chamisso's Geburtstag. — Bettina. — Friedrich Schlegel und

Dorothea.)

(Julian Schmidt.)......................................................................

Drittes Heft. Das Unfallversicherungsgesetz.

Rom und die römische Compagna in Bezug auf die modernen Culturver­

hältnisse.

(Winterberg.)...........................................................................

Karl Wilhelm Nitzsch.



290

(Heinrich von Treitschke.)......................................... —

320

(Heinrich von Treitschke.)...................................................... —

325

E. M. Arndt und Wrede. Unsere Parlamente.

262



Auswanderung, Kolonisation und Zweikindersystem. (Frhr. von der Brüggen.)

Notizen.

243

(Richard Rosenmund.)...................................................... —

(Moses Mendelssohn)

(Julian Schmidt.)........................................



331

IV

Inhalt.

Viertes Heft. Karl Wilhelm Nitzsch.

(Richard Rosenmund.)...................................Seitt 337

(Schluß.)

Die kosmologische Reform des Kopernikus in ihrer Bedeutung für die Philo­ sophie.

(Dr. Natorp.)...........................................................................

Die indische Ausstellung in Berlin.



355

.........................



(Albert Jansen.)...............................



392

Das Kirchengesetz vor dem Landtage. (Heinrich von Treitschke.)....................



432

(Alfred Lichtwark.)

Zur Litteratur über Rousseau's Politik.

Die Skobelewiade und ihre Folgen.(Politische Correspondenz.) Notizen.

(k.) ...

376

439



(H. G )............................................................................................................—

449

Fünftes Heft. Die Pioniere von Rochdale und ihre Nachfolger.

(Ludwig Frhr. v. Ompteda.)

Zur Reform des Instituts der Einjahrig-Freiwilligen.

Köln im Mittelalter.

(Dr. Friedrich Aly.)



453



488

(K. Lamprecht.)..............................................................



495

(Hans Prutz.).................................................



535

Kant und der preußische Staat. Wildenbruch's Harold.

Irland am Scheidewege.

(Iulian Schmidt.)..........................................................



551

(ti.)...........................



559

(H. Jacoby.).................................................



567



589

(Politische Correspondenz)

Sechstes Heft. Die Weltanschauung Petrarca's.

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Caual-Frage. Zum Andenken Lotze's.

(R. Schleiden.)

(Hugo Sommer.)................................ •....................... - -

Aus dem alten Bundestag.

655

(Iulian Schmidt.)...................................................... —

Die neueste Phase der egyptischen Frage.

(Politische Correspondenz.)

(k.) .



663

674

Ueber das Wesen und die Bedeutung der mensch­ lichen Freiheit und deren moderne Widersacher. (Fortsetzung.)

II. Kritik der hauptsächlichsten Einwendungen gegen das Vor­ handensein und die Bedeutung der menschlichen Freiheit. Da wir mit dem Worte „Freiheit" nur den specifischen und characteristischen Inhalt dessen bezeichnen, was wir thatsächlich unmittelbar

in uns erleben, indem wir uns unter gleichzeitiger Einwirkung verschie­

dener Motive entscheiden, etwas Bestimmtes zu wollen, so können Ein­

wendungen, welche gegen das Vorhandensein dessen gerichtet sind, was wir unter Freiheit verstehen, nur darauf beruhen, daß man entweder

unter dem Begriffe „Freiheit" etwas anderes versteht, als jene

thatsächlich erlebte Fähigkeit unseres Wesens, oder daß man durch irgend welche theoretische Voreingenommenheit verleitet wird, die Thatsächlich-

keit und das Wesen dessen zu verkennen, was wir unmittelbar in uns erleben, indem wir etwas Bestimmtes wollen. Der Unterschied beider Arten von Einwendungen, deren Grenze nicht

scharf gezogen werden kann und welche deßhalb vielfach in einander über­ gehen, beruht im Wesentlichen darauf, daß die ersteren von einem fertigen

aber falschen Begriffe der Freiheit ausgehen, während die anderen den Begriff der Freiheit erst aus den Thatsachen der unmittelbaren Lebens­

erfahrung zu entwickeln suchen. meist stillschweigend

Die ersteren lassen diesen Thatbestand

auf sich beruhen und kämpfen nur mit den Folgen

selbstgeschaffener Schwierigkeiten, indem sie Widersprüche gegen das Vor­ handensein und Wesen der Freiheit entdeckt zu haben wähnen. Die letzteren beschäftigen sich ausdrücklich mit jenem Thatbestände der unmittelbaren

Lebenserfahrung und bekämpfen in der That Vorhandensein und Wesen der Freiheit, weil sie das letztere principiell verkennen. Preußische Jahrbücher. Bd. XI.IX. Heft 1.

1

Was die Einwendungen der ersteren Art anlangt, so entstehen die­

selben fast ohne Ausnahme aus der Verwechselung der Freiheit mit dem liberum arbitrium indifferentiae.

Ich habe die Genesis, die Verkehrtheit und Unwirklichkeit dieses falschen Begriffes

einer angeblichen Freiheit ganz ursachloser Selbstbe­

stimmung bereits im Eingang des ersten Abschnitts, wo es sich um Fest­

stellung und richtige Begrenzung des wahren Freiheitsbegriffes handelte, wie ich hoffe, nach allen Richtungen hin erschöpfend und überzeugend dar­

gelegt, um von vorn herein den Widersprüchen und Schwierigkeiten vor­ zubeugen, welche durch jene Verwechselung herbeigeführt sind.

Lediglich aus solcher Verwechselung entstand der populärste und an­ scheinend schwerste Einwand, welcher gewöhnlich gegen das Vorhandensein

der Freiheit erhoben zu werden pflegt:

Der Einwand, daß dieselbe

dem Causalgesetz widerstreite.

Dieser Einwand stellt sich sofort in seiner ganzen Nichtigkeit dar,

wenn man an die Stelle jenes falschen Begriffs der Freiheit als einer angeblich ursachlosen Selbstbestimmung, eines ganz grundlosen Wollens,

welches sich selbst widerspricht, den wahren positiven Begriff der Frei­ heit einsetzt: die Fähigkeit, sich selbst nach inneren Motiven zum Wollen

ergiebt sich dann,

daß das Bestimmtwerden durch

Motive dem Wesen der Freiheit nicht

nur nicht widerstreitet, sondern

zu bestimmen.

Es

wesentlich mit zu deren Begriffe gehört.

Freies Wollen ist motivirtes

Wollen, welches nur dadurch charakterisirt und ausgezeichnet ist, daß der

Wollende seinen Willen selbst bestimmt, daß er ein fürsichseiendes Wesen von selbständigen Lebensinteressen ist, nach welchen

Wollen zu entscheiden vermag.

er sich in seinem

Wir wären nicht frei im wahren positiven

Sinne des Worts, wenn wir auf die Einwirkungen, welche uns der Lauf der Ereignisse zuführt, grundlos reagirten; wir reagirten dann über­ haupt nicht, sondern es geschähe dann etwas in uns, waS mit den er­ littenen Einwirkungen einfach außer Zusammenhang stände.

Wir reagiren

deßhalb und zwar in bestimmter Weise auf solche Einwirkungen, weil wir eigenartige Wesen mit eigenen Lebensinteressen sind.

Das

Eigenthümliche der Freiheit besteht allein darin, daß wir die Art, wie

wir reagiren wollen, mit Bewußtsein und dem Gefühle der Verantwort­

lichkeit für

unsere Entscheidung

selbst bestimmen.

Wahre Freiheit

widerstreitet daher nicht dem Causalgesetz, sondern setzt dessen Geltung

nicht

voraus, denn wenn und insoweit daS

gelten sollte,

Causalgesetz

könnten auch keine Motive auf unseren

Willensentschluß einwirken, könnte der Thatbestand gar nicht zu Stande kommen,

welcher das freie Walten im positiven

Sinne, d. h. die freie Entschließung auf gleichzeitig einwir­ kende Motive möglich macht.

Aber nicht blos ihrem Wesen, sondern auch ihrer Bedeutung und

Wirksamkeit nach ist die Freiheit durch die Geltung des Causalgesetzes bedingt.

Bestände nicht ein gesetzlicher Zusammenhang alles Geschehens,

so würden wir ja die Folgen unserer freien Willensentscheidungen gar

nicht berechnen, wir würden daher auch für die Erfolge unseres Wollens nicht verantwortlich sein können, wir würden überhaupt dann rathlos da­

stehen und nicht wissen, was wir wollen sollten.

So verhält sich's ja in

der That in Betreff vieler Motive, welche sich oft gleichzeitig neben an­

deren darbieten, ohne daß wir deren Bedeutung, Folgen und Tragweite kennen, oder in Betreff deren wir irren, wie es leider häufig der Fall

ist.

In Betreff solcher Motive erleidet unsere Freiheit eine Einschränkung.

Wir sind in Betreff ihrer nicht frei, und wenn ihre Kenntniß nicht durch

die Pflicht der Aufmerksamkeit, Ueberlegung oder Umsicht geboten war, auch nicht verantwortlich, wie dies alle neuere Strafgesetzgebungen aner­ kennen.

Causalität und Freiheit sind nicht Gegensätze, die einander aus­

schließen, sondern Correlate, von denen wenigstens das letztere durch das erstere seinem Wesen und seiner Bedeutung nach als einem constituirenden

Factor wesentlich mit bedingt ist.

Wenn man sich das richtige Verhältniß dieser beiden Correlate klar und deutlich zum Bewußtsein bringt, so verschwindet der Haupteinwand

gegen das Vorhandensein der menschlichen Freiheit und damit die Haupt­

schwierigkeit, welche das ganze Problem belastet. noch darauf

extstiren,

an,

zu begreifen,

welche sich nach

wie

es

Es kommt dann nur

möglich

sei, daß

Wesen

autonomen Principien selbst zum

Wollen bestimmen können, und worin deren autonome Natur

bestehe?

Die erstere Frage überschreitet die menschliche Competenz.

Sie

ist entbehrlich, nachdem die innere Erfahrung uns von der autonomen

Natur unseres eigenen Wesens überzeugt hat, nachdem wir erfahren haben, daß wir ein Gewissen, eine innere Norm unseres Wollens von unbedingt

verpflichtender Geltung thatsächlich in uns tragen.

Jene Frage könnte

nur dann unabweislich erscheinen, wenn es unsere Aufgabe wäre, die Welt zu schaffen, anstatt den Sinn der Geschaffenen zu verstehen, sie kann nur von einer sich selbst überfliegenden Speculation aufgeworfen werden,

welche die Welt aus selbstgeschaffenen Principien construiren möchte, an­ statt sich mit der Aufgabe zu begnügen, die Principien rückläufig aus dem

gegebenen Thatbestände der Erscheinungen und inneren Erlebnisse zu er­ kennen, um den inneren Zusammenhang des Complexes der letzteren danach verstehen zu lernen.

Die zweite Frage können wir nur durch Verdeutlichung dessen beant­

worten, waS wir selbst unmittelbar erleben, indem wir uns auf gleich­

zeitig einwirkende Motive zum Wollen entschließen.

Ich habe im ersten

Abschnitte den Proceß dieser Verdeutlichung zu einem gewissen Abschlusse

zu führen gesucht unb dargethan, daß und wie in der That die Grund­

linien unserer ganzen Weltansicht durch die specifische Beschaffenheit der autonomen Natur unseres Wesens vorgezeichnet sind.

Die Bedeutung der auf diesem Wege erlangten Resultate kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, daß sich unsere ganze Weltansicht lediglich aus

subjectiven Daten

zusammensetzt,

und

daß die Subjectivität und

Realität unseres ganzen Wesens nur in einer Art des Fürsichseins des

absoluten Wesens bestehen können, und daher,

insofern dieses mit

seinem ganzen Wesen in unS für sich ist, die Grundthatsachen un­

seres eigenen Wesens, welche dessen specifischen Charakter am cou-

centrirtesten zum Ausdruck bringen, geeigneter sein müssen, uns über die

Grundzüge der ganzen aus unserem Innern entspringenden Wcltausicht aufzuklären, als die Summe der peripherischen Ereignisse, welche

der Lauf des Lebens und die Beobachtung in allen Einzelgebieten der Forschung allmählig zu Tage fördern, und welche wohl zur Bereicherung,

Vervollständigung und Ergänzung des principiell Erkannten, nicht aber

für sich allein zur Feststellung der Principien ausreicht. Dies ist auch der Weg, den die Reformbewegung des Kant-

schen Kriticismus

anstrebt und der von Kant selbst in großartiger

Weise angebahnt ist.

Um so mehr müssen wir beklagen, daß dieser große Geist durch über­

kommene Vorurtheile und Einseitigkeiten, von denen er sich nicht loszu­ ringen vermochte, an einer völlig richtigen und sachgemäßen Auffassung

der Freiheit verhindert wurde.

Insbesondere hinderte ihn daran seine

verhängnißvolle Scheidung der Begriffe von Erscheinung und Ding an sich und die Behauptung der Unerkennbarkeit des letzteren.

Er wurde

dazu durch die falsche Voraussetzung der nothwendigen „Beharrlichkeit der

Substanz" getrieben, welche ihn verhinderte, die Realität des Lebendigen

als des letzten gegebenen Wirklichen anzuerkennen und deßhalb die Be­ deutung der unmittelbaren Erlebnisse entsprechend zu würdigen.

Er ließ

sich durch jene falsche Voraussetzung verleiten, auch im Ich einen be­

harrlichen substantiellen Wesenskern zu hypostasiren, ein Ding an

sich, das er als unerkennbar hinstellte, weil in dem, was wir wirklich er­ leben, in der That keine Spur davon zu entdecken ist. Er verschloß seine Augen und seinen Geist vor den lichten Offen­

barungen dessen, was wir unmittelbar in uns erleben, und verlegte alles,

was sich hier außer den sinnlichen Erscheinungen und

den logischen

Operationen des Verstandes ereignete, insbesondere auch den Proceß deS freien Wollens, in

die selbstgeschaffene nnaufklärbare Finsterniß jenes

hypothetischen Ding an sich, aus welcher er dann keinen Rückweg mehr finden konnte.

Er verwies sie dorthin, weil er sie

als unmittelbare

Selbstbewegungen „einer beharrlichen Substanz" nicht zil deuten wußte. Durch diese dogmatische Fessel verbaute er sich selbst sein in so groß­ artigem Style angelegtes Reformwerk, das er nur durch ein richtiges und

unbefangenes

Verständniß

des Unmittelbaren

hätte

vollenden

können.

Anstatt die hier verborgenen Schätze zu heben, schuf er sich durch jene dogmatische Fessel

eine Menge künstlicher Schwierigkeiten

und Wider­

sprüche, mit deren Lösung er sich dann vergeblich abgemüht hat. Einer der auffälligsten und verhängnißvollsten dieser selbstgeschaffenen

Widersprüche war der, welchen er zwischen der Freiheit und dem Causal-

gesetz statuiren zu müssen glaubte, weil er in dieser Beziehung wenigstens die Freiheit mit dem liberum arbitrium indifferentiae verwechselte.

Er

suchte diesen angeblichen Widerspruch dann in sehr eigenthümlicher Weise

dadurch zu lösen, daß er die Geltung des Causalgesetzes auf das

Gebiet

der

Erscheinungswelt

beschränkte,

den

Proceß

deS

freien Wollens aber in die Nacht daS Ding an sich verlegte. Er statuirte im Ich einen empirischen und einen intelligiblen Cha­

rakter.

Der erstere sollte der Erscheinung, der zweite dem Ding an sich

angehören.

„Dieselbe Handlung, die einerseits" (als Aeußerung des em­

pirischen Charakters)

„bloße Naturwirkung ist",

soll

„doch anderseits"

(sc. als Aeußerung des intelligiblen Charakters) „als Wirkung aus Frei­ heit"

angesehen werden (Kritik der reinen Vernunft.

S. 442).

Ed. Kirchmann

Er giebt sich die erdenklichste Mühe, diese unhaltbare Unter­

scheidung sich selbst und seinen Lesern plausibel zu machen.

Dieser Ver-

mittelungSversuch widerstreitet jedoch ebensosehr dem Causalgesetze als dem wahren Wesen der Freiheit und enthält weiter nichts als ein offenes Be­

kenntniß der Verkehrtheit der beiden Gesichtspunkte, welche dadurch ver­ mittelt werden sollen.

Es widerstreitet dem Causalgesetze und zugleich aller Logik, daß ein

und dieselbe Handlung motivirt und doch wieder nicht motivirt sein soll,

daß dieselbe als Handlung eines „Ding an sich", welches als außerhalb alles gesetzlichen Zusammenhanges mit den Dingen der Erscheinungswelt

stehend gedacht wird, doch Wirkungen in dieser hervorbringen soll.

Wenn

das Causalgesetz für die Dinge an sich einmal nicht gelten soll, so können

dieselben auch nicht als Ursachen von Veränderungen in der ErscheinungS-

welt betrachtet werde», der Wille der Dinge an sich könnte dann weder

motivirt noch wirksam sein, da er nicht wirken und die Folgen seines Wollens nicht vorausberechnen könnte.

Es erhellt grade aus diesem Ver­

mittelungsversuche mit großer Evidenz, daß jede der widerstreitenden Be­ hauptungen, für sich betrachtet, falsch und unhaltbar sei.

Falsch der Be­

griff einer Freiheit ursachloser Selbstbestimmung, unhaltbar die Scheidung

von Erscheinung und Ding an sich in dem angegebenen Sinne, wider­ spruchsvoll in sich selbst der Begriff des letzteren.

Doch die eigentliche wahre Ansicht Kantö liegt außerhalb und über diesen selbstgeschaffenen Schwierigkeiten und enthält einen bedeut­

samen Kern, welcher in der Intention wenigstens das Richtige trifft, wenn

auch die freie Ausgestaltung dieses Richtigen wiederum durch Vorurtheile

verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs beeinträchtigt wird. „Die Freiheit im praktischen Verstände" nennt er „die Un­

abhängigkeit der Willkür von der Nöthigung vurch Antriebe der Sinn­

lichkeit."

„Die menschliche Willkür ist", so

sagt er weiter „zwar ein

arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinn­

lichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt,

sich

unabhängig von der Nöthigung durch

sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen." Vernunft S. 436.)

Unter dieser

„Freiheit

(Kritik der reinen

im praktischen

wollte er jedenfalls nicht die ursachlose Selbstbestimmung

wissen,

deren Verwechselung

Verstände"

verstanden

mit dem Freiheitsbegriff ihn in all jene

Widersprüche hineinverwickelt hatte, welche er durch die Scheidung des

empirischen und intelligiblen Charakters vergeblich zu lösen suchte.

Er

verstand darunter vielmehr ein Vermögen der Spontaneität im Men­

schen, die Fähigkeit, sich nach Motiven,

die seiner eigenen Natur

angehören, selbst zum Wollen zu bestimmen, eine Freiheit der Wahl zwischen mehreren, sich dem Bewußtsein gleichzeitig darbietenden Motiven.

Er nannte den Willen in diesem praktischen Verstände dann frei, wenn

er nur durch dasjenige bestimmt werde, was der wahren Natur des Men­ schen entspricht.

Dies ist offenbar die wahre Meinung Kants, wenn er

die praktische Freiheit als „Unabhängigkeit des Willens von jedem

anderen, außer allein dem moralischen Gesetze" definirt (Kritik der reinen Vernunft S. 113), wenn er nur einen solchen Willen „sittlich"

nennt, „welcher blos durchs moralische Gesetz bestimmt wird" (III. Haupt­ stück der praktischen Vernunft S. 86).

Der Wille soll daher nach Kants

wahrer Meinung nicht ursachlos frei, sondern durch die Natur des

wahren Menschwesens bestimmt sein, wenn er praktisch frei sein soll,

denn das moralische Gesetz galt Kant als der concentrirteste Ausdruck des wahren Menschwesens.

DieS ist der bedeutsame Kern der wahren Ansicht KantS über die

menschliche Freiheit:

Praktisch frei soll nur derjenige Wille sein,

welcher durch sittliche Motive bestimmt wird, weil wir selbst autonome sittliche Wesen sind und unser wahres Wesen in­

haltlich und formell durch das bestimmt wird, was wir sollen. Der Mangel, der dieser Ansicht Kants noch anhaftet, beruht lediglich in

der mangelhaften Formulirung seines Moralprincips; fast kann man sagen, nur in der mangelhaften Bezeichnung dessen, was er als das Soll in uns begriff.

Denn Kant fühlte auch hier daS Richtige, wenn

er „Achtung fürs moralische Gesetz" als „einzige und zugleich unbezwei­ felte moralische Triebfeder"

bezeichnete.

Dieses

durch

die

Aner­

kennung des unbedingten Werths der sittlichen Gebote allein bedingte und bestimmte Gefühl bildet den wahren lebensfähigen und

leuchtenden Kern der ganzen Ansicht.

Dieses in seinem lebendigen Schooße

alle von mir im I. Abschnitt entwickelten Aufschlüsse über daS Leben und

die Welt in sich tragende Gefühl ergriff selbst in der einseitigen und und strengen Form, in welcher es bei Kant hervortritt, die Gemüther seiner Zeitgenossen mit solcher Tiefe und Gewalt, daß eS in den Seelen

unserer jugendlichen Freiheitskämpfer,

daß

es

in

dem

großen

Geiste

Schillers und aller ihm verwandter Dichter und Schriftsteller zu Heller

Begeisterung aufflammte, und die unsterblichen Producte unserer classischen

DichtungSpertode schaffen half, an welchen sich der ideale Kern unseres besseren Ich noch immer entzündet und erwärmt.

Diesem inhaltlichen Kerne der Ansicht entspricht zwar nicht der hart

und conventionell behandelte Faltenwurf des formalen theoretischen Ge­

wandes, in welches Kant ihn fast gewaltsam hineinpaßte, aber diese rauhe Form charakterisirte doch wiederum in eigenthümlicher Weise den tiefen

sittlichen Ernst der Ansicht KantS gegenüber dem platten Eudämonismus der damals alles überwuchernden rationalistischen Lebensauffassung, welcher eine Glückseligkeitslehre predigte, deren Inhalt und Gesichtskreis nicht über

das Niveau deS sinnlichen Wohlbehagens hinausging.

Dieser niedrigen

Lebensauffassung wollte Kant entgegentreten, indem er „Ach­ tung

fürs

schielenden

moralische Hinblicke

Gesetz"

verlangte,

welche

von

allem

auf jene niedere Art von Glückseligkeit

frei sein und auf eigenen Füßen stehen, durch den Eindruck

ihrer eigenen inneren Majestät und Würde imponiren sollte. Lediglich dieses damals vollberechtigte Streben, in Verein allerdings

mit einer unberechtigten, nur durch daS schon gerügte Vorurtheil der Uner­ kennbarkeit des eigenen Ich zu erklärenden Unterschätzung und Nichtbeachtung

dessen, was wir unmittelbar im Gefühl und Willen erleben, drängte ihn

8

Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit

zur Aufstellung eines Moralprincips, welches uns in seiner ursprünglichen

Form jetzt als unzulänglich, ja fast als Caricatur erscheinen muß.

Der

theoretische Grundgedanke dieses Moralprincips des kategorischen Im­

perativ ist die völlige Scheidung von Moralität und Glückselig­ keit.

Hätte Kant sich nicht das Verständniß des Unmittelbaren principiell

veochlossen, so hätte er durch Verdeutlichung dessen, was in dem Gefühle

der Achtung fürs Sittengesetz, was im kategorischen Imperativ des Ge­ wissens unmittelbar offenbart wird, die Ueberzeugung gewinnen müssen,

daß jene Achtung nur allein im Gefühle des unbedingten Werthes dessen, was wir sollen, bestehen könne, daß jenes Gefühl der Achtung selbst eine Glückseligkeit in höchster Potenz bedeute, daß die verbindliche Kraft des Soll

nur in dem Bewußtsein des unbedingten

Werthes des Ziels unserer sittlichen Bestimmung

bestehen könne, daß

Moralität und Glückseligkeit in diesem höheren und höchsten Sinne nicht

Gegensätze, sondern Correlate seien, die sich gegenseitig bedingen und daß man das Wesen der ersteren zerstört, wenn man dem Ziele der sittlichen Bestimmung jeden fühlbaren und erlebbaren Werth abspricht.

Die bloße

„Form einer allgemeinen Gesetzgebung" bezeichnet etwas rein Thatsäch­

liches, wenn man von allem Werthe dessen absieht, was dadurch erreicht werden soll, und die Herstellung eines rein thatsächlichen Zustandes

ohne eigenen inneren Werth enthält keine verbindliche Kraft, ja ist ganz

ungeeignet den Willen

zu motiviren,

als Princip

der Moral jemals

praktische Wirksamkeit zu erlangen.

Kant hat die Unzulänglichkeit des kategorischen Imperativ in der von

ihm aufgestellten Form selbst eingesehen; er hat klar und deutlich einge­ sehen, daß das sittliche Handeln doch endlich zu einem Zustande der Glück­

seligkeit führen müsse, wenn es verbindliche Kraft haben solle.

Er hat

deßhalb die principiell ausgeschlossene Idee der Glückseligkeit auf einem künstlichen Umwege durch die Aufstellung der Postulate der praktischen

Vernunft wieder damit zu vereinigen gesucht.

Dieser Umweg

ist der

schwächste Weg, den Kant überhaupt eingeschlagen hat; er ist eigentlich nur ein Versuch, die Widersprüche, Risse und Lücken seines theoretischen

Moralprincips durch Lehnsätze aus den herrschenden unzulänglichen sitt­

lichen und religiösen Vorstellungen seiner Zeit in einer Weise praktisch

zu überkleistern, welche mit dem principiell vorgezeichnetem Wege nicht vereinbar ist.

Er versucht hier von Außen her, aus der trivialen ra-

tionalistisch-eudämonistischen Lebensauffassung seiner Zeit, künstlich in das

Sittengesetz wieder hineinzuinterpretiren, was in viel höherer und edlerer Gestalt im Gefühle das Soll bereits enthalten ist, und was er zuvor durch eine theoretisch

unzulängliche Formulirung

seines Moralprincips

auS diesem in dem Bestreben entfernt Hütte, jene triviale Glückseligkeit von demselben auszuscheiden.

Trotz aller dieser Mängel und Einseitigkeiten dürfen wir aber nicht vergessen, was ich noch einmal ausdrücklich hervorhebe:

Kant fühlte

daS Richtige richtig heraus und irrte nur in der theoretischen Formulirung dieses seines richtig herausgefühlten Princips. Er irrte, indem er mit überkommenen Vorurtheilen und Einseitigkeiten

rang, die noch zu mächtig waren, um vollständig von ihm überwunden werden zu können;

er irrte in dem kerngesunden und

vollberechtigten

Streben, vor Allem die Einseitigkeiten deS rationalistischen Eudämonismus seiner Zeit zu überwinden.

Er wollte dieser falschen Glückseligkeitstheorie

gegenüber die Moral auf eigene Füße stellen und fand den lebendigen

Boden der unmittelbaren Lebenserfahrung,

auf dem

die Moral allein

stehen und gedeihen kann, durch ein verhängnißvolles Vorurtheil über­

wuchert, durch das Vorurtheil der Unerkennbarkeit des eigenen Ich.

Er

bezeichnete jedoch die Stelle, wo die Moral allein stehen kann und muß, mit einer überzeugungskräftigen Sicherheit und Bestimmtheit, welche von

seinen Zeitgenossen

und von der Nachwelt verstanden wurde

und ihre

segensreichen Wirkungen nach allen Seiten hin entfaltete. Nur das Nachgraben und Ausbauen des durch

das „Gefühl der

Achtung fürs Sittengesctz" bezeichneten Bodens überließ er seinen glück­ licheren Nachfolgern, und es ist aufrichtig zu beklagen, daß man jetzt, wo „Zurückgehen auf Kant" das allgemeine Feldgeschrei im Lager der Philo­

sophen

ist, und

das Interesse an den Schriften Kants in ungeahnter

Weise wieder lebendig wird, doch jenen großen Grundgedanken des Alt­ meisters meist unbeachtet läßt und sich statt dessen mit der steten Neuüber­

legung seiner Irrwege begnügt, daß man ihn gar, wie Eduard von Hart­ mann

es

that,

zum Pessimisten

stempeln

möchte

und dadurch sein

ehrwürdiges Bild in den Staub zieht, um für die eigenen. Irrlehren

Propaganda zu machen*). Fassen wir das Gesagte zusammen, so hat Kant zwar insofern geirrt, als er einen Widerstreit zwischen der Freiheit und dem Causalgesetz vorauSsetzte und diesen Widerstreit durch die Annahme

eines intelligiblen

und eines empirischen Charakters im Menschen zu lösen suchte.

Er hat

*) Dies geschah meines Wissens zuerst in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Im neuen Reich" (Jahrgang 1879 Nr. 35) sodann in „Unsere Zeit" (Jahrgang 1880 3. Heft), welcher letztere Aufsatz dann in dein Buche „Zur Geschichte und Begrüuduug des Pessimismus", Berlin, Carl Duncker 1880, noch einmal abgedruckt ist. Ich ver­ weise zur Beleuchtung dieser Versuche auf meinen Protest in den „Preußischen Jahrbüchern" Bd. XLIV S. 602 sqq. und meine Abhandlungen Bd. XLIII Heft 4 S. 375 sqq. und XLVI S. 380 sqq. daselbst.

jedoch davon abgesehen daS Wesen „der Freiheit an sich richtig und zu­ treffend als das Vermögen des Menschen bezeichnet, sich allein durch das

Sittengesetz zum Wollen selbst zu bestimmen.

gesetz theoretisch unzulänglich formulirt,

Er hat zwar dieses Sitten­

meinte und

fühlte aber

daS

Richtige, indem er die „Achtung fürs moralische Gesetz" als einzige und

wahre Triebfeder des sittlichen Handelns gewürdigt wissen wollte.

Auf einem Mißverständnisse deS wahren Wesens der Freiheit beruht endlich auch der oft gehörte Einwand, daß durch eine unbeschränkte Freiheit des Wollens alle Ordnung der Dinge und das Ziel

der ganzen Weltentwickelung gefährdet werde. Dieser Einwand könnte nur dann ernstlich in Frage kommen, wenn

1) der

unbeschränkten Freiheit des Wollens

in uns zugleich eine

schrankenlose Macht des Vollbringens zur Seite stände, und zugleich 2) unsere Freiheit entweder eine unbedingte wäre, oder unser Wollen

durch extramundane Ursachen bewegt werden könnte. Beide Umstände treffen nicht zu. Eng begrenzt wie unser Gesichtskreis sind auch die Mittel, welche

unS vermöge unserer körperlichen und geistigen Organisation zu Gebote stehen, verändernd in den Lauf der Dinge einzugreifen.

verschwindend klein

Sie sind nahezu

im Verhältniß

zur Gesammtheit alles Geschehens.

Frei ist doch nur der innere Wille.

Die Mittel, durch welche wir unsere

Willensentschließungen verwirklichen, geben der Freiheit dieser nicht mehr Spielraum des Erfolges, als die unverrückbare Ordnung der Dinge nach

eigenem Rechte ihr zugesteht (Mikrokosmus Bd. I S. 280), denn jeder

Willensentschluß, der als Wirkung hervortritt, tritt damit in den Kreis

der berechenbaren, den allgemeinen Naturgesetzen unterworfenen Ereignisse ein, welche alles Geschehen beherrschen.

Der Hauptgesichtspunkt für die

Beseitigung dieses Einwandes ist aber, daß unser Wille selbst, unsere

ganze Natur mit allen Antrieben und Neigungen, welche zum Wollen an­ reizen und ihm die Richtung bestimmen können, mit zu dem Ganzen der Welt gehören und daher, wenn diese überhaupt einen vernünftigen

Zusammenhang hat, auch ihrer inneren Veranlagung nach, unter Hinblick auf alle denkbaren Eventualitäten und Abschweifungen von der inneren

Norm ihrer normalen Bestimmung, mit Rücksicht auf daS einheitliche Ziel

des gejammten Weltprocesses veranlagt fein werden.

Die Besorgniß, auf welcher jener Einwand beruht, kann daher nie­ mals Grund haben, sobald eS überhaupt eine Ordnung der Dinge und

ein einheitliches Ziel der Weltentwickelung giebt, deren Störung

durch die Eingriffe der freien Willensentschließungen befürchtet, nothwendigen Grenzen,

innerhalb

deren solche Eingriffe sich

man

da die

bewegen

können, in jener Ordnung von Anfang an mit einbegriffen gedacht werden müßten, wenn der Begriff der Ordnung vollständig gedacht wird.

Der ganze Einwand kann daher nur unter der zweiten Voraussetzung

überhaupt Sinn haben, daß der Wille unbedingt frei, daß er überhaupt durch gar nichts, also auch nicht durch innerhalb jener Ordnung belegene

Motive, oder, daß er durch solche Motive bestimmt werden könne, welche außerhalb jener Ordnung belegen seien.

Im letzteren Falle aber wäre

wiederum der Gedanke der Ordnung unvollständig gedacht, weil Motive hhpostasirt werden, welche außer ihr belegen, doch in den gesetzlichen Zu­ sammenhang des Ganzen auf unberechenbare, ungesetzliche Weise eingreifen

Im ersteren Falle wäre der Begriff der Freiheit wieder mit

könnten.

dem längst widerlegten Ungedanken verwechselt.

selbst,

einer ursachlosen Selbstbestimmung

Auch dieser Einwand ist mithin hinfällig und widerlegt sich

da seine eigenen Voraussetzungen die Besorgniß

welche er gegründet ist.

aufheben, auf

Die Thatsache der Freiheit widerspricht nicht

einer allgemeinen Ordnung der Dinge; sie würde sogar als sittliche Frei­

heit, wie ich oben schon ausgeführt 'habe, jener Ordnung als einer noth­

wendigen Voraussetzung ihrer selbst gar nicht entbehren können, da ohne Voraussicht und Berechenbarkeit seiner Folgen das sittliche Handeln seinen Zweck verfehlen müßte.

Die zweite Art von Einwendungen gegen das Vorhandensein der

Freiheit

entsteht aus

einer Verkennung

dessen,

waS wir that­

sächlich in uns erleben, indem wir wollen.

Erinnern wir uns der Schwierigkeiten,

welche dem gesonderten

Bewußtwerden der Elementarereignisse deS geistigen Lebens ent­ gegenstanden, nachdem diese

bereits

vor Beginn alles

philosophischen

Nachdenkens unter Anleitung der praktischen Bedürfnisse des Lebens sich

zu

einer

vielgestaltigen Welt

fertiger Dinge und

Ereignisse entfaltet

hatten, in denen die ursprünglichen Elemente ihrer Entstehung nicht mehr

deutlich erkennbar sind, so kann eS uns nicht wundern, daß auch die Vor­ stellungen über Wesen und Bedeutung der menschlichen Freiheit, welche

mit zu jenen Elementarerlebnissen gehört, nur sehr langsam zu größerer

Klarheit und Vollständigkeit gelangten, und fast so vielgestaltig und wech­

selnd sind, als die letzten metaphysischen Voraussetzungen über das Wesen und die Natur der letzten Elemente des Wirklichen überhaupt.

Jedenfalls

stehen dieselben mit diesen letzteren stets im engste» Zusammenhänge.

Eine vollständige Prüfung der Einwendungen, welche jemals auf Grund unzulänglicher Würdigung

der unmittelbar

gegebenen Lebenswirklichkeit

gegen Bedeutung und Vorhandensein der menschlichen Freiheit erhoben sind, würde daher nichts weniger bedeuten,

als eine nach bestimmter

Richtung hin unternommene Kritik der Geschichte der gesammten Philo­

sophie. Ein so ausführliches Unternehmen liegt außerhalb des Zwecks dieser

Arbeit, welcher ein wesentlich praktischer, und deßhalb nur darauf gerichtet ist, diejenigen Einwendungen zu beleuchten,

welche zur Zeit noch

geeignet erscheinen, unsere Einsicht in das Wesen und die Bedeutung der Freiheit zu verwirren.

Die älteren Einwendungen dieser Art beruhen fast ausnahmslos darauf, daß die metaphysischen Grundbegriffe, von denen die vorkanti-

schen Systeme ausgingen, sich nur auf die phänomenale Seite und die

formalen Verhältnisse des Geschehens bezogen, nicht direct auf den leben­ digen Quell unmittelbarer Lebenswirklichkeit, der die ganze unseren Vor­

stellungskreis erfüllende Welt

trieben

hat.

Erst

durch

der Dinge und Ereignisse erst hervorge­

das

Reformwerk

Kant's

wurde das

Nachdenken und die Untersuchung auf diesen lebendigen Quell

unserer Vorstellungswelt gerichtet und dadurch zu einer sach­ gemäßen

Formirung

der

rechte Handhabe geboten.

metaphysischen

Grundbegriffe

die

Damit trat auch die Frage nach Wesen

nnd Bedeutung der menschlichen Freiheit in ein ganz neues Stadium, in das Stadium, in welchem wir gegenwärtig stehen und dessen Betrachtung

daher für uns weit bedeutungsvoller ist als die Prüfung der vorkamischen

Freiheitsbegriffe, von welcher ich mit Rücksicht auf den praktischen Zweck meiner Arbeit um so mehr absehen zu dürfen glaube, als dieselbe noth­

wendig ein tieferes Eingehen auf die begleitenden metaphysischen Vor­ stellungen erfordern, und doch in der Hauptsache nur noch von historischem

Interesse sein würde. Aber auch die nachkantische Philosophie hat sich bekanntlich sehr bald von der durch Kant

eingeleiteten Richtung auf das Unmittelbare

abgewendet und sich in reine Begriffsentwickelungen verirrt, welche, das

von Kant inaugurirte Stadium der Entwickelung des Problems der mensch­ lichen Freiheit wiederum verlassen, und daher jetzt gleichfalls nur noch

ein rein theoretisches Interesse beanspruchen können.

Auf diesem Boden

der reinen Begriffs -Speculation stehen die Systeme Fichte's, Heg el'S und Schelling'S.

Wir können dieselben von unserem praktischen Ge­

sichtspunkte aus um so unbedenklicher bei Seite liegen lassen, als der Begeisterung, mit welcher sie bei ihrem Entstehen begrüßt wurden, bald

eine sehr erklärliche und vollkommen gerechtfertigte Ernüchterung folgte, so daß das Interesse für dieselben jetzt eigentlich nur noch innerhalb der

philosophischen Schulen lebendig ist.

Bedeutender zwar sind die Unter­

suchungen Herbart's, aber sie beziehen sich nicht direct auf unser Problem,

und

waren

für -sich zu

in ihrer ursprünglichen Gestalt

abstract, um

dauernden Boden im Interesse der gegenwärtigen Menschheit gewinnen

zu können.

Dasjenige, was sie an bleibendem Werth enthalten, hat sein

großer Schüler Lotze freier und lebenskräftiger ausgestaltet.

Erst Lotze

war eS, wie ich im ersten Abschnitt entwickelte, Vorbehalten, die durch das Reformwerk des Kriticismus eingeleitete neue, fruchtbare und lebensfähige

Richtung des philosophischen Forschens glücklicher auszubeuten, als es dem

Urheber dieser Richtung gelingen sollte.

Erst er hat uns das wahre Ver­

ständniß des Unmittelbaren eröffnet und jenes Reformwerk zu einem ge­

deihlichen Abschluß gebracht*).

Erst durch Lotze wurde daher jenes neue durch Kant inau-

gurirte Stadium der Entwickelung des Problems der mensch­ lichen Freiheit nach allen Richtungen hin beleuchtet und be­

festigt, erst durch ihn haben wir das volle Verständniß dessen erlangt, was Freiheit ist und bedeutet.

Neben ihm, doch ihm nicht ebenbürtig, erfreue» sich jetzt fast nur die Lehren Schopenhauers und Eduard von Hartmann's einer größeren

Popularität und Verbreitung.

Die Einwendungen dieser beiden absonder­

lichen Philosophen sollen daher ausführlicher und eingehender beleuchtet

werden. Bevor ich jedoch dazu übergehe, muß ich noch eine Reihe anderer Einwendungen gegen das Vorhandensein und die Bedeutung der Freiheit

erwähnen, welche nicht auf dem Boden strenger philosophischer Forschung, sondern auf Grund empirischer, durch die neuere Naturforschung dem all­

gemeinen Interesse

nahe gerückter Thatsachen und auf Grund gewisser

einseitiger Doctrinen erhoben sind, welche durch jene Thatsachen ins Leben gerufen wurden.

Es sind das insbesondere die Einwendungen des Ma­

terialismus, welcher das geistige Leben unserer Nation leider immer

noch in sehr bedenklicher Weise beeinflußt. Der Aufschwung, welchen die Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten genommen

haben,

steht in

seiner Weise

ganz einzig da.

Unsere Kenntniß der Natur ist dadurch nach allen Richtungen hin so be­

deutend erweitert, die Herrschaft des Menschen über dieselbe ist durch diese erweiterte Einsicht in so stauncnswerthem Maße gewachsen, alle Zweige der Technik und Jndlistrie sind dadurch so sehr gefördert und entwickelt,

*) Ich verweise die mit der Lotze'schen Philosophie weniger vertrauten Leser auf einige Abhandlungen in den Preußischen Jahrbüchern (Band XXXVI S. 283—308, 422—442, 469—489 und Band XLVII S. 177—195), worin ich eine übersicht­ liche und allgemeinverständliche Darstellung der Lehren Lotze's zu geben versucht habe.

daß unser ganzes Leben in allen durch diese Fortschritte berührten Be­

ziehungen sich ganz neu gestaltet hat.

Nichts liegt näher, als daß man

von den Naturwissenschaften auch Aufklärungen über die wichtigsten Fragen deS geistigen Lebens erwartete, und in der That haben diese Erwar­

tungen sich nach vielen Richtungen hin als vollberechtigt erwiesen. Der allgemeine Causalzusammenhang deS Geschehens, bis

dahin nur eine Forderung der Vernunft,

Lebens vielfach zu widersprechen schien,

welcher der Augenschein deS

erhielt durch die fortschreitende

Kenntniß der Naturgesetze eine ungeahnte erfreuliche practische Bestätigung.

Dies geschah insbesondere durch die Einsicht, daß auch alle Processe des organischen Lebens durch Kraftwirkungen derselben Art und derselben

Stoffe, wenn auch in complicirterer Form und Gruppirung, erklärt wer­ den konnten, welche das unorganische Geschehen bedingen, daß auch jene Processe nach constanten Gesetzen verlaufen, welche sich in den Complex

der allgemeinen Naturgesetze systematisch eingliedern lassen.

Es fielen

damit die dem allgemeinen Cansalzusammenhange widerstreitenden Hypo­

thesen einer in ihren Wirkungen unberechenbaren Lebenskraft, es siel der Glaube an Wunderwirkungen und Zauberet aller Art,

welcher in der

Weltansicht früherer Zeiten eine so große und verderbliche Rolle spielte. Eine lichte kühle Klarheit verbreitete sich damit über alle der menschlichen Wahrnehmung und dem menschlichen Nachdenken überhaupt erreichbaren Gebiete.

ES verbreitete sich diese Klarheit nicht blos in den Köpfen der

Philosophen,

sondern auch in der Auffassung der

Masse des großen

Publikums, sie breitete sich zu einer Hellen Atmosphäre aus, die ein ge­

meinsames Medium des Verständnisses für alle wurde, in der alle lebten und athmeten;

es wurde ein Bedürfniß aller,

die hergebrachten Vor­

stellungen über Gott und Welt mit dieser dem allgemeinen Bewußtsein nahe gerückten Thatsache in Einklang zu bringen.

Die Wichtigkeit dieses

Umstandes kann nicht hoch genug veranschlagt werden.

Die allgemeine

Anerkennung einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit in den Zu­ sammenhängen alles Geschehens bildet einen charakteristischen

Grundzug der gesammten modernen Bildung, der die eigen­ thümlichen Vorzüge und Mängel derselben in Vergleich mit

denjenigen der früheren Zeiten wesentlich mit bedingt.

Die

Anerkennung solcher Gesetzmäßigkeit schuf für alle Provinzen deS Lebens ein gemeinsames Recht, eine feste Ordnung; sie läuterte die althergebrachten

Vorstellungen

und Begriffe, in denen das

menschliche Nachdenken die

Hauptinhalte seines Gesichtskreises zusammenzufassen gewohnt war, von

dem abenteuerlichen und phantastischen Beiwerk, welches ihnen die Naivetät und der Unverstand früherer Zeitalter angeheftet hatten; sie brachte eine

unabweisbare Anforderung der Vernunft an

all diesen Inhalten zur

Geltung und gab jenen Begriffen und allen Richtungen des menschlichen Nachdenkens einen festen inneren Halt, einen Charakter strenger Ordnung

und Wissenschaftlichkeit.

ES steigerte sich dadurch überhaupt das Ansehen

der Wissenschaft im Allgemeinen; deren Bedeutung für die höchsten In­ halte deS Lebens, für die Entwickelung der sittlichen und religiösen Vor­ stellungen kam immer mehr zur Geltung; immer mehr dringt die Ueber­

zeugung durch, daß auch jene höchsten Inhalte deS Lebens nur auf der unabänderlich

konsequenten Grundlage

einer allgemeinen Gesetzlichkeit,

welche daS Unberechenbare und Zufällige ausschließt, eine sichere Garantie

ihres Bestandes gewinnen können. Doch nicht blos das.

Auch die thatsächliche Erweiterung un­

seres erfahrungsmäßigen Wissens klärte nach allen Richtungen hin und

erweiterte den Horizont für die geistige Umschau, sie hob unsere ganze

geistige Existenz um einige Stufen höher, daß wir nun die nächsten Um­ gebungen freier

überschauen können.

Es bedürfte

einer lang auSge-

sponnenen Schilderung, wollte ich auch nur die wichtigsten Momente jener Erweiterung unseres Wissens andeutungsweise berühren.

Ich verzichte

darauf, weil die Thatsachen für sich selbst sprechen und überdies jedermann

hinreichend bekannt sind.

Es bleibt zwar immer nur

ein beschränkter

Ausschnitt des Ganzen der Weltwirklichkeit, welcher unserer Wahrnehmung in beschränkter Weise erreichbar ist, aber fast nach allen Seiten hin finden

wir in den Verhältnissen dieses beschränkten Ausschnitts die Linien vor­ gezeichnet, in denen unser Nachdenken die Fortsetzung des Wahrgenommenen

zu ergänzen hat.

Erwägen wir ferner, daß der systematische Zusammenschluß

dieser

Fortsetzungslinien des empirisch Wahrgenommenen immer nur durch die Offenbarungen der Vernunft über Sinn und Bedeutung des ganzen Welt­

processes bewirkt werden kann, so hat auch nach dieser Richtung hin die Naturforschung durch Verdeutlichung des gesetzlichen Zusammenhanges der

leiblichen und geistigen Functionen des Lebens das Verständniß der gegen­

seitigen Verhältnisse dieser beiden Wissensgebiete nicht unerheblich geklärt

und dadurch das Ziel des philosophischen Erkennens wesentlich gefördert. Der Naturwissenschaft endlich verdanken wir den neuen Geist und

die neuen Dkethoden der Untersuchung, welche jetzt alle übrigen Wissen­ schaften beleben und auch der Philosophie erst die rechte praktische Hand­

habe bieten.

„Es sind die vielfältigen VerfahrungSweisen der Induktion,

die Kunstgriffe des Experiments, der fruchtbare Scharfsinn der Wahr­

scheinlichkeitsrechnung, welche diesen Schatz einer erfinderischen und werkthätigen Erkenntnißkunst ausbildeten, welche der energische prometheische

16

Ueber das Wesen uiib die Bedeutung der menschlichen Freiheit

Geist der neuen Zeit der nicht minder bewundernswerthen Schöpfung der antiken Logik hinzugefügt hat*)." Alles dieses sind höchst bedeutsame, durch den Fortschritt der neueren

Naturforschung angeregte Momente des Wissens und Forschens, welche zur Aufklärung der wichtigsten Lebensfragen erheblich mitgewirkt haben. Aber das Bild hat auch eine Kehrseite, welche weniger anerkannt, aber dem schärfer blickenden Auge nicht minder offenbar ist und auf das mo­ derne Leben, insbesondere auf die Würdigung und das Verständniß jener

höchsten Lebensinhalte ihre schweren Schatten geworfen hat.

Man pflegt, wenn von dieser Kehrseite die Rede ist, in erster Linie den Umstand hervorzuheben, daß das Gesammtinteresse und das Interesse

der Einzelnen sich jetzt vorwiegend und fast ausschließlich auf die durch die neu eröffneten Sphären deö Erkennens und Wirkens erschlossenen und unmittelbar geförderten Gebiete concentriren, daß Naturwissenschaft,

Industrie und Technik fast alle Kräfte absorbiren und dadurch

die

Aufmerksamkeit

höheren Ziele und lähmt würden.

und

die

Begeisterung

Ideale des

Lebens

für

die

unterdrückt

wahren

und

ge­

Wäre letzteres der Fall, so wäre es allerdings zu be­

klagen, aber ich glaube nicht, daß dieser Vorwurf im Ganzen gerecht ist. Blicken wir auf die geschichtliche Entwickelung

des Menschengeschlechts

zurück, so treffen wir oft auf Zeiten, in denen einzelne Interessen, sei es religiöser, sei es politischer, sei es künstlerischer, sei eS merkantiler oder industrieller Art, ganze Nationen, ja die ganze Menschheit vorwiegend in

Bewegung setzten und die Hauptarbeit und das Hauptnachdenken auf sich

couceutrirten.

Dies Vorwiegen eines besonderen Lebensinteresse bedeutet

an sich noch keine Einseitigkeit, und wenn wir genauer zusehen, so werden

wir finden, daß jene durch ein besonderes hervorragendes Specialinteresse charakterisirten Perioden meist geistig regsamer und für das Ziel der ge-

sammten Culturentwickelung fruchtbarer waren als Zeiten, wo solches nicht der Fall war. Ich erinnere beispielsweise in Betreff der Rechtsentwickelung und in Betreff der Entwickelung des politischen Lebens an die Blüthezeit

der Römischen Republik, in Betreff der religiösen Entwickelung an die

Zeiten Kaiser Constantin's, in Betreff der Kunstentwickelung an die Zeit

der Renaissance in Italien.

Diese Wahrnehmungen im Gesammtleben

der Völker entsprechen auch ganz analogen Erscheinungen des individuelle»

Lebens, welche jeder an sich selbst beobachten kann.

Die lebhafte Er­

weckung eines Specialinteresses pflegt die Lebenskraft und Lebensfrische

überhaupt zu stärken und dadurch auch alle übrigen LebenSinteresscn in*) Lotze, Mikrokosmus.

Bd. III S. 227.

direct zu fördern,

ohne dieselben zurückzudrängen und zu überwuchern.

Ganz ähnlich haben gewisse Interessen,

welche ganze Völkerschaften zu

fesseln vermochten, auch die Regsamkeit des Lebens überhaupt gesteigert und die geistige Thätigkeit nach allen Richtungen hin gefördert.

Dasselbe

sollte man billigerweise von den das Hauptinteresse jetzt auf sich concentrirenden Erfolgen der neueren Naturforschung erwarten.

In der That ist es gar nicht das gesteigerte Interesse an diesen Er­ folgen, was die jetzt allerdings vielfach beobachtete Vernachlässigung der wahren Ziele und Ideale des Lebens

bewirkt hat,

es

ist vielmehr

ganz allein der Mißbrauch, den man mit jenen Erfolgen ge­

trieben hat, die einseitige Behandlung, welche man ihnen an­ gedeihen ließ.

Nicht die durch die Vervollkommnung der Mittel zum

Leben gesteigerte äußere Behaglichkeit deS Daseins an sich, sondern nur

die Ueberschätzung dieses

äußerlichen, sinnlichen Wohlbehagens

dunkelte jene höheren Ziele.

ver­

Nicht die Erweiterung der Naturkenntniß

an sich und die vervollkommnete Einsicht in die Geltung des allgemeinen

Causatzusammenhanges an sich verwirrte unsere Weltansicht und schädigte

dadurch das Verständniß jener wahren Ziele des Lebens; man verdarb sich dieses Verständniß allein dadurch, daß man den Mechanismus, der nur

als Mittel zu den inhaltvollen Zielen des

Lebens

Sinn und Berechtigung hat, als Selbstzweck hinstellte und alle

inhaltvolle Regsamkeit des Lebendigen blos als einen leeren Schein be­ trachtete,

der

durch das rein mechanische Geschehen auf unbegreifliche

Weise hervorgetrieben sei.

Jene Ueberschätzung der materiellen Güter deS

Lebens in Verein mit diesen theoretischen Einseitigkeiten verdarb nicht nur, waS wir der Naturforschung Gutes und Nützliches verdanken, sondern

richtete sich gradezli zerstörend gegen alle gesunde Auffassung des Wirk­

lichen, gegen die Grundlagen aller Moral, aller Religion, alles Rechts und aller staatlichen Ordnung.

Ihren concentrirtesten Ausdruck finden jene Irrlehren in der Weltansicht des modernen Materialismus.

Die Vorstellungsweise, welcher die Grundgedanken des Materialismus entstammen, ist naheliegend und alt, eS ist die kritiklose Auffassung deS

gewöhnlichen Lebens, nach welcher die Bilder, in welche wir die sinnlichen

Empfindungen zusammenfassen,

unmittelbar als selbständige Dinge be­

trachtet werden, als die letzten soliden Bausteine aller Weltwirklichkeit. Richtet man seinen Blick stets nur auf diese Dinge, welche unser Leben

wie ein festes Bette zusammenzuhalten scheinen, und läßt daS Leben selbst, welches in Wahrheit die Vorstellungen jener Dinge erst

hervorbringt,

ganz unbeachtet, so kommt man leicht auf den Einfall, daß die ganze Welt Preußische Jahrbücher. Bd.XI.IX. Hefti.

2

aus einfachen Theilen der uns so plastisch entgegentretenden Dinge zu­

sammengesetzt fei, daß alles Geschehen in der Welt sich auf Bewegungen einfacher CorpuSkeln derselben Art und Beschaffenheit wie die wahrge­ nommenen Dinge zurückführen lasse.

In diesem Einfalle concentrirte sich

von jeher die Hefe der Trivialität eines von allen höheren Gesichtspunkten

abstrahirenden Nachdenkens. des Demokrit.

Wir begegnen ihm schon in der Atomenlehre

Es ist derselbe Einfall, der uns jetzt in der Weltansicht

des Materialismus, wenn auch in etwas veränderter Gestalt, wieder ent­ gegentritt.

Atome,

Der Grundgedanke des Materialismus ist, daß die

d. h.

Ausgangspunkte

anziehender

und

abstoßender

Kräfte, welche die Phhfik zur Erklärung gewisser Kreise sinn­ licher Erscheinungen hhpostasirt, in dxr That auch als solche

an sich wirklich, daß sie das einzige Wirkliche seien, aus dem alle Erscheinungen

und

Lebensäußerungen

auch

des Leben­

digen erklärt werden müßten.

Daß dieser triviale Einfall, der wie gesagt nicht einmal neu war, sondern nur eine alte Vorstellung im neuen Gewände vorführte, dennoch

zündend wie ein Blitz in die Geistesnacht der großen Menge einschlu.g und dort das Strohfeuer einer weithin scheinenden und immer noch nach­ glimmenden Begeisterung entflammen konnte, ist nur dadurch erklärlich,

daß man hier seit lange keine edleren und

eingescheuert, daß man vielmehr

gediegeneren Früchte mehr

seinen Gesichtskreis

ausschließlich mit

sinnlichen Erscheinungen erfüllt hatte, als gäbe es nichts weiter in der Welt als diese, als bestehe die ganze Welt aus Kraftwirkung und Materie.

Dazu kam der imponirende Eindruck jener allgemeinen Gesetzlichkeit, der,

wenn auch unerklärlich in seiner Entstehung, doch Ordnung in die unab­ sehbare Vielheit der Erscheinungen brachte und dem Ganzen dieser Bor­

stellungsweise gewissermaßen

eine Art moralischen Halts gab.

Dieser

Gedanke eines universellen Mechanismus bildet denn in der That auch

den Schwerpunkt des modernen Materialismus, dem dieser hauptsächlich

seine Erfolge verdankt.

Die Werthschätzung des Mechanismus steigerte

sich bis zu dem Glauben, als erschöpfe sich darin, in dem bloßem

Gelten jener Gesetzlichkeit, schon die Bedeutung des gesammtem Weltinhalts.

„Gottheiten und Wesenheiten sollen", nach dem Aus­

sprüche Comte'S, „durch Gesetze ersetzt werden".

Man verlor über dew

Bewunderung der Form das Verständniß für die Bedeutung der Inhalte!, der unmittelbaren, lebendigen Werthe, zu deren Realisirung jene nur das

Mittel sein kann.

Indem man sich gleichzeitig von den idealen Gesichts--

punkten, den wahren Zielen alles Lebens, abwandte, eoneentrirte sich daS

Interesse immer mehr auf dasjenige Gebiet, innerhalb dessen jene Gesetz -

lichkeit in klaren und bestimmten Zügen am deutlichsten und anschaulichsten offenbar wurde, auf die sinnlichen Erscheinungen, deren Verhältnisse der

Beobachtung,

der genauen Rechnung und Maßbestimmung unmittelbar

zugänglich sind.

Diese betrachtete man eben deßhalb in einseitiger Ver­

blendung als daS allein Wesenhafte und Wirkliche, aus dem man alle

übrigen Lebensinhalte wie einen wesenlosen Schein ableiten zu können

meinte.

Die Naturwissenschaft, welche sich mit den Verhältnissen der sinn­

lichen Erscheinungen beschäftigte, erschien als die Wissenschaft der Wissen­

schaften.

Ihre Lehren

verehrte man wie Orakel.

Die Aufklärungen,

welche sie gab, erschienen wie eine höhere Art von Weisheit, wie Offen­

barungen der thatsächlichen Natur der Dinge, gegen welche alle Speculation, alle Anforderungen des Gemüths machtlos seien.

Von hier aus

erhielt jener falsche Glaube seinen Ursprung und seine beständige Nahrung.

Das Ansehen der Naturwissenschaft übertrug sich auf die neue Weltansicht,

welche eine leichte und einfache Lösung des Welträthsels darzubielen schien.

Die den höheren Interessen des Lebens entfremdete, wenn nicht gar wegen der größeren Pflichten, welche sie auferlegen, abgeneigte geistige Mittel­ mäßigkeit fühlte sich wohl in einer Weltanschauung, welche das Bestehende

in seiner thatsächlichen Geltung als sicher fundirt, und behaglichen Genuß als einzig vernünftiges Ziel alles Daseins erscheinen ließ.

Das allge­

meine Vorurtheil, welches die sinnlichen Bilder und Vorstellungen als handgreifliche Realitäten aufzufassen gestattet, verlieh ihr einen Nimbus

von Unfehlbarkeit.

Alle diese Momente wirkten zlisammen, dem neuen

Glauben eine ungemein rasche und ausgedehnte Verbreitung zu verschaffen. In dem rein phänomenalen Gesichtskreise dieser materia­

listischen Weltansicht findet selbstverständlich auch der Begriff

der Freiheit keine Stelle. Der hervorstechende Charakterzug dieser neuen Weltansicht ist eben

die Anerkennung der ausschließlichen Geltung des Mechanismus.

Dieser

ist hier nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck, er ist nicht Form

eines sich verwirklichenden Inhalts, sondern seine angeblich ausschließliche Bedeutung absorbirt die inhaltlichen Momente des Geschehens, sie erdrückt alle Eigenartigkeit und allen Eigenwerth des Lebendigen, sie löst alles

Leben auf in mechanisches Geschehen und zerstört damit alle Inhalte des Lebens, welche nur im Fürsichsein, in jener Eigenartigkeit des Lebendigen existent werden können.

Der Materialismus

kennt keine Inhalte und

keine Werthe, weil er die specifische Natur des Lebendigen verneint.

Nur

die Regelmäßigkeit in der Erscheinung des Lebendigen erscheint

ihm

beachtenswerth.

Aus deb Erscheinungswelt entsprungen, kennt er nichts

als Verhältnisse der Erscheinungen.

Er hält die Erscheinungen für das 2*

Ursprüngliche, und sucht die lebendige Wirklichkeit dessen, was wir un­ mittelbar erleben, als ein beiläufiges Nebenprodukt aus den Bildern der Erscheinungswelt abzuleiten. Durch diese völlige Umkehrung des wahren Sachverhalts verschließt sich der Materialismus den Offenbarungen dessen, waS jenem lebendigen Quell unmittelbarer Lebenswirklichkeit entströmt. Zu diesen lebendigen Offenbarungen des Wirklichen gehört, wie wir ge­ sehen haben, vor allem der freie Wille. Im Wollen grade äußert sich jene Eigenartigkeit des Lebendigen, welche der Materialismus verkennt, weil daS ursprünglich Wirkliche außerhalb seines Gesichtskreises liegt, weil er nur mit Begriffen operirt, die ans den Berhältnissen der Erscheinungs­ welt abstrahirt sind. Nicht etwa wegen eines angeblichen Widerstreits zwischen Causalität und Freiheit leugnet der Materialismus das Vor­ handensein der letzteren; er leugnet sie vielmehr deßhalb, weil sie für ihn überhaupt nicht existirt, weil sie ganz über dem Niveau seines Gesichtskreises liegt. Ebenso unbegreiflich wie das freie Wollen ist dem Materialismus auch das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit, das Gewissen nebst all den conftituirenben Grundgedanken und Voraussetzungen, welche in und mit diesem gegeben, die sittliche und religiöse Weltansicht be­ stimmen, in der wir leben. Dies mag feine Lobredner nicht beunruhigen. Der Materialismus ist eben der Ausdruck einer ethischen Bedürfnislosig­ keit, welche die jüngste Vergangenheit und leider zum Theil auch noch die Gegenwart charakterisirt. Für diese ethische Bedürfnißlosigkeit sprach der Materialismus nur das lösende Wort, das mit einem Schlage die Perspective in eine neue Weltansicht er­ öffnete, in welcher die Trivialität des Lebens der geistigen Mittelmäßigkeit unserer Tage als normale und wohberechtigtc Gemüthsverfassung anscheinend so sicher und unwiderleglich fundirt erschien, weil in ihr alle höheren Mächte beseitigt sind, welche dem Leben des Edlen Weihe und Inhalt geben und ihn zu rastloser That begeistern, während sie den Schlaffen und Trägen nur beunruhigen und quälen. Eben deßhalb birgt aber die Weltansicht des Materialismus eine ernste Gefahr für die gesunde Geistesentwickelung der Menschheit in sich. Wir dürfen diese Gefahr nicht unterschätzen; sie droht im Verein mit dem gesteigerten materiellen Wohlleben der neuen Zeit trotz aller Erweiterung der Verstandeseinsicht zu einer Verflachung alles geistigen Leben» zu führen, deren öde Langweiligkeit in den pessimistischen Systemen mo­ dernster Gattung mit dreister Zuversicht bereits als einzig berechtigte und normale Stimmung des Gemüths gepriesen wird. Der Materialismus ist ein Krebsschaden der neuen Zeit, der zwar nicht wegen der Gewichtig-

fett seiner Gründe, wohl aber wegen seiner großen Verbreitung als einer der gefährlichsten Feinde der menschlichen Freiheit und der auf

der Anerkennung dieser beruhenden sittlichen und religiösen Weltansicht betrachtet werden muß.

Seine Widerlegung

liegt mir daher mit Rücksicht auf den Zweck

dieser für ein größeres gebildetes Publikum bestimmten Arbeit ganz be­

sonders am Herzen.

Die Einwendungen, welche von hier aus gegen die

menschliche Freiheit erhoben werden, lassen sich auch nicht separat behandeln. ES ist ein Bernichtungskampf zweier Weltansichten, welcher hier

zur Entscheidung gebracht werden muß, und welcher nur mit dem völligen Siege oder der völligen Niederlage der einen von beiden enden kann,

denn beide schließen sich gegenseitig aus*). Ich stelle den entscheidenden Gesichtspunkt voran.

Die Grundbegriffe

des Materialismus, bie Begriffe der Materie und der Kraft sind nicht Bezeichnungen von

etwas, dessen Wirklichkeit

wir unmittelbar erleben

könnten. Sie sind nicht Wesenheitsbegriffe, sondern Mstractionen,

deren Geltungsbereich sich nicht über das Gebiet der sinnlichen

Erscheinungen hinauserstreckt, von denen sie abstrahirt sind. Die Materie ist keine Realität, deren Vorhandensein uns durch un­

mittelbare Erfahrung zum Bewußtsein kommen könnte.

Man bildet ihren

Begriff, indem man die dem Bewußtsein zunächst sich aufdringenden Bilder

der gemeinen sinnlichen Erfahrung mit einander vergleicht und die ihnen

allen gemeinsamen allgemeinen charakteristischen Züge der Materialität zu einer Gesammtvorstellung vereinigt, die an innerer Klarheit und Schärfe

der Bestimmung recht viel zu wünschen übrig läßt.

Den Ursprung deS

Begriffs der Materie haben wir daher in einer Eigenschaft zu suchen,

deren ursprüngliches Subject die vielen sinnlichen Bilder sind, von deren Gesammtheit jene abstrahirt wurde.

Nur durch einen logischen Gewalt­

streich gelingt es der schöpferischen Phantasie, aus jener Eigenschaft das neue Subject, aus der Vorstellung der Materialität den Begriff der

Materie zu gewinnen.

Man abstrahirt einfach von dem ursprünglichen

Subjecte jener Eigenschaft und macht diese selbst, die Eigenschaft der Ma­ terialität zum Wesen, indem man sie „objectivirt".

Es beruht jedoch auf

eitler Selbsttäuschung, wenn man wähnt, die rein qualitative und

*) Das Wesentliche der nachfolgenden Erörterungen findet sich zwar bereits in meinem früheren Aussatze „Die Lehre Spinoza'S und der Materialismus" (Fichte'sche Zeit­ schrift für Philosophie und philosophische Kritik. Band 74 S- 1—30, 209—238) abgedruckt. Das dort Gesagte schien mir jedoch an dieser Stelle unentbehrlich und habe ich dasselbe hier um so unbedenklicher wiederholt, als ich nicht voraussetzen darf, daß jener in einer gelehrten Zeitschrift erschienene Aufsatz in den Kreisen, für welche diese Arbeit bestimmt ist, größere Verbreitung gefunden hat-

adjectivische Natur des Begriffs der Materie werde durch soche rein logische Operation verändert und versubstantialisirt, es könne dalurch an

Stelle deS ursprünglichen Subjectes, d. h. an Stelle der unbestimmten Summe

sinnlicher Bilder,

neue selbständige Realität ge­

In der That wird an die Stelle jenes urspringlichen

schaffen werden.

Subjects

eine

nur ein

ganz unbestimmtes

ES als Träger der Ei;enschaft

der Materialität substituirt, dessen Natur doch durch weiter NihtS be­ stimmt sein soll, als eben durch jene Eigenschaft.

Dieses Es ton dem

Charakter der Materialität hat natürlich seine Heimath und den einzigen

Ort seiner Existenz nur im Denken, welches die Abstraction vorgeiommen

hat, und es bleibt erst zu beweisen, wie es möglich und denkbar sei, daß jenem ES eine andere selbständige Art von Existenz beigelegt werden könne, eine Realität außerhalb des Geistes, der es vorgestellt; ein beweis,

der

wie wir gleich sehen werden, gar nicht zu führen ist.

De Ma­

terialisten überspringen diesen Abgrund, ohne zu bedenken, daß sie dadurch in ein Fabelland gerathen, und verhandeln fortan mit Schattenbildern,

die sie wie Trunkene für Wirklichkeiten nehmen.

Sie vergessen, taß jene

logische Operation der Objectivirung des Begriffs der Materialität nur als Abkürzung des Denkens und mit dem stillschweigenden Borbehclt voll­

zogen werden durfte, daß zu der objectivirten Eigenschaft der Materialität

stets ein Träger hinzuzudenken sei,

der seiner specifischen Natur

nach die ihm beigelegte Eigenschaft auch zu tragen vermöge; sie füllen die stillschweigend vorbehaltene Stelle des Trägers ohne Bedenken durch die Eigenschaft der Materialität selbst aus und glauben, eine neue Realität entdeckt zu haben,

die gleichwerthig

und ebenbürtig

übrigen Realitäten mitzufungiren vermöge.

in der Reihe der

Die Plumpheit dieser Täu­

schung wird jedoch durch ein allgemeines Vorurtheil verhüllt, welches tief

in der menschlichen Natur begründet ist.

Wie man nämlich im täglichen

Leben die Bilder der Dinge gemeinhin für das Wirkliche hält, aus dessen Summe die Welt sich aufbaue, so hat auch die ganz geläufige Gewohn­

heit, Eigenschaften und Abstractionen substantivisch zu gebrauchen, zu dem

weiteren Schritte verleitet, auch diese in einer vorgestellten Wirklichkeit als Realitäten zu behandlen wie die wirklichen Dinge, von denen sie abstrahirt

sind.

Dem Vorurtheile, welches diesem Verfahren zum Grunde liegt, ist

auch der Materialismus anheimgefallen,

indem er die Abstraction der

Materialität als Materie objeccivirte und als ein selbständiges Ding für sich behandelte.

Diese Argumentation bleibt im Wesentlichen bestehen,

wenn wir an die Stelle des vulgären Begriffs der Materie die bestimmter

formulirte Vorstellung des Atoms einsetzen.

der Atome erfahren wir gar nichts

Auch von der Wirklichkeit

durch unmittelbare Wahrnehmung.

DaS Interesse der Physik fuhrt zu der Annahme gewisser einfacher, inner­

halb bestimmter Grenzen gleichartiger Bestandtheile, aus denen man die Erscheinungen der Körper

zu erklären versucht.

Diesen vorausgesetzten

letzten Bestandtheilen legte man den phänomenalen Gesammtcharakter derjenigen Bestimmungen bei,

die den Begriff des Atoms ausmachen:

die unsichtbare Kleinheit, die unwandelbare Dauer, die unveränderliche Beständigkeit ihrer Eigenschaften, und es scheint in der That, daß man

durch diese geschickte Hypothese, welche sich innerhalb des Gebietes, für welches sie aufgestellt wurde,

Charakter der ganzen

trefflich bewährt hat,

einen universellen

Erscheinungswelt glücklich herausgefunden habe.

Wir dürfen aber nicht vergessen, daß das eigentliche Subject, der Träger

des qualitativen Gesammtcharakters der Atomität, auch hier ein x ist, dessen man

Wesen man nur zum Zwecke des Gebrauchs, welchen

damit zur Erklärung

beabsichtigt,

mit der

der Erscheinungswelt zu

Eigenschaft

der

machen

Atomität identificirte.

Der ganze Proceß vollzieht sich innerhalb der Sphäre der Subjectivität.

Subjektive Erscheinungen sollen erklärt werden und subjective An­ nahmen werden zu diesem Zwecke gemacht; erweisen sich dieselben auch

noch so brauchbar und zutreffend,

so bleiben sie darum doch subjective

Annahmen, deren Geltungsbereich nicht über die subjective Erscheinungs­

sphäre hinausreicht.

Die Atome sind danim noch nicht als selbständige

Wesenheiten legitimirt, weil ihre Annahme uns bewundernswerthe Auf­

schlüsse über die gegenseitigen Verhältnisse unserer sinnlichen Erscheinungs­ bilder geliefert hat.

Sie sind und bleiben Hilfsbegriffe nicht substantieller,

sondern rein modaler Natur*), die ihre Wirklichkeit und den Ort ihrer

Existenz nur in dem Geiste haben, der so glücklich war, sie zu erfinden

oder nachzudenken.

Setzen wir sie als reale Dinge außerhalb des er­

kennenden Subjects, so lassen wir uns durch dasselbe Vorurtheil leiten,

welches uns mitunter bestimmt, Begriffen wie Licht und Finsterniß eine selbständige objective Realität beizulegen.

Der täuschende Schein, der den

philosophisch ungeschulten Geist mißleitet, seine sinnlichen Vorstellungs­ bilder unmittelbar als reale selbständige Dinge zu betrachten, erstreckt sich

hier zurück auf die subjectiven Annahmen, welche das Zustandekommen

und die gesetzlichen Beziehungen jener Bilder aufklären sollen und ver­ hüllt den wahren Sachverhalt um so täuschender, je geläufiger uns die

Vorstellung der Atome geworden ist und mit um so größerem Erfolge wir geschäftsmäßig

mit ihnen in unserer Vorstellung zu operiren ge­

wohnt sind. *) Fechner, Atomciilehre S. 72, 107 und 112. Berlin 1847 S. 2, 3 und 4.

Helmholtz, Die Erhaltung der Kraft.

kommt daher den Atomen nur ein modales

Erfahrungsmäßig

und relatives Sein zu, sie existiren erfahruitgsmäßig nur als Qualität in einem Seienden.

Es bleibt zu untersuchen, ob die Speculation be­

rechtigt sei, ihnen außer dieser erfahrungsmäßigen modalen Existenz auch in der That, wie der Materialismus unbedenklich thut, eine Wirklichkeit

an sich und außerhalb des denkenden Geistes beizulegen.

Daß dieses un­

denkbar sei, daß die Atome jedenfalls in der Weise, wie der Materialismus

sie als wirklich voraussetzt, als bloße Ausgangspunkte anziehender und abstoßender Kräfte, nicht für sich wirklich, utib daß sie jedenfalls nicht daS einzige Wirkliche sein können, lehrt eine einfache Ueberlegung.

Die Erörterung der Genesis des Atombegriffs hat uns soeben be­ lehrt,

daß dieser

nur

in

einem

lebendigen

Wesen entstehen

könne,

welches fähig ist, sinnliche Eindrücke zu erleiden, dieselben mit einander zu Vorstellungen zu verknüpfen, diese zu vergleichen und von einander zu unterscheiden und daS abstrahirte Gemeinsame zu selbständigen Begriffen

zu formen.

Alle diese Handlungen können doch die Atome nicht selbst

vornehmen!

Macht der Materialismus Ernst mit seinen Voraussetzungen,

gäbe eS wirklich nur Atome und Kräfte in der Welt, so könnten diese weder zu einem Begriffe ihrer selbst, noch zu irgend einem anderen Be­ griffe, geschweige denn zu einer so abgeschmackten Doctrin, wie der Ma­

terialismus ist, gelangen. aussetzungen

seiner

Soviel ist ohne Weiteres klar:

eigenen

Entstehung

kommen

Die Vor­

dem

Ma­

terialismus gar nicht zum Bewußtsein und finden in seinem

Grundprincip keinen Ausdruck; in dieses ist nichts von dem über­

gegangen, was seine eigene Existenz bedingt. Sehen wir jedoch hiervon ab und nehmen wir einmal an, es gäbe

wirklich außerhalb deS denkenden Bewußtseins solche Atome, wie wir sie

uns vorstellen; nehmen wir ferner an, es sei.keine Jnconsequenz,

daß

dieselben über sich selbst speculirten und überlegen wir, ob es möglich sei, sie als Princip der Welterklärung gelten zu lassen, so werden wir alsbald gewahr, daß der Begriff des Atoms aus sich selbst doch niemals über

sich selbst hinauskommen könne.

In der

blos qualitativen Natur der

Atome giebt es weder Ansatzpunkte irgend einer innerlichen Differenzirung,

von denen auS das Atom aus eigenem Antriebe sich entfalten könnte, noch auch Angriffspunkte für eine von Außen kommende Störung;

es fehlt

mithin an jedem Princip irgend einer denkbaren Veränderung.

DaS Atom ist und bleibt ein gedachtes, kein wirkliches Ding, und

seine Natur wird dadurch factisch nicht verändert, daß der Materialismus eS unbefugterweise als

ein wirkliches und für sich feiendes Wesen be­

trachtet; sie bleibt darum doch nach wie vor die eines gedachten Dinges,

daS für sich und als solches kein selbständiges Princip deS Lebens und

der Wirklichkeit in sich trägt. Um ein solches zu gewinnen greift der Materialismus zu einer neuen

Annahme, zu dem Begriffe der Kraft, der aus dem Wesen des Atoms an sich nicht abgeleitet werden kann und deßhalb auch nur äußerlich damit

verknüpft ist.

Der Begriff der Kraft umfaßt nur den ganz allgemeinen

und deßhalb unbestimmten Eindruck deS Wirkens überhaupt, den wir aus

der Beobachtung der lebendigen Vorgänge in uns abstrahiren.

Solche

Ällgemeinbegriffe haben, wie ich vorhin schon bemerkte, ihre Heimath nur

im Denken; sie gelten nur im Denken und drücken an sich nichts Wirk^ licheS aus.

Der Begriff der Kraft kann daher nicht in feiner Allgemein­

heit objectivirt, sondern nur in besonderer Richtung specialisirt werden,

indem wir die Unbestimmtheit des Subjectbegriffs, an dem er in seiner Allgemeinheit haftete, mit einem bestimmten Subjecte aus der Kategorie derjenigen Dinge vertauschen, von denen er abstrahirt ist.

Das Atom

gehört nun aber gar nicht mit in den Kreis der innerlich erlebten Vor­ gänge, aus deren Beobachtung der Begriff der Kraft geschöpft ist, da die hypothetische Natur desselben mit diesen inneren Erlebnissen gar nichtgemein hat.

Folgeweise läßt sich auch der Begriff der Kraft nicht in der

Weise des Materialismus mit dem Atom

verbinden.

Hier,

bei der

näheren Bestimmung des zweiten Grundbegriffes der Kraft und in der

Art wie derselbe mit dem ersten Grundbegriffe des Atoms und

den

sonstigen Vorstellungen deS Raums, der Zeit und der Naturgesetze, welche

der Materialismus zur Vervollständigung seines Gedankenkreises herbei­ zieht, in Zusammenhang gebracht wird, tritt die empiristische Gedanken­ losigkeit dieser Lehre klar zu Tage.

Die Wirksamkeit der Kraft soll sich

darin erschöpfen, daß sie Ortsveränderungen der Atome herbeiführt — auch die chemischen Einwirkungen dringen ja nicht in das Innere der­

selben, sie bewirken nur Structurveränderungen der Molecüle, d. h. Ver­ schiebungen der diese constituirenden Atome. — Diese haben und erfahren

an sich selbst nichts von solchen Ortsveränderungen sie bleiben ein todtes

unveränderliches Substrat. umgekehrt.

Das wahre Sachverhältniß wird hier grade

Veränderungen, welche nur in den mit einander in Wechsel­

wirkung tretenden Subjecten sich ereignen könnten, werden in die Be­ ziehungen zwischen den Subjecten verlegt.

Die Beziehungen zwischen

den Dingen werden verlebendigt, die Dinge selbst zu leblosen Anheftungs­

punkten der Kräfte gemacht, welche zwischen ihnen spielen und die Orts­ veränderungen bewirken sollen. Ganz unvereinbare und einzeln für sich genommen widerspruchsvolle und unklare Annahmen sind hier zu einer unhaltbaren Theorie vereinigt:

1.

Unklar und widerspruchsvoll ist der Begriff des Atoms

als eines Trägers anziehende und abstoßender Kräfte. erhellt bereits aus dem soeben Gesagten.

Dies

In einem Wesen ohire jede

Innerlichkeit kann auch kein Antrieb entstehen, ein anderes Wesen der­

selben Art anzuziehen oder abzustoßen.

Denken wir uns einen Raum, in

dem solche Atome vertheilt wären, so könnten dieselben nur dann auf einander wirken, wenn sie von ihrer gegenseitigen Existenz irgend etwas

wüßten oder irgend welche Empfindung hätten, und nur der Wechsel solcher

Empfindungen, z. B. die mit der Annäherung oder Entfernung wachsende gegenseitige Zu- oder Abneigung, könnte als Grund solches Wirkens ge­ dacht worden.

Nur ein lebendiges Wesen von innerlich erregbarer Natur

kann als Ausgangspunkt von Wirkungen gedacht werden, nur in einem solchen können denkbarer Weise Störungen verursacht werden, die dasselbe

zu lebendigen Neaetionen veranlassen könnten.

Solche innerliche wahre

Natur der Atome entzieht sich selbstverständlich unserer Beobachtung und

die Physik durfte dieselbe bei Aufstellung ihrer Hypothese deßhalb auch unbeachtet lassen, da es ihr nur darauf ankam, die beobachteten Erschei­

nungen auf ein gemeinsames Princip von phänomenaler Geltung, auf eine

Formel zu bringen, welche die Uebersichtlichkeit des ganzen Erscheinungs­

kreises erleichtern sollte.

Dies hat

glücklicher Weise erreicht.

sie durch die Atomtheorie in sehr

Aber diese Theorie

läßt das

seiende wahre Wesen der Atome völlig unbestimmt.

an sich Sie läßt

unerklärt, wie es möglich sei, daß Wesen existiren, welche sich nach be­

stimmten Gesetzen anziehen und abstoßen.

In diesem unfertigen Zu­

stande benutzt der Bkaterialismus jene Hypothese der Physik als Princip seiner Welterklärung, und die Unfertigfeit der Hypothese ist der eigentliche

wahre Grund der Leerheit dieser neuen materialistischen Weltanschauung. Der

Grundgedanke des

Materialismus

wiederholt

nur

die

Atomtheorie der Physik mit dem Zusatze, daß die Stelle leer

sei, welche jene Theorie blos unbestimmt ließ, weil sie einer Er­ füllung derselben mit bestimmtem Inhalte für ihre Zwecke nicht brauchte.

Dieser charakteristische Zusatz enthält das wahre Princip des Ma­ terialismus, er enthält die Erklärung, daß der metaphysische Grund­ begriff des Wirklichen teer bleiben müsse, und daß die Hilfsbe­ griffe, welche die Physik zur Erklärung der Erscheinungen des Wirklichen

ausgestellt hat, daß die Hilfsbegrisfe des Atoms und der Kraft deßhalb

in der That an sich schon das wahre Wesen des Wirklichen enthalten sollen.

Der Materialismus ist nur eine Theorie der Erscheinungen

des Wirklichen in der Vorstellungswelt, nicht eine Metaphysik des Wirk­ lichen selbst.

Darin liegt der innere Widerspruch dieser Lehre, daß sie

den Anspruch erhebt, Metaphysik sein zu wollen, während sie nur ein Dadurch macht sie den Begriff des Atoms

Schattenbild der Physik ist.

zu einem in sich selbst widerspruchsvollen Begriffe,

daß sie die wahre

innere Natur desselben, welche die Physik bei der Bildung jenes Begriffs nur unbestimmt ließ, ausdrücklich für leer und inhaltlos erklärt.

2.

Unklar und widerspruchsvoll ist auch der Begriff der

Kraft, insofern diese als an einem leblosen Atome haftend gedacht wird.

Auch Kraft ist ein physikalischer Hilfsbegriff, der wie

schon erwähnt der Beobachtung des Lebendigen in uns entlehnt ist. ist ein Hilfsbegriff, der zur

Erklärung von Erscheinungen

wurde und daher an sich selbst phänomenaler Natur ist.

Es

aufgestellt

Wollen wir den

Ursprung dessen, was sich in der Erscheinung als Kraftwirkung darstellt,

aus der Natur der wirkenden Elemente metaphysisch erklären, so können wir denselben nur als innerliche Erregung, als Zustandsänderung leben­

diger Wesen begreifen.

Wie nur das Lebendige wirklich ist, wie Realität

nur in lebendigem Fürsichsein bestehen kann, so können auch die Wirkungen

der lebendigen Wesen die Sphäre deren Fürsichseins nicht überschreiten, sie können nicht zwischen dem Wesen, sondern stets nur in ihnen, als

erlebte Zustandsänderungen wirklich sein.

Wie leblose Atome für sich

nicht wirklich sein können, so können sie auch nicht auf einander wirken, sie können noch weniger durch Kräfte verbunden sein,

oder durch Kräfte

von einander entfernt oder einander genähert werden, welche zwischen ihnen auf irgend welche Weise vorhanden gedacht werden.

Kräfte können

ebensowenig für sich wirklich sein, als Eigenschaften getrennt von ihren

Subjecte».

Wir können sie wie diese höchstens im Denken gesondert vor­

stellen, aber sie können nicht außerhalb der Vorstellung zwischen den Dingen für sich wirklich sein.

Eine unklare Verwechselung der Opera­

tionen deS Denkens mit den als wirklich gedachten Vorgängen liegt all diesen gedankenlosen Vorstellungen des Materialismus zu Grunde.

verhält sich hier mit der Kraft nicht anders wie mit dem Atom. halb

des

phänomenalen

Gesichtskreises

der Physik hatten

Es

Inner­

jene Vor­

stellungen eine relative Berechtigung, metaphysisch gedacht sind sie un­ haltbar und widersprechend.

Fassen wir die Kraft als ein Rudiment deS

Geistes, von dessen lebendiger Wirklichkeit ihr Begriff abstrahirt ist, so

hat der Materialismus den alten Dualismus von Geist und Körper nicht dadurch zu überwinden vermocht, daß er beide Glieder dieses Gegensatzes bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte und in einen einzigen Ungedanken

zusammenzuziehen suchte.

Der Materialismus ist nicht Monismus, son­

dern ein System der Gedankenlosigkeit, welches sich als unfähig erwiesen

hat, auch nur die Glieder jenes Gegensatzes für sich allein richtig aufzu-

fassen.

Er setzt an die Stelle der wirksamen Elemente, welche die Er­

scheinung des Körpers hervorbringen, den todten Stoff, an die Stelle des

Geistes dessen verflachtes Afterbild, die blind wirkende Kraft.

3.

Unklar und

widerspruchsvoll

ist ferner der Gedanke

einer Wechselwirkung zwischen Atomen, insofern sie als selb­ ständige Wesen gedacht werden.

Suchen wir selbst einmal die Widersprüche in der Formulirung der

Grundbegriffe des Materialismus, in der Feststellung der Begriffe des Atoms und der Kraft dadurch zu vermeiden,

daß wir die ersteren als

lebendige wirkens- und leidensfähige Wesen betrachten, so treffen wir doch bei dem Versuche, die Wechselwirkung derselben zu erklären, auf eine neue

Schranke des Materialismus, auf einen neuen Grundfehler dieser Lehre, welcher darin besteht, daß die Atome als selbständige Wesen gedacht werden.

können?

Wie ist es möglich, daß solche Wesen auf einander wirken Unklar und nur bildlich

zu nehmen ist die ganze Kette von

Vorstellungen, durch die man sich solchen Vorgang des Wechselwirkens anschaulich zu machen sucht.

Unklar und falsch die Vorstellung, daß die

Wirkung — als sei sie von dem Atome daS sie ausüben soll, als wirklich auch nur getrennt zu denken! — sich loslöse aus dem mütterlichen Boden

deS Atoms; unklar und falsch die Vorstellung, daß eine solche frei schwe­

bende Wirkung sich selbst die Richtung bestimmen und das Atom auffinden könne, in welchem sie ankern und wirken soll, unklar, wie sie am Orte ihrer Bestimmung landen und sich dort als das, was sie sein soll, als Wirkung oder Zustandsänderung des anderen Atoms etabliren soll. Alle diese von den Materialisten unbedenklich acceptirten Unklarheiten

und Verkehrtheiten haben früher die occasionalistischen Theorieen hervor­ gerufen.

Licht kommt, wie ich schon früher erwähnte,

in diesen Vor-

stellungskreiS nur dadurch, daß man den Gedanken einer Vielheit selb­ ständig für sich seiender Atome fallen läßt und statt dessen einen ein­

zigen lebendigen Wesensgrund als die allumfassende Wirklichkeit der Welt anerkennt, dessen Zustandsänderungen in jedem seiner Daseinsmomente

d. i. den einzelnen fürsichseienden Wesen nach deren specifischer Natur und Stelluug als besondere Wirkung erlebt oder nicht erlebt werden, je nach­ dem sie dort die Schwelle des Bewußtseins zu überschreiten oder nicht zu

überschreiten vermögen.

So führt auch das Bedürfniß der Erklärung der

Wechselwirkung über den Materialismus hinaus zu der Idee eines ein­

heitlichen lebendigen Wesensgrundes aller Dinge und der Materialismus erweist sich auch nach dieser Richtung hin als ganz unzulänglich zur Er­

klärung der elementarsten Vorgänge der Wirklichkeit.

4.

Unklar und widerspruchsvoll ist

auch

die hier still-

eines selbständig für sich gedachten Raums, eines gemeinsamen realen Hintergrundes, an dem schweigend mitgedachie Vorstellung

die Atome haften, oder eines allgemeinen Schauplatzes, auf dem sich das Spiel ihrer Wechselwirkungen vollziehen könnte.

Es

würde zu

weit

führen, wenn ich diesen Satz hier durch eine erschöpfende Behandlung der Frage nach der Natur und der Art der Existenz des Raums begründen wollte.

kosmus.

Ich verweise daher auf die lichtvolle Darstellung Lotze's (Mikro­

Schon die sorgsame Erwägung des

Band III S. 483 sqq.).

bisher Gesagten wird jedoch das Resultat dieser Untersuchung auch hier als gerechtfertigt erscheinen lassen.

Der Raum kann nur im Innern

lebendiger Wesen als Form der Auffassung an sich unräum­ licher intensiver gegenseitiger Beziehungen jener als Vor­

stellung wirklich sein, nicht aber ein Ding für sich, oder eine für sich seiende Form oder gar als ein für sich seiendes Verhältniß betrachtet

werden.

Auch das Vorhandensein der Raumanschauung

erfordert als

nothwendigen Erklärungsgrund die Existenz lebendiger Wesen und bleibt innerhalb des materialistischen Gesichtskreises ein unaufgelöstes Räthsel.

5.

Aehnliches gilt von der Zeit, die hier gleichfalls stillschweigend

als eine für sich seiende Realität vorausgesetzt wird, während sie nur in

der Vorstellung lebendiger Wesen als eine durch die realen Momente des

lebendigen Seins bestimmte Form der Auffassung Bestand und Wirklich­ keit haben kann. 6.

Völlig unklar endlich,

widerspruchsvoll in sich selbst

und unvereinbar mit den übrigen Grundbegriffen des Atoms und

der Kraft,

des Raums und

der Zeit

als selbständiger

Realitäten ist die weitere Annahme des Materialismus, daß

ein Kreis ausnahmslos geltender Gesetze das Spiel der Atom­ wirkungen beherrschen solle. Gesetze können keine selbständige Existenz haben und gleichsam über

den Ereignissen, die sie beherrschen sollen, in der Luft schweben.

Denken

wir uns aber selbst, es seien solche imaginäre Gesetze an irgend welchem

imaginären Orte wirklich vorhanden, so könnten sie doch weder auf die Atome noch auf das Wirken der Kräfte irgend welchen denkbaren Einfluß

auSüben.

Die Atome als todte Punkte sind überhaupt gar keinen Ein­

wirkungen zugänglich.

Die Kräfte könnten vielleicht, wenn wir unserer

Phantasie einmal noch weiteren Raum geben wollen, durch andere Kräfte,

nicht aber durch Gesetze in ihrer Wirkungsweise gehemmt oder gefördert

worden.

Nur bildlich kann man davon reden, daß Gesetze einen Kreis

des Geschehens beherrschen sollen.

Gesetze können nur gelten, aber

nicht herrschen, und sie können nur da gelten, wo eS lebendige Wesen

giebt, die ihnen entweder freiwillig oder unter dem Zwange einer inneren

Wesensbestimmtheit gehorchen.

Nur in der Vorstellung lebendiger Wesen

oder als innere Wesensbestimmtheit deren Natur können Gesetze bestehen

oder gelten, und auch dieses nur, wenn es zugleich entweder in den be­

treffenden Wesen selbst oder im Innern irgend eines dritten Beobachters ihrer Wirkungsweise einen

Maßstab der inneren Ordnung giebt,

an welchem gemessen der Wechsel der Ereignisse als gesetzlich

oder ungesetzlich, als nothwendig oder zufällig erkannt werden könnte.

Denn gesetzlich nennen wir solchen Wechsel nur dann, wenn

nicht nur das eine der Ereignisse durch ein anderes begründet, sondern wenn außerdem auch die ganze Reihe der motivirten Ereignisse

unS in Gestalt eines solchen nothwendigen Zusammenhanges erscheint, der für sich irgend einen vernünftigen Sinn hat, und in der

Bedeutung dieses Sinnes den inneren Grund seiner Nothwendigkeit in sich trägt.

Wie

cs

daher zwischen

einer Vielheit zusammenhangloser

Atome keine Wechselwirkung geben kann,

so kann auch kein gesetzlicher

Zusammenhang der in ihnen sich vollziehenden Ereignißreichen stattfinden. Zwischen den Ereignißreichen in den einzelnen Wesen kann vielmehr mir dann ein vollständiger gesetzlicher Zusammenhang obwalten, wenn die

Realität aller in dem Fürsichsein eines einheitlichen substantiellen leben­ digen Wesensgrundes besteht.

Nur durch diese Voraussetzung gewinnt

der Gedanke allgemeiner Gesetzlichkeit eine verständliche Basis, indem die­ selbe nur

als

innere Consequenz der Naturbestimmtheit eines solchen

Wesens begreiflich

erscheint;

und zwar eines Wesens,

dem nicht nur

die numerische Einheit der Substanz, sondern die höhere Einheits­ form

der Persönlichkeit eignet.

Nur wenn alle Momente des Ge­

schehens in der Einheit eines sie alle in sich hegenden Bewußtseins auf einander bezogen werden, können sie im Sinne jener inneren Consequenz als verbunden gelten, nur unter dieser Voraussetzung kann Ordnung und

gesetzlicher Zusammenhang zwischen ihnen obwalten.

Ordnung und innere

Consequenz können auch nur dadurch erst Sinn und Bedeutung erhalten,

daß sie durch die Richtung auf einen Zweck bestimmt sind, der ein inhalt­ volles Gut darbietet.

Fassen wir diese Momente zusammen und erinnern

uns, daß nur der Begriff absoluter Persönlichkeit jener Form vollkommener Einheitlichkeit aller Wesensmomente und ausnahmsloser Zweckbestimmtheit

aller Genüge leistet, so steigert sich der Gedanke des einen lebendigen Urwesens zu dem abschließenden Begriffe eines allumfassenden persön­ lichen Gottes, dessen innerlich gehegte Theile die endlichen Wesen sind,

und wir kommen zu dem Schluffe, daß ein allgemeiner gesetzlicher Zu­ sammenhang alles Geschehens nur als innere Wesensbestimmtheit eines

einheitlichen lebendigen persönlichen Gottes denkbar ist, welcher den realen

Wesensgrund aller Weltwirktichkeit bildet.

Wir sehen ferner,

daß die

Einheitlichkeit des gesetzlichen Zusammenhanges auch hier nur durch die

Einheitlichkeit des letzten Ziels alles Geschehens, und daß die Noth­ wendigkeit jenes Zusammenhanges nur durch den unbedingten Werth

jenes Ziels begründet werden könne.

Die Principien deS Materialismus

erweisen sich daher als vollkommen unzureichend, die große Thatsache deS allgemeinen CausalzusammenhangeS zu erklären.

Der Mechanismus kann

nicht auf eigenen Füßen stehen, er kann nicht Selbstzweck sein,

oder

auS sich selbst erklärt und durch sich selbst gerechtfertigt werden; er ist nur denkbar und begreiflich als nothwendiges Glied einer teleologischen Welt­

ansicht,

als Mittel zum Zweck der Realisirung eines unbedingt werth­

vollen Guts.

Die große Thatsache deS allgemeinen Mechanismus richtig

zu

verstehen

und

zu

neueren Philosophie,

würdigen,

ist

ein

Hauptproblem

und man kann den Werth

der

der

verschiedenen

Weltansichten nach dem Maße bestimmen, in welchem ihnen die Lösung

jenes Problems gelingt.

Legen wir diesen Maßstab an, so zeigt sich die

Armseligkeit deS Materialismus in vollem Umfange.

Die Vertreter deS

Materialismus treten zwar mit der Prätension auf, daß der Mechanismus nur auf Grund ihrer Principien bestehen könne, ja sie identificiren den Materialismus mit dem Mechanismus.

In der That aber bleibt dieser

von ihrem Standpunkte aus eine ganz unverständliche Thatsache.

Nur

Reminiscenzen an Gesichtspunkte, die innerhalb seiner eigenen Prin­

cipien keinen Boden mehr finden, konnten den Materialismus überhaupt erst in die Lage bringen, den Rhythmus des Geschehens zu erkennen

und dessen einzelne Momente nach einem erborgten Maßstabe auf die zu­ sammenschließende Formel eines Kreises von Naturgesetzen zu bringen,

der nicht einen motivirten und innerlich consequenten, nicht einen noth­

wendigen und vernünftigen, sondern immer nur einen rein factischen That­ bestand bezeichnet, der sich seinem Werthe nach nicht vom Zufall unter­ scheidet, innerhalb dessen ein blindes Geschehen sinnlos vorläuft.

Sehen

wir von jenen Reminiscenzen ab, die mehr oder weniger in jedem vor­

handen sind, der auch nur die humanistische Bildung eines Unterquartaners mit auf die Lebensreise genommen hat,

so gleicht die Bewunderung,

welche der consequente Materialist jener Thatsache des universellen Mecha­ nismus zollt, etwa dem Eindrücke, den der Rhythmus einer rauschenden

Musik in der Seele des afrikanischen Wilden zu erwecken pflegt, den sie ganz in den Taumel einer unverstandenen Melodie hineinzaubert.

Jene

Bewunderung ist in der That weiter nichts als ein maßloses

Staunen, welches das Verständniß aller eigentlichen Inhalte

erdrückt, anstatt zu tieferer Einsicht und Begründung anzuregen.

Nicht höhere Interessen irgend welcher Art, nicht ein vorurtheilsfreier Ueberblick über die Gesammtheit des Vorhandenen, sondern allein die handwerksmäßige Beschränkung einzelner Naturforscher bestimmt den Grund­

charakter der neuen Weltanschauung des Materialismus in allen wesent­ lichen Punkten.

Die Folgen dieser Einseitigkeit habe ich nach allen Rich­

tungen hin zur Genüge dargelegt.

Alle seine Grundbegriffe sind falsch

und widerspruchsvoll in sich selbst; sie alle stehen zusammenhanglos und unvermittelt neben einander.

Der Materialismus ist nicht ein Monis­

mus*) und bedeutet nicht, wie seine neuesten Vertreter mit großem Pomp

ankündigen, eine Reformation auf dem Gebiete der Philosphie; er ist viel­ mehr ein gedankenloser Pluralismus, der nichts als eine durch falsche

Erweiterung einer physikalischen Hypothese entstandene Verirrung bedeutet

und des Aufhebens nicht werth ist, das man davon macht.

Wie derselbe nicht zureichte, den universellen Mechanismus zu er­ klären, so erscheinen auch die Thatsachen der unmittelbaren Lebens­ erfahrung von seinem falschen theoretischen Standpunkte aus völlig un­

begreiflich.

Unklar

und

unbegreiflich

ist,

wie

aus

anziehenden und

abstoßenden Kräften lebloser Atome auch nur die allereinfachsten sinnlichen Empfindungen, Gefühle und Strebungen entstehen können.

Die zusammen­

wirkenden Kräfte des Gehirns könnten sich doch nach bekannten mechani­ schen Principien stets nur zu gemeinsamen Resultanten verbinden, die sich

ihrer Qualität nach von den Einzelkräften, aus denen sie zusammengesetzt sind, nicht im Mindesten unterscheiden würden.

Denken wir uns die

Atomkräfte des Gehirns auch in noch so complicirten Bewegungssystemen zusammenwirkend, das Gesammtresultat würde stets nur in einer Summe

bestimmter Ortsveränderungen aller einzelnen Atome des Gehirns bestehen

können.

Von dem Reichthum der Bedingungen zur Erzeugung dieses

Endresultats würde dieses keine Spur mehr in sich tragen; es würde sich

seiner Qualität nach von keiner anderen Art der Ortsveränderung unter­ scheiden.

Es ist gar nicht abzuschen, wie man von diesen Voraussetzungen

aus jemals zu den Elementarereignissen des geistigen Lebens gelangen könne.

Man hilft sich hier mit dem, was man den Gegnern nicht eifrig

genug vorwerfen kann, mit gedankenlosen Bildern und Vergleichen.

Bald

behandelt man die Empfindungen und Gedanken wie Stoffe oder Secre-

tionen, die das Gehirn absondern soll wie die Nieren den Urin, bald läßt man die Gedanken aus dem Gehirn entstehen, „wie die Aeolsharfe cr-

*) Haeckel, Anthropogonie S. 12. 67. 706.

Schöpfungsgeschichte S. 19. 32. 34. 651.

tönt, wenn der Wind sie durchstreicht" u. s. w.

sieen bedürfen zwar keiner Widerlegung,

Diese absurden Phanta-

aber sie kennzeichnen doch die

Leichtfertigkeit, mit welcher man sich hier über unauflösbare Schwierig­

keiten hinwegzutäuschen suchte.

Noch unbegreiflicher ist es, wie durch an­

ziehende und abstoßende Atomkräfte eine Vergleichung und Unterscheidung

der einfachen Empfindungen, eine Verbindung derselben zu Vorstellungen und dieser zu Gedanken, wie endlich durch dieselben eine Einheit des

Bewußtseins hergestellt werden könne, welche die Voraussetzung aller dieser Operationen ist.

dungen,

Nehmen wir selbst an, daß die einfachen Empfin­

Gefühle und Strebungen auf die

angegebene Weise entstehen

könnten, so verläßt uns doch hier bei der Betrachtung der complicirteren Vorgänge des geistigen Lebens jede Analogie mit den mechanischen Prin­ cipien, nach denen die Krastwirkungen der Atome verlaufen.

Während

die Kräfte sich gegenseitig aufheben und zu einer gemeinsamen Resultante

verschmelzen, werden bei der Vergleichung und Unterscheidung verschiedener Empfindungsinhalte diese als solche unversehrt nach ihrer specifischen Be­

schaffenheit in der Erinnerung festgehalten, und das vergleichende Subject wird sich, indem eS von dem Einen zum Anderen übergeht, während deS UebergangeS des

qualitativen und quantitativen Unterschiedes

Gleichheit beider Inhalte bewußt.

oder der

Solche Arte der Vergleichung und

Unterscheidung sind nur vollziehbar, wenn das Subject, welches sie aus­ üben soll, nicht nur ein und dasselbe Individuum ist, sondern auch die

verglichenen Eindrücke in ein und demselben Bewußtsein zu vereinigen

vermag; sie könnten nicht stattfinden, wenn es ein Complex von Indivi­ duen wäre.

Man kann sich solche Einheit des Bewußtseins nicht an

mehrere Atome vertheilt denken, dieselbe erfordert ebenso wie die Erklärung

der höheren Vorgänge des Denkens und Lebens überhaupt die strenge Einheit eines untheilbaren Subjectes.

Fassen wir das Gesagte zusammen, so wird uns die Unhaltbarkeit

und Verkehrtheit des Materialismus nach allen Richtungen hin offenbar und damit stellen sich alle Einwendungen,

welche vom materialistischen

Standpunkte aus gegen Vorhandensein und Bedeutung der Freiheit erhoben

zu werden Pflegen, als nichtig und unbegründet dar.

Hugo Sommer.

Preußische Jahrbücher. St. XL1X. Heft 1.

3

Zur Geschichte der deutschen Romantik^). Schon in den heiteren Jugendtagen der

classischen Literatur hatte

die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge­

hemmt.

Vollends jetzt, nachdem Deutschland siebzig Jahre lang fast alle

erdenklichen Kunststile und noch mannichfachere ästhetische Theorien ver­

sucht hatte, zeigte sich das künstlerische Schaffen von gelehrter Ueberbildung angekränkelt.

Kein Zweig der Dichtung litt darunter schwerer als das

Drama, das der Volksgunst bedarf wie die Blume der Sonne.

Goethe

wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik „sehn­

suchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen" nannte; ihnen fehlte, trotz ihrer geistreichen Einfälle und großen Absichten, gänzlich die Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des schöpferischen

Genius.

Obgleich sie sich vermaßen das classische Ideal durch eine volkS-

thümliche Dichtung zu verdrängen, so blieben ihre Werke doch dem Volke fremd, daS Eigenthum eines kleinen Kreises bewundernder Kenner.

Die

Kunst galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philister ungenießbar,

allein den Gottbegnadeten berauschte, so daß der Trunkene der Wirklich­ keit vergaß und daS Leben wie ein tolles Maskenspiel belächelte.

souveräne. Ironie, die sich Ernst als Spaß nur

zu

Diese

rühmte „den Scherz als Ernst zu treiben, behandeln",

widerte den gesunden Sinn der

Menge an; denn das Volk will im Gewissen gepackt sein und läßt mit

seinen Gefühlen nicht spielen. Unter den

älteren deutschen Dramatikern

ließen die romantischen

Kunstrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei seinen reifsten Werken an die Bühne kaum gedacht;

die stille, sinnige Schönheit der

Iphigenie und des Tasso war nur der Andacht des Lesers völlig faßbar,

sie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen.

Lessing wurde gar nicht

mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragische Leidenschaft als hohle Rhetorik verspottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman*) Bruchstück aus dem 2. Bd. der „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert".

tischen Anschauungen nahe stand, Heinrich von Kleist, blieb von der Kritik der Schule lange unbeachtet.

Nun gar die beiden wirksamsten Bühnen-

schrtftsteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater

beherrschten, Iffland und Kotzebue,

überschüttete der romantische Hoch­

muth mit einer ungerechten Geringschätzung, welche die jungen Talente von der Bühne zurückschrecken mußte.

Man wollte an Jenem nur die

ehrbare spießbürgerliche Empfindsamkeit, an Diesem nur die Plattheit und

die gemeine Gesinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines technisches Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch sie Beide

ihre dünkelhaften Tadler beschämten.

Von

den dramatischen Versuchen

der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und sie bestanden allesammt die Probe auf den Brettern schlecht.

Die Führer

der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, sprachen mit Hohn von

der gemeinen Prosa des theatralischen Erfolgs.

Ganz unbekümmert um

die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder sieben Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerschaft be­

friedigen sollte, baute sich die dramaturgische Theorie ihre stolzen Wolken­ gebilde und stellte überspannte Anforderungen, denen sogar die festliche

Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können. So vertraulich wie einst Shakespeare oder Mokiere hatten selbst die Heroen unserer classischen Dichtung

niemals zu der Bühne gestanden.

Jetzt aber ward der persönliche Verkehr zwischen Dichtern und Schau­

spielern immer seltener.

Die dramatische Kunst vergaß, daß sie vor allen

anderen den schönen Beruf hat ein Band der Einheit zu bilden zwischen den Höhen und den Niederungen der Gesellschaft. entstand nach

In unserem Volke

und nach eine verhängnißvolle Spaltung, die bis zum

heutigen Tage ein arges Gebrechen der deutschen Gesittung geblieben ist:

von dem schauenden und hörenden sonderte sich das lesende Publicum vor­ nehm ab.

Das Theater mußte sich einen guten Theil seines täglichen

Bedarfs durch literarische Handwerker liefern lassen; Schauerdramen und

schlechte Uebersetzungen aus dem Französischen lockten die Schaulust der Menge.

Wer sich zu dem auserwählten Kreise der wahren Dichter zählte,

trug meist allzu schwer an dem Gepäck der ästhetischen Doktrin, um noch so dreist zugreifen, so herzlich lachen zu können wie eS die Bühne von

ihren Beherrschern fordert, und

Bücherdramen nieder.

legte seine dramatischen Gedanken in

Diese Zwittergattung der Poesie, deren die über­

reiche moderne Bildung allerdings nicht gänzlich entbehren kann, gedieh

in Deutschland üppiger als in irgend einem anderen Volke.

Hier, auf

dem geduldigen Papiere fanden alle die verzwickten Theoreme und phan­

tastischen Einfälle der eigensinnigen deutschen Köpfe freien Raum: Tragi-

3*

komödien und Märchendramen, in denen alle erdenklichen Versmaße und Arienmelodien wirr durcheinander klangen; geheimnißvolle Anspielungen, die nur der Dichter selbst mit seinen Vertrauten verstand; literarische

Satiren, die „statt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt" gaben; endlich exotische Dichtungen aller Art, die sich wie Uebersetzungen

lesen sollten. Unter den ausländischen Vorbildern stand Calderon nach dem Ur­

theil der Eingeweihten obenan.

Die deutschen Weltbürger wollten nicht

sehen, daß dieser rein nationale Dichter eben darum zu den Classikern zählt, weil er die Ideale seiner Zeit und seines Volkes künstlerisch ge­

staltet hat; sie ahmten sklavisch seine südländischen Formen nach, die in unserer nordischen Sprache einen opernhaften, schlechthin undramatischcn Klang annahmen, und trugen die konventionellen Ehrbegriffe des katholi­

schen Ritterthums in die freie protestantische Welt hinüber.

Viel Geist

und Kraft ward an solche Künsteleien vergeudet; am'letzten Ende bewirkte

daS anspruchsvolle Treiben nichts als die Zerstörung aller überlieferten

dramatischen Kunstformen.

Die Poeten aber gewöhnten sich mit stolzer

Bitterkeit in die undankbare Welt zu blicken.

classische Land der verkannten Talente.

Deutschland wurde das

Die Ueberzahl der unbefriedigten

Schriftsteller bildete eine Macht des Unfriedens in der Gesellschaft, sie

nährte den nationalen Fehler der tadelsüchtigen, hoffnungslosen Verdrossen­ heit und hat späterhin, als die politischen Leidenschaften erwachten, viel zur Verbitterung des Parteikampfes beigetragen. Bis zum Fratzenhaften gesteigert erschienen die sittlichen und ästheti­ schen Schwächen der romantischen Epigonen in dem

zerfahrenen Leben

Zacharias Werners; sein dramatisches Talent ging rühmlos unter, weil die männliche Kunst der Dramatik einen ganzen Mann verlangt.

Sein

Leben lang schwankte er friedlos hin und her zwischen wüsten Begierden und überschwänglicher Verzückung, zwischen chnischer Gemeinheit und einer weinerlichen Gefühlsschwelgerei, die sich's nicht versagen konnte am Grabe

eines Hundes für den Seelenfrieden

des Entschlafenen zu beten.

Da

sein zerrissenes Gemüth bei „Gott und dem heiligen Rousseau" keinen

Trost fand, so flüchtete er sich endlich zu Rom in den Schooß der alten Kirche und klammerte sich in krampfhafter Angst an den Felsen Petri an.

Wenn der kritische Verstand des Ostpreußen zuweilen erwachte, wenn ihm das Blutfest des heiligen Januarius wie ein peruanischer Götzendienst vorkam,

rufungen.

so

betäubte er die Zweifel durch das Getöse ekstatischer Aus­

Dann kam er nach Wien, in den Tagen da der rührige Pater

Hoffbauer in der lebenslustigen Stadt zum ersten male wieder eine streng

kirchliche Partei begründet und eine Schaar von Convertiten um sich ge-

sammelt hatte; er ging auf alle Anschauungen dieser clericalen Kreise freudig ein und trat den Freiheitsgesängen der norddeutschen Jugend ent­ gegen mit dem Liede: „das Feldgeschrei sei: alte Zeit wird neu!"

Zur

Zeit des CongresseS ward er der Modeprediger der vornehmen Welt.

Halb

zerknirscht, halb ergötzt lauschte das elegante Wien, wenn der lange hagere

Priester mit den unheimlichen dunklen Augen seine gewaltige Baßstimme erschallen ließ und bald

in glühenden Farben

den Schwefelpfuhl der

ewigen Verdammniß, bald mit gründlicher Sachkenntniß und schlecht ver­

hehltem Behagen die Verirrungen der Sinnlichkeit schilderte.

Wie seinem

Leben so fehlte auch seinem dichterischen Schaffen die Entwicklung und Läuterung.

Seine Jugenddramen bekundeten ein starkes realistisches Ta­

lent und lebendigen Sinn für historische Größe; in einzelnen Scenen der „Weihe der Kraft" trat die mächtige Gestalt Martin Luthers, das hoch-

gemuthe, farbenreiche Leben unseres sechzehnten Jahrhunderts markig und anschaulich heraus.

Dicht daneben lag freilich eine krankhafte Lust am

Spukhaften, Scheußlichen und Wilden; jene räthselhafte Verbindung von

Glaubenswuth, Wollust und Blutdurst, die uns in den Naturreligionen

unreifer Völker anwidert, schien in dem unseligen Menschen wieder lebendig zu werden.

Nach seinem Uebertritte nahm er mit bußfertigem Eifer sein

bestes Werk zurück und schrieb eine klägliche „Weihe der Unkraft".

In

seinem letzten Drama „die Mutter der Makkabäer" verrieth sich schon die

Gewissenlosigkeit eines halb umnachteten Geistes, der hinter schwülstigen Hymnen und grell gemalten Märtyrerbildern die Armuth seines religiösen

Gefühles zu verbergen suchte. Wirksamer als Werners historische Trauerspiele wurde seine im Jahre. 1815 veröffentlichte Schicksalstragödie

„der vierundzwanzigste Februar",

ein auf die Erregung körperlichen Schauders berechnetes Virtuosenstück. Das tragische Schicksal ergab sich hier nicht mit innerer Nothwendigkeit

aus dem Charakter der Handelnden, sondern auS dem räthselhaften Zauber

eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leser trug, statt der erhebenden Einsicht in die Vernunft der sittlichen Welt, nur ein Ge­

fühl rathlosen Entsetzens davon.

Da die Neuheit dieses tollen Einfalls

Aufsehen erregte und die romantische Welt ohnehin geneigt war, im Aber­

witze den tiefsten Sinn zu suchen, so fand sich bald ein geschickter Macher, der die Schrulle nach deutscher Unart in ein System brachte.

Der Wei­

ßenfelser Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama „die Schuld" und

entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick­ salstragödie: eine höhere Weltordnung, räthselhafter noch als das blinde

Schicksal der Alten, sollte in das irdische Leben hineinragen und durch den albernen Zufall, durch eine zerspringende Saite, einen unheilvollen

Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben stürzen. So ward denn Alles, was die protestantische Welt je über tragische Schuld und Zurechnung gedacht, durch die zügellose Neuerungslust der romanti­

schen Doktrin wieder in Frage gestellt,

und es schien, als sollte unsere

tragische Kunst geradezu in Selbstvernichtung

enden.

Müllner richtete

sich in drei literarischen Zeitschriften zugleich häuslich ein, pries mit lau­ tem Marktgeschrei die lange Reihe seiner eigenen Werke und erschreckte

die Gegner durch unfläthige Grobheit, so daß Goethe zürnte: „Der Edle

mault nur um das Maul den Andern zu verbieten."

Einige Jahre lang

behauptete der grundprosaische Mensch den angemaßten Thron; und so fest stand noch das Ansehen der deutschen Dichtung in der Welt, daß

selbst ausländische Blätter gläubig

barung sprachen.

von der neuen dramatischen Offen­

Dann verfiel auch die Schicksalstragödie dem unab­

wendbaren Loose der gespreizten Nichtigkeit: das Publikum begann sich zu

langweilen und wendete sich anderen Moden zu. Unter dem Verfalle der dramatischen Dichtung litt auch die Schau­ spielkunst.

Wie viele geistvolle Abhandlungen über das Theater als na­

tionale Erziehungsanstalt waren nun schon erschienen, und doch hatte bis­

her unter allen deutschen Staatsmännern nur Stein sich diesen Gedanken angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der

Bühne verpflichtet sei.

Er stellte, als er bei seinem Abgänge die verän­

derte Organisation der preußischen Behörden vorzeichnete, die Theatergleich der Akademie der Künste unter das Departement des Cultus und

des Unterrichts; doch kaum zwei Jahre später wurden sie durch Harden­ berg wieder in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanstalten verwiesen

und, mit Ausnahme der Hoftheater, der Aufsicht der Polizei unterworfen.

Die Unterstützung der großen Bühnen in den Residenzstädten galt allge­ mein als persönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es

zeigte

sich

bald, daß diese Theater von der Freigebigkeit kunstfreundlicher Fürsten

immerhin noch mehr zu erwarten hatten, als von der sparsamen Klein­ bürgergesinnung der neuen Landtage.

Kaum war die Stuttgarter Bühne

im Jahre 1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwiesen worden, so begannen die Landstände bereits über Verschwen­

dung zu klagen und willigten schon nach drei Jahren freudig ein, als der

König sich bereit erklärte die Unterhaltung des Hoftheaters wieder aus der Civilliste zu bestreiten.

Die Monarchen sorgten meist mit rühmlichem

Eifer für die äußere Ausstattung ihrer Theater sowie für die Berufung

einzelner bedeutender Kräfte;

die alten socialen Vorurtheile gegen den

Schauspielerstand begannen sich zu mildern seit man die Bühne in so

nahem Verkehre mit den Höfen sah.

Gleichwohl hat die Schauspielkunst durch die Hoftheater wenig geuonnen.

Nach Ifflands Tode betraute König Friedrich

Wilhelm den

Grafen Brühl mit der Leitung der Berliner Hofbühnen, einen liebenSttürdigen, feingebildeten Mann, der aber weder dramatischer Dichter noch

Schauspieler war und sich nur mit dem Eifer des geistreichen Kenners

die strengen

classischen Grundsätze der Weimarischen Theaterschule an­

geeignet hatte.

DaS gefährliche Beispiel

fand rasche Nachfolge;

bald

wurde an allen Höfen das Amt des Theater-Intendanten zu den hohen Hofwürden gezählt, die Leitung der größten deutschen Theater ging den

geschulten Fachmännern verloren und

fiel in die Hände hochgeborener

Dilettanten.

Wohl hielten die guten Ueberlieferungen aus der alten Zeit noch eine Weile vor.

Der Mangel an schönen neuen Stücken ward noch nicht

allzu fühlbar, da die Dramen der classischen Epoche noch auf allgemeine Theilnahme rechnen konnten und Shakespeares Werke jetzt erst auf der

Die Hoftheater von Berlin,

deutschen Bühne sich völlig eiubürgerten.

München, Karlsruhe, Braunschweig zeichneten sich durch manche tüchtige

Leistungen aus, ebenso das altberühmte Hamburger und das neue Leipziger Stadttheater.

In Berlin fand die realistische Richtung, die hier einst

durch Fleck die Herrschaft erlangt hatte, nialen Vertreter.

Welche grauenhafte,

an Ludwig Devrient einen ge­ diabolische Kraft lag in seinem

Richard III., welcher Uebermuth naturwüchsigen Humors in seinem Fal­ staff!

Fast erstaunlicher noch, wie er selbst kleine Nebenrollen zu heben

wußte; als Knecht Gottschalk im Käthchen von Heilbronn traf er den Ton der einfältigen Treue und Wahrhaftigkeit so wunderbar glücklich, daß den

Hörern die ganze unverstümmelte Kraft und Größe des alten deutschen

Lebens mit einem male vor die Seele trat. Zucht der Bühne lockerte sich

Jedoch die feste künstlerische

nach und nach.

Die neue romantische

Sittenlehre ermuthigte jedes Talent sich rücksichtslos vorzudrängen und seine Eigenart durchzusetzen; die vornehmen Intendanten

aber besaßen

weder die Sachkenntniß um durch das eigene Beispiel die Einheit des Stiles in der Truppe aufrechtzuhalten, noch daS Ansehen um die Mit­

glieder in ihre Schranken zurückzuweisen.

Ein so gleichmäßig durchge­

bildetes und abgerundetes Zusammenspiel, wie es einst die Hamburger zu EkhofS, die Berliner zu Ifflands Zeiten entzückt hatte, brachten die glän­

zenden neuen Hoftheater nicht mehr zu Stande.

Zudem hatte sich die

Theaterkritik schon längst wie ein schädlicher Schwamm an den gesunden Baum der dramatischen Kunst angesetzt.

Schon ward es zur Regel, daß

der strebsame Gymnasiast oder Student sich durch Theaterbesprechungen seine literarischen Sporen verdiente; fast jeder gebildete Mann übte sich

gelegentlich in dem traurigen Handwerke des kritischen Spielverderbers.

Weitaus die meisten dieser Recensenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hochmüthigen Tadel sich selber ein Ansehen zu geben oder auch auf

dem Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinstädtische Publikum Das Unwesen wuchs noch als die

mit leidenschaftlichem Eifer theilnahm. politischen Verfolgungen hereinbrachen.

Seitdem blieb die Theaterkritik

das einzige Gebiet, auf dem sich die Federn der Tagesschriftsteller frei

ergehen durften;

so sagte der Minister Graf Bernstorff,

denn,

einen

Knochen muß man den bissigen Hunden doch lassen!

Nur zwei Dichtern dieses Zeitraums ist es gelungen, das Theater durch

bühnengerechte Werke von bleibendem Kunstwerthe zu bereichern.

Es waren die beiden ersten Oesterreicher seit dem dreißigjährigen Kriege,

die sich in der Geschichte der deutschen Poesie einen ehrenvollen Platz er­ warben.

Wie einst im dreizehnten Jahrhundert diese entlegenen Donau­

lande zu unserem Heile daS alte deutsche Volksepos bewahrten, während

das übrige Deutschland sich längst schon der ritterlichen Dichtung zuge­

wendet hatte, so waren sie jetzt wieder fast unberührt geblieben von dem Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären Ueberbildung unserer literarischen Revolution.

AIS nun endlich einzelne

gute Köpfe in Oesterreich auf die Welt von neuen Ideen,

Deutschen aufgegangen

war,

welche den

aufmerksam wurden, da stander, sie den

Schlagworten unserer literarischen Parteien in glücklicher Freiheit gegen­ über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutschen im Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden.

Sie hatten vor sich ein schaulustiges, dankbar empfängliches Publikum, dessen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver­ dorben war,

und dazu das schöne Beispiel der großen Musiker Oester­

reichs, die ja allesammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren hielten und sich nicht zu gut dünkten schlicht und recht für die Bühne zu arbeiten.

Eben jetzt begann das Burgtheater unter

Leitung alle deutschen Bühnen zu überflügeln.

Schreyvogels kundiger

Hier lernten die Wiener,

in künstlerisch durchgebildeter und doch einfacher Darstellung, die schönsten

Dramen Deutschlands kennen; selbst ausländische Werke wußte der treff­ liche Dramaturg durch geschickte Bearbeitung dem deutschen Gefühle so

nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuschauern beinah so vertraut erschien

für

wie ein heimisches Lustspiel.

grübelnde Künstelei.

So

ist denn

auch

Hier war kein Boden

Franz

Grillparzer

von

der theoretischen Ueberklugheit der deutschen Romantik nur einmal ange­ steckt worden.

Sein Erstlingswerk,

die Ahnfrau, war eine Schicksals-

tragödie; nicht die freie That deS Helden sondern „tief verhüllte finstre

Mächte" führten daS tragische Verhängniß herauf.

Jedoch die Pracht der

Sprache und die Gluth der Leidenschaft daS stürmische Fortschreiten der

Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den verschrobenen Grundgedanken fast vergessen.

gesunde Sinn des Dichters

aus den

Und alsbald riß sich der

Fesseln der Müllnerschen Kunst­

In seinen Trauerspielen „Sappho" und „das goldene

theorien völlig los.

Vließ" zeigten sich reine Form und scharfe Charakterzeichnung, Ernst und

deutscher

die schöne warme Sinnlichkeit des Altösterreichers, classische

und romantische Ideale glücklich verschmolzen.

Goethe blieb ihm fortan

der mit kindlicher Andacht geliebte Meister, Weimar der geweihte Heerd

des deutschen Lebens.

Größeres als den dämonischen Charakter der Medea

hat Grillparzer in den historischen Dramen seiner späteren Zeit nicht mehr geschaffen; eine stetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchsten Künstler­

fleißes versagt.

Er war nicht einer jener mächtigen Geister, die in un­

aufhaltsamem Aufsteigen nach

und nach immer weitere Kreise der Welt

mit dem Lichte ihrer Ideen bestrahlen, aber eine gemüthvolle, schamhafte Künstlernatur,

ein

echter Dichter, der

auch in den Zeiten deS Verfalls

die bewährten alten Grundsätze des dramatischen Idealismus mit unbe­

irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutschen Poesie in

Oesterreich. Bald nachher eroberte ein anderer Oesterreicher, Ferdinand Raimund der deutschen dramatischen Kunst ein neues Gebiet.

als Komiker

Der hatte seit Jahren

auf dem Leopoldstädter Theater sein harmloses Publikum

durch meisterhaftes Spiel entzückt, und

als er nun in aller Bescheiden­

heit sich anschickte seine kleine Bühne selber mit neuen Stoffen zu ver­

sorgen, da schuf er nicht, wie die meisten dichtenden Schauspieler, klug berechnete Zugstücke mit dankbaren Rollen, sondern volksthümliche Kunst­

werke.

Er wurde der Schöpfer der neuen Zauberposse, seit HanS Sach­

sens Zeiten der erste deutsche Poet, der in Wahrheit das ganze Volk an die Bühne zu fesseln verstand und die Massen ergötzte durch Dichtungen,

an denen auch der gebildete Sinn sich time Weile erfreuen und erwärmen

konnte.

Die Lust am Fabuliren war diesem Wiener Kinde angeboren;

gradeswegs aus dem Getümmel deS Volkslebens griff er sich seine lustigen Gestalten heraus, unerschöpflich in jenen

gutmüthigen Schwänken und

dämischen Späßen, die der Oesterreicher und der Obersachse mit dem glückseligen Ausrufe: nein, das ist zu dumm! zu begrüßen pflegt.

Aber

hinter dem ausgelassenen, neckischen Trei ben verrieth sich der unter Thrä­ nen lächelnde Humor eines tiefen Gemüthes. der alte deutsche sittliche Idealismus in

jenen

Und wie fest stand noch unschuldigen Tagen

des

socialen Friedens!

Immer wieder kam Raimund auf die Frage nach dem

wahren Glücke des Lebens zurück, die dem beladenen kleinen Manne die höchste aller sittlichen Fragen bleibt; und immer wieder,

mochte er nun

den Verschwender, den Menschenfeind oder den Bauer als Millionär vorführen, ließ er seine Hörer empfinden, daß alles Glück in dem Frieden

der Seele liegt.

Und die Masse glaubte ihm; die alten deutschen Volks­

lieder zum Preise der

fröhlichen Armuth waren noch nicht

vergessen.

Unter den zahlreichen Nachahmern deS anspruchslosen VolksdichterS kam

keiner dem

Meister gleich.

Das Volkslustspiel verwilderte schnell; die

saftige Derbheit sank zur Liederlichkeit, der gemüthliche Scherz zum öden

Wortwitze, die kindliche Einfalt zur Plattheit herab.

Weit später erst, in

einer Zeit erbitterter politischer und socialer Kämpfe, ist in Norddeutsch­ land eine neue Form der Posse entstanden, die an Witz und

Schärfe

jene unschuldigen Zaubermärchen ebenso weit übertraf, wie sie an Humor

und poetischem Gehalt hinter ihnen zurückblieb. — Für die erzählende Dichtung wurde die unersättliche Schreib- und

Lesesucht des Zeitalters zu einer Quelle schwerer Versuchungen.

Niemals

früher hatte sich eine solche Unzahl betriebsamer Federn auf allen Ge­ bieten der Literatur zugleich getummelt.

Der Meßkatalog der Leipziger

Buchhändler schwoll zu einem unförmlichen Bande an.

In jedem Städt­

chen sorgte eine Leihbibliothek für die Unterhaltung der Lesewelt. Anstandsgewohnheiten

dem

des

Die

altbegründeten Wohlstandes konnten sich in

verarmten «Lande noch nicht

ausbilden;

die Deutschen fanden kein

Arg daran, daß sie mehr lasen und weniger Bücher kauften als irgend ein anderes Volk.

Indeß erzielten einzelne Werke bereits einen starken,

nach den Begriffen der alten Zeit unerhörten Absatz: so Rottecks Welt­ geschichte, Zschokkes Stunden der Andacht und die Uebersetzung von WalterScotts Romanen.

Im Jahre 1817 kehrte Friedrich König, der Erfinder

der Schnellpresse, in die Heimath zurück und begründete dann in Oberzell

bei Würzburg seine große Fabrik, welche dem Buchhandel ermöglichte für das Massenbedürfniß zu arbeiten.

Und da man sich allgemach gewöhnte

alles Neue aus dem ganzen Bereiche der Wissenschaft und Kunst gierig herunterzuschlingen, so

ward man bald unzufrieden mit dem einfachen

classischen Unterrichte, auf dessen fruchtbarem Boden

Cultur emporgeblüht war.

die neue deutsche

ES genügte nicht mehr, dem Geiste eine strenge

formale Bildung zu geben, so daß er fähig ward aus einem engen Kreise

wohlgesicherter Kenntnisse nach und nach frei und stetig hinauszuwachsen, neues Wissen sich durch selbständige Arbeit anzueignen.

Man forderte

unter dem wohllautenden Namen der realistischen Bildung das Ansam­ meln

einer

bunten Fülle

unzusammenhängender Notizen, so daß Jeder

Das einfache Bekenntniß der Unwissenheit

über Jedes mitreden konnte.

galt für beschämend; Niemand wollte zurückstehen, wenn das Gespräch in raschem Wechsel von der Schicksalstragödie auf die spanische Verfassung, von

der Phrenologie auf die neuen englischen Dampfmaschinen hinübersprang. Mit dem sicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erspähte der

rührige F. A. Brockhaus diesen mächtigen Zug

dem Jahre 1818 ein älteres,

bisher wenig

der Zeit

und

ließ

seit

beachtetes Sammelwerk zu

einem großen ConversationSlexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha­

betischer Reihenfolge dem gebildeten Deutschen „alles Wissenswerthe" hand­

lich vorlegte.

Es war der Anfang jener massenhaften Eselsbrücken-Lite­

ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu seinem Vortheil auSzeichnet.

Das Unternehmen,

so

undeutsch wie sein Name,

fand

Anklang in weiten Kreisen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz

doch ohne

solche Krücken konnte sich dies mit der Erbschaft so vieler Jahrhunderte belastete Geschlecht nicht

mehr behelfen.

unverhohlenem Entsetzen

die Wandlung,

Niebuhr

aber beobachtete mit

die sich in der Gesittung

der

Nation allmählich vorbereitete; er sah voraus, wie friedlos, leer und zer­ fahren,

wie unselbständig

in ihrem Denken die moderne Welt werden

mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb- und Vielwissens, das Verlangen nach immer wechselnden Eindrücken überhandnahm.

Auch Goethe wußte,

daß hier die schlimmste Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts lag, und schrieb die ernste Warnung: Daß nur immer in Erneuung Jeder täglich Neues höre,

Und zugleich auch die Zerstreuung

Jeden in sich selbst zerstöre!

In einer so leselustigen Welt stumpfte sich der feine Formensinn schnell ab.

Man trachtete

vor

allem nach

stofflichem Reiz,

und da jede Zeit

die Schriftsteller hat, welche sie verlangt und verdient, so fand sich auch ein Heer von rührigen Romanschreibern, die sich begnügten für den Zeit­

vertreib zu sorgen und einige Jahre lang in den kritischen Blättern ge­ nannt zu werden.

ES blieb fortan ein unterscheidender Charakterzug des

neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poesie wie vereinzelte Goldkörner in einem ungeheueren Schutthaufen werthloser Unterhaltungsschriften ver­ steckt lagen und immer erst nach längerer Zeit aus der Masse des tauben

Gesteins herausgefunden wurden.

Nur war es in jenen anspruchslosen

Tagen nicht wie heute die industrielle Betriebsamkeit,

was so viele Un­

berufene auf den deutschen Parnaß führte, sondern in der Regel die

Eitelkeit und die literarische Mode.

Wie in der dramatischen so zeigten

auch in der Roman- und Novellendichtung die poetischen Naturen selten

Zur Geschichte der deutsche» Romantik.

44

das Talent der Composition, während die Virtuosen der spannenden und

fesselnden Erzählung ebenso selten die gestaltende Kraft des Dichters be­ währten. Durch die strenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche Gefühlsseligkeit, die sich einst vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge­

nährt hatte,

auf

kurze Zeit zurückgedrängt worden.

wieder Raum; in vielen Häusern Norddeutschlands

schmackt süßlicher Ton.

Jetzt gewann

sie

herrschte ein abge­

Manche kräftige Männer des heutigen Geschlechts,

welche einst in dieser sentimentalen Luft aufwuchsen, wurden dadurch mit

einem solchen Ekel erfüllt, daß sie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter

Empfindung vermieden.

Der weichliche Vielschreiber H. Clauren

sagte

dem Geschmacke der großen Lesewelt am Besten zu. Die eleganten Damen erfreuten sich an den verhimmelten Stahlstichen und den rührenden dio-

vellen der modischen Taschenbücher; Urania, Aurora, Alpenrosen, Ver­

gißmeinnicht

oder Immergrün stand auf den Titelblättern der zierlichen

goldgeränderten Bändchen zu lesen.

Obersachsen,

das vormals

so oft

durch starke reformatorische Geister entscheidend in den Gedankengang der

Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptsitz dieser Unterhaltungliteratur; es war, als ob die einst von dem jungen Goethe verspottete „Gottsched-Weiße-Gellertsche Wasserfluth" wieder über das schöne Land hereinbräche.

In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell

mit einigen anderen ebenso sanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum „Dich­

terthee" zusammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechsel­ seitig ihre faden, des chinesischen Getränkes würdigen Novellen, die sodann

in der vielgelesenen „Abendzeitung" veröffentlicht wurden.

Friedrich Böt­

tiger aber, der unaufhaltsamste der Recensenten, beeilte sich, wie Goethe

sagte, den Lumpenbrei der Pfuscher und der Schmierer zum Meisterwerk

zu stempeln. Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbestadt übergesiedelt war, zog sich von diesem leeren Treiben vornehm zurück.

An ihm ward

offenbar, daß die geheimnißvolle „Poesie der Poesie", deren die Roman­

tiker sich

zählte,

rühmten,

im Grunde

nur geistreiche Kennerschaft war.

Er

obwohl ihn seine Bewunderer dicht hinter Goethe stellten, doch

zu den Naturen, die mehr sind als sie leisten.

Da er von dem über­

mächtigen schöpferischen Drange des Dichters jetzt nur noch selten ergriffen ward, so warf er sich mit schönem Eifer, mit seiner gepriesenen „schnellen

Fühlbarkeit" auf die Erforschung der Shakespearischen Dramatik.

Was

er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen

Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutsche Leben als die formlosen Romane und die literarisch-satirischen Märchendramen seiner

Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantasie erschienen, weil sie mit bewußter Absichtlichkeit selber sagten, daß ihnen „der Ver­

stand so gänzlich fehle".

Wie vielen jungen Poeten und Schauspielern

ist in dem alten Hause am Altmarkte die erste Ahnung von dem eigent­

lichen Wesen der Kunst aufgegangen, wenn der Dichter an seinen vielge­ rühmten Leseabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der

Shakespearischen Gestalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die Seele führte.

Der junge Graf Wolf Baudissin fand eö bald unbegreif­

lich, wie er nur hätte leben können bevor er diesen Mann gekannt.

Tieck

war früh berühmt geworden und erschien schon im Mannesalter wie ein Gütig, mit theilnehmendem Verständniß

Patriarch der deutschen Poesie.

nahm der gichtbrüchige Mann mit den

hellen Dichteraugen die Jungen

auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in seinen geistvollen Worten mancher seltsame Einfall mit unterlief, so blieb sein Blick doch auf die Höhen der Menschheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an

„die heil'gen Vier, die Meister der neuen Kunst", Dante, Cervantes, Shakespeare und Goethe.

Dichtung zurück.

Erst nach Jahren kehrte er wieder selbst zur

Noch mehr als Tieck hatten sich die Brüder Schlegel

dem poetischen Schaffen entfremdet.

triebe der ultramontanen Politik.

Friedrich versank ganz in dem Ge­ August Wilhelm lebte in Bonn seinen

literarhistorischen und philologischen Studien, eine Zierde der neuen rhei­

nischen Hochschule; den Studenten blieb der kleine stutzerhafte alte Herr

doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren

Schultern die neue Wissenschaft stand.

Nur jenen jüngeren Poeten, die sich einst in Heidelberg zusammen­ gefunden hatten, versiegte die dichterische Ader nicht.

Tiefer als Clemens

Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantischen Spiel- und

Traumlebens hineingerathen.

Halb Schalk halb Schwärmer, heute über­

müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirscht und bußfertig, sich selber und

der Well ein Räthsel, trieb sich der Ruhelose bald in den katholischen Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge­

brüdern Gerlach und den anderen

christlich-germanischen Genossen der

Maikäfer-Gesellschaft seine Abhandlung über die Philister, die kecke Kriegs­ erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzulesen.

Den

Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er so wenig

wie Z. Werner sich in den norddeutsch-protestantischen Ton der Bewegung

recht finden; wie seltsam gezwungen und gemacht erschienen seine zumeist zur Verherrlichung Oesterreichs gedichteten Kriegslieder: „durch Gott und

Dich

ward wahr, o Franz:

was Oestreich will das kann's!"

Nachher

führte ihn sein mystischer Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab;

er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der stigmatisirten Nonne von Dülmen und legte seine Betrachtungen über das Wunderweib in

verzückten Schriften nieder.

Und doch drang das lautere Himmelslicht

der Poesie immer wieder durch die Nebel,

Prags",

welche

diesen kranken Geist

Kaum hatte er in dem tollen Hexenspuk der „Gründung

umnachteten.

einer verunglückten Nachahmung von Kleists Penthesilea, allen

seinen verschrobenen Launen die Zügel schießen

lassen,

so

sich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten immer nur gefordert hatten:

liche Form zu gießen.

sammelte er

der Romantik

einen volksthümlichen Stoff in volksthüm-

Er schuf sein Meisterstück,

die Erzählung

vom

braven Kasperl und vom schönen Annerl, das Vorbild der deutschen Dorf­

geschichten.

Mit vollem Rechte rühmte späterhin Freiligrath ihm nach:

der wußt' es wohl wie nied're Herzen schlagen; denn so naiv und treu hat Keiner wieder geschildert was dem Seelenleben der kleinen Leute seine einfältige Größe giebt; die verhaltene Kraft der naturwüchsigen Leiden­

schaft,

die vergeblich

nach

einem Ausdruck ringt und dann plötzlich in

verzehrenden Flammen durchbricht. noch in späteren Jahren.

Ebenso ungleich blieb sein Schaffen

Die romantischen Feinschmecker bewunderten

seine Hühnergeschichte Hinkel und Gockeleia; sie konnten nicht genug prei­

sen, wie hier

ein gesuchter Einfall zu Tode gehetzt, Hühnerleben und

Menschenleben in kindischem Spiele durcheinander geworfen wurde. Unter­

dessen schrieb er in allen guten Stunden seine „Märchen" still für sich hin, köstliche Erzählungen vom Vater Rhein, von den Nixen und dem kristallenen Schlosse drunten in den grünen Wellen, Bilder voll schalk­ hafter Anmuth, traumhaft lieblich wie die rheinischen Sommernächte.

Der ungleich stärkere und klarere Geist seines Freundes Achim v. Ar­

nim fand in der Märchenwelt kein Genügen.

Der hatte schon früher in

der „Gräfin Dolores" ein großes realistisches Talent bekundet; nun wagte er sich mit dem Romane „die Kronenwächter" auf die hohe See des histo­ rischen Lebens hinaus und rückte mit seiner kräftigen, unumwundenen

Wahrhaftigkeit den Gestalten unserer Vorzeit herzhaft auf den Leib, bis

sie ihm Rede standen und der markige Freimuth, die derbe Sinnlichkeit

des alten Deutschlands, die wüste Roheit seiner Lagersitten, der recht­

haberische Trotz seines reichsstädtischen BürgerthumS den Lesern hart und grell, wie die Gestalten Dürerscher Holzschnitte, vor die Augen traten. Der ordnende,

die Fülle des Stoffes

beherrschende Künstlersinn bleibt

freilich selbst diesem liebenswürdigsten Jünger der romantischen Schule versagt.

Unvermittelt wie im Leben liegt das Einfache und das Seltsame

in dem Romane neben einander; ein dichtes Gestrüpp von krausen Epi­

soden umwuchert die Erzählung; zuweilen verliert der Dichter die Lust

und läßt sich wie ein unmuthiger Schachspieler die Figuren vom Brette herunterschlagen.

Der großgedachten, tiefsinnigen Dichtung fehlt der Ab­

schluß, die Einheit des Kunstwerks.

Weit größeren Anklang fand Amadeus Hoffmann bei der Masse der Lesewelt, der einzige Novellendichter, der es durch Fruchtbarkeit und Ge­ schick

mit dem betriebsamen Völkchen der Taschenbuchsschriftsteller auf­

nehmen konnte.

In seinem wunderlichen Doppelleben verkörperte sich die

widerspruchsvolle romantische Moral, die m uthwillig jede Brücke zwischen

dem Ideale und der Wirklichkeit abbrach und grundsätzlich verschmähte das

Leben durch die Kunst zu verklären.

Wenn er den Tag über die gefan­

genen Demagogen verhört und in den Criminalakten des Kammergerichts gewissenhaft und gründlich gearbeitet hatte, dann ging ihm erst die Sonne seiner Traumwelt auf.

Dann durfte ihn kein Wort mehr an das Schat­

tenspiel des Lebens erinnern, dann zechte er mit ausgelassenen Freunden

oder phantasirte in Liebhaberconcerten; und also begeistert schrieb er die

Phantasiestücke in Callots Manier, die Elixire des Teufels, die Nacht­ stücke: phantastische Geschichten von Dämonen und Gespenstern, von Träu­

men und Wundern, von Wahnsinn und Verbrechen, das Ungeheuerlichste was je ein überreiztes Hirn ersann.

Es war als ob die Teufelsfratzen

von den Dachtraufen unserer alten Dome herunterstiegen.

Spuk drängte sich so nahe, so sinnlich greifbar auf,

Der wüste

daß der Leser, wie

vom Alpdruck gelähmt, still halten mußte und dem kecken Humor, der

diabolischen Grazie des meisterhaften Erzählers Alles glaubte. Zuletzt blieb von dem tollen Spiele freilich nichts zurück als die dumpfe Betäubung

des physischen Schreckens. — Derweil in Drama und Roman

so

viele Irrwische ihr unstetes

Wesen trieben, erreichte die lyrische Dichtung der Romantik durch Ludwig

Uhland ihre Vollendung.

Die Kritiker der Schule sahen den prosaischen

Menschen über die Achseln an, als seine Gedichte im Jahre 1814 zuerst

herauskamen.

Recht als das Gegenbild romantischer Geniesucht erschien

dieser ehrenfeste Kleinbürger:

wie er in Paris den Tag hindurch treu-

fleißig in den Manuscripten der altfranzösischen Dichtung forschte und

Abends schweigsam in Gesellschaft des

ebenso schweigsamen Immanuel

Bekker die Boulevards entlang ging, mit offenem Munde und geschlossenen Augen, ganz unberührt von dem lockenden Glanz und den Versuchungen

ringsum; wie er dann in dem heimathlichen Neckarstädtchen seinen be­

häbigen wohlgeordneten Haushalt führte und sich nicht zu gut dünkte an den prosaischen VerfaffungSkämpfen Württembergs mit Wort und That

theilzunehmen.

Und doch war eS gerade diese gesunde Natürlichkeit und

bürgerliche Tüchtigkeit, was den schwäbischen Dichter befähigte die Schran-

ken der Kunstformen

einzuhalten und den romantischen Idealen

weise

eine lebendige, dem Bewußtsein der Zeit geben.

entsprechende Gestaltung zu

Ein denkender Künstler, blieb er doch völlig gleichgiltig gegen das

literarische Gezänk und die ästhetischen Doktrinen der Schule und harrte

geduldig bis die Zeit der Dichterwonne kam, die ihm des Liedes Segen

brachte.

Dann wendete er die kritische Schärfe, welche andere Poeten in

den Literaturzeitungen vergeudeten, unerbittlich gegen seine eigenen Werke; kein

anderer deutscher Dichter hat mit so

sprödem Künstlerstolze alles

Halbfertige und Halbgelungene im Pulte zurückbehalten.

Die Heldenge­

stalten unserer alten Dichtung, des Waltherliedes und der Nibelungen,

erweckten zuerst seine poetische Kraft; an den Gedichten des Alterthums vermißte er den tiefen, die Phantasie in die Weite lockenden Hintergrund; doch ein angeborener, streng geschulter Formensinn bewahrte ihn vor der

unklaren

Ueberschwänglichkeit

der

mittelalterlichen Poesie.

In

festen,

sicheren Umrissen traten diesem Classiker der Romantik seine Gestalten vor die Seele.

Während die älteren Romantiker meist durch den phantastischen Reiz des Fremdartigen und Alterthümlichen in die deutsche Vorzeit hinüber­

gezogen wurden, suchte Uhland in der Vergangenheit das rein Mensch­ liche, das zu jeder Zeit lebendige und vor Allem das Heimathliche, die

einfältige Kraft und Herzenswärme des unverbildeten germanischen We­ sens; das Forschen in den Sagen und Liedern unseres Alterthums galt

ihm als „ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutschen Volks­

lebens".

Er fühlte, daß der Dichter, auch wenn er entlegene Stoffe be­

handelt, nur solche Empfindungen aussprechen darf, die in der Seele der

Lebenden widerklingen, und blieb sich des weiten Abstandes der Zeiten klar bewußt.

Niemals

hat ihn die Freude an der Farbenpracht des

Mittelalters den protestantischen und demokratischen Gedanken des neuen Jahrhunderts

entfremdet.

Derselbe Dichter, der so rührend von den

Gottesstreitern der Kreuzzüge sang, pries auch den Baum von Witten­

berg, der

mit Riesenästen,

dem Strahle des Lichtes

Klausendach hinauswuchs, und

entgegen,

gesellte sich freudig zu den

zum

streitbaren

Sängern deS Befreiungskrieges und beugte sich demüthig vor der Helden­

größe des neuerstandenen Vaterlandes: Nach solchen Opfern heilig großen WaS gälten diese Lieder Dir?

Mit kräftigem Spotte kehrte er der Aftermuse der romantisch süßen Herren, der Assonanzen- und Sonettenschmiede den Rücken zu und hielt

sich an den Wahlspruch der Altvorderen: „schlicht Wort und gut Gemüth sind das echte deutsche Lied."

Die anschaulichen, volköthümlichen AuS-

drücke strömten dem Sprachgewaltigen von selber zu.

So leicht erklangen

seine ungekünstelten Verse, so frisch und heiter schwebten seine Gestalten dahin, daß die Leser gar nicht bemerkten, wie viel Künstlerfleiß sich hinter

der tadellosen Reinheit dieser einfachen Formen verbarg, wie tief der Dichter in die Schachte der Wissenschaft hatte hinabsteigen müssen bis

ihm Klein Roland

und Taillefer, Eberhard der Rauschebart

Schenk von Limburg so vertraut und lebendig wurden.

und der

Für seine Er­

zählungen wählte er mit Vorliebe die dem leidenschaftlichen germanischen Wesen zusagende Form der dramatisch bewegten Ballade, nur selten, wo

es die Natur des Stoffes gebot, die ruhig berichtende, ausführlich schil­ dernde südländische Romanze.

Nicht die Begebenheit war ihm das Wesent­

liche, sondern ihr Widerschein in dem erregten

Menschenherzen.

Jede

Falte des deutschen Gemüthes lag ihm offen, und wunderbar glücklich

wußte er zuweilen mit wenigen anspruchslosen Worten ein HerzenSgeheimniß unseres Volkes zu offenbaren.

Einfacher als in dem Gedichte

von dem treuen Kameraden ist nie gesagt worden, wie den streitbaren Germanen seit der Cimbernschlacht bis zu den Franzosenkriegen im Schlacht­ getümmel immer zu Muthe war: so kampflustig und fromm ergeben, so

liebevoll und so treu. Die Kraft der Empfindung drängte sich auch in seinen erzählenden

Dichtungen so stark hervor, daß manche Gedichte, die er selber Balladen

nannte, bald als Lieder in den Volksmund übergingen.

Denn seinen

Liedern vornehmlich verdankte er die Liebe des Volkes, die ihm zuerst in der schwäbischen Heimath, dann auch im übrigen Deutschland frohlockend

entgegenkam bis er endlich der volksthümlichste aller unserer großen Dichter wurde.

In den schlichten, tief empfundenen Worten von Liebes Leid und

Freude, von Wanderglück und Abschiedsschmerz, von der Lust des Weines

und der Waffen fanden Alle, Vornehm und Gering, die Erinnerungen

ihres eigenen Lebens wieder.

Zumal die Oberdeutschen fühlten sich an­

geheimelt, wenn ihnen zwischen den Zeilen des Dichters stets die schwäbische

Landschaft mit ihren Rebenhügeln

und

sonnigen

Flüssen,

mit ihrem

heiteren sangeSlustigen Völkchen entgegenwinkte. Die einfachen, dem VolkS-

liede nachgebildeten Weisen forderten unwillkürlich zum Singen auf; bald wetteiferten die Tonsetzer sich ihrer zu bemächtigen. stimmte mit ein.

Die ganze Jugend

UhlandS Lieder erklangen wo immer deutsche Soldaten

über Land marschirten,

wo Studenten, Sänger und Turner sich zum

fröhlichen Feste zusammenfanden; sie wurden eine Macht des Segens für das frisch aufblühende kräftige Volksleben des neuen Jahrhunderts.

Das

junge im Kriege gestählte Geschlecht drängte überall aus der Stubenluft

der guten alten Zeit hinaus ins Freie, die deutsche Wanderlust forderte Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 1.

4

ihr Recht, alte halbvergessene Volksfeste gelangten wieder zu Ehren

Der

neue Volksgesang schlug eine Brücke über die tiefe Kluft, welche die Ge­ bildeten von den Ungebildeten trennte,

führte die Massen, die nichts

lasen, zuerst in die Kunstdichtung der Gegenwart ein; und wenngleich

jene köstliche ungebrochene Einheit der nationalen Gesittung, wie sie einst in den Tagen der Staufer bestanden, für die gelehrte Bildung der mo­ dernen Welt immer unerreichbar blieb, so war es doch eine heilsame

Rückkehr zur Natur, daß allmählich mindestens ein Theil der schönsten deutschen Gedichte der ganzen Nation lieb und verständlich wurde.

schlug

dem schwäbischen Dichter das Herz,

als

Wie

er die neu erwachende

Liederfreude seines Volkes sah; voll Zuversicht rief er den Genossen die nur allzu treulich beherzigte Mahnung zu: Singe wem Gesang gegeben In dem deutschen Dichterwald I Das ist Freude, das ist Leben,

Wenn's von allen Zweigen schallt!

Der schlichte Mann konnte sich nicht satt sehen an dem lärmenden Gewimmel

der Volksfeste,

und

das waren ihm

die Augenblicke des

höchsten Dichterlohnes, wenn er einmal auf einer Rheinreise irgendwo im Walde junges Volk

hörte,

mit frischen Stimmen seine eigenen Lieder singen

oder wenn ein Tübinger bemoostes Haupt in festlichem Comitat

über die Neckarbrücke hinauszog und das Abschiedslied

„es ziehet der

Bursch in die Weite" bis in den Rebgarten des Dichterhauses am Oester­ berge hinüberklang. Wohl umspannten seine Gedichte nur einen ziemlich engen Kreis von Gedanken; er sang, wie einst die ritterlichen Dichter mit den Goldharfen,

fast allein

„von Gottesminne, von kühner Helden Muth,

Liebessinne, von süßer Maienbluth".

lichte

von

lindem

Auch in seinen Tragödien verherr­

er mit Vorliebe die zähe Treue altdeutscher Freundschaft;

fehlte die fortreißende Macht der dramatischen Leidenschaft.

ihnen

An das mäch­

tige politische Pathos seines Lieblings Walther von der Vogelweide reichten seine vaterländischen Gedichte nicht heran; der prometheische Drang, die

höchsten Rähsel des Daseins, das Woher und Wohin der Menschheit zu ergründen, berührte sein ruhiges Gemüth selten.

Darum wollte Goethe

von den Rosen und Gelbveigelein, den blonden Mädchen und trauernden Rittern deS schwäbischen Sängers nichts hören;

er verkannte, daß ihm

selber in der Lieder- und Balladendichtung Niemand sonst so nahe ge­

kommen war wie Uhland, und meinte herbe, in Alledem liege nichts das Menschengeschick Bezwingendes.

Die Deutschen aber hatten sich längst

im Stillen verschworen, den Altmeister zu behandeln nach seinem eigenen

Der treue Schwabe

Worte: wenn ich Dich liebe, was gehts Dich an?

wußte, wie unmöglich eS ist einen Meister seines Irrthums zu überführen. Er ließ sich durch die Ungerechtigkeit des Alten in seiner Liebe nicht be­

irren; er ward nicht müde dem Greise seine Sängergrüße zu senden und der Nation zu erzählen, wie dieser Königssohn einst in goldner Frühe daS schlummernde Dornröschen, die deutsche Poesie erweckte, und wie daS

steinerne Laub am Straßburger Münster rauschte, als der Dichterjüngling die Thurmschnecken Hinaufstieg, „dem nun ein halb Jahrhundert die Welt

des Schönen tönt". Obwohl der Schweigsame nach seinem dreißigsten Jahre nur noch einzelne Gedichte veröffentlichte und sich begnügte als geistvoller Forscher

und Sammler an der großen Arbeit der Wiederentdeckung unserer Vor­ zeit theilzunehmen, so wuchs sein Dichterruhm doch von Jahr zu Jahr.

Die Lieder seiner Jugend konnten nicht veralten.

Hochgebildet und doch

bürgerlich unscheinbar; begeistert für die alte Herrlichkeit des Reichs und das

österreichische Kaisergeschlecht,

und doch ein Demokrat,

„Fürstenräth' und Hofmarschälle mit trübem Stern

dem

die

auf kalter Brust"

immer verdächtig blieben; im politischen Kampfe furchtlos und treu, wie eS der Wappenspruch des Landes fordert, bis zum trotzigen Eigensinne — so erschien er den Schwaben als der rechte Vertreter der LandeSart, als

der beste der Stammgenossen.

Sie hoben ihn auf den Schild und rühmten:

„jedes Wort, das der Uhland gesprochen, ist uns gerecht gewesen". Eine Schaar von jungen Poeten folgte dem Meister nach und nannte

sich bald selbst die schwäbische Dichterschule.

der neuen

deutschen Dichtung ward

Hier zuerst in der Geschichte

der Versuch einer

landschaftlichen

Sonderbildung gewagt, doch eS war ein durchaus harmloser Partikularismus.

Nichts lag diesen Dichtern ferner als die Absicht sich loszuretßen

von der gemeinsamen Arbeit der Nation; sie fühlten sich nur recht von Herzen froh und stolz, diesem heiteren Lande des Weines und der Lieder anzugehören, diesem Stamme, der einst des heiligen Reiches Sturmfahne getragen hatte und fest wie kein anderer mit den großen Erinnerungen

unseres Mittelalters verwachsen war.

Liebenswürdige Heiterkeit und natür­

liche Frische war allen den ungezählten Balladen und Liedern dieser Poeten

eigen; sie blieben deutsch und züchtig und bewahrten die reinen Formen

der lyrischen Dichtung auch in späteren Tagen, als der neue weltbür­ gerliche Radikalismus, den Adel der Kunstform und die Unschuld des

Herzens zerstörend, über die deutsche Poesie hereinbrach.

Aber die wun­

derbare poetische Stimmung der Lieder Uhlands ließ sich ebenso wenig nachahmen wie seine schalkhafte Laune, die den reckenhaften Trotz der

deutschen Heldenzeit so glücklich jit verklären wußte.

Manche der schwäbi4*

scheit Balladensänger verfielen allmählich in die gereimte Prosa des Mei­

stergesanges; ihre platte Gemüthlichkeit wußte dem neuen Jahrhundert keine Gedanken zu bieten.

Weitaus der eigenthümlichste Geist aus diesem Kreise war Justinus Kerner, eine durch und durch poetische Natur voll drolligen Humors und tiefen Gefühles.

Sein gastreiches Haus in den Rebgärten dicht neben der

alten sagenberühmten Burg Weibertreu bei Weinsberg blieb viele Jahre hindurch die Herberge für alle guten Köpfe auS dem Oberlande. dort von dem Dichter und seinem Rickele herzlich

Wer

ausgenommen ward

und ihn dann beim Neckarwein tolle Schnurren erzählen oder seine geist­ vollen, warm empfundenen Lieder vortragen hörte, der fand es kaum an­

stößig, daß auch dieser im Grunde der Seele protestantische und moderne Mensch

von dem mystischen Hange der Romantik nicht unberührt ge­

blieben war.

Wie Brentano die wunderthätige Katharina Emmerich, so

feierte Kerner die Seherin von Prevorst, eine kranke Bäuerin auS der Nachbarschaft, und meinte durch sie den Einklang zweier Welten zu be­

lauschen; was ihn in diese nächtigen Regionen trieb war nicht die Ge­ wissensangst einer unfreien, haltlosen Seele, sondern die poetische Schwär­

merei eines kindlichen Gemüthes, das in der Verstandesdürre der Allfklärung seinen Frieden nicht finden konnte.

Dankbar rief ein Genosse der

Tafelrunde dem glücklichen Dichterhause zu: ES weicht die Geisterschwüle Vor jener Abendkühle, Die von des Genius Schwingen thaut I

Unterdessen begann die Nation erst ganz zu verstehen waö sie an

ihrem größten Dichter besaß.

Immer mächtiger und gebieterischer hob

sich die Gestalt Goethes vor ihren Augen, als die Aufregung der Kriegs­ zeit sich legte und die während der Jahre 1811 —14 erschienenen drei

ersten Theile von Dichtung und Wahrheit allmählich in größere Kreise

drangen.

DaS Buch stand in der langen Reihe der Bekenntnisse bedeu­

tender Männer ebenso einzig da wie der Faust in der Dichtung.

Seit

den Confessionen des Augustinus hatte Niemand mehr das allerschönste Geheimniß deS Menschenwesens, das Werden des Genius, so tief, wahr

und mächtig geschildert.

Jenem strengen Heiligen verschwanden die Ge­

stalten deS Diesseits gänzlich neben dem zermalmenden Gedanken der

Sündhaftigkeit

aller Creatur und

der Sehnsucht nach dem lebendigen

Gotte; hier aber redete ein weltfreudiger Dichtergeist, der in der Lebens­ fülle der Schöpfung die ewige Liebe anzuschauen suchte und von den höch­ sten Flügen des Gedankens immer wieder zurückkehrte zu dem einfältigen

Künstlerglauben:

„wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Pla-

neten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und

Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zu­

letzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?"

Ebenso

ehrlich wie einst Rousseau bekannte Goethe die Fehler und Jrrgänge seiner Jugend; doch bewahrte ihn sein sicheres Stilgefühl vor jener gewaltsamen,

gesuchten Offenheit, die zur Schamlosigkeit führt.

Cr legte nicht wie der

Genfer auch jene halb unbewußten widerspruchsvollen Aufwallungen des

Gefühles blos, welche allein durch ihre Flüchtigkeit erträglich werden und in der ausführlichen Darstellung fratzenhaft erscheinen, sondern gab nur

das Wesentliche

seines

Lebens:

er erzählte

wie er zum Dichter ge­

worden war. SBenn- aus Rousseaus Geständnissen zuletzt doch nichts übrig blieb als die

wehmüthige Erkenntniß

der Gebrechlichkeit des Menschen, der

zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild, zwischen dem Gott und dem Thiere haltlos dahinschwankt, so überkam die Leser von Dichtung und Wahrheit das frohe Gefühl, daß dem deutschen Dichter in zweifachem

Sinne gelungen war was Milton einst von dem Poeten verlangte: sein

Leben selbst zu einem wahren Kunstwerke zu gestalten.

Wie er das Ta­

lent von der Mutter, den Charakter von dem Bater ererbt hatte und

nun nach und nach mit ungeheuerer Beharrlichkeit sich ausbreitete über

den ganzen Bereich menschlichen Schauens, Dichtens und Erkennens —

auf jeder Stufe seiner Entwicklung erschien dieser Geist gesnnd, vorbild­ lich, der Natur gemäß und darum so einfach in allen seinen wunderbaren Wandlungen.

Die geistreiche Fanny Mendelssohn sprach nur die Em­

pfindungen aller Leser aus, als sie weissagte: diesen Mann werde Gott

nicht vor der Zeit Heimrufen; der müsse auf Erden bleiben bis zum höch­ sten Alter und seinem Bolke zeigen was es heiße zu leben.

Die Ver­

ehrung für Goethe war ein Band der Einheit zwischen den besten Män­

nern dieses zerrissenen Volkes; je höher ein Deutscher in seiner'.Bildung

stand, um so tiefer beugte er sich vor dem Dichter.

Wohl hörte man

aus dem Tone des Buches heraus, daß Goethe einst selber von seinen Jugendtagen gesagt hatte: man hätte mir eine Krone auf das Haupt setzen

können, und ich würde mich nicht gewundert haben.

Und doch stand er

viel zu hoch um auch nur berührt zu werden von jenen unwillkürlichen Regungen der Selbstgefälligkeit, die sich fast in allen Confessionen zeigen.

Das mächtige Selbstbewußtsein, das sich in diesen Blättern aussprach,

war die heitere Ruhe eines ganz mit sich einigen Geistes, die glückliche Unbefangenheit eines Dichters, der sein Leben lang nur Bekenntnisse ge­

schrieben hatte und längst gewohnt war den Tadlern und den Neidern gelassen zu antworten: ich habe mich nicht selbst gemacht.

Immer wenn er in das deutsche Leben Hineingriff hatte er sein Höch­ stes geleistet; so waren denn auch die Gestalten, die er jetzt aus der Er­

innerung heraufbeschwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur die schönsten seiner freien Dichtergebilde.

Aus dem Pfarrhause von Sesen-

heim drang ein Strahl der Liebe in die Jngendträume jedes deutschen

Herzens, und wenn ein Deutscher

an die seligen Tage seiner eigenen

Kindheit zurückdachte, so stand mit einem male das winklige alte Haus

am Hirschgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er schaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen.

Der

Dichter sagte mit seinen Alten: in der Gestalt wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten.

Ihm selber fiel ein anderes

Loos; denn so mächtig war der Zauber dieses Buches, daß noch heute,

wenn Goethes Name genannt wird, fast Jedermann zuerst an den könig­ lichen Jüngling denkt; seine Mannesjahre, die er selbst nicht mehr ge­ schildert hat, scheinen neben dem sonnigen Glanze dieser Jugendgeschichte

wie im Schatten zu liegen.

Wie Rousseau die Zeitgeschichte mit der Erzählung seines Lebens verwoben hatte, so gab auch Goethe, nur ungleich tiefsinniger und gründ­

licher, ein umfassendes Geschichtsbild von dem geistigen Leben der fridericianischen Zeit.

Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer schil­

derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutschen Kunst:

wie Alles keimte und drängte,

wie der frische Duft des Erdreichs aus

den neu umgebrochenen Neckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum noch kahl stand und andere schon Blätter trugen.

Wie oft hatten Nie­

buhr und andere Zeitgenossen dem Dichter den historischen Sinn abge­

sprochen, weil er sich so gern in die Natur versenkte.

Er aber löste jetzt

die beiden höchsten Aufgaben des Geschichtschreibers, die künstlerische und die wissenschaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu­

sammenfallen: indem er die Vergangenheit den Lesern so lebendig ver­ gegenwärtigte, daß sie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er sie zugleich daS Geschehene verstehen, die Nothwendigkeit der Thatsachen

erkennen.

DaS Werk war entstanden in den Tagen der napoleonischen Weltherr­

schaft, da der Dichter selbst an der politischen Auferstehung seines Vater­ landes zu verzweifeln schien, und gleichwohl sprach aus jedem Satze die zuversichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianischen Zeitalters.

Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngsten Niederlagen

den Glauben an Deutschlands große Zukunft aufgegeben hätte. jetzt,

Eben

da alle Welt den preußischen Staat verloren gab und selbst die

teutonischen Schwarmgeister sich gleichgiltig von dem Bilde Friedrichs ab­

wendeten, zeigte Goethe zuerst in ergreifenden Worten, wie fest die neue

Kunst mit dem preußischen Heldenruhme verwachsen war:

an Talenten

war in Deutschland niemals Mangel, doch der nationale Gehalt, der

eigentliche Lebensinhalt kam unserer Dichtung erst durch Friedrichs Thaten. So wenig war der Dichter seinem Volke innerlich untreu geworden.

Heute

giebt eö nur noch eine heilige Sache: — so äußerte er einst in jenen schweren Tagen — im Geiste zusammenzuhalten und in dem allgemeinen Ruin das Palladium unserer Literatur zu bewahren!

Ein qualvoller, ungesunder Zu stand blieb es doch, daß er zu dem erwachenden politischen Leben seines Volkes so gar kein Vertrauen fassen

konnte.

Schmerzlich genug erprobte er die Wahrheit seines eigenen Aus­

spruchs:

der Dichter sei seiner Natur nach unparteiisch und könne in

Zeiten politischer Leidenschaft einem tragischen Schicksal kaum entgehen. Auf Augenblicke überkam ihn wohl die Ahnung einer glücklicheren Zukunft. Als die große Armee nach Rußland zog und die Verzagten meinten, nun­

mehr sei das Weltreich vollendet, da erwiderte er: wartet ab, wie Viele

wiederkommen werden!

Aber als nun wirklich nur armselige Trümmer

jener endlosen Züge zurückkehrten und das preußische Volk sich wie ein

Mann erhob, da graute dem Dichter doch vor dem aufgeregten Wesen der „unartigen Freiwilligen". schen

Er vergaß eS nie, wie wenig die Deut­

einst den hohen patriotischen Sinn von Hermann und Dorothea

verstanden hatten, und traute seinem Volke die nachhaltige Kraft deS

politischen Willens nicht zu; er hatte von jeher mit der alten Cultur deS Westens

seine Gedanken

ausgetauscht und

sah

jetzt

mit unheimlichen

Ahnungen, wie die Völker deS Ostens „Kosaken, Kroaten, Kassuben und Samländer, braune und andere Husaren" über das friedliche Mitteldeutsch­ land dahinfegten.

Seinem Sohne verbot er streng, in das Heer der Ver­

bündeten einzutreten und mußte dann noch erleben, wie der leidenschaft­

liche Jüngling, beschämt und verzweifelt, plötzlich umschlug und im Hause

des Vaters eine abgöttische Verehrung für Napoleon zur Schau trug. Erst die Friedensbotschaft erlöste den Dichter auS seiner dumpfen Ver­

stimmung; er athmete erleichtert auf und schrieb zur Friedensfeier das Fest­

spiel „deS Epimenidcs Erwachen" um nach seiner Weise durch ein poetisches Bekenntniß seine Brust vollends zu befreien.

Die Masse, die mit Recht

bei solchem Anlaß ein volkSthümlicheS, gemeinverständliches Werk erwartete,

wußte mit den symbolischen Gestaltem nichts anzufangen; wer aber den Sinn der Fabel zu enträthseln vermochte, hörte tief erschüttert mit an, wie der träumerische Weise, „der diefe Nacht deS Jammers überschlief",

den siegreichen Kämpfern bekannte:

er schäme sich seiner Ruhestunden,

„denn für den Schmerz, den ihr empfunden, seid ihr anch größer als ich bin!"

Es war ein Gestanduiß, das jeden Tadel beschämte; doch kei-

Zur Geschichte ter deutschen Romantik.

56

neSwegS eine Demüthigung, denn zugleich dankte Epimenides den Göttern,

die ihm in diesen stürmischen Jahren die Reinheit der Empfindung be­ wahrt hatten.

Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungs­

krieg zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in

Rostock ihrem Blücher errichteten, schrieb er die Zeilen: In Harr-n und Krieg, In Stur; und Sieg Bewußt und groß, So riß er uns Vom Feinde los!

Sobald die Waffen schwiegen machte er sich auf „zu des Rheins ge­ streckten Hügeln, hochgesegneten Gebreiten".

Zwei glückliche Sommer,

1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheinischen Landen, die ihn mit ihrem sonnenhellen Leben immer vor allen Gauen anheimelten.

anderen deutschen

Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten

rheinländischen Frohsinn,

den freundnachbarlichen Verkehr zwischen den

beiden Ufern wiedererwachen sah, und droben auf dem Rochusberge bei

Bingen, wo die französischen Vorposten so lange ihren Lugaus gehalten, das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeste zusammenströmte.

In den

Blättern, die er zum Gedächtniß dieser frohen Tage schrieb, erschien der Greis wieder ganz so lebensfroh und weinselig wie einst der Straßburger Student.

Auch die Forschungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im

freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boifferee wieder auf.

Er freute sich an dem Kölner Dome, besuchte alle die alten Bau­

werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort stand

jetzt die altdeutsche Gemäldesammlung der Gebrüder Boifferee mit den Dürerschen Aposteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Christophorus,

ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unserer neuen Kunst­

forschung.

Die Gestalten Dürers, „ihr festes Leben und Männlichkeit,

ihre innere Kraft nnd Ständigkeit" hatten den Dichter schon in seiner Jugend mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken

der altniederländischen und der kölnischen Malerschule den Fleiß, die Be­ deutsamkeit, die Einfalt der deutschen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder,

rief er aus, was sind wir dumm: wir bilden uns ein, unsere Großmütter seien nicht auch schön gewesen!

Auch der Nibelungen nahm er sich nach­

drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Gesellen, die über

die reckenhafte Großheit des germanischen Alterthums ihre Witze rissen.

Den Drillingsfreunden in Köln, den Boisserees und ihrem Genossen Ber­ tram, „die zum Vergangenen muthig sich kehren", sendete er zum An­ denken sein Bild mit freundlichen Versen.

Die christlich-germanischen

Schwarmgeister frohlockten, nun sei dieser Berg zu Thal gekommen, nun habe der alte Heidenkönig dem deutschen Festkinde, dem Kölner Dome

huldigen müssen;

sie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und

hofften demnächst eine christliche Iphigenie erscheinen zu sehen. Wie wenig kannten sie diesen allseitigen Geist, der eben damals mit

ruhigem Selbstgefühle sagte: Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß

Rechenschaft zu geben, bleib' im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben!

Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutschen Romantik

unbefangen anerkannte, so war er doch mit Nichten gemeint im hohen Alter zu dem Gedankenkreise seines Götz von Berlichingen zurückzukehren. Er blieb der Classiker, der den Benvenuto Cellini übersetzt und in seiner Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutschen Renaissance ver­

kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum so lieb, weil dieser heitere Genius gleich ihm selber germanischen Gedankenreichthum mit südländi­

scher Formenschönheit verband.

Der Welterfahrene, der sich selbst oft­

mals demüthig „ein bornirtes Individuum" nannte, wußte nur zu wohl, wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür­

lichen Einseitigkeit verführen, und sah daher mit Entrüstung, wie die be­

wußte und gewollte Einseitigkeit des Teutoncnthums den Deutschen ihr bestes Gut, die freie Weltansicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu ver­

kümmern drohte.

Wenn daS junge Volk sich gar unterstand, ihm seine

geliebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, sie des be­ fruchtenden Verkehrs mit fremder Cultur zu berauben, dann brauste er

auf in Hellem Titanenzorne.

Die „malcontente, determinirte, zuschreitende"

Art des neuen Geschlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Wesen,

diese aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz so seltsam gemischte Formlosigkeit.

Namentlich an den jungen Malern, die

in dem Kloster auf dem Quirinal. ihre Werkstatt aufgeschlagen hatten, bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen ist.

Die fruchtbaren ersten Jahre der vorüber.

mittelalterlichen Schwärmerei waren

Jetzt hieß die Losung „Frömmigkeit und Genie!"; der Fleiß

ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erschienen so leer und

kahl wie die Klosterzellen von S. Isidoro selber.

Scharf abwehrend trat

der Dichter dieser Richtung entgegen; sogar die Widmung der CorneliuS-

schen Zeichnungen zum Faust würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte,

daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verstanden, die

classischen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile

ihre Entfaltung

finden sollten, noch kaum bemerkt hatte.

Vor Allem entsetzte den freien Geist des alten Classikers „die Kin­

derpäpstelei", das erkünstelte neukatholische Wesen der verfallenden Ro-

mantik.

ES wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutschen

Gesittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geistvolle Ferm

des positiven christlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte.

In

seiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den schönen Seelen deS

Pietismus, jedoch der enge Gesichtskreis dieser Stillen im Lande ver­ mochte den Genius nicht zu fesseln.

jenes tiefsinnigen, weitherzigen

Im Alter trat er mit den Bekennern

und hochgebildeten Christenthums, das

während der schweren Jahre deS Leidens und des Kampfes allmählich

herangereift war, niemals in nahe Berührung; sonst wäre seinem scharfen

Blicke schwerlich entgangen, daß Männer wie Stein und Arndt ihre un­ erschütterliche Hoffnungsfreudigkeit,

ihre

sittliche Ueberlegenheit,

einem

Hardenberg oder Gentz gegenüber, zu allermeist der Kraft des lebendigen

Glaubens verdankten.

So geschah

es, daß

auch der letzte und größte

Vertreter unserer classischen Epoche von dem wieder erwachenden religiösen

Leben der Nation wenig bemerkte, und noch auf Jahrzehnte hinaus die Geringschätzung kirchlicher Dinge in den Kreisen der

reichsten Bildung

fast als ein nothwendiges Zeichen freier Gesinnung erschien.

Die spin­

deldürren Gestalten der Nazarener mit ihrer gesuchten Einfalt, die bald süßlichen bald überschwänglichen Reden der romantischen Apostaten mußten Goethes großen Sinn empören; und als er gar die Frau von Krüdener

auf ihre alten Tage die Erweckte, vie gottbegeisterte Seherin spielen sah, da wallte fein protestantisches Blut hoch auf und er schrieb kurzab: „Hu­

renpack, zuletzt Propheten!"

Auch die Verfälschung der Wissenschaft durch

religiöse Gefühle und mystische Ahnungen blieb ihm immerdar ein Gräuel, und mit hellem Jubel begrüßt er Gottfried Hermanns „kritisch-hellenisch-

patriotische" Feldzüge wider Creuzers Symbolik.

Er fühlte lebhaft, daß

alles deutsche Wesen zu Grunde gehen müßte, wenn wir jemals unseren

Weltbügersinn völlig aufgäben; er ward nicht müde von der Nothwendig­ keit einer Weltliteratur zu sprechen, das Echte und Gute aus den Werken der Nachbarvölker zu empfehlen, und fand sogar Worte des Beifalls als

der geistreiche Russe Uwarow vorschlug, jede Wissenschaft nur in einer congenialen Sprache darzustellen, also die Alterthumskunde nur

in der

deutschen.

Ebenso wenig wie das überspannte Teutonenthum konnten dem Dichter die neuen constitutionellen Doktrinen zusagen.

In den einfachen gemüth­

lichen Verhältnissen des Lebens bewährte er stets eine rührende Güte und

Nachsicht gegen den geringen Mann, tiefe Ehrfurcht vor den starken und sicheren Instinkten

des Volksgefühls.

Oft wiederholte er:

die wir die

niederste Klasse nennen sind vor Gott gewiß die höchste Menschenklasse. Selbst während er an der Iphigenie

schrieb,

vermochte sein Menschen-

freundliche- Herz den Gedanken an die hungernden Apoldaer Strumpf­

wirker nicht los zu werden.

Doch im Staate, in Kunst und Wissenschaft

zeigte er die aristokratische Gesinnung, die jedem bedeutenden Kopfe natür­

lich ist, und wahrte streng abweisend das natürliche Vorrecht der Bil­ dung.

Schon in den Volksscenen seines Egmont hatte er sein Urtheil über

die politische Befähigung der Masse unverblümt ausgesprochen.

„Verwir­

rend ists wenn man die Menge höret" — so lautete seine Antwort, wenn die Wortführer des Liberalismus zuversichtlich betheuerten, die untrügliche Weisheit des Volks werde alle Schäden des deutschen Staatslebens zu

heilen wissen.

DaS undeutsche Wesen der

liberalen Tagesschriftsteller,

ihre Abhängigkeit von den Doktrinen der Franzosen war seiner deutschen

Gesinnung verächtlich; ihre verständige Wasserklarheit erinnerte

ihn an

den alten Nicolai und erfüllte ihn sogleich mit Besorgntß, denn er lebte

des Glaubens, die reine Verstandesbildung führe zur Anarchie, da dem

Verstände keine Autorität innewohne.

Bald bemerkte er auch mit Ekel,

wie der junge Liberalismus in denselben unduldsamen gehässigen Ton ver­ fiel wie

einst

der

Ketzerrichter der Berliner Aufklärung und alle An­

dersdenkende als Fürsten- oder Pfaffenknechte verklagte.

Diesen Sklaven

der Parteimeinung hielt er entgegen: eS gebe nur einen wahren Libera­ lismus, die Liberalität der Gesinnungen, des lebendigen Gemüths. Mit unüberwindlichem Abscheu erfüllte ihn das aufblühende Zeitungs­

wesen! ihm entging nicht, wie verflachend und versandend dies Haschen nach den TageSneuigkeiten, diese ungesunde Vermischung von ödem Klatsch und

politischer Belehrung auf die allgemeine Bildung wirken, welche Frechheit

und Nichtigkeit unter allen

diesen

unverantwortlichen Namenlosen, die

über Menschen und Dinge zu Gericht saßen,

hier

aufwuchern

mußte.

„Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung" schien ihm der einzige Gewinn auS der belobten Preßfreiheit.

Achselzuckend wendete er sich ab von den

Götzen deS Tages: „wer in der Weltgeschichte lebt, dem Augenblick sollt' er

sich richten?" — Wie war es doch so still geworden um den Alten!

Auch

Herder und Wieland waren dahingegangen, und daS schöne Verhältniß

zu seinem fürstlichen Freunde wurde durch eine unwürdige Kränkung ge­ trübt.

Drr Dichter wollte nicht dulden, daß ein abgerichteter Hund dort

seine Künste zeigte „wo der bekränzte Liebling der Kamönen der inn'ren

Welt geweihte Gluth ergoß".

Der Großherzog aber bestand auf seiner

Laune; Goethe mußte vor dem Hunde des Aubry weichen und zog sich

von der Leitung der Weimarischen Bühne zurück.

Die freie Heiterkeit seines Wesens blieb von Alledem unberührt.

Mit

jugendlichem Eifer vertheidigte er in seiner neuen Zeitschrift „Kunst und

Alterthum", wie vormals in den Propyläen, die classischen Ideale.

Der

Kunst-Meyer und die anderen unter dem gefürchteten Zeichen W. K. F.

versteckten Wetmarischen Kunstfreunde unterstützten ihn im Kampfe wider

Freilich stand der Dichter an der Schwelle

„die neue frömmelnde Unkunst".

stolzen, zuversichtlichen Tone seiner

zweier Zeitalter, und hinter dem

Polemik verbarg sich zuweilen ein Gefühl der Unsicherheit.

Wie vormals

Winckelmann zugleich für die antiken Bildwerke der Villa Albani und für die frostige Eleganz eines Raphael Mengs sich begeisterte, so kam auch

Goethe von seinem alten Genossen Tischbein nicht ganz los und schmückte

ein steifes Bild des Freundes, das von natürlicher Wahrheit wenig oder nichts

enthielt,

mit den Versen:

„heute noch im Paradiese

Lämmer aus der Wiese, und Natur ist's nach wie vor!"

wandern

Dabei behielt

er doch Fühlung mit allen frei aufstrebenden Talenten der deutschen Kunst und begrüßte mit warmem

Lobe die ersten kühnen Schritte Christian

Rauchs.

Wirksamer als diese kritische Thätigkeit ward das Erscheinen der Ita­ lienischen Reise im Jahre 1817.

Seit Langem waren diese Erinnerungs­

blätter in den Kreisen der Freunde verbreitet; nun gab sie der Dichter

gesammelt

herariS

in

einer

itcuen Bearbeitung, welche absichtlich alles

Licht auf Rom, auf die Werke des Alterthums und der Renaissance fallen ließ.

Die Deutschen sollten ihm nachfühlen, wie ihn einst die übermächtige

Sehnsucht unaufhaltsam

nach

der ewigen Stadt

drängte, wie selbst in

Florenz seines Bleibens nicht war, wie er in Assisi nur Augen hatte für

die schlanken Säulen des Minerventempels und „den tristen Dom" des heiligen Franciscus, die geweihte Stätte, wo einst GiottoS Kunst erwachte, keines

Blickes würdigen

wollte, bis er schließlich unter der Porta del

Popolo sich gewiß war Rom zu haben.

Und nun mußten die Leser ihm

folgen durch alle jene reichen Tage, die schönsten und fruchtbarsten seines

Lebens hindurch: wenn Morgens die Sonne über den zackigen Gipfeln

deS Sabinergebirges emporstieg und der Dichter den einsamen Weg am Tiber entlang hinauszog zu dem Brunnen in der Campagna; wenn er

unter

den Trümmern des Forums als ein Mitgenosse der Rathschläge

deS Schicksals die Geschichte von innen heraus lesen lernte, wenn

im einsamen kühlen Saale die ganze Seligkeit

ihn

des Schaffens überkam,

die Gestalten der Iphigenie, deS Egmont, des Tasio, des Meister mächtig

auf ihn eiudrängten; wenn er

endlich

unter

den Orangenbäumen am

sonnigen Strande von Taormina die Nausikaa und den Dulder Odysseus leibhaftig vor sich wandeln sah.

Und dann immer wieder das demüthige

Geständniß des Mannes, der längst

schon den Götz

und den Werther

gedichtet hatte: hier sei er wiedergeboren worden, hier sei ihm erst die

Klarheit und die Ruhe des Künstlers aufgegangen, hier habe er erst ge-

lernt aus ganzem Holze zu schneiden.

Die alte Germanensehnsucht nach

dem Süden, die Dankbarkeit der Nordländer gegen die schönen Heimathlande aller Gesittung hatte niemals wärmere Worte gefunden.

druck war tief und nachhaltig.

mehrere der begabtesten jungen Künstler sich

Alterthum zuwendeten. nischen Buche,

bald nachher wieder dem

Aber nicht blos die Nazarener grollten dem heid­

auch Niebuhr

fühlten sich befremdet.

Der Ein­

wurde die Freude, daß

Dem Dichter

und

manche andere weltlich freie Köpfe

Diese rein ästhetische, dem politischen Leben grund­

sätzlich abgewendete Weltanschauung entsprach den Gesinnungen der acht­ ziger Jahre; dem Geschlechte, das

bei Leipzig und Belle - Alliance ge­

schlagen hatte, konnte sie nicht mehr ganz genügen, wie mächtig auch die

literarischen Neigungen wieder Überhandnahmen. Vor wenigen Jahren erst hatte Göthe einige seiner jugendlichsten

geselligen Lieder geschrieben, so das ausgelassene Burschenlied Ergo bibamus.

Nach und nach, da er hoch in die Scchzig hinaufkam, regten sich

ihm doch die Gefühle des Alters, die milde Beschaulichkeit, die gefaßte

Ergebung, die Neigung zum Lehrhaften, Symbolischen und Geheimniß­

vollen; und

nach

seiner Gewohnheit ließ

er die Natur frei gewähren.

In solcher Stimmung las er die Uebersetzung des Hafis von Hammer.

Jener Drang in die Ferne, den die Weltfahrten der Romantik unter den

Deutschen erweckt hatten, ergriff auch ihn: erfühlte, wie die ruhige, hei­ tere Lebensweisheit dcö Orients seinen Jahren, die persische Naturreligion

seiner eigenen Erdfreundschaft zusagte.

Doch „ etwas Unmittelbares in

seine Arbeiten aufzunehmen" war ihm unmöglich; er wollte.und konnte

nicht, wie Schiller, sich eines fremden Stoffs gewaltsam bemächtigen um ihn zu gestalten.

Gemächlich lebte er sich nach und nach ein in die For­

men und Bilder der persischen Poesie, bis seine eigenen Gedanken un­ willkürlich etwas von dem Dufte des Morgenlandes annahmen.

Da führte ihn ein freundliches Geschick, auf jener Reise in die rhei­

nische Heimath, mit Marianne von Willemer zusammen;

es war, als

sollte ihm allein das ernste Wort nicht gelten, das er zwei Jahre zuvor geschrieben: der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag, ein letztes Glück

und einen letzten Tag.

Wie ward ihm wieder so jugendlich zu Muthe

in jenen sonnigen Herbsttagen, da er mit der schönen jungen Frau in den

Baumgängen der Heidelberger Schloßterrasse lustwandelte und den ara­

bischen Namenszug seiner Suleika in den Rand der Brunnenschale einritzte: „und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand."

Was

ihn dort beglückte war nicht eine übermächtige Leidenschaft, wie er sie einst für Frau von Stein empfunden, sondern eine warme und tiefe Herzens­

neigung für ein holdes Weib, das durch die Liebe des Dichters selber

zur Künstlerin wurde.

Gelehrig ging sie auf das orientalische Formen­

spiel des Freundes ein; im Wechselgesange mit Hatem

dichtete Suleika

jene melodischen Lieder voll süßer Jehnsucht und hingebender Demuth,

die während eines halben Jahrhunderts zu Goethes schönsten Gedichten gerechnet worden sind.

Er aber erwiderte bald geistreich spielend, bald

leidenschaftlich erregt; in gluthvollen,

mystischen Versen besang er den

liebsten von allen Gottesgedanken, die Macht der zwischen zweien Welten

schwebenden Liebe, die zusammenführt was sich angehört: „Allah braucht nicht mehr zu schaffen, wir erschaffen seine Welt!"

Dergestalt entstand nach und nach das letzte große lyrische Werk des Dichters, der Westöstliche Divan, ein bunter, nur durch das Band der

morgenländischen Form

zusammengehaltener Strauß von

Liebes- und

Schenkenliedern, von Sprüchen und Betrachtungen, von alten und neuen

Bekenntnissen. Es fehlte nicht an streitbaren Worten; nicht umsonst gestand der alte Meister: denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein

Kämpfer sein.

Mit schonungslosen Worten schilderte er die Macht des

Niederträchtigen unter den Menschen, und im scharfen Gegensatze zu der

Liederseligkeit der schwäbischen Dichter sah er schon voraus, wie das Ueber­ maß der Sangeslust das deutsche Leben zuletzt ernüchtern werde:

treibt die Dichtkunst aus der Welt? die Poeten!"

„wer

Den Grundton der

Sammlung bildete doch eine stille, das irdische Treiben frei überschauende Heiterkeit: „mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe."

Die kunstvolle,

in bisher unerhörten Freiheiten sich ergehende Prosodie des Divans diente

den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geschlechts zum Vorbilds. Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung,

der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne

steife und gesuchte Wendungen erschienen mehr gedichtet und gedacht als empfunden, manche künstliche Arabesken nur eingefügt um den fremd­

artigen Reiz des GesammtbildeS zu erhöhen.

Dafür erschloß der Greis

im Divan, in den Orphischen Urworten, in den unzähligen Sprüchen

seiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der fast für jede Lebens­ frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erst von

dem heutigen Geschlechte allmählich verstanden wird.

Viele Dichtungen

seines Alters gemahnten an jene räthselhaften Runen unseres Allerthums, vor denen der germanische Held sinnen und träumen konnte bis an sei­ nen Tod.

Zuweilen wagte er sich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen

des Daseins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver­

stummt und die Musik einsetzt: so in jenem wunderbaren Liede, das immer

leise in der Seele widerklingt so oft ein Strahl himmlischer Glückselig­ keit in unser armes Leben fällt:

Und so lang Du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde!

Bist Du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.

So lebte er dahin in seiner einsamen Größe, unablässig schauend,

sammelnd, forschend, dichtend, in's Endliche nach allen Seiten schreitend um das Unendliche ahnungslos zu ermessen, beglückt durch jeden Son­

nentag deS Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbstes, wie durch

jedes gelungene Werk der Kunst und jeden neuen Fund im weiten Be­ reiche menschlichen Wissens.

Schillers zarter Körper hatte sich vor der

Zeit aufgerieben im harten Dienste der Kantischen Pflichtenlehre; bei die­

sem Glücklichen und Kerngesunden erschien die ungeheure, allseitige Thätig­

keit nur wie die natürliche, mühelose Entfaltung angeborener Kräfte.

Die

ihm ferne standen ahnten kaum, wie ernst er eS selber nahm mit seinem strengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt

die Nacht wo Niemand wirken kann!

Sie ahnten noch weniger, welch ein

festes Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch sein reiches Alter ge­

leitete: wie er sich in frommer Scheu hütete der Vorsehung vorzugreifen

und in jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes erkannte — denn nur so erschien dem Künstler die göttliche Weltre­

gierung denkbar.

Und da er selber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies

Leben nie ein Ende finden könnte, so blieb auch die Jugend immer sein Liebling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geschlechts zu­

weilen belästigen: zuletzt konnte er den strahlenden Augen der begeisterten Brauseköpfe doch nicht zürnen und meinte gütig: es wäre thöricht zu ver­

langen: komm, ältle Du mit mir!

Jungen Dichtern aber wußte er nur zu

rathen was ihn selber die Natur gelehrt hatte: sie sollten sich vorerst be­ mühen Männer zu

werden, reich

im Herzen

wie im Kopfe, und ihre

Seele offen halten jedem Hauche der Zeit: „poetischer Gehalt ist Gehalt

des eignen LebenS; man halte sich an's fortschreitende Leben und prüfe sich von Zeit zu Zeit, ob man lebendig ist!"

Einzelne eifrige Renegaten, wie Friedrich Schlegel, unterstanden sich wohl, von dem abgetakelten alten Herrgott zu reden; die Edleren wußten,

daß man diesen Mann nicht antasten konnte ohne die Nation selber zu beschimpfen.

Wenn der Freiherr vom Stein die Zurückhaltung Goethes

in den napoleonischen Tagen beklagte, so fügte er bescheiden hinzu:

er ist doch zu groß!

Aber

Nirgends fand der Dichter wärmere Bewunderer

als in den Kennerkreisen Berlins.

Hier wurde die Goethe-Verehrung

wie ein Geheimdienst getrieben; die ewig schwärmende Hohepriesterin Rahel Darilhagen verkündete von ihrem Dreifuß herunter unermüdlich in ora-

kelhaften Reden den Ruhm des Vergötterten.

Der alte Herr sah sich die

Weihrauchswolken, die vor seinem Altar an der Spree emporstiegen, aus der Ferne gelassen an und gab gelegentlich in seinem umständlichen Ge-

heimrathö-Stile eine höfliche Antwort.

Doch näher auf den Leib durften

ihm diese Huldigenden nicht heranrücken;

er fühlte, daß bei ihnen zur

anspruchsvollen Doktrin wurde was ihm selber die Natur in die Wiege

gelegt hatte.

Der nixenhaften kleinen Rahel schlug ein dankbares, from­

mes, menschenfreundliches Herz im Busen; mitten in der gemachten Ek­ stase dieser tief eingeweihten Dilettanten und Halbkünstler bewahrte sie

sich das sichere Gefühl des Weibes für das Große und Starke: war doch Fichte einst viele Jahre lang neben Goethe ihr Abgott gewesen.

Aber

dicht neben solchen liebenswürdigen Zügen lag eine halb unbewußte und eben darum unermeßliche Eitelkeit, die in der Bewunderung des ersten deutschen Dichters die Größe des eigenen Ichs genoß und sich über das

stille Gefühl der Unfruchtbarkeit tröstete mit dem

erhabenen Gedanken:

der im Unendlichen schwebende Geist verschmähe sich einzubannen in die Kreise der Sprachkunst!

„Warum sollte ich nicht natürlich sein? — sagte

sie arglos — ich wüßte doch nichts Besseres und Mannichfaltigeres zu affektiren!" Und wie wenig Inhalt lag doch in allen den gebildeten Redens­ arten dieser ästhetischen Theecirkel. Vieles was man dort Geist nannte lief im Grunde hinaus auf die Mißhandlung der deutschen Sprache, auf

das verblüffende Zusammenstellen ungehöriger Wörter.

Wenn Rahel ein

edel und feurig vorgetragenes Musikstück „einen gebildeten Sturmwind"

nannte, dann jauchzte die Priesterschaar der höheren Bildung, und der

eunuchenhafte Gatte trug die Albernheit mit seinen zierlichsten Schrift­ zügen in seine Tagebücher ein.

Der alte Heros in Weimar aber kannte

den weiten Abstand zwischen dem Kennen und dem Können.

Wo ihm

unter seinen Verehrern schöpferische Begabung begegnete, da thaute er auf; wie väterlich kam er dem Wunderkinde Felix MendelSsohn-Bartholdh

entgegen und freute sich mit den glücklichen Eltern des schönen Vereines von feiner Bildung und echtem Talent. —

AIS die Dichtung schon in den Herbst eintrat, begann für die bil­ denden Künste erst die Zeit der Blüthe.

So lange die Begeisterung der

Kriegsjahre anhielt wurde die gothische Kunst allgemein als die wahr­

haft deutsche gepriesen.

Die Jugend schien sich für immer von den antiken

Idealen abzuwenden, und Schenkendorf rief gebieterisch:

keiner deutschen Wand mehr Heidenbilder sehn!"

„man soll an

Viele der Freiwilligen

aus dem Osten lernten auf den Märschen am Rhein zuerst den Formen­ reichthum unserer Vorzeit kennen; sie meinten in diesen alten Domen die

allein gittigen Musterbilder für die vaterländische Kunst zu finden und

bemerkten kaum, daß ihnen in den Kirchen des

verhaßten Frankreichs

überall der nämliche „altdeutsche" Stil begegnete.

Wenn sie zu dem alten

Krahn droben auf dem unvollendeten Thurme des Kölner Domes empor­

schauten, dann dachten sie mit ihrem ritterlichen Sänger: „daß das Werk verschoben bis die rechten Meister nah'n!"

Der Kronprinz fühlte sich

ganz überwältigt von dem Anblick der majestätischen Ruine;

auf seinen

Betrieb wurde Schinkel nach Köln gesendet und erklärte in seinem Gut­

achten: einen solchen Bau erhalten, daS heiße ihn vollenden.

Von dieser Stimmung der Zeit ward auch König Friedrich Wilhelm berührt, als er nach dem ersten Pariser Frieden beschloß, daS Gedächtniß

der deutschen Siege durch die Erbauung eines prächtigen altdeutschen Do­ mes in Berlin zu verherrlichen.

In Altpreußen erklang bald nachher von

allen Seiten der Rus: das herrliche Hochmeisterschloß, die von der Roheit

der Polen und dem prosaischen Kaltsinn des fridericianischen BeamtenthumS so schändlich verstümmelte Marienburg müsse in ihrer alten Pracht wieder

aufgerichtct werden,

ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland, das

sich so gern rühmte die anderen Deutschen zum heiligen Kampfe erweckt

zu haben.

Schon, der eifrige Wortführer des altpreußischen Provinzial­

stolzes, trat an die Spitze des Unternehmens; er dachte dies schönste welt­ liche Bauwerk unseres Mittelalters zu einem preußischen Westminster zu erheben, woran Jeder aus dem Volke seinen Antheil nähme.

Der König

übernahm den Wiederaufbau; die dünnen Zwischenwände, die ein phili­

sterhaftes Geschlecht mitten durch die ungeheuren Säle gezogen hatte, fielen

zusammen; über den schlanken Pfeilern der Remter erhoben sich wieder leicht und frei gleich den Fächern der Palmen die alten gothischen Ge­

wölbe.

Die Ausschmückung des Ordensschlosses überließ man der Nation.

Geld wurde nicht angenommen: wer mithelfen wollte mußte selber einen

Theil des Bauwerks künstlerisch ausstatten.

Der Adel, die Städte, die

Corporationen der verarmten Provinz wetteiferten in GesLenken, Patrioten

aus allen Landestheilen des Staates schlossen sich an; Jork stiftete die schweren Zinnen über Meisters Morgenhellem Gemach, Stein hing sein Wappenschild an einem Pfeiler des oberen Burggangs auf. Bald prangten

an den bunten Fenstern die Bilder aus Preußens alter und neuer Ge­

schichte; denn grade in diesen Jahren erwachte die alte Kunst der Glas­ malerei, die mit so vielen anderen Segnungen der Cultur in den Stür­

men des dreißigjährigen Krieges untergegangen war, wieder zu frischem Leben.

Da standen unter dem schwarzundweißen Banner der Ritter vom

deutschen Hause und der Landwehrmann des Befreiungskrieges; die Gym­

nasien des tapferen Grenzlandes schenkten ein Fenster mit Davids Schwert und Harfe und der Inschrift:

wer kein Krieger ist soll auch kein Hirte

Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.IX. Hefti.

5

fein! Alle Herzensgeheimnisse des romantischen Geschlechts traten bei diesen Spenden an den Tag; wie fühlten die Deutschen sich glücklich, daß sie wieder ein Recht hatten den Helden ihrer großen Vorzeit frei ins Ge­ sicht zu sehen. Alles jnbelre, als der junge Kronprinz in den mächtigen Hallen der alten Burg ein Festmahl hielt und nach seiner enthusiastischen Weise den Trinksprnch ausbrachte: „Alles Große und Würdige erstehe wie dieser Ban!" Gleichwohl vermochte die gothische Richtnug in der Kunst ebenso wenig die Oberhand zu erlangen wie die schwäbischen Dichter in der Poesie. Die Ideen Winckelmanns unb Goethes behaupteten noch ihre Macht, nir­ gends kräftiger als in Berlin. Hier standen noch die besten Werke der deutschen Spätrenaissance, das Schloß, das Zeughaus und Schlüters Kurfürstenstandbild, die Denkmäler einer classisch gebildeten und doch na­ tionalen Kunstweise, verständlicher für das moderne Gefühl als die Banten des Mittelalrers. Hier in dem Mittelpnnkte einer großen, aber jungen Geschichte mußte die Rückkehr zu den Bauformen des vierzehnten Jahr­ hunderts als willkürliche Künstelei erscheinen. Und jetzt erst begann man mit den echten Werken der Hellenen vertraut zu werden. Winckelmann hatte einst fast nur die römischen Nachbildungen der griechischen Kunst kennen gelernt und noch gar nicht bemerkt, welchen weiten Weg das Alter­ thum von den dorischen Zeiten und den goldenen Tagen des PerikleS bis herab zu der Epoche der hadrianischen Nachblüthe durchlaufen hatte. Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts wurde der Boden Griechen­ lands selbst durchforscht; die Elginschen Marmorwerke wanderten nach London, die Aegineten im Jahre 1816 nach München. Mit der Erkenntniß wuchs die Bewunderung für die Antike. Zugleich trat in Rom jener nachgeborene Hellene auf, der wie kein anderer moderner Mensch in der classischen Formenwelt lebte und nur durch ein räthselhafteS Spiel des Schicksals in diese neuen Jahrhunderte verschlagen schien. Eine starke germanische Ader lag doch in Thorwaldsens mächtiger Natur. Den Deut­ schen sprach seine Kunst unmittelbar zum Herzen, sie zählten den Islän­ der halb zu den Ihren; hatte er doch an dem Nachlaß des Deutschen Aömus Carstens, des kühnen Rebellen gegen die akademische Kunst, sich zuerst gebildet und von ihm gelernt, was in den Werken deS Alterthums wahrhaft lebendig und für alle Zeiten giltig sei. Derweil also die altdeutsche und die classische Richtung noch in un­ entschiedenem Kampfe lagen, geschah in Berlin eine folgenreiche Wendung. Während der harten Jahre, da der preußische Staat am Rande deS Bankerotts stand, verbot sich die Errichtung monumentaler Kunstwerke von selbst. Nur einen künstlerischen Plan mochte der unglückliche König

nicht aufgeben: er wollte seiner Gemahlin ein würdiges Grabmal errich­ ten, und sein gesundes natürliches Gefühl führte ihn auch hier auf den

rechten Weg, obwohl er sich selber bescheiden nur einen Laien in Kunst­

sachen nannte.

Sein Herz sehnte sich nach einem verklärten Bilde der

Geliebten; und da er dunkel empfand, daß die Gothik, die seinem nüch­ ternen Wesen ohnehin zu phantastisch vorkam, den Adel der menschlichen

Gestalt nicht zur vollen Geltung gelangen läßt, so wollte er von einer altdeutschen Grabkapelle nichts hören.

Umsonst betheuerte ihm Schinkel,

der während jener Kriegsjahre noch ganz in teutonischen Anschauungen

befangen war: die Architektur des Heidenthums sei für uns kalt, die harte

Schicksalsreligion der Alten könne den Gedanken des Todes nicht mit der

liebevollen, tröstenden Heiterkeit des Christenthums darstcllen.

Friedrich

Wilhelm ließ inmitten der düsteren Fichten des Charlottenburger ParkeS

einen kleinen dorischen Tempel erbauen, der nur die einfach ernste Hülle

für das Grab der Königin bilden sollte; mit der Ausführung des Denk­ mals selbst wurde Christiail Rauch beauftragt, der einst im Dienste der

Verstorbenen aufgewachsen, durch sie in die Kunst eingeführt, jetzt mit der ganzen Wärme künstlerischer Begeisterung und persönlicher Verehrung

sein Werk begann.

Tausende strömten herbei, als dies Mausoleum im

Frühjahr 1815 eröffnet wurde, die Meisten zuerst nur um das Angesicht

der geliebten Fürstin noch einmal zu sehen.

Aber wie sie so dalag, die

liebliche Gestalt in ihrer stillen Hoheit, lebensvoll als ob sie athme, schön wie ein hellenisches Weib, fromm und friedlich wie eine Christin,

jede

Ader der Hände und jede Falte des weißen Marmorgewandes mit der

höchsten technischen Sicherheit und Sorgfalt behandelt, da verspürten selbst diese nordischen Massen, denen die Sculptur unter allen Künsten am fernsten liegt, einen Hauch vom Geiste der Antike.

Der Zug der Wall­

fahrer währte fort, jahraus, jahrein; Jedermann fühlte, die deutsche Kunst

einen

hatte

ihrer großen Schritte gethan.

formenstrenger Realismus

errang

einen

Rauchs

classisch

geschulter

durchschlagenden Erfolg.

Die

gothische Kunstschwärmerci verschwand bald aus der Berliner Gesellschaft, selbst der romantische Kronprinz wendete sich allmählich den classischen

Idealen zu.

Mittlerweile waren die Staaömänner aus Paris heimgekehrt, Har­ denberg noch

ganz

erfüllt von

den mächtigen Eindrücken der Louvre-

Gallerie; Altenstein und Eichhorn hatten unterwegs auch die Sammlung der Boisserees in Heidelberg besucht. Sie Alle verhehlten nicht, wie dürftig ihnen das Berliner Kunstleben neben dem Reichthum des Westens

schien,

er­

und waren mit dem König einig in dem Entschlusse, daß der

Staat nimmermehr

in das banausische Wesen des alten Jahrhunderts

5*

zurücksinken dürfe.

Als Altenstein bald dararif an die Spitze des Unter«

richtswesens trat, nahm er sich vor, das mit der Berliner Universität be­ gonnene Werk Wilhelm Humboldts fortzuführen und die preußische Haupt­

stadt auch zu einer Heimstätte deutscher Kunst zu erheben.

Das Mäce-

natenthum König Friedrichs I. hatte immer zunächst an den Glanz des HofeS gedacht; jetzt da die preußische Krone sich zum zweiten male der

bildeitden Künste mit Eifer annahm war sie sich der großen Culturauf­

Die Pflege der Kunst er­

gaben des Sraates endlich bewußt geworden.

schien ihr nunmehr als eine Pflicht der sittlichen Volkserziehung, damit

„auS dem Publikum etwas werde", wie Schinkel zu sagen pflegte; sic dachte

groß von der Freiheit des Künstlers und begnügte sich, den schöpferischen Köpfen würdige Aufgaben zu stellen ohne sie in ihrer Eigenart zu meistern. Aber dieser vornehmen Gesinnung deS Königs entsprachen die Kräfte deS erschöpften Staatshaushalts keineswegs.

Preußen mußte wieder einmal,

tote schon so oft, versuchen mit armseligen Mitteln Großes zu schaffen,

und zur rechten Zeit erschien der rechte Mann. Ein universaler Geist, tote die deutsche Kunst seit Dürers Tagen

keinen mehr gesehen, zugleich Baumeister, Bildhauer, Maler, Musiker und,

wenn er schrieb,

immer deS edelsten,

wirksamsten Wortes sicher,

hielt Karl Friedrich Schinkel seine Augen unverwandt auf die höchsten Ziele der Kunst gerichtet: das Kunstwerk war ihm „ein Bild der sittlichen Ideale der Zeit".

Thätig, schöpferisch in jedem Augenblicke, ein Verächter

der Trägheit, nannte er das Phlegma einen sündhaften Zustand in Zeiten

der Bildung, einen thierischen in den Zeiten der Barbarei. Herzen hing er an seiner märkischen Heimath.

Mit ganzem

Nun er diesen Staat

int Glanze siegreicher Waffen strahlen und den Kampf des Lichtes gegen

die Finsterniß, der ihn selbst so oft in seinen Künstlerträumen beschäftigte,

glorreich beendigt sah, schien ihm die Zeit gekommen auch die Anmuth

und die Fülle einer gereiften Cultur in das preußische Leben einzuführen und Berlin in einen heiteren Sitz der Musen zu verwandeln.

Palladio

seinem Vicenza so

dachte er der

Wie einst

preußischen Hauptstadt den

Stempel seines Geistes aufzuprägen: in der Mitte das Schloß, die Uni­ versität, die Theater und Museen, ringsumher statt der eintönigen Zeilen niederer Häuser stattliche Palazzi und freundliche Villen mit fließenden Brunnen, Alles int frischen Grün der Gebüsche versteckt, an der Stadt­

mauer prächtige Thore und draußen vor dem Leipziger Platze ein hoher gothischer Dom, das Siegesdenkmal des Befreiungskrieges.

Aber wäh­

rend jenem glücklichen Vicentiner ein Geschlecht reicher Signoren uner­ schöpfliche Mittel darbot und ihm die Vaterstadt wie einen Haufen weichen

Thones zu beliebiger Formung in die Hand gab, hatte der preußische

Künstler sein Leben lang mit der nothgedrungenen Sparsamkeit des Mon­

archen und seiner Beamten zu kämpfen.

Dem muß man einen Zaum

anlegen! — sagte der König lächelnd, so oft der Unerschöpfliche wieder

mit einem neuen Vorschläge herantrat.

kühnen Pläne gelangte zur Ausführung.

Kaum der zwanzigste Theil seiner

Wie viel Mühe hat eS ihn ge­

kostet, auch nur die baufälligen Statuen auf dem Dache des Schlosses,

die das Beamtenthum abbrechcn wollte, vor der Vernichtung zu retten. Statt des edlen Hausteins, der ihn in Italien entzückt hatte, mußte er sich zumeist mit verputztem Backstein, statt des Erzes mit Zinkguß behelfen. Gleichwohl genügte dieser armselige Bruchtheil seiner Entwürfe, neben

den Werken der Schlüterschen Epoche,

um der Baukunst Berlins für

immer ihren Charakter aufzuprägen.

Schinkel befreite sich bald von dem teutonischen Rausche der KriegSjahre.

Er erkannte, daß die vielgestaltige moderne Bildung sich nicht auf

Einen Baustil beschränken darf, und ließ die Kunstformen deS Mittel­ alters gelten, wo sie durch Lage und Bedeutung deS Bauwerks bedingt schienen.

Für seine eigensten Ideale aber fand er jetzt den rechten Aus­

druck in einer neuen Form der Renaissance, die sich enger als die Kunst

deS sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts an die Werke der Alten, vornehmlich der Hellenen, anschloß und doch immer verstand dem Sinn

und Zweck moderner Bauten gerecht zu werden.

Gleich an seinem ersten

größeren Werke, der neuen Hauptwache, sprach die kriegerische Bestimmung des Gebäudes so mächtig und trutzig aus den strengen, gedrungenen do­ rischen Formen, daß der Beschauer den überaus bescheidenen Umfang fast

vergaß und sich an Sanmichelis majestätische Festungswerke gemahnt fühlte. Als bald darauf, im Jahre 1817, daS Schauspielhaus abbrannte und das kargende Beamtenthum die Benutzung der alten Brandmauern für

den Neubau forderte, da wußte er wieder aus der Noth eine Tugend zu machen;

und bald erhob sich zwischen den beiden prächtigen Kuppeln der

Gensdarmenkirchen über einer hohen Freitreppe ein festlich heiterer ioni­ scher Tempel, die Giebel und Treppenwangen mit reichem Bildnerwerk

geschmückt — denn

auf das Zusammenwirken aller Künste ging jeder

seiner Pläne aus — der ganze Bau ein getreues Bild dieser geistig so

reichen, wirthschaftlich so armen Epoche, genial im Entwürfe, aber in der Ausführung vielfach eng und dürftig. Seitdem stand Schinkel fest in der Gunst deS Königs und übernahm

die Leitung alles künstlerischen Schaffens in Preußen, nur daß ihm die

leidige Geldnoth immer wieder die Fittiche seines Genius beschnitt.

In

ganz Norddeutschland und bis nach Skandinavien hinüber gelangte seine

classische Richtung zur Herrschaft.

Die Pläne für den Berliner Dom

wurden aufgegeben, weil die Mittel fehlten.

Statt dessen entstand das

schöne Siegesdenkmal auf dem Kreuzberge.

Das Denkmal selbst hatte

Schinkel in den gothischen Formen, die noch immer als die nationalen galten, entworfen; nur in den Sculpturwerken, womit Rauch und Tieck die Säule schmückten,

Stiles.

entfaltete sich die Freiheit des neuen classischen

Auf allen den Schlachtfeldern

aber, wo Preußens Heere

ge­

schlagen hatten, auf dem Windmühlenberge von Großbeeren wie auf dem hohen Todtenhügel bei Plancenoit in der brabanlischen Ebene errichtete der verarmte Staat überall die nämliche kümmerliche gothische Spitzsäule

mit der Inschrift: „Die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vater­ Sie ruhen in Frieden."

land.

Schinkel wußte, daß die monumentale

Kunst ein Treibhausleben führt so lange das Alltagstreiben des Volkes

schmucklos und häßlich bleibt.

Er sah mit Schmerz den nüchternen Ka­

sernenstil der Bürgerhäuser, den armseligen Hausrath der engen Zimmer.

Wie kläglich lag das deutsche Kunstgewerbe darnieder, das einst so rühm­ lich mit den Italienern gewetteifert halte; zu jeder größeren künstlerischen

Unternehmung mußte man Arbeiter ans der Fremde herbeirufen, Stein­ metzen aus Carrara, Kupferstecher ans Bkaitand, Erzgießer aus Frank­

reich.

Er aber fühlte sich stolz als der Apostel der Schönheit unter den

nordischen Völkern und gab daher, nachdem im Jahre 1821 das Berliner Gewerbe-Jnstitnt gegründet war, im Verein mit dem genialen Techniker

Beuth die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker heraus, eine Samm­

lung von Musterblättern für häusliches Geräth, die in unzähligen Nach­

bildungen allmählich bis in jede Werkstatt drangen und zuerst den For­ mensinn im deutschen Handwerk wieder erweckten, mochten immerhin ein­

zelne Muster dem malerisch gestimmten modernen Auge allzu kahl und einfach erscheinen. Unterdessen hatte Rauch in dem alten Markgrafenschlosse, dem Lager­

hause, seine Werkstatt aufgeschlagen und erzog dort, ein gestrenger Lehrer,

einen Stamm von treuen Schülern und geübten Kunsthandwerkern, also

daß die deutsche Kunst allmählich der fremden Hilfe entrathen lernte. Wie er. selber ohne wissenschaftliche Vorbildung erst durch das künstlerische

Schaffen selbst in die Welt der Ideen hineingewachsen war, so sah er auch bei seinen Schülern allein

Steinmetzen,

Holzschneider

auf das Können; sicherem

von

Blick

waren ihm willkommener als junge Gelehrte. die unsere Dichter nicht selten

tüchtige Klempner,

und

geschickter

Hand

Vor jener Ueberbildung,

auf Abwege führte, blieb die Bildner­

kunst bewahrt.

Fest und sicher schritt Rauch in dem angehobenen Gange fort; die teu­ tonischen Träume beirrten ihn nie.

Er fühlte sich eins mit dem preußischen

Staate und seinem Herrscherhause, und ihm wurde das seltene Glück, in seinen Kunstwerken zugleich seine politischen Ideale, alles was seinem Herzen

theuer war zu verkörpern.

Welch ein Segen doch, daß die ganze Nation

sich endlich wieder gemeinsam eines großen Erfolges freuen durfte.

Wäh­

rend früherhin nur die Landesherren zuweilen ein Denkmal errichtet hatten,

erwachte jetzt im Volke selber der Wunsch seine Helden zu ehren.

Zuerst

traten die Mecklenburger zusammen und ließen durch Gottfried Schadow

ihrem Landsmanne Blücher ein Standbild errichten, das erste größere

Werk der neu erstandenen deutschen Erzgießerei.

Nachher wurde in Schle­

sien gesammelt und Rauch aufgefordert, dem Feldherrn des schlesischen

Heeres dort neben dem Breslauer Ringe, wo sich einst die Freiwilligen zusammengeschaart hatten, ein Denkmal zn setzen.

Dann verlangte auch der

König Monumente für seine Generale, zunächst für die früh Verstorbenen, Scharnhorst und Bülow.

Ein weites Gebiet großer, lohnender Aufgaben

erschloß sich dem Künstler, der zugleich für den bildnerischen Schmuck der Schinkelschen Bauten mit zu sorgen hatte und das Erz wie den Marmor

gleich glücklich zu bewältigen verstand.

Ernst, mannhaft und edel, natur­

getreu und doch in hohem Stile gehalten, so erschienen die Bilder seiner

Helden; und selbst jenen leisen Zug der Steifheit, der ihnen anhaftete, durfte man nicht schelten, weil er dem Charakter des preußischen Heeres entsprach.

In seinen mächtigsten Werken, den Reliefs für die Denkmäler

Scharnhorsts und Bülows erhob sich Rauch zu einem heroischen Schwünge, den unsere Bildnerkunst nicht wieder überboten hat, und schilderte mit den einfachsten Mitteln, in wenigen majestätischen Gestalten den ganzen

Verlauf des Kampfes von den Tagen an, da Preußens Jünglinge sich aus Fichtenstämmen ihre Lanzen schnitzten bis zu dem stolzen Sieges­

fluge ihres Adlers hoch über die Festungen Niederlands und Frankreichs

dahin.

Rauch wurde der Historiker des deutschen Befreiungskrieges gleich­

wie einst Rembrandt und Bol, van der Helft und Flink den Geist und Sinn des achtzigjährigen Krieges der Niederländer der Nachwelt über­ liefert hatten.

Zugleich geschahen die ersten Schritte um den Plan eines großen Museums in der Hauptstadt zu verwirklichen.

Der Gedanke war schon in

den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms aufgetaucht und nachher, als W. Humboldt das Unterrichtswesen leitete, ernstlicher erwogen wor­

den.

Nunmehr erwarb der König, um die Staatskassen zu schonen, die

beiden großen Gemäldesammlungen von Gtustininiani und Solly aus den

Mitteln seiner Schatulle und überließ sie dem Staate.

Er befahl den

Beamten über die Verhandlungen mit Solly streng zu schweigen; denn

die kunstfreundlichen Absichten seiner Regierung fanden vorerst nur

in

einem kleinen Kennerkreise verständige Würdigung;

man fürchtete, daß

die verstimmte öffentliche Meinung, die mit pessimistischem Behagen den Zustand deS Staateö in den finstersten Farben darzustellen liebte, den

Monarchen der Verschwendung anklagen würde statt ihm für seine Hoch­

herzigkeit zu danken. schen Gallerte

Der ebenfalls beabsichtigte Ankauf der Boisseree-

mußte freilich unterbleiben, da der Brand

spielhauses alle noch verfügbaren Mittel verschlang.

des Schau­

Doch wurden die

besten Stücke der Sammlung durch die neue, kürzlich von Sennefelder erfundene Kunst des Steindrucks nachgebildet und weithin verbreitet, sie

bildeten den ersten künstlerischen Zimmerschmuck des verarmten deutschen

Hauses. Die deutschen Maler in Rom hatten indessen an Bartholdy, einem Verwandten deS kunstsinnigen Mendelssohnschen Hauses, nehmenden Gönner gefunden.

einen unter­

Der stellte ihnen die breiten Wände seines

Palastes in der Via Sistina zur Verfügung, damit sie sich in der Kunst

des Fresco, die seit Raphael Mengs völlig eingeschlafen war, wieder ver­

suchen könnten. beck,

In fröhlichem Wetteifer mallen nun Cornelius, Over­

Veit und Wilhelm Schadow,

dlirch Niebuhrs Beifall ermuthigt,

die großgedachten Bilder aus der Geschichte Josephs.

Cornelius begrüßte

jubelnd die Fresco-Malerei als ein „Flammenzeichen auf den Bergen zu

einem neuen edlen Aufruhr in der Kunst", weil sie den Malern endlich wieder ein Feld für monumentale Werke eröffne und in

ihrer herben

Strenge die Gedankenarmuth wie die Pfuscherei unnachsichtlich ausschließe. Die Kunst — so rief er in dem eigenthümlichen terroristischen Tone der

jungen Teutonen — die Kunst soll endlich aufhören eine feile Dienerin

üppiger Großen, eine Krämerin und niedere Modezofe zu sein.

Gleich

Schinkel sah er die Zeit kommen, da die Kunst an den Mauern unserer Städte von innen und außen wiederglänzend das ganze Dasein deS Volks umgestalten und heiligen werde.

Mit dem sicheren Stolze eines Refor­

mators der nationalen Gesittung kehrte er

über die Alpen zurück,

als

ihn nunmehr der junge Kronprinz Ludwig von Baiern nach München

berief.

Der Erbe der reichen und allezeit baulustigen Wittelsbacher meinte

sich berufen, in dem bairischen Lande, das soeben erst in das geistige

Leben der Nation wieder eingetreten war, einen glänzenden Musenhof zu gründen.

Eine lautere Begeisterung für die Kunst wie für den Ruhm

seines vergötterten deutschen Vaterlandes beseelte den geistreichen, phan­

tastischen Fürsten.

Die diplomatische Welt erzählte sich kopfschüttelnd, wie

er zu Rom in altdeutschem Rocke, Arm in Arm mit dem verdächtigen

demagogischen Dichter Friedrich Rückert, die Museen und Kirchen durch-

wandert, wie er die deutschen Maler zutraulich mit seinen holprigen Versen begrüßt, bet ihren Künstlerfesten auf die Vernichtung der Philisterei und

die Einheit Teutschlands lärmend mit angestoßen hatte.

Bet allen seinen

künstlerischen Plänen wirkte zugleich ein unsteter dynastischer Ehrgeiz mit: er hoffte die gründlich verachteten preußischen Hungerleider und Empor­

kömmlinge zu überbieten, dem bairischen Hause durch ein großartiges Mäcenatenthum die führende Stellung

in Deutschland

Welch ein Gegensatz zu der Kunstthätigkeit in Berlin!

zu verschaffen.

Dort geschah nur

was sich auS der Geschichte und den Lebensbedürfnissen eines mächtigen, an geistigen Kräften reichen Staates unabweisbar ergab, die von großen

Künstlern in ungestörter Freiheit geschaffenen Werke trugen das Gepräge des Nothwendigen.

In München baute man um zu bauen, auf einem Boden,

der von großen Erinnerungen wenig darbot; die von auswärts berufenen

Künstler genossen einer königlichen Freigebigkeit, welche von der preußischen Sparsamkeit 'glänzend abstach, doch sie fühlten sich in der Fremde und

hatten noch lange unter dem Mißtrauen der einheimischen Bevölkerung

zu leiden; über Allem schaltete der launische, unberechenbare Wille Eines

Mannes, der

in ungeduldiger Hast von Entwurf zu Entwurf hinüber­

sprang und was er bezahlte ganz unbefangen als sein eignes Werk be­ trachtete.

Der friedliche Wettkampf der beiden Städte beförderte die viel­

seitige Entwicklung unserer Kunst.

Er führte zuletzt zu dem natürlichen

Ergebniß, daß die wesentlich monumentalen Künste der Architektur und Bildhauerei auf dem historischen Boden Berlins ihre größten Erfolge er­ rangen, während die freiere, von der Gunst der Umgebung minder ab­ hängige Malerei in München ihre Heimath fand.

Kronprinz Ludwig hatte schon seit Jahren Ausgrabungen in Grie­ chenland veranstaltet, dann in Italien zusammengebracht was von den

besten Werken der antiken Bildhauerkunst nur irgend aufzukaufen war, und

ließ nun für diese Sculpturensammlung, die schönste diesseits der Alpen, draußen vor den Thoren des alten Münchens durch Klenze einen würdigen

Tempel errichten, die Glyptothek, ganz aus edlem Marmor, mit der ge­ diegenen Pracht südländischer Bauten.

DaS Gebäude selbst reichte an die

geniale Eigenthümlichkeit der Werke Schinkels nicht heran, jedoch an den Wänden und Decken der prächtigen Säle offenbarte Cornelius zum ersten

male den ganzen Umfang seiner Begabung.

Hier schuf er, als ein Epiker

in Farben, den ersten jener großen Gemälde-Cyklen, in denen der Jdeenreichthum seines rastlos erfindenden Geistes allein den angemessenen Raum

fand: die grandiosen Bilder aus der hellenischen Sagenwelt.

der Münchener spottete über das

Die Masse

verrückte Kronprinzenhaus, sie wußte

nichts anzufangen mit der tiefsinnigen Symbolik dieser Gedankenmalerei,

die ihre Werke meist schon im Carton vollendete und auf den Reiz der

Farbe fast gänzlich verzichtete.

Ernstere Naturen bewunderten,

verwegene Idealist die keusche Hoheit

der Antike

so

wie der

getreu wiedergab

und doch zugleich eine den Alten unfaßbare Macht der Leidenschaft auS seinen Gemälden sprach; denn niemals hatte ein Künstler des Alterthums eine so ganz von Seelenschmcrz zerwühlte Gestalt geschaffen wie diese trauernde Hecuba.

Die christlich-germanischen Heißsporne des römischen

Künstlerkreises bemerkten mit Entsetzen, daß ihr erster Mann sich den ge­ haßten Heiden Winckelmann und Goethe wieder näherte und die von Berlin

ausgehende neuclassische Richtung überall den Sieg davon trug. Die einst so fruchtbare Schule von S. Isidoro ging allmählich auseinander; ihre

Genossen kehrten heim, die meisten widmeten sich einer streng kirchlichen

Kunst, die nur in Anachronismen lebte.

Overbeck am Tiber Grundsätze.

aus,

ein

Von den Namhaften hielt nur

treuer Bekenner der alten nazarenischen

Er aber wußte die enge Welt von christlichen Gestalten, die

ihm die einzige war, durch den Tiefsinn und die Wärme seines gläubigen

Gemüths also zu verklären, daß selbst die Italiener ihn endlich wie einen neuen Fra Angelico ehrten und dem frommen Convertiten noch die Freude ward das Bethaus des heiligen Franciscus in der Portiuncula-Kirche zu Assissi mit seinen ernsten Bildern zu schmücken. — Wie Berlin so sollte auch München seine große Gemäldegalerie erhalten.

Sammlung,

die den Preußen zu theuer gewesen,

endlich für Baiern erworben.

Die Boissereesche wurde nach Jahren

Ihre Hauptwerke bildeten mit denen der

Düsseldorfer Galerie, die man während der Revolutionskriege widerrecht­

lich dem bergischen Lande entfremdet hatte, den Stamm für die Mün­ chener Pinakothek.

Dergestalt war binnen weniger Jahre ein vielgestaltiges neues Leben in der bildenden Kunst erwacht, und nach und nach begannen fast alle deutschen Höfe diese jungen Kräfte sorgsam zu pflegen; man fühlte sich

verpflichtet die Nation für ihre so bitterlich getäuschten politischen Hoff­ nungen irgendwie zu entschädigen.

Auch die ehrwürdigen Ueberreste alt­

heimischer Kunst, die unter dem Aufklärungswahne des vergangenen Jahr­ hunderts so schwer hatte leiden müssen, fanden jetzt allenthalben treue

Beschützer, und

es galt schon als ein unerhörtes Zeichen vandalischer

Roheit, daß die Stadt Goslar ihren Dom, den erinnerungsreichsten der Sachsenlande, noch im Jahre 1820 abtragen ließ. —

Keine andere Kunst aber hat in der Epoche der deutschen Romantik

so reife und durchweg gesunde Früchte gezeitigt wie die Musik.

Sie stand

dem deutschen Genius von jeher am nächsten; in ihr bethätigte sich der

Formensinn der Germanen immer mit naiver Ursprünglichkeit, ganz un-

getrübt durch jene leidige Kritik, die ihn sonst so oft im freien Schaffen

störte.

Sie blieb den Deutschen

fast erstorben schien; schen

Frieden

treu auch

als unser geistiges Leben das dem Westphäli-

selbst das öde Jahrhundert,

voranging,

erhob sich

Klängen des lutherischen Kirchenlieds.

das Herz Nachher,

den

an

seelenvollen

in einer Zeit da die

neue Bildung der Nation kaum im Entstehen war, schufen Händel und

Bach

ihre classischen Werke,

serer

Dichtung die deutsche

bis

endlich während der Blüthezeit un­

Musik dlirch

Gluck,

Haydn,

Mozart zu

einer Höhe emporgehoben wurde, die kein anderes Volk je erreicht hat.

Dem vielseitigsten der Dichter trat

die Seite.

der vielseitigste aller Tonsetzer an

Beide dankten der geheimnißvollen Kraft der unmittelbaren

Eingebung eine wunderbare Leichtigkeit

des Schaffens;

einfacher und natürlicher war Mozarts Loos! schaft,

die

ihm

mit dankbarer Empfänglichkeit

traulichem Berkehre mit den Sängern Rollen

auf den Leib

schrieb.

So

und

folgte,

und Musikern,

ward

aber

wie viel

Er schuf für eine Hörer­

lebte in

denen er seine

jedes seiner Werke ein ab­

gerundetes Ganzes; alle die fragmentarischen Bersuche und halben An­

läufe,

welche

Goethe

blieben ihm erspart.

in

seiner

Einsamkeit

nicht

vermeiden

konnte,

Die Musik vereinigte, mehr noch als die Literatur,

Alles was deutschen Blutes war zu gemeinsamer Freude;

zahl der großen Tonsetzer gehörte durch Aufenthalt den österreichischen Landen

die Mehr­

die Geburt oder durch langen

an,

die an der Arbeit unserer

Dichtung so wenig Antheil nahmen, und fand grade dort das freudigste

Verständniß.

Noch bei Mozarts Lebzeiten trat jener Gegensatz des Naiven und des

Sentimentalen hervor, der,

im Wesen aller Künste begründet, in den

Zeiteit ihrer reichsten Entfaltung sich unfehlbar offenbaren

muß.

Wie

einst Michel Angelo neben Raphael, Schiller neben Goethe, so erschien Beethoven neben Mozart, ein pathetischer Genius, der mit dämonischer Kraft fast über die Schranken seiner Kunst hinaus in's Unendliche strebte, ein Sänger der Freiheit, des männlichen Stolzes, ganz erfüllt von den

Ideen der Menschenrechte.

Die Widmung seiner Eroica, die er dem

Erben der Revolution, Bonaparte zugedacht hatte, zerriß er und trat sie mit Füßen als er von den Gewaltthaten des Despoten erfuhr. Nie schuf

er Größeres als wenn er den uralten Lieblingsgedanken der freien Ger­ manen, den Sieg des hellen Geistes über das dumpfe Verhängniß schil­ derte, wie in der C moll Symphonie.

War er doch selber, der taube

Beherrscher der Töne, ein lebendiger Zeuge für die Wunderkraft des gott­ begeisterten Willens.

Selbst die blasirte Gesellschaft des Wiener Con-

gresseS riß er hin durch das hohe Lied der Treue, den Fidelio; dem ver-

wegenen Fluge seiner symphonischen Tondichtungen aber vermochte erst ein späteres Geschlecht ganz zu folgen. Die Entwicklung unserer Musik trug

von HauS aus einen rein

nationalen Charakter, sie konnte daher auch von den romantischen Stim­ mungen und den großen Ereignissen der Zeit nicht unberührt bleiben.

Gleich nach dem Kriege gab Karl Maria v. Weber dem Schwertliede, dem Liede von Lützows wilder Jagd und anderen Gesängen Körners die

musikalische Gestaltung, die ihnen erst die Unvergänglichkeit sicherte und in tausenden junger Herzen die Begeisterung des Befreiungskrieges wach

hielt.

Ein bewußter Vorkämpfer vaterländischer Gesinnung und Bildung,

übernahm er sodann die Leitung der neugegründeten deutschen Opernge­ sellschaft in Dresden, und ihm gelang, die italienische Opernbühne, die

der Hof nach der Gewohnheit des allen Jahrhunderts noch als die vor­ nehmere begünstigte, gänzlich in den Schatten zu stellen; selbst die Presse

rief er zu Hilfe um seine Landsleute in das Verständniß der heimischen Kunst einzuweihen.

Der gemüthvolle Holste

war auf weiten Wander­

fahrten fast in jedem Winkel deutscher Erde mit Land und Leuten wohl vertraut geworden; und recht aus dem Herzen seines Volkes heraus schuf

er die erste deutsche romantische Oper, den Freischütz,

ein Werk

voll

jugendlicher Frische, daS alle Lust und allen Spuk des deutschen Waldes so naiv und treu schilderte, daß die Nachwelt sich heute kaum vorstellen

kann, eS hätte jemals eine Zeit gegeben, da der deutsche Waidmann noch nicht zu den Klängen des Waldhorns sang: was gleicht wohl auf Erden

dem Jägervergnügen?

Zur selben Zeit erhielt das deutsche Lied durch

einen fromm bescheidenen Wiener Künstler, Franz Schubert, seine höchste

AuSbildnng; die ganze Tonleiter der geheimsten Seelenstimmungen stand

ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethischen Dichtung

zog ihn an.

Bald nachher fanden UhlandS Lieder an dem Schwaben

Konradin Kreutzer einen congenialen Componisten. Von jenem katholisirenden Wesen, das so viele Poeten der Romantik ankränkelte, hielt sich die romantische Musik völlig frei, obgleich die mei­

sten unserer namhaften Tonsetzer der katholischen Kirche angehörten. sprach schlicht und recht das Allen Gemeinsame aus,

Sie

sie verwirklichte

durch die That das von den romantischen Dichtern so oft gepriesene, aber nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunst; und

da der Dilettantismus in keiner Kunst ein so gutes Recht hat wie in der Musik, so zog sie auch bald das Volk selber zu freier Mitwirkung heran.

Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Musikfreunde zu der Singakademie zusammengetreten um bei der Aufführung Händelscher Ora­

torien und ähnlicher Werke den Chorgesang zu übernehmen.

Zelter, der

derbe, warmherzige Freund Goethes stiftete dann im Jahre 1808 zu

Berlin die erste deutsche Liedertafel,

einen kleinen Kreis von Dichtern,

Sängern und Componisten zur Pflege des Gesanges.

norddeutsche Städte folgten nach.

Mehrere andere

In dem preußischen Volksheere nahm

während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende: die Lützowsche Frei­ schaar besaß bereits einen geschulten Sängerchor, und ihr Beispiel fand nach dem Frieden in vielen preußischen Regimentern Nachahmung.

Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nagelt die Gesang­

bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgesang „das eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunst" und for­ derte die ganze Nation zur Theilnahme auf.

Sieben Jahre später entstand

dann der Stuttgarter Liederkranz, daS Vorbild für die zahlreichen Lieder­

kränze Süd- und Mitteldeutschlands, die nach der zwanglosen, demokrati­ schen Weise des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder­ zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des

Nordens, und sich nicht scheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän­ gerfesten vor das Volk hinauszutreten.

Kunst des neuen Jahrhunderts,

Die Musik wurde die gesellige

wie die Beredsamkeit im Zeitalter des

Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutsche Fest, recht

eigentlich ein Stolz der Nation.

In allen Gauen erwachte die SangeS-

lust, wie nie mehr seit den Tagen der Meistersinger.

Man empfand

lebhaft, wie mit dieser neuen edleren Geselligkeit ein freierer Luftzug in daS Volksleben kam, und rühmte gern, daß „vor des Gesanges Macht der

Stände lächerliche Schranken fielen".

Unzählige kleine Leute empfingen

allein durch den Gesang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt;

und neben diesem reichen

Segen kam kaum in Betracht, daß der unbestimmte Enthusiasmus, welchen

die gestaltlose Musik erweckt, manchen deutschen Träumer in der ver­ schwommenen Schwärmerei seiner Gemüthspolitik bestärkte.

DaS neue Geschlecht hatte doch nicht umsonst seine Kraft in einem Volkskriege gestählt,

und nicht umsonst war während zweier Menschen­

alter, auf jeder Entwicklungsstufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur Natur, zum einfach Menschlichen gepredigt worden.

Allenthalben begannen

die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und,

ohne daß sie es selber noch recht bemerkte, demokratischer zu werden; die Zeit des Stubenhockens, der ängstlich abgeschlossenen CasinoS und Kränz­ chen neigte sich zum Ende.

Seit dem Frieden ward auch daS lang ent­

behrte Reisen wieder möglich.

Während die reichen Ausländer die große

Tour durch Europa einschlugen, deren romantische Hauptstationen Lord Byron im Childe Harold

vorgezeichnet hatte, suchten die genügsamen

Deutschen mit Vorliebe die bescheidene Anmuth ihrer heimischen Mittelge­ birge auf.

Die Felsen des Dkeißner Hochlands, die der Pfarrer Götzinger

vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der Sächsi­ schen Schweiz gepriesen;

Gottschalcks Führer durch den Harz gab zuerst

Rathschläge für Gebirgswanderungen, und seit Reichard seinen „Passagier"

veröffentlichte nahm die Zahl der Reisehandbücher allmählich zu.

Die

Reisenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menschenwerk aus­ gesucht,

all das Seltsame und Absonderliche, was im Curieusen Anti-

quarius verzeichnet stand; die neue Zeit bevorzugte, die romantischen Reize

der malerischen Landschaften und die sagenreichen Erinnerungsstätten der vaterländischen Geschichte.

Das früherhin so beliebte Reisen zu Pferde

kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung.

Als Arndt in

seinen jungen Jahren die deutschen Lande zu Fuß durchstreifte, fand er

fast überall nur Handwerksburschen als Reisegefährten; jetzt kam die Poesie des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein

rechter Turner war mußte sich ans den Dauerlauf verstehen.

Eine neue

Welt unschuldiger Freuden ging der deutschen Jugend auf, seit überall in

Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren

von Studenten oder Künstlern singend ihres Weges zogen.

Jede verfallene

Burg und jeder aussichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Ikachts nahmen

die munteren Gesellen gern mit der Streu im Bauernwirthshause vorlieb oder sie onkelten bei einem gastfreien Pfarrherrn.

Mit der Guitarre über

der Schulter wanderte Augnst v. Binzer, der Stolz der Jenenser Bur­ schenschaft, glückselig durch ganz Deutschland, und in allen Dörfern strömte

das junge Volk zusammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou­ badours zu lauschen.

Auch die politische Gesinnung des Heranwachsenden Geschlechts ward durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet.

Die Jugend

erlebte sich den Gedanken der nationalen Einheit, sie fühlte sich überall auf deutschem Boden heimisch; sie lernte, daß der Kern unseres Volks-

thumS trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen

in

allen deutschen

Gauen derselbe ist, und sah mit wachsendem Unwillen auf die künstlichen

trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk gezogen hatte.

theilhaftig.

Leider wurden fast nur die Norddeutschen dieser Erkenntniß

Da Niederdeutschland von den romantischen Herrlichkeiten,

welche diesem Geschlechte allein als sehenswerth galten, nur wenig bot,

so kamen die Süddeutschen selten aus ihren schönen heimischen Bergen her­ aus.

Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte,

der nicht etwas von Land und Seilten des Südens gesehen, blühte im

Oberlande die particularistische Selbstgefälligkeit, das Kind der Unkennt-

Zur Geschichte der deutschen Romantik.

79

niß. Süddeutschland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge­ hässigen Stammesvorurtheilc. Im Norden fanden sich, außerhalb Ber­ lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutschen Verstand und Bildung absprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Lästerrede, den Norddeutschen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer stellte

sich die Landschaften nördlich des Mains wie eine endlose traurige Ebene vor und meinte, unter diesem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand

imb ästhetischer Thee, Kritik und Junkerthum. Heinrich von Treitschke.

Ranke's Weltgeschichte. Zweiter Theil.

Weit früher als wir erwarten durften, tritt der Meister mit dem

zweiten Theil seines großen Werks vor die Oeffentlichkeit, und so ist wohl die Hoffnung vorhanden, daß er in seiner Construction der allgemeinen Weltgeschichte wenigstens bis zu der Periode kommen wird, die er bereits in früheren Schriften in ein so glänzendes Licht gestellt hat.

Man soll den vorliegenden Band nicht als eine römische Geschichte auffassen, sondern als den zweiten Theil einer allgemeinen Weltgeschichte. Die Fäden des ersten Theils werden sämtlich wieder ausgenommen und

weiter verknüpft, nicht blos in den Thatsachen, sondern auch in den Ideen. Der Horizont erweitert

sich, die Perspectiven werden größer und um«

fassender, aber dieselbe Form des geschichtlichen Processes tritt in einer

neuen Wandlung wieder auf: es ist wiederum der Kampf der abendländi­ schen Bildung gegen die morgenländische.

Abendland und Morgenland sind Relativ-Begriffe, je weiter die Ge­ schichte vorrückt, je stärker scheint sich auch der Mittelpunkt zu bewegen;

und doch drücken sie einen bleibenden Begriff aus.

In der ersten Periode wird der Westen durch Griechenland vertreten. DaS ganze Morgenland mit seinen Cultur- und Religionsformen, Ammon,

Baal, Jehovah ist in einem gewaltigen Reiche vereinigt, das sich als

Weltreich fühlt.

Gegen diese vorschreitende Macht führt Griechenland

zunächst einen Vertheidigungskrieg, in welchem sich seine aesthetische Cultur

in voller Herrlichkeit entwickelt.

Dann ergreift und erfüllt der griechische

Geist eine große gewaltige Seele: Alexander, nicht von griechischem Blut aber stammverwandt, träumt von der Weltherrschüft der griechischen Cultur,

und dieser Traum erfüllt sich

bis

zu einer gewissen Grenze auf eine

wunderbare unerhörte Art. DaS Weltreich freilich fällt mit dem Tode seines Gründers zusammen, aber eS bilden sich gewaltige Staaten, die sich nach zwei Seiten hin über

die Grenzen

der bisher bekannten Cultur ausdehnen, und in welchen

der griechische und morgenländische Geist ihre Vermittelung suchen.

Wie

viel Unschönes in dieser Vermittlung lag, den Alexandrinern verdanken wir doch die Aufbewahrung der griechischen Litteratur, und auf welcher

Blüthe sich die griechische Kunst noch in ziemlich später Zeit und an einem verhältnißmäßig unbedeutenden Hof erhielt, können wir in Berlin heut

mit Erstaunen an den Pergameniern anschaun.

Die drei Hauptreiche, welche auS der Monarchie Alexanders ent­ sprangen, hätten sich zu Nationalstaaten entwickeln können, durch die grie­

chische Cultur mit einander verbunden, jeder von ihnen als Fortpflanzer derselben nach Süden, Osten und Norden. Ehrgeiz der Diadochen gerichtet,

stellung deS

alten Weltreichs

Aber nicht dahin war der

sie dachten immer noch auf Wiederher­

und verzehrten ihre Kraft in zwecklosen

Kriegen, die zu nichts führten.

Der UmbildungSproceß ging sogar in

dem Stammlande sehr langsam vor sich, nicht einmal die stammverwandten

Macedonier und Griechen verschmolzen zu einem Staat, und Griechenland selbst, in der Zersplitterung in kleine halbselbständige Staaten, blieb dem alten Individualismus treu.

Noch war Athen der gefeierte Sitz der Denker, neben der Akademie that sich die Stoa auf und Epikur gestaltete den alten Eudämonismus

zu einem System; aber in der Reihe der wirklichen Mächte führte Athen kaum noch eine Stimme.

So war das Werk Alexanders nur sehr theilweise gelungen, aber es war an sich ganz richtig gedacht.

Seine Begeisterung für die griechische

Cultur, der Entschluß, die Erbschaft derselben anzutreten und

als ihr

Apostel die Welt zu beherrschen, diese Idee konnte keinen bleibenden Be­

stand haben, weil sie an eine einzelne Persönlichkeit, an einen Sterb­

lichen geknüpft war.

Sollte sie durchgeführt werden, so mußte ein relativ

unsterbliches Wesen, ein lebenskräftiger Staat sie ergreifen und sich ganz

mit ihr erfüllen. Dies ist, wenn ich Ranke recht verstehe, der springende Punkt in der

Geschichte dieses Bandes; von dieser Idee heraus crystallisirt und ge­

staltet sich Alles, von ihr auö wird der Zusammenhang der Weltgeschichte verstanden.

Die Erhaltung der griechischen Cultur war das werthvollste

für die Nachwelt:

es

war die Aufgabe, die Rom zufiel und die von

Rom würdig und großartig gelöst wurde.

Die Verbindung der beiden Culturen in den Reichen der Diadochen war mehr eine mechanische; die chemische Scheidung derselben, die völlige

Loslösung Griechenlands von seinen Nachbarstaaten oder, wie man sich damals ausdrückte, seine Befreiung war eine Aufgabe, die Rom durch Preußische Jahrbücher. Bb.

XI.IX.

Hefti.

6

Ranke's Weltgeschichte.

82

seinen Beruf gestellt wurde, und die es als Republik anscheinend auch eher lösen konnte

als die

orientalisch gefärbten Königreiche der Diadochen.

Dann freilich verfuhr der Vorort Rom, wie Athen früher mit seinen

Bundesgenossen verfahren hatte.

Der Vorort wurde der Staat selbst.

Aus diesem innern Beruf heraus entwickelt sich bei Ranke die erste

Periode der

römischen

Geschichte.

setzt aber

Ein solcher Beruf

eine

innere Wahlverwandtschaft voraus, und diese nachzuweisen oder anzudeuten, ist das bestimmende Augenmerk des Geschichtschreibers.

Daraus erklären

sich manche Abweichungen von der Auffassung anderer Schriftsteller.

Bekanntlich hat der Mann, der zuerst in Deutschland die alte rö­

mische Geschichte bis zur gallischen Invasion in das Gebiet der Mythe verwies,

Niebuhr, zugleich

den echten und

aus dieser Mythe heraus

In der

bleibenden Kern des römischen Characters zu schälen versucht.

Mythe,

wie sie die späteren zum Theil griechisch gebildeten Geschicht­

schreiber erzählen, verstecken sich nach ihm, nur halb oder gar nicht ver­

standen, Fragmente alter historischer Volkslieder und rhythmisch abge­

faßter Gesetze, die uns das echt römische Leben zeigen. anderer Ansicht:

Mommsen ist

er legt auf die Tradition gar kein Gewicht, die lokale

Lage der Stadt Rom, der offenbare Zweck bei der Wahl derselben, der frühe Handelsvertrag mit Karthago, die alten Erbschaftsbestimmungen,

die nicht auf Bauernrecht, sondern auf Kaufmannsrecht herauskommen: diese historischen Momente scheinen ihm weit unterrichtender über die

Vorzeit Roms zu sein als Alles was von Romulus oder Numa erzählt

wird.

Auch die überlieferten Anekdoten von dem specifisch römischen Geist,

von dem Vater, der um der Republik willen seinen Sohn hinrichten läßt,

von der Mutter, die ihren Sohn von den Thoren Roms zurückscheuchl, lassen ihn kalt; er spricht es zwar niemals ganz deutlich aus, aber es

liest sich überall zwischen den Zeilen: diese Anekdoten sind erst in einer Zeit entstanden, wo der specifisch römische Geist bereits seine vollste

Blüthe gehabt

hatte, wo

er im Absterben begriffen war.

Sie sind

characteristisch nicht für die Zeit, von der sie erzählen, sondern für die Zeit, in der sie entstanden.

Ranke denkt nicht so gering von der Ueberlieferung:

„sie hat ihren

Werth, so sagenhaft sie auch sein mag, wo die volle historische Wahrheit nicht zu entdecken ist; eine so volle und inhaltreiche Tradition wie die

römische giebt es überhaupt nicht in der Völkergeschichte".

Insofern nähert er sich dem Standpunkt Niebuhrs.

Aber im Durch­

stöbern der alten Tradition kommt es ihm hauptsächlich darauf an, Spuren

der Wahlverwandtschaft zwischen Rom und Die Berührung

zwischen der

Griechenland zu

italischen und homerischen

entdecken.

Welt

taucht

nicht erst bei den Epikern aus dem Zeitalter des Augustus auf, wieder­ holte Anklänge finden sich bei den Griechen wie bei den Römern; Rom schickt eine Gesandtschaft nach Griechenland, um sich nach den dortigen

Stadtrechten zu erkundigen, und so vieles Andere.

als Befreier Griechenlands aufspielt,

kann

Als Flaminius sich

er sich den nüchternen und

egoistischen Behörden Roms wenigstens verständlich machen, und als die

ersten gebildeten Griechen nach Rom kommen, finden sie sehr rasch und allgemein in allen vornehmen Kreisen Eingang und Beifall.

So etwas

ist nicht denkbar ohne einen vorbereiteten Boden.

In einem Punkt freilich waren die Römer von vornherein der Ge­ gensatz der Griechen, aesthetisches Volk.

sie waren ein sittliches, die Griechen waren ein

„Die römische Religion", schreibt Ranke, „hatte von

Anfang an einen stärkeren sittlichen Grundzug, was um so mehr zu be­ deuten hatte, als das ganze Leben in Haus, Geschlecht und Magistratur

mit religiösen Gebräuchen verbunden war.

Den gelehrten Griechen, die

in Rom einwaiiderten, fiel nichts so sehr auf als daß die Religion der

Römer sich von dem Anthropomorphisiren der Naturkräftc, welches dahin

führte, daß den Göttern die wildesten Verbrechen betgemessen wurden, frei hielt.

Uebrigens entwickelte sich in Rom ein in festen Formen aus­

geprägter auf heimischen Gebräuchen beruhender Götterdienst".

In dieser

Beziehung ist für Ranke der Mythus von Numa so werthvoll, und er versäumt auch in den spätern Geschichten niemals als ein sehr wichtiges

Moment anzumerkc», wenn ein vornehmer Römer wie Scipio Afrikanus

innerlich an die alten Sitten gebunden war. Viel wichtiger aber ist die sittliche Auffassung des Staatslebcns im

Gegensatz gegen den griechischen Individualismus.

An Vaterlandsliebe

gaben die Griechen den Römern nichts nach, aber sie hatte bei ihnen oft etwas Nervöses, immer etwas Individuelles, sie beruhte auf einer Be­ ziehung des Gemüths, und verlangte diese Beziehung.

Bei den Römern

gestaltete sie sich von der frühesten Zeit an als Sitte und Gesetz.

Die

Römer haben alle Völker besiegt, weil ihre Kriege von den eigenen Bürgern

geführt wurden, nicht von den fremden Miethstruppen.

Das wurde aber

nicht als eine besondere Aufopferung betrachtet, die man allenfalls auch

hätte unterlassen können: es war von vornherein ganz festgeregelt.

Nach

der Centuriatsverfassung die man noch in die Zeit der Könige zurück­

verlegt, wußte jeder Bürger ganz bestimmt, was seine Pflicht war, es konnte darüber kein Zweifel bestehn.

Zur Sittlichkeit des Gemeinwesens gehörte ferner die Erweiterungs­ fähigkeit der Stadt.

Von parlamentarischer Vertretung freilich hatten

die Römer so wenig einen Begriff als die Griechen, die Stadt war ihnen G*

Nanke'S Weltgeschichte.

84

der Staat, aber sie nahmen Zuzügler in die Stadt auf, die erst das halbe dann allmählig das volle Bürgerrecht erwarben, und sie kolonisirten das Land durch bereits vollberechtigte Bürger.

Diese militärische Organisation des Volks mußte ihm in dem großen

Weltkrieg endlich den Sieg verschaffen, in dem Krieg mit Karthago, das nur Miethssoldaten kannte.

Die Phönicier in Karthago waren das einzige Volk aus den Nationen

der älteren Periode, das dem System der griechisch orientalischen Mo­ narchien

fern

geblieben

war.

Es stand schon sehr früh in Wechselbe­

ziehung, meist in freundlicher, zu Rom, das noch immer weit genug ent­

fernt war, um ihnen nie in den Weg zu kommen.

Noch in dem Versuch,

den einer von den hellenistischen Königen, PyrrhuS, machte, im westlichen

Europa durch seine Kriegskunst Boden zu gewinnen, standen Rom und Karthago auf derselben Seite.

Gleich darauf aber begann der Kampf um die Herrschaft im Mittel­ meer, in Sicilien und Unteritalien, das bereits vielfach von den Griechen Es ist der Ort, wo der Osten und der Westen überhaupt

colonisirt war. zusammenstoßen.

Auch der Norden, von dem in der ersten Periode der Weltgeschichte kaum die Rede ist, hatte sich bereits angemeldet, die gewaltige Gallische

Invasion hatte sich auf die drei großen Halbinseln ausgedehnt.

Spanien

war ihr erlegen, in Italien hatte sich Rom nach den ersten Niederlagen als Vorort Italiens ihnen gegenüber festgestellt, auf der Balkan-Halb­

insel fallen die Hauptangriffe in die Zeit, da Pyrrhus mit Rom hand­ gemein war.

Rom begann den ersten punischen Krieg als Herrin über Italien mit Ausschluß des nördlichen Theils, der den Galliern gehörte; es schloß

den zweiten punischen Krieg als erste Seemacht der Welt, als Herrscherin Es wurde nun, wie Ranke

über den ganzen Südwesten von Europa.

ganz richtig darstellt, Vertheidigungsweise von einem Krieg in den andern

gedrängt; es wurde gleichsam genöthigt, sich auSzubreiten.

Zuletzt war,

außer dem Westen, auch die ganze alte Culturwelt des Ostens in ihren Händen.

Für die ältere Periode ist bei Ranke die Charakteristik deS Herodot und Thucydides der Gipfel; für die neuere ist es die Charakteristik deS

Polhbius, wieder ein Meisterstück der historischen Kunst.

PolybiuS

ist

im

gewissen

Sinn

der

älteste

moderne

Geschicht­

schreiber.

Alle seine Vorgänger standen

auf einem nationalen Standpunkt,

Polhbius zuerst schreibt als Weltbürger.

Es drückt das

zunächst eine

Umkehr der Zeiten aus: die bisherigen Nationalstaaten waren im Be­ griff, von dem römischen Weltreich einverleibt zu werden.

Es hat aber

auch seine persönliche Bedeutung: Polhbius, nachdem er in seiner Jugend

in dem griechischen Bündnerwesen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt,

war dann nach Rom gekommen, und hatte sich aus vollster Ueberzeugung dem römischen Staatswesen angeschlossen.

Er war der erste, der gerade

als Fremder die Vorzüge desselben vollkommen durchschaute und sie den eingeborenen Römern verständlich

der späteren

Geschichtschreiber erst

machte; aus

ihm haben die meisten

ihren Begriff von

Rom

Nicht als ob er seine griechische Cultur hätte aufgeben wollen.

geschöpft. Er fand,

daß es für seine bisherigen Landsleme die vernünftigste Politik war, sich

unbedingt an Rom anzuschließen; daß es für seine neuen Landsleute die vernünftigste Politik war, sich griechisch zu bilden.

„Die Religion" sagt

Ranke an einer anderen Stelle, „die sagenhafte Vergangenheit und, wenn

wir so weit gehen dürfen, die bevorstehenden Geschicke forderten eine Ver­

einigung

der

den

Römer mit

Bürgergenossenschaft von Rom,

Griechen.

Wie wäre

die

militärische

die zur Weltherrschaft aufstieg, jemals

fähig gewesen, diesen Beruf zu erfüllen, hätte sie nicht die Elemente der Cultur, die hiezu nöthig waren, von den Griechen empfangen, in sich aus­

genommen und zu einem allgemein gültigen Bestand durchgearbeitet. Eine Verbindung mit den Griechen und ihrer Cultur war eine unerläß­ liche Bedingung der Größe und Macht von Rom."

Zu den vornehmsten

Werkzeugen dieser Verbindung gehörte Polhbius, und er erfüllte damit zugleich einen der Zwecke der allgemeinen Geschichte. „Niemand ist lediglich ein Bürger des Gemeinwesens, dem er ange­

hört, das Menschliche erhebt sich aus dem Nationalen und über dasselbe.

Darauf beruht alle Religion,

überdies aber

auch alle Theilnahme an

der Entwicklung des menschlichen Geschlechts." Noch in einem anderen Sinn war Polhbius ein moderner Geschicht­

schreiber.

Von dem

alten

Herodot und selbst noch

unbefangenen

Götterglauben,

der

sich bei

bei ThuchdideS ausspricht, ist bei ihm keine

Spur vorhanden, er ist ein harter Rationalist, für ihn sind der mensch­ liche Verstand und

die menschliche Willenskraft die einzigen wirkenden

historischen Kräfte. Selbst bei seinem hohen Freunde und Gönner Scipio übergeht er den Götterglauben nur mit schonendem Stillschweigen.

Er ist endlich darin modern, daß er nicht mehr einfach erzählt, son­ dern sich den innern Zusammenhang der Dinge mit dem Verstände klar

zu machen sucht; er will nicht blos unterhalten, sondern belehren, er er­

setzt, wie Ranke sich ausdrückt, die Intuition durch Reflexion, und diese tritt dann mit doctrinärer Breite hervor.

Rauke's Weltgeschichte.

86

Für unser Verständniß der alten Geschichte ist dieser Pragmatismus

doch unschätzbar. Mit dieser Charakteristik des Polhbius schließt die erste Abtheilung

des vorliegenden

Bandes.

Roms Macht steht beinah schon auf ihrer

Höhe; es fragt sich, wie weit es im Stande sein wird, seine alten poli­ tisch-sittlichen Voraussetzungen den neuen völlig umgewandelten Verhält­

nissen

anzupassen.

„Es war", sagt Ranke,

Problem, das noch vorgekommen war;

„das größte welthistorische

aus der Lösung desselben beruhte

denn in Rom vereinigten sich

größtentheils die Fortbildung der Welt,

die Motive der Cliltur und selbst die Religionen, die daselbst ausgenom­ men wurden und homogenen Grund und Boden fanden". Es ist nicht meine Absicht, in der Darstellung der inneren Kämpfe, die sich aus diesem ungeheueren Problem ergaben, Ranke zu folgen.

auf einen Gesichtspunkt möchte ich aufmerksam machen. schichtschreiber

wundern

Nur

Die meisten Ge­

sich darüber und sind gleichsam entrüstet,

daß

Rom mit seiner Machtentwickelung in so traurige Krämpfe verfiel; Ranke

vielmehr wundert sich darüber, wie Rom mitten in diesen furchtbaren Krämpfen, die sich nothwendig aus feiner Lage ergaben, seine Machtent­

wicklung kräftig fortsetzt; und er bewundert mit vollem Recht die unge­ heuere Lebeuskraft und die ursprüngliche Gesundheit der römischen s)iotur, welche diese Krankheit zu überwinden verstand.

In allen großen Fragen — ich betone das absichtlich, weil man bei dem Eindruck des Einzelnen leicht anderer Meinung werden könnte —

stimmt Ranke mit Mommsen überein; es stände auch schlimm mit der wissenschaftlichen Forschung,

wenn zwei

solche Männer

worauf es ankommt nicht zu verständigen wüßten.

sich

über das,

Dagegen weicht die

Färbung des Einzelnen nach der snbjectiven Eigenthümlichkeit der beiden

Schriftsteller häufig stark von einander ab.

Selbstverständlich tritt das am meisten bei Cicero hervor.

Bei der

übrigens brillanten Charakteristik dieses Mannes hat sich Mommsen ohne

Zweifel theilweise durch Antipathien bestimmen lassen, welche der Gegen­

wart angehören: seinen Widerwillen gegen die Politiker, die vermitteln wollen wo nicht zu vermitteln ist, und gegen die sogenannten populären Schriftsteller,

die

aus dem Handgelenk arbeiten, übertrug er auf eine

Zeit, wo der Dilettantismus eine ganz

andere Berechtigung

hatte als

heute, und wo in der Politik eine entschiedene Richtung nur demjenigen erlaubt war, der über eine organisirte Macht verfügte.

Ranke, für den

die welthistorische Macht RomS zum großen Theil darin liegt, daß es uns die griechische Cultur übermittelt und zubereitet hat, .stellt dem Mann,

der mit der größten Hingebung und mit dem größten Erfolg nach dieser

Richtung hin gewirkt hat, ein ganz anderes Zeugniß aus, und bei ruhiger

Ueberlegung wird man ihm wohl beipflichten müssen.

Ebenso abweichend

lauten die Urtheile über Marius und PompejuS, während Cäsars Cha­ Am meisten gespannt war ich

rakteristik bei beiden fast gleich aussieht.

Sulla.

auf

Mommsens

Portrait

dieses

glänzendste in seiner ganzen Geschichte.

Mannes

ist

vielleicht

das

Aber ich war immer erstaunt,

wie Mommsen in seinem Gemüth sich dazu stellt.

Diese grenzenlose

Menschenverachtung, diese völlige Gleichgültigkeit gegen Recht, Gesetz und

Verfassung, ja dieser Hohn gegen alle menschlichen Tugenden: —

ich

kann mir vorstellen, daß man einem großen Mann das hingehen läßt,

in dem Gefühl, das auch ich theile, daß eigentlich die großen Männer die

Weltgeschichte machen, und daß man die mit ihren Verdiensten untrennbaren

Schwächen in den Kauf nehmen muß. — Aber wie findet das Anwen­

dung auf Sulla, diesen blasirten frivolen Weltmann, der seine Gewalt

aus reiner Gleichgültigkeit ausübt und mit seinen entsetzlichen Greuel­ thaten auch nicht das kleinste geschaffen hat, ja auch nur schaffen wollte, was nur ein Jahrzehnt Bestand gehabt. ist die Farbe bei Ranke nicht

so ab­

weichend als ich erwartete. — Hier eine gelegentliche Bemerkung.

Wenn

Zu meiner

Ueberraschung

Cäsar nach seinem völligen Siege allgemeine Amnestie eintreten ließ, wie später Augustus, so meine ich nicht, daß das aus seiner Natur hervor-

ging,

er war von Natur vielmehr

rachsüchtig und grausam; es war

Selbstüberwindung, Weisheit und Tugend;

und wenn es ihm persönlich

auch schlecht bekam und Nopoleon I. ihn deswegen schalt, so glaube ich doch, daß er principiell das richtige Theil erwählte. Ranke schließt nicht wie Mommsen mit Cäsar, sondern mit Augustus,

über den er das treffende Wort ausspricht: „man darf ihn nicht als einen

schöpferischen Genius betrachten: das Wesen seines ganzen Lebens ist, daß er ein Erbe war".

Auch in diesem Schluß auö.

spricht sich Rankes

allgemeine Auffassung

Denn erst unter Augustus trat die völlige Versöhnung des griechi­

schen und römischen Geistes ein.

den Zügen wird ausgeführt,

In kurzen, aber vollkommen überzeugen­

wie die großen Nachahmer

der Griechen

Ovid, Virgil, Horaz, selbst Properz trotz alledem Römer blieben, wie Augustus, ihr großer Schützer und Gönner, selbst in der Religion das

altrömische Wesen wieder herzustellen versuchte. „Wie das allgemein gültige, daö menschliche ausgenommen werden kann ohne daS nationale zu zerstören,

dafür ist vor allen das Beispiel von Rom maaßgebend. bei

aller Stärke

ihres Nationalgefühls

Daß die Römer

für universale Bildung Sinn

hatten, das ist das charakteristische ihrer Wellstellung."

Die griechische

Ranke's Weltgeschichte.

88

Geschichte war ihnen eine Vergangenheit, die sie sich selbst aneigneten, die

griechische Bildung war die Atmosphäre, in der sie geistig athmeten.

Nur noch

einen Blick

in das Weite hinaus.

Schon in diesem

Bande melden sich die nordischen Wanderer an, die das Schicksal der nächsten Epoche bestimmen sollten.

Dagegen tritt der Jehova-Dienst, der

sich im ersten Bande so vielverheißend ankündigte, in der Maccabäerzeit gleichsam nur in provincieller Beschränktheit auf.

Wie nun diese beiden

Weltmächte mit den organisirten griechisch-römischen zusammenstießen: bei

der Darstellung dieses Conflicts erwarten wir unsern Freund und Lehrer im nächsten Bande; in welche Sinn, hat er bereits angedeutet. „Von der Religion ist an sich klar, daß die bisherigen Systeme und

Localdienste, die alle einen politischen Bestandtheil hatten, nichts mehr be­ deuteten,

sobald die politische Selbständigkeit vernichtet war.

Dadurch

wurde den orientalischen Kulturländern ein Boden geschaffen, welcher den Keim anderer religiöser Anschauungen in sich aufnehmen und zur Reife bringen konnte."

Julian Schmidt.

Heinrich Rückert in seinem Leben und Wirken. Dargestellt von Amelie Sohr. Weimar.

Herm. Böhlau.

1880.

War es ein Compliment, als man von dem Buche sagte, daß ohne die Belehrung durch den Titel die Vermuthung rücksichtlich des Verfassers auf einen schriftgewandten und geübten Mann gerathen wäre?

nicht, und ganz gewiß war es kein zurreffendes.

Ich glaube

Bei aller feinen Kunst

der Composition, bei aller Klarheit und Bestimmtheit der Erzählung, bei aller Energie und Präcision der allgemeinen Anschauungen, bekundet sich die ganze Biographie so durchaus als eine im besten Sinne weibliche Production, daß vielleicht ein routinirter Schriftsteller sie besser,

jedenfalls nicht so hätte Herstellen können.

aber

Und nur so, nicht durch die

ausgebildetere Technik der Schriftmeister hat wohl Heinrich Rückert sein Andenken unter den Gebildeten

seines Volkes

befestigt wissen wollen.

Im Grunde ist das Buch nur ein Urkundenwerk.

Die überreiche, aber

nach ihrem Werthe wohl gesichtete Brieflade des Verstorbenen gab die

Hauptglieder des Gebildes ab, zwischen welchen

der feine Frauensinn

eine so anmuthig bescheidene und doch so vollauf erläuternde Verbindung herzustellen wußte, daß sich das Ganze wie ein Geschmeide von Filigran

und Edelsteinen ausnimmt.

Aber so sehr har sich die Verfasserin in Ton

und Denkweise ihres Helden hineinzubilden gewußt, daß diese verbindenden Worte mit dem Verbundenen aus einem Guß und Fluß hervorzuströmen

scheinen.

Da sitzt so viel feinfühliges Nachempfinden, daß kaum ein Mann

dafür die Empfindlichkeit — und so viel still bescheidenes Zurücklreten gegen daS Object, daß kaum ein Mann solche Selbstverleugnung dafür

mitgebracht haben würde, und endlich auch so viel Frisches, Natürliches und Sprossendes, daö kaum bei Jemandem zu finden gewesen wäre, der nicht zum

ersten Male mit

einem Buche vor die Oeffentlichkeit tritt.

Keine Fähigkeit war bei Heinrich Rückert so bewundernswerth als seine

rasch und tief gleichsam witternde Menschenkenntniß.

Daß sie aber Haupt-

sächlich von einer unbestochenen Selbsterkenntniß ausging, zeigt unter An­ derem eben der Umstand, daß er seine nachgelassenen Papiere und Schriften einer Frau, und zwar dieser Frau anvertraute.

Er traf seine Wahl im

Triebe einer gewissen Wahlverwandtschaft. Denn so wie Heinrich Rückert, ein wunderbares Naturspiel, in seiner

äußeren Erscheinung vollständig die merkmalreiche Physiognomie seines Vaters gleichsam in einer femininen Uebersetzung wiedergab — er war lang und schmächtig, wo dieser gedrungen und untersetzt; fein und hager, wo dieser knorrig und derb — so war auch das treibende Moment in

seinem

geistigen

Organismus keineswegs

von

jener viel umfassenden

Kraft, die dem Dichter sein titanisches Gepräge sagen:

gaben.

Man möchte

in Heinrich war die classische Individualität seines Vaters ins

Gothische verzogen.

Mag darin Beschränkendes gefunden werden, es wird

sich bald zeigen, vaß diese Beschränkung ihren Adel hatte.

Vielleicht re-

präsentirt sich in diesem Unterschied zwischen Vater und Sohn der Fort­ schritt in der Denkweise aufeinander gefolgter Generationen. Friedrich Rückert's heißglühende Vaterlandsliebe so

Gewiß war

unfraglich und

so

unantastbar, daß das Wortemachen darüber getrost denjenigen überlassen werden darf, welche mit abgethanen Wahrheiten ihre Blätter füllen.

Von

den tragisch-schönen Schwärmereien des Burschenthums bis zu den nur allzu ästhetischen Sentiments der Gothaner und des Nationalvereins hat

Friedrich Rückert immer an dem Punkte seine Stellung genommen, wo

von dem verschütteten nationalen Gedanken immer noch die lebhaftesten Feuerzungen emporschlugen.

Und man weiß, wie er in der Asche gestört

und geschürt hat, um die Flamme frei zu machen. war er — ein Kind seiner Zeit.

nommen wissen.

Bei allein dem aber,

Ich möchte den Ausdruck nicht banal ge­

Bei allem dem war es an ihm zu erkennen, daß er in

einer Epoche geboren, welche von Weltherrschaftsgedanken erfüllt war, welche

Egypten, Syrien, Persien und Indien in den Kreis der Faktoren euro­

päischer Constellation zog. und

Seine Spaziergänge an den Ufern des Ganges

seine Wanderungen durch

die

Palmenthäler von Hindostan

und

Kabulistan waren doch nicht blos kalte Forschungsreisen des Philologen.

Wenn Friedrich Rückert unter den Rosen von Schiras wühlte, dann that er eö doch nicht blos mit den Augen eines RosenzüchterS.

Wo er stand

und weilte, da war er mit der ganzen ungemeinen Energie seines Gefühls, mit der ganzen Macht seiner Liebeskraft hingekommen.

Man sage nicht,

daß auch dorthin, in diese orientalischen Fernen ihn nur die vaterländische Empfindung getrieben habe, daß er nach den Eichenhainen der Cherusker noch weiter hinaus die altersgrauen Urstätten arischer Heimath habe auf­

suchen wollen.

DaS wäre Schönfärberei, und würde der Wahrheit nicht

entsprechen.

Der Nachweis würde nicht einmal schwer werden, daß ihm

Aehnliches selbst in Paris passirt.

Singt

er doch so

ganz aus dem

Herzen heraus: Glücklich, wen» du immer

Pflücktest jede Blume

Pflücktest jede Freude, Wie der Ort sie bot.

In seinen „gesammelten Gedichten" blätternd, kann man die ketzerische

Frage nicht los werden, ob denn überhaupt das historisch-politische Ele­ ment in ihm so mächtig und beherrschend gewesen ist, als man, nach den

„geharnischten Sonetten" allein das Urtheil messend,

pflegt.

ihm nachzusagen

War es denn wirklich nur Kleinstädtergefühl und Vereinsamungs­

trieb, die ihn in Berlin kein Aequivalent für den fränkischen Buchenwald und die sanften Hügellinien finden ließen? Mich dünkt, trotz seinem ener­

gischen Anschluß an die Ueberzeugung, daß Preußen allein die Hoffnung der nationalen Zukunft sei, hat er den mächtigsten Pulsschlag von Berlin nicht empfunden, nicht einmal verstanden.

Gewiß hatte er ein patriotisches

Pathos in seiner Brust wie Wenige, aber dieses Pathos war nicht ohne

Concurrenz. Das war anders bei seinem Sohne Heinrich.

Glicht um Lob oder

um Tadel handelt es sich hier, sondern um die Erkenntniß einer Eigen­ thümlichkeit in ihrer ganzen Energie.

Vielleicht war die Universalität des

Wissens, der ganzen Sphäre, in der es auf den Jntellcct und das Ge­ dächtniß ankommt, bei Heinrich noch größer, noch vollständiger als bei

seinem Vater.

Aber sein Fühlen und Empfinden hatte nur einen Aus­

gangspunkt, und auf ihn wandte sich alle seine Bildung, alle seine Er­

fahrung, alle Lebensregung wieder zurück — das Vaterland.

Er hatte

Nichts vom Poeten an sich, aber auch Nichts von den kleinen Felonieen, die dem Dichter um anderer Vortheile willen vergeben werden.

Für-

Heinrich Rückert gab es nur eins, waö das Leben lebenswerth macht,

sein Deutschland.

Als säße es noch nicht tief genug und einzig genug

in seinem Herzen, tastet er an demselben herum, an seiner Vergangenheit,

an seiner Sprache, an seiner Lebensform, an seiner Macht, an seiner

Schwäche.

Das will nicht viel, wenigstens nicht Alles sagen, daß sich

alle seine wissenschaftlichen und

halbwissenschaftlichen Veröffentlichungen

nur um die Beschreibung und Erforschung des Vaterlandes drehen, daß

er selbst dort, wo er an eine „Weltgeschichte in organischer Entwickelung"

in kühnem Wagniß die Hand legt, sich nur Deutschland als das Herz dieses Weltorganismus denken kann, man muß füglich nach der Lektüre

der vorstehend angezeigten Biographie behaupten, daß er nie eine Zeile

geschrieben, nie einen Gedanken gehegt, bei welchem nicht dieses deutsche Vaterland Maß und Richtung und Inhalt gebend gleichsam im Geiste ihm gegenwärtig war.

So denkt sich die Kirche ihre Heiligsten dem Heiland

zugethan, wie er seinem Vaterlande zugethan war.

Von dieser Liebe aus

strömten alle seine Ueberzeugungen, von ihr aus wurde jede seiner Stellun­

gen zu irgend einer Frage der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zu­ kunft bestimmt, von ihr entnahm er den Antrieb zu seinen Entschlüssen,

auS ihr schöpfte er die Kraft und das Gleichgewicht gegenüber den „zer­

malmenden" Widrigkeiten seines vielfach düsteren Geschicks, ja, was das Merkwürdigste ist, von ihr aus gelangte er zu der energisch positiven Re­

ligiosität, die trotz der unbefangensten Freiheit der Kritik sein Wesen har­

monisch vollendete. Sein Patriotismus aber hatte innerlich wieder den gleichsam con­ centrischen Characler, der dem föderalen Grundwesen der deutschen Nation

entspringt.

Ihm war im subjectiven Empfinden innerhalb der heiligen

Erde Deutschlands Kern und Krone wieder seine fränkische Heimat.

Dort,

wo seine Familie seit Geschlechtern schon ihre Wurzeln hatte, dort allein meinte er glücklich, gesund, im Gleichgewicht sein zu können.

Es war ihm

das tragischste Raffinement des Schicksals, daß es mit seinen zwingenden Fügungen ihn von dort abriß.

„Ihm graute vor dem Osten," als äußere

Rücksichten ihn nöthigten, dort sein Haus zu bauen, — wir sind nicht sicher, ob ihm nicht ein wenig auch vor dem Westen gegraut haben würde, wenn

ihn die Noth dorthin verschlagen hätte.

Derselbe Schollen- und Heim­

sinn, der seinen Vater aus dem geiststrotzenden Artushof der Berliner

Akademiker trieb, machte ihn zu einem unglücklichen, wehklagenden Manne,

wenn- sein Fuß nicht auf fränkischem Boden stand.

Er fühlte sich wie ein

auS dieser Erde gedrungener Sproß, und konnte die Vernunftlosigkeit des Himmels nicht begreifen, daß er dort nicht wachsen, gedeihen und sich in die fränkische Luft hineinrecken soll.

Dieser Hader mit dem Verhängniß

blieb ihm auch dann, als er sich zurief, bleibe ich doch auch im Osten unter Deutschen.

„Ich habe auch da ein Vierteljahrhundert docirt und

producirt, aber unter welchen Qualen und Hemmnissen, weiß blos Gott

und ich", schreibt er, und dies bezieht sich durchaus nicht auf den Mi­ nister v. Raumer, der ihn mit hämischer Schadenfreude hungern ließ.

„Schon Jena war für mich ein schwerer Mißgriff, aber erst Breslau hat

den Stoß in'S Herz geführt."

Im Frankenland,

da allein hatte die

Sonne so viel Wärme und Licht, wie sein Organismus gebrauchte.

In bescheidener nicht vordringlicher Weise thut es auch die vorlieger,de Biographie, aber andere Nekrologe und Erinnerungsblätter lassen es noch ungleich stärker hervortreten, daß Heinrich Rückert ein großer Staatsmann

gewesen, ein Staatsmann mit weitschanendem Blick, der aus voller klarer Erkenntniß gegenwärtiger Ereignisse die kommenden Folgen mit sicherer Logik vorausgesagt hätte. Nun denn — nein, beim Himmel, das war er nicht. Ich habe den Mann doch auch gekannt: ein Staatsmann war er nicht. Aber Alles, was ihm zu einem solchen fehlte, das häufte sich seinem entbrannten, leidenschaftlichen, stürmisch rücksichtslosen Patriotismus auf. In jenem unvergeßlichen Briefe vom 21. August 1870, den man in die deutschen Kinderfreunde drucken sollte, schreibt er in Rücksicht des Krieges: „Auch steht es bei mir fest, daß es eigentlich nur ein ver­ nünftiges Ziel des Kampfes geben kann, nämlich absolute Vertilgung der ganzen französischen Nation, denn über die elende, feige, sowie dumme Chimäre, daß eö Louis sei, der Eine räudige Hund, dem der Kampf gilt, oder seiner „Partei", sind selbst unsere hirnverbranntesten deutschen Doktrinäre jetzt hinaus. Auch sie sehen jetzt, was jeder Denkende wußte, daß der Kern des französischen Volks eitel Gift ist, und daß LouiS nicht als Ursache sondern als Produet davon, als prägnanteste Krystallisation davon anzusehen ist. Natürlich weiß ich, daß das einzig Richtige nicht geschieht — dazu gehörte mehr Stahl im Herzen." Das war ganz gewiß nicht staats­ männisch und auch nicht auS dem „Born der Geschichte" geschöpft — aber richtig und correkt gefühlt, meine ich, war es doch. Wer in jenen Tagen unermeßlicher Gefahr, ohne eben Staatsmann zu sein, nicht so herostratisch dachte, der stand nicht auf der Höhe der der Nation damals noth­ wendigen Empfindung. Rückert's Haß gegen die Slawen äußerte sich vor mir öfters in einer fast skurrilen Uebertreibung und in den gewaltsamsten Superlativen, die ich vielleicht mehr als Andere auf ihr Maß und ihren Grad der Wirklichkeit zu setzen wnßte. Aber nach Allem, was ich von den Slawen besser wußte, sagte ich mir, daß feine Empfindung die rich­ tige, jedem Kinde deutscher Zunge zu wünschende wäre. Der Mann hätte sich einen halben Tag lang Skrupel im Herzen darüber gemacht, wenn er einer Mücke das Bein verrenkt hätte, aber wenn alle diese uns hassen­ den Nationen nur einen Kops gehabt hätten, er hätte ihn kalten Blutes ihnen vor die Füße legen können. Ost genug hat er eö versichert. Das Alles ist nicht staatsmännisch, aber mir will eS ruhmvoller scheinen. Nicht staatsmännische Klugheit und auch nicht die Abstraktionen der Geschichte haben ihn auch in den inneren Parteiungen immer auf die Seite der­ jenigen getrieben, welche als die Erhalter und politischen Erbauer der Nation sich in der Folge ausgewiesen haben, sondern die Direktion seiner auS dem Innersten dringenden naiven Liebe zu seinem Vaterland. Seine Bemerkungen über die Märzrevolution in Berlin, deren Augenzeuge er gewesen, und über die Vorgänge im Frankfurter Parlament, wo er den

besten Männern vertraulich nahe stand, sind von einer fast frappanten Oberflächlichkeit, aber sobald er empfindet, wie unter den Gräueln des

Radicalismus die nationale Idee und Hoffnung Schaden nimmt, da ist er wie mit einem gsheimnißvollen Stoß auf die richtige Stelle gehoben,

da fleht sein Herz inbrünstig um das scharfe Richtschwerdt, um die ver­

ruchten Häupter, die sich versündigen, in den Sand zu werfen.

Sein Le­

ben hätte er hingeben mögen, oder waS für ihn dasselbe war, auf fremder

Erde leben, wenn er dem großen' Staatsmann, welcher der Richtmeister der politischen Einheit Deutschlands geworden ist, ein paar gute Tage damit hätte schaffen können.

Aber so lange jener es noch nicht geworden war,

als es vielmehr den populären Anschein hatte, daß er es niemals werden

wird, hatte Rückert für ihn gar manches jener Kraftworte, die in dem Munde des milden sanften Mannes ihre Bedeutung verdoppelten, nicht weil er dem Liberalismus unter die Hüften griff, Rettung Deutschlands zu vertagen schien.

sondern weil er die

Staatsmännisch ist dies wohl

nicht, und symmetrisch und einheitlich und herkömmlich, wie es die bio­ graphische Kunst braucht, wohl auch nicht — aber schön und edel und auch in dem Irrthum richtig ist es doch.

Wir haben- an dieser Stelle nicht zu reden von dem Zauber der

Persönlichkeit Heinrich Rückerts trotz seiner eckigen Erscheinung und etwas

bizarren Haltung — auf den Dürer'schen Bildern findet man Aehnliches — von dem großen Reiz seiner Conversation, von der poetischen Anmuth

und schlichten Einfalt seines Familienlebens, von den Leiden und Freuden

seiner Amtsthätigkeit, von dem ganzen weihevoll sittlichen Eindruck seines

Wesens und seiner Umgebung.

In allen diesen Stücken müssen wir auf

das schöne Buch verweisen, das uns zu diesen Zeilen Veranlassung gab,

und das, wenn es mit Rechtem zuginge, und das Bücherschicksal nicht

ebenso unerforschlich wäre, wie das der Menschen, ein rechtes Familien-

und

häusliches Erbauungsbuch werden müßte.

Denn wie

die besten

Triebe des deutschen Wesens Gestalt und Ausdruck annehmen sollen, daS ist hier an

einem

eindrucksvollen

Paradigma dargestellt.

Nur eine

Lücke weist natürlicher Weise die Biographie auf, welche die Verfasserin

ihrerseits absichtlich wenn auch nur äußerlich zu füllen oder zu verdecken vermied — die Würdigung der Schriften Rückerts.

Die feine Analyse

des Kirchenraths Hermann in Heidelberg von Rückerts „Deutscher Cultur­ geschichte", die leider in den Anfängen stehen geblieben, und die Bemer­

kungen Cauer's zu desselben „Kritischer Thätigkeit", welche im „Anhang" abgedruckt sind, können doch nur als einzelne Zeichnungen für das Ge-

sammtbild gelten.

Am wenigsten aber würde ich, selbst wenn dieser Ort

eS nicht schon unzulässig machte,

im Stande sein, den Mangel zu

er-

ganzen.

Nur einige Bemerkungen mögen mir im Anschluß an die Bio­

graphie gestattet sein.

Weil ein großer Theil seiner Schriften,

und zwar nicht blos die

rein historischen, sondern auch von den germanistisch philologischen durch äußere Rücksichten hervorgerufen war, entbehren sie des eigentlich wissen­ Sein wunderbares Gemüth, seine Alles

schaftlichen KrystallisationspunklS.

anlichtende Vaterlandsliebe geben einzig dieser Polhmathie ein zusammen­

fassendes Band.

um seiner gradezu erstaun­

An philosophischer Tiefe,

lichen aber auch einigermaßen zerfließenden Erudition Organisation und Als ihm die Fachprofessur

Gliederung zu verleihen, fehlte es ihm ganz.

sowohl rücksichtlich der Probleme

Methode die

als auch vornehmlich in Rücksicht der

Gefilde seiner Neigungen

gewannen

einengte,

seine Ar­

beiten einen wissenschaftlicheren Putsschlag, obwohl ich es den Fachmännern zu entscheiden überlassen muß, ob sich nicht auch dort noch die frühere Gewohnheit übereilter Synthese einschlich, und ob nicht auch dort eS sich rächte, daß sich Rückert namentlich während seiner Jenenser Lehrthätigkeit

gleichsam als Professor „ohne Portefeuille" ansehen durfte.

haft

aber liegen

Unzweifel­

auf diesem Gebiete die bleibenderen Ergebnisse seiner

gelehrten Production. Freilich sind seine historischen Schriften noch ungleich mehr durch äußere Momente, ja schlechthin durch die leidige Noth und Mittellosigkeit ins Dasein gerufen worden.

Dennoch oder vielleicht auch deswegen hing

doch sein Herz an diesen Schöpfungen.

In dem Historischen schien ihm

der Zwang der Selbstentäußerung nicht so absolut zu sein.

er doch,

ohne sich zu

Hier meinte

versündigen, in die offenen Schalen die heißen

Gluthen seiner Seele ausschütten zu dürfen.

Hier meinte er weniger die

Fesseln der Methode an seinen Armen zu verspüren, hier meinte er freier sich ergehen, schweifen zu können.

Eben

in der Zeit seiner historischen

Productionen stand ihm noch, wenn auch nicht der Rath so doch das Ur­

theil und die Kritik seines Vaters zur Seite

— nicht zum Vortheil.

Friedrich Rückert fehlte die eigentlich historische Ader.

Aus den erhaltenen

Briefen an seinen Sohn entnimmt man, daß er an der Form,

an der

Diction, an der allzuhäufigen Wiederholung des maßgebenden Grundgedan­

kens Anstoß findet, aber er läßt es ohne Vorwurf und Anstoß geschehen, daß der junge Feuergeist sich auf Probleme wirft, denen er nicht gewachsen war,

daß er diesen Grundgedanken in den Wiederholungen wechselt, daß er nur zu häufig, statt den Grundgedanken durch die Thatsache zu erweisen, die

Thatsache in den Rahmen des Gedankens preßt. hall Hegel'scher Constructionen

macht sich

Ein unbewußter Nach­

in ihm

kräftig genug, nicht andauernd, nicht systematisch.

geltend, aber nicht

Am lehrreichsten ist in

dieser Beziehung seine „Weltgeschichte in organischer Entwickelung".

So

lebhaft er auch im Eingänge die Nothwendigkeit der Erkenntniß der organisirenden Elemente betont, wenn anders die Weltgeschichte als Wissen­

schaft in ihren vollen Werth treten soll!,

ohne daß

er jedoch über das

Wesen dieses Organisirenden zu einer annähernden Deutlichkeit gelangt,

so bald tritt doch in seiner eigenen Ausführung die rein mechanische An­ ordnung an die Stelle des Organischen, — und nur zu bald verschwindet auch diese, um einer trotz allem Schwung und aller Geistesblitze doch nur

Und Rückert fand für diese Un-

trockenen Erzählung Platz zu machen. disciplinirtheit seiner in

das Große

und Allgemeine hinausstcuernden

Willenskraft kein Corrcctiv in dem Wettbewerb Mitstrebender.

Denn die

wissenschaftliche Richtung der Zeit ging eben damals genau dem Strom

entgegen, auf welchem er sein Schifflein mit weit geblähtem Segel hinunter­

treiben ließ. Gleichwohl stecken auch in diesen überhasteten und nicht ausgereiften

Schriften wahrhaft edle Früchte, Früchte einer zuweilen wunderbaren histo­ rischen Jntuitionskraft.

Mit frauenhaftem Ahnungsgefühl bricht er zu­

weilen den Kern der Wahrheit heraus, ohne daß er im Stande ist, das stützende Detail der Argumente aufzubauen, ja sogar ohne sich bei einem Versuch dazu auch nur aufzuhalten.

Jene Darstellung der gleichsam un­

auflöslichen chemischen Verbindung, welche der Geist des Germanenthums

mit dem Christenthum eingegangen ist, die Rückert in seiner „Culturge­ schichte des deutschen Volks in der Zeit des UebergangS aus dem Heiden­

thum in das Christenthum" lieferte, ist denn doch in ihrem Kern eine solche Conception seiner individnellen Befähigung. so

als

sehr

dieser Punkt

Geist über sich selbst erheben.

jenigen

Shmpathieen

nachzugehen,

Da spannte sich

seinen

Dem Urprozeß des Zusammenflusses der­

in seiner eigenen Seele flammten, Genügen.

Freilich konnte Nichts

der Geschichte seine Kräfte beflügeln, die riesengroß

und

allbeherrschend

war ihm gleichsam ein wollüstiges

sein Wahrnehmungsvermögen, da schärfte

sich seine geistige Witterung, da riß ihn auch wohl seine kühne Combi­

nationskraft über die kalten Maße des Erlaubten hinaus.

Wissenschaftlich

ist das freilich nur in geringem Grad, aber vielleicht kündet sich in diesem Hervorbrechen einer fast gegenständlichen Anschauungskraft das verblaßte

und in's Prosaische geschlagene Erbe seines Vaters an. Wer viel, recht viel von diesem herrlichen und reinen Typus deut­

scher Bürgerlichkeit wissen will

— und wer sollte es nicht wollen? —

der lese dieses hier angezeigte Buch einer pietätsvollen Erinnerung; wie

er mild und sanft, und doch wider alles Gemeine zornig und entbrannt, wie er bescheiden und demüthig, und doch auch wieder stolz und vornehm

gewesen, wie er geliebt mit ganzem Herzen und auch wieder mit edlem

Feuer gehaßt hat, wie er gelitten und gestritten und doch das Glück mit

Gewalt fast in seine knappe Behausung hineinzuzwingen wußte, wie er pflichttreu dem Staat, und fast über seine Pflicht seinem Amte, wie er

liebevoll seinen Freunden und mit einer unbegrenzten Zärtlichkeit seinen

Eltern und Geschwistern, seinem herrlichen Weibe und seinem Kinde zuge­ than war.

Er war treu und wahr, edel, rein und gut.

nachgesagt.

Hier aber war eS Ereigniß.

Breslau.

Preußische Jahrbücher. Bd. XL1X. Heft 1.

Vielen wird eS I. Caro.

7

Die europäische Lage beim Jahreswechsel. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 9. Januar 1882. „Wenn cs in den letzten zehn Jahren, im Widerspruch mit manchen

Vorhersagungen und Befürchtungen, gelungen ist, Deutschland die Seg­ nungen des Friedens zu erhalten, so haben Wir doch in keinem dieser

Jahre mit dem gleichen Vertrauen auf die Fortdauer dieser Wohlthat in die Zukunft geblickt,

wie in dem

gegenwärtigen.

Die Begegnungen,

welche Wir in Gastein mit dem Kaiser von Oesterreich und König von Ungarn, in Danzig mit dem Kaiser von Rußland hatten, waren der Aus­

druck der engen persönlichen und politischen Beziehungen, welche Uns mit den Uns so nahe befreundeten Monarchen und Deutschland mit den beiden mächtigen Nachbarreichen verbinden.

Diese von gegenseitigem Vertrauen

getragenen Beziehungen bilden eine zuverlässige Bürgschaft für die Fort­

dauer des Friedens, auf welche die Politik der drei Kaiserhöfe in voller

Darauf, daß diese gemeinsame Friedens­

Uebereinstimmung gerichtet ist.

politik eine erfolgreiche sein werde, dürfen Wir um so sicherer bauen, als auch Unsere Beziehungen zu allen anderen Mächten die freundlichsten sind.

Der Glaube an die friedliebende Zuverlässigkeit der deutschen Po­

litik hat bei allen Völkern einen Bestand gewonnen, den zu stärken und

zu rechtfertigen Wir als Unsere vornehmste Pflicht gegen Gott und gegen

das deutsche Vaterland betrachten." Mit diesem stolzen Schlußaccord klingt die Botschaft aus, welche der

Kaiser bei der Eröffnung des neugewählten Reichstags an die berufenen Vertreter der Nation richtete.

Es war die Zusammenfassung der Resultate

einer Periode auswärtiger Politik, welche in der Geschichte der friedlichen

Entwicklung der deutschen Nation auf absehbare Zeit hinaus die hervor­

ragendste Stelle einnehmen wird. DaS Deutschland, welches sich im Beginn des Jahres 1871 unter

dem Nachhall des Schlachtendonnerö constituirte, ist eine friedliche, weil

befriedigte Nation.

Keine Srinnerung an eine Germania irredenta, an

deutsche, unter ausländischer Herrschaft schmachtende, Glieder stört die Patrioten in ihren Träumen.

Deutschland hat seit Jahrhunderten zu

schwer an der Last der Uneinigkeit und Zerrissenheit getragen; eS hat sich

zu lange nach dem Zauberer gesehnt, der die disjecta membra zu einem lebensfähigen Ganzen wieder zusammenfügen sollte, als daß es nicht von

dem Augenblicke an, wo diese Sehnsucht erfüllt war, sich an seiner natio­ nalen Wiedergeburt hätte genügen lassen sollen.

Die Versuchung, auf

Kosten fremder Nationen seinen Machtkreis zu erweitern, liegt dem deut­

schen Volk seiner historischen Entwicklung nach vollständig fern; wir haben keine Neigung, uns in die Angelegenheiten Anderer einzumischen, und ver­

langen nur, daß Andere uns unbehelligt lassen.

Das ist es, was Deutsch­

land zu dem treuesten und freilich auch wachsamsten Beschützer des Frie­ dens Europas gemacht hat.

Der Friede Europas ist unsere Sache; er

ist das hervorragendste Interesse Deutschlands auf dem Gebiete der aus­

wärtigen Politik.

Freilich hat es lange gedauert, bis das Ausland Vertrauen zu der friedliebenden Zuverlässigkeit der deutschen Politik gefaßt hat.

Das Miß­

trauen des Schwächeren gegen den Stärkeren ist zu tief in der mensch­

lichen Natur begründet.

Das deutsche Reich aber stand beim Beginn

der zehnjährigen Periode nicht nur dem Mißtrauen der Schwachen, sondern auch

der zwischen

Starken gegenüber.

Furcht und Hoffnung

getheilten Zurückhaltung der

Nur Rußland hatte während des Krieges eine halb­

wegs sympathische Haltung eingenommen, nicht sowohl deshalb, weil die russischen Staatsmänner in

der Stärkung Preußens

und Deutschlands

eine Förderung der Interessen des Reiches sahen, als weil die persön­

lichen Sympathien Kaisers Alexander II. die politischen Rücksichten in den Hintergrund drängten.

Das hinderte aber Rußland nicht, noch ehe der

deutsch-französische Krieg zum Abschluß gekommen war, mit einem Feder­

strich die Beschränkungen zu beseitigen, welche der Pariser Friede der Entwickelung seiner Seemacht im schwarzen Meere auferlegt hatte, und es

dem deutschen Staatsmann zu überlassen, den Vertragsbruch mit einem diplomatischen Schönpflästerchen zu überkleistern.

In Wien, wo der ehe­

malige sächsische Minister Graf Beust den Preußenhaß und die Tradition der Revanche für Königgrätz cultivirte, hatte beim AuSbruch des Krieges

die Furcht, Rußland Gelegenheit zu einer Diversion nach Südosten zu

geben, und nach dem Siege von Wörth die Achtung vor den deutschen Waffen die Neutralität als die beste Politik erscheinen

lassen.

Italien

athmete auf, als die Schlacht von Sedan es von dem Alp des französi­ schen Kaiserreichs befreite und damit die Schranken fielen, welche ihm 7*

Die europäische Loge beim Jahreswechsel.

100 bis

dahin

die

Besitzergreifung

seiner

historischen Hauptstadt verwehrt

hatten.

Mit dem Abschluß des Frankfurter Friedensvertrags trat eine kurze

Ruhepause ein.

Frankreichs erste Aufgabe war die politische, militärische

und financielle Wiederherstellung und vor allem die Befreiung des natio­ nalen Bodens von der deutschen Occupation. Mit dem Abschluß der Conven­

tion vom 13. März 1873, durch welche der Termin für die Bezahlung der fünften Milliarde Kriegskostcnentschädigung von neuem

verkürzt und

der 5. September für die Erlegung der letzten Rate und die vollständige

Räumung des französischen Gebiets festgesetzt wurde, hatte die „conserva-

tive" Republik des Herrn Thiers den moralischen Halt verloren und schon am 24. Mai mußte der Wiedcrherstcller Frankreichs den Präsidentenstuhl für den Marschall Mac-Dkahon räumen, noch ehe es ihm gelungen war,

die definitive Constitution der Republik zum Abschluß zu bringen.

Die

legitimistisch-clericale Agitation zligleich gegen Italien und Deutschland, verstärkt durch die Revanchegelüste und den neuen heftig entbrennenden

Culturkampf hielt Mitteleuropa in Schach; aber eine ernstliche Bedrohung

des Friedens war schon dadurch ausgeschlossen, daß alle Großmächte, vor

Allem Oesterreich

und Rußland das Bedürfniß empfanden, durch eine

Reorganisation ihrer Armeen nach deutschem Vorbilde ihre militärische Stellung wieder zu befestigen.

Inzwischen hatte die Anbahnung des Dreikaiserbündnisses (Septem­

ber 1872) Rußland und Oesterreich neutralisirt, Frankreich isolirt, aber mit dem Siege der friedliebenden russischen Diplomatie über die kriege­ rischen Gelüste deö „empörte de Berlin“ (Mai 1875) war der Beweis

geliefert,

daß dieses sogenannte Dreikaiscrbündniß nur als Nothbehelf

Dienste thun könne und daß Deutschland etwas früher oder etwas später

zwischen

dem

wählen müssen.

Freunde

in

St. Petersburg und dem

in

Wien werde

Im Sommer 1875 leitete der Aufstand der Herzegowina

und Bosniens gegen die türkische Herrschaft, dem die Metzeleien in Bul­ garien auf dem Fuße folgten, die neue Orientkrisis ein. Schon Anfang 1875 hatte in England,

regelmäßig wie Ebbe und Fluth wechseln,

Politik Gladstones den

Sieg

DiSraelis

wo TorieS und Whiggs

die quäkerhafte auswärtige

ebenso

erleichtert,

wie fünf

Jahre später die Großmannspolitik Lord Beaconsfields der Rückkehr der WhiggS an die Leitung der Geschäfte vorarbeitete.

vielleicht ein großes Glück,

Und dennoch war es

nicht nur für England,

daß während der

orientalischen Vermittelung nicht die blutscheuen Granville und Gladstone an dem Steuerruder des englischen StaateS saßen;

leicht hätte England

noch einmal wie im Jahre 1855 auS reiner Friedensliebe oder weil der

Gegner zu fest

auf die unverwüstliche Friedfertigkeit der „Nation von

Krämern" baute, in den orientalischen Krieg verwickelt werden können.

Dank der Wachsamkeit der Beaconsfield und Salisbury,

die da, wo

die freundschaftlichen Rathschläge Oesterreichs und die unnahbare Zurück­ haltung Deutschlands nicht hinreichten, die Begehrlichkeit eines Jgnatiew

im Zaum zu halten, die englischen Kriegsschiffe als stumme Warner auf­ ziehen

ließen,

ging das Rußland Alexanders II., welches die unwider­

stehliche Macht der panslavistischen Begeisterung in den Krieg gegen die

Türkei getrieben hatte, als besiegter Sieger aus dem Berliner Congreß hervor.

Deutschland hatte seine Wahl getroffen: der Berliner Congreß

ist die Wiege des deutsch-österreichischen Bündnisses. Das Jahr 1878—1879 war das kritischste für den Frieden Europas

und Deutschlands. Man weiß, wie ernstlich und wie vergeblich die russische Diplomatie sich bemüht hat,

die Durchführung des Berliner Vertrags

in den Oesterreich günstigen Bestimmungen — Occupation der Herze­

gowina und Bosniens — zu verhindern, und in dem für Rußland empfind­ lichsten Punkte — völlige Räumung Ostrumcliens und Bulgariens — illu­

sorisch zu machen; wie sie bald in Paris, bald in Wien nach Bundesge­ nossen suchte und

überall

Reichskanzlers begegnete.

der Wachsamkeit

der Agenten des deutschen

Anfang August mußte der letzte russische Soldat

über die Donau zurück; der „ehrliche Makler" bestand unerbittlich auf

der pünktlichen Ausführung der Stipulationen von Berlin.

Die russische

Diplomatie, secundirt von dem Lärm der panslavistischen Presse über die

Treulosigkeit des preußischen Freundes, spielte ihre letzte Karte aus:

wagte es, dem deutschen Nachbar zu drohen.

sie

Der greise Kaiser eilte nach

Alexandrowa, um an das Herz Alexanders zu appelliren.

Fürst Bismarck

ging über Gastein nach Wien, zufrieden, daß der russische Uebermuth ihm das wirksamste Mittel in die Hand gespielt hatte, das deutsch-österreichische

Bündniß als eine im Interesse der Sicherheit und der Würde Deutsch­ lands unerläßliche Vorsichtsmaßregel zu illustriren.

Die Militärvorlage

im deutschen Reichstage bot die erwünschte Gelegenheit, gewisser Maßen zur Motivirung der Erhöhung des Friedensstandes um 25,000 Mann und

des Kriegsstandes um 250,000 Mann eine Darstellung der politischen Lage Deutschlands zu geben, derzufolge die beiden Verbündeten, Deutsch­ land und Oesterreich-Ungarn gleichzeitig gegen Frankreich und — Rußland, eventuell auch gegen das ohnmächtige Italien Front machen müßten. Noch einmal schien den Gegnern das Glück zu lächeln.

Die Legis­

laturperiode des englischen Unterhauses war dem Ablauf nahe; die Neu­

wahlen machten dem Traum Beaconsfields, daß eS den TorieS gelingen könne,

dem parlamentarischen Naturgesetz zu

trotzen,

ein jähes Ende.

Die europäische Lage beim Jahreswechsel.

102

Ende April 1880 traten die Whiggs wieder an die Spitze der englischen

Politik.

Für Rußland wäre ein Ministerium Gladstone mit der habituellen

Gleichgültigkeit gegen die großen Aufgaben der europäischen Politik schon ein Gewinn gewesen; wie viel mehr ein Sab inet, welches in einer leiden­

schaftlichen Action zu Gunsten der rückhaltlosen Durchführung der Stipu­ lationen

des Berliner Vertrags das Bindemittel für eine Politik

englisch-französisch-italienisch-russischen Interessengemeinschaft

haben glaubte.

der

gefunden zu

Der Ausgang dieses crisenreichen Jmbroglios ist bekannt.

Im Herbst 1880 wurde die montenegrinische Frage, die sich schließlich zu

dem diplomatischen Kampfe um Dulcigno zuspitzte, gegen England und Rußland gelöst; Frankreich, welches damals schon von der Erweiterung seines Einflusses in Nordafrika träumte, auf die Seite Deutschlands her­ übergezogen; England in der griechischen Grenzfrage isolirt, dadurch eine

für Griechenland und die Türkei gleich annehmbare Lösung auch dieser Streitfrage ermöglicht und so eine Annäherung der schlitzsuchenden Türkei

an Deutschland und Oesterreich vorbereitet, die sich der Sicherheit der Türkei gegenüber der Akinirarbeit der russischen Diplomatie werthvoller

erwies als der vielgerühmte Chpern-Vertrag.

Damit war England, dem

die irische Bewegung ohnehin die Lust zu auswärtigen Actionen verleidet, in die Defensive zurückgedrängt.

Einen Augenblick schien der Thronwechsel matischen Erfolge zu durchkreuzen.

eigniß des 13. März 1881

auf

in Rußland

diese diplo­

Der Eindruck, deu daö furchtbare Er-

die gefammte civilisirte Welt

machte,

wurde in Deutschland und Preußen verschärft, einmal durch die Intimität und die verwandtschaftlichen Beziehungen der Höfe und der höheren ge­

sellschaftlichen Kreise, vor Allem aber durch die traditionelle Auffassung,

daß ein halbwegs erträgliches Verhältniß zwischen Rußland und PreußenDeutschland bis dahin nur durch die Gesinnungen des Kaisers Alexan­ ders II. bedingt gewesen sei.

Es war für den deutschen, und namentlich

für den preußischen Politiker gewisser Maßen ein Glaubenssatz geworden,

daß die deutsch-russische Freundschaft auf zwei Augen beruhe und daß der

Tod Alexanders II. und die Thronbesteigung des Großfürsten-Thronfol-

gers den Gegensatz, der seit langem zwischen den beiden Nachbarn bestand, unverhüllt und unausgleichbar hervortreten lassen müsse.

Dem ungebil­

deten Theil der russischen Nation ist die westliche Cultur überhaupt un­

sympathisch.

Die Sympathien der sogenannten gebildeten Kreise gehören

in Folge der eigenthümlichen Entwicklung Rußlands Frankreich;

freilich nicht dem Frankreich,

damals die Wege der

fast ausschließlich

dessen Staatsmänner gerade

englisch-russischen Politik

so empfindlich gekreuzt

und der deutsch-österreichischen Action die moralische Unterstützung gewährt

Für's Erste konnte

hatten.

übrigens

für Rußland von der Eröffnung

neuer Bahnen für die auswärtige Politik nicht die Rede sein.

Die Un­

sicherheit der inneren Lage wurde durch die Beseitigung des Grafen LoriS

Melikow und die Berufung des Grafen Jgnatiew zum Minister des In­ Die Desorganisation der Regie-

nern mehr gesteigert als vermindert.

rungSkreise selbst machte das napoleonische Recept, innere Gefahren durch

auswärtige Abenteuer zu paralhsiren, völlig unanwendbar.

Inzwischen

vollzog sich langsam, aber unwiderstehlich die Annäherung zwischen Berlin und St. Petersburg, die kaum ein halbes Jahr nach dem Tode Alexan-

der's II.,durch die Zusammenkunft des Kaisers Wilhelm mit dem neuen

Beherrscher Rußlands besiegelt wurde und dem Grafen Jgnatiew nur die Wahl ließ, die Hoffnungen seiner panslavistischen Freunde zu enttäuschen oder seine Ministerstellung auf's Spiel zu setzen.

An Anläufen auf dem

Gebiete der inneren und der auswärtigen Politik hat es freilich in keiner

Weise gefehlt; destomehr aber an Spuren irgend einer klaren zielbewußten

Die schmachvolle Ermordung

Politik.

des trotz aller Fehler um Ruß­

lands Entwickelung hochverdienten Kaisers Alexanders II. hat der revo­

lutionären Partei eine schwere moralische Niederlage beigebracht.

Leider

war cs dem zwischen Muthlosigkeit und plötzlichen Anwandlungen von Energie

hin- und herschwankenden jungen Hofe nicht vergönnt, dauernden Gewinn aus der Erschütterung der öffentlichen Meinung zu ziehen, welche der Mord

am Katharinencanal zur Folge hatte.

Die Zusammenkunft in Danzig,

bei welcher der deutsche Reichskanzler in Person das verbündete Oester­

reich vertrat, hat zum ersten Mal der Umkehrung der deutsch-russischen Beziehungen einen charakteristischen Ausdruck gegeben. daS Bedürfniß

selben nachgab.

der Begegnung

Rußland

Daß

Dieses Mal war

einer Anlehnung fühlte und dem­

es Rußland, welches

der Kaiser von Deutschland und

eine solche zwischen Alexander III. und Kaiser Franz Joseph

noch nicht gefolgt ist, wie wiederholt in Aussicht gestellt wurde, kann keinen

Anlaß zu Besorgnissen geben; Wilhelm

die Voraussetzung,

und Kaiser Alexander III.

unter welcher Kaiser

sich in Danzig die Hand reichten,

war der feste Entschluß des letzteren, die Lebensinteressen Oesterreichs im Orient zu respectiren und den kleinen Krieg gegen die Befestigung deS

Einflusses Oesterreichs auf der Balkanhalbinsel einzustellen.

Die Zu­

sammenkunft in Danzig war bestimmt, die Erwartungen der Panslavisten,

welche

durch die Ernennung Jgnatiews zum Minister des Innern her­

vorgerufen worden, herabzustimmen; der vorläufige Verzicht auf die per­ sönliche Begrüßung des Kaisers Franz Joseph hat es möglich gemacht, den Schein einer Vernachlässigung angeblich vitaler Interessen Rußlands

zu vermeiden.

Unter diesen Umständen kann man trotz der deutschfeind-

Die europäische Lage beim Jahreswechsel.

104

lichen Sprache eines guten Theiles der russischen Presse die Gefahr einer Verwickelung im Osten außer Acht lassen. Die Erschütterung der europäischen Stellung Rußlands durch den Mord vom 13. März hat offenbar die Neigung der französischen Regie­

rung verstärkt, die tunesische Karte auszuspielen.

Schon Anfang April

wurde die Expedition gegen Tunis oder vielmehr gegen die Krumirs be­

schlossen, deren Ziel das französische Protectorat über Tunis war.

Indem

Frankreich sich in dieses Unternehmen, dessen Schwierigkeiten freilich an­

fangs sehr unterschätzt wurden, hineinwagte, gab eö der Zuverlässigkeit der deutschen Friedenspolitik ein bedeutungsvolles Vertrauensvotum.

Die

Expedition gegen Tunis aber war mehr als das; sie war ein Schlag in's

Gesicht der

italienischen Nation, deren Politiker sich nicht hatten ent­

halten können, den stärkeren Nachbar zu reizen, ohne im Besitz der Mittel

zu sein, den Einfluß Italiens in jenen Küstenstrichen Nordafrieas zu be­

haupten.

Im entscheidenden Augenblicke fand sich, daß der französische

Freund rücksichtslos seine eigenen Interessen verfolgte und daß keine von

den übrigen eilropäischen Mächten Neigung verspürte, Frankreich in den

Arm zu fallen.

Es war angesichts der Rolle, welche Italien das Jahr

zuvor in der großen Gladstone'schen Comödie gespielt hatte, ein tragi­ sches Geschick, daß die italienischen Staatsmänner auf die Unterstützung

angewiesen waren, welche ihnen die papierenen Proteste der Türkei gegen den Bardovertrag gewähren mochte.

Die

tunesische

Expedition

europäischen Politik Italiens.

bezeichnet Man kam

einen

Wendepunkt

in

der

zu der Einsicht, daß keinen

Freund haben ungefähr so gefährlich ist, wie Alle zu Feinden zu haben.

Italien war — freilich etwas spät — seiner Allianzbedürftigkeit inne ge­

worden.

Die italienischen Politiker wendeten nothgedrungen ihre Blicke

nach Berlin und Wien.

Der Weg nach Wien, den König Humbert im

Spätherbst 1881 einschlug, führte selbstverständlich über die Leiche der

Italia irredenta, diese letzte Verkörperung der italienischen Ansprüche auf deutsches Gebiet.

Der gleichzeitige Besuch des Königs in Berlin ist nach

der officiellen Version mit Rücksicht auf das Befinden des Kaisers Wil­ helm und mit der Bitte abgelehnt worden, das Frühjahr 1882 abzuwarten;

die maßgebenden politischen Motive harren noch der Enthüllung.

Die

sensationellen Erklärungen, welche der interimistische Vertreter des aus­ wärtigen Amts, Herr v. Kallah seiner Zeit in den Delegationen über die

Bedeutung der Zusammenkunft in Wien gegeben hat, mußten die Ver­ muthung nahe legen, daß

die Minister des Königs Humbert selbst in

Wien den Versuch gemacht haben, die Politik der freien Hand fortzusetzen.

Sollte man in Rom gehofft haben, das Ministerium Gambetta werde es

sich angelegen sein lassen, Italien zu versöhnen und die Erbschaft der

Ferrh und Barthel6my-St. Hilaire nur cum beneficio inventarii, d. h.

unter Verzichtleistung auf Tunis anzutreten, so hat die Enttäuschung aller­ dings nicht lange auf sich warten lassen.

Der Chef des CabinetS vom

14. November 1881, des „großen Ministeriums", wie die Gegner das

Ministerium Gambetta getauft hatten, ehe es geboren war, hat an der Nothwendigkeit den Bardo-Vertrag aufrecht zu erhalten, keinen Augenblick

gezweifelt und damit die Möglichkeit ausgeschlossen, die Beziehungen zu

Italien wieder anzuknüpfen.

Auf der anderen Seite

hat Italien

nicht

die geringste Aussicht,

für seine Interessen im Mittelmeer England in Mitleidenschaft zu ziehen. England hat sich nicht gerührt, als Frankreich in Tunis

Im Gegentheil.

nur feine eigenen Interessen

tölpelte.

zu Rathe zog

und

die Italiener

über­

In Egypten — und nachgerade nur noch in Egypten — sind

die Interessen Englands solidarisch mit denjenigen Frankreichs, während Italien fürchten muß, auch hier den Kürzeren zu ziehen, mag nun die französisch-englische Schutzherrschaft über das Land der Pharaonen fort­ dauern oder in dem Kampf um die Beute ihr Ende finden.

Hier fallen

die Interessen Italiens vollständig zusammen mit denjenigen Deutschlands

und Oesterreichs. Nur diese völlig hülflose Lage Italiens läßt es erklärlich erscheinen, daß man in Wien kein Bedenken trug, dem unbefriedigenden Eindruck,

den der Besuch König Humberts hinterlassen hatte, öffentlich Ausdruck

zu geben und daß Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung vom 29. No­ vember v. I.

Italien

als warnendes Beispiel citirte für

diejenigen,

welche daö deutsche Reich auf die schiefe Ebene der „parlamentarischen Regierung"

drängen möchten.

Die Warnung war fast mehr

Adresse deö Königs Humbert als an eine deutsche gerichtet.

deutsche Reichskanzler,

an die

Denn der

indem er constatirte, daß der Schwerpunkt, der

in Italien von Ministerium zu Ministerium mehr und mehr nach links geglitten sei, nicht mehr weiter nach links gleiten könne, „ohne in ein

republikanisches Gebiet zu fallen", so gedachte er ohne Zweifel der Thatsache, daß die republikanische Partei in Italien — dort giebt es wirklich eine solche — identisch ist mit den Aspirationen der Italia irredenta, daß

sie es ist, die die Aufhebung des Garantiegesetzes und die Vertreibung

des Papstes betreibt und daß sie morgen bereit sein würde, den italienischen Boden zum Tummelplatz einer gambettistischen Politik werden zu lassen, deren Programm in den kurzen Worten zusammengefaßt ist: „die Republik muß

Propaganda machen".

Das Wort wird bekanntlich Gambetta zugeschrieben

und gehört zu denen, die man gut thun wird, nicht ganz zu vergessen.

Die europäische Lage beim Jahreswechsel.

106

Die Erwartungen Italiens waren indessen nicht die einzigen, welche

Gambetta in dem Augenblicke täuschte, wo er sich endlich entschloß, auS

dem geheimnißvollen Halbdunkel hervorzutreten, welches den „CoulissenRegenten" Frankreichs

Wie von dem Tode

bis dahin gedeckt hatte.

Alexanders II. eine Umgestaltung der Beziehungen Rußlands zu Deutsch­

land hatte die öffentliche Meinung Europa's von der Uebernahme einer ver­ antwortlichen Stellung an der Spitze der französischen Regierung seitens

Gambetta's zum mindesten eine Bedrohung der deutsch-französischen Be­

ziehungen erwartet. erwiesen.

Auch diese Erwartung hat sich als eine irrthümliche

Europa fand keinen Anlaß zu zittern an dem Tage als das

offizielle Blatt die Ernennung Gambetta's zum Ministerpräsident und zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten der französischen Republik ver­ kündete

Wer hätte es vor Jahresfrist für möglich gehalten, daß die

„Norddeutsche Allgemeine Zeitung" acht Tage nach dem Eintritt Gambettas in die Geschäfte kaltblütig erklären werde, Fürst Bismarck habe das, was

ein Pariser Blatt, der „Voltaire“, geschrieben hatte, allerdings nicht ge­ sagt, aber, wenn die Gelegenheit sich geboten, wohl sagen können, nämlich: „Herr Gambetta ist ein großer Redner imb ein großer Staatsmann, er ist aber noch ein größerer Patriot.

Er liebt sein Vaterland zu sehr, um

eS in unbedachte Abenteuer zu stürzen.

Deshalb habe ich keinerlei Be­

fürchtungen vor seiner Uebernahme der Regierung."

Fürs Erste freilich

hat Gambetta andere dringendere Aufgaben, als auswärtige Abenteuer zu

suchen.

In dem Programm der Reformen, welche die „democralische Re­

publik"

begründen sollen,

die

Revision

der

nimmt die Reform des Senats und

Verfassung

von

1875

die

hervorragendste

ein, und diese Reform würde von vornherein aussichtslos sein,

auch nur die

somit

Stelle

wenn

entfernteste Möglichkeit auswärtiger Complicationen

Gegner zum Widerstand ermuthigte,

die

den Eifer der Freunde lähmte.

Zudem ist die wirthschaftliche Constitution Frankreichs, so glänzend sie

erscheinen mag, in Folge einer starken Ueberspeculation eine sehr zarte.

Der Jahresüberschuß der Staatseinnahmen über die Ausgaben reicht frei­

lich hin, die außerordentlichen Ausgaben für die Expedition gegen Tunis und zur Bekämpfung des Aufstandes in Algier zu decken; immerhin aber

wird das erste Jahr der Regierung Gambettas auch das erste sein,

in

welchem die großartige Politik der Steuererleichterungen nicht fortgesetzt

werden kann.

Eine

ernsthafte

auswärtige Verwickelung könnte

eine financielle Catastrophe herbeiführen,

welche

leicht

bei der anerzogenen

Neigung der Franzosen, Personen und Institutionen an dem Maßstab

der Entwickelung der Geschäfte zu messen, selbst Gambetta gefährlich sein würde.

Das wäre allerdings der ungünstigste Zeitpunkt gewesen, durch

Die europäische Lage beim Jahreswechsel.

107

die Herabsetzung des hohen Zinsfußes der Rente aus der Zeit, wo Frank­ reich durch die spielende Leichtigkeit, mit der eS die Mittel zur Be­

zahlung der deutschen Kriegsentschädigung aufbrachte, die Welt in Er­

staunen

setzte,

und durch

den Ankauf

der

großen Privatbahnen

für

den Staat collossale Capitalien zu mobilisiren, der Spielwuth und der

Spekulation

einen

neuen

gewaltsamen Anstoß

hat diese Klippen vermieden, vorzeitig

mit den Möglichkeiten zu

ten, falls das

früher

und

wir

geben.

zu

werden gut

beschäftigen,

thun,

Gambetta

uns

nicht

welche eintreten könn­

stolze Schiff des französischen Conseilspräsidenten etwa-

oder etwas später an diesen oder anderen Klippen in Gefahr

kommen sollte.

Daß Gambetta, lediglich um inneren Verlegenheiten zu

entgehen, sich in auswärtige Abenteuer stürzt, scheinlich.

wahr­

ist nicht gerade

Auswärtige Verwickelungen liegen vielleicht eher im Bereiche

der Möglichkeit, wenn das Gebäude der demokratischen Republik Krönung löste,

erhalten und

seine

„das einheitliche, von allen Rücksichten losge­

von jedem Zwiespalt und jeder Schwäche befreite Regime"

ge­

schaffen sein wird, dessen Herstellung Gambetta bei der Uebernahme der

Geschäfte als das Ziel seines

Strebens bezeichnete.

Aber bis dahin ist

noch ein weiter Weg. Die heutige Weltlage rechtfertigt das Vertrauen der kaiserlichen Bot­

schaft auf die Fortdauer der Segnungen des Friedens, für welche nicht nur die volle Uebereinstimmung der Politik der drei Kaiserhöfe bürgt, sondern auch die Unmöglichkeit für die übrigen Mächte, ihre Interessen

anders als im weiteren oder engeren Anschluß an die Nordmächte sicher

zu stellen.

Mehr als die Zuversicht der Botschaft springt die Bescheiden­

heit in die Augen, mit der die friedliebende Zuverlässigkeit der deutschen

Politik, nicht aber die Machtstellung des deutschen Reichs hervorgehoben wird.

7t.

Notizen. Zu den 5kriegen Friedrichs des Großen. Für die historische Anschauung der Gestalt Friedrichs des Großen hat erst

unsere Zeit den erforderlichen Abstand erreicht; nicht aus dem äußeren Grunde daß nun beinah ein Jahrhundert über seine Gruft dahingezogen, sondern des­ halb weil in dieser Frist das geschichtliche Ergebniß seiner Thaten wider alle Anfechtung behauptet, ja zuguterletzt in weiterer Ausbildung desto entschiedener bekräftigt worden ist.

Niemand zweifelt heut daran, daß der Tag von König-

grätz die Erfolge von Mollwitz und Hohenfriedberg endgülng besiegelt hat: die Erhebung Preußens zur deutschen Großmacht gegenüber Oesterreich, das dadurch genöthigt ward, sich um den eigenen Schwerpunkt innerlich zu consolidiren, ist

eben durch Politik und Krieg, wie der Jahre 1740 — 45 begründet, Jahre 1863 — 66 vollendet worden.

so der

Diese Umwälzung der deutschen Macht­

verhältnisse bedurfte jedoch, da sie zugleich eine Veränderung der allgemeinen in sich schloß, in beiden Fällen noch der Bestätigung durch einen europäischen Kampf; insofern bilden die Siege von 1870 und 71, so eng sie für die populäre Empfindung mit dem Andenken der Freiheitskriege zusammenhingen, politisch

doch mehr ein ergänzendes Seitenstück zu den Schlachten bei Roßbach

und

Minden oder vielmehr zu den Waffenthaten des siebenjährigen Krieges über­

haupt, denn in Gedanken wenigstens, man möchte sagen in den Lüften, stritten

auch bei Wörth und Sedan bald die Völker, bald die Regierungen fast des

ganzen Erdtheils zur Seite der Franzosen, um mit ihnen gemeinsam zu unter­ liegen.

Hierdurch ist denn aber auch der Zwist der Leidenschaften über das

Gedächtniß Friedrichs wesentlich ausgefochten: man mag ihn noch fürder per­

sönlich lieben oder hassen wie andere Gewaltige der Vergangenheit je nach sub­

jektiver Neigung; allein die Bedeutung seiner Handlungen für die Welt, die

Berechtignng seiner 'Stellung in der Geschichte wird nirgend mehr einem Miß­ verständniß ausgesetzt, einem vernünftigen Streit unterworfen sein; Anklage wie

Schutzrede werden gleichermaßen verstummen, um der rein gegenständlichen Dar­ stellung echter Historie das Wort zu lassen.

Wie rasch in diesem Sinne selbst

am ehedem feindseligsten Ort, in Oesterreich, eine erfreuliche Wendung eingetreten, liegt vor Augen: zwar bei Arneth, der sein großes Werk über Maria Theresia noch in den Tagen ungelöster Spannung 1863 begann,

muß man

schon zufrieden sein, wenn er in dessen späteren Bänden auch nur allmählich

ein wenig in seiner unbilligen Bitterkeit gegen Friedrich nachgelassen; dafür wird nian indeß an der Auffassung des letzteren etwa in den zahlreichen und

nützlichen Abhandlungen Beer's oder, was noch erheblicher scheint, in dem weit­ verbreiteten Handbuch der Geschichte Oesterreichs von Krones kaum irgend welchen Anstoß zu nehmen brauchen.

Desto zeitgemäßer ist man daher von

unserer Seite beflissen, die originalen Dokumente der Geschichte des großen

Königs aus den Archiven rückhaltslos ans Licht zu ziehen, vor allem dessen eigene politische Correspondenz, seine wahre Berufsarbeit sozusagen, neben der,

was man sonst als seine Werke las, die historischen und militärischen Schriften immerhin ausgenommen, doch nur den Werth dilettantischer Mußeproduktion besitzt.

Wer nun in diesen hurtig einander ablösenden Bänden, die bis jetzt

das erste Jahrzehnt der Herrschaft Friedrichs umfassen, den Erwägungen und

Entschlüssen des jungen Helden beinah von Tag zu Tag aufmerksam nachgeht, mag sich im stillen schon am Vorgefühl einer künftigen politischen Gesammtdarstellung dieses einzigen Fürstenlebens erbauen, wozu man freilich auch die seltene Gabe Carlyle's besitzen müßte, alle einzelnen Momente der Politik mit dem

heroischen

Ganzen der Persönlichkeit zu verschmelzen und zu durchleuchten.

Vorderhand werden Forschung und Kunst sich indessen bescheidenere Ziele zu stecken haben: für bedeutende, womöglich abschließende Monographien zur Ge­

schichte Friedrichs hat die Stunde geschlagen.

Das stattliche Buch, das wir

als eine solche heut kurz zur Anzeige bringen, die zweibändige „Geschichte des ersten schlesischen Krieges nach archivalischen Quellen dargestellt von

C. Grünhagen (Gotha 1881)" ist übrigens unabhängig von dem Impulse

jener großen Publikationen aus eigenem Entwurf und selbständigen Studien hervorgegangen. Grünhagen ist allgemein bekannt als der vertrauteste Kenner und thätigste

Förderer schlesischer Landesgeschichte; wie er allen ihren Theilen als Archivar, Gelehrter und Autor seit Jahren durch Edition, Erörterung und Schilderung

die wichtigsten Dienste zu leisten gewohnt ist, so darf man von seiner Hand wohl auch jene langentbehrte Gesammthistorie Schlesiens erhoffen, über deren Anfängen einst sein würdiger Vorgänger Stenzel Hinwegstarb.

Gleich diesem

aber hat sich auch Grünhagen über die territorialen Grenzen hinaus den Blick

auf die preußische, deutsche, ja die allgemeine Geschichte frei erhalten und zeigt uns gerade in dem vorliegenden Werke, wie glücklich sich bisweilen Heimath und

Welt verbinden lassen; keine geeignetere Epoche hätte er dazu wählen können,

als die des ersten schlesischen Krieges.

Der herrlichen Landschaft Schlesien ist

im allgemeinen in unseren nationalen Schicksalen und mithin in der großen Historie überhaupt eine merkwürdig passive Rolle zugefallen; es erscheint fast

als die Hauptsache, daß sie viermal rechtzeitig für Deutschland in Besitz ge­

nommen ward: zunächst durch deutsche Kolonisation im 13. Jahrhundert, wodurch der im

14. vollzogene staatsrechtliche Anschluß an die böhmische Krone der

Luxemburger und damit indirekt ans alte Reich innerlich vorbereitet worden;

ganz ähnlich hat sodann die Reformation als eine zweite Einwanderung gleichsam

Notizen.

110

des deutschen Geistes, sowohl an sich wie durch die um ihretwillen angekniipfte dynastische Beziehung schlesischer Gebiete zu Brandenburg, der preußischen Er­

oberung des Landes fürs neue Reich die Wege gewiesen und geebnet.

Zur

Zeit dieser letzten Eroberung nun gelangte Schlesien, obschon gerade damals mehr denn je als leidendes Objekt, ein paar Jahre lang zu wahrhaft universal­

historischer Bedeutung und zwar genau genommen eben nur während des ersten schlesischen Krieges.

Wenn im siebenjährigen, den man sehr unzutreffend als

dritten schlesischen bezeichnet hat, vielmehr europäische Interessen im weitesten

Sinne des Worts auf dem Spiele standen, so hat es sich auch im sogenannten zweiten schlesischen Kriege in erster Linie um auswärtige Angelegenheiten, um

deutsche und österreichische nämlich gehandelt:

Friedrich griff abermals zu den

Waffen, um Deutschland und Oesterreich diejenige Gestaltung aufzuzwingen, die er allerdings vornehmlich für die dauernde Sicherung seines schlesischen Besitzes für nothwendig hielt. Deutschlands,

Schlesien selbst.

In den Jahren 1740—42 aber drehen sich die Geschicke

ja der Welt in der That um die Entscheidung in und über

Dessen Erwerbung ist der einzige positive politische Gedanke,

den in der damaligen Krisis der einzige Staatsmann von Willenskraft und Leistungsfähigkeit gefaßt und gehegt; lediglich um ihn durchzuführen, wählt und wechselt Friedrich seinen Ort inmitten der europäischen Parteien, deren offener

Conflikt sich wiederum allein an dem schlesischen Ereigniß entzündet, um als­

dann mit all seinem prahlerischen Feuerwerk nur eben der Bollendung dieses besonderen Ereignisses zu leuchten.

Und wenn dieser erste schlesische Krieg auch

mit einem Resultat von universeller Bedeutung abschließt, so beruht doch dies,

die Rangerhöhung Preußens unter den Mächten, natürlich ebenfalls materiell auf dem Zuwachs dieser ansehnlichen Provinz, ideell auf dem moralischen Ein­ druck der Energie, Consequenz und Gewandtheit, womit eben dies so bestimmt

umgrenzte Ziel verfolgt und erreicht worden.

Man sieht, wie sehr bei solcher

Sachlage, wenn es gilt die Begebenheiten jener Jahre zu erzählen, gerade der

beste schlesische Landeshistoriker sich von Haus aus in der günstigsten Central­ position befindet, und man wird an der Aufgabe, die sich Grünhagen gestellt,

zuvörderst eine heimische Seite unterscheiden und hervorheben dürfen.

Für sie

nun kamen nicht sowohl unbekannte Aktenstücke, als vielmehr Quellen anderer Art in Betracht, die zum

größten Theil bereits literarisches Gemeingut und

vielfach schon vom Berfasser selbst in älteren Spezialschriften benutzt waren.

Die Bedeutung seiner neuen Arbeit liegt dagegen hier in der langjährigen voll­ kommenen Beherrschung dieses zerstreuten Materials, wobei sich vollständige Kenntniß des Details mit richtiger Schätzung seines allgemeinen Gebrauchs­ werthes vereinigt. Keineswegs weitläufig daher, sondern durchaus präcis werden uns Schicksale und Zustände Schlesiens dargelegt von den dumpfen Zeiten des

österreichischen Regimentes an durch Krieg und Unterhandlung hin bis zum

Frieden

und zur Eingewöhnung der abgetretenen Provinz in die preußische

Staatsgemeinschaft.

Besonderes Lob verdient zunächst die klare Auseinander­

setzung der preußischen Rechtsansprüche, die soviel besser waren als ihr zumeist

unleugbar durch Friedrichs eigene sorglose Geschichtschreibung verdorbener histori­

scher Ruf; sodann die eingehende und anschauliche, mit Hülfe kürzlich publicirten Materials durchweg revidirte Schilderung der Mollwitzer Schlacht, von

der es nicht übel heißt, daß sie Friedrich in absentia, eigentlich aber noch Friedrich Wilhelm I. gewonnen habe; ferner der überzeugende Bericht über

Stimmung und Haltung der Schlesier, welche anfangs gleichmäßig überrascht und behutsam zuwartend, erst im Laufe des Krieges sich in wirksame, wesentlich

confessionelle Parteien schieden, um zuletzt wieder in einträchtiger Geduld die

Beseitigung ihrer längst verdorrten Ständeverfassung über sich ergehen zu lassen; schließlich vor allem die aufklärende Erörterung der seltsamen territorialen Be­ stimmungen des Breslauer Friedens, woher sich bis auf den heutigen Tag die

Mißgestalt der schlesischen Grenze an der Glatzer Seite schreibt.

Wenn jedoch

an diesem Punkt die treffliche Sach- und Landeskunde des Verfassers ins hellste Licht tritt, so verdankt er andererseits hier wie überall selbst die gediegenste Belehrung den umfassenden und sorgfältigen Studien, die er von einem höheren Standpunkt aus in den diplomatischen Akten jener Jahre gemacht.

Denn weit

über dem Objekt Schlesien stand von vornherein in seinem

Plan als Subjekt König Friedrich.

Von der Einsicht ausgehend, daß in dessen

Unternehmung und Leistung während des ersten schlesischen Krieges die poli­ tische Aktion bei weitem schwieriger und bedeutender gewesen als die militärische,

ersah er sich eben dies epochemachende politische Auftreten des jungen Helden zum Hauptthema aus.

Er schrak dabei nicht zurück vor der Concurrenz mit

der taktvollen Grazie der Rankeschen, der feinspürenden Scharfsichtigkeit der

Droysenschen, der gemüthlichen Frische der Carlyleschen Erzählung.

Die Ori­

ginalakten des Berliner Archivs, aus denen erst seitdem jene politische Correspondenz wie so manches andere veröffentlicht worden, dazu, um jede preu­ ßische Einseitigkeit zu vermeiden, die Papiere des Wiener und von den neu­

tralen Stellen die Akten von Dresden, Hannover und vornehmlich die von London boten für solch ein Wagniß ein Fundament von völlig beruhigender Breite.

Die Forschung gestaltete sich von selbst zu schärfster Nachprüfung der

Einzelfragen, wie z. B. der nach dem Zeitpunkt des Ursprungs der schlesischen Entwürfe Friedrichs, nach der Gestalt, in der dieser nach dem Tode des Kaisers

zuerst das große Projekt sormulirte, nach dessen fernerer Behandlung in den geheimen Debatten mit Schwerin und Podewils und nach dem Einfluß be­ sonders des letzteren u. s. w.

Allein auch

große Knotenpunkte der Begeben­

heit, wie vor allem das Abkommen von Kleinschnellendorf mit seinen Ursachen und Wirkungen, Vorzügen und Mängeln, Absichten und Schicksalen vertrugen und erhielten noch eine ungleich hellere

ihnen bisher zutheil geworden.

und eindringendere Beleuchtung als

Indem aber die Forschung so ins Einzelne

ging, strebte die neue Darstellung um so entschiedener zum Ganzen.

Denn

nie gab es ein Werk so sehr aus einem Gusse selbständigen Wollens und Voll­

bringens wie diese Politik des jungen Friedrich, sodaß, je energischer die Unter­ suchung in sie eindringt, desto deutlicher die Einheit ihres Charakters gewisser-

maßen von selbst hervorspringt.

Die Momente, welche zu dieser Erscheinung

wirksam beigetragen, finden sämmtlich bei Grünhagen volle Beachtung: die Be­

reitschaft der Mittel, wie sie der neue König erblich überkam, wozu sogar eine negative Größe gehörte, die diesmal glückliche Jsolirung seines Staates nämlich, denn eben darum handelte sich's dessen Selbstgenügsamkeit praktisch

kundzuthun; sodann die europäische Situation, ohne die das doch nicht ange­ gangen wäre, jener von Friedrich so richtig erkannte polare Gegensatz zweier

Weltmächte nebst ihrem Anhang, d. h. nicht mehr Oesterreichs, sondern Englands und Frankreichs, zwischen denen hindurch gerade Preußen mit dem Schwert aus Oesterreich losgehen konnte; vor allem aber als das A und O die kühne

Genialität deS Helden selbst, an dem jeder Athemzug Initiative, jedes Wort Entschluß, jeder Bescheid oder Befehl ein Ausbruch, bisweilen gar eine allzu­

heftige Explosion des Charakters ist.

Außer seinen eigenen schriftlichen Aeuße­

rungen ließ sich dies Wesen aus den stets erstaunten, oft verblüfften, mitunter entsetzten Gesandtschaftsberichten der Fremden, zumal der Engländer entnehmen, wie sie Grünhagen uns sehr zudanke manchmal in natura mittheilt.

Doch

sucht er der Eigenart Friedrichs auch genetisch beizukommen, indem er in der Einleitung auf dessen jugendliche Entwicklung zurückgreift.

Als ein Irrthum

muß dabei bezeichnet werden, wenn im Antimacchiavell bereits etwas vom Geiste des contrat social gefunden wird, während doch in der That nur von einem Herrschaftsvertrage darin die Rede ist, wie er seit Jahrhunderten der Theorie

geläufig war.

Ein anderes kleines Bersehen sei ebenfalls bei dieser Gelegenheit

berichtigt: die Augen des Königs, deren unvergleichliche Strahlen fast die ganze

Literatur der Zeit durchscheinen bis in den Staub der Selbstbiographie Pütter's oder den Schmutz der Memoiren Casanova's hinein, waren nicht dunkelbraun,

sondern, mit Carlyle zu reden, ein Paar superlative graue Augen.

Bon hohem

Werth ist nun aber, daß der Autor mit der liebevollen Schilderung seines

Helden eine nicht minder liebevolle Kritik desselben verbindet, worin sich die heut auch dem treuen Preußen mögliche historische Unbefangenheit anczenehm

offenbart.

Auch das Genie muß in den Anfängen seiner Kunst Lehrgeld zahlen,

und Grünhagen zeigt uns sehr instruktiv die Fehler der Politik Friedrichs als die^Schattenseiten ihrer Vorzüge.

Denn wenn auch einigemale, wie z. B. gleich

anfangs durch Concessionen an den Rath seines erfahrenen Podewils, der junge

Fürst der Klarheit seines Vorhabens durch die Nachgiebigkeit gegen andere ge­

schadet hat, so entspringen doch die meisten Schwierigkeiten, in die er geräth, aus dem Uebermaß an Selbständigkeit im Handeln, mit der sich leicht eine

stolze Achtlosigkeit verknüpfte.

So ist insbesondere die für Friedrichs Interesse

höchst unvortheilhafte Form der Abrede von Kleinschnellendorf zu erklären, die ihn dann wieder zu der innerlich rechtmäßigen, aber äußerlich nur künstlich zu

entschuldigenden und daher für seinen Ruf verhängnißvollen Lossage von jenem

Vergleiche trieb.

Und ist es nicht überhaupt bis zum Ausmarsch von 1756

immer wieder jenes Extrem von Initiative, jene rücksichtslose Autonomie, wo­

mit er durchschaute Gegner jählings angriff, schlechte Bundesgenossen plötzlich

ihrem Schicksal überließ, gewesen, wodurch er dem aus realen Gründen stam­

menden Hasse der Mitwelt die formale Waffe in die Hand gedrückt und zu­

gleich den Pharisäern der Nachwelt von Herrn von Hertzberg bis auf unsere Tage das historische Kopfschütteln so bequem gemacht hat'/ Unter diese zu ge­

hören ist jedoch Grünhagen so weit entfernt, daß er vielmehr dem Nachweise der Berechtigung des Breslauer Separatfriedens ein eigenes Kapitel widmet

und dabei sehr richtig hervorhebt, wie die sittliche Entrüstung der enttäuschten

Alliirten eigentlich nur das Mäntelchen ihres Neides gewesen sei.

Auch könnte

man wohl ganz allgemein den Eindruck, den Friedrichs Politik von 1740—45

auf die Doktrinäre der Diplomatie machen mußte, durch das mechanische Gleichniß erläutern, daß zwischen krummen Wänden, wie die französische und die englische Seite Europa's waren, eine kräftig geradaus geworfene Kugel ihre Bahn nur

finden kann, indem sie abwechselnd hüben und drüben den stärksten Anstoß giebt.

Dies nun führt uns zum Schluffe noch auf eine dritte Seite des vorlie­

genden Buckes; außer der schlesischen und preußischen ist daran eine europäische

wahrzunehmen, während das wenige, was von deutschen Interessen dabei zu

berühren war, ganz dem damaligen Standpunkte Friedrichs angemessen, theils in die preußische, theils in die allgemeine Sphäre fällt.

Es gruppirt sich aber

wie gesagt in jenen Jahren um die schlesische Frage die Politik der sämmt­

lichen Mächte, der großen wie der kleinen, und dies bedeutende Verhältniß dar­ zustellen, ist Grünhagen mit besonderem Eifer bemüht gewesen.

Eine Lücke

wird man dabei nirgend bemerken, doch ist mit auszeichnender Vorliebe allem übrigen gegenüber die britische Politik behandelt worden.

Wer kennte nicht

die zudringliche Mittlerrolle, welche dieselbe derzeit unermüdlich zwischen Wien und dem schlesischen Feldlager in der Absicht spielte, die Kräfte Oesterreichs

und Preußens im Sinne der großen Allianz vergangener Tage gegen die Bour­

bonen zu vereinigen?

Dieser tragikomischen Politik verzagter Ministerien und

dreister Gesandter, die zuletzt auch im Breslauer Frieden nur ein undauer­ haftes Resultat erzielt hat, ist Grünhagen nicht minder ausdauernd mit humo­

ristischem Behagen nachgegangen,

wobei der ergötzliche Effekt noch ungemein

erhöht wird dadurch, daß neben jener englischen noch eine hannöverische Pri­ vatpolitik des Königs Georg bald gernegroß begleitend, bald läppisch störend

einherhüpft.

Daß dann auch Dinge von nichtigem Charakter, wie der ohn­

mächtige Plan einer Theilung Preußens vom Frühjahr 1741 oder andere welfische Begehrlichkeiten mit ausführlicher Breite geschildert werden mußten, lag

in der Natur der Sache; auch ist nicht zu leugnen, daß die gesunde und that­

kräftige Politik Friedrichs durch solche Contrastbilder noch heller heraustritt. Allein die Einheit der Composition des Werkes hat so durch eine Art doppelter

Handlung einigermaßen gelitten; indeß wird sich der Leser, dem die Sache

selbst am Herzen liegt, über den Verlust an Kunst gar leicht mit dem Gewinn an Wissenschaft zu trösten wissen und er wird Grünhagen lebhaft danken, daß er eine charakteristische Periode der englischen Politik des vorigen Jahrhunderts

aus den

echten Denkmalen nach den Anläufen von Coxe, Raumer und Lord

Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 1.

8

Notizen.

114

Mahon und dem Vorgänge von Ranke und Carlyle erschöpfend und lehrreich

man darf sagen zu Ende geschildert hat. Nicht lange nach dem soeben besprochenen Buche über die Geschichte des

ersten schlesischen Krieges erschien ein anderes, gleichfalls zweibändiges Werk, das man als eine neue Geschichte des siebenjährigen Krieges ansehen möchte,

wir meinen Theodor von

Bernhardi's

„Friedrich der Große als

Feldherr" (Berlin, 1881).

Die Parallele,

die wir eingangs zwischen den

Begebenheiten von 1863—66 und von 1870—71 einerseits und den Ereignissen von 1740—45 sowie von 1756 — 63 andererseits gezogen, trifft auch darin zu,

daß in den schlesischen Kriegen wie in dem deutschem Krieg unserer Tage der Schwerpunkt entschieden auf die politische, im Kampf der sieben Jahre dagegen

wie in unserem Streite mit Frankreich ebenso gewiß auf die militärische Seite fiel.

Noch neuerdings bekannte deshalb Ranke, daß ihn gerade der überwiegend

militärische Charakter des Ereignisses so lange abgehalten habe, dem sieben­

jährigen Krieg eine besondere Arbeit zu widmen, und wer hätte nicht an dem in diplomatischer Hinsicht so verdienstvollen Werke Schäfer's das Zurücktreten

der soldatischen Gesichtspunkte schon einmal als einen organischen Mangel em­ pfunden?

Dafür wird man nun durch das Buch Bernhardi's in hohem Maß

entschädigt, dessen Idee und Tendenz, seine Anlage wie Durchführung so per­ sönlich originell und frisch sind wie alles, was sonst von diesem Autor kommt. Eine

zuverlässige

und

erschöpfende militärische Geschichte des

siebenjährigen

Krieges zu schreiben, war so wenig seine Absicht, daß er noch am Ende seines

Werkes den Wunsch nach dem Erscheinen einer solchen, wozu die preußischen Archive überreiches Material bärgen, aufs dringendste ausspricht.

Daß der

alte Lloyd-Tempelhoff für eine derartige Geschichte nicht gelten kann, versteht

sich von selbst; aber auch das vor einem halben Jahrhundert unter Müffling's

Leitung

unternommene genossenschaftliche Werk der Officiere unseres

großen

Generalstabes verfolgte mehr didaktische, als historische Zwecke und entbehrt

vor allem der Grundlage einer methodischen Untersuchung der Quellen.

Eben

von der Beschaffenheit dieser Quellen nun, soweit sie bisher veröffentlicht sind,

ging der Plan Bernhardi's aus; er erkennt in ihnen, von der eigenen Kriegs­ geschichte des

großen Königs

diesem feindlichen Sinne.

abgesehen, durchweg

Parteischriften in einem

Um der österreichischen oder anderer fremder Dar­

stellungen zu geschweigen, von denen man nichts besseres erwarten kann, ver­

rathen gerade die gangbaren preußischen Relationen diese eigenthümliche Hal­

tung:

Retzow's Charakteristik, Behrenhorst's Betrachtungen, dazu die Einzel­

beiträge der Henckel, Kalkreuth, Schmettau u. s. w., vor allem das ungedruckte

Tagebuch Gaudh's, welches auch den Erörterungen Retzow's zu Grunde liegt und das, wie Duncker sagt, der Sammelort für alle Entschuldigungen der Ge­

nerale, für alle möglichen Anklagen gegen den König geworden ist.

Eben

Duncker hat ja dann in seiner meisterhaften Abhandlung über den Haupt­ angelpunkt des Krieges,

die Schlacht bei Kollin, bewiesen, wie der kritische

Historiker von Fach im Kampfe mit dieser Ungunst der Ueberlieferung dennoch

der Wahrheit die Ehre und Friedrich seinen Ruhm zurückzuerobern vermag; und es

ließe sich nichts nützlicheres denken,

als eine Anwendung derselben

historisch-technischen Kritik auf sämmtliche Vorgänge des großen Heldenkrieges, mögen

sie

wie

die

Aktion

von

Streitfragen gewesen sein, oder nicht.

Kollin

bisher

schon

Gegenstand

von

Bernhardts Buch läuft nun in seinen

Ergebnissen im allgemeinen darauf hinaus, allein es ist doch in einem ganz anderen Geiste empfangen und erwachsen.

Schon feit Jahrzehnten hat er sich im stillen mit der Anschauung

des

Feldherrngenies Friedrichs des Großen beschäftigt und dabei den Widerspruch wahrgenommen, in welchem dessen praktische Aeußerungen mit der strategischen

Theorie der Zeit und aller älteren Kriegstheorie überhaupt stehen, bis auf die einzig wahre, wie sie Clausewitz dargelegt, derzufolge das Ziel der Strategie der taktische Succeß, der Schlachtensieg, die Zerstörung der gegnerischen Streit­

kräfte ist und nichts anderes.

Eben dahin sei nun die strategische Tendenz des

großen Königs zur Zeit seiner Reife, d. h. im siebenjährigen Kriege, stets gegangen,

selbstverständlich soweit nicht die Rücksicht auf die unumgängliche

Schonung 'seiner numerisch stets und zuletzt auch qualitativ soviel geringeren

Heereskräste der Ausübung jenes allein richtigen Grundsatzes Schranken der Nothdurft gezogen habe.

Diese Haltung Friedrichs fand nun aber ihre theo­

retische Kritik vornehmlich im Herzen und Munde des Prinzen Heinrich, dessen

Richtung und Gesinnung der wegwerfende Ausspruch darthut:

wollte immer batailliren; das war seine ganze Kriegskunst".

„mein Bruder

Und wer waren

denn alle jene Friedrichs Andenken verkleinernden Erzähler der Begebenheiten

des siebenjährigen Krieges, die wir oben als dessen vielgebrauchte Quellenschrift­ steller nannten? Es waren, wie Bernhardi sich ausdrückt, die frondirenden An­ hänger des Prinzen Heinrich.

Er selber dreht nunmehr sozusagen den Spieß

um und läßt, während er in den positiven Partien seiner überall lebendigen

und tüchtigen Darstellung die Feldzüge des Königs in Entwurf und Ausführung im ganzen und einzelnen aus jener Clausewitzischen Idee heraus beschreibt, er­

läutert und beurtheilt, zugleich in negativ kritischen, nicht selten geradezu pole­ mischen Abschnitten über die Praxis des Prinzen, die mit dessen schüchterner und nüchterner Theorie völlig übereinstimmend gefunden wird, eine späte und

scharfe, wenn auch wohl noch nicht historisch spruchfertige,

so doch bis auf

weiteres höchst erwünschte, und keinenfalls unverdiente Nemesis ergehen.

Die

Quelle, aus der der Verfasser in erster Linie seine Ansicht über das Verhält­

niß der Brüder und

ihrer Leistungen schöpft, ist natürlich der Briefwechsel

beider, der noch niemals in so eindringender Weise für diesen Zweck benutzt worden; und man muß einräumen, daß es Bernhardi trefflich gelungen ist, die

überlegene Feinheit, herzliche Liebenswürdigkeit, ja die rührende Geduld an den Tag zu bringen, mit welcher Friedrich den Gehülfen zum Besten des Staats, das nur er, der König, rein und groß im Auge hat, bei Pflicht und Stimmung zu erhalten sucht.

Jenes geflügelte Wort von dem einzigen General, der im

ganzen Kriege keinen Fehler gemacht habe, kann dabei für Heinrich gar wohl

bestehen bleiben; denn von allen subjektiven Elementen des königlichen Dankes und der brüderlichen Zufriedenheit gereinigt, bezeichnet es ja auch objektiv viel­ leicht nur das Verdienst eines Geistes zweiter Ordnung sowie eines Mannes an zweiter Stelle; oder wo wäre umgekehrt die Kette von Wagnissen, aus der sich das Leben des Helden oder des Genius überhaupt zusammensetzt, ohne Fehler denkbar? Man betrachte nur das herrliche Bildniß des Prinzen von Graff, das im Stiche den Illustrationen der Werke Friedrichs beigegeben ist, und man wird in diesem wunderbaren Antlitz viel zu lesen finden: in Stirn und Augen Friedrichs Verstand, aber ohne alles Feuer, im Untergesichte Sinn­ lichkeit, von keiner Energie gebändigt. Es ist der Mann, der Anspach und Baireuth lieber selbst als Kleinstaat regieren, als in Preußen aufgehen sehen wollte, der französisch dachte nicht aus Noth, sondern aus Verachtung gegen „das deutsche Beest", der nach der Schlacht bei Kollin an die Schwester Amalie schreiben konnte: „endlich ist Phaeton gefallen, und wir wissen nicht, was aus uns werden soll; der 18. wird auf ewig ein unseliger Tag für Brandenburg bleiben. Phaeton hat für seine Person Sorge getragen und sich zurückgezogen, ehe der Verlust der Schlacht vollkommen entschieden war". Wie­ viel für die Lebensbeschreibung dieses Prinzen noch zu thun ist, beweist am deutlichsten der Artikel über ihn von der Hand des Grafen Lippe in der All­ gemeinen Deutschen Biographie, eins der unzulänglichsten Stücke freilich der ganzen Samnilung, wo man statt jener Zeilen nur die Notiz findet, daß Prinz Heinrichs brüderliche Theilnahme Friedrich nach der Niederlage von Kollin ge­ tröstet habe! Allerdings läßt sich diese ganze Materie nur dann in Ordnung bringen, wenn man die Stellung der Geschwister des Königs zu dem hoch überragenden und gar oft hart niederdrückenden Bruder im allgemeinen herbei­ zieht; und auch Bernhardi ließe sich entgegnen, daß das Schicksal des Prinzen von Preußen, wie erklärlich auch immer, nicht dazu angethan war, in dem jüngeren Bruder Lust nach Unternehmungen voller Verantwortung zu erwecken. Doch wir dürfen nicht unterlassen zu betonen, daß Bernhardi sich auf diese Sache „Friedrich gegen Heinrich" nun und nimmermehr eingeschränkt hat; er giebt vielmehr wirklich die ganze Geschichte der Kriegführung dersteben Jahre, soweit Friedrich mit Rath oder That dabei in Betracht kommt, d. h. annähernd eine militärische Geschichte des Krieges überhaupt. Selbst die Feld­ züge Ferdinands werden doch seitlich berührt und auch die politischen Wand­ lungen, soweit sie von Einfluß gewesen, nicht verabsäumt. Besonders aufmerk­ sam werden die Mittheilungen beachtet und jenachdem kritisch zerpflückt, die Arneth von österreichischer Seite beigebracht; durch sie ist ja m der That eine mehrseitige Betrachtung des Krieges erst möglich geworden. Ueber Friedrichs militärische Schriften giebt ein Anhang Auskunft. Eine straffe Composition, ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Theilen und Seiten der Darstellung würde man übrigens in dem geistvollen Buche Bernhardi's vergebens suchen; mitunter zeigt es selbst den Stempel der Willkür. So ist der unnöthige Ver­ such, dem siebenjährigen Kriege noch einmal in der Tiefe religiöse, d. h. confessionelle Motive unterzulegen unnütz und verfehlt, insofern dabei Ursache und Wirkung verwechselt sind. Die gelegentlichen Parallelen zwischen Friedrich und Napoleon sind zu flüchtig angelegt, um zu befriedigen. Kurz: ein Werk, das anregen und aufregen wird; wenn zu weiterer Forschung in seinem originellen Geiste, desto besser! a./D.

Berantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck mit Perlag von G. Reimer in Berlin.

Raphael's erste Zeiten*). i.

Möglichkeit einer Biographie Raphael's. Ein „Leben Raphael's" wie daS Michelangelo's oder Goethe'S könnte

nicht versprochen werden.

gut wie nichts.

Von Raphael'S privatem Leben wissen wir so

Er war der Sohn eines Malers mittleren RangeS, ver­

waiste früh, arbeitete mit unablässiger Mühe von Anfang an bis zum

letzten Tage, kam aus engen Verhältnissen nach Rom, bewegte sich in

den höchsten Kreisen und hinterließ, als er vor der Zeit starb, einen Palast, ein Vermögen und trauernde Freunde dort. zückend liebenswürdig.

Raphael war ent­

Das ist so ziemlich Alles.

Die Biographie Raphael's, welche Vasari verfaßte, erweist sich mehr und mehr als Legende.

Vasari hat durch Anwendung einer unbefangen ge­

brauchten Sprache, die er schreibt wie man spricht, seiner Erzählung einen

täuschenden Klang von Reichthum an Inhalt zu verleihen gewußt.

Wo er

intimere LebenSdaten zu geben scheint, haben wir es jedoch mit novellisti­ schen Wendungen zu thun, die sich in derselben Weise in seinem umfang­

reichen Buche auch sonst angewandt finden. Es ist auffallend, wie wenig Dokumente wir über Raphael's per­ sönliche Lebensführung besitzen, da er doch an einer so sichtbaren Stelle

stand und über Andre und von Andern neben ihm zahlreiche biographisch verwendbare Ueberbleibsel jeder Art an's Licht gekommen sind. Von Lionardo da Vinci hatten wir nur deshalb bis jetzt so spärliche Nachrichten, weil

seine Manuscripte nicht recht bekannt waren oder wo man von ihnen wußte, nicht zur Benutzung offen standen.

Von Michelangelo's Briefen

liegen an fünfhundert bereits gedruckt vor, während über das Doppelte

*) Was ich hier gebe sind die ersten Capitel der vollständig umgearbeiteten zweiten Auflage meines „Leben Raphael's". Fortgelassen fi?b die Mehrzahl der An­ merkungen.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 2.

9

RaPhael'S erste Zeiten.

118

an ihn gerichteter noch zurückgehalten werden.

Von Raphael dagegen sind

sieben Briefe da, die als Hauptsache nur zu erkennen geben, daß eS dem,

welcher diese Buchstaben mehr malte als schrieb, eine gewisse Mühe machte

zu schreiben.

Es ist kaum anzunehmen,

Versteck noch mehr an's Licht kämen. stücke:

daß deren aus irgend einem

Die Raphael angehenden Akten­

Contrakte, Quittungen und dergleichen, sind meist inhaltlos.

Er­

wähnt finden wir ihn in der gedruckten gleichzeitigen Literatur so gut wie

nicht, weder seinen Namen, noch-sogar seine Werke, und nur in einigen Briefen, die aus den Archiven hier und da auftauchten, wird von ihm

Und trotzdem steht Raphael's geistige Entwicklung klar vor

gesprochen.

uns und wir sind im Stande, seine Arbeit von den ersten Zeiten ab zu verfolgen,

denn neben etwa 300 Gemälden, welche von ihm herrühren

oder ihm zugeschrieben werden, sind mehr als 600 Zeichnungen seiner Hand erhalten geblieben.

Mögen auch von diesen noch eine Menge als

unächt ausgeschieden werden, so wird der Rest immer ansehnlich genug Blatt auf Blatt sich aneinanderreihend bilden diese Zeichnungen

bleiben.

eine Biographie, wie sie für einen Künstler einfacher nicht gedacht werden kann.

Absehend von dem, was neben der künstlerischen Thätigkeit immer

nur Nebensache bleiben muß, enthüllen sie uns die Fortschritte Raphael's.

Und deshalb: kann in einem Buche, das sich den Titel Leben Raphael's in

gewissem

Sinne

nur

anzumaßen

schiene,

von Raphael's

Verkehr

mit Menschen kaum die Rede sein, um so gründlicher wird darin von

dem gesprochen werden können,

was er im Verkehr mit sich selber ge­

wesen ist.

2. Allgemeine Existenzbedingungen.

In keiner Epoche des letzten Jahrtausends ist die Empfänglichkeit für die Werke bildender Kunst und auch die künstlerische Schöpferkraft bei den europäischen Völkern so groß gewesen wie im 15. Jahrhundert, oder, da es

sich hier in erster Linie um Italien handelt, im Quattrocento. Ohne eine in der Weise der heutigen Welt concentrierte Kritik wurde

über die Künstler ein zutreffendes Urtheil gefällt und weitergetragen.

Der

dauernde Besitz oder die zeitweise Berufung großer Meister war Ehren­ sache für Städte und Fürsten.

Ziehen wir in Betracht was Italien an

Kunstwerken auS der Zeit des Quattrocento verloren hat und fortwährend weiter verliert, so erscheint die Masse des Verbleibenden noch ungeheuer

neben der breit genug hervortretenden Production späterer Jahrhunderte.

Die letzte Blüthe dieser Thätigkeit erblicken wir in Raphael's anfäng-

lichen Werken.

Er ist für Italien der letzte Repräsentant des unabhängigen,

unschuldigen, in sich beschlossenen Daseins, das die Künstler des Quattro­ cento dort führten, wie in Deutschland Dürer der letzte Vertreter deS Deutschen Quattrocento gewesen ist.

Die Zeiten der Reformation, die Raphael mit seinen letzten Werken eben noch berührt, und die darauf folgenden des dreißigjährigen Krieges (der

ja nur einen Theil Deutschlands verwüstete und das übrige Europa un­ gestört ließ) haben den Künstlern großartigere Aufgaben gestellt als daS Quattrocento, ihnen nicht aber die von Herz zu Herz gehende Dankbar­ keit bewiesen, die ein Zeichen der älteren Zeit war.

In ihr stand man

sich persönlich näher und auch die Werke standen dem Volke näher.

Der

Reiz des Colossalen, Massenhaften, Ueberladenen wurde im Quattrocento nicht bedurft.

Man suchte kleine Räume behaglich zu schmücken und auch

großen Palästen und Kirchen war trotz ihrer Weite dies Beschränkte eigen­

thümlich, so daß menschliches Maaß immer den Maaßstab der Architektur

Man hatte noch nicht das Gefühl, die eigene Würde dadurch zu

abgab.

erhöhen, daß man Häuser für sich baute die eher für Riesen gepaßt hätten.

Ueberall in Europa begegnen wir dieser Begnügsamkeit und selbst wo die ausgesprochene Absicht gehegt wurde, gewöhnliches Maaß zu überschreiten,

sind die Elemente mit denen man dies zu erreichen sucht, von beschei­ denem Umfange.

Die Malerei behält immer eine gewisse Neigung in die

Miniatur, die Bildhauerei in die Goldschmiedekunst zurückzufallen. kleinste Raum sollte ausgenutzt werden

Das Schmale, Niedrige der

werden mit kostbaren Ornamenten erfüllt.

Häuser suchen

Der

und Winkel und enge Stübchen

die Architekten durch die unendliche Sorgfalt zu heben,

mit der sie bei ihrer Behandlung zu Werke gingen. Aeußerst günstig lagen die Verhältnisse damals in Italien. war noch immer Centrum der Welt.

tausendjährige

und Occident.

Sein

durchgearbeitet.

Italien war reicher als die anderen Länder.

Boden

deren europäischen Flotten

gegen

die venetianische.

war durch

zusammengenommen kamen

grabungen

Gattung.

stattfinden)

Cultur

völlig

Alle an­

nicht auf einzig

Italien allein hatte eine unmittelbar an die

antike Kunst anknüpfende nationale Kunst.

satze zu Griechenland

Italien

Es vermittelte zwischen dem Orient

Es allein damals (im Gegen­

und Kleinasien, wo heute war die

Fundstätte

die ergiebigsten Aus­

antiker Kostbarkeiten jeder

Bemalte Basen, Münzen, Gemmen, Schmucksachen, Waffen,

Sculpturen gab der Boden her, dem diese Schätze als verborgen liegendes Eigenthum

entnommen wurden.

Aeltere Generationen

graben zu haben, damit spätere sie benutzten.

schienen sie ver­

Dieser Boden war einst

der Schauplatz der großen Römerthaten gewesen und trug noch das ur-

Raphael'S erste Zeiten.

120

alte heilige Rom wie eine Stätte, an der der Himmel gleichsam die Erde berührte, und wohin, wie das Sprichwort sagt, alle Wege führten.

jeder Art,

Italien war getheilt in eine Menge Herrschaften

ander nach

innen

oft

entgegenstehend,

die,

ein­

außen durch die Gleich­

nach

des Volkscharakters und die gleiche Sprache ein geschlossenes

artigkeit

Ganze bildeten.

Ueber den verschiedenen Dialecten waltete die Sprache

und Petrarcha's

Dante's

als

der anerkannte vornehmste Ausdruck na­

tionaler Gedanken, und über dieser Sprache wieder die lateinische, welche

als eine zweite Muttersprache gesprochen und geschrieben wurde.

In ihr

hatten die Italiener die Philosophie und sogar die Dichtkunst der antiken Welt erneuert und ein allgemeines Publikum geschaffen, das die nationale

geistige Production herausforderte.

Aus einem Gemisch adliger und bürger­

licher, geistlicher und weltlicher Elemente bestehend, die ungezwungen mit­ einander verkehrten und dem Fremden den Anblick einer gleichmäßigen,

hochstehenden Bevölkerung boten, etwa wie England bis auf die jüngste Zeit dem

übrigen Europa gegenüber sich

zeigte,

sah dies

italiänische

Publikum auf Franzosen, Deutsche und Spanier als auf Barbaren herab, wie in antiken Zeiten die Griechen empfunden hatten.

Auf italiänischem Boden hatten sich die modernen Städte zuerst ent­

wickelt.

Ein frisches Ausschlagen der alten gesund gebliebenen Wurzeln.

Das römische Reich war beim Abschlusse seiner weltumfassenden Gestaltung

doch nicht mehr als ein ungeheures Agglomerat von Städten gewesen:

Völker die nicht in Städten wohnten, hat es sich nie zu assimilieren ver­ mocht.

Als die Verbindung endlich dann doch

wieder aus den Fugen

ging, kehrte Italien zu der Verfassung zurück, in der es vor Remus und

Romulus sich befunden hatte.

Ein Zustand, der trotz Königreich

Deputiertenkammer selbst heute noch zu herrschen scheint.

und

Immer noch

halten in Italien die Bürger der großen und kleinen Städte als conservativeS Element den öffentlichen Zustand aufrecht.

stand in voller Blüthe als Raphael emporkam:

Dieses städtische Wesen

Die Halbinsel scheint in

den Zeiten seiner Geburt von unzähligen städtischen Gemeinwesen jeder Größe bedeckt, deren angelegentliche Sorge nur die war, einander in künst­ lerischem Schmucke zuvorzuthun. Ueberall erwünscht und wohl ausgenommen

sehen wir die Künstler damals von Stadt zu Stadt gehen und in ihrer Thätigkeit ein Abbild dessen darbieten, was ihnen selber, im engsten Sinne persönlich genommen, gerade erfreulich und bequem war.

Schon Ghiberti,

zu Anfang des Jahrhunderts spricht aus, das wahre Vaterland des Künst­ lers sei da, wo er am besten verstanden werde.

die verschiedensten Talente dicht nebeneinander.

Verstanden aber werden Lust und Unlust, Neigung

und Abneigung, Gunst oder Ungunst äußerer Verhältnisse greifen fördernd

oder retardierend ein, und es besteht das gesammte damalige Kunstleben gleichsam aus den

ineinanderverflochtenen Schicksalen

einer großen,

in

vielen Generationen blühenden Familie, die durch ausgebreitete Verwandt­

schaften in alle Verhältnisse eindringt.

Die großartigen Lebensläufe Michel-

angelo's, Lionardo's, Benvenuto Cellini's sind heute bekannt: das Quattro­

cento gab zu so glänzendem Hervortreten keine Gelegenheit, aber man

betrachte Ghiberti, Brunellesco, Donatello, oder Fiesole näher und gewahre

den tiefgehenden Einfluß den sie gewinnen, das Terrain das sie beherrschen, und die Freiheit mit der sie sich bewegen.

er war und wurde so beurtheilt.

Jeder gab sich unbefangen wie

Es stand dem talentbegabten Individuum

in jeder Weise frei, das allerdings sehr einfache Leben aus dem Antriebe der innersten Neigungen zu formen.

Höchstens die Kirche, aber auch diese

nur mit leisen Fingern, tastete das geistige Dasein des Einzelnen an.

Keine Litteratur beinflußte

ihn, der wir heute

Unterthan sind.

Kein

Schimmer der kritischen Begabung, die heute Jedem als furchtbares Ge­

schenk der Vorsehung mitgegeben wird.

Als ein heiterer Spielraum that

sich die Welt den Menschen auf und ihr Leben hat für unseren Blick oft etwas von einem Spiele.

Ein kindliches sich Zu- oder Abwenden findet

statt, kindliche Freude an den Dingen beobachten wir und selbst die auf­

flammenden oder sich beruhigenden Leidenschaften mit Lüge,

Mord und

Grausamkeit erscheinen ost als ob nur böse Kinder sie hegten. All das aber war möglich weil der Boden des öffentlichen Lebens,

aus dem dieser Garten erblühte, so fest gegründet schien, daß fundamentale Erschütterungen wie wir sie heute erlebt haben und fürchten, als undenk­

bare Unmöglichkeiten erschienen wären.

Was wir den „allgemeinen Zu­

Man bewegte

stand" nennen, war in jenen Zeiten ein sicheres Element. sich darin mit derselben Zuversicht,

mit der der am Meere wohnende

Fischer oder der Seemann im Schiffe die ungeheure Fluth

Ewiges betrachten,

das nicht fortgedacht werden könne.

als

etwas

Wir sehen im

Italien des Quattrocento das Gefühl herrschen, so wie die Dinge jetzt sich

darböten, seien sie gewesen und würden sie sein.

Selbst Savonarola, der

eine umfassende sociale Umwälzung bewirken wollte, stand fest auf dem alten florentinischen Boden, und was er und seine Zeitgenossen als Um­

gestaltungen des öffentlichen Lebens ansahen,

den Anschein gemäßigter Wünsche.

trägt mit heute verglichen

Nirgends aber faßte Jemand die Jvee,

die Welt gänzlich anders wieder aufzubauen. Venedig Venedig, Rom Rom bleiben.

Florenz sollte immer Florenz,

Die Kirchen und Paläste, die da

entständen, sollten womöglich für die Ewigkeit gegründet sein.

Dieser Geist

des Beharrens, der Zuversicht und Zufriedenheit macht daö Quattrocento zu einem so freundlichen Ruhepunkt für die historische Betrachtung.

RaPhael'S erste Zeiten.

122

Dies der Boden, auf dem Raphael gelernt und in den Anfängen seiner Thätigkeit gearbeitet hat.

Erst als er 1507 Rom betreten hatte,

gewann der neue Geist des neuen Jahrhunderts Macht über ihn.

3.

Giovanni Santi.

Urbino.

Unter den Fürsten

des italienischen Quattrocento nimmt Federigo

von Montefeltro, Herzog von Urbino, eine ausgezeichnete Stellung ein.

Berühmt machen ihn in unsern Augen zwar nicht mehr die Kriege, die er als Anführer gemietheter Truppen erfolgreich geführt hat, sondern die Art,

wie er die in vielen Kämpfen

erworbenen Reichthümer benutzte:

in Urbino wurde ein Palast gebaut und eine Bibliothek, (natürlich von

Handschriften) darin angelegt. Urbino war zu Raphael's Zeiten das waö es heute noch ist, ein in

gebirgiger Gegend fern von den großen Heerstraßen gelegenes Städtchen. Befestigt und abgeschlossen wie alle Städte damals.

Rings, soweit daö

Auge ging, muß das Auge der Bewohner ans Wäldern geruht haben.

In diesen östlichen Theilen Italiens herrschte nicht daS bewegte Leben wie westlich, über die Apenninen hinüber, wo die vielfachen Wege von Mai­ land über Florenz nach Rom und Neapel führten. Und in Urbino nun sollte ein prächtiger Palast gebaut werden.

Zufluß von neuen Menschen und

Ein

neuen Anschauungen muß das kleine

Da waren zunächst durch ungeheure Substructionen

Nest aufgerührt haben.

ein paar Hügel zu verbinden, nur um den Baugrund zu gewinnen.

Dann

kamen Jahr aus Jahr ein von allen Theilen Italiens die Architekten und

Werkleute, die Maler, Bildhauer, Kunsttischler und andere Handwerker für die innere und äußere Dekoration.

Welche Kunst wurde da nicht

allein für die marmornen Thüreinfassungen und mächtigen Kamine auf­

gewandt.

(Was heute in dieser Richtung in und am Palaste noch übrig

ist, finden wir in Fr. Arnolds Werke.)

Da langten allmählich die ge­

wirkten Teppiche (mit den Trojanischen Thaten darauf), die Möbel und die ausgemalten Bücher für die Bibliothek an.

Und zuletzt kamen dann die

Feste an die Reihe, an denen Jedermann damals Theil hatte.

Treiben muß auf die Gedanken

All dies

der Einwohner Urbino'S einen starken

Eindruck gemacht haben. Vielleicht war der Palastbau die Ursache, daß Raphael's Vater sich

der Malerei zuwandte. von

vielen

Tausend

seines Herrn und

Jedenfalls gab er den Anstoß zu dem Gedichte Versen,

in

denen Giovanni Santi

die

Thaten

den Ruhm Italiens als deren Hintergrund zu ver-

Giovanni'S Gedicht ist heute in Besitz der Vaticani-

herrlichen beschloß. schen Bibliothek.

Der Herzog war schon todt als das langathmige Werk

zum Abschlusse kam, und der Meister, selber dicht vor dem eigenen Ende,

konnte seine Verse nur Federigo's Sohne und Nachfolger Guidobaldo

überreichen.

In der Vorrede zu diesem Gedichte, das bis jetzt nur in wenigen Bruchstücken gedruckt worden ist, spricht Giovanni Santi von sich und

seinen Schicksalen: dies ist eins der vornehmsten Aktenstücke, auS dem wir Raphael's Familie kennen lernen.

angewiesen, aber nicht arm.

Die Santi waren auf Sparsamkeit

Die beiden (zu einem einzigen vereinigten)

Häuschen, in denen Giovanni wohnte, stehen, durch eine Inschrift aus­

gezeichnet, in ihrer engen Straße heute noch.

Eine Madonna mit dem

Kinde, die er darin auf der Wand malte, ist noch vorhanden und wird

als

ein Abbild des kleinen

Raphael auf dem

Schoße seiner Mutter

Magia verehrt, ein Cultus, dem selbst harte neuere Kritiker sich nicht zu

entziehen vermochten.

Früher wurde geglaubt, das Gemälde rühre von

Raphael selbst her, der als Kind sich hier zuerst versucht hätte. Giovanni erzählt auch, wie er zur Kunst gekommen sei.

Die Be-

wirthschaftung des kleinen Gutes, das die Familie besaß, brachte deren Unterhalt nicht mehr auf.

Ein Brand im Hause hatte Schaden gethan.

Schon im reiferen Alter entschloß er sich jetzt, Maler zu werden, weil

er Gewinn ausblieb.

von dem neuergriffenen Gewerbe erwartete, der auch nicht Zahlreiche Werke sind von ihm in Urbino und der Nachbar­

schaft geschaffen worden, von denen Vieles erhalten blieb. nach Giovanni's Tode

ihn als einen bei Hofe geschätzten Portraitmaler kennen. heute so urtheilen.

Aus einem kurz

geschriebenen Briefe der Herzogin, lernen

wir

Ich würde auch

Das in Berlin vorhandene große Gemälde zeigt neben

den darauf befindlichen wenig anziehenden Heiligenfiguren die Stifter des Werkes:

offenbar sind diese der beste und lebendigste Theil der Arbeit.

Als Schöpfer idealer Werke wird Giovanni wohl überschätzt.

Nachdem

ihm von Vasari in der ersten Auflage seines Werkes das Attribut „unter­ mittelmäßig" ertheilt, und dieses harte Urtheil in der zweiten dann nur wenig gemildert worden war, hat Giovanni heute dagegen warme Freunde

gefunden.

Ich kenne nichts von ihm, das mehr als gewissenhafte Nach­

ahmung vorhandener Muster verriethe. von seiner Kunst

Er hatte jedoch eine hohe Meinung

und spricht in seinem Gedichte von den gleichzeitigen

Meistern mit Kenntniß und Verehrung, von denen er zumal Dkelozzo da

Forli (fast scheint es so) als persönlichen Freund nennt.

Melozzo war der

größte Schüler deö Piero della FranceSca, dieses kraftvollen Nachahmers

der Natur, der außerhalb Florenz und ohne Rücksicht auf florentinische

RaPhael'S erste Zeiten.

124

Kunst

seine eigne mächtige und einflußreiche Schule bildete, heute die

umbrische genannt, deren Hauptkennzeichen tiefer, fast düstrer Ernst und

eine dem Mächtigen, Statuarischen zuneigende Auffassung ist.

Mir scheint,

hätte die Malerei Giovanni's Geiste in vollem Umfange das Mittel geboten,

seinem Triebe zum Idealen gerecht zu werden, so hätte er sich vielleicht nicht in solchem Umfange der Dichtkunst zugewandt.

beruhigendes Werk.

Sein Gedicht war ein

Wir sehen einen mit Arbeit und Familienlast ge­

plagten Mann im Zusammenschmieden

unendlicher Verse Genugthuung

finden, in denen er die mannichfaltigen Thaten seines Herrn besingt.

Ein

inneres Bedürfniß von Stille und Sammlung und Vergessen des Alltäg­ lichen spricht uns aus dieser Thätigkeit an.

Raphael mag als Kind den Vater manchen Tag in sich versunken über diesem Gedichte haben sitzen sehen.

Ich hätte auf dem Parnaß in

der Camera della Segnatura gern eine der Dichtergestalten auf Giovanni Santi gedeutet, dem sein Sohn so in der Stille etwa ein Denkmal ge­ schaffen hätte, allein eS wollte keine Figur dafür passend erscheinen.

4. Versuche der Biographen, Raphael's Jugend zu construieren. Giovanni's erste Frau Magia, aus der Familie Ciarla, Raphael's

Mutter, starb früh.

Auch ihre anderen Kinder starben.

Giovanni ver-

heirathete sich nach kurzer Zeit zum zweitenmale mit Berardina Parte.

Diese gebar nach seinem Tode erst ihr einziges Kind, eine Tochter Eli­ sabetta.

Magia hatte einen Bruder, Simone Ciarla, welcher Geistlicher

war und Raphael später besonders nahe stand, während Bartolomeo Santi,

Giovanni's eigner Bruder, Raphael's Vormund wurde.

Auch gestattete

Giovanni's Testament, daß seine Schwester Santa, die mit einem Schneider

verheirathet gewesen war, ins Haus zöge. zusammen.

Damit hätten wir die Familie

Doch wissen wir auch vom Großvater und Urgroßvater und

von den früheren Verhältnissen der Santi's, die zu einer bestimmten Zeit von Colbordolo, einem urbinatischen Castell, nach Urbino gezogen waren.

Die Kenntniß dieser Dinge ist uns seit fünfzig Jahren etwa erst eröffnet worden.

Ein urbinatischer Geistlicher, Püngileoni, durchforschte

die städtischen Acten seiner Vaterstadt, aus denen ganze Reihen von No­ tizen zum Vorschein kamen, die über Kaufen und Verkaufen, über Pro­

cesse und über Leben und Sterben Auskunft geben.

Wir wissen den Tag,

an welchem Giovanni Santi sein Testament gemacht hat (den 27. Juli 1494)

und kennen seinen Todestag (den 1. August 1494).

Der Geburtstag Ra-

phael's findet sich jedoch nicht und es wird noch über ihn gestritten.

Wir

haben zwei Angaben, welche nicht stimmen.

Vasari beginnt sein Leben

RaPhael'S mit einer bis auf die Stunde genauen Geburtsangabe, schließt es aber mit dem Abdrucke der im Pantheon zu Rom noch vorhandenen

Grabschrift Raphaels von Bembo, welche ein anderes Resultat ergiebt. Im Allgemeinen wird dieser Grabschrift heute der Vorzug gegeben.

zufolge ist Raphael den 6. April 1483 geboren worden.

Ihr

Aber auch wenn

Vasari mit dem 28. März, dem Charfreitage desselben Jahres Recht hätte,

würde der Unterschied von wenigen Tagen gleichgültig sein.

Wir wissen nichts Sicheres von RaPhael'S erster Erziehung. beginnt die

schon

Fülle zweifelhafter

Nachrichten.

Ich

Hier

gebe auf den

nächsten Seiten die Prüfung derjenigen vier Construktionen der ersten Jahre

RaPhael'S, die den meisten Einfluß auf die öffentliche Meinung gehabt Vasari muß hier zuerst das Wort ertheilt werden.

haben.

Vasari's Erzählung in Uebersetzung.

„Geboren also wurde Raphael in Urbino, einer in Italien sehr be­ kannten Stadt, im Jahre 1483 am Charfreitage um drei Uhr Nachts, einem Vater Namens Giovanni Santi, einem nicht sehr ausgezeichnetem

Maler, einem Manne jedoch von gesundem Verstände und wohl geeignet, seine Kinder

auf demjenigen guten Wege vorwärtszubringen, der

ihm

selbst leider in seiner Jugend nicht gezeigt worden war. „Und da Giovanni wußte,

wie sehr es darauf ankomme, daß die

Kinder nicht mit Ammenmilch, sondern mit der der eigenen Mutter genährt

werden, so wollte er als Raphael auf die Welt kam — den er bei der Taufe zum guten Vorzeichen mit diesem Namen belegte — da er keine andern Kinder hatte, wie er deren auch später nicht hatte, daß die eigene

Mutter ihn stillte, und daß er in den Jahren des zarteren Alters lieber im eigenen Hause die väterlichen

guten Sitten annähme, als in den

Häusern der Bauern und gemeinen Leute weniger edle und rohe Sitten

und Anschauungen.

Und wie er heranwuchs, begann er ihn in der Ma­

lerei zu üben, indem er für die Kunst große Neigung und vortreffliche

Gaben bei ihm entdeckte; und so dauerte es gar nicht lange, daß Raphael

noch als Kind ihm von großem Nutzen war bei vielen Arbeiten, welche Giovanni im Urbinatischen ausführte.

„Zuletzt, da dieser gute und liebevolle Vater erkannte, daß sein Sohn wenig bei ihm lernen konnte, beschloß er ihn zu Pietro Perngino zu thun,

welcher, wie ihm gesagt wurde, Rang

einnahm;

damals unter den Malern den ersten

deßhalb, nachdem er sich nach Perugia auf den Weg

gemacht, begann er, da er Pietro dort nicht antraf, um ihn desto bequemer

erwarten

zu können,

in San FranceSco

einige-

zu malen.

Nachdem

Raphael s erste Zeiten.

126

Pietro jedoch von Rom zurückgekehrt war, schloß Giovanni, der ein wohl­

gesitteter und edler Mann war, Freundschaft mit ihm;

und als ihm der

richtige Moment gekommen zu sein schien, trug er ihm, so gut er es immer vermochte, seinen Wunsch vor. sehr gefälliger Mann

Raphael an;

und

Freund

Und so nahm Pietro,

der ein

geistig bedeutender Personen war,

weshalb Giovanni ganz glücklich nach Urbino zurückkehrte,

daS Kind nahm und es nicht ohne viele Thränen der Mutter, die es zärtlich liebte, nach Perugia führte;

wo Pietro, nachdem er die Art wie

Raphael zeichnete, und seine guten Sitten und Manieren gesehn, dasjenige

über ihn als Urtheil aussprach, was später die Zeit als volle Wahrheit

durch die That erfüllte. „ES ist ein sehr bekannter Umstand,

daß Raphael,

indem er die

Manier deS Pietro Perugino studierte, ihn so genau und in allen Dingen copierte, daß seine Nachahmungen sich neben den Originalen des Meisters

nicht herauserkennen ließen und daß man zwischen seinen Arbeiten und

denen Pietro's sicher nicht zu unterscheiden vermochte, wie auch ganz offen­ bar einige Figuren in San Francesco zu Perugia beweisen, welche er

dort auf einem Oelgemälde für Maddalena degli Oddi arbeitete.

Diese

sind: eine Heilige Jungfrau, welche gen Himmel gefahren ist, und JesuS

Christus, welcher sie krönt; und unten, um das Grabmal herum, sind die

zwölf Apostel, welche die himmlische Herrlichkeit betrachten, und zu Füßen deS Gemäldes sind auf einer Predella in kleinen Figuren drei Composi-

tionen vertheilt: die Verkündigung Mariä, wie die Magier Christus an­ beten, und wie er im Tempel in Simeon'S Arme gelegt wird, ein Werk,

welches sicherlich mit der äußersten Sorgfalt gemacht worden ist; wer nicht auf Erkennung

der Manieren

eingeübt

und

wäre, würde sicher

glauben, eS sei von der Hand Pietro'S, während es ohne Zweifel von

der Hand Raphael's ist."

Im Leben des Perugino hatte Vasari sogar erzählt, Giovanni Santi und sein Sohn Raphael hätten viele Jahre in Gemeinschaft mit Pietro Perugino gemalt.

läßt,

Wenn er dies in Raphael's eigener Biographie fort­

so geschieht das offenbar nicht deshalb weil er sich damit selbst

corrigieren wollte, sondern weil ihm solche Einzelnheiten gleichgültig waren.

Persönlich bekannt konnten Giovanni Santi und Perugino immerhin ge­ wesen sein.

Bon einer Thätigkeit Giovanni Santi's in Perugia, ist dort

niemals etwas sichtbar gewesen.

Alles über Raphael's Mutter und das

Familienleben von Vasari Erzählte ist freie Phantasie.

hatte mehr Kinder.

Giovanni Santi

Raphael's Mutter starb als er acht Jahr alt war und

Giovanni verheirathete sich wieder.

Hätte er Raphael in seinem elften

Jahre bereits nach Perugia gebracht, so würde das sehr früh gewesen sein.

Pungileoni's Erzählung. Vasari's Erzählung ist bis auf Pungileoni die Grundlage aller nach­ folgenden Biographien geblieben.

Pungileoni theilt seine Lebensbeschreibung Raphael's in einem Buche mit, daS unter dem Titel Elogio storico di Raffaello Santi da Urbino 1829 in Urbino gedruckt worden ist, während sein Elogio storico di

Giovanni Santi bereits 1822 erschienen war. Raphael wird den 26. (sic) März 1483 geboren und empfängt den

ersten

Bitterlicher Schmerz

Schulunterricht bei Francesco Venturini.

erfüllt das Kind als am 7. October 1491 seine Mutter Magia stirbt. Wenige Monate später kommt eine Stiefmutter ins Haus,

Kleinen nicht mit mütterlicher Liebe behandelt

und

welche den

seine Trauer nicht

zu besänftigen weiß. Raphael beginnt unter der Leitung seines Vaters zu zeichnen.

Er

selbst malt jene obenerwähnte Madonna auf die Mauer des väterlichen Hauses, die heute als eine Arbeit seines Vaters verehrt wird: für Pungi­

leoni ein durchaus sicheres Werk der Kinderhände Raphael's, während über

zwei andere Gemälde aus jener Zeit, heilige Familien, noch gestritten werde. Eine ziemliche Reihe anderer Arbeiten, welche zu Pungileoni's Zeiten An­

spruch darauf erhoben, von Raphael als Kind gemalt zu sein, finden wir

in einer Anmerkung an dieser Stelle aufgesührt.

In Forano bewundert

Raphael damals eine Madonna Fiesole'S, in der Kirche von Bal-di-Sasso,

bei Fabriano ein Gemälde des Gentile von Fabriano.

An anderen Stellen,

die wir nicht mehr wissen, studiert er andere Werke unter der Leitung seines Vaters, bis

dieser von plötzlicher Krankheit ergriffen hinwegge­

nommen wird. Jetzt beginnen die Ränke der Stiefmutter, die, dem Testamente ent­

gegen, das HauS verläßt und von den Vormündern Raphaels ihren Unter­ halt fordert.

Es kommt zum Proceß.

Die Familie Santi hat Berardina

ihre Mitgift wieder erstattet, während diese selbst verpflichtet wird, in daS Haus deS verstorbenen Giovanni zurückzukehren. Raphael arbeitet während dieser Zeit unter Luca Signorelli in Urbino

weiter; ein Gemälde der Gallerie Fesch scheint seine von Signorelli ge­ führte Hand erkennen zu lassen.

Einige Buchstaben

auf

dem Saume

deö Gewandes der Maria deuten den Namen Raphael's und Urbino an. Zwei andere heilige Familien dieser Zeit zeigen unö Mphael mehr auf sich allein angewiesen, während vielleicht an den Einfluß deS Timoteo della Bite zu denken wäre.

Signorelli verläßt Urbino und Raphael wird nach langer Wahl der

Die Manier von Urbino hat

Vormünder Perugino in die Lehre gegeben.

bei Raphael damit ihren Abschluß erreicht und die von Perugia beginnt.

Unsicher ist, ob Raphael Perugino bereits bei der Himmelfahrt Christi, die dieser für die Benedictiner zu Perugia malte, unterstützt.

trifft Raphael seinen Meister.

Bald aber über­

Das erste Werk, in dem dies hervortritt,

ist eine gemeinschaftlich gearbeitete Anbetung der Könige, in Rom. Pungi-

leoni giebt an, was auf dem Gemälde von Raphael herrühre.

Es folgt

die von Raphael in Spoleto für die Familie Ancajani gemalte Anbetung, (ein Werk das für Berlin noch als ächtes Werk Raphael'S

wurde).

angekauft

Doch zweifelt Pungileoni an der Authenticität.

Zwei Jahre war Raphael in Perugia so beschäftigt

als ihn ein

Proceß mit der Stiefmutter nach Urbino zu reisen nöthigt.

Nach Erlaß

des Urtheils kehrt er zu Perugino zurück, der ihn, dem Urtheile Einiger nach, auf seinem Gemälde der Auferstehung Christi in der Gestalt eines

der schlafenden Soldaten portraitiert. Nun beginnen die Werke, welche Raphael theils mit seinem Meister, theils selbständig bereits in Perugia damals arbeitete.

Die im Vatican

befindliche Krönung der Maria ist ganz von seiner Hand, auch die Ma­

donna mit Heiligen für S. Fiorenzo, die nach England ging, gehört in diese Zeit.

1499 muß Raphael abermals nach Urbino, wohin erneutes

Processieren mit der Stiefmutter ihn fordert. Stande.

Ein Vergleich kommt zu

Im Mai 1500, wo Geld an die Stiefmutter zur Auszahlung

gelangt, ist Raphael bereits nicht mehr in Urbino anwesend, sondern in

Cittä di Castello, der ersten Stadt, in welche er berufen wird, weil man

Werke von ihm dort

zu

besitzen wünschte.

Krönung des H. Niccolo von Tolentino.

Hier beginnt er mit der

So im Texte, während in den

Anmerkungen noch andere Arbeiten besprochen werden, die von Raphael'S

Hand damals in Cittü. di Castello entstanden sind: das Crucifix in San

Domenico, die Kirchenfahne in Santa Trinitn, die Zeichnungen zu Bas­ reliefs in der Domkuppel und zu den Schnitzereien der fünf ersten Chor­ bänke rechter Hand.

Dazu das Crucifix bei den Franciscanern in Citerna,

doch scheint dies seiner Roheit wegen bedenklich.

Sicher dagegen ist das

(das jetzt in England befindliche) Crucifix der Gallerte Fesch. Während dieser Zeit stand Raphael'S Vaterstadt in der Gewalt Cesare

Borgia'S.

Nach Aufhören der Occupatio» kehrt Raphael nach Urbino

zurück, um für den wiedereingesetzten Herzog Guidobaldo zu arbeiten.

Ein

heiliger Georg zu Pferde, zwei kleine Madonnen und ein Christus im Garten kommen zur Entstehung. bei mit seinen Rathschlägen.

gehen.

Timoteo della Vite unterstützt ihn da­

Nun beschließt Raphael nach Florenz zu

Der Empfehlungsbrief, den ihm die Herzogin von Sora dahin mit­ gegeben haben soll, scheint bedenklich:

wahrscheinlich war er für einen

anderen Maler Namens Raphael bestimmt.

Man weiß nicht, wie lange

Raphael in Florenz bleibt: verschiedene Aufträge rufen ihn nach Hause zurück.

Auf dem Rückwege findet er Perugino in Cittü della Pieve mit

einem FreScogemälde beschäftigt, auf dem er, ihm zu Gefallen, eine Ma­ Dann endlich beginnt in CittL di Castello die Arbeit

donna ausführt. am Sposalizio rc.

Es gehört einige Ueberwindung dazu, in dies Gewebe hineinzugreifen

und es einfach zu Boden zu reißen.

Ich habe die Einzelnheiten alle mit­

getheilt, weil sie erkennen lassen, wie viele Conjecturen Späterer heute

noch auf Pungileoni's Gedanken zurückgehen.

Nur einige wenige Puncte

seiner Erzählung scheinen thatsächliche Unterlage zu haben, die sich auf vorhandene Aktenstücke beziehen,

aber auch hier täuscht Pungileoni sich.

Alles die Charakteristik der Personen Betreffende ist ganz und gar phan­

tastische Erfindung.

Ueber das Benehmen der Stiefmutter und über die

Natur der Streitigkeiten zwischen ihr und Raphael's Bormunde wissen

wir nichts.

Zuweilen müssen ja Processe geführt werden, um für un­

klare Verhältnisse eine feste Unterlage

herzustellen..

Vormünder werden

bei zweifelhaften Verhältnissen stets gern an die Gerichte gehen.

leoni hat hier Erfindung

auf Erfindung gehäuft.

Pungi­

Unbewiesen sind die

Reisen, welche er Raphael 1497 und 1499 von Perugia nach Urbino, und

1500 von da nach CittL di Castello unternehmen läßt und an die heute noch geglaubt wird, an die letzten beiden wenigstens. Pungileoni liest aus den

Aktenstücken heraus was nicht darin liegt. haben wir ein gerichtliches Urtheil.

Für den 19. December 1497

Auf der einen Seite steht Berardina

und ihr Sachwalter, auf der anderen Raphael mit seinem Vormunde und Oheim, Bartolomeo Santi, sowie ihr Sachwalter.

Nicht ein Wort in dem

Aktenstücke, welches auf die persönliche Anwesenheit Raphael's in Urbino

zu deuten wäre.

Am 3. Mai 1499 wird sodann ein Vergleich zwischen

denselben Parteien geschlossen.

Auch hier kein Wort, daß dieser Vergleich

persönlich etwa mit Raphael in Urbino verhandelt oder von ihm unter­ zeichnet worden sei. vor Gericht:

Am 13. Mai 1500 erscheinen endlich die Parteien

Meister Pero Parte, der Vater der Stiefmutter, giebt in

Vertretung seiner Tochter das Versprechen ab, diese werde das jetzt zu

Verabredende ratificieren, während Bartolomeo für sich und im Namen Raphael's eine bestimmte Summe zu zahlen verspricht.

Auch die Zahlung

dieser Summe wird notiert. Wenn Raphael bei dieser Gelegenheit „absens“

genannt wird, bezieht sich das jedoch nicht auf seine Abwesenheit von Ur­

bino, sondern nur darauf, daß er aus irgend einem Grunde (er war noch

130

Raphael'S erste Zeiten.

minorenn) am 13. Mai 1500 nicht mit seinem Vormunde vor Gericht erschienen war. Er konnte sich aufhalten wo er wollte").

*) Die Aktenstücke sind von Pnngileoni mit Auslassungen abgedruckt worden und die­ selben Lücken finde» sich bei Pasfavant. Sie lauten: 1) Pungileoni, Elogio storico di Raffaello S. 21 Note (h.). Nos Alexander Spagnolus de Mantua Decretorum Doctor et Vicarius R. D. Joannis Petri de Arrivabenis Epis. Urb. cognitor et decisor litis .... inter donnam Berardinam filiam Peri Partis et ser Alexandrum Marsili ejus procuratorem .... et doonum Bartolomeum q. (quondam) Sancti Peruzoli .... et Rafaelem Jo. Sancti et ser Lodovicum Baldi procuratorem eorum .... assertos reos conventos .... sententiamus et in scriptis declararnus .... praedictum D. Bartolomeum, non obstantibus exceptis, compellendum et compelli debere ad eligendum unum arbitrum et bonum virum pro parte sua, qui cum alio eligendo ex parte donnae Berardinae habe ant declarare dicta aliraenta juxta facultates haereditatis, habita rat io ne ejus quod ipsa operari potuisset in domo haeredum et prout in dicta . ... et hoc pro quarta haereditatis tangente d. D. Bartolomeo, et pro residuo reservamus jus et facultatem d. donnae Berardinae rectius agendi contra dictum Raffaellem minorem: et eundem D. Bartolomeum in expensis condemnamus. Rog. Federicus Paulli de Monte Guidoccio not. Urb. 1497 Dec. 19. Ein Urtheil, das Raphaels Vormund allein anging. Berardina hatte das Hans Santi verlassen und war zu ihrem Vater gezogeu. Wir missen durchaus nicht, aus welcheu Gründen. Da Giovanni's Testament zur Bedingung gemacht, daß Berardina im «Hause bliebe, durfte ihr Bartolomeo jetzt nicht ohne weiteres Zahlungen leisten und das Gericht entscheidet, wie das Berardina Zukommende festgestellt werden solle. 2) Pung. S. 33. Note (k.). 1499 jun. 3. Conventio inter do. Berardinam .... et domnum Bar­ tolomeum et Raphaelem occasione legati facti per Joannem Sanctis super alimentis, victu et vestitu dictae do. Berardinae .... venerunt ad infrascriptam transactionem .... dare et solvere pro alimentis dictis do. Berardinae et Elisabeth florenos viginti eex .... et quod dicta Elisabeth per duos annos Stare debeat in domo Magistri Peri penes dictam do. Berardinam ejus matrem, habere debeat alimenta etc. Matheus Ser Thomae de Oddis de Urbino Notarius. Scheint eine Notiz aus den Notariatsakten des Matteo Oddi (Imbreviatura, vgl. Ficker, Urkundenlehre, I, § 184), auf deren Grund dann später erst das Instru­ ment selber ausgefertigt wurde. Eine Notiz also nur, aus deren Fassung sich nicht ergiebt, ob Raphael bei Feststellung dessen, was Berardina an Bezügen aus der Erbschaft zugestanden worden war, persönlich mitgewirkt hatte. Möglich wäre, daß dies der Fall war, und vielleicht, wenn wir die vollständige Notiz besäßen, wäre es aus dieser zu erkennen. So.wie diese vorliegt, bezeichnen die beiden Namen Bartolomeum et Raphaelem nebeneinander, wie im vorigen Aktenstücke, nur die eine Partei. Die Verabredungen konnten ebensogut in Raphael'S Abwesenheit wie Anwesenheit getroffen worden sein. 3) Pung. S. 33 und S. 282. 1500 maji 13. Magister Petrus Mag. Partis aurifaber .... nomine et vice do. Berardinae ejus filiae .... promisit se facturum, quod dicta do. Berardina ratum habebit praesens instrumentum .... de ulterius non petendo .... do. Bartolomeo stipulanti pro se et nomine Raphaelis fil. dicti Joannis .... de summa et quantitate viginti sex florenorum etc. Matheus Ser Thomae de Oddis de Urbino Notarius. Et mihi Notario pubblico .... pro dicto Raffaele absente summa etc. Berardina'S Vater giebt in deren Namen bindende Erklärungen ab, Raphael'S Vormund verspricht in seinem und Raphael'S Namen 26 Fl. zu zahlen und händigt

Rumohr's Darstellung. Das „Leben Raphaels" nimmt den dritten Theil der „Italienischen

Forschungen" von Rumohr ein und ist 1831 herausgekommen.

Rumohr

geht nur von persönlichen Eindrücken aus und kümmert sich kaum um Vasari

und Pungileoni. Sogar Pungileoni's Aktenstücke sind ihm gleichgültig. Das

Jahr 1500, als das des Ueberganges Raphaells von Urbino nach Perugia, ergiebt sich ihm aus allgemeinen Beobachtungen.

theils in hypothetischen Wendungen.

Rumohr spricht meisten-

Seine Arbeit ist eben deshalb von so

hoher Bedeutung, weil wir einen Kenner von Rang zum erstenmale die

Construktion der Entwicklung Raphaells in völliger Unabhängigkeit vom litterarischen Materiale unternehmen sehen.

Der Einfluß des Buches ist

durch die ausgezeichnete Sorgfalt, die Rumohr auf die Darstellung wendet, ein immer noch gesicherter und war nur eine Zeit lang verdunkelt, weil die

sie, scheint es, dem Notar ein. Weder Berardina noch Raphael sind anwesend, was, wahrscheinlich weil es sich um gezahltes Geld handelte, in Betreff Raphael's noch einmal ausdrücklich bemerkt wird. Die definitive Beurtheilung dieser drei Stücke kann natürlich erst dann ange­ stellt werden, wenn dieselben ohne alle Auslassungen vorliegen. Paffavant, bei welchem Raphael ebenfalls 1495 von Urbino nach Perugia geht, abstrahiert von der Heimreise im Jahre 1497, läßt ihn dagegen, um den Vergleich mit Berardina persönlich zu Stande zu bringen, 1499 von Perugia nach Urbino gehen, wo er dann bis 1500 verbleibt. Um dies recht wahrscheinlich zu machen bringt Paffavant die beiden Aktenstücke von 1499 und 1500 in Gegensatz. Im ersteren hieß eö: inter do. Berardinam — et domnum Bartolomeum et Raphaelem, und in dem von 1500: Bartolomeo stipulanti pro se et nomine Raphaelis. Passavant (I, S. 59) glaubt, es ergebe sich aus der ver­ schiedenen Bezeichnung der Parteien einmal Raphael'S Anwesenheit in Urbino im Jahre 1499 und daS zweitemal seine Abwesenheit von da im Jahre 1500. Wenn sich Paffavant dabei auf Pungileoni beruft, so ist dies nicht genau. Pungileoni theilt die Aktenstücke mit ohne deren Formulierung in dieser Weise in Gegensatz zu bringen. Die Neueren dagegen benutzen die Erfindung PaffavantS zu noch weitergehenden Folgerungen. Raphael, sagen sie, könne vor 1500 nicht zu Perugino nach Perugia gebracht worden sein, weil Perugino nicht dort gewesen sei. Folglich beweise daS Aktenstück von 1499, Raphael habe bis zu diesem Jahre Urbino noch gar nicht verlassen; das von 1500 aber beweise, er sei den 13. Mai bereits von dort wieder fortgewesen. Diese beiden Annahmen werden als urkundlich constatierte Thatsachen verwandt (Müntz, Raphael, S. 23, mit Verweis auf Zeitschrift für bildende Künste, 1873, S. 67 ff. Dohme, K. u. K. II, 2, S. 41). sDie eben angeführte Note PaffavantS lautet in Lacroix'S Uebersetzung I, 52: „Dans le traite d’accomodement de 1499 il est dit que „Berardina convint avec dom Bartolomeo et Raphael .... etc.“ tandisque le traite döfinitif de 1500 porte: „Do. Bartolomeo stipulanti pro se et nomine Raphaelis. fil. dicti Joannis .... etc.“ Ces documents nous autorisent a conclure, avec Pungileoni, que Raphael alla en 1499 ä Urbin.“ Auf Grund einer unrichtigen Abschrift dieser Note (ä Perouse statt ä Urbin) war von mir (Deutsche Litteraturzeitung Nr. 49, 1881) angenommen worden, Lacroix bereits vertrete die Auffassung, daß Raphael bis 1499 Urbino noch nicht verlassen habe.j

RaPhael'S erste Zeiten.

132

allzufeine stylistische Ausarbeitung die Lektüre zu einer theilweise mühsamen

macht. —

Raphael wird, Rumohr zufolge, von seinem Vater unterrichtet.

Eine

zu Urbino in der Sakristei von S. Andrea befindliche heilige Familie könnte ein Jugendbild von ihm sein; eine, vielleicht eigenhändige Copie desselben

Werkes kauft Rumohr für das Berliner Museum.

Nachdem Raphael in

der Werkstätte des Vaters eigene, ganz lobenswerthe Bilder beendigt, tritt er, nach Perugia versetzt, dort in die Werkstätte des Jngegno, bei dem er in Oel malen lernt, um 1500 in die des Perugino, schwerlich als Lehrling,

vielmehr sogleich

als

Geselle und

Theilnehmer an den

Arbeiten deö

Meisters, überzugehen. Raphael's „tiefeindringende, lebende Theilnahme ist an verschiedenen der späteren Werke Perugino's deutlich wahrzunehmen".

Sie zeigt sich

in einem aus Vallombrosa

nach Floren; gelangten

Bilde (1500), in den Mauergemälden deö Cambio zu Perugia und in dem Altargemälde, welches Perugino in der Karthause bei Pavia ausführt.

Raphael war mit Perugino damals in der Lombardei und die beiden Flügel-

bilder des Altars sind von seiner Hand. Eine Madonna im Hause Baglioni

zu Perugia malt Raphael dann bereits auf eigene Rechnung. Es folgen die Madonna von Neapel, die Anbetung der Familie Ancajani, San Niccolo in Tolentino und das Crucifix in San Domenico

in Cittü di Castello.

Letzteres „nur um Monate" früher als das Spo-

salizio. —

Wir sehen, mit wie wenigen Schritten Rumohr zum Sposalizio gelangte.

Passavant's Erzählung. Nach diesen Vorgängern endlich tritt Passavant auf, dessen „Rafael

von Urbino und sein Vater Giovanni Santi" 1839 zu erscheinen begann.

Passavant's Erzählung ist am tiefsten eingedrungen und hat durch die 1860 herausgekommene französische Uebersetzung von P. Lacroix europäische

Autorität gewonnen. —

Giovanni Santi verlebt glückliche Tage mit seiner „ gemüthvollen" Frau Magia. terchen.

Magia stirbt und wenige Tage nachher ihr einziges Töch­

Die Trauer ist „unerträglich" für Giovanni, der „noch vor Ab­

lauf des Trauerjahres" sich mit Berardina vermählt.

„Soviel uns be­

kannt ist lebten sie in guter Eintracht miteinander, wenngleich der Charakter

der Berardina keineswegs so liebevoll wie der der Magia gewesen zu

sein scheint, da sie nach Giovanni's Tode, wie- wir sehen werden, ihrem Stiefsohne häufigen Verdruß bereitete." Raphael hilft dem Vater bei dessen Arbeiten, doch hat sich nichts

davon erhalten.

Ebensowenig wissen wir von seiner Jugendbildung.

Gio-

Vanni Santi stirbt.

Berardina, von „unerträglichem Charakter", verläßt

das Haus; weder sie, noch der „eigennützige" Don Bartolomeo, welcher

„öfters wegen seiner Zänkereien mit Berardina vor Gericht zurechtgewiesen werden mußte, können das Vertrauen des zartfühlenden Knaben gewinnen".

Dagegen nimmt sich Simone Ciarla, der Mutterbruder, seiner an, „weil

er Raphael's tiefe Sehnsucht zu beurtheilen wußte".

Ueber die frühsten Lehrer in der Malerei giebt es nur Muthmaßungen. Timoteo della Vite „ gewinnt den Knaben lieb" und malt sein Bildniß. Der

Zank zu Hause macht einen Ortswechsel wünschenswerth: Don Bartolomeo

und Simona Ciarla berathen sich und wählen Perugino. Wahrscheinlich um 1495 kommt Raphael zu ihm nach Perugia.

Raphael ist nicht vorher bei

Jngegno im Atelier, sondern mit diesem bei Perugino.

Ebenso erwirbt sich

Pintoricchio Raphael's Liebe. Zu Raphael's frühsten Werken gehört die jetzt

in San Pietro maggiore zu Perugia aufbewahrte Copie zweier Figuren auS einem größeren Gemälde Perugino's.

Andre Studien nach Perugino aus

jener Zeit haben wir im Venetianischcn Skizzenbuche. Raphael hilft Perugino

bei der Geburt Christi, früher in Todi, heute im Vatican; bei der Aufer­

stehung Christi, jetzt ebendaselbst; beim Altarbilde für die Karthause von Pavia.

1499 geht er der häuslichen Zwistigkeiten wegen nach Urbino, wo

es „seinem engelmilden Wesen gelingt" den Vertrag mit Berardina zu

Stande zu bringen.

1500 erhält er Aufträge für Gitta di Castello, wohin

er sich von Perugia aus begiebt.

Zu den frühesten Arbeiten gehören dort

die große Umgangsfahne und das Crucifix von San Domenico.

die Krönung des S. Niccolo in Tolentino.

Es folgt

Zur Vollendung dieser Werke

kehrt Raphael nach Perugia zurück und malt dort Mehreres „in Perugino's Auftrage", darunter die kleine Madonna Staffa und eine der Berliner

kleinen Madonnen (mit dem Buche und dem Stieglitze).

betung für die Familie Ancajani entstand jenerzeit.

Auch die An­

In einem

leider

„verlorenen" Briefe ertheilt ihm Maddalena degli Oddi den Auftrag, die

Krönung Mariä zu malen.

Dies kann nur im Jahre 1503 gewesen sein.

Raphael malt ferner damals den Traum des Ritters, ein Portrait, drei kleine runde Bilder (Pietro und zwei Bischöfe, welche Rumohr für Berlin

erstand) und macht die Zeichnungen Dome zu Siena.

für die

Libreria Piccolomini im

Anfang 1504 tritt er förmlich aus der Werkstätte des

Perugino aus und geht von Perugia wieder nach Cittä di Castello, um

dort das Sposalizio zu malen. — Passavant, sehen wir, giebt in der Darstellung der urbinatischen Ver­

hältnisse Raphael's nur einen Auszug der Erzählung Pungileoni's, vermischt mit der Vasari's, die er beide an Süßlichkeit übertrifft.

Doch ist in

der französischen Uebersetzung manches überschwängliche Adjectivum sott« Preußische Jahrbücher, üt. XLIX. Heft 2.

10

Raphael's erste Zeiten.

134 gelassen.

Passavant's Werk bleibt immer noch die Grundlage, auf der,

mit beliebiger Umstellung des Vorhandenen, Raphael'S Biographien heute erbaut zu werden pflegen.

Nur ist man sparsamer mit Werken geworden

und die vielen Kreuz- und Querzüge sind verschwunden.

Dies Abhängig­

keitsverhältniß zu Passavant wird vielleicht noch eine Zeitlang dauern und sich erst ändern, wenn nicht mehr, wie bis jetzt der Fall war, einzelne so oder so

gestimmte Liebhaber nach Umbrien wandern,

sondern Urbino,

Perugia und Cittü di Castello Gegenstand systematischer Untersuchungen werden.

Die ersten Anfänge einer anderen Bearbeitung des vorhandenen

Materiales gewahren wir bereits.

Lermolieff z. B. versucht auf Grund

persönlicher Ueberzeugung die Anfangsthätigkeit Raphael's zu construieren,

indem

er wie Rumohr nur mit den ihm

bekannten Arbeiten operiert.

Einen ganz neuen Weg ist Dr. Schmarsow gegangen, welcher Raphael's Venctianisches Skizzenbuch zum Ausgangspunkte nimmt, das von Ler­ molieff Raphael überhaupt abgesprochen worden toar*).

Raphael's sogenanntes VenetianischeS Skizzenbuch enthält etwa hundert Seiten.

Eine alte Numerierung bestätigt den äußerlichen Zusammenhang

der Blätter.

Rührt auch sie vielleicht nicht von Raphael's eigner Hand

her, so zeigt sie doch Wohl die Reihenfolge der Zeichnungen an als diese

noch ein Buch bildeten. den Versuch gemacht,

Schmarsow hat darauf hin den sehr einleuchten­ Entstehungsepochen für dasselbe herauszuerkennen.

Begonnen hätte Raphael mit seinen Zeichnungen noch in Urbino, zwischen

1495 und 1500, als er, wir wissen nicht unter welchen Umständen, im väter­

lichen Hause geblieben wäre: eine Anzahl Blätter, welche noch nicht an die Art des Perugino oder seiner Schule, dagegen an Signorelli erinnerten.

Signorelli hatte früher in Urbino selbst gearbeitet, 1496 malte er in Cittü

di Castello, einem Städtchen, das jenseits der Berge, auf dem Wege von Urbino nach Perugia liegt: auch von Signorelli'S, in S. Domenico zu

Cittn di Castello ausgeführten Wandgemälden hätte Raphael, Schmarsow zufolge, bestimmte Figuren abgezeichnet.

Von nun an erst ließe das Buch

ihn als unter dem Einflüsse Perugino's stehend erkennen, mit dem er übrigens 1497 zuerst in Fano zusammengetroffen wäre.

*) Preuß. Jahrb. Augusthest 1881. Ich mache noch auf Folgende- aufmerksam. Nach Guido Reni's Tode kamen aus dessen Nachlasse werthvolle Dinge fort. Darunter auch „da- berühmte Buch der hundert Zeichnungen von Raphaels Hand", da« Guido einst in Rom gekauft habe. Nehmen wir nun an, daß die Venezianer Zeichnungen nahe an 100 herankommen (— wie leicht konnte eins dieser lösen Blätter nicht verschwinden —) so liegt die Vermuthung nicht fern, daß in dem Venezianer Skizzenbuche, welche« zu Anfang dieses Jahrhunderts zuerst wieder auf­ tauchte, jenes verloren gegangene libro famoso wieder erschienen sei. Malvasia, Felgina pittrice, II, S. 58 (1678).

Gemeinsam ist sämmtlichen Blättern deS Venetianischen Skizzenbuches die Zartheit der Striche, eine gewisse Lieblichkeit der Behandlung, kurz, ein Element, das wir als freundlich, angenehm, ansprechend charakterisieren

dürften. Von den Gemälden, die Raphael sich so mit Federstrichen notierte, sind am wichtigsten die im Palaste zu Urbino, von denen eine ganze

Reihe erhalten blieb. Entweder stellen sie Allegorien dar, Personificierungen der Wissenschaften, denen die Fürsten huldigen, oder es sind Bildnisse be­

Dichter und Philosophen von den ältesten Zeiten

deutender Gelehrten,

Sie scheinen vom Herzoge verschiedenen Meistern in

bis auf die eigne.

Auftrag gegeben worden zu sein, darunter auch Niederländern: die Haupt­

arbeit lieferte Melozzo da Forli.

Raphael hat einige dieser Portraits mehr

oder weniger genau, aber ungemein sicher abgezeichnet und die darunterge­

setzten Namen geben die älteste Probe seiner Handschrift.

Wir dürfen

unserer Phantasie gestatten, Raphael als Kind im Palaste von Urbino

sehen, wo er in der Bibliothek zeichnet und wo ihm vielleicht gestattet war, auch die Miniaturen der Bücher zu betrachten.

nur die Sontagsarbeit gewesen:

wie wandte

Aber dies wäre

er seine Wochentage an?

Wer 1504 ein Werk wie das Sposalizio schuf, mußte Jahre lang bereits

sich

zu

einer solchen Leistung vorbereitet haben.

Wo lernte Raphael

das?

Hierauf giebt das Venetianische Skizzenbuch keine genügende Ant­

wort.

Es verräth auch nicht, ob das, was sich darin gezeichnet findet,

direkt copiert wurde

Gopten Vorlagen.

oder

ob Raphael auch von Anderen

angefertigte

Diese hätte Raphael dann z. B. ja schon in Urbino

abzeichnen können.

Derartige Zweifel nehmen den scharfsinnigen Unter­

suchungen Schmarsows, deren Fortführung zu erwarten ist, an sich nichts von ihrem Werthe, machen ihre Resultate aber einstweilen noch unsicher.

5. Raphael bei Pietro Perugino. Ich suche nun selbst eine Ansicht zu formulieren. Eine Lehrzeit Raphael's bei Perugino in Perugia daraus folgern zu wollen, daß gewisse Stellen in den Wandgemälden deS Cambio dort, mit

denen Perugino um 1500 begann, für Arbeiten Raphael's erklärt wer­ den, ist unthunlich.

Soll Perugino nicht Alles selbst gemalt haben, so

hette er genug Arbeiter neben sich, die ihm helfen konnten.

dere Name läge hier ebenso nahe als der Raphael's.

Mancher an­

Unzweifelhaft jedoch

wiederum ist der Einfluß Perugino's auf Raphael's frühste Werke und

das Natürlichste für dessen Erklärung bleibt die Annahme, es habe ein Ver10*

hältniß von Meisterschaft und Schülerschaft bestanden und Raphael in Perugia selbst Perugino's Unterweisung empfangen.

Ob es trotzdem wieder Perugino's Wandgemälde im Cambio waren, welche Raphael's Augen, sagen wir von 1500 an, gefangen nahmen und ihm die Formen dieses Meisters in die Seele prägten, ist eine andere Frage.

Rumohr zuerst hat ausgesprochen, Perugino's Blüthe falle ins Jahr 1495,

worauf er oberflächlicher zu arbeiten begonnen habe.

Sollte Raphael, der

im Palaste zu Urbino Werke ersten Ranges gesehen und Gut und Mittel­

mäßig unterscheiden gelernt hatte, Perugino's gezierte Stellungen jetzt urtheilslos nachgeahmt haben? Diese Frage ist der Grund, weshalb wiederum

nicht unglaubwürdig scheint, Raphael könne in Urbino bereits bei Timoteo della Vite, einem selbständig gewordenen Schüler Francia's die Formen ver­

schiedener Meister kennen gelernt haben.

seit 1495 steht fest.

Timoteo's Anwesenheit in Urbino

Warnm wäre Raphael dann überhaupt nach Perugia

gegangen?

Atan begiebt sich zuweilen in Abhängigkeit nicht bloß um

zu lernen,

sondern

weil man

an der Hand eines mächtigen Mannes

die ersten Schritte zu eigner späterer Thätigkeit sicherer

zu thun hofft.

Perugino's Malereien im Cambio, den Räumen des Wechselgerichts im

Regierungspalastc zu Perugia, sind Aneinanderreihungen von Gestalten, die in Raphael's Sinne den Namen Composition kaum verdienen.

wiederhole:

Ich

Raphael hatte den Vorzug, unter höheren Eindrücken ausge­

wachsen zu sein.

Melozzo da Forll und Piero della Francesca gingen

der Natur ernsthaft nach und strebten dem Großen, Monumentalen zu.

Dieselbe Richtung lag auch in Signorelli's Wesen, und eng im Zusammen­ hänge mit der Natur standen die niederländischen Meister, die am Hofe Federigo's Beschäftigung fanden*).

Kleinlich, geziert und bunt erscheint

Perugino im Vergleiche zu diesen allen.

Auch hatte er nicht die künst­

lerische Bedeutung von Perugia geschaffen, das voll von Werken bedeu­

tender Meister war. Einige jüngere Maler arbeiteten um 1500 in Perugia und dessen Um­ gegend als Perugino's Schüler nnd Gehülfen, in denen Raphael's Mitschüler erkannt worden sind.

Bei keinem ist auch hier das Verhältniß klar, in

dem sie zu Perugino und zu Raphael standen.

Für den einen oder andern

pflegt dieser oder jener Forscher eine besondere Vorliebe zu hegen und sein

Einfluß auf Raphael wird dann Gegenstand schärferer Untersuchung.

Es

handelt sich hier meist um Feststellung gewisser technischer Feinheiten und Zusammenhänge, auf die hin die Urheberschaft herrenloser Gemälde festge-

*) Wir wissen nur von einem, aber es scheinen mehrere in Urbino thätig gewesen zu fehl. Ueber Timoteo della Bite vgl. Schmarsow a. a. O.

stellt oder die bisherige Namengebung umzustoßen versucht wird.

werden wohl noch oft neue Meinungen erscheinen.

Hier

Man malte leicht und

rasch und wiederholte unbedenklich die überkommenen Muster.

Raphael

hatte, wohin er bei seinem Eintritte in Perugia den Blick wandte, dort wie

in Urbino, Werke der verschiedenartigsten Auffassung und Ausführung vor Augen.

Vasari nennt Raphael den „großen Nachahmer".

Alles und eignete sich Vieles an.

Raphael sah

Es ist nicht anzunehmen, daß diese Gabe

nicht in frühester Zeit schon bei ihm entwickelt gewesen sei.

All dieS in

Betracht gezogen, erscheint es fast unmöglich, heute mit feiner Zunge unter

den vielen anonymen Ueberbleibseln an Werken jener Zeit diejenigen her­ auszuschmecken, welche Raphael damals gearbeitet haben könnte, und ich

lasse was Pungileoni, Passavant, Rumohr und Andere an Gemälden frühester Zeit von ihm anführen, auf sich beruhen.

Diese Sachen müssen erst ein­

mal sämmtlich in einer zukünftigen Raphaelausstellung nebeneinander ge­

bracht worden sein und der Discussion Vieler unterlegen haben.

Für mein Urtheil ist Raphael'S ältestes sicheres Gemälde die soge­

nannte Madonna Staffa oder Connestabile, das kleine Bildchen, das neuer­ dings für einen enormen Preis nach Petersburg gegangen ist.

Die Stadt Perugia erscheint heute als verarmt durch den Verlust dieses Kleinods.

DaS verdorbene Fresco in San Severo und eine Zeich­

nung ausgenommen, die im Hause Baldeschi aufbewahrt und von Vielen

Raphael nicht einmal zugesprochen wird, besitzt man in Perugia nun nichts

Sicheres mehr von ihm.

Was übrigens vorhanden war, ist längst im

Laufe der Jahrhunderte davongetragen worden. Die Madonna Connestabile,

im alten ursprünglichen Goldrähmchen, so recht ein Musterstück der un­ schuldig zierlichen Art des Quattrocento, bildete lange Jahre für Alle die

sie an Ort und Stelle gesehen hatten, einen reizenden Punkt in der Erinne­ rung und unzählige Copien von ihr sind verbreitet.

schaften hat das Werk nicht.

Besondere Eigen­

Der Jungfrau ist ein schlichtes Tuch über

den- Kopf geschlagen, das als Mantel auf die Schultern fällt und in das der eine Arm sich verhüllt, mit dessen Hand

sie das nackte Kind

hält, mühelos, als hätte eö gar kein Gewicht, sondern schwebte darauf, wie meist Madonnen und Christkinder gemalt werden.

In der andern

Hand, die unter des KindeS rechten Aermchen zum Vorschein kommt, hält Maria eine Granate, nach der das Kind greift.

So auf der Federzeichnung

für daS Bildchen nämlich, die sich in der Größe des Originales erhalten

hat, und so anfänglich auch auf dem Gemälde selbst, wo später die Frucht

in ein Buch verändert worden ist.

Bei der Uebertragung des Gemäldes

von der wurmstichigen Holztafel auf Leinwand zeigte sich, daß auch hier

ursprünglich eine Granate beabsichtigt war.

Die Zeichnung besitzt das

Raphael's erste Zeiten.

138

K- Kupferstichcabinet zu Berlin.

Sie ist mit ängstlicher Reinlichkeit gemacht

und scheint keine Studie für das Bild, wie sie Künstler zu eignem Ge­ brauche anzufertigen pflegen, gewesen zu sein, sondern sollte vielleicht dem

Besteller eine Idee geben, wie das kleine Werk fertig aussehen werde.

Ein zweites Produkt dieser sich an Perugino's Manier anlehnenden

Thätigkeit besitzt wiederum das Berliner Museum: die nach ihrem früheren

Besitzer genannte Madonna Sollh.

tinischen Sammlung in Wien.

Die erste Skizze dafür in der Alber-

Drei Figuren nebeneinander:

die Jung­

frau mit dem Kinde in der Mitte, hinter ihrer linken Schulter Hieronymus, hinter der rechten Franciscus sichtbar.

Man könnte das entzückende kleine

Werk eine vermehrte Auflage der Madonna Connestabile nennen.

Glück­

licherweise ist der alte Firniß darauf belassen worden, der die leuchtenden reinen Farben zwar ein wenig dämpft, zugleich aber etwas wie einen

goldenen Schein darüber wirft.

Der heilige Franciscus, dicht bei Perugia

in Assisi zu Hause, gehörte in den Augen der damaligen Welt so recht zur

Begleitung der Jungfrau. vor uns.

Wir haben ihn als blühenden jungen Mann

Hieronymus, durch seine Uebersetzung der Bibel in's Lateinische

gleichsam der fünfte Evangelist, war nicht weniger beliebt.

Als weißbärtiger

Greis erscheint er auf der andern Seite der Madonna, zu deren näherem Umgänge auch er zunächst berufen war.

Männliche Jugend und Alter,

und dazwischen die junge Frau mit dem Kinde, dies die Gegensätze ver­

schiedener Lebensstufen, deren Darstellung hier von Raphael nicht beab­ sichtigt wurde, aber die als vom Künstler empfunden sich doch bemerklich Die Kunst des Quattrocento war für die Familien berechnet. Die

macht.

verschiedenen Generationen im Hause sollten jede auf dem Gemälde sich

wiederfinden. Vor der Madonna Solly vielleicht schon hätte eine andere genannt werden können, die zwar erst einige Jahre später als Gemälde ausge­ führt worden ist, zu der der erste Entwurf jedoch sich auf der Rückseite

des Blattes findet, welches die Federzeichnung der Madonna Connestabile trägt:

die Madonna di Terranuova.

Berliner Museum an.

Auch dies Gemälde gehört dem

Die Composition ist auf der Zeichnung starrer,

in Gestalten wie Faltenwurf, als die Madonna Solly, ähnelt dieser aber doch sehr und es tritt besonders beim Christkinde die Uebereinstimmung

hervor.

Vergleichen wir diese Arbeiten nun, Gemälde wie Zeichnungen, mit Perugino's Werken, so ist ein Einfluß von dessen Manier auf Raphael

unverkennbar. wechseln.

Niemand aber würde sie doch mit Sachen Perugino's ver­

Sie haben etwas Besonderes, einen eigenen Schimmer für sich.

Ein viertes Werk nun aber, das in jene ersten Jahre des neuen Jahr-

Hunderts gesetzt und Raphael zugeschrieben wird, ist so durch und durch

peruginesk,

daß immer noch Basari's Urtheil gilt:

Perugino'S Arbeiten zu unterscheiden:

im Vatican.

die Krönung

es sei kaum

von

der Maria, heute

Ein großes, figurenreiches, mit allen Finessen des Ateliers

auSgeführtes Tafelgemälde, zu welchem ein besonders schönes Studienblatt von Raphael's Hand existiert.

Es fällt mir jedoch immer schwerer, mich

davon zu überzeugen, daß es zu diesem Gemälde gehöre, welches ich für die

Basari's, allerdings nicht

Arbeit eines älteren, erfahrenen Mannes halte.

ganz klar ausgesprochene Ansicht, Raphael habe nur einige Figuren darauf gemalt, scheint mir das Aeußerste zu sein,

was gesagt werden könnte.

Die Predellen mögen gleichfalls von ihm herrühren *). Diese Werke nun können zu beliebiger Zeit zwischen 1500 und 1505

entstanden sein.

Alle vier werden sie Raphael zudem nur „zugeschrieben".

Raphael kann um 1500 nach Perugia gegangen sein, aber wir habe» kein

Aktenstück, das seine Anwesenheit dort vor 1505 bestätigte.

Raphael's

frühste, unantastbar ihm gehörende Arbeiten weisen nicht nach Perugia, son­

dern nach Cittü di Castello.

Wie Raphael dahin gekommen sei, wissen wir

wiederum nicht, hier aber zuerst haben wir festen Boden unter den Füßen.

6 Raphael in Gitta di Castello.

Das Sposalizio.

Suchen wir den Weg zu finden, der Raphael nach Cittä di Castello geführt hätte.

Stadt und Herzogthum Urbino

waren

in den Zeiten, in die wir

Raphael's erste selbständige Thätigkeit setzen wollten, die Beute der allge­ meinen Bewegung geworden, welche seit dem Tode Lorenzo's bei Medici

an Italien rüttelte.

Solange Lorenzo lebte,

hatte er mit überlegener

geistiger Kraft die wogenden Elemente zur Ruhe gezwungen; nach seinem

Fortgange erhob sich nicht nur die alte Zwietracht, sondern neue Gründe

zu neuen unvorhergesehenen Kämpfen erwuchsen. Registrieren wir im Großen was in Italien in den Zeiten sich er­

eignete, in denen Raphael zum Jüngling aufwuchs. Die Franzosen dringen in Italien ein und durchziehen es siegreich. Mailand, Florenz, Rom und Neapel fallen ihnen anheim.

Das für all-

*) Der angeblich verlorene Brief, in welchem Maddalena degli Oddi die Krönung der Maria bei Raphael bestellt haben soll, hat wohl nie existiert und eben so unsicher ist die von Passavant angeführte Tradition, in der äußersten Figur rechter Hand habe Raphael sich selbst portraitiert. Rumohr läßt das Gemälde erst nach dem Sposalizio entstehen.

mächtig geltende Venedig sieht dem Sturze der Dinge thatlos zu, in Neapel

wird die alte Dynastie verjagt, Florenz durch das Eintreten der democrati-

schen Revolution unter Savonarola um seinen äußeren Einfluß gebracht.

Zu diesen mehr elementaren Ereignissen aber tritt dann noch ein besonderes: unter dem Pabstthume Alexander's des Sechsten erhebt sich in Rom die Fa­

milie Borgia mit umfassenden Plänen und mit unerhört neuen Mitteln, sie durchzuführen.

Als Anführer der päpstlichen Truppen seines Vaters, des

Papstes, beginnt Cesare Borgia, indem er den Anschein wahrt, für die Kirche zu kämpfen, die Gründung einer mittelitalischen Herrschaft für sich

Städte sowohl als kleine Fürsten stehen ihn im Wege und gegen

selbst.

beide geht er mit überlegenem Geiste vor.

Diese Kämpfe sind es, die

ihm zu der Ehre verholfeu haben, von Machiavelli wissenschaftlich be­

handelt und als Musterstück eines mächtigen Emporkömmlings verherrlicht

zu werden. Das Herzogthum Urbino sollte der Kern des idealen Reiches werden, das zu begründen Cesare vielleicht gelungen wäre, hätte der Tod nicht

den Papst, auf dem doch Alles beruhte, fortgenommen.

Gegen Herzog

Guidobaldo sehen wir Cesare im Sommer 1502 einen seiner brillantesten

Coups ausführen.

Cesare knüpft mit ihm vertrauliche Unterhandlungen

über die Bedingungen an, unter denen Gnidobaldo, der wie sein Vater das

Metier betrieb, in fremdem Solde Kriege zu führen, mit seine» Kräften sich ihm anschließen wolle, und in demselben Athemzuge gleichsam bricht er mit Soldaten ohne Gepäck in Geschwindmärschen plötzlich in das Herzog­

thum ein,

das mit einem Schlage in seine Gewalt geräth.

Während

Guidobaldo als Bauer verkleidet in der Nacht mit wenigen Begleitern von Urbino abreitet,

geht

eine Deputation von Bürgern Cesare entgegen,

der Stadt und Palast in Besitz nimmt.

jedoch wieder wett gemacht. worden,

Dieser erste Verlust wurde dann

Im Juni 1502 war Guidobaldo vertrieben

im Oktober erscheint

er

im Lande und bringt eine Rebellion

gegen Cesare zu Stande, die ihm Urbino wieder verschafft. Nun aber macht Cesare sich zum zweitenmale auf, und jetzt, Anfang December 1502, zieht der Herzog ab, mit dem Gefühl, nicht zurückzukehren.

Der Palast wird

mit all seinen Kostbarkeiten Cesare überlassen, der diele Ladungen daraus, besonders die werthvollen Teppiche und die Bibliothek, nach Rom schaffen läßt.

Guidobaldo aber wendet sich nach Cittü di Castello,

December 1502 und im Januar 1503 residiert.

wo er im

Im Jahre 1503 aber

muß Raphael sein Sposalizio, das die Jahreszahl 1504 trägt, in Cittü

di Castello begonnen haben.

Da wir so gänzlich von Nachrichten entblöst

sind, wäre es fast unnatürlich, wenn wir bei diesem Zusammenklang des Thatsächlichen Raphael nicht mit seinem Herzoge in Cittü di Castello in

Verbindung brächten.

Die Annahme sogar drängt sich heran, er könne

beim Abzüge Guidobaldo'S von Urbino diesem dahin gefolgt sein, worauf er dann, als der Herzog weiter flüchten mußte, zurückblieb*). Eine

in die Jahre 1503 und 1504 fallende, in dauerndem Zu­

sammenhänge stehende Thätigkeit Raphael'S zu Cittä di Castello muß ange­

nommen werden. Genannt werden heute vier Gemälde, welche an diesen Ort

Zuerst die Kirchenfahne, die als Raphael'S

und in diese Jahre gehören.

frühste Arbeit dort betrachtet wird und die sehr verdorben sein soll. sah sie nicht.

Ich

Sodann die Krönung des heil. Niccolo von Tolentino,

welche bis zu ihrem Ruin, Ende des vorigen Jahrhunderts, in Cittü di

Castello stand. Wir beurtheilen sie heute nur nach einer undeutlichen Skizze

Raphael'S und nach Beschreibungen. Urbinas" darauf,

land verkauft.

ehemals

Ferner das Crucifix mit „Raphael

in der Sammlung Fesch, dann nach Eng­

Auch dies Werk mir nur aus Gruner'S Umriß bekannt.

Wer aber kennt das Sposalizio nicht, das die ächte Jahreszahl 1504 trägt,

das Gemälde, von dem ab Vasari Raphael'S Ruhm in Italien datiert? Eine der edelsten Schöpfungen der neueren Kunst und als die Arbeit

eines Einundzwanzigjährigen fast ein Wunderwerk zu nennen.

Als ich vor fast dreißig Jahren Raphael'S Sposalizio in Mailand zum

erstenmale sah, saß noch der gelbe Firniß darauf, der die Lichter trübe

und die Schatten dunkel

machte;

als

ich

wiederkam,

hatte man ihn

entfernt und das Werk stand in all seiner Blumenschönheit wieder vor uns.

Die Farben stoßen aneinander wie auf einem Glasgemälde.

Jede

Farbe aber ergänzt die andere völlig, keine sticht hervor, das Ganze klingt rein zusammen.

Das Gemälde ist so gleichmäßig durchgeführt, daß kein

Unterschied in der Behandlung der Haupt- und Nebensachen merklich wird.

In den vielen Figuren, aus denen die Composition symmetrisch sich auf­ baut, erkennen wir in besonderer Reichhaltigkeit jene Typen menschlicher Altersstufen wieder,

die Jedem, jung oder alt, den Künstler

als den

besonderen Vertrauten seines eigenen Alters entgegentreten lassen.

Da steht, in der Mitte der hohen Tafel, in voller Breite uns zuge­ wandt der ehrwürdige Priester, Maria's und Joseph's Hände ergreifend,

um sie einander entgegenzuführen. Joseph hält den Ring fest zwischen den

vorgestreckten Fingern, Maria dagegen scheint den Priester nur gewähren zu lassen, der ihre gesenkte Hand mit der feinigen lenkt, damit sie den Ring sich über den Finger streifen lasse.

So steht das Paar int Profil sich gegen»

*) Wiesehr an die Beständigkeit der Herrschaft Cesare'S geglaubt wurde, zeigen die Versuche Guidobaldo'S, sich auf einer ganz neuen Basis schadlos zu halten: er wollte sich von seiner Frau trennen und Cardinal werden. Alexander VI. jedoch wies das ab. Villari, Dispacci di Antonio Giustinian. I, S. 279.

RaPhael'S erste Zeiten.

142

über, und hinter ihnen auf beiden Seiten hier und dort bis zum Rande Der Ring aber scheint

deS Gemäldes in leichtem Gedränge ihr Gefolge.

den Mittelpunkt der Composition zu bilden.

Auf ihn blickt der Priester

nieder, auf ihn sind Maria's und Joseph's Augen ernst gerichtet.

Mit

dem Uebergange des Ringes wird das für die christliche Kirche so wichtige Ereignis der Ehe Maria's und Joseph's zur Thatsache.

Das Bewußt­

sein, ein wie folgenreicher Moment jetzt eintrete, scheint alle Theilnehmenden zu durchdringen und geht in den Betrachtenden über.

Die heitre Schön­

heit des Werkes aber mildert den Ernst der Gesinnung, der aus ihm redet.

Die

Tempel,

Scene verlegt

Raphael

auf

den

offenen

Platz

vor dem

der in der leichten Architektur der Frührenaissance über die

Figuren herausragend, den Hintergrund bildet. Durch seine offenen Mittel­ thüren sehen wir, durch ihn hindurch, wie in eine unendliche Ferne.

Wie hoch erhebt Raphael in der Bildung seiner Gruppen sich hier über Perugino.

Dieser hatte darin einst seinen Vortheil gefunden, daß er

die unklaren, dichtgedrängten Anhäufungen von Gestalten, mit denen die früheren Florentiner Meistern operiert hatten, auflöste.

Perugino ließ

jeder Figur einzeln eine Art statuarischer Ausarbeitung zu Theil werden, machte sie rund durch Licht und Schatten und gab ihnen Luft, um sich zu

bewegen.

Dam!t löste er die Gestalten vom Hintergründe ab, aus dem sie

frei herauszutreten schienen.

Bei diesem Verfahren aber war er, soweit

er auch damit kam, endlich doch nur zu der Manier gelangt, statt Gruppen

zu bilden

einzelne Figuren aneinander zu reihen.

Und

nun vergleiche

man auf Raphael's Sposalizio dagegen die drei Frauen, welche mit Maria

die rechte Hälfte der Composition, und die drei Männer, welche mit Joseph zusammen, deren linke bilden: wie frei und sicher Raphael hier verfährt,

wie jede Gestalt plastisch für sich allein dasteht, wie sie vereint dann wieder

hier und dort abgesonderte Gruppen bilden, und wie diese beiden Gruppen,

sammt dem Priester zwischen ihnen, machen,

in der Alles einander

endlich doch nur eine Einheit aus­

ergänzt.

die Gegensätze, mit denen Raphael arbeitet.

Ebenso wohl durchdacht sind Man bemerke, wie der sich

beugende Jüngling, rechts neben Joseph im Vordergründe, dadurch daß er den Stab vor dem Knie zerbricht, scheinbar viel lebendiger wirkt als der in alterthümlichen Faltenwürfe einfach dastehende Joseph, und wie zwischen Maria und ihrer mehr in den Vordergrund gebrachten Begleiterin derselbe

Unterschied waltet: die letztere naturalistischer und bewegter, Akaria mehr

in dem typischen schlicht anliegenden Gewände und in voller Ruhe; und man bemerke nun weiter, wie trotzdem Maria und Joseph, gerade durch diese

Schlichtheit, in ihrer Rolle als Hauptpersonen der sich vollziehenden Hand­

lung um so reiner hervorgehoben werden.

Wie wäre Perugino auf der-

Und wie nah schien eS nun doch zu liegen, so zu

gleichen je verfallen? verfahren.

Bei der Vermählung der Jungfrau tritt die Natur der Stoffe recht hervor, die wir Raphael bis dahin behandeln sehen.

Lauter heilige Ge­

schichte, zugleich aber weder Begebenheiten des alten noch des neuen Testa­ Weder von einer Krönung der Jungfrau

mentes.

und von den zwölf

Aposteln, welche Maria's Grab leer finden, während Lilien und Rosen aus dem Sarkophage aufsprießen, noch von der Vermählung Maria's mit Joseph, wobei der Stab in's Blühen kommt, wissen die Evangelien etwas.

Maria's Leben bestand für Raphael's Welt nicht aus den spärlichen Nach­ richten, die die Evangelien von ihr geben, sondern in einer Reihe Märchen,

in denen Maria's Schicksale von den Zeiten vor ihrer Geburt an bis zu ihrer Erhöhung als Himmelskönigin anmuthig erzählt werden.

Dr. F. A.

von Lehner ist in seinem neuen trefflichen Buche über die Marienverehrung

der Entstehung dieser Erzählungen nachgegangen.

Schon in den ältesten

Zeiten der Kirche wurde versucht, Maria emporzuheben.

Der Widerstand

einzelner Kirchenlehrer war machtlos gegenüber dem Bedürfniß, das die

zum Christenthume immer breiter übergehenden Völker erfüllte, neben den allzu große Scheu einflößenden höchsten Inhabern der göttlichen Strafgewalt

eine milde, mächtige Frau zu erblicken, deren Verwendung man sich vertrauen und die man getroster anrufen dürfte.

Sobald das einmal im Princip

erreicht war, begann der Mythus sich in den wunderbarsten Formen zu

entfalten.

Die kirchlichen Legenden, welche sich an Maria heften, sind das

Schönste, was die kirchliche Phantasie geschaffen hat.

wenig davon übrig.

Heute ist nur noch

Denn obgleich Maria in der katholischen Kirche

heute an Macht immer größeren Zuwachs empfängt, so treten gerade des­

halb die sie mehr in menschlichen Verhältnissen darstellenden Geschichten zurück.

Bekannt ist die Sage, daß die Hütte, in der sie inmitten der

Apostel Haus hielt und aus der ihre Leiche von diesen herausgetragen ward,

(wobei Johannes den vom Himmel herabgereichten

vorantrug)

durch

die Lüfte davongeführt und

Palmzweig

in Loretto niedergesetzt

sein sollte, wo die Verehrung deS Zeitalters Raphael's eine prachtvolle

Kirche darüber erbaute.

Noch im vorigen Jahrhundert konnte Tiepolo

den Flug dieses Häuschens durch die Lüfte darstellen, wie es von Engeln umgeben durch die Wolken dahinsaust: Niemand würde heute an die Decke

einer katholischen Kirche dergleichen als Schmuck anbringen.

Und was

die Vermählung Maria's anlangt, so besaß Perugia eine Reliquie, deren Erwerbung ein wunderbares Jntriguenspiel gewesen war: den ächten Trau­ ring der Maria.

Für die Capelle deö Domes von Perugia, worin dieser

noch heute aufbewahrt wird, malte Perugino fast gleichzeitig mit Raphael

Raphael'S erste Zeiten.

144

eine Vermählung der Jungfrau, welche jetzt in Caen steht und auf die

Raphael'S eigene Composition zurückgeführt zu werden pflegt.

Die Anordnung des Sposalizio war überliefert, seine Darstellungen sind

in den verschiedensten Variationen in Italien und in den anderen Ländern verbreitet.

Raphael ist es gelungen — was auch Dürer stets errang —

Composition den

seiner

Eindruck voller Glaubwürdigkeit zu

verleihen.

Wer würde Dürer's Marienleben gegenüber gezweifelt haben. Alles habe

sich genau so zugetragen, und wer vor Raphael'S Gemälde daran denken,

daß die Scene sich etwa nicht so ereignete?

Tempel erzogen worden sei,

Daß Maria nicht etwa im

in den man sie gebracht, weil ihre hohe

Sendung vorausgeahnt wurde?

Daß dann, als es an der Zeit schien sie

zu vermählen, die Männer zusammenberufen wurden, die auf diese Ehre

Anspruch gehabt hätten, und daß die Stäbe vertheilt worden seien, damit auf

den des Auserwählten eine Taube sich niedersetze, oder damit, wie noch anders erzählt und wie das Ereigniß gewöhnlich dargestellt wird, eine Blüthe aus dem dürren Holze wachse?

Auch der Altersunterschied, daß

Joseph als älterer Mann den Preis davon trug, während die anderen jüngeren Freier leer ausgingen, war nur eine Variante der Erzählung.

Darin schwankt die Sage am meisten, welches Alter Joseph zu geben

sei.

Das Protevangelium Jakobi läßt Joseph als achtzigjährigen Greis,

unter erwachsenen Söhnen erscheinen.

Die Verheirathung mit der kaum

fünfzehn Jahre zählenden Maria wird hier als Beginn einer Adoption aufgefaßt.

Raphael hat nichts von diesen Feinheiten wissen wollen; seine

Maria ist eine schlanke Jungfrau, sein Joseph ein kräftiger Mann, der

ernst und würdig, aber als zukünftiger Gatte ihr entgegentritt, im Sinne des Reuen Testamentes, in dem ja von Geschwistern Christi einfach die Rede

ist. Perugino's Sposalizio im Dome zu Perugia ist gerade auf diesen Punkt

hin betrachtet inhaltslos.

Seine Composition hat weder künstlerisch noch

geistig eine Mitte, noch überhaupt Etwas, das Handlung genannt werden

könnte.

Die Figuren stehen hier kahl nebeneinander.

Vergleichen wir nur,

wie Perugino und Raphael jeder auf seinem Werke die Füße und Hände be­ handelt haben.

Bei Perugino sind die Gewänder aller Gestalten fast gleich

kurz über den Knöcheln der Füße abgeschnitten, es geht da, wo die Ge­ wänder unten aufhören, wie eine Linie quer durch das Gemälde und das

Dutzend Füße, das unter ihr sichtbar ist, wiederholt, dicht nebeneinander,

die alten,

int Atelier

Perugino's

unendlich

oft benutzten

Stellungen.

Dagegen nun Raphael: wie ungleich bei diesem die Gewänder auf die

Füße niedergehen.

Wie hier nur die Spitzen der Füße sichtbar find, dort der

ganze Fuß sich zeigt, nackt oder in Schuhen, wie keine Stellung sich wieder­

holt, wie die individuellen Unterschiede sorgfältig gewahrt sind.

Und noch

entscheidender die Hände. Wie Raphael mit der feinsten Naturbeobachtung jede Fingerstellung individualisiert, auch da, wo die perugineske Haltung im Allgemeinen beibehalten wird, während Perugino die hergebrachten Formen ohne weiteres wieder anbringt. Zeigen beide Werke bei näherer Vergleichung so nur geringe Ver­ wandtschaft, so erscheint Raphael mit dem feurigen trotzdem Perugino als verpflichtet, wenn wir ein Sposalizio, das von Perugino an anderer Stelle früher gemalt worden war, nun mit in Vergleich ziehen. 1497 und 98 arbeitete Perugino in dem östlich von Urbino am Meeresufer gelegenen Fano, wo auch der alte Giovanni Santi bedeutende Arbeiten auSgeführt hat, gleich denen Perugino's heute noch dort vorhanden. Eines der kleinen Predellenbildchen Perugino's in Fano zeigt eine Darstellung des Sposalizio, mit der Raphael's Gemälde entschiedene Verwandtschaft hat. Nicht nur im Aufbau der Figuren, sondern auch in der Architektur tritt sie hervor. Die Vorhalle des Tempels, unter die Perugino hier die Scene verlegt, entspricht durchaus dem unteren Theile des Tempels, der bei Raphael den Hintergrund des Gemäldes entnimmt. Die Vergleichung läßt sich um so sicherer vornehmen als die Zeichnung Perugino's für dieses Predellenbild in Wien noch existiert. Wir dürften annehmen, Raphael habe entweder zu irgend einer Zeit Perugino's kleines Gemälde in Fano selbst gesehen oder Perugino's Zeichnung benutzt. Aber auch wenn wir Raphael's Werk auf eine Arbeit seines Lehrers so nun doch zurückführen, bleibt die Verwandtschaft eine äußerliche, denn von dem Geiste, der Ra­ phael's Arbeit erfüllt, besitzt auch das Bildchen zu Fano nicht den leisesten Anflug. Nicht mit Perugino, sondern mit Michelangelo oder Lionardo muß Raphael jetzt bereits verglichen werden wenn wir ihm gerecht werden wollen. Nehmen wir das Sposalizio als die erste Probe dessen, was Raphael nach dem höchsten Maaßstabe gemessen vermochte, und vergleichen wir ihn mit den beiden die neben ihm jetzt die größten sind. Ein auffallender Unterschied offenbart sich. Raphael scheint keinen Zug von der starken Originalität in sich zu tragen, die Michelangelo und Lionardo eigen ist. Er hat in keiner Weise die Absicht, seine Person hervortreten zu lassen. Er hegt weder besondere Gedanken, die nur er hätte, noch will er im Geringsten mehr in seinen Werken geben als die Sache erfordert. Michelangelo und Lionardo wuchsen auf im Anblick einer ungemeinen geistigen Entwicklung. Sie sehen in Florenz, wie Alles um sie her sich erheben will, Einer über die Andern, und Jeder Macht gewinnen. Tag für Tag zeigt sich ihnen von Neuem, daß nur das Außerordentliche geschätzt werde. Lionardo's Geist will in seinem universellen Streben von früh au

Raphael's erste Zeiten.

146

Alles umfassen, Michelangelo träumt von colossalen Aufgaben, die kein Anderer alS er zu bewältigen vermöchte.

Keine

Spur

dieses

unruhigen

Vorwärtsdringens

Raphael

bei

sichtbar.

Raphaels Arbeiten athmen eine gewisse friedliche Bescheidenheit aus,

ein Streben, auch dem Geringsten verständlich zu sein.

Niemand in Staunen setzen.

Raphael will

Er will erfreuen und befriedigen.

Er ver­

hehlt nicht was er Perugino zu verdanken habe, und wenn er sich hoch

über ihn erhebt, scheint er doch nicht die Absicht zu haben, ihn überbieten

zu wollen.

Dieses Sichbescheiden

ist bis

zuletzt der Charakter seiner

Thätigkeit geblieben. Er scheint nie etwas zu beabsichtigen und zu verlangen, das außerhalb seiner Kunst liegt.

Es sind niemals persönliche Geheimnisse

besonderer Art, die er in seinen Werken niederlcgt.

Wie man bei „Früh­

ling" nicht an einzelne Blätter und Blüthen, bei „Nachtigallcngesang" nicht an eine bestimmte Melodie denkt, denken wir bei „Raphael" mehr an die

allgemeine Kraft, als an die Manifestation besonderer Charakterzüge.

Auf

geradem Wege sucht er sich der Natur zu nähern und sie so schlicht als möglich wiederzugeben.

Alle andern Künstler hat er in dieser Einfachheit

übertroffen.

sich

Wenn es

heute darum handelt,

festzustellen,

ob

ein

Werk Raphael zugeschrieben werden dürfe oder nicht, ist schließlich immer das Gefühl maßgebend, ob das Werk die Einfachheit und Unschuld besitze,

die Raphael allein in diesem Grade seinen Arbeiten zu geben vermochte. WaS könnten uns Briefe oder Tagebuchblätter und dergleichen über Ra­

phael's Sposalizio verrathen, das aus dem Gemälde nicht auch ohne sie herausleuchtete?

Wie verschieden ist die letzte Wirkung, zu bei

der bei Raphael und

Michelangelo so verschiedene Wege geführt haben.

In

der

Zeit,

wo das Sposalizio entstand, wurde in Florenz Michelangelo's David auf­ gestellt,

ein Ereignis, daß unzählige Blicke auf ihn und sein colossales

Werk lenkte, während Raphael's Gemälde damals in der stillen Kirche

von CittL di Castello nur gelegentlich gesehen wurde.

Drei Jahrhunderte

hat es dort gestanden, bis die gewaltsame Versetzung nach Paris nun

erst der Beginn einer Laufbahn für es geworden ist, die es in

ganz'

anderer Weise jetzt zu einem Gemeinbesitze der Menschheit macht, als

irgend eines der Gemälde oder der Statuen Michelangelo's je geworden ist oder auch

werden könnte.

Giuseppe Longhi hat einen Stich nach

dem Sposalizio gearbeitet, der mit Recht im höchsten Ansehen steht. der für

diesen Stich

angefertigten Zeichnung

Nach

ist von Oeri dann eine

Lithographie angefertigt worden, die ihrerseits wieder zu den Besten ge­

hört was auf dem Gebiete der Lithographie überhaupt entstanden ist.

RaPhael'S erste Zeiten.

147

Neuerdings hat Stang einen neuen Stich geliefert.

In Photographien

ist das Werk zudem heute nun so in die Welt eingedrungen, daß man sagen kann, es sei in der Erinnerung der gesummten Menschheit heimisch

geworden. —

Raphael's nächste Thätigkeit fällt von jetzt an erst sicher nach Perugia, wohin er im Laufe des Jahres 1504 sich wendet und wo er 1505 in einem zuverlässigen Aktenstücke als „erster Meister der Stadt" bezeichnet

wird. — Herman Grimm.

Ueber das Wesen und die Bedeutung der mensch­ lichen Freiheit und deren moderne Widersacher. (Schluß.)

Die Entstehung und Verbreitung des Materialismus tvurden wesent­ lich durch zwei charakteristische Eigenthümlichkeiten des modernen Gebens bedingt, nämlich einerseits die Abwendung von den wahren idea­

len Lebensinteressen und andererseits das Bestreben, alle Welt-

wirklichkeit auf ein einfaches leichtverständliches und doch um­ fassendes Princip zurückzuführcn und dadurch alles Geschehen der strengen wissenschaftlichen Forschung zu unterwerfen.

Dieselben Eigen­

thümlichkeiten bestimmen auch den Grundcharakter der Schopenhauerschen und Hartmann'schen Philosophie nnd bilden den wahren Grund der gegenwärtigen Popularität dieser

beiden Systeme.

Beide Systeme

wurden dadurch in ganz ähnliche Widersprüche nnd Irrthümer verstrickt

wie der Materialismus, wenngleich ihre Principien und Ergebnisse von

den correspondirenden Aufstellungen des Materialismus dem Namen, der Beide verschlossen sich hartnäckig

Form und Begründung nach abweichen.

und konsequent wie der Materialismus den inhaltlichen Offenbarungen, welche die unmittelbaren Elementarereignisse des geistigen Lebend dar­

bieten und substituirten diesen Inhalten leere Allgemeinbegriffe von blos adjectivischer Natur und rein formeller Bedeutung.

Jene beiden Eigenthümlichkeiten:

die Abwendung von den Idealen

und das Bestreben, alles Wirkliche auf ein möglichst einfaches wissen­ schaftliches Princip zu reduciren, gehen in gewisser Beziehung Hand in

Hand miteinander.

Die reiche Vielgestaltigkeit der idealen Inhalte deS

Lebens widerstreitet der Zurückführung auf das Einfache und eben des­ halb Inhaltleere, sie erschwert wegen der fast unabsehbaren specifischen Verschiedenheit jener Inhalte die Uebersichtlichkeit und leichte Orientirung.

Je gleichartiger, einfacher und Wissens

darstellt, um desto

inhaltärmer sich daS Rohmaterial deS

leichter ist

es,

ein gemeinsames Princip

Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit rc.

dafür zu finden,

149

um so leichter stellt sich die Lösung des Welträthsels,

Die einfachste und bequemste Art, innere Gliederung in den Entwicke-

lungSstoff zu bringen, besteht darin, daß man schlechtweg als zusammen­ gehörig betrachtet was gleiche oder ähnliche Eigenschaften hat, und daß man die so aufgefundenen Gleichheiten oder Verschiedenheiten zur Richt­

schnur und zum Princip der Eintheilung macht.

Dieses Verfahren führt

dann leicht noch weiter zu dem Irrthume, daß man jene die Uebersichtlichkeit

des Erkenntnißstoffes erleichternden gemeinsamen Eigenschaften des

Wirklichen zugleich als die Hauptsache und den bedeutsamsten Inhalt des letzeren anzusehen sich gewöhnt.

Wir finden daher in der Geschichte

der Philosophie von jeher das zwiefache Bestreben wirksam, einerseits die specifischen Verschiedenheiten des der Wahrnehmung sich darbietenden Ma­ terials zu nivelliren, und andrerseits in demjenigen, was allem Wirk­

lichen gemeinsam ist, zugleich dessen wesenhaften Kern, Grund und Ur­ sprung, daS Princip der Welterklärung zu suchen, um daraus rück­ läufig dann die specifischen Verschiedenheiten der concreten Dinge abzu­

leiten.

Dieses Bestreben wird durch

daS in

anderer Beziehung

sehr

nützliche Verfahren der Logik, Allgemeinbegriffe blos durch Hervorhebung

dessen zu bilden, waS verschiedenen Einzelobjecten gemeinsam zukommt,

wesentlich unterstützt, und beruht auf der Voraussetzung, daß das Gemein­ same in den Dingen, welches wir zum Zwecke unserer subjectiven Orten-

tirung auSscheiden, eben deshalb weil eS uns die Uebersichtlichkeit erleich­ tert, auch an sich den bedeutungsvollsten Kern des Wirklichen repräsentiren müsse.

Diese Voraussetzung ist jedoch, tote jedermann einsieht, grundfalsch, und jenes Verfahren der Logik, so nützlich es sonst sein mag, unanwend­

bar auf die metaphysische Untersuchung, welche,nicht das Allgemeine sondern dasjenige zu bestimmen sucht, was vermöge seiner inne­

ren Bedeutung als das wahre Wesen, als Quell und Ursprung des Wirklichen

betrachtet werden muß.

Jenes Verfahren beruht

ganz

auf

der geistlosen Subsumption unter ein Merkmal und führt zuletzt

zu dem obersten alles umfassenden Begriffe des Denkbaren, bei dessen

Bildung von allem Inhalt und

gänzlich abgesehen ist.

aller Eigenthümlichkeit des Gedachten

Je allgemeiner die auf solche Art gebildeten Be­

griffe sind, desto leerer und inhaltärmer werden sie, und der zuletzt an­ geführte ist der leerste und inhaltärmste von allen;

er kann unmöglich

als der adäquate Ausdruck des wahren Wesens, als Quell und Ursprung

deS Wirklichen gelten.

Quell und Ursprung des Wirklichen kann über­

haupt kein Begriff,

sondern nur selbst ein Wirkliches sein und

dieses Wirkliche können wir nicht durch bloße Abstraction deS GePrrußisch« Jahrbücher. Bd.Xl.IX. Hcfl 2. 11

meinsamen aus den gemachten Wahrnehmungen finden,

dadurch,

sondern nur

daß wir aus dem specifischen Inhalte aller Wahrneh­

mungen und dem Gesammteindrucke des Ganzenden Sinn und die Bedeutung des Wirklichen zu deuten

und

suchen

nach

dem

Ergebnisse dieser Untersuchung überlegen, welche inhaltliche und formale

Natur

wir jenem

wesenhaften Grunde

des

Wirklichen

beizulegen

ge­

nöthigt sind.

Der Weg zu diesem wahren und höchsten Ziele der Wissen­ schaft führt daher nicht zu einer Nivellirung und Wegdeutelei

der spe­

cifischen Inhalte und Unterschiede, sondern gebietet die sorgsamste Beach­ tung der concreten inhaltlichen Momente der unmittelbaren Lebenserfah­

rung.

Bor den Anforderungen dieses höchsten Zieles verschwindet jener

zwischen

Widerstreit

der

Bielgestaltigkeit

und

Idealen

des

streben nach Einheitlichkeit und Uebersicht der Erkenntniß.

dem

Be­

Der Gesichts­

kreis dieses wahren und höchsten Ziels der Wissenschaft, die Begeisterung,

welche es

erweckt,

Werthes

und

und

steigert

staltigkeit der Inhalte, der

idealen

wahre Idealismus und

erweitert

sich

mit der Bielge-

mit dem erhöhten Verständnisse des

Bedeutung

die wahre

dieser

Wissenschaft

Inhalte.

widerstreiten

Der

einander

nicht, sondern gehen Hand in Hand mit einander, sie wirken zu dem­

selben großen Ziele zusammen und fördern sich gegenseitig. gesunde Strom alles Lebens läuft in

der Richtung

Der normale

nach diesem Ziele

und führt zu einer immer höheren Würdigung des Bestehenden.

Je tiefer

die Forschung in dieser Richtung in das Wesen des Wirklichen eindringt,

um so inhaltreicher unb bedeutungsvoller erscheint ihr das Ganze. Jene falsche Geistesrichtung dagegen, welche das Princip der Welt­ erklärung durch Vereinfachung und Entleerung der Inhalte des Lebens

möglichst einfach und durchsichtig gestalten möchte, verleitet eben dadurch zu einer ganz einseitigen und verkehrten Ausfassung dessen, was die un­

mittelbare Lebenserfahrung darbietet, sie verschließt sich dem Verständniß

der Inhalte und richtet ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Form, in welcher jene sich verwirklichen, weil diese mehr oder weniger allen ge­ meinsam ist.

Dem Zuge dieser einseitigen und falschen Geistesrichtung

folgt das durch die Fortschritte der Naturforschung dem Centrum seiner

bisherigen Vorstellungsweise zeitweilig entrückte, durch raffinirte sinnliche Genüsse vielfach überreizte und allem Idealen entfremdete moderne Leben, welches eben deshalb zu einer

immer

erschreckenderen Verflachung und

Verödung, zu einer immer bedenklicheren Verkennung aller Werthe des Lebens und endlich zum reinen diihilismus zu führen droht.

Schopenhauer und E. v. Hartmann sind die Heroen dieser falschen

Geistesrichtung, sie sind die eifrigsten Vorkämpfer deS Nihilismus*) in

der Gegenwart. Ich beginne mit der Betrachtung der Schopenhauerschen Philo­ sophie.

Diese ist, wie ihr Urheber mit einer dankenswerthen Offenheit in der Vorrede seines Hauptwerks selbst anerkennt, eigentlich nur die Aus­ gestaltung

eines

einzigen

Grundgedankens,

des

Gedankens,

daß der Wille das Wesen des „Dinges an sich", der Quell und Ursprung alles Wirklichen sei.

Aus diesem Grilndgedanken folgen

in der That alle besonderen Bestimmungen und Evolutionen dieser ab­

sonderlichen Philosophie, er ist der Lebenspunkt derselben, der Herzschlag,

welcher bis in die feinsten Adern des Schopenhauerschen Systems hineinpulsirt und dessen Leben gestaltet und bedingt, der einzige Faden an dem das ganze Princip dieser Welterklärung hängt.

Durchschneidet man

diesen durch Nachweis der Falschheit des Grundgedankens, so stürzt der ganze Bau in sich zusammen.

Wir wollen daher zunächst diesen Grund­

gedanken prüfen, und müssen uns vor allem klar machen, was Schopen­

hauer unter „Wille" versteht.

Unter Witte im gemeinen Wortsinn versteht man die Fähigkeit eines

Subjectes, etwas Bestimmtes zu wollen.

Diese Fähigkeit kann daher

nur wirklich sein als Eigenschaft eines Subjectes, sie kann nicht losge­

löst von diesem Subjecte und gleichsam in der Luft schwebend für sich Wir können aus der Vorstellung der von uns

wirklich sein.

einzelnen im

wirklichen

Denken

Reihe

von

aber wegen

Willensacte

aussondern

Sätzen seiner

und

behandeln,

wohl als

den

eines

Subject

wir

können

adjectivischen Natur nicht

gemeinen Wortsinn bedeutet,

oder

Satzes

diesen

Wille einer

Allgemeinbegriff

als Substanz,

liches fürsichseiendes reales Wesen betrachten. der Wille im

erlebten

Allgemeinbegriff

als wirk­

Fragen wir ferner, was so

lehrt

die

unmittelbare

Lebenserfahrung, daß der Wille eine Bewegung des ganzen Geistes ist, welcher will, und daß daher der Begriff des Wollens nur aus

*) Ich wähle dieses Wort absichtlich, weil es viel bezeichnender ist als der von Schopenhauer und Hartmann gebrauchte Ausdruck „Pessimismus". Der letztere setzt einen Maßstab der Werthschätzuug voraus, an welchem gemessen die Welt als mangelhaft und schlecht erscheinen könnte. Den Systemen beider Männer fehlt dieser Maßstab, da sie keine positive Werthe von absoluter Geltung anerkennen und ihnen in Wahrheit das Nichts als höchstes Ziel alles Leeens und aller Weltent­ wickelung erscheint. Die Wahl des Worts „Pessimismus" beruht auf dem beiden gemeinsamen Bestreben, durch Beibehaltung der üblichen Bezeichnungeu für die principiell negirten Inhalte des Lebens den Schein zu erwecken, als bliebe in der Schattenwelt ihres Nihilismus doch noch ein selbstverständlicher Rest jener Inhalte übrig. Dies ist Halbheit und Heuchelei, welche nicht zu billigen sind.

der ganzen Natur deS wollenden Wesens verstanden werden

könne.

Ziehen wir nur die Erfahrung in Betracht, so sind diese Wesen

solche,

stets

welche

zugleich

vorstellen

und

fühlen,

und

welche nur

wollen können, was sie vorstellen und fühlen, das heißt, was sie durch den fühlbaren und erlebbaren Werth, den sie ihm beilegen, zum Wollen anregt.

Wollen kann daher, soweit die Erfahrung reicht, nur ein Wesen,

welches zugleich fühlt und verstellt, aber dieses Erforderniß reicht.noch

nicht einmal aus,

den Begriff des Willens vollständig zu bestimmen.

Denken wir uns ein Wesen, welches stets nur eine einzige Borstel­ lung fassen könnte, welche es allein interessirte und deren fühlbarer Werth

seine ganze Seele ausfüllte, so würden wir nicht sagen dürfen, daß ein

solches Wesen vas Vorgestellte wolle, indem es jenem einzelnen An­

triebe folgt, mit dem keine anderen gleichzeitigen Antriebe concurriren. Es würde dann blindlings dem Zwange seiner Natur folgen,

es würde durch den einen Antrieb, der es erfüllt, determinirt sein, aber nicht wollen.

Es will erst dann, wenn gleichzeitig mehrere Vorstellungen von

fühlbarem Werthe seinem Bewußtsein vorschweben, welche sein Interesse gleichzeitig erregen, und das Wollen besteht dann allein in der Entschei­ dung über diesen Thatbestand gleicbzeitig

einwirkender Motive.

Wollen

kann daher mir ein mit Bewußtsein begabtes lebendiges persönliches Wesen welches in der Einheit seines Bewußtseins mehrere Vorstellungen zugleich

festzuhalteu, mit einander zu vergleichen und unter den verglichenen zu wählen vermag, welches daher auch eigene specifisch bestimmte Lebens­

interessen hat, welche bei jener Wahl den Ausschlag geben können.

Der

Wille selbst aber ist eben die Fähigkeit eines solchen Wesens, sich selbst nach inneren Motiven zu bestimmen, er ist seiner Natur nach stets freier Wille.

Der Begriff Wille ist ein Allgemeinbegriff, der von den einzelnen

Acten des Wollens abstrahirt ist, und wenn er richtig und vollständig ge­ bildet sein soll, alle jene characteristischen Eigenschaften in sich

enthalten muß, welche den einzelnen erfahrungsmäßig beobachteten Ein­

zelbeispielen der Willensacte eigenthümlich sind.

Ich stelle dieselben der

Vollständigkeit halber noch einmal übersichtlich zusammen: 1.

Jeder Willensact ist ein Act des bewußten persönlichen

Geisteslebens.

2.

Jeder WillenSact wird durch den gefühlten Werth der Vor­

stellung des Gewollten angeregt.

3.

Jeder Willensact ist eine Selbstbestimmung des Wollenden, welche

auf Grund einer Entscheidung

zwischen mehreren gleichzeitig

auf dasselbe einwirkeuden Motiven erfolgt.

Das bedeutsamste dieser Motive

4.

stärker einwirkende Gefühl der

ist stets das

schwächer oder

sittlichen Verantwortlichkeit des

Wollenden. Jeder Willensact wird erst dadurch zum WillenSact, daß alle 4 charakte­ ristische Eigenschaften in ihm angetroffen werden und auch der Allgemein­

begriff Wille muß deshalb alle 4 Beziehungspunkte in sich enthalten. Legen wir diesen Maßstab der unmittelbaren Lebenserfah­

rung an den Begriff dessen, was Schopenhauer unter „Wille" versteht, so zeigt sich sofort, daß der Schopenhanersche Wille, sowohl was die Art

seiner Existenz, als auch was seinen Inhalt anlangt, etwas ganz an­

deres bedeutet, als das, was uns die Erfahrung als Wille kennen lehrt,

daß der Schopenhanersche Wille vielmehr eine ganz willkürliche, falsche und sich selbst widersprechende Construction ist, welche im Boden der Er­

fahrung gar keine Wurzel hat. Die nachfolgende Sätze werde»

dieses Urtheil

erläutern und

be­

gründen :

1.

Falsch

und widersprechend

ist

die Behauptung,

daß

der Wille, die Fähigkeit deö Wollens, welche nur als Eigen­

schaft

eines

lebendigen Wesens

gedacht werden

kann,

über­

haupt, sei eS als Begriff oder als Wesen, für sich wirMch sein könne. Der Wille ist und bleibt wie wir gesehen haben, stets nur ein All­

gemeinbegriff,

den wir durch Abstraction von den

Willensacten bilden.

concreten einzelnen

Mag uns diese Abstraction besser oder schlechter

gelingen, der Begriff vollständiger oder unvollständiger ausfaüen, er bleibt immer ein Begriff der nicht auf eigenen Füßen stehen, nicht für sich,

sondern immer nur als Gedanke in uns, den lebenden Wesen, oder als unsere Eigenschaft wirklich sein kann.

Mag man dieser Abstraction

eine noch so hohe Bedeutung beilegen, ihre Natur als Begriff oder als Eigenschaft wird dadurch nicht im Mindesten verändert, sie kann dadurch

niemals zum fürsichseienden realen Wesen werden.

Selbst wenn wir von

dieser Unmöglichkeit absehen und mit Schopenhauer den Willen als ein

Wesen betrachten, welches weiter nichts könne als Wollen, so wird

der innere Widersinn des Gedankens dadurch nicht

gehoben, denn ein

solches Wesen wäre doch immer nur ein personificirter Begriff, der nicht

mehr leisten könnte als der Begriff Wille, auf den die Bezeichnung „Wesen"

aber deshalb nicht paßt.

Man mag den Gedanken drehen und wenden

wie man will, es kommt nie etwas GescheidteS dabei heraus.

Ein Wesen,

welches nur will, ist ein hölzernes Eisen, denn es kann nicht wollen,

wenn eS nicht in der Vorstellung oder im Gefühl etwas hat, waS es

154

Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit

wolle, was es zum Wollen anregen könnte.

Dies führt uns auf den

zweiten Punkt.

2.

Falsch und widersprechend ist auch das, was sich Scho­

penhauer abgesehen von der Frage nach der Existenzform unter dem Inhalte dessen dachte, was er „Wille" nannte.

Erinnern wir uns jener 4 characteristischen Eigenschaften, welche allen concreten Willensacten erfahrungsmäßig zukommen, und verglei'chen damit

den Schopenhauerschen „Willen", so zeigt sich sofort, daß diesem keine einzige jener Eigenschaften innewohnt.

Derselbe soll principiell unbe­

wußt, blind, ziellos und eben deshalb absolut frei, mithin durch

gar nichts, also auch nicht durch ein Gefühl sittlicher Verantwortlichkeit motivirt sein.

Der Schopenhauersche Wille ist daher ganz abweichend

von dem bestimmt, was die Erfahrung des Lebens als Wille kennen lehrt,

Er ist ein Allgemeinbegriff, der auf die denkbar einseitigste Art gebildet ist, indem bei seiner Abstraction von allen den wesentlichen Beziehungs­ punkten, welche die einzelnen Willensacte als solche charkterisiren auf die gedankenloseste Art abgesehen

und

nur

das Wort im Auge behalten

wurde, womit man sie zu bezeichnen pflegt.

Der Schopenhauersche Wille

ist daher kein vollständiger Allgemeinbegriff, denn ein solcher müßte jene characteristischen B^erkmale der einzelnen Willensacte, wenn auch in allgemeiner Form, in sich enthalten; er enthält in Wahrheit gar keine dieser Merkmale, er ist eigentlich gar kein Allgemeinbegriff, er ist viel­

mehr eine reine Fiction, die mit dem abstrahirten Worte „Wille" einen ganz anderen Inhalt verbindet, als die Erfahrung aufweist.

Es ist dies

der Gedanke eines ganz richtungslosen Könnens, der Potenz überhaupt, der in der Vorstellung scheidet, was in Wirklichkeit nicht geschieden werden

kann, der nur dadurch entstanden ist, daß man allem Wirklichen ein Mög­ liches vorandenkt, eine Fähigkeit zum Wirken, die doch aller derjenigen

Bestimmungen bar sein soll, welche Inhalt und Richtung des Wirkens be­

dingen.

Auch das Wollen ist eine Form des Wirkens und wie dieses

in allen Fällen inhaltlich bestimmt.

Der Schopenhauersche Begriff „Wille"

sieht von allen diesen inhaltlichen Bestimmungen und von den BeziehungsPunkten ab, welche in allen Fällen den Inhalt der einzelnen Willensacte bestimmen und sie dadurch erst zu Willensacten machen, er hält nur

das Wort Wille fest und verbindet damit die unklare und in

sich selbst widerspruchsvolle Idee wollen.

der bloßen Möglichkeit zu

Diese Idee ist eben deshalb ganz leer und inhaltlos, und

diese Leerheit.allein ist der Grund, der Schopenhauer veran­ laßt, den Willen als absolut frei und ziellos und über dem Causal-

gesetz erhaben hinzustellen, denn wenn man sich einmal denkt, daß jemand

der keine Vorstellungen und keine Gefühle, der mit einem Worte nichts hat, was er will oder wollen könnte und dennoch auf räthfelhafte Weife

auf den Einfall käme zu wollen, so würde das Resultat seines Wollens

völlig unberechenbar, sein Wille selbst absolut frei sein.

Die Richtung

seines Wollens würde in diesem Falle ebenso unbestimmt sein wie die Richtung deS Falls einer vertical auf glatter Ebene im stabilen Gleich­

gewicht stehenden Stange, welche demnach ohne Ursache auf unbegreifliche Weise zum Umfallen käme.

Fassen wir diesen Gedanken in aller Prä­

cision, so zeigt sich der innere Widerspruch, der darin liegt.

Wie nämlich

die Stange gar nicht zu Fall kommen könnte, ohne daß zuvor daS Gleich­

gewicht durch irgend welche Ursache ausgehoben und durch dieselbe Ursache die Richtung ihres Falles bestimmt würde, so ist es ganz undenkbar, daß jener fingirte absolut vorstellungs- und gefühllose Jemand überhaupt auf

den Einfall kommen könne, zu wolle«. Vielleicht ist es eine dumpfe Ahnung dieses Widerspruchs, welche Scho­

penhauer bestimmt hat, den Gedanken nicht in dieser Schärfe bestehen zu lassen, sondern seinem „Willen" wenigstens ein Minimum von Inhalt

zu gönnen, das nicht blos Wille ist.

Es ist dies „das Gefühl der

Leere, welches die Langeweile verursacht". Dieses Gefühl der Leere soll im „Willen" zuerst das Bestreben er­ wecken, etwas zu wollen, dasselbe ist das primum movens der Weltkomödie,

ohne welche das ganze Stück nicht gegeben werden, ohne welches der Wille

nicht zum Wollen kommen könnte.

Langeweile kann aber nur empfinden

wer das Bedürfniß der Unterhaltung, wer also überhaupt

Bedürfnisse

und Vorstellungen über Arten der Befriedigung derselben hat, denen er

den vorausgefühlten Werth solcher Befriedigung beilegt.

Sind wir aber

genöthigt, dem „Willen" derartige Bedürfnisse, Vorstellungen und Ge­ fühle beizulegen, so durchbrechen wir daS Princip; wir haben dann nicht mehr den reinen Willen, welcher blos will, sondern ein irgendwie,

wenn auch geistig vielleicht sehr niedrig organisirtes Wesen, welches

will, und dessen Wille eben deshalb nicht mehr absolut frei, sondern durch die Richtung bestimmt ist, in welcher jene Bedürfnisse liegen, die es zuerst zum Wollen anregen.

Nur durch eine Jnconsequenz kann

daher der „reine Wille" überhaupt erst zum Wollen kommen, durch eine

Jnconsequenz, welche den ganzen Grundgedanken umwirft und auf's Deut­ lichste zeigt, daß.es nur die Reflexe aus der Erscheinungswelt deS be­

wußten persönlichen Geisteslebens sind,

welche die Nacht des Ding an

sich: „Wille" in der Auffassung Schopenhauers insoweit erleuchten, als

man überhaupt etwas darin sehen kann.

-Deutlicher als durch diese Jn­

consequenz läßt sich die Falschheit des Grundprincips nicht darlegen, deut-

sicher nicht veranschaulichen, daß das ganze Princip nur ein After­

bild deL bewußten persönlichen Geisteslebens ist, welches sich von diesem lediglich dadurch unterscheidet, daß die Sphären

des Gefühls und der Vorstellung ihrer wahren Bedeutung ent­ kleidet und auf das denkbar kümmerlichste und dürftigste Maß

herabgedrückt sind, der Wille selbst aber zu einer nichtigen

Fiction degradirt ist. Die eigentlichen Inhalte des Lebens offenbaren sich nur im Gefühl. Vorstellung und Wille sind streng genommen nur die Formen, in denen

sich diese Offenbarung vollzieht.

Formen können aber nicht für sich

bestehen ohne die Inhalte, deren Formen sie sind; sie können nur für

sich gedacht werden,

indem man von den Inhalten des Lebens absieht.

Deßhalb war es unmöglich, die abstracte Form des Wollens zum inhalt­

lichen Princip der Welterklärung zu machen.

Der Grundgedanke Scho­

penhauers, daß der Wille das Wesen der Dinge an sich sei, mußte daher

an jenem innern Widerspruch scheitern.

Schopenhauer konnte daher seinem

Grundgedanken, welchen ausgeklügelt zu haben, er sich nicht genug be-

rühmcn konnte, doch nur dadurch eine Art Scheinexistenz verschaffen, daß

er die leere Stelle des ohne die Beziehung auf den Inhalt ganz unvoll­ ständigen Allgemeinbegriffs Wille mit dem allerdürftigsten Inhalt erfüllte, mit dem Gefühl der Leere, welches die Langeweile verursacht.

Er konnte

hoffen und hat sich darin nicht getäuscht, daß man über die Inkonsequenz der Substituirung dieses unscheinbaren Inhalts, ohne welchen der Weltproceß nicht in Gang kommen konnte, allenfalls hinwegsehen werde —

oder auch, was noch wahrscheinlicher ist, er hat sich durch dieses Taschen­ spielerstückchen selbst getäuscht.

Er entleerte, um den Schein seines falschen

Princips zu retten, das Leben und den ganzen Weltproceß alles Inhalts,

der ihm Werth und Bedeutung giebt, und verflachte und verödete seine Weltansicht, um sie in eine streng wissenschaftliche Form zu pressen.

Die

Formulirung des Schopenhauerschen Grundprincips bedeutet daher weiter

nichts als eine Entleerung und Zertrümmerung des inhaltlichen Moments

im Leben, welches dieses erst zum Leben macht und ihm Werth, Weihe und Würde verleiht.

Das Schopenhaucrsche

Grundprincip trägt den

Todcskeim des Nihilismus in sich, zu welchem dessen Ausgestaltung führte und dieses Kainszeichen des Nihilismus ist sein charakteristisches

Merkmal, das es von aller gesunden und normalen Auffassung des

Lebens unterscheidet.

Weil er von den Inhalten des Lebens gcdanken-

nnd gewissenlos abstrahirte, weil er statt diese Inhalte gewissenhaft zu

prüfen, seine Phantasie in nichtigen Gedankenspielereien abhetzte, deshalb kommt ihm das Leben selbst schaal und nichtig vor, schlechter als das

Nichtsein.

Der Gegenstand, mit dem sich die Schopenhauersche Philo­

sophie beschäftigt, ist daher nicht das inhaltvolle, lichte, bewußte persön­

liche Geistesleben, wie wir es unmittelbar in unS erleben, sondern das Spülwasser dieses Lebens, welches noch übrig blieb, nachdem er es durch

sein abgeschmacktes Grundprincip hindurch filtrirt hatte.

3.

Unerklärbar ferner ist vom Schopenhauerschen Stand­

punkte aus das Vorhandensein der thatsächlich wahrgenommenen

Erscheinungswelt und das Verhältniß dieser zum „Willen". Der bewußt- und geistlose Wille Schopenhauer'S hat, wie wir ge­

sehen, mit dem was wir als Wille in unS erleben, gar keine Aehnlichkeit, er ist allenfalls der blinden Naturkraft vergleichbar.

Aber auch diese

Analogie ist nur scheinbar, er ist noch ein gut Theil unvernünftiger als die blinde Naturkraft.

Dies zeigt sich mit großer Evidenz, wenn wir

die vorangestellte Frage in Erwägung ziehen.

Die Naturkraft hat we­

nigstens eine für jeden Fall ihres Wirkens unabänderlich bestimmte Rich­

tung, ihr Wirken regelt sich in allen Fällen nach universell und aus­

nahmslos geltenden Gesetzen, sie ist nicht unberechenbar, man kann sich auf sie verlassen.

Die Naturkraft, wenn sie auch nicht, wie die Materialisten

die Sache darstellen, selbstschöpferisch daS nach allen Richtungen hin

zweckvoll

gegliederte

Universum

hervorzubringen vermöchte,

kann doch

wenigstens von einer höheren Intelligenz als Mittel zur Hevorbringung eines solchen Universums benutzt worden.

Der „Wille" Schopenhauer'S

ist auch nicht einmal dazu tauglich, weil er principiell grundlos, keinen Gesetzen unterworfen, selbst inhaltlos und durch keine Motive bestimmbar sondern absolut frei und daher völlig unberechenbar

sein soll.

Wenn

man den Grundgedanken Schopenhauers consequent festhält, so steht man

daher bei Aufwerfung der vorangestellten Frage noch rathloser da als der Materialismus.

Der blinde „Wille" Schopenhauers ist nicht blos eine

falsche und nichtige, sondern auch ganz unfruchtbare Fiction.

Die

physikalischen Hypothesen über die Art und die Wirkungsweise der Natur­

kräfte,

wie der Materialismus sie zu Principien

seiner Welterklärung

benutzte, haben zwar auch, wie wir gesehen, keine universelle Geltung und leiden, metaphysisch aufgefaßt, an inneren Widersprüchen, aber sie waren

doch wenigstens fruchtbare Hypothesen, welche zur Aufhellung und Ver­ ständniß gewisser Gebiete der phänomenalen Wirklichkeit nicht unerheblich

genutzt haben.

Die Hypothese deS „blinden Willens" aber er­

weist sich ganz nutzlos und unbrauchbar, weil sie von Anfang

an eine Mißgeburt ist, welche, in dem Bestreben, etwas Identi­ sches im Wolle'n des Geistes und im Wirken der Naturkräfte zum

Ausdruck zu bringen, das Wesen beider verfälscht und verflacht.

Sie ist unvermögend, auch nur irgend welche Einzelheiten des Natur­ laufs, geschweige denn das Ganze desselben zu erklären, oder irgend welche neue Gesichtspunkte zum Verständniß desselben darzubieten. Alle Versuche, die Schopenhauer in dieser Richtung macht, gehören iifs Gebiet unfruchtbarer Mythenbildung. Es gehören dahin Erzäh­ lungen, wie die, daß „die Materie die Sichtbarkeit des Willens", „der Leib die Erscheinung desselben" sei; die Beschreibungen, wie der Jntellect durch die Vermittlung des Gehirns aus dem Willen entstehe; wie Raum und Zeit „Principien der Jndividitation" sein sollen; wie „jeder Orga­ nismus, Pflanze, Krystall ein einziger objectivirter Willensact" sei, eine „einheitliche platonische 3bce" darstelle; wie „außerhalb des Willens ein solches Reich der Ideen bestehen soll, dessen man durch gänzliche Lossagung vom Willen inne werden könne"; wie endlich „aus der Einheit des blinden Willens in allen Wesen" der Zweckbcgriff abgeleitet, und wie dieser stets „nur auf die Erhaltung der Gattung gerichtet sein müsse". Die Grund­ losigkeit aller dieser zum großen Theil ihrem Inhalt nach gar nicht ein­ mal verständlichen Reden liegt so offenbar zu Tage, daß es keiner ernst­ haften Widerlegung bedarf. Jedermann sieht die Unmöglichkeit der Behauptung ein, daß ein blinder grundloser Wille, zu dessen Wesen eben die Abwesenheit aller Ziele gehören soll, ein zweckmäßig gegliedertes Uni­ versum aus sich hervorbringen könne. Sind alle einzelnen Acte des Willens blind und richtungslos, so können sie sich unmöglich zu so inter­ essanten „Ideen" wie die „Organismen, Thiere, Pflanzen und Krystalle" erst objectiviren, denn es ist nicht abzusehen, wie durch die „Objectivation", noch dazu einen sehr dunklen und unbegreiflichen Vorgang, Vernunft und Inhalt in jene sinnlosen Acte gebracht werden könne. Das ganze „Pla­ tonische Ideenreich" ist ein gestohlener Flicken, der zu dem übrigen Muster des Schopeuhauerschen Systems nicht paßt. Der abstracte, leere Begriff „Wille" zeigt ebensowenig wie das Atom der Materialisten irgend welche Ansatzpunkte einer innerlichen Disferenzirung in sich, welche ihn zu einem specifisch und individuell bestimmten Wirken und zur Erzeugung der reichen und zweckvollen Btannigfaltigkeit der Naturproducte anregen könnte. Nicht einmal die Totalanschauungen des Raumes und der Zeit ist der „blinde Wille" aus sich selbst zu erzeugen im Stande, denn deren Entstehung setzt eine Vielheit für sich seiender Wesen voraus, welche ihre gegenseitigen Beziehlmgen nach Verhältniß ihrer individuellen Gesichts­ punkte, einer ursprünglichen Geistesanlage gemäß, räumlich und zeitlich aufzufassen, zu ordnen, und wegen der zwischen allen herrschenden Gesetz­ lichkeit in jene Totalanschauungen zusammenzufassen vermögen. Das Vor­ handensein der Individuen ist daher eine nothwendige Voraussetzung der

Entstehung der Raum- und Zeitanschauung, nicht aber können diese um­ gekehrt „Principien der Individuation" sein.

Es sind das alles bodenlose Phantasien, welche wohl den oberfläch­ lichen Leser zu blenden, nicht aber das unfruchtbare Grundprincip der

Willensphilosophie zu corrigiren und über sich selbst hinauszuführen ver­

mögen. Alle jene unter 1 bis 3 aufgeführten Widersprüche und Verkehrtheiten

die Kant^sche Unter­

suchte Schopenhauer dadurch zu verdecken, daß er

scheidung von Erscheinung und Ding an sich kritiklos acceptirte und den Hauptfactor seiner Rechnung, den Willen, in die unerkennbare Welt

der Dinge an sich verlegte, ihn aber trotzdem, je nach Bedürfniß, wieder als alten Bekannten behandelte und mit den Objecten der Erscheinungs­

welt ohne Bedenken in Connep treten ließ.

Er zerlegte durch jene Schei­

dung die Welt in zwei Theile, in deren einem die Unvernunft des blinden

Willens, in deren anderem Gesetz, Ordnung und Zweck alles Geschehen beherrschen sollen.

Trotzdem sollen beide Welten nicht nur mit einander

verbunden, sondern sogar ein und dasselbe sein, das eine Mal als Ding

an sich, das andere Mal als Erscheinung betrachtet.

Ein und derselbe

Willensact sott das eine Mal als unvernünftig und frei, das andere Mal als vernünftig und determinirt gelten.

Ich kann dies ganze, aller Logik

und allem gesunden Bkenschenverstande widersprechende Verfahren nicht

anderes bezeichnen als ein falsches Spiel, bei dem beide Spieler sich ge­

genseitig zu täuschen suchen, indem sie beide auf die Vergeßlichkeit des andern rechnen;

es ist ein conventioneller gegenseitiger Betrug, desserl

Zweck man nicht begreift, da doch keinem die Täuschung wegen der Wissen­ schaft des anderen gelingen kann.

Entweder ist der Wille frei oder er

ist determinirt, entweder vernünftig oder unvernünftig, zweckvoll oder zweck­

los, aber es kann nicht ein und derselbe Willensact zugleich frei und un­

frei, vernünftig und unvernünftig, zweckvoll und zwecklos sein. Ueberblicken wir das Gesagte, so erweist sich der Grundgedanke

Schopenhauers, in dessen Ausgestaltung dessen ganze Philo­ sophie besteht, nach allen Richtungen hin als falsch und un­ haltbar und das System verliert damit seine einzige Stütze.

Wie Schopenhauer sich durch dieses falsche Grundprincip das wahre

Verständniß alles Lebens verdarb, so verkannte er insbesondere auch das Wesen der menschlichen Freiheit,

in welcher

sich wie wir gesehen

haben, das Leben erst zur höchsten Blüthe entfaltet mid seinen reichsten

Inhalt offenbart.

Im freien Wollen vollzieht sich der active Lebensproceß,

in ihm tritt die wahre Natur des Menschen zu Tage.

Durch Verdeut­

lichung der in der menschlichen Freiheit gegebenen Voraussetzungen fanden

wir die Grundlinien unserer ganzen sittlich-religiösen Weltansicht fest und sicher in unserem Innern vorgezeichnet.

Schopenhauer verschloß sich dem

Verständnisse dieser Offenbarungen, indem er an die Stelle dessen, waS

wir unmittebar

als Wille in uns

erleben, die nichtige

Fiction eines

blinden grundlosen „Willens" substituirte, welcher gänzlich inhaltlos sein

soll; er substituirte dem wahren positiven inhaltvollen Begriffe der Frei­ heit den Unbegriff einer ursachlosen Selbstbestimmung.

Diese absolute

Freiheit des blinden Willens zum Leben ist die einzige Art von Freiheit, welche Schopenhauer überhaupt kennt.

Es ist das

dieselbe Art von Freiheit, welche wir von Anfang an aus dem Kreise

unserer Betrachtungen ausschlossen, da sie ein in sich selbst widerspruchs­

voller Begriff ist, der für das die wahre Freiheit characterisireude Gefühl

der sittlichen Verantwortlichkeit keinen Anhalt giebt. Nur durch eine Inkonsequenz,

welche das ganze Princip umwirft,

durch die weitere Annahme, daß der „Wille" die Langenweile empfinden solle,

werden.

konnte dieser

innere Leerheit der

erst zum Wollen getrieben

Als Product dieses blinden Wollens soll dann eine Welt der

Erscheinung hervorgetrieben werden, in welcher merkwürdigerweise Gesetz, Ordnung und Zwecke herrschen sollen, eine Welt zweckvoll gegliederter Wesen specifisch und mannichfach bestimmter Art, welche mit cinande.r in

gesetzlich geregelter Wechselwirkung stehen, sich gegenseitig erscheinen, fühlen, vorstellen, Pläne schmieden und Zwecke verfolgen, denen aber doch wieder

das Beste fehlt, was den Menschen erst zum Menschen macht, nämlich das Wollen, welches nicht dem Reiche der Erscheinung, sondern nur dem

Dinge an sich zukommen soll. ein Reich

von Automaten.

Das Reich der Erscheinung ist vielmehr Die vernunftlose Freiheit des Wollens

hat sich in der Schöpfung dieser unfreien Geschöpfe erschöpft.

Sie alle

sind angeblich einem blinden Fatalismus unterworfen, alle ihre Lebensäußernngen sollen durch ihre specifisch unabänderliche Natur bestimmt sein, durch ihren „intetligibetn Character", der ihr Wesen bedingt und ab­

schließt.

Die Freiheit soll in ihrem esse, d. h. in dem unvernünftigen

Willensacte liegen, der ihren intelligibeln Charakter schuf, nicht in ihrem operari, d. h. in dem, was sie selbst thun; sie selbst können nicht wollen, sondern es wird in ihnen gewollt; es wird in ihnen gewissermaßen nur

noch nachgewollt durch den ursprünglichen unvernünftigen Willensact, der sie ins Leben rief und sie so wollte, wie sie sind. Auch für diese Wesen

giebt es daher keine Freiheit, kein Wollen in dem Sinne, tote es die Erfahrung lehrt, für diese giebt eS kein Soll, fein Gewissen, keine Reue.

Gewissen soll nur „die aus dem Thun des Bkenschen erwachsende Selbsterkenntniß seines individuellen Wollens", „seines unabänderlichen indi-

viduellen Charakters" sein (Welt als Wille und Vorstellung Bd. I. S. 403), „Reue die Erkenntniß, daß der Mensch gethan habe, was eigentlich seinem intelligibeln Charakter nicht entsprach" (I. S. 679).

Mit einem Worte: ES

giebt für Schopenhauer auch in der Erscheinungswelt keine Freiheit und

keine sittliche Verantwortung. Freiheit

und

Gewissen, die

Grundlagen aller

Moral,

finden daher in der systematischen Weltansicht Schopenhauers

überhaupt keine Stelle.

Damit wäre unsere Kritik beendet, wenn nicht Schopenhauer versucht hätte, auf jener systematischen Grundlage eine neue Ethik zu begründen.

Obgleich wir die Haltlosigkeit des Fundamentes dieser neuen Ethik soeben ausführlich dargelegt haben, so wollen wir doch, um ihrem Urheber nach

allen Seiten hin gerecht zu werden,

auch die letztere selbst noch einer

kurzen Beleuchtung unterziehen.

Nur per nefas kam der „Wille" dazu, sich in die Vielheit der ein­

zelnen Wesen zu objectiviren. dieser Wesen in causalen und

Nur per nefas wurden die Functionen teleologischen Zusammenhang

gebracht.

Sehen wir, wie gesagt, von diesen Inkonsequenzen ab, um nur überhaupt eine Basis für die die weiteren Aufstellungen zu gewinnen, geben wir zu,

jene Wesen könnten aus dem blinden Willen entstanden sein und über­ haupt Ziele verfolgen, um zu fragen, welche Ziele sie vernünftiger- oder

sittlicherweise verfolgen könnten? so eröffnet uns Schopenhauer selbst zwei

Gesichtspunkte, welche die Armseligkeit seines Princips in characteristischer Weise enthüllen. Das individuelle Leben ist, nachdem es auf die angegebene Art alles Inhalts beraubt wurde, gänzlich nichtig und leer; auf die besondere

Gestaltung oder Erhaltung deö individuellen Lebens kann es daher nicht ankommen.

Wir erinnern uns nun, daß der Wille sich in dem „Plato­

nischen Ideenreiche" objectiviren soll.

„Die Gattungen und Ideen sollen,

die vollkommene Erscheinung und adäquate Objektivität des Willens sein",

„die Idee oder die Gattung soll daS sein, worin der Wille zum Leben eigentlich wurzelt und sich manifestirt, den Ideen allein kommt wahres

Sein zu".

„Wie die zerstäubenden Tropfen deS tobenden Wasserfalls

mit Blitzesschnelle wechseln, während der Regenbogen, dessen Träger sie sind, in unbeweglicher Ruhe feststeht, ganz unberührt von jenem rastlosen

Wechsel: so bleibt die Idee, d. i. jede Gattung lebender Wesen, ganz unberührt vom fortwährenden Wechsel der Individuen*)." Die Erhal­ tung der Gattungen soll daher der nächste Zweck sein, auf den *) Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. Aust. Leipzig. Brockhaus 1859. S. 550 cf. Bd. I S. 206. 214. 325. II S. 414. 582.

Bd. II

es ankommt.

Hunger und Geschlechtstrieb sollen die Hauptfactoren sein,

welche zu dessen Realisirung mitwirken.

„Der Mensch ist concreter Ge­

schlechtstrieb, da seine Entstehung ein Copulationsact, und dieser Trieb allein seine ganze Existenz perpetuirt und Zusammenhalt^ (II. S. 586). Dieser nächste Zweck, welcher dem Leben eine Art von Bestimmung

geben soll, wurzelt aber gar nicht in dem eigentlichen Grundprincipe des

Willens, sondern in dem „Platonischen Ideenreiche", welches in gar keinem

inneren Zusammenhänge mit jenem Grundprincipe steht, sondern diesem nur ganz grundlos und willkürlich associirt ist.

Es ist überdies, wenn

man eben von der Erinnerung an Plato und dessen Bestreben, den In­

halten des Wirklichen in den Ideen gleichsam eine angemessene Form zu geben, einem Bestreben, welches wohl der göttliche Plato, aber nicht

ein Schopenhauer hegen konnte,

der alle Inhalte verkennt,

jener begeistert war, gar kein Grund abzusehen,

von denen

warum denn die Gat­

tungen überhaupt erhalten werden sollen? was sie au sich bezwecken und

bedeuten? Soll doch das Ganze des Weltprocesses, dessen Phasen in jenen wiedererscheinen, sinn- und zwecklos sein! Wie kann jenen zufälligen Formen in denen der blinde Wille sich auswirkt, irgend welche Bedeutung beige­ legt werden?

Worin kann solche Bedeutung denkbarer Weise bestehen?

Die Gattungen selbst sind Begriffe und haben nichts davon, daß sie existiren,

weil sie kein eigenes Leben führen.

Der „Wille", ihr Urheber,

kann keine Freude an ihnen haben, da er ja blind ist und sie nicht sehen

kann.

Den Individuen endlich wird die Erhaltung der Gattungen, wenn

sie nicht irgend welche Nebenzwecke dabei haben, völlig gleichgültig sein,

jedenfalls an Bedeutung weit hinter ihren sonstigen individuellen Lebens­ zwecken zilrückstehen.

Die Erhaltung der Gattungen kann unmöglich Ziel

der sittlichen Bestimmung des individuellen Lebens sein, da diesem Ziele jede verbindliche Kraft und jedes Interesse fehlen würde.

Schopenhauer selbst scheint die Unfruchtbarkeit dieses ersten Gesichts­ punkts zur Begründung feiner Ethik eingesehen zu haben und begnügt

sich damit, jenes seinem Grundprincipe

zugesellte Reich der Ideen als

eine lichte Insel in dem trüben Ocean seiner systematischen Irrungen für

seine Gedanken über die Kunst behaglich einzurichten, um dieser darauf

eine von dem Treiben des vernunftlosen Willens unberührte stille Stätte zu bereiten.

Ich gehe über diesen Versuch hinweg und erwähne ihn nur

beiläufig als einen Beleg dafür, daß auch die Kunst in der vernunftlosen

Willensphilosophie Schopenhauers ohne allen Boden ist. Um die Ethik zu begründen, mußte er tiefer auf sein Grundprincip zurückgreifen.

Indem er dieses that, erndtete er nur die Früchte dessen,

was er zuvor gesäet hatte.

Erhalte das Leben durch sein unvernünftiges

Nun erscheint es ihm trostlos nnd öde,

Princip alles Inhalts entleert. schlechter als das Nichts.

Was bleibt ihm übrig, als alles Streben, den

einzigen denkbaren dauernden Zweck des Lebens, welches ja nur Leiden darbieten konnte, auf dessen Vernichtung zu richten?

Das Dasein er­

scheint ihm „als eine Verirrung von welcher man durch Erlö­

sung zurückkommen muß".

Dies ist der zweite Gesichtspunkt, welcher

den wahren ethischen Grundgedanken Schopenhauers enthält. Den Weg zu diesem Ziele hat er selbst in der Hauptsache eigentlich

nur angedeutet, erst sein Schüler Eduard von Hartmann hat ihn zu ebnen und systematisch auszubauen versucht, indem er die Fäden, welche Schopen­

hauer zu diesem Zwecke gedreht hatte, in ein künstliches Gespinnst zusammen­

flocht.

Die leitende Idee dieses systematischen Ausbaus, daß nämlich „die

Erlösung durch den Intellect geschehen müsse, hat Schopenhauer selbst schon ausgestellt.

Die volle Erkenntniß der Einheit des Willens in

allen Erscheinungen und der Nichtigkeit des Ganzen sott zum Quietiv alles und jedes Wollens werden,

sott die Abwendung vom Leben,

die Verneinung des Wollens bewirken.

Die Askesis erscheint Schopen­

hauer als Mittel hierzu ausreichend.

„Man hört auf zu wollen und er­

füllt sich mit Gleichgültigkeit gegen Alles."

„Man verneint zuerst den

Geschlecktstrieb: das Menschengeschlecht würde dann aussterben.

höchsten

Willenserscheinung in

der

Menschheit

würde Mim

Mit der auch der

schwächere Widerschein derselben in der Thierheit wegfallen; wie mit dem

vollen Lichte auch die Halbschatten verschwinden.

Mit gänzlicher Auf­

hebung der Erkenntniß schwindet dann auch von selbst die ganze übrige Welt in dttchts; da ohne Subject kein Object."

(Welt als W. und V.

I. S. 448. 449). Ich verspare mir die Widerlegung dieser absonderlichen Einfälle und

die weitere Besprechung der Schopenhauerschen Ethik, welche sich, nach

Zerstörung aller übrigen Inhalte, ausschließlich auf den Egoismus gründet (1. c. I. 434) bis zur Kritik der darauf basirten systematischen und voll­

ständigeren Ausführungen E. v. Hartmann's, zu deren Betrachtung ich

nun übergehe. Eduard von Hartmann hat den Grundgedanken Schopenhauers,

daß der Wille das Wesen des Dinges an sich sei, in einer Weise modificirt, welche von einschneidender Bedeutung auf seine Gedanken über die menschliche Freiheit werden mußte.

Er verwirft den Begriff des inhaltlosen

leeren Willens als eines selbständigen Wesens und damit auch die be­ dingungslose absolute Freiheit, welche Schopenhauer jenem beilegte.

Er

verwirft ferner die materialistische Entstehungsweise des Jntellects, welche Schopenhauer behauptete,

und

sucht

die Unvereinbarkeit des

Schopen-

hauerschen Grundgedankens mit dessen Jdeenlehre dadllrch zu beseitigen,

und zugleich den Mangel des ersteren dadurch zu heben, daß er Wille

und Vorstellung als coordinirte Attribute eines und desselben Urwesens, deS sogenannten Unbewußten, hinstellt. Wille und Verstellung sind jedoch auch in dieser Form, wie bei Schopenhauer, leere Abstractionen ohne Fleisch und Blut, die, ob­

gleich sie Attribute eines von ihnen verschiedenen Wesens

sein sollen,

dennoch als für sich seiende Realitäten behandelt werden, die mit einander in Action treten und den Weltproceß hervorbringen sollen.

Um dies be­

greiflich zu machen, muß ich einen kurzen Ueberblick der systematischen Grundgedanken Hartmann's vorausschicken.

Es werden drei Stufen des Willens unterschieden: 1.

Der reine Wille, „der sich zum Wollen verhält, wie die Potenz

zum Actus" (Philosophie deS Unbewußten 8. Auflage. 2.

Band II. p. 431).

Der leere Wille, das ist „der Moment der Initiative,

der

Zustand, in welchem der Wille zwar bereits aus der latenten Ruhe der

reinen Potentialität herausgetreten ist,

also dieser gegenüber sich schon

actuell zu verhalten scheint, aber doch noch nicht zur realen Existenz, zur

gesättigten Actualität gelangt ist" (1. c. p. 432). 3.

Der erfüllte Wille, das ist das eigentliche Wollen, welches sich

auf ein bestimmtes Object richtet.

Es werden ferner zwei Stufen der Vorstellung

oder Idee unter­

schieden: 1.

Die Idee im Zustande der reinen Möglichkeit, daö ist

die Idee in dem Zustande, wo sie, im Unbewußten zwar enthalten, aber noch nicht gewollt ist.

2.

Die wirkliche Idee, das ist die durch den Willen gewollte und

dadurch verwirklichte Idee (1. c. p. 447).

Wille und Vorstellung sollen in ihren ersten Stufen als reiner Wille und reine Idee zwar nicht als „Seiendes" sondern als etwas „Vorseiendes"

oder „UeberseiendeS" im Unbewußten

enthalten sein (1. c. p. 431).

Dies soll der Zustand des „Unbewußten" vor Entstehung der Welt sein. Der Wille ist auf dieser

ersten Stnfe noch

ohne angebbaren Inhalt.

Dieser noch inhaltleere Wille soll demnächst über das daß der Welt ent-scheiden.

Anders soll sichs mit der Idee verhalten.

Diese soll schon in

ihrem vorseienden Zustande den ganzen inhaltlichen Reichthum der späteren Welt, daS ganze was der Welt, in sich enthalten.

Es ist dies — man

höre und staune! — weiter nichts alS: „das logische Formalprincip".

Nota bene das logische Formalprincip in seiner dürftigsten Formulirung

durch den Satz der Identität und deS Widerspruchs (1. c. p. 441).

Wie kommt nun durch diese ruhenden Potenzen im Unbewußten der Weltproceß in Gang? Eduard von Hartmann verfährt hier an diesem wichtigsten Punkte

seiner Weltentstehungsgeschichte rein dogmatisch.

Er erzählt unS nur,

daß der „reine Wille" in den „Moment der Initiative", in das leere Wollen, in das Stadium des „Ringens nach dem Sein" eintrete, ohne

zu beschreiben, vielleicht auch ohne zu bedenken, wie? daö geschehen könne.

In der That kann es nach'der eigenen Definition nicht geschehen, denn der reine Wille soll ja eben

der Definition zufolge noch keine innere

Spannung, kein Moment innerer Differenzirung in sich enthalten, das ihn

dazu treiben könnte, nach einem Sein zu ringen, von dem er nichts weiß und fühlt. Nehmen wir jedoch, um eine Basis der weiteren Betrachtungen zu

gewinnen, an, eS sei so.

Der Zustand des leeren Wollens soll dann „ein

ewiges Schmachten uach Erfüllung sein, welche ihm nur durch die Bor­ stellung gegeben werden kann", er soll deshalb „absolute Unseligkeit,

Qual ohne Lust, selbst ohne Pause" sein (1. c. p. 434).

Diese Qual des

unbefriedigten leeren Wollens ist dann der eigentliche und einzige In­

halt, der erst auf dieser zweiten Stufe des Wollens eintritt, und die

Potenz zum eigentlichen Wollen treibt.

Der leere Wille soll nun „die

Ideen ergreifen", „welche", wie Hartmann weiter erzählt, „sich indem

Maße durch Selbstbestimmung aus ihrem Formalprincip heraus entfalten, wie sie durch den Willen in dessen Entwickelung nach einander realisirt werden", denn „wenn sie von Anfang an in alle Ewigkeit im Idealen zusommengeschachtelt lägen, so müßte ja der ganze Jdeenprast mit einem

Schlage auf einmal realisirt werden" (I. c. p. 444).

Dieser ganze Jdeen-

prost, das was der Welt, welches realisirt werden soll, soll nun aber wie

gesagt weiter nichts sein als das logische Formalprincip.

ES ist inter­

essant und characteristisch, zu verfolgen, wie aus diesem logischen Formal­ princip der Weltzweck abgeleitet wird.

Doch man wird mir nicht glauben,

wenn ich hier nicht den Autor selbst reden lasse: „Das logische Formalprincip in Gestalt des SatzeS der Identität

ist schlechthin unproductiv (daö A — A führt zu nichts); eS ist der Irr­ thum aller logistischen Philosophen gewesen, daß sie das logische Princip

für positiv schöpferisch hielten, und sich wohl gar einbildeten, durch dasselbe

zu einem positiven Inhalt der Welt, zu einem positiven Endzweck der­ selben gelangen zu können. geboreneS Kind (1),

Alle positive Teleologie ist deshalb ein todt-

weil der positive Zweck Schöpfung

des

logischen

Formalprincips im positiven Sinne sein müßte, letzteres in positiver Ge­ stalt aber durchaus unschöpferisch ist, ja von sich aus nicht einmal zu Preußische Jahrbücher. Bd.XVIX. Heft 2.

12

einem Processe käme, sondern in der reinen Identität mit sich selbst be­

harren müßte. Anders die negative Gestalt.

In dieser freilich kann das logische

Formalprincip sich erst dann bethätigen, wenn ein Unlogisches vorhanden

ist, gegen welches das Logische mit seiner ^Legation sich erheben kann. Der innere Widerstreit deS leeren Wollens, das wollen will und doch nicht kann, das Befriedigung anstrebt unb Unbefriedigung erlangt, ist ein solches Unlogisches; das Wollen selbst ist die Negation deS Satzes

der Identität (!), indem es das Verharren der Identität mit sich selbst

umstößt, und fordert, daß A (die reine Potenz) nicht A bleibe, sondern

sich zu B (den Actus) verändere, cs ist also die Negation des positiv

Logischen, und fordert damit das logische Formalprincip zur Betheiligung im negativen Sinne heraus. selbst, es sagt:

Das Logische negirt die Negation seiner

„Der Widerspruch (nämlich gegen mich, das Logische) soll

nicht fein"! und indem es das sagt, setzt es sich eben damit den Zweck, nämlich die Aufhebung des Unlogischen, des Wollens (!!). Das ist also

nach

Hartmanns Ansicht der

vom

Anfang

bis znm Ende des Processes sich unverändert gleichbleibende Weltzweck des allweisen Unbewußten, das; der Satz der Iden­ tität nicht verletzt werde! — Der Satz der Identität, der doch richtig

verstanden, nur besagt, daß jeder denkbare Inhalt sei, was er sei, daß also: Seiendes: Seiendes, Veränderliches: Veränderliches, Wollendes:

Wollendes sei; der keineswegs lehrt, daß jeder Inhalt unveränder­

lich sein und bleiben müsse, dem also das Wollen überhaupt gar nicht im Mindesten widerspricht! Diese Erzählungen, welche uns Hartmann nicht etwa scherzweise

sondern mit tiefem Ernste als letzte Ergebnisse seiner esoterischen Weis­ heit vorträgt, gestatten uns einen tiefen Einblick in den innersten Ge­

dankenkern des speculativen Neubaus, womit der berühmte Autor unser unterhaltungsbedürftiges Publicum beschenkt

hat.

Wir ersehen

genug

daraus, um die trostlosen Consequenzen desselben vollkommen begreiflich

zu finden.

Auch hier ist, wie bei Schopenhauer, die Leerheit und In­

halt losigkeit des Grundprincips und deS

ganzen Gesichtskreises der

wahre Grund des proclamirten Nihilismus.

Leere personificirte Allge­

meinbegriffe bilden hier, gleich wie bei Schopenhauer, das letzte Princip

der Welterklärung.

Das stumm im Hintergründe dastehende Unbewußte,

dem jene als Attribute aufgeheftet sind, ist nichts als ein vinculum sub-

stantiale zwischen beiden, es ist nur eine fingirte Substanz, welche die Ungereimtheiten der Personification jener Allgemeinbegriffe „Wille" und

„Vorstellung" verdecken soll.

Auch hier ist die blinde Unvernunft

eines leeren ziellosen Wollens das active schöpferische Princip, auch

hier ist daS Was der Welt, daS logische Formalprincip, ähnlich wie das

„Platonische Ideenreich" bei Schopenhauer unvermittelt neben den blinden Willen gestellt, denn durch die obige Erzählung ist doch nicht im Min­ desten begreiflich gemacht, wie der leere Wille sich auf die Idee richten und diese stückweise „ergreifen" und „realisiren" könne.

Der leere Wille

will den Schmerz beseitigen, der ihn quält; wie er aber dazu komme, diesen Schmerz successive in eine immer deutlichere Vorstellung des lo­

gischen Formalprincips umzuwandeln und dadurch eine successive Befrie­

digung zu erlangen; wie ferner durch diesen Proceß des successiven Wollens und Verwirklichens des logischen Formalprincips die concrete Fülle der

wirklichen Weltwesen und das wirkliche Geschehen, welches unseren Ge­

sichtskreis erfüllt, entstehen können, das Alles bleibt nicht nur völlig im Dunkeln, sondern erscheint als eine baare, blanke Unmöglichkeit.

Nur

das wird uns aus jener abgeschmackten Kosmogonie völlig klar, daß Hart­ mann sich dadurch allen Sinn und alles Verständniß für die specifische

Bedeutung und den specifischen Sinn alles Lebens und aller Wirklichkeit gründlich verderben mußte, insoweit daran überhaupt noch etwas zu ver­ derben war. In der That geht bei Hartmann mit jener geistlosen Mythologie das Bestreben Hand in Hand, alle Lebensinhalte principiell zu

cntgeistigen und zu entleeren, damit das ganze Terrain für den Nihilismus geebnet werde.

Um zunächst jede Erinnerung

bewußte Geistesleben

an das helle,

auszulöschen, dessen unmittelbarer Beobachtung doch alle Factoren seiner

systematischen Evolutionen stillschweigend oder ausdrücklich entlehnt sind, verlegt er das eigentliche Wollen und Vorstellen in das mysteriöse Gebiet des Unbewußten,

aus dem das Bewußtsein dann rückläufig durch den

Proceß der Organisation abzuleiten versucht wird.

Wollen und Vorstellen,

beides Acte des bewußten persönlichen Geisteslebens und nur als solche, als lebendige Zustände lebendiger Wesen begreiflich, werden von diesen Wesen losgelöst und als selbständige Infinitive für sich hingestellt, auö

denen dann die Wesen, deren Zustände jene ursprünglich waren und allein sein können, nebst dem Bewußtsein, unter dessen Mitwirkung sie selbst erst entstehen können, reconstruirt werden.

ES ist nicht anders, als wenn

man die Geschichte, die ein Mensch erzählt hat, als das Ursprüngliche betrachten und aus dieser Geschichte dann den Menschen, der sie erzählt

hat, als etwas Sekundäres entstehen lassen wollte.

Ich erwähnte schon

friiher, daß man Wesen und Bedeutung des Wollens und Vorstellens erst vollständig aus der ganzen Natur des wollenden und vorstellenden Geistes

Diese Möglichkeit wird durch jene Loslösung und Per-

begreifen könne.

sonification der Allgemeinbegrtffe Wille und Vorstellung ausgeschlossen.

Die Folge ist, daß jene nun mit dem dürftigsten Inhalte ausgestattet werden: der Wille wird zum unvernünftigen, ziellosen Drange, die Vor­

stellung wird zum logischen Formalprincip. Als könnte ein zielloser, vernunftloser Drang die sinnvolle Welt her­

vorbringen!

Als könnte aus dem logischen Formalprincip die inhaltliche

Vielgestaltigkeit des Wirklichen hervorgehen!

Vorstellen und Wollen sind doch nur die Formen, in denen die Ge­ fühlsinhalte des Lebens sich realisiren.

Um für diese eine Basis zu

gewinnen, knüpft Hartmann an die Qual, welche das unbefriedigte leere Wollen verursachen soll.

Lust und Unlust, ihrer specifischen Art nach so

vielgestaltig und incommensurabel wie die Ereignisse, welche sie erzeugen, werden aller dieser specifischen Verschiedenheiten entkleidet und nur als Grade der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des blinden, inhaltleeren

und deshalb stets gleichförmigen „Willens" hingestellt, dem jeder Maßstab

der Werthschätzung fehlt.

Dadurch wird dann der Ansatz zu dem Rechen-

exempel ermöglicht, daß die Totalbilance der Summe aller Lust und Un­ lust nothwendig ein negatives Resultat ergeben müsse, welches mit großem Aufwande von Sophistik an allen Einzelheiten des Lebens durchgeführt

wird.

Daraus wird dann gefolgert, daß das Leben im Ganzen und das

Leben aller Einzelnen werthlos und schlechter als Nichts sei. Ich halte die hiergegen schon früher*) aufgestellten Bedenken zurück und wende mich sogleich der Frage zu, was denn innerhalb dieser Welt­

ansicht des Nihilismus Freiheit und sittliche Verantwortlichkeit bedeuten? ES ist zweifellos ein Verdienst Hartmann's, daß dieser auf die Un­

haltbarkeit der

bedingungslosen

Freiheit des Schopenhauerschen leeren

Willens hingewiesen, daß er überhaupt die Nichtigkeit und ethische Be­ deutungslosigkeit des liberum arbitrium indifferentiae mit aller Schärfe

hervorgehoben hat.

Er stellte sich dadurch auf einen ganz anderen Boden

als Schopenhauer.

Obgleich er behauptet, daß der Mensch in seinem

Wollen determinirt sei „wie der fallende Stein", so erkennt er doch an, daß demselben die Fähigkeit beiwohne, unter mehreren gleichzeitig auf ihn einwirkenden Motiven zu wählen, und daß man durch Lehre, Erziehung, Selbstbeherrschung

u. bergt,

auf die desfallsigen Willensentscheidungen

*) Das geschah besonders in einem Aufsätze: „Der Pessimismus und da« höchste Gut", ®b. XLV1 Heft 5 S. 480 sqq. der Preußischen Jahrbücher, aus welchen ich der Kürze halber verweise. Vergleiche auch hierzu und zu dem Folgenden: meine gekrönte Preisschrift „Pessimismus und Sittenlehre". Haarlein. 1882.

einwirken könne.

Er erkennt daher das Vorhandensein der Frei­

heit der Sache nach an und vergreift sich nur im Ausdruck, wenn er trotzdem alles Wollen determinirt nennt.

Aber dieser falschen Bezeichnung

liegt doch, wie sich bald herausstellen wird, ein Mangel in der sachlichen Auffassung zu Grunde, der den ganzen Freiheitsbegriff Hartmann's entIst es zwar richtig, daß jede Willensentscheidung schließlich da­

werthet.

durch zu Stande kommt, daß man das durchschlagende Motiv vor den anderen gleichzeitig einwirkenden Motiven bevorzugt,

daß deßhalb auch

eine alle Motive und den ganzen Charakter des Wollenden bis in die

feinsten Züge durchschauende Intelligenz in der That voraussehen könnte,

was jener in jedem Falle wollen werde, so wird doch der Wollende selbst

durch solche Voraussicht einer überlegenen Intelligenz darum in seinem

Wollen keineswegs determinirt. seinen

Willensentscheidungen,

existiren

und

seine

Er ist ebenso frei und verantwortlich in mag

eine

Willensentscheidungen

überlegene

Intelligenz

vorauswissen

oder nicht.

solche

Selbstverständlich ist eine derartige Vorausberechnung um so leichter und einfacher, je einfacher und leerer der Wille gedacht wird, dessen Wahlent­ scheidungen in Frage kommen. eS Eduard von Hartmann thut,

Denkt man sich daher den Willen, wie lediglich durch die stets gleichförmige

Triebfeder des Egoismus und rein äußerliche Motive bestimmt, so werden alle Wahlentschcidungen wegen ihrer leichten Berechenbarkeit in der That

den Eindruck hervorbringen, als seien sie determinirt, denn die Freiheit der Wahlentscheidung wird um so enger, je enger der Spielraum für die Entfaltung des wahren specifischen Menschwesens zusammengerückt wird,

da nur innerhalb dieses Spielraums wahre positive Freiheit walten kann.

Die Leerheit des Hartmannschen Willens ist daher der eigentliche Grund jener falschen Bezeichnung, sie ist der Grund dafür, daß Hartmann nur zwischen Determinismus und Indeterminismus unterschied, daß er nur

die negative Bedeutung des Freiheitsbegriffs gelten, die wahre positive Bedeutung aber, wie die unmittelbare Lebenserfahrung sie offenbart, ganz

unbeachtet ließ. Dies wird noch anschaulicher und deutlicher, wenn wir den Willen,

wie wir denselben thatsächlich in uns erleben, mit dem Hartmann'schen „Willen" vergleichen.

Der Wille, wie wir ihn in uns erleben, ist bewußter Wille und

wesentlich durch das ihn stets begleitende Gefühl der Verantwort­ lichkeit characterisirt.

Der Hartmannsche Wille ist im Princip unbe­

wußt und nicht durch

das Gefühl der Verantwortlichkeit characterisirt.

Die Hartmannsche Freiheit ist daher nur ein Accessorium

des Willens,

das

nicht zu dessen Wesen gehört;

die Hart-

mannsche Freiheit ist nicht die sittliche Freiheit, wie die un­ mittelbare Lebenserfahrung sie erkennen läßt, und ermangelt

daher der Bedeutung, welche dieser innewohnt. Wie eng der Begriff der Freiheit mit dem Gefühle der Verantwort­ lichkeit verknüpft ist, und wie die wahre positive Freiheit nur als sittliche Freiheit begriffen werden könne, habe ich im ersten Abschnitt darzulegcn Hier an dem Beispiele der Hartmannschen Freiheit wird uns

versucht.

das Gesagte noch einmal klar vor die Seele geführt.

Der Schwerpunkt

dessen, was Freiheit ist und bedeutet, liegt im richtigen Verständniß

dessen, was wir in uns erleben, ohne das

indem wir wollen.

stärkere oder schwächere Gefühl der

Wir wollen nie

Verantwortlichkeit,

und

in diesem Gefühle liegt aller Werth und alle Bedeutung des Wollens; durch dieses Gefühl wird der Wille

Gefühl der Verantwortlichkeit

wir frei

erst zu

unserem Willen.

Das

liefert den unumstößlichen Beweis, daß

sind in unserem Wollen und nicht determinirt, daß wir

eigenartige Wesen von specifisch bestimmter Natur, daß wir moralische Wesen sind.

Dieses Gefühl fehlt Hartmann, und er konnte deshalb nicht zu dem

wahren Begriffe der Freiheit durchdringen; es fehlt ihm, weil er sich

durch seine theoretischen Irrthümer das Verständniß der wahren Inhalte und Ziele des Lebens verdorben hat.

Es ist unmöglich, auf der Grund­

lage dieser also verstümmelten trostlosen Weltansicht eine Ethik zu ersinuen,

und dem Willen einen auch nur einigermaßen respectabeln Inhalt, der Freiheit des Wollens eine Bedeutung zu geben, welche auch nur einiger­

maßen mit dem verglichen werden könnte, was die unmittelbare Lebens­ erfahrung als solche kennen lehrt. Der leere Wille und das logische Formalprincip sind die ursprünglichen Faktoren der Hartmannschen Weltansicht. will nur sich selbst, er ist weiter nichts als Egoismus.

Der leere Wille Alle Gefühle,

welche dem Leben Inhalt geben, sind auf die angegebene Art in Willens­

befriedigungen oder -Nichtbefriedigungen zerlegt, in Gefühle der Lust oder Unlust, welche nur dem Grade, nicht aber der Art nach verschieden sein

sollen.

Der Egoismus ist daher die einzige noch übrig geblie­

bene Triebkraft.

Das aller Inhalte entleerte Dasein selbst ist eine

Qual; der Egoismus des Individuums kann nur noch darauf gerichtet

sein, dieser Qual des Daseins zu entrinnen.

Wir sehen, die Weltansicht

Hartmanns ist durch dessen Philosophie in gleicher Weise verödet und

entleert, wie diejenige Schopenhauer's; aller Sinn und alles Verständniß

für die höheren Regungen des Lebens ist ertödtet; der vernunftlose Wille, das Analogon der Naturkraft, und die logische Idee, das Analogon der

Naturgesetze,

documentiren die Berwandtschaft mit dem Materialismus

und beherrschen den ganzen Gesichtskreis. Aber es ist doch noch ein Unterschied vorhanden. Die Idee, welche bet Schopenhauer nur ein Parasit des Willens war,

ist von Hartmann als ebenbürtiger Factor, als ein dem Willen coordi-

nirteS Attribut, in die Weltsubstanz ausgenommen.

Dadurch ist dieser

eine Handhabe gegeben, das Hartmann und Schopenhauer gemeinsame Ziel, die Vernichtung „dieser durch und durch elenden Welt", welches letz­

terem nur durch Askese und Verneinung des Willens zum Leben erreichbar schien, umgekehrt durch active Lebensentfaltung zu er­

reichen.

Wir erinnern uns, daß der Weltproceß dadurch entstanden sein

soll, daß das eine der beiden „Attribute", welches ursprünglich als „reiner Wille" ganz friedlich mit dem anderen, „der logischen Idee", vereint im

Unbewußten schlummerte, sich plötzlich auf unerklärliche Weise zum „leeren Wollen" erhob, die Qual des Daseins in's Leben rief und durch seinen angeblichen Widerspruch gegen den Satz der Identität das Gleichgewicht

beider Attribute stören sollte.

der

ethischen

der logischen

Grundidee Idee

zu bekämpfen

sein,

und

Diese seltsame Geschichte enthält den Keim

Nun soll

Hartmann's. den

durch

Willen, völlige

es

nämlich

Sache

„das alogische Princip" Besiegung

des

Willens,

durch Vernichtung der Welt, der Schöpfung des Willens, das

Gleichgewicht im Absoluten wieder herzustellen.

tiefste metaphysische Grundgedanke der

Hartmann'schen

Dies ist der

Ethik, der sich

practisch auf die Weise realisiren soll, daß alle „in den lebendigen Wesen

concentrirten Strahlenbündel des Willens" tigkeit alles Bestehenden kommen

Setzung der Welt wieder aufheben.

und

zu der Einsicht in die Nich­

dann durch Generalbeschluß

die

Dann ist die Qual des Daseins

und mit ihr das Bewußtsein erloschen, das Gleichgewicht im Unbewußten wieder hergestellt.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird auch das sonst nur als metaphy­

sischer Anheftungspunkt für die beiden Attribute benutzte Unbewußte mit

in die Action gezogen. nicht vor der Zeit schon

Damit nämlich der Wille in den Einzelwesen

allen Humor

verliere und

zum Selbstmorde

schreite, wird ihm angeblich vom Unbewußten zunächst ein „Instinkt zum Leben" und dann eine Reihe von Illusionen „vorgespiegelt", die dazu dienen sollen, ihn zur Thätigkeit anzuregen.

Dies ist die erste Stufe

des ächten sittlichen Bewußtseins, auf welche sich ganz abgesehen

von den Zielen der Sittlichkeit die Kräfte des Individuums erst entfalten und zu späterem Gebrauche entwickeln sollen.

In der „Phänomenologie

des sittlichen Bewußtseins" werden diese Präliminarien der eigentlichen

Sittlichkeit in den Capiteln über Geschmacks-, Gefühls- und Vernunft­ moral sehr ausführlich behandelt und in einer ganzen Reihe aufsteigender Moralprincipien anschaulich dargelegt.

Wenn das Individuum dann soweit

erstarkt ist, daß es zur eigentlichen Sittlichkeit reif erscheint, so durchschaut

es alle jene Illusionen und läutert sich durch die Einsicht, daß alles eitel

sei, was es für sich erlangen könne, zur „ Selbstverläugnung" empor. Es kommt dann, da es doch der Unterhaltung dringend bedürftig ist, zu­ nächst auf den Einfall, das Wohl anderer zu fördern und tritt damit in

das zweite Stadium, wo es sich um die „Ziele der Sittlichkeit"

handelt.

Von einem Wohl der einzelnen Anderen kann hier vernünf­

tigerweise keine Rede sein, da ja das Leben aller überwiegend Qual ist.

Es werden daher „Individuen höherer Ordnung" creirt: Familie, Orts­

gemeinde, Provinz, Staat und Menschheit, denen ein selbständiges Be­ dürfniß nach Culturentwickeluiig beigelegt wird, und für welche die Be­

griffe von Vollkommenheit und Glückseligkeit zusammenfallen sollen, welche

im Einzelindividuum einander widerstreiten.

Die Menschheit soll so orga-

nisirt sein, daß die Culturentwickelung stets das Wohl der übergeordneten Individuen fördert. Weltordnung".

Dies offenbart „das Moralprincip der sittlichen Culturentwickelung ist demnach das höchste sichtbare Ziel.

Die Motivationskraft dieses Strebens nach Beförderung des Wohls der Menschheit kann jedoch Hartmann erst dadurch erklären, daß er es wieder auf den Egoismus zurückführt.

Erst durch die Einsicht,

„daß ich mit allen anderen Wesen im Grunde identisch bin", durch die

Erkenntniß des „substantiellen Monismus des Wesens", erst dadurch, daß ich einsehe, daß ich ja in der That mein

eigenes

Wohl fördere,

wenn ich das Wohl der anderen fördere, soll ich ein verständ­

liches, das gewinnen.

einzige verständliche Motiv

meines sittlichen Wollens

Hartmann nennt daS Liebe, und bedenkt nicht, daß es nur

verkappte Eigenliebe ist, waS er so bezeichnet, während die wahre Liebe

ihr Glück gerade darin findet, daß sie das Wohl des anderen als eines anderen fördert.

Der wahre „Urgrund" der Sittlichkeit ist und

bleibt also der

Egoismus,

aber ein unter dem vielverheißenden Worte

„Liebe" versteckter KrhptoegoiSmus, da der offene ehrliche Egoismus sich als ethisch bedeutungslos erwiesen hat. Das wahre höchste Ziel der Ethik soll die Eudämonie des Ab­

soluten sein, welche das Individuum blos deshalb anstreben soll, weil

es sich selbst als Theil dieses Absoluten begreift, und diese Eudämonie

kann nicht positiver, sondern nur negativer Art sein, Erlösung von der

Qual des Daseins.

Der „Gottesschmerz des Absoluten" soll durch

die zwar schmerzliche aber gründliche Radicalcur

deS Weltprocesses be-

fertigt werden und wir, die Individuen, sollen durch unsere sittliche Le­ bensarbeit an der Abkürzung dieses Leidens- und Erlösungsweges mit­ arbeiten.

Ich will meine Leser hier nicht mit der Widerlegung aller der halt­

losen Künsteleien, Widersprüche und Unmöglichkeiten ermüden, aus denen dieser wunderliche ethische Neubau zusammengezimmert ist*).

Sehen wir

ganz davon ab und prüfen nur den ethischen Gehalt deS Endziels und

der zahlreichen Zwischenstationen und Vorstufen, so treffen wir überall auf hohle Phrasen und erkünstelte verschrobene Gesichtspunkte.

Nirgends

begegnet uns ein großer und erhebender Gedanke, nirgends ein Inhalt,

der uns durch seinen Eigenwerth imponieren, geschweige denn ein Gefühl der Achtung und Würde in uns erwecken könnte.

Die Blasirtheit eines

in sich bankerotten, mit sich und der Welt zerfallenen GemütHS wird als Selbstverläugnung angepriesen, die specifischen Werthgefühle, in denen

unser wahres Menschenwesen sich offenbart, werden als Illusionen dar­

gestellt, welche uns das Unbewußte Vorspiegeln soll, um unser Leben seinen Zwecken dienstbar zu machen; dasselbe Unbewußte, welches prin­ cipiell weder Vorgedanken noch Nachgedanken, sondern gar keine Gedanken

und also auch keine Zwecke haben kann.

Die Liebe wird ihrer specifischen

Bedeutung entkleidet und auf einem metaphysischen Umwege aus dem Egoismus erklärt. aller

Der Zweck des Ganzen aber, das letzte Ziel

ethischen Bestrebungen soll darauf hinausgehen,

ein

fingirtes Unbewußtes zu erlösen, durch dessen eigene Dumm­

heit alles Elend in der Welt verschuldet sein soll, ein Unbe­ wußtes, das uns nicht einmal die gleiche Theilnahme zu erwecken vermag wie der getretene Wurm, weil uns der Schmerz dieses letzteren verständ­

licher ist als die theoretisch zusammengekünstelte Oual jener unbewußten Spottgeburt von Wille und Vorstellung. Es ist offenbar: kein gesunder

und verständiger Mensch kann sich

für ein so abgeschmacktes Ziel begeistern.

Durch die Zerstörung aller

Inhalte und Werthe des Lebens fällt Alles zweck- und ziellos auseinander, und das Leben selbst verliert alle Haltung und alle Bedeutung.

der Bedeutung

Mit

deö Lebens schwindet dann selbstverständlich

auch die Bedeutung der Freiheit, und der sittlichen Verant­

wortlichkeit in nichts zusammen.

*) Ich verweise in dieser Beziehung aus meine Recension der ..Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins" in de» Göttinger gel. Anzeigen Stück 16 Jahrgang 187!) @. 483— 502 und auf meine Abhandlung: „Die Ethik des Pessimismus" Preuß. Jahrb. Bd. XLIII Heft 4 S. 375 sqq. sowie auf die Preisschrist „Pessimismus und Sitte»!ehre".

174

Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit rc.

Bestand das Wesen der Freiheit in der Fähigkeit, unter mehreren

gleichzeitig

auf

uns einwirkenden Motiven nach eigenem Ermessen zu

wählen, so bestand deren Bedeutung darin, daß wir durch die stete consequente Ausübung dieser freien Selbstbestimmung eine sittliche Be­

stimmung zu erfüllen haben, welche ein Gut von unbedingtem Werthe repräsentirt und eben dadurch dem Sittengesetze die

verbindliche Kraft, unserem Leben Weihe und Würde verleiht. In dem Bewußtsein dieser Würde des wahren Menschwesens besteht das

Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit, welches all unser Wollen begleitet und der menschlichen Freiheit ihren specifischen Character giebt.

Eduard von Hartmann hat das Wesen der menschlichen Freiheit nach der formalen Seite richtig erfaßt, aber er verkennt deren Bedeutung, weil er die Bedeutung des wahren Menschwesens verkennt.

Das Endergebniß

unserer

Kritik

der

betrachteten Einnwendungen

gegen Wesen und Vorhandensein der Freiheit kann daher nur die Ueberzeugllng in uns befestigen, daß das wahre Verständniß der Frei­

heit nur allein durch das Verständniß des wahren Mensch­ wesens erlangt werden könne. Hugo Sommer.

Unsichtbare Feinde. „Der Luft, dem Wasser und der Erden entwinden Tauserld Keime sich" — als Goethe diese Worte schrieb, ahnte er wohl kaum, wie sehr

die Erforschung der organischen Keime die heutige Naturwissenschaft be­ schäftigen würde, in wie hohem Maaße das Wohl und Wehe des Men­ schengeschlechts von gewissen pflanzlichen Organismen, die in „der Luft, dem Wasser und auf der Erden" in unzählbaren Mengen sich vorfinden, abhängig ist. — Leeuwenhoek in Delft war der Erste, der im Jahre 1675

jenes weißliche, auf stehendem Wasser welches organische Materie enthält — (und

geringe Quantitäten

organischer Substanz

enthält

selbst das

klarste Regenwasser) — nach einigen Tagen sich bildende Häutchen mit

dem neuerfundenen Mikroskop untersuchte und zu seinem Erstaunen fand, daß diese scheinbar leblose Substanz sich bei genauerer Untersuchung in

zahllose bewegliche Kugeln und Gestalten auflöst.

Zuerst hielt er diese

winzigen beweglichen Körper für die „lebenden Atome der Welt"; später betrachtete er sie alö kleine Thiere und nannte sie dementsprechend „Ani­

malkula".

Schon damals vermuthete man, daß diese winzigen Gebilde

auch in der Luft enthalten seien und kam zugleich auf die Idee, daß die­

selben mit der Verbreitung gewisser Krankheiten in causalem Zusammen­ hang stünden; man sprach von „Pestlern", „Leibkneiflern" und bergt, mehr,

ja ein Engländer machte in 1676 allen Ernstes den Vorschlag, diese ge­ fürchteten Feinde gleich den Heuschreckenschwärmen, mit Pauken, Trom­

peten und Kanonen zu verjagen! — Ehrenberg, der in unserem Jahr­

hundert die in Frage stehenden

minutiösen Organismen zuerst

einer

genaueren mikroskopischen Untersuchung unterwarf und ihnen wegen ihrer

eigenthümlichen schwingend-zitternden Bewegung den Namen „Vibronen" (Zitterthierchen) beilegte, rechnete dieselben noch zu den Infusorien und erst der neuesten Zeit gelang eö — Dank den unermüdlichen Forschungen

so vieler ausgezeichneter Männer — über die pflanzliche Natur dieser

Gebilde in'S Klare zu kommen.

Wir wollen im Nachstehenden versuchen,

das Wichtigste, was über Formgestaltung, Eigenschaften und Verbreitung dieser niederen Pilze — denn als solche werden sie nunmehr von der

Naturwissenschaft

allgemein anerkannt — bis jetzt

mit einiger Sicher­

heit festgestellt ist, hier in seinen Hauptumrissen darzulegen.

Wenn ein organisches Wesen abstirbt, wenn das, was wir unter

„Leben" verstehen, aufhört, beginnen bekanntlich Stoffumwandlungen, die wir mit dem Namen „Fäulniß" oder „Verwesung"

bezeichnen und die

erst dann zu einem vollständigen Abschluß gelangt sind, wenn die organi­

schen Substanzen sich gänzlich in Wasser, Kohlensäure und Ammoniak und in ihre Aschenbestandtheile

(mineralische Salze) aufgelöst haben.

spielt sich bei dieser Gelegenheit

eine Reihe von Processen ab,

Es deren

eigentliches Wesen noch nicht aufgeklärt ist, von denen wir aber wissen,

daß bei ihnen die niederen Pilze eine hervorragende Rolle spielen.

Letz­

teres erhellt schon aus dem Umstande, daß überall, wo die in Rede stehen­

den Zersetzungen vor sich gehen, diese Pilzformen angetroffen werden und daß der Umwandlungsproceß in dem Momente zum Stillstand kommt, in welchem durch irgend welche Gifte, durch Hitze, Kälte oder sonstige

schädliche Einflüsse die Pilze getödtet oder betäubt werden.

Das regel­

mäßige Auftreten von Pilzen auf fast allen in Zerfall begriffenen orga­

nischen Substanzen beruht ebensowohl auf ihrer ungeheuren Vermehrung wie auf ihrer allgemeinen Verbreitung.

Was erstere anlangt, so beob­

achten wir außer der Vermehrung durch Zellenwachsthum, welche durch Vergrößerung schon vorhandener und Erzeugung neuer Zellen sich kund-

giebt, bei den meisten niederen Pilzen die Fortpflanzung durch „Sporen­

bildung", indem nämlich die Pflanzenzelle zu einer Anzahl lebensfähiger „Keime" oder „Sporen" zerfällt.

auf

günstigen Boden

fällt,

Eine einzige Spore vermag, wenn sie

binnen

Millionen neuer Pilze zu erzeugen.

kurzer

Zeit Hunderttausende,

Die allgemeine Verbreitung

ja

der

niederen Pilze wird erklärt durch die außerordentliche Kleinheit der meisten dieser einfachen Organismen.

80 Millionen Sporen des gewöhnlichen

Pinselschimmels würden kaum genügen den Raum eines Cubikmillimeters auszufüllen, während nach Nägeli*) mehr als 30 Billionen von den kleinsten trockenen Spaltpilzen erforderlich sind, um das Gewicht eines

Grammes vollzumachen und es liegt auf der Hand, daß diese nur durch

stark vergrößernde Mikroskope wahrnehmbaren, fast imponderablen Ge­ bilde sich lange Zeit in der Atmosphäre schwebend erhalten und dem

geringsten Luftzuge folgend durch Ritzen und Spalten, die dem unbe­ waffneten Auge gar nicht sichtbar sind, fast überall, wohin die atmosphä­

rische Luft dringt, getragen werden.

Außer der enormen Fortpflanzungs­

fähigkeit und mikroskopischen Kleinheit dieser Lebewesen trägt auch der *) C. von Nägeli, Die niederen Pilze in ihren Beziehungen zu den InfectionSkrankheiten und der Gesundheitspflege. München 1877.

Umstand zu ihrer Verbreitung bei, daß sie im Stande sind, sich den ver­ schiedensten Lebensverhältnissen anzupassen, wobei allerdings gewisse Eigen­

schaften verschwinden und statt deren andere auftreten. — Eine besondere Eigenthümlichkeit der niederen Pilze besteht ferner darin, daß viele von ihnen eine „Hefewirkung" äußern d. h. unter gewissen Umständen höhere

organische Verbindungen in einfachere umwandeln — ein Proceß, den man im gewöhnlichen Leben als „Gährung" bezeichnet.

Die Ferment­

wirkung dieser kleinen Lebewesen beruht eben darauf, daß sie neben mine­

ralischen Salzen t>ie höheren kohlenstoff- und stickstoffhaltigen Verbindungen zu ihrer Ernährung und Vermehrung verwenden.

Sie bedürfen zum

Leben außerdem eine gewisse Menge Wasser; jedoch führt das Austrocknen

keinen Tod, sondern nur einen Stillstand der Lebensfunctionen herbei. Sie verhalten sich in dieser Beziehung wie die Samen und der Blüthcn-

staub mancher höherer Pflanzen und ebenso wie die in den Pyramiden Egyptens vorgefundenen Getreidekörner sich nach Jahrtausenden noch als

keimfähig erwiesen haben, scheinen auch die niederen Pilze oder wenigstens

ihre Sporen in lufttrockenem Zustande während unendlich langer Zeit­ räume ihre Lebensfähigkeit zu bewahren.

Dagegen gehen sie im Wasser,

welches keine Nährstoffe enthält, schon nach kurzer Zeit durch Erschöpfung

zu Grunde; auch wirken alle im Wasser löslichen Stoffe, die ihnen nicht zur Nahrung dienen und selbst ein Ueberschuß von Nahrung nachtheilig

auf ihr Wachsthum.

Die Temperatur des menschlichen Körpers ist für

die Mehrzahl der niederen Pilze — insbesondere für die Spaltpilze und

ihre Vermehrung — die nahezu günstigste.

Beim Steigen der Tempe­

ratur hört zuerst ihre Gährwirksamkeit, dann ihr Wachsthum, zlilctzt ihre Lebensfähigkeit auf.

Dagegen scheinen

sie

sehr bedeutende Kältegrade

ohne Nachtheil aushalten zu können; wenigstens fand Frisch, daß die im Blute von milzbrandkranken Thieren enthaltenen Spaltpilze, selbst nach­

dem er sie

in einem Gefäß

mit fester Kohlensäure

einer

Kälte von

— 100° C. ausgesetzt hatte, sobald er sie wieder in eine warme Umgebung versetzte, sich noch weiter vermehrten; der Frost scheint demnach ihre Le­

bensfähigkeit nur zu suSpendiren.

Im Gegensatz zu allen übrigen pflanz­

lichen Gebilden übt das Licht keinerlei Einfluß auf sie aus, indem sie ebensowohl an hellerleuchteten, wie an finstern Orten, sobald die übrigen Existenzbedingungen erfüllt sind, wachsen und sich vermehren.

Was nun die einzelnen Arten der niederen Pilze oder Urpflanzen

(Protophyten) anlangt, so unterscheidet die Botanik 3 Ordnungen nämlich: 1. Schimmelpilze, 2. Sproßpilze, 3. Spaltpilze. pilze, jene zarten Pflänzchen,

kannten weißen

Die Schimmel­

welche mit ihren Verflechtungen die be­

oder graugrünen Polster darstellen,

die wir auf alten

Speisen und in feuchten Wohnungen regelmäßig antreffen, sind unter den niederen Pilzen immer noch die am höchsten organisirten.

Als Haupt­

repräsentant dieser Klasse sind der „graugrüne Pinselschimmel" (penicillium glaucum), der „Kopfschimmel" (aspergillus glaucus), der Milchschimmel

(oidium lactis), bekannt als weißer flockiger Ueberzug auf dem Rahm

saurer Milch — endlich noch der Soorpilz (oidium albicans), der auf

der Mundschleimhaut von Kindern die unter dem Namen „Soor" oder

„Mundschwämmchen" bekannte Krankheit verursacht — hier zu verzeichnen. Die Schimmelpilze unterscheiden sich

von den

beiden anderen Pilz­

klassen nicht nur durch ihre verschiedene Form — (indem sie verzweigte gegliederte oder ungegliederte Fäden darstellcn) — sondern auch durch die

Art und Weise ihrer Fortpflanzring (Zerfall der Fruchlzweigc zu einer Anzahl von Sporen), sowie dadurch, daß sie bei Temperaturen von 10 bis

20° (5. und auf säuerlichen oder salzigen Substanzen am Besten gedeihen und daß ihre Wirkung eine langsamere und räumlich mehr beschränkte ist, wie bei den sogleich zu erwähnenden Pilzformen. Als zweite Klasse der niederen Pilze erwähnten wir die den Schimmel­ pilzen nahe verwandten, aber in ihrer Organisation unter ihnen stehenden

Sproßpilze,

genannt.

wohl auch Gährungspilze oder Saccharomyceten

Letzteren Namen verdanken sie dem Umstand, daß die Mehrzahl

derselben die Eigenschaft besitzt, Rohrzucker in Alkohol umzuwandeln —

eine Fähigkeit, vermöge deren sie in der Industrie eine große Rolle spielen. Die Fortpflanzung der Saccharomyceten, die sich an dem GährungSferment

des Bieres, dem bekannten „Hefepilz" (Saccharomyces cerevisiae) am leichtesten beobachten läßt, findet durch „Sproßung" — (indem nämlich

an der Spitze der Hefezelle eine kleine Ausstülpung hervorsproßt, die schnell wachsend sich durch eine Scheidewand von der Mutterzelle abschnürt) —

unter veränderten Lebensbedingungen wohl auch durch Sporenbildung statt.

Was den durch die Sproßpilze bewirkten Proceß der alkoholischen Gäh-

rung anlangt, so ist eö zwar zur Zeit nicht möglich eine genaue Defi­ nition dieses Vorgangs zu geben;

jedoch läßt sich schon jetzt mit Be­

stimmtheit behaupten, daß die Ansicht Liebig's der in dem Fermentkörper wohl eine eiweißartige Substanz, nicht aber einen lebendigen Organismus erblickte und den Gährungsvorgang für einen rein chemischen Proceß hielt,

nicht länger aufrecht zu erhalten ist.

Die neueren Forschungen weisen

vielmehr mit zwingender Nothwendigkeit darauf hin, daß die Gährung als ein durch die Ernährung niedriger pflanzlicher Organis­

men hervorgerufener vitaler Proceß, d. h. Lebensvorgang be­

trachtet werden muß. Wir begnügen uns mit diesen wenigen Bemerkungen über Schimmel-

und Sproßpilze sowie

über die Natur

der alkoholischen Gährung und

wenden nunmehr der dritten, aber wichtigsten Klasse der niederen Pilze, den Spaltpilzen oder Schizomhceten — in der Regel nach einer

ihrer Arten kurzweg Bacterien genannt — unsere Aufmerksamkeit zu.

diese

Was

ihrer

organischen

Entwicklung

nach

auf niedrigster Stufe

stehenden pflanzlichen Organismen anlangt, so sind sie allerdings, seit

dem man mit Bestimmtheit erkannt hat, daß viele von ihnen die Ursachen

gefährlicher Krankheiten abgeben, von Seiten der Naturforscher und Aerzte

Gegenstand

zum

zahlreicher

und

umfassender

Untersuchungen

gemacht

worden; umsomehr muß es aber befremden, daß dieselben trotz des emi­

nenten Einflusses, den sie auf den Gesundheitszustand ganzer Städte und

Landstriche ausüben, dem gebildeten Laien bisher fast unbekannt geblieben sind. — Werfen wir nun, um uns zimächst durch eigene Anschauung ein Bild von diesen winzigen Objecten zu machen, einen Blick in das Mikro­

skop, unter dem wir ein Partikelchen jenes obenerwähnten Häutchens, das sich auf stehendem Wasser schon nach einigen Tagen bildet, ausgebreitet

haben.

Wir finden,

daß die Membran sich zunächst als eine wolkige

Gallerte darstellt in welche zahllose Körnchen

und Stäbchen

eingebettet

sind, die sich bald ruhig verhalten, bald in zitternde Bewegung gerathen und früher oder später aus dem Gallertbette aus und bunt durcheinander

schwärmen.

— Was die Bewegung der Bacterien anlangt, die wie be­

reits erwähnt, von Leeuwenhoek zuerst beobachtet, von Ehrenberg für einen

Beweis von thierischer Organisation gehalten wurde, so ist dieselbe als

„Molekularbewegung" zu betrachten, wie sie auch leblosen, sehr kleinen Stofftheilchen zukommt. — Nach ihrer äußeren Gestaltung lassen sich die Bacterien — von denen viele nicht einmal die Länge von Viooo Millimeter erreichen — in 3 Grundformen, nämlich in kugelförmige, stäbchenförmige

und fadenförmige eintheilen, von denen die zuerst erwähnten als winzige runde

oder

elliptische Körperchen,

die häufig

zu Zellenreihen gruppirt

sind, die zweite Ordnung als längliche Stäbchen bis zu 0,003 Millimeter Länge und 3 bis 5 Mal geringerer Breite,

die zuletzt

genannten

als

gerade, gebogene oder spiralförmig gedrehte Fäden, die hier und da wohl

auch mit zarten Anhängen (Eilten) versehen sind, erscheinen.

Der Körper

der Bacterie besteht, ebenso wie der der Sproßpilze, in der Regel nur aus einer einzigen Zelle; nur einige wenige Arten stellen in einem ge­

wissen Entwicklungsstadium einen mehrzelligen Organismus dar.

Wohin wir uns auch wenden, überall finden wir Bacterien.

Sie

sind im Boden enthalten, der verwesende Substanzen oder Auswurfsstoffe

beherbergt; sie werden durch das Wasser und die Luft an die entlegensten Orte getragen.

Wo nur immer ein Zersetzungs- oder Fäulnißproceß vor

sich geht, nisten sie sich ein und vermehren sich; sogar im Innern deS

Hühnereis wurden sie bereits angetroffen.

Nur der ungeschwächte, intacte

menschliche und thierische Organismus kann vermöge seines energischen

Zellenlebens der Vermehrung und Weiterentwicklung der Spaltpilze, die mit dem Wasser und der Nahrung in Magen uiib Darm gerathen — (hier

sind sie, wie wir später sehen werden, noch am Wenigsten gefährlich) — mit der eingeathmeten Luft in die Lungen und somit in daS Blut und

in alle Gewebe des Körpers eindringen, erfolgreichen Widerstand entgegen­ stellen.

Im Gegensatz zu den Sproßpilzen, wo wir den Vorgang der

Sproßung und Zellenabschnürung beobachtet haben, erfolgt die Vermehrung

der Batterien durch einfache Theilung, die häufig in der Längsrichtung und in noch rapiderer Weise als bei den bereits beschriebenen Pilzformen

vor sich geht.

Eine Zelle spaltet sich in 2 Tochterzellen, von diesen eine

jede wieder in 2 Zellen und so fort.

Als Beweis für die ungeheure

Vermehrung der Batterien dient die Beobachtung, welche der Franzose

Pasteur bei seinen Untersuchungen über die sogenannte „Hühnercholera", eine auf Hühnerhöfen häufig auftretende Krankheit, machte. Er fand

nämlich, daß klare Hühnerbouillon, der er einige dieser aus dem Blute

deS erkrankten Huhnes entnommene Organismen zusetzte, binnen wenigen Stunden in Folge der Entwickelung von Milliarden von Batterien eine

trübe wolkige Beschaffenheit angenommen hatte. Wenn wir oben die Spaltpilze nach ihrer Form und äußeren Ge­

staltung eingetheilt haben, so darf man aus dieser Eintheilung nicht etwa den Schluß ziehen, daß Formen, die äußerlich einander gleichen, in ihren

Wirkungen und physiologischen Verrichtungen sich stets gleich verhalten. So stimmen, um nur ein Beispiel anzuführen, die harmlosen und unschäd­

lichen Heupilze, wie man sie auf jedem Wiesenheu in großen Massen an­ trifft, der Form nach mit jenen Batterien überein die wir im Blute von an Milzbrand verendeten Thieren vorfinden und die bei der Uebertragung dieser furchtbaren Seuche eine wichtige Rolle spielen. — Was

die soeben erwähnten Heupilze anlangt, so hat Buchner durch eine Reihe von interessanten Experimenten nachgewiesen, daß dieselben durch wieder-

holte Umzüchtung in frischem Thierblute und bei Körpertemperatur in ihrem physiologischen Verhalten und Wachsthum merkwürdige Verände­

rungen erfahren und daß Impfungen mit den auf diese Weise umgezüch-

teten Heupilzen das Auftreten des Milzbrandes mit allen seinen Erschei­

nungen und Leichenbefunden zur Folge haben, während andererseits die Milzbrandbacterien nach lange fortgesetzter Umzüchtung in gewissen Nähr­ flüssigkeiten nach und nach einen Theil ihrer Eigenschaften als Krankheits­

erreger einbüßen und sich schließlich von den Heupilzen in keiner Weise

unterscheiden. — Es ist also durch

diese Experimente der thatsächliche

Nachweis geliefert worden, daß unter gewissen Voraussetzungen die eine

Modificatton des Spaltpilzes in eine andere übergehen kann.

Die Verschiedenheit der Eigenschaften und physiologischen Wirkungen

verschiedener Bacterien wurde int Vorhergehenden bereits angedeutet und zwar haben wir hier 3 verschiedene Ordnungen nämlich

1. Pigment-

bacterien, 2. Fäulniß- oder Gährungsbacterien, 3. Krankheitsbacterien zu unterscheiden.

Die zuerst genannten — beiläufig gesagt

diejenigen, die uns am Wenigsten interessiren — verdanken ihren Namen

dem Umstande, daß sie ein besonderes, in seinem chemischen Verhalten den bekannten Anilinfarben nahestehendes Pigment erzeugen und vermittelst desselben den Substanzen, auf denen sie oder den Flüssigkeiten, in denen

sie vegetiren, eine eigenthümliche Färbung ertheilen.

Der zu dieser Ord­

nung gehörige micrococcus prodigiosus bildet rothe Flecken auf feuchtem Brod und anderen stärkemehlhaltigen Substanzen — eine Thatsache, die in früheren Jahrhunderten nicht selten zur Verbreitung von Aberglauben und Irrwahn Veranlassung gab, indem das Auftreten dieser rothen, Bluts­

tropfen ähnelnden Flecken auf den an feuchten Orten aufbewahrten Hostien von dem Clerus als göttliches Wunder ausposaunt und von der gläu­

bigen Beenge angestaunt wurde.

— Auch die Erscheinung der „blauen

Milch" und der den Chirurgen wohl bekannte, die Verbandstücke blau­

färbende Eiter verdanken den Pigmentbacterien ihre Existenz. Die Fäulniß- oder Gährungsbacterien, zu

denen fast alle

Fäulniß erregenden Organismen gehören, entwickeln kein besonderes Pig­ ment und funktioniren in ähnlicher Weise wie der Hefepilz bei der Alko-

holgährung.

Als wichtigster Vertreter dieser Klasse darf wohl bacterium

termo gelten, ein Spaltpilz, der zusammen mit anderen Pilzformen fast überall anzutreffen' ist,

wo Zersetzungsprocesse vor sich gehen und im

Schmutzwasser der Rinnsteine und Gossen so massenhaft auftrilt, daß er graue wolkige Nebel darstellt.

Nur vermittelst der stärksten Vergrößerung

gelingt es, die ihm eigenthümlichen Bewegungen sichtbar zu machen. —

Die Fäulnißbacterien sind in der uns umgebenden Luft, im Wasser und Boden überall und zu jeder Zeit enthalten; dadurch unterscheiden sie sich

von der sogleich zu erwähnenden Bacterienordnung, von denen man an­ nehmen muß,

daß sie bei Uebertragung von Krankheiten eine wichtige

Rolle spielen, daß sie nicht überall und zu jeder Zeit vorhanden sind, sondern daß sie nur von gewissen ähnlich erkrankten Individuen oder in gewissen Localitäten und zu gewissen Zeiten producirt werden.

Wenn die

letztere Gattung auch als die Krankheitserreger im strengsten Sinne des Wortes zu betrachten ist, so ist damit doch keineswegs gesagt, daß die Pkcußlschc Jahrbücher. Bd. XUX. Heft 2.

13

Fäulnißbacterien nicht auch unter Umständen Krankheiten Hervorrufen können. So unterliegt es wohl kaum einem Zweifel daß die Pyaemie (Blutvergiftung bei Verwundeten) und die Septikämie (Blutfäulniß) durch diese Klasse von Spaltpilzen hervorgerufen wird, die in den Wundflächen einen günstigen Boden für ihre Vermehrung und den durch sie bewirkten Fäulnißproeeß finden. — In Uebereinstimmung mit dem, was wir oben über das Wesen der alkoholischen Gahrung bemerkten, muß eine jede Fäuluiß, eine jede Verwesung als ein Ernährungsproeeß niederer pflanzlicher Organismen, durch den die Zersetzung der faulenden Substanzen bewirkt wird, betrachtet werden. — Ob die fäulnißwidrigen (antiseptischen) Substanzen wie: Carbolsäure, Salizyl­ säure, Phenol, Kreosot, Borsäure u. s. w., die jetzt in der Chirurgie eine so große Rolle spielen, durch Wasserentziehung die lebendigen Baeterien todten oder ob ihre antiseptische Wirkung auf anderen uns unbekannten Eigen­ schaften beruht, vermöge deren sie die in den Wunden befindlichen oder von außen eindringenden, fäulnißerregenden Spaltpilze unschädlich machen — diese Frage läßt sich zur Zeit noch nicht mit Bestimmtheit beantworten. Der Umstand, daß die antiseptische Wundbehandlung noch im Wesentlichen auf Empirie beruht, raubt jedoch Nichts von dem unsterblichen Verdienste Joseph Lister's, des Entdeckers dieser Methode und läßt uns die Thatsache nicht übersehen, daß dieselbe bereits Tausenden von Verwundeten und Operirten das Leben gerettet, einer noch größeren Zahl die Schmerzen einer langen Nachbehandlung erspart und operative Eingriffe ermöglicht hat, die noch vor wenigen Jahren für unausführbar gehalten wurden. Wir haben im Vorhergehenden die Fänlniß erregenden Spaltpilze und die Rolle, welche sie km Haushalte der Natur spielen, einer flüchtigen Betrachtung unterworfen imb gehen nunmehr dazu über, jene Klasse, die als die eigentlichen Krankheitserreger das Wohl und Wehe der Menschheit in so hohem Grade beeinflussen und dem Naturforscher und Arzte die wichtigsten Probleme darbieten, ins Auge zu fassen. Bemerken wollen wir sogleich, daß die hierauf bezüglichen Untersuchungen zum Theil der allerneuesten Zeit angehören, so daß etwas Fertiges, in sich Abge­ schlossenes bezüglich dieser Ansteckungsstoffe zur Zeit noch nicht geboten werden kann. Für einzelne Krankheiten ist allerdings der Beweis ge­ liefert worden, daß Baeterien als Verbreiter derselben figuriren, für die bei Weitem größere Anzahl von Jnfeetionskrankheiten (b. h. Krankheiten bei denen die Anstecknng durch ein specifisches Gift übertragen wird), ist es aber noch nicht gelungen den betreffenden Pilz in den Geweben, Säften oder Auswurfsstoffen des erkrankten Menschen oder Thieres nach­ zuweisen. Trotzdem jedoch, wie schon bemerkt, der unumstößliche Beweis

in vielen Fällen bis jetzt noch nicht erbracht wurde, machen doch die KrankheitSerscheinungen eS höchst wahrscheinlich daß eS sich auch dort um ein

contagium animatum (belebtes Contaginm) handelt d. h. daß wir in niedrigen Organismen die Quelle der Ansteckung suchen müssen.

Dafür

spricht neben der Specificität des Krankheitsbildes d. h. den nur durch Einwirkung eines specifischen Giftes (virus) zu erklärenden Symptomen,

der Umstand, daß sich der Krankheitsproceß in der Regel nur in gewissen

Geweben und Organen des erkrankten Körpers, in denen die Batterien für ihre Fortpflanzung und Wucherung einen günstigen Boden finden, ab­ spielt.

Als triftigster Grund für die Annahme, daß wir in niedrigen

Lebewesen die Träger der Ansteckung zu suchen haben, muß endlich noch die merkwürdige und vielbesprochene Thatsache

der Jncrtbation oder

Latenz der Krankheit angeführt werden, indem nämlich zwischen der An­

steckung und dem Ansbruch der Krankheit eine gewisse bald kürzere, bald längere Zeit vergeht, entsprechend dem Zeitraum, welchen der betreffende

Spaltpilz zur Entwicklung aus den auf gesunde Individuen übertragenen

Sporen für sich in Anspruch nimmt.

Wir haben hier eine Analogie mit

gewissen durch thierische Parasiten hervorgernfenen Krankheiten z. B. der

Trichinose, indem auch dort nach dem Genusse trichinenhaltigen Fleisches die charakteristischen Symptome sich erst dann entwickeln, wenn die aufge­ nommenen Trichinen sich in Darmtrichinen umgewandelt und aus sich eine

neue Generation von Trichinen erzeugt haben. —

Wenn wir nun die Krankhcitsbacterien im Einzelnen betrachten, so haben wir zunächst 2 Kategorien nämlich:

Contagienpilze oder kurzweg

Eontagien und Miasmenpilze oder Miasmen zu unterscheiden, von

denen erstere die sogenannten contagiösen, letztere die miasmatischen Krankheiten Hervorrufen.

Als „Contagium" wird ein Gift bezeichnet,

welches in oder an bereits erkrankten Individuen sich entwickelt, als Miasma ein solches, das in der Luft im Wasser oder im Erdboden — jedenfalls

aber außerhalb des erkrankten Organismus — erzeugt wird.

Bei den

durch Eontagien hervorgerufenen Erkrankungen ist der die Ansteckung ver­ mittelnde Spaltpilz in den Sekretionen und Auswurfsstoffen des erkrankten

Körpers (Schweiß, Schleim, Drüsensecret, Urin, Exkremente, Erbrochenes und bergt, mehr) enthalten und findet die Ansteckung durch direkte Be­

rührung mit dem Kranken oder mit von ihm inficirten Gegenständen

(Kleidungsstücke Wäsche u. s. w.) durch Aufenthalt in den mit Spaltpilzen

erfüllten Krankenzimmern, unter Umständen auch durch Uebertragungen von

Seiten einer dritten, selbst nicht erkrankten Person (am Häufigsten Kran­ kenwärter, Hebammen, wohl auch Aerzte) statt, welche bei Vernachlässigung

von Vorsichtsmaßregeln das schädliche AgenS an ihren Händen, in den

Kleidern und auf andere Weise von kranken auf gesunde Individuen über­

trägt. — Andererseits verbreiten sich miasmatische Krankheiten auf Per­

sonen, die mit Erkrankten weder direct noch indirect in Berührung ge­ kommen sind.

Rein contagiöse Krankheiten sind:

Masern,

Scharlach,

Keilchhusten, Pocken, Fleckentyphus, Rückfallsfieber, Syphilis u. A. mehr;

reiu miasmatische: die Malariakrankheiten, vor Allem das Wechselfieber.

— Aber nicht bei allen Jnfectionskrankheiten läßt sich die scharfe Glie­

derung in Contagien und Miasmen aufrecht erhalten.

Wir kennen viel­

mehr eine Anzahl von Erkrankungen, bei denen eine directe Ansteckung

durch persönlichen Contact oder durch Effecten der Kranken nicht stattfindet und wo andererseits doch niemals an irgend einem Orte die betreffende

Krankheit zum Ausbruch gekommen ist, ohne daß dieselbe durch erkrankte

Individuen dorthin verschleppt worden wäre.

Es ist das Verdienst Petten-

kofer's nachgewiesen zu haben, daß bei den in Rede stehenden Krankheiten,

die man gewöhnlich als contagiös-miasmatische

bezeichnet und zu

denen Abdominaltyphus, Cholera und gelbes Fieber zu rechuen sind, zwei Btomente — eines das vom Kranken und eines das vom Boden kommt —

zusammen wirken müssen.

Erst nachdem die Bodenpilze im menschlichen

Körper eine für die Wirkung der Contagienpilze günstige miasmatische Vorbereitung geschaffen, d. h. durch ihren Einfluß die Widerstandsfähigkeit

der Constitution

gegen Ansteckung durch Contagien herabgesetzt haben,

erst dann können Epidemien von Abdominaltyphus, Cholera oder Gelb­

fieber zum Ausbruch kommen.

Ein „siechhafter" Boden d. h. ein Boden,

welcher das betreffende Miasma erzeugt, ist demnach für das Entstehen dieser Seuchen eine unerläßliche Vorbedingung und nur so ist es zu er­

klären, daß dieselben an gewissen Lokalitäten mit großer Heftigkeit aufi

treten, daß z. B. München in Folge seines fortwährend wechselnden Grund­ wasserstandes ilnd der dadurch bewirkten Bildung von Miasmen außer­

ordentlich häufig vom Typhus heimgesucht wird uud daß andererseits auf

dem

„siechfreien" d. h. Miasmen nicht erzeugenden Boden LyorLs die

Cholera fast niemals auftritt*). *) Während der Choleraepidemie von 1865 flüchteten allein auö Marseille gegen 20,000 Personen nach Lyon, wo damals schon eine dichtgedrängte Bevölkerung von 300,000 Seelen, darunter eine Menge von Fabrikarbeitern wohnte. Trotzdem starben in jenem Jahre nur 18 Personen daselbst an Cholera und blieb die Seuche auf die neuen Zuzügler, welche den Keim der Erkrankung mit sich gebracht hatten, beschränkt. Eine Reihe Von Thatsachen, die sonst schwer verständlich sein würden, lassen sich, wenn man die auf „siechhaftem" Boden stattfindende Durch­ seuchung als Borbedingung zum Ausbruch der Krankheit annimmt, ohne Schwierig­ keit erklären, so vor Allem das Factum, daß die Cholera auf dem Wege durch die Wüste anöstirbt und daß die auf Schiffen auftretende Cholera regelmäßig nach inehrwöchentlicher Seereise erlischt, da Wüstenboden und Schiffe auf offenem Meer „siechfrei" sind. — Bestätigt wird auch die Theorie von der vorhergehenden Mias-

Nachdem wir den Unterschied zwischen Miasma und Contagium und die Verschiedenheit der Ansteckung bei den einzelnen Gruppen von Jn-

fectionSkrankheiten kennen gelernt haben, sei hier eine Reihe von That­ sachen angeführt, welche dazu dienen werden, das Vorhergesagte mit Bei­

spielen zu belegen und dadurch das Verständniß von der Wirkung der

krankheiterregenden Pilze zu erleichtern. — Unter den Miasmen nehmen wie bereits erwähnt, die verschiedenen Formen der Malaria, insbesondere

das Sumpf- oder Wechselfieber eine hervorragende Stelle ein.

Klebs

und Tommasi-Crudeli haben in den wegen ihrer Ungesundheit von Alters

her berüchtigten pontinischen Sümpfen bei Rom Untersuchungen angestellt und in den schlammigen Gewässern und im Boden jener Gegenden das constante Vorkommen eines Bacterienfadens (bacillus malaiiae) nachgewiesen.

Wurde das bacterienhaltige Wasser unter die Haut von Kaninchen ge­ spritzt, so zeigten dieselben alle Erscheinung der Malariaerkrankung und nach der Section war in der Lymphe und Milzflüssigkeit des verendeten

Thieres dieselbe fadenförmige Bacterie nachzuweisen.

Da die erwähnten

Forscher außerdem noch das Uebergehen der betreffenden Bacterien aus dem Boden nnd den Sumpfgewässern in die Luft unter bestimmten Be­

dingungen von Feuchtigkeit und Wärme direct beobachtet haben, so unter­ liegt eS wohl

keinem Zweifel daß hier

die Ursache des Sumpf- und

Wechselfiebers endgültig festgestellt worden ist. Von Contagien sind es die Untersuchungen über Diphterie, Kuhpocken,

Rückfallfieber,

Syphilis sowie vor Allem die bereits erwähnten Beob­

achtungen über den Milzbrand, welche zum Nachweis der die Ansteckung

vermittelnden Spaltpilze geführt haben.

Für die Diphterie, diese weit­

verbreitete, häufig sehr perniciöse Krankheit ist die Existenz der betreffenden

Bacterie (micrococcus diphteriticus) sowohl durch die Untersuchungen an erkrankten Individuen

wie

durch Jmpfversuche

au Thieren festgestellt

worden; dieselbe siedelt sich in der Regel zuerst auf der äußersten Zellen­ schicht (Epithel) der Schleimhaut des Schlundes, Kehlkopfs und der Luft­ röhre an, dringt dann ins eigentliche Gewebe der Schleimhaut, später mendurchseuchung durch folgende auf einem englischen Transportschiffe gemachte Beobachtung. Dieses Schiff hatte nämlich in einem Hafen Indiens gleich große Abtheilungen von zwei Regimentern ein geschifft, von denen das eine an einem cholerafreien Orte, das andere in einem bald nach dem Abmarsch der Truppen von der Cholera heimgesuchten Lager statiouirt war. Einige Tage nach der Abfahrt brach die Cholera an Bord aus; aber es erkrankten ausschließlich Mannschaften, die zuvor auf dem durchseuchten Boden garnisonirt hatten. — Was oben über den „siechfreien" Boden von Schiffen gesagt wurde erstreckt sich, beiläufig bemerkt, nicht auf daS Gelbfieber, welches gerade auf den in heißen Klrmaten stationirten Fahr­ zeugen heftig grassirt. Dr. S. Th. Stein hat darauf aufmerksam gemacht, daß das im unteren Schiffsraum befindliche, unter dem Einfluß der Hitze sich leicht zersetzende Kielwasser in vielen Fällen zur Bildung des betreffenden Miasmas Beranlassung giebt.

auch in die Lymphgefäße und ins Blut ein, während da wo die Diphterie

zu Verwundungen sich hinzugesellt die Pilzwucherung gewöhnlich auf den Wundflächen

vor

sich geht.

Die aus diphteritischen

Geschwüren ent­

nommenen Mikrokokkuspilze erzeugen in Wunden eingeimpft regelmäßig

wieder Diphterie; ein winziges Stückchen einer diphteritischen Membran bei einem Kaninchen unter die Hornhaut des Auges gebracht, bewirkt diphterilische Entzündung und Tod nach wenigen Tagen. — Bei der Kuh­

pockenlymphe zeigte Chauveau daß dieselbe nach dem Filtriren durch po­ röse Thonzellen — (wodurch die Pilze zurückgehalten werden) — ihre Uebertragbarkeit verliert und daß schon bei ruhigem Stehen in Folge des Niedersinkens der festen Bestandtheile (Pilze) die Wirksamkeit der Jmpf-

flüssigkeit in den oberen Schichten ab- in den unteren Schichten aber ent­

sprechend zunimmt. — Für die als

bekannte Krankheit hat Obermeier —

Rückfallfieber (febris

recurrens)

ein Arzt, der später bei seinen

Untersnchungen über das Choleragifi selbst angesteckt wurde und in der Blüthe seiner Jahre der tückischen Krankheit zum Opfer fiel — die als

„Recurrensfäden" bekannten Spaltpilze, lange biegsame, spiralige Fäden,

mit äußerst rascher Ortsbeweguug ausgestattet, als Krankheitserreger nach­

gewiesen.

Interessant ist auch die Thatsache, daß das Auftreten dieser

zierlichen Pilze mit dem Auftreten der Fiebererscheinungen zusammenfällt,

daß die Rekurrensfäden während des Fieberanfalls im Blute des Kranken in unzählbaren Mengen circuliren und während des Fiebernachlasses ver­

schwinden, um beim Rückfall wieder in gleicher Zahl aufzutreten.

Bon allen KrankheilSbacterien sind es diejenigen des Milzbrandes, über die wir Dank den Untersuchungen von Davaine, Koch, Chauveau, Pasteur u. A. bis jetzt am Genauesten instruirt sind.

Dieselben erscheinen

als Stäbchen, die im Blute und den Säften des lebenden Thieres durch

Verlängerung und Quertheilung sich außerordentlich rasch vermehren, welche aber im Blute des todten Thieres, sowie in geeigneten Nährflüssigkeiten

zu langen, unverzweigten Fäden auswachsen, die wiederum ihrerseits in

eine Anzahl von Keimkörnern oder Sporen zerfallen.

Die Seuche kann

daher entweder direct durch die stäbchenhaltigen Säfte erkrankten Viehs

als Contaginm übertragen werden oder sie wird durch die in den ver­

scharrten Cadavern enthaltenen Sporen, welche außerordentlich lange unter

den anscheinend ungünstigsten Verhältnissen und bei jeder Witterung sich

keimfähig erhalten, vom Boden aus — also in der Form eines Miasma — verbreitet.

An einzelnen Orten scheint die Milzbrandansteckung Jahre

hindurch thätig zu sein — so auf jenen, den französischen Landleuten

wohl bekannten champs maudits (verfluchten Feldern), an deren Gräsern sich häufig eine schmritzige, Bactcrien enthaltende und Milzbrandansteckung

bewirkende Feuchtigkeit zeigt.

Außer direct von Thier zu Thier und durch

den Genuß inficirten Grases wird die Seuche nicht selten durch die Stech­ fliege, die auf einem an Milzbrand verendeten Thiere geweidet und Bac-

terien ausgenommen hat hinterdrein aber mit dem inficirten Rüssel ein

gesundes Thier sticht, übertragen.

Rach Pasteur ist auch der Regenwurm

bei der Verbreitung der Seuche sehr stark betheiligt, indem er nämlich die Cadaver des der Krankheit erlegenen, verscharrten Viehs durchwühlt und bei Regenwetter zur Oberfläche des Bodens und der Wiesen empor­

steigend mit den an seinem Körper haftenden Spaltpilzen die Gräser inficirt, die dann von gesunden Thieren gefressen und da kleine Wunden und Nisse sich im Maule der Wiederkäuer außerordentlich häufig vorfinden

direct in die Säftemasse eingeführt werden.

Als wichtigste Maaßregel

zur Verhütung der Ansteckung wird daher sorgfältiger Transport des ge­ fallenen Viehs, Vermeidung der Beschmutzung des Bodens mit geronnenem

Blut, Schleim, Kothmassen und bergt mehr anempfohlen; auch hält eS der soeben erwähnte Forscher für nothwendig, die der Seuche erlegenen

Thiere in mit Kalk und Steinen dick bestreuten Gruben zu begraben, respec't. die Cadaver durch darüber geschüttete Steine dem Regenwurm

unzugänglich zu machen oder besser noch dieselben mitsammt dem inficirten Stallgeräth zu verbrennen. — Wir sprachen soeben die Vermuthung aus,

daß die Milzbrandbactcrien durch die in den Mäulern der Wiederkäuer

vorhandenen durch die Stacheln und Spitzen der Gräser hervorgerufenen kleinen Verwundungen und Schleimhautabschürfnngen ins Blut übertreten.

Diese Ansicht gründet sich auf die Thatsache, daß dieselben, ebenso wie alle anderen Spaltpilze, sobald sie in den unverletzten Speise­

kanal (Speiseröhre, Magen und Darm) eingeführt werden, völlig

unschädlich sind.

sauren Magensaft

Die Mehrzahl der Bacterien scheint bereits in dem des

thierischen

Organismus

zu Grunde zu gehen.

Mäuse blieben vollständig gesund, nachdem sie die Milz von milzbrand­ kranken Thieren gefressen hatten und einzelne uncivilisirte Völker z. B.

die Baschkiren verzehren alle ihre an Milzbrand gefallenen Thiere; ande­ rerseits rufen aber nur wenige Milzbrandbacterien, die man direct in das Blut von Thieren injicirt, sofort die Seuche in ihrer perniciösesten Form

hervor. — Bemerkenswerth ist auch die Thatsache, daß gewisse Thier­ gattungen gegen die Ansteckung mit Biilzbrand eine völlige Immunität

besitzen; so ist diese Krankheit, der so viele europäische Schaafe erliegen,

noch niemals bei algerischen Schaafen ausgetreten und auch die mit der algerischen Race gekreuzten Merino's

und Rambouillets scheinen durch

diese Kreuzung eine relative Sicherheit gegen Milzbrandansteckung zu er­ werben.

Wenn wir diese Thatsache in Erwägung ziehen, so erscheint eS

nicht länger unerklärlich, daß beim Menschen gewisse Familien und In­

dividuen sich ungestraft der Berührung mit allen möglichen infectiösen Krankheiten aussetzen dürfen, während andere sofort angesteckt werden. Wir haben im Vorhergehenden die Rolle kennen gelernt, welche die

Spaltpilze als Träger der Jnfectionskrankheiten spielen; damit ist die

Es giebt viel­

Schilderung ihrer Thätigkeit jedoch keineswegs erschöpft.

mehr eine große Reihe von pathologischen Zuständen, die nicht als infectiöse Processe gelten oder doch wenigstens von der Medizin bisher nicht

als solche betrachtet wurden und die allem Anscheine nach ebenfalls auf

die Wirkung der Bacterien zurückzuführen sind. — Von der Tuberkulose

(Schwindsucht) gilt es jetzt für sehr wahrscheinlich, daß sie ebenfalls durch Bacterien hcrvorgerufen wird.

Schon die Thatsache,

die für die

daß

Krankheit charakteristischen Knötchen (Tuberkeln) in der Mehrzahl der Fälle zuerst

in den Luftwegen,

im Lungcngewebe und

in den

angrenzenden

drüsigen Organen auftreten, während doch, wie das Experiment nachweist,

alle

Gewebe

des

menschlichen

Körpers

für

Tuberkeleinimpfung gleich

empfänglich sind, deutet darauf hin, daß die Lunge — ebenso wie sie für andere Bacterien die wichtigste Aufnahmestätte bildet — auch für das

Tuberkel erzeugende Gift die Eingangspforte darstellt.

Daß die Lungen­

schwindsucht zu den durch Pilzansteckung hervorgerufenen Krankheiten gehört,

dafür spricht auch der Umstand, daß dieselbe bei Ständen respect. Be­ völkerungen, die sich vorwiegend in geschlossenen Räumen aufhalten, be­

sonders häufig, bei den meist in freier Luft Verweilenden verhältnißmäßig selten auftritt.

Andererseits muß die anscheinende Erblichkeit der Tuber­

kulose nur als Erblichkeit der prädisponirenden Anlage oder als Verer­

bung eines Schwächezustandes, wodurch die Widerstandsfähigkeit gegen

Bactcrienwirkung herabgesetzt wird, betrachtet werden. — Bei einer ganzen Reihe von entzündlichen Processen im menschlichen Körper ist eS ebenfalls

wahrscheinlich, daß die Spaltpilze mit betheiligt sind.

Dieselben wurden

ebensowohl in der entzündeten Lunge, wie bei gewissen Entzündungszuständcn in den Nieren angetroffen. — Bacterien fanden sich in den zer­

fallenden Blutgerinnseln (Thromben) der Venen und scheinen das epi­ demische Auftreten von Venenentzündung in Hospitälern hervorzurufen;

auf Schädigung der Gefäßwände durch Spaltpilze beruht auch die Nei­ gung zu Blutungen, die wir bei einer ganzen Reihe von Krankheiten

vorfinden und die wir auch experimentell durch Einspritzen von fauligen Flüssigkeiten in das Blut von Thieren Hervorrufen können. — Das Auf­ treten von Spaltpilzen bei Magenleidenden wird nach dem,

waS oben

über die niederen Pilze als Gährungs- und Fäulntßerreger gesagt wurde, nicht verwundern.

Die gestörte Funktion des MagenS ruft im Speisebrei

hervor

essigsaure und

buttersaure Gährung

Massen bilden

einen sehr günstigen Boden

und

die sich

zersetzenden

für die Ansiedelung

und

Wucherung der niederen pflanzlichen Organismen. —

Die rheumatischen Leiden dürften in vielen Fällen ebenfalls

auf

Bacterienwirkung zurückzuführen sein, wie man denn auch bei rheumati­

schen Entzündungen der Herzklappen constant antrifft.

gewisse Formen von Spaltpilzen

Daß die rheumatischen Asfectionen in der Regel nicht

durch „Erkältung" hervorgerufen werden — (das Wort „Erkältung" wird nur zu oft dazu gebraucht unsere Unwissenheit über das Entstehen gewisser

Krankheiten zu bemänteln) — dafür spricht der Umstand, daß gesunde Menschen und Thiere den Luftströmungen verschiedenster Intensität und Temperatur, ohne zu erkranken, sich aussetzen dürfen, daß Nordpolfahrer bei der furchtbarsten Kälte von katarrhalischen

und rheumatischen Be­

schwerden freibleibcn, daß Reisende auf den Hochplateanx CentralasienS und Afrikas, wo plötzliche Temperaturschwankungen von 15° bis 20° 0.

durchaus keine Seltenheit sind, in der Regel gesund bleiben. — Endlich wollen

wir noch des Umstandes gedenken, daß im Zahnstein,

in den

Speichelsteinen und den kalkigen Eonkretionen der Tonsillen Spaltpilze ge­

funden wurden

und daß das Hohlwerden der Zähne einer bestimmten

Bacterienart (Leptothrix buccalis) zuzuschreiben ist, welche ebenso wie gewisse McereSalgen kohlensauren Kalk absorbirt und auf diese Weise das

Zahngewebe zum Zerfall bringt. — Unsere Uebersicht über die Bacterien und ihre Wirkung als Fäulniß-

und Krankheitserreger wäre somit beendet.

Zum Schluffe wollen

wir

nur noch jener interessanten Jmpfversuche gedenken, welche der mehrfach erwähnte Pasteur neuerdings angestellt hat und die für die Verhütung

infectiöser Krankheiten vielversprechende Aussichten eröffnen. tung

von

Milzbrandbacterien in

Durch Züch­

gewissen Nährflüssigkeiten

bei

einer

Temperatur von 42° bis 43° 6. und bei freiem Zutritt von atmosphäri­ scher Luft ist eS dem besagten Forscher gelungen, eine schwächere Modifi-

cation dieses Giftes herzustellen.

Mit diesem

milder

wirkenden Milz-

brandgifl wurden dann gesunde Thiere geimpft und so glaubt Pasteur

— analog dem Schutze welchen die Kuhpockenimpfung gegen Blatternan­

steckung verleiht — eine vollständige Immunität gegen diese furchtbare

Seuche erzeugen zu können.

Die Versuche,

über die er auf dem im

August 1881 zu London abgehaltenen internationalen ärztlichen Congreß berichtete, sprechen allerdings dafür, daß dies möglich ist.

So wurden

z. B. von 50 Schaafen, die dem besagten Forscher zur Disposition gestellt

waren, 25 mit dem abgeschwächten Milzbrandmikrobion geimpft. erkrankten leicht, erholten sich aber bald.

Dieselben

Nach einigen Wochen wurde

sodann ungeschwächtes Milzbrandgift sämmtlichen 50 Schaafen inoculirt und das Resultat war, daß die 25 ungeimpften Schaafe ohne Ausnahme

binnen 2 Tagen zu Grunde gingen, während die zuvor geimpften sämmtlich der Jnfection widerstanden.

Innerhalb weniger Wochen sind in der Um­

gebung von Paris an 20,000 Schaafe und eine große Anzahl von Rin­ dern mit dem Schutzgift geimpft worden und da Frankreich bisher jährlich

im Durchschnitt Thiere im Gesammtwerth von 20 Millionen Franken an Milzbrand verloren hat, so wird der aus dieser Entdeckung erwachsende volkswirthschaftliche Nutzen voraussichtlich ein ganz außerordentlicher sein.

Mit Erfolg gemachte Wiederholungen der Pasteur'schen Experimente werden

auch neuerdings aus Ungarn gemelvet und läßt die brittische Regierung mit richtigem Verständniß für die Wichtigkeit der Milzbrandimpfung ge­

genwärtig einen Vortrag Pasteur's, der dies Thema behandett, in Hundert­ tausenden von Exemplaren in ganz England verbreiten. — Ebenso wie

beim Milzbrand ist es dem genialen französischen Forscher gelungen, auch bei der obenerwähnten „Hühnercholera" eine zur Schutzimpfung dienende

mildere Modification des Krankheitsgiftes darzustellen und ist, wie schon bemerkt, die Hoffnung wohl nicht unbegründet, daß cs früher oder später gelingen wird, einen ähnlichen Schutz gegen Infectionskrankheiteii, die als

die Geißel des Menschengeschlechts betrachtet werden müssen, herzustellcn.

— Endlich wollen wir noch jener Untersuchungen gedenken, welche Pasteur über die Natur des Tollwuthgiftes angestellt hat.

Bei seinen dies­

bezüglichen Versuchen hat derselbe kurze, stäbchenförmige, in der Mitte

verjüngte Spaltpilze,

die in der Regel von einer trüben Schleimhülle

umgeben sind, als die Contagiumträger dieser gefürchteten Krankheit nach­ gewiesen.

In Culturflüssigkeiten gezüchtet verändert dieser winzige Or­

ganismus seine Form.

Hunde, die mit dem modifizirten Gift geimpft

werden, erkranken zwar schwer, zeigen aber nicht die bekannten Erschei­

nungen der Hhdrophobie.

Um es kurz zu sagen



alle Thatsachen

sprechen für die Annahme, daß im Blute des gesunden Hundes ein Spaltpilz existirt, der nur unter gewissen Bedingungen sich zum Tollwuthcontagium entwickelt.

Sollte es gelingen diese Bedingungen näher

festzustellen, so könnten Maßregeln zur Verhütung der Tollwuth getroffen werden, deren Sicherheit eben so groß sein würde, wie die durch Schutz­

impfung bewirkte Immunität gegen Blattern und Milzbrand. — Das

alte Wort:

„Wissen ist Macht" bewährt sich nirgends mehr als bei jenen

naturwissenschaftlichen Disciplinen, welche

es sich zur Aufgabe

gestellt

haben, die Fäulniß und Krankheit erregenden Pilze, jene unsichtbaren und furchtbaren Feinde der Menschheit, zu erforschen und zu bekämpfen. Dr. M. Alsberg.

Die Bildung der Coalition des Jahres 1756

gegen Preußen. (Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. Zauuar 1882.)

Es sind heut fünfundneunzig Jahre, daß der Minister Graf Hertzberg, Eurator

und Mitglied

unserer Akademie,

hier an dieser

am

Stelle,

ersten Friedrichstage nach dem Tode des großen Königs, die Thaten dieser ruhmreichen Regierung

in

gedrängtem Neberblick

ins Gedächtniß

rief.

Zu den schwersten Tagen Friedrich's, zur Entschlußfassung des Jahres 1756

gelangt, sagte der Minister:

„Auf geheime und wahrscheinliche Nach­

richten gestützt, glaubte der König im Juni dieses Jahres, daß der Mo­ ment gekommen sei, in dem die Höfe von Wien, Petersburg und Dresden

den Plan, welchen sie vereinbart, auszuführen und ihn zu Anfang dieses Jahres 1757 anzugreifen gedächten.

Es steht fest, daß diese Pläne be­

standen; aber da sie nur eventuelle waren und der Bedingung unter­

lagen,

daß

der König Veranlassung zu

einem Kriege

gäbe,

wird

eS

stets problematisch bleiben, ob diese Pläne jemals ausgeführt worden sein würden, und ob die größere Gefahr die gewesen ist, ihre Verwirklichung

zu erwarten, oder derselben zuvorzukommen." Das Urtheil des Mannes, der den Dingen so nahe gestanden hat,

aus dessen Feder die StaatSschrift hervorgegangen ist, die die Waffenerhebnng deS Königs rechtfertigte, der seit dem Jahre 1763 neben dem

Grafen Finkenstein Leiter deS auswärtigen Departements war, fällt schwer in die Wagschale.

Dennoch sind wir heut in der Lage, seine Auffassung

widerlegen zu können.

Vollständiger als die Fragmente der gegnerischen

Absichten, die dem Grafen Hertzberg vorlagen, sind uns heute Beschlüsse und Maßnahmen der Gegner zugänglich.

Wenn auch bei Weitem noch

nicht vollständig, genügen die vorliegenden Urkunden, mit unumstößlicher Sicherheit festzustellen, daß die Entwürfe, welche Graf Hertzberg als even­

tuelle und problematische bezeichnet,

höchst concludenter, un-

widerruflichster Art waren, daß der König schärfer und richtiger ge­

sehen hat als sein sonst so wohl unterrichteter Minister. Diesen Beweis zu erbringen, folge ich dem Vorgänge des Grafen

Hertzberg in der Ueberschau der Voraussetzungen jener Krisis. Der Versuch König Friedrich Wilhelm's L, seine Anrechte auf Jülich und Berg, auf Ostfriesland im Bunde mit Oesterreich, wenigstens für

Berg, zur Geltung zu bringen, hatte mit der bittersten Enttäuschung ge­

endet.

Nach redlichster Erfüllung der Pflichten, die er gegen Oesterreich

übernommen,

sah sich Friedrich Wilhelm dem Einverständniß der vier

Großmächte, Oesterreich, Frankreich, Holland und England, gegenüber, ihm die Erbfolge in Jülich und Berg zu untersagen.

Oesterreich wollte

keinen Zuwachs Preußens und kein protestantisches Regiment am Rhein, Frankreich keine stärkere Macht am Niederrhein, die ihm hier den Uebergang verlegen konnte, England d. h. Kur-Braunschweig kein Uebcrgewicht

Kur-Brandenburgs

zwischen Elbe

und Rhein,

Nachbar und keine Handelsconcurrenz in Emden.

Holland

keinen starken

"Nicht unglücklich aber

doch erfolglos endete der Anlauf, mit dem König Friedrich II. seine Re­ gierung begann:

maritimen

den eben ausbrechenden

Konflikt zwischen

Spanten und England, welchem Frankreich unmöglich fern bleiben konnte, dahin zu verwerthen, ohne Oesterreich in den Besitz von Jülich und Berg

zu gelangen.

Friedrich bot seine Allianz gleichzeitig in London und Paris

dem, der ihm zu Jülich und Berg hülfe.

König Georg II. hielt sich der

Allianz Oesterreichs und des deutschen Reiches so sicher, glaubte so sicher,

daß Preußen sich dieser Gemeinschaft nicht zu entziehen vermöge, daß es ihm nicht in den Sinn kam, Preußen dafür einen unerwünschten Preis

zu zahlen.

Frankreich beharrte dabei,

eine stärkere

Machtbildung am

Niederrhein nicht zuzulassen.

Ueberzeugt, gegen das Interesse Frankreichs und der Seemächte am Niederrhein nicht durchdringen zu können, wandte Friedrich, als Kaiser

Karl VI. endete, den Blick nach Osten. ansprüche zu.

Auch hier standen Preußen Erb­

Aber auch hier traf man auf mehr als Eine Macht, man

traf auf Oesterreich und Rußland.

Oesterreich und Rußland waren durch gemeinsames Interesse gegen

die Pforte, die, beiden noch ernsthaft gefährlich, von beiden gemeinsam

bekriegt worden war, verbunden; gemeinsam hatten sie den Kurfürsten von Sachsen der Republik Polen

zum Könige

gegeben;

ihr Interesse

konnte auch zur Verhinderung einer stärkeren Machtbildung im Nordosten Deutschlands, die Rußland den Weg nach Westen sperrte, zusammentreffeu.

Diese Gemeinschaft schwächte der Tod der Kaiserin Anna, der wenige

Tage nach dem Ableben Karls VI. eintrat.

Die Regierung Rußlands

ging in die Hand einer österreichisch gesinnten aber schwach basirten Re­ gentschaft über.

Gleichzeitig

war England

durch den Seekrieg gegen

Spanien in Anspruch genommen, Frankreich im Begriff, in diesen ge­ zogen zu werden.

Schwerlich kehrte ein Moment solcher Gunst wieder.

Selbstständig ging Friedrich vor.

Erst nach der Schlacht bei Mollwitz

schloß er mit Frankreich (am 5. Juni 1741) nicht einen Offensiv- sondern einen Defensivtraktat auf 15 Jahre.

Indem er in diesem auf den Erb­

anfall von Jülich und Berg verzichtete, übernahm Frankreich als Gegen­ gewährung, ihn auch in den Erwerbungen zu schützen, die er in Schlesien

machen werde. Um die große Allianz, das alte System von 1689, welches im Pfälzer

Kriege

Ludwig XIV.

zurückgeworfen,

im

spanischen

SuccessionSkriege

Frankreichs Kraft erschöpft hatte, d. h. die Allianz der Seemächte, Eng­ lands und Hollands, mit Oesterreich und dem deutschen Reiche, herzu­ stellen, nm Oesterreich gegen Frankreich frei zu machen, vermittelte Eng­

land den Frieden zwischen Oesterreich und Preußen. Friedrichs Rücktritt gab den Waffen Oesterreichs und Englands volles Uebergewicht, nicht mir in Böhmen, nicht nur am Mittelrhein.

Der

deutsche Kaiser Karl VII. wurde aus seinem Erblande getrieben, die Stände

Baierns huldigten der Königin von Ungarn und die Armeen Oesterreichs

überschritten den Rhein. Solche Erfolge, die seine junge Erwerbung in Frage stellten, zu hemmen, erhob Friedrich die Waffen zum zweiten Male.

Aber er traf

jetzt nicht nur auf Oesterreich und die Seemächte, er traf auch auf Sachsen,

welches im Breslauer Frieden leer auSgegangen zu Oesterreich hinüber­

trat, er fand Rußland unter den Gegnern. Die Regentschaft für den vierten Iwan war von Peters des Großen Tochter Elisabeth gestürzt worden (December 1741).

Auf Oesterreich

hatte sich die Regentschaft gestützt, die neue Kaiserin mußte sich gegen deren

Anhänger auf Frankreich und Preußen stützen.

Sie trat in vertraute

Beziehungen zu König Friedrich; sie verlangte für die Verheirathung ihres Thronfolgers Friedrichs Norschlag und nahm ihn an; eS war ihr Ge­

danke und

ihr Betrieb,

daß Friedrichs Schwester Ulrike dem Thron­

folger von Schweden vermählt wurde. Die Hinneignng seiner Kaiserin zu Preußen und Frankreich theilte

der Vicekanzler Alexei Bestuschew nicht; er hielt an dem alten System der Verbindung

Rußlands

mit Oesterreich

und

England.

Der Ge­

sandte Frankreichs in Petersburg, La Chetardie, versuchte ihn zu stürzen, um Rußland schärfer gegen Oesterreich zu stellen, Rußlands Kräfte für Frankreich gegen Oesterreich verfügbar zu machen.

Bestuschew wußte sich

Die Bildung der Koalition des Jahres 1756 gegen Preußen.

194

in den Besitz der Correspondenz La Chetardie'S zu setzen.

Die Kaiserin

ließ sich überzeugen, La Chetardie wurde über die Grenze gebracht

(Juni

1745). Dieser Bruch mit Frankreich zog den Bruch mit Preußen nach sich.

Elisabeth fand auf einmal, daß es ihre Pflicht sei, den König von Polen, Kurfürsten von Sachsen in seinem Erblande zu schützen: sie erklärte die

der

Ueberschreitung

Kriegsfall.

sächsischen

Grenze

durch

preußische

Truppen

für

Der Friede von Dresden ließ cs nicht dazu kommen.

Friedrich hatte die Gefahr, in der er sich befunden, in vollem Um­ fange erkannt.

Dem Ueberbringer eines Schreibens Ludwigs XV., D'Arget,

der ihn znrückhalten wollte, seinen Frieden mit Oesterreich zu schließen, der ihn auffordcrte, nach so glänzenden Erfolgen weiter zu gehen, der Friedensstifter Europa's zn werden, antwortete er: ich werde fortan keine

Katze mehr angreifen, es sei denn zn meiner Bcrtheidigung.

So lange der Krieg zwischen Oesterreich-England und Frankreich weiter ging, die Gegner ungefähr im Gleichgewichte blieben, hatte Friedrich nichts zu fürchte».

Er hielt sich streng neutral, freundlich mit England,

freundlich mit Frankreich, unzugänglich allen Bemühungen von dieser wie

von jener Seite, ihn für Frankreich oder für Oesterreich in Bewegung zu bringen.

Mit dem Friedensschluß von Aachen (7. November 1748)

änderte sich die Lage vollständig.

Elisabeth hatte die Mißstimmung nicht überwunden, im Herbste des Jahres 1745 zn spät gekommen zu sein. Haltung gegen Preußen.

wärtigem Krieg.

Sie beharrte in feindseligster

Noch begieriger trachtete ihr Kanzler nach ans-

Was hatte Rußland von solchem zu besorgen? Konnte

man nicht stets ungestraft ausfallen; wer wollte Rußland in seinen Grenzen

aufsuchen?

Dazli brauchte man Geld; die Seemächte waren bereit die

Rüstung zu zahlen, um Preußen im Zaum zu halten.

Mau mußte

Sachsen gegen Preußen schützen, damit hielt man Rußlands Einfluß in

Polen aufrecht und zugleich Preußens Emporkommen wirksam zurück.

So

geschah e6,. daß Sachsens Interesse in Petersburg die nachdrücklichste Ver­ tretung fand, daß Sachsen hier in eigenthümlichster Art einzuwirken ver­

mochte.

Der Kanzler war träg und ungewandt mit der Feder — der

sächsische Resident Fnncke wurde sein Concipist. Die Truppen, mit welchen Elisabeth im Herbste 1745 Preußen an­

zufallen gedacht hatte, blieben in Livland bei einander.

Mit Oesterreich

war im Frühjahr 1746 (22. Mai/2. Juni) abgeschlossen worden: nicht nur, wenn Friedrich Oesterreich angreifen sollte, sondern auch, wenn er

Polen oder Rußland angreift, ist der Friede von Dresden hinfällig, tritt Oesterreich in sein Recht auf Schlesien und Glatz zurück.

Den kriegslustigen Demonstrationen Rußlands an seinen Grenzen hatte Friedrich im Juni 1747 einen Dcfensivvertrag mit Schweden ent­ gegengestellt. Es war auf die Erhaltung der Ruhe im Norden abgesehen; ausdrücklich war stipulirt, daß Frankreich wie Rußland zum Beitritt ein« geladen würden. Bestuschew hegte entgegengesetzte Pläne. Gleich nach dem Aachener Frieden war es seine Absicht, durch einen Angriff auf Schweden Friedrich zum Kriege gegen Rußland zu bringen; der Krieg Preußens gegen Ruß­ land war auch der Krieg gegen Oesterreich, stellte diesem die Wieder­ gewinnung Schlesiens in Aussicht. England und Dänemark sollten mit­ wirken. Nicht nur die Thronfolge in Schweden sollte geändert werden; um Oesterreich vorwärts zu bringen, stellte Elisabeth auch die Thronfolge Karls von Lothringen, des Bruders des Kaisers Franz, in Polen in Aussicht. An Oesterreich erging die Frage, ob es Rußlands Angriff auf Schweden als casum foederis erkenne und unterstützen werde? (April 1749.) Man hatte sich in Wien zu entscheiden. Wie selbstverständlich das Verlangen war, verlorene Gebiete wieder zu nehmen, wie sehr Maria Theresia der Wiedergewinn Schlesiens am Herzen lag, sie fand es höchst gewagt, sich augenblicklich in einen neuen Krieg zu stürzen; ihre Lande müßten Ruhe haben sich zu erholen, die Armee und die Finanzen müßten nach den Entwürfen, die bereits gefaßt waren, auf einen besseren Fuß gebracht werden. Sic forderte die Gutachten ihrer Staatsmänner. Das des Unterhändlers des Aachener Friedens, des Grafen Kaunitz, ging dahin: Preußens Niederwerfung muß daö vornehmste Ziel der öster­ reichischen Politik sein. Die alten Alliirtcn, die Seemächte, werden dazu niemals ausreichende Hülfe bieten. Wohl fei Georg II., wohl seien die hannoverschen Minister von hinreichender Abneigung gegen Preußen beseelt; aber das protestantische Volk Englands werde niemals in die Vernichtung des Königs von Preußen willigen. Zur Bewältigung des­ selben reichten auch die verbundenen Kräfte Oesterreichs und Rußlands nicht aus. Erst wenn, unter Festhaltung der Allianz mit Rußland, die Unterstützung Frankreichs Friedrich entzogen, erst wenn auch Frank­ reichs Allianz gewonnen sei, wenn wenigstens Frankreich die Kosten übernähme, sei an Bewältigung Friedrichs zu denken. Es gebe Mittel und Wege sich mit Frankreich zu stellen. Mit der Ausführung dieses Plans müsse man sobald als möglich vorgehen; wenn dann weiter andere Staaten durch Aussicht auf Erwerb preußischer Landestheile dem Angriffe auf Preußen sich gesellten, sei an dem Erfolge nicht zu zweifeln. Ohne Sicherheit des Erfolges fei der Krieg gegen Preußen nicht zu beginnen (25. April 1749).

Man sieht, die vorhandene feste Verbindung im Osten mit Rußland bildet die Basis, von welcher aus der Versuch gemacht werden

soll, Oesterreichs System auch im Westen zu ändern und hier Frankreich an die Stelle Englands treten

zu

lassen.

Die Beschlüsse der Staats-

conferenz fielen dahin aus, vorerst defensiv zu verfahren, die Verbindung

mit den Seemächten demgemäß festzuhalten.

Den beabsichtigten Angriff

Rußlands auf Schweden bezeichnete Kaunitz als inopportun, der Angriff

müsse direkt auf Preußen gerichtet werden.

Auch der Hofkanzler Ulfeld

war der Meinung, daß Rußland in Schweden leicht stärkeren Widerstand

als es erwarte finden und seine Kräfte hier verbrauchen könne.

Ruß­

land sollte demnach zurückgehalten, das Verhältniß mit ihm jedoch unter allen Umständen festgehalten, England, Holland und Sachsen 511m Bei­ zum Petersburger Bündniß

tritt

vom

Frühjahr 1746

bestimmt, vor

allem sollte aber England vermocht werden, für die Bereithaltung einer gewissen Truppenzahl an den Grenzen Preußens Rußland Subsidien zu bewilligen.

Das Verständniß mit Frankreich anzubahnen ging Graf

Kaunitz selbst als Gesandter Maria Theresias im October 1750 an

den Hof Ludwig's XV.

in Wien im Grunde sehr

unzufrieden

mit den alten

England habe die Noth Oesterreichs benutzt,

ihm Schlesien

war

Man Alliirten.

für den König von Preußen, Finale, Anghiera und das Novarese für den

König von Sardinien abzupressen.

Hinter dem Rücken Oesterreichs hätten

die Seemächte die Präliminarien des Aachener Friedens mit Frankreich

vereinbart.

Der Gedanke der Verständigung mit dem bisherigen

Gegner, mit Frankreich, war nicht neu. Der polnische Successions­

krieg

hatte

im Jahre 1735

mit dem Einverständniß

Frankreichs

Oesterreichs, dem sogenannten Bunde der katholischen Mächte,

und

geendet.

Im Vertrauen auf dieses Einverständniß hatte Maria Theresia im Herbste 1740 König Friedrichs Forderungen und Anerbietungen zurückgewiesen.

Ein Jahr darauf hatte sie ihren vertrauten Sekretair Koch

abgesandt,

mit Frankreich auf der Grundlage flandrischer Abtretungen abzuschließen. Nach den Schlachten von Hohenfriedberg und Soor hatte Graf Harrach Befehl nach Dresden zu gehen, um dort nicht mit Friedrich, sondern

mit dem Gesandten Frankreichs, Vaugrenand, Frieden zu schließen. Die

Schlacht

von Kesselsdorf kreuzte diese Absicht.

Danach war im Jahre

1746 die Tochter August's III. von Sachsen-Polen, Maria Josepha, die

Gemahlin des Dauphin geworden; man meinte französischer Seits, Sachsen

dadurch dem österreichischen System zu entziehen und auf die Seite Frank­

reichs

zu

stellen.

Seitdem ließ Maria Theresia durch den Gesandten

Kur-Sachsens in Paris, Grafen Loß, über einen Sonderfrieden verhan-

dein,

Präliminarartikel vereinbaren; und

Kaunitz

während

nicht minder versuchte Graf

der Verhandlung des Aachener Friedens selbst durch

Zugeständnisse in Italien und Belgien zu einem Sonderfrieden mit Frank­

Freilich blieb damals der Liebe Mühe vergebens.

kommen.

reich zu

die verlorenen

Oesterreich, nur England konnte Frankreich

Nicht

Kolonieen zurückstellen.

Wer wollte erstaunen, daß nun nach dem Frieden wieder ausge­

nommen wurde, was während des Krieges mißlungen war?

der Niederlande,

die Oesterreich aus

war in Wien von

dem spanischen Erbe zugefallen,

vorn herein nicht erwünscht gewesen.

Es waren die

beiden Seemächte, die durch die Uebergabe derselben an

Oesterreich auf die Wacht gegen Frankreich gestellt hatten.

sollte England davor bewahren,

den Niederlanden Händen

Frankreichs

Der Besitz

zu sehen, Hollands

Sicherheit

Oesterreich,

Oesterreich in

Antwerpen

in

den

gewährleisten, die

Brücke zwischen England und Oesterreich schlagen und den Kitt der Allianz bilden.

man

Das

diese

waren Englands Interessen.

In Wien fand man,

Lande unter lästigen Bedingungen besitze.

daß

Man war ver­

pflichtet, die Barrivreplätze gegen Frankreich zu unterhalten, den Hollän­ dern für ihre Besatzungen in denselben jährlich mehr als eine Million

Gulden zu

zahlen.

war der Handel Belgiens zu Gunsten des

Dazu

holländischen vertragsmäßig unterbunden, die Schelde zu Gunsten Hollands

geschlossen.

Man dachte

frühzeitig in Wien daran, sich dieses lästigen

Besitzes zu entäußern; schon im Reichsfrieden von Baden hatte man sich den eventuellen Austausch des Landes vorbehalten. Jetzt war beschlossen, nicht länger gegen Frankreich Schildwacht zu

stehen, sich dieses aüfgezwungenen Gegensatzes gegen Frankreich zu ent­ ledigen.

Die Vorbedingung war, die holländischen Besatzungen aus dem

Lande zu bringen.

Kaunitz hatte die Erwähnung des Barrisretraktates

im Aachener Frieden zu umgehen verstanden; unter seiner Direktion ging man ans Werk, Festungen

sich demselben vollständig zu entziehen.

verfallen; man

Man ließ die

zahlte den Holländern die Besatzungsgelder

nicht; man änderte den Zolltarif zu Ungunsten Hollands und Englands; man ließ die lauten Klagen

der Seemächte unberücksichtigt; man zeigte

Frankreich, daß man ihm hier fortan keine Barriere ziehe.

Die Annäherung an Frankreich positiv einzuleiten, empfing Maria

Theresia den Gesandten Frankreichs, der nach dem Aachener Frieden wieder

in Wien erschien, mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß ihr Abgesandter

im Herbste des Jahres 1741 zu spät gekommen sei, um Oesterreich und Frankreich auSzusöhnen; daraus sei alles Unheil entstanden; sie betheuerte

ihm und seinen Nachfolgern ihre friedlichsten Gesinnungen, sie thue alles, Preiijiisch« J.ihrbüchcr. Bd.Xl.IX. .frcft •>.

14

198

Die Bildung der Coalition des.Jahre« 175G gegen Preußen.

UM Rußland zurückzuhalten —

und

für den Augenblick sprach sie die

Wahrheit — nur der König von Preußen sei es, der durch seinen Ehr­

geiz und

seine Umtriebe

stets mit Krieg bedrohe.

immer

wieder Unruhe errege und Oesterreich

Der Beitritt Englands zum Petersburger Ver­

trage (er wurde 1751 vollzogen) sei nicht ihr Werk, sondern das Werk

Bestuschew's, und wenn die Frage der römischen Königswahl das Deutsche Reich bewege: nicht sie, England habe dieselbe aufgeworfen; auch hierin Rücksichten auf Frankreich hielten Oesterreich zurück.

war sie nicht unwahr.

In Paris sagte Kaunitz den Ministern König Ludwig's: was Frank­ reich denn im letzten Kriege in sieben Feldzügen gewonnen habe; nur die

Kleinen,

Brandenburg

zu unterstützen.

und Savoyen, hätten beim Hader der großen

Die Großen würden klüger handeln, sich gegenseitig

Staaten gewonnen.

Das Emporwachsen Preußens gebe dem Protestantismus

ein bedrohliches Uebergewicht, dem nur das Einverständniß der katholi-

lischen Mächte Schranken setzen könne. von den Seemächten

Die Unterstützung, die Oesterreich

im letzten Kriege erfahren, sei

im Grunde mehr

Preußen als Oesterreich zu Gute gekommen; aber auch Frankreich habe keinen Grund, sich der Unterstützung Preußens zu rühmen, drei Mal seien Frankreichs Interessen von Friedrich prcisgegeben worden.

Kaunitz meinte

den Waffenstillstand von Klein-Schnellendorf, den Frieden von Breslau

und den Frieden von Dresden. Wenn Kaunitz In Paris keine Fortschritte machte,

so war das die

Schuld gerade des Alliirten Oesterreichs, auf den cs sein System basirt

hatte, die Schuld Rußlands.

Bestuschew hörte nicht auf, Schweden zu

bedrohen, um den Verbündeten Schwedens, Preußen, zum Angriff auf

Rußland zu nöthigen.

In Paris war man der Meinung, daß es. den

fundamentalsten Interessen Frankreichs widerspreche, Schweden fallen, unter

den Einfluß, in die Abhängigkeit von Rußland kommen zu lassen.

Von

den drei Stützpunkten Frankreichs im Osten, von der Pforte, Polen und Schweden, sei Polen

durch

den Frieden von Wien verloren; Schweden

müsse demnach um so nachdrücklicher gegen Rußland gehalten werden, — und man vermochte Schweden nicht anders als durch Preußen gegen Ruß­

land zu halten.

So führten die Bedrohungen Schwedens durch Rußland ein engeres und näheres Einverständniß zwischen Frankreich und Preußen herbei als irgend zuvor bestanden hätte.

Dänemark würde diesem Einverständniß

durch die Besorgniß, Rußland könne zu erdrückendem Uebergewicht im

Norden gelangen, gewonnen.

Die Pforte erklärte, sie werde einem An­

griffe Rußlands auf Schweden, ihren alten Alliirten gegen Rußland, nicht

unthätig zusehen.

Friedrich sah sich an der Spitze

einer großen Ver-

Die Bildung der Loalition des Jahres 17.5(1 gegen Preußen.

199

binbung, in einer Stellung, in welcher er den Kräften Oesterreichs und Rußlands mehr als gewachsen gegenüberstand.

Kaunitz verzweifelte, mit seinem Systeme vorwärts zu kommen.

Es

sei für jetzt wenigstens auch nicht die leiseste Hoffnung vorhanden, Frank­ reich von Preußen trennen zu können, schrieb er im Mai 1751: dem Ent­ schlusse der Kaiserin müsse er demnach anheimstellen, ob an dem Plane,

der vor zwei Jahren als Richtschnur des politischen Systems angenommen

worden sei, festzuhalten, ob derselbe aufzugeben sei.

Werde Oesterreich

durch Rußland in den Krieg gegen Schweden gezogen, so sei eS von zwei Seiten (von der Pforte und von Frankreich) bedroht; wie könne man sich

mit der Hoffnung schmeicheln, nach einer dritten Seite hin ein verlorenes Land wieder zu erobern? Zur Befestigung der eigenen Sicherheit bleibe

nur die Aussöhnung

mit Preußen übrig.

Diese sei

möglich.

König

Friedrich liege die Sicherheit seiner schlesischen Erwerbung am meisten am Herzen.

Er könne dieses Ziel am sichersten

durch Oesterreich erreichen

und sei klug genug, diesen Weg zu betreten, sobald er ihm geöffnet werde.

Kaunitz wußte demnach sehr gut, daß Friedrich nicht an Krieg und neue Erwerbungen, noch weniger daran benfe, Oesterreich zu überfallen.

Der Urheber „beS großen Desseins-" verzweifelte an besten Durch­

führbarkeit, Maria Theresia nicht. jahrs 1749 festzuhalten.

Sie befahl, an bem Plane beS Früh­

Die Ausdauer schien Frucht zu tragen.

Da

man in Paris keine Fortschritte machte, suchte man ben Weg nach Paris

über Mabrib.

Es gelang, mit

ben bourbonischen Höfen Italiens unb

Spaniens in Verbindung zu treten; der Vertrag von Aranjuez zwischen Spanien, Parma und Oesterreich (am 14. April 1752 abgeschlossen) ge­

währte Oesterreich für den Kriegsfall

höchst erwünschte Sicherheit,

in

seinen italienischen Landen nicht wiederum wie im SuccessionSkriege an­ gegriffen zu werden.

Als Kaunitz im April des Jahres

1753 nach Wien zurückgerufen

wurde, die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten in seine Hand zu nehmen, hatte er, trotz eifrigster Hülfe Sachsens, in Paris doch nicht viel

mehr erreicht, als eine günstigere Gesinnung König Ludwig'S und ein

vertrautes Verhältniß zur Marquise von Pompadour; durch sie wußte er, daß Ludwig XV. persönlich dem König von Preußen ungünstig gestimmt,

daß er in seinem Herzen nicht abgeneigt sei, dem Bunde mit Oesterreich den Vorzug zu geben.

Dem Staatskanzler Kaunitz schien jedoch noch weniger als dem Gesandten die Ausführung der großen Absicht beschieden zu sein.

Her-

annahende Conflikte drohten Oesterreich vielmehr schärfer gegen Frankreich

zu stellen als jemals.

Differenzen zwischen Sachsen und Preußen, zwischen

14*

Die Bildung der Coalition beS Jahres 175G gegen Preußen.

200

England-Hannover und Preußen, jene über die Befriedigung preußischer Besitzer sächsischer Steuerscheine, diese über den Ersatz der Schädigungen,

welche

die neutrale

preußische Flagge von

englischen Kreuzern

1746,

1747 und 1748 erfahren, über die Belehnung mit Ostfriesland, nahmen einen akuteren Charakter an.

Der Kaiserin Elisabeth, — seit acht Jahren demonstrirte sie unab­ lässig an den Grenzen Preußens — war damit endlich der langersehnte Moment der Aktion gegen Preußen gekommen: sie war entschlossen, für

Sachsen und Hannover einzutreten.

Am 15. Mai 1753 forderte sie in

Person die Vota ihrer Staatsmänner: ob es dem russischen Reiche convenire, daß Preilßen sich noch mehr vergrößere, mit welchen Mitteln und

in welcher Weise den Bundesgenossen (auch Sachsen war inzwischen dem Petersburger Vertrage von 1746 beigetreten) Beistand zu leisten sei.

„Sie

gestehe, daß sie mit einem so ruhestörerischen Nachbar wie Preußen einen Krieg zu haben wünsche."

Das Conseil beschloß: Preußensei auf seinen

früheren mäßigen Stand zurückzuführen, es sei sofort ein be­ deutendes Corps zusammenzuziehen; sobald man der Mitwirkung Oester­

reichs uud Sachsens sicher sei, könne man nicht nur, wenn Hannover an­

gegriffen werde, eine Diversion in Ostpreußen machen, sondern auch ohne solchen Anlaß Preußen den Krieg erklären und diesen beginnen.

Die

Truppen in Liefland wurden auf 60,000 Mann gebracht. Die verstärkte Rüstung Rußlands, seine drohende Sprache verstärkte

die alte Gegenwirkung.

Frankreich erklärte, wenn Richland 60,000 Mann

gegen Preußen aufstelle, werde es seinerseits 60,000 Mann an der Grenze der Niederlande versammeln.

Wiederum standen Preußen und Frankreich

fest bei einander, — Kaunitz war in Gefahr, das Gegentheil seines Pro­

gramms sich verwirklichen zu sehen.

Er that Alles, den „lobenswerten Kriegseifer Rußlands" zu zügeln. Es gelang ihm nicht ohne Mühe.

die Situation verwerthet

Nur dazu mußte nach seiner Meinung

werden, England

zu

bestimmen,

60,000, noch besser 150,000 Russen in Sold zu nehmen.

wenigstens Dies zu er­

reichen, ließ er es in London an eindringlicher Vorstellung nicht fehlen. ES war eine Verwickelung jenseits des Oceans, welche diese Span­

nungen löste und dem Grafen Kaunitz die Aussicht eröffnete, das Pro­ gramm von 1749 endlich ins Werk zu setzen.

Die Grenzen des englischen

und französischen Besitzes in Nordamerika waren im

Aachener Frieden

der Regulirung durch Commissarien Vorbehalten worden. sich nicht einigen können.

Diese hatten

Französischer Seits war man darauf bedacht,

Kanada und Luisiana in Verbindung zu bringen; längs der Seen, am oberen Ohio,

am Missisippi

eine Kette von Forts

aufzurichten.

Die

englischen Kolonisten wären dadurch Westen hin auSzudehnen,

schränkt worden.

gehindert worden,

sich weiter nach

auf das Land diesseits der AlleghanieS be­

Das englische Ministerium gab den Gouverneuren der

westlichen Kolonieen Weisung, die Anlage französischer Forts in streitigen

Gebieten nöthigen Falls mit Gewalt zu hindern.

Im Frühjahr 1754

(28. Mai) kam es zu den ersten Feindseligkeiten zwischen virginischen Milizen und französischen Abtheilungen auf den großen Wiesen am oberen

Ohio.

England und Frankreich verhandelten über einen Ausgleich, be­

gannen aber zugleich zu rüsten.

Friedrich zweifelte im Frühjahr 1755

kaum noch daran, daß man von Rüstung zu Rüstung und damit zum Kriege

kommen werde.

Er wünsche nichts dringender, schreibt er am 1. März

1755, seinem Gesandten in London, als den Ausgleich, damit der Friede

Europa wenigstens noch für einige Zeit gewahrt bleibe, aber fürchte das Gegentheil.

Er begehrte dann zu wissen, ob England seine festländischen

Alliirten gegen Frankreich aufbicten werde.

Der Gesandte erwiderte: daS

das Ministerium Englands sei einem Ausgleiche geneigt, daS englische

Bolk dränge zum Kriege, und der Gesandte Oesterreichs ermuntere dazu.

Die Ausdehnung des Krieges der Weltmächte auf das Festland war in keiner Weise geboten.

Die Seemächte England und Holland hatten

dem Kriege Oesterreichs und Frankreichs um die polnische Königswahl (1733 — 1735) thatloS zugesehcn.

Die deutschen Mächte konnten ebenso

ruhige Zuschauer des ausbrechenden Seekrieges bleiben.

Für Frankreich

war es ein entschiedener Bortheil, wenn es, unbeschäftigt auf dem Fest­

lande, seine gesammte Kraft auf den Seekrieg zu verwenden in der Lage blieb; England konnte durch einen gleichzeitigen Landkrieg doch nur in zweiter Linie, in den Niederlanden, in Holland und Hannover getroffen werden.

Nachmals zu Neisse im Jahre 1769 gaben sich Friedrich und

Joseph das Wort, in dem Kriege der Westmächte, dessen AuSbruch da­

mals erwartet wurde (Frankreich hatte eben Korsika okkupirt), einander nicht anzugreifen.

In dem fünfjährigen großen und schweren Seekriege,

den Frankreich und Spanien gegen England führten, um England an der Wiederunterwerfung seiner Kolonieen in Nordamerika Preußen wie Oesterreich Zuschauer geblieben.

zu hindern, sind

Sie hätten es auch in

dem Kriege der Westmächte bleiben können, der im Frühjahr 1756 zum AuSbruch kam.

Graf Kaunitz hatte eS anders beschlossen.

Hatte der im Jahre 1740

eben beginnende Seekrieg der Westmächte es Friedrich erleichtert, sich zu

erheben, der WiederauSbruch desselben sollte ihn stürzen.

Die Ausdeh­

nung des Krieges auf das Festland gab Kaunitz die Wahl, für England

oder für Frankreich einzutreten, Frankreich von einem neuen Kriege mit

Die Bildung der Coalition de« Jahres 1756 gegen Preußen.

202

Oesterreich zu entlasten, ihm Oesterreichs Allianz zu bieten.

Die Neu­

tralität, so sagte Kaunitz seiner Kaiserin, würde uns die alten Freunde rauben und neue nicht erwerben.

Bleiben wir in der Allianz mit Eng­

land, so werden wir von Frankreich angegriffen, wir erschöpfen die Kräfte

deS Staates vergebens.

Welchen Kriegspreis hätten wir in diesem Bunde

zu hoffen — der einzige, den wir brauchen, ist Preußen, und gerade den

gewähren unS die Seemächte niemals.

Aber noch war der Krieg nicht ausgebrochen.

Ihn zum Ausbruch

zu bringen, ihn auf das Festland hcrüberzuziehen, ermunterte Kaunitz

England zum Kriege, deutete er in London an, daß Oesterreich seinem

alten Alliirten

treu

zur Seite

stehen

werde.

Oesterreich

sei bereit,

50,000 Mann in die Niederlande zu schicken, wenn England die Kosten

tragen wolle, es sei dringlich, daß England sich endlich entschließe, die

langen Berhandlungen

über

die

Rußland zu

gewährenden

Subsidien

schleunigst zu Ende zu bringen (Aiärz, April 1755). England ist außer Stande, so rechnete Kaunitz nach seinen eigenen Worten, Belgien und Hannover ohne Bundesgenossen gegen Frankreich

und Preußen zu verlheidigen.

Entziehen wir England unsere Allianz, so

muß eö einen anderen Alliirten suchen.

Es findet keinen außer Preußen.

In diesem Augenblick würde Frankreich Englands Platz bei unS einnehmen. Besitzer der Niederlande haben wir das Mittel, Frankreich zu gewinnen,

selbst wenn sein eigenes Interesse es nichr auf unsere Seite triebe. Absicht ging

zunächst dahin: England vorzuhalten:

Seine

wir können wenig

oder nichts für die Niederlande thun, da wir den Angriff Preußens zu befahren haben (er war vom Gegentheil überzeugt), um dadurch Englaud

zu nöthigen, die russische Armee in Sold zu nehmen, d. h. giußlaud Geld­ mittel für die Rüstung zur Perfügung zu stellen, und weiterhin die Allianz Preußens zu suchen.

haben.

Wir brechen mit England nicht, bis wir Frankreich

Frankreich zahlt nur, wenn und solange es sieht, daß wir Eng­

land haben können.

„Ich habe bisher an der Allianz mit England fest-

gehalten, aber mein Benehmen Frankreich gegenüber so eingerichtet, daß

wenn Zeiten und Umstände eintreten sollten, die eine große Entscheidung

anrathen, die Annäherung möglich ist." Höchst vorsichtig, höchst gedeckt und höchst consequent ging Kaunitz an die Ausführung des Systemwechsels.

Wie er gerathen, sendete England gleich

im April Sir Eharles

Hanbury Williams nach Petersburg, um die russische Armee in Sold

zu nehmen und das russische Cabinet zu überzeugen, daß Rußland eine asiatische Macht bleiben werde, wenn es Preußen nicht niederhalte.

Die

Truppen deutscher Fürsten in Sold zu nehmen, begab sich König Georg II.

selbst nach Hannover. weit zu öffnen.

Man war Bereit, hier wie dort die Börse sehr der Niederlande war ja nach

Für die Bertheidigung

Kaunitz Zusage sicher auf Oesterreich zu zählen.

England fand, daß

Oesterreich nun wohl selbst beklagen werde, auf alle Vorstellungen wegen

der Barriere nicht früher gehört zu haben: der Streit mit Holland müsse rasch beendet, die Festungen hergestellt, mit ausreichenden Besatzungen

versehen, für die Sicherheit Hollands gesorgt werden.

Man erstaunte

in London sehr bald über die Saumseligkeit Oesterreichs, man begriff dessen Zögern und Unthätigkeit nicht.

Seine Truppen in den Nieder­

landen, einschließlich Luxemburgs, zählten kaum 14,000 Mann.

Kaunitz

dedueirte ausführlich, welche Kosten die Saniere Oesterreich verursacht

habe und bezog sich darauf, daß das Centrum der Monarchie nicht wohl

da man sich hier auf einen Angriff Preußens

entblößt werden könne, gefaßt halten müsse.

Seitö durch

Dies Hinausziehen,

welches man sich englischer

den Hintergedanken Oesterreichs,

sehr hohe Snbsidien zu

ziehen, erklärte, zu enden, verlangte Graf Holderncß endlich ziemlich ge­

bieterisch in Wien, daß wenigstens 30,000 Mann unverzüglich nach den 'Niederlanden in Nkarsch gesetzt würden; die Wehrlosigkeit derselben lade

Frankreich zur Invasion ein (1. Juni 1755). Gerade daran war dem Grafen Kaunitz gelegen.

Er wollte Frank­

reich zeigen, daß er Belgien nicht zu vertheidigen gedenke.

Als die dring­

liche Forderung einlief, fand Kaunitz, daß Englands Absichten lediglich darauf gerichtet seien, Oesterreich gegen Preußen wehrlos zu machen und

in den Krieg gegen Frankreich zu verwickeln.

Eine starke Besetzung der

Niederlande, so erwiederte er am 21. Juni, würde Frankreich zum An­

griff auf dieselben provociren.

England fordere, unterlasse aber anzu­

geben, was es selbst zu leisten gedenke.

Während nichts für die Sicher­

heit Oesterreichs gegen Preußen dringender

sei

als

der Abschluß des

englisch-russischen Vertrages, während diese Sicherung Oesterreichs durch die russische Armee Oesterreich allein in die Lage setzen könne, Truppen in die Niederlande zu senden, markte England in Petersburg um Pfunde

(Bestuschew

forderte

für den Frieden 120,000 Pfund, für den Krieg

500,000 Pfund jährlich).

Man wolle mit der Wahrheit nicht zurückhalten,

daß die Niederlande Oesterreich im Frieden nichts einbrächten, dagegen die Monarchie in alle Kriege verwickelten.

Sollten sie verloren gehen,

so sei das ein Verlust, den Oesterreich verschmerzen könne.

Dennoch sei

man bereit 10—12000 Mann nach den Niederlanden marschieren zu lassen, wenn England die conditio sine qua non erfülle, 20,000 Mann dorthin

zu senden, die dort gleichzeitig mit der österreichischen Verstärkung ein­ träfen, und weiter der englisch-russische Vertrag geschlossen sei.

Ton und

Die Bildung der Eoalition des Jahres 1756 gegen Preußen.

204

Forderungen des Schriftstückes überraschten den Vertreter Englands in Wien, Lord Keith.

Auf seine Frage, auf welchen Grundlagen man sich

würde einigen können, antwortete Kaunitz: Preußen

angreift"

(24. Juni) d. h.: die

„wenn man den König von Bedingung

unserer Verbin­

dung mit Euch ist, daß Ihr mit uns in den Vernichtungskrieg gegen Preußen geht.

„Die Antwort Englands auf unsere Erklärung", so sagte „Kaunitz seiner Kaiserin (27. Juni),

„wird Klarheit darüber

Voraus.

geben,

auf welche

Kaunitz kannte diese Antwort im

Seite sich Oesterreich zu stellen hat."

Als Sir Charles in Petersburg am 9. August den Soldvertrag

mit Rußland gezeichnet, Graf Holderneß am 12. August in Hannover die Aufforderung an den Vertreter Oesterreichs, Colloredo, gerichtet: Oester­ reich möge die Erklärung abgeben, daß es nicht daran denke, Krieg gegen

Preußen zu beginnen, der in diesem Augenblick nicht zeitgemäß wäre — war der Moment der Entscheidung

gekommen.

Während Kaunitz im

Frühjahr in London das Feuer geschürt, hatte er Frankreich der fried­ lichsten Gesinnungen Oesterreichs versichern und dessen dringenden Wunsch, zur Ausgleichung

des ConflikteS mit England

beizulragen,

-Jetzt, am 19. August, sagte er seiner Kaiserin:

lassen.

ausdrücken

„Preußen muß

über den Haufen geworfen werden, wenn das Erzhaus aufrecht bleiben Die „Gelassenheit", d. h. die friedliche Haltung, deS Königs von

soll."

Preußen habe bereits Mißtrauen in Paris erweckt, dies müsse sich steigern, da eS im Interesse der preußischen Politik liege, sich vom Kriege fern zu

halten.

Diese Complication der Umstände werde nie

wieder eintreten

Demgemäß seien nunmehr die gesammten Niederlande Frankreich anzu­

bieten, Luxemburg für Frankreich, das übrige Gebiet für den Schwieger­ sohn Ludwig'S XV., den Gemahl seiner Lieblingstochter, Philipp von Parma,

sobald Oesterreich wieder im Besitz von Schlesien und Glatz sei; d. h. man war bereit, ein bei weitem reicheres Gebiet aufzugeben, um ein ärmeres,

aber

im Zusammenhänge des Staates liegendes Gebiet wieder zu ge­

winnen.

Man könne ferner dem Könige von Frankreich zusagen, zur Er­

füllung seines Wunsches, den Prinzen Conti auf den polnischen Thron zu

erheben, nach Kräften mitzuwirken.

Dagegen sei nur zu verlangen, daß

Frankreich auf die Allianz mit Preußen verzichte und zu den Kosten der Aus­ führung des Planes beitrage (d. h. England in Petersburg ersetze).

Den

Bundesgenossen Frankreichs müßten Landerwerbungen auf Kosten Preußens

zugebilligt werden, dessen Gebiet „auf den Umfang vor dem dreißig­

jährigen Kriege zu reduciren sei".

Rußland müsse dahin disponirt

werden, daß es

im nächsten Frühjahr (1756) mit 80,000 Mann in

Preußen einfalle.

England gegenüber bleibe man inzwischen dadurch ge-

deckt, daß, so lange Oesterreich durch einen Einfall Preußens in seinem

Herzen bedroht sei, Unterstützung in den Niederlanden zu gewähren nicht ausführbar sei. Am 21. August 1755 ging das große Angebot (eS sollte im tiefsten

Geheimniß der Marquise oder dem Prinzen Conti anvertraut werden),

von einem Schreiben deS Grafen Kaunitz an die Marquise begleitet, an Kaunitz' Nachfolger in Paris, den Grafen Starhemberg, ab; er sollte be­

tonen, daß Preußen im Begriff sei, sein Bündniß mit Frankreich einem Bündniß mit England zum Opfer zu bringen.

„Die Vorsehung", so

schreibt Kaunitz dem Grafen Starhemberg, „hat Sie dazu auöersehen, das

Werk glorreich zu vollenden, wozu sich mir selbst während meines Aufent­ haltes in Paris gar kein Anlaß bieten wollte."

König Ludwig XV. war von vorn herein bereit, auf die Allianz mit

Oesterreich einzugehen.

Er übertrug die Unterhandlung dem Freunde der

Marquise, dem Abbe Bernis, unter Ausschluß seiner Minister, „deren

Vorurtheil gegen den Wiener Hof er kenne".

Bernis sagt uns: „einige

der Vorschläge Oesterreichs waren geeignet, das weiche und väterliche Herz

des Königs für seine Kinder und Enkel zu rühren." ihren Werth zu erhöhen.

Starhemberg wußte

Lehne Frankreich ab, so sei daS der Krieg, den

Oesterreich gegen Frankreich zu führen niemals in besserer Lage gewesen:

von Rußland und England unterstützt, im Einvernehmen mit Spanien und dadurch in Italien gesichert.

Als Bernis dem Könige einige schüch­

terne Bedenken über die Folgen einer so fundamentalen Wandlung des politischen Systems äußerte, erwiderte Ludwig:

deren der Königin von Ungarn Feind."

„Ihr seid wie die An­

„Die Allianz mit Oesterreich

sei der Wunsch seines Lebens, das einzige Mittel, die katholische Religion aufrecht zu halten."

Wenigstens nicht blind gedachte Bernis zuzugreifen.

Man müsse darüber klar sein, ob die Annäherung an Frankreich nicht etwa nur deshalb versucht würde, Preußen und Frankreich einander zu

für die Unterstützung,

entfremden oder England zu bewegen,

Oesterreich gewähren solle, höheren Preis zu zahlen.

die ihm

Demgemäß wurde

die Geneigtheit Frankreichs ausgesprochen, in Allianz mit der Kaiserin zu

treten, ohne die Allianz mit Preußen, gegen dessen Bundestreue nicht der leiseste Verdacht vorliege, aufzugeben.

In geschicktestem Schachzuge ließ

Kaunitz das Angebot der Niederlande zurückziehen —, wie er selbst sagte,

die Wirkung des Anerbietens zu mehren, und erklären: unter diesen Um­ ständen bleibe Oesterreich nur übrig,

sich mit Spanien und anderen

Machten, d. h. den bourbonischen Höfen Italiens, gegen den zu verbinden,

der zuerst den Frieden von Aachen breche. reichs ernste Absicht dahin gehe,

nicht

Er bewies damit, daß Oester­

auf Englands Seite zu stehen.

206

Die Bildung der Coalition des Jahres 1756 gegen Preußen.

DaS Verlangen Frankreichs nach Verdeutlichung

dieser Proposition er­

widerte Kaunitz mit der Forderung des Verzichts Frankreichs

Allianz.

preußische

Nunmehr

Frankreich garantiren sich

schlug

vor:

Frankreich

ihre Besitzungen;

gegenseitig

auf die

Oesterreich

und

mit Ausschluß

Englands werden alle übrigen Mächte zum Beitritt eiiigeladen; Frank­ reich

behält sich den Angriff auf Hannover vor.

Seinen

bisherigen

Bundesgenossen, Preußen, konnte Frankreich doch nicht fallen lassen, bevor

Oesterreich seinen bisherigen Bundesgenosse», England, ebenmäßig auch formell aufgegebe» hatte. So

weit

waren Oesterreich

Frankreich,

und

als

die

Friedrich's, die Kaunitz vorzeitig in Paris denuncirt hatte,

eintrat.

Das Verhalten Oesterreichs

Wendung

thatsächlich

bezüglich der Niederlande,

seine

Erklärung vom 21. Juni, jenes Gespräch zwischen Keith und Kaunitz, die Zurückziehung

der

österreichischen

Geschütze

ans

den Barriere-Plätzen

überzeugten endlich Georg II. und seine Minister, daß Oesterreich zwar den Krieg, aber nicht gegen Frankreich, sondern gegen Preußen wolle. Hatte man demnach auf den alten Alliirten nicht mehr zu rechne», wie sollte

man die dtiederlande,

Holland, welches

in Folge

der Haltung

Oesterreichs nur nur »och Zkeutralität ersehnte, Hannover decken, wenn

es zum Landkriege kam?

Man war auf die hannoverschen Truppen, ans

die Hessen, auf die Russen, die man gemiethet, angewiesen.

Unter solchen

Umständen war es geboten, auf den Landkrieg zu verzichten, sich auf die Defensive in diesem zu beschränken, wenn er nicht zu vermeiden war; die

Sicherheit für Hannover auf anderem Wege zu suchen.

wirklich so

gewiß,

War es denn

daß Preußen Hannover angreifen werde?

wirklich volle Solidarität zwischen Preußen

und Frankreich?

Bestand War es

denn aussichtslos, den Frieden auf dem Festlande zn erhalte», wenn man sich mit Preußen verständigte, aussichtslos, Schutz für Hannover zu finden, wenn man ihn in Berlin suchte?

Herzog Karl von Braunschweig übernahm, König Friedrich zu sondiren, ob er geneigt sein möchte, das Feuer des Krieges von Hannover und Preußen fern zu halten (11. August 1755).

König Friedrich hatte die Aufforderung Frankreichs, Hannover zu

attakiren, im Frühjahr (6. Mai) sehr bestimmt abgelehnt: sein Bündniß mit Frankreich sei defensiver Natur.

Aber der Zusage, welche England

suchte, wich er aus; er rieth zum Ausgleich mit Frankreich unter Ver­ mittelung der beiderseitigen Verbündeten.

Als England solchen nicht mehr

für möglich erklärte, war er bereit seinerseits zu erklären, Hannover nicht

anzugreifen;

Frankreich

vom Angriff

trug er vorerst Bedenken,

auf Hannover abzuhalten, dazu

sich zu verpflichten (13. October).

Seinen

Vertreter in London wieS er an, den Ministern dort hinzuwerfen: erfolge

der Einmarsch russischer Truppen in Deutschland, übel zum Kriege genöthigt (14. October).

so sei er

wohl oder

Darauf hin wurde hier dem

Gesandten der Wortlaut des endlich abgeschlossenen englisch-russischen Ver­

trags unter der Versicherung mitgetheilt, daß derselbe nicht gegen Preußen gerichtet, daß er nur eine Vorsichtsmaßregel sei, daß die zur Verfügung Englands gestellte russische Armee nicht marschiren werde, wenn Hannover

nicht

bedroht,

der Friede auf dem Festlande

erhalten bleibe.

König

Friedrich sei in der Lage, ihn in Deutschland zu erhalten, wie ihn Spanien in Italien wahre.

AuS Petersburg

in denselben Tagen zuverlässige Kunde, die

kam

Beschlüsse deS 15. Mai 1753 seien dort in der Conseilsitzung am 7. Octo­ ber wieder ausgenommen worden; es sei beschlossen worden, die „Funda­

mentalmaxime", d. h. die Niederwerfung Preußens festzuhallen: Preußen wird ohne DiScussion angegriffen, wenn Friedrich einen Alliirten Ruß­ lands angreift oder von einem Alliirten Rußlands angegriffen wird.

Zu

Riga, Mitau und Libau sind für 100,000 Mann Magazine zu etabliren. Friedrich hatte seinen Entschluß zu fassen.

Weder Rußland noch

Oesterreich vermochte er irgend einen Dienst zu bieten, der Rllßlands KriegSeifer,

Oesterreichs Vergeltungseifer entwaffnen konnte:

nichts als Frankreich oder England seine Waffenhülfe bieten. forderte die Occupation Hannovers.

Er sah

er konnte Frankreich

Rußland kriegsbereit,

durch Englands Geldhülfe kriegsfertig, sich auf ihn zu stürzen. reich folgte; es

Oester­

folgten jedenfalls Hannover und Hessen, es folgten die

deutschen Staaten, die der vereinigte Einfluß Englands und Oesterreichs

DaS waren die gewaltigen Kräfte,

gegen ihn in Aktion setzen würde.

die er auf sich ziehen sollte.

Es war der Vernichtungskrieg, in den Frank­

reich ihn zu schicken trachtete, ohne daß er auf dessen Hülfe in höherem

Maße als in den Jahren 1744 und 1745 zu zählen gehabt haben würde; wie damals hätte Frankreich seinen Krieg in den Niederlanden geführt.

Von der

anderen Seite wurde vorerst nicht einmal seine Waffenhülfe,

sondern die Einnahme einer Position gefordert, die die Erhaltung des Friedens möglich erscheinen ließ.

ihn anzufallen.

Aber

England

Rußland war entschlossen und bereit,

erbot sich, die Russen zurückzuhalten.

Geschah dies, so hielt auch Oesterreich wohl das Schwert in der Scheide.

Friedrich schwankte »licht.

Mit eigener Hand entwarf er am 7. Dezember

die Instruktion für seinen Gesandten in London, einen Neutralitätsvertrag mit England zu schließen: England und Preußen verpflichten sich, frem­

den Truppen den Einmarsch in Deutschland nicht zu gestatten. soll seinen Bundesgenossen (Rußland,

Ersteres

er werde seinen Bundesgenossen

Die Bildung der Coalition des Jahres 1756 gegen Preußen.

208

Frankreich zurückhalten.

Am

23. Dezember ließ er in Paris erklären,

daß er auf Englands Vorschlag mit diesem über Aufrechthaltung der Neu­ tralität in Unterhandlung getreten sei, und am 3. Januar 1756:

„der

von Rußland und Oesterreich gegen ihn beabsichtigte Angriff nöthigt ihn, die Vorschläge

Englands

Die

anzunehmen."

Convention wurde

am

16. Januar zu Westminster gezeichnet. König Friedrich glaubte, mit diesem Schritte den Frieden erhalten zu

können.

Es war vielleicht möglich, neben dem Vertrage von Westminster

den Defensivvertrag mit Frankreich festzuhalten; er erklärte sich bereit, diesen,

der am 5. Juni ablief, zu erneuern.

Weder thatsächlich noch rechtlich

stand die Convention von Westminster mit demselben in Widerspruch; in Widerspruch nur mit der Absicht Frankreichs, England in Hannover zu treffen;

und

dem Anspruch,

den Frankreich

etwa

machen konnte,

daß

Preußen mit ihm gehe, begegnete der König mit der Frage, ob eö in Frankreichs Interesse liege, seinen Verbündeten vernichtet zu sehen. Warum

wollt ihr nicht, sagte Friedrich dem Herzog von iltivernais, einen Neu­

tralitätsvertrag mit Oesterreich schließen? Den Ministern Frankreichs schien der Entschluß Friedrich's in der

bedrohten Lage, in der er sich befinde, nicht befremdlich, König Ludwig und

die Marquise sahen die Dinge anders.

War die Politik König

Ludwig's vor Westminster bereit, die Allianz mit Preußen aufzugeben —

der Vertrag von Westminster, der Frankreich den Einfall in Hannover verlegte, diese mauvaise conduite, dieser Abfall, dieser Verrath Friedrich's wurde seinen Gegnern in Paris das Mittel, Frankreich in den Angriffs­

krieg gegen Preußen zu bringen.

Starhemberg erneuerte

das Angebot

Belgiens; es wurde am 7. Februar als Basis der Unterhandlung ange­ nommen.

Am 10. April begann Frankreich den Krieg gegen England,

am 1. Mai war der Defensivvertrag zwischen Oesterreich und Frankreich gezeichnet.

Die Verhandlung über die geheime Offensivallianz rückte bis

Mitte August dahin vor, daß Frankreichs Zusage fcststand,

Oesterreich

zwölf Millionen Gulden zu den Kriegskosten zu zahlen und 30,000 Mann

zum Kriege gegen Friedrich zu stellen. Nach Petersburg hatte Kaunitz im März Kunde seiner Verhandlungen

mit Frankreich gegeben.

Das Conseil beschloß am 25. März: der Krieg

gegen Preußen ist mit 80,000 Mann alsbald zu beginnen.

Man war

demnach hier in der Lage, die Erklärung, welche der Vertreter Oesterreichs, Esterhazy, am 10. April forderte: ob Rußland die Operationen zu er­ öffnen und den Angriff, den Oesterreich mit 80,000 Mann auf Preußen

machen werde, mit 60 — 70,000 Mann zu unterstützen bereit sei, unver­

züglich zustimmend abzugeben.

Elisabeth fügte hinzu: der Krieg müsse

so lange fortgesetzt werden, bis Rußland int Besitze Ostpreußens, Oester­ reich im Besitz von Schlesien und Glatz sei.

würden Sachsen und

begonnen,

Sobald die Operationen

Schweden zur Cooperation einzuladen

sein; Sachsen wäre das Herzogthum Magdeburg, Schweden Pommern

zuzusichern.

Bestuschew bemerkte, die bereitstehenden Truppen

betrügen

110,000 Mann in erster, 20,0M Mann in zweiter Linie; Preußen werde zugleich zu Wasser und zu Lande angegriffen werden.

Esterhazy meinte,

die russische Armee werde sicher im August vorgehen können (22. April).

Kaunitz

erwiderte:

da

die Unterhandlung

reichs gegen Preußen noch schwebe,

schmerzlich der Zeitverlust

über die

Offensive

Frank­

müsse der allgemeine Angriff,

sei, bis zum

so

nächsten Frühjahr verschoben

werden. Friedrich kam

seinen Gegnern zuvor: auf den Bericht seines Ge­

sandten in Paris, daß Maria Theresia ganz Belgien angeboten, wenn Frankreichs Hülfe sie in den Besitz Schlesiens setze, auf die sichere Kunde

von Petersburg, daß der Krieg gegen ihn beschlossen, daß Rußland mit 120,000, Oesterreich mit 80,000 Mann gegen ihn auftreten werde, der Beginn des Krieges jedoch auf das nächste Frühjahr verschoben sei, zog

er das Schwert.

Das kleinere Uebel, sagte

er,

als Angreifer zu er­

scheinen, ist dem größeren vorzuziehen, meinen Feinden Zeit zu lassen, vollständig vorbereitet mit vereinigten Kräften über mich herzufallen.

Am

29. August überschritten die preußischen Truppen die sächsische Grenze.

Nicht eventuelle Verpflichtungen problematischer Ausführung,

wie

Graf Hertzberg meinte, höchst positive Verpflichtungen bestanden gegen Friedrich,

als

er die Waffen

ergriff.

Der Krieg gegen ihn war von

Rußland und Oesterreich fest beschlossen; daS Eingeständniß der Gegner

liegt heut offen vor, daß Preußen im Frühjahr 1756 angegriffen werden sollte; nur um deS Erfolgs sicherer zu fein, hatte man den Angriff auf

das-folgende Frühjahr verschoben. Nicht- Maria Theresia, nicht Kaunitz waren es, die den Krieg gegen

Friedrich in erster Linie heraufbeschworen hsben; Oesterreich wußte nur

zu gut, daß seine Kraft nicht ausreiche, Schlesien wieder zu gewinnen.

Es

war die Feindseligkeit Rußlands, die von England mehr als zehn

Jahre hindurch genährte und von England bezahlte Feindseligkeit Ruß­ lands, welcher der Löwenantheil am Ausbruche des siebenjährigen Krieges

gehört. Preußen

Rußland hat den Knoten geschürzt. gab Oesterreich

Seine Feindseligkeit gegen

den festen Stützpunkt, der ihm erlaubte, die

große Coalition zu bilden, sich von den Seemächten loszusagen und Frank­ reich im gegebenen Momente zu sich hinüber zu ziehen; eine Aufgabe, die ihm durch die Stellung Sachsens in Petersburg und Paris, das hier

Die Bildung der (Koalition des JahrcS 175G gegen Preuße».

210

wie dort, wie in Wien Sicherheit gegen Preußen suchte, wesentlich er­

leichtert worden ist. Ohne den Kriegseifer Rußlands, das keinen Verlust von Preußen

zu revindicieren hatte, das Preußen vernichten wollte, während sein StaatSinteresse ihm gebot, Oesterreich und Preußen im Gleichgewicht zu halten, ohne den Wicderausbruch des Seekrieges zwischen den Westmächten, ohne

den Umstand, daß im Herzen Deutschlands ein deutsches Gebiet in fremder Hand lag, in welchem Frankreich England treffen konnte, wäre Kaunitz

außer Stande gewesen, die große Coalition gegen Preußen zu Stande zu bringen.

Es war Hannover, um welches sich die Fäden der Gcgen-

strebungen so fest verschlangen, daß sie nur durch das Schwert zu lösen

Indem Kaunitz Frankreich nicht nur Belgien sondern anch den

waren.

Angriff auf Hannover bot, gelang cs ihm, Frankreich voll und ganz zn gewinnen.

Hannover in Englands Hand hat den Ausbrnch des sieben­

jährigen Krieges und fünfzig Jahre später den Ansbruch des Krieges von

1806 veranlaßt. Hätte Friedrich geirrt, so hätte er aus Friedensliebe geirrt, so hätte

er darin geirrt, daß er den Frieden auf dem Festlande noch erhalten zu

können glaubte, als er nicht mehr zu erhalten war.

Wohl hat er falsch

gerechnet, wenn er eine« Augenblick möglich erachtete, sich mit Frankreich

und England verhalten zu können, wenn er meinte, durch England die Action

Rußlands und mit dieser

auch

die Action Oesterreichs zurückzuhalten.

Das Gewicht Englands in Petersburg hat er — hierüber durch England

selbst viel länger als billig getäuscht — überschätzt, den selbstständigen Kriegseifer, die eigenen Machtmittel Rußlands hat er unterschätzt.

Daß

ihn der Vertrag vom 16. Januar schließlich gegen Frankreich stellen werde,

war ihm von vorn herein klar, aber auch hier täuschte ihn die Voraus­

setzung, daß Frankreich sein fundamentales Staatsinteresse wenigstens nie­

mals soweit verkennen könne, mit seiner gesammten Streitmacht für die Vernichtung Preußens, d. h. für Oesterreichs Herrschaft über Deutschland

einzutreten.

Diese Rechnungsfehler hat Friedrich sich selbst vorgeworfen.

Aber

in der gegebenen Lage war nicht anders zu rechnen als er gerechnet hat, war ein besserer Entschluß

nicht zu fassen als der, den er faßte.

Die

sichere Empfindung der Ausschlag gebenden Kräfte hat ihn richtig geleitet, und seine Entscheidung steht hoch über dem

falschen Ansatz secundärcr

Factoren. Von dem Augenblick seiner Thronbesteigung an hatte er in seinem

Herzen der Allianz mit England den Vorzug vor der mit Frankreich ge­ geben.

Er hatte sie nicht haben können.

Indem er jetzt die nationale

Die Bildung der Coalition des Jahres 1756 gegen Preußen.

211

Richtung ergriff, in der ihm EnglanvS hannoversches Interesse begegnete, trat er in die Solidarität der protestantischen, der germanischen Tendenzen,

verwandelte er die Vertheidigung Preußens in die Vertheidigung Deutschlands.

In diesem Kampfe

gegen daS Ausland, gegen das

deutsche Reich selbst, hat er das deutsche Selbstgefühl geweckt, hat er seinem Staate den forthin unveräußerlichen nationalen Charakter gegeben, ihm den Stempel seiner Zukunft ausgeprägt, und ihn durch sieben blutige

Jahre der Mission geweiht, die Kaiser Wilhelm in unseren Tagen glor­ reich vollendete. Max Duncker.

Blinder Lärm. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 13. Februar 1882. Die Zuversicht, mit der Europa in das Jahr 1882 eingetreten ist, hat durch eine Reihe von Erscheinungen, die, wenn sie vereinzelt aufgetreten

wären, schwerlich Beachtung gefunden hätten, eine tiefe Erschütterung erlitten, diiemand kann leugnen, daß der Ausbruch einer panslavistisch-revolutionären

Bewegung in Rußland, deren nächste Folge das Wiederaufleben der pol­

nischen Frage sein würde,

das seit der Danziger Kaiserzusammenkunft

angeblich wiederhergestcllte Dreikaiserbündniß auf eine gefährliche Probe setzen würde; aber unter sonst normalen Verhältnissen hatte die Ernennung Katkows zum Geheimen Rath und das Ueberhandnehmen deS Einflusses

des Grafen Jgnatiew auf die gegenwärtige russische Politik Niemanden beunruhigt.

DaS Liebäugeln der russischen Regierung mit

den Pan-

slavisten ist seit der Danziger Zusammenkunft eben so als berechtigte Re­

gierungsmaxime anerkannt, wie in Oesterreich die Connivenz der Taasfe'schen Politik gegenüber den czechischen und polnischen Herrschaftsgelüsten

und die Unterdrückung der siebenbürgischen Sachsen, „der Herrmanstädter

Phraseure", wie die Lobreden Tisza's sich ausdrücken, in dem Machtge­

biete des magyarischen Volkes.

Ministerkrisen

in

Frankreich

haben

längst

aufgehört,

als

euro­

päische Ereignisse behandelt zu werden und selbst das endliche Hervor­ treten des Exdictators von Tours schien keinerlei Anlaß zu Besorgnissen

zu bieten.

Der Sieg der republikanischen Idee bei den Neuwahlen zur

Deputirtenkammcr hatte Gambetta gewissermaßen gezwungen,

selbst die

Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen, aber wer den volltönenden

Phrasen des Advocaten keinen Werth beilegen mochte, beruhigte sich bei dem Gedanken, daß das Programm Gambetta's die Unterschrift des Prä­

sidenten Grsvy erhalten hatte, und daß die Durchführung der weittragenden Reformen, welche der neue Ministerpräsident als seine nächste Aufgabe

bezeichnet hatte, absolut undenkbar war in Verbindung mit einer auswär­

tigen Politik, welche an alle Leidenschaften der französischen Nation appellirte. Die Revision der Verfassung von 1875 im Sinne einer Beschränkung der

Kompetenzen des Senats, die Wiederherstellung des Listenskrutiniums, in dessen Beseitigung die republikanische Minorität der Kammer von 1875 nur widerwillig und aus Furcht vor den Staatsstreich-Velleitälen der herr­ schenden Parteien eingewilligt hatte, schien nur der Hebel, den Gambetta

einsetztc, um sich der Autorität zu versichern, die ihm unentbehrlich dünkte in dem Augenblick, wo er sich anschickte, wirthschaftliche, financiellc und

politische Reformen durchzuführen, deren Bedeutung außerhalb Frankreichs wenigstens vielfach unterschätzt wird.

Gambetta konnte sich seinem ganzen

^Naturell nach nicht der Gefahr aussetzcn, an den Hindernissen zu scheitern, die zu überwinden seinen Vorgängern mißlungen war.

Die Reinigung

der Magistratur von reactionären Elementen, die Conversion der Rente, welche das Staatsbudget um eine sehr erhebliche Zahl von Millionen ent­

lasten sollte, die Befreiung des französischen Verkehrslebens von der Tyrannei lind Ausbeutung seitens der großen privilegirten Eisenbahngesellschaften, Alles das sind Probleme, mit denen sich bereits der Eine oder der Andere

der früheren Minister vergeblich abgemüht hatte.

Gambetta's dictatoriscke

Natur war am wenigsten darauf angelegt, langsam, consequent und ge­

duldig schrittweise das Terrain zu erobern, seine Gegner zurückzudrängen

und auf Umwegen das ihm vorschwebende Ziel zu erreichen.

Jahr auS

Jahr ein hatte er abgelehnt, an die Spitze der Regierung zu treten, ehe die Handhaben bereit seien, rückhalt- und rücksichtslos seine Pläne zu verwirk­

lichen.

Als er dennoch gezwungen war, zu thun, was er solange verweigert

hatte, begann er, in merkwürdiger Ueberschätzung seiner Kraft und seines

Einflusses, seine Freunde vor die Alternative zu stellen, sich bedingungslos der bessern Einsicht des Führers zu unterwerfen oder wiederum auf diese

Führerschaft zu verzichten.

Und dieser „Staatsmann", der die Majorität

der Kammer, auf welche er seine Herrschaft stützen mußte, unter das cau-

dinische Joch einer Reform des Wahlgesetzes beugen wollte, um den Wider­ strebenden in jedem Momente mit der Berufung an die Nation drohen

zu können, trug kein Bedenken, Europa den Fehdehandschuh hinzuwerfen, indem er in Gemeinschaft mit England daS ausschließliche Recht in An­

spruch nahm, in Egypten trotz des Sultans Ordnung zu halten.

Und

nur der rasche Sturz des Ministeriums Gambetta in Folge des Votum der Deputirtenkammer vom 26. Januar ersparte dem französischen Minister

des Auswärtigen die Demüthigung eines Rückzugs vor dem entschlossenen Proteste der vier Mächte, Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Rußland und

Italien.

Offenbar stand die Entsendung einer türkischen Special-Mission

Pr!iiß>sche J.ibrbucker. Bd. XI.IX. Heft 2

15

nach. Berlin und Wien in engem Zusammenhang mit der neuen Wendung

der eghptischen Frage, welche durch das Auftreten eines bisher völlig un­

beachteten Interessenten, der Eghpter selbst nämlich, complicirt wird.

Inzwischen traf Anfang Januar die erste officielle Bestätigung der

Gerüchte von aufständischen Bewegungen in Süddalmatien ein,

die in

den Bergen der Herzegowina so lauten Wiederhall fanden, daß die Bermuthung einer Anzettelung von Außen nahe genug liegt.

Der Aufstand

in der Crivoscie ist äußerlich veranlaßt durch die Durchführung des neuen Landwehrgesetzes; in der Herzegowina wie in Bosnien stand auf Grund

des Wehrgesetzes die erste Aushebung der Dienstpflichtigen bevor.

Die

Gährung in einer Bevölkerung, welche unter türkischer Herrschaft weder die Wohlthaten einer normalen Verwaltung schätzen, noch die Lasten einer

solchen tragen gelernt hatte, erscheint völlig begreiflich.

Oesterreich hat

im Jahre 1878 die Gebiete, deren Occupation ihm durch den Berliner Vertrag übertragen worden,

mit den

Waffen erobern

müssen;

allem

Anschein nach wird es jetzt noch einmal gezwungen sein, Tausende von Soldaten und Millionen Gulden zu opfern, um das Land von den aufställ-

digen Banden zu säubern, die sich bald hier bald dort immer wieder von

Neuem bilden und aus der stamm- und glaubensverwandten Bevölkerung

Montenegros und Serbiens recrlltiren.

In den Sympathien, auf welche

der Aufstand der Südslaven gegen die Herrschaft

Oesterreichs auf der

Balkanhalbinsel seitens der kleinen slavischen Nachbarstaaten rechnen kann,

ist die Gefahr der Lage zu erblicken. zegorzen,

Mit den Dalmatinern und den Her-

auch mit dell Bosniaken würden die österreichischen Truppen

schon fertig werden; es fragt sich aber ob die Machthaber in Montenegro

und Serbien den guten Willen oder die Kraft haben, ihre Ullterthanen

von der Theilnahme an dem Kampfe zurückzuhalten.

Andernfalls ist die

zeitweise Besetzung Montenegros und wenigstens der Serbischen Grenz­

gebiete unvermeidlich und was würde Rußland, das officielle und das panslavistische Rußland dazu sagen?

Wie die Aksakow und Genossen über

Oesterreichs Aufgabe im Balkan denken, erfahren wir aus einem Artikel

des Aksakow'schen Blattes „Rußj":

„Oesterreichische Heereshaufen eilen

über die Grenzen der Balkan-Halbinsel, um definitiv die Feste des sla­ vischen Geistes zu brechen und die slavische Nationalität zu vernichten.

Der

Umstand, daß Oesterreich-Ungarn einen Feldzug gegen die Bewohner der

Crivoscie,

der Herzegowina und Bosnien unternimmt,

indirekt gegen uns gerichteten Feldzug.

bedeutet

einen

Jeder Tropfen vergossenen slavi­

schen Blutes fällt auf unsere Seele, befleckt uns und fordert uns zur Rache

auf.

Die russische Regierung hat unserer Meinung nach gegenwärtig

keinen andern

Ausweg,

um eine

abnorme Aeußerung der

natürlichen

legitimen

Sympathie

zegowinern

an die Spitze

Diplomatie

ihres Volkes den

und Bosniern

den

dieser Sympathie

gegenwärtig kämpfenden Her­

sich

selbst

zu stellen und die Thätigkeit

ihrer

gegenüber

zu

verhindern,

als

entsprechend

gegenwärtigen Verhältnissen

leiten."

zu

So darf in Rußland gegen das befreundete Oesterreich geschrieben werden unter einer Regierung, welche den „Golos" maßregelt, weil derselbe vor

den Folgen einer wahnwitzigen Politik warnte!

Aber was bedeuten die

Phrasen eines Aksakow gegenüber der Brandrede, welche General Skobelew, einer der „Helden" des letzten Türkenkrieges, der Eroberer von Achal-

Tekke am 27. Januar, bei der Feier des Jahrestages des großen Sieges über die Tekkinzen in St. Petersburg selbst gehalten hat und in der der berühmte General mit krampfdurchzucklem Herzen der slavischen Brüder gedenkt, die den „deuisch-ungarischen Gewehren" gegenüber für Glaube und

Unabhängigkeit kämpfen und dann ausruft:

„Ein großer Trost ist und

bleibt der Glaube an die Macht des historischen Berufs Rußlands."

Der

russische General, der um den Verdacht, daß er unter dem Einfluß einer anormalen Erregung spreche, abzuwehren, den Pokal mit Wein mit einem Glase Wasser vertauscht,

bezeichnet äußerstes Mißtrauen allein Fremd­

ländischen gegenüber, das im Stande sein könnte,

„legitime historische

Ideale des Vaterlandes zu stören", als patriotische Pflicht; denn es könne unmöglich angenommen werden, daß die moderne, offen proclamirte Theorie

des Triumphs der starken Ungerechtigkeit über das schwache Recht nur

einer Nation (der deutschen?) eigenthümlich ist".

Skobelew feiert die

Helden des Feldzugs gegen die Turkmenen und ruft dann aus: meine Herren!

„Ja,

Solange wir in unseren Reihen solche Offiziere haben,

können wir jeder auch noch so hochgebildeten feindlichen Armee kühn in'S

Antlitz schauen."

Angesichts solcher Kundgebungen könnte man in der That fragen, ob der südslavische Aufstand, selbst wenn derselbe nicht auf russische Hetzereien zurückzuführen ist, dazu bestimmt sei, eine neue slavische Bewegung dieses Mal gegen Oesterreich, wie im Jahre 1875 der Aufstand in der Herze­

gowina gegen die Türkei, einzuleiten und eine Situation zu schaffen, in

der daS offizielle Rußland sich der Nöthigung, offen für die „legitimen historischen Ideale"

einzutreten nicht mehr entziehen könnte?

Indessen

Oesterreich ist nicht mit der Türkei in Parallele zu stellen; seine Herr­ schaft in Bosnien und der Herzegowina beruht auf der Rechtsbasis des

Berliner Tractats,

für

dessen Aufrechterhaltung

Deutschland

Interesse der Selbsterhaltung auch die Türkei eintreten muß.

und

im

Gerade die

äußerliche Aehnlichkeit der Situation von 1875 und von heute läßt die

innere Verschiedenheit um so schärfer hervortreten.

Die maßlose Heftig-

15*

Blinder Lärm.

216

feit der Sprache eines Skobelew ruft den Eindruck hervor, als ob die Verkünder eines neuen Glaubenskriegs von vorn herein von der Aus­ sichtslosigkeit eines solchen Unternehmens überzeugt seien, zu dessen Vor­

bereitung General Skobelew schwerlich die Reise nach Paris angetreten Bundesgenossen hat Rußland heute noch weniger als im Jahre 1877.

hat.

Sollte

es auf Frankreich hoffen oder vielmehr gehofft haben auf das

Frankreich Gambetta's, der nicht übel Stift gezeigt hatte, die Republik, die

schon durch die tunesische Angelegenheit in Anspruch genommen ist, auch

noch für die Oceupation Egyptens zu engagiren imd obendrein im Interesse Englands?

Man möchte fast bedauern, daß Gambetta nicht Zeit gehabt

hat, mit diesem Problem der auswärtigen Politik vor

treten.

die Kammer zu

Dieses französisch-englische Project einer Intervention in Egypten

ist, beiläufig bemerkt, eines der gewichtigsten Argumente gegen die An­

nahme Gambetta'scher Ein Staatsmaml

Eonspirationen

wenigstens

Militärmacht gleichzeitig

würde

mit sich

den

russischen Panslavisten.

wohl hüten,

die

französische

an der Südküste des Mittelländischen Meeres

und an den Vogesen zu engagiren.

Welcher Art immer die besonderen

Aufträge gewesen sein mögen, mit denen Gambetta den neuen Botschafter Grafen Chaudordy

nach St. Petersburg geschickt hat, das Votum

der

Deputirtenkammer vom 26. Januar machte dem tragikomischen Intermezzo ein rasches Ende.

Die zweimonatliche Ministerherrlichkeit Gambetta's war

immerhin lang genug, den Chef des Ministeriums selbst sowohl wie die­ jenigen zu enttäuschen, die seinem Stern vertraut hatten.

Frankreich fühlt

wieder festen Boden unter den Füßen und begrüßt mit unverhohlener

Befriedigung die Erklärung des Ministeriums Freycinet, daß die Ver­ fassungsrevision vertagt werden

müsse.

„Die Völker,

sagte

der

neue

Ministerpräsident, leben nicht nur von Politik, sie leben auch von Ge­ schäften und materiellen Interessen."

Alles in Allem lassen sich die Erfahrungen der letzten Wochen dahin resumiren: wir sind wieder einmal daran erinnert worden, daß es im

Osten wie im Westen an friedenstörerischen Elementen nicht fehlt.

mögen unser Pulver trocken halten; aber zu dem Angstruf: kommt" liegt glücklicher Weise keine Veranlassung vor.

Wir

„Der Wolf tt.

N o t i z e n. (Chamisso's Geburtstag. — Bettina. — Friedrich Schlegel und Dorothea.) Bor hundert Jahren am 27. Januar 1782 wurde Adalbert von Chauüsso

geboren.

Zur Feier des Tages war eine Anzahl Verehrer des Dichters unter

dem Vorsitz des Oberbürgermeisters von Forkenbeck zusammengetreten um ihm in Berlin ein Denkmal zu stiften.

Ich Hosse, daß die Idee allgemeinen Beifall

finden wird. Chamisso gehört zu der nicht zu großen Zahl deutscher Lyriker, deren Ge­

dichte im Munde des Volks leben, und er verdient es reichlich.

Am bekanntesten

sind neben dem Peter Schlemihl die zarten Liebeslieder in Schumann's Composition.

Seine komischen Balladen reihen sich an das beste was wir in dieser

Gattung haben, ja ich möchte ihnen den ersten Platz anweisen. zinen ist eine ungemeine Kraft der Darstellung,

In den Ter­

mitunter etwas Herbes und

Wildes, das man in dem zarten Dichter gar nicht sucht.

Seine Behandlung

des Versmaaßes ist kühn, originell und eine wirkliche Bereicherung unserer

Sprache, was bei dem gebornen Franzosen etwas sagen will.

Zudem gehört

er, was doch auch von Wichtigkeit ist, zu den Schriftstellern, die frei von allem

Parteigeist und aller Kameraderie mit voller Hingebung immer nur für das

Gute und Schöne wirkten; ein sicherer treuer Freund, sittenstreng und ohne allen Pharisäismus, der durch eine gewisse Drolligkeit mit seinem vornehmen

Wesen versöhnt. Ihm ein Andenken zu stiften hat Berlin die beste Veranlassung.

In früher

Jugend hat er, der Sohn eines Emigranten, in der preußischen Armee Dienste

genommen, und, freilich mit großem Schmerz,'gegen seine früheren Landsleute gefochten.

Als später den Emigranten die Rückkehr frei stand, vermochten die

Herrlichkeiten

von Paris nicht ihn zu fesseln,

er hatte in Deutschland im

Freundeskreise von Berlin seine rechte geistige Heimath gefunden.

Nach drei­

jähriger Reise um die Welt kehrte er wieder nach Berlin zurück, wo er als

Director des botanischen Gartens einen schönen Kreis um sich sammelte und

durch die Redaction seines Musenalmanachs einen Ausgleich zwischen nord- und

süddeutscher Art bewirkte, der mittelbar auch der spätern politischen Entwicklung zu Gute kam.

Hier ist also ein Dichter, der uns ganz eigen angehört, während wir bei

Goethe und Schiller nur unsere Verehrung im allgemeinen ausdrücken:

die

beiden Großen haben Berlin nur flüchtig berührt und nicht gerade die besten Eindrücke empfangen. Man klagt allgemein über den Hochmuth der Berliner, die nichts wollen gelten lassen als was in Berlin geschieht, aber es fehlt dem Berliner an jenem

Lokalstolz, der in kleineren Städten viel leichter, mitunter freilich etwas unge­ bärdig zum Ausdruck kommt,

es fehlt ihm die Pietät; die Fähigkeit dazu ist

wohl vorhanden, aber das zerstreuende Gewühl der großen Stadt läßt sie nickt

recht zur Entwicklung kommen, ihr etwas nachzuhelfen ist gewiß verdienstlich.

Und es ist jetzt noch gerade Zeit, denn noch ist Berlin nicht eine Weltstadt wie London oder Paris; ein Mittelpunkt der Erinnerungen läßt sich immer noch zu Stande bringen.

Es kommt nun in Frage, wie man Chamisso's Andenken sstiren soll?

Er

ist ein liebenswürdiger und echter Dichter, aber zu den Größen ersten Ranges

gehört er nicht, von einer Eolossalstatue, wie man sie für Goethe, Schiller, Lessing

aufrichtet, muß abgesehn werden.

Es war von einer Büste die Rede.

Wo aber

damit hin? — Die Frage scheint müßig, man soll ja über das Fell des Bären nicht verfügen ehe man ihn erlegt hat.

Aber es handelt sich um eine allge­

meine Idee, die ich den Liebhabern unserer Litteratur vorlegeu möchte.

Berlin wird immer schöner, bequemer, prächtiger, aber zu manchen Dingen

eignet es sich immer weniger, die langen breiten einförmigen Straßen und die gewaltigen Plätze bieten im Ganzen wenig malerische Motive.

Eine Collossal-

statue von einem bedeutenden Meister ausgeführt wird sich freilich den Platz schon erobern, und bei dem herrlichen Eindruck, den z. B. Goethe's Marmorbild

im Sommer im grünen Thiergarten macht, läßt man es sich auch wol gefallen,

daß es im Winter gegen den Schnee durch eine unschöne Bretterbude geschützt werden muß.

Auch Schiller hat sich durch die Gewalt seiner Darstellung gegen

die gefährliche Nachbarschaft des Schauspielhauses zu schützen gewußt; einer-

bescheidenen Büste würde das nicht gelingen. Die Dimensionen Berlins, körperlich und geistig, sind zu groß, um einen rechten Gesichtswinkel für kleine Verhältnisse zu gestatten.

Nun meldet sich noch dazu ein eigenthümlicher antiquarischer

Trieb — ich glaube er nennt sich wissenschaftlich — der schon auf Lessing eine bedenkliche Wirkung ausüben könnte: man will die Statue dahin haben, wo er

gewohnt hat.

Niemand würde mehr über den Einfall lachen als Lessing selbst,

der wohl von der Heiligkeit einer Miethswohnung nicht den geringsten Begriff

hatte.

Oder man hat auch wohl philosophische Regungen: Lessing war ein

Mann des beställdigen Kampfs, des Gewühls, der bewegten Wirklichkeit — man

muß ihn mitten ins Gedränge stellen. — Ich denke, bei einer Statue kommt es hauptsächlich darauf an, daß sie gut gesehn und leicht von denen gesehn wird,

welche das Interesse

und das Verständniß dafür haben.

Das berechtigte

Publikum ist aber durch das große Berlin keineswegs gleichmäßig vertheilt.

Ehamisso ist Einer unter Vielen, einer von denen die nicht durch die Ein-

I am feit, sondern durch die Gesellschaft gewinnen; in einer Reihe gleichwertiger Persönlichkeiten, die sich um das geistige Leben Berlins verdient gemacht haben und im Andenken der Berliner fortzuleben wenigstens verdienen, würde er seine rechte Stelle finden. Dieser Platz ist aber bereits vorhanden, ein Platz, den jeder Berliner be­ sucht oder wenigstens besuchen sollte, zu dem jeden Fremden der erste Gang führt, ein Platz, wo man auch das Kleinste vortrefflich sehn kann, ich meine die National-Gallerie. Wenn es das (Semite durchsetzt, eine ausgezeichnete Büste Chamisso's ansertigen zu lassen, und sie der Verwaltung der Nationalgallerie übergiebt, mit der Bedingung oder auch nur mit dem Wunsch, für Büsten und Portraits aus­ gezeichneter Berliner einen eigenen Raum zu schaffen, so ist damit der Anfang zu einem Werk gemacht, an dessen Vollendung ich nicht ohne innere Freude denken kann. Oder vielmehr der Grund dazu ist schon gelegt, wir haben die Büsten von Menzel und Moltke, wir haben die Portraits von Mommsen, Helmholtz, Tief, Lessing u. s. w. Moltkes Büste gehörte zu den glänzendsten Leistungen unserer neueren Kunst, man denke sie sich aber im Freien aufgestellt, im Thier­ garten oder gar auf einem der großen Plätze: sie würde auch da einen be­ deutenden Eindruck machen, aber sie würde verlieren. Was ist das für ein thörigtes Vorurtheil, in einem Klima, wo der Winter länger dauert als der Sommer, alle Kunstwerke ins Freie zu verweisen! Dagegen stört im verständig geschlossenen Raum das Nebeneinander von Gemälden und Büsten, wie der Augenschein lehrt, nicht im Mindesten; im Gegentheil findet das Auge bessere Ruhepunkte. Wenn man nun eine Büste von Chamisso unter den angegebenen Bedin­ gungen in der Nationalgallerie aufstellte, so wäre das zunächst ein Compelle für die Besitzer von Bildern oder Büsten ihrer Vorfahren, sie gleichfalls dahin zu stiften, oder Copien zu geben. Es wäre ferner ein Compelle für die Ver­ waltung, nach zweckmäßiger Auswahl an bedeutende Künstler Bestellungen zu machen. Die Verwaltung steht mit Recht in dem Ruf großer Umsicht und Ge­ wissenhaftigkeit, aber das Princip, nach Maaßgabe der vorhandenen Mittel von den neusten Schöpfungen anzukaufen, was gerade für den Augenblick das beste erscheint, hat seine Bedenken, denn was im Umfang eines Jahres oder eines Lustrums das beste ist, gehört vielleicht nicht zu dem Besten, was im Lauf von 10 oder 20 Jahren geschaffen wird. Zu dem kaun man ja das Eine thun und das andere nickt lassen. Die systematische Anlage einer Berliner Ruhmeshalle, denn auf so etwas ungefähr kommt diese Idee heraus, würde dem Ankauf dessen, was zufällig geschaffen wird, nur wenig in den Weg treten. Was für ein Vergnügen wäre es dann, gleichsam persönlich in der Gesell­ schaft der Männer und Frauen zu leben, die wir geistig schätzen gelernt! dieser sinnliche Verkehr ist doch noch etwas anderes als das einsame Studiren ihrer Schriften. Und auch die Leute, die sich sonst mit dem geistigen Leben nicht viel abgeben, würde schon die Neugier treiben zu fragen: wer ist der Mann?

was hat er geleistet? wodurch bin ich ihm verpflichtet?

Daraus würde sich

allmälig eine Tradition entwickeln, die gerade dasjenige ist, was unserm geistigen

Leben am meisten fehlt.

Im ökonomischen Leben haben wir es genug, im poli­

tischen übergenug, in der Poesie und Litteratur aber muß Jeder im Nebel seinen Weg suchen.

Welch herrlicher Kreis böte sich uns dar! — Ich greife ganz

blind herein Fichte, Tiek, die beiden Humboldt, die beiden Grimm, H. v. Kleist,

Jahn, die Mendelssohns, Willibald AlexiS u. s. w.

Man würde staunen über

unsern Reichthum und sich allmälig jenen Stolz aueignen, der uns noch so sehr fehlt. Denjenigen unter diesen Btännern, die sich um die Universität oder die

Stadtverwaltung verdient gemacht haben, gewährt die Universität oder das Rath­

haus den geeigneten Platz.

Aber die d^ationalgallerie eignet dem allgemeinen

Publicum, eignet sämmtlichen Berlinern und ist daher der rechte Ort, zusammenzusassen, waS das geistige Leben im reinsten Stil geleistet hat.

Zu den 9tamen, die ich genannt, will ich noch einen hinzusügeu, den mix: den Augenblick eingegeben hat.

Chamisso ist am 27. Januar 1782 geboren, Achim von Arnim am 26. Januar desselben Jahres und zwar in Berlin.

Beide also fast zu gleicher Zeit.

An

Arnim aber scheint man nicht gedacht zu haben, und das ist auch wohl begreiflich:

Chamisso ist äußerst populair, Arnim ist es gar nicht und wird es auch nie

werden.

Denn bei all seiner poetischen Kraft hat er gewisse barocke Neigungen,

die ihn dem Verständniß des größeren Publikums immer verschließen werden. Gerade darum muß fortwährend auf ihn hingewiesen werden, denn es steckt

ein wahrer Schatz der urkräftigsten Natur in ihm, und wenn er nur etwas

Künstler wäre, wenn er nicht oft seine besten Bilder und Gedanken srevexxtlich selbst zerstörte, so würde man ihn vielleicht einen großen Dichter nennen.

Bor

allem aber er ist von echt märkischem Blut gerade wie Heinrich von Kleist, hinter

dem er freilich zurücksteht, an den er aber im Guten wie im Schlimmen wieder­ holt erinnert.

Ich sagte, es habe Niemand an Arnim gedacht; vielleicht ist es aber doch geschehen, nur in versteckter Art.

In der Borrede zu Goethes Briefwechsel mit

einem Kinde (Berlin Hertz) sagt Herman Grimm, das Honorar sei zur Hälfte

dem Berliner Goethe-Monument bestimmt, xvie es ja Bettina selbst beabsichtigt: „die andere Hälfte will den Anfang eines Fonds bilden, aus dem vielleicht

einmal zum Andenken an Achim von Arnim etwas unternommen werden kann". Zum Andenken Arnims könnte sofort etwas unternommen werden.

Ein­

mal — er war ein sehr schöner Mann — durch Ausstellung seines Bildes in der

Nationalgallerie,

sodann durch

eine zweckmäßige Auswahl aus seinen

Schriften; die Gesammtausgabe ist zu theuer um von Bielen gekauft zu werden.

Ein drittes ist bereits im Werk,

ein Briefwechsel zwischen Arnim und den

Brüdern Grimm, in welchem er den Lesern auch menschlich näher treten wird,

wie es z. B. schoxx durch den Briefwechsel mit Görres geschehen ist.

xnenschlichen Verhältniß wird auch der Dichter sehr gewinnen.

Bei diesem

Bei dem Briefwechsel Goethes mit einem Kinde kann ich mich nur dem Citat Grimms anschließen.

„Ihr naht Euch wieder schwankende Gestalten" . . .

„wie eine alte halbverklungene Sage". . .

Es klingt wie die Stimme aus einer-

andern Zeit, und doch möchte ich dasselbe wiederholen, was ich vor nun mehr

30 Jahren darüber äußerte: man soll das Buch als reine Poesie nehmen, als poetischen Ausdruck der Begeisterung, welche die junge Welt namentlich die weibliche für den großen Dichter empfand.

Man hat es später literar-historisch

zu verwerthen und zu kritisiren gesucht, es ist dabei nicht viel herausgekommen, man möchte sogar mitunter einigen Staub des wirklichen Lebens davon weg--

wischen.

Dennoch ist es zu billigen, daß Herman Grimm das nicht gethan,

denn das Buch ist ein Kunstwerk und muß so stehn wie es gestanden hat.

Zum

Ganzen muß man sich in ein Verhältniß stellen, im Einzelnen ist nichts zu

meistern. Dagegen giebt Grimm einen andern Beitrag, der uns ein besseres Ver­ ständniß für Bettina eröffnet.

Er erzählt mit warmer Pietät, waS sie ihm selber

war; gerade in der einfachen Form macht das den Eindruck der unbedingten wenigstens subjectiven Wahrheit, und man muß sich an den alten aber ewig neuen Spruch erinnern: wer den Besten seiner Zeit genug gelebt, der hat gelebt für alle Zeiten.

Immer noch treten Beiträge zur inneren Geschichte der romantischen Schule ans Licht.

Diese Schule, die früher so vielen Staub aufwirbelte, weil man

eine aesthetische Richtung künstlich mit religiösen und politischen Parteien in Ver­ bindung setzte, fährt noch fort, die Aufmerksamkeit des Publikums zu beschäftigen,

obgleich man ihr lange nicht mehr die Bedeutung zuschreibt wie früher.

Es

sind hauptsächlich die Persönlichkeiten, die gegenwärtig unser Interesse in An­ spruch nehmen. In keiner litterarischen Schule haben die Frauen eine solche Rolle gespielt

als in der romantischen.

So wunderlich es klingt: die Romantik ist ursprünglich

eine Berliner Pflanze.

In Berlin blühte bereits der intime Verkehr zwischen

Tiek, Bernhardi, Wackenroder, Genelli, Schleiermacher u. s. w. mit den geist­

reichen Jüdinnen, Rahel, Dorothea, Henriette u. s. w. die von Reichhardt und Moritz zum Goethe-Cultus angeleitet waren, als Friedrich Schlegel dazu kam,

und mit Ungestüm jene polemische Richtung einschlug, die eigentlich die Schule

zusammenhielt: die Einzelnen schlossen sich fest an einander, so abweichend die

Ueberzeugungen waren, weil sie von den gemeinsamen Gegnern bekämpft wurden. Mit dem Besuch W. Schlegels in Berlin gewinnt die Schule den festen Halt. Der sprechendste

Fr. Schlegel.

Characterkopf

des

ersten Periode

der

Romantik

ist

Ueber ihn giebt uns ein neu erschienenes Buch noch dankens­

werte Aufschlüsse:

„Dorothea von Schlegel geborne Mendelssohn und

deren Söhne Johann und Philipp Veit: Briefwechsel im Auftrag der Familie

Veit herausgegeben von Dr. Raich, zwei Bde. (Mainz, Kirchheim).

Es ist

nicht Alles neu darin, der Herausgeber hat den Briefwechsel mit Schleiermacher,

Caroline Paulus, Tiek, Rahel u. A. die bereits gedruckt waren, mit ausge­ nommen, und er hat Recht daran gethan, denn wir haben nun das Lebens­

bild einer interessanten Frau ziemlich vollständig vor Augen.

Ganz neu sind

die Beit'schen Familienbriefe sowie die Correspondenz zwischen Friedrich und

Dorothea, zwischen Friedrich und Wilhelm.

Leider sind die Briefe des letzter»

an seinen Bruder auf seinen Wunsch vernichtet worden. Wenn uns der „Briefwechsel Goethes mit einem Kinde" in poetische Re­ gionen einführt, so bewegen wir uns hier auf dem Gebiete der reinen Prosa.

Es ist kein erfreuliches Leben, das sich vor unsern Augen enthüllt, aber es ist lehrreich und namentlich characteristisch für Fr. Schlegel.

Hier nur einige Data.

Im Herbst 1797 kam Friedrich nach Berlin und trat sofort in lebhafte Beziehungen zu Mendelssohns Tochter Dorothea, die seit Jahren mit dem Kauf­

mann Simon Beil verheirathet war und zwei Knaben hatte, die später be­ rühmten Maler.

Der Gatte hielt die Ehe für sehr zufriedenstellend, allein

Dorothea fand sich von ihm nicht verstanden; sie hatte einige Jahre hindurch

ein zartes Berhältniß zu einem gewissen Dalton, dem Modell des Helden in ihrem späteren Roman Florentin, der, übrigens ein tüchtiger Kenner und Kunst­ sammler, um der europäischen Civilisation zu entgehn, nach Amerika auswan­

derte, mit der Absicht, Häuptling eines Jndianerstammes zu werden.

Das

Lerhältniß Dorotheas zu Friedrich Schlegel wurde bald intimer: in den letzten Monaten des Jahres 1798 schreibt er an einen Freund, sie sei seine Frau ge­

worden und werde von ihrem bürgerlichen Gemahl bald geschieden werden.

Sie

führten dann in Berlin eine Art gemeinsamen Haushalt, an dem sich auch

andere von der Genossenschaft z. B. Fichte und Hülsen betheiligten.

Wenige

Monate darauf schrieb Schlegel die Lucinde.

Das Buch ist allseitig mit Recht getadelt worden, das Schlimmste aber war, daß Dorothea auf das Gräulichste dadurch compromittirt wurde.

Die

beiden Schlegel hatten durch ihre scharfe Feder wie durch ihre Paradozien die tonangebenden Schriftsteller namentlich in Berlin sehr gereizt, und diese rächten

sich nun dadurch, daß sie die persönlichen Verhältnisse der Neuerer bitter ver­ höhnten.

Die Hauptschuld lag doch an Friedrich, der eben zuerst diese Ver­

hältnisse an die Oeffentlichkeit gezogen hatte. Die Sache wurde nicht besser, als Friedrich mit Dorothea nach Jena

auswanderte.

Dorotheas Lage war äußerst zweideutig, und Wilhelm Schlegels

Gattin Caroline, die sie von vornherein nicht leiden mochte, wurde allmälig ihre

erklärte Feindin.

Beide Damen sorgten dafür, was eine von der andern dachte,

zunächst den Freunden mitzutheilen, die es dann weiter verbreiteten. Es war ein scheinbarer Abschluß, als im Frühling 1802 W. Schlegel sich zur Scheidung von seiner Frau verstand, und Friedrich mit Dorothea und einem

ihrer Söhne nach Paris auswanderte. Wovon er da leben wollte, hatte er sich nicht klar gemacht. Hier erst in Paris 9. April 1804, also nach mehr als fünfjährigem Zu-

sanimenleben

wurde

Dorothea

von

einem

protestantischen Pfarrer

und unmittelbar darauf mit Friedrich getraut.

sie nach Köln,

getauft

Noch im Herbst übersiedelten

in derselben Zeit als der neue Kaiser' Napoleon die Stadt

bemchte. Die Feier dieses Tages hat Dorothea sehr anschaulich beschrieben.

„Was

Du in den Zeitungen lesen kannst, ist nur Schatten! nie habe ich solche Bolks^

feste gesehen.

Nirgend in der Welt können sie auch so wohl eingerichtet sein,

als wo die katholische Geistlichkeit anordnet und präsidirt; diese allein hat noch Sinn und Geschmack für wahre Ceremonien, für Würde, Pracht und Freiheit.

Der Jubel des Volks war so groß, daß die Kölner Bürger dem Kaiser die „Der Keiser grüßte mit

Pferde ausspannten und selber den Wagen zogen."

großer Freundlichkeit"! — Cs gehört das auch zur Geschichte

des deutschen

Patriotismus, und gewinnt noch dadurch an Interesse, daß Friedrich Schlegel bald darauf jene hoch-patriotischen Gedichte schrieb, die auf das härteste über

Frankreich urtheilten.

Schon in jenem Brief Dorothea's spricht sich eine gewisse Vorliebe für den Katholicismus aus; sie steigerte sich von Jahr zu Jahr. bitterer Noth.

Schlegel hielt sich bald in Paris,

Es war eine Zeit

bald in Coppet bei Frau

von Staöl auf, Dorothea blieb in den drückendsten Nahrungssorgen in Cölll zurück, ihre einzige Hilfe war ihr geschiedener Mann.

Endlich 16. April 1808

traten beide förmlich zur katholischen Kirche über und unmittelbar darauf wurde

ihre Ehe „revalidirt": die katholische Kirche läßt zwar eigentlich die Wiederverheirathung einer geschiedenen Frau nicht zu, aber sie läßt eine Ausnahme zu:

wenn näullich das fortdauernde Zusammenleben mit dem Galten Gefahr für das Seelenheil einschließt.

Und das wurde hier angenommen.

Die vorliegenden Briefe überzeugen mich, daß Dorothea bei diesem Uebertritt die Treibende war.

Friedrich hatte nach seiner Art halb ironisch,

halb

poetisch für die Herrlichkeit der katholischen Kirche geschwärmt, das hatte bei ihr

Feuer gefangen, und sie, eine grade, offene, ehrliche Natur, verlangte nun den entscheidenden Schritt.

Sie spricht sich in ihren Tagebuchblättern wiederholt

über die Stellung aus, die eine gute Frau zu ihrem Mann einnehmen soll: wenn sie ihm überlegen ist, soll sie es ihn nicht merken lassen; als höchste Stufe humaner Cultur bezeichnet sie, daß sie es selbst nicht merke.

Bis zu dieser

höchsten Stufe hat es Dorothea, glaub ich, nicht gebracht: zwar lag sie Friedrich beständig zu Füßen und betete seinen Geist an, aber sie hatte doch beinahe zehn Jahre Erfahrung vor ihm voraus, uud daß ihr Wille der stärkere war, konnte ihr auf die Länge nicht verborgen bleiben.

Uebrigens

erregte die Form des Uebertritts selbst bei den katholischen

Freunden in Köln — wahrscheinlich wegen der weltlichen Motive, die sie zu be­ merkten glaubten — so großen Anstoß, daß es beinah zum Bruch kam. gingen die beiden sofort nach Wien, wo Friedrich eine Anstellung hoffte.

fand sie endlich auch nach großen Schwierigkeiten.

Auch

Er­

In seinen Gedichten hatte er

davon geträumt, General zu werden, nun schwebte ihui wohl ein großer Staats-

mann vor; er begnügte sich endlich mit einem bescheidenen Aemtchen, das ihn

vor drückenden Sorgen sicherte.

Das sind die dürren Thatsachen; das Urtheil, das man daraus entnimmt, wird über die beiden Persönlichkeiten sehr verschieden lauten.

Friedrich zeigt

einen unglaublichen ja ich muß sagen einen empörenden Egoismus.

Er nimmt

leichtsinnig die Last eines fremden Schicksals, von dem er weiß, daß er sie nicht tragen kaun, auf seine Schultern, und versucht nicht das mindeste seiner Ber-

pflichtung nazukommen.

Sie dagegen erfüllt ihre Pflicht im vollsten Maß.

Mit einer rührenden, ja erstaunlichen Aufopferung arbeitet sie für ihn, sucht ihm

das Lebeu so angenehm wie möglich zu machen, und sühnt die Schuld nach Kräften die sie an einem Andern begangen hat.

Dieser Andere aber, der ge­

schiedene Gatte Simon Beit spielt im Briefwechsel entschieden die beste Rolle. Es ist ein edel denkender, hochherziger Mann, der obgleich in kleinliche Geld­ geschäfte vertieft, wo es darauf aukommt, wohl versteht die Dinge groß zu

nehmen.

Das Berhältuiß zu seinen Söhnen, obgleich diese ihm den Kummer

machten, katholisch zu werden, ist das reinste, das man sich vorstellen kann.

Auch mit Dorothea steht er sich gut: sie schreibt ihm wiederholt die dankbarsten und freundschaftlichsten Briefe, und macht einmal sogar ein Gedicht auf ihn.

Was man aus diesen Briefen über die innere Geschichte der Schule er­

fährt, ist nicht durchweg erbaulich.

Die Herren und Damen, durch ihre Gegner-

auf einander angewiesen, schmeichelten sich ins Gesicht und rühmten sich ein­ ander vor dem Publikum; aus ihren vertrauten Briefen erfährt man aber, daß

sie einander nicht besonders achteten.

Einzelne Aeußerungen Dorothea's z. B.

über ihren Schwager, über Tiek und über Brentano, sind sehr pikant und wenig

respectvoll.

Sie halten bei der Gründung der Schule eine Doppelfahne anfge-

pflanzt, Goethe und Fichte; daß sie mit Beiden namentlich seit dem Jahre 1804

zerfielen, wäre an sich nicht zu tadeln, da sich ihre Richtung eben verändert

hatte: aber die Art, wie sie sich über ihre ehmaligen Götter aussprechen, ist

mitunter geradezu empörend. Da Dorothea in der katholischen Kirche einen Halt für ihr unruhiges Herz

fand, und bei diesem Halt bis an ihr Lebensende stehn blieb, so kann man ihr nur Glück wünschen; aber eins muß ich hinzusetzen: interessanter ist sie durch

den Uebertritt nicht geworden.

Ihre früheren Briefe sind mitunter ein wahres

Sprühfeuer von Geist, Uebermuth und toller Laune, sie sind durchaus natürlich; in den späteren überwiegt die Salbung, und es sieht doch mitunter so aus als

ob sie Tableau säße. Friedrich Schlegel bleibt eine höchst merkwürdige Erscheinung. Sein Eintritt

in die Litteratur zeigt von einer erstaunlichen Anlage.

Poesie nicht reden, die im Ganzen ein Irrweg war.

Ich will von seiner

Die Essays seiner ersten

Jahre z. B. über Jakobi's Woldemar und Goethes Wilhelm Meister gehören zu den glänzendsten Leistungen der Deutschen Kritik; die erste Recension hat

nur den einen freilich schwerwiegenden Fehler, daß sie, um den Künstler zu treffen, den Menschen bitter kränkte.

Auch noch in den Recensionen aus den

Notizen.

225

Heidelberger Jahrbüchern 1808 finden sich bei aller Einseitigkeit vortreffliche

Sachen.

Was er später in der Art schreibt, ist kaum mehr zu lesen.

Jugend-Arbeit über Cäsar ist für einen Anfänger vortrefflich.

Seine

Sein Unter­

nehmen, eine Geschichte der griechischen Poesie zu schreiben, nachdem er erst

vor zwei Jahren griechisch gelernt, ist toll, aber es finden sich sehr große Blicke darin.

Ebenso in seinen Anfängen der Kritik des Plato.

Beides läßt er fallen,

und will vorerst eine neue Philosophie gründen, wobei wunderliches Zeug her­

auskam; dann geht er nach Paris, um Sanskrit und Persisch zu studiren.

Es ist rühmlich, daß er an die Quelle geht, während die andern vom Orient

nur phantasirten, und er studirt nach der Versicherung der Kenner nicht ohne

Frucht.

Aber auch das bleibt endlich ohne Folge, und so läßt er sich auf das

Verschiedenartigste ein, ohne irgend etwas zu Ende zu führen.

Ein Virtuose des Witzes, hat er dem Witz eine zu große Bedeutung für

die Erkenntniß der Wahrheit beigelegt; ein Virtuose der Ironie, hat er so lange den Glauben der Andern ironisirt, bis sich sein eigener Glaube in Luft ver-

slüchtete; ein Virtuose in pathetischen Orakelsprüchen, hat er so lange prophezeiht,

bis er von der Wirklichkeit und deren Rechten nichts mehr sah.

Es ist doch

schade um ihn. — — Zum Schluß

seien noch die „Mittheilungen aus Briefen" (Leipzig,

Hirzel) erwähnt, mit denen Waitz sein großes Werk über Caroline Schelling vervollständigt hat.

Julian Schmidt.

Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und ^erlaq von G. i)i e i nt e i in Berlin.

Das Unfallversicherungsgesetz.

Die Verhandlungen über daS Unfallversicherungsgesetz befinden sich

Mit gewohnter Offenheit hat der Reichs­

in einer eigenthümlichen Lage.

kanzler jüngst erklärt, daß er den Gedanken deS früheren Regierungs­ entwurfs, die Angelegenheit in die Hände einer Centralbehörde zu legen, nicht aufrecht halte, da eine solche Behörde allzusehr belastet sein würde.

Er will zum Zwecke der Arbeitstheilung korporative Verbände schaffen, welche die Versicherung in die Hand nehmen sollen.

Wie sich dadurch

die Sache im Einzelnen gestalten werde, ist aus seiner Rede nicht klar ersichtlich.

Wie man aber auch hierüber denken mag, so dürfte es kaum

zweifelhaft sein, daß damit der Gedanke einer Organisirung und Leitung der Versicherung durch den Staat — wir denken dabei in erster Linie

an das Reich — nicht aufgegeben ist.

Hoffen wir auch, daß der Vorzug,

den die Centralanstalt durch Vertheilung der Gefahr auf einen sehr großen Kreis von Personen gehabt haben würde, bei der jetzt beabsichtigten Or­

Andererseits haben Mitglieder der libe­

ganisation nicht verloren gehe.

ralen Parteien im Reichstag einen Gesetzentwurf eingebracht, welcher dem

früheren Regierungsentwurf gegenüber zu treten bestimmt war.

Man

hat in einer ersten Berathung Meinungen darüber ausgetauscht; er ist einer Commission überwiesen worden, und dann durch Schluß des Reichs­

tags vorläufig erledigt.

Er behält aber seine Bedeutung als Programm

dessen, was die Antragsteller wohl auch in Zukunft erstreben werden.

Der Entwurf ist mit unverkennbarer Sorgfalt gearbeitet.

Er hat

Vieles aus dem früheren Regierungsentwurf ausgenommen, trotz der Ge­ ringschätzung, mit welcher einzelne Antragsteller bei der Besprechung ihres

Werke- von demselben redeten.

Der Entwurf stellt sich der Form nach

als eine Erweiterung des Haftpflichtgesetzes dar.

Der Sache nach läuft

er auf einen Schutz der Arbeiter durch Versicherung, und zwar durch Zwangsversicherung hinaus.

Denn wenn er di« Arbeitgeber verpflichtet,

für jede Unfallsbeschädigung ihrer Arbeiter nicht allein Ersatz zu leisten, Pnupl^che 3>i^r('ud;er. Bd. XL1X. Hcft 3.

16

Das Unfallversicherungsgesetz.

228

sondern auch zugleich Sicherheit zu stellen, und wenn diese Sicherheits­

stellung praktisch nicht wohl anders geleistet werden kann, als durch eine

Versicherungsnahme, auf welche der Entwurf ausdrücklich hinweiset: so ist

damit die Zwangspflicht zur Versicherung von selbst gegeben.

Diese Ver­

sicherung soll aber geschehen bei einer der im Reiche zugelassenen Privat­ anstalten, deren Existenz und ersprießliche Thätigkeit hiernach zu einer

Grundbedingung für das sind

sich

der

hierin

ganze Gesetz

liegenden

Deshalb verordnet der Entwurf, unter Einhaltung

von

erhoben ist.

Schwierigkeiten

wohl

Die Antragsteller bewußt

gewesen.

daß solche Versicherungsanstalten nur-

Normativbestimmlingen zuzulassen

durch Reichsgesetz festgesetzt werden sollen.

welche

seien,

Um aber nicht dadurch den

Eintritt des Gesetzes hinaus zu schieben, ordnet vorläufig der Entwurf

selbst solche die Zulassung

bedingende 'Rormativbestunmungen an.

Er­

zählt deren drei auf, nämlich: a) daß die Anstalt alle Betriebsunternehmer unter

den in den

Statuten vorgesehenen Bedingungen in Versicherung nehme; b) daß sie sich verpflichte, für jede festgestellte Rente das erforder­

liche Kapital zu hinterlegen und bei eintretenden Veränderungen

zu ergänzen; c) daß der Nachweis geführt werde, daß die Anstalt für ihre Ver­

pflichtungen in finanzieller Hinsicht Gewähr biete, und daß sie sich einer von der Centrallandesbehörde hierfür angeordneten Auf­

sicht unterwerfe. Mit dieser Ordnung des Verhältnisses sind selbstverständlich die Bei­

träge der Arbeiter, so wie der Staatszuschuß zu den Versicherungsprämien abfällig geworden.

Die nächste Frage, auf welche sich voraussichtlich der Streit zwischen

den

sich

gegenüberstehenden Ansichten zuspitzen

wird,

dürfte

hiernach

die sein, ob die Versicherung bei Staats- oder Privatanstalten ge­ schehn solle.

Hierbei drängt

sich nun vor allem die Frage auf,

was

für ein Interesse obwaltet, den Fortbestand von Privatversicherungsan> stalten,

die sich bei einer allgemeinen Unfallversicherung

voraussichtlich

noch um eine erhebliche Zahl vermehren würden, mit solcher Entschiedenheit

und Beharrlichkeit zu vertreten? Von den zur Zeit bestehenden Versicherungsgesellschaften ist nur die kleinere Zahl auf Gegenseitigkeit gegründet; die größere Zahl betreibt die

Versicherung als ein auf Gewinn abzielendes Geschäft.

In gleichem Ver­

hältniß würde wohl auch die Vermehrung beider Arten von Gesellschaften

vor sich gehen. tung gestattet.

Ueber den Gegensatz beider sei hier eine kurze Betrach­

Wenn eine größere Zahl Staatsangehöriger von einer gemeinsamen

Gefahr in der Art bedroht ist, daß diese Gefahr hier und dort einschlägt und den Einzelnen unverhältnißmäßig 'schädigt, so ist es ein sehr natür­ licher Gedanke, daß die so Bedrohten zusammen treten und erklären: wir wollen die Gefahr gemeinschaftlich tragen, so daß der einzelne vom Unfall

Betroffne aus den Mitteln Aller Ersatz erhält.

Ein solcher auf Gegen­

seitigkeit gegründeter Verband, welcher die Sicherheit gewährt, daß die Betheiligten niemals mehr an Beiträgen zu zahlen haben, als zur Deckung

der entstandenen Schäden erforderlich wird, ist aber nicht ganz leicht her­ zustellen.

Es bedarf dazu eines Organes,

dem man das Vertrauen

schenken kann, daß es die Lasten und Vortheile des Verbandes nach allen

Seiten hin gerecht vertheilen werde.

Ein solches Organ vermögen die

Betheiligten um so schwerer aus sich selbst heraus zu schaffen, je zahl­

reicher sie sind und je weniger sie in enger Beziehung zu einander stehn.

Auch ist es bei Verbänden dieser Art unvermeidlich, daß der Beitrag des Einzelnen nicht von vorne herein fest bestimmt werden kann, vielmehr

Nachzahlungen als möglich vorbehalten bleiben müssen; wogegen aber ein solcher Verband auch die volle Sicherheit gewährt, daß die eingetretenen

Schäden stets voll gedeckt werden.

Da tritt nun in der Regel ein Dritter

auf — sagen wir kurz: eine Aktiengesellschaft, welche das erforderliche Betriebskapitel zusammenschießt — und erklärt, gegen

eine von jedem

Einzelnen zu zahlende feste Prämie jeden Schaden ersetzen zu wollen. Natürlich thut dies die Gesellschaft nicht aus Mitleid oder aus Wohl­ wollen für die Bedrohten; nein, sie will aus dem Geschäft einen Gewinn

ziehen.

Sie stellt zu dem Ende eine Wahrscheinlichkeitsberechnung an, in

welchem Maße die drohenden Schäden wirklich eintreten werden, und be­ rechnet darnach die Prämien

in der Art, daß solche nicht

allein die

Schäden und Kosten decken, sondern auch noch ein Mehr abwerfen, welches

Allerdings übernimmt

als Gewinn unter die Aktionäre vertheilt wird.

dagegen die Gesellschaft auch die Gefahr, daß, wenn Unfälle über das berechnete Maß hinaus eintreten, sie dieses Uebermaß an Schäden mög­

licher Weise aus eigenen Mitteln decken müßte.

Da aber auch der Zufall

seine Regel zu haben pflegt, so tritt bei geschickter Verwaltung dieser Fall

nur sehr selten ein.

Das Ganze ist hiernach ein Spekulationsgeschäft.

Die Versicherungsbedürftigen bezahlen mittelst der Prämie die Abwen­ dung der Gefahr höher, als diese nach der Wahrscheinlichkeitsberechnung

zu veranschlagen

ist.

Sie unterwerfen sich aber

dieser Mehrzahlung,

weil sie nicht anders können, und geben namentlich auch deshalb solchen Gesellschaften

öfters den Vorzug

vor den

Gegenseitigkeits-Verbänden,

weil bei jenen eine Nachzahlung auf die Prämie ausgeschlossen ist; wo-

Das Unfallversichcrungsgesetz.

230

gegen sie die Gefahr, daß für die Deckung sehr umfangreicher Schäden

das Vermögen der Gesellschaft nicht ausreichen könnte, nicht in Betracht

ziehen.

Thatsache ist es, daß auf diese Weise die meisten Versicherungs­

gesellschaften es möglich machen, reiche Dividenden an ihre Mitglieder zu vertheilen, wie man in jedem Börsenblatt lesen kann.

Auch bei den Uu-

fallversicherungsgesellschaftcn dürfte dies der Fall sein; wenigstens deutet

darauf der Eifer hin, mit welchem für ihren Fortbestand gekämpft wird. Gegen diesen gesammten Geschäftsverkehr ist nun vom privatrecht­

lichen Standpunkt gewiß nichts einzuwenden.

Wir sind es so gewohnt,

daß in unserem Geschäftsleben überall, wo Gelegenheit sich bietet, die

Spekulation sich einfindet, um ihre Gewinne zu ziehn, daß wir nichts dabei finden, wenn auch die Noth des Lebens zum Gegenstand einer Spe­

kulation gemacht wird.

Eine ganz andere Frage aber ist es, ob denn

eine solche Benutzung der Noth zum Gewinn ein erfreuliches und wünschens-

werthes Verhältniß sei, zumal wenn sie die ärmste Classe der Gesellschaft

trifft?

Man will freilich in dem neuen Entwurf die Zahlung der Prämie

nicht den Arbeitern, sondern den Arbeitgebern auferlegen, und bezeichnet die

von diesen zu nehmende Versicherung als eine geschäftliche Manipulation, die mit allen andern Kosten der Produktion auf gleicher Linie stehe.

In­

dessen kann man sich ja darüber nicht täuschen, daß jede Belastung des

Arbeitgebers mehr oder minder auch auf die Arbeiter zurückfällt.

Der

Arbeitgeber, insofern er sich nicht durch Erhöhung seiner Waarenpreise bezahlt machen kann, wird versuchen, ja unter Umständen sogar genöthigt sein, seine Mehrkosten, wenigstens einen Theil derselben, durch Minderung

des Lohnes auf die Arbeiter überzuwälzen; so

wie umgekehrt die Ar­

beiter, wenn man von ihnen die Prämie erheben wollte, versuchen würden,

durch Erhöhung ihrer Lohnforderung sich dafür an dem Arbeitgeber schadlos zu halten.

In wie weit

das Eine oder das Andere gelingt, wird von

den Konjunkturen abhängen, welche überhaupt die Höhe des Arbeitslohns regeln.

Eben deshalb dürfte es auch von keiner weittragenden Bedeu­

tung sein, ob und in welchem Maße das Gesetz die Zahlung der Prämie in erster Linie den Arbeitgebern oder den Arbeitern auflegt.

Es würde

daS nur für die erste Zeit eine entscheidende Wirkung üben, sehr bald aber in der Regelung des Arbeitslohnes sich ausgleichen.

Selbst aber

davon ausgegangen, daß die Erhebung der Prämie von den Arbeitgebern nur diese, nicht auch die Arbeiter belaste, so ist es doch allgemein aner­

kannt, daß eine solche neue Belastung mindestens einen Theil unserer

Industrie schwer treffen würde; und die Mehrbelastung mit dem Betrage

deS Gewinnes, den die Versicherungsgesellschaft bezieht, ist daher jeden­ falls keine gleichgültige Manipulation.

Was kann nun der Staat beabsichtigen, wenn er erklärt, eine Ver­

sicherung seiner Angehörigen in die Hand nehmen zu wollen?

Kann er

nach Art jener Gesellschaften ein Spekulationsgeschäft im Sinne haben?

unmöglich.

ES wäre das

Was jene Gesellschaften vorwurfsfrei thun

dürfen, wäre von Seiten des Staates eine unwürdige Handlungsweise. Der Staat, wenn er eine Versicherung seiner Angehörigen übernimmt,

kann dies nur thun im Sinne einer Versicherung auf Gegenseitigkeit;

d. h. er kann von den Betheiligten nur Prämien erheben in dem Umfange, als zur Deckung der versicherten Schäden erforderlich ist.

war dies auch

die Absicht des Regicrungsentwurfs.

Ohne Zweifel

Es wäre ja un­

denkbar, daß das Reich, welches zu den Prämien einen Zuschuß geben

sollte, zugleich auf einen Gewinn aus der Versicherung hätte spekulircn wollen.

Aber es war vielleicht ein Fehler des Entwurfs, daß er diesen

Gedanken nicht klar aussprach, so

konnten.

daß Manche dadurch beirrt werden

Wenn der Entwurf die Versicherungsanstalt als eine „für Rech­

nung des Reichs zu verwaltende" bezeichnete, so konnte eS scheinen, als

ob die Anstalt nur eine Station des Reichsfiskus sein und nach Umständen ihre Ueberschüsse an daS Reich abliefern sollte. durchaus fern gehalten werden.

Ein solcher Gedanke muß

Es würde das geschehn, wenn man eine

Bestimmung folgender Art in das Gesetz aufnähme: Die Reichsversicherungsanstalt bildet eine vom Reichsfiskus

getrennte juristische Persönlichkeit.

Ihr Vermögen kann niemals

zu dem Reichsvermögen gezogen werden. Damit wäre klar ausgesprochen, daß die Anstalt nur innerhalb

ihrer Zwecke Vermögen ansammeln und verwenden, mithin auch Bei­

träge nur in diesem Umfange erheben könne.

Auch würde durch eine

solche Selbständigkeit die Anstalt völkerrechtlich gegen Eventuali­

täten jeder Art gesichert sein. Wenn aber in dieser Weise der Staat den Betrieb einer Versicherung in die Hand nimmt, dann verschwinden alle die Vorwürfe, mit denen man so reichlich einen solchen Akt des Staats überschütten zu dürfen ge­

glaubt hat.

Man hat den Satz in Bezug genommen, daß der Staat

nicht durch staatliche Unternehmungen der Industrie der Privaten Kon­

kurrenz machen solle.

Man hat von einem „Versicherungsmonopol des

Staats" gesprochen, ohne Zweifel um die Abneigung, welche so Viele dem Gedanken deS Tabakmonopols entgegentragen, auch der hier frag­

lichen Thätigkeit des Staates zuzuwenden.

Alle diese Vorwürfe treffen

nicht zu.

Wenn man sagt, der Staat solle in Betreibung von Industrie-

geschäften

den Privaten nicht Konkurrenz machen,

anderes als:

so heißt

daS nichts

der Staat soll die Produktion der Güter den Privaten

überlassen,

weil deren durch

der Regel

weit besser producirt,

das

eigene Interesse

als

der

Staat

belebter Fleiß in eö

vermag.

Aller­

dings hat auch bei der Güterproduction der Private zunächst seinen Ge­

winn im Auge.

Er erzielt aber diesen Gewinn um so mehr, je reich­

licher und besser er Güter erzeugt.

Sein persönliches Interesse geht also

hierbei mit der Vermehrung des Volkswohlstandes Hand in Hand; und

in dieser den Volkswohlstand fördernden Thätigkeit soll er vom Staate nicht gestört werden.

Läßt sich denn aber die Thätigkeit

einer Ver­

sicherungsgesellschaft als eine auf Güterproduktion gerichtete Industrie be­

zeichnen?

Die Gesellschaft macht ihren Gewinn dadurch, daß sie möglichst

viel an Prämien erhebt und möglichst wenig an Schäden bezahlt.

Liegt

denn in einer hierauf zielenden Thätigkeit eine Vermehrung des Volks­

wohlstandes?

Allerdings dient die Thätigkeit der Gesellschaft zugleich dem

löblichen Zwecke, die Schäden unter den Versicherten auszugleichen; und

in diesem Sinne hat dieselbe zugleich einen wirthschaftlichen Werth.

Läßt

sich denn aber behaupten, daß diese Thätigkeit in dem eigenen Interesse

der Gesellschaft eine bessere Grundlage finde, als eine gleiche Thätigkeit des Staats in dem von ihm vertretenen öffentlichen Interesse? Und wenn

der Staat eine solche Thätigkeit ohne Anspruch auf Gewinn über­ nimmt, kann man ihn da des ungerechtfertigten Betriebes einer „Industrie", eines „Monopols" zeihen?

Man hat wohl gesagt, Privatanstalten verdienen deshalb den Vorzug weil sie in der Lage seien, bei Bestimmung der Prämiensätze je nach der

Höhe der Gefahr weit mehr zu specialisiren und selbst zu individualisiren. Es mag dies hie und da vorkommen, ob nur im Interesse einer gerech­ teren Vertheilung der Belastung oder ob auch durch andere Einflüsse

bestimmt, kann dahingestellt bleiben.

Jedenfalls aber werden in der großen

Mehrzahl der Fälle auch die Privatanstalten die Prämie nur schablonen­

mäßig bestimmen können.

Auch sie besitzen kein Mikrometer,

mittels

dessen sie die Höhe der Gefahr jedes einzelnen Geschäftes genau zu be­

messen vermöchten. Endlich kann auch der Umstand, daß eine Anzahl Gesellschaften be­

reits im Betriebe solcher Geschäfte ist, diesen kein wohl begründetes Recht

auf deren Fortbetrieb geben. die Grundlage für ein

So wie es ein Zufall ist, daß das Gesetz

solches

Spekulationsgeschäft geschaffen hat,

so

müssen sich die Betheiligten auch gefallen lassen, wenn das Gesetz ihnen

diese Grundlage wieder entzieht. Im Gegensatz zu jenen Anschauungen muß behauptet werden, daß

der Staat recht eigentlich ein Stück seines Berufes erfüllt, wenn er da,

wo für eine zahlreiche und vorzugsweise hülfsbedürftige Klasse seiner An-

gehörigen sich das Bedürfniß einer Versicherung herauSsteüt und diese

dadurch zu einem öffentlichen Interesse wird, diese Versicherung

in die Hand nimmt, und solche dadurch der Privatspekulation entzieht. Mittels seiner Autorität vermag er die Organe herzustellen, denen das so schwierige Geschäft einer gerechten Vertheilung der Lasten und Vortheile

eines Gegenseitigkeits-Verbandes wohl anvertraut werden darf.

Diesem

hervorragenden Berufe des Staates gegenüber werden auch die auf Ge­

genseitigkeit gegründeten Privatanstalten zurück stehn müssen, obgleich ja gegen diese nicht der Einwand erhoben werden kann, daß sie die Industrie übermäßig belaste«.

Für ihren Fortbestand könnte nur daS Interesse der

bei ihrer Verwaltung

betheiligten Beamten

geltend

gemacht

werden.

Schwerlich aber dürfte dieses Interesse gegen die weit höher stehenden allgemeinen Interessen in Betracht kommen.

Ueberdies würde das Reich

wohl thun, wenn es Beamte, die auf diesem Gebiete Erfahrungen ge­ sammelt und sich erprobt haben, für gleichen Zweck in seinen Dienst nähme; so wie eS auch billig wäre, wenn die Reichsanstalt die in die Zukunft

hinausreichenden Belastungen der Gesellschaften gegen entsprechende Ver­ gütung übernähme, damit diese nicht genöthigt wären, nur für diesen Zweck ihre Geschäfte fortzuführen.

Wenn man freilich der Ansicht ist, daß jede Erweiternng der StaatSthätigkeit vom Uebel sei, und daß der Staat überall schlechter verwalte als die Privaten, dann ist damit auch der Gedanke einer VersicherungSorganisation durch den Staat schnell abgethan.

Wir zweifeln nicht, daß,

wenn z. B. die Post noch heute in Privathänden wäre und deren „Ver­ staatlichung" in Frage stände, Herr Eugen Richter mit schlagenden Gründen

darthun würde, daß daraus nur Unheil entstehn und der Staat gar nicht im Stande sein würde, ein solches Institut gut zu verwalten. unS durch solche Ansichten nicht bestimmen.

Wir lassen

Wir sind der Meinung, daß

da, wo es sich um das Interesse großer Gesellschaftsclassen handelt, welche

diese selbst nicht in genügender Weise zu vertreten vermögen, der Staat

den Beruf hat, seinerseits einzutreten und namentlich die Schwachen gegen die Stärkeren zu schützen.

Will

nennen, so mag man das thun.

man das den

„socialistischen Staat"

Mit diesem Wort ist gar nichts gesagt.

Bei den Privatgesellschaften für Unfallversicherung kommen aber noch

zwei besondere Momente in Betracht, welche ihre Thätigkeit minder günstig

gestalten. Das eine dieser Momente liegt darin, daß der Versicherungsbesteller — der Arbeitgeber — und der Versicherungsempfänger — der Arbeiter — nicht ein und dieselbe Person sind und in ihren Interessen auseinander

gehen.

Man hat mehrfach gerühmt, wie die Versicherungsgesellschaften

Das Unfallversicherungsgesetz.

234

in ihrem Verhältniß zu dem Versicherten sich durchaus „coulant" zu be­ weisen

und bei

eintretender Beschädigung

Schwierigkeiten zu bereiten pflegen.

den

Ersatzberechtigten keine

Es trifft dies zu überall da, wo der

Versicherungsbesteller selbst die Ersatzleistung zu empfangen hat.

Eine

Folge davon ist z. B. die, daß gegen Feuerversicherungsgesellschaften Pro­ zesse wegen Entschädigung nur selten vorkommen.

In Fällen dieser Art

liegt ein willfähriges Verhalten im eigenen Interesse der Gesell­ schaft.

Eine Gesellschaft, welche bei Ersatz eines Brandschadens knauserig

zu Werke gehen wollte, würde dadurch an Kundschaft verlieren, während umgekehrt eine freigebige Ersatzleistung ihr eine Menge neue Kundschaft

zuzuführen pflegt.

Dieses Verhältniß ändert sich aber sofort, wenn Ver­

sicherungsbesteller und Versicherungsempfänger verschiedene Personen sind.

Der Arbeitgeber, welcher im Hinblick auf daS Haftpflichtgesetz für seine Arbeiter Versicherung bestellt, hat zunächst nur daS Interesse,

eintretende Schäden nicht zu ersetzen braucht.

daß er

Ob die Gesellschaft

solche Schäden wirklich bezahlt oder in anderer Weise erledigt, kann ihm

gleichgültig sein.

Als humaner Mann wünscht er wohl auch, daß seinen

verunglückten Arbeitern eine Unterstützung wirklich zu Theil werde.

Vom

egoistischen Standpunkt aber hat er kein Interesse daran; ja er darf sogar hoffen, daß, je mehr die Gesellschaft ihr Zahlungen einschränkt, um so mehr dieselbe im Stande sein werde, die Prämien herabzusetzen.

Im

Verkehrsleben pflegen aber nur die egoistischen, nicht die Humanitäts-

Interessen den Ausschlag zu geben.

Damit fallen für die Versicherungs­

gesellschaften dem versicherten Arbeiter gegenüber die Gründe hinweg,

welche sie in anderen Verhältnissen zu einer „coulanten" Behandlung der

Versicherten bestimmen.

Und als eine Folge hiervon dürfen die zahl­

reichen Prozesse angesehn werden, in denen die Arbeitgeber (welche diese Prozesse nur

im Auftrag der Versicherungsgesellschaften führen) ihren

verunglückten Arbeitern selbst wohlbegründete Ansprüche bis aufs äußerste

bestreiten.

Dazu kommen dann freilich noch die weiteren Prozesse, mittels

welcher die Arbeiter in ihrer Noth die beengenden Schranken des Haft­ pflichtgesetzes zu durchbrechen suchen.

Diese große Zahl von Prozessen

aber, mit ihrer daS Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ver­ giftenden Wirkung, und mit der Unsumme von Kosten, welche sie nutzlos verschlingen, lassen daS Haftpflichtgesetz als ein durchaus verfehltes Werk

erscheinen.

Wenn nun auch der neue ReichStagSentwurf manche Punkte

des bisherigen Gesetzes, die eine Fülle von Streitstoff in sich schlossen, (z. B. die Frage deS Verschuldens) von sich ausschließt, so würden doch

noch zweifelhafte RechtSgrenzen genug bleiben, welche, so lange Versicherer und Versicherte mit ihren Privatinteressen einander gegenüber stehen, zu

Streitigkeiten führen würden; und das heillose Prozessiren würde kein

Ende nehmen. DaS zweite Moment, welches die Thätigkeit der Gesellschaften für Unfallversicherung

ungünstiger gestaltet,

liegt in folgendem.

Bei den

meisten übrigen Versicherungsgesellschaften ist der versicherte Schaden mit

einer einzigen, ihrem ungefähren Umfange nach sofort erkennbaren Leistung

abgethan.

Dieselben können daher bei Einrichtung ihres Geschäftshaus-

haltS darauf rechnen, daß Einnahmen und Ausgaben ziemlich innerhalb

derselben Zeitgrenzen einander gegenüber stehen und bei normalem Ver­

lauf der Geschäfte

sich decken.

Nur im Hinblick auf etwa

eintretende

außerordentliche Unglücksfälle wird für sie die Bildung eines Reservefonds nöthig.

Anders bei den Unfallversicherungsgesellschaften.

Fälle ihrer Haftung verpflichten sie zur Zahlung

Die schwereren

einer Rente, welche

auf eine ungewisse Reihe von Jahren hinaus

sie belastet.

Sie

können daher ihren Geschäftshaushalt nicht so einfach abwickeln, wie die übrigen Gesellschaften.

Sie können das Maß ihrer Belastung — die

Dauer der Rente — nur mittels einer

oder minder unsicheren

mehr

Wahrscheinlichkeitsberechnung bemessen; und sind genöthigt, bedeutende Kapi­ talien anzusammeln, um die schon zur Zeit begründeten Pflichten der Zu­ kunft zu decken.

Bereits bei den Verhandlungen der vorjährigen Reichtagscommission ist (ausweislich des Berichtes S. 14—16) von dem RegierungScommissar

in lichtvoller Weise dargelegt, daß eS unzulässig sei, einen VersicherungSverband in der Art zu organisiren, daß die Prämien nur nach den all­

jährlich fällig werdenden Zahlungen bemessen werden; daß vielmehr die Prämienbeträge jederzeit den Kapitalwerth der entstehenden Ent­

schädigungsansprüche decken müssen, wenn man nicht zu Gunsten der Ge­ genwart die Zukunft ungerecht belasten wolle.

Würde man in der erst­

gedachten Weise verfahren, so würden in den ersten Jahren des Bestandes

eines solchen Verbandes nur sehr geringe Prämienbeträge zu erheben sein; dann aber mit dem Anwachsen der alljährlich zu zahlenden Renten auch

die Prämienbeträge wachsen, bis der Beharrungszustand der Ausgaben erreicht wäre.

Alsdann aber würden die Prämienbeträge so

herange­

wachsen sein, daß die Betheiligten andauernd mehr bezahlen müßten,

als die Natur des Verhältnisses mit sich bringt.

Unterstellen wir also,

eS würde die durchschnittliche Dauer einer jeden Rentenzahlung auf 15 Jahre berechnet und eS wüchse der Gesellschaft alljährlich eine Belastung von 1000 Mark Renten zu, so würden nach der gedachten Methode im ersten Jahre nur 1000 Mark, im zweiten 2000 Mark, im dritten 3000 Mark

u. s. w. an Prämien erhoben werden.

Vom 15. Jahre an aber müßten

ständig je 15000 Mark erhoben werden.

Das würde aber die Bethei­

ligten insofern ungerecht treffen, als ihnen die Zinsen entgingen, welche

die erst im Laufe von 15 Jahren fällig werdenden Beträge zu tragen im Stande sind. Diese Ungerechtigkeit wird nur vermieden,' wenn von An­

fang an die Betheiligten jedes Jahrganges nicht blos die in dem be­ treffenden Jahre fälligen Renten, sondern ein Kapital aufbringen, welches

15 Jahre lang die Zahlung der aus dem Jahrgang erwachsenden Renten

ermöglicht; dergestalt jedoch, daß ihnen dabei Zinsen und Zinses Zinsen

zu gute kommen.

Unterstellen wir eine Berzinsung zu 4 °/0 und nehmen

wir an, daß die Zinse» mit Ablanf jedes Jahres zum Kapital geschlagen werden, so würde, nm eine jährliche Rente von 1000 Mark 15 Jahre lang

zu decken, ein Kapital von etwa 11,580 Mark erforderlich sein*).

Diese

Summe würde bereits im ersten Jahre, so wie auch alle folgende» Jahre

a» Prämien erhoben werde» müsse».

Da aber daraus im ersten Jahre

nur 1000 Mark, im zweiten 2000 Mark u. s. w. an Renten auszuzahlen

wären, so würre sich ans den Ueberschüssen bis zum 15. Jahre ein Kapital­ bestand von etwa 85,500 Mark gebildet haben, welcher als ein dauernder

Bestand der Kasse bewahrt bleiben und dessen Verzinsung dazu dienen müßte,

den jährlich zu erhebenden Prämienbetrag von 11,580 Mark bis auf die Höhe der für die Rentenzahlung erforderlichen 15000 Mark zu ergänzen Auf diese Weise würde erreicht werden, gleich belastet würden.

daß Gegenwart und Zukunft

Vorausgesetzt würde natürlich dabei, daß die zu

Grunde liegende Wahrscheinlichkeitsberechnung zuträfe.

Ergäbe sich, daß

die Durchschnittsdauer der Rentenzahlung mit 15 Jahren zu kurz ange­

nommen sei, so würde natürlich ein Deficit entstehen, welches durch er­ höhte Prämien der späteren Jahrgänge gedeckt werden müßte; während

umgekehrt, wenn jene Durchschnittsdauer zu lang angenommen wäre, dies

den späteren Jahrgängen durch verminderte Prämienzahlung zu gute käme.

Wir haben die vorstehende Berechnung aufgestellt, um zu zeigen, mit welchen erheblichen angesammelten Summen eine Unfallversicherungs-Ge­ sellschaft zu operiren haben und wie schwierig ihr Geschäftshaushalt durch

den gebotenen weiten Ausbau in die Zukunft sich gestalten würde. aussichtlich würde in der praktischen Ausführung das Verhältniß weit verwickelter werden, als eS hier dargestellt ist.

Vor­

noch

Ein solcher schwie­

riger und verwickelter Geschäftshaushalt trägt aber stets die Gefahr eines minder rationellen Betriebes in sich; und jedenfalls giebt er zu manich-

fachen Zweifeln Anlaß, die auf verschiedene Weise gelöst werden können.

*j Die Berechnung ist nicht völlig genau, weil man nicht mit Pfennigen rechnen wollte.

In dem Bisherigen liegt nun auch das Material, um zu beurtheilen

ob eS möglich sei, durch Normativbestimmungen die Thätigkeit der Pri­ vatgesellschaften so zu regeln, daß das Gesetz seinen Bestand auf sie gründen könnte.

Wenn der Reichstagsentwurf den Erlaß solcher Normativbestim­

mungen einem künftigen Reichsgesetze vorbehält und die in dem Entwurf

selbst aufgestellten nur als vorläufige behandelt wissen will, so hat dies schwerlich eine reelle Bedeutung.

Da die Verfasser des Entwurfs sicherlich

alles aufgeboten haben, um denselben annehmbar erscheinen zu lassen, so

darf man die von ihnen bearbeiteten vorläufigen Bestimmungen wohl als dasjenige ansehn, was sich überhaupt auf diesem Gebiet erreichen läßt. Wir wüßten nicht, woher einem künftigen Reichsgesetz die Weisheit kommen

sollte, noch etwa Besseres zu erfinden.

Auch würden ohne Zweifel sofort

nach dem ersten Gesetz die Gesellschaften wie Pilze auS dem Boden sprießen und nach den vorläufigen Bestimmungen

ihre Existenz erringen.

weiteres Gesetz würde dann post festum kommen.

Ein

Wir werden daher

jene Normativbestimmungen der Zukunft außer Acht lassen und uns auf

eine Prüfung des Werthes der vorläufigen Bestimmungen

beschränken

dürfen.

Bereits in den

letzten Reichstagsverhandlungen wurde

von sach­

kundiger Seite darauf hingewiesen, daß die erste Bestimmung — die Ver­ pflichtung zur Annahme aller Betriebsunternehmer — durch die beige­ fügten Worte „unter den in den Statuten vorgesehenen Bedingungen"

illusorisch werde.

Auch könnte unmöglich jede Anstalt sich verpflichten,

gefährliche Betriebe in unbeschränkter Zahl aufzunehmen.

Aber auch die

beiden weitern Bestimmungen dürften schwerlich zu einem gedeihlichen Ziel

führen.

Die ausgesprochene Verpflichtung,

für jede Rente das Deckungs­

kapital zu hinterlegen, trägt eine Menge zweifelhafter Fragen in sich.

Soll das Deckungskapital berechnet werden nach der Wahrscheinlichkeits­ dauer der JahreSzahlungen des concreten Falles, oder soll für die zu

zahlenden Renten im allgemeinen eine muthmaßliche Durchschnittsdauer

berechnet werden? Auf welchen Grundlagen soll diese Rechnung beschafft werden? Wie steht zu controliren, ob die Voraussetzung einer Hinter­

legung und ob Aenderungen des Verhältnisses, welche zur Rücknahme der Hinterlegung

berechtigen,

eingetreten

seien?

Sollen

die

hinterlegten

Summen verzinslich angelegt werden? Wer soll die Anlage bewirken? Wer trägt die Gefahr der Veranlagung? Soll das alles die Stelle thun,

bei welcher hinterlegt wird?

Und kann man dieser so etwas zumuthen?

Nicht mindere Schwierigkeiten trägt die dritte Normativbestimmung

— Beaufsichtigung

der finanziellen

Sicherheit der Anstalt — in sich.

238

DaS Unfallversicherungsgesetz.

Diese Sicherheit hängt nicht blos ab von der Höhe des Grundkapitals, sondern auch von der Zahl und der Höhe der übernommenen Gefahren.

Soll über dies alles fortwährend eine staatliche Controte geübt werden? Und nach welchen Grundsätzen soll die beaufsichtigende Behörde die Sicher­

heit bemessen? In welchem Maße dürfen die übernommenen Gefahren das Grundkapital übersteigen?

Soll der Ausspruch, daß eine Gesellschaft

finanzielle Gewähr leiste, auch nach Befinden zurück genommen werden

können?

Und wann wäre der Augenblick zu einem solchen verhängniß­

vollen Ausspruch gekommen?

Es liegt auf der Hand, daß über alle diese Fragen zahlreiche Mei­ nungsverschiedenheiten bestehen können.

Man braucht nicht einmal auf

der einen oder anderen Seite besonders büreaukratische oder autonomistische Steigungen

zu unterstellen,

um

vorauszusagen, daß aus diesem Ver­

hältniß vielfache Reibungen und Kämpfe hervorgehen würden. Mitteln sollen diese geführt werden?

Mit welchen

Will man den Staatsbehörden eine

Art Disciplinargewalt über die leitenden Organe der Anstalten einräumen? Und wie, wenn die Anstalten in Abwehr der an sie gestellten Anforde­ rungen sich vereinigten und mit Einstellung ihres Betriebes drohten?

Mit einer solchen würde dann das ganze Gesetz lahm gelegt sein! Ueberhaupt liegt die Gefahr nahe, daß die Gesellschaften, so bald sie durch

das Gesetz zu einer unentbehrlichen Institution geworden, eine Macht erlangen, welche den Werth ihrer Konkurrenz für den zur Versicherung

Genölhigten illusorisch machen könnte. Nach dem Allen scheint es unö unmöglich, daß der Staat ein Gesetz

von dieser Wichtigkeit auf solche Grundlagen bauen könnte.

Er würde

einem Manne gleichen der ein großes und schweres Gebäude auf eine

Schicht von Gerölle setzen wollte.

Dasselbe würde in den Fundamenten

wanken. Nimmt der Staat die Organisation der Versicherung in die Hand, so tritt vielleicht auch die Frage über den Staatszuschuß zu den Prämien

wieder in den Vordergrund.

Es läßt sich nicht leugnen, daß ein Grund

für einen solchen darin gefunden werden kann, daß bisher die durch Un­ fall hülflos gewordenen Arbeiter in der Regel der Armenpflege anheim­

fielen, und daß in diesem Sinne der Industrie eine Beihülfe aus öffent­ lichen Kassen zu Theil wurde.

Aber es läßt sich doch die Frage erheben,

ob nicht diese Belastung der Armenverbände mit den Opfern der Industrie

eine Ungerechtigkeit enthalte, welche keine Aufrechthaltung verdiene.

Geht

man einmal davon auS, daß diejenigen, welche in dem Kampfe, der im

Interesse der Gütererzeugung tagtäglich mit den Kräften der Natur ge-

kämpft werden muß, invalid geworden, nicht minder einen Anspruch auf leidliche Versorgung haben,

wie die Invaliden des Schlachtfeldes:

so

liegt eS am nächsten, die dadurch erwachsenden Kosten auf die Güter zu

wälzen, welche nur mit solchen Opfern erzeugt werden können; d. h. jene Kosten dem Betriebsunternehmer aufzulegen und ihm zu überlassen, die^

selben auf den Preis seiner Erzeugnisse zu schlagen.

Wir möchten hier­

nach wünschen, daß der Gedanke an einen — in noch manchen Be­

ziehungen bedenklichen — StaatSzuschuß zu den Versicherungsprämien bei der neuen Redaktion des Gesetzes nicht aufrecht erhalten werde.

Nur bei

solchen Betrieben dürfte ein solcher gerechtfertigt^ sein, welche die nach der Größe der Gefahr erforderliche Prämie nicht

aufzubringen vermöchten,

während doch ihr Fortbestand im öffentlichen Interesse geboten erschiene.

Der Regierungsentwurf

sicherung

enthielt die

Bestimmung, daß die Ver­

nicht diejenigen Kosten begreifen solle,

welche innerhalb der

ersten vier Wochen nach Eintritt des Unfalls entstehen.

Die Anordnung

einer solchen Karenzzeit, so viel sie auch angefochten worden, ist gewiß

eine sehr verständige Maßregel im Interesse deS Geschäftshaushaltes der

Versicherungsanstalt.

Es würde unerträglich sein, wenn diese für jeden

auch noch so geringen Unfall in Anspruch genommen und damit der ganze

Apparat zur Feststellung der Entschädigung u. s. w. in Bewegung gesetzt werden dürfte.

Wir möchten jedoch den Gedanken anregen, ob nicht diese

Beschränkung der Versicherung mit etwas Anderem in Verbindung ge­

bracht werden könnte, das bisher in den Entwürfey keine genügende Be­ rücksichtigung gefunden hat.

Es ist bei den Verhandlungen mehrfach hervorgehoben worden, wie

die allgemeine Versicherung der Arbeiter die Gefahr in sich trage, daß die Betriebsunternehmer weniger Sorgfalt auf Abwendung von Un­

fällen richten würden und dadurch die Zahl der letzteren sich leicht ver­

mehren könnte.

So weit diese Sorgfalt in der Beschaffung dauernder

Schutzvorrichtung sich zu erweisen hat, würde für solche wohl durch die Aufsicht der Fabrikinspektoren u. s. w. gesorgt werden können. aber wird die Verhütung

Vielfach

von Unfällen durch eine von außen schwer

controlierbare ständige Thätigkeit der Betriebsherren (gehörige Unterwei­ sung, Beaufsichtigung der Arbeiter u. s. w.) bedingt sein. Um das Interesse der Betriebsherren hierfür genügend zu schärfen, dürfte dasjenige, was

der Regierungsentwurf in § 47 vorschrieb — Haftung des Betriebsunter­ nehmers für bösen Vorsatz und grobes Verschulden — schwerlich auS-

reichen.

Wohl aber dürfte ein genügender Antrieb zu der nöthigen Sorg-

falt dann gegeben sein, wenn der Betriebsherr bei jedem in seinem Ge­

schäft vorkommenden Unfälle in der Art betheiligt würde, daß auch ihn ein gewisser Nachtheil dabei träfe.

Dies könnte durch die Vorschrift ge­

schehen, daß er für die erste Zeit (also etwa vier Wochen) die Kosten der Obsorge für den durch Unfall Verletzten stets aus eigenen Mitteln

zu tragen habe.

Eine solche mäßige und deshalb erträgliche,

aber

immerhin fühlbare Heranziehung zu den Nachtheilen des Unfalls würde

den Betriebsherrn am besten einschärfen, daß sie vor allen auf Verhütung von Unfällen Bedacht zu nehmen haben.

Bei einer durch Unfall bewirkten

Tödtung würde in gleicher Weise die Obsorge für die Hinterbliebenen

für eine mäßige Zeit dem Betriebsherrn zur Last zu setzen sein.

verständlich

müßte

schlossen bleiben.

eine Versicherung

für diese Verpflichtungen

Selbst­ ausge­

Man wird vielleicht einwcnden, daß eine solche Ver­

pflichtung den Bctriebsherrn sehr unschuldig treffen könne.

Das mag

Wer aber wichtige Zwecke erreichen will, darf vor einer solchen

sein.

durchgreifenden Maßregel nicht zurückschrecken.

Wollen doch auch die Ent­

würfe den Arbeiter in der Art an dem Unfall betheiligcn, daß er nur einen Theil seines bisherigen Lohnes als Unterhalt beziehen soll. Gleiche

Rechtfertigung würde es in sich tragen, wenn man auch dem Betriebs­ unternehmer einen gewissen Antheil an dem Unfall aufbürdete. diesen als ein Unglück zu tragen haben.

Er würde

Zugleich würde aber eine solche

Bestimmung die Versicherungsanstalt von der Beschäftigung mit allen ge­

ringen Unfällen frei halten und dadurch ihre geschäftliche Existenz

we­

sentlich erleichtern.

Tritt man an eine Reform des Haftpflichtgesetzes heran, so sollte

man doch auch den § 1 desselben nicht außer Acht lassen.

Auch dieser

Paragraph — welcher übrigens den § 25 des preußischen Eisenbahngesetzes vom 3. November 1838 zur Grundlage hat — ist keine ganz glückliche

Schöpfung.

Der Fehler desselben dürfte darin liegen, daß er zwischen

Bediensteten der Eisenbahn und andern Personen nicht unterschieden hat,

während doch das Verhältniß beider nicht gleich ist. Für Eisenbahnbedienstete ist dasselbe Schutzbedürfniß vorhanden, wie

für alle anderen Arbeiter, die bei einem gefährlichen Betriebe beschäftigt sind.

Es ist daher gerechtfertigt, daß sie wegen jeder Beschädigung, die

sie bei dem Betriebe der von ihnen bedienten Bahn erleiden, Ersatz er­

halten.

Und wenn man bei dem neuen Unfallgesetz davon ausgeht, daß

dem Arbeiter das eigene Verschulden nicht anzurechnen sei, so müßte auch

den Eisenbahnbediensteten gegenüber die Einrede des „eigenen Verschuldens" und der „höheren Gewalt" Wegfällen.

Sie würden sonst fortan wesentlich

schlechter gestellt fein, als alle übrigen Arbeiter, während man sie doch bisher besser gestellt hatte. Andererseits würde es aber angemessen sein, auch bei ihnen die im Fall der Arbeitsunfähigkeit zu zahlende Rente (Pension) auf einen entsprechenden Theil ihres Gehaltes oder Lohnes zu beschränken. Auch wird man bei jedem größeren Eisenbahnbetrieb den Betriebsherrn nicht zwingen wollen, an einer Versicherung Theil zu nehmen, da derselbe füglich als Selbstversicherer gelten kann. Es würde daher bei der entsprechenden eigenen Verpflichtung desselben zu belassen sein. Anderen Personen, insbesondere den Passagieren gegenüber geht das legislatorische Bedürfniß nur dahin, daß ihnen für jede Beschädigung Ersatz geleistet werde, die ihnen durch ein Verschulden der Eisenbahnbeamten oder durch einen Unfall im Betriebe der Eisenbahn (Axenbruch, Entgleisung, Zusammenstoß u. s. w.) zugefügt wird; insofern nicht die Bahnverwaltung beweisen sann, daß der Unfall durch einen unabwend­ baren äußeren Zufall herbeigeführt sei. Auch in der so beschränkten Fassung ist die Bestimmung für bie Eisenbahnen streng genug. Sie er­ scheint jedoch praktisch gerechtfertigt, weil nur dadurch die Bahnverwal­ tungen genöthigt werden, die größte Sorgfalt auf die Untadelhaftigkeit ihres Materials und Betriebs zu verwenden. Wenn man aber den § 1 deS Gesetzes anders auffaßt, wenn man unter dem, „bei dem Betriebe" eintretenden Unfall nicht einen Unfall des Betriebs, sondern einen Unfall des beschädigten Menschen versteht, und wenn man unter „höherer Gewalt" nur ein gewaltiges, mit elementarer Kraft auftretendes Ereigniß sich denkt: dann sann man zu sehr ungerechten Entscheidungen gelangen. In einem Falle, wo ein sechsjähriger Knabe beim Spielen auf der Straße vor die Räder eines Pferdebahnwagens gesprungen war und dadurch den Arm verloren hatte, wurde, obgleich nicht der geringste Be­ triebsunfall stattgefunden hatte, auch der Kutscher außer aller Schuld war, vom Reichsgericht die Eisenbahn zum SchadeneSersatz verurtheilt, weil ein Kind ein „Verschulden" nicht begehen könne, auch eine „höhere Gewalt" nicht vorliege. Konsequent hiermit würde auch in dem Falle, wenn ein Geisteskranker sich auf die Schienen wirft und überfahren läßt, die Eisen­ bahn Entschädigung zu leisten, also mindestens die Begräbnißkosten zu zahlen haben. Solche Entscheidungen würden nur dann gerechtfertigt sein, wenn man den Betrieb einer Eisenbahn als eine Art Delict anzusehen hätte, bei welchem der Delinquent auch für den Zufall zu haften hat. In beiden hervorgehobenen Richtungen wäre daher eine Umgestaltung des § 1 wohl geboten.

242

Das Unfallversicherungsgesetz.

Zum Schluß noch folgende Bemerkung.

Die Anregung zu diesem

Aufsatz hat für den Verfasser vorzugsweise in dem Umstande gelegen, daß

sehr viele — einige Zeit hindurch sogar sämmtliche — auS allen deut­ schen Landen in höchster Instanz anhängige Haftpflichtprozesse vor seinen

Blicken vorüber gegangen sind.

Er glaubt dadurch einen tiefen Einblick

in diese Materie gewonnen zu haben.

Noch ehe von einem Unfallver­

sicherungsgesetz etwas verlautete, hatte der Verfasser bereits längere Zeit die Ueberzeugung gewonnen, daß nicht durch eine „Erweiterung des Haft­

pflichtgesetzes", sondern nur durch eine umfassende Unfallversicherung den

Betheiligten wahrhaft geholfen und dem Unwesen jener Prozesse gesteuert werden könne.

Der Erlaß eines bezüglichen Gesetzes bildet daher auch

nach den Erfahrungcn des Verfassers eine dringende Aufgabe der Gesetz­

gebung.

Möchte dieselbe nicht an leidigen Sonderinteressen scheitern. O. Bähr.

Rom und die römische Campagna in Bezug auf

die modernen Culturverhältnisse.

Wer im verflossenen Decennium die ewige Stadt betreten, ehe die Umwandlung der politischen Verhältnisse sie zur Hauptstadt des modernen

Königreichs erschuf, möchte bei ihrem heutigen Anblick trotz des an sich geringen Zeitraums der inzwischen verflossen, doch erstaunt sein über die mannigfachen Veränderungen die nicht nur äußerlich, sondern überhaupt

im ganzen Charakter der Stadt vor sich gegangen. Die engen Straßen freilich, krumm und winkelig, in denen Paläste mit niedern Hütten wechseln, Klöster aus alter Zeit die längst jede Spur

vergangenen Glanzes abgestreift, zahllose Kirchen, die trotz großen Auf­

wandes — den St. Peter im Vatican nicht ausgenommen — den Barock­ styl

entarteten Kunstgeschmacks

aufweisen,

sind

geblieben.

Mit

jenen

Prachtbauten römischer Prinzipi die derselben Periode entstammen, deuten

sie zurück auf die Vergangenheit, wo wesentlich zwei Kasten, der Adel und die Geistlichkeit es waren, die seit Jahrhunderten die Stadt beherrscht.

Aber dessenungeachtet, welch' ganz verschiedenes Bild bietet sich heut zu Tage. eigen,

Reger Verkehr wie

er fast

belebt die vordem klösterlich

allen stillen

Städten

größern

Straßen,

Italiens

anstatt

die

der

zur Zeit der Päpste sprichwörtlich gewordenen Unsauberkeit jetzt Ordnung und Fürsorge auch nach dieser Seite erkennen lassen.

Zahlreiche Fremde

beginnen sich bereits in der neuen Capitale niederzulassen.

Ganze Stadt­

viertel füllen die einstmals unbebauten Strecken innerhalb der Mauern.

Gerade breite Straßen, wie die stattliche Via Nazionale, den Boulevards

von Paris vergleichbar, durchschneiden die Höhe deö Esquilinus, und wo einst die Stätte des Todes gewesen pulsirt heute das Centrum des mo­ dernen Eisenbahnverkehrs.

Ob diese Neuerungen ein wirkliches Verdienst

der jetzigen Regierung, ob damit ein wirkliches Fundament für die weitere Entwickelung des öffentlichen Lebens in Zukunft gelegt, wer möchte daran zweifeln?

Und doch, wie Vieles auf den ersten Blick hoffnungverheißend

Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 3.

17

scheint,

es zeigen sich bei näherer Untersuchung noch

große Lücken in

Folge der Fehler, die dem ganzen modernen System bis heute ankleben.

Bei der großen Bedeutung dieser Verhältnisse für die Zukunft des italienischen Staatsorganismus dürfte eine etwas eingehendere Beleuchtung

derselben auch für Leser des Auslands nicht ohne einiges Interesse sein.

Zwei Fragen waren es,

oder sind eS wesentlich noch jetzt,

welche

sich die Regierung bei ihrem Eintritt in die Stadt stellen mußte:

die

Eine auf die zeitgemäße Umgestaltung Roms zu einer Capitale im Sinne

der modernen Hauptstädte Europas bezüglich; die Andere, die seit Jahrhun­ derten, ja man kann sagen bereits seit den Zeiten des Alterthums ventilirte

bis dahin ungelöste Frage der Nutzbarmachung und Cultivirung des so­

genannten agro Romano, jenes Theils der Campagna, der von den un­ mittelbaren Mauern der Stadt beginnend sich in wellenförmigem, durch Sümpfe, Bäche und Tümpel mannigfach unterbrochenem Zuge bis zu dem

Saum der umgebenden Gebirgskette hin erstreckt.

Nach drei Seiten hin

von Bergen umfaßt, nach Westen dem tyrrhenischen Meere sich öffnend wird der baumlose Landstrich von den gelben Fluthen des Tiber und seiner

Nebenflüsse durchfurcht.

Bald prangend im üppigen Grün, bald wiederum

nackt, von Sonnengluth versengt zeigt die weite Ebene mit ihren Ruinen

von Aquäducten lind Tempelresten, von Grabmonumenten untermischt mit Bauten späterer Zeiten, wie jene halb verfallen, ein Bild der Verkommen­

Meilenweit erblickt man hier kein Haus, keine Spur menschlicher

heit.

Ansiedelung, wo im Alterthum Städte und Villen geglänzt. stamm ist hier heimisch.

Kein Volks­

Von Fern her kommen Fremde, den Boden zu

beackern, zu pflügen, zu säen.

Fremde schneiden die Aussaat.

Nur im Herbste regt sich mehr Leben in der todesstillen Einsamkeit.

Von Neuem bedeckt dann frisches Grün die weite Flur.

Dann steigt

vom fernen Hochgebirge der Abruzzen der Hirt hernieder in die Ebene, seine Heerden in den Triften der neuverjüngten Campagna zu weiden bis die rauhere Jahreszeit zur Rückkehr in die Heimath nöthigt.

Inmitten dieser Trümmerstätte verfallener Riesenwerke, die selbst in ihrem Ruin noch den großartigsten Charakter tragen, erheben sich die Mauern Trajans, die einstige Umwallung Roms, die freilich längst ver­

fallen.

Eine schmale Zone nur von Villen und Weinbergen vermittelt

den Uebergang aus der volksbelebten Stadt zu der Grabesruhe, welche über der Campagna liegt.

Etwa ein Drittel der städtischen Umfassung

bedecken heute ihre Bauten.

Im engen Tiberthale auf sieben Hügeln vom

östlichen Ufer verbreitet sich der Haupttheil, während vom Vatican über­ ragt sich westlich noch ein kleinerer Abschnitt zeigt.

Betrachtet man allein

in physikalischer Beziehung das städtische Gebiet, so wird

man sich ver-

gebens die Frage zu beantworten suchen, wie es möglich, hier in diesem niederen, von flachen Gestaden umschlossenen Bassin, jeder Ueberschwem-

mung ausgesetzt, von Sümpfen und Morästen übersät, eine Metropole

zu

Wie

gründen.

war

es

überhaupt

daß unter so schwierigen Verhältnissen

denkbar,

wird

mehr, zu solch' universeller Bedeutung gelangen konnte?

schichte kann hier Aufschluß geben.

man

fragen,

eine Stadt hier bestehen,

noch

Nur die Ge­

Am Palatinus wurde, neuster For­

schung und ältester Tradition gemäß, der erste Stadttheil gegründet, dessen Gipfel sich über die niedrige von den Ueberschwemmungen des Tiber oft

wie von

einem See überdeckte Ebene inselartig

erhob.

So durch die

Natur geschützt, mochte sich dieser Fels als erstes Bollwerk für eine Hand­ voll unternehmender Männer wie kaum ein anderes eignen.

Die Ge­

schichte selber lehrt, wie fast mit Nothwendigkeit, den Schwierigkeiten des TerrainS zum Trotz die Stadt sich späterhin erweitern mußte,

so daß

jenem Boden, arm an jeder Art von Baumaterial, mit der Ausdehnung

der Herrschaft marmorne Villen und Paläste erstiegen.

Stolz konnte am

Ende seiner Tage Kaiser Augustus auf die Stadt blicken, die er in Back­

stein empfangen, in Marmor hinterlassen. Noch im Jahre 1870 war Rom eine Stadt von wenig mehr als

200,000 Einwohnern

ganz

klösterlichen

Charakters,

worauf

ja

noch

heute die oft fast ironisch klingenden alten Straßennamen, wie: Weg der

Weisheit, zum Paradiese u. f. hindeuten — dabei mit allen jenen Män­ geln im vollsten Maße behaftet, die das hierarchische Regiment im Laufe

der Jahrhunderte der einstigen Volksbeherrscherin ausgeprägt. Neugestaltungen der Dinge mußte es der

Nach den

italienischen Regierung

vor

Allem darauf ankommen, nicht nur alle längst verjährten, fast traditionell gewordenen Schäden Entwickelung

und Uebelstände zu beseitigen,

bisher gehemmt, sondern

auch

welche die äußere

die nöthigen Räume der

Unterkunft für eine zahlreichere Einwohnerschaft zu beschaffen, welche die Wahl der römischen Capitale als Reichshauptstadt erforderlich

zu öffentlichen und Staatszwecken Bauten

gemacht,

herzurichten, kurz eine voll­

ständige Umgestaltung des Bisherigen vorzunehmen. Zu jenen Schäden aber,

welche seit Jahr und Tag die von den

Miasmen der Campagna umgebene Stadt heimgesucht, gehörten in erster Linie die, welche der Tiberstrom selber alljährlich anrichtet, und in der

That ist seit Jahrhunderten

bereits

die Tiberregulirungsfrage in der

mannigfachsten Art ventilirt worden, ohne daß bis heute eine Abhülfe zu schaffen gelang.

Bei einem verhältnißmäßig engen Flußbette hat die Sohle desselben

vom Austritt aus dem Gebirge bis zum Meere hin ein sehr geringes 17*

Gefälle,

dabei aber andererseits eine nicht unbeträchtliche Wassermasse,

erzeugt durch einen relativ langen obern Lauf wie durch zahlreiche Bäche und Nebenflüsse, welche denselben beiderseits begleiten. reichthum, unter andern Verhältnissen so nützlich,

Dieser Wasser­

schlägt in Folge des

vorerwähnten Umstandes hier in das Gegentheil um.

Wenn die Früh­

lingssonne wieder wärmere Strahlen sendet, und der Schnee auf den

Bergen zu schmelzen beginnt, dann schwellen gewaltig die Stromesadern, und ins Enorme steigert sich oft in unglaublich kurzer Zeit die Wass'er-

meiige des Flusses.

Ueber die Straßen hinweg ergießen sich dann die

Gewässer, in die Räume der den Ufern benachbarten Häuser, deren Be­

wohner sie oft tagelang vom Verkehr mit der Außenwelt abschneiden.

Ueber alle Berechnung ist der Schaden, der so alljährlich je nach der Ausdehnung der Ueberschwemmung für Stadt und Land erwächst.

Schon zur Zeit des römischen Kaiserreichs, wenn nicht schon früher,

zog dieser Uebelstand die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich, und in

der That weiß man, daß dazumal vielfach Mittel zur Abhülfe in Vor­ schlag gebracht worden. Durch's ganze Mittelalter hindurch bis in die neuste Zeit setzen sich

derartige Projecte fort, besonders seit der Verlegung des päpstlichen Wohn­ sitzes aus's rechte Tiberufer.

Nicht weniger als 400 Schriften werden in

offiziellen Mittheilungen aufgezählt, die rein auf diesen Gegenstand sich beziehen.

Von allen Projekten indeß ist bis hente kein einziges völlig zur

Ausführung gelangt. Nachdem im Jahre 1870 abermals eine neue Ueberschwemmung ein­

getreten, die ärger als je zuvor die Stadt heimgesucht, beschließt endlich

die Regierung energisch abzuhelfeir

Eine Commission von Ingenieuren

und Fachleuten wird vom Ministerium ernannt, ein Gutachten über die

zu ergreifenden Maßnahmen abzugeben.

war klar.

Das Resultat ihrer Untersuchung

Die vielen und mannigfachen Hindernisse, welche zum Theil

durch Verengungen, Windungen und Verschlammung, zum Theil durch die, das Ufer einengenden Häuser selbst dem freien Durchflusse durch die Stadt sich entgegenstellen, erzeugen naturgemäß

im oberen Laufe An­

stauungen, welche das Wasser in die Kloaken und Kanäle hinein, und

durch sie hindurch bis in'S Innere der Stadt treiben.

Vor Allem müssen

daher, um dem in Zukunft vorzubeugen, jene Hindernisse-beseitigt, und

zu beiden Seiten Mauern gezogen werden, die dem Andrange der Fluthen widerstehen. Ein größerer Hauptkanal soll nach dem Anträge der Commission

die Kloaken und Kanäle aufnehmen, um sie weiter unterhalb der Stadt

inö Flußbett zu leiten. Man muß gestehen, die Maßregel war verständig, zeitgemäß und

trug gleichzeitig einem längst empfundenen ästhetischen Bedürfnisse Rech­

nung.

Denn Nichts weniger als den Boulevards von Paris gleicht der

schlammige Tiberstrand mit seiner Einfassung elender Spelunken, die nur

zu sehr darauf hindeuten, wie lange schon der Glanz der Weltstadt ver­

blichen.

Und was geschah zur Ausführung so Wünschenswerther, so höchst Bis heute fast so gut wie Nichts.

nützlicher Vorschläge?

Eine Reihe

von Jahren ließ man dahingehen, ohne ihre Ausführung überhaupt ernstlich

zu erwägen.

Statt mit allen Mitteln der städtischen Verwaltung fördernd

an die Hand zu gehen, weigerte sich zunächst das Ministerium, den ver­ sprochenen Zuschuß zu leisten, der zu andern Dingen, vor Allem dem

Millionen verschlingenden Riesenbau des neuen Finanzministeriums ge­ geben werden muß.

Und doch ist eS schwer zu denken, daß von den

vielen, zum Theil ganz unbenutzten Palästen,

an denen gerade Rom so

reich, kein einziger hinreichend Raum geboten zur Unterbringung der pa­

pierenen Schätze deS modernen Königreichs. Der Unthätigkeit folgt sodann abermals eine Reihe von Projecten.

Dem vorerwähnten Plane fängt man an zu mißtrauen, weil eine Um­ mauerung der Ufer möglicherweise nicht genüge, dem StromeSdrange zu

widerstehen, als ob die Gottheiten des Tiberstroms über andere Kräfte verfügten, als die vom Seinestrand, oder von den Fluthen des Mtssisippi.

Mehr als dreißig Druckschriften sind wiederum in den letzten Jahren in

die Oeffentlichkeit gelangt, die mitunter ganz abenteuerliche Ideen bringen.

So soll unter Andern die Bewaldung der Berge die Ursache der Ueberfluthungen sein,

gegen

die man durch Bergrinnen Abhülfe zu schaffen

meint, um die nach plötzlichem Gewitterregen vom Gebirge herabstürzenden Ströme zu einem gemeinschaftlichen Abflußbecken in der Ebene zu führen.

Auch Garibaldi finden wir unter der Zahl der Projectmacher.

Der

bezügliche von ihm in der Kammer proponirte Gesetzentwurf bringt einen

Kanal in Vorschlag, der kein geringeres Gebiet, als das ganze Territorium vom obern Tiberlaufe bis zur Mündung umfaßt und auf diese Art mit einem Schlage den Gefahren der Ueberschwemmung, der Schiffahrt und

der Versumpfung

der Campagna abzuhelfen

verspricht.

Ohne Zweifel

bedachte der wackere General wohl nicht, daß jene Zeiten längst vorbei, als unter ähnlichen Verhältnissen nach Livius' Bericht in noch nicht einem

Jahre, während der Belagerung Veji's der viel bewunderte Bau jener Emissarius zu Stande kam, der dem Orakelspruch gemäß die Wässer deS Albanersee'S dem Tiberbette zuzuführen bestimmt war.

Wieder Andere wollen, den nöthigen Raum für das Flußbett zu ge­

winnen, die Ufer rampenartig unter 45° Neigung abgeschrägt wissen — eine Maßregel, die glücklicherweise nicht zur Ausführung gelangt ist, denn

sie hätte unzweifelhaft einen großen Theil dessen

vernichtet,

was dem

Forscher und Alterthumskundigen von so hohem Interesse ist. Nach jahrelangem Ueberlegen ist man endlich neuerdings

auf

das

ursprüngliche Project zurückgekommen, dessen Ausführung man seit den beiden letzten Jahren, wie es scheint, ernstlich in Angriff nimmt, wenn

nicht inzwischen etwa abermals Unterbrechungen, wie sie bei dem fort­

währenden Wechsel leitender Persönlichkeiten nur zu erklärlich sind, ihren Fortgang hindern.

Aber gesetzt auch diese Aufgabe, die schwierigste sei gelost, wieviel

fehlt trotzdem heutzutage noch, die Stadt zu dem zu machen, werden soll!

Denn auch in anderer Hinsicht,

was sie

hat die mangelnde or­

ganische Einheit bis heut wesentlich die Ausführung

dessen verhindert,

was zur Reorganisation der städtischen Verhältnisse durchaus erforderlich.

Der neue Stadttheil gibt deu besten Beleg hierfür.

Statt in Gemein­

schaft mit der städtischen Verwaltung den Entwurf der Neubauten zu be­

rathen, überläßt das Akinisterium vielmehr dem Munizipium Alles.

Dies

wiederum baut aus eigener Machtvollkommenheit, ganz vom unteren Stadt­ theile getrennt und ohne jedwede Verbindung mit demselben, die Stadt­

Ganze Häuserreihen decken, dem

viertel am Esquilinus und Viminalis.

Entwürfe gemäß, binnen Kurzem das felsige, Jahrhunderte lang unange­

baute Terrain. lichster

Miethsräume, Bienenkörben vergleichbar, die mit mög­

Oekonomie

die

kleinsten

Räume

ausnutzen,

vielleicht, doch nichts weniger als geeignet,

erwecken,

zweckentsprechend

classische Erinnerungen zu

dienen dazu, den Gegensatz zwischen einst und jetzt nur

so schroffer vor Augen treten zu lassen.

um

Die Hauptschwierigkeit bei der

ganzen Anlage und deren Bewohnbarkeit bestand nun, oder besteht viel­ mehr noch jetzt in der Verbindung des oberen und unteren Stadttheils —

ein Mangel der sich ganz besonders bei den öffentlichen Gebäuden fühlbar

macht.

Ueber zwei Kilometer beträgt beispielsweise die Entfernnng des

Finanzministeriums, das man angeblich aus Gesundheitsrücksichten fast an die nördliche Umgrenzung der Stadt bei Porta Pia gelegt, vom eigent­ lichen Centrum. des Ministeriums

Aber auch dieser höchst wichtigen Frage wurde Seitens

nicht

die gebührende Aufmerksamkeit

geschenkt.

Die

wunderlichsten Dinge passiren, die zu den größten Jnconvenienzen zwischen letzterem und dem städtischen Munizipium Anlaß geben.

Fall liefert das Kriegsministerium.

Den eclatantesten

Nach Rom verlegt, nimmt dieses

Dikasterium zuvörderst, was an öffentlichen Bauten grade disponibel, wo

es ihm gefällt, in Beschlag.

Bei der Porta maggiore, ganz int Bezirk

des neuen Quartiers richtet man unter Andern ein früheres Kloster zu einem Militär-Hospital ein, und erweitert dasselbe nachher durch einen

größern Anbau, ohne sich im Geringsten um die vom Munizipium hier

So kommt es, daß als

projectirten neuen Straßenanlagen zu kümmern.

eines Tags die auf dem bezüglichen Baugrunde gelegenen Häuser ange­ kauft werden sollen, beide Behörden mit einander collidiren.

Die Fort­

setzung der Straße mußte in Folge dessen wirklich unterbleiben.

Aehuliche

Die Via nazionale wäre ohne

Verhältnisse wiederholen sich tagtäglich.

Zweifel die kürzeste und dabei bequemste Verbindung beider Stadttheile geworden, wäre sie nur so, wie ursprünglich beabsichtigt, zur Ausführung Statt dessen ist man heute genöthigt,

gelangt.

in weiten unbequemen

Windungen zwischen Mauern und Häusern die Höhe zu erklimmen, — warum? weil dasselbe Ministerium gerade an der Ucbergangsstelle sich

zwei Klöster zu seinem Sitze erkor, die es über die Straße hinweg zu einem Bau vereint.

dleuerdings ist man vielfach bestrebt, durch erweiterten Lokomotivgebrauch die Schwierigkeit des Verkehrs zu erleichtern.

Doch selbst dem

geflügelten Dampfroß dürfte bei den unregelmäßigen Terrainverhältnissen

Roms mitunter der Athem ausgehen.

Unterirdische Bahnen, deren Ein­

richtung man ebenfalls deliberirr, sagen nicht viel mehr. benutzen?

Das entgegengesetzte Extrem,

Wer würde sie

eine Anlage über die Häuser

hinweg, scheitert wiederum an der Enge der Straßen.

In anderen Städten,

wie London, New-Jork mit soviel Erfolg angewandt, würden solche Ver­

kehrsmittel

die Communicalion hier

eher hemmen als

fördern.

Die

Hauptstraße Rom's, der Corso ist beispielsweise nicht über 5 Meter breit,

die entlegenern aber bieten, wie in Venedig, oft kaum den nöthigen Raum, um einem Fuhrwerk auszuweichen.

Viel wichtiger freilich und von allgemeinerer Bedeutung sind die von

der Regierung zur Besserung der Campagna getroffenen Maßnahmen. Nicht lange, nachdem das neue Regiment in Nom seinen Sitz genommen,

ward von demselben eine Commission ernannt, die zur Cultivirung der Campagna erforderlichen Schritte zu berathen.

Neu war dieser Gegen­

stand nach sovielen bereits früher unter den verschiedensten Verhältnissen

projectirten Gesetzesvorschlägen und Versuchen gewiß nicht.

Denn auch

im Alterthum war wohl selbst in der besten Zeit das Klima nie völlig gesund,

und die Cultur weder so allgemein noch so blühend,

andern Gegenden.

wie in

Der Hirtenstand hat wohl auch früher vorgeherrscht.

Die Verbesserung solcher Verhältnisse war somit von jeher ein Gegenstand der Wünsche,

Studien und Versuche.

In der That ist die Zahl von

Schriften und Brochüren über diese Frage kaum geringer, als jene über die Tiberregulirung. Nach zweijähriger Thätigkeit,

theils theoretischen theils praktischen

Inhalts hat nunmehr die Commission das Resultat der StaatSregterung vorgelegt.

In dem bezüglichen Berichte werden als Ursache der Verödung

angegeben „die Malaria und daS bisherige Bebauungssystem".

Um die, jenen ersten Uebelstand herbeiführenden Anlässe richtig zu verstehen, ist eine nähere Betrachtung der Bodenverhältnisse des Landes

unerläßlich.

Mannigfaltiger Wechsel charakterisirt daS Panorama der nach der Landseite hin von den verschiedenartigsten Berggruppen umsäumten Ebene, die ihrer Formation nach fast eher den Charakter einer Thalsenkung, als

den einer Hochebene trägt.

senkt sich

Denn trotz ihrer unregelmäßigen Detailformen

die Sohle vom Fuße der Gebirge stetig abfallend

bis zum

Meeresspiegel. In den verschiedenartigsten Windungen durchfurcht der Tiber das relativ ebene Gelände.

Querthäler, tiefe Schluchten, Bäche und Quellen

die als Nebenflüsse bald in den Tiber sich ergießen,

bald

direct dem

Meere zueilen, durchschneiden nach allen Richtungen hin die Oberfläche. An sich erhebt sich das Tiberbecken nur wenig über das Meeresniveau. Selbst der Anio zeigt unterhalb

der Wasserfälle von Tivoli nur sehr

geringe Höhenunterschiede.

ändert sich

Verhältniß.

Doch

je nach der Gegend dies

Eigenthümlich ist indessen der Umstand, daß die dem rechten

Flußufer folgenden Höhen die jenseitigen durchgehends überragen;

Umstand der denselben, beiläufig bemerkt,

ein

eine gewisse Bedeutung für

militärische Zwecke gibt, wie u. A. der Monte Mario auf dem rechten

Tiberufer den Hauptstützpunkt des städtischen Vertheidigungsshstems bildet.

Nur Ausläufer der Hochebene kann man übrigens die sieben Hügel nennen, von denen die meisten noch heute unter ihren alten Namen fortbestehen. Tiefe Thalspalten trennen den eigentlichen städtischen Grund und Boden

von der umgebenden Campagna, und nur südöstlich erhebt sich ein hoher Isthmus, den das Alterthum zu Wasserleitungen benutzt, während heut­

zutage sich hier die verschiedenen Bahnzüge kreuzen. Eine niedere Zone, im Laufe der Jahrhunderte vom Tiber ange­ schwemmt zieht sich am Fuße der Ebene hin, die einst das Meer begrenzt.

Man möchte sie als eine Fortsetzung deS Tiberthals bezeichnen, welches dort sich erweiternd, im'Dünensande allmählich sich verliert.

Nach und

nach verflacht sich jene Zone, aber noch weithin bis nach Porto d'Anzio

zu kann das Auge ihre Spuren verfolgen.

Solche Dämme sind eö, die

den Wasserabfluß hemmend, zur Versumpfung Veranlassung geben, deren Ausdünstungen nachher jene Fieber erzeugen, die in dieser Gegend leider

nur zu bekannte Gäste sind. Wie die höheren Theile nackt und unfruchtbar, so sind hingegen die

Sohlen der Flußthäler reich bedeckt mit Hilmus.

Saftiges Grün durch­

zieht sie in üppiger Fülle, selbst da, wo die Cultur nicht bessere Frucht

dem Boden zu entlocken weiß, die besten Weideplätze liefernd.

Noch bis

zum äußersten Küstensaume hin würde die Fruchtbarkeit des Bodens eine reiche Ausbeute gestatten, hätten nicht andere Umstände, vor Allem die

Sumpfluft, der Bewohnbarkeit jener Striche wie ihrer Cultivirung bis Trotz ihrer an sich geringen Aus­

heute unabweisbare Schranken gesetzt.

dehnung haben jene Flußthäler, sobald eö sich um Verbesserung der Cam­ pagna handelt, dennoch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.

Weniger

kommt in dieser Hinsicht die Natur der umgebenden Berge in Betracht, unter denen die Gruppe des Latinergebirges bei weitem die hervorragendste

ist.

Dem Vesuv bei Neapel vergleichbar, vulkanischen Ursprungs, erhebt

sich ber Kegel der Latiner Berge auf dreifach größerer Basis.

Wie jenen

charakterisiren auch ihn zwei Krater, aber während dem Vesuv, nach Westen

hin gespalten die niedrigere Sanna gegenübersteht, findet hier das Umge­

kehrte statt. — Ein unscheinbares Kloster deckt heute die Spitze des alt­ ehrwürdigen Monte Cavo, die Stätte wo einst das älteste Heiligthum,

der Tempel Jupiters die Häupter des Latinerbundes zu gemeinschaftlichem Opfer vereinte.

Halbkreisförmig öffnet sich die Vertiefung zwischen dem

seinen Gipfel umziehenden Höhenkranze.

Den nördlichen Theil in tiefem

Einschnitte durchbrechend zog sich von hier einst die berühmte Via Latina

in die campanische Ebene zu dem Flußthal des Sacco hinab. Ganz verschiedenen Charakter trägt die benachbarte weitailsgedehnte

Kalkkette der Lepinergebirge, deren Gipfel wohl um das anderthalbfache jene ersteren

an Höhe übertreffen.

Baumlos kahle Felsen

zeigen die

Liburtinerberge, ihnen ähnlich auch der Jnselberg des Monte Sorratte,

auf den Soracte“

indeß HorazenS Vers

„vieles ut alta stet nive

heut nicht mehr ganz zu passen scheint,

candidum

denn schneebedeckte

Bergesgipfel blicken selbst im kältesten Winter auS dem Hauptgebirgsstock der Abruzzenkette nür ausnahmsweise in die römische Campagna herüber. Kraterförmige Becken charakterisiren wiederum die zackigen Sabatiner­ berge, deren größtes

der See von Bracciano

an Umfang

wohl das

Doppelte deS Albanersee's umfaßt.

Eine der schönsten Parthieen der Campagna bildet ohne Zweifel die Via Appia.

Mit ihren schattigen Alleen von Ulmen und Platanen, die

selbst im hohen Sommer der Gluthauch der Sonne nicht zu durchdringen vermag, bildet diese „Königin der Straßen" den reinen Gegensatz gegen die sonstigen Straßenanlagen alter Römerzeit, die mit ihren vielen Treppen,

Rampen und Fußtritten die Communication oft eher erschweren, als ihr

förderlich sein mögen.

DaS Charakteristische der hier beschriebenen Terrainverhältnisse wird,

den dasselbe bedingenden Ursachen nach, erst völlig klar, wenn man sich die geologischen Verhältnisse deS Landes vergegenwärtigt.

Die ganze Fläche, welche jetzt wohl die Hälfte der italischen Halbinsel

ausmacht, bedeckte in frühsten Zeiten das Meer. erst gehört die Erhebung der Appeninenkette an.

Einer spätern Periode

Die Insel deS Soracte,

damals wohl um das anderthalbfache höher als jetzt, tritt zuerst aus den Fluthen hervor, während durch Niederschläge von Sand und Kies sich auf

dem Meeresgrund jene Höhen allmählig zu bilden beginnen, die heute Gewaltige Felsblöcke wälzen in der

den Westrand der Stadt umfassen.

dann folgenden Periode der Regenzeit die Wasserströme von den Gipfeln

der Gebirge ins Bieer, auf die Gipfel der vorgedachten Höhen, die sie theilweise noch heutzutage bedecken. Mit den Regengüssen wechseln wiederum

vulkanische Erscheinungen, Aschen- und BtmSsteinauswürfe, weithin über das Meeresniveau verstreut, bilden Niederschläge jener Tufschichten, welche jetzt noch die Oberfläche der ganzen Campagna bedecken. beginnt sich nunmehr

bald ruckweise,

durch innere Erdstöße, bald all­

mählig, der ganze tufbedeckte Meeresgrund zu heben.

Langsam geht diese

Erscheinung im Laufe der Jahrhunderte vor. sich. bilden sich in verschiedener Richtung.

ein tiefer Einschnitt,

Zugleich aber

Spalten und Risse

Fast senkrecht zur Küstenltnie tritt

das von sandigen kiesbedeckten Höhen

umsäumte

Tiberthal hervor, während Regengüsse und Schnee wieder neue Ströme aus den Bergen herniedersenden.

Mit unwiderstehlicher Gewalt in die

Ebene sich ergießend, unterhöhlen und zerreißen sie das Land, den Spalt des Tiberthals zu jenem großen Becken nach und nach erweiternd, dessen

steil abfallende Ränder die Hochebene begrenzen.

So auch bilden sich die

übrigen Flußthäler, die der Landschaft ihren eigenthümlichen Charakter verleihen.

Zugleich aber beginnt sich in dieser Periode der Wasserströme ein

Phänomen ganz verschiedener Natur zu offenbaren.

'In der Gruppe der

Latinerberge beginnen unterirdische Mächte sich zu rühren.

Lava- und

Schlammströme, mit Asche und Bimsstein gemischt, bedecken die Abhänge der vulkanischen Bergkette.

Noch zur Blüthezeit Albalonga'S überschütten

insbesondere die Auswürfe deS Monte Cavo Felder und Fluren.

zur Zeit der Gründung RomS erreichen sie ihr Ende.

Erst

Aber selbst heut­

zutage, wer vermöchte zu sagen, daß alle vulkanische Thätigkeit in jener Gegend völlig erloschen?

Deuten doch die Erdbeben der letzten Jahre fast

mit Bestimmtheit auf den Mons Albanus als ihren Ausgangspunkt, eine

Thatsache, welche auch stätigen.

de Rossi'S Pendelbeobachtungen vollkommen be­

Mehr und mehr haben sich inzwischen, nachdem der Kampf der Ele­ mente sich beruhigt, die Strombetten vertieft, auf deren Sohle feiner

Triebsand im Laufe der Zeit sich lagert.

An den Mündungen, deS Tiber

insbesondere, wird fort imb fort durch die See neues Land angeschwemmt,

welches das Stromesdelta immer weiter und weiter vorschiebt.

Dieses

Hinderniß des maritimen Verkehrs hat sich bis in die neuste Zeit hinein

fortgesetzt.

Zur Zeit der großen Campagnahcbung befand sich die Strom­

mündung etwa in der Gegend der jetzigen Ponte Galera, also mindestens

eine Viertelineile landeinwärts, da wo das natürliche Eruptionsthal dem Meere sich öffnet.

Zur Zeit des Ancus Martius, Gründers von Ostia

lag sie sechs Kilometer vor dem Hafen. unbrauchbar, so

wurde derselbe

Doch

schon

daß man westlich

unter Claudius

einen

Zweig

nach

Fiumiccino hin eröffnete, wo später durch Trajan ein neuer Hafen ge­ schaffen wird.

Damals finden wir die Gegend am Strande indeß noch

nicht, wie später durch sandige Dünen gegen das Seeufcr hin geschlossen:

die Lagrmen enthalten nur Salzwasser, und sind deswegen weniger un­ gesund.

Später jedoch, durch immer neue Dünen ringsum abgesperrt,

versandet auch dieser Hafen, die Lagunen, nunmehr vom Meere getrennt,

sind heule wirklich Sümpfe, voll miasmatischer Stoffe.

Ueber 12 Kilo­

meter ist seit jener Zeit die Hauptmündung wiederum vorgerückt, ein Vorgang der sich unter unsern Augen von Jahr zu Jahr wiederholl.

„Impetuosum litus“ nannten schon die Alten dasselbe Gestade, welches heute

noch die Anlage

eines Hafens

ebenso unmöglich macht,

wie damals.

Kräuter einstiger Lagunen wandeln sich in Torf um, Sümpfe wiederum,

die einstmals Wasser gefüllt und dadurch unschädlich gemacht, vertrocknen im Laufe der Zeit, und werden fiebererzeugende Moräste.

Nirgends auf

dem mit vegetabilischen Stoffen verfaulten Algen und Seemuscheln über­ deckten Strande gewahrt man Spuren von Hochwald oder sonstigen An­

pflanzungen.

Aber nicht blos die Gestade von Ardea nach Fiumiccino hin,

auch die Sümpfe der Campagna selber sind es, die den eigentlichen Heerd der Malaria bilden.

Die theilweise schon zersetzten Pflanzenreste, welche

der Boden der Campagna theils als Humus, theils als vulkanische Zersetzungöproducte enthält, lassen ihm, nachdem er in der heißen Jahreszeit

vertrocknet, beim Eintritt der ersten Gewitter gegen Monat September hin, eine Menge von Dünsten entsteigen.

Was eigentlich dies Miasma

enthält, jene feine aus organischen Keimen gebildete Substanz, welche sich im stehenden Gewässer wie auch im Boden bildet, sobald die Temperatur 25° Wärme übersteigt, ist heute noch unbekannt.

Thatsache jedoch ist,

daß mit ihr zugleich die Periode des Fiebers eintritt.

Was aber kann geschehen, um diesen Uebelständen abzuhelfen? DaS erste und am nächsten liegende Mittel würde, wie es Seitens der Com­

mission ganz richtig bemerkt worden, im Austrocknen der Sümpfe selbst wie in einer systematischen Drainirung des allzu wasserreichen Bodens,

neben möglichst ausgedehnten Anpflanzungen bestehen.

Die wohlthätige Wirkung der Wälder hängt allerdings sehr von der Baumart, nicht weniger auch von der Art der Bepflanzung ab.

Wohl

kann ein Laubwald sehr zur Reinigung und Erfrischung der Atmosphäre

beitragen, wenn die Lust

in den Blättern frei ctrculirt,

während im

Gegentheil niedriges am Boden hinziehendes Gestrüpp, wie es in schlecht gepflegten Bosquets oft zu finden ist, nur dazu dient, die reine Luft zu verderben.

Denn unter seinem Schutze bildet sich zumeist ein Sammel­

platz von Feuchtigkeit, von Jnsecten und verfaulten Pflanzenresten, deren

Ausdünstung nichts weniger als wohlthätig

Von welchem Nutzen

ist.

andrerseits rationell bepflanzte Districte in dieser Hinsicht sein können, zeigen die Eucalyptus-Anpflanzurigen der Trappisten unweit der Porta maggiore in Folge deren wie die Erfahrung lehrt, die Fieberfälle wirklich

seltener geworden sind.

Zweifelhaft dürfte es freilich scheinen, ob grade

diese Baumgattung, die höchstens sechs bis sieben Grad Kälte verträgt, bei dem häufigen und plötzlichen Temperaturwechsel der nicht selten dieses

Maaß, wenn auch nur vorübergehend, überschreitet, für die Verhältnisse der Campagna sich besonders empfehlen möchte.

Ulmen, Erlen, überhaupt

eine große Anzahl sonstiger Bäume eignen sich zu dem genannten Zwecke vortrefflich, auch Oel- und Maulbeerbäume dürften als erfolgverheißend

zu bezeichnen sein.

Von allen hierauf bezüglichen Maaßregeln ist jedoch,

wir müssen es leider gestehen, zur Stunde weder gesetzlich noch praktisch irgend Etwas geschehen.

Das italienische Strafgesetz verbietet zwar die

Ausrottung der Forsten, über eine Anpflanzung derselben existirt jedoch bis heute keine allgemein gültige gesetzliche Bestimmung.

Nothwendiger noch als die Bepflanzung erscheint die Trockenlegung des ausgedehnten Territoriums.

Nicht weniger als zehntausend Rinnsäle,

die sich in zahllosen Tümpeln und Lachen absetzen, zählt das im Durch­ schnitt etwa 250 Tausend Hektar umfassende Gebiet.

DaS projectirte

Drainirungssystem nun soll nicht nur zur Ableitung dieser, sondern auch der unterirdischen Gewässer systematisch über die ganze Campagna sich erstrecken Mittelst Maschinen wird das Wasser der Campagnasümpfe in Abzugs­

kanäle gepumpt, und von da ins Meer geleitet.

Dem Voranschläge der

Ingenieure gemäß hofft man die Arbeit trotz ihres großen Umfangs, in der ausfallend kurzen Frist von nur zwei Jahren zu vollenden.

Gesetz-

liche Vereine der Grundbesitzer, wie sie zu ähnlichen Zwecken lange schon in England und Schottland bestehen, sollen die Regierung in der Durch­

führung des neuen Canalisirungsshstems unterstützen. Dauernde Abhülfe freilich könnte erst eine mindestens ein bis zwei Meter betragende Erhöhung des ganzen Strandes versprechen, und in der That hört man daß dies, trotz der jedenfalls nicht unbeträchtlichen Kosten

und Arbeit alles Ernstes Seitens der Regierung unlängst in Erwägung gezogen worden ist.

Außerdem sollen zu beiden Seiten des Tiber Seiten­

canäle geführt und durch sie das Wasser aus den das Thal durchziehenden

Furchen und Rissen wo es jahraus jahrein von Neuem sich sammelt, in das Flußbett geführt werden.

Von nicht geringerer Bedeutung als

die Bodenbeschaffenheit und

die dadurch erzeugte Malaria ist die andere der beiden vorher bezeichneten Ursachen, welche wesentlich die traurigen Verhältnisse der Campagna herbeigcführt: das Bebauungsshstem.

Wenn man allerdings sich wundern

muß, wie ein so ausgedehnter District dem es im Grunde genommen an keiner Bedingung zur Erzeugung des Pflanzcnwuchses mangelt, seit Jahr­ hunderten schon sich in eine Wüstenei verwandeln konnte, so lehrt doch ein Blick in die geschichtliche Entwickelung, wie diese Erscheinung natur­

gemäß nicht ausbleiben konnte.

Verschiedene kleine Völkerstämme finden wir zur Zeit der Gründung Roms im Besitze der Ländereien, welche damals noch von Städten und Dörfern in bald größerer, bald geringerer Ausdehnung bedeckt waren.

Aber schon zur Zeit der Republik schien es nöthig, die auf Ländererwerb gerichtete

Lust

der

Reichen

gesetzlich

einzuschränken.

Das

Ackergesetz

Lic. Stolo's enthält ausdrücklich die Bestimmung, daß Niemand über

500 Jugera Land, Keiner über 500 Schafe und mehr als 100 Thiere größerer Gattung besitzen dürfe.

Zur Zeit der Gracchen hat schon die Bevölkerung bedeutend abge-

genommen.

Die Gütercomplexe sind im Wachsen.

Unter Augustus be­

ginnt die Luft in der Umgebung Roms bereits in bedenklichem Grade ungesund zu werden.

Cicero und Livius reden vom „verpesteten" Boden

der Stadt — im Grunde genommen kein Wunder.

Durch langjährige

Kriege waren Stadt und Land entvölkert, der Wohlstand jener Flecken und Dorfschaften, die einst die Campagna so blühend gemacht, war dahin, brach lag das einst so fruchtbare Gelände, dessen Bebauung entweder ganz

unterblieb,

oder Sclaven überlassen ward.

Zu der Zeit von welcher

Strabo berichtet, die jedoch verhältnißmäßig immer noch weit besser war, als die folgende Periode, waren es hauptsächlich die Küstenstriche, deren sumpfige Gestade die unheilvolle Fieberluft erzeugten.

Villen und Paläste hatten Städte und Dörfer verdrängt.

In weiter

Ausdehnung waren sie über die Campagna verstreut, von deren Bebauung sich die Bevölkerung längst entwöhnt hatte, seit Sicilien und die Küsten Kleinasiens dem Reiche ihre Kornkammern eröffneten.

die Folgen solches Mißverhältnisses. Male eine wirkliche Hungersnoth aus.

Schlimm waren

Unter Claudius brach zum ersten

Schon damals erkannten die Ein­

sichtigeren den wahren Grund, wie er heute noch fortbesteht.

Bezeichnet

doch Plinius gradezu die ausgedehnten Gütercomplexe, welche die Arbeit

des Bauern unterdrückten, als den Ruin Italiens.

Als später das Reichs­

centrum vom Tiberstrand an die Gestade des Bosporus verlegt wurde,

verfiel auch der letzte Rest einstigen Wohlstandes.

Verarmt ist die Stadt

den Einfällen nordischer Barbaren überlassen, welche die Gebäude ver­ Von den Einwohnern verlassen, welche Schutzsuchend in die

wüsteten.

Stadt geflüchtet, verschwinden nach und nach die noch übrigen kleineren

Ortschaften.

Büffelheerden, zum erstenmale hier erwähnt, durchstreifen

schaarenweisc

den Länderstrich

von

Terracina

bis

tyrrhenischen

zum

Meere hin.

Eine

So liegen die Verhältnisse noch zur Zeit des Mittelalters.

Form nur sind jene

gesetzlichen Maßnahmen von der Römerzeit

welche sich auf Bodencultur und Getreidebau beziehen.

annonae ist nur noch ein Schatten.

her,

Der Praefectus

Sicilien liefert nach wie vor noch

den Hauptbedarf. Zu Gregor des

publica.

Großen Zeit bestehen amtlich controllirte pretia

Die Bäcker stehen unter öffentlicher Controlle.

keine Spur vom Wiederanbau der Campagna.

bestehen,

Doch zeigt sich

Die großen Complexe

wenn auch nicht nominell, so doch effectiv unter anderer Be­

zeichnung fort.

Der Unterschied ist nur der, daß das was früher Sena­

toren besaßen, nunmehr in die Hände der Geistlichen und Barone über­ gegangen ist.

Jene insbesondere,

durch

die Freigiebigkeit der

beschenkt, finden wir im Besitz der ausgedehntesten Ländereien. weniger

als 70 Tausend Morgen Land besitzt

Gregor VII. der Benedictinerorden.

Kaiser Nicht

beispielsweise zur Zeit

Andererseits beherrschen wohl fast

zweihundert Jahre hindurch die Grafen von Tusculum als Lehensherren Stadt und Land, über den Grundbesitz nach Willkür verfügend.

Die

Zahl unabhängiger Großgrundbesitzer damaliger Zeit war geringer, als die Anzahl unabhängiger Städte im Alterthume.

Fast steuerfrei genießt

der Adel die Kirchengüter, deren er sich willkürlich bemächtigt.

Vergeblich

ist jeder Versuch, die verwahrloste Campagna von diesem Ruin zu befreien.

Kleine Ortschaften, wie beispielsweise Isola Farnese bei Veji, mit der Absicht gegründet, der ländlichen Bevölkerung als Sammelplatz zu dienen.

werden im Gegentheil von den Baronen als Castelle benutzt, jene in Ab­

hängigkeit zu halten. mächtig.

Bis zu Ende des Mittelalters bleiben sie über­

Niemand wagt, sich dem Ackerbau zuzuwenden, denn er weiß

nicht ob er das was von seiner Hand gesäet, später auch erndten werde.

Unter Jnnocenz III. sucht eine Hungersnoth die ewige Stadt heim, noch trostloser werden die Zustände mit der Uebersiedelung der Päpste nach

Avignon.

Dann verwüsten Ludwig des Baiern Soldaten die Fluren,

während in der Gegend von Ostia die barbarischen Horden Robert's von

Neapel auf's Furchtbarste hausen.

In Rom selber empört sich das Volk,

die Senatoren werden verjagt, weil man ihnen Schuld gibt an der un­

säglichen Noth.

Die Zeit der neurömischen Republik ist die trostloseste

von allen, eine wahre Zeit des Jammers und des Elends.

Schrecklicher

als je herrscht der Hungertyphus; vom Neuen empört sich das Volk,

diesmal seine ganze Wuth gegen die Ritterschaft kehrend, die auf ihren

Gütern im Ueberfluß schwelgt, während die ärmere Classe darbt und zu

Einen ihrer Hauptvertreter, Graf Berthold Orsini, steinigt

Grunde geht.

man auf offener Straße.

Nach diesem Racheact mildert sich die Noth.

Doch nur von kurzer Dauer ist die Besserung.

Abenteuerndes Gesindel,

deutsche Landsknechte, die im Dienste der großen Compagnie gestanden, und von Neapel her gekommen, brandschatzen die Gegend, bis schließ­

lich ihr Führer, Ritter Johann von Montreal in Rom durch Henkers­

hand fällt. Die Stadt war im äußersten Elend, als die Päpste aus Frankreich

zurückkehrten, aber an eine erhebliche Besserung der Verhältnisse war

auch jetzt nicht zu denken.

Die Unruhen im Kirchenstaate, wo Barone

und Fremde sich um den Besitz der Kirchengüter schlugen, führten neue Unabweisbar zwingt der Mangel an Lebensmitteln zum

Noth herbei.

Anbau wenigstens eines Theils der Campagna.

Denn von Außen her

Das Volk ist mittellos, die Päpste, im fortwährenden

kommt wenig.

Kampf mit den Baronen, vermögen Nichts, den allgemeinen Untergang zu hemmen.

Die meisten Schlösser und Castelle, die im 14. Jahrhundert

noch bewohnt gewesen, liegen zur Zeit Eugen IV. in Trümmern, den

Banditen, Wegelagerern eine Zuflucht.

Die an sich nicht zahlreiche Land­

bevölkerung verschwindet nunmehr gänzlich.

eS, die allein wirthschaften.

Die Großgrundbesitzer sind

Brach liegt darum das weite Gelände, das

man jetzt nur noch als Viehweide benutzt.

Nur gegen Mitte deS 15. Jahr­

hunderts tritt — aber freilich nur vorübergehend — Besserung ein, und

zwar in Folge

einer Verfügung SixtuS IV. dergemäß wenigstens ein

Drittel der Campagna besät und beackert werden soll, und zwar ohne Rück­

sicht auf die Eigenthümer, Geistliche und Klöster nicht ausgenommen.

Von

nun an ist der Bedarf an Getreide gedeckt, das Amt des praefectus annonae hört auf. Seit Clemens VII. bis zu Anfang dieses Jahrhunderts zeigt sich ein

fortwährendes Schwanken im System, infolgedessen zeitweise Noth und Theuerung eintritt.

War es doch von jeher Brauch unter den Päpsten,

das waö der Vorgänger geschaffen, ob gut, ob schlecht nachher wieder zu

Kam wiederum Geld nach Rom, so

vernichten.

weniger des Getreidebau's.

Den Bauer hat längst der Großgrundbesitzer ver­

kein Bewohner mehr.

schlungen,

pachten,

der wiederum,

es

bedurfte man um so

In der ganzen Campagna existirte damals

vorzieht,

dem

statt seine Güter in kleinen Theilen zu ver­ sogenannten

ganzen Complex zu überlassen.

mercaute di eampagna den

Der letztere aber geht darauf aus,

kürzester Zeit den möglichsten Nutzen aus den Ländern zu ziehen.

in

Nur

das zur Viehzucht unumgänglich nothwendige Getreide wird deswegen ge­

baut.

Den städtischen

Bedarf hingegen kauft das Munizip,

von dem

die Bäcker ihrerseits Mehl erhalten um dafür das Brod zu einer be­

stimmten Taxe zu liefern.

Man hätte glauben sollen, daß diese Maßregel

zum Landbau habe anregen müssen.

Dem war aber nicht so.

Denn

unter die Zahl der Concurrenten beginnt nunmehr auch das Ausland zu

treten und dabei kann der mercante di eampagna nicht bestehen.

Die

Abneigung gegen den Landbau wächst nur um so mehr; denn die Vieh­

zucht bietet bei kaum halb soviel Arbeit einen reicheren Ertrag. kümmert den Privatmann das Interesse der Gesammtheit?

Was

Denn daß vom

nationalökonomischen Standpunkt das Prinzip durchaus verfehlt, wer wollte

sich dieser Anschauung entziehen, wenn man allein bedenkt, welch ausge­

dehntes Territorium die Schafzucht beispielsweise erfordert? Heerden,

die im Herbst in den Triften der Campagna uns

Dieselben

begegnen,

haben im Sommer bereits das ganze Appenninenland durchstreift. Der Einzige, der mit Energie und mit Anwendung aller Mittel den Ackerbau zu fördern suchte, war Papst Pius VI.

Er erneuert die alte Ver­

ordnung, wonach ein Drittel der Campagna zu beackern sei.

freilich nur halb sie zur Ausführung zu bringen.

Es gelang

Von jetzt an wird der

Ackerbau systematischer betrieben, man beginnt, von der nächsten Umgebung

der Stadt aus, den Anbau allmählig weiter und weiter in die Campagna hinein zu erstrecken.

Daß man auch in dieser Zeit den wahren Grund

des Uebels wohl erkannte, zeigt ein Erlaß Papst Pius VII., der unumwunden

ausspricht, daß der Mangel an seßhaften Bauern es sei, der den Ackerbau hindere, daß die großen Gütercomplexe den Werth des Bodens herabsetzten. Denn das Bewirthschaftungssystem, wie es der mercante di eampagna

treibt, verdient kaum diesen Namen.

Sechs bis sieben Jahre bleibt das

Saarland brach liegen.

Viermal wird gepflügt.

wie zur Erndtezeit, die Arbeitskräfte.

Die Hochländer stellen,

Sabiner, Volsker, Latiner, sa selbst

Umbrier, die Bewohner der fernen Abruzzen, wohl dreißigtausend an der

Zahl, beleben dann die Fluren.

In jeder Saison wirbt der Pächter seine

Leute, von berittenen Aufsehern am Tage überwacht, während große Holz­ schuppen, die sogenannte Casali des Nachts zu ihrer Unterkunft dienen. Doch gar oft sieht man nach des Tages Hitze die erschöpften Schnitter obdachlos beim Feuer auf bloßer Erde gelagert, im feuchten Thau der

Nacht den Keim des Todes in sich ausnehmend, wenn die mit Miasmen

erfüllte Luft die bösartige Perniciosa erzeugt, die soviele Opfer alljährlich

verschlingt.

Aus alledem ist klar, daß nur bei einer durchgreifenden Aenderung

deS Bewirthschaftungsshstems radikale Abhülfe geschaffen werden könnte, ein Resultat zu welchem auch der Bericht der Commission an die Staats-

regicrung gelangt.

Wesentlich drei Gruppen sind es, die man nach dem heutigen Zu­ stande der Culturverhältnisse in der Campagna zu unterscheiden hat.

Den

Niederungen und Flußthälern des Anio und Tiber, wie auch jenen kleinern

Eruptionsthälern angeschwemmten Landes steht die eigentliche Hochebene gegenüber, welche ihrerseits die Berggelände umlagern, die der Gegend ihren wunderbar

pittoresken Charakter verleihen.

Droben

auf

jenen

Hügeln weit und breit ist die blühendste Cultur, wie in anderen Gegenden Mittelitaliens.

Fast genau bezeichnet den Strich wo die Malaria beginnt,

die Grenze des Weinbaus.

Oberhalb findet sich keine Spur von ihr.

Auch die nächste Umgebung der Stadt zeigt etwas Aehnliches, an den­ jenigen Stellen wo der Mensch noch mit der Natur im Kampfe sich be­ findet.

Denn die aus der Tiefe aufsteigenden Dünste erschweren auch

hier die Weincultur so sehr, daß selbst in der nächsten Nachbarschaft der

Thore nur ganz vereinzelte Anlagen wie Oasen über die kahlen Fluren sich erheben. Die Zustände der Campagna werden bleiben, solange kein seßhafter

Bauer Grund und Boden cultivirt.

Eine Neubevölkerung aber, eine Um­

gestaltung des Bodens erfordert ein ganz neues Cultursystem.

Häuser,

Kanäle, Straßenanlagen sind dazu in erster Linie nothwendig, ein großes

Anlagecapital nicht minder. Der Gefahren der Malaria ganz zu geschweigen, die wahrscheinlich in den ersten Jahren Hekatomben von Opfern fordern

würde.

Diese Umstände sind es im Wesentlichen, die heutzutage jeder

Neugestaltung

sich

entgegenstellen.

Wie die Malaria den Wechsel des

Culturshstems hindert, so fördert dieses wiederum die Malaria, ein Kreis­ lauf, aus dem man trotz aller Energie schwer herauskommen wird, wenn Preußische 2ahrb>:chcr. Hc. XI.IX. Jjefi 3

18

nicht durch solchen Kostenaufwand und umfangreiche Mittel, wie sie die

jetzige Regierung mit Recht oder Unrecht anzuwenden Bedenken trägt.

Undenkbar ist jedoch, selbst ohne jene Radikalmittel, eine allmählige

Hebung der augenblicklichen Uebdlstände nicht.

Denn mag man auch den

größten Theil der Hochebene nicht grade als fruchtbar bezeichnen, so bieten

doch die Niederungen um so mehr jeder Art von Cultur zugängliches

Terrain, und darin eben dürfte ein unzweideutiger Fingerzeig für die Zukunft liegen.

Man lasse, wie bisher, die höher gelegenen Theile als Viehweide benutzen, aber man vervollkommne das Bebauungsshstem durch Einrichtung

von Unterkunftsräumen für Menschen und Thiere.

Man lege Ställe,

Schuppen an, um auf diese Art allmählig die Mittel zum regelrechten An­

bau der Thäler zu gewinnen.

Auf den Höhen beginne man inzwischen mit

Baum-Anpflanzungen, des OelbaumS insbesondere, der bei nur wenig Arbeit ja verhältnißmäßig reichen Ertrag zu liefern vermag.

Auf diese

Art successive fortschreitend, wird man später auch die Mittel zu durch­

greifender Abhülfe zu beschaffen wissen.

Solche werden zweifacher Art,

gesetzlicher und technischer Natur sein müssen.

Die Grundursachen der

Malaria, die Sümpfe und innere Feuchtigkeit des Bodens freilich sind unter allen Umständen zuerst zu beseitigen, denn wo Krankheit und Todes­

gefahr herrscht, wird Niemand wohnen wollen.

Unter den legislativen

Maßnahmen aber möchten diejenigen in erster Linie stehen, welche darauf

ausgehen eine Theilung des bisherigen Grundbesitzes, und in Folge dessen eine mehr

geregelte Bebauung der Campagna zu ermöglichen.

Einem

strebsamen Landmann muß die Möglichkeit geboten werden, Eigenthümer und Grundbesitzer zu werden.

Dazu aber ist vor allen Dingen nöthig,

daß der Staat über jene Gebiete des Landes frei verfügen kann.

Das

Besitzthum der Privateigenthümer, soweit sie nicht Mitglieder der Kirche, ist freilich unantastbar, bezüglich der Geistlichkeit hingegen hat man auch

anderswo in Italien das Prinzip angewandt, den Grundbesitz in Rente umzusetzen, um denselben sodann in kleinere Parzellen getheilt, in Erbpacht

zu geben. Der Umstand, daß das italienische Civilgesetz das Majorat nicht zuläßt, würde auch die Theilung des Laiengrundbesitzes herbeiführen, wenn auch vielleicht nicht in kurzer Zeit. Die Maßregeln in Betreff der geistlichen Güter

hätten aber sogleich vom größten Nutzen für die Wiederbelebung der ver­ ödeten Campagnafluren werden können.

Leider jedoch zeigen sich auch hier

wiederum jene Krebsschäden, von denen das neue Regime, seit der Zeit

seiner Entstehung angefressen wurde und die wesentlich in der (Korruption

des Beamtenthums ihre Wurzel haben.

Weit entfernt dem Sinne des

Gesetzes zu folgen, hat man durch die Veräußerung der kleinen Parzellen

heutzutage nichts anderes erreicht, als daß die bisherigen Mißverhältnisse in etwas abgeänderter Form neu sanctionirt worden sind.

Denn noch jetzt

befindet sich, der Himmel mag wissen warum, — bei weitem der größte

Theil der Campagna in den Händen der mercanti, der Großgrundbesitz besteht nach wie vor.

Von den wenigen Käufern aber, deren Zahl den

Pächtern gegenüber so gut wie verschwindet, ist eine durchgreifende Besserung der Campagnaverhältnisse nicht zu erwarten. ES war keineswegs unsere Absicht, mit diesen im Wesentlichen amt­

lichen Daten entlehnten Mittheilungen, die Verdienste der Regierung um die Culturverhältnisse deS Landes in ungünstigerem Lichte erscheinen zu

lassen, als den Thatsachen entspricht.

ES sollte nur darauf hingewiesen

werden, daß bis heute nur der kleinste Theil der schweren Aufgabe gelöst ist und daß es deS Aufgebots aller Kräfte in Zukunft bedürfen wird, um

die Schäden von Jahrhunderten endlich zu beseitigen, eine neue Basis zu schaffen zur gedeihlichen Entwickelung, zur Erstarkung des bis jetzt noch

kaum zu nationalem Bewußtsein erwachten italienischen Staats- und Volks­

lebens.

Rom, im Herbst 1881.

Winterberg.

Karl Wilhelm Ritzsch. Von

Richard Nosenmund.

IV. Das Kaiserreich deutscher Nation, so urtheilt Nitzsch, am Nord- und Südfuße des europäischen Hochgebirges gelegen, über dasselbe nur durch

schmale Saumpfade in seinen verschiedenen Theilen verbunden, ganz kon­ tinental, ohne Flotte, mitten unter kriegerischen Nationen mit zum großen

Theil bedeutender maritimer Entwicklung, von den alten Straßen des Handelsverkehrs umzogen und kaum berührt, dabei aber doch in gewissem Sinne nicht allein die streitbarste, sondern auch die wirthschaftlich gebil­ detste Macht ihres Zeitalters, ist „eine durchaus singuläre Erscheinung in

der Gesammtgeschichte menschlichen Staatslebens". Otto L.

Er war von kirchlichen Gedanken erfüllt,

Heinrichs I. antrat.

Sein Schöpfer ist als er das Erbe

Die Mutter Mathilde, sie der selbst erst durch einen

kirchlichen Machtspruch der Weg zum Throne frei geworden, hatte diesen kirchlichen Sinn in des Sohnes Seele gelegt und gepflegt.

Unter den

Eindrücken persönlicher Erlebnisse betrübendster Art und unter den Ein­ flüssen der gewaltsamen seelischen Erschütterungen, welche ihm durch seine

Erfahrungen als Regent bereitet worden, entstand dann aus jenen kirch­ lichen Gedanken erst die ganze Fülle christlich-kirchlicher Ideen, aus denen

heraus Otto das Bündniß des Königthums mit der Kirche einging, auS

denen er die Maximen seiner Politik wie die erhabenen Anschauungen über sein königliches und kaiserliches Amt schöpfte.

In den beiden gewaltigen Bürgerkriegen, die er in den ersten Jahr­ zehnten seiner Herrschaft zu bekämpfen hatte, gewann er die Einsicht, daß

die Verfassungsversuche seines Vaters den Auflösungsproceß des deutschen

Karolingerreiches nicht zu dauerndem Stillstand gebracht hatten.

Die

Gefahren für sein Königthum sodann, wie sie ihm aus den immer stei­

genden Ansprüchen der Lehnsaristokratie, aus der Rivalität der Stämme,

den Gegensätzen lokaler und dynastischer Interessen erwuchsen, hatte er auf das lebendigste empfunden, als er schließlich zwar in diesen Kämpfen

Sieger, aber doch nur als Verbündeter eines Herzogs gegen die andern

Sieger geworden.

So war es gekommen, daß Otto in einer Verbindung

mit der Kirche den letzten rettenden Ausweg aus diesen Zerrüttungen des Reiches und diesen Gefahren der Krone gesehen hatte.

Und er war auf

denselben Weg seiner Politik durch anderes gewiesen, was sich gleicher­ maßen mit großer Deutlichkeit ihm aufdrängte. seines Vaters Herrschaft

starke Gefühl von

Er hatte das lebendige

und dann auch

von der

eignen Regentschaft her, wie doch die Leistungsfähigkeit des Königthums

wesentlich bedingt wurde durch die Leistungsfähigkeit der königlichen Haus­ und Hofverwaltung.

Nun hatte Heinrich ihm allerdings einen großen

Komplex königlicher Pfalzen überlassen.

Die alten Königpfalzen der Ka­

rolinger in Deutschland waren fast ungeschmählert auf Konrav I. über­

gegangen.

Heinrich hatte dann die sächsischen Pfalzen damit vereint und

dadurch nicht blos das Königsgut vermehrt, sondern zugleich die alte Art der Bewirthschaftung aufs neue gekräftigt.

Für die richtige Verwerthung

dieser Wirthschaft, die unmittelbar alle die gewaltigen Anforderungen des

königlichen Haushaltes durch Naturalleistungen zu bestreiten hatte, kam aber alles auf den ungestörten Zusammenhang der einzelnen Pfalzkom­

plexe an.

Und dieser Zusammenhang, das erkannte Otto, wurde durch

die Umbildung der Besitzverhältnisse, die sich in dieser Zeil vollzog, ernstlich bedroht.

Das Königthum konnte nicht verhindern, daß in diesen kriege­

rischen Jahrzehnten bei der zunehmenden Macht der kriegerischen Lehnsver-

bindungen in den Händen der großen Geschlechter Beneficien und Eigengut zu immer größeren zusammenhängenden Massen aufwuchsen.

Darin lag

aber das Gefährliche für den Zusammenhang des königlichen Gutes.

wiederum zeigte die Anlehnung an die Kirche den Ausweg.

Und

Es lag in

den Rechten der Krone über das Kirchengut, wie sie von den Karolingern

auf die deutschen Könige übergegangen waren,

die absolute Sicherheit,

daß jede seitens der Krone an die Kirche gemachte Güterschenkung für daS Königthum mittelbare Einkünfte brachte; es lag ferner in der ganzen

Organisation der Verwaltung dieser geistlichen Genossenschaften, die der

großen Gutsverwaltung wieder eine andere und festere Haltung gaben, als es die königliche auf den einzelnen Pfalzen gewesen,

reichlicher Erträge.

die Gewähr

Uebertrug daher daS Königthum ein einzelnes isolirteS

und darum gefährdetes Gut oder einen ähnlichen Güterkomplex an die Kirche, so entäußerte es sich eines bedrohten Besitzes und in Frage ge­

stellter unmittelbarer Einkünfte

und gewann dafür die Sicherheit

stimmter mittelbarer Einkünfte oder Gegenleistungen.

be­

Und spielt nun

Karl Wilhelm Nitzsch.

264

auch in dieftn massenhaften Güterübertragungen durch Otto an die Kirche das religiöse Gefühl, die Frömmigkeit im zeitgenössischen Sinne als sehr

zu beachtender Faktor mit, diese wirthschaftliche, wenn man nicht sagen

will, finanzielle Lage des Königthums ist doch das Ausschlaggebende ge­ wesen. So vollzog sich also jene Verbindung zwischen Königthum und Kirche,

die der Verfassung unseres deutschen Reiches ein so ganz eigenartiges Gepräge verlieh. thum.

Die Konsequenz dieser Politik war das römische Kaiser-

Otto griff nach der Kaiserkrone, als sich ihm die Möglichkeit ge­

boten, in die italienischen Verhältnisse eingreifen zu können, er errichtete das Imperium Karls des Großen aufs neue, aber in wesentlich anderm Sinne, eben nur weil er in der römischen Kaiserwürde das wirksamste

Mittel sah, die Fundamentalbedingung der neuen von ihm geschaffnen

Verfassung, diese Verbindung zwischen Königthum und Kirche dauernd

zum besten der Krone und des Reiches einzurichten.

Weder er noch seine

Nachfolger aus dem eigenen Hause, noch die Salier und ersten Staufen haben mit dem römischen Kaiserthum andre als diese Gesichtspunkte ver­ bunden; Otto III. und Heinrich III., Friedrich I. in den Jahren der Po­

litik Rainalds von Dassel haben ihre Ansprüche als Kaiser wohl ins Maßlose gesteigert, aber mit den Ideen der Universalmonarchie hat erst

Heinrich VI. sich und das römische Kaiserthum erfüllt. Es ist nun bekannt, wie dieser Weg der Verbindung mit der Kirche,

den das deutsche Königthum eingeschlagen, der entscheidenden Momente geworden.

für die Weltgeschichte einer

Durch Otto den Großen bekam

die occidentalische Kirche Halt und Neubelebung an ihrem Mittelpunkte, als sie sich in dem kritischen Moment vollständiger Auflösung befand, wo

sie beim Mangel jeder tieferen religiösen und sittlichen Ziele unter dem

Ansturm

einer beutegierigen

erliegen zu müssen schien.

und zügellos gewordenen Laienaristokratie

Und eS war diese Neukräftigung und Bele­

bung der Kirche für die Menschheit unzweifelhaft ein großer Segen.

Aber

ebenso segensreich wirkte diese Politik Ottos für das deutsche Reich.

Frei­

lich wirkte mit, daß Otto hier das rechtliche und wirthschaftliche Leben

zur Weiterbildung sich selber überließ, soweit nicht die einmal vollzogene fixirte politische und wirthschaftliche Stellung der Kirche Eingriffe nöthig

gemacht, und daß er nach manchen Mißgriffen mit weiser Einsicht den Wünschen und Bedürfnissen der Nation Rechnung trug.

So sehen wir

zwar Otto mit den Ansprüchen auf die oberste Kriegs- und Friedensge­ walt, auf das oberste Richteramt und die Leitung der Reichsverwaltung

auftreten, aber er verzichtet auf eine allgemein anerkannte Residenz als Mittelpunkt der großen Reichsversammlungen und als Centrum der Ber-

waltung.

Er machte das Königthum zu einem wandernden.

Als oberster

Richter setzt er die Richter ein und verleiht ihnen den Bann, jedes Ge­ richt, wohin er kommt, ist ihm offen, aber er sucht keinen festeren Einfluß

auf die Ernennung der Urtheilsfinder und ihre Organisation zu gewinnen, und er läßt der Grundvorstellung von der höchsten Gerichtsbarkeit, deren Träger er ist, gegenüber die andre gelten, daß jeder nur nach dem Recht

seines Stammes, auf dem Boden dieses Stammes und nach dem Spruche seiner Genossen gerichtet werden dürfe.

Zur Handhabung der Kriegs­

und Friedcnsgewalt erstrebt er weder centrale Versammlungen noch cen­ trale Beschlüsse.

Er ordnet dieses so wie die Fragen

der Reichsver­

waltung mit den einzelnen Stämmen im Verhandlungswege und je nach deren Gewohnheiten. Worüber er in Baiern mit dem ganzen Volke, das sich unter Vorsitz des Herzogs versammelt, unterhandelt, darüber führt

er in Sachsen Unterhandlungen ,mit den einzelnen Gauen.

So kommt

für die Leistungen des Krieges wie für die Forderungen der Verwaltung das lokale Weisthum ebenso zur Geltung wie die lokalen Rechtssatzungen

für die Urtheilssinduug der Schöffen.

Dieses völlige Verlassen der cen-

tralisirenden und generalisirenden Richtung der Karolingerherrschaft kam, wie wir schon sagten, den Wünschen und Bedürfnissen der Nation ent­

gegen; gerade jenes System der Karolinger hatte wiederholt die stärksten Reactionen hervorgerufen, die Karolinger hatten sich an seiner Durchfüh­

rung zu Schanden gearbeitet, und das Verlassen desselben entsprach auch der Bildungsstufe der Laienaristokratie, die für schriftliche Aufgaben einer centralisirenden Justizpflege und Verwaltung nicht kenntnißreich genug war. Und es gab der Nation zugleich freiesten Spielraum zur eigenartigen

Entfaltung ihrer Kräfte an

friedlichen Zwecken.

Die Laienaristokratie

machte in diesen Verhandlungen und unter diesen Aufgaben rechtlicher

Natur eine staunenswerthe Entwickelung deS diplomatisch-rechtlichen Ge­ schickes durch, und zugleich erfüllte sie sich mit lebendigen Anschauungen

von ihren politischen Aufgaben.

Dabei geschah dies Entwickeln der feu­

dalen Gewalten durchaus nicht so direct auf Kosten des freien Bauern­

standes.

Noch trennte den Adligen nicht seine Bildung vom Bauern, sie

schöpften beide aus der heimischen Poesie und wurden klug am lokalen

Weisthum wie an den heimathlichen Rechtssatzungen.

Der Bauer wußte

sich, im Urtheilfinden und Verhandlungen rechtlicher Art überhaupt geübt, gegen die richterlichen Uebergriffe der Grafen in den Volksgerichten der Gaue und Centen gut zu wehren.

Es ist nicht ein wüstes Ringen von

Unterdrückern und Unterdrückten, noch stand nicht eine Masse vom Heer­

dienst befreiter Bauern einer Masse zur Heerfahrt verpflichteter MiliteS

schutzlos gegenüber.

Das Ausscheiden des Bauern von den kriegerischen

Karl Wilhelm Nitzsch.

266

Leistungen vollzog sich langsam, und lange Zeit noch finden wir den ein­ fachen Bauer imb seine Hufe neben dem Herren und Herrenhof großer Hofrechte als vollkommen gleich berechtigten und gleichgeehrten Theilhaber

der mächtigen Waldkomplexe, die Halt und Grundlage deS deutschen Acker­ baus waren. Und konnte in dem Nahmen der von Otto ausgebildeten Verfassung

der freie Herren- wie der freie Bauernstand neben der Geistlichkeit vollen Spielraum für Lösung seiner historischen Aufgaben finden, so fand darin

nicht minder der Bauernstand, der sich in den Schutz eines Hofrechtes zurückgezogen,

wie überhaupt

die hörige Bevölkerung dieses königlichen,

kirchlichen und, um im Sinne des 11. Jahrhunderts zu sprechen, fürstlichen Gutes ein gutes Unterkommen.

Noch zwei Jahrhunderte später haben

ehrliche und verständige Fürsten in Frankreich sich nicht gescheut, es als eine unerhörte Frechheit zu bezeichnen, daß das Volk für seine Abgaben bestimmte Sätze und geordnete Termine verlangte, in Deutschland erkennt

jedes auch das schlechteste Hofrecht schon dieser Zeiten diese Forderungen als

Princip an, und die ganze Hofverwaltnng beruht auf solchen genau fixirten Leistungen.

Und dabei kam der Hörige, indem er an dem materiellen Vor­

theil einer größeren Verwaltung participirte, sicherlich oft in eine Lage, wo der Verzicht auf mancherlei politische Rechte und die Last mancher drückenden Verpflichtung und der Schrecken eines grausamen Strafrechts

doch durch de» Schutz und die Sicherheit für seine Person und den ma­ teriellen Vortheil ausgewogen wurde.

Und das Königthum selbst, es hatte sich an der von ihm auch in Deutschland neubelebten und

erfüllten

Kirche gekräftigt.

mit hohen Aufgaben

und sittlichem Ernst

Der Königs-Frieben galt

lange

noch

in

Deutschland, und zur Geltendmachung seiner Autorität begnügte sich das Königthum mit dem für den Königsfrieden althergebrachten Bann von

60 Schillingen.

Aber es brauchte auch diese Kräftigung nach mehr als

einer Seite hin, und die Anforderungen an dieses Königthum waren bei dieser Verfassung eben derartige, daß trotz aller Stütze in dem Bündniß

mit der Kirche es immer einen ganzen Mann erforderte, und nicht zuletzt eben wegen der Nothwendigkeit der Stellung über der Kirche.

Die un­

zähligen Verhandlungen, aus denen sich in diesem neuen Reiche nur immer erst die gemeinsamen Unternehmungen,

die allgemeinen Leistungen ent­

wickelten, geführt von einem Abel, ber zäh, leidenschaftlich, energisch, egoistisch,

dabei schlau und, wie wir schon darlegten, diplomatisch gewandt war, erforderten

ein bestimmtes Maß dieser Eigenschaften und

Fähigkeiten

auch vom Könige, und der schneidende, unüberwindliche Rechtsverstand derselben Kreise machte ebenfalls nicht geringe Ansprüche an die Urtheils-

Und abgesehen von den kriegerischen Aufgaben be­

schärfe des Königs.

durfte dann gerade die nun immer fester werdende Verbindung der könig­

lichen und kirchlichen Verwaltung eine kräftige Hand, wollte das Königthum die unmittelbaren Kräfte, über die es in dieser Verfassung noch verfügte,

also die Erträgnisse und Leistungen der königlichen Güter und die Servitia

der Bisthümer und Abteien sich zu unbedingter Disposition und darin die für es selbst so überaus wichtige Leistungsfähigkeit der eigenen Haus­ und Hofverwaltung intakt erhalten.

Zum ersten Male fehlte es nun im deutschen Kaiserreich an dieser kräftigen Regentenhand, als Heinrich IV. fünfjährig seinem Vater folgte und die Leitung des Ganzen in die Hände der Agnes von Poitou kam.

Sie war der Aufgabe keineswegs gewachsen.

Und so kam das König­

thum auch sofort in eine große Unsicherheit seiner ganzen Existenz, und zwar ging diese Unsicherheit, wie es natürlich war, von den Elementen

aus, die unmittelbar dem Königthum unterstellt waren.

Erst entwickelten

die Bischöfe, als fehle ihrer Macht jeder Gegendruck, ihre Ansprüche bis zum Uebermaß, wie wir es in dem Attentat gegen den jungen König

und in dem Beschluß über die Vertheilung der laufenden Geschäfte an

die Bischöfe erkennen.

Auch stellten sie die Servitia ein und brachten

dadurch den königlichen Hof in directe Verlegenheiten.

Dann regten sich

die Dienstmannen der königlichen Villen und bildeten ihr Selbstgefühl gegenüber der frechen Rücksichtslosigkeit aus, welche die bewaffnete Dienst-

mannschaft der Bischöfe und Aebte selbst in der unmittelbaren Umgebung des jungen Königs zur Schau trug.

Freilich war die Ausdehnung dieses

königlichen Villenbesitzes von dem Harz bis zu den Vogesen

und von

Chur bis nach Nhmwegen so groß, daß sie die Ausbildung einer festen

Genossenschaft unter der Ministerialität sehr erschwerte, aber es brachten

einzelne Ministerialenkreise es doch schnell zu innerer Geschlossenheit, und vornehmlich

waren

es

die

schwäbischen

Ministerialen

des königlichen

Hauses, die im Gefühl der Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit zu dem jungen Könige sich einten, aber auch ihn leiten zu können vermeinten

und zwar

ohne die Leitung mit jemand zu theilen.

Und

der junge

Heinrich, von den Bischöfen mißhandelt, von ihren Dienstmannen beleidigt,

ohne Rath und sonstige Stütze, schloß sich aufs engste an diesen Ministe­ rialenkreis und gab seinen politischen Plänen Folge.

nun diese zu Herren der Situation gewordenen

Und da sehen wir

„Räthe deS Königs"

ihrerseits das Königthum in die größte Gefahr für seine Existenz brin­ gen.

Sie rüttelten ebenfalls an der Verfassung, und von einer Neuord­

nung der königlichen Gutsverwaltung wollten sie auSgehen.

Hartnäckig

hielten sie an diesen Plänen fest, über Niederlagen, die sie erlitten, und

Siege, die sie erfochten, im Kampfe gegen die Laienfürsten und gegen ein ganzes zu der Empörung geschrittenes Volk, und schon brachten sie

die Kirche in eine überaus unsichere Stellung.

Dahin hatte nicht blos

der volle Bruch deö. Hofes mit derselben geführt; dieser unerhörte Auf­ stand eines ganzen Stammes, dieses Eingreifen eines bewaffneten Bolks-

aufgeboles in die großen Geschäfte hatten ebenso beigetragen, die ver­ fassungsmäßige Stellung der Bischöfe zu erschüttern.

Aber wie diese

Ministerialität, im Gefühl dieser veränderten Stellung gegen die Kirche,

gemeinsam mit dem nun schon

selbständiger eingreifenden Könige

sich

auch erkühnte, die Stellung des Papstthums herunterzudrückeu, da kam

diese ganze Politik zum Scheitern,

unerhört

bis dahin

und

auf das lange Laienregiment,

im deutschen Reiche,

kam

nun eine Periode von

Kämpfen, in denen die ganze bisherige Verfassung auseinander ging, da die Organisation, in der Königthum und Kirche so eng

mit einander

verwachsen waren, sich nun wirklich vollständig lockerte. Heinrich IV. hatte Hildebrand in einem Moment angegriffen, das Papstthum bereits ein ganz anderes geworden

wo

als dasjenige, mit

welchem seine Vorfahren zu thun gehabt, und wo dieses Papstthum seiner­ seits auch mit Plänen in die Welt trat, die auf Umänderung der alten

Stellung dcS deutschen Kaiserthums zur Kirche hinzielten, Plänen aller­ dings ganz anderer Art als jene Heinrichs und seiner Räthe.

Die einst

durch die einfache Tüchtigkeit des deutschen Klerus erstarkte Kirche war jetzt von Clugny, Hirschau und den andern Geburtsstätten Mönchthums

mit leidenschaftlichen

Gedanken

des neuen

und Stimmungen erfüllt,

und innerhalb dieser Strömungen hatte sich das Papstthum zum großen Hauptorga» der innerlich erstarkten Kirche gemacht.

ES war daher nur

das natürliche Gesetz aller Entwicklung, daß es nun sich und die Kirche von seinem bisherigen Schutzherrn und Vormund, dem deutschen Katser-

thum, immer bewußter zu emancipiren versuchte.

Und Heinrich IV. gab

durch seinen so gewagten Angriff gegen das Papstthum Hildebrand selbst

die Möglichkeit,

das Verbot

der Laieninvestitur auch auf

die deutsche

Kirche anzuwenden, wie jener es vielleicht nie erwartet, und somit diese Emancipation schneller und vollständiger hatte.

durchzuführen,

als

er erhofft

Man weiß nun, wie es Hildebrand gelungen, diese Verwerfung

der Laieninvestitur durchzusetzen.

Und setzte er dann die Unabhängigkeit

der Bischofswahlen durch, so bedeutete das nicht nur für die Bischöfe der päpstlichen Partei eine Umänderung ihrer Stellung zum Könige.

Heinrich

mußte nun auch den Bischöfen seiner Partei eine größere Selbständigkeit einräumen.

Die Versuche ferner, die königliche Verwaltung allein auf

den sächsischen Einkünften zu begründen, waren inzwischen fehlgeschlagen.

Es war somit der

ganze bisherige Zusammenhang derjenigen Macht­

mittel, über die das Königthum verfügt

hatte,

völlständig zerschnitten.

Und damit begann der Auflösungsproceß des Reiches, der durch die lange Abwesenheit des Königs von Deutschland noch beschleunigt wurde.

Dabei zeigte sich gleich,

daß der neue Geist mit Nichten die Zucht

und Gesetzlichkeit ersetzte, welche die jetzt zerstörte Ordnung der Gewalten verbürgt hatte.

Erst nahm

in

allen

diesen Kämpfen

Lehnsherren unendlich zu, der König, die Großen,

die Masse der

sie mußten immer

aufs neue ihre kriegerischen Kräfte durch Berlehnungen zu mehren suchen. Und diese ritterlichen Vasallen wußten sich mit List und Gewalt in die durchlöcherten Hofsatzungen einzudrängen.

Es ist dies die Zeit, aus wel­

cher die Stifter und Abteien ihre umfassenden Verluste an Gütern und Einkünften datiren.

Sodann begann ein gewaltiger Druck auf die nie­

deren Freien und unteren Klassen überhaupt.

Noch einmal gaben lokale

Kämpfe dem freien Bauer, der in den großen allgemeinen Reichsunter^

nehmungen mit) deren Schwierigkeiten immer mehr vom Waffendienst ab­ geschreckt war, Gelegenheit sich in militärischer Tüchtigkeit zu zeige«, an

der Saale und am Neckar; dann verfiel dieser Stand einem gewaltigen

Angriff der Vasallenmassen. Und nun offenbarte sich, wie arm an schöpferischen Ideen diese ganze

Gregorianische Politik war.

Sie zerstörte das Bestehende, zerriß die Ord­

nungen der deutschen Verfassung, sie machte wirklich das deutsche König­

thum zu einem Schattenbild; aber sie bot keine Neuschöpfung, sie stand rathlos diesem ganzen Elend, dem das deutsche Reich und Volk verfallen gegenüber, höchstens daß sie die massenhaft andrängenden Schutzflehenden

in den Schutz der Hofrechte ihrer Stifter und Abteien aufnimmt. Da brachte aber diejenige Partei Hülfe, die unverrückt am König­ thum festgehalten und mit ebenso viel Ausdauer und ebenso staunenS-

werther Bildung die Rechte des Königs von Anfang an vertheidigt hatte. Es ist dies der nordwest-deutsche Episcopat.

richtung des Gottesfriedens aus.

Von Lüttich aus ging die Auf­

Er eroberte sich in einem Jahrzehnt

bereits eine große Position, er schuf Verkehrssicherheit, drängte die über­

mächtige Lehnsaristokratie zurück,

machte

den

arbeitenden Klassen den

ruhigen Genuß und die sichere Entwickelung ihrer Kräfte möglich, und führte auf diesem Wege zu der alten Grundlage der deutschen Verfassung wenigstens für diese Gegenden zurück; Königthum und Kirche erscheinen

wieder als gleichberechtigte und untrennbare Verbündete.

Die gelockerten

Verhältnisse in den Hofverwaltungen wurden zum Stehen gebracht, die

gefährlichen Eingriffe der Lehnsmannschaften zurückgedrängt und die Er­ neuerung und Hebung der gejammten Verwaltung ermöglicht.

Natürlich

regten sich die durch diesen Bund der westlichen Kirche mit dem König­ thum bedrängten Laiensürsten und ebenso die Gregorianer, und sie unter­ nahmen aufö neue den Kampf gegen Heinrich IV., der recht eigentlich jetzt, wo diese Laienaristokratie immer leidenschaftlicher sich mit den religiösen und kirchlichen Ideen erfüllte und immer heftiger, ungestümer, erbitterter vorging, als ein Kreuzzug in deutschen Landen bezeichnet wer­ den kann. Aber mitten unter diesen kriegerischen Unternehmungen, gerade weil sich Laiensürsten wie Bischöfe immer mehr materiell schwächten, immer mehr bei den ewigen Verlehnnngen die Mittel für größere Leistungen int Rahmen ihrer staatlichen Stellung schwinden sahen, drängte sich ihnen unter den Erfahrungen über die auf den rheinischen und nordwest-deutschen Hülfsmitteln begründete Widerstandskraft ihres königlichen Gegners die Einsicht auf, was die Entwicklung wirthschaftlicher Kultur für sie bedeute, und ans dieser Einsicht bahnte sich der Frieden an, und die Landfrieden der Laienfürsten nahmen nun die Bewegung auf, welche mit dem Gottesfrieden der Lütticher Kirche begonnen. Und so sehr wurde alles dann von diesem Interesse an dem Ge­ deihen der wirthschaftlichen Verhältnisse, von dem Erwarten einer segens­ reichen Entwicklung für die Zukunft erfüllt, daß die große religiöse Be­ wegung, welche damals die benachbarten Nationen ergriff, in Deutschland kaum einen Wiederhall fand. Man kann begreifen, wenn Heinrich nun nach vierzigjährigem unruhigem Regiment glaubte, daß für ihn die Tage der Ruhe gekommen. Aber Heinrich täuschte sich. Diese neue, offenbar so segensreiche Ent­ wicklung, die auf der Rückkehr zu alten Ordnungen sich vollzog, hatte doch auch Folgen, die bei dem vielfachen Widerstreit der Standes- und Parteiintercssen in dem von so langen Wirren heimgesuchten Reiche ihre Spitze gegen den König kehren sollten. Mit der Neuordnung der königlichen und bischöflichen Güter auf dem geschlossnen Hofrecht, unter dessen Schutz und Pflichten jetzt die überwiegende Masse der unteren Klassen getreten, hob sich wieder die Ministerialität, die königliche wie die bischöfliche. Sie bekam durch die Aufgaben der Controlle, der Leitung und des Schutzes dieser Verwaltung eine hervorragende Stellung, sie beanspruchte und erhielt, entsprechend ihrem Dienste, ritterliche Ehre. Und was nun das Merkwürdige war, diese beiden großen Ministerialengruppen der bischöflichen und der königlichen Administration, die vor einigen Decennien sich gegenseitig aufs nachdrück­ lichste befeindet, schlossen sich nun, geeint durch den Gegensatz gegen die großen Vasallenmassen, zu enger Gemeinschaft zusammen. — Nun aber wurden sie über das Maß ihrer Leistungen hinaus anspruchsvoll, und

damit begann die für das Königthum und den Frieden dcS Reiches ge­

fährliche Wendung dieser Entwicklung.

Einmal mußten diese Ministerialen den Vasallen gefährlich erscheinen; zugleich aber wurden sie auch der Kirche lästig.

Seit der König mit dem

Friedensschlüsse das unbeschränkte Jnvestiturrecht wieder anzuüben sich er­ worben, wurden die Ministerialen maßgebend für die Besetzung der Bisthümer.

Wenn also die Vasallen sich gegen diese steigende Macht der

Dienstmannen erhoben, so durften sie annehmen, daß der Episkopat, ganz

abgesehn von religiösen Motiven, jeder Bewegung schließlich folgen mußte, die ihm eine Neuordnung der Investitur in Aussicht stellte.

Der junge

König Heinrich sodann war durch die Bedingungen seiner Wahl von der

Verwaltung der königlichen Güter für die Lebenszeit des Vaters voll­

ständig ausgeschlossen.

Diese Beschränkung brachte auch ihn der könig­

lichen Ministerialität gegenüber in eine ungünstige, einflußlose und ihm durchaus unerwünschte Stellung.

Die Unzufriedenheit der Laienfürsten

wußte auch ihn zu erfassen, und er wurde der Mittelpunkt jener plötzlichen, von den zeitgenössischen Geschichtschreibern ganz und gar als unerklärlich betrachteten Bewegegung gegen diese Ministerialität, die sie als den Abfall

Heinrich V. von seinem Vater mit ebensoviel Grausen wie Unverständniß berichten.

Einige Feldzüge genügten, um die Heere des Vaters aufzu­

lösen, und dann trat der gesammte hohe Klerus, der noch vor kurzem so

eng mit dem Kaiser vereinigt schien, mit wenigen Ausnahmen auf Seiten des Sohnes, um mit diesem die Jnvestiturfragc von neuem in die Hand

zu nehmen.

Und wie einst der von Geistlichkeit und Reichsministerialcn

gegen die Verfassung unternommene Ansturm dem Papstthum die erste

Gelegenheit geboten in unsere innern Verhältnisse sich einzumengen, so brachte dieser Angriff der Vasallen in Gemeinschaft mit dem Klerus gegen die durch Heinrich IV. wiederhergestellte Verfassung die Kurie zum zweiten

Male in die Lage, sich in die inneren Angelegenheiten des deutschen Reiches einzumischen.

Und bei dieser zweiten Einmischung der Kurie in die Fragen,

die unsere Nation im Innern beschäftigten, gelang es ihr, die Stellung

zum deutschen Königthum so zu ordnen, wie sie eS seit der denkwürdigen Aechtung Heinrichs IV. durch Gregor VII. erstrebt hatte, das Königthum

Konrads III. war schließlich für Bernhard ein willenloses Werkzeug seiner

allerdings kühnen und erhabenen Pläne. Man weiß nun, daß und von welchen gewaltsamen Erschütterungen

des staatlichen Lebens diese totale Umwälzung der Stellung von König­ thum und Papstthum begleitet war,

und am Ende dieser halbhundert­

jährigen zweiten Periode des Verfalls, als die Katastrophe von Dainascus

die Bande, die das deutsche Königthum an das Papstthum fesselten, zer-

rissen hatte, sehen wir im deutschen Reiche alle Organe der Verfassung lahm gelegt und neben einem machtlosen Königthum die Kirchen- und die

Laienfürsten in vollständigster Erschöpfung ihrer materiellen Mittel, un­ fähig den Anforderungen der eignen Vewaltungen zu genügen, und das

Reich der Mittel beraubt für die Aufgaben der großen Reichsverwaltung. Und dabei hat jene schon in den Bürgerkriegen zu Heinrichs IV. Zeit

übergroß gewordene Masse des niedern Adels, zu kriegerischen Zwecken

geschaffen und ihnen allein lebend, in einer Weise zugenommen, daß sie

jegliche Erstarkung der so schwer geschädigten vornehmsten Kräfte unserer Station dauernd hemmen zu müssen schien.

Aber dreißig Jahre später finden wir in demselben Reiche ein mäch­

tiges Königthum, wir betrachten ein materiell reich gehobenes geistliches und weltliches Fürstenthum, überall die volle Wiederherstellung einer ge­

ordneten und mit Energie gehandhabten Verwaltung, wir sehen den Epi­

skopat wieder mit dem verfassungsmäßigen directen Einfluß auf die Reichs­

angelegenheiten und dem noch größeren indirccten auf die Reichsverwal­ tung ausgestattet,

welchen letzteren eben die

tägliche Einwirkung seiner

großen Administration auf die wirthschaftlichen Verhältnisse überhaupt ihm

brachte, wir erkennen das Fürstenthum in freier Leitung eines ihm vom

Königthum zugewiesenen Wirkungskreises, wir finden eine gleiche Masse kriegerischer Kräfte, aber jetzt nicht hemmend und drückend, wir begegnen

überall einem blühenden wirthschaftlichen Zustand und wir schauen inmitten dieses BildeS die hoheitsvolle Erscheinung Friedrichs I., durchdrungen und gehoben von dem Bewußtsein des Besitzes dieser Machtmittel ohne gleichen,

und alles dieses wiederum nach einer Periode großer kriegerischer An­

strengungen für die Nation, nach gewaltigen Irrthümern und ebenso ge­

waltigen Niederlagen der kaiserlichen Politik.

Wahrlich ein bemerkens-

werther Kontrast gegen die Mitte des Jahrhunderts diese achtziger Jahre

des zwölften Jahrhunderts und vielleicht nicht zum Mindesten bemerkenswerth auch wegen den Ursachen, auf welche diese geschichtliche Veränderung

im Leben unserer Nation zurückzuführen ist.

Für daS Verständniß der­

selben ist eben doch wieder von den wirthschaftlichen Grundlagen der könig­

lichen Macht auszugehn.

Wir müssen dabei noch einmal die Geschichte

Heinrichs V. berühren.

Die Geschichtschreiber erzählen uns, daß Heinrich V. zu Fall kam,

weil Adalbert von Mainz, sein vertrautester Rathgeber, ihn verrathen.

Die neueren Biographen dieses genialen und gewaltthätigen Staatsmannes geben sich dann alle erdenkliche Mühe seine Schlauheit, Verschlagenheit,

Unermüdlichkeit im Anzetteln von Verschwörungen, im Aufretzen der Par­ teileidenschaften zu schildern, um unö die ganze Gefahr, die Heinrich V.

von ihm bereitet worden, darzulegen.

Aber daß die Erschütterung der

Macht Heinrichs V. eine solche geworden, wie sie es war, daß der König

sic gleich so schwer empfunden, wie es uns jede Zeile seines Manifests offenbart, das läßt sich doch nur von einem andern Gesichtspunkt verstehn, der allerdings jenen oben dorgelegten Standpunkt ruhig neben sich gelten

lassen kann. ES wurden Heinrich durch diese Schwenkung der Mainzer Politik

plötzlich die hauptsächlichsten finanziellen MUtel, über die er verfügte, ent­ zogen, und bei der Ausdehnung der unmittelbaren Mainzer Berwaltung und ihres Einflusses über den ganzen Norden der oberrheinischen Ebene

überall bis zum Gebirge hin, bei dem unmittelbaren Anschluß von Worms an diese Politik, bei der nahegerückten Eventualität, daß noch eine der

oberrheinischen Bischofstädte

Oberrhein, wo

diese Schwenkung

nach Otto von Freisingen

mitmache, trat hier am

„bekanntlich die Macht des

Reiches lag", dem Königthum die furchtbare Möglichkeit unmittelbar vor

Augen, den Bestand des Haus- und Reichsguts gefährdet und überhaupt

der Hauptguellen seiner finanziellen Einkünfte und somit aller Mittel für Aufrechterhaltung der Reichsverwaltung und des eigenen Bestandes sich beraubt zu sehn.

Diese Gefahr nun wurde abgewandt durch das Eingreifen Friedrichs von Schwaben und dauernd abgewandt durch die Art seines Vorgehens. Die Burgen, welche seine Vasallen und seine Dienstmannen unter seiner Leitung längs der oberrheinischen Gebirgsumwallung anlegten, wurden eine fort­

laufende Schutzmauer des königlichen und

des Reichsgutes und

einen ausgleichenden Druck auf die bischöfliche Macht aus,

übten

sie waren

ferner die Stützpunkte für die Staufen im Kampfe gegen Lothar, dessen von Mainz aus durchgesetzte Erhebung vornehmlich gegen diese staufische

Stellung auf dem Reichsgut des Oberrheintales gerichtet war, bis im

Compromiß vom Bamberg dieser Zusammenhang von salischem Hausgut und ReichSgut definitiv anerkannt wurde.

In dieser festen Position, auf den Burgen dieses salischen Erbes, neben und zwischen den Gütercomplexen der bischöflichen Verwaltungen

und unmittelbar vor deren städtischen Mittelpunkten sowie mitten in den Waldgenossenschaften der Dorfgemeinden, wurden die Staufen in das wirthschaftliche Leben, das sich trotz aller Katastrophen, trotz aller Verlehnungen

und Vergabungen, in dem Ueberrest der geschlossenen Hofrechte blühend entwickelte, hineingezogen und lernten die steigende Wohlhabenheit dieser

Städte, die steigende Frequenz der Märkte, kurz die Bedeutung dieser Seite des nationalen Lebens hier für die großen Aufgaben des Reichs

vollständig schätzen.

Und Friedrich I. war von dieser Erkenntniß erfüllt.

als er

den Thron bestieg, und sie bildete eine wesentliche Grundlage

seiner Politik, in der die Gesichtspunkte eines großen, durchdachten, mili­

tärisch-administrativen Systems nicht zu verkennen sind.

Hier setzte er

an, um das deutsche Reich und das deutsche Königthum zu regeneriren. Zunächst zeigte er durch die Erhebung seines Kanzlers Arnold auf

den Mainzer Stuhl, durch die Ernennung seines Vetters Konrad zum Pfalzgrafen und durch die Niederwerfung und Züchtigung der Mainzer

nach Arnolds Tode, daß er hier jeden Widerstand zu brechen und die ererbte Stellung nach allen Seiten zu sichern entschlossen war.

Dann setzte er es durch, daß die Regalien der Bischöfe als Reichs­ lehen anerkannt wurden, und daß die Verpflichtung zur Mannschaft un­ bedingte Anerkennung fand, und offenbarte damit, daß er die Leistungen

der Bisthümer für die Aufgaben der Reichsregicrung zur vollständigsten Verfügung haben wollte.

Und es war offen seine Politik die, für die

innere Ordnung der deutschen Verhältnisse auf die alten Grundlagen der ottonischen Verfassung

zurückzukehren

und den

zwischen Königthum und Kirche herzustellen.

engsten Zusammenhang

Und als dann bei dem so

von ihm gesicherten Frieden namentlich in der Tiefebene des Obcrrheins

eine Fülle städtischen

und kaufmännischen Wohlstandes

sich

entwickelte,

durch welche die gewaltigen Steuern aufgebracht wurden, die für die Hof-

und Heerfahrten der Bischöfe, wie er sie in Anspruch nahm, nothwendig waren, und als zugleich diese Mittel so reichlich flossen, daß die Klagen der Bischöfe über den Mangel an Mitteln, die unter Konrad III. und

im Anfang seiner Regierung noch verlauteten, trotz größerer Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit für Reichsverhandlungen und -Unternehmungen

verstummten, kam er auf den Plan, im Thale der Rhone und dem deS Po ganz nach dem Muster der oberrheinischen Ordnungen die Verwaltung

einzurichten und hier auch die Erträge der Ebenen zwischen der königlichen und bischöflichen Administration zu theilen, als durch die Verheirathung

mit Beatrix, durch den Erbvertrag mit Welf und das Aussterben der

Grafen von Pfullendorf

das staufische Haus

große Erwerbungen

Nord- und Westfuße der Alpen und in ihnen selbst gemacht hatte.

am

Diese

Pläne scheiterten zwar an dem Widerstand der Städte in der Poebene und an der Macht der Großen in Burgund, aber sie sprechen deutlich, wie sehr Friedrich von dem segensreichen Wirken der alten Verwaltungsformen

überzeugt war. Theil doch auch

Und seine italienische Politik läßt sich überhaupt zum von diesem Standpunkt erklären;

es war eine Con­

sequenz des Bündniß von Königthum und Kirche, daß er an eine aus­

gleichende Ordnung der Beziehungen

herantrat.

vom Papstthum zum Kaiserthum

Aber ebenso entsprach dieser Politik ein Krieg in Italien über-

Haupt.

Er empfand nicht minder als die geistlichen und weltlichen Fürsten,

wie sehr eine volle Entfaltung der wirthschaftlichen Kräfte der Nation

durch jene Uebermasse des kriegerischen niedern Adels gelähmt wurde. Hier konnte dieses unruhige kriegerische, zur Last der Nation stagnirende

Blut in Bewegung und Thätigkeit gebracht werden, und er hat eS in

Thätigkeit gesetzt.

Freilich war dieses alles in Friedrichs Politik nur ein

Theil seiner Pläne und Ziele neben vielen andern, aber es ist doch der­

jenige, dessen Durchführung am vollkommensten gelungen, und der für die

Entwicklung deS Königthums und des Reiches neben andern weisen Maß­ nahmen und geschickten Wendungen der Politik am segensreichsten gewirkt

hatte.

So hatte sich die alte ottonische Verfassung also immer wieder aufs

neue bewährt, so oft sie hergestelll war.

Tod so schnell und tief gelockert wurde,

Daß sie dann nach Friedrichs

lag dann allerdings nicht blos

an der Veränderung der Wellstellung des Kaiserthums durch Heinrich VI., eS lag ebenso sehr an zwei geschichtlichen Erscheinungen, die durch die

Neubelebung der alten Verfassung selbst vornehmlich inS Leben gerufen, an der neuen ReichSministerialität und an der Neuordnung in den städti­

schen Gemeinwesen. Der völlige Zerfall der von Otto I. eingerichteten Verfassung dakirt

vom Ausgang der Hohenstaufen, der AuflösungSproceß aber schon von den Zeiten Heinrichs VI. und zum Theil schon denen Friedrichs I.

Hier be­

gann die mächtige Entwicklung der königlichen und bischöflichen Ministerialität, auf welche der AuflösungSproceß vornehmlich zurückzuführen ist.

Unter diesen Herrschern schon wurden die Ansprüche dieser Dienstmannen auf Theilnahme an den Geschäften des Reiches und bevorzugte Stellung ohne Rückhalt anerkannt.

Unter Friedrich bildeten sie den Kern der Heere,

die er über die Alpen führte; fast sie allein waren es, mit deren Hülfe

Heinrich VI. seine Politik ausführte.

Sie bestimmten Philipp an Stelle

des Kindes Friedrich die Regierung zu übernehmen, und unter allen diesen Herrschern lebten sie sich in den vertrautesten Missionen wie in den ge­

fährlichsten Unternehmungen im Occident wie im Orient ganz und gar

in die große Politik der Staufen ein und wurden eine Macht im Staate, die schließlich auf eigne Hand Politik zu machen sich wohl unterfangen konnte und unterfing.

Und noch ging die bischöfliche Ministerialität mit

der des Reiches dabei Hand in Hand.

Die dienst- und hofrechtlichen

Gemeinden des Königs lagen namentlich am Oberrhein in ausgedehnten und mannigfaltigen Massen zwischen denen der Kirche und führten zu

stetiger und unmittelbarer Berührung

der beiderseitigen Dienstmannen,

bei der sich die volle Gemeinsamkeit der Interessen immer mehr offenbar Preußische Jahrbücher. Bl>. XLIX. Hefl 3.

19

Karl Wilhelm Nissch.

276

machte; und diese Ministertalität ergriff noch geschlossene Partei für Philipp gegen Otto.

die

einfach

Dann trat eine Spaltung ein, und zwar nicht eine solche,

auf die

alten Gegensätze der bischöflichen und königlichen

Ministerialität zurückführte,

sondern

mehr eine solche in die

Ministerialität insgesammt gegen die andere Reichsministerialität.

städtische

Philipp

hatte in den Kämpfen um die Krone allmälig die ganze große Zahl der

Burgen

seines Hauses

Dienstmannen vergabt.

in

oberrheinischen Ebene an Lehns- und

der

Damit wurde die ganze Ordnung der Verwaltung

hier durchbrochen, die enge Beziehung der königlichen Verwaltung zu der­

jenigen der Kirche, die nun wieder so lange angeknüpft und immer mehr in diesem halben Jahrhundert

befestigt worden,

wieder

gelockert, die

Reichsministerialen kamen sofort zu den bischöflichen in eine Position, die einen gewissen Gegensatz in sich schloß, zugleich aber wurde das Macht­ verhältniß der großen Reichsministerialengeschlechter außerordentlich

ge­

hoben, neben den schwäbischen traten in der Umgebung des Königs die welfischen Ministerialengeschlechter damals in den Vordergrund.

Und nun

brachen diese über die bisher so feste Stellung des Königthums herein. Als Friedrich II. nach Deutschland kam, fand er in diesen Geschlechtern die lebenden Vertreter der Traditionen der stallfischen Politik, es war na­

türlich, daß er ihnen Einfluß auf seine Maßnahmen gestattete.

Und nach

der Wahl seines Sohnes bezeugte er weiter seine Anerkennung für die Bedeutung dieses Standes durch den Einfluß, den er diesen vornehmen Ge­ schlechtern bei der Reichsverwaltung und bei der Leitung des jungen Königs einräumte.

Das Selbstgefühl dieser Kreise stieg dadurch immer mehr;

Heinrich war nicht die Persönlichkeit,

die Regungen des Selbstgefühls

dieses Standes zu unterdrücken oder auch nur in Schranken zu halten, sie ergingen sich daher immer mehr in Eigenmächtigkeiten und eigenen

egoistischen politischen Gedanken und traten schließlich gegen Friedrich in

Opposition, als sie immer deutlicher mit dem jungen Könige dem Ziel einer Herrschaftstheilung zutrieben.

Sie kamen da aber mit Heinrich zu­

gleich zu Fall, das Mainzer Gesetz gab sie ganz in die Hand des Kaisers, und es löste Friedrich nun jenen

gewaltigen Einfluß,

der ihn, seine

nächsten Vorfahren, seinen Sohn wie ein Schicksal gelenkt und niederge­

drückt hatte.

Es ist da nur noch zu beachten, daß zur Zeit dieser Kata­

strophe der Stand der Reichsministerialen doch nicht mehr ganz der alte war, er hatte sich bereits in diesen Decennien mit den freien Herren zu

jener wunderbaren ständischen Bildung deutschen Lebens, zu Reichsritter­ schaft verschmolzen. Die städtische Ministerialität machte inzwischen eine andere Umbil­ dung durch.

Am Ende des 12. Jahrhunderts war auch für Deutschland

die Stunde gekommen, wo sein ein halbes Jahrtausend stabiles Gewerbe

und zugleich sein Verkehr sich zu beleben begann.

Die außerordentliche

Blüthe deS Ackerbaus, dem für seinen Betrieb die Rodungen im eignen Walde zu eng geworden, der für seine Ausdehnung neue Landstriche jen­

seit der Elbe aussuchte, denn schon war der hessische, fränkische, schwäbische

Bauer auch in die Colonisation des Slavenlandes eingetreten, gab den inneren Antrieb hierzu, daß nun der französische und italienische Handels­

verkehr in voller Mächtigkeit die Rheinstraße aufsuchte, gab den weiteren Anlaß. Und überaus schnell warfen nun die Städte, zunächst die rheinischen

Bischofstädte, die Züge hofrechtlicher und bäuerlicher Verfassung ab und wurden wirkliche Gewerbe- und Handelsplätze.

Sofort regte sich daselbst

eine kräftige Bewegung zur Selbständigkeit, und die Selbstergänzung des als Friedrich II. an diese

städtischen Rathes

war bereits Gewohnheit,

Dinge hcrantrat.

Die Mitglieder des Rathes waren städtische Mini­

sterialen.

Für Friedrich II. hatte nun Deutschland nur den Werth, den dessen Machtmittel ihm für seine universale Politik zu versprechen schienen, die

militärischen Kräfte der

deutschen Nation traten bekanntlich

Auffassung da sehr in den Vordergrund.

betrat, in

in seiner

Daß Deutschland als er es

einem fast revolutionären UmbildungSproceß begriffen war,

entging seinem staatsmännischen Blicke nicht, aber er fühlte sich darum nicht berufen, an die Neuordnung dieser Verhältnisse zu einer bestimmten

ihnen angepaßten Verfassung heranzutreten.

Er ließ die Dinge gehen,

wie sie gingen und griff nur ein, wo Erwägungen seiner Gesamtpolitik eS ihm rathsam erscheinen ließen.

Dahin gehört auch, daß er zweimal

den Bischöfen die Mittel bot, die Selbständigkeit ihrer städtischen Räthe darniederzuhalten.

Aber er war doch wieder zu vielseitig in seiner genialen

Natur, um den Werth dieser großen Steigerung der Verkehrsinteressen und dieses übermächtig aufblühenden Handels für die eignen Besitzungen

im Oberrheinthal zu übersehen, und er war zu staatsmännisch praktisch, um nicht danach zu handeln.

Er hatte daher eine Reihe der Weiler und

Märkte, die ihm Philipps Verschleuderungen hier übrig gelassen, wie Mühlhausen, Kolmar, Schlettstadt ummauert und privilegirt, in andern

Reichsstädten die Vögte auS der Stadtverfassung herausgedrängt, er hatte

also bereits auf königlichem Besitz dem Aufschwung des Handels, Ge­ werbes und Verkehrs volle Freiheit der Entfaltung schließlich

nach der Niederwerfung seines Sohnes

gegeben,

als er

und der Rathgeber

desselben immer mehr Partei für die Selbständigkeit der Städte, auch

der bischöflichen nahm.

Und er konnte eben um so eher an diese Eman19*

cipation denken, als die Hof- und Heersteuern zu dem Reichsdienst wesentlich durch städtische Räthe geordnet wurden.

Anfänglich trat nun eine gewisse Rivalität zwischen der bischöflichen Und königlichen Verwaltung ein, die Reichsstädte betheiligten sich mit über­

raschender Schnelligkeit an dem steigenden Verkehr und gewannen ebenso schnell neben den Bischofstädten Einfluß und Bedeutung.

Aber gerade

bei dieser Rivalität gewannen die Vertreter der beiderseitigen Interessen, die städtischen Ministerialengeschlechter und ihre Organe eine bisher un­

erhörte Wichtigkeit und Selbständigkeit.

Interessen die Rivalität

überwogen,

Und als dann die gemeinsamen da war

eben

jene Spaltung

in

städtische und außerstädtische Ministerialen, von der wir oben sprachen, perfect, und mit dieser Auflösnng der alten Verfassung vollzog sich eine

Sonderung der neuen Stände, wenn man so sagen will, die für den Gang unserer deutschen Geschichte auf Jahrhunderte hin bestimmend ge

worden.

Denn wenn in dieser Veränderung der Stellung der Reichs­

ministerialen und diesem BildungSproceß der städtischen Gemeinwesen die

alte Verfassung unterging, so waren diese Neubildungen doch auch wieder

so geartet, daß sie eine organische Neuentwicklung der Verfassung ver­ hinderten. — ES standen sich also wieder am Oberrhein wie einst im Zeitalter

Heinrichs V. Burgen und Städte gegenüber; aber wie anders war diese

Stellung damals und jetzt.

Nun waren die Herren auf ihren Burgen

ausgeschlossen von dem Zusammenhang mit der früheren Verwaltung, schon verloren sie mit der Bogtei auch die letzte Controlle über die Städte und den letzten Antheil an den Gefällen der Zölle und Märkte, sie sahen sich

ganz isolirt und das in einem Momeut, wo das Selbstbewußtsein der unabhängigen Stadträthe mit dem steigenden Wohlstand ihrer Städte wuchs. So erfülllen sie sich mit Mißtrauen gegen diese Blüthe der Verkehrsge­

walten, dann mit Mißbehagen über ihre Jsolirtheit gegenüber dieser neuen Zeit und diesen neuen Kräften, und zum Theil mit dem Neid des ver­ armten Hauses gegen diesen Reichthum.

Und auf einmal wurden diese

Burgen Raubnester, ihre Inhaber griffen mit Raub und Pfändung in

den Verkehr der Wasser- und Landstraßen.

In derselben Zeit war mit KonradS Tod das staufische Geschlecht dahingesunken.

Nun erhoben sich die Städte.

In ihren Rathsgeschlechtern der ehe­

mals städtischen Ministerialen lebte ganz wie in den Reichsministerialen die lebendige Tradition der großen politischen Actionen fort, an denen sie

mit Rath und That theilgenommen.

Sie fühlten sich daher berechtigt und

berufen, in Sachen des Reichs zu handeln, als die totale Auflösung aller

alten Verhältnisse nun sich ihnen so unmittelbar fühlbar machte.

Sie

wandten sich in ihrem Bunde allerdings zunächst gegen „die Unsicherheit

der Straßen und die unerträglichen Mißstände des Verkehrs", aber sie faßten doch auch gleich weitere Maßnahmen ins Auge.

Wir erkennen in

einer Reihe Bestimmungen, die der rheinische Bund über Zinsfuß, Ver­ pfändung, Bürgschaft, Pfahlbürger u. a. trifft, daß er nach einem wohl­

durchdachten Plan sowohl die capitalbedürftigen Grundherrschaften wie die schutzbedürftigen Bauernschaften an die städtischen Interessen zu binden

versucht, um sie in ihre Politik hineinzuziehen.

Und diese Politik machte

ernstlich den Versuch, aus der zerfallenen Reichsverfassung zu retten, was

zu retten war, und dasselbe dann zu einer neuen Verfassung zu verjüngen. Denn nur so bekommt der Gedanke Inhalt, den diese Städte einmal aus­

sprechen, die Güter des Reiches unter ihren Schutz zu stellen und nur den als König anzuerkennen, den die Fürsten einstimmig wählen.

Nun zerfiel

aber der rheinische Bund, der so plötzlich und so unwiderstehlich um sich gegriffen,

nach kurzer Zeit.

Einmal

verschob jeder Schritt über

die

rheinische Ebene hinaus die militärische Stellung des Bundes vollkommen,

dann aber haben die Städte bereits 1255 das Bestreben gezeigt, sich von

der Last kriegerischen Dienstes soviel wie möglich zu befreien.

Es tritt

eben die Verbindung rein egoistischer Interessen mit großen, ja maßlosen Ideen am Anfang der eigentlichen Geschichte unseres BürgerthumS als

der unglücklichste Grundzug desselben ebenso hervor wie in allen Bewe­ gungen, die durch daS Uebergewicht der Verkehrsinteressen bedingt sind.

Dann brachte der plötzliche Tod Wilhelms eine große Verwirrung in die Pläne des Bundes.

Und bei den Fragen

der Königswahl gelang eS

einem kühnen Vertreter des mächtigsten der alten Ministerialengeschlechter, dem Philipp von Falkenstein die Städte aus dem Vordergrund der Ent­

scheidung herauszudrängen. So verfiel der Anlauf zur Verjüngung der Verfassung, und eS blieb

nun von alledem nichts als der verschärfte Gegensatz der Städte gegen

die Fürsten-Herren- und Adelsgeschlechter.

Und es bildete sich der Ge­

gensatz von Bürgerthum und Adel, Kapital und Grundbesitz, Städtever­ fassung und Lehnsverfassung in so schneidender Schärfe aus, daß von da

an für die deutsche Reichsverfassung das organische Zusammenwirken von Adel und Bürgerthum unmöglich geworden. Die Geschichte der folgenden Jahrhunderte ist bedingt durch den un­

bewußten Drang beider Stände, für ihre Kräfte und Interessen das gegen­ seitige Gleichgewicht und die verfassungsmäßigen Reichsorgane zu finden.

Aber einmal blieb der Gegensatz der Jnteressenkreise, der Adel zog sich

immer mehr aufs Land und die Naturalwirthschaft zurück.

Dann waren

beide Mächte in einem fast vollkommnen Gleichgewicht ihrer Kräfte und,

als man nach langen fruchtlosen Combinationen des Ausgleiches als die

letzte unvermeidliche Lösung, die Entscheidung durch Waffengewalt auf­ suchte, wie es dreimal bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts eingetreten ist,

da fehlte es jedesmal der siegenden Partei an der Macht, den Gegner

vollständig niederzubrechen. Deutschland hatte ferner in diesem späteren Mittelalter keinen großen, langdauernden, auswärtigen Krieg zu führen, ebenso wurde es von jedem

großen inneren Kriege verschont, daher blieben die Reihen der adligen Geschlechter ununterbrochen fort bestehen und ihre Zahl blieb unverringert und ihre Macht blieb ungeschwächt.

Die Cultur unseres BürgerthumS

andererseits erfüllte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert den Norden und

Osten Europas, und immer wieder belebten diese auswärtigen Erfolge die heimischen Städte mit mächtigem Selbstbewußtsein und führten ihrer

Macht unerschöpfliche materielle Kräfte zu; daher erklärt sich die unver­ änderte, so lange fortdauernde, ungebrochene Kraft dieser Städte.

Und

aus beiden Thatsachen resultirte, daß das Gleichmaß dieser Kräfte, die weder friedlich noch kriegerisch das Mittel fanden, eine gesunde Einord­ nung in den Reichsorganismus herbeizuführen, dauernd dasselbe blieb. Aber unter diesem Gleichmaß der Kräfte, die sich nicht einen konnten, er­

starrte allmälig die innere Ordnung des nationalen Lebens, und zwar so

sehr, daß

dasselbe auch dann nicht politisch befruchtet wurde,

als die

Strömungen der neuerwachten classischen Literatur und diejenigen der Re­ formation in gewaltigen Schauern darüber hergingen; für daS deutsche

Reich wurde dadurch wesentlich nur der Verfall gezeitigt; seine Verfassung

nahm den Charakter einer Versteinerung an. —

In gleicher Zeit brachte sodann die Neugestaltung des Welthandels die erste Schwächung der städtischen Macht und jene Versteinerung der Verfassung ein Ausscheiden der Reichsritterschaft aus den Reichsversammlungen mit

sich.

Dieser

schäftigung

überzahlreiche kriegerische Adel suchte nun und fand Be­

im Söldnerdienst, im 15. Jahrhundert noch

innerhalb der

deutschen Grenzen, im 16. ging er bereits weit über dieselben hinaus.

Aber weil alle Mächte an diesen kriegerischen Kräften unserer Nation das immer bereite Material für ihre Kriegsheere fanden, so verlegten sie bald

den Schauplatz ihrer Schlachten gleich auf den Werbeplatz, und Deutsch­ land wurde mehr und mehr das Schlachtfeld aller europäischen Kriege.

Und so sehen wir

aus

dieser Entwicklung

unseres

Adels

und seiner

Stellung zum Bürgerthum schließlich das unselige Mißverhältniß entstehen,

daß das Land, daS seinen kriegerischen Kräften nach unüberwindlich hätte

sein müssen und daS unzweifelhaft an kriegerischer Leistungsfähigkeit allen andern Nationen weit voranstand,

eben in Folge

dieser militärischen

Kräfte mit den Verwüstungen aller ReltgionS- und KabinetSkriege Europas,

in denen dieser hohe und niedere deutsche Adel vielfach Partei bildete, erfüllt wurde,, während die großen städtischen Mittelpunkte hinter ihren uner­ stiegenen Wällen theilnahmloS und rathlos inmitten des entsetzlichen immer

wiederkehrenden Jammers der furchtbaren Zeit dalagen.

Und als in der

Zeit, da die Aristokratien aller Staaten Europas in deren politische Ge­

staltung eingriffen, der hohe und niedere Adel Deutschlands seine krie­

gerischen Kräfte für eigne politische Pläne verwenden wollte,

nicht im

Dienste fremder Politik, sondern, wie er meinte, in Diensten und zum

Besten deS Reichs, da fehlte dieser Politik der Halt weiser Einsicht und greifbarer Ziele, weil bei der republikanischen Abgeschlossenheit unserer

großen Plätze der deutschen Aristokratie die Berührung mit dem geistigen

Leben und den

politischen Interessen

einer großstädtischen Bevölkerung

fehlte, wie die dänische, französische, englische Aristokratie sie in Kopen­ hagen, Paris und London gefunden hatte.

Und so erklärt sich die maß­

lose und verwüstende Politik eines Wallenstein und eines Bernhard von

Weimar, die für ihre leidenschaftlich gefaßten und mit Zähigkeit festge­ haltenen Pläne ein ganzes System von Mächten in Bewegung setzten, um dann nach ihrem Untergang das deutsche Land verwüstet und nach

allen Seiten offen zwischen den drei furchtbaren Positionen, die sich Frank­ reich, Schweden und Oesterreich inzwischen geschaffen, als das prädestinirte Schlachtfeld jedes folgenden Krieges einer noch schrecklichern Zukunft

zu überlassen.

So wirkte, was im 13. Jahrhundert aus der von Friedrich I. her­ gestellten ottonischen Verfassung unter dem Einfluß einer wtrthschaftlichen Revolution ohne Gleichen sich an nationalen Kräften entwickelte, auf den Gang unserer Geschichte bis zum westfälischen Frieden.

Dann machte das deutsche Volk in seiner Geschichte bis auf den heutigen Tag eine Neubildung durch, sodaß „unser Volk, das als die erste und zugleich mächtigste unter den Gesammtmonarchien reingermanischen

Stammes neben England, Dänemark und Schweden sein Reich gegründet, jetzt als der letzte und jüngste Nationalstaat in die Reihe der modernen Völker eingetreten ist".

Dieser kurze Abriß enthält meines Erachtens die Summe aller Be­ trachtungen unseres Historikers über die deutsche Vergangenheit, soweit

dieselben veröffentlicht sind; die beiden kleinen gedankenreichere Abhand­ lungen: über die älteren Formen der städtischen Genossenschaften Nord-

Karl Wilhelm Nitzsch.

282

deutschlandS (1879) und über niederdeutsche Kaufgilden (1880), welche

beide er in der Berliner Akademie der Wissenschaften verlesen, sind aller­ dings nicht verwerthet, weil ihre Gegenstände sich nicht in diese Gesamt­

betrachtung einfügen ließen.

Der Leser wird von dem, was ihm für die

ältere deutsche Geschichte gerade eingehender Prüfung

und

Erörterung

wichtig scheint, manches vermissen, anderes nur berührt sehen und nur über

eine Seite unseres nationalen geschichtlichen Lebens eingehende und voll­ ständige Auskunft gefunden haben,

über die Frage nämlich nach dem

Wesen und dem Werth der älteren Reichsverfassung.

dem Material, das uns Nitzsch hinterlassen.

ES liegt das an

Wir schöpfen auS einem

Buche und aus Aufsätzen, die der Entstehungszeit nach differiren und in

Und nur eins hat Nitzsch auch

den Zwecken, die sie verfolgten, divergiren.

in den Arbeiten, die der deutschen Verfassungsgeschichte nicht direct ge­

widmet waren, immer wieder behandelt, mochte er wirthschaftliche oder politische Fragen erörtern: was bieten uns die soeben gewonnenen Re­

sultate zur Beurtheilung der Reichsverfassung, was lehren sie unS von dem Wesen, was von dem Werth derselben?

Diese Einheit seiner For­

schung trotz der Divergenz der Einzeluntersuchungen zur deutschen Ge­ schichte ermöglichte unsere obige Zusammenstellung, doch auch.

aber beeinflußte sie

Aber wenn der Leser vielleicht gleich unS die Lösung dieser

Frage für eine der vornehmsten Aufgaben hält, die der Historiker bei der

Beschäftigung mit der vaterländischen Geschichte sich zu stellen hat, so wird er eS immerhin als ein Glück ansehn, daß von Nitzsch wenigstens diese Frage so ausführlich beantwortet ist. — Nitzsch vertritt also die Anschauung, daß die von Otto I. vollzogene enge Verbindung des Königthums mit der Kirche, die darauf begründete

Ordnung des Reiches und überhaupt die

von Otto

eingerichtete Ver­

fassung eine segensreiche Schöpfung dieses großen Regenten gewesen sei. Sie erschien ihm als ein Segen

für das Königthum, das sich daran

wieder aufgerichtet, als eine Wohlfahrt für das Reich, das sich dadurch innerlich gefestigt, als

eine Förderung

für daS Volk in allen seinen

Ständen, weil sie dessen materielles und moralisches Gedeihen herbei­ geführt, und vor Allem auch dadurch von so großem Nutzen für die Mensch­

heit, weil durch die von Otto ergriffenen Maßregeln die abendländische christliche Kirche im Moment ihres tiefsten Verfalls vom Untergange er­

rettet worden.

Das Kaiserthum war für den deutschen König der Schluß­

stein in dieser Verfassung, um daS Bündniß mit der Kirche für des Reiches Nutzen vollständig zu machen. Und diese Verfassung blieb gut und ausreichend für daS deutsche

Kaiserreich, bis in der Zeit deS wirthschaftltchen Umschwunges im 13. Jahr-

hundert unter dem Einflüsse der Katastrophe König Heinrichs und dem

der weiteren Politik Friedrichs II. gegenüber Städten und Reichsritter­ schaft jene unselige Spaltung zwischen Adel und Bürgerthum sich vollzog, die sich nie mehr, weder in friedlicher noch in kriegerischer Weise, über­

brücken ließ, und die dann, namentlich da die Städte durch ihren Außen­

handel eine Machtstellung erlangten, die garnicht in den Rahmen der deut­ schen Verhältnisse paßte, eine vollständige Lähmung des Reichsorganismus

herbeigeführt hat, welche dem weiteren Verlauf unserer Geschichte das Gepräge verliehen. —

Die Kritik nun wird einzelnen dieser Anschauungen nicht so einfach beipflichten können.

Die Ausführungen über den Vortheil der Verbin­

dung des Königthums mit der Kirche für das Königthum selbst beruhen

zum Theil auf den bekannten Untersuchungen FickerS über das Eigenthum der Krone am Kirchengut, auch dem bischöflichen, und über das darauf begründete Verfügungsrecht Gute.

des Königs

an den Einkünften von jenem

Die Resultate, zu denen Ficker gelangt, bleiben aber in gewissem

Sinne fraglich; denn ob man von den Ausführungen des Wida von Ferrara

auS an diese verwickelte Frage herantritt, oder ob man für die Begriffs­ bestimmungen jus, ditio u. s. w. von den Kaiserurkunden aus zu operiren

versucht, eS ist da immer wieder der wechselnde Sprachgebrauch, der ein apodiktisches Urtheil unmöglich macht.

Sodann dürfte die Auffassung, die

Nitzsch über das Kaiserthum vorträgt, vielfachem Widerspruch begegnen.

Herr von Sybel würde die Gültigkeit derselben schon für Otto I. selbst bestreiten.

Waitz ferner hat ausgeführt, wie das Kaiserthum Ottos für

Deutschland eine herrschende Stellung gegenüber dem Westen,

Osten und Norden bedeute.

Süden,

Giesebrecht erzählt dann in seiner Geschichte

Friedrich I. von einer ganz andern Auffassung seines Helden vom Kaiser­

thum, als diejenige ist, welche Nitzsch ihm zuschreibt.

Und wiederum ist

es Waitz, der die Behauptung aufstellt, es seien aus dem Kaiserthum dem deutschen Königthum so große und so mannigfaltige Aufgaben fortwährend

zugeführt worden, daß letzteres daran verhindert sei, seine Thätigkeit ganz dem heimathlichen Reiche zuzuwenden.

Man sieht Einwendungen sind da; aber wir müssen uns hüten, diese

Aussetzungen der Kritik zu überschätzen.

Denn stellen wir uns beispiels­

weise ganz auf den Standpunkt von Waitz und negiren wir das Eigen-

thumSrecht der Krone am Kirchengut, so schränkt das den Satz, daß Otto durch Vergebungen von KönigSgut an die Kirche seine Einkünfte nicht ge­ schmälert, allerdings insofern ein, als etwaige Leistungen der Kirche nach unserer Meinung nun nicht als etwas Selbstverständliches, auf dem Rechte

deS Königs Beruhendes erfolgten, nicht aber darin, daß der König Leistun-

284

Karl Wilhelm Nitzsch.

gen, sogar reichliche Leistungen materieller Art für seine Schenkungen von der Kirche, „die er sich dienstbar zu machen gewußt", erhalten hat. Und man erkennt also in diesem so wichtigen Falle, daß die kritischen Er> Wägungen diese Ausführungen von Nitzsch, ganz abgesehn von den andern Gründen, auf denen er sie, wie wir wissen, aufbaute, nicht umstoßen, ja

daß sie dieselben eigentlich nur wenig berühren.

Und waö dann die andre

wichtige Frage, die über das Kaiserthum, betrifft, so meine ich auch hier,

daß der Kern seiner Ausführungen über

die Reichsverfassung dadurch

nicht betroffen wird, daß andre vorzügliche Kenner unserer Vergangenheit mit guten Gründen eine andre Auffassung als die von ihm geäußerte vertreten.

Ich bin nun zwar durchaus nicht der Meinung, daß man etwa

die Schädigung unserer deutschen nationalen Interessen durch das Kaiser­

thum zugeben und doch die Vollkommenheit dieser Reichsverfassung, die zu diesem Kaiserthum führte, behaupten könne, aber ich glaube, und so urtheilte auch Nitzsch, man kann an der Verfassung Mängel zugeben, aber man hat daraus nicht die Negirung jeder segensreichen Wirkung derselben

zu folgern, und man muß deshalb sich nicht blos die Aufgabe stellen, diese Mängel zu erkennen und darzulegen.

Gerade die genaue Einsicht dessen,

was die Verfassung geleistet, nicht die, was sie nicht geleistet, ist die wich­ tigere Sache, und wenn Nitzsch dabei diese Seite der Verfassungsfrage po­ sitiv beantwortet, so thun seinen Ausführungen die positiven Behauptungen

der anderen Seite, also auch die erwähnte über das Kaiserthum, keinen Abbruch, und um so weniger, als diese Aeußerung von ihm nur so neben­ bei gethan und kein integrirender Theil seiner Untersuchungen ist. — Und das, was Nitzsch in Beantwortung der Frage über die Reichsverfassung, wie er sie gestellt hat, ausführlich vorführt, ist mit so guten und trefflichen

Gründen belegt, daß der Kritik höchstens die dankbare, aber wie mir scheint, nicht absolut nothwendige Aufgabe der Erläuterung des Gesagten zufiele.

In den beiden Haupttheilen der Gesamtbetrachtung, die wir zusammen­ gestellt haben, das heißt in den Abschnitten, die von dem Segen der

Reichsverfassung berichten, und dann in denjenigen, die zu erzählen hatten, wie im Gange der Dinge unter dem Einfluß von Erscheinungen unseres

geschichtlichen Lebens, welche die Verfassung mit zeitigen geholfen, eben

diese selbe Verfassung zum Unsegen für das Reich wurde, also einmal für die Zeit von Otto I. bis Heinrich IV. und dann von Philipp bis

zum Beginn von Rudolfs Regiment hat er feine Methode, Dinge und Menschen geschichtlich vorzuführen, geradezu meisterhaft und bewußt ge­ handhabt.

Topographische Detailstudien der Landschaften, in denen sich

vornehmlich Deutschlands Geschichte abgespielt,

bilden die Grundlage.

Dazu tritt die eingehende Betrachtung der Städte und Märkte in ihrer

Lage für die Wege des Handels und Verkehrs und den Austausch der

Erträgnisse großer königlicher und fürstlicher Berwaltungskomplexe. werden die Burgenbauten

aufgesucht,

Dann

zunächst am Charakter derselben

sestgestellt, ob eS blos Anlagen für Fehde und Krieg oder auch solche für Leistung größerer Wirthschaftskomplexe gewesen, und danach erst wird die

Stellung dieser Burgen zur Ebene, zu den nächstgelegenen Dörfern, Weilern und Städten inS Auge gefaßt.

Und nun werden die natürlichen Produkte

deö Landes betrachtet und die Menschen bei ihrer Arbeit in Feld und Wald,

aber auch

im Handwerk

und

Gewerbe ausgesucht,

dann

die

Beamten der königlichen und fürstlichen Hofverwaltungen in ihrer Thätigkeit beobachtet, und danach wird der Versuch gemacht, den Charakter der könig­

lichen und fürstlichen Wirthschaft zu erkennen,

den einzelnen Ständen

hierin ihren Platz anzuweisen und aus alledem den natürlichen Jnteressen-

kreis der

hohen

wie der

niederen Bevölkerungsschichten zu verstehen.

Und um das Bild zu vervollständigen, wird dann'die Aufgabe unter­ nommen, diese Menschen auch in ihrem Charakter und in ihren sittlichen

Ideen zu begreifen, und dazu werden die Schöpfungen unserer nationalen

Heldendichtung wie das Nibelungenlied und die Aeußerungen unserer großen Dichter herangezogen, sowie die Schätze unserer Weisthümer verwerthet. So ausgerüstet mit einer Fülle von Beobachtungen und mit einem Wissen

von der Vergangenheit, das beides ganz sein Eigenthum, tritt Nitzsch dann an

die

eigentliche politische

Geschichte.

Moderne Kategorien

werden

bei den Fragen, die er nun sich vorlegt, durchaus vermieden, der Maß­ stab zur Beurtheilung der Dinge immer aus der Zeit selbst genommen, eine reiche und tiefe universale Betrachtung der Zeitgeschichte muß deßhalb auch die Folie für die Thatsachen bilden, die er aus der deutschen Ge­

schichte vorzuführen hat, und so erst kommt er an der Hand der kriti­ schen Behandlung der Quellen und Denkmäler und ihrer Verarbeitung

durch und

unsere

neueren Historiker zu seiner Anschauung von Menschen

Ereignissen.

Ein Theil der so angestellten Betrachtungen,

alles

das auf das wirthschaftliche Leben Bezügliche hat nun, wie wir bereits auszuführen Gelegenheit hatten, unbedingte Anerkennung gefunden, er konnte aber mit vollem Rechte auch Zustimmung für die Betrachtungen, die er auf topographischer und archäologischer Grundlage aufbaute, und für die universalhistorischen Vergleiche und die aus mehr oder minder

unbeachteten Schriftstellerstellen mit großem Scharfsinn gewonnenen Erwä­ gungen beanspruchen, wie denn nicht minder Anerkennung seiner Verwer­

thung der Poesie und Weisthümer für die Charakteristik von Menschen und

Zeiten erwarten.

Und was er zunächst auf diesem Wege schöpferisch auf­

baute, die Darlegung über das Wesen der Reichsverfassung wirkt denn

auch nicht blos fesselnd, es wirkt auch überzeugend auf uns.

Und ein

Gleiches findet statt mit seinen Ausführungen dessen, waS diese Verfassung für das deutsche Reich und Volk geleistet. Diese Ausführungen hatten neben einem national-ökonomischen auch ein politisches und gewissermaßen auch ein ethisches Urtheil auszusprechen.

Gerade für ersteres und letzteres hat er

erst die Wege, die dahin führen, wie wir wissen, erschlossen, und sein Ur­

theil hat da nicht blos den Werth des Neuen, es hat auch den einer höheren Wahrscheinlichkeit, die durch seine Methode eben erreicht worden.

Und für

die Aneignung einer richtigen politischen Ansicht war er doch ebenfalls vor­ züglich ausgerüstet. Wir dürfen aber nie vergessen, daß die römische Geschichte

unter allen Staatengeschichten die ist, welche am meisten politisch bildet.

Nitzsch hatte bereits in der Beschäftigung mit dieser „Lehrmeisterin der Staatsweisheit" einen sicheren politischen Blick gewonnen, als er für die deutsche Geschichte seine eingehenden und eigenartigen Studien begann.

Die umfassenden Kenntnisse der Gesammtgeschichte des Mittelalters, die

lebendige Intuition des wirthschaftlichen und socialen Lebens der deutschen

Nation traten läuternd und klärend neben die politischen Anschauungen über unsere ältere Vergangenheit, die er aus der zeitgenössischen Geschicht­

schreibung, den Denkmälern und Parteischriften direct gewann, und sein kritisches Talent einte sich mit der Ruhe und Tiefe seiner Beobachtungs­ gabe, um aus allem jenem schließlich ein weises und richtiges politisches

Urtheil über unsere ältere Geschichte zu bilden.

So richtig wie seine

einstige Ausführung über den hofrechtlichen Ursprung unserer Städtever­ fassungen, so richtig wie seine Darstellung der hofrechtlichen Verwaltungen, so richtig ist denn eben auch seine Entwicklung von dem Einfluß der Ver­

fassung auf das wirthschaftliche Leben bis zur volkswirthschaftlichen Re­

volution im 13. Jahrhundert, so richtig ist seine Geschichte der unter dem­ selben

Einfluß

emporgekommenen Ministerialität von ihren Anfängen

unter Heinrich IV. bis zu ihrer Umbildung in die Reichsritterschaft, ist seine Darstellung von dem Leben der hörigen Bevölkerung, seine Vor­

führung der Städteentwicklung, seine Erzählung von dem Verhältniß der

Kaiserpolitik zu dieser Verfassung, wie nicht minder seine Auseinander­ setzung von dem schließlichen Verfall derselben und

der Lähmung des

Reichsorganismus, so richtig ist seine Gesammtansicht über die Reichs­ verfassung und seine Gesammtansicht über die Reichsgeschichte.

Die Fülle

neuer und eigenartiger Anschauungen, die unser Wissen bereichern, war bei seiner Methode zu erwarten, daß diese Anschauungen uns auch als richtige erscheinen, das bewirkt die Klare seiner Gründe, daß sie unS

aber im höchsten Grade fesseln und

immer aufs neue ein Gegenstand

anhaltender Beschäftigung für unS bleiben werden, das liegt an der Art,

wie Nitzsch die geschichtlichen Dinge, über die er urtheilt, vorgeführt hat.

Denn ist es Nitzsch hier gelungen, zu erreichen, was er erstrebt, mehr

von der Vergangenheit forschend zu erkennen, als wir so gemeinhin aus den Quellen erfahren, eine Behauptung, die wie jeder Kenner unserer Geschichtschreibung zugeben wird, nicht blos der

Geschichtschreibung der

Kaiserzeit im engeren Sinne gegenüber gilt, für welche Zeit sich Nitzsch dieses Ziel recht eigentlich gesteckt hatte, sondern ebenso für die weitere Ge­ schichtschreibung etwa von Burchard von Ursperg an über die rheinischen

Chroniken hinaus bis herab zu den AnnaleS Ferdinandei Geltung beansprucht,

so hat er doch auch zugleich den höheren Zweck, für welchen jenes Ziel nur das Mittel war, erreicht, nämlich den, durch die Resultate, die er so

gewonnen,

über das innere Leben der Nation und ihre geschichtlichen

Leistungen in der Vergangenheit zum anschaulichen Bilde zu gelangen. Jeder

der unsere Zusammenstellung gelesen, wird daS erkannt und die Vorzüge einer solchen Darstellung empfunden haben, noch mehr der, welcher die Aufsätze selbst gelesen; detaillirt es auszuführen, erscheint daher durchaus

überflüssig, aber auf ein besonderes Verdienst, das sich Nitzsch hierdurch erworben, muß ich doch noch Hinweisen, weil es eben nicht so allgemein in dieser Anerkennung eingeschlossen ist.

Als Nitzsch an das Quellen­

studium zur deutschen Geschichte herantrat, war er, wie überhaupt in seinen

Forschungen so gut wie irgend einer auch hier von dem einen Streben beseelt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu suchen.

Aber je

mehr er den Charakter unserer mittelalterlichen Geschichtschreibung erkannte, desto öfter mußte er sich die Frage vorlegen, wo liegt die Wahrheit?

Besitzen wir sie schon, wenn wir durch kritisches Erwägen die relativ beste

Nachricht eines Schriftstellers über einen historischen Vorgang von andern

Nachrichten ausgeschieden haben, und bereichern wir wirklich unser und anderer

historisches Wissen, wenn wir dieselbe nun, die vielleicht lateinisch geschrieben, in unserer Sprache reproduciren?

Unzweifelhaft haben wir eine Thatsache,

überhaupt etwas Richtiges mitgetheilt, der Schriftsteller ist durchaus zu­ verlässig und competent, aber wenn das, was er mittheilt, für uns nur Worte, leere Worte bedeutet, bei denen wir uns so, wie sie vorliegcn, nichts denken können, weil uns das weitere Wissen fehlt, daS der Schrift­

steller hatte,

das er aber als unwichtig oder allgemein bekannt für die

Mittheilung überflüssig hielt, wie dann, sind wir dann auch im Besitz

einer geschichtlichen Wahrheit?

Otto

von Freisingen nach:

kanntlich

Wir wählen ein Beispiel.

In der

die Stärke des Reiches.

Wir erzählen

oberrheinischen Tiefebene lag be­

Daher stieg Herzog Friedrich von

Schwaben (der die Partei Heinrichs V. ergriffen, 1116) in dieselbe hinab, unterwarf dieselbe und beim Verrücken legte er stets neue Burgen an

oder befestigte die alten, so daß man sagte, er schleife am Schweife seines Rosses immer eine Burg mit sich. — Wenn wir das nun in unsere Ge­

schichtsbücher so einfügen, so erzählen wir unzweifelhaft eine richtige Be­

hauptung und eine richtige Thatsache.

Aber setzen wir den Leser, auch

den wissenschaftlich gebildeten, wenn wir ihm dies so mitlheilen, nicht der Gefahr auS, sich etwas Falsches hinzuzudenken?

Denn mit der Mitthei­

lung, wie sie vorliegt, wird er sich und kann er sich nichl begnügen, eS wäre denn eben, er füge aus alter Gewohnheit neuen Ballast zu dem Er wird sich fragen, was die Behauptung be­

alten in sein Gedächtniß.

deute, und sich wer weiß welche Vorstellungen darüber machen, und er wird zum Burgenbau hinzu denken, Burgen seien auf erobertem Terri­ torium angelegt, und Friedrich habe doch eigentlich nur für sich bei diesem Eintreten gesorgt u. s. w.

Kann und darf dann aber die Geschichtsforschung

nun behaupten, sie habe eine Wahrheit mitgetheilt, wenn sie so eS dem

denkenden Lernbegierigen überläßt,

sich dabei zu denken,

was er will,

respective waS er nach seinen Kenntnissen denken muß, wo die Chancen etwas absolut Unrichtiges sich vorzustellen mindestens ebenso groß sind als diejenigen die Wahrheit zu finden?

So reflectirte Nitzsch und auS diesen

Reflexionen, ganz allein im Dienste der historischen Wahrheit, nicht in Hinsickt auf irgend

welche populäre Veranschaulichung,

resultirte jene

energische Richtung auf ein Wissen und Mittheilen von den geschichtlichen

Dingen, das wir mit Anschaulichkeit zu bezeichnen pflegen.

Er erkannte

bei dem Streben nach diesem Ziele wie wenige Andere, daß wir in vielen

Fällen leider bei dem Charakter unserer mittelalterlichen Ueberlieferung darauf verzichten müssen, zur anschaulichen Erkenntniß zu gelangen, aber

er fand umgekehrt auch, daß es, allerdings auf schwierigen und wohl gar erst zu schaffenden Wegen doch öfters zu erreichen sei, als es beim ersten

Versuch scheine, und er befestigte darum seine Ansicht immer mehr, daß dieser Versuch überall energisch in unserer mittleren Geschichte gemacht werden müsse.

Seine Interpretation der

erwähnten Stelle auS Otto

von Freisingen, die wir kennen, ist ein Beispiel dafür, welche Mühen er anwandte, um zur Anschaulichkeit zu gelangen, zugleich aber auch dafür,

wie durch seinen schöpferischen Genius den todten und der Mißdeutung

überaus ausgesetzten Worten eine Fülle lebendigen und wahren geschicht­ lichen Inhalts verliehen worden. Und so werben wir nicht verkennen, daß

er sich durch diese von ihm zuerst für einige Theile unserer deutschen Ge­ schichte gewonnene Anschaulichkeit geradezu ein Verdienst um die historische

Wahrheit erworben hat. — So

verknüpft

sich

mit

diesen

Betrachtungen

unseres

Gelehrten

über die deutsche Geschichte für ihn viel Rühmenswerthes und für die

Wissenschaft viel Ergiebiges, und im Sinne der Frage, die wir einmal

aufwerfen mußten, deS

ob sich an der Hand seiner Methode der Charakter

deutschen Reiches und seiner Verfassung vornehmlich für die Zeit

vom 10. bis 13. Jahrhundert besser geschichtlich erkennen lassen werde, als eö bisher geschehen, werden wir unbedingt bejahend antworten.

Er

hat nach allem, waS wir uns über seine Leistungen hiefür vorgeführt

haben, schritten.

mit seinen Betrachtungen

unzweifelhaft den richtigen Weg be­

Darum aber werden wir es beklagen, um bei dem Bilde zu

bleiben, daß es ihm vom Geschicke versagt worden, den Weg bis zu Ende

zurückzulegen.

So ist in seinen Untersuchungen

manches

unvollständig

geblieben, die Frage nach dem Charakter deS KaiserthumS ist nur vor­

übergehend durch jene bekannte Aeußerung beantwortet, die italienische Politik Friedrichs I., die universale Heinrichs VI. und Friedrichs II. ist nur stückweise behandelt, von dem Verhältniß des Papstthums zum deut­

schen Reich und ob es für unsere Nation zum Segen oder Unsegen ge­

worden, ist nur wenig gesagt, da Politik der Laienfürsten schließlich ist kaum erörtert.

Und es sind diese und andere Punkte doch nun Fragen, die

sich bei der Beschäftigung mit der vaterländischen Geschichte, und wenn wir bewußt in unserer Zeit leben, immer wieder mit zwingender Gewalt uns

aufdrängen. Immer wieder aber ist der Versuch unserer Geschichtsforschung, darauf die lösende und befriedigende Antwort mit ihren Mitteln zu finden,

bisher mißglückt; vielleicht, so kommt unS der Gedanke in Hinsicht auf das, was er für unsere Geschichte bereits geleistet, hätte Nitzsch diese Ant­

wort mit seinen Mitteln der Forschung gefunden.

Und darum, wenn wir

uns auch, wie wir sagten, gerade dadurch, daß er die Reichsverfassung

behandelt und so behandelt, gewissermaßen für anderes, das in seinen Betrachtungen fehlt, entschädigt fühlen, immer wieder werden wir bedauern,

daß der Verehrer WaltherS von der Vogelweide nicht einen Commentar zu jenem Verse dieses gedankentiefen patriotischen Sängers geschrieben: die zirken sind zu höre (Ich hörte ein wazzer diezen . . .), oder daß

er nicht jenen andern Vers erläutert hat: sin hirte ist z’ einem wolve

im worden under stnen schufen (Der stuol ze Hörne stät. . .), und wir werden es beklagen, daß der Kenner HuttenS an dem Zwiegespräche des Sonnengottes und seines Sohnes nur den Spott gegen die Reichs­

verfassung und nicht auch den tiefernsten sittlichen Zorn gegen das Papst­

thum zum Gegenstand seiner Betrachtung gemacht hat. Die Lücke, welche der plötzliche Tod von Nitzsch in der historischen Wissenschaft gelassen, offenbart sich eben auf keinem Wissensgebiete so, als

auf diesem der -mittleren deutschen Geschichte.

Auswanderung, Kolonisation und Zweikindersystem. Von

Frhr. von der Brüggen.

Die Erwerbsverhältnisse der letzten Jahre haben in Deutschland leider die Wahrscheinlichkeit eröffnet, daß in den nächstkommenden Jahren die

Auswanderung in erheblichem Maße stattfinden werde. Obgleich seit dem Niedergang von 1872 bis etwa 1878 eine Besserung der Geschäftslage anerkannt wird, ist, so scheint eS, diese Besserung nicht im Stande für

den Ueberschuß der Arbeitskräfte und den Zuwachs der Bevölkerung so weit

zu genügen, daß der Arbeiter überall sein gutes Auskommen auf heimischem Boden finden könnte.

Bedeutende Züge von Auswanderern sind bereits

über das Wasser gegangen und größere bereiten sich vor ihnen zu folgen. Während die StaatSleitung bemüht ist den heimischen Erwerb zu fördern

und den gemeinen Mann gegen Unfall zu schützen, äußert sich vielfach daS Bedauern, daß so viele und so tüchtige Kräfte durch die Auswanderung, vorzüglich nach Amerika, dem Staat und leider auch meist der Nation ver­

loren gehen.

Dieses Bedauern mag in gewissem Grade ein berechtigtes

sein, und mit jedem Jahre wird Deutschland stärker zur Lösung der Frage gedrängt werden, auf welche Weise der Auswanderung eine für Staat und Volk vortheilhaftere Richtung gegeben werden könne.

DaS Bedürfniß nach

Kolonieen wächst, und eS ist hiebei meist nur die Vorstellung von Kolonieen

in möglichst weit entfernten tranSoceanischen Ländern herrschend, ohne daß viel Sorgfalt auf die Erörterung dessen gelegt würde, welche Art von

Kolonisation, welche Gebiete der Kolonisation unter den gegenwärtigen

Verhältnissen möglich, welche am Vortheilhaftesten wären.

Neben diesen

Erwägungen ist nun aber eine andere aufgetaucht, welche mir von vorne

herein mehr eine Speculation der Gelehrsamkeit als ein Ausweg volksthümlicher Denkart zu sein scheint.

DaS Zweikindersystem hat bekanntlich seinen englischen Erfinder und seine französische Praxis bereits hinter sich.

Es ist sogar zu einem System

erhoben worden, obwohl sich die Feder dagegen sträuben will den Namen eines Systems einer sozialen Erscheinung zu verleihen, die vielleicht in

individuellen Grenzen zu erklären, sogar zu rechtfertigen ist, auf das öffent­ liche Gebiet jedoch meines Erachtens nicht verpflanzt werden kann, ohne

gegen die ethischen Grundlagen unseres Volkslebens zu verstoßen. Immer­ hin aber ist diese Erscheinung von wissenschaftlichen Autoritäten, ja in neuester Zeit selbst von anerkannten Größen der Theologie so ernsthaft

vertheidigt worden, daß es nicht möglich wäre, sie ohne Weiteres als un-

Ich bin der Meinung, daß der Trieb

erörterbar bei Seite zu schieben.

sich zu mehren zu den obersten Gesetzen der Völker gehört, wenn nicht alle anderen überragt.

Und will man, wie es heute üblich ist, bei solchen

Dingen durchaus von Rechten sprechen, so meine ich, daß das Recht sich

zu mehren eher den Anspruch habe ein Naturrecht der Völker genannt zu werden, als alle die mannigfaltigen Bethätigungen des Volkslebens, die man sonst mit diesem Namen von recht zweifelhaftem Klange benannt

hat.

Jedenfalls rechtfertigt ein Volk, welches in seiner Vermehrung zu­

rückgeht, stillesteht oder auch nur fortdauernd gehemmt wird, den Verdacht,

daß seine Lebenskraft über das auch den Völkern in der Menschengeschichte vorgezeichnete Alter der Entwickelung und des Wachsthums hinüber sei und seine Blüthe hinter sich habe.

Diese Annahme wird begründet so­

wohl durch die Analogieen in der Natur, als durch die Erfahrungen der

Geschichte.

Wo die natürliche Vermehrung eines Volkes

dauernd

ins

Stocken geräth, da ist die Ursache stets ein Mangel der inneren Bolks-

kraft, einerlei

ob die Stockung

Statistik und

ihre Zahlen,

nun ohne Bewußtsein

ohne System

im Volk,

ohne

und bewußtes Hindern der

Mehrung durch die Einzelnen, oder ob sie mit der Heiligung durch die Wissenschaft

oder durch die Sitte

Kein

vor sich geht.

gesundes Volk

könnte mit krankhafter Altklugheit darauf Hinweisen, daß dermaleinst die

Erde ja doch an Menschen überfüllt werden müsse, wenn es so fortgehe

wie bisher, und dann die Frage nothwendig eine allgemeine werde, wie der Mehrung zu steuern wäre.

An das Ende aller Dinge mag der Ein­

zelne denken, nicht aber ein Volk darnach leben.

Wo, wie in China, die

Mehrung des Volkes künstlich gehemmt wird, da herrschen ethische Be­ griffe, Sitten, welche unser Volksbewußtsein, unsere Kultur nicht aufzu­

nehmen vermögen ohne sich selbst zu vergiften.

gerecht ist, Motive

und

Beobachtung

Und wenn es auch un­

dem Ueberhandnehmen des Zweikindersystems in Frankreich

Sitten

unterzuschieben,

welche

von pariser Gesellschaftsschaum

wir,

durch

die

einseitige

oder Gesellschaftsabschaum

getäuscht, lange für eigenthümlich französische Sitten hielten, die den un­

seren gänzlich widersprächen; wenn nicht die Sittenlosigkeit mancher Klassen Plcußische Jahrbücher. Bd XL1X. Heft 3.

20

von Paris oder Lyon oder gar von ganz Frankreich als die Ursache davon

anzusehen ist, daß dort in den Städten wie auf dem platten Lande daö Zweikindersystem eingedrungen ist: einen ethischen Mangel bekundet diese

Erscheinung dennoch.

Das Unvermögen nämlich, für seine Kinder aus­

reichend zu sorgen. Was nennen wir sittlich?

Ist denn nicht etwa unsere ganze Moral

in Rücksicht auf die Beziehungen von Geschlecht zu Geschlecht, von Aeltern

zu Kindern darauf gestellt, die Vermehrung zu fördern, zu regeln, heiligen?

setzen.

zu

Es ist hier nicht der Ort das im Einzelnen auseinander zu

Allein schwerlich wird unseren moralischen Ideen in Beziehung

auf Ehe, Familie, Kindererziehung, Zucht und Ehre ein anderer Sinn als jener vom Standpunkt der erklärenden Vernunft untergelegt werden

können.

Der Zweck unserer Moral auf diesem Gebiete ist Sicherung,

Mehrung, Besserung der dkachkommenschaft.

So streitet es demnach un­

mittelbar gegen die Moral, die Mehrung der Nachkommenschafl mit Be­

wußtsein im Volke zu hemmen.

Dieses sind, von etwa vorhandenen na­

türlichen Erscheinungen körperlichen Zerfalles, epidemischer Krankheiten oder von anderen Zuständen des Niederganges abgesehen, die beiden llrsachen einer stetigen Hemmung der Volksmehrung.

Entweder LeHrnßfl?kMeiI, die

wir für unsittlich halten, oder Selbstbeschränkung, die ich bei einem Volke

für die Folge von Schwäche halte.

Was die philosophische Erkenntniß

uns hier vorschreibt, wird von der Erfahrung bestätigt.

Wir müssen zu

derselben Anschauung gelangen, wenn wir uns erinnern, welche sittlichen Zustände in Ländern, wo die Volksminderung sich festgesetzt, beobachtet worden sind.

Die Entsittlichung Roms unter den Kaisern war eine so

allgemeine, daß der Schaden, den Familie und Ehe davontrugen, nur ein

Theil der allgemeinen Verderbniß war und das Sinken der natürlichen Vermehrung der Bevölkerung von Rom gleichen Schritt hielt mit dem

Sinken der gesammten Lebenskraft des Volks.

Die Hemmung der Volks­

mehrung in China ist mit der Verleugnung so fundamentaler Bestand­ theile der unserem Bewußtsein geläufigen Moral verbunden, daß man dieses Volk deswegen wohl bedauern kann, nicht aber, von unserem morali­

schen Standpunkte aus, rechtfertigen.

Wir können die Volksmoral der

Chinesen für uns nicht gelten lassen, weil sie einen Theil der chinesischen

Kultur auSmacht, welche wir nicht als maßgebend für uns anerkennen. Innerhalb aber der eigenthümlichen Volksmoral Chinas erscheint der dort

gebräuchliche Kindesmord sogar minder verdammlich als etwa in Europa,

soweit es sich um die Verantwortlichkeit des Einzelnen, um eine Verletzung der Pflichten gegen das Leben eines Mitmenschen im Allgemeinen und

gegen das Leben des eigenen Kindes im Besondern handelt.

Denn die

Noth, die Erhaltung des eigenen Lebens oder des Lebens anderer Kinder, welche vielleicht durch das Lebenbleiben eines neuen Kindes bedroht sind,

mögen mildernd angeführt werden.

Aber der ethische Mangel haftet nichts

destoweniger an dem Kindesmorde des Chinesen:

der ethische Makel des

ganzen Volkes, daß es nicht die Kraft hat, seine Kinder zu versorgen. — Auch hier, wie so oft, mag die Familie dem Volke ein Vorbild sein:

Wir werden den Familienvater, der seine Kinder nicht ausziehen kann, für

schwach oder krank oder vom Unglück niedergeworsen Hallen; von einem

kraftvollen Manne

erwarten wir,

daß er sich und den Seinen Raum

schaffe in dem Getriebe der ringenden Menschen.

Von einem kraftvollen

Volke erwarte ich noch weit mehr, daß es sich und den Seinen Raum schaffe in dem Getriebe der Völker. giebt es auf ihr noch viel und weit.

Die Erde ist groß und zu schaffen Ein Kampf, wenn auch ein fried­

licher, ist das Wachsen der Völker an Zahl stets eben so wohl gewesen,

als das Wachsen an Macht.

Es muß aber um die Möglichkeit der Ver­

mehrung gekämpft werden so gut als um die Möglichkeit der Ernährung. Und jedes Volk hat ein Recht für seine Vermehrung selbst mit der Waffe

in der Hand zu kämpfen.

Schmähliche Schwäche allein kann ein Volk

bewegen, auf den allgemeinen Wettstreit draußen zu verzichten und zu­ gleich darauf,

drinnen im Hause die künftigen Geschlechter wachsen zu

sehen an Zahl und Kraft.

Denn die vermehrte Zahl ist vermehrte Kraft.

Was macht England so groß, wenn nicht das unbezwungene gewaltige Streben, seinen Söhnen Raum zu schaffen rund um die Erde hin?

Eng­

land, dem sein Malthus wie zum Hohne sein Zweikindershstem proponiren konnte, und dessen gesunder Volkssinn von keiner Rücksicht weiß, wo es

sich darum handelt für englische Hände Arbeit und für englische Mäuler Brod zu schaffen.

Ein schwächlicher Mann, der da zu seiner Frau sagte:

„ich will keine Kinder haben, denn ich will die Mühe nicht auf mich nehmen sie zu ernähren!"

Und ein trübseliges Volk, das spricht:

„ich

will nicht wachsen, denn ich bin zu schwach um mehr zu erwerben, um

größeren Raum zu schaffen!" Ein elender Patriotismus, der in überkluger

Borweisheit seinem Volke zum Zweikindersystem rathen kann. Diese Volkswirthe sagen, die Kultur des Volkes könne nicht aufrecht

gehalten werden, wenn durch die ungehemmte Mehrung die Verarmung steigt.

Die Hemmung der Mehrung sei nöthig um der Sicherung des

vorhandenen Volkes gegen Verarmung, um der Besserung der Lebensbe­

dingungen für die Einzelnen willen.

Wenn das zuträfe und soweit es

zutrifft, mag ich die Berechtigung solcher Schlüsse nicht bestreiten.

Seine

Kultur zu erhalten ist vielleicht eine höhere Aufgabe für ein Volk als sich

zu mehren.

Aber ich wiederhole: nur ein Volk, dessen Lebenskraft sinkt,

20*

ist außer Stande beide Aufgaben zugleich zu erfüllen.

Unsittlich indessen

erscheint mir das andere Motiv, welches sich nicht unter diesem Vorgeben,

die Kultur zu retten, verbirgt: der Wunsch nach bequemerem Erwerb, be­ quemerem Leben.

Hat

ein Volk für

einen

jährlichen Zuwachs

von

200,000 Kindern zu sorgen statt für einen solchen von 400,000, hat ein

Volk nach dem Zweikindersystem für gar keinen Zuwachs zu sorgen, so

sind seine staatlichen Pflichten um so leichtere und die sich in der Zahl gleichbleibende Bevölkerung hat Aussicht, von dem wachsenden Volksvermvgcn ihre Lebensweise stets besser zu gestalten.

Diese Ockonomie ist

nicht nur eine Oekonomie der Schwäche, sondern selbst eine Schwächung

der Volkskraft.

Denn indem die Bequemlichkeit des Lebens über so hohe

Gesetze der menschlichen Natur wie die freie Vermehrung gestellt wird,

lähmt man künstlich die Spannkraft des Volkes und lehrt es der Arbeit

den behaglichen Genuß vorzuziehen.

Ein Volk, in welchem diese An­

schauung zur Sitte wird, muß an seiner Arbeitsfähigkeit Einbuße erleiden,

weil seine Ansprüche

nicht

oder nicht

in dem Maße als bei anderen

Völkern wachsen werden und die geringere Anspannung der Kräfte ge­

ringere Kräfte zur Folge hat.

Es ist in dieser Hinsicht belehrend zu

beobachten was der Engländer und was der Franzose leistet.

Der Eng­

länder, der den Lehren von Malthus nicht eben viel praktische Anwendung giebt, erwirbt um weiter zu erwerben; der dem Zweikindcrsystem huldi­

gende Franzose erwirbt um von einem gegebenen Momente ab nur noch zu genießen.

In Frankreich ist es das Ziel des durchschnittlichen Bürgers,

sich ein mäßiges Vermögen durch harte Arbeit und Sparsamkeit rasch zu

sammeln, um dann in irgend einer Stadt oder auf dem Lande auf eigenem kleinen Grundstücke oder als stientner zu lebe».

In England strebt der

Durchschnittsmann eben so eifrig nach Vermögen, aber hat er es erworben, so sucht er es zu mehren und arbeitet Zeit seines Lebens vorwärts, auch

wenn er es zu Akillionen gebracht hat.

Die Energie und Ausdauer in

der Arbeit aber sind die Quellen der Kraft eines jeden Volkes, und des­ halb werden die Lehren des Malthus ein Volk, welches sie annimmt, auch

auf diesem Wege der geminderten Anspannung der Arbeitskraft schwächen. Es folgt hieraus, daß der Zweck, die nationale Kultur durch daö Zwei­

kindersystem zu erhalten, dennoch verfehlt werden müßte, weil die all­

gemeine Schwächung der Arbeitskraft oder ihre gehemmte Entwickelung eine Rückwirkung

haben werden

auch

auf diejenigen sittlichen Kräfte,

auf denen eine aufstrebende Kultur ruht.

Das Nachlassen der Arbeits­

fähigkeit wird sich alsbald nicht blos in dem materiellen Erwerbe, son­ dern auch auf anderen Kulturfeldern wie Wissenschaft und Kunst fühlbar machen. —

Sollte es heute, wo wir Deutsche eben nach langer Zerstückelung

wieder zu einem mächtigen Volke zusammengewachsen sind, an der Zeit

sein die Grenzen unseres Vatererbes abzuschließen und auf den Kampf draußen um Herrschaft und Erwerb zu verzichten? Sollten wir zu schwach

sein um zu thun was Engländer, Holländer, Russen, Amerikaner thun lind was die Franzosen wenigstens zu thun versuchen?

Es ist nun einmal

erfahrungsmäßige Thatsache, daß die Kulturvölker Europas seit lange er­ obernd gegen die meisten Rassen der übrigen Erdtheile vorgehen, und es

wäre höchst sentimale Schwäche, diese Thatsache als eine unberechtigte Ver gewaltigung anderer Völker zu bedauern.

Dieser Kampf ist ein durchaus

berechtigter, und nicht blos derjenige von Engländern gegen Zulukaffern, sondern auch ver von Deutschen gegen Tschechen, Deutschen gegen Polen,

auch von Engländern gegen Iren.

In den besten Zeiten des heiligen

Römischen Reiches hat man sich nicht besonnen, rechts und links sich Raum zu schaffen so viel man konnte.

Nur die elende Wirthschaft der letzten

Jahrhunderte hat cS verschuldet, daß die deutschen Auswanderer für das

Volk meist verloren gingen.

Wir müssen heute die Mittel und die Macht

herbeischaffen, um Raum für unsere Kinder zu gewinnen so gut als andere Völker das vermögen.

Kann man wirklich mit gutem Gewissen einem Volke wie das deutsche

-heute ist zumuthen seine Kindcrzahl einzuschränken, während die Erde

überall noch Raum genug hat um auf lange hinaus selbst den reichsten Kindersegen aller Völker Europas reichlich zu versorgen?

Welche gewal­

tige Länderstrecken liegen in Amerika, in Australien, in Afrika noch un­ bebaut oder dürftig bebaut!

Was haben wir denn bisher etwa schon

gethan um dort Kolonien zu gründen?

Wir konnten nichts thun, weil

wir keine nationale Regierung hatten; wir können auch heute vielleicht

nur wenig thun, weil unsere Macht nicht ausreicht gegenüber den man­

cherlei Feinden und Gefahren solcher Kolonisationspläne.

Aber es wäre

schmählich um dieser Gefahren willen die Pläne völlig aufzugebcn und statt dessen sparsamer im Kindersegen zu werden.

Wir wissen aus guter

Erfahrung, daß der Deutsche ein tüchtiger Kolonist ist, daß er mit Hülfe

staatlicher Unterstützung wohl eben so tüchtig werden könnte als der Eng­ länder.

Will man unS von der Weltconcurrenz gewaltsam ausschließen:

nun wohl, wir werden es so lange dulden müssen, als uns die Macht fehlt unser Recht durchzusetzen.

Aber auch nicht länger.

Wir werden

nöthigenfalls mit den Waffen in der Hand dieses unser Recht durch­ setzen müssen. derisch.

Darauf zu verzichten aber wäre unwürdig und selbstmör­

Und ich glaube, daß eine Regierung, welche die nationale Sache

und Würde mit solcher Kraft vertritt als die unsere, keinen Augenblick

zögern wird, für dieses Recht auf Kolonien nachdrücklich einzutreten, sobald die innern Bedürfnisse und die äußeren Umstände es nur gestatten werden.

Fraglich kann hier nur sein, wo für unsere Kinder Raum geschafft werden soll, nicht ob einem

vorhandenen Bedürfnisse nach Raum

abgeholfen

werden soll. Staatliche Kolonien indessen sind nicht die für

deutsche

Hände

auswärtige

Arbeit

einzige Form,

gefunden

werden

in der

kann.

Es

wird doch einmal die Zeit kommen, wo unser deutscher Auswanderer

auch ohne Staatskolonie sein nationales Wesen zu bewahren wissen wird oder sich seiner Herkunft wieder erinnern wird.

Außer der überseeischen

Auswanderung aber giebt es noch eine Auswanderung über unsere öst­ liche Grenze, in die Donauländer, nach Polen, nach Rußland hin, die

uns offen steht.

gerührt?

Hal man für diese etwa bisher auch nur einen Finger

Hat man sich einen Augenblick darum bekümmert was aus dem

Deutschen wird, der dorthin abzieht? Hat man ihm in irgend etwas ge­

holfen?

Die Juden bringen Millionen für ihre Bolksgenossen in jenen

Ländern auf, bauen ihnen Kirchen und Schulen, imterstützen sie wenn sie

auswandern wollen.

Wir Deutsche haben keinen Heller übrig für Tau­

sende und aber Tausende der Unsern, die dort seit Jahren bereits leben ohne Schule, ohne Kirche, ohne Pfarrer, ohne Schutz und Hülfe wenn

sie

in Noth

kommen.

Im

Königreich

Polen

leben

heute weit

über

100,000 Deutsche, und dort fände sich Raum für eine weit größere Zu­

wanderung, wenn dieselbe unterstützt würde.

In Litthauen steht der in­

tensiven Kultur des Bodens ein großes Gebiet offen, und ich habe nicht gehört daß hier etwa

ein Widerstand

der

deutsche Einwanderung zu überwinden wäre.

russischen Regierung

gegen

Dagegen kenne ich beispiels­

weise dort dicht an der Grenze von Ostpreußen den Kreis Telsch, in welchem über 1000 deutsche Ansiedler leben.

Sie sind meist Bauern und

Handwerker, haben rücht die Mittel um eine Pfarre zu gründen.

Ver­

gebens haben sie durch ihren erwählten Vorstand sich nach Deutschland

um Unterstützung zum Bau einer Kirche, zur Gründung einer Pfarre ge­ wandt.

Eine hohe Frau hat allein von allen Deutschen die Hand ge­

öffnet; die kirchlichen Vereine und ähnliche Anstalten haben zu viel damit zu thun in China oder sonstwo Missior: zu treiben oder in den Haupt­

städten der Welt Kirchen zu bauen, als daß sie sich darum kümmern

könnten was in ihrer Nähe vorgeht.

Dort drüben kann man täglich

solchen deutschen Auswandererfamilien begegnen, die nur deßhalb zu Grunde

gehen, weil sie keine Leitung, keine Stütze von der Heimath her haben. Sie ziehen mit Weib und vier Kindern von Mecklenburg, Pommern,

Schlesien, Sachsen, Preußen aus hinüber, mit der muthigen Erwartung,

dort durch ihre Arbeit sich Raum zu erschaffen.

Drüben aber kennen sie

die Sprache nicht, noch daö Gesetz, werden betrogen, wohl auch verführt

und verwildert, und kehren oft bettelnd in die Heimath zurück.

Der gute

Rath eines dort festsitzenden OrtSpfarrers, die genaue und hülfsbereite Aufsicht eines mit speciellen Mitteln ausgestatteten und durch private Ver­ bände im Lande unterstützten ConsulS könnte Tausenden jährlich festen

Erwerb und Wohnsitz schaffen.

Statt dessen sagt man von jener Seite

her diesen Leuten: zeugt nicht vier sondern blos zwei Kinder und bleibt zu Hause! —

Trotz aller Abneigung der Russen gegen uns ist es ihnen noch nie­ mals in den Sinn gekommen uns die Einwanderung zu verbieten; da­

gegen haben sie seit Peter und Katharina oft genug uns hiezu drin­ gend eingeladen.

Die ungeheure Ausdehnung Rußlands gestattet nicht

mir, sondern verlangt die Einwanderung fremder Elemente um die neusten

Landstriche schneller zu kultiviren und die Kulturfähigkeit des eigenen Volkes Wenn jemals Rußland seine Grenze gegen Einwanderung

zu wecken.

sperren wollte, so würde, fürchte ich, die Folge davon ein Krieg sein,

weil seine stärker bevölkerten Nachbarn über kurz oder lang solche Been­

gung nicht ertragen,

nicht dulden könnten.

Der Wettstreit der Kultur

muß in gewissen Grenzen freibleiben, wenn er sich nicht in den Weltstreit

der Gewalt umsetzen soll.

Indessen ist uns der Wettstreit der Kultur dort

vorläufig nicht versagt, und so brauchen wir keinen Kampf der Waffen zu

besorgen.

Welch ein Feld nährender Arbeit jedoch dort noch unbesetzt ist,

mag man aus einigen Ziffern sehen, die ich einem russischen statistischen

Werke entnehme. Das heutige europäische Rußland umfaßt über 500 Millionen Hektaren

Landes, d. i. mehr als 55 Prozent von ganz Europa, wobei eö durch­ schnittlich etwa 700 Bewohner auf die Quadratmeile enthält.

Daß es

groß und dünn bevölkert ist, dürfte im Allgemeinen in Deutschland wohl bekannt sein.

Welche Landstrecken indessen noch völlig unbebaut daliegen,

mag nicht so allgemein im Gedächtniß von Jedermann sein.

Vorerst

schließen wir die fast unbewohnbaren nördlichen Moore aus, mit (Alles

in abgerundeten Zahlen) 21 Millionen Hektaren.

dem reichen Boden des Südens

Dafür finden wir in

und Südostens 27 Millionen Hektare

Weideland nomadisirender Völkerschaften; ferner eben dort an den Ufern deS Pontus und des Asowschen Sees und am Ural 9 Millionen Hektare,

den ebenfalls vorwiegend nomadisirenden Baschkiren gehörig.

In dem

unter jenen 27 Millionen Hektaren enthaltenen Gebiet der Kosaken vom

Don finden sich beispielsweise etwa 172 Million Hektare, die einfach als

„Reserveland" der Kosaken verzeichnet stehen und völlig unbenutzt liegen;

ebenso giebt es in jenem Gubernium noch private Pferdeweide in einem Gesammtumfang von etwa 850,000 Hektare. Diese Millionen sind meist reicher ebener Ackerboden. Weiter nmfassen die zarischen Apanagengüter 8 Millionen Hektare, und die Domänen gar 165 Millionen Hektare. — Von dieser Fläche, welche allein die fünffache Größe von Preußen hat, haben die Apanagen 6 Millionen Hektare Forsten, die Domänen 140 Mill. Hektare Forsten. In diesen Ziffern sind zudem die ungeheuren Wald­ flächen des Guberniums Archangel, etwa 67 Bkillionen Hektare, sowie die Domänen von Finnland und Polen nicht eingeschlossen. Es giebt hier­ nach in Rußland allein Staatsforsten in mehr als der fünffachen Aus­ dehnung von ganz Preußen, von denen ein großer Theil, völlig unbe­ nutzt, guten Ackerboden bedeckt. Der Staat besitzt ferner etwa 5 Mill. Hektare in landwirthschaftlicher Nutzung stehender Güter, er läßt seine Gestütspferde auf 58,000 Hektaren weioen. Er besitzt weiter freies, zur Ansiedelung geeignetes Land in den südlichen Gubernien der Schwarzerde über 3 Millionen Hektare. In jenen Gllbernien der Schwarzerde, wo seit Jahrhunderten ohne allen Dung das Feld bestellt wird und dennoch noch heuer eine so reiche Ernte gemacht werden konnte, daß gegenwärtig ungezählte Mengen Korns dort auf dem Felde faulen, in diesen von der Natur so reich wie kein 'anderer Theil Europas ausgestatteten Ebenen giebt es heute noch außer jenen 3 Millionen Hektare Domanialland 16 Millionen Hektare freies, b. h. unbebautes Land privater Besitzer und endlich die schon erwähnten Weideländereien der Nomaden, zusammen ein unbenutztes fruchtbares Gebiet von etwa zwei Dritteln der Größe Preußens. Stellt man die Ziffern für die wirthschaftliche Nutzung des europäischen Rußland zusammen, so zeigt sich nach jener russischen Statistik Folgendes. Das Reich enthält Acker 11 Millionen Hektare, Wiesen 56 Millionen Hektare, Wald 152 Millionen Hektare, und unbenutzten Boden 184 Mill. Hektare. Nimmt man die Forsten auch als unbenutztes Land, was sie zum weitaus größten Theil wenigstens sind, so erhält man etwa 330 Mill. Hektare unbenutzten Landes im Osten Europas. Davon ist ein Theil freilich in so nördlichen Himmelsstrichen gelegen und von so ungünstiger Bodenbeschaffenheit, daß er vorläufig kaum als Kolonisationsgebiet in Aussicht genommen werden kann. Ein anderer Theil aber umfaßt den fruchtbarsten Boden ullter einem nicht allzu rauhen Himmel, einen Boden, welcher bisher fast unberührte und unermessene Schätze an Steinkohle und Erzen birgt, und welcher immer noch vielfach die Ausdehnung von Deutsch­ land in sich schließt. Diese unbenutzten Ländereien sind zudem nicht weit hinten am Ural, sondern wer über die russische Grenze geht, kann be­ merken, wie sie überall zu finden sind. Dicht an unserer Grenze dehnen

sich solche unbenutzte Ländereien in Gestalt von bäuerlichen Gemeinde­

weiden überall endlos aus.

Sie geben fast keinen Ertrag, theils weil das

Gesetz diese Mißwirthschaft aufrecht hält, theils weil, von dem Gesetz

unterstützt, der Bauer in seiner allen extensiven Schlenderwirthschaft be­ harrt.

Dieses fruchtbare Land produzirt auf seinem Acker nur den achten

Theil von dem was der schlechtere Acker Englands trägt, die Gubernien

der Schwarzerde liefern blos daö 3 bis 6 Korn. — Erwägt man diese

Berhältnisse, welche eben nur möglich sind in einem so dünn bevölkerten Lande wie Rußland, so wird man zugeben, daß hier noch für Menschen­ alter ein ausreichendes Gebiet für menschliche Arbeit und Erwerb aller

Art offen steht.

Und Rußland kann in absehbarer Zeit nicht an freien

Lande Mangel leiden, da ihm außer den angeführten gewaltigen Landstrecken, in Asien etwa 300,000 Quadratmeilen kaum berührten BodenS offen stehen.

Reben Rußland bieten die andern östlichen Theile Europas wenn nicht gleiche, so doch ähnliche Verhältnisse der Dichtigkeit der Bevölkerung und der Ausbeutung des Bodens dar.

Ohne auf Zahlen einzugehen

erinnere ich an die fruchtbaren und wenig bebauten Ebeilen Ungarns, die

reichen Thäler und Wälder Bosniens und Serbiens, die verschwenderisch

von der illatur gewährten Bedingungen einer hohen Kultur in den gegen­

wärtig sehr wenig kultivirten Gebieten von Rumänien und Bulgarien. Welche triftigen Gründe nöthigen uns aber an den Küsten Europas stehen zu bleiben?

Welche stichhaltigen Einwände hindern uns an der

praktischen Verfolgung der immer stärker werdenden Aufforderung unser Volk den Aiitanspruch auf die weite Welt zu sicher«?

geworden oder sind wir so klein geblieben?

Ist die Erde so klein

Rund um unS her streben

die Völker europäischer Kultur hinaus auf die Kampfplätze der größeren Welttheile; selbst die jüngste einheitliche Nation von Italien stellt ihre Forderungen auf einen Antheil an der Zukunft von Afrika; Frankreich

erobert in Tunis, Rußland in Mittelasien, Niederland im indischen Ar­ chipel, endlich England überall.

Und wir allein sollten ausgeschlossen

bleiben von der allgemeinen Vertheilung der Erde? — Die Einen sagen: es sei gar kein Vortheil überseeische Kolonien zu

haben.

Kolonien seien für das Mutterland ein theurer Luxus, der Handel

sei kosmopolitisch, der deutsche Kaufmann könne unbehindert in fremden

Kolonien seinen Erwerb suchen, wenn er nur durch Handelsverträge ge­

schützt werde.

Das Manchesterthum hat seine freihändlerische Weisheit

natürlich auch dem Weltverkehr angepaßt und erwartet für Deutschland einen reichen Kolonialhandel ohne deutsche Kolonien.

zu säen.

Es will ernten ohne

Inzwischen aber arbeitet der deutsche Kolonist und zum großen

Theil auch der deutsche Kaufmann in allen überseeischen Ländern mehr für England als für Deutschland, und England öffnet immer neue Kolo­

nien, die rechtlich dem Deutschen wohl offen stehen, thatsächlich aber ihm nur unter der Bedingung zugänglich sind, daß er schleunig sich von Deutsch­

land lossage und Engländer werde.

Es ist genau dieselbe Erfahrung,

welche wir mit dem Freihandel in der Heimat selbst machen: die volle

Berkehrsfreiheit ist das beste Monopol für den Starken zur Unterdrückung

des Schwachen.

Was der große Kapitalist gegeriüber dem kleinen Manne

hier zu Hause ist, das ist der Engländer draußen im Weltverkehr gegen­ über dem Deutschen.

Will der Deutsche in Amerika, am Kap, in Australien

oder Indien für englische Märkte mit englischen Schiffen in englischen Geschäftsformen und englischer Sprache arbeiten, d. h. will er englisch

werden und England dienen, dann gut, er wird als tüchtiger Arbeiter

gern ausgenommen.

Will er deutsche Waaren auf deutschen Schiffen

fruchten oder gar in Sprache, Recht, Sitte deutsch bleiben, so ist für ihn

kein Raum vorhanden, er erliegt der Uebermacht der englischen Eoncurrenz.

So sehen wir wohl englische Kolonien aufblühen durch die Ansiedelung von einigen hundert Engländern, aber keine deutschen Kolonien entstehen

auch dort wo die Deutschen nach Tausenden und Hunderttallsenden zahlen. Gegenüber dem Engländer bringt die freie Eoncurrenz uils überall in eine national dienende Stettinlg, und nur wo wir mls gegenüber Spaniern

oder Wilden befinden, vermögen wir dank der löblichen Freiheit des Ver­

kehrs den Gegnern das Joch über den diacken zu legen. Was macht es einem unternehmungslustigen kräftigen Manne bei

uns so schwer sich zur Auswanderung zu entschließen außer wenn die Roth

ihn zwingt? Bor allem doch wohl die Aussicht in ein Land zu kommen, wo er eine fremde Sprache, fremdes Recht, fremde Sitte, erst zu erlernen, gänzlich neue Beziehungen erst anzuknüpfen hat.

Was erschwert ihm

drüben in Rußland oder in Amerika die Ansiedelung?

wieder fremde Sprache, Recht, Sitte, Menschen.

Bor Allem wohl

Diese Hindernisse sönnen

nur fortgeräumt werden dort, wo eine geschlossene deutsche Kolonie die

heimische Sprache, Recht und Sitte mitgenommen und mit angesiedelt hat, wo feste Beziehungen zu heimischen Menschen und Berhältnisse zu deut­

schem wirthschaftlichen und auch staatlichen Leben bestehen. wohl zu unterscheiden zwischen fremden Kolonien.

dem Kaufmann

Zudem ist

und dem Ansiedler in

Der Kaufmann ist in gewissem Grade kosmopolitisch,

er überwindet leichter jene Hindernisse des fremden Bolksthums, weil dieses

Volksthum ihm weit weniger fremd ist als dem Ansiedler, weil der kauf­

männische Beruf ihn auch daheim nöthigt mit fremden Völkern den Ber­ kehr zu pflegen und ihn so für die Festsetzung auf fremdem Boden vor-

bereitet.

Es wird ihm leichter eine Factorei in Afrika zu gründen als

dem deutschen Arbeiter in Neuyork Arbeit zu finden oder in Wisconssin Farmer zu werden.

Die Freiheit des Handels, gute Handelsverträge

kommen allenfalls dem Kaufmann zu Gute, nützen jedoch wenig der großen

Masse der Auswanderer, auf welche es vorwiegend uns ankommt.

Und

doch sind die Schwierigkeiten in fremden Kolonien Fuß zu fassen auch für den Kaufmann sehr bedeutende.

Es erfordert eine lange und innige

Vertrautheit mit den fremden Handelsverhältnissen, um ohne zu große Wagniß von Hamburg aus

eine Commandite in Hongkong anzulegen,

eine Vertrautheit, welche nur wenige große Handelshäuser zu erlangen vermögen.

Das große Princip der Freihändler, ihr Widerwille gegen

deutsche Kolonien kommt daher auch hier wie überall dem Großhändler, dem großen Kapital zu statten.

Der kleinere Kaufmann wird erst dann

mit Sicherheit in den Kolonialhandel eintreien können, wenn er in deutsch

verwalteten, deutsch rederwen, in deutschen Rechtsformen lebenden Kolonien bekannten Boden für neue Unternehmungen vorfinden wird.

Den geringsten Nutzen bringt die Freiheit des Verkehrs auf dem

Weltmärkte dem Ansiedler, der in der Fremde sein Bolksthum verliert. Man macht ihm daraus sogar gewöhnlich einen Borwurf.

mit keinem Recht.

Wie mir scheint

Denn man darf dem Einzelnen nicht dasjenige zur

Last legen, was seine nothwendige Begründung in dem Allgemeinen hat.

Der Vorwurf, wenn ein solcher überhaupt erhoben werden dürfte, wäre nur gegen llns selbst als Volk und Staat zu richten.

Der Einzelne ist

außer Stande dem Einflüsse eines fremden Volkes von überlegener Kultur-

kraft zu widerstehen.

Die Erfahrungen hiefür liegen nahe und klar genug.

In Amerika, Asien, Australien unterliegt der Deutsche dem Engländer.

In Elsaß-Lothringen vermag er auch mit Hülfe der Staatsmacht nur sehr

schwer das einmal eingedrungene Franzosenthum abzuwehren.

In Böhmen,

Mähren, Ungarn verliert er nur schwer seine deutsche Nationalität trotz

des staatlichen Druckes, der ihn dazu treibt.

In Polen, in Rußland erhält

sich der Delttsche am sichersten deutsch, auch nachdem er ein Jahrhundert lang mitten unter einem fremden und ihm keineswegs wohlgesinnten Volke

gelebt hat.

Die Kräfte des nationalen Charakters, der geistigen Ent­

wickelung, der materiellen Mittel, des nationalen Bewußtseins — das Alles

zusammen bildet die Bedingung für Erhaltung oder Verlust des Volks­

thums in einem fremden Lande.

Hierin sind wir den Slaven überlegen,

während wir den Franzosen an materiellen Mitteln, wirthschaftlicher Kraft nationalem Bewußtsein, auch an manchen Talenten der verfeinerten Kultur

nachstehen.

Mit dem Engländer können wie uns in alle dem, was die

Triebkraft des Weltverkehrs ausmacht nicht messen.

Die Arbeitskraft und

302

Auswanderung, Kolonisation und Zweikindersystem.

die materiellen Mittel des englischen Stammes, seit zwei Jahrhunderten

stetig gewachsen und gestählt, die lange Gewohnheit und Uebung der Herr­ schaft in allen Welttheilen, bilden eine nationale Uebermacht, welcher der

einzelne Deutsche sehr schwer wiederstehen kann sobald er mit ihr zu kämpfen hat.

Und dieser Kampf tritt überall ein wo der Deutsche auf

englischen Kolonialboden tritt.

Selbst die Millionen Detttscher, die Nord­

amerika heute ausgenommen hat, haben sich national der Ueberlegenheit des englischen Wesens beugen müssen, haben mit den Formen und Wegen

englischen Erwerbslebens, mit den Formen des Reichslebens ausgenommen auch die Art des Familienlebens, mit der wohlgeschulten Denk- und Hand­

lungsweise des englischen Kaufmannes, Handwerkers, Landmannes auch die fremde Sprache, mit den Interessen für Londoner Fabrikate, Hüller

Rhederei und Großbritannischen Geldmarkt atlch das Interesse für die

nationale und staatliche Größe von Großbritannien. Kaum aber findet der Deutsche in Südbrasilien einet! Fleck Erde unbesetzt von Engländern oder Franzosen, so sehen wir ihn, ob auch nur in einer geringen Menge

vertreten, dennoch selbständig bleiben.

Ich verweise hier auf eine Schrift von Herrn Hübbe-Schleiden überdeutsche Kolonisation, in welcher Frage der genannte Verfasser bereits

feit längerer Zeit thätig ist*).

Die darin gegebenen Ziffern erweisen,

daß der Handelsverkehr mit Brasilien, insbesondere die Ausfuhr von

Deutschland dorthin, einen verhältnißrnäßig weit lebhafteren Gang genommen hat als der Handelsverkehr mit Nordamerika, und zwar bedingt durch den

Umstand, daß während die deutschen Auswanderer in Nordamerika schnell in die englischen Handelsströmungen hineingezogen werden, die 56,OO0Deutsche,

welche sich bis 1879 in Brasilien niedergelassen, den Beziehungen zum Mutterlande treu geblieben sind.

Die hier einander entgegenstehenden

Ansichten werden durch folgende beide Aussprüche ausgedrückt: H. Dr. Kapp meint „ein namhafter Theil unserer Ausfuhr nach den Per. Staaten wird

durch die deutsche Auswanderung dahin veranlaßt".

H. Hübbe-Schleiden

sagt: „Je stärker das Nationalbewußtsein eines Volkes und je nationaler die auswandernden Elemente in Sprache und Sitte erhalten bleiben, desto

mehr, wird auch die Ausfuhr und somit der Wohlstand der Nation durch

solche Auswanderung gefördert".

Was H. Dr. Kapp behauptet, ist ohne

Zweifel in so weit richtig, als unsere Ausfuhr nach den Ver. Staaten

hauptsächlich von unsern dortigen Auswanderern getragen wird.

Es fragt

sich nur, welchen Bruchtheil diese unsere Ausfuhr ausmacht von der ge-

*) Deutsche Kolonisation, eine Replik auf das Referat des H. Dr. Kapp über Kolo­ nisation und Auswanderung, Hamburg bei Friedrichsen, 1881. 3 Mk.

fammten Ausfuhr, die durch die Deutschen in den Ver. Staaten getragen

wird.

H. Hübbe-Schleiden giebt uns eine Tabelle, welche zeigt, daß die

englische Ausfuhr nach den Der. Staaten 16,79 M. auf den Kopf der

englischen Bevölkerung beträgt, die deutsche nur 2,75 M. auf den Kopf der Bevölkerung Deutschlands; daß die Zahl der ausgewanderten Fran­ zosen in den Ver. Staaten 314,199, die der Deutschen 2,882,849 be­

trägt, die Ausfuhr pro Kopf der Bevölkerung aber in Frankreich 6,54 M., in Deutschland 2,75 M.

Dieses Mißverhältniß ist allerdings zum Theil

zurückzuführen auf die geringere Fähigkeit Deutschlands zur Ausfuhr, zur

Concurrcnz mit englischen und französischen Producten.

Zum andern Theil

aber darauf, daß die Deutschen in den Ver. Staaten zum sehr großen

Theile die deutschen Handelsbeziehungen verlassen und in die englischen aufgchen.

Ferner hat die deutsche Auswanderung bis

1879 betragen

nach den Ver. Staaten 2,882,849 Personen, nach Brasilien 56,038 Per­

sonen, unsere Ausfuhr aber betrug durchschnittlich pro Kopf der Bevöl­ kerung in den Ver. Staaten 2,65 M., in Brasilien 1,82 M.; während

also unsere Auswanderung in die Ver. Staaten 50 mal größer ist als die nach Brasilien, erkaufen wir an den Nordamerikaner nur soviel als an den Brasilianer.

doppelt

Mit andern Worten (immer angenommen

daß unsere ganze Ausfuhr von den Auswanderern getragen wird): ein Deutscher in Brasilien verkauft eben so viel deutsche Waaren an einen Brasilianer, als 25 Deutsche in Nordamerika an einen Nordamerikaner absetzen.

Diese Ermittelungen geben uns einen Anhalt für die Beur­

theilung der Intensität in den Beziehungen zu unseren Auswanderern in

den Ver. Staaten und in Brasilien.

Sie nnlerstützen lebhaft den oben

angeführten Satz des H. Hübbe-Schleiden.

Und wenn so die Erfahrung

auf einen engen Zusammenhang zwischen der Stärke des Handelsverkehrs und der Stärke und Dauer des Volksthums bei den Auswanderern hin­ deutet, so führt uns die theoretische Betrachtung dieses Gegenstandes zu eben denselben Annahmen hin.

Denn wie könnte man etwa von einem

Frankfurter Handelslehrling, der in ein Handelshaus zu Neu-Jork tritt, erwarten daß er, wenn er Jahre lang englische Waare nach englischen Häfen und aus englischen Plätzen, nach englischen Handelsgewohnheiten,

auf englischen Schiffen, nach englischem Recht und in englischer Sprache vertrieben hat, von dem Augenblicke an, wo er dort ein eigenes Haus

gründet, alle diese Beziehungen, Kenntnisse, Gewohnheiten und Vortheile aufgeben werde zu Gunsten Deutschlands?

Es besteht aber in Neu-Jork

wohl kein Handelshaus, in welchem nicht wenigstens ein Theil der eben

angeführten englischen Verkehrselemente herrschend

wäre.

Wie könnte

man vom deutschen Industriellen, der nach langen Mühen sich zum Fabrik-

Herrn in Chicago aufgeschwungen,

erwarten daß er die englischen ihm

inzwischen vertraut gewordenen Weltmärkte für seine Fabrikate bei Seite lassen und die engeren Absatzgebiete Deutschlands aufsuchen werde, es sei

denn daß die Concurrenz ihn vorerst dazu genöthigt hätte? Der arme Handlungslehrling, der unbemittelte Industrielle aber sind eben die Leute, die auswandern, nicht der reiche Mann, welcher gleich ein großes Geschäft,

eine eigene Fabrik drüben errichten könnte.

Und was von Handel und

Industrie, das gilt ebenso von der Masse der Handarbeiter und Acker­

bauer.

Ehe der deutsche ansgewanderte Handarbeiter dazu kommt in un­

mittelbaren Verkehr nach Auswärts zu treten, hat er längst dem Drucke seiner englischen Umgebung nachgebend einen Theil seines VolksthumS und die meisten Beziehungen zur Heimat eingebüßt.

Wenn der mecklen­

burger Bauer sich in Ohio zum reichen Farmer aufgeschwungen hat, so

sind ihm die Absatzgebiete Englands inzwischen weit vertrauter geworden als diejenigen Deutschlands.

Delltsche Großbesitzer kaufen aber in fremden

Welttheilen ebenso wenig Ackergüter als

deutsche

Großhändler dorthin

auswandern; es ist stets der arme oder wenig habende Mann, der hinüber­

geht um nach Jahren dort zu selbständigem Erwerbsleben sich aufzuarbeiten.

Ich meine, es müßte doch für Denjenigen, der die Verhältnisse

der Auswanderung nicht aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, keiner

langen Beweise bedürfen um darzuthun daß eine volksthümlich gefestigte Auswanderung, eine deutsche Kolonie nicht blos sehr bedeutende Erleich­ terung für den deutschen Auswanderer, sondern sehr große Vortheile dem

deutschen Handel bieten müssen gegenüber einer Auswanderung in fremde Kolonien.

Von Hamburg und Bremen ab befindet sich der Auswanderer

auf deutschem Schiffe, unter deutschen Genossen und unter dem Schutz des

heimischen Staates und Rechtes.

Er kommt in der Kolonie sofort in

Verhältnisse, die ihm zum Theil schon daheim durch Briefe, Zeitungen, Erzählungen bekannt wurden; er findet sich unter Gleichredenden leicht

zurecht, der Mecklenburger stößt leicht auf einen Landsmann der sich seiner

annimmt, der Handelslehrling hat seine Empfehlungen, der Schulmeister kennt die Namen geachteter Fachgenossen aus deutschen Zeitungen, und

widerfährt jemandem eine Ungebühr, so sind ihm die Formen des deut­ schen Rechtes einigermaßen bekannt, er weiß was er fordern und von

wem er sein Recht fordern darf.

Im Unglück wird der Mainzer hier­

bei einem Cölner eher Hülfe finden als in Boston bei Engländern oder

Franzosen; im Glück wird er sich eher seiner alten Beziehungen in der Heimat erinnern als wenn er in West-Chester seit Jahren nur von Eng­ land gehört und Niemanden gehabt hätte, mit dem er von seinem Leben

am Rhein plaudern konnte.

Sobald seine Lage ihm gestattet, sich nach

einem Absatz für eigene Erzeugnisse umzusehen, wird er zuerst darauf

auSgehen, dieselben in der Heimat abzusetzen; sobald er unternimmt euro­

päische

Tuche, Instrumente, Chemikalien einzuführen, wird

er vorerst

suchen mit Handelshäusern am Rhein in Verbindung zu treten, die ihm

von früher her oder aus seiner Arbeit in einem älteren dorthin handelnden Handel, Production, Arbeit verlangen feste Orga­

Hause geläufig sind.

nisation und halten sich möglichst an dieselbe wo sie sie vorfinden.

Ist

die Organisation eine deutsche, so werden sie eher deutsch bleiben als wenn die Organisation eine fremde ist.

Sie werden um so weniger deutsch

bleiben können wenn sie eine so feste, überlegene Organisation des wirth-

schaftlichen Gebens vorfinden, als allenthalben in englischen Gebieten be­ steht, ob diese Gebiete nun der großbritannischen Krone oder dem Ster­

nenbanner gehorchen. Der Nutzen, welchen Deutschland von einer volköthümlich deutschen

Kolonisation zöge, wäre schwerlich zu verkennen.

Allein wenn man die

Theorie auch aufgiebt, daß Handel und Verkehr am besten ohne alle Rück­

sicht auf nationale Gebundenheit oder Organisation gedeihen, so stellt sich der Befürwortung deutscher Kolonisation noch ein anderer Einwand ent­ gegen, nämlich der, daß Deutschlands Macht zur See nicht auSreiche, um

deutsche Kolonicen über See sich bilden zu lassen. Man sagt, die Eifersucht Englands werde jedem solchen Plane entgegentreten und das deutsche Reich sei wenigstens gegenwärtig nicht in der Lage sich in England einen neuen

Feind zu schaffen oder gar demselben auf diesem Gebiete die Gewalt ent«

gegenzusetzen.

Das ist in gewissen Grenzen wohl richtig.

Wir können

für die Gründung einer Kolonie in Ostafrika oder um der Erwerbung von Samoa willen es nicht auf einen Krieg mit England ankommen lassen.

Aber wir brauchen deshalb auch nicht auf jeden staatlichen Schutz,

noch weniger auf jede staatliche Unterstützung zu verzichten. hiezu denn immer einer staatlichen Kriegsmacht?

Bedarf es

Sind denn die großen

Kolonialreiche Englands, Hollands, Portugals durch englische, holländische,

potugiesische Heere

oder Kriegsflotten

gegründet worden?

Die einzige

neuere rein staatlich errichtete Kolonie ist Algier, und sie ist die am

schlechtesten gegründete.

England ist, abgesehen von der Besetzung der

strategischen oder die Kolonisation sonst unterstützenden Punkte, fast immer von Staats wegen den Spuren seiner privaten Kolonisten nachgefolgt, es ist nicht vorausgegangen.

England pflegte stets nur zu erobern was von

Engländern bereits in Besitz genommen war.

Auf diesem Wege sind die

größten Kolonialstaaten, sind die Vereinigten Staaten, brittisch Indien,

holländisch Indien, Neuholland, Canada, Kapland entstanden.

Staatliche

Macht ist nur dort vonnölhen, wo feste staatliche Macht zu überwinden

Ist, wie etwa in China oder Japan; den Widerstand roher Naturvölker

zu überwinden genügt die Kraft freier deutscher, englischer, niederländischer

Kolonisten, ihr Erwerbstrieb, ihre Intelligenz, ihre angeborene staaten­ bildende Kraft der Organisation.

Was dem Staate zu thun übrig bleibt

ist: die Richtung der Kolonisation anzugeben, mit den vorhandenen Mitteln

an Ansehen, Geld

und Kriegsmacht den Kolonisten

beim Erwerb von

Land, bei Verträgen mit fremden Staaten oder Völkerschaften zu helfen, das Auswanderungswesen in

der Heimath zu überwachen,

eigennützige

ausbeutende Agitation zu hindern, die Auswanderung in feste geregelte Bahnen mit bestimmten

concentrirten Zielen zu

lenken,

zwischen der Kolonie und dem Mutrerlande zu sichern,

schützen.

den Verkehr

den Handel zu

Dazu bedarf es keines außerordentlichen Aufwandes von staat­

licher Macht, und dieser- Aufgabe ist unsere Seemacht gewachsen.

Ein

Krieg wäre auch dann ausgeschlossen, wenn die Kolonie von einer Groß­

macht bedroht wäre, weil seine Ehre nicht die Vertheidigung der Kolonie Ist etwa eine deutsche afrikanische Compagnie außer Stande

forderte.

einen äußeren Angriff selbst abzuwehren, ist Deutschland nicht in der Lage

sich erfolgreich für sie zu verwenden, nun so mag die Kolonie als deutsche Kolonie auch wieder unlergehen.

Was wäre dabei weiter verloren als ihr

deutsches Volksthum, als dasjenige was unsere heutige Auswanderung von Hause aus

entbehrt?

Hätten die

Niederländer etwa Natal,

Oranje,

Transvaal nicht gründen sollen, weil sie eine dieser Kolonieen nach der

anderen an England verlieren?

Sollen wir etwa deshalb den Versuch

Zanzibar oder Neuseeland zu kolonisiren nicht wagen, weil ein deutsches

Zanzibar oder Neuseeland vielleicht nach dreißig Jahren von den Eng­

ländern uns fortgenommen werden könnte? loren?

Was hätten wir dabei ver­

Jetzt wird jeder unserer Auswanderer gleich bei seiner Nieder­

lassung in einem anderen Welttheil Unterthan des englischen Stammes. In Zanzibar würde er dreißig Jahre lang Deutscher bleiben, arbeiten und

erwerben in reger Verbindung mit dem Mutterlande,

und vielleicht

würde er auch nach dreißig Jahren nicht von Fremden erobert, vielleicht

blühte die Kolonie zu einem starken, unabhängigen deutschen Staate empor.

Auch die Möglichkeit eines solchen Vortheils für die Nation hat ihren Werth. —

„Auch für die Nationalität ist Leben nur weitere Ausbildung; man­

gelnde Fortentwickelung ist Verfall, der zum Untergang des Volkstypus führt.

Der Entwickelungsgang der Civilisation strebt unverkennbar dar­

nach, das gesammte Menschengeschlecht dereinst zu einem Ganzen solidarisch

zu verbinden mit einem vorherrschenden Grundtypus, dem gegenüber die jetzt Gleichberechtigung beanspruchenden Nationalitäten nur als untergeord-

nete Abarten erscheinen werden.

Auch heute schon erscheint dem Weiter­

blickenden, der sich in aller Welt selbstbewußt geltend machende Typus

des englisch denkenden und redenden Menschen als der Anfang und Kern solches zukünftigen Grundtypus."

Ich führe diesen Satz des H. Hübbe-

Schleidcn nicht an, weil mir etwa seine englische Zukunftswelt sehr wahr­

scheinlich erschiene.

DaS Ende der Jahrhunderte, welche vergehen mußten

ehe der Thurm von Babel durch Engländer wieder anfgerichtet werden

könnte, ist in so weiter Ferne, daß ich kaum wagen würde vorauszusagen, ob Britannien bis dahin noch als meerumspültes Eiland bestehen werde

oder nicht.

Jener Satz aber drückt lebhaft das Bewußtsein eines die fünf

Welttheile kennenden Mannes von der nationalen Stellung der Angel­ sachsen auf der Erdkugel aus.

Der Handel ist die Grundlage für die Weltstellung eines Volkes.

Seit aber die Niederländer auf dem Meere vor zwei Jahrhunderten von

den Engländern niedergeworfen wurden, stieg der Welthandel der letzteren stetig empor.

Auf dieser Grundlage des Handels erwuchsen die gewaltigen

englischen Kolonieen, Handel und Kolonieen liehen wiederum England die

Kraft so riesigen Ansturm zu ertragen als die napoleonischen Kriege und die Eontinentalsperre.

Die Vereinigten Staaten rissen sich los, aber der

angelsächsische Handel wuchs immer weiter.

umfaßte der Welthandel des

Nach H. Hübbe's Tabellen Volkes im Jahre 1855:

angelsächsischen

61 Prozent des gesammten Welthandels aller Völker.

Dieser Antheil der

Angelsachsen an dem Handelsumsätze der Welt ist gestiegen bis zum Jahre 1875 auf 70 Prozent.

Von den etwa 13000 Millionen Mark, die jährlich

auf der Erde im Handel umgesetzt werden, fallen auf die Angelsachsen etwa 8000 Millionen.

Die Bedeutung dieser Ziffern liegt nicht in ihrer ab­

soluten Genauigkeit, sondern in ihrer annähernden Angabe deö Verhält­ nisses zwischen angelsächsischem und Welthandel.

Der riesenhafte Waaren--

verkehr der Engländer, die fast unbegrenzten Absatzgebiete, der entsprechende Umfang der Production und der Productionsfähigkeit, der ununterbrochene

Strom nicht blos der Waaren, sondern auch der Menschen, der Ideen, der Arbeit, welcher England mit seinen-Kolonieen verbindet, einerlei ob

sie unter dem Kolonialminister zu London stehen oder unter eigener un­

abhängiger Regierung; die Vertrautheit mit den Kulturbedingungen aller

Welttheile: das ist die Größe Englands, die Ueberlegenheit des angel­

sächsischen Stammes.

DaS heutige England selbst wäre unmöglich ohne

diese Grundlage der überseeischen Stellung.

Nur zu oft vergißt man in

dem blinden Eifer englische Zustände nachahmen zu wollen, daß England

nicht blos aus den großbritannischen Inseln mit seineu 35 Millionen Ein­

wohnern besteht, sondern diese Inseln nur das Herz eines größeren KörPreußischc Zahrbucher. Bd. XL1X. Jgeft 3.

21

pers sind.

Die heutige englische Verfassung sogar, nach welcher unsere

Staatsprofessoren noch immer schreien wie Leute, die nie einen Pferde­ rücken gesehen, nach dem Besitz eines englischen Rennpferdes, die englische

Verfassung wäre nicht möglich ohne die Kolonieen und den Weltverkehr Englands.

Wenn England heute für ein Jahr vom Meer und seinen

Kolonieen abgeschnitten, auf Europa allein beschränkt würde, es müßte ersticken, seine Verfassung müßte in wenig Monaten gesprengt werden wie eine Seifenblase, sein Liberalismus müßte alsbald sich in Anarchie und

wilde Despotie verkehren, sein Majoritätsregiment würde schleunigst auf­

hören die Summe der politischen Weisheit aller Welt zu sein. liberale Staatseinrichtung Englands, die

Was die

aristokratisch freisinnige Ver­

waltung, die feste gesellschaftliche Gliederung, das materielle Wachsthum und die geistig-sittliche Gesundheit erhält, das ist nächst der natürlichen Volksanlage das überseeische Volksleben, der Weltverkehr auf Grund der

Kolonieen, unterstützt durch die Flotte.

Der werthvollste Theil der Frei­

heit, die jeder Engländer hat, ist die Freiheit der Entwickelung lind Ver­

werthung seiner Kräfte, welche ihm in Kolonieen und Handel geboten wird. Ohne diese Freiheit wäre die Freiheit des inneren Staatslebcns

nicht

wohl möglich. In dieser Freiheit wird gedeckt das Bedürfniß eines streb­ samen Volkes nach Bethätigung seiner Kraft, nach Mehrung des Wohl­

standes, nach Ausdehnung seiner wirthschaftlichen Macht und Arbeit, nach Ausdehnung seiner Herrschaft selbst im kulturlichen Sinne.

Jedes; gesunde

Volk besitzt diesen Trieb, selbst der slawische Stamm kultivirt in gewissem

Maße dort wo er in der Kultur niederen Völkern begegnet.

Aber es

kennzeichnet eben die Verschiedenheit der Kulturkraft zwischen Engländern und Russen, daß dort in England zuerst das Volk erobernd vorzugehen pflegt, der Staat nur nachfolgt, hier der russische Staat erobert ehe das

Volk die eroberten Gebiete einnimmt; daß die englische Kolonisation so­ fort befruchtend

auf die Kolonie wie auf das Mutterland

wirkt,

die

russische nur äußere staatliche Kulturformcn in die Fremde trägt und dem

Mutterlande nur selten und sehr spärlichen Vortheil bringt.

Im einen

Falle kolonisirt der Staat aus Politik, im anderen das Volk aus eigenstem

Bedürfniß.

Das Vorhandensein dieses Bedürfnisses ist dem englischen

Volke seit lange zum Bewußtsein gekommen und eine gewaltsame Hin­ derung seiner Befriedigung würde es als äußersten Zwang empfinden.

Unermeßliche gute wie schlechte, schaffende wie zerstörende Kräfte des Volkes finden in den angelsächsischen Gebieten überall Aufnahme, Verwendung.

Die Bedingungen deS Erwerbes, welche zugleich die hauptsächlichen Be­ dingungen der Zufriedenheit sind, bieten sich dem Engländer so verschie­

denartig und so ausgedehnt dar, daß die geringsten Fähigkeiten wie die

höchsten Ansprüche meist ihr Genüge finden können.

Das soziale Leben

eines jeden Volkes wird vorzüglich geregelt und getragen durch die Ver­

hältnisse der Arbeit und des Erwerbes; wo dem Erwerbsbedürfniß, der

Arbeitsfähigkeit aller Klassen stets reichliche und freie Verwerthung ge­ boten wird, ist für daö soziale Wohlbefinden besser gesorgt als durch die

beste Staatsverfassung.

Auf dieser Fülle der Erwerbsverhältnisse ruht

die Gesundheit der sozialen Zustände

Das Leben des

von England.

Volkes fließt so breit und voll dahin durch alle Theile der Erde, daß das

untergeordneter

staatliche Leben Englands

nur

äußerer Schmuck erscheint.

Und dieses Verhältniß kommt dem Staate,

als sein

leichter

und

der englischen Verfassung und Verwaltung in höchstem Maße zu gute.

Ich glaube, daß wenn man von dieser Seite des englischen Staats­ lebens, der Unterstützung des Kolonialwesens und des Handels absieht, wir in Deutschland einer sehr viel besseren staatlichen Verwaltung uns

erfreuen als die englische ist.

Wir würden englische Rechtspflege, viele

Formen der englischen so gerühmten Selbstverwaltung unerträglich finden, weil sie in der That nur erträglich sind bei dem Reichthum der dortigen ErwerbSvcrhältnisse und der breiten auf diesen Erwerbsverhältnissen ge­

gründeten gesellschaftlichen Gliederung.

Ebenso unerträglich wäre für den

Amerikaner die elende staatliche Verwaltung und Verfassung ohne das un­ erschöpfliche Feld deS wirthschaftlichen Strebens, welches dem Einzelnen

gestattet über die Mißstände der staatlichen Gesammtheit hinwegzusehen. Wenn der Engländer mit seiner Lage unzufrieden ist, so klagt er diese

oder jene Person, diese oder jene Erwerbsverhältnisse an, er sucht und findet irgendwo in England oder außer England andere, bessere Bedin­ gungen seines Fortkommens; wenn Jemand in Deutschland unzufrieden

ist, so faßt er zu allererst den Staat ins Auge und findet gar leicht an

ihm

etwas heraus,

was er für die Ursache seines Unbehagens hält.

Grade der Mann der höheren Klassen, der dem Staat und der Politik

näher steht, macht die Regierung für Alles verantwortlich und denkt nicht daran seine Lage durch neue

zu besseren; nur der Arbeiter,

der wenig Aussicht hat durch Politisiren etwas zu erreichen, nimmt den Wanderstab und geht über See. Alle Mißvergnügten der vorzugsweise po-

litisirenden Klassen bleiben im Lande und nähren sich — von fruchtlosen

Beschuldigungen des Staateö.

Sie beschäftigen sich

damit auf immer

neue Formen des öffentlichen Wesens zu sinnen, weil es ihnen an Inhalt deS privaten Lebens

gebricht.

Sie klügeln immer neue Formeln

des

staatlichen Parteitreibens aus und zerreißen mit diesen Parteibildungen

immer weiter die soziale Unterlage des Staates.

Eben weil die Bedeu­

tung des StaateS in England eine so viel geringere ist als in Deutsch-

21*

land, deshalb ist es möglich,

daß dort alle Interessen in zwei großen

Parteien seit Jahrhunderten vertreten werden.

Weil der Einzelne

in

England weiß, daß es für ihn auf die Entwickelung der Gesetze und der

Verwaltung des Staates weniger ankommt als auf richtige Ausnutzung

der ihm in England oder Nordamerika, in Birmingham oder Petersburg, an der Universität zu Cambridge oder in einer Opiumpflanzung Indiens

sich darbietenden Glegenheit zur Verwerthung seiner Fähigkeiten — des­

halb sorgt er wenig um die Vollkommenheit eines Gesetzesparagraphen und ordnet ohne viel Bedenken seine vorhandene oder gar nicht einmal gestaltete Meinung über eine staatliche Maßregel der Meinung der Par­

teiführer unter.

So heftig der Kampf um die Herrschaft der Parteien in

England zu sein pflegt, so sehen wir doch, daß der Unterschied in der

Behandlung der Staatssachen durch beide Parteien ein verhältnißmäßig geringer ist.

Und innerhalb der Partei könnte die Einigkeit nicht eine so

große sein, wenn auf die Staatssachen das Maß von Gewicht, von Sorg­ falt, von Aengstlichkeit im Einzelnen gelegt würde als bei uns in Deutsch­ land.

Daher glaube ich nicht an die Wahrscheinlichkeit, daß auf dem jetzigen

Wege unsere Parteien sich zu wenigen oder gar nur zwei großen Parteien entwickeln werden.

Wir erwarten viel zu sehr alles Heil vom Staate;

wir meinen alle öffentlichen Mißstände durch Aenderung von Gesetzen oder

Verfassung abstellen zu können; sogar der Einzelne ist sehr geneigt, bei jedem sich einstellenden persönlichen Leiden die Blicke in erster Reihe

prüfend und mißtrauisch gegen den Staat zu wenden, dort den Grund

seines Uebels zu suchen und natürlich auch zu finden; um so weniger sind wir geneigt auf eigenste originelle Entdeckungen in der Politik zu ver­

zichten oder solche dem Urtheile Anderer unterzuordnen.

Wir können in

der Politik nur sehr schwer Conzessionen machen,, Kompromisse schließen,

Doctrinen opfern, weil wir uns gewöhnt haben alles Heil und alles Un­ heil von der Politik und ihren Doctrinen zu erwarten.

Wir überschätzen

die äußeren Formen des nationalen Lebens, weil sein Inhalt den na­ tionalen Kräften nicht genügt.

Vielleicht würde Frankreich weniger dem politischen Fieber ausgesetzt

sein, wenn die Franzosen bessere Eroberer wären.

Wir Deutsche haben

seit Jahrhunderten an dem Uebermaß politischer Formen und dem Mangel volklichen Lebens gelitten.

Woran wir kranken war weniger der Mangel

an politischen Rechten und Bethätigungen, als der Ueberfluß an leeren

politischen Formen, verbunden mit der Abgeschlossenheit und Inhaltslo­

sigkeit des wirthschaftlichen Lebens.

Unsere reale Jnteressenwelt gipfelte

in dem Kampf gegen großherzoglich Meiningische Regale oder gegen die

Shstemwidrigkeit eines Paragraphen im Erlasse des preußischen Ministers.

Unser Staat ist Wetter und größer geworden, aber der Inhalt unseres

wirthschaftlichen Wirkens ist nicht in gleichem Maße gewachsen.

Nach wie

vor lugen wir fortwährend aus nach jeder Regung des Staates, beob­ achten wir hypochondrisch jede Aeußerung unseres inneren Lebens, jedes

Wort eines Ministers, jedes NaSrümpfen eines Landraths, jedes Stirn­ runzeln eines Bürgermeisters.

Von ihnen hängt unserer Meinung nach

unser ganzes Befinden ab, sie sind an allem Uebel schuld.

Und doch

giebt es in der Welt keine besseren Minister, Landräthe, Richter, Bürger­ meister, Soldaten, Schutzleute und Briefträger als die unseren.

ist man nirgend

mehr beflissen dieselben

Und doch

für schlecht zu halten.

Kein

Staat ist gesunder organisirt als der unsere und fast keiner wird so gern

zum Sündenbock für alle innere Schäden gemacht.

Je länger dieser Zu­

stand dauert, je größeren Raum die Politik im Denken und Arbeiten des

Volkes einnehmen wird, um so mehr werden sich die Parteien splittern, um so bitterer anfeinden,

um so äußerlicher und inhaltloser wird das

parlamentarische Treiben werden.

Hohler Doctrinarismus und politische

Kleinkrämerei machen sich breit.

Wir brauchen einen

neuen,

weiteren

Inhalt des Lebens, neue Arbeitsgebiete für die wirthschaftlichen Kräfte unseres Volkes, wir brauchen größere Ziele als die Vollkommenheit der Paragraphen, einträglichere Arbeit als das Zungendreschen der öffentlichen

Rednerbühne. — Herr Hübbe-Schleiden deutet in beherzigenswerther Weise auf den Unterschied hin zwischen der Sinnesart unserer „älteren Generation der

resignirenden Patrioten" und derjenigen des „kommenden Geschlechts" voll hochstrebenden Wollens.

Die Generation der Achtundvierziger hat ihre

Verdienste und — ihre Zeit gehabt.

Noch aber ruht unsere Politik in

ihren Händen, noch ist ihre Zeit nicht abgelaufen, und es ist erklärlich,

wenn auch nicht gerechtfertigt, daß sie einzig damit beschäftigt ist was daS

Sinnen und Trachten ihres ganzen Lebens ausgemacht hat: das nationale HauS, nachdem die Mauern endlich unter Dach gebracht sind, immer wieder

von allen Seiten zu betrachten ob nicht hier eine Stütze, dort ein Schmuck anzubringen, hier ein Winkel besser zu nutzen, dort ein Geräth wohnlicher

zu stellen sei.

Die Jugend will draußen schaffen, nicht blos drinnen er­

halten, und wenn dieser Wille noch nicht überall zum Bewußtsein gelangt

ist, so wird die Zeit ihn hoffentlich bald reifen. Schwerlich wird auch die „ältere Generation" gegen folgende Sätze

des H. Hübbe Einwand erheben:

„Die sämmtlichen Kräfte unserer Volkswirthschaft kranken

an der

räumlichen Beschränkheit unseres Wirthschaftslebens." . . . „Unsere na­

tionale Production leidet chronisch an der Vollblütigkeit ihrer Säfte und

Kräfte." . . . „Erst durch daS Hinzutreten der geistigen Ueberproduction wird das Elend der wirthschaftlichen Ueberproduction gefährlich." . . .

„Börsenjobberei, Spielwuth, Unreellität, Gewissenlosigkeit, Schwindel und Verbrechen sind daS Unkraut, welches auf dem Sumpfboden solches er­

stickenden Wirthschaftslebens

gedeiht."

Und ich füge als weitere Gift­

Denn der Geist, welcher heute unsere

pflanze an: kleinstaatliche Politik.

Parteien durchweht, ist leider kaum zu unterscheiden von dem alten klein­

staatlich-deutschen Poltergeist, dem vielgeschmähten, mit Triumf begrabenen und alsbald wieder auferstandenen.

Was heute bei uns großstaatlich ist,

das ist unsere äußere Politik und unsere Reichsregierung: unsere Volks­ politik wird erst großstaatlich werden, wenn die realen Interessen Volkes sich jenseits der Reichsgrenzen geltend machen.

des

Das berechtigte

Bewußtsein ein großes Volk zu sein genossen wir bisher nur in den Augenblicken äußerer Kriege.

Aeußere

glückliche Kriege würden

ferner ihre heilsame Wirkung auf uns üben. besten Falles durch sie zu theuer erkauft.

auch

Aber das Heilsame wird

Nächst dem Kriege am heil­

samsten, ja vielmehr heilsamer, nachhaltiger als der Krieg, wirkt auf die nationale Kräftigung

großes Arbeitsfeld.

ein

gemeinsames

wirthschaftliches

Interesse,

ein

)tichts wäre unserem nationalen wie staatlichen Leben

so förderlich als ein großes deutsches Feld der Kolonisation.

Was wir

in Europa auch gegenwärtig bedeuten, auf der Erde sind wir noch ein Kleinstaat geblieben.

Wir müssen auch diese Kleinstaaterei überwinden,

wir müssen auch im Weltverkehr Großstaat werden. Ohne Zweifel besitzen wir ein für die Kolonisation tüchtiges Material

an Menschen.

So Großes der deutsche Kolonist im Mittelalter geleistet

hat, so Tüchtiges leistet er auch in neuerer Zeit, wenn auch in einem den

elenden nationalen Verhältnissen entsprechenden geringen Maßstabe.

In

Siebenbürgen, Polen, Rußland, Amerika hat sich seine kolonisatorische

Kraft und Ausdauer zur Genüge gezeigt, wenn auch die Früchte seines Schaffens

für die Nation meist verloren gingen, weil die Nation zu

schwach war die Verbindung mit den Kolonisten festzuhalten. Hypochonder

und

steife Doctrinäre

Politisirende

mögen zwar oft anders urtheilen.

Allein ich glaube, daß die Mehrzahl und die Vorurtheilsfreien bei uns

au der Tüchtigkeit unseres Kolonisten nicht zweifeln werden.

Die vor­

handenen Erfahrungen sprechen dafür, nicht dagegen, und im Uebrigen

haben wir in vieler Hinsicht den Versuch noch erst zu machen. uns nicht

an der Masse der Wanderlustigen, nicht

Kapital, nicht an Unternehmungsgeist.

an dem

Es fehlt

nöthigen

Das Gebiet der großen Koloni­

sation ist uns aber neu geworden, nachdem wir eS mehr als ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr betreten haben.

Unsere Patres auf dem

Capitol lehren uns immer, daß solche Dinge für uns zu schwer seien und daß eS vielmehr darauf ankomme ruhig zu Hause zu bleiben und die er­

erbte Scholle zu ackern, oder daß da draußen eS keinen Raum mehr für

uns gebe. lassen?

Wie lange werden wir uns von dieser Erbweisheit bethören

Wie lange sollen wir unS abmühen „unsere Kräfte zu entfalten"

in dem Raum der alten Mauern?

Wie lange sollen wir darauf warten,

daß die dumpfe Luft und das oft karge Brod durch vollkommene Gesetzes­ artikel verbessert und vermehrt werden?

fordert, nicht Gesetze!

Es wird Arbeit und Erwerb ge­

Sollen wir wirthschaftlich zum Nichtsthun in Na­

tionalwerkstätten herabsinken während draußen in der Welt noch Welttheile für unsere Kultur zu gewinnen sind?

Sollen wir ewig den häuslichen

Streit führen um die Frage, ob unsere Arbeit zu organisiren sei mit

privater Hülfe oder mit Staatshüfe oder ohne jede Hülfe, während uns außerhalb lohnende Arbeit genug offen steht?

Warum denn nehmen wir

uns England stets zum Muster in Allem, nur nicht in dem Größten was

es geleistet hat, in seiner kolonialen Arbeit? — Wir jammern seit lange darüber, daß unsere Auswanderer in der

Fremde nur Kulturdünger werden zu fremdem nationalen Nutzen, daß sie

„internationale Privatmenschen" bleiben, die sich dem fremden Wesen ein­ fügen, wohin sie auch kommen.

nichts.

Wir jammern über uns und thun —

Was ist denn bisher staatlich oder auf private Weise geschehen,

um unsere Auswanderung der Nation zu erhalten?

kann geschehen?

Wir waren staatlich zu schwach,

Was konnte, waS

um zu hindern, daß

unsere alten Kolonisten in Siebenbürgen, in den Ostseeprovinzen, in Un­

garn zu Kulturdünger herabgedrückt werden und unsere jüngere Auswan­

derung diesem Schicksal in einem eigenen

entgehen könnte.

deutschen Kolonisationslande

Wir sind Gott sei Dank heute nicht mehr so schwach,

um allen staatlichen Schutzes in der Fremde entbehren zu müssen.

Unsere

Forscher dringen seit lange eben so rüstig als englische oder französische in das Innere der noch unbekannten Welttheile vor,

wir sind wissen­

schaftlich in Afrika, Australien, Asien besser zu Hause als die meisten an­

deren Nationen; aber wir begnügen uns an der Wissenschaft und haben die Kraft des Wollens, die Forderung der Macht in den erforschten Län­ dern nicht — genau wie wir bis vor wenig Jahren stolz darauf waren

ein Volk der Denker zu sein und dabei armselige Schlucker blieben.

Wir

sind anspruchslose arme Reisende in Afrika, während Engländer, Franzosen,

Italiener, Holländer dort erobern.

Und wenn wir auch heute noch der

staatlichen Kolonisationskraft Englands nicht gewachsen sind, — was haben

wir denn etwa ohne staatliche Macht, aus der Initiative privater Inter­ essen heraus geleistet, versucht?

DaS letzte Jahr hat etwa 100,000 Köpfe

aus Deutschland nach

Amerika gebracht. Wenn wir auf diese 100,000 Köpfe blos 20,000 Männer rechnen, so stellen dieselben,

auf einen Punkt vereinigt, eine erhebliche

physische Macht dar, die in jedem nichteuropäisch geordneten Staate eine Wenn diesen Leuten in Rücksicht auf die Fähig­

ansehnliche Kraft wäre.

keit sich in einem fremden Lande zurechtzufinden, Manches abgehen sollte,

was der Engländer besitzt, so stehen sie jedenfalls dem Engländer nicht

nach in der Fähigkeit sich gegen äußeren Angriff zu vertheidigen. unserer

Wehrverfassung

annähernd

ein

bildet jedes Tausend

geschultes Landwehrbataillon.

auswandernder

Dank

Männer

Jedes Tausend Männer,

welches, mit Waffen versehen, an irgend einem Punkte von West- oder

Ostasrika sich niederließe, fände bald seinen Anführer in einem tüchtigen Landwehroffizier und wäre im Stande sich gegen die Einwohner zu ver­

theidigen; eine dort erst einmal gefestigte Kolonie würde bald auch nicht

eingeborenen Feinden gewachsen sein.

Sobald eine der englischen Kolonieen

angegriffen wird, muß England Truppen zum Schutz absenden.

Unsere

Auswanderer wären jeder englischen Kolonie in der Wehrkraft von Hause aus weit überlegen.

Schon dieser Umstand erleichtert in hohem Maße

für uns die Aufgabe, im Wege privaten Unternehmens eine Kolonie zu gründen. —

Für Alles entstehen heutzutage bei uns Gesellschaften:

für Kolonisation?

warum nicht

Ich denke mir den Weg etwa folgendermaßen.

Es

müßte in Hamburg' von Kapitalisten, die aus eigener kaufmännischer Er­

fahrung mit den überseeischen Verhältnissen vertraut sind, eine Gesellschaft gegründet werden mit einem Kapital von etwa 10 Millionen Mark.

Die

Gesellschaft müßte nach sorgfältiger Verständigung mit der Reichsregierung

durch Kauf ein geeignetes Kolonisationsgebiet erwerben, dorthin eine Ex­

pedition senden, welche wissenschaftlich, kaufmännisch und technisch genaue

Auskünfte über das Gebiet und seine Nachbarländer sammelte, welche die

ersten Niederlassungen gründete, welche Auskunft ertheilte über die vor-

theilhaftesten Erwerbszweige,

die sich dem Auswanderer dort darböten,

über die nöthige Ausrüstung des Auswanderers, über die Bedingungen

der Ansiedelung, des Landerwerbes; welche drüben die erste Verwaltung zu organisiren hätte, die erste Anlage von Ortschaften zu leiten, die ersten Ansiedelungen zu überwachen, den Verkehr mit der Heimath zu erhalten, Rechenschaft abzulegen.

Eine solche Gesellschaft müßte in Ostafrika, Neu­

seeland oder sonst wo eben thun, was die Ostindischen Gesellschaften ihrerzeit thaten.

Und ich glaube, die Anziehungskraft einer solchen von Ham­

burg oder Bremen aus gegründeten Kolonie auf die Auswanderungslustigen

würde nicht lange ausbleiben.

Wenn man wüßte, daß dorthin Hamburger

Schiffe regelmäßig gingen, daß dort der Auswanderer von einer deutschen

Verwaltung empfangen, mit Rath und That bei der Ansiedelung unter­ stützt würde, daß er Arzt, Apotheker und Pfarrer vorfände, daß er An­ leitung in der Arbeit, Sicherheit in dem Absatz der Producte, Schutz gegen Ausbeutung fände — ich glaube daß der Strom der Kolonisten schnell

anwachsen würde.

Und wenn die Gesellschaft für einige Zeit auf Ver­

zinsung ihres Kapitals verzichten müßte, so wäre die Anlage doch mehr versprechend als so manche gegenwärtige Gründung.

Sie wäre jedenfalls

gesünder, wirthschaftlich und politisch weit bedeutsamer als sehr viele, als

die meisten neueren Unternehmungen.

Sie könnte die segensreichste That

Eine aufblühende,

auf wirthschaftlichem und politischem Gebiet werden.

sich räumlich und wirthschaftlich erweiternde deutsche Kolonie — welches

Interesse müßte sie im Reich erwecken, welche Fülle neuer Kraft und Hoff­ nung

erblühen lassen!

Welch frischer Hauch

müßte

in

die dumpfen

Werkstätten fahren, darin heute ohne Lust und Hoffnung gearbeitet wird,

weil man nicht weiß wie das Geschaffene soll verwerthet werden, weil Fleiß und Kenntniß ihren Lohn nicht finden!

Der Sozialdemokrat for­

dert lohnende Arbeit: man gebe sie ihm, aber nicht im engen Hause, nicht

in Nationalwerkstätten, sondern draußen in einer weiteren Welt.

Der

Fabrikant und Kaufmann suchen Absatz: man öffne neue Gebiete für die Zukunft,

wie England ununterbrochen nach

neiieii Absatzgebieten sucht.

Der mißmüthige Volksgeist wendet sich, ermangelnd großer Interessen und

Ziele, wagender Arbeit, gegen den eigenen Staat:

man gebe ihm freie

neue Bahnen für Hand, Kopf und Herz, und er wird aufhören mißmüthig zu sein. —

Unsere politische äußere Lage ist freilich leider eine solche, die unS zwingt unsere staatlichen Kräfte sorgsam zusammenzuhalten.

Aber welcher

kräftige Mann könnte aus Furcht vor Räubern sich lange in seinem Hause eingeschlossen halten?

Kann auch unser Staat sich nicht rühren, so braucht

unser Volk nicht in träger Defensive die Hände in den Schoß zu legen. So gern ich mich der Einsicht des H. Hübbe im Uebrigen anschließe, so

bin ich zweifelhaft ob er mit Recht

von unserer Staatsregierung den

ersten Schritt erwartet zur Kolonisation oder „Cultivation".

Regierung es für thunlich

erachtet, die Richtung

Wenn die

einer kolonisirenden

Unternehmung zu erörtern und anzugeben, ein Kolonisatiorisgebiet zu er­ werben — um so besser.

Ich bin fern davon, die vielgerühmte Freiheit

überall dort zu vermuthen wo die Regierung nicht ist.

Der staatliche

Halt könnte einem solchen Unternehmen nur förderlich sein und ich denke,

daß unser Auswanderer meist lieber -dem Ruf und dem Regiment eines königlich preußischen Negierungsraths oder Landrath^ übers Meer folgen

Wird, als der Autorität des freiheitlichen Kraftmenschen und staatlichen Dilettanten.

Allein ich fürchte auch ohne diesen staatlichen Halt die Ge­

fahren nicht, denen ein solches Unternehmen ausgesetzt wäre.

Mit der

vorsorglichen Aengstlichkeit, die das systematische Zweikindersystem ersann

und die unsere Auswanderer auch heute für zu schwach hält um draußen

etwas Besseres als Bölkerdünger zu werden, mit diesem Stubenphilister-

thum

aus kleinstaatlicher Schulzeit

kommen.

allerdings werden wir nicht

Mit ihm wären wir weder

weit

über die Eider, noch über die

Donau, noch über die Mosel gesprungen und würden noch weit weniger

jemals übers Meer kommen. Kräfte.

Aber wir haben jüngere, selbstbewußtere

Und vor Allem: die Noth drängt uns.

Sehen wir nicht täglich, welche Uebermacht in einem jungen Kolonial­ lande steckt wie Amerika gegenüber einem Gliede der alten europäischen

Kulturstaaten?

Von Jahr zu Jahr kann Jedermann bei uns verfolgen

wie ein Productionszweig nach

currenz bedroht wird.

dem anderen durch amerikanische Con-

Fleisch und Leder, Instrumente und Spielwaaren,

Eisenwaaren und Maschinen, vor Allem Korn aus Amerika treten jährlich in größeren Massen Märkten auf.

und

in wachsender Mannigfaltigkeit

auf unseren

Keine Gesetzgebung vermag dem Einhalt zu thun, sondern

höchstens das Uebel zu mildern.

Wir können nicht wetteifern mit dem

natürlichen Reichthum, der intellectuellen Spannkraft, mit dem Wachsthum Nordamerikas.

Unser Staat, dessen Hauptkraft nöthig ist zur Vertheidi­

gung gegen äußerö Feinde, kann nicht concurriren mit einem wirthschaft-

lichen Gegner, der, ohne äußeren Feind und ohne VertheidigungSmittel

gesichert, seine Kraft ausschließlich der wirthschaftlichen Arbeit zu widmen vermag.

Nicht die innere, sondern die äußere Freiheit giebt den Ver­

einigten Staaten das Uebergewicht über unsere europäischen Continental­

staaten.

Diesen unseren wirthschaftlichen Gegner stärken wir alljährlich

mit Zehntausenden von Arbeitern.

Eine Verringerung dieser' Stärkung

wäre an sich ein Gewinn für uns, und wenn man uns entgegnet, es sei

zu wünschen, daß die Bevölkerung Nordamerikas möglichst rasch anwachse, damit der Zeitpunkt bald eintrete wo seine Konsumtion sich seiner Pro­ duction gleichstelle, so heißt vas wieder uns auf ein schönes Jenseits ver­ weisen während wir im Diesseits darben.

Ob Amerika nach Jahrhunderten

sein Korn selbst verzehren wird ober nicht, ist uns so gleichgiltig wie die

Möglichkeit, daß einstmals die Menschheit an Ueberfüllung der Erde zu Grunde gehen könnte.

Heute sind wir außer Stande mit amerikanischen

Erzeugnissen zu wetteifern, heute ist die Erde noch zum weitaus größeren Theil von Menschen und Kultur nicht erobert, heute wellen wir leben,

arbeiten, erwerben, heute bedürfen wir der Kolouieeu.

Während aber

Amerika unser Gegner ist, zeigen unS H. Hübbe und Andere vor ihm an der Hand verläßlicher Ziffern, daß für unS eigene deutsche Kolonieen eine

Hülfe, wirthschaftliche Freunde wären.

„Die überseeischen Besitzungen

aller kulturkräftigen Nationen, so z. B. Englands, Frankreichs und Nieder­

lands, beziehen weit über die Hälfte aller ihrer Bedürfnisse aus ihren Stammländern und senden die meisten ihrer eigenen Producte eben dort­ hin."

Und:

„Gleiche Nationalität ist im Welthandelsbetriebe gleichbe­

deutend mit der Vorhand im Handel."

Es ist eine auf diese Erfahrungen

gestützte höchst beherzigenswerthe Wahrheit, welche H. Hübbe ausspricht, daß der Weltverkehr keineswegs ein internationaler Verkehr ist, sondern

ein sehr erheblich nationaler.

Nur eine sonderbare Kurzsichtigkeit kann

darob trauern, daß wir Deutsche auf der Erdkugel so verschwindend wenig

bedeuten im Verhältniß zu unserer staatlichen Stellung in Europa,

und

doch von der „Jnternationalität" des Weltverkehrs reden; den deutschen

„Völkcrdünger" beklagen und doch behaupten daß es gleichgültig sei ob

unsere Auswanderer in eine fremde oder in eine deutsche Kolonie gingen, ob unsere Rheder und Kaufherren ihre Schiffe mit deutschen oder fremden

Kolonialwaaren aus deutschen oder fremden Häfen befrachten.

„Siebenzig

Prozent des ganzen Handelswerthes und Handelsgewinnes der Weltwirth­ schaft sind in den Händen des englischen. . . . Und das soll ein inter­

nationaler Handelsbetrieb sein?" sagt H. Hübbe. —

Ich bin gewiß daß ein kolonisatorisches Unternehmen von der Reichs­ regierung unterstützt werden würde, soweit irgend ihre vorhandenen Mittel reichen und die auswärtige Lage es gestattet.

sie ins Werk zu setzen,

hängen ab von den Händen, die sie erfassen,

und können nicht öffentlich erörtert werden. ruf an unser Volk

Die näheren Umstände, Hier kann blos der Auf­

ergehen, abzulassen von dem kraftlähmenden Grü­

beln nach neuen Evangelien der Staatskunst, von dem fruchtlosen Umher­

wälzen alter Theorien, von dem

aufreibenden Streiten um die besten

staatlichen Formen für unser Leben, und sich mit frischem Muth neuen

Inhalt des Lebens zu erringen.

Die Grundlage alles volklichen Ge­

deihens und Wohlbefindens ist und bleibt der materielle Erwerb, die

materielle Arbeit.

Je näher Eisenbahnen und Schiffahrt uns die reichen

Gebiete der andern Welttheile bringen, um so mehr werden dieselben auf unsere heimische Arbeit drücken; die beste StaatSform wird die gewaltigen

Vortheile Amerika's und anderer Kolonialländer vor unserm Soldaten­ staate nicht ausgleichen.

Die besten Schulen werden die Vorzüge nicht

aufwiegen, welche für unsere Jugend, für Hoch und Niedrig, Gebildet und Ungebildet, für Rittergutsbesitzer und Fabrikarbeiter sich aus der Berüh­

rung mit einer fremden Welt, aus dem selbständigen Schassen, in der

Die Weiterung

Ferne, aus kräftiger und nationaler Kulturarbeit ergeben.

der Interessen, die Weiterung des praktischen Denkens und Anschauens werden auch auf unsere inneren wirthschaftlichen wie staatlichen und sozialen

Vorstellungen günstig zurückwirken.

Solange so unermeßliche Quellen des Erwerbes, wie ich sie in Ost­ europa nachwies, sich in unserer unmittelbaren Nähe vorfinden; solange

halbe Welttheile noch kulturlich zu erobern sind, scheint es mir müßig für

uns, von Dkangel der Arbeit und dem nationalen Verlust der Auswanderung

zu reden. Seien wir doch einmal national eigensüchtig! Fordern wir unsern Antheil an Raum von Andern, die dessen übergenug haben, auch wenn

wir dabei einem Stamme von bewaffneten Zulus begegnen sollten.

Wagen

wir Gut und Blut daran, nehmen wir selbst das Mißglücken dieses oder jenes Versuches auf uns, bis wir die Wege zu wandeln werden gelernt

habeil, welche vor uns Andere so oft gegangen sind.

Es ist besser daß

unsere brodlosen Söhne sich draußen in Gefahr begeben, daß sie sogar

wie bisher Völkerdünger bleiben, als daß sie zu Hause gefahrlos über Arbeiterunterstützung reden uiib an Kindern sparen.

Bkögen sie doch hin­

ausgehen, mag der Eine und Andere zu Grunde gehen in dem Kampf

mit fremden Bkenschen und Verhältnissen, den er um das Brod für sich und eine zahlreiche Familie kämpft: es ist immer besser als die entsagende Bequemlichkeit, welche nichts wagt und nichts gewinnt.

und Kolonisation sind Lebensfragen für uns.

Auswanderung

Gegen auswärtige Feinde

vertheidigen wir unsere Lebensinteressen mit dem Opfer von vielen Zehn­

Hier stehen

tausenden der besten Männer und von Milliarden an Geld.

ebenfalls Lebensinteressen auf dem Spiel: unsere nationale Stellung in

dem Weltverkehr und unser nationales Gedeihen daheim.

da die geringeren Opfer zu schwer werden?

Sollten uns

Eine Geschichte von Jahr­

hunderten hat uns um staatliche Stellung innerhalb der europäischen Kul­

turvölker und auch um unsere nationale Stellung in den andern Welt­ theilen gebracht.

Endlich haben wir den ersten Verlust wieder eingeholt

Wir sind geachtet und mächtig unter den Staaten Europas.

gelten fast llichts außer Europa.

Aber wir

Und mit jedem Jahre wächst die Be­

deutung dessen, wie viel man außer Europa gilt.

Sollten wir diese Ber-

säumniß nicht auch noch einholen können? Mich dünkt, es bedürfe nur des energischen Wollens in dieser Sache.

Die Mittel und das Können sind vorhanden.

Jüngst tauchte ein Lebens­

zeichen des Interesses an unseren Kolonisten in Deutschland auf, der neu gegründete deutsche Schulverein.

Rußland gerichtet. eingesetzt hat.

Sein Augenmerk ist nach Ungarn, Polen,

Aber ich fürchte daß die Hülfe an einer falschen Stelle

Einmal liegt es nicht in der Macht eines deutschen Vereins

deutsche Schulen zu gründen oder zu unterstützen in fremden Ländern, deren Regierungen entschlossen sind, deutsche Schulen weder gründen noch

bestehen zu lassen.

Zweitens ist die Schule zwar ein angestammtes Be­

dürfniß deS Deutschen, aber nicht das vornehmste.

Vor allem hat auch

der Deutsche das angeborene Bedürfniß zu essen, lohnende Arbeit zu finden, in seinem Erwerbe rechtlich gestützt zu werden.

Eine kräftige consularische

Vertretung, Unterstützung durch Rath und Leitung erleichtert dem Aus­ wanderer die Ansiedelung mehr als eine Schule. das andere Bedürfniß nach seiner Kirche.

Ferner hat der Deutsche

Ehe er eine Schule vermißt,

Unterstützung von Pfarren und Pfarrern im

vermißt er einen Pfarrer.

Osten ist ein wirkliches Bedürfniß und ist eher ausführbar als Unter­

stützung von Schulen.

Es wäre schade wenn diese erste Regung zur Um­

kehr von der bisherigen Verkehrtheit, sich eifrig um chinesische oder afri­

kanische Missionsschulen,

aber gar nicht um deutsche Auswanderer zu

kümmern, ein erfolgloses Ende nähme.

tischer Thätigkeit in dieser Richtung.

Indessen ist es ein Anfang prak­

Wo man auch diese Interessen an­

greifen möge, überall werden sie wachsen mit der Sorge, welche man ihnen widmet.

Ueberall wird der Dank nicht ausbleiben, wenn wir eine

lebendigere Verbindung mit den alten deutschen Kolonien in Europa wieder

Herstellen, wenn wir dem Druck, dem zufolge der Wiederherstellung Deutsch­

lands der Deutsche in fast allen fremden Ländern sich ausgesetzt sieht, die

private Hülfe entgegenstellen. hat bereits ihre Organisation.

Die Auswanderung nach den Ver. Staaten

Es wäre von größter Heilsamkeit wenn

auch die Auswanderung nach andern Ländern geregelt, überwacht, geleitet

würde durch private Gesellschaften.

Es wäre eine nationale That von

unberechenbarer Tragweite, wenn endlich durch eine große Gesellschaft die Kolonisation eines überseeischen Gebietes in Angriff genommen würde. Arbeit und Erwerb wird gefordert!

klauben.

Nicht Stillesitzen und Gesetze­

Zum Glück und zum Zeichen seiner Gesundheit zeigt unser Volk

bisher wenig Neigung den Zweikinderlehrern zu folgen.

Es zieht muthig

hinaus nach Ost und West, während die weisen Leute daheim darüber

grübeln, ob es nicht besser wäre zu Hause zu bleiben oder wo anders hinzugehen als nach Amerika.

Ueber unsere östliche und südliche Grenze

findet eine starke Auswanderung eben statt, aber auch hier haben unsere

Weisen es weise gefunden, Warnungen gegen solche Wanderung ergehen zu lassen.

Wenn sie bessere Ziele der Siedelung, lohnendere Gebiete aufzu­

weisen haben werden, dann werde ich diese Warnungen für berechtigt halten.

Solange man nicht gute Siedelplätze vorweist, sondern das Zweikindershstem,

hoffe und glaube ich daß unser Volk das Auswandern nicht lassen wird, und wünsche daß man ihm dabei mit practischer Hand zur Seite stehen möge.

E. M. Arndt und Wrede. E. M. Arndt erzählt in seinem bekannten Buche „Meine Wanderun­ gen und Wandelungen mit dem Freiherrn vom Stein" (S. 218) Folgen­

„Steins Zorn gegen Wrede hatte

des:

noch seinen besonderen Haken.

Von allen deutschen Truppen unter französischem Kommando hatten in

Norddentschland die Baiern und die Darmstädter durch Roheit, Zuchtlosig­ keit und

Plünderungssucht

den

schlechtesten

Ruf

hinter

sich

gelassen.

Wrede ward wohl mit Recht beschuldigt, den ©einigen nicht nur Vieles

nachgesehen,

haben.

sondern ihnen auch selbst das böseste Beispiel gegeben zu

Bei einem solchen Beispiel hatte ihn nun Stein erfaßt und zwar

recht tüchtig angefaßt. Wrede war in Schloß Oels in Schlesien einquartiert,

im Schlosse des Herzogs von Braunschweig. gierig

unverschämten

französischen

Räubern

Hier hatte er es ganz den

nachgemacht,

den

Soult,

Massena und Ihresgleichen, welche das Silber (Löffel, Teller), womit sie

von ihren Wirthen bedient wurden, nach der Tafel gewöhnlich einpacken und mit ihrem Gepäck wandern ließen. nach französischer Marschallsweise

So hatte Wrede in Oels ganz

bei seinem Abzüge

Schloßsilber mit zu seinem Feldgepäck legen lassen.

alles herzogliche

Der arme Schloßvogt

hatte dem nicht wehren gekonnt, hatte aber, damit er selbst nicht für den Räuber und Dieb des herzoglichen Silberschatzes gehalten würde, den Marschall um einen Schein gebeten, daß er in Kraft des Kriegsbefehls eö

sich habe ausliefern lassen.

Und wirklich hatte der Feldmarschall ihm den

genau specificirten vorgelegten Schein bei seinem Abmarsch in einfältiger deutscher Ueberraschung unterschriebe«.

Dieses Papierchen war nun im

Jahre 1813 Steins Händen übergeben, und Wrede hatte den Werth des Raubs im folgenden Jahre mit einer hübschen Summe Geld zurückzahlen

müssen". Die Form des Berichts erweckt den Eindruck, als ob er aus Mit­ theilungen Steins, also eines unmittelbar Betheiligten, herrührte; er ent­

hält nichts Unwahrscheinliches und stammt aus der Feder eines Mannes, dessen strenge Wahrheitsliebe ebenso anerkannt ist, wie die erstaunliche,

bis ins hohe Alter bewahrte Frische seines Gedächtnisses.

In Schlesien

wurde die häßliche Geschichte, wie ich aus bester Quelle versichern kann, lange bevor Arndt's Buch erschien, in den Kreisen der älteren Männer,

welche die Franzosenzeit erlebt hatten, häufig erzählt.

Es lag also kein

Grund vor, an ihrer Wahrheit zu zweifeln.

Die „Wanderungen" erschienen in der Blüthezeit jenes mittelstaat­

lichen Uebermuthes, der bald nachher auf den Schlachtfeldern des Mainfeld­ zugs seine Strafe finden sollte.

Die bairische Regierung dachte nicht vor­

nehm genug, um die Ereignisse einer längst abgeschlossenen, fünfzig Jahre

zurückliegenden Vergangenheit allein der historischen Wissenschaft zu über­ lassen, sondern ließ den Verfasser anklagen wegen Beleidigung der bairischen

Armee u. s. w.

Viele unserer Leser werden sich noch entsinnen, welches

peinliche Aufsehen dieser Proceß in ganz Deutschland erregte.

Arndt konnte

in der Einleitung des Strafverfahrens nur eine beabsichtigte Gehässigkeit

sehen; er weigerte sich vor dem bairischen Gerichte zu erscheinen und wurde

im December 1858 von dem Zweibrückener Assisengerichte in contumaciam zu zwei Monaten Gefängniß verurtheilt.

Das Gericht that nur was sich

von selbst verstand; denn wer für eine ehrenrührige Behauptung nicht selber

vor Gericht den Beweis der Wahrheit erbringt, muß ohne Weiteres der

Verleumdung schuldig erklärt werden.

Für den Historiker aber, den die

Formen des Strafprocesses nicht binden, war dies Urtheil werthlos.

Arndt selbst hielt die Wahrheit seiner Erzählung unerschütterlich auf­

recht und stellte im Verlaufe- des langen Zeitungsstreites, der sich an jenen Proceß anknüpfte, einmal die Vermuthung auf: die That WredeS möge vielleicht gegen Ende Februar 1807 geschehen sein, da um diese

Zeit, nach neueren Mittheilungen auS Schlesien, bairische Truppen in Oels arg gehaust hätten.

Diese hingeworfene Vermuthung benutzte nun

ein bairischer Offizier (angeblich Major Ehrhard) um in einer anonymen Schrift (die Beschuldigung Wredes durch E. M. Arndt.

die Schuldlosigkeit seines Helden zu erweisen.

München 1860)

Er wies nach, daß aller­

dings die Division Wrede am 23. Februar 1807, auf dem Durchmarsch

nach Polen, durch Oels gekommen ist, Wrede selbst aber zur selben Zeit noch krank

in Baiern lag.

offenbar noch nicht widerlegt.

Auch hiermit war die Erzählung Arndts

Denn da über den Zeitpunkt des Raubes

nur unerwiesene Vermuthungen aufgestellt wurden, so blieb die Möglich­

keit offen, daß Wrede die That etwas später im Jahre 1807 begangen hätte.

Wrede hat sich nachweislich zweimal während jenes Jahres in

Schlesien aufgehalten.

Zuerst zu Ende März, als er, von seiner Krank­

heit genesen, der Armee nachreiste; nach den Aufzeichnungen eines Zeit­ genossen, die sich

in der Breslauer Stadtbibliothek befinden, ist er am

26. März in Breslau eingetroffen. Sodann lag er nach dem Tilsiter Frieden bis zum 2. Decbr. mehrere Monate lang mit seinen Truppen in Schlesien, und da die Franzosen und ihre Bundesgenossen während jener friedlichen Occupatio» bekanntlich fast eben so übermüthig auftraten, wie vorher im Kriege, so konnte der Raub auch wohl in dieser Zeit sich ereignet haben. Arndt ließ sich daher durch die mangelhaften Argumente der Ehrhard'schen Schrift nicht beirren; er meinte auf sein gutes Gedächtniß bauen zu können und wiederholte seine Erzählung in den späteren Auf­ lagen der „Wanderungen" unverändert. Wie ich meinen geliebten alten Lehrer kannte, hielt ich es für unzweifelhaft, daß er seine guten Gründe gehabt haben mußte, einen so lebhaft bestrittenen Bericht so entschieden festzuhalten, und trug mithin kein Bedenken, in einer beiläufigen Bemerkung meiner Deutschen Geschichte (I, 608) die Erzählung Arndts als unanfechtbar zu erwähnen. Inzwischen hat der bairische Generalmajor Heilmann eine Biographie Wredes herausgegeben, ein lehrreiches, dankenswerthes Buch, das freilich einen erfreulicheren Eindruck hinterlassen würde, wenn der Verfasser nicht versucht hätte, einen vaterlandslosen tapferen Landsknecht mit unseren nationalen Helden, mit Scharnhorst, Blücher, Gneisenau in eine Reihe zu stellen. General Heilmann geht auch auf diese Episode aus dem Leben seines Helden ausführlich ein, bringt aber nichts Neues bei, son­ dern wiederholt einfach die Behauptungen Ehrhards; er nimmt, ohne irgend einen Grund dafür aufzuführen, kurzweg an, daß der Raub zwischen dem 23. Februar und dem 8. März geschehen sein müsse, und erweist dann ohne Mühe das Alibi Wredes. Die Lücken dieser seltsamen Beweisführung verdeckt er sodann, indem er über den alten Arndt eine Fülle schmückender Beiwörter ausschüttet, welche mit den landesüblichen Formen wissenschaft­ licher Polemik wenig gemein haben. Wenn Arndt ein in Fragen der historischen Wahrheit sorgloser, in seinen Vorurtheilen leichtgläubiger, eigensinniger alter Mann genannt wird, dem „seine politischen Gehilfen noch vollends den Kopf verdreht" hätten, so habe ich nichts dawider ein­ zuwenden, daß auch ich mit einigen mehr kräftigen als anmuthigen Aus­ drücken beehrt werde. Als ich kürzlich eine neue Ausgabe des ersten Bandes der Deutschen Geschichte vorbereitete, unterwarf ich natürlich alle von der Kritik ange­ fochtenen Stellen einer erneuten Prüfung, so auch jene Bemerkung über Wrede. Das Heilmann'sche Buch gab mir keine genügende Auskunft; ich entschloß mich daher selber zu thun was der Biograph Wredes leider unterlassen hatte, und hielt in Schlesien Nachfrage. Nachdem ich an ver­ schiedenen Stellen vergeblich angeklopft, erhielt ich endlich aus Breslau

die Güte des Herrn ArchivdireetorS Grünhagen,

durch

und gleichzeitig

aus OelS mehrere Mittheilungen, welche, im Wesentlichen übereinstimmend, den Bericht ArndtS vollständig widerlegen. versichtlich vertheidigte Erzählung

Daß der 'Alte seine so zu­

nicht einfach aus der Luft gegriffen

haben kann, wird jedem Unbefangenen einleuchten.

Wenn irgend wer,

so darf doch sicherlich Arndt die Vermuthung der bona fides für sich in

Anspruch nehmen.

Man lese nur in Heilmanns Werke die unglaublich

brutalen Briefe, in denen Wrede seine Wuth gegen diesen Teufel, diesen Narren von Stein ausspricht; ein so maßloser Haß läßt sich aus der po­ litischen Gegnerschaft der beiden Männer allein kaum

erklären.

Aber

wie ist Arndt zu seinem Irrthum gelangt? Hat Wrede an anderen Orten

Gewaltthaten verübt, welche ihm den in Schlesien einst weit verbreiteten

Beinamen des Löffeldiebs verschafften?

Oder war er ganz schuldlos an

diesem üblen Leumund, und Arndt hätte etwa zwei verschiedene Personen

verwechselt?

Ich vermag das nicht zu entscheiden.

Genug,

die gegen

Wrede erhobene Beschuldigung ist, wie sie vorliegt, durchaus falsch.

Ich habe vor mir das Promemoria eines verstorbenen

herzoglich

braunschweigischen Beamten, der die Zeit seit 1806 als junger Mann

im Oelser Schlosse verlebte und Arndts wurde.

„Wanderungen"

erregten

im Juli 1858, Zeitungslärms,

in Folge des durch

amtlich

vernommen

Nach diesem Berichte, der durch die Aussagen anderer gleichzeitig

verhörter Beamten durchweg bestätigt wird, haben Prinz Jerome Napoleon und General Lefevre im Dezember 1806, zu der Zeit, da die Belagerung

von Breslau begann, einige Tage lang im Schlosse Oels ihr Haupt­ quartier gehalten; mit ihnen kamen französische und bairische Truppen.

In diesen Tagen — also nicht im Februar 1807 — wurden ein Theil des Silberzeugs und der Schimmelzug des Herzogs geraubt. blieben unbekannt.

Die Thäter

Alle Berichte klagen übereinstimmend über die Roheit

der bairischen Truppen, aber keiner weiß anzugeben, ob Franzosen oder

Baiern bei dem Raube betheiligt waren.

damals noch in Baiern weilte.

Gewiß ist nur, daß Wrede

Die nämliche Denkschrift versichert sodann

auf daS Bestimmteste, daß seitdem niemals mehr ein bairischer General auf dem Schlosse im Quartier gelegen hat.

Damit fällt Arndts Erzäh­

lung zusammen.

So lebhaft ich bedaure, daß der Sachverhalt erst jetzt bekannt wird, in einem Augenblicke, da Arndt sich über die Gründe seines Irrthums nicht mehr erklären kann, ebenso willkommen ist cs mir, dem Biographen WredeS

einen kleinen Beitrag für eine neue Ausgabe seines Buchs

zu bieten.

Vielleicht erkennt er jetzt, daß wir preußischen Wilden doch bessere Menschen

sind.

Er sagt nach seiner sanften Weise, Arndt's „infame Lüge werde aller XL1X. Heft 3. 22

Preußische Jahrbücher. Bb.

E M. Arudl imb Wrede.

324

historischen Wahrheit und aller Moralität zum Hohn" immer wiederholt werden.

Mit Berlaub, sie wird es nicht — seit die Grundlosigkeit der

Beschuldigung endlich erwiesen ist.

So lange aber der Erzählung Arndt's

nichts weiter entgegenstand als die willkürliche und — falsche Behauptung,

daß der Raub im Februar 1807 geschehen sein sollte: ebenso lange war jeder Historiker berechtigt, den Bericht eines Buches, das zu den besten und zuverlässigsten Werken unserer Memoiren-Literatur zählt, fürwahr zu halten.

Die Schuld jener napoleonischen Tage ist durch treue Waffenbrüderschaft längst gesühnt; wir haben die Wiederkehr der alten Bruderkämpfe nicht

mehr zu fürchten. Es wird hohe Zeit, daß wir Alle eine für immer über­

wundene Vergangenheit mit einigem Gleichmuth betrachten. Auch die Baiern sollten endlich lernen über die Sünden ihrer Rheinbundzeit ebenso unbefangen

zu sprechen, wie sonst längst jeder verständige Preuße über das Jahr 1806 redet.

Daran fehlt leider noch viel.

Als Gustav Freytag vor Kurzem in

dem letzten Bande seiner „Ahnen" das Verhalten der Baiern in Schlesien durchaus der historischen Wahrheit gemäß darstellte, da mußte er von der

bairischen Presse die gröbsten Beleidigungen hinnehmen. So hat sich auch General Heilmann durch seinen bairischen Uebereifer um einen Erfolg ge­

bracht, den ich einem so tüchtigen Forscher gern gönnen würde. Hätte er bei der Erörterung jener schlesischen Episode etwas weniger Entrüstung und etwas mehr Forscherfleiß aufgewendet, so konnte er selber den Beweis

erbringen, den ich nun an seiner Stelle erbringen mußte: daß Wrede an

dem Oelser Raube nicht betheiligt war. 10. März.

Heinrich von Treitschke.

Unsere Parlamente. Quousque tandem — so schallt es heute wie aus einem Munde,

wenn Jemand in guter Gesellschaft jener parlamentarischen Redefluthen

gedenkt, die nun schon seit Monaten wieder in Berlin, München und Karlsruhe aus hoch aufgezogenen Schleusen unaufhaltsam hervorplätschern. Dreitausend Reichs- und Landtagsabgeordnete, je ein Volksvertreter auf

dreitausend erwachsene Männer! die deutsche Geduld.

Es ist des Segens zu viel selbst für

Immer häufiger hört man die Frage:

ob denn

durch diese sündliche Vergeudung von Kraft und Zeit etwas anderes be­

wirkt werde als ein eintöniges Geräusch, so zwecklos wie das Klappern eines Rades mit zerbrochener Nabe?

Wer sich frei hält von der gräm­

lichen Verstimmung unserer Tage wird so ungerechte Vorwürfe sicherlich

nicht unterschreiben.

Der deutsche Parlamentarismus hat zwar unmittelbar

wenig geschaffen uyd auch die politische Bildung der Nation nicht

er­

heblich gefördert; dafür leistet er uns mittelbar einen ganz unschätzbaren Dienst, indem er die regierende Klasse, die Beamten schon durch sein Dasein zwingt beständig auf der Wacht zu stehen und ihre beste Kraft

einzusetzen, so daß unser Staat, Alles in Allem, die beste Verwaltung der Welt besitzt und vor jener Erstarrung bewahrt geblieben ist, welche auch

eine wohlgeordnete Bureaukratie mit der Zeit heimzusuchen pflegt. Selbst

unser Heer würde der Versuchung, auf den erworbenen Lorbeeren auszu­ ruhen, leichter erliegen, wenn der Kriegsverwaltung nicht die parlamen­ tarische Controle beständig vor Augen stände.

Da es so steht, und da

Niemand zu sagen weiß, wie diese mit allen ihren Mängeln unentbehr­ lichen Institutionen ersetzt werden können, so ist der offenkundige Nieder­ gang unseres parlamentarischen Lebens ein schweres Unglück.

Man täusche

sich nicht, die große Mehrheit der Nation ist der parlamentarischen Kämpfe bis zum Ekel satt, sie kümmert sich kaum noch darum, außer wenn irgend ein widerwärtiger Ausbruch der Leidenschaften die Skandalsucht reizt.

Als das Gottesgericht des Krieges

von 1866 über unsere Klein­

staaterei hereingebrochen war, da schien es wirklich, als ob der deutsche

22*

Parlamentarismus sich auch der alten Sünden unseres Kleinlebens, der

philisterhaften Zanksucht und armseligen Rechthaberei

entledigen wollte.

Unter allen unseren Reichstagen war der erste, der constituirende Reichstag

des norddciltschen Bundes unzweifelhaft der fruchtbarste.

Er hatte fast

alle die großen Priucipieufragcn des constitutionellen Lebens zu erörtern

und bewältigte seine schwere Aufgabe mit musterhafter Entschlossenheit.

Wer kann heute ohne Wehmuth den mäßigen Band betrachten, der jene

Seitdem ist der

kurzen und doch so gehaltreichen Verhandlungen enthält?

Umfang der stenographischen Berichte von Jahr zu Jahr stärker, ihr In­

halt dürftiger

geworden;

staaterei leben wieder auf

die unausrottbaren Gewohnheiten in

der Klein­

dem vergnügten Fangeballspiele zwischen

neun Fraktionen, das einer großen Nation kaum würdiger ist als weiland

die welthistorischen Debatten über die Weinkeller des Herzogs von Nassau

oder das Krongut des Welfenkönigs; und wenn im

ersten norddeutschen

Reichstage nur selten ein Redner länger als eine halbe Stunde über einen wichtigen Verfassungsparagraphen sprach, so vergehen jetzt oft ganze

Wochen über gegenstandslosen Debatten, die nur den Hohn und Zank der

Wahlkämpfe im Parlamente erneuern.

Die Leitung der Verhandlungen

fällt mehr und mehr in die Hände einer kleinen Schaar von Berufspar­ lamentariern, die

mit seltenen Ausnahmen das Fraktionsinteresse

als

Selbstzweck betrachten; neben ihnen vermag die Masse der Unbefangenen, die nur aus Pflichtgefühl für einige Jahre das Mandat übernehmen, nicht

aufzukommen;

die praktischen Talente aber ertragen

es

selten auf die

Dauer, das Handwerk der politischen Kritik als Lebensberuf zu treiben und treten zumeist bald in die Reihen des Beamtenthums über.

Mit

dem Erstarken der radikalen Parteien hat auch der wohlbekannte Berliner Fortschrittston das parlamentarische Bürgerrecht erlangt, und seit Herr

Virchow auf der Rednerbühne des Reichstags mit Schuften um sich warf,

kann sich die Nation der angenehmen Hoffnung hingeben, daß unser Par­ lamentarismus die Anstandsgewohnheiten des amerikanischen Congresses

mit der Zeit noch überbieten wird. Nach langen Verhandlungen voll zweckloser Erbitterung und Aufre­ gung hat der jüngste Reichstag schließlich doch gethan was er nicht lassen

durfte: er hat ein Budget angenommen, das sich beim besten wie beim

schlechtesten Willen nicht verwerfen ließ, und durch die Bewilligung der Kosten für den Zollanschluß Hamburgs eine vollendete, leider gegen den

Willen der Reichstagsmehrheit vollendete, aber zum Glück verfassungs­

mäßig unangreifbare Thatsache anerkannt.

Zum Schluß bereitete die un­

verwüstliche Zanksucht der Fortschrittspartei den Anhängern des lebendigen Königthums «och einen glänzenden Triumph durch die Verhandlung über

den königlichen Erlaß

vom 4. Januar.

Der streng monarchische Cha­

rakter deS deutschen StaateS wurde aus Sinn und Wortlaut der Ver­

fassung unwiderleglich erwiesen,

und die Parteien, denen das belgisch­

italienische Schattenkönigthum als letztes Ziel vorschwebt, sahen sich ge­

nöthigt ihre HerzenSmeinung zu verhüllen.

Selbst die Gegner konnten

nicht gradezu leugnen, daß jede Regierung bei den Wahlen auf die Unter­

stützung

ihrer

ausführenden Verwaltungsorgane rechnen

und

von den

übrigen Beamien, wenn sie sich der Opposition anschließen, mindestens ein maßvolles Auftreten

verlangen

Gegen den Mißbrauch der

muß.

Amtsgewalt sichert das Parlament sich selber durch die schneidige Waffe

der Wahlprüfungen. Die alten Bedenken gegen die Wählbarkeit der Beamten wurden in

diesen merkwürdigen Debatten nur leicht gestreift, weil alle Parteien insge­ heim fühlten, daß hier ein schwerer und doch vorläufig unabwendbarer Uebel­

stand unseres constitutionellen Lebens vorliegt.

Was man auch sagen möge,

die Gewissenhaftigkeit unseres Volks wird sich mit dem undeutschen Ge­ danken des reinen Parteiregiments nie befreunden; sie erwartet, daß nicht blos die Rechtspflege, sondern auch die Verwaltung über den Parteien stehen solle.

Dies deutsche Ideal wird fast unerreichbar, wenn die Organe der

Obrigkeit zugleich als Abgeordnete die Interessen einer parlamentarischen

Partei verfechten dürfen und also immer Gefahr laufen entweder einem

gesinnungslosen Streberthum zu verfallen oder die Mannszucht und Treue des Beamtenstandes aufzulockern.

Aber ohne juristische Sachkenntniß sind

die Aufgaben der parlamentarischen Gesetzgebung

nicht zu lösen.

Ein

Jncompatibilitätsgesetz, das einen Theil des Beamtenthums von der Volks­

vertretung ausschlösse, würde bei uns wie in Italien binnen Kurzem eine

Schaar unbeschäftigter Rechtsanwälte in das Parlament einführen, und dies Heilmittel wäre ärger als das Uebel.

Was es für Italien bedeutet,

daß ein volles Drittel der Versammlung auf Monte Citorio aus Advokaten

besteht, das hat Marco Minghetti soeben in seiner lehrreichen Schrift i partiti politici drastisch geschildert.

So wird eö wohl dabei bleiben,

daß der deutsche Parlamentarismus an die Charakterstärke und die Mäßi­ gung des BeamtenthumS sehr hohe Anforderungen stellen muß — For­

derungen, denen ein Theil unserer Beamten bei dem letzten Wahlkampfe leider nicht entsprochen hat.

Die im Reichstage erlittenen Niederlagen haben die Fortschrittspartei nicht abgehalten, auch den preußischen Landtag zunächst einige Wochen lang

mit den Ausbrüchen sinnloser Entrüstung zu belästigen bevor er endlich an die Arbeit gehen durfte. großen Erfolg.

Dann aber errang die Regierung

einen

Ihre Eisenbahnpolitik hat sich glücklich bewährt und viele

der früheren Gegner gewonnen; das Netz der Staatöeifenbahnen wird nochmals vervollständigt, die Verstaatlichung der Rhein-Nahe-Bshn bietet

dem Staate endlich die Möglichkeit,

auch die so lange vernachlässigten

Gebirge des linken Rheinufers, den Hunsrücken unv die Eifel in den

Weltverkehr eintreten zu lassen.

In der elften Stunde wurde die end-

giltige Entscheidung freilich wieder vertagt, durch einen jener Fraktionsscherze, deren tiefer Sinn sich nur den eingeweihten Kennern der Partei-

mysterien enthüllt; aber allem Anschein nach wird der letzte Erfolg dadurch nicht gefährdet werden.

Ungleich zweifelhafter erscheint das Schicksal der

neuen kirchenpolitischen Vorlage.

Die Krone ist der Curie abermals sehr

weit entgegeugekommen, allzuweit: wie unS scheint, denn in die Wieder­

einsetzung der abgesetzten Bischöfe kann der Staat nichl willigen ohne sein Ansehen ernstlich zu gefährden.

Trotzdem zeigt sich in den Reihen des

Centrums nicht ehrliche Versöhnlichkeit, sondern ein wachsender Uebermuth.

Vor fünfzig Jahren sprach der Papst öffentlich seine Bewunderung aus

für die ftaunenswerthe (mirifica) Hochherzigkeit,

welche das preußische

Königthum der katholischen Kirche erweise; heute untersteht sich der Führer

der preußischen Ultramontanen bereits, den Hohenzollern die Fähigkeit zur unparteiischen Handhabung der staatlichen Kirchenhoheit zu bestreiten und

empfiehlt die Ernennung eines katholischen (warum nicht auch eines jüdi­ schen und eines freigemeindlichen?) Cultusministers neben dem evangelischen.

Seit die radikalen Parteien ihre alten kirchenpolitischen Grundsätze über Bord geworfen haben, glaubt man sich Alles erlauben zu können; der

welfisch gesinnte Theil der Clericalen trägt ohnehin wenig Verlangen nach einer Verständigung mit dem gehaßten deutschen Reiche.

An der fried­

fertigen Gesinnung des Papstes wird Niemand zweifeln; es liegt aber in

der Natur der Dinge, daß eine gewissenhafte weltliche Regierung die kirch­ lichen Nöthe ihrer katholischen Unterthanen selber weit schmerzlicher empfinden

muß als eine geistliche Weltmacht, die seit Jahrhunderten daran gewöhnt ist immer einige unter ihren zahllosen Diöcesen in Unordnung zu sehen.

Somit bleibt es noch sehr fraglich, ob die Beilegung dieses dem Staate aufgedrungenen Kampfes jetzt schon gelingen wird;

um den Preis der

Rückkehr der abgesetzten Bischöfe wäre sie sicherlich zu theuer erkauft. Nach neueren Nachrichten wird der Reichstag binnen Kurzem wieder

zusammentreten; die Regierung will den Versuch wagen, ob sich mit dieser

Versammlung große finanzielle und wirthschaftliche Reformen vereinbaren

lassen.

Der lang erwartete Gesetzentwurf

über das Tabakmonopol ist

endlich erschienen, und die Aufnahme, die er in der liberalen Presse fand, würde hochkomisch wirken, wenn dies Uebermaß der Parteiverbitterung nicht gar so traurig wäre.

„Da haben wir nun — so etwa äußerten sich

die liberalen Leitartikel — seit Monaten unseren Lesern sonnenklar be­

wiesen, daß das Pfund des billigsten Tabaks unter der Herrschaft des

Monopols fünf Mark zum Mindesten kosten müsse, und jetzt kommt dieser nichtswürdige Reichskanzler und verleugnet gänzlich die Pietät, welche doch jeder gesittete Mensch den liberalen Parteimärchen schuldet, und setzt den

Preis, ohne nns auch nur zu fragen, auf fünfzig Pfennige fest!"

Der

Entwurf schließt sich, wie nicht anders zu erwarten war, so eng als möglich an die heutigen Preise und Eonsumlionsgewohnheiten an;

er will die

Masse der Raucher nicht schädigen, sondern nur den Reichen, was ihnen

herzlich zu gönnen ist, ihre Luxus-Eigarren verthenern. essen der Tabakbauer sind mit Schonung behandelt.

Auch die Inter­

Glicht weniger als

einundachtzig Bezirke sollen auch fernerhin Tabak bauen Dürfen, und da

die Regie von dem Gedeihen des heimischen Tabakballes offenbar selber Vortheil zieht, so wird sich der Pflanzer nach einer kurzen Uebergangszeit

vermuthlich besser befinden als gegenwärtig.

Heute muß er die grünen

Blätter oft schon auf der Staude an den Wucherjuden verkaufen, was in

der Heidelberger Gegend ganz gewöhnlich ist; unter der Regie fällt dieser Zwischenhandel hinweg, nnd der Bauer hat nur mit einem einzigen zah­

lungsfähigen und ehrlichen Kunden zu thun. Die Beaufsichtigung von Seiten der Regie ist keineswegs lästiger als die peinlichen Vorschriften, welche schon

heute zur Sicherung der Gewichtssteuer bestehen.

So wird denn die Ent­

scheidung wesentlich von der Frage abhängen: ist der Reinertrag des Mono­ pols hoch genug um die radikale und zweifellos unerfreuliche Umgestaltung

der Tabakindustrie und des Tabakhandels zu rechtfertigen?

Die Rechnung

ist sehr schwierig, da sie viele unbekannte Größen mit in Ansatz bringen muß.

Läßt sich aber der erwartete Ertrag von vorläufig 169 Mill, jährlich

als einigermaßen sicher erweisen, dann scheint uns das Opfer nicht zu

groß.

Die schimpfliche Armuth der Reichsgewalt war unter den zerstö­

renden Kräften, welche einst unser altes Reich zu Falle brachten, nicht die

letzte.

„Es hat Deutschland, sagte Dahlmann, ungeheuer viel gekostet,

daß ihm sein Kaiser zuletzt so wenig kostete."

Wer die Macht des neuen

Reichs höher schätzt als die Gunst der Tagesmeinilng, der prüfe ernstlich

oder zeige, durch welche andere Mittel der Reichshaushalt so weit gekräftigt

werden soll, daß er die Gliederstaaten nachhaltig zu unterstützen vermag. DaS Verständniß für die Lebensbedingungen unserer nationalen Einheit

ist aber in dem Gezänk der letzten Jahre den Parteien dermaßen fremd

geworden, daß dieser Baum gewiß nicht auf den ersten Schlag fallen wird. Die Anarchie und der Druck unseres Eommunalsteuerwesens wird noch

eine gute Weile anhalten und wachsen müssen, bis der Reichstag sich ent­ schließt, durch eine starke Vermehrung der Reichseinnahmen endlich eine

klare Auseinandersetzung zwischen den Steuersystemen

des Reichs, der

Bundesstaaten und der Gemeinden herbeizuführen. Geringere Schwierigkeiten bietet der Gesetzentwurf über die Unfalls­ versicherung,

der jetzt zum zweiten male, wesentlich verbessert, an den

Reichstag herantritt.

Die liberalen Parteien konnten nicht umhin, ihrer­

seits Borschläge für die Verbesserung des Haftpflichtgesetzes einzubringen,

und wenngleich einzelne der Urheber dieses Planes dabei nur die Absicht hatten ut aliquid fecisse videantur, so liegt doch in den Vorschlägen

selbst das Eingeständniß der Unhaltbarkeit der heutigen Ordnung.

Ist

dies erst zugestanden, so kann auch die Einsicht nicht fehlen, daß der Schutz der

arbeitenden Klassen unmöglich • der kaufmännischen Speculation des

Privatcapitals überlassen bleiben darf. Wie gehässig auch die landläufigen Klagen über die neue Aera der

großen Reaktion erklingen: die Deutschen wissen trotz alledem sehr wohl, daß wir eigentlich nur durch unsere auswärtige Politik und unser Heer schon ein wirklicher Großstaat sind, während unser Parlamentarismus noch

die Eierschale der Kleinstaaterei auf dem Kopfe trägt.

Sie sind

stolz

darauf, daß Deutschland heute wieder die Wage des europäischen Gleich­ gewichts in seinen Händen hält, und täuschen sich nicht über die unbe­ rechenbaren Gefahren der Weltlage: in der allgemeinen Rathlosigkeit der

russischen Zustände ist nichts mehr unmöglich, auch nicht die Tollheit einer panslavistischen Kriegspolitik, und in dem Reiche unseres einzigen Bundes­

genossen geht das Deutschthum, nicht ohne eigene Schuld, mit jedem Tage zurück!

Es wird dem Frieden der Welt nur förderlich sein, wenn das

Allsland die Bedeutung der deutschen Parteikämpfe nicht überschätzt.

Die

Zeiten sind vorbei, da die Fremden für ihre Zwecke auf unsere Uneinigkeit

zählen durften. —

15. März.

Heinrich von Treitschke.

Notizen. (Moses Mendelssohn.) Dr. Moritz Brasch hat Mendelssohns „Schriften zur Philosophie, Aesthetik

und Apologetik" mit einer biographischen Einleitung (Leipzig, Boß) herausge­ geben; das verdienstliche Buch hat schnell eine zweite Auflage erlebt.

Der Ber­

fasser hat seine Absicht, Mendelssohn dem Publikum näher zu rücken, erreicht.

Schon darum verdienen diese Schriften, mehr gelesen zu werden als es

gewöhnlich geschieht, weil sie uns den Geschmack einer Zeit versinnlichen, in welcher Mendelssohn unbestritten als einer unsrer ersten Classiker galt. Wenn ich hier einige charakteristische Züge Mendelssohns zusauunenstelle,

so berühre ich eine Seite seines Wirkens, vielleicht die rühmlichste, nur kurz,

weil sie am meisten bekannt ist, ich meine seinen Einfluß auf seine Glaubens­

genossen.

Hier wird sein Andenken unvergeßlich bleiben, er ist nicht blos mit

Energie und, waS ebenso nöthig war, mit sicherem Takt für die Rechte der Juden eingetreten, er hat nicht blos durch die hohe Achtung, die er sich per­ sönlich bei den besten Männern der Zeit erwarb, in der öffentlichen Meinung

den Juden eine bessere Stellung gegeben,

er hat zugleich mit unablässigem

Eifer an der besseren Erziehung seines Bolks gearbeitet und es in die euro­ päische und deutsche Bildung eingeführt.

Ich habe es hier nur mit dem deutschen Schriftsteller zu thun, und will auch da nur Einzelnes hervorheben.

Sein litterarisches Wirken zerfällt für mich in drei Perioden:

die erste

von 1755 bis 1764, die zweite von 1764 bis 1780, die dritte bis an seinen

Tod 1786.

Die erste scheint mir die wirkungsvollste, die zweite die glücklichste,

in der dritten macht sich ein Herabsteigen bemerkbar.

Die erste Periode hat einen entschieden kritischen Charakter.

Es ist die

Zeit seines Zusammenwirkens mit Lessing, Nikolai, Rammler und andern ber­ liner Kritikern, die Zeit des siebenjährigen Kriegs, der Litteraturbriefe.

Daß

ich Rammler auch dazu rechne, der doch gewöhnlich nur als Dichter bezeichnet

wird, rechtfertigt sich theils aus seinen ersten Kritiken, die zum Theil recht gut

sind, theils durch die Feile, mit der er später die Schriften anderer Dichter bearbeitete, oft einseitig, aber doch so daß seine Grundsätze deutlich genug her­

vor treten.

sohns.

Diese Grundsätze sind im Ganzen auch die Grundsätze Mendels­

In dieser Periode waren die Berliner die aufstrebende Generation,

ihre Kritik war fortschrittlich gedacht, sie erklärten dem Schlendrian und dem

Hergebrachten den Krieg.

Nikolai war eigentlich immer nur der rührige Ge-

schäftsführer, Lessing wurde als Genie bewundert, Mendelssohn galt als der

geschulte Philosoph. l^r hatte in der That mit höchst unvollkommener oder eigentlich gar keiner Schulbildung sich mit Ausdauer und Scharfsinn in die gangbare Philosophie

eingearbeitet.

Er hatte mit Locke angefangen, und wenn er sich bald zu Leibniz

bekannte, so hatte er es doch immer für möglich gehalten und bis zu einem gewissen Grad auch wirklich durchgesetzt, manches aus Locke, namentlich die

Analyse der Euipfindungen in die Leibniz'sche Lehre einzufuhren.

Er konnte

das um so eher, da ihn das Esoterische bei Leibniz, die ursprünglichen einheit­ lichen Grundkräfte und die voraus bestimmte Harmonie zwischen Geist und Materie, immer nur flüchtig berührte.

Als seine Ausgabe betrachtete er die

weitere Ausbildung der wissenschaftlichen Aesthetik, die nach Leibniz von Büll­ finger, Baumgarten, Breitinger und Sulzer bereits versucht war.

Nach dieser Richtung hin

sind

seine Arbeiten

noch heute

sehr lesbar.

Schon in seinen Briefen über die Empfindungen finden sich einzelne treffende

Bemerkungen und wenn man seine Untersuchungen über das Schöne und Er­ habene aus den Jahren 1757 und 1758 mit den gleichzeitigen und gleichartigen

Arbeiten Kant's vergleicht, so wird man entschieden den ersteren den Borzug

geben.

Später freilich in der Kritik der Urtheilskraft hat Kant die Aesthetik

auf eine ganz neue Basis gestellt.

Die Grundsätze, die Mendelssohn in seiner

Theorie aufstellte, wandte er auch als Kritiker in den Literaturbriefen an.

Hier

tritt eine Eigenthümlichkeit seines Stils hervor, die sowohl seine frühere große

Anerkennung erklärt, als daß er so bald in Bergessenheit gerathen ist. Er war nämlich in der Gesinnung wie im Ausdruck derselben Rationalist,

er strebte nach einem deutlichen, correcten und faßlichen Ausdruck, der aller

Welt einleuchten müsse, und hatte einen wahren Haß gegen alle Paradoxie, gegen

jeden Versuch gegen die Schnur zu hauen.

Lessing liebte und ehrte er zu sehr,

um seine Streiche, seine Luftsprünge nicht gern zu verzechn, aber er schüttelte

doch schon damals über sie ebenso den Kopf wie nach Lessing's Tod im Brief­ wechsel mit Jakobi.

Sehr ergötzlich ist aus dem ersten Jahr seines Wirkens

die Lebhaftigkeit, mit der er Lessing von seiner vermeintlichen übertriebenen Vor­ liebe für Rousseau abzubringen sucht.

genauer:

Prüft man das Sendschreiben an Lessing

Mendelssohn hat in den meisten Punkten Recht, aber er legt sich

nicht die Frage vor, wie die ungeheure Wirkung dieser Schriften zu erklären ist.

Dasselbe begegnet ihm einige Jahre

später

mit der „Neuen Heloise".

Damals hatte er für Rousseau's Philosophie schon eine höhere Achtung, aber als Dichter will er ihn nicht gelten lassen, er ärgert sich über den Beifall, den diese

Schrift im Publikum findet, und wird mitunter sogar, was eigentlich gegen seine Grundsätze war, ziemlich grob.

Aber über die Ursache des Beifalls weiß

er sich keine Rechenschaft zu geben, da doch nach seiner eigenen Philosophie jede Wirkung eine Ursache haben muß.

Seinem Urtheil im Einzelnen werden

wir heute meist beipflichten, aber wir werden doch mit weit größerem Interesse

Hamann's Erwiderung lesen, obgleich sie nur mit guten und schlechten Witzen

Bei Hamann merkt man herans, daß er bei all

Mendelssohn zu Leibe geht.

seinen Gedankensprüngen den Punkt sieht und festhält, auf den es ankommt;

bei Mendelssohns logischer Deduktion merkt man das nicht.

In dieser Un­

sicherheit über den Brennpunkt, bei allem Verständniß für das Einzelne, liegt der Grundfehler des gewöhnlichen Rationalismus. Die letzte Begebenheit dieser Periode war die Preisaufgabe über die phi­

losophische Evidenz, mit welcher Mendelssohn bei der berliner Akademie den

Die Schrift verdient ihrer Darstellung wegen

Preis über Kant davon trug.

in der That alles Lob; sie ist logisch, verständlich, leicht und angenehm zu lesen; aber geht man auf den Inhalt ein, so muß man über das Urtheil der Aka­

War in der Frage, welche sie gestellt hatte, wirklich ein Sinn,

demie erstaunen.

so konnte es doch nur die nämliche sein, die Kant in der Kritik der reinen Ver­

nunft zu erledigen unternahm: auf welche Weise können wir unser Wissen mit absoluter Sicherheit vermehren?

Man lese aber nur den Anfang von Men-

delssohn's Preisschrift, die Wendung welche er der Frage giebt: für ihn gehörte

zur Evidenz auch die Faßlichkeit, darum gesteht er wohl der Elementargeometrie

die Evidenz zu, bestreitet sie aber der Differenzial-Rechnung. Augen nicht!

Man traut seinen

Auf diese Weise wird die Frage von dem wissenschaftlichen Ge­

biet auf das pädagogische übertragen.

Gleichviel!

durch

diese Entscheidung der Akademie wurde Mendelssohn

in seinem 34. Jahre ein berühmter Mann. ist im beständigen Steigen.

Und er bleibt es, ja sein Ruhm

Es folgt 1767 der Phävon, in welchem die Un­

sterblichkeit der Seele auch dem eingeschränkten Verstand in einer anziehenden,

blühenden Sprache faßlich gemacht werden soll.

Das Buch wird als ebenso

classisch wie erbaulich in der guten Gesellschaft anerkannt.

Dann 1769 der

Streit mit Lavater, der mit einem seiner gewöhnlichen, wunderlichen Einfälle ihn öffentlich auffordert, zum Christenthum überzutreten, wo dann Mendelssohn

durch seine ruhige und würdige Antwort allgemeine Bewunderung erregt.

Eine

Schaar von Bewunderern sammelt sich um ihn, die auf jedes seiner Worte

lauschen;

er heißt nun allgemein der jüdische Sokrates, und man freut sich,

daß endlich unser Zeitalter das größte Problem gelöst, einen reinen tugend­ haften Weltbürger ohne alle historische Bestimmtheit hervorgebracht hat.

Wenn

Mendelssohn wiederholt seinen Widerwillen gegen Alles ausspricht, was mit der Geschichte irgend wie zusammenhängt, so spricht er nur lauter aus, was das ganze Zeitalter der Aufklärung im Stillen dachte.

reicht sein Ruhm im Nathan:

Die vollste Höhe er­

alle Welt wußte, daß Lessing ihn zum Modell

genommen hatte, und wo könnte man sich ein idealeres, liebevolleres Portrait

vorsteüen als diesen weisen und

tugendhaften Mann.

Dagegen kam

selbst

Sokrates nicht auf.

In Mendelssohns näherem Verkehr waren in dieser zweiten Periode jenes Wirkens meistens nur Köpfe geringeren Rangs, Engel u. s. w.

Indeß ging die

deutsche Litteratur höchst eigenartig und mit gewaltigen Schritten ihren Weg

nach einer andern Seite fort.

Lessinas Laokoon^ die Dramaturgie, Herders

kritische Wälder, die Barden, die Begeisterung für's deutsche Vaterland, Götz,

Werther, Sturm und Drang: das alles hatte mit der Richtung, welche Men­ delssohns erste Periode charakterisirt,

keine Verbindung mehr.

Die berliner

Schule, wenn man mit diesem nicht ganz zutreffenden Ausdruck eine Richtung des geistigen Lebens bezeichnen darf, stand nicht mehr im Vorderireffen, die

verhielt sich ablehnend, immer

noch

geliebten

in übeler Laune zuschauend.

oder

Freundes Lessing

theolologischen

Auch mit seines

Streitschriften

war

Mendelssohn gar nicht mehr einverstanden, am wenigsten mit seinen Spötte­ reien gegen die Nationalisten.

Wie hoch Lessing noch immer seinen Freund

achtete und wie sehr er ihn liebte, das zeigt eben am besten der Nathan; von einem Bedürfniß aber,

sich gegenseitig über die höchsten geistigen Interessen

auszusprechen, zeigt der Briefwechsel nur noch wenig Spuren.

So trat denn nun die dritte Periode ein; sie brachte nur zum Vorschein, was lange vorbereitet war.

Die entscheidenden Ereignisse waren Lessings Tod

und die Kritik der reinen Vernunft.

Die letztere nöthigte Anhänger und Gegner,

sich umzudenken, Alles was bisher als sicher angenommen war, von neuem Die alte Form der Deduction wollte nicht mehr verfangen. Blättert man in Mendelssohns „Morgenstunden", so findet man Vieles darin

in Frage zu stellen.

über das Dasein Gottes, über die Unsterblichkeit der Seele u. s. w., ebenso gut gesagt ja vielleicht besser als in den früheren Schriften: aber gegen die neue Kriegführung, welche Kant „der alles Zermalmende" aufgebracht, reichten diese

Waffen nicht mehr aus.

Wider seinen Willen wurde nun Mendelssohn recht

in die Mitte des Kampfes hineingerissen, und zwar durch einen sonderbaren Zwischenfall.

Wenn Lessing auch nicht mehr viel mit Mendelssohn verkehrt hatte, so war doch durch seinen Tod diesem viel geraubt, und das empfand man sehr

wohl.

Von allen Seiten, z. B. von Herder, trafen Sendschreiben ein, die ihn

trösteten und ihm als Ersatz eine neue Freundschaft anboten. sehr wohl.

Das that ihm

Nun aber meldete sich Einer, der da behauptete, Lessing's innerste

Ueberzeugung, die er Mendelssohn immer verhehlt, genau zu kennen, und dem Publikum mittheilte, Lessing sei nicht Leibnizianer, sondern Spinozist gewesen.

Es war Fr. H. Jakobi. Daraus entspann sich ein weitläufiger Briefwechsel und die Reihe

bekannten

Streitschriften,

für deren

Verständniß

hier

Einiges

der

nachgeholt

werden muß.

Es war für Mendelssohn ein Stich in's Herz, daß Lessing, der ihn noch

eben im Nathan verherrlicht, ihm sein geheimstes Denken nicht mitgetheilt, es dagegen an einen zweideutigen Menschen verschwendet haben sollte, der ein

heimlicher Feind der Aufklärung war!

Daher die Bitterkeit des Tons gegen

Jakobi; daher in der Hitze und Aufregung die völlig falsche Auffassung der Thatsachen. Jakobi hatte behauptet, nicht blos die spinozistische Philosophie, sondern

jede demonstrative Philosophie führe in letzter Consequenz zum Atheismus und

zur Leugnung der Freiheit; dieses Resultat widerspreche aber dem menschlichen

Gemüth, und er rette sich durch einen „Salto Mortale" in den Glauben. Das nahm nun Mendelssohn so, als sollte er zum zweiten Mal, wie von

Lavater, in's Christeuthum

gedrängt werden.

Die Christen verstehen unter

„Glauben" entweder Fügsamkeit in die Lehren des Katechismus oder eine durch wunderbare Erleuchtung hervorgerufene Bekehrung, also eigentlich ein Schaun.

Zu dieser Art des Glaubens behauptete nun Mendelssohn, habe Jakobi Lessing bekehren, und da ihm das nicht gelang, der Welt an einem abschreckenden Bei­ spiel zeigen wollen, wie tief selbst ein so bedeutender und edler Mann wie

Lessing aus Mangel an Glauben sinken könne in Den Pfuhl des verderbtesten Spinozismus! Mendelssohn gebraucht bei dieser Darstellung Ausdrücke, die Jakobi mit

Recht als unwahr zurückweisen konnte;

ja er verkannte seine ganze Tendenz.

Jakobi verstand unter „Glauben" gar nicht den christlichen Glauben, den er im Grund ebenso wenig hatte als Mendelssohn; er hatte nie eine Concordien­

formel unterschrieben und ihm war nie eine Erleuchtung zu Theil geworden.

Er verstand unter „Glauben" ein Bedürfniß des Herzens, das die Einwürfe

des Berstandes

besiegen sollte.

Auf den Schwung dieses Bedürfnisses machte

er wiederholt seinen „Salto Mortale",

kam aber stets auf denselben Punkt

wieder zu stehen, von dem er aufgesprungen war.

Daher war es auch keines­

wegs seine Absicht, Lessing zu bekehren, was man so bekehren nennt: vielmehr war seine geheime Absicht, Lessing zu dem Geständniß zu nöthigen, daß er,

Jacobi, mit seinem „Salto Mortale" keineswegs ein Narr sei, sondern viel­ mehr ein geistreicher Mensch.

Denselben Versuch machte er bei Goethe, Herder,

Lavater, Hamann, bei aller Welt.

Aber keiner wollte auf seinen Salto Mor­

tale eingehen Salto Mortale!

riefen die Berliner; wer nicht wüßte, was das heißt!

Er ist ein geheimer Emissair der Rosenkreuzer und Jesuiten, die den Prinzen

von Preußen eingefangen haben und uns nach Unterdrückung aller Aufklärung katholisch machen wollen!

So wurde aus der sehr einfachen Frage: ob Lessing

mit seiner Philosophie sich mehr zu Leibniz oder Spinoza geneigt habe,

eine

Haupt- und Staatsactiou, die ganz Deutschland in Aufregung setzte.

Daß in jener einfachen Frage Mendelssohn vollkommen Recht hatte, daß es nur Kinderei von Jakobi war, aus dem Gespräch eines Mannes, der bei seinem schnellen Denken in einer Stunde mehr und Verschiedeneres dachte als

Jener in einem Jahr, ein dogmatisches Glaubensbekenntniß zu machen, daß Lessings Philosophie vielmehr durchweg auf Leibniz fußte, habe ich anderwärts ausgeführt.

Wenn diese Streitigkeiten Mendelssohn's letzte Tage verbitterten, so ist das sehr zu bedauern; wenn aber sein Schüler Engel behauptete, Jakobi habe

seinen Tod verschuldet (Mendelssohn hatte sich nämlich erkältet, als er die Ge­ genschrift in die Druckerei trug!) so zeigt das nur, bis zu welcher Extravaganz der blinde Parteigeist einen sonst ganz vernünftigen Menschen treiben kann.

Julian Schmidt.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschk

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Karl Wilhelm Nitzsch. Von

Richard Rosenmund.

V.

(Schluß.)

Je weiter es dem Einzelnen vergönnt ist, auf den Bahnen der Wissen­

schaft sich zu ergehen, desto tiefer wird sich seine Einsicht mit dem Be­

wußtsein der Solidarität der Geistesarbeit im Menschengeschlechte erfüllen. Und sich eins zu wissen

zunächst mit den großen Geistern und stillen

Arbeitern der eignen Nation, die sich unmittelbar vor uns und neben uns

auf gleichem Wissensgebiet versucht, dann aber hinübergehoben zu werden

über Zeiten- und Völkergrenzen und im Reiche der Idee wie in der realen Forschung diese wettere Einheit des Menschengeschlechts zu erkennen, diese

Einsicht und dieses Gefühl sind neben andern köstlichen Gaben, die uns

die Wissenschaft zu unserm Glücke bescheert, eine der herrlichsten.

Nitzsch war nun durchaus die Persönlichkeit, um ein klares Bewußt­ sein dieses geistigen Zusammenhanges mit seinen Vorgängern und Zeitge­ nossen zu besitzen und zugleich' das Beglückende dieses Bewußtseins ganz

zu empfinden.

„Wer kann sagen, daß er nur irgendwo etwas gefördert

habe, ohne die Vorarbeiten und Mitarbeiten seiner Zeitgenossen, und wer mag sagen, er habe auf einem Gebiet so freier und bewegter Forschung

ans Licht gefördert, was nicht schon an andrer Stelle angeregt oder aus­

geführt ward.

In diesem wissenschaftlichen Gemeingut liegt der schönste

Lohn und Adel unserer Thätigkeit."

So schrieb Nitzsch in der Einleitung

zu den Gracchen, und seine Worte galten zunächst den Arbeiten zur römi­ schen Geschichte, denen er Förderung zu verdanken vermeinte; aber wir

handeln aus seiner Anschauung heraus, wenn wir sie auch für eine spätere Zeit seines Lebens und für sein Arbeitsfeld der deutschen Geschichte ver­

werthen.

Ja wir dürfen ganz seinem Sinne entsprechend zu verfahren

Preußische Jahrbücher. Bb. XLIX. Hefl 4.

23

glauben, wenn wir seinem schönen Gedanken noch eine weitere Bedeutung

beilegen, wenn wir in der Förderung durch andre nicht sowohl die Hilf-

leistung für den speciellen Fall der Forschung, als vielmehr die allgemeine Förderung in der Fachwissenschaft sehen, und wenn wir in den vor- und mitarbeitenden Zeitgenossen jene großen Geister aufsuchen, welche diese

Wissenschaft erst geschaffen, derselben ihre Ziele gesteckt und die Wege zu diesem Ziele hin gewiesen.

ES ist eben der Einzelne, in dem was er leistet und erstrebt, nicht denkbar und verständlich ohne jene und diese Vorgänger und Zeitgenossen.

Aber andrerseits ist der Einzelne doch wiederum nur er selbst in dem, waS er zu der Arbeit jener ersteren hinzugeschaffen, und darin, wie

er die überkommenen Lehren und Einflüsse dieser letzteren verwerthet; und

so erwächst dem Beurtheiler dieses Einzelnen die Pflicht, ihn mit diesen und jenen zu vergleichen.

Nun haben wir durch Aussonderung dessen, was Nitzsch zu den vor­ handenen Forschungsresultaten neues und eigenartiges hinzugefügt, die eine

Seite dieser Aufgabe bereits zu lösen versucht, wir werden nun auch an die Beantwortung der andren Frage Herangehen müssen, nämlich wie er

sich zu der bisherigen Auffassung von der Geschichte, der Umgrenzung ihres

Gebietes und der Festsetzung ihrer Ziele sowie den Mitteln und Wegen ihrer Arbeit gestellt. AuS ersterer vergleichenden Betrachtung resultirte die Bedeutung von

Nitzsch für einzelne Wissensgebiete, aus letzterer wird sich die für seine Wissenschaft ergeben.

Die biographische Darstellung

kann nun aber nicht immer

durch­

führen, was eine shstematische Disposition als Gesetz in der Form vor­

schreiben möchte.

So mußte einleitend zu dem Stubiengange von Nitzsch

auf Niebuhrs und Rankes Einfluß hingewiescn und bei der Besprechung seiner Arbeiten diejenige seiner Methode und bei der Ausführung darüber die der Ziele, welche er damit erreichen wollte, hineingezogen werden.

Es

werden sich daher in Folgendem einzelne Wiederholungen nicht vermeiden lassen, aber sie sollen vermieden werden, soweit es irgend geht.

Nitzsch ist in der Answahl des Arbeitsfeldes, in der Richtung seiner Studien, in der Methode und in den Aufgaben, die er sich dabei stellte, wie wir sahen, von Niebuhr und Ranke beeinflußt worden; aber auch seine letzten Gedanken, wenn man so sagen will, über Wesen und Grenzen

seiner Wissenschaft, lehnen sich an Ideen jener großen Persönlichkeiten an; wir müssen darum nochmals von ihnen ausgehn.

Niebuhr äußert sich einmal über das Verhältniß zwischen Kritiker und Historiker und Antiquar und Historiker so:

Verfälschungen gegen-

über, wie die Geschichte der ersten Jahrhunderte des römischen StaateS

sie unzweifelhaft in unserer Ueberlieferung erlitten, wird der Kritiker seine

Aufgabe darin sehen, die Fabel von der Wahrheit zu trennen, den Be­

trug zu zerstören, er will nur eine täuschende Geschichte enthüllen und er

ist zufrieden, einzelne Vermuthungen aufzustellen, während der größte Theil

des Ganzen in Trümmern bleibt.

Der Historiker aber bedarf Positives;

er muß weuigstens mit Wahrscheinlichkeit Zusammenhang und eine glaub­ liche Erzählung an Stelle derjenigen setzen, welche er seiner Ueberzeugung

aufgeopfert.

Dann wiederum meint er an andrer Stelle:

Manchem mag

es nothwendig erscheinen, sich auf Sammlungen der verstümmelten Frag­

mente alter Nachrichten zu beschränken, ohne Auflösung ihrer Theile zu versuchen, die Form des Ganzen zu errathen suchen, dem sie angehörten ---------------; eine solche Arbeit ist aber ganz nutzlos. Akan erkennt hieraus deutlich, welche Aufgaben sich Niebuhr stellte,

und er hat in seiner römischen Geschichte die Lösung dazu gebracht; auf

das Wie kommt es hier nicht an.

Nitzsch hat dieselben Ziele als Richt­

schnur für alle seine Forschungen übernommen, und man erkennt überall

in seinen Arbeiten, daß die Gedanken Niebuhrs über die Aufgaben deS Historikers auch die letzten Ziele seiner Forschungen waren, wie wir denn auch derselben Akethode diese zu realisiren, der positiven Kritik, bei Nitzsch

wie bei Niebuhr ebenso begegnen wie den andern Mitteln der Betrachtung,

die Niebuhr anwandte.

Aber man darf einen großen Unterschied in allen diesen Dingen zwischen Nitzsch und dem Meister,

Nitzsch stellte bei Verwerthung

dem er nacheiferte, nicht übersehn.

eines Ereignisses für die Analogie erst

wissenschaftlich genau die Thatsache fest, während Niebuhr hierüber bis­

weilen mit einer gewissen Leichtigkeit wegging.

Für Nitzsch war die Ana­

logie niemals mehr als ein Hilfsmittel der Erklärung, nie Mittel eines

Beweises.

Nitzsch ließ sich nicht gleich Niebuhr von einer Intuition leiten,

die „auf wiederholter und eingehender Beschäftigung mit der Sache be­

ruhte", sondern er war stets beflissen, die Intuition der Dinge auf um­

fassender wissenschaftlicher Forschung über alle die Momente aufzubauen, die geeignet waren, eine lebendige Intuition zu ermöglichen.

Und will

man den Unterschied kurz bezeichnen, und ich hoffe, nicht mißverstanden

zu werden, so könnte man sagen: Nitzsch zeigt einen größern Respect vor

dem überlieferten Faktum an und für sich. Niebuhr hatte ein Geschichtsgebiet zum Gegenstand seiner Arbeiten

gemacht, auf dem er bei dem Stande der Ueberlieferung ein positiveWissen kaum erlangen konnte; man halte in der Erinnerung fest, daß ihm sich noch ganz und gar entzogen, welch reicher Schatz geschichtlicher 23*

Karl Wilhelm Nitzsch.

340

Nachrichten uns in den Denkmälern aufbewahrt, wie ihn später Momm­ sens glückliche Hand gehoben und dessen Genius ausgebeutet. Ganz dürftige

und unsichere Einzelnachrichten und ausführliche, aber unzweifelhaft sagen­

hafte Ueberlieferungen,

Seine Auffassung der

das war daS Material.

Geschichte, seine Methode im Allgemeinen und im Einzelnen mußten den Charakter bekommen, den

sie

angenommen.

Nun trat aber in dieser

Kritik die Genialität eines eminenten Geistes so packend hervor, daß der Reiz, den es auSübte, den Wegen dieser Kritik nachzugehen, sich mittelbar

auf den Gegenstand derselben selbst übertrug und daß der Stoff, abge­ sehn von seiner Bedeutung als Theil der römischen Geschichte, neben dem

Interesse, das er durch seine dunkle, sagenhafte Hülle für den wissen­ schaftlichen Forschungseifer an und für sich erregte, nun ganz besonders

interessant unter dieser genialen Behandlung

wurde.

eS verstehen, wenn ein eifriger Nacheifrcr des der Bewunderung

für dessen Methode auch

Und man kann

großen Historikers mit

gleich

eine

Vorliebe

für

solche Forschungsgebiete gewann, für welche diese Methode eigentlich ge­ schaffen.

Nun hatte Nitzsch, wenn wir sonst richtig geurtheilt,

eine gewisse

Neigung für solch dunklere Wissensgebiete von seinen Vorfahren ererbt

und durch Tradition war sie in ihm lebendig gehalten, daS mußte die Einflüsse Niebuhrs in dieser Richtung natürlich verstärken, und eS hat es

auch gethan. Aber inzwischen war Nitzsch ein Schüler Rankes geworden und zwar

in einer Zeit, wo dieser bereits die Herausgabe der Jahrbücher in die Hand genommen und seine Schule neben Anderm mit der Einsicht zu

erfüllen sich bestrebte, daß für gewisse Partien unserer deutschen Geschichte, wie die der sächsischen Kaiser, der Historiker wegen des Quellenmaterials,

das zu Gebote stehe, sich begnügen müsse, eine kritisch haltbare Zusammen­ stellung, eine fortlaufende Sichtung des Ueberlieferten zu unternehmen, und daß er bisweilen werde verzichten müssen, eine genaue Begründung

aller Momente und eine allgemeine Ansicht über die Wirksamkeit jener Fürsten zu erreichen, die doch eben nur auf Einsicht in alle Momente

ihrer Thätigkeit beruhen dürfe.

Von hier aus nahm Nitzsch für seine

eignen Forschungen jene Beachtung der Ueberlieferung und jenen Respect

vor der Thatsache mit, von dem wir oben sprachen.

„Die Geschichte er­

kennt in der Sage die ersten Keime der Selbstanschauung und Bildung,

aber sie verzichtet gern auf ihre köstlichen Bildungen für die ersten Spuren

einer einfach verzeichneten Thatsache, wenn diese auch noch in jener Un­

sicherheit geschieht, mit der die Kraft des Kindes sich zum Gehen auf­ richtet", so schrieb Nitzsch 1846 in seinem Buche von den Gracchen. —

Fassen wir aber nun dieses und jenes zusammen, so erklärt sich vieles,

daS uns an den Arbeiten von Nitzsch zu denken gab. DaS zähe Festhalten desselben an seiner Auffassung der Censur auf Grund einzelner dürftiger zerstreuter Angaben mitten in einer die Ge­

schichte von Jahrhunderten zusammenfassenden allgemeinen Betrachtung be­ greifen wir nun ebenso, wie die detaillirten Local- und Architecturstudien

und ausgesponnensten Verwerthungen der Einzelfakta zwischen den kühnsten

Combinationen, zu denen das unvollständige Material für unsere Städte­ geschichte zwang.

auch deutlich, wo

Dann aber, und das ist Hauptsache, ersehen wir nun

wir so recht das Eigenartige und Selbständige

Nitzsch als Historiker zu suchen haben.

an

Wenn wir seine Arbeiten zur

deutschen Geschichte z. B. übersehen, so erkennt man nun, daß er bemüht

war, die Ideen Niebuhrs über die Aufgaben der Geschichtschreibung und

die Ansichten Rankes über den Werth der Thatsache vereint für die Ge­ schichte des Mittelalters zu realisiren; denn seine Arbeiten hiefür insge­

sammt betrachtet sind ihrer ganzen Anlage nach nichts anderes als der selbständige Verstich über Niebuhrs Geschichtsbetrachtung heraus im Sinne

Rankes der Ueberlieferung und der einzelnen Thatsache gerecht zu werden,

und zugleich andererseits das ebenso selbständige Bestreben über RankeS Auffassung von den letzten Zielen für die Geschichtschreibung deS sächsi­

schen Kaiserhauses hinaus zur allgemeinen Ansicht auch über diese Periode und zur zusammenfassenden Erzählung derselben im Sinne Niebuhrs zu gelangen.

Er hat für diesen Versuch eigenartig seine Methode, die wir kennen,

ausgebildet, und er hat ebenso die Form, das Einzelne in der allgemeinen Betrachtung darzustellen,

mühsam

sich selbständig geschaffen.

Auf den

Einfluß, den die Anschaulichkeit der Rankeschen Darstellung im Allgemeinen von Anfang an auf ihn ausgeübt, brauchen wir nicht mehr hinzuweisen,

wir könnten allenfalls noch hinzufügen, daß ihm die Rankesche Art, Ge­ schichte zu schreiben, stets als das vollkommenste Muster gegolten; sein

ganzes Leben hindurch war aber auch für Nitzsch Ideal, was Ranke ein­

mal ausdrücklich als daS Seinige für die Behandlung der einzelnen Be­

gebenheit in der Darstellung ausspricht:

Es gibt für die Behandlung

im Einzelnen ein erhabenes Ideal, das ist die Begebenheit selbst in ihrer menschlichen Faßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle. — Aber was Ranke in

der Darstellung der neueren Geschichte nach dieser Seite hin, gestützt auf eine Literatur, die in allen Verhältnissen, die der Historiker vor seine Betrachtung zu ziehen hat, überaus reichlich floß, geradezu großartiges

leistete, das auch nur annähernd für die Geschichte des Mittelalters zu erreichen, erforderte erst wieder die Lösung eines besondern Problems, des-

jenigen nämlich, von wo ist bei Betrachtung des Mittelalters auszugehen, um überhaupt zur Anschaulichkeit im Einzelnen rind im Allgemeinen zu

gelangen?

Und wir haben gefunden, daß er in Umbildung der Niebuhr-

schen Geschichtsbetrachtung über die natürlichen Verhältnisse einer acker­

bauenden Bevölkerung und den natürlichen Charakter einer diesen Ver­ hältnissen angepaßten Verfassung von der Erörterung der wirthschaftlichen

Zustände und Bedürfnisse unserer Nation im Mittelalter unter Zuhilfe­ nahme einer Reihe andrer Erwägungen ausgegangen ist, und daß er damit

sein Ziel erreicht hat; ein Resultat dessen Bedeutung nicht hoch genug zu

schätzen ist.

Er hat eben hier in der Form wie vorhin in dem Inhalt

seiner Untersuchungen, welches beides das Ergebniß einer Fortbildung und

eigenartigen Verwerthung dessen ist, was er von seinen großen Lehrern und Vorbildern überkommen, der geschichtlichen Wahrheit vortrefflich ge­ dient. —

ES dürfte nun niemanden, der sich mit Werken von Nitzsch beschäftigt hat, entgangen sein, daß durch alle seine Ausführungen ein Grundzug

universaler Betrachtung geht; sie wird von ihm sehr glücklich gehandhabt; nicht blos daß sie immer am richtigen Platze eintritt,

jedesmal durch das Licht, das sie verbreitet.

sie erfreut auch

Und seine Schüler wissen,

daß seine Vorlesungen geradezu eine universale Richtung einschlugen.

Die

ganze alte Geschichte, speciell darin die römische, die deutsche Geschichte bis zur Reformation und die allgemeine Verfassungsgeschichte bildeten den

Inhalt seiner Hauptvorlesungen.

im Sinne Schlossers?

War er nun aber ein Universalhistoriker

Er hat Schlossers Werke und die Geschichtsan­

schauung, die sich darin offenbarte, wohl gekannt. einmal als Aufgabe stellte:

Wenn er der Geschichte

„Die Thatsachen, die als beglaubigt aner­

kannt, nach dem einzigen Kriterium ihres sittlichen Gewichtes zu sichten, d. h. nach ihrer Wirkung auf die Thätigkeit der Mithandelnden und Mit­

lebenden", so

wird man unwillkürlich an Schlosser erinnert,

warme Ton sittlichen Urtheils, den sich "Nitzsch bewahrt,

innerung an ein Gleiches bei Schlosser wach.

und

der

ruft die Er­

Auch dürfte man eine ge­

wisse Aehnlichkeit vielleicht darin finden, daß "Nitzsch nicht immer so darauf aus ist, neues zu finden, als vielmehr häufig nur daritach strebt, bekannte

Thatsachen unter anderm Gesichtspunkte und in anderm Zusammenhänge

richtiger zu erkennen.

Aber in der unviversalen Betrachtung ist keine

Spur eines Zusammenhanges zwischen ihnen.

Nitzsch hat es stets abge­

lehnt, für die Geschichtsbetrachtung auf Naturwissenschaften und Anthro­ pologie direct zurückzugreifen.

Nicht daß ihm die Resultate fremd waren,

nein man möchte vielmehr auS einer gewissen Vorliebe für physikalische und ähnliche Bilder und Vergleiche auf ein lebhaftes Interesse für diese Wissen-

schäften schließen; aber er zog diese Ergebnisse als noch nicht reif für die historische Verwerthung auch noch nicht direct heran.

vielmehr der Vermittlung der Geographie.

Er bediente sich hiebei

Aber er folgte doch auch dieser

nicht in ihre letzten Gedanken, wenn sie mathematische Gesetze für die

historischen Erscheinungen im Völkerleben aufstellte.

Eine lebendige An­

regung, den Zusammenhang von Grund und Boden mit dem Entwick­ lungsgänge des darauf lebenden Volkes, den Einfluß auf seine Arbeit, seine Interessen, seine Geschichte zu verfolgen, hat er von Ritter über­ nommen,

weiter möchte ich die Grenze nicht ziehen.

Andrerseits hat

Nitzsch sich nirgend zu einer Betrachtung erhoben, die etwa ein Kapitel „av.S der Geschichte der Menschheit als ein zusammenhängendes Ganze

betrachtet" wäre.

So schied er sich durchaus von Schlosser in der Be­

handlung universaler Betrachtungen.

Und ebenso ablehnend stand er auch

der in seiner Jugend und später noch alles beherrschenden Richtung der philosophischen Behandlung der Universalgeschichte gegenüber. „Die Geschichte, so äußerte er sich, ist nicht der dialectische Prozeß der Weltgedanken, sondern die Darstellung der Thaten menschlicher Frei­ heit.

Der einzelne Menschengeist, der sich selbst durchbildete, wird die

vor ihm gewonnenen Resultate sittlicher Freiheit als das von ihm be­ stimmte Erbe anerkennen und verwenden: es ist dieser köstliche Hort, den

die Geschichte zu wahren und zu läutern hat."

Ich sehe darin eine volle

Ablehnung des von Hegel aufgestellten Systems der Philosophie der Ge­ schichte, denn die Selbstbestimmung des Einzelnen, ohne welche die sittliche

Freiheit nicht denkbar, welche aber in jenem System keinen Platz hatte

und die hier so in den Vordergrund gestellt wird, deutet zu klar auf diese Abweichung der Anschauungen.

Nitzsch begnügte sich vorwiegend zu ver­

folgen, welchen Einfluß ein historischer Vorgang auf diese und jene Nation offenbarte, er betrachtete die Entwicklung verschiedener Völker in den ihnen gemeinsamen Verhältnissen der Wirthschaft, der Verfassung u. s. w.

Er

ging auch weiter, und fand er in der Geschichte zeitlich und räumlich ge­ schiedener staatlicher Bildungen analoge Eniwicklungsprocesse, so fragte er wohl, ob man die jedesmaligen Ursachen in einen allgemeinen Satz bringen

könne, der dann für ähnliche Stadien der Entwicklung bei andern Völkern u. s. w., wenn die Ueberlieferung vielleicht Lücken habe, zur Erläuterung

herangezogen werden könne.

Kurz seine universale Betrachtung überschritt

nicht das Gebiet, welches nölhig war, um die politische und sociale Ge­

schichte der Einzelvölker, denen seine Studien galten, möglichst vollkommen zu erkennen.

Sie schlossen also sich eigentlich nur um den grundlegenden

Gedanken, daß stammverwandte oder räumlich zusammenhängende Völker

geschichtlich ein Ganzes bilven gegenüber dem, was das einzelne unter

ihnen erlebt, und gegenüber den Ideen, die bet einem von ihnen zur

Herrschaft gekommen. Man kann hierin sofort wiederum eine Anlehnung an Ranke erkennen,

der in allen seinen Werken vor seiner Weltgeschichte bereits jene univer­ salen Betrachtungen anstellte, die, nach der treffenden Bemerkung eines Re­

censenten dieser Weltgeschichte, jene Bewegungen zum Gegenstand hatten, die von einem Volke zum andern fortschreiten und uns zeigen, daß eS eine

weltgeschichtliche Bewegung gibt. Und zur Gewißheit wird diese Anlehnung an Ranke in der universal­

historischen Behandlung der Dinge für jeden, der eine der früheren Re­

censionen von Nitzsch liest, wie etwa die über HelbigS „Ferdinand III." (Kieler Monatsschrift 1852) oder der jene Stelle über Karl V. in dem Aufsatz: der holsteinische Adel u. s. w. (Kieler Monatsschrift 1854) sich vergegenwärtigt.

Aber bei aller Anlehnung an seine großen Vorgänger ist Nitzsch doch

durchaus original und selbstschöpferisch; denn so ganz fremd einer weiteren Betrachtung der Geschichte, die man doch eine philosophische nennen muß,

steht er mit nichten gegenüber.

ES ist daS auch begreiflich.

Der Historiker

kommt doch einmal vom Wechsel der Dinge zu dem Bleibenden in den Er­ scheinungen und immer wieder reizt ihn die Frage nach der menschlichen Schuld an den großen Katastrophen und er kann sich dem nicht verschließen, was als wiederkehrendes Element der großen Conflicte auftritt.

und aussprechen heißt aber schon Philosophiren.

dem

noch

Dieses erkennen

Und an Nitzsch ist außer­

ein speculativer Zug unverkennbar.

Er offenbart sich vor­

nehmlich darin, daß er bei der Vertiefung in eine Betrachtung sich und seinen Gegenstand immer mehr verinnerlicht.

ES war noch die römische

Geschichte fast ausschließlich das Feld seiner Studien,

als er schon zu

philosophischen Erwägungen über die Geschichte kam.

Aber seine um­

fassende und tiefe Kenntniß der Geschichte dieses einzigen Staatswesens

wurde unterstützt durch eine lebendige und richtige Ansicht von Hauptmo­ menten der allgemeinen Geschichte und eine frische Beobachtung zeitge­ nössischer Erscheinungen

des Völkerlebens sowie eine sehr positive Er­

kenntniß deS bisherigen Standes seiner Wissenschaft, und da die jungen

Wissenschaften der Nationalökonomie und Statistik sich ihm als hilfreiche Dienerinnen bei seinem geistigen Schaffen erwiesen, so bekam seine philo­

sophische Reflexion eine so reale Grundlage, daß der absoluteste Real­ historiker kaum Gründe finden dürfte, dieser seiner Betrachtung zu wider­ sprechen, wenn er sagt:

Die Historie hat für die Gegenwart eine Schranke

der freien That nachgewiesen und zieht sie in ihre Betrachtung mehr als je, um an diesem Gegensatz die sittliche Freiheit zur innigeren Selbster-

kenntniß zu treiben, ich meine die Naturgewalt der materiellen Interessen.

Diesen Naturmächten gegenüber, die den Einzelnen und seine Persönlich­ keit gänzlich zu erdrücken suchen, gerade ihn, der in sich unterginge, wenn er nicht auf andre Freie einwirken könnte, in dieser vollen Thätigkeit und Wechselwirkung immer entschiedner und klarer, immer von Neuem zu er­

fassen und darzustellen, das scheint mir die Aufgabe der Geschichtschreibung. — Wir haben darin einen vollständig

klaren Gedanken darüber, was die

Geschichte für eine Aufgabe zu lösen hat; die philosophische Seite dieser Reflexion kann niemand verkennen, den Fortschritt, den sie gegenüber einer älteren Ansicht, die alle Leistungen der Einzelnen wie der Völker allein

aus dem Gesetz des freien Willens erklären wollte, ebenfalls wohl niemand übersehn, und zugleich zeigt sich eine, in der römischen Geschichte wohl

namentlich gewonnene, so reale Einsicht in den historischen Theil dieses

ResumöS, das durchaus unsern Beifall findet.

Es ist nun bemerkenS-

werth, daß Nitzsch diese Gedanken, die er 1846 niedergeschrieben, noch

ebenso in seinen Arbeiten der siebziger Jahre als die letzten Ziele be­ trachtet hat.

Und angesichts dessen bekommen nun seine Erzählung der

römischen Geschichte im 5., 6. und 7. Jahrhundert der Stadt, seine Unter­

suchungen über die deutsche Städtegeschichte und die Betrachtungen über die ältere deutsche Reichsverfassung eine höhere Einheit der Veranlassung und der Zwecke, und sie zeigen sich nun als die Produkte einer in sich geschlossenen, der Ziele und Aufgaben, die sie sich in ihrer Wissenschaft

stellen müsse, früh bewußten Persönlichkeit. Damit aber erhält alles, was er geschaffen, einen noch höhern Werth;

denn über dem, was Etnzelarbeiten als neue, Licht bringende Ergebnisse

zu Tage fördern, steht doch, daß hierin zugleich ein schöpferischer Geist ein Ideal zu verwirklichen trachtet, dem er von frühen Jahren an nachgestrebt,

namentlich wenn dieser schöpferische Geist durchaus ein originaler Geist ist. Und Nitzsch hat das verwirklicht, was ihn als Idee beherrschte, und

wenn auch nicht in dem Umfang der Leistungen und in jener Vollkommen­

heit, in welchen sein großer Lehrer realisirte, was er in den Grenzen seiner Wissenschaft zu schaffen gedacht, so doch in einem Grade der Vortrefflich­

keit und der Productivität, der unsere volle Anerkennung verdient.

An einem AuSdehnen seiner Leistungen auf jenen Umfang und am Erreichen jener Vollkommenheit hinderte ihn zweierlei, der Stoff, den er

zu verarbeiten hatte, und die Form, die er für seine Gesammtdarstellung wählte.

Seinem Stoff gegenüber mußte er erst bahnbrechend sich eine neue

Methode und Behandlung des Einzelergebnisses Schritt für Schritt die Productivität.

schaffen, das

hemmte

In der Form der Gesammtdarstellung verstieß er, und wir hatten bereits die Aufgabe das im Einzelnen zu motiviren, gegen die Gesetze, die nun einmal die Geschichtschreibung, mag sie Kunst oder Wissenschaft

sein, mit dem Epos gemein hat, gegen die Klarheit der Composition und

die Vorführung

der Dinge nach einander,

indem

er das Unmögliche

möglich zu machen suchte und, was in der Geschichte des Volkes in ver­ schiedenen Gebieten

seines geschichtlichen

auch nebeneinander darstellen

wollte.

Lebens

nebeneinander geschah,

Die Forschung

kann

aus

guten

Gründen, und Nitzsch hat das mit treffenden Beispielen belegt, oft der gleichzeitigen Betrachtung innerer und äußerer Geschichte, des Durchein­ ander von politischen und Verfassungsfragen nicht entbehren, die Geschicht­

schreibung aber wird dafür immer wieder gesonderte Darstellungen wählen müssen, will sie anders nicht überhaupt darauf verzichten, auch noch von

anderen Menschen gelesen zu werden als dem Kritiker von Profession, dem

alle Seetüre zugemuthet werden kann wegen seines Berufs, und dem Ge­ lehrten von Fach, der alles lesen milß wegen seiner Wissenschaft. — In dieser Form lag also dann unzweifelhaft ein Mangel gegenüber der Voll­

kommenheit der Darstellung seines großen Lehrers.

Aber was Nitzsch in

der Form vermissen läßt, ersetzt er durch den Inhalt, und tritt er an Um­ fang seiner Werke gegen andere zurück, er gleicht das ihnen gegenüber aus, ja er überbietet sie durch die Fülle und die Tiefe der darin nieder­

gelegten wissenschaftlichen Leistungen.

Er dachte und schrieb, auch wo er

es nicht beabsichtigte, doch eigentlich immer nur für die Gelehrten, die

Lektüre seiner Werke ist durchaus ein Studium, aber wer sie studiert, der erstaunt vor dem Wissen, das er darin findet, vor der Weisheit, zu der

dies Wissen umgeschaffen, der empfängt Anregungen zu geschichtlichen Be­ trachtungen, die auszuführerl ein ganzes Menschenleben voll ernster, nie rastender Geistesthätigkeit erfordern würde, der fühlt, daß er hier einem

der größten Geister unserer Nation gegenüber steht.

VI. Das Bild, das wir von Nitzsch zu entwerfen haben, würde unvoll­

ständig sein, wenn wir nicht auch seine Wirksamkeit als Lehrer uns vor­ führten und daran anknüpfend uns die Persönlichkeit zu veranschaulichen

suchten. Die akademische Thätigkeit der Professoren, welche historische Dis­

ciplinen vertreten, hat sich heutzutage ebenso wie der Lerneifer der Studirenden

überwiegend den Seminararbeiten zugewandt.

Wir beginnen

daher füglich mit dieser Seite der Thätigkeit von Nitzsch und haben da

die Frage aufzuwerfen, ob Nitzsch eine Schule begründet hat.

Ich stehe

nicht an, den Sachverhalt gleich dahin festzustellen, daß ihm dieses erst nach langer akademischer Thätigkeit gelungen; zeitlich ließe sich das etwa

in daS Jahr seiner Uebersiedlung nach Berlin (1872) setzen.

Und der Grund dieser Erscheinung ist unschwer zu finden, wenn man den Entwicklungsgang seiner wissenschaftlichen Bestrebungen, den wir

kennen, verfolgt. Der Historiker,

der eine Schule bilden will, muß seinen Schülern

ein genau umschriebenes, deutlich erkennbares Ziel zeigen, das als der allgemeine Gesichtspunkt und Endpunkt der wissenschaftlichen Bestrebungen der Schule gilt; er muß ferner eine klare, faßliche, gleichmäßige Methode

für die Arbeit feststellen; und er muß schließlich die Einzelausgaben, mag er sie direct oder indirect

vorschreiben, so

stellen, daß ein sichtbares

Resultat mit Hülfe der bestimmten Methode erreicht werden kann.

Wenn die Göttinger Schule beispielsweise als allgemeinen Zweck aus­ sprach festzustellen, was wir aus den Quellen der mittelalrerlichen Geschichte wissen; wenn sie für die Methode die Grundsätze entwickelte: abschließende

Heranziehung des gesammten Materials, sorgfältige Vergleichung der Nach­ richten unter sich, scharfe Prüfung des Werthes derselben; wenn sie als Ein­

zelausgaben — ich spreche ganz allgemein — die kritische Sichtung der von Jahr zu Jahr zu Tage geförderten historischen Quellen veranlaßte; so war

damit den Mitgliedern dieser Schule ein erkennbares allgemeines Ziel, eine gleichmäßige und faßliche Methode und die Möglichkeit sichtbarer Resultate Dabei wurden für die Ausführung im Einzelnen an den Fleiß

geboten.

der Schüler große Ansprüche gemacht, dem Scharfsinn und der Urtheils­ fähigkeit tüchtige Zumuthungen gestellt und zugleich dem Talente wiederum

ein weiter Spielraum gelassen, so daß der Einzelne daS volle Bewußtsein einer gelehrten Beschäftigung und zugleich die Freude daran in sich ausbildetc.

Und da die Schüler selbst bald merkten, daß sie auf dem ein­

geschlagenen Wege vorwärts kamen, und da der Begründer und Leiter

der Schule in einer staunenswerthen Productivität ebensoviele Beiträge zur Bereicherung des Wissens vom Mittelalter als Belege für die Treff­

lichkeit seiner Methode veröffentlichte, gewann jeder, der in den Kreis dieser Schule trat,

die lebendige Ueberzeugung von der Richtigkeit der

hier gangbaren Geschichtsbehandlung.

Und alles wirkte zusammen, um

die Schule in sich zu festigen und die Entwicklung nach außen und innen

zu sichern. Wie war es nun mit der Leitung seiner Schüler durch Nitzsch? Ein

erkennbares Ziel für seine wissenschaftlichen Bestrebungen hatte er bereits bei Beginn der akademischen Thätigkeit fixirt.

Aber dieses Ziel lag doch

Karl Wilhelm Nitzsch.

348

sehr weit.

Es galt auch erst eine Methode finden, um überhaupt dahin

zu gelangen.

Und wenn Nitzsch im Hinblick auf das, was er von Ranke

überkommen und was er von Niebuhr übernommen, diese Methode zum

Theil 1846 schon fertig gestellt, so war er an der definitiven Gestaltung derselben doch in den sechziger Jahren noch

beschäftigt.

Seine Einzell

arbeiten begannen ferner gewissermaßen immer erst da, wo die Nachrichten aufhörten, die man so

pflegte;

gemeinhin

aus der Ueberlieferung zu schöpfen

es darf uns daher nicht wundern,

daß es ihm schwer wurde,

Aufgaben zu finden, die sich aus der kritischen Verarbeitung der Quellen selbst, wie sie ein Student vorzunehmen im Stande ist, lösen ließen, oder wenn er solche Aufgaben gestellt,

bei der Anleitung zu der Arbeit an

dieser Grenze des einfachen OperirenS mit dem geschriebenen Wort stehen

zu bleiben.

Und

dann vergessen wir nicht, welche unendliche, lange,

mühsame Arbeit er darauf verwenden mußte,

wie wir es im Einzelnen

ausgeführt und im Resultat bewundert, für

mittelalterliche Dinge die

Klarheit,

Deutlichkeit,

solche galt.

Anschaulichkeit

zu

gewinnen,

welche

ihm

als

Und was für die schriftliche Aeußerung, das gilt auch für

die mündliche Mittheilung, er war, gerade weil er sich nicht so einfach

begnügte, deutsch wiederzugeben, was der lateinische Schriftsteller sagte, in der weiteren Interpretation anfangs doch nicht immer so klar, seine Schüler ihm folgen konnten.

daß

So hatte er wohl Schüler, aber keine

Schule gebildet; er hatte wohl treffliche Arbeiten veranlaßt, wenn er sich mit seinen Schülern an eine faßbare Aufgabe wie etwa an die Fragen nach den Quellen des Livius oder den Biographien Otto's vom Bamberg

machte, aber er hatte keine fortlaufende Tradition für den Arbeitskreis seiner Schüler geschaffen; er arbeitete eben mehr mit seinen Schülern,

als daß er sie leitete; er regte sie mehr an, als daß er sie belehrte. Im Anfang der siebziger Jahre wurde das

bereits Gelegenheit,

anders.

Wir hatten

auf den Erfolg hinzuweisen, den der Aufsatz:

Die

oberrheinische Tiefebene und das deutsche Reich im Mittelalter (1872)

gehabt,

auch hatten wir die Anschaulichkeit, die uns darin entgegentrat,

gerühmt; es ist dieser Aufsatz aber zugleich mit der hinterlassenen Arbeit über die Reichsverfassung, deren Entstehung ich 1874 setze, sowie mit seinem

wundervollen Aufsatz: Nordalbingische Studien, ebenfalls 1874, ein Beweis, wie fertig jetzt die Methode von Nitzsch war, die er bewußt und meister­

haft handhabte, und mit andern Abhandlungen ein Beleg, daß er nun eine Fülle näher liegender, lösbarer Aufgaben gefunden.

Damit war aber

nach unserer Meinung vorhanden, was zur Bildung einer Schule noth­

wendig:

ein bestimmt erkennbares, allgemeines Ziel für die Geschichts­

wissenschaft; eine durchgebildete, fertige, gleichmäßige, faßliche. Methode;

Einzelausgaben, für welche eine Lösung mit dieser Methode denkbar.

Und

Nitzsch hat denn auch, wie bekannt, in Berlin eine historische Schule ge­ bildet, aus deren Kreise unter seiner Anregung und Leitung eine Reihe

vortrefflicher Arbeiten, namentlich zur deutschen Verfassungsgeschichte pu-

blicirt sind. — Aber der akademische Lehrer hat doch nicht bloß die Auf­ gabe, Mitarbeiter auf seinem Forschungsgebiet auszubilden.

Ranke theilte

einmal seine akademischen Zuhörer in zwei Klaffen, neben denen, welche

Neigung in sich haben und Beruf in sich fühlen, an der Fortbildung der

Wissenschaft einmal selber thätigen Antheil zu nehmen,

spricht er noch

von denen die sich zu ihrer Bildung oder um ihrer künftigen Laufbahn willen die Wissenschaft im allgemeinen anzueignen bestrebt sind.

Es gilt

doch aber auch für diese zu sorgen — und Nitzsch war für diese letzteren Zuhörer zu allen Zeiten bedacht und zu allen Zeiten ein überaus förderu-

der Lehrer. regendes,

Seine historischen Uebungen hatten immer etwas sehr an­ auch für den,

der nicht productiv die Wissenschaft bereichern

wollte, seine Vorlesungen desgleichen, und was namentlich diesen einen besonderen Reiz und Werth verlieh, das war der weite Blick seiner Be­ trachtungen, der Jahrtausende überschaute, und daß er ein so ungeheures

Gebiet menschlichen Wissens wie die Geschichte der antiken Welt und die deS Mittelalters beherrschte und über das Völkerleben der Neuzeit und vornehmlich darin über das Emporkommen und die neben Rom für ihn

als einzig dastehende Geschichte Preußens sich die wissenschaftlichen Resul­ tate völlig zu eigen gemacht.

Sein historisches Wissen war eben universal

und für den Charakter seiner Vorlesungen war dieses dann daS grund­ legende, für den Einfluß

auf die Zuhörer

das vornehmste Moment.

Immer wieder lenkte er den Zuhörer, der im Seminar seinem wissen­

schaftlichen Eifer an einer Einzelausgabe allerspcciellsten Interesses zu ge­ nügen versuchte, auf die allgemeine Geschichte und erfüllte ihn mit jenen Kenntnissen und jenem Umkreis der geschichtlichen Interessen, auf denen

allein eine historische Bildung und ein historisches Wissen beruht. für den Stand der „oft tiefgelehrten,

anspruchslosen,

Und

arbeitsfreudigen

Oberlehrer, wie ihn nur unsere Nation besitzt und auf den sie stolz sein kann", um einen Gedanken von Dubois-Reymond wiederzugeben,

typfcei

wir hier vorwiegend an Historiker denken, hat Nitzsch stets außerordent­ lich segensreich als akademischer Lehrer dadurch gewirkt, daß er in seinen

Vorlesungen gerade diese Richtung auf das Allgemeine festhielt. — Und auch sonst hatten seine Vorlesungen für den Zuhörer noch vieles Anziehende.

Dieselben waren eine fortlaufende Entwicklung seines GedankenproceffeS

und luden dadurch den Zuhörer stets zum Mitdenken ein;

Schritt für

Schritt wurde die Betrachtung bis zum Schlußergebniß zergliedert vor-

geführt, und so waren die Vorträge gleich stets ein Fingerzeig, wie die Forschung vorzugehen habe, um zum Ziel zu gelangen; bei den Com­

binationen erfreute der Scharfsinn, bei der Darstellung einer Persönlich­

keit oder einer Institution die Anschaulichkeit des Vorgetragenen; hierzu dann jene glücklichen, universalen Betrachtungen: man versteht, wie seine

Zuhörer durch und durch mit wissenschaftlichem Eifer erfüllt und zugleich

von jener stillen, aber tiefen und zeitlebens unauslöschlichen Verehrung für ihren Lehrer durchdrungen wurden, wie sie wohl auch nur der deutsche Student in sich ausbildet, wenn er einmal den Genius eines seiner Lehrer

erkannt, den sittlichen Ernst seiner wissenschaftlichen Bestrebungen auf sich wirken gefühlt, der Selbstlosigkeit seines Strebens seine Sympathie und

den Leistungen hat.

seiner Geistesarbeit seine Bewunderung entgegengebracht

Es sind nun an Nitzsch gerade diese Züge der Selbstlosigkeit und

des sittlichen Ernstes seines ganzen Strebens, was sich dem, welcher Ge­ legenheit hatte, mit ihm in Verkehr zu treten, von seiner Persönlichkeit zuerst offenbarte.

Sodann möchte man seine gleichmäßige heitere Seelen­

ruhe, tote sie nur ein durch und durch zufriedenes Gemüth sich aneignen kann, als das zunächst Bemerkswerthe bezeichnen.

Was zu dieser Zu­

friedenheit seiner Seele die Familie, was der Freundeskreis beigetragen, was die Liebe, die er an sie ausgetheilt und die er wiederempfangen,

das entzieht sich hier der Darstellung; edle und tiefinnerliche Naturen tote die seine bergen den Schatz dieser Gefühle im Innersten ihres Herzens und wollen nicht an die Oeffentlichkeit gezogen wissen, was sie davon

den Ihrigen, waS den Freunden mitgetheilt. daß in

Aber man darf nicht zweifeln,

diesen innigen Beziehungen des Familienlebens und denen zu

seinen Freunden ihm eine reiche Quelle seiner Zufriedenheit geflossen. Und eine andre lebendige und kräftige Stütze derselben war seine

Frömmigkeit.

Glauben.

Dieselbe hatte ihre Wurzeln durchaus in dem christlichen

Und sein Glaube war tief, ergeben, hingebungsvoll an den

Erlöser und von jener kindlichen Ergebenheit dem Göttlichen gegenüber, muß ich wohl sagen, wie sie uns in den geistlichen Gedichten von Ernst Moritz Arndt anmuthet, dessen religiöse Anschauungen von Nitzsch mit einer Sympathie geschildert sind, die uns vollauf zu der Annahme be­

rechtigt, er habe sie getheilt.

In solcher kindlichen Gläubigkeit nun, wo

sie wie hier als der unmittelbare und natürliche Ausfluß der religiösen

Gesammtempfindung uns entgegentritt, liegt aber immer etwas sehr An­ sprechendes, mögen wir sinnend mit unsern Gefühlen dabei verweilen oder mag der Verstand seine Rechte der Reflexion geltend machen.

Mit solchem

Glauben verbindet sich kein Glaubensfanatismus milderer oder gewaltigerer

Art, in solchen religiösen Gefühlen findet keine Polemik gegen Anders-

gläubige, keine spitzfindige Dialektik Wiederhall; ein Lied, wie das von

Arndt im neunzigsten Lebensjahre gedichtete und von Nitzsch so geschätzte Grablied „Geht nun hin und grabt mein Grab" mit dem für Arndts geistliche Dichtung

spricht:

so

charakteristischen Schluß

Kind des Vaters zittre nicht!"

„Und

die ewige

Liebe

konnte nur dichten und konnte

nur so völlig schätzen, wem die Religion Halt allein der innern Gefühle,

aber darum auch

allein Herzenssache

ist.

Die Art,

alles sich immer

mehr innerlich vertieft vorzuführen, ein gewisser Hang zur Beschaulichkeit, eine natürliche Abneigung gegen alle Polemik, die Tradition der Familie

schließlich, alles wirkte zusammen, diese Richtung in Nitzsch immer mehr zu festigen.

Die vollste Toleranz andern, auch Glaubensgenossen, gegen­

über war die eine Folge davon, nie machte er seine Glaubensmeinung

zum Gegenstand der Erörterung, nie zum Prüfstein für den menschlichen und sittlichen Werth andrer.

Die andre Folge war die, daß er sich die

volle Unbefangenheit gegenüber der geschichtlichen Bedeutung der Religionen,

auch der des Christenthums, wahrte.

und überhaupt gegenüber ihrer Geschichte

Und nur bei seiner Art der Religiosität ist es verständlich und

logisch begreifbar, daß er, der seinen regelmäßigen Kirchgang machte, der

in der Gemeinde seinen Liedervers mit andern sang, dessen Glauben so

positiv seinem Wesen nach war, in seinen Vorlesungen bei der historischen Betrachtung der Religionen der Kritik ihr Recht zu Theil werden ließ und der Bibelkritik sogar recht weite Grenzen zog.

Die vornehmste Folge

seines gläubigen Gemüthes war aber die für sein inneres Glück.

Ein anderes, was ferner dazu beitrug, ihn mit einer unverkennbaren stillen Freude und inneren Heiterkeit die Dinge dieser Welt betrachten zu lassen, lag denn freilich wieder ganz in äußern Vorkommnissen.

Sie

interessirten gleich ihm Millionen, aber innerlich ganz so beglückt wie er

dürften durch dieselben doch von den Millionen wieder nur Hunderte ge­

worden sein; ich meine die Neugestaltung Deutschlands seit 1864. Er sah seine engere Heimath

der deutschen Stammesgemeinschafl

dauernd wiedergegeben, er sah das deutsche Reich geeint unter Preußens

Führung, er sah die deutsche Nation nach jahrhundertlanger Pause wieder vor politische Aufgaben gestellt, er sah sie diesen sich gewachsen zeigen, und er sah seine Nation einer schöneren Zukunft entgegengehn.

Vorsehung ihm diese Tage zu erleben vergönnt,

empfand

Daß die

er als

ein

gütiges Geschenk, das ihn beglückte, und um so mehr, da er eS als Preuße empfing.

Nitzsch hatte sich bereits mit Bewunderung für die geschichtliche Größe dieses preußischen Staates erfüllt, bevor er nach Königsberg übersiedelte (1862). Seiner wissenschaftlichen Art getreu hatte er sich bemüht die Eigenart

352

Karl Wilhelm Nitzsch.

erfassen.

dieses Staatswesens theil.

DroysenS Arbeiten leiteten sein Ur­

Am Staate deS großen Kurfürsten fesselte ihn besonders die Ein­

sicht, wie sich in der Schöpfung dieses weitblickenden Regenten Heer und

Staat als etwas ganz Untrennbares zeigen; er fand, daß dieses so ge­

blieben im Staate König Friedrich Wilhelms I. und in dem Friedrichs II. bis herab auf seine Zeit, die sich an dem Versuche abmühte, um diese

Armee herum eine Verfassung aufzubauen.

Die Analogie mit der älteren

Republik Rom lag nahe, dort wie hier Heer und Staat untrennbar, dort unter dem alten Fritz ein einfacher hart fechtender und hart dienender

Adel in Armee und Verwaltung, hier jene nüchterne, einfache, bäuerliche

Nobilität, „deren Zucht, Tapferkeit, Zuverlässigkeit und Gottesfurcht die

übrige Welt schwer begreifen lernte".

Und es

war das Interesse des

Kenners der römischen Geschichte, von dem seine Betrachtung der preußi­ schen Geschichte auöging.

Vordergrund ein.

Die Armee, ihr Offizierstand nehmen darin den

In Königsberg selbst lebte er in einer Atmosphäre, die

solchen kritischen Gängen sehr förderlich war.

Grenadierregiments

Die Tradition des ersten

ging zurück auf den miles perpetuus des großen

Kurfürsten; hier in Königsberg waren die Keime zur Errichtung der Land­ wehr gelegt worden; hier und in Ostpreußen fand er die Begründer und Hauptförderer der Entwicklung jener großen Partei, die soeben im Par­

lamente die Reorganisation der Armee von 1860 aufS heftigste bekämpfte; hier fand er genug Typen für den Landadel, der über ein Jahrhundert nun die Armee mit Offizieren versah; hier begegnete er einigen Hauptvertretern

der „Militärpartei". Seine Bemühungen tiefer in den Geist dieser Armee

und ihres Offizierstandes einzudringen schritten denn auch energisch fort. Es ist der analoge Betrachtungsgang, den er in „Heer und Staat in der römischen Republik" verfolgt, den Adel in seinem häuslichen und wirth-

schaftlichen Leben, in seiner Stellung und Leistung für die Armee und die

Verwaltung aufzusuchen, und zu beobachten, wie seine natürlichen Charakter­ eigenschaften dort begründet hier sich bewähren; ganz wie er die Arbeit

der römischen Nobilität zu Hause und ihre Leistung im Felde und in der Staatsleitung im Zusammenhang betrachtet.

Und man kann beobachten,

wie Nitzsch alle Fäden seiner vielseitigen Studien immer

wieder

nach

dieser einzigen Erscheinung der preußischen Militärmonarchie hin auöspann;

man kann verfolgen, wie er immer mehr in allen Fasern seiner wissen­

schaftlichen Ansicht und seiner politischen Ueberzeugung sich mit der voll­

kommensten Bewunderung für sie durchsetzte, wie er schließlich die An­ schauung gewann, daß dieses Staatswesen, wie es war, für seine eigne und seine deutsche Aufgabe seiner ganzen Natur nach das besteingerichtete

sei.

Es spricht daS durch die beiden umfassenderen Aeußerungen dieser

seiner Betrachtungen, jenen geistvollen Vortrag über Ernst Moritz Arndt

(wieder abgedruckt in „deutsche Studien") der im Anfang des großen Jahres entstand, und jene in ihrem letzteren Theil geradezu wundervolle Ausführung in dem Aufsatze: Deutsche Stände und deutsche Parteien sonst und jetzt (ebenfalls wieder abgedruckt in „deutsche Studien"), der in den

denkwürdigen Tagen von der Kaiserproclamation bis zur Eröffnung des ersten deutschen Reichstages verfaßt wurde, so deutlich durch, daß es nicht

zu verkennen ist.

Was aber nun diese Anschauung über diesen Staat

und was seine Erlebnisse in diesem Staate zu einer innern dauernden Freudigkeit bei Nitzsch beigetragen, das dürfte dann nicht mehr zweifelhaft

erscheinen. Wir waren mit unsern Ausführungen schließlich in die Politik hinein­ gerathen; die Frage könnte manchem naheliegend erscheinen, welche Partei­ stellung eigentlich Nitzsch eingenommen. Er war bekanntlich nie ein praktischer Politiker.

Agitationen, Wahlreden oder eine leitende Stellung, sei es auch

in kleinerem Kreise sind mir von ihm unbekannt; aber er war doch an­

dererseits zu sehr von Solonischer Weisheit erfüllt, als daß er nicht sein

Wahlrecht auch für eine Wahlpflicht angesehn. selben unterstützte er die conservative Partei.

haupten sein.

In der Ausübung der­

Mehr dürfte nicht zu be­

1862 in Königsberg führte ihn seine unbedingte Aner­

kennung der Armee als Grundlage des Staatswesens naiürlich noch zu einem engen Anschluß an die Conservativen, aber nach 1866, nach 1871

war diese Anschauung doch nicht mehr blos in den Reihen der conser­ vativen Partei zu finden.

Und dann seine Auffassung über die Noth­

wendigkeit die Verfassung auszubauen, seine Anerkennung der Berechtigung

anderer Parteien, seine Maxime von der Nothwendigkeit großer politischer Parteien, um ein StaatSleben gesund zu halten, kann man das nun so unbedingt als

conservativ oder gar als nur conservativ bezeichnen? —

Und ihn einer der jetzigen Parteien direct zuzuzählen, darauf müssen wir

schon ganz verzichten. Nicht daß man nicht in seinen Schriften Stellen fände, die gegen­

wärtig einen aktuellen Charakter bekommen hätten.

Ich denke da bei­

spielsweise an seine Bemerkungen über „Städte, die als stehengebliebene Reste einer früheren so gewaltigen Entwicklung ohne die offenen und na­

türlichen Kanäle zur lebendigen Verbindung mit dem Gesammtleben der Nation, gehemmt werden durch die Grenzen ihrer

publik".

eignen kleinen Re­

Auch wird sein immer wiederholter Hinweis von dem natür­

lichen Einfluß des wirthschaftlichen Lebens auf die gesammte staatliche

Entwicklung, dieser vorwiegende Gedanke seiner Geschichtsbetrachtungen,

und mitten darin die Ausführungen, wie politische Gemeinwesen, die nur Preußttchc Lahrduchcr

Bd XLIX. Heft 4.

24

354

Karl Wilhelm Nitzsch.

auf dem Wege des Handels und Verkehrs ihr Emporkommen begründet, sich für große allgemeine politische Aufgaben unfähig erwiesen, es wird seine Lehre von der Nothwendigkeit der Concentration des Regiments in

einer allein maßgebenden Behörde von unbedingtem Ansehn und unge­ brochener Gewalt für einen Staat, der sich in weiten und großen Ver­

hältnissen bewegt, es wird seine Klage über das Fehlen einer Reichssteuer

im alten deutschen Reiche, seine Ansicht von dem hohen Werth einer acker­ bauenden Adels- und Bauernbevölkerung für eine stehende Armee und an­ deres für den, der auS den flüchtigen Erscheinungen unserer Zeitgeschichte doch manches im Gedächtnisse bewahrt hat und den wichtigeren Vorgängen

unseres öffentlichen Lebens eine aufmerksame Beobachtung schenkt, sicherlich Anhalt zu manchen Vergleichen bieten können.

Aber seine Parteistellung für die Gegenwart zu bestimmen, erlauben diese Aeußerungen mit Nichten.

Nitzsch verfolgte bei seinen Arbeiten keine

andren Zwecke als die in der Arbeit selbst liegenden wissenschaftlichen. Und konnte etwas die Verehrung seiner Schüler für ihren Lehrer, kann etwas unsere allgemeine Achtung vor dieser wissenschaftlich so bedeutenden und so menschlich schönen Persönlichkeit noch erhöhen, so ist cs die Er­ kenntniß „daß sein wissenschaftliches Leben verklärt war durch

ein Be­

dürfniß und eine Freude des Erkennens, der jede Hast der Ehrsucht oder

eines ungesunden Wissensdurstes fremd war". Und wie ich diese Worte seines Nachrufes auf Niels Nikolaus Falck

durch keine passenderen für ihn selbst ersetzen zu können vermeinte,

so

möchte ich auch schließend einen weiteren Satz aus jenem Nachruf ent­

lehnen, und ihn auch auf Nitzsch anwenden, wobei ich mich der Zustimmung aller derer im voraus sicher weiß, die Nitzsch gekannt haben.

„Es war kein Falsch in ihm, ja man möchte sagen, keine Absicht; eine unmittelbare Sicherheit der ganzen Existenz, das beständige, unge­

schwächte Jneinanderwirken einer Fülle gesunder und ehrlicher Kräfte gab seiner Lehre, seinem Gespräch, seinem Umgang daS Behagliche, welches

der Niedersachse gemüthlich nennt,

und das Anregende, daS wahrhaft

Lehrende und Bildende, an das sich jeder seiner Freund« und Schüler dankbar immer erinnern wird."

Die kosmologische Reform des Kopernikus in ihrer Bedeutung für die Philosophie. In welchem Sinne die große Umwälzung, welche Kopernikus in der

Vorstellung des WeltbauS hervorbrachte, das Interesse des Philosophen angeht, sollte heute eigentlich keiner besonderen Erläuterung mehr bedürfen.

Der Name Kants ist ja in Jedermanns Munde; und Jeder weiß auch, daß dieser, wo er den ersten Gedanken seines Unternehmens einer voll­

ständigen Erneuerung der Philosophie entwickelt, auf die That deS Koper­

nikus als nächste Analogie hingewiesen hat. In demselben Zusammenhänge*) erinnert Kant auch

an die ersten

Anfänge der exacten Wissenschaften, Mathematik und Mechanik; und man

muß seine Bemerkungen darüber, die auf jede große und fundamentale Entdeckung in den Wissenschaften Anwendung finden, im Sinne behalten,

um jenen ersteren Vergleich genau so aufzufassen, wie er gemeint ist.

Es

sind denkwürdige Worte in der That, in denen Kant von der Genesis der Wissenschaften gleichsam die Idee entwirft.

Die Geburt der Wissenschaft

war vollendet in dem Augenblick, als man begriff, daß es darauf ankomme, die Natur zu befragen, voranzugehen mit Principien ihrer Erforschung

und nicht zu warten auf daS, was sie von selbst uns darbieten wird; von

ihr

zwar sich belehren zu lassen,

„aber nicht in der Qualität eines

Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines

bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt".

Jeder erkennt eS heute an, was ein Lionardo, ein

Galilei als Aufgabe begriffen und mit der That übten: ein Befragen der Natur, ein Jnterpretiren ihrer Erscheinungen, ein Uebersetzen gleichsam

aus der Sprache, in welcher sie durch die Sinne zu uns redet, in die, worin allein wir sie verstehen können, in die Sprache der Gesetze.

Denn Gesetze sind in keinem Falle bloß induktive Zusammenfassungen des

*) Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Auflage.

wiederholt Wahrgenommenen in

einer bequemen Formel, wiewohl die

Induktion es ist, welche auf die besondern Gesetze hinführt; sondern sie werden erst in der Beziehung des mannigfaltigen Inhalts unsrer Wahr­ nehmungen auf eine Einheit, welche selbst nicht in wahrnehmbarer Form

erscheint, sondern in unserm Denken allererst entsteht, indem wir gegebene

Wahrnehmungen als Erscheinungen des Gegenstandes fassen, ihnen erscheint und

auS dessen einheitlicher Constitution

der in

alle Mannig­

faltigkeit der sinnlichen Erscheinung sich soll erklären, in ihrer Nothwendig­ keit begreifen lassen. Dies also ist die Auffassung, von welcher Kant ausgeht, indem er

sein Unternehmen mit dem deS Kopernikus in Parallele stellt.

Wie jener

Einheit und Ordnung in die Theorie der Planetenbewegungen

brachte

durch eine völlige Aenderung des Standorts, aus welchem er sie betrach­ tete, so wollte Kant, durch eine analoge Veränderung des Gesichtspunktes, Einheit und Ordnung hervorbringen in der Theorie der menschlichen Er­ kenntniß.

Es ist hier nicht unsre Aufgabe, diese Analogie näher auszu­

führen und auf ihre Richtigkeit zu prüfen; vielmehr möchte ich von dem Hinweise des großen Reformators der Philosophie auf den Reformator

der Kosmologie nur den Anlaß hernehmen, die Leistung des letzteren aus dem philosophischen Gesichtspunkte, welchen die obigen Betrachtungen uns

nahelegen, zu untersuchen, und an ihr wie an einem typischen Beispiel Erkenntnißtheorie zu üben, indem wir seine Entdeckung uns lebendig vor Augen stellen und in unserm Geiste gleichsam wieder erzeugen, um sie alSdann darauf zu prüfen, welche Grundgesetze der menschlichen Erkenntniß in ihr wirksam gewesen sind. —

Die Lebensumstände des Kopernikus dürfen im Allgemeinen wohl als bekannt vorausgesetzt werden.

Nikolaus Kopernikus*), geboren zu Thorn

1473, genoß durch zufällige Umstände den Vortheil, sich mit der Wissen­

schaft seiner Zeit fast allseitig vertraut machen zu können:

er absolvirte

dreimal nacheinander ein vollständiges akademisches Studium, erst in der Artistenfacultät zu Krakau, dann in der juristischen zu Bologna, endlich in der medicinischen zu Padua.

Doch dürfen wir wohl annehmen, daß

von Anfang an die Mathematik und Astronomie bei ihm obenan stand, wie gründlich er auch in andere, namentlich humanistische Bestrebungen

*) Wunderlich muthet eS an, bei einem so einsichtigen und unterrichteten Gelehrten wie Th. H. Martin (in seinem Buche über Galilei, Paris 1868) zu lesen: die modernen Begründer der Lehre von der Bewegung der Erde seien der belgische Cardinal Nicolaus von CueS und der polnische Kanonikus Kopernikus. ES be­ darf wohl heute nicht mehr der Erinnerung, daß Kopernikus oder Koppernigk ein Deutscher war, so gut wie Nikolaus ChrypffS (= Krebs) auS CueS an der Mosel unterhalb Trier.

sich eingelassen haben mag.

Schon bald nach Vollendung seiner akademi­

schen Studien, im Jahre 1507, stand ihm der Hauptgedanke seines Welt­ systems, die doppelte Bewegung der Erde um ihre eigne Achse und um

die Sonne, fest; er lebte danach einsam und zurückgezogen, als Kanonikus

am Domstift zu Frauenburg, der Vollendung seines Werkes, während er zugleich dem ärztlichen Berufe mit großer Treue oblag; seine geistliche

Um 1530 war das Werk bereits

Stellung war übrigens eine Sinekur.

fertig ausgearbeitet; allein Kopernikus war entschlossen, es nicht dem Druck zu übergeben, sondern nur handschriftlich im engen Freundeskreise

mitzutheilen, wie die Pythagoreer gethan haben sollten. sicht zur Ausführung

vielleicht

gekommen,

ähnlich ergangen

Lionardo da Vinci*).

sein

so

Wäre seine Ab­

würde es mit dieser Entdeckung

wie mit den Forschungen des großen

Indessen war eine Kunde von seiner Wissenschaft

bereits in die Oeffentlichkeit gedrungen.

Schon gelegentlich des laterani-

schen Concils vom Jahre 1516, zu dessen Aufgaben die Regelung des

Kalenderwesens gehörte, hatte ein dort anwesender frauenburgischer Decan, als

eS

sich

darum handelte,

einen

bedeutenden Astronomen für diese

wichtige Angelegenheit zu gewinnen, auf Kopernikus hingewiesen; und ob­

wohl dieser einen an ihn ergangenen Antrag ablehnte, so war doch sein Name seit jener Zeit bekannt, und eS konnte kaum fehlen, daß auch von seinen merkwürdigen Ansichten einige Kunde sich verbreitete.

Jedoch er­

fahren wir erst zwanzig Jahre später, 1536, daß Nicolaus Schomberg,

Cardinal von Capua, von seiner Lehre weiß

und sich von Rom aus

brieflich an ihn wendet, um eine Abschrift seines Werks von ihm zu er­ langen.

Um dieselbe Zeit drang die Nachricht von der großen Entdeckung

nach Wittenberg, das sich durch Melanchthons Bemühungen damals zu

einem der ersten Sitze der Wissenschaft emporgeschwungen hatte und auch

in der Sternkunde neben Nürnberg, wo diese seit den Tagen Regiomontan's in Blüthe stand, den vornehmsten Platz behauptete. Zwei bedeutende

Lehrer der Mathematik und Astronomie, Erasmus Reinhold und Joachimus RheticuS, wurden von der neuen Lehre ergriffen.

Der letztere stand in

*) Vgl. Grothe, Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph, Berlin 1874. — Lionardo hat nicht nur eine Reihe von Gesetzen, die hernach Galilei erst wieder neu entdecken mußte, bereit» gekannt, sondern er hat auch gerechten Anspruch dar­ auf, al» Vorläufer de» Kopernikus genannt zu werden. Es ist wahrscheinlich, daß er die Lehre von der Bewegung der Erde aus dem Berichte des Archimed eS über Aristarch von SanioS entnahm, da er mit dessen Schriften sich auch sonst ge­ nau vertraut zeigt. Es wäre an sich sogar denkbar, daß Kopernikus bei seinem Aufenthalt in Italien von der Ansicht Lionardo'S durch irgend eine Vermittlung etwas ersahren hätte! doch darf sein völlige« Schweigen, bei dem unS bekannten Charakter des Mannes, wohl als ein hinreichender Beweis gegen eine bestimmtere Anregung von dorther betrachtet werden.

Verbindung mit dem damals berühmtesten Astronomen, Johann Schoner in Nürnberg, der noch aus des großen Pirkheimer's Zeit war.

Mit

dessen Vorwissen begab sich Rheticus im Jahre 1539 zu Kopernikus nach schickte von hier einen „ersten Bericht" über dessen

Frauenburg, und

Weltsystem an den Freund in Nürnberg.

Man hatte bis dahin über die

neue Lehre höchstens gespottet; selbst Luther in den Tischreden meinte, der Mann habe seine Hypothese wohl nur erdacht, um wieder einmal etwas

Neues aufzubringen.

„Es gehet jetzt also", sagt er, „wer da will klug

sein, der muß ihm etwas Eigenes machen; das muß das allerbeste sein, Der Narr will die ganze Kunst Astronomiä umkehren."

wie er's machet.

Man darf sich über eine solche Aeußerung aus dem Munde des großen Reformators — die Echtheit der Ueberlieferung vorausgesetzt

— nicht

allzu sehr verwundern, da noch lange nachher selbst Fachleute nichl an­

ders urtheilten.

Dagegen berichtete nun Rheticus aus persönlicher Kennt­

nißnahme: Kopernikus sei in jeder Art Wissenschaft, namentlich aber in der Astronomie, nicht geringer als Regiomonlan; zudem sei er ein Mann,

der keineswegs dazu neige, von der Meinung der Alten ohne gewichtige Gründe, und ohne daß die Sache selbst es fordre, etwa aus IteucrungS-

sucht leichtfertig abzugehn; sein Alter, die Ehrwürdigkeit seines Charakters,

seine ausgezeichnete Gelehrsamkeit, vor Allem aber seine Geisteshöhe und Seelengröße gestatteten nicht, etwas der Art bei ihm vorauszusetzen. — Dieser Bericht blieb nicht ohne Eindruck; man bemühte sich nuninehr ernstlich, das Werk allgemein zugänglich zu machen.

Schon 1541 ließ

RheticuS jene „Prima narratio ad Joannem Schonerum“, welche einen

Abriß des kopernikanischen Systems enthielt, zu Basel drucken; und endlich

gab Kopernikus, namentlich durch die Bitten seines langjährigen Freundes, des Bischofs von Kulm, bewogen, zur Veröffentlichung des Manuscripts seine Zustimmung.

Rheticus brachte es selbst nach Nürnberg, wo Andreas

Osiander, der bekannte Theologe und Freund Luthers, die Edition be­ sorgte.

Im Jahre 1543, ganz kurz vor dem Tode des Kopernikus, er­

schien sein unsterbliches Werk „de revolutionibus orbium coelestium“,

mit einer Vorrede von Osiander und der Widmung an Papst Paul III.

E. F. Apelt*), ein ebenso gründlicher Kenner der Astronomie als

der Philosophie, hat die That des Kopernikus in dieser doppelten Hinsicht treffend gekennzeichnet; und so, daß dabei grade ihre philosophische Be­

deutung — in dem Sinne, in welchem wir oben die Aufgabe der Philo­

sophie in Bezug auf die Wissenschaft uns klar zu machen suchten — sehr

*) Die Reformation der Sternkunde, 1852; die Epochen der Geschichte der Mensch­ heit, 1845.

bestimmt hervortritt.

Von einer Bemerkung Apelt'S soll auch unsre Be­

trachtung ihren AuSgang nehmen.

Das Erste nämlich, was man sich deutlich zu machen hat, ist dieS:

daß die kopernikanische Entdeckung keineswegs auf neuen Beobachtungen in den Phänomenen beruhte, wären.

welche den früheren Forschern entgangen

Kopernikus hat die thatsächliche Erscheinung der himmlischen Be­

wegungen vielmehr wesentlich unverändert so angenommen, wie die For­ schung bis dahin sie festgestellt hatte.

Er klagt zwar über die Ungenauig­

keit dieser Feststellungen, und bemüht sich an seinem Theil um deren Verbesserung, aber ein neues Fundament für die richtigere Ergründung

des Thatbestandes, wie eS später de Brahe und Keppler gewannen, fehlt dem Kopernikus; und so war mit seiner Leistung zunächst praktisch so gut wie gar nichts geändert.

Was er dagegen änderte, und radical änderte, war die Theorie der himmlischen Phänomene.

Die Bedeutung dieses Unterschieds

läßt sich

durch ein paar ganz elementare Erwägungen leicht einem Jeden verständltch

machen.

„Theorie" heißt an sich nichts weiter als die Betrachtung oder

Ansicht der Dinge; in wissenschaftlichem Sinne aber meint man darunter nicht die beliebige Ansicht, wie sie sich nach der verschiedenen Stellung des

Betrachtenden bald so bald so ergeben mag; sondern man versteht jene

einheitliche und um ihrer Einheitlichkeit willen „wahre" d. i. maß­ gebende Ansicht oder Betrachtung, woraus sich alle Besonderheit der Er­

scheinung ableiten, und damit verstehen läßt.

Die Einheit oder Identität,

worauf alle Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erscheinung zurück­ bezogen und in der sie gleichsam zusammengefaßt wird, ist die Einheit des

Gesetzes: denn es ist dasselbe Gesetz, wonach dieselben Objecte, je nach der Verschiedenheit der Umstände und Beziehungen, sich unsrer Wahr­

nehmung verschieden darstellen.

Die Einheit des Gesetzes kann selbst zwar

nicht mit Sinnen angeschaut,

sondern nur mit dem Verstände

werden.

Diese gedachte Einheit des Gesetzes ist es

also,

gedacht

welche das

Wesentliche der „Theorie" ausmacht. Theorie in solcher Bedeutung ist nun schon seit den ersten Anfängen wissenschaftlichen Denkens von der Menschheit geübt worden; und so gab

eS denn auch

längst

eine Theorie des

Himmels.

Schon das Wort

„Astronomie" besagt eS ja, daß sie das Gesetz der Sternbewegungen er­ forschen, nicht bloß deren mannigfache Erscheinungen verzeichnen

will.

Allein eben der Umstand, daß man von der Theorie selbst keinen strengen und fixirten Begriff hatte, mag dazu mitgewirkt haben, daß man in der

Aufstellung der Theorien keineswegs dem reinen Gesetze des Verstandes folgte, sondern der dichtenden Einbildung, dem Mythus,

einen weiten

Spielraum ließ.

Von Pythagaras und Plato her hatte man indeß^ die

richtige Ahnung vielmehr als Erkenntniß, es müsse sich alle Ungleichför­

migkeit der Gestirnbewegungen auf einfache gleichförmige Bahnen zurück­ führen lassen, und nur durch die vielfältige Complication der verschiedenen Bewegungen entstehe der Schein der Unregelmäßigkeit.

Man nahm nun

einfach an, daß alle wahre Bewegung der Himmelskörper kreisförmig sei; eine Voraussetzung, von der auch Kopernikus sich nicht losmachen konnte,

von der nach langem Kampfe erst Keppler die Astronomie befreit hat. Verführen mußte dazu, unter der als selbstverständlich festgehaltenen Vor­ aussetzung, daß die Erde im Centrum der Welt ruhe, die scheinbar kreis­

förmige Bahn, welche die Fixsterne täglich im ungeheuren Umschwung des

ganzen Himmelsgewölbes um die Erde beschreiben.

Abweichend zwar von

den Kreisen der Fixsterne, aber doch auch kreisförmig, ergaben sich dann ferner die Bahnen der Sonne und des Mondes; nicht geringe Schwierig­

keit hingegen bereiteten die Planeten, deren Bewegungen sich, auf die Erde

und die Fixsternsphäre bezogen, keineswegs auch nur annähernd kreisförmig

darstellen. es ging.

Indessen führte man auch hier die Hypothese durch, so gut

Man schob zuerst eine Anzahl von Sphären concentrisch inein­

ander gleich Zwiebelhäuten, doch so, daß eine jede sich unabhängig von der andern dreht; und nahm dann ferner, da dies noch keineswegs aus­

reicht, um die Erscheinungen zu decken, die Vorstellung zu Hiilfe, daß die

Planeten sich direct nicht in einer Kreisbahn um die Erde, sondern in einem kleineren Kreise zunächst um ein leeres, bloß gedachtes Centrum

bewegen, welches Centrum seinerseits eine Kreislinie um die Erde be­ schreibe;

wie wenn der Mittelpunkt

eines sich drehenden Rades selbst

wieder durch ein größeres Rad im Kreise herumgeführt würde.

Der

Kreis, in welchem der Planet sich um das imaginäre Centrum dreht, hieß

Eptcyklus, und der größere Kreis, in welchem dieö Centrum sich um die

Erde bewegt, hieß Circulus deferens.

Nach dieser Construction ist die

Bahn der Planeten im kosmisch ruhenden, absoluten Raum zwar nicht

kreisförmig, sondern sie bildet — wie es den Phänomenen annähernd ent­ spricht — eine Curve, welche aus der Combination jener zwiefachen Kreis­

bewegung entsteht, und welche Epicykloide heißt;

im

relativ

bewegten

Raum hingegen, bezogen auf ihr entsprechendes Centrum, sind alle Bahnen

kreisförmig, und die Epicykloide entsteht nur aus der Zusammensetzung

zweier Kreisbewegungen, welche dem Planeten gleichzeitig zukommen.

Mit

ganz wenig Mathematik wird man sich die Sache leicht vorstellig machen

können.

Dies ist denn im Wesentlichen die Theorie des Himmels, wie sie Ptolemäus um die Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. zwar nicht

gefunden, aber fixirt hat.

Sie war gewiß das Ergebniß einer nicht un­

bedeutenden Verstandesarbeit; und es war auch damit etwas nicht Ge­

ringes

geleistet.

Unter der Annahme

der Ruhe und Central­

stellung der Erde war sogar eine wesentlich andere Theorie im Ein­

klang mit den Erscheinungen gar nicht möglich; und sie that sowohl dem Bedürfniß der Rechnung alö dem Verlangen nach Ordnung und Harmonie

in der Vorstellung deS Weltbaus einstweilen Genüge, da die Kreisbewe­

gung, auf die man Alles reducirt hatte, sowohl die einfachste für die Be­ rechnung, als der Forderung der Schönheit und Vollkommenheit des Uni­

versums gemäß ist.

Indessen war die Theorie doch nur für einen un­

vollkommenen Stand der Beobachtung wirklich ausreichend; die Mängel mußten mehr und mehr hervortreten, je weiter die Kenntniß der Phäno­

mene fortschritt.

Schon das Alterthum sah sich genöthigt, die homocentri­

schen Sphären aufzugeben und eccentrische zuzulassen; womit die bewun­ derte Harmonie des Shstems schon einen bedenklichen Stoß erhielt.

Auch

mit den Epichkeln kam man nicht durch, man mußte wieder Epicykeln

den Epichkeln hinzufügen,

um mit den Erscheinungen im Einklang zu

bleiben; und daS System bedurfte nach und nach so vieler Stützen und

Krücken, daß man es dem König Alphons von Castilien nicht gar ver­ übeln kann, wenn er meinte: hätte Gott ihn um Rath gefragt, so sollten

die Sachen in besserer Ordnung sein.

Wirklich war auch der Glaube,

daß das ptolemäische System die wahre Verfassung des Weltgebäudes darstelle, z»l Kopernikus' Zeit schon ziemlich erschüttert.

gendsten Astronomen sahen darin eine „Hypothese",

Die hervorra­ welche bloß dem

Zwecke der Berechnung der Gestirnbewegungen diene; und dazu war sie

immerhin noch zu brauchen.

Nur hatte die einstige Theorie damit auf­

gehört, Theorie im wissenschaftlichen Sinne zu sein, denn die wissenschaft­

liche Theorie muß unbedingt den Anspruch erheben, die wahre Verfassung

des Objects, dem Stande der empirischen Kenntniß gemäß, auszudrücken; vermag sie das nicht, so hat sie keinen Kurs in der Wissenschaft. Alle die trefflichen Beobachter vor Kopernikus, ein Peurbach, Re-

giomontan und ihre Nachfolger, hatten an dieser theoretischen Unzuläng­ lichkeit des herrschenden astronomischen Shstems keinen sonderlichen Anstoß genommen; Kopernikus nahm Anstoß, und das wurde der AuSgang seines

ganzen Unternehmens.

Er spricht es selbst auS in der an Papst Paul

gerichteten Vorrede seines Werks:

„Ich will Ew. Heiligkeit nicht ver­

bergen, daß nichts mich bewog, auf eine andere Art der Berechnung der

Sphärenbewegun'gen zu denken, als die Wahrnehmung, daß die Mathe­

matiker sich in Erforschung derselben nicht consequent bleiben, und sich nicht der nämlichen Principien, Annahmen und Ableitungen der er-

scheinenden Umdrehungen und Bewegungen bedienen. verwenden bloß homocentrische,

Die Einen nämlich

die Andern auch eccentrische Kreise und

Epichkeln, ohne daß das Geforderte damit geleistet würde.

Die Ersteren

nämlich können aus ihren Annahmen nichts Sicheres, den Phänomenen

entsprechend, ableiten; die Andern können zwar die erscheinenden Bewe­

gungen großentheils durch übereinstimmende Rechnungen ausdrücken, müssen aber inzwischen Manches zulassen, was den ersten Grundsätzen von

der Gleichförmigkeit der Bewegungen zuwiderläuft;

und das Wichtigste

von Allem, die Schönheit des Weltganzen und die

sichere Symmetrie

seiner Theile haben sie nicht finden noch aus jenen ableiten können, son­ dern eS erging ihnen, wie wenn man auS verschiedenen nicht zusammen­ gehörenden Armen, Beinen, Kopf und sonstigen Gliedern ein Ungeheuer

vielmehr als einen Menschen zusammensetzte. daß sie im Fortgange der Demonstration,

Daraus geht aber hervor,

im Methodus,

wie man zu

sagen Pflegt, entweder etwas Nöthiges übersehen oder etwas Fremdes, nicht zur Sache Gehöriges

ausgenommen haben

müssen.

Das wäre

nimmer geschehen, wenn man sicheren Principien gefolgt wäre; denn

wenn die angenommenen Hypothesen nicht trüglich wären, so würde auch Alles, was daraus folgt, sich ohne Zweifel bewahrheiten." —

Hiermit ist wohl deutlich genug ausgesprochen:

daß eS diesem Forscher

nicht genügte, bloß eine solche Hypothese aufzustellen, welche die Phäno­

mene auf irgend eine Weise entsprechend auSdrückt, sondern daß die Hypo­ these wahr sein, d. h. diejenige einheitliche Grundansicht darstellen sollte,

welche sich allgemein, soweit immer die Beobachtung reicht, und auf über­ einstimmende Weise bewährt. Keppler,

lichem

der ein

bedeutendes

Sachverstand vereinigte,

hat

formales Talent mit ungewöhn­

diesen

Unterschied

der

„wahren

Hypothese", der Theorie, wie wir sagen, von einer beliebigen Annahme

bloß zum Zwecke der Berechnung, bestimmt fixirt und mit ganzer theo­ retischer Klarheit formulirt.

Nach ihm soll die Hypothese alle Verschie­

denheiten der Erscheinung gleichsam decken und auSdrücken*) durch eine

einzige sich beständig gleiche Bewegungsart; daher ist die Hopothese nichts Willkürliches, sondern eines strengen Beweises fähig.

DaS Kriterium der

richtigen Hypothese aber ist ihre allseitige Bewährung**); und eS ist nicht

*) Ich finde keine ganz entsprechende Uebersetzung für die lateinischen Worte (Kepleri opera, VI, 120): hypothesis apparentiarum diversitates salvat et efficit per unam aliquam sibique perpetuo similem motuum form am. **) Op. I, 241: et proinde hypothesibus hoc est proprium — si ideam fingamus instar hypothesium — ut sint undiquaque verae; nec est astronomi scientem falsas supponere vel ingeniöse confictas hypotheses, ut ex iis motus caelestes deinonstret. — Dgl. Galilei, Opere III, 388.

Sache der Astronomen, fügt Keppler hinzu, falsche oder geistreiche erdich­ tete Hypothesen zu Grunde zu legen, um daraus die himmlischen Bewe­ gungen abzuleiten.

Dieser letzte Satz hat eine polemische Spitze. Osiander

nämlich, dem, wie seinen Freunden Luther und Melanchthon, die Lehre dcS- Kopernikus zu kühn erscheinen mochte, hatte in seiner dem Werke deS letzteren ohne sein Vorwissen beigegebenen Vorrede es so dargestellt, als

sei es gar nicht die Absicht des Autors, die vorgetragene Hypothese als

die wahre zu vertreten, sondern nur ein bequemeres Hülfsmittel für die Berechnungen zu liefern.

Keppler deckt auf, daß diese Auffassung, welche

durch ein sophistisches Spiel mit dem Wort „Hypothese" die Bedeutung

der großen umwälzenden That abzuschwächen suchte, Meinung des großen und freigesinnten Mannes

mit der erklärten

in Widerspruch stehe:

Kopernikus habe, mit stoischer Strenge gewappnet, seines Herzens Mei­ nung bekennen zu sollen geglaubt, Osiander, der mehr nur an den Nutzen der Wissenschaft dachte, habe es vorgezogen, Meinung des Kopernikus zu verhüllen.

die wahrhafte und ernste

Ein Urtheil, nicht weniger be­

zeichnend für den aufrichtigen Sinn Kepplers, als zutreffend für Koper­

nikus selbst^). Wir verstehen nun schon, weshalb die Leistung des Kopernikus auf

philosophische Bedeutung Anspruch hat: sie bezeichnet einen Fortschritt nicht so sehr in der Kenntniß und Erklärung der Phänomene, als in dem

wissenschaftlichen Bewußtsein, welches dieselbe leitet und regultrt.

Solche Erkenntnisse sind bleibende Errungenschaften, die durch keine Er-

weiterung der Beobachtung und Umgestaltung der besonderen Erklärungen rückgängig gemacht werden;

es sind die festen Punkte, an denen sich die

Erkenntniß, an denen sich daher auch die Theorie der Erkenntniß immer

wird orientiren müssen. Auf seine Weise hat auch Galilei, der große Vollender des Werkes

des Kopernikus, die philosophische Bedeutung desselben klar bezeichnet; und die innere Uebereinstimmung des Urtheils dieser Forscher ist sicher

geeignet, das Gewicht ihrer Aussprüche zu erhöhen;

es zeigt sich mehr

und mehr, daß sie nicht nur gleichsam von Außen in dem Gegenstände

ihrer Untersuchung zusammentrafen, sondern in dem letzten Fundament ihrer Anschauung einig waren und sich einig wußten.

Galilei unterscheidet

den „puren", bloß rechnenden Astronomen von dem philosophischen, der

nicht wie jener bei einer etwa auch falschen Annahme, wofern sie nur dem

Bedürfniß der Rechnung genügt, sich beruhigt, sondern nach der wahren

Ansicht der Dinge fragt, durch die sich die Phänomene ja auch, und zwar *) Vgl. auch Giordano Bruno in dem Dialog „La cena de le ceneri“, Opere ed Ad. Wagner, I, S. 126 f. 152 ff.

besser,

müssen repräsentiren lassen.

Und anderwärts

wieder spricht er

die höchste Bewunderung auS für die Männer, welche durch die Lebendig­

keit ihres Jntellects den eignen Sinnen so weit Gewalt anthun konnten,

daß sie, was der Verstand ihnen dictirte, über das stellten, was die sinn­ liche Erfahrung offenbar auf die entgegengesetzte Art zu zeigen schien.

Und je augenfälliger der scheinbare Widerspruch der Erfahrung ist,

um

so höher steigt seine Anerkennung dessen, daß in Kopernikus wie in seinem

antiken Vorgänger Aristarch die Vernunft den Sinnen so übermächtig war, daß sie ihnen zum Trotz ihre Ueberzeugnung bestimmte. Man müsse seinen Geist durch Mathematik und Astronomie zum Eindringen in die

Wahrheit geschärft haben, um zur richtigen Würdigung seiner That be­ fähigt zu sein. Wenn hier Galilei von „Sinnen" und „Verstand" oder „Vernunft"

redet, so muß man nicht an die alten Seelenvermögen denken, sondern an den uns bekannten Unterschied von Wahrnehmen und Verstehen

des Wahrgenommenen, Beobachtung und Theorie.

Das erste Gesetz,

worauf alle Theorie, alles Verstehen der Erscheinungen beruht, ist das Gesetz der Einheit des Mannigfaltigen; diese Einheit kann allerdings nicht mit „Sinnen" geschaut, sondern nur mit dem „Verstände" ein­

gesehen werden.

Die Einheit des Gesetzes findet sich nicht, indem man

bloß die leiblichen Augen aufmacht, die sehen nichts, als was die Astro­ nomen seit Jahrhunderten lehrten:

daß die Erde in der Mitte festliegt

und die Gestirne sich drehen; sondern eS ist nöthig, die Augen des Geistes

zu gebrauchen, und etwa auch zu einer Vorstellung sich zu erheben, welche dem direkten Sinnenschein ganz entgegen ist.

Die Kenntniß der Ob­

jecte dringt weiter, indem man den Gegenstand immer mehr gleichsam

nach allen Seiten herumwendet und in immer genauere Betrachtung zieht,

Versuche anstellt, um ihm gleichsam neue Seiten abzugewinnen, die na­

türlichen Instrumente der Wahrnehmung bewaffnet durch künstliche; der theoretische Verstand verfährt analog zwar, aber doch anders; er experimentirt auch und versucht Neues und Neues, aber er macht sein

Experiment nicht an den Objecten, sondern an der möglichen Auffassung

der Objecte.

So versuchte lange vor Kopernikus bereits Nikolaus CusanuS

die Kräfte deS Verstandes, indem er, kühn genug in feiner Zeit, den

Standpunkt feiner Betrachtung bald auf der Erde, bald auf den Sternen

nahm;

er wurde damit die absolute Ruhe und Centralstellung der Erde

glücklich im Princip schon los.

Kopernikus scheint von dem Weltshstem

deS Cusanus nicht gewußt zu haben, aber er that dasselbe wie jener nur gründlicher, indem er, in seinem Kopfe frei schaltend mit den möglichen

Vorstellungsarten, welche die gegebenen Erscheinungen zuließen, diejenige

ausfand und allem Sinnenschein entgegen für die wahre erklärte, wobei

die Einheit

bleibt.

und Consequenz

im Weltbau am vollkommensten gewahrt

So ergab sich zwingend die Stellung der Sonne im Scntrum

des Planetensystems und die doppelte Umdrehung der Erde um ihre Achse und um die Sonne.

Und gewiß darf man hierbei, mit Galilei, die Tiefe

des philosophischen Blicks um so mehr bewundern, je mehr der nächste Sinnenschein seiner Vermuthung entgegen war. Noch auf eine andere Seite der Sache darf aber hier wohl hinge­

wiesen werden.

Es galt nicht bloß der Trägheit der Sinne Herr zu

werden, sondern überdies der ganzen Macht einer durch Jahrtausende

gefestigten Tradition.

Und so wird man denn auch die Unabhängigkeit

des Geistes, den Freimuth der Gesinnung, der von der lautersten Wahr­ heitsliebe eingegeben war,

dürfen.

bei diesem Forscher nicht gering anschlagen

Keppler nennt ihn einen Mann von freiem Geiste; und in dem

anziehenden Bericht des Rheticus lesen wir, wie Kopernikus selbst sich

gegen die doppelte Autorität des Aristoteles und Ptolemäus auf das alte Dictum berief: Ast 8’ iXsuSsptov sivat

tov p.skXovTa „drücke»" sucht und sich dafür mit anderen verbündet? in diesen Kämpfen Millionen verloren.

Gewiß nicht.

Und dennoch gehen

Man spricht von Schiedsgerichten.

Ich selbst war schon mehrere Male Schiedsrichter, aber — dieses Mittel

ist erst dann anwendbar wenn der Heilungsprozeß bereits eiugeleitet ist durch beiderseitigen guten Willen. hvut hüt den Knoten,

Und dann — der Schiedsspruch zer-

er löst ihn nicht;

der alte stille Zwiespalt der

Interessen ist nur eingeschläfert, er ist nicht auS der Welt geschafft.

verschärft sich sogar je massenhafter das Kapital wirthschaftet: gegenüber tausenden von Arbeitern. denn es kann warten.

Dabei

muß

Er

Millionen

das Kapital siegen,

Der Arbeiter muß seine Waare (seine Leistung)

an jedem Tage frisch verkaufen können sonst wird sie werthlos.

Dagegen

hat jetzt dieser letztere die politische Gewalt durch das erweiterte Stimm­ recht — sobald es ihm einfällt sie zu gebrauchen." „7.

Kooperation schafft den alten Familienprozeß aus der Welt indem

Die Pioniere von Rochdale und ihre Nachsolger.

478

beide Parteien — einander heirathen.

Eine gute Ehe jedoch darf weder

ausschließlich auf der Basis der Gefühle noch auf der des Geschäftes be­ In Ihrer älteren Litteratur liest man feurige Strafpredigten gegen

ruhen.

das „inhumane und selbstsüchtige System der Wettbewerbung".

natürlich jeder unbefangene Leser:

eigenen Worten? Konkurren;.

Da fragt

„Was denken sich diese Leute bei ihren

Sie machen ja ebenfalls nothwendig unter einander

Ihre produktiven Werkstätten

Fabriken mit denen anderer Unternehmer.

gegenüber den Läden; ihre

Und, wenn sie letztere sämmtlich

umgebracht haben werden, dann wieder untereinander — wenigstens so lange

bis einmal ganz England eine einzige große kooperative Familie ist." — In diesem Eifern gegen „Wettbewerbung" liegt also ein ungesunder Ge­

danke; nämlich: daß nach der Durchführung unseres Systems alle Koope­

ratoren ein Band der Freundschaft und der persönlichen Sympathie um­ schlingen werde, — was wider die Natur der Dinge wäre."

„Appelliren Sie daher nicht ausschließlich an das Gefühl. — Sie entfremden sich sonst die nüchternen geschäftsmäßigen Köpfe.

Betonen Sie

auch nicht ausschließlich die materielle Seite. — Es wird Ihnen sonst die llnterstützung der warmen Enthusiasten fehlen die ohne selbstsüchtige Be­ rechnung Ihre Bewegung

Aufopferung

geführt

mit eigenen großen Opfern ja!

haben.

Wüt

einem Worte:

mit eigener

pflegen Sie

den

Enthusiasmus, hüten Sie sich aber vor hochklingenden Phrasen."

„8.

Zerbrechen wir uns auch nicht die Köpfe über das was eintrcten

würde wenn die gesammte Arbeit in unserem Lande kooperativ organisirt tväre.

Das ist eine Frage, wie: was soll geschehen, wenn alle Steinkohlen

verbrannt sind? oder: wenn unsere Staatsschuld bezahlt ist? Diese wirthschaftliche Armee der Zukunft würde sich bald wieder

auflösen wie die

weiland schottischen Kriegsheere zur Zeit der Hochland Elans.

Auch diese

waren niemals längere Zeit hindurch zusammen zu halten.

Wurden sie

geschlagen so liefen sie aus Mißmuth nach Hause; waren sie siegreich so

brachten

sie die Beute in Sicherheit.

Schon jetzt verletzen viele von

Ihren Gesellschaften, und gerade die bedeutendsten, Ihren obersten

Grundsatz indem sie ihre eigenen Mitarbeiter nicht am Gewinn Theil nehmen lassen.

Sie nähern

sich

dadurch

bedenklich den Aktien-Gesell-

schaften." „Außerdem ist die Produktiv-Genossenschaft immer noch im Stadium

des Experimentes und die Kooperation in der Landwirthschaft ist über­ haupt noch nicht in der Praxis versucht." — Lord Derby entwirft dann eine Schilderung der praktischen Schwierig­

keiten die der Ländbau den Kooperatoren entgegenstellt und empfiehlt statt dessen das Bauen von Wohnhäusern für die Mitglieder.

479

Die Pioniere von Rochdale und ihre Nachfolger. Er welchen

schließt

die

mit einem

Gesellschaft

in

befriedigten Rückblicke

den letztverflossenen

20

den

entlang

Weg

zurückge­

Jahren

legt hat. Im

Jahre 1861 zählte

„ „ Von diesen sind

sie

48,000 Mitglieder



1871



„ 249,000



1879



„ 554,000

die bedeutende Aiehrheit Familienhäupter;

man darf

also sämmtliche Theilnehmer auf mindestens 1'/, Millionen Köpfe veran­

schlagen. „Ich betrachte daher", so schloß Lord Derby seine Ansprache,

„den

Fortschritt dieser Bewegung als eines der hoffnungsreichsten Zeichen un­

serer Zeit."

Aus dem Geschäftsberichte des Eentral Board für 1880 ergiebt sich

folgende Uebersicht des jetzigen Bestandes der koopergtiven Gesellschaften für England Wales und Schottland: . Lereiue Netto­ Kapital Umsätze 1. Kousumirende................. Zahl Mitglieder gewinn , 1,034 505,000 300,000,000 33,000,000 113,000,000 a. Rochdale System .... 6 320,000 b. Civil-Serv ice System 9,000 30,000,000 8,500,000 2 700 2. Wholesales..................... 66,000,000 850,000 13,880,000 33 25,000 3. Müllerei und Bäckerei 32,000,000 6,900,000 960,000 23 4. Produktive..................... 3,500 90,000 4,200,000 4,800,000 5. Baugesellschafteu.... 55 5,800 300,000 80,000 3,500,000 1,240,000 44,000 20 (i. Verschiedene................. 79,000 6,500

1,173

554,800

434,340,000 43,559,000 141,844,000

Nach den offiziellen Registern in welche jede Genossenschaft

England stehen.

eintragen zu

lassen

sich in

hat, sollen über 2000 Gesellschaften be­

Vermuthlich erklärt sich die Differenz mit vorstehender Tabelle

daraus daß auf dem flachen Lande eine Menge kleinster Konsumvereine

bestehen die sich der Union nicht angeschlossen haben. —

Im Jahre 1879 arbeiteten,

der

nach dem Berichte des Anwaltes

deutschen Genossenschaften,

ihm

bekannte

einge­

tragene Gesellschaften......................................................................

3203

Davon waren:

1.

Kreditgenossenschaften (Vorschußvereine rc.)................................... 1866

900 von diesen sandten Abschlüsse ein. war: 459,000; gewährte Vorschüsse:

Ihre Mitgliederzahl

1400 Millionen Mark,

eigener Fond: 116 Mill., Spaareinlagen: 1.26 Mill. Mark.

480 2.

Die Pioniere von Rochdale und ihre Nachfolger.

Genossenschaften

einzelner Gewerbszweige

(Rohstoff,

Werk­

zeuge, Magazine)................................................................................... 449 3.

Produktivgenossenschaften........................................................................ 200 Ueber diese liegen keine Nachweisungen vor.

4.

Konsumvereine......................................................................................... 642

200 Konsumvereine hatten 130,000 Mitglieder; verkauften für 28 Mill. Mark; Guthaben der Mitglieder 3 Mill. Mark. 5.

Baugenossenschaften...........................................................................

46

Es springt wohl in die Augen, wie verschieden die Antheilswirth­ schaft in Deutschland und England sich entwickelt hat.

Bei uns liegt das

wesentliche Gewicht in den Borschußvereinen, dort in den Konsumvereinen.

Die Produktiv- und Baugesellschaften

führen hüben

und drüben

eine

schattenhafte Existenz ohne frisches fröhliches Gedeihen.

V. Wenn der geehrte Leser diesem, hie und da leider etwas trockenen

Berichte bis hicher gefolgt ist, wenn er sogar die Zahlentabellen gelesen hat die ich zu meinem Bedauern habe einschaltcn müssen, so wird ihm

wohl in der ersten Kolumne der letzten Uebersicht unter l,b der Ausdruck

„Eivil Service System", im Gegensatze zum Rochdale System, als ein bis dahin noch nicht vorgeführtcr ausgefallen sein. Mit dieser Form

der Distributiv Gesellschaften



dem

Eivil

Service System — haben wir uns jetzt noch zum Schlüsse zu be­

schäftigen. Bor etwa fünfzehn Jahren fühlten sich einige Beamte des Civildienstes in London durch das Mißverhältniß ihrer unverändert niedrigen Gehalte

zu den gestiegenen Preisen aller Lebensbedürfnisse arg in die Enge ge­ trieben.

Da sie eine Steigerung ihrer Einnahmen durch Striken oder

durch Uebernahme ihrer Dienstgeschäfte auf eigene Rechnung — als Pro-

duktiv-Genossenschaft —, als nicht wohl ausführbar erkannten, so hofften sie ihre Ausgaben zu drücken indem sie verschiedene Artikel ihres Hausbe­ darfes gemeinsam zu Großhändlerpreisen zu beziehen

versuchten.

Sie

gingen bei den Webern von Rochdale in die Schule und trachteten danach einen Konsumverein zu bilden.

Die wirthschastlich ketzerische Ansicht

dieser Herren „daß der, nach den Lehren des Freetrade alleinseligmachende

Wettbewerb, das „freie Spiel der wirthschaftlichen Kräfte" sich den Schwachen gegenüber nicht als wohlthätige Vorsehung erweise, und daß es nothwendig

sei, sich dagegen zu schützen, — diese Anschauung wirkte ansteckend bei einer großen Zahl ihrer unter gleichem Drucke seufzenden Kollegen, namentlich

bei den Postbeamten. Thee.

Bei diesen begann die Ausführung mit einer Kiste

Die Bewegung pflanzte sich auch in der Armee und Flotte fort.

So entstanden nach und nach fünf große Gesellschaften in London

und weitere sind

Denn diese Unter>

noch in der Bildung begriffen.

nehmungen erwiesen sich als über alle Erwartungen erfolgreich.

In jeder Gesellschaft finden wir zwei Klassen von Theilnehmern: und

Aktionäre

Mitglieder.

Aktie beträgt

Die

meistens sind diese nicht voll eingezahlt. nicht:

etwa

20 Mark;

Der Zweck der Gesellschaften ist

als Spaarbanken zu wirken, sondern nur: beste Waaren gegen

baar und mit den möglichst geringsten Aufschlägen zu den Einkaufspreisen

an ihre Mitglieder zu verkaufen. Die Ueberschüsse werden ausschließlich den

Aktionären, nicht allen Mitgliedern gutgeschrieben.

Letztere erwerben nur

gegen ein Eintrittsgeld von 2,50 Mark das Recht dort zu kaufen.

Auch

haben die Aktionäre den Bortheil daß ihnen die Waaren frei in's HauS geliefert werden während die Mitglieder einige Pence (— 8 Pfennige) zahlen müssen. sieben der Mitglieds-Karte erhält man ein Berzeichniß aller Artikel

die auf Lager sind nebst den Preisen,

sowie eine Liste derjenigen zuver­

lässigen Geschäftsleute welche Mitgliedern des Vereins Rabatt bewilligen. Zu diesen haben sich nach und nach auch Aerzte, Apotheker, Rechtsanwälte,

Börsenmakler und Bersicherungs-Gesellschaften eingefundcn.

Unter den Mitgliedern finden sich sämmtliche Abtheilungen der höchsten Schichten Londons vertreten: Peers, Parlamentsmitglieder, Bischöfe, Richter,

fremde Diplomaten; vor allen: Damen. Der Verkehr mit und in diesen Geschäften empfiehlt sich durch Be­

quemlichkeit und Billigkeit.

Man hat das Bewußtsein, wenn man selbst

für baar Geld kauft, nicht mit den Zinsen für die anderen schlechten Zahler belastet zu werden wie in den „Shops".

Es

sind dort weiter

keine höhere gesellschaftliche Ziele gesteckt, wie wir sie in Rochdale ge­

funden haben.

Dagegen sind einige dieser ungeheuren Bazars wirksame

Mittelpunkte geselliger Anziehung geworden.

Beziehung

Den ersten Platz in dieser

nimmt der Palast der „Army and Navy Stores“

neuen prächtigen Victoria Street, Westminster ein. dieser Straße ist ein durchaus moderner.

Das

in der

Schon der Karakter

alte englische Haus mit

drei Fenstern und zwei Stockwerken ist hier verschwunden.

Statt dessen

sehen wir sechs Stock hohe Gebäude mit zwölf bis zwanzig Fenstern Front, ähnlich den dekorirten Wohnungskasernen welche die neuen Pariser Bou­

levards einfasien.

In ihnen ist das kontinentale System der horizontalen

Familienwohnung durchgeführt;

länder sagen.

man wohnt in „flats“,

wie die Eng­

Der Mittelpunkt

des Verkehrs

in

dieser

breiten anspruchsvollen

Straße ist ein hohes Gebäude im schweren italienisch-pariser Palazzostile,

zur Rechten wenn man von Westminster Palace kommt.

Zu beiden Seiten

der Eingangspforte drängen sich — es ist gegen 3 Uhr Nachmittags —

drei bis vier Reihen von Fuhrwerken: elegante Landauer und Victorias mit gepuderten Kutschern, kleine Broughams mit einem hochedlen Traber,

Hansoms

und

aus, Packete

Herren und Damen strömen ein und

„Four-wheelerS".

aller Größen werden in die Wagen verladen oder zu Fuß

davon getragen.

Wir

treten

ein

und befinden uns in einer unteren

zwischen Büreaus und Verkaufstellen für Kolonialwaaren. wir Platz

um

eine

wohlüberlegte

Liste

unserer

Eentralhalle Hier nehmen

Ankäufe

aufzustellen.

Ueberall um uns sehen wir Käufer und noch mehr Käuferinnen, die theils mit Bedacht einkaufen was sie bedürfen, theils mit Unbedacht: „weil es so

billig ist".

Die Kunden

übereilen sich nicht,

umher um Bekannte zu treffen.

sondern stehen und sitzen

Die Oertlichkeit der „Anny and Navy

Stores“ und der ungezwungene Verkehr in diesen Räumen gestattet eine

willkommene Erleichterung und Biegsamkeit in den starren Linien zwischen

denen

sich

anderswo

der gesellige Verkehr in England bewegt.

Rein

persönliche Anziehungen, ohne formelle „Vorstellung", sind hier nicht un­ bedingt ausgeschlossen.

Steigen wir hinauf in den ersten, zweiten, dritten, vierten Stock, so wechselt nur die Waare; die Scene ist überall dieselbe.

Man zeigt seine

Mitgliedskarte (oder diejenige eines Freundes) vor, wählt und kauft. Der

Verkäufer stellt eine doppelte Rechnung auf, die wir zum benachbarten

vergitterten

Schalter

doppelt quittirt.

des

Kassirers

tragen.

Hier

wird bezahlt

und

Gegen Ablieferung der einen Quittung erhalten wir vom

Verkäufer unsere inzwischen wohl verpackte Waare.

Ständige Kunden

führen ein Abrechnungsbuch in welchem ihnen ein dem Vereine geleisteter

Vorschuß gutgeschrieben ist gegen den der Betrag des Einkaufes belastet Alle Waaren sind gut, von der Pendüle bis zu den Pickels, und

wird.

wie ich nach sorgfältiger Probe bezeugen kann, mindestens zwanzig Prozent

billiger als in den Läden von Oxford und Regent Street.

Kommen wir um Mittag zwischen

1 und 2 Uhr, zur Lunchzeit, so

stehen uns für diesen Zweck gut ausgestattete Speiseräume zu Gebote; später am Tage findet sich zu einem gemüthlichen Fünf-Uhr-Thee Raum

und Gesellschaft.

Es hat sich aus meinen Mittheilungen wohl bereits ergeben daß

diese,

nach dem Civil Service System

geführten großen Bazars etwas

ganz anderes sind als die Läden in der Krötengasse zu Rochdale.

So

geschah eS denn auch daß die Kooperatoren der strengen Schule sie als

unechte Nachahmungen der wahren

und heilsamen,

sparenden

und er­

ziehenden Kooperation verwerfen mußten. Und im Grunde sind die London Stores auch nur Aktiengesellschaften

(limited) mit sehr großen Umsätzen,

Baarzahlung und einer gewissen

Selbstbeschränkung in den Dividenden, da ihr Hauptzweck:

„die Laden­

besitzer zu unterbieten" — im Wesentlichen immer noch festgehalten wird.

Wir bewundern daher, wie so häufig im praktischen Leben, nicht so­

wohl die Reinheit ihrer sozialen Grundsätze alö die Großartigkeit ihrer Erfolge.

Welcher Art diese sind, wird folgende kleine Uebersicht darthun.

Geschäftsjahr 1880. Kapital i. Norräthen, Reserves. Gebäuden

Name. 1. Armnyand Navy C-ooPerative Society . . . 2. Civil Service Supply Association.................. 3. Civil Service Coope­ rative Society . . . 4. Junior Army und Navy Stores....................... 5. New Civil Service Cooperation . . . .

Prozente der Verkäufe

Verkäufe

Gehalte, Löhne

Reiner Gewinn

Mark

Mark

Mark

5,000,000

39,600,000

1,950,000

690,000

1,79

5,000,000

29,000,000

1,500,000

460,000

1,58

1,500,000

10,000,000

680,000

470,000

0,46

1,400,000

5,000,000

600,000

5,500

0,11

500,000

2,800,000

90,000

29,000

1,25

Durchschnitt 76,400,000 4,820,000

13,400,000

1,654,500

1,44

Diese „unechten" Gesellschaften sind zwar keineswegs so offenherzig

bei der Mittheilung ihrer Jahresbilanzen

vorschreibt.

Indessen

als das Rochdale System eö

hat man doch über sie verschiedene Reihen inter­

essanter Thatsachen zusammengetragen, aus denen folgende der Mitthei­

lung wohl nicht unwerth sind,

da

sie einen Einblick in die Lage der

Aktionäre gestatten während diese in der vorstehenden Tabelle nicht klar

hervortritt. Die Civil Service Supply Association (Nr. 2) wurde 1866

gestiftet.

Das Kapital betrug 45,000 Mark in 4500 Aktien.

Ihre Ver­

käufe betrugen: 1866 :

1867:

425,000 Mark.

1877: 20,000,000 Mark.

1,660,000 Mark.

1878: 27,800,000 Mark.

Der Bruttogewinn war durchschnittlich: 8Prozent der Verkäufe. Der Nettogewinn

-

-

1V,

=

Theilt sich |baS Aktienkapital von 45,000 Mark in diesen dkettoge-

toiint von 460,000 Mark so entfallen auf 1 Aktie von 10 Mark: 100 Mark gleich Ein taus end Prozent. Es dürfte wohl schwer fein, im Bereiche der modernen Gründungen eine auch nur annähernd befriedigende Kapitalanlage alifzufinden.

Die Zahl

der

nehmer ist 36,000.

an diesem glänzenden Geschäfte zugelassenen Theil­

Davon sind 23,000 Mitglieder mit Karte, die übrigen

sind Aktionäre und solche, die kraft Vollmacht der Aktionäre kaufen.

Jeder

Besitzer von 20 Aktien kann nämlich unentgeltlich ein Mitglied auf Lebend

zeit einführen.

Sämmtliche Einkauf- und Verkaufspreise in dieser Gesellschaft sind mehr

oder weniger künstlich festgestellt und gegen einander abgewogen.

Dieses besondere Verfahren hat verschiedene Ursachen.

Zunächst

will

man die Brutto- und diettogewinne nicht über die Sätze von 87., % und

1 */., °/o erhöhen.

Alsdann muß man verschiedene Artikel theuer und mit

zu großem Vortheile verkaufen weil gewisse große monopolistische Produ­

zenten verlangen daß ihre auf dem Weltmärkte

gängigen Detailpreise

(;. B. für Kölnisches Wasser, Liebigscher Fleischextrakl) auch hier einge­ hakten werden. Nm nun nicht zu viel zu verdienen muß man andere Artikel in derselben Abtheilung unter dem Einkaufspreise abgeben.

Es dürfte eine

neue wirthschaftlichc Erscheinung sein daß ein kaufmännischer Unternehmer

in solcher Weise gegen seinen eigenen Gewinn anzukämpfen hat. —

Um uns eine annähernd richtige Vorstellung von der Wirksamkeit der Civil Service Supplh Association zu machen müssen wir noch berück­ sichtigen daß etwa 400 Firmen in London sich mit ihr verständigt haben,

den Mitgliedern die bei ihnen kaufen einen Rabatt von 10 bis 25 Pro­

zenten zu gewähren.

Man nimmt an daß dieser Rabatt sich auf jährlich

60 bis 80 Millionen Mark beläuft. —

Die „Armh und Navh Cooperative Society" besteht seit 7 Jahren.

Im Jahre 1872 betrugen die Verkäufe: 2,600,000 Mark, im Jahre 1879 über 30 Millionen.

Sie gewährt niemals mehr als 5 Prozent Dividende

und verwendet den sonstigen Ueberschuß zu fortwährender Herabminderung der Preise.

Sie besitzt große Werkstätten für lackirte Holz-, Leder- und

Zinnwaaren; sie betreibt Kunsttischlerei und Druckerei. etwa 2000 Arbeiter.

Sie beschäftigt

Diese Produktion wurde nothwendig da es sich als

linmöglich herausstellte, jene Waaren den Mitgliedern gut und fehlerfrei

durch Ankauf zu gewähren.

beschäftigt anhaltend

etwa

Die Gesellschaft schneidert Herrenkleider und

100 Hemdennähcrinnen;

mäntel und Parfüms macht sie selbst.

auch

ihre Damen­

Die Arbeiter kommen also bei

dem neuen Verfahren jedenfalls nicht zu kurz.

Die Geschäfte der A. u. N.

C. S. erstrecken sich über das ganze Reich und bis nach Indien.

Ihr

Umsatz ist in gewissen Artikeln unglaublich, z. B. in einer Woche 6 Tons (— 6000 Kilo) eingemachte Früchte.

Da bedeutende Fabriken eine gleitende Skala für ihre Preise haben die umgekehrt zur Höhe der Bestellung läuft so können die großen Lon­

doner Stores ihren Kunden viele Artikel billiger verkaufen als der kleine

Ladenbesitzer einkauft.

Länge nicht konkurriren.

Damit konnten die alten „Shopkeeper" auf die Wir werden sogleich hören wie sie bitter klagen.

Aber die Stores werden ihretwegen ebenso wenig wieder eingehen als das elektrische Licht wegen der Gaöaktien und die Eisenbahnen wegen der Land-

und Postkutschen.

Selbstverständlich konnten

sich

diese

großen

Institute die binnen

wenigen Jahren dem Kleinhandel für weit über 100 Millionen Mark

jährlichen Umsatz entzogen und außerdem seine bisherigen auskömmlichen Ladenpreise auf völlig unhaltbare Sätze herabzudrücken droheten, nicht ohne

den heftigsten Widerstand von Seiten sämmtlicher Ladenbesitzer entwickeln. Bald befand sich diese achtbare und zahlreiche Klasse der Londoner Wähler in der hellsten Entrüstung und gab ihren Gefühlen durch die

Zeitungen und namentlich auch gegenüber der Regierung vollen Ausdruck.

Sie erklärten die neuen Stores im nämlichen Athem für unpraktisch und dilettantisch in welchem sie gleichzeitig verlangten daß dieselben mit

Gewalt unterdrückt werden sollten. Die Regierung — forderten sie — sollte vor allem den Civilbeamten

verbieten dieses Nebengeschäft zu betreiben, dann sollten die Stores zu den Steuern herangezogen werden. Beides ist geschehen, natürlich ohne jede erhebliche Wirkung.

Die

Einschränkung der Thätigkeit der aktiven Staatsdiener hatte hauptsächlich zur Folge daß die Leitung der neuen Unternehmungen aus den Händen

der Dilettanten in diejenigen praktischer erfahrener Geschäftsleute überging.

Zugleich aber machten die Shopkeepers durch ihr Geschrei ihren neuen Konkurrenten eine Reklame welche diese selbst niemals hätten in's Werk

richten können.

Mr. Gladstone gab ihnen, als wirksamstes Gegenmittel,

den Rath: das System der langen Kredite abzuschaffen, sich zu größeren Geschäften zusammen zu thun, im großen und nur beste Waare einzukaufen. — Es stellte sich bei diesen Erörterungen heraus daß der Verkaufspreis des Ladenbesitzers denjenigen deS großen Fabrikanten meistens um hundert Prozent übersteigt. Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 5.

33

Diese hundert Prozent sind natürlich keineswegs reiner Gewinn des

Detailisten — nicht im entferntesten.

Sie entstehen vielmehr durch die

übergroße Menge überflüssiger Mittelspersonen beim Vertriebe der

Waaren von der Fabrik bis in den Laden. Und diese unnöthigen Kosten — also nicht der Gewinn, sondern der

Verlust der Ladenbesitzer — sind es hauptsächlich die den Verdienst der

großen Cooperative Stores bilden, abgesehen von gewissen anderen Faktoren die da heißen: Ehrlichkeit, volles Gewicht, reine Waare, Zuverlässigkeit

in den geschäftlichen Transaktionen mit dem Publikum, Vermeidung un­

vernünftiger Knickerei und Kleinlichkeit; Höflichkeit, Anstand, und Verwer­ fung aller der Praktiken die man gemeiniglich als „Schmieren der Dienst­

boten" und „Anschmieren der Kunden" bezeichnet.

Wird die Kooperation, zunächst die englische,

sich noch weiter ent­

wickeln, wird sie noch neues Feld in Beschlag nehmen?

Die kritischen Leute sagen natürlich:

nein!

Die langjährigen, ehe­

mals enthusiastischen und auch jetzt noch keineswegs entmuthigten intellek­

tuellen Führer der Bewegung, Männer wie Mr. Thomas Hughes, Prä­ sident der

„Guild of Cooperators“,

der wissenschaftlichen Station für

die Kooperation, und Mr. Vansittart Neale sagen: „Kooperation ist nicht

mehr in der Kindheit aber sie ist noch in der Jugend, sie wird sich noch in die Breite auslegen." — Indessen die große,

duktiv-Genossenschaft. bis

heute noch ungelöste Frage ist die der Pro-

Ob

menschliche Natur

die

zu dieser hinauf veredlen wird? — steht dahin.

sich demnächst Einstweilen aber

"zeigen die Arbeiter der Gegenwart noch gewisse Eigenschaften die jener

Entwickelung

einen festen Riegel vorschieben.

jetzigen Arbeitsherrn nicht unbedingt;

beitgeber, unbedingt nicht.

Vielleicht trauen sie dem

jedenfalls aber einander, als Ar­

Sie ziehen es vor ihre Tagesarbeit gegen

festen Taglohn Zug um Zug auszutauschen.

Sie fühlen sich bis jetzt noch

sicherer in ihrem, halb kontraktlichen halb dienenden Verhältnisse zu einem

allein verantwortlichen Arbeitgeber. der

rohen

mechanischen Kraft

Es ist die naturgemäße Unterordnung

unter die Intelligenz und das Kapital.

Und dieses instinktive Bewußtsein wird man jenen, nicht weitsichtigen aber

für ihren unmittelbaren Vortheil ausreichend einsichtigen praktischen Köpfen

mit keiner Heugabel irgend eines aprioristischen weltverbessernden Prin­ zipes austreiben. —

Werfen wir jetzt noch einen letzten Scheideblick auf meine Freunde, die Pioniere von Rochdale, denen ich angelegentlich wünsche daß sie

auch die Sympathie der Leser nicht völlig unberührt gesoffen haben.

Bei

ihnen finden wir jedenfalls feste greifbare Resultate eines bedeutenden

wirthschaftlichen und sozialen Fortschrittes. Außer den ökonomischen Vortheilen hat die distributive Kooperation in England auch sittliche intellektuelle und politische Früchte getragen die man nicht zu hoch anschlagen kann.

Sie hat die Arbeiter gelehrt: Kleinigkeiten zu zanken,

zusammen zu wirken, sich nicht um

auch bei Verschiedenheit der Meinung den ge­

meinsamen Zweck nicht fallen zu lassen und nicht mehr als hülflose Atome

sich jedem Windhauche preiszugeben. Sie hat ihnen gezeigt:

daß Reinlichkeit,

Sauberkeit,

Nüchternheit

und Anstand nützliche und erstrebenswerthe Dinge im Leben sind.

Sie

die geistige Entwicklung ihrer Zöglinge gehoben und sie,

hat

gleichen Schritts mit ihrer erhöheten Einsicht,

sprüchen gemacht.

gemäßigter in ihren An­

Dadurch ist namentlich auch den,

früher so verderb­

denn

liche» Slrikes ihre schärfste Spitze abgebrochen,

jeder Pionier ist

jetzt auch ein wenig Kapitalist und empfindet jede erhebliche Störung der Marktverhältvisse alsbald in der vierteljährigen Dividende seines Store.

Endlich

hat

die

Distributiv-Genossenschaft

ihren

Mitgliedern ein

felsenfestes Vertrauen in das System des BaarzahlenS eingeflößt. — Ein Krämer

in Rochdale kam zu einer alten Frau und rieth ihr

wohlmeinend, ihre ersparten 800 Mark aus dem Geschäfte der Equitable Pioneers herauszuziehen; er wisse bestimmt, daß die Gesellschaft so gut wie insolvent sei.

Darauf antwortete die einfache Alte:

„Bricht

der Store zusammen

so bricht

er mit seinem eigenen

Gelde zusammen; er hat mir die 800 Mark erspart.

Alles was ich

überhaupt besitze verdanke ich den Equitable Pioneers in der Krötengasse."

Zur Reform des Instituts der EinjahrigFreiwilligen.

i.

Die großen Vorzüge der allgemeinen Wehrpflicht werden heutzutage von keinem unparteiischen Beurtheiler mehr verkannt.

Diese hochwichtige

Einrichtung wird nun — wie bekannt — durch das Institut der Einjahrig-

Freiwilligen insofern durchbrochen, als der gebildetere und wohlhabendere

Theil des Volkes seiner Dienstpflicht unter gewissen Voraussetzungen schon in einem Jahre genügt.

Es ist klar, daß dieses Privilegium nur dann

sich rechtfertigen läßt, wenn es durch gewisse Verpflichtungen kompensirt wird.

Und so ist es auch: der Einjahrig-Freiwillige hat nicht nur einen

gewissen Grad der Bildung nachzuweisen und sich während der Dienstzeit

auszurüsten und zu erhalten; er hat vor allem die moralische Verpflichtung, während des DienstjahreS mehr zu leisten als der dreijährige Kamerad und nach Absolvirung jenes einen Jahres durch mehr oder weniger häufige

Dienstleistungen in der Reserve und Landwehr dem Staate seinen Dank abzustatten für die große Bevorzugung, die ihm zu Theil geworden ist.

Mit einem Worte, der Einjährig-Freiwillige hat die moralische Verpflich­ tung, mindestens den Rang eines Vice-Feldwebels, womöglich den eines

Reserve-Officiers zu erreichen.

Wer durch eigene Schuld dieser Beför­

derung verlustig geht, hat dem Staate nicht das Seinige geleistet; er hat

damit gezeigt, daß er des Privilegiums der einjährigen Dienstzeit nicht würdig gewesen ist.

Wo keine Pflichten erfüllt werden, da sind auch

keine Rechte zu gewähren, zumal ein Privilegium, das durchaus nicht so

selbstverständlich ist, wie man wohl annimmt. — Vergleichen wir nun mit diesem postulirten Ideal die realen Ver­

hältnisse, so kann gar lticht bezweifelt werden, daß im großen und ganzen die Einjährig-Freiwilligen ihre Schuldigkeit gethan

Berechtigung nachgewiesen haben.

und ihre Existenz-

Wir sagen: im ganzen; denn es ist

nicht zu leugnen, daß das wichtige Institut der Einjährig-Freiwilligen nicht

mehr

allen

berechtigten Anforderungen

dringend bedarf.

genügt, daß

es

einer Reform

Diese Wünsche werden sowohl seitens der Militärver­

waltung als auch seitens der höheren Schulen laut. Was zunächst die militärische Seite dieser Frage betrifft, so ist

es allgemein bekannt, daß nur ein Bruchtheil (vielleicht die Hälfte?) der Einjährig-Freiwilligen mit der Qualification zum Reserve-Officier ent­

lassen wird, daß also die Regimenter nur mit einem Theil ihrer Ein­

jährigen zufrieden sind, zumal in Süddeutschland; von Elsaß-Lothringen

wollen wir lieber schweigen.

Ist nun der vorher aufgestellte Grundsatz

richtig, so ist der nicht-avancirte Theil der Einjährigen als unnützer Ballast

zu betrachten; ja, es muß dafür gesorgt werden, daß ähnliche Elemente in Zukunft unschädlich gemacht werden. — Woran liegt dieser Mißstand? Zunächst sind als meist

unbrauchbares Material die sogenannten

„Pressiers" anzusehen, die infolge hartnäckiger Trägheit oder mangel­ hafter Begabung auf den höheren Schulen Schiffgebruch gelitten haben,

in der ungesunden Treibhaus-Luft einer „Presse" mühsam präparirt sind

und dann das Examen vor der Departements-PrüfungS-Commission mit

Ach und Krach bestehen; denn falls diese Commissionen die Kenntnisse eines Sekundaners verlangen wollten, so würde von den Prüflingen kaum Einer das Zeugniß erhalten. — Sind diese jungen Leute wohl wirklich

im Besitz einer Bildung, die zum Officier qualifictren könnte?

Nein;

die „Pressiers" müssen auö der Zahl der Einjährig-Freiwilligen gestrichen

werden.

Aber damit ist eS noch nicht genug.

Die zweite Kategorie,

deren „Bildung" wir anzweifeln möchten, sind die aus einer Sekunda mit dem betreffenden Zeugniß Entlassenen.

Diese sogenannte Sekundaner­

bildung ist nichts Halbes und nichts Ganzes, da eine innere Berechtigung dieser Scheidegrenze — wie wir später

sehen werden — nicht vorliegt.

Mitten aus dem Gymnasial- und Realkursus werden die jungen Leute durch äußere Motive herausgerissen; kann sich da die Militärverwaltung wundern, wenn die „Bildung" vieler Einjährigen keine genügende, weil unvollständige ist?

Dazu bedenke man, daß zwischen dem Abgang von

der Schule und dem Eintritt ins Heer in der Regel 3—4 Jahre liegen, in denen die Reste der Schulkenntnisse bedenklich zusammenschrumpfen. Daran liegt es, und nicht an dem voreiligen Ertheilen der Berechtigung,

wenn Einjährig-Freiwillige beim Officier-Examen nicht bloß orthogra­

phische, sondern auch grammatische Fehler machen und, um eins jener oft ergötzlichen Beispiele anzuführen, Feder- und Pferde-Kraft nicht unter­

scheiden können.

Diese Mißstände empfindet

auch der Kriegsminister,

wenn er die Anforderungen mehr und mehr steigert; die Berechtigung

hat sich auf diese Weise allmählich bis an die Grenze der Ober-Sekunda

Zur Reform deS Instituts der Einjährig-Freiwilligen.

490

Wir werden

vorgeschoben und wird auch noch weiter vorgeschoben werden. später sehen, welches die Grenze sein muß. So viel vom militärischen Standpunkt.

Weit erheblichere Einwände

gegen das bisherige Verfahren müssen die höheren Schulen erheben. Nichts

hat unseren Gymnasien

und Realschulen so geschadet,

wie das

System der Berechtigungen, zwar nicht äußerlich, dem Umfange nach,

wohl aber innerlich,

dem Geiste nach.

rechtigung zu erhalten: lichen,

aus

Schule,

nach

Jede Schule hat nur eine Be­

erfolgtem Abgangs-Examen.

äußeren Gründen

gemachten Scheidegrenzen

Alle willkür­ schädigen

die

welche ihre Aufgabe nicht auf jeder beliebigen Stufe abbrechen

und zugleich vollenden kann; sie schädigen aber auch den Schüler,

weil

sie ihm keine ausreichende Vorbildung mit ins Leben geben, sondern eine dürftige Halbbildung, die in den meisten Fällen zur Oberflächlichkeit und

Ueberhebung führt.

Die Halbbildung gehört zu den schlimmsten socialen

Uebeln unserer Zeit;

sie wird aber befördert durch das jetzige System

der Berechtigungen. Wir können uns nicht versagen,

eine klassische Schilderung hierher

zu setzen, wie sie Laas (Gymnasium und diealschule S. 26) giebt: „Da­ für liegen uns die

unteren und mittleren Klassen der Gymnasien und

Realschulen von Schülern voll,

richt folgen,

die stumpf und schwerfällig dem Unter­

den ihre ganze geistige Structur gleichsam von sich abstößt

— schlaff und halbbenommen sitzen sie da, um unter Mühen und Qualen

die wichtigste aller Berechtigungen zu ersitzen,

die auf den einjährigen

Militärdienst, und sollten sie darüber achtzehn Jahr alt werden,

unsäglich,

wie

die Klassen

Es ist

bis zum Schluß der Unter-Sekunda unter

diesem Ballast leiden — es muß sogar Mitleid erregen, daß man ihnen

(jenen jungen Leuten)

keine Schulen schafft,

auf

denen auch sie ihrer

Jugend froh würden; auf denen sie eine Bildung empfingen, die, weil

sie ihrer Naturanlage entspräche, auch Früchte tragen würde,

von denen

die Gesellschaft etwas hätte."

Diesen trefflichen Ausführungen haben wir nichts hinzuzufügen.

Wir

haben uns aber nun zur Genüge in der Negation bewegt; es ist Zeit,

daß wir mit positiven Vorschlägen ans Licht treten.

Dies wird sehr leicht

sein, wenn wir die Schlüsse aus unseren Prämissen ziehen.

1.

Das Examen vor der Departements-Prüfungs-Kommission wird

entweder aufgehoben oder derartig verschärft, daß die Anforderungen

den analogen eines Gymnasiums oder einer Realschule entsprechen. 2.

Die Berechtigung zum einjährigen Dienst mit der Aus­

sicht auf Avancement zum Reserve-Officier wird

an das auf

einem Gymnasium, einem Real-Gymnasium ober einer Ober-Realschule

abzuleistende Abiturienten-Cxamen geknüpft, setzt also

erfolg­

den

reichen Besuch einer höheren Schule mit neunjährigem Cursus voraus. 3.

Die Berechtigung zum einjährigen Dienst mit der Aussicht

auf Avancement zum Unterofficier der Reserve wird an das auf

einer Real- oder höheren Bürgerschule abzuleistende Abgangs-Examen geknüpft, setzt also den erfolgreichen Besuch einer höheren Schule mit

siebenjährigem CursuS voraus.

4.

Militärisch brauchbare Einjährig-Freiwillige der zweiten Kate­

gorie (sub 3) können in die erste (sub 2) übernommen werden, wenn

sie nach Ableistung ihrer Dienstpflicht ein wissenschaftliches Examen vor einer DepartementS-Prüfungs-Kommission bestanden haben. —

Wir unterbreiten diese Vorschläge der öffentlichen Besprechung, in der Ueberzeugung, daß wir nichts Unmögliches

und

nichts Unbilliges

empfehlen. II.

Wir haben nunmehr unsere 4 Thesen des Näheren zu erläutern bezw. zu rechtfertigen. Am wenigsten wird die erste Forderung auf Widerspruch stoßen, da

niemand mehr, als die Mitglieder jener Prüfungs-Kommissionen selbst, von der unzureichenden Vorbildung der betreffenden Examinanden über­

zeugt ist.

Sollte aber die gänzliche Beseitigung des Examens als zu

radikal erscheinen, so ist die Verschärfung der Anforderungen in dem­

selben einfach eine Forderung der Gerechtigkeit.

Man bedenke, mit welcher

peinlichen Sorgfalt die Leistungen des Gymnasiasten bezw. Realschülers, welcher die Berechtigung nachsucht,

abgewogen werden, und

vergleiche

damit den Maßstab, der von den Departements-Prüfungs-Kommissionen angelegt wird und — fügen wir hinzu — angelegt werden muß, wenn anders positive Resultate erzielt werden sollen.

Wir behaupten nicht zu

viel, wenn wir konstatiren, daß unter den auf solche Weise für reif Er­ klärten kaum einer auf dem Standpunkt eines leidlichen Ober-Tertianers steht, wohl aber manche noch tiefer. als

wollten

wir

daraus

Wir verwahren uns aber dagegen,

den Prüfungs-Kommissionen

einen

Vorwurf

machen; der Fehler besteht in der ganzen Einrichtung dieses Examens,

das ein wahres refugium peccatorum ist. Unsere zweite These wird principiell insofern Zustimmung finden,

als man eine solche Vorbildung für ausreichend erklären muß. seits steht freilich fest, daß

Ander­

die körperliche Qualification unserer

Abiturienten der intellektuellen leider nicht immer entspricht.

Hier gilt

es Wandel zu schaffen, indem die leibliche und geistige Erziehung in Zu-

Zur Reform des Instituts der Einjahrig-Freiwilligen.

492

kunft gleichmäßiger gefördert wird.

Es ist Sache der Behörden und

Lehrer, der Vereine und Väter, jene lüft- und lichtarmen Räume endlich zu schließen, in denen Generationen von Schülern ihre Augen und Lungen

schädigen, abgesehen von den antediluvianischen Tischen und Bänken, die

an unzähligen Rückgrats-Verkrümmungen schuld sind.

Schon manches ist

in dieser Beziehung geschehen, aber immer noch nicht genug.

Auch ge­

nügt diese negative Förderung des körperlichen Gedeihens nicht allein; es

gehört dazu — außer einer sorgfältigen Verhütung jeder geistigen Ueberanstrengung — die einsichtige und ausgiebige Verwendung des Turn-

Unterrichts.

Oder glaubt man, daß darüber kein Zweifel mehr besteht?

Dann lese man

in den Verhandlungen der Stettiner

Philologen-Ver-

sammlung (1880) nach, auf welchen Widerstand der Leiter der EentralTurnanstalt für Civil-Eleven, Herr Prof. Euler,

bei hervorragenden

Schulmännern gestoßen ist, obgleich seine Forderungen (das Klassen-Turnen betreffend) sehr bescheidene waren. einer Turn-Halle?

Wieviel höhere Schulen entbehren noch

Auf wieviel Anstalten wird dieser Unterricht noch in

Nebenstunden (außerhalb der Schulzeit) ertheilt?!



Wenn in dieser

Beziehung erst einmal gründlich reformirt ist, dann wird auch die MilitärVerwaltung unter den Abiturienten eine genügende Anzahl brauchbarer Soldaten finden.

Die dritte These entspricht unseres Erachtens den Bestrebungen un­

serer Unterrichtsverwaltung, wie solche in der augenblicklich in Ausfüh­ rung begriffenen Reform unseres höheren Schulwesens liegen.

Irren wir

nicht, so will man der Sekundaner-Bildung energisch zu Leibe, indem man den Ballast der höheren Schulen allmälig in

die Anstalten überführt,

wo jene Schüler eine ihren Anlagen und Neigungen angepaßte Bildung sich erwerben können.

Diese Realschulen mit siebenjährigem Cur-

sus, welche berufen sind, die Bürgerschulen der Zukunft zu werden, d. h.

die Bildungsstätten für breite Schichten

des mittleren Bürgerstandes,

werden anfangs einigem Mißtrauen begegnen; man wird, wie etwa schon

Herr Dr. Löwe (in den Oktober-Verhandlungen 1873), eine Herabmin­ derung der Durchschnittsbildung, insbesondere bei Reserve-Officieren, be­

fürchten.

Wir glauben, mit Unrecht, möchten aber auf einen anderen

Punkt Hinweisen, der die Beachtung der Regierung verdienen dürfte.

Da die Unterrichtsverwaltung diese Realschulen zu heben und zu ver­ breiten wünscht,

so hat sie auch die Verpflichtung,

solcher Lehranstalten voranzugehen.

mit der Gründung

Wir sind zwar überzeugt, daß die

Communen die Vortheile, welche jene Realschulen bieten, bald erkennen

und an die Gründung solcher Anstalten gehen werden; wir fürchten aber, daß der Charakter derselben durch nicht ausreichende Anstellung wissen-

schaftlich

gebildeter Lehrer zu

einem

elementaren herabgedrückt werden

möchte — was doch nicht in der Absicht der Regierung liegt.

Oder ver­

fahren nicht manche Communen sogar in der Verwaltung ihrer höheren

Schulen ganz ähnlich?

Ein Beispiel mag zeigen, wie städtische Schul­

verwaltungen ihre Aufgabe verstehen; — die Nennung

von Ort

und

Namen mag man uns erlassen, da wir für die Richtigkeit unserer An­ gaben einstehen.

Eine höhere Lehranstalt (mit 9jährigem Kursus) der Provinz Sachsen

weist taut dem Programm von Ostern 1882 bei einem Bestand von etwa

600 Schülern ein Lehrer-Collegium auf, das aus 5 Oberlehrern, 8 ordent­ lichen Lehrern, 4 wissenschaftlichen Hülfslehrern, 2 Probekandidaten und

6 technischen (soll heißen: Elementar-)Lehrern besteht, abgesehen von den 3 Turnlehrern.

Es ist demnach nur wenig über die Hälfte der Lehrer

zugleich wissenschaftlich gebildet und definitiv angestellt, weshalb eS nicht zn verwundern, wenn ein Elementarlehrer Ordinarius der Quarta ist und daselbst Französisch unterrichtet. Unterrichtsgegenstand?

Seit wann ist Französisch ein „technischer"

Seit wann nennt man eine derartig versorgte

Lehranstalt eine „höhere"? — Das Uebrige interesstrt uns weiter nicht; wir wollten nur an einem auffälligen Beispiel zeigen,

wohin sich die

Sparwuth einer städtischen Schulverwaltung versteigen kann. wäre leicht, die Beispiele zu häufen (vgl. Hannover).

Es

Hier wollen wir

nur im Interesse einer hoffnungsvollen Institution zu verhüten suchen, daß

dieselbe durch unrichtige Pflege gleich tut Keime erstickt wird.

Die Re­

gierung wird gut thun, wenn sie wenigstens in jeder Provinz eine An­ stalt mit siebenjährigem Kursus errichtet und den Communen gewissermaßen als Muster vor Augen stellt, damit ihre Absichten nicht verballhornisirt werden.

Denn es ist klar, daß eine solche abgeschlossene Bildung zwar

immer besser als das Bruchstück eines Gymnasial- oder Real-Cursus ist, daß sie aber unter ein gewisses Niveau nicht sinken darf und daß deshalb

die wissenschaftliche Bildung der betreffenden Lehrer Grundbedingung ist. Auch die pekuniäre Schwierigkeit wird nicht so groß sein, da mit dem Gedeihen dieser Realschulen die höheren Schulen mit 9 jährigem CursuS

— was sehr wünschenswerth ist — an Schülerzahl verlieren und also

eine geringere Zahl von Lehrkräften beanspruchen werden. Unsere vierte These endlich soll die in der dritten befindliche, theil­ weise Härte mildern.

Da nämlich notorisch unter den jungen Leuten aus

dem praktischen Leben eine iticht geringe Anzahl für den Officierstand gut

qualificirt ist, so muß der Militärverwaltung Gelegenheit geboten werden,

diese Elemente heranzuziehen.

Aber auch hier kann eine solide, wissen­

schaftliche Vorbildung nicht entbehrt werden.

Ist es nicht der Durch-

494

Zur Reform des Instituts der Einjahrig-Freiwilligen.

schnitts-Grad der wissenschaftlichen Bildung, durch den unser preußisch­

deutsches Officier-Corps über alle anderen hervorragt?

Der „Schul­

meister", der bei Königgrätz gesiegt hat, war nicht nur der Volksschullehrer. Wir fordern also für die Einjährig-Freiwilligen der zweiten Kategorie,

daß sie bei guter, militärischer Qualifikation etwa ein Jahr nach dem

Dienstjahr diejenige Schulbildung nachweisen, welche sie einst beim Ab­ gang von der Schule besessen haben.

Dann wird die Militärverwaltung

genügende Garantie haben, daß sie wirklich gebildete Männer zu Officieren

der Reserve vorschlägt, Männer, die infolge ihrer soliden Bildung im

Stande sind, ihren schweren und verantwortungsvollen Pflichten mit der­ selben Sicherheit und Schneidigkeit zu entsprechen wie die BerufS-Officiere. Magdeburg.

Dr. Friedrich Alh.

Köln im Mittelalter.

Bestand und Verfall der erzbischöflichen L>tadtherrschaft.

I.

Die Geschichte Kölns im Mittelalter darf nicht nach der jetzigen Be­ deutung der Stadt beurtheilt werden.

Zwar wächst jetzt Köln, wenn man

seine Fabrikvorstädte, wie billig, hinzurechnet, sehr rasch; noch immer ist es die Metropole der Nheinprovinz, die Centralstelle des westdeutschen Han­

dels, und mit der Erweiterung des städtischen Areals wie einer zu er­

hoffenden Vertiefung des Rheinbettes für kleinere Seeschiffe ist ein neuer bedeutender Aufschwung zu erwarten. Gleichwohl wird Köln nie wieder jenen überwiegenden Einfluß er­

langen, den es im Mittelalter, namentlich in der früheren Epoche des­ selben, der eigentlichen Kaiserzeit, besaß.

Damals war es die bedeutendste

deutsche Stadt, höchstens Mainz konnte ihm eine Zeit lang den Rang

streitig machen.

Aber Mainz war bedeutend geworden als Emporium

für den localisirten Binnenhandel des Oberrheins und als Absatzort für

die früh entwickelten Urproductionen der reichen oberrheinischen Frucht­

ebene.

Als daher mit dem 13. Jahrhundert der deutsche Binnenhandel

vor der Bedeutung eines neu erwachenden internationalen Handels zurück­ trat, und zugleich neben den Urproductionen die industrielle und commercielle Thätigkeit sich ebenbürtig entwickelte, ging Mainz zurück: Köln aber,

der alte Sitz eines weitverzweigten Transithandels und des bedeutendsten

Gewerbfleißes der Zeit namentlich im Textilzweig, nahm unbestritten den

ersten Platz unter den deutschen Städten ein.

Alle jene Sonderentwick­

lungen politischer, wirthschaftlicher und rechtlicher

Natur,

welche

das

Studium der deutschen Städtegeschichte so wechselvoll und lohnend machen, treten in Köln am frühesten ein; die erste dunkle Spur von einem Ver­

suche bürgerlicher Autonomie findet sich hier schon im Jahre 1112*), die erste auf uns gekommene Zunfturkunde ist die der Kölner Bettziechenweber

vom Jahre 1149.

*) Chron. reg. z. I. 1112: Coniuratio Coloniae facta est pro libertate.

Dazu kommt, daß die städtische Entwicklung in Köln so ganz anders

verläuft, als in den übrigen damals nennenSwerthen deutschen Städten,

namentlich den fünf Bischofssitzen am Oberrhein.

Hier finden sich fast

überall nur homogene Bevölkerungen von hofhörigen Leuten, der Bischof erscheint als Stadtherr mit patriarchalischer Vollgewalt;

die Opposition

gegen seine Herrschaft geht nur zum geringen Theil von der städtischen Urbevölkerung auö; seine Beamten, die Ministerialen vielmehr sind eS,

welche durch erblichen Besitz ihrer Aemter zu Städtern und Bürgern werden und das Regiment ihres einstigen Herrn beschränken und brechen. Anders in Köln:

Die Stadt ist zu früh bedeutend, als daß die großen

und festen Bestandtheile einer altfreien Bevölkerung unterdrückt werden könnten, ursprünglich nicht über, sondern neben dieser Bevölkerung richtet

sich der Bischof mit seinem Hofhall und seiner grundherrlichen Verwaltung ein.

So entsteht von vornherein eine mannigfach schattirto Bevölkerung;

neben vornehmen und geringeren Freien finden sich hofhörige Leute, und

zu alledem kommt die kirchliche Aristokratie der Stifter wie der Erzdiözese und die Ministerialität des Erzbischofs.

Aus den Bestrebungen und Ge­

genbestrebungen dieser sozialen Gruppen entsteht bald ein reiches Leben nach den Richtungen der realen wie idealen Kultur, das sich seit dem

Beginn der deutschen Kaiserzeit mit immer zunehmender Deutlichkeit bis

zum Schluß des Mittelalters verfolgen läßt. Und diese Entwicklung spielt schon auf historischem Boden.

dem Erzbischöfe Brun,

Als mit

dem sächsischen KönigSkind, um die Mitte des

10. Jahrhunderts der erste Stadtherr in Köln einzog, da hatte die Stadt eine schon fast tausendjährige Vergangenheit hinter sich:

eine Zeit, reich

an wechselnden Schicksalen, erfüllt von einer kurzen Blütheepoche in der Römerzeit, von wüster Zerstörung und langsamem Verfall bis zur Acker­ stadt unter merowingischer und theilweise noch karolingischer Herrschaft.

Innerhalb des römischen Imperiums war Köln Grenzfestung

Garnisonstadt gewesen.

und

Als militärische Anlage in diesem Sinne war es

sehr bedeutend, andere Römerstädte am Rhein, wie Boppard oder Victoria bei Neuwied hatten nur etwa 4000 Quadrat-Ruthen Areal gegenüber den

60000 Quadrat-Ruthen Kölns, zudem besaß Köln einen festen Brückenkopf

in dem großen Castrum Deutz und seit Anfang des 4. Jahrhunderts auch eine feste, freilich wohl bald zerstörte Rheinbrücke.

Aber was besagt das

alles gegenüber der Größe Triers mit vielleicht 240000 Quadrat-Ruthen Flächenraum, mit seinem Palast und seinem Amphitheater, mit seinen

großartigen Thermen und seinem ragenden Thore!

In Trier fühlte sich

der Römer heimisch, die weiche und nur selten stürmisch erregte Luft des milden Thalkessels erinnerte an italisches Klima, wohin man von Trier

aus zog, war der Boden mit römischer Kultur gesättigt, und in der Stadt selbst winkten alle Genüsse der Kaiserzeit.

Köln dagegen lag an der

Milttärgrenze, der Aufenthalt am Rhein wird als halbes Exil gegolten

haben.

Darum war die Kultur der Römerzeit am Rhein eine wesentlich

militärische: hier bergen alle Bauten Legionenziegel, Trier nur wenige gefunden sind.

während deren in

Und diese militärische Kultur war doch

sehr einseitig und bei den mannigfach durcheinandergewürfelten Bestand­ theilen deö Heeres wenig abgeklärt und gleichartig;

nur die Offiziere

werden die Vertreter einer wahrhaft römischen Civilisation am Rheine

gewesen sein, wie das mannigfache Funde beweisen. Bunt, wie die Kultur, Römerzeit.

Bevölkerung

war auch die Bevölkerung Kölns in der

Im Lager am Rheine standen zwei Legionen, eine passagere

mit einem

Troß von

Frauenzimmern

und Kindern und

Marketendern, in der Stadt dagegen saßen die germanischen Ubier, das einheimische Handelsvolk der Rheinstraße.

Dazu kamen seit Mitte des

ersten Jahrhunderts nach Christus mit der Erhebung des oppidum Ubiorum zur Colonia Agrippinensis römische Veteranen, mit ihnen zog das ins

Italicum als maßgebend für die Municipalverfassung ein.

Durch dieses

Recht wurde der Stadt ein großer in der Provinz Germania inferior einzig dastehender Vorzug zu Theil:

ihre Einwohner waren frei von

Kopf- und Grundsteuer, sie hatten Anrecht auf römische Aemter, sie ge­ nossen die volle Autonomie städtischer Verwaltung.

So wird sich

ein

städtisches Patriciat ausgebildet haben, aus welchem die Municipalobrigkeit recrutirte, und mit dieser Verfassung wird die Stadt die ganze Misere

der römischen Städtegeschichte in der Kaiserzeit durchgemacht haben.

Da

wurde das Patriciat, die Decurionen, gegenüber dem Staate für die richtige Einlieferung der städtischen Steuerquote haftbar gemacht und zur Durch­ führung dieser Haftpflicht kastenartig geschlossen; ein ähnlicher kastenartiger

Abschluß wurde den Handwerkercorporationen auferlegt.

Maßregeln war die Zertrümmerung

4. Jahrhundert;

als

die Deutschen

alles

Die Folge dieser

städtischen Lebens

frohlockend

über

seit dem

die Grenzen des

Römerreiches am Rheine einbrachen, war das Stadtleben innerhalb des Imperiums schon längst verdorrt und erstorben.

Zu dem inneren Ruin fügten die Germanen jetzt den äußeren.

Wie

die meisten Städte der Provinzen Germania I und II wurde auch Köln

mehrmals eingenommen, geplündert und zerstört.

Vielfache Fundanzeichen

lassen darüber keinen Zweifel, daß die Franken sich nicht mit bloßem

Plündern begnügten, eS ergiebt sich oft auf'S Unwiderleglichste, daß sie

vielmehr in roher und blinder Zerstörungswuth

gegen

alles Römische

rasten und namentlich in den Städten, soviel an ihnen lag, keinen Stein

Köln im Mittelalter.

498 auf dem anderen ließen.

Es bleibt wahrscheinlich, daß dieses Borgehen

mit dem Widerwillen der deutschen Urzeit gegen jedes Städteleben zu­ sammenhängt.

Der Deutsche des 3. und 4. Jahrhunderts war und blieb

noch lange vornehmlich Jäger und Hirt und wurde nur nebenher Land­ wirth, die höhere Ausbildung der römischen Volkswirthschaft, wie sie be­

sonders in den Städten zum Ausdruck kam, erschien ihm unverständlich.

Ja noch mehr, er mußte sie hassen.

Jede ausgebildete nationale Wirth­

schaftsform kennt eine Reihe von nothwendigen Aufwendungen für gemein­

same Zwecke und demgemäß ein Zwangsrecht Aller gegenüber dem Ein­

zelnen zur Aufbringung dieser Aufwendungen.

Der Germane aber sah

in diesem Verhältniß nur die Gebimdenheit des Individuums, nicht die Wohlthat der gemeinsamen Einrichtung; der Einzelne mußte ihm unfrei

erscheinen und die städtische Entwicklung als der Grund dieser Unfreiheit gelten.

Darum haßte er die Städter und verabscheute in der Stadt das

Grab seines höchsten Gutes, der gemeinen Freiheit.

Ueberdies war in der Verfassung der germanischen Urzeit und in

ihrer weiteren Ausbildung im Sinne des fränkischen Rechts kein Raum für die städtische Entwicklung und für eine besondere politische Stellung

der Stadtgemeinde gegenüber der Landgemeinde.

Der germanische Staat

beruhte auf der gleichen politischen und wirthschaftlichen Ez'istenzberechti-

gung aller Volksgenossen, wie diese durch immer wiederholte Landlhei­

lungen aufrecht erhalten wurde; er hatte eine noch in den Kinderschuhen befindliche Naturalwirthschaft zur Voraussetzung.

Der Staat kannte im

Allgemeinen nur die Urproductionen als Bereich des nationalen Erwerbs und er ließ diesen Erwerbsbereich allen gleichmäßig zukommen:

gleiches

Recht und gleiche Existenz im Rahmen der Naturalwirthschaft waren die Vorbedingungen seiner Eigenart.

Es liegt auf der Hand, daß in diesem politisch-ökonomischen System weder Stadtverfassung noch Stadtwirthschaft einen Platz haben, mit dem

Einrücken der Deutschen mußte beides verschwinden.

Auch für Köln galt

dieses Gesetz; nur wenige Spuren der früheren Industrie und des ubischen

Handels mögen sich gefristet haben; endgültig und voll zu Grunde.

die römische Stadtverfassung ging

Wie jedes Dorf, so wurde auch die stolze

Römerstadt, die jetzt freilich wohl zum größten Theil in Trümmern lag, der Gauverfassung des Frankenreiches eingeordnet; sie gehörte zum Köln­

gau, dessen Grafen sich bis üsis 9. Jahrhundert verfolgen lassen, und es scheint sogar zweifelhaft, ob die Grafen in Köln selbst ihren Sitz ge­

habt haben. Aber während so die starre Folgerichtigkeit des germanischen Ver­ fassungsbaues jede Einfügung der Städte als besonderer politischer Be-

zirke in die Territorialeintheilung des Reiches verbot, war schon in den letzten Zeiten des Imperiums eine Entwicklung eingetreten, welche jetzt gerade in den Städten zur treuen Bewahreriu der römischen Ueber­ lieferung wurde. Schon früh wurde das Christenthum durch römische Soldaten und Händler in alle Theile des weiten Reiches verschleppt, an den Rhein ist eS noch in der schönen Kaiserzeit gekommen. Ueberall in den Städten wurde es seßhaft, organisirte sich und ent­ wickelte die Episcopalverfassung. Auch in Köln geschah das. In den Jahren 313 und 314 vertritt Maternus als erster sicher beglaubigter Bischof die Diöeese Köln auf den Synoden zu Rom und Arles. Seitdem scheint der Bischofsstuhl von Köln regelmäßig besetzt gewesen zu sein, wenngleich nur ab und zu gefeierte Namen in der beglaubigten Ueber­ lieferung auftreten, so der heilige Severin um 400. Aber noch lange hielt sich trotz der Bischöfe das germanische Heidenthum trotzig in unge­ schwächter Kraft, noch im Beginn des 6. Jahrhunderts mußte ein heidni­ scher Tempel bei Köln zerstörl werden. Diese Hartnäckigkeit der deutschen Anschauungsweise mußte die Bischöfe doppelt auf eine treue Pflege der römisch-classischen Traditionen anweisen. Und weiter mußte sie die kirchliche Verfassung der neuen Religion, wie ihre Herkunft aus und ihr Entstehen in dem römischen Universalreich auf denselben Weg führen. Römisch war das Recht der Kirche, römisch ihre Sprache, römisch der Aufbau ihrer Institutionen, Romanen endlich waren die ältesten Bischöfe selbst: da war es kein Zweifel, daß die Bischöfe Hüter und eifrige Verbreiter der römischen Kultur sein mußten. Diese Thatsache kam den Städten besonders zu Gute, waren doch alle größeren Städte eben auch Diözesansitze und standen damit unter dem persönlichen Einfluß ihres Bischofs. Was man daher von geistigem Schaffen wie materieller Fürsorge für die Städte im Frankenreich anzu­ führen vermag, das ist fast allein den Bischöfen zu verdanken; sicher ist das bei Köln der Fall. Hier schildert uns schon Fortunatus, wie der Bischof Charentinus am Ende des 6. Jahrhunderts den verfallenen Ro­ tundenbau von S. Geroen wiederherstellt und verschönert: Siehe, du stützst und erneust Prachtvoll die goldene Kirche: Glanzreich bist du, drum erstrahlt herrlich der Tempel des Herrn;

Daß das weite Gebän noch größere Volkszahl umfasse, Baust auf der Höhe des Ruuds schwebende Säulen du auf.

Wie die Kirchen, so mag in der Frankenzeit auch die Römermauer wiederaufgebaut worden fein; wiederholt dient sie der Stadt und den fliehenden Großen, ja Frankenkönigen zum Schutze. Und später tritt zu der materiellen Fürsorge der Bischöfe für die Stadt auch die Pflege

Köln im Mittelalter.

500

der geistigen Interessen.

Bezeichnender Weise ist es die Karolingerzeit,

wo diese Richtung besonders betont wird;

unter Hildebold,

dem ersten

Kölner Erzbischof, wird eine Schule am Dom gegründet mit einer ver^ hältnißmäßig reichen Handschriftensammlung, von welcher noch jetzt Reste

in der Kölner Dombibliothek bewahrt werden. Indem aber die Bischöfe überall als Träger classischer Traditionen

auftreten, indem sie zugleich die Stadt gegenüber dem Land durch die erste Mauer, ein für friedlose Zeiten äußerst bedeutsames Bollwerk, ab­

schließen, verzichten sie doch keineswegs auf jene Mittel zur Erringung politischen Einflusses,

welche sich mittlerweile aus der Entwicklung des

deutschen Verfassungslebens ergeben hatten.

Die ursprüngliche Gleichheit

des Grundbesitzes, wie ihn die deutsche Urzeit kannte, hatte sich nach der endgültigen Seßhaftmachung der Franken nicht festhalten lassen; die perio­

dischen Landvertheilungen hatten theilweise aufgehört, und die Begriffe

des Eigenthums, des Veräußerungsrcchtes, der 'Theilbarkeit an Grund und Boden begannen sich zu bilden.

Die Folge war eine starke Diffe­

renzierung der Höhe des Grundbesitzes bei den einzelnen Freien und na­

mentlich eine Anhäufung desselben bei der kirchlichen und weltlichen Aristo­ kratie.

Außerdem gab es noch eine große Reihe von anderen und theil­

weise wichtigen Anlässen, um der Aristokratie zum Großgrundbesitz zu

verhelfen: Schenkungen der Könige, bei den kirchlichen Gewalten auch aller

anderen Freien, Occupation bisher herrenloser Waldsirecken, Ankauf und Tausch von Kulturland.

So bildete sich ein weithin zerstreuter Groß­

grundbesitz des Adels wie der kirchlichen Institute aus, dessen Organisation um so nöthiger erschien, als die Erträgnisse der Urproductionen noch das

einzige wirthschaftliche Machtmittel der Zeit waren.

Es ist begreiflich,

daß die Frage nach dieser Organisation des Großgrundbesitzes gerade da am brennendsten schien, wo die größte Ausdehnung desselben und deshalb die geringste Uebersichtlichkeit erreicht war.

Das war bei den königlichen

Domänen der Fall, hier setzte der umfassende organisatorische Scharfblick

Karls des Großen zuerst eine vollendete Verwaltungseinheit durch: ein

Beispiel, dem bald alle anderen Großgrundherren, geistliche wie weltliche

folgten, so daß es noch im 9. Jahrhundert zu einer vollen Wirthschafts­ verfassung deS Großgrundbesitzes in ganz Deutschland kam. Wir wissen nicht, wann der Kölner Erzbischof die Güter des Erz­

stiftes der karolingischen Organisation unterworfen hat, soll man aus den benachbarten Beispielen der Abteien Essen, Werden, Prüm schließen, so

wird es im 8. bis spätestens 10. Jahrhundert geschehen sein.

Da fragt

es sich nun, welche Stellung denn der bedeutende Grundbesitz des ErzstifteS innerhalb der Stadt Köln in dieser Organisation einnahm, und

ob nicht noch andere Großgrundherrschaften mit ihrem Grund und Boden bestimmend in die Kölner Verhältnisse htneinreichten.

Römermauern

der damaligen Stadt

S. Cunibert, S. Ursula,

lagen die

Rings um die

vier ältesten

S. Gereon und S. Severin;

Stifter,

in der Lücke

zwischen S. Severin und S. Gereon bauten sich bald das Stift S. Apo­

steln und das Kloster S. Pantaleon ein.

ES war eine Umgebung groß­

grundherrlicher Institute, wie sie kaum anderswo gleich bedeutend und

gleich zahlreich sich nachweisen läßt, dazu kamen noch zwei mächtige Groß­ grundherrschaften in der Stadt, S. Maria in altis, das spätere Capitol-

stift, und S. Cäcilien, ganz abgesehen vom Diözesanbesitz deS Erzbischofs

und deS DomstifteS.

Gegenüber diesen geradezn erdrückenden grundherr­

lichen Instituten läßt sich nun aus der späteren Entwickelung der Stadt die überraschende Thatsache nachweisen, daß eine Einwirkung der grund­

herrlichen Hofesverfassung, wie sie zur Hörigkeit der Domanialleute führte,

sich nur in äußerst geringen Spuren geltend gemacht hat.

Die Ursachen

dieses Mißerfolges der kirchlichen Aristokratie gegenüber den Stadteinge­ sessenen sind nur zu vermuthen.

Wie in den niederländischen Städten,

namentlich denen Flanderns, und wie in Paris mag sich ein mächtiger Stamm allfreier und verwandtschaftlich unter einander verbundener Ge­ schlechter jedem Ansinnen zur Einbeziehung in die Hofesverfassung mit

Kraft widersetzt haben; ein schon sehr früh blühender Handel bewahrte

wohl dem Bürger eine ungewöhnliche Thatkraft und Freiheit deS. BlickeS; schließlich mußten gerade die vielen Großgrundherren in dem Bestreben,

die Verfassung ihrer Villen auf die Stadt auszudehnen, sich gegenseitig

hindern.

Sicher ist jedenfalls, daß sogar der Erzbischof, dessen wirthschaft-

ltche Kräfte innerhalb Kölns freilich im 9. und 10. Jahrhundert die eines

der umliegenden Stifter und Klöster schwerlich überschritten haben mögen, eS nur in der Nähe deS Domes zu einer abgeschlossenen Organisation

seines Grundbesitzes nach Hofesrecht brachte; für das übrige ihm inmitten

der Stadt gehörige Areal mußte er sich, wie die kirchlichen Institute, mit der wirthschaftlichen Nutzung begnügen, obwohl sein Grundbesitz hier ein bedeutender war.

Und zugleich war eS sicher gewinnbringender, dieses

städtische Areal zu Bauplätzen an einzelne Freie auszugeben, statt eS der Hofesverfassung unterzuordnen und an Hörige für geringen Ertrag auSzuthun.

Aus allen diesen Gründen entwickelt sich das Institut der Erb­

leihe, die einzelnen Bauplätze wurden vom Erzbischof wie den kirchlichen

Instituten als Hofstätten, als zu bebauendes Areal, erblich vergeben gegen einen nur sehr geringen Hofeszins von meist 2 — 4 Denaren. standen Häuser auf den bisher wüsten Hofstätten:

So ent­

bald große Patricier­

höfe mit weiten Gebäulichkeiten, bald kleine Bürgerhäuschen, Gademe oder Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 5.

34

Köln im Mittelalter.

502

Nicht selten kam eS auch vor, daß die schon bebaute Hofstätte

cubieula.

erblich verliehen wurde, dann trat zu dem HofeSzinS für das Haus ein Erb- oder MiethzinS. Es liegt auf der Hand, daß diese Erbleihe dem Großgrundherrn auf die Dauer um so ungünstiger sein mußte, je früher sie eingeführt war. Im 9. Jahrhundert war Köln von den Normannen vielfach bedrängt und

zerstört worden; es bezeichnet die ganze Erbärmlichkeit der städtischen Ver­ hältnisse, daß Köln trotz der geringen Mittel der Zeit nach der Zerstörung deS Jahres 881 in nicht 3 Jahren wieder aufgebaut werden konnte; in

der Zett von 870 bis 923 endlich wechselt die Stadt fünfmal die politische

Herrschaft.

Aber mit dem Erstehen des neuen Reiches, mit dem kraft­

vollen Vordringen des sächsischen Herrscherhauses an den Rhein kamen

Ruhe und Ordnung: goldene Zeiten, in welchen der Wohlstand der Stadt

wieder die Höhe der Karolingerperiode erreicht haben wird. nun ab

erfolgte

Und von

ein wenig gestörter Aufschwung bis zum Schluß der

deutschen Kaiserzeit

im

13. Jahrhundert.

Dieses neue Emporblühen

mußte sich namentlich im raschen Steigen der Bodenrente aussprechen.

Aber die Großgrundherren der Stadt, vor allem der Erzbischof, nahmen an den wachsenden Erträgen des Grund und Bodens nicht mehr Theil;

sie hatten ja ihren Nutzen vom Boden rechtlich und erblich fixirt, das

schwerfällige Institut der Erbleihe vermochte dem schnellen Steigen der Bodenrente nicht zu folgen; nur die viel mobilere aber bei der Hofes­

verfassung rechtlich noch ausgeschlossene Zcitpacht hätte helfen können.

So

kam es, daß der Hofzins, ursprünglich ein Aequivalent für die Boden­

nutzung der Hofstätte, zum bloßen Anerkennungszins des früher vorhan­ denen grundherrlichen Eigenthums herabsank.

Aber während so die Stifter

und Klöster jenen Einfluß, welchen ihnen ein ausgedehntes Grundeigen­

thum in der Stadt gewährt hatte, zum guten Theil für immer schwinden sahen, wurde dem Erzbischof der drohende Verlust wirthschaftlicher Ueberlegenheit schon früh durch Vergrößerung der politischen Macht ersetzt; er

stieg bald weit über die Bedeutung

aller anderen großgrundherrlichen

Institute, er wurde auf drei Jahrhunderte zum anerkannten Herrn der

Stadt. — Im Jahre 979 werden von Kaiser Otto II. dem Wormser Bischof

dieselben Rechte in der Stadt Worms verliehen, wie sie die Erzbischöfe von Köln und Mainz laut Urkunde in ihren Residenzen schon besaßen, nämlich der Zoll, die Rechtsprechung sowie die gerichtliche Execution inner­ halb der Stadt und des städtischen Gebietes.

Es sind die bedeutendsten

Hoheitsrechte des deutschen StaateS, welche hier dem Bischöfe übergeben werden, das Recht der Jurisdiction und der Finanzen: ihre Verwaltung

bildete bisher die Hauptaufgabe des wichtigsten Reichsbeamten, des Grafen. Darum ist es kein Zweifel:

es wurde im Jahre 979 dem Wormser

Bischof die Ausübung der wesentlichsten Grafschaftsrechte in der Stadt

überlassen, die königliche Gewalt zog sich aus seiner Residenz zurück, der Bischof wurde politischer Herr der Stadt.

Und alle diese Vorgänge haben

nach dem Wormser Privileg schon früher in Mainz und Köln stattge­

funden.

Für Köln ist das entsprechende Privilegium nicht erhalten; indeß

ist nicht daran zu zweifeln, daß es während der Verwaltung des großen Erzbischofs Brun 953—965 erftoffen ist.

Brun war ein jüngerer Bruder

Ottos des Großen, in seiner Hand ruhte gleichzeitig die Gewalt des

lothringischen Herzogs und die geistliche Verwaltung des Kölner ErzbiSthums; eine einzig dastehende Verbindung von weltlicher und geistlicher

Macht, welche sich durch die Nothwendigkeit einer straffen Vereinigung aller politischen Kräfte nach Westen zu für das 10. Jahrhundert erklärt, außerdem aber für die Reichspolitik der Ottonen im höchsten Grade be­

zeichnend ist.

Noch war der principielle Gegensatz zwischen geistlichen

und welt­

lichen Gewalten nicht hervorgebrochen, wie ihn das 11. Jahrhundert schuf; die kirchliche Organisation wie die Reichsregierung fühlten sich einig in

ihren Zielen für die Hebung der Volkswohlfahrt, für die Begründung

von Ruhe und Ordnung.

Darum schien es unpractisch, von dem Jnein-

andergreifen beider Gewalten abzusehen; das Reich half den Bischöfen

auf geistlichem

Gebiete, und

die Bischöfe wurden zu Reichsbeamten.

Nichts kann diese politische Auffassungsweise der ottonischen Zeit mehr erhärten, als die Uebergabe der bedeutendsten weltlichen Rechte des Reiches, der GrafschaftSrechte, an die Bischöfe; und es entspricht der Bedeutung

der Stadt wie des damaligen Erzbischofes, wenn dieser Schritt wahr­ scheinlich zuerst in Köln gethan wurde.

Die Stadt trat damit aus dem Grafschaftsverbande des Kölngaus aus, und es mußte nun für den Erzbischof darauf ankommen, die über­

kommenen Gewalten zu regeln und einer städtischen Spezialverwaltung

zuzuweisen.

Es war natürlich, daß er hierin nach der Analogie seiner

sonstigen Spezialverwaltungen verfuhr.

Die schon bestehenden Einrich­

tungen dieser Art waren als Hofämter gedacht, so stand zum Beispiel an

der Spitze der Gestüte und des Marstalls der Marschall, dem Kämmerer fiel die Verwaltung des Hofhalts, wahrscheinlich auch die Intendanz der erzbischöflichen Domänen zu.

Alle diese Hofämter hießen Ministerien,

ihre in Köln periodisch wechselnden Vorsteher Ministerialen.

So gab es

denn am Hofe einen Stand schon damals einflußreicher Ministerialen, welche bald den früheren Gemeinfreien, bald den Hörigen des HofhaltS

34*

entstammten und an die Person deS Erzbischofs durch das gemeinsame Band der Treue und deS beneficiartschen Besitzes geknüpft waren.

Sie

bildeten daS in sich wohl schon sozial abgeschlossene weltliche Beamten­

thum der Diözese. Da lag eS nun nahe genug, die finanzielle und jurisdictionelle Seite

der Grafschaftsrechte in der Stadt Köln auseinanderzuhalten und für jede ein neues Hofamt zu schaffen: eS geschah, und auf diese Weise entstanden

die Stadtvogtei und daS Zollamt.

Von ihnen tritt das Zollamt begreif­

licher Weise nicht so in den Vordergrund, als die Bogtei, in welcher sich als Anhang

zur Rechtspflege auch

finanzieller Befugnisse trafen.

eine ganze Reihe polizeilicher und

Allein indem man alle jurisdictionellen

Rechte in der Stadt einem Hofbeamten, der nicht als vollfrei angesehen werden konnte und außerdem periodisch wechselte,

doch Schwierigkeiten ein:

übertrug,

sollte ihm die Gerichtsleitung

Grafengericht der Freien überlassen werden können?

stellten sich

in dem alten

Und weiter: konnte

denn überhaupt der Erzbischof die volle Rechtspflege des Grafen über­ nehmen, zu welcher auch der dem Clerus kanonisch verbotene Blutbann

gehörte?

Wahrscheinlich

sind

eS diese allgemeinen Bedenken,

daneben

vielleicht uns nicht bekannte Gründe zufälliger Art gewesen, welche dazu führten, daß dem Erzbischof nicht die Vollgewalt der Rechtsprechung über­ tragen ward.

Vielmehr wurde eine Reihe von Einzelbefugnissen ausge­

sondert, und für sie ein neues Amt, das Burggrafenamt geschaffen. Der Burggraf sollte kein ständiges Gegenwicht oppositioneller Art gegen den Erzbischof bilden, er wurde sogar den großen Vasallen des

ErzbisthumS zugerechnet, welche mit hervorragenden Männern anderer

sozialen Schichten zusammen eine Art ständischer Vertretung im Erzstift bildeten.

Das Amt war in der Familie der Herren von Arberg erblich,

in Köln gehörte das alte Burgthor der Römerstadt gegenüber S. Apern zu ihm als Erblehen.

Die Befugnisse des Burggrafen, wie wir sie aus

dem 12. und 13. Jahrhundert kennen, sind sehr bunten Charakters; er hat daö Judengeleit und die Wegpoltzet, er genießt den Schlagschatz von

der Kölner Münze,

vor allem aber hat er daS Prüfungsrecht für die

Schöffenwahlen zum echten Ding der freien Bürger und leitet diese echten

Dinge dreimal im Jahre; den Gerichtsbann hierzu trägt er vom Reich, nicht vom Bisthum zum Lehen.

Alle Gerichtsbefugnisse, welche der Burggraf nicht in Händen hielt,

gehörten zur Competenz deS StadtvogtS; es sind daS im Wesentlichen die AmtSrechte des Schultheißen oder CentenarS in der fränkischen Ver­ fassung.

vogtei.

Allein bald änderte sich die Sache sehr zu Gunsten der Stadt­ Die schwache Seite deö Burggrafenamtes war, daß sein Ver-

waltungSbereich kein recht einheitlicher war; es umfaßte eine Reihe ver­ schiedener Rechte, wie man sie auS den Grafschaftsrechten auszusondern

grade für gut oder nöthig befunden hatte.

Zudem war es erblich; eS

lag sehr nahe, daß die Herren von Arberg in Geldnöthen bald das eine

bald das andere dieser Befugnisse veräußerten: schon im Jahre 1200 ver­

pfändet Burggraf Heinrich das wichtigste aller Rechte, die Jurisdiction, an den Bürger Simon und seine Erben.

Eine solche Verpfändung an

Bürger mußte die Erzbischöfe lüstern und zugleich bedenklich machen; sie mußten nach der Erwerbung des Burggrafenamtes um so mehr streben,

je mächtiger und kaufkräftiger der Bürgerstand wurde.

Darum war eS

die höchste Zeit, als Erzbischof Siegfried im Jahre 1279 das Amt für sich und seine Nachfolger um 1000 Mark Silber erwarb. So waren in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts alle Graf­

schaftsbefugnisse in den Händen des Erzbischofs vereint; hatte er Recht, sich als Stadtherrn zu fühlen.

mehr wie je

Allein zur selben Zeit,

wo die bischöfliche Stadtherrschaft Rechtens erst voll begründet ward, war

sie in Wirklichkeit

an den Rand des Abgrundes gerathen.

Von der

Mitte des 10. Jahrhunderts bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts hatte sich eine Entwicklung der wirthschaftlichen und der politischen Kräfte der

Stadt vollzogen, welche zu den denkwürdigsten Entfaltungen des Bürger­

thums überhaupt gehört; und die erzbischöfliche Stadtherrschaft hatte diese

Entwicklung in ihren ersten Stadien selbst begünstigt ja ermöglicht, bis der Schüler größer wurde als der Meister. Die Wurzeln dieses Erblühens liegen tief in der wirthschaftlichen

wie sozialen Geschichte der Stadt begründet und sind nicht leicht zu er­ kennen, so daß sie immer wieder die wissenschaftliche DiScussion herauS-

gefordert haben; man nähert sich ihrem Verständniß am besten durch eine Betrachtung des äußern Aufschwungs der Stadt innerhalb der Landes­

und Reichspolitik.

Da unterliegt eS zunächst keinem Zweifel, daß die Einbeziehung der

Stadt in die erzstifttschen Interessen seit Brun ihrer Entwicklung außer­

ordentlich günstig gewesen ist.

Die Stadt wurde mit dem Uebergang in

die Herrschaft des Bischofs wieder zu einem eigenen Verwaltungsbezirk:

eine Wohlthat, deren sie seit den Tagen der Römerherrschaft hatte ent­ behren müssen.

Innerhalb dieses Bezirks mit einheitlichem Charakter ent­

faltete sich nun zum ersten Male ein städtisches Leben unbehindert von ländlichen Interessen.

Und zur selbständigen Bewegung der

Bürger

kamen die Anregungen des bischöflichen Hofhaltes, in dessen Luxus und weite Ausdehnung das Testament BrunS einen merkwürdigen Blick er­

öffnet, kam ein geistiges

Element durch die stiftische

Schule,

welche

unter dem

Einfluß

der

lothringischen Klosterreform zu hoher

Blüthe

gedieh.

Und noch mehr:

Die Stadt wuchs in die Lebensformen einer großen

Verwaltung hinein, welche fortgeschrittener als die anderer deutscher Bisthümer gewesen zu sein scheint.

Das Kölnische Erzstift besaß schon früh

eine ausgedehnte Organisation, die hervorragendsten Geistlichen der Diözese bildeten mit dem vornehmen Grundadel eine Art ständischer Vertretung,

welcher ein bedeutender Einfluß bei der Führung der Geschäfte, wie bei der Wahl des geistlichen Oberhauptes zufiel.

Und wie die Verwaltung, so

trugen auch die äußeren Beziehungen deö Erzstiftes schon früh ein eigen­ artiges Gepräge.

Die heiligen Ewalde, deren Andenken in der S. Cuni-

bertskirche in Köln gefeiert wird, waren nach der frommen Legende aus England; Bonifaz, der Angelsachse, hatte sich Köln als Bischofssitz ge­ wünscht;

als dann am Schluß des 8. Jahrhunderts das Erzstift abge­

gränzt wurde, erhielt es als Suffragansitze Lüttich und Utrecht, dazu die

Missionsbisthümer Münster, Osnabrück und Minden: d. h. außer dem

Sachsenlande ein Territorium, welches den gesammten Niederrhein um­ faßte und mit seinem Abschluß, dem Rheindelta, energisch nach England hinüberwieS.

Diese Gegend muß also gemeinsame Interessen aufgewiesen

haben; es hält schwer, sie auf einem anderen Gebiete, als dem eines aus­ gedehnten Handels nach England zu finden.

Wenn die Kölner Geschlechter

deS 13. Jahrhunderts sich für ihr Stapelrecht auf die seit Karls des Gr.

Tagen her geheiligte Ueberlieferung berufen, so wird das kaum wörtlich

zu nehmen sein, wohl aber als dunkle Erinnerung an sehr frühe Handels­ verbindungen nach dem Niederrhein und England gelten dürfen.

In der That wies damals die einzige internationale Handelsverbin­ dung Deutschlands nach dieser Richtung.

Im Donaugebiet, in der ober­

rheinischen Ebene, endlich im thüringischen Mitteldeutschland blühte seit

den Kärolingerzeiten ein wichtiger Localhandel auf, aber er blieb ohne

internationale Verbindung; der Welthandel der frühen Kaiserzeit fand nur

vom Niederrhein aus in Deutschland Eingang.

ES hing das mit dem

eigenartigen Zuge des Mittelmeerhandels zusammen, welcher die Schätze Indiens und Arabiens, fast die einzigen starken internationalen Handels­

artikel des frühen Mittelalters zunächst

nach

Italien brachte.

Diese

Waaren nahmen von Italien vielfach nicht den kostspieligen und unsicheren Ueberlandweg nach Deutschland, sondern wurden zu Schiff durch die Säulen

des Herkules nach Frankreich und namentlich nach England gebracht. Hier endete dieser internationale HandelSzug und strahlte nun auf den Nieder­

rhein, auf Deutschland aus.

Die Waaren wurden auf Seeschiffen ver­

frachtet, welche den Rhein weit hinauf fuhren; erst in Köln gebot ihnen

das seichtere Flußbett Halt: Köln ward dadurch auf lange Zeit zum See­ hafen Deutschlands, das ist seine hervorragende Bedeutung im 10. bis

12. Jahrhundert.

Das Hinterland der Stadt, die gesammte Erzdiözese

mußte diesen Impulsen folgen, welche sich bald, seitdem eS unter den Staufern eine allseitige auswärtige Reichspolitik gab, zit starken englischen

Sympathien erweiterten und dadurch mit der antienglischen Richtung der staufischen Politik in Gegensatz traten.

Nichts ist für den Verlauf dieser Entwicklung bezeichnender, als die

Haltung der Kölnischen Erzbischöfe seit den Tagen Barbarossas.

Es sind

meist gewaltige Charaktere, welche auf ein Jahrhundert hin den Kölner Stuhl inne haben:

der geniale

Reichskanzler

Friedrichs L,

Reinald

von Dassel; der energische Philipp von Heinsberg; der stolze und pracht­

liebende Reichsverweser unter dem Scepter des fern in Italien weilenden

Friedrich II., Engelbert der Heilige; endlich Conrad von Hochstaden, einer der weitsichtigsten Politiker des

13. Jahrhunderts, von unübertroffenem

Verwaltungsgeschick und wunderbarer, oft freilich abstoßender Thatkraft.

Von ihnen war Reinald noch ganz der Diener seines kaiserlichen Herrn. Aber schon unter Philipp von Heinsberg ändert sich die Lage; Philipp

den Niedergang Heinrichs des Löwen und den Empfang

wurde durch Westfalens

in Folge dieses Sturzes zum

mächtigsten niederrheinischen

Territortalherrn; es wurde ihm fürder unmöglich, sich den englischen Sympathien seiner Länder, vor allem der Stadt Köln, zu entziehen. Noch Friedrich I. mußte das Unglaubliche erleben: derselbe Philipp von

Heinsberg, der eben noch die Stadt Köln in kaiserlichem Interesse be­ kämpft hatte, machte nach dem Sturze Heinrichs des Löwen mit der Stadt,

welche von jeher ihre englischen Handelsinteressen auch politisch vertreten hatte, gemeinschaftliche Sache; er stand mit ihr gegen Kaiser und Reich. Und zwei Decennien später, in der unglückseligen Zeit des staufischen und

welfischen Doppelkönigthums sind Stadt und Stift auf Seiten der eng­ lischen Welfen; grade Köln war der letzte bedeutende Hort Ottos von

Braunschweig. Mit diesen Ereignissen hatte die Jnteressenpolitik der englischen Be­ ziehungen am Niederrhein für viele Generationen gesiegt; selbst der ge­

waltige Reichsverweser Engelbert der Heilige vermochte ihr nicht zu wider­ stehen,

sondern fügte sie vielmehr in die Reichspolitik ein:

er führte

Friedrich II. im Jahre 1235 die englische Prinzessin Isabella als Braut zu.

Man begreift das Frohlocken der Kölner, als die Fürstin, begleitet

vom kaiserlichen Procurator Petrus de Vine'is, dem Herzog von Brabant und vielen englischen und lothringischen Großen ihren Einzug in die Stadt

hielt.

Massen von Bürgern in festlicher Kleidung zogen ihr entgegen, sie

Köln im Mittelalter.

508

trugen Blumen und sinnige Embleme; eine andere Schaar erschien auf

feurigen Rossen und beging Dann

die Ankunftsfeier

durch ein

Festturnier.

kamen der Kaiserbraut Schiffe entgegen — die Symbole inter­

nationaler Verbindung zwischen der Rheinstadt und dem Jnselreich.

Sie

waren kunstvoll gebaut und auf Räder gestellt, die Pferde, welche sie zogen, schritten unter kostbaren, wie Wogen wallenden seidenen Decken; vom Verdeck herab erklangen feierliches Orgelspiel und liebliche Begrü­ ßungshymnen des Clerus.

Und während die Prinzessin im erzbischöf­

lichen Palast auf dem Domhofe die erste Nacht zubrachte, erscholl vom Domhofe her vieltausendstimmiger Gesang der Kölner Mädchen und lieb­

liches Saitenspiel. Dieser frohe Einzug in Köln bezeichnet für die Stadt den Abschluß einer längeren Entwicklung.

Noch im 10. und 11. Jahrhundert war Köln

ohne eigenartige Bedeutung in der Reichspolitik.

Zwar fällt in die zweite

Hälfte des 11. Jahrhunderts jener urwüchsige Aufstand gegen die brutale Anwendung der Stadtherrschaft durch den Erzbischof Anno, den Königsräuber, wie ihn Lambert so packend geschildert hat, indes dieser Aufstand

war für die Stadt ohne große politische

Bedeutung

und

ohne weit­

greifende Folgen; sein Anlaß war mehr ein augenblicklicher Widerwille des gekräftigten Bürgerthums gegen den Erzbischof, als das Streben nach voller Emanicipatton gewesen.

Aber allmählich gewann die Stadt an

politischer Bedeutung, sie war die hervorragendste Vertreterin jener eng­ lischen Sympathien des Niederrheins, sie hatte den Muth, sich als solche

offen aufzuwerfen und eine selbständige Politik für sich trotz Kaiser und

Reich, trotz Erzbischof und Stadtherrfchaft anzustreben.

Um die Mitte

des 13. Jahrhunderts war dies Vorhaben erreicht, die Stadt war eine politische Macht geworden, welche mit Fürsten und Ländern auf gleichem Fuße verhandelte.

Aber der Aufschwung zu dieser äußeren Macht ist nur auf Grund einer tiefgehenden inneren Kräftigung denkbar; eS mußten die stärksten

und nachhaltigsten sozialen und wirthschaftltchen Entwicklungen dieser Ent­ faltung politischen Einflusses theils parallel, theils voran gegangen sein.

Und für die Zukunft war zu vermuthen, daß die gestählten Kräfte des BürgerthumS nicht bei den Erfolgen der äußeren Politik Halt machen würden, sie werden vielmehr in der Stadt selbst im Gegensatz zur bischöf­

lichen Stadtherrschaft nach Klärung und Organisation, nach Ausdruck und Einfluß ringen; sie werden in dieser Stadtherrschaft schließlich nichts mehr als ein anfangs günstiges, später hinderndes Durchgangsstadium erblicken können, um ihrerseits zu erstarken: und einmal erstarkt müssen sie in Gegensatz zum erzbischöflichen Regiment gerathen.

Bedenkt man nun, daß

unter der im Ganzen durchaus uneigennützigen und segensreichen Ver­

waltung

der Erzbischöfe

im

10. bis 12. Jahrhundert die

materiellen

Fortschritte der Stadt nach Allem, was wir wissen, höchst bedeutsame ge­

wesen sind, so wird man eS nur natürlich finden, daß die EmanctpationSzeit der Bürger von der geistlichen Stadtherrschaft sich stürmisch anließ. Allein mehr noch; sie ist dramatisch bewegt, auS ihr tönt uns Lieb und

Leid, Treue und Verrath, kühnes Wagen nnd schlaue Berechnung der Vorzeit fast poetisch entgegen.

Wie die Zeiten der Urproduetionen ihre

heroische Periode haben, so auch die der emporkommenden Capitalwirth­ schaft.

Aber wie verschieden ist ihr Charakter: dort hallt uns jene heroische

Zeit nur noch wieder im Hauch einer erlöschenden Ueberlieferung, im Epos und in der Sage; das sind die Tage der homerischen Helden, die

Zeiten deS reckenhaften Hagen und goldlockigen Siegfried; — hier dagegen

stehen wir schon in der Epoche schriftlicher Ueberlieferung; auch sie verklärt zwar meist die Poesie, so in Köln daS Gedicht Gottfried Hagens, aber eS

ist geschichtliche Poesie, welche individuell malt und schildert, es ist die Poesie der Reimchronik.

Zum ersten Male treten

uns in dieser Zeit

bürgerlche Charaetere deS deutschen Mittelalters voll entgegen, wir kennen ihr Lieben und Hassen, ihr Wollen und Wirken.

Und sie erscheinen unS

doppelt gewaltig, weil jeder Einzelne von ihnen so zu sagen die Epoche verkörpert.

DaS 1h. Jahrhundert kannte noch nicht den Rechtsstreit im

Sinne der Gegenwart, in welchem die schriftlichen Dokumente einer oft

langen Vergangenheit reden; eS gab kein Schreiberwesen, keine privatrechtliche und öffentlich rechtliche Tradition in unserem Sinne.

In münd­

licher Vererbung von den Ahnen her pflanzten sich Rechtsgewohnheit und

Rechtsansprüche fort: die jeweiligen Lebenden waren in ganz anderem Sinne als heute ihre Vertreter, ihre Verkörperung.

Dieser Umstand giebt jenen

Kämpfen und Leiden, wie sie Gottfried Hagen in seiner Reimchronik schil­

dert, ein besonderes Relief; eS sind Typen, bereit Bedeutung wir uns nur noch durch Vergegenwärtigung der Zustände, auf welchen sie fußten,

zu verdeutlichen im Stande sind.

Für diese Kölner Zustände, wie sie sich in der Bürgerschaft autonom

unter einem fast dreihundertjährigen geistlichen Stadtregiment entwickelten, ist als maßgebend festzuhalten, daß damals die meisten Bürger rechtlich

frei waren.

Es gab zwar minder freie Leute mit einem KopfzinS von

2 Pfennigen, mit einer Heiratsabgabe von 6 Pfennigen und dem soge­ nannten Recht deS Todfalls, aber sie waren bei Weitem in der Minder­

heit und kommen für die politische Entwicklung der Stadt nicht in Be­

tracht.

War nun so für die große Masse der Bürger der rechtliche Be­

griff der Freiheit allgemein maßgebend, so liegt eS in der Natur der

Köln im Mittelalter.

510

Dinge, daß grade auf diesem juristisch ebenen und gleichmäßigen Boden sich die sozialen Unterschiede mächtig entfaltet hatten.

Und nicht ohne ge­

schichtlichen Hintergrund. Von jeher hatte eS in Köln freie Altbürger gegeben mit dem eigen­ artigen politischen Leben der germanischen Urzeit, wie es sich noch in die fränkische Monarchie gerettet hatte.

Dieses Leben ging natürlich mit dem

Zuzug oder anderweiten Entstehen neuer freier Elemente im 10.—12. Jahr­ hundert nicht unter; es blieb bestehen, aber es wurde zur Bevorrechtung; der Unterschied von bessern und schlechtern Bürgern bildete sich.

Wie er

sich weiter entfaltete, ergiebt sich leicht aus der Vergegenwärtigung der wirthschaftlichen und politischen Stellung der Altfreien.

Die Altfreien

waren zunächst Grundbesitzer und Ackerbürger größern Stils gewesen, sie

besaßen einiges Areal in der alten Römerstadt und vieles, vielleicht weit über die Hälfte von der alten Kölner Feldmark vor den Römerthoren. Den übrig bleibenden Theil dieser Feldmark hatten die großen Stifter in

Besitz genommen; um sie herum wurden bald Häuser gebaut, entstanden

neue Stadtviertel innerhalb der eben in unsern Tagen fallenden Kölner Umwallung.

Damit stieg die Bodenrente dieser Terrains der Feldmark

bedeutend und zwar nicht auf dem Wege der Urproduktionen, sondern

vielmehr durch Verleihung des Bodens in der Form des jährlichen Zinses.

Die altfreien Bürger, die Besitzer dieser Terrains, entfremdeten sich damit der Landwirthschaft, ihr freigewordenes Capital wies sie jetzt auf den Handel,

den sie wahrscheinlich schon früher neben ihrer Landwirthschaft betrieben hatten.

Auf diese Weise wurden die Altfreien auf Grund früheren Acker­

baues und noch jetzt bestehenden Bodenbesitzes Kaufleute, Handelsherren.

Gerade diese Begründung des Handelsbetriebes auf die Einnahmen aus städtischem Grundbesitz machte aber den neuen Stand exclusiv, denn der

Grundbesitz war nur in beschränkter Menge vorhanden und

Händen.

in festen

Langsam entwickelte sich so aus der Grundaristokratie eine Han­

delsaristokratie der Altfreien, welche sich durch gegenseitige Verschwägerung zunächst befestigte.

Diese altfreie Bürgerschaft lieferte aber zugleich die Cadres für die Verwaltung der unteren städtischen Angelegenheiten, um welche sich der geistliche Stadtherr nicht kümmerte, da es ihm nur um sichere Einnahme

der ihm zufallenden Revenüen aus der höheren Verwaltung zu thun war. Die niedere Verwaltung

der Bürger war nun insofern eigenthümlich,

als sie keineswegs einheitlich für die ganze Stadt geordnet war, sondern

vielmehr, wie zum Beispiel auch in England, an die kirchliche Eintheilung

der Stadt anknüpfte.

Die Parochien sind die ältesten Kölnischen Verwal­

tungsbezirke; aus ihnen erwuchs die Autonomie der Gesammtverwaltung.

Die Alifreien jedes Kirchspiels bildeten eine Nachbarschaft „Geburschaft",

an der Spitze derselben standen Amtleute, officiales, welche sich aus den

Altfreien nach alter Gewohnheit durch Wahl ergänzten und unter ihrem

Borstand, den Amtleutemeistern, in den Kirchspielhäusern, den domus parochiales, tagten.

Ihre Thätigkeit war doppelter Natur, kirchlicher und

weltlicher; sie präsentirten zur Pfarrei, sie wählten den jährlich wechseln­

den Küster, sie verwalteten die Kirchenfabrik; sie führten weiterhin die Grundbuchacten des Kirchspiels und entschieden als richterliches Collegium, als sog. Burgericht Bagatellsachen bis zum Werthe von 5 Schillingen. Ueber diesen alten Geburschaften und ihrer Gerichtsbarkeit hatte in

frühester Zeit daS Grafengericht gestanden.

AlS aber die Stadt von der

Grafschaft ausgenommen und dem Erzbischof unterstellt ward, mußte als

Ersatz für das Gaugericht ein eigenes städtisches bestellt werden: es ge­

schah im 10. Jahrhundert, — die Stadt erhielt die erste für ihren Ge-

sammtbczirk geltende Behörde.

Die Altfreien wurden natürlich an diesem

Gerichte betheiligt; bisher hatten sie als Schöffen am Gaugerichi theil­

genommen, jetzt wurden sie Schöffen des besonderen Stadtgerichts, wie es unter dem Burggrafen und dem Vogt des Erzbischofs stand, — die Alt­

freien erschienen zum ersten Male als besonderes, einheitliches ErgänzungScadre für städtische Gerichtszwecke.

Zunächst für Gerichtszwecke: lag es da

nicht nahe, auch für städtische Verwaltungszwecke sich als Ergänzungscadre

zu fühlen?

Und gab es jetzt, als die altfreie Bevölkerung zur HandelS-

aristokratie zu werden begann, nicht eine Reihe von gemeinsamen Inter­

essen, welche nur eine gemeinsame Stadtbehörde zu lösen im Stande schien? So lange die altfreie Bürgerschaft vorwiegend Ackerbau trieb, hatten die Sonderverwaltungen in den Parochien genügt; die landwirthschaftliche Thä­ tigkeit ließ sich in dieser decentralisirten Verwaltung sehr wohl pflegen.

Aber der Handel centralisirte jetzt; er forderte gebieterisch eine Behörde

für Gesammtvertretung der städtischen Interessen.

Ursprünglich und auch

später noch benutzte man für diesen Zweck das Schöffencollegium des städ­

tischen Gerichtes, aber bald entstand neben ihm eine besondere Central­ behörde.

Natürlich war das ein erster Schritt gegen die erzbischöfliche

Stadtverwaltung, man faßte das auch sofort so auf; eine geistliche Quelle meldet höchst wahrscheinlich grade dies Ereigniß mit den Worten: coniu-

ratio facta est pro libertate.

Eine Schwurvereinigung zur freien Ver­

waltung bildete sich; es war im Jahre 1112, etwa anderthalb Jahrhun­

derte nach Errichtung der erzbischöflichen Stadtherrschaft.

Und diese Ver­

einigung war von sehr bezeichnender Art; sie war eine große Handels­

gilde der Altfreien, es ist das berühmte Institut der Richerzeche, der Ge­

nossenschaft der mächtigen Altbürger.

Handelsinteressen hatten sie erfor-

Köln im Mittelalter.

512 dert,

Verkehrsverwaltung

ist darum

ihre nächste Aufgabe gewesen: sie

bildete eine Marktpolizei auS, sie übernahm einen Theil der Straßen­

polizei, sie beaufsichtigte die Handwerke, sie konstituirte sich schließlich als Handelsgericht.

Ihre Verfassung erinnert einerseits an die Grundlagen

des deutschen Genossenschaftsrechtes, anderseits an die spezielle Ausbildung

der Kölner Geburschaftsverwaltung: ganz getreu dem doppelten Entstehungs­ grunde auS den Handelsinteressen der mächtigen Altfreien und dem Er­ forderniß einer städtischen Centralverwaltung.

Ihre Theilnehmer sind die

Altbürger, cives in prägnantem Sinne, das auS ihr gebildete Verwal­

tungscollegium sind die Amtleute, officiales, der Richerzechheit, die Vor­ steher dieser Amtleute heißen Meister der Bürger, magistri civium, und das Collegium tagt auf dem Haus der Bürger, der domus civium.

Diese ganze genossenschaftliche Centralverwaltung der Altbürger scheint von den Erzbischöfen, da sie in ihr, wenn auch ein Bedrohniß, so doch keinen directen Eingriff in ihre Rechte sehen konnten, bestätigt worden zu

sein; darauf deuten die Namen officiales, Amtleute, darauf der Besitz

eines eigenen Bürgerhauses. Allein mit dem Zuzug weiterer freier Bürger, mit dem Erwachen

des Handwerks neben dem althergebrachten Handel, mit der Vermehrung der Bevölkerung und dem Steigen der allgemeinen nationalen Cultur vermehrten sich die städtischen Gesammtbedürfnisse rasch und unaufhaltsam.

Im Beginn des 12. Jahrhunderts hatte man sie noch alle unter die Ka­

tegorie „Handelsbedürfnisse" zusammenfaffen zu können gemeint, zu ihrer

Wahrung war die Richerzeche entstanden.

Bald ging das nicht mehr an:

es mußte eine Behörde rein zur Wahrung aller städtischen Interessen ge­ schaffen werden.

Diese Behörde ist der Rath.

Wie und wann entstand dieser Rath? Zwei Fragen von nicht zu un­

terschätzender Bedeutung, in deren Lösung bisher fast die gesammte Er­ forschung deS deutschen StädteweseuS von rechtsgeschichtlicher Seite aus

ihren Höhepunkt gefunden hat.

Gleichwohl sind die Resultate über die

Entstehung des Institutes bisher keineswegs abgeklärt und einheitlich, fast

darf man sagen: so viel Forscher, so viel Ansichten.

Für Köln ist so

viel sicher, daß der Rath um 1200 vorhanden ist und daß er durchaus

als Vertreter der altbürgerlichen Interessen erscheint; und schon dies We­

nige genügt, um seine Stellung in der städtischen Entwicklung im Allge­ meinen zu kennzeichnen.

Es war die dritte Vertretung, welche die Alt­

bürger sich geschaffen hatten: erst daS Schöffencollegium des Stadtgerichts, dann die Richerzeche, endlich der Rath.

Und in diesen Collegien hatten

sie ihren städtischen GesammtverwaltungSberetch immer mehr ausgedehnt und zugleich mit ihren Sonderbestrebungen gleichgesetzt.

Das Schöffen-

colleg hatte nur nebenher administrativ gewirkt, die Richerzeche hatte schon alle HandelSinteressen in die Hand genommen:

jetzt endlich griff der

Rath unter dem Fortbestehen der Thätigkeit von Schöffencolleg und Ri­ cherzeche nach der vollen Verwaltung der Stadt.

Das hieß: für den

Bischof die Oberherrlichkett, für die Handelsaristokratie die thatsächliche Herrschaft.

Eine neue Stadtherrlichkeit patricischer Natur schien im An­

zuge, die unteren demokratischen Elemente, wie der Erzbischof mußten

gegen sie Front machen. Und die geringeren freien Bürger waren jetzt nicht mehr verächtlich, wie noch int 11. Jahrhundert; groß war ihre Zahl und kräftig ihr Arm,

stolz ihr Bewußtsein einer eben erst errungenen Freiheit und radikal ihr

politisches Denken, wie das jedes emporkommenden Standes.

Sie waren

meist Handwerker, aber sie führten die Waffen, zwar nur zu Fuß, aber

doch schon jetzt jenen Reiterschaaren deö AltbürgerthumS gefährlich, welche unter dem allgemeinen Erschlaffen des Schildesamtes im Beginn des 13. Jahrhunderts litten.

Und wie natürlich war diese militärische Organi­

sation der Handwerker!

Die Bürger gleichen Gewerks wohnten in derselbeit

Gasse, rasch rotteten sie sich in der Stunde der Gefahr zusammen; die Wehr gegen Verletzung ihres Eigenthums war local fixirt und allen gemeinsam.

Und doch war diese militärische Cameradschaft nur ein verschwindendes Moment jener Lebensgemeinschaften, in welchen sich die Handwerker zu­

sammengefunden hatten, der Zünfte oder Bruderschaften (fraternitates).

In germanischer Urzeit hatten die freien Volksgenossen zusammen gelebt und zusammen erworben; gemeinsam war ihnen Wald und Weide gewesen wie Luft und Licht, und gleich vertheilt war das Maß ihrer Aecker. Diese Zustände eines goldenen Zeitalters schienen sich im 11. Jahrhun­

dert für die erwachende Industrie zu erneuen; daö altgermanische Princip von der Identität politischer und wirthschaftlicher einmal zum

Freiheit wurde noch

treibenden Grundsatz einer neuen WirthschaftSform.

Die

Männer gleichen Handwerks finden sich in Bruderschaften zusammen, welche

allen Genossen dieselben Bedingungen eines sittlichen, religiösen, recht­ lichen und wirthschaftlichen Daseins vermitteln sollten.

Gemeinsam wie

der Gottesdienst und daS Recht sollte auch die Arbeitsart und der Ar­ beitsertrag für alle Zunftbrüder sein; mit vollstem Recht hießen diese Ge­

nossenschaften Fraternitäten.

AuS

winzigen

Anfängen scheinen sie sich

entfaltet zu haben; die Richerzeche fand sie anfangs jedenfalls nicht ge­ fährlich uud bestätigte ihren Verband als die zuständige verkehrspolizeiliche

Kontroltnstanz.

Darum hießen die Fraternitäten auch officia: sie waren

anerkannte Genossenschaften, Aemter, welchen man bald polizeiliche Funktionen überließ.

auch gewerbe­

Aber die Macht der Bruderschaften wuchs rasch, ihre Zahl und die Masse der Theilnehmer in ihnen stieg und damit die Summe brutaler kriegerischer Kraft, über die sie verfügten; ihre Verbindung wurde durch

die heiligen Kräfte des Herkommens gestärkt und darum immer enger, ihre wirthschaflliche Thätigkeit nahm größere Ausdehnung an; man producirte

für den Markt und gewann grade durch den Großhandel neue wirthschaftliche Kräfte.

Und indem das Gewerbe sich ausdehnte, strebte es nach Eigen­

bestimmung, es wollte nichts mehr von dem Verhältniß der Bevormundung wissen, in welcher es zu dem Handel der Altbürger stand.

Frei wollte

es sein und sich selbst regieren, wie die Altfreien frei geworden waren. So stand jener Kampf zwischen dem Patriciat der Handelsaristokratie und

den Zünften, wie er in anderen Städten im 14. Jahrhundert tobte, in Köln schon im Anfang des 13. Jahrhunderts bevor; ein großer unheil­ barer Spalt zerriß die Bürgerschaft, es handelte sich um den Sieg der einen Partei, kein Waffenstillstand war möglich.

Aber mitten in dem Gegensatz des emancipirten Handels und des emancipationöbedürftigen Gewerbes stand die Stadtherrschaft des bischofs.

Erz­

Es wäre seitens der Erzbischöfe weise gewesen, sich des Gegen­

satzes durch vernünftige Concessionen an die freie Bewegung der Zünfte

anzunehmen.

Allein eine solche Lösung erforderte Energie und politische

Vollkraft; nur der Erzbischof Engelbert I. hat sie versucht, keiner der fol­ genden Erzbischöfe geleistet.

Die Macht dieser Erzbischöfe war zu schwach

gegenüber dem größten Emporium Deutschlands; erinnern wir uns, daß

damals grade die Stadt Köln ihre Erzbischöfe und Herren in die Geleise

ihrer äußeren England freundlichen Politik zwang.

Und während so der

politische Stern der Stadt stieg, sank der des Erzstifts immer tiefer.

Es

lag das theilweise an den territorialen Verhältnissen des Niederrheins, theilweise aber an dem allgemeinen Gang der Wirthschaftsgeschichte.

Mit

dem 12. und 13. Jahrhundert war eine volkswirthschaftliche Umwälzung

von der allergrößten Tragweite eingetreten, der Uebergang von der Naturalwirthschaft zur Geldwirthschaft.

Es war eine der Folgen dieser Re­

volution, daß alle historisch bedeutenden Mächte innerhalb der Reichsver­ fassung in jähen Verfall geriethen.

Sie waren auf die Erträge der

Urproductionen, deS früher allein bestehenden wirthschaftlichen Machtmittels

begründet gewesen: jetzt trat dieses Machtmittel vor der Bedeutung des

städtischen Kapitals immer mehr zurück, die höchsten sozialen Schichten der Nation verarmten.

Das ist ein Hauptgrund für die Erbärmlichkeit der

Reichspolitik seit dem Fall der Staufer; nur so erklärt sich die Erwerbs­

gier und der moralische Verfall der geistlichen und weltlichen Aristokratie seit dem Interregnum.

Auch der Erzstuhl von Köln litt unter diesen

Verhältnissen; seine Inhaber konnten sich in der Stadt nicht mehr halten,

dazu fehlten ihnen die materiellen Mittel. Aber doch hatten die Erzbischöfe die Prätention der Stadtherrschaft;

eine 300jährige Ausübung von Herrschaftsrechten wird nicht ohne Kampf aufgegeben.

Und die besten Erzbischöfe deS 13. Jahrhunderts haben be­

seelt von dem edlen Geist der Staufischen Epoche ritterlich genug gedacht, diesen Kampf männlich gegen die ganze städtische Welt Kölns zu unter­ nehmen.

Da kommt es denn zu einheitlichem Widerstand der Stadt, zu

ruhmvollen Thaten und auch für den Besiegten ehrenvollen Katastrophen.

Aber es führten auch Erzbischöfe die Negierung, welche, minder ehrenvoll, die großen Gegensätze in der Stadt gegen einander ausspielten: Bürger­

zwiste und offene Gewaltstreiche, Verrath und Hinterlist waren die Folge.

Und doch siegte die Stadt nach einem Kampfe von fast zwei Generationen, trotz der verschiedensten Methoden des erzbischöflichen Angriffs: sie siegte

kraft des naiven Vertrauens auf ihre Unbezwingbarkeit und wirthschaft-

liche Stärke und durch den gemeinsamen Patriotismus, der die entzweiten Geschlechter und Zünfte versöhnte, sobald die Vaterstadt in ernster Gefahr war.

So tritt uns die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle in diesem

Kampfe entgegen, und wir haben die Genugthuung, endlich doch die bessere Sette menschlichen Empfindens triumphiren zu sehen.

Die politische und soziale Uebermacht der altfreien Handelsaristokratie, der sogenannten Geschlechter, prägte sich schon im Beginn des 13. Jahr­ hunderts in theilweis verletzenden Formen auö.

Es sind das dieselben

Erscheinungen, wie wir sie ein Jahrhundert später in Straßburg und so

vielen anderen großen Städten Deutschlands treffen: die Geschlechter hatten sich zu einem in sich durch tausend Bande der Verschwägerung geschlossenen

Ring umgebtldet, der seine Sonderinteressen in der Stadtverwaltung zum Ausdruck brachte.

Bedenkt man dabei, daß diese Geschlechter neben ihren

Handelsinteressen

vielfach

dem

Ritterberufe

huldigten,

welcher

grade

damals zu verfallen begann, so wird man die Schwächen ihres Regiments

doppelt empfinden.

Die junge Generation der Geschlechter kannte nicht

mehr jene Moral, wie sie in sich fest begründete Standesverhältnisse mit

sich bringen; die Individuen litten unter dem Sinken des sittlichen Ni­ veaus im ganzen Stande.

Zudem war das Mittelalter überhaupt, wie

jede tiefere Culturstufe, geneigt, die Rechtspflege, mit deren Ausübung die Macht der Geschlechter besonders verknüpft war, mehr vom Gesichtspunkte

der Finanz- und Machtfrage anzusehen, als von dem der gleich ver­

theilenden Gerechtigkeit.

Die Rechtspflege mußte deshalb unter dem Ein-

Köln im Mittelalter.

516

wirken der angegebenen Verhältnisse vielfach parteiisch

ausfallen.

In

diesem wichtigen Punkte trafen nun die Zünfte, die cives minores, und die Geschlechter zunächst aus einander.

Schon im Beginn der Regierung

Engelberts des Heiligen (1216—1225) erhob sich ein gewaltiger Streit zwischen den Schöffen, also der Gerichtsvertretung der Geschlechter, und den Zünften.

Engelbert

griff mit kräftiger Hand in diese städtischen

Wirren ein; während er die aufrührerischen Zünfte unter einer Strafe

von 4000 Mk. — ein Zeichen ihrer schon weit gediehenen Wohlhaben­ heit — zur Ruhe verwies, erließ er anderseits neue Satzungen, welche die Jurisdiction regelten, und ergriff zugleich die Gelegenheit, den sich

bildenden Rath der Stadt aufzulösen. Wenige Jahre darauf 1225 starb Engelbert unter der mörderischen Hand seines Isenburger Verwandten, und Heinrich von Molenark folgte

ihm.

Die Geschlechter benutzten diesen günstigen Moment, um alle Hin­

dernisse hinwegzuräumen, welche Engelberts vorsichtiger Sinn ihren auto­ nomen Bestrebungen in den Weg gelegt hatte. mit dem Herzog Walram vom Limburg,

bischofs

und

Satzungen.

verbrannte

man

Die Stadt verband sich

dem Feinde

feierlich die

von

des neuen Erz­

Engelbert

auferlegten

Heinrich von Molenark aber besaß nicht die Macht, diese

Eigenmächtigkeit der Bürger zu bestrafen.

Durch Engelberts Tod war

die Grafschaft Berg dem Erzbischof feindlich geworden, während sie bisher mit dem Erzstift durch die fast stets aus Bergischem Geschlechte gewählten

Erzbischöfe so zu sagen in Personalunion verbunden war.

Und auch der

Herzog von Limburg war dem Stifte feindlich: von beiden Ufern des Rheines also drohten schwere Gefahren. Da galt eö Vorsicht für den neuen Erzbischof; vor allem mußte er

seine Residenz Köln

sich sichern.

Er

bestätigte daher

alle

Freiheiten,

Rechte und Gewohnheiten der Stadt, wie sie zur Zeit der Wahl Engel­

berts bestanden hatten und annullirte so stillschweigend die Neuerungen

seines Vorgängers; ja bei etwaigen Streitigkeiten zwischen Sta^t und Erzstift nahm der Erzbischof sogar das Schiedsgericht der Stadffchöffen an.

1238 starb Heinrich; ihm folgte der hochstrebende, begabt, und um­

sichtige Conrad I. von Hochstaden 1238—1261.

Auch unter Conrad gestaltete sich

das Verhältniß der Stadt zum

Erzstifte in den ersten 12 Jahren günstig; zuerst sogar in besonderer

Weise freundlich.

Es hing das mit den Fehden zusammen, welche Conrad

nach allen Seiten hin unternahm,

besonders gegen Heinrich III. von

Brabant und Heinrich V. von Limburg.

In diesen Fehden unterstützte

die Stadt den der Hülfe bedürftigen Erzbischof auf das Kräftigste, so daß

dieser das alte Kölner Privilegium über die exclusiv-städtische Gerichts-

Barfeit der Stadt erneuerte und auf jede Weinsteuer, wie auf die ihm vom Kaiser Bewilligte Biersteuer verzichtete. Auch in den folgenden Jahren BlieBen Stadt und ErzBischof sich trotz einiger Differenzen auf dem GeBiete der Reichspolitik im Wesentlichen freundlich gesinnt; und als in den Wirren der späten Stauferzeit Wilhelm von Holland auf BetreiBen Conrads König wurde, da folgte die Stadt ganz der Richtung des ErzBifchofeS und gieng auf die Seite der Gegner Friedrichs II. üBer. Freudig empfingen die Bürger Kölns 1247 den König Wilhelm in ihren Mauern; allerdings war der Preis ihres UeBertritts kein geringer; in einem Privilegium versprach ihnen Wilhelm, nie ein Heer in die Stadt zu legen, nie einen Hoftag in der Stadt aBzuhalten, sie nie zu irgend einer Reichshülfe zu zwingen. Diese exorBitanten Gnaden erhoBen sich weit üBer die sonst gewöhnliche städtische Freiheit und ließen dem König kaum mehr, wie den persönlichen Aufenthalt und die persönliche Rechtsprechung in der Stadt; sie wurden 1267 von König Richard nochmals Bestätigt, später aBer seit Rudolf von HaBsBurg von keinem Könige mehr anerkannt. Mit dem Jahre 1247 war Conrad von Hochstaden nach längeren Fehden so ziemlich Herr seines Stiftes, in 10 Jahren hatte er den seit EngelBerts Tagen erBlichenen Glanz der erzBischöflichen Herzogsgewalt wieder hergestellt. Zugleich war er jetzt der Schöpfer zweier Könige, Heinrich Raspes und Wilhelms, unumschränkt waltete sein Einfluß in der Politik des Reiches. In dieser Zeit geschah es, daß unter dem Jauchzen der Kölnischen Bürger und unter dem Beisein einer großen An­ zahl von weltlichen und geistlichen Großen am Himmelsfahrtstage Mariä, den 15. August 1248, der Grundstein zum Dom vom ErzBischof ge­ legt ward. Das Jahr 1248 wurde damit zum Markstein innerhalB der Ge­ schichte des Kölner Erzstiftes, mit diesem Jahre hatte die politische Be­ deutung wie die künstlerische Schaffenskraft der Diözese ihren höchsten Gipfel erreicht; noch standen die ErBen der Zukunft, die Bürger Kölns geBlendet von dem Glanze dieser kirchlichen Größe. Wenige Jahre später aber Begann der ernste, immer größeren Um­ fang annehmende Streit zwischen Stadt und ErzBisthum: jene Zeit heroi­ scher Thatkraft seitens der Geschlechter, allmählicher Erschlaffung seitens des Erzstifts. Seit dem Jahre 1248 etwa wandte Conrad alle die Kräfte, welche er in langen Mühen gesammelt hatte, zur Unterdrückung der ihm verhaßten städtischen Freiheit an. Und klug wandte er sich zu­ nächst nicht gegen die Existenz der autonomen Institute der Geschlechter selBst, sondern nur gegen ihre mißbräuchliche Ausbeutung gegenüber den Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft35

geringern Bürgern.

Er machte sich damit jenen Gegensatz der cives

maiores und minores zu Nutze, welchen Engelberts energisches Eingreifen keineswegs beseitigt hatte, der vielmehr zum vollsten Haß auf der einen, zur höhnendsten Verachtung auf der anderen Sette gesteigert war.

Gott­

fried Hagen, der patricisch gesinnnte Stadtschreiber, sagt etwas später in

seiner Reimchronik von den Zünften: so wißt darweder, bat net so für

enir, aS van arde ein gebär; Wan bat hei up stigenbe iS,

hei iS gier unbe valsch, beS fit gewiß. Colne, blifst bu benen bevolen,

Du selbes manchen läster bolen.

Die Erbitterung, welche die geringschätzige Behandlung seitens der Geschlechter bei den Zünften erregen mußte, ergriff Conrad jetzt begierig als Bundesgenossen; seine ersten Maßregeln gingen auf eine Demüthigung

der Geschlechter bannte

unter Anlehnung an die zünftlerischcn Forderungen: er

die Schöffen wegen

städtischer Privilegien.

unregelmäßiger

und Veruntreuung

Wahl

Allein er richtete nichts aus, wahrscheinlich konnten

die Schöffen sich rechtfertigen; jedenfalls wurden sie 1249 am 9. August

vom Erzbischof wieder freigesprochen. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, ging Conrad von einer an­

deren Seite aus vor; er beschloß zunächst die materielle Unterlage der Geschlechter, ihren Handel empfindlich zu schädigen.

Hierzu boten sich

zwei Handhaben, der Zoll und die Münze. Nach altem Herkommen durfte jeder Erzbischof, um die Stabilität

des Geldverkehrs nicht zu untergraben, nur zweimal den Stempel sowie Schrot und Korn seiner Münzen ändern, beim Amtsantritt und

einem Römerzuge im Dienste des Kaisers.

nach

Jetzt aber, 1251, ließ Conrad

minderwichtige Münzen ohne jede Approbation schlagen; zugleich zog er die Bürger persönlich zur Zollabgabe in Neuß heran.

Als die Geschlechter

in drohendem Tone die Abstellung dieser Mißbräuche verlangten, verließ

der Erzbischof unerwartet die Stadt und sandte von Andernach den Fehde­ brief: grade das war wohl der Erfolg, auf den er hingearbeitet hatte.

Aber die Stadt schloß ein Bündniß mit ihrem alten Freunde, dem Grafen Wilhelm von Jülich; sie hielt sich tapfer gegen die Belagerung

des Erzbischofes, bis dieser ihr einen Vergleich durch Schiedsspruch an­ bot.

Zum

Schiedsrichter

wurde der Scholaster

Dominikaner zu Köln, Albertus Magnus gewählt.

und

Lesemeister der

Sein Spruch erkannte

1252 die Uebergriffe des Erzbischofes als im Ganzen ungerechtfertigt, ordnete die Abstellung derselben an und empfahl Friede und Freundschaft

zwischen Stadt und Erzsttst.

Wirklich traten diese zunächst ein; die Stadt hatte allen Grund sich

bei dem Spruche zu beruhigen, den Erzbischof aber nahmen jetzt äußere Sorgen voll in Anspruch.

Zunächst gerieth er in Streitigkeiten mit

seinen Nachbarn, Jülich, Berg, Paderborn u. A., dann auch in Zwist mit

dem von ihm geschaffenen König Wilhelm.

Der letztere steigerte sich

bald bis zur höchsten Erbitterung, dem Ausbruche offener Feindseligkeiten kam nur der Tod Wilhelms am 28. Januar 1256 zuvor.

Nun galt es, einen neuen König zu wählen;

Grafen Richard von Cornwallis

1257

Conrad

als solchen durch.

setzte den Von

der

Krönung in Aachen aus zog der König mit dem Erzbischöfe nach Köln; mit hohen Ehren wurde er dort, als englischer Prinz, empfangen.

Im

Frühsommer 1257 verließ König Richard Köln; wiederum standen sich

jetzt Erzbischof und Stadt actionsfrei gegenüber; ein Zusammenstoß beider Mächte mußte durch den geringsten Anlaß herbeigeführt werden.

Er fand sich, fern von Köln, an der Mosel.

Hier wurde ein ange­

sehener Kölner Patrizier, aus dem Geschlechte der Cleingedank, von einem Verwandten des Erzbischofs überfallen und gefangen genommen.

Der

Vorfall machte in Köln bei den Geschlechtern den schlimmsten Eindruck, sie beschlossen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Als Conrad eines

Tages, umgeben von Freunden und Ministerialen im großen Saale des

bischöflichen Palastes am Domplatze zu Gericht saß und ein Verwandter des Stegreifritters von der Mosel, Heinrich von Nürburg, vor Schluß

der Versammlung den Saal verließ, stürmte die Sippe Cleingedank hinter ihm her, um ihn festzunehmen.

Heinrich von Nürburg floh rasch in den

gegenüberliegenden Dom, wo man von ihm abließ. Der Erzbischof erfuhr im Palast sofort von dem Vorgang, er glaubte

den. Anschlag auf sich gemünzt, setzte sich im höchsten Zorn auf sein Roß und ritt aus den Thoren. dieses Schrittes

sehr wohl,

Die Geschlechter verstanden die Tragweite sie rüsteten mit Macht, und Dietrich von

Falkenburg übernahm gemäß seiner früher eingegangenen Bundespflicht

das Commando der städtischen Mannen.

Mittlerweile begann der Erz­

bischof von Rodenkirchen aus die Blockade der Stadt.

Da spornte Dietrich

von Falkenburg den Muth der Städter an; gellend läutete die Sturm­ glocke der Stadt, und zahlreich liefen Geschlechter und Bruderschaften zu den Waffen.

Getrosten Muthes zog man den Erzbischöflichen entgegen

und wurde nicht weit von der Stadt bei Frechen in ein Treffen mit ihnen verwickelt.

Der AuSgang scheint unentschieden

gewesen

zu sein;

wenigstens

waren beide Parteien zur Unterordnung unter einen Schiedsspruch bereit. Wieder wurde der große Albert von Vollstädt nebst anderen zum Schieds-

35*

Köln im Mittelalter.

520

richter gewählt; am 28. Juni 1258 erging der Spruch dieses Gerichtes,

das berühmte Laudum Conradinum, die magna Charta der Stadtkölni­ schen Verfassung.

Das Laudum Conradinum zerfällt in drei Theile, 53 Klage- und

Beschwerdepunkte, welche der Erzbischof gegen die Stadt eingereicht hatte;

21 Beschwerdepunkte seitens der Stadt gegen den Erzbischof, endlich den Bescheid des Schiedsgerichtes betreffs aller dieser Punkte. Diese so weise und natürliche Anordnung des Laudum zeigt schon in der Form den ruhigen, logisch geschulten Kopf deS großen Albert, wie

ihn vor Allem der Inhalt wiederspiegelt; er erlaubt, hier einmal sämmt­ liche zwischen Erzstift und Stadt anhängigen Streitpunkte in einheitlicher Uebersicht zu überblicken.

Man

kann

alle

diese Streitpunkte unter

einige wenige Rubriken

gruppieren; ich wähle zu diesem Zwecke die folgenden 1. Beschwerden des Erzbischofs gegen die Geschlechter; 2. Dominat des Erzbischofs an der

Stadt; 3. Gerichtsbarkeit; 4. Fiskalische Rechte; 5. städtische Verwaltung. Schon die Thatsache,

daß

der Erzbischof

allgemeine Beschwerden

gegen die Geschlechter vorbringt, ist ungemein bezeichnend für seine Po­

litik, welche auf das Säen innerer Zwietracht, auf eine Trennung von Geschlechtern und Zünften ausging.

Das schließt freilich nicht aus, daß

eine Anzahl dieser Vorwürfe wirklich begründet waren.

Die härtesten

von ihnen lauten auf Bestechlichkeit bei der Besetzung der Aemter und bei der Rechtsprechung im Schöffendienst;

auf unberechtigte Aneignung

städtischen Areals und Belästigung fremder Kaufleute,

auf Bedrückung

der cives minores durch ungerechtfertigte Steuern und Lasten sowie zu hohe Grundbuchgebühren.

Betreffs des städtischen Dominates behauptete der Erzbischof weiter­

hin,

er sei oberster Richter und Herr der Stadt und als Richter der

alleinige Quell alles Rechtes und aller Rechtsprechung; als Herr aber zu

dem Verlangen berechtigt, daß die Stadt keinen Vertrag zu seinen Un­ gunsten oder gar mit seinem Feinde abschließe und nie die erzstiftischen

Beamten in Haft lege.

Demgegenüber stellte die Stadt über Gerichts­

herrlichkeit und Stadtherrschaft überhaupt keine allgemeinen Grundsätze auf, beschwerte sich aber darüber, daß der Erzbischof Kölnische Bürger in seinem Gebiete gefangen lege, Kölnische Bürger für seine Schulden haften

lasse und Kastelle zum Schaden der Bürger bauen lasse, was doch nach früheren Urkunden verboten sei.

In genauerem Eingehen auf die Gerichtsbarkeit beanspruchte der Erzbischof die alleinige und ausschließliche Rechtsprechung und gerichtliche Executive, weiterhin eine genaue Trennung der Competenz der Bürge-

richte und des

Schöffengerichtes, sowie der geistlichen und weltlichen

Jurisdiction, letzteres nach Urtheil des geistlichen Richters; endlich ver­ langte er ordnungsmäßige Wahl der patrizischen Schöffen des Stadtge-

gerichteö, regelmäßige Sitzungen und rasche Justiz,

sowie Wechsel der

Personen für die Gerichtssitzungen erster und zweiter Instanz über den­ selben Gegenstand.

Die Stadt dagegen beklagte sich über Verletzung des

ausschließlichen binnenstädtischen Gerichtsstandes der Bürger,

über Be­

günstigung des geistlichen Gerichts und mannigfache einzelne Störungen

und Ungerechtigkeiten. Bei den Klagepunkten

über die fiskalischen Rechte treten

zunächst

ältere Differenzen wegen der Münze wieder auf; der Erzbischof beschwerte

sich

über den Gebrauch fremder Münzen als Courantgeldes,

schlaffe Ahndung

der Münzvergehen

Silber durch Private: zustand.

und

Ankäufe

von

über zu

ungemünztem

ein Recht, das nur den erzstiftischen Wechslern

Demgegenüber hob die Stadt die fortwährende Verschlechterung

der Münzen, ja eine Art von Falschmünzerei in anderen Städten deö

ErzstiftS unter scheinbarer Connivenz deS Erzbischofs als beklagenSwerth hervor.

Andere Meinungsverschiedenheiten bezogen sich auf die Zölle und

Steuern; hier verlangte der Erzbischof bei Auferlegung neuer Steuern befragt zu

werden und wünschte eine genaue Controle des Stadthaus­

haltes, die Stadt dagegen klagte über ungerechte Zollpolitik des Erz­ bischofs, namentlich über die Art der Zollabfertigung zu Neuß.

Schließlich

waren von fiskalischen Rechten noch strittig das Judengeleit, die Wein­

verkaufsprivilegien der Stifter und Klöster und

die Frage nach dem

EigenthumSrecht herrenloser Erbschaft.

Hinsichtlich der städtischen Verwaltung endlich brachte der Erzbischof zunächst wegen der Bürgermeister, also deS Vorstandes der Richerzeche,

seine Forderungen vor: sie sollten ohne Bestechung gewählt werden und sich keine Erpressungen zu Schulden kommen lassen; vor Allem aber sollten sie sich keine richterlichen Befugnisse anmaßen, sondern reine Verwaltungs­

behörde bleiben.

Weiterhin sollte der Stadtrath blos auf die Schöffen

des Gerichtes beschränkt werden, das heißt soviel als er sollte aufgehoben werden.

Auch die selbständige Thätigkeit der Richerzeche wird angefochten,

sie soll auf dem Rathhause nichts beschließen, ohne den Erzbischof vorher

zu hören.

Neben diesen Forderungen, betreffs der städtischen Central­

verwaltung, stehen einige andere, welche darauf hinzielten, die Macht der

Geschlechter auch sonst zu brechen; so verlangt der Erzbischof die Reduction der Amtleute in den Geburschaftcn auf die ordnungsmäßige Zahl und er

besteht vor Allem darauf, daß die Zünfte ihre Vorsteher nicht mehr aus

den Geschlechtern, sondern nur aus den Bruderschaften selbst wählen sollten.

ES leuchtet sofort ein, daß die für das Schicksal der Stadt entschei­

denden Forderungen namentlich in den Bemerkungen über Stadtherrschaft

und Gerichtsbarkeit enthalten sind. Er geht im Wesentlichen

Wie lautete nun hier der Schiedsspruch?

dahin, daß der Erzbischof ja allerdings die geistliche wie weltliche Ober­

gewalt in Köln habe; indeß sei diese doch durch lange zu Recht bestehende Institute, die Schöffen und Bürgermeister in bestimmte, unabänderliche

Formen gekleidet, deren Ueberwachung freilich nöthig bleibe.

Dabei sei

festzuhalten, daß die Bürgermeister eine reine Verwaltungsbehörde seien, und daß sie wie die Richerzeche in Steuerauflagen an die Zustimmung

des Erzbischofs und der verfassungsmäßigen Gewalten des Erzstifts, sowie an die zu Recht bestehenden städtischen Statute gebunden seien.

Der

Rath und die Vorsteher der Bruderschaften seien facultative Einrichtungen, gegen welche freilich ein besonderes Gesetz nicht spreche.

Schon aus diesen wenigen Entscheiden kann man ersehen, mit welcher Schonung beiderseitiger Interessen Bruder Albert sich seiner Aufgabe ent­

ledigte.

Gewiß stand er mit seinen Sympathien auf der Seite des Erz­

bischofs; gleichwohl aber blieb er gerecht und schonte mit zarter Hand die

ersten Anfänge autonomer städtischer Bildungen. Mit dem Laudum Conradinum, dem sich Erzbischof und Stadt zu­ nächst fügten, hat der Verfaffungsstreit zwischen Stift und Stadt seinen

Höhepunkt erreicht; in ihm liegt eine Codification der beiderseitigen Be­ schwerdepunkte und eine geniale Lösung derselben zugleich vor.

Und ge­

rade der letzte Umstand ist die Ursache, daß man immer und immer

wieder auf das Laudum als die eigentliche Verfassungsurkunde Kölns, als die Grundfeste aller Freiheiten zurückgriff.

Indeß zunächst half diese würdige, juristisch vollendete Lösung der Streitigkeiten keineswegs einen festen Frieden begründen; dazu waren die

Gegensätze zu stark, die Persönlichkeiten zu lebhaft, die Interessen zu groß und kräftig.

Aber eins geschah allerdings: hatte man sich bisher noch

mit Rechtsgründen bekämpft, so trat jetzt an deren Stelle die nackte Ge­

walt, und als diese nicht mehr ausreichte, verrätherische Hinterlist. ES entwickelte sich in den folgenden 20—30 Jahren ein Kampf auf Leben

und Tod

zwischen Stadt und Erzbischof, den

gegenseitige Erschöpfung

zwar manchmal unterbrach, der aber im Ganzen auf'S Lebhafteste fortge­ führt wurde, bis er mit dem vollen Siege der Stadt endete.

Nur wenige Monate

nach

Abschluß

brachen die Zwistigkeiten schon wieder aus.

des

Laudum

Conradinum

Erzbischof Conrad begann

an einen vollständigen Umsturz der Verfassung zu denken.

Zunächst ge­

wann er die cives minores, die große Gemeinde für sich und ließ durch

sie die patricischen Münzerhausgenossen, die Verwalter der erzbischöflichen

Münze, anklagen.

Auf Grund

dieser Anklage und ihres Lehensverhältnisses

zu ihm

zog der Erzbischof die Münzerhausgenossen vor sein Forum, sie wurden schuldig befunden und abgesetzt.

Bald darauf schritt Conrad gegen die

Mühlenerben, jene reichen Geschlechter, welche die Rheinmühlen besaßen,

vor; sie wurden ihrer Mühlenantheile für verlustig erklärt und das Eigen­ thum an den Mühlen halb

sprochen.

dem Erzbischof und halb der Stadt zuge­

Nach diesen vorbereitenden Schritten begann der Angriff auf die

Schöffen, die Bürgermeister und die Richerzeche:

sie alle wurden

von

sämmtlichen Bürgern der Stadt, wie es in dem späteren Urtheile heißt, schlechter Amtsführung angeklagt und natürlich meist schuldig befunden;

insbesondere wurden sämmtliche Schöffen mit Ausnahme von Einem am 17. April 1259 abgesetzt.

An Stelle der entsetzten Schöffen und sonstigen Amtleute aber setzte Conrad neue Schöffen, welche theilweiö den Geschlechtern, theilweis aber

den Zünften angehörten.

Allein dieses neue Collegium, welches natürlich

ganz nach Gefallen des Erzbischofs regierte, war bald weit entfernt davon, populär zu fein.

Von den Geschlechtern wurde eS selbstverständlich ver­

achtet; Gottfried Hagen singt: m wert nit fünde, ich selbe et hassen, bat von Seine bie hilge (lat

mit sulchen efetn waS besät.

Und ähnlich dachten auch bald die cives inferiores; sie sahen die Par­ venüs ihrer Bruderschaften jetzt als Schöffen in pelzverbrämter Gewan­ dung einherstolzieren und besannen sich doch von früher genau, wie wenig

geschickt diese neuen Herren der Stadt für ihr Geschäft waren; wie sie wohl wußten, wieviel Häringe man für einen Vierling kaufe, aber nichts

von der Finanzgebahrung eines großen Gemeinwesens verstanden.

Kurz

die Zünfte zeigten sich als noch nicht regierungsfähig, die Schulung in dem engbegrenzten Kreise der gewerklichen Genossenschaft des

12. und

13. Jahrhunderts hatte noch keineswegs eine feste politische Bildung der Genossen gezeitigt. . Daher herrschte allgemeines Mißvergnügen, das von

den Geschlechtern eifrig weiterverbreitet ward und sogar in einem Tumulte seinen Ausdruck fand. Aus diesen Zuständen schöpften die Geschlechter den Muth, die neuen

Schöffen beim Bischof selbst anzuklagen.

Das kaum Erwartete geschah;

unter dem Druck der Meinung aller sozial Höherstehenden nahm der Erz­

bischof

die Klage an und

bestimmte

einen Termin zur Verhandlung.

Aber diese Nachricht wirkte aufs Höchste alarmierend bei der Gegenpartei;

Köln im Mittelalter.

524

drohend rotteten sich Volkshaufen zusammen, während der Erzbischof auf dem Saale des Palastes das Gericht abzuhalten begann.

Kaum hören die hier versammelten Geschlechter vom Auflauf Massen, so eilen sie nach Haus und legen Wehr und Rüstung an. der Erzbischof rüstet sich, ungewiß der kommenden Stunden;

der

Auch

angstvoll

blickt er vom Palast in die Straßen der Stadt, wo Geschlechter und Bru­

derschaften sich drohend gegenüber stehen.

Da kommt ihm ein hinter­

listiger Gedanke; er schickt Boten zu den Geschlechtern, sie möchten ihm

vertrauen, die Waffen niederlegen, sich mit ihm aussöhnen.

Die List ge­

lingt, die Geschlechter senden zwölf der Trefflichsten und Besten aus ihrer

Mitte in den Saal des bischöflichen Palastes.

Der Bischof läßt die Arg­

losen ergreifen, fesseln und nach den Schlössern Lechenich, Godesberg und

Altenahr in sichern Gewahrsam bringen. Grabesruhe herrschte tu der Stadt nach diesem unerhörten Gewalt-

streich; ein großer Theil der Geschlechter verließ die Stadt in Hoffnung besserer Zeiten; die zurückgebliebenen fügten sich in lautlosem Schweigen.

In diesem Sinne war Conrad von Hochstaden, der Schöpfer von drei deutschen Königen, der letzte starke Herrscher des Kölnischen Erzstiftes, Herr der Stadt, als er am 29. September 1261 zu Köln verschied. —

Auf Conrad von Hochstaden folgte im Erzbisthum Engelbert II. von Falkenburg 1261—1274; in Allem und Jedem der gerade Gegensatz zu

seinem Vorgänger Engelbert I.:

ein hinterlistiger, hämischer,

treuloser

Charakter, weder von besonderer Thatkraft noch von weitangelegten origi­ nalen Plänen.

Mit der Wahl eines solchen Mannes mußten die Kölni­

schen Wirren einen blutigen und grausamen Charakter annehmen.

Bei seinem Regierungsantritt fand Engelbert die Stadt in völliger Unterwerfung, auch die Geschlechter sahen zunächst froh in eine noch nicht voreingenommene Zukunft.

weilte,

wagten

MS daher Engelbert auf seiner Burg Altenahr

drei Herren aus

den Geschlechtern,

Rütger Overstolz,

Daniel Jude und Costhn von der Aducht, den Erzbischof um Freilassung

der acht von Erzbischof ConradS Zeiten her noch in Altenahr gefangenen

Patricier zu bitten.

Ihre Vertrauensseligkeit wurde schlecht belohnt; alle

drei wurden zu den Genossen in den Thurm geworfen. Aber bald darauf wußten die Altenahrer Gefangenen sich zu befreien; ein Theil von ihnen wandte sich landeinwärts zur Feste Tomberg, welche der Erzbischof vergeblich zu stürmen suchte.

Diese Belagerung brachte

ihn in finanzielle Noth: vergebens wandte er sich an die neuen, theilweis

zünftlerischen Schöffen zu Köln.

Als die Geschlechter das erfuhren, boten

sie dem Erzbischof eine bedeutende Summe, wenn er die alten Zustände in Köln zurückführe.

Begierig ergriff Engelbert dieses Anerbieten; von

Neuem zog er jetzt als mächtiger Herr in Köln ein.

Aber an die Wieder­

einsetzung der Geschlechter in ihre alten Würden dachte er nicht; vielmehr solltm jetzt beide Theile, Zünfte wie Geschlechter, sich unter den einen Willen deS Erzbischofs beugen.

Um den Handel Kölns wie die Stadt

selbst militärisch zu beherrschen, begann Engelbert an den beiden Enden

der Stadt nach dem Rheine zu starke Zwingfesten zu erbauen.

Da endlich in der höchsten Noth siegte bei den Zünften und Ge­ schlechtern Nutz und Frommen der Stadt über die bisherige Feindschaft,

der Gedanke an die gemeinsame Vaterstadt erwachte.

In Einem Anstürme

erhoben sie sich gegen die Burgen des Erzbischofs, zerstörten sie und ver­ trieben die bischöfliche Besatzung.

Wüthend sann Engelbert auf Rache;

aber er sah ein, daß er gegen die geeinte Stadt, welche noch dazu mit

dem Grafen Adolf von Berg einen Bund geschlossen hatte, nichts von Bedeutung unternehmen könne.

Diese Ohnmacht des Erzbischofs führte

am 16. Juni 1262 zur Sühne zwischen den

gegnerischen Mächten, in

welcher den bisher gebannten Geschlechtern die Rückkehr in die Stadt zugesichert, ihre Einsetzung in die alten Aemter aber von einem Beschluß

der Bürgerschaft abhängig gemacht wurde.

Es wurde also die Verfassung

deS Laudum Conradinum facultativ wieder eingeführt.

Außerdem ver­

pflichtete sich die Stadt gegenüber dem Erzbischof zur Zahlung

einer

Sühne von 6000 M., welche durch eine indirecte Steuer allmählich auf­

gebracht werden sollte. Diese Sühne mußte den Geschlechtern sehr bald wieder zum Stadt­

regiment verhelfen; die Zünfte verschwinden immer mehr aus Rath und Schöffencollegium; die äußere Politik der Stadt wird ganz von den Pa­ triciern geleitet.

Hier kam es nun vor Allem darauf an, sich gegen alle

Eingriffe seitens des Erzbischofs zu sichern, der schon beim Papste die Annullierung der letzten Sühne zu beantragen gedachte.

Zu diesem Zwecke

mußte sich die Stadt vor Allem die Hülfe der mächtigen niederrheinischen

Herren versichern.

Sie that das durch Ausstellung der Edelbürgerbriefe.

In diesen Urkunden wurde festgesetzt, daß die adligen Herren, auf welche sie lauteten,

gegen Zahlung einer bestimmten Rente,

meist 100 Mark,

Bürger Kölns und als solche zum Schutze der Stadt verpflichtet sein

sollten.

Der erste bedeutende Edelbürger der Stadt wurde 1263 Wilhelm

von Jülich;

ihm folgten durch das ganze 13. Jahrhundert eine lange

Reihe von Grafen und edlen Herren.

Durch dieses System wußte sich

die Stadt die bedeutendsten militärischen Kräfte des gesammten Landes in ihrem weitesten Umkreise dienstbar zu machen; sie schlug den Erzbischof

mit seinen eigenen Waffen, nur daß sie jetzt bei Weitem mehr geschärft

waren.

Auch die Erzbischöfe waren von jeher darauf ausgegangen, sich

Köln im Mittelalter.

526

durch Belehnungen die kriegerische Kraft deS Landes zu sichern.

Aber

bei den Belehnungen, wie sie in Grundbesitz erfolgten, erhielt der Be-

liehene das Capital, dessen Revenüen ihn dem Landesherrn verpflichten

sollten, in die Hand, er konnte es frei benutzen, eS wurde als Eigenbesitz angesehen, es wurde erblich, und die Erinnerung an den einstigen Geber schwand.

Wie ganz anders bei den von der Stadt verliehenen Renten.

Hier behielt die Stadt das Capital zur freien Disposition in der Hand,

und die beliehenen Edelbürger wurden jährlich bei Empfang ihrer Renten an die Widerruflichkeit ihrer Stellung zur Stadt und die Nothwendigkeit ihrer guten Dienste erinnert.

Die neue Machtentfaltung der Stadt in Folge der Edelbürgerpolitik

hinderte den Erzbischof Engelbert zunächst an der weiteren Unterwerfung Kölns; er gieng sogar am 25. August 1263 einen neuen Vertrag mit der Stadt ein, nach welchem die Verfassung des Laudum Conradinum, und

mit ihr die Geschlechterherrschaft, von Neuem vollständig und obligatorisch eingeführt wurde.

Indeß sehr bald fing der Erzbischof wieder an, feindselig aufzutreten. ES geschah das anfangs innerhalb bescheidener Grenzen; als er aber auf

diese Weise nicht vorwärts kam, schritt er zu rohen Gewaltthaten fort.

Er versammelte die Angesehensten der Geschlechter in seinem Palast, nach­

dem er seinen Bruder Dietrich beauftragt, die arglos zusammen Kom­ menden gefangen zu nehmen.

Indeß der Bubenstreich schlug durch die

Wachsamkeit der Bürger in daS Gegentheil um: Dietrich wurde gefangen

und nach seiner Abführung erschienen die Geschlechter vor dem Erzbischöfe und ersuchten ihn, sich selbst im Hause „zum Roß" in der Rheingasse in

Gefangenschaft zu begeben.

Nach diesem Ereigniß gab eS nur noch ein

Mittel für Engelbert, einen Umschwung der Dinge herbeizuführen:

Interdikt gegen die Stadt, der Bann gegen Rath und Schöffen.

das

Papst

Urban zögerte nicht, in dieser Weise vorzugehen; und noch einmal be­ währten die

alte

Wucht

geistlichen Strafmittel gegenüber dem

und

Bedeutung.

Am

16. December

heiligen Köln ihre

1263

wurde

der

Erzbischof freigelassen; er versprach in einer neuen Sühne nichts mehr

zu unternehmen,

was

die

Eintracht der Bürger zu untergraben im

Stande sei.

Natürlich war der Bischof weit davon entfernt, diesem Spruche und

einem ähnlichen vom 14. Mai 1264 nachzukommen; grollend zog er sich nach Bonn zurück und versäumte keine Gelegenheit, um den Kölnern in

kleinlicher Weise zu schaden.

So kam eS dazu, daß man noch einmal

das abgenutzte Mittel der Sühne versuchte.

Und

diesmal gelang

es

wirklich, die lange Reihe vorhandener Beschwerden soweit zu heben, daß

Papst Clemens IV. am 3. August 1266 den Auftrag zur Aufhebung deS von Engelbert immer noch nicht cassierten Interdikts ertheilte.

Damit schien denn endlich die Zeit eines definitiven Friedens, einer von Allen ersehnten Ruhe gekommen.

Allein Engelbert wollte nicht Ruhe

halten, kaum war sein Zwist mit der Stadt beigelegt, so begann er neue

Zölle und Weggelder zu erheben, um seinen zerrütteten Finanzen aufzu­ helfen.

Allgemein war die Empörung hierüber bei den umwohnenden

Herren, wie in der Stadt; namentlich Wilhelm von Jülich protestierte

gegen diese neuen Verordnungen.

Statt aller Antwort hierauf rückte

Engelbert an der Spitze eines Kriegshaufens in'S Jülichsche ein.

Diese

Verwegenheit sollte er bitter büßen; eS kam zu einer unglücklichen Schlacht

zwischen, ihm und dem von Köln unterstützten Grafen;

Engelbert wurde

gefangen nach der Feste Niedeggen gebracht und hier vom October 1267

bis zum Frühjahr 1271 in strengem VerwahrniS gehalten.

Bann unb

Interdikt für Jülich und Köln seitens des päpstlichen Legaten Bernard

von Castaneto folgten diesem Creigniß, freilich ohne in Jülich und Köln auch nur den geringsten Eindruck zu machen.

Die Freude war groß, daß

der Störenfried deS Niederrheins auf ein paar Jahre vom Schauplatze der Dinge wenigstens persönlich verschwunden war; und die Sage hat später nicht verfehlt, diese lange Gefangenschaft deS hartköpfigen Herrn

mit wenig schmeichelhaften Zügen auSzustatten.

Der Graf legte den Erz­

bischof, so erzählt die Kölhoffsche Chronik von 1499, in so grotS und

stark iseren Bessere und in ein so unbequeme Plaatze, bat he binae bolt Heben was-

Item dartzo macht men bem bischof ein iseren Geremsse aS

ein VogelSkorv büßen an ber Muren vam Sloß, umb ben zo beschimpen;

ind ber Bischof moste barin gaen sitzen inb barbinnen büßen, so oft unb so lange aS ber Graf wölbe. Jnbeß war ber Bischof auch in seiner Gefangenschaft keineswegs un­ thätig, Zwietracht zu säen.

Er benutzte hierzu jenen unglücklichen Grund-

zug aller verfallenden HandelSaristokratien, den gegenseitigen Haß unb bie Cliquenwirthschaft ber maßgebenden Geschlechter.

Seine Werkzeuge waren

ber DeutschorbenSbruber Wolfart unb ber Pfarrer Heinrich von S. Co­

lumba in Köln; sie verstanden es, einen alten Familienzwist zwischen bem

Geschlechte ber Weisen (Sapientes) von ber Mühlengasse unb ben Over­ stolzen zu städtischen Wirren aufzubauschen.

Die Weisen wie ber jetzt erbliche unb barum vom Erzbischof nicht mehr abhängige Stabtvogt Rülger von Eppenborf würben in Folge bieses

Zwistes für ben Erzbischof gewonnen; prunkend» erschienen sie in Grün unb Scharlach, ben Farben des Erzstifts; höhnend vereitelten sie eine

Sühne,

welche die Overstolzen

ihnen unter Vermittlung des Grafen

Köln im Mittelalter.

528

Wilhelm von Jülich vorgeschlagen hatten.

Vielmehr wandten sie sich an

die Zünfte und suchten dieselben gegen die Overstolzen zu entflammen.

Einen starken Beistand fanden sie hierzu in dem derzeitigen Bürger­ meister Ludwig von der Mühlengasse.

So schien alles einem blutigen Confltkt entgegenzutreiben,

als die

Overstolzen unter Führung des Grafen von Jülich sich entschlossen, fest

durchzugreifen; der Bürgermeister Ludwig wurde gefangen gesetzt; gegen die Weisen wollte man ebenso vorgehen, als sie sich in die Kirchen und

Immunitäten unter geistlichen Schutz flüchteten.

Alles erschien jetzt für

die Overstolzen gewonnen; fröhlich setzten sie sich mit Wilhelm von Jülich, dem Edelvogt Rütger und anderen Rittern wenige Wochen darauf in dem städtischen Hofe des Jülicher Grafen zu einem größeren Bankett nieder.

Allein kaum hatte das Fest begonnen, so schrie man von draußen, die Weisen seien auf den Straßen, das Volk rücke unter ihnen gegen die Höfe der Overstolzen und den Jülicher Hof.

Alles floh bestürzt zunächst

vor die Thore an S. Gereon; erst später sammelte man sich auf den Stra­

ßen der südlichen Stadttheile.

Nur einer war vom Bankett nach der

Stadt zu gegangen und hatte sich sofort in Wehr und Waffen geworfen; eö war der Edelvogt Rütger, welcher sich jetzt seinen alten Sympathien

folgend an die Spitze der Weisen stellte.

In den Straßen der Stadt aber

begann ein blutiges Ringen, das uns der Sänger dieser Kämpfe, Meister Godefrit Hagen, fast in homerischer Weise schildert.

Noch geben in diesen

Kämpfen persönliche Tapferkeit und energische Ausdauer den Ausschlag;

das Beispiel der Vornehmen wirkt wie ein Zauber, eö entscheidet die

Schlacht.

Als daher der edle Vogt Rütger unter den Streichen seiner

Bankettgenossen sterbend znsammenbrach, als Mathias Overstolz den mitt­ lerweile aus seiner Haft entflohenen Bürgermeister Ludwig im Kampfe tötlich traf, da stoben die Weisen in fluchtartigem Rückzüge auseinander.

Ihres Bleibens war in der Stadt nicht länger; sie entflohen nach Bonn und hielten von dort aus die Verbindungen mit den Zünften in Köln aufrecht.

An der Spitze der Zünfte in Köln stand der Demagog Hermann

der Fischer; er behauptete, daß

es mit einer Hülfe von 500 Kriegern

wohl gelingen würde, sich des Stadtregiments zu bemächtigen.

Es fragte

sich nur, wie man diese Hülfe von 500 Kriegern in die Stadt hineinbringen könnte.

Da fand sich ein wundersamer Ausweg.

Dicht an der

Ulrepforte, einem kleinen Thor in der südlichen Stadtmauer, wohnte ein armer Schuster, Habenichts mit Namen; der erbot sich, die Mauern zu

unterhöhlen und die Helfershelfer der Weisen in die Stadt zu lassen.

Auf dieses Angebot hin warben die Weisen Bundesgenossen, den

Herzog Walram von Limburg, den Grafen Dietrich von Cleve und den Bruder deS Erzbischofs, Dietrich von Falkenburg.

In der Nacht vom

14. zum 15. October 1268 zog dieses saubere Kleeblatt gegen der Kölner Wall heran; aber der Graf von Cleve schämte sich unterwegs des Un­ ternehmens und ritt von dannen.

Die Uebrigen kamen an die bezeich­

nete Mauerstelle; sie strömten hindurch und ordneten sich in den der Mauer benachbarten Gärten zum Angriff,

In diesem Augenblick erschaut ein schlichter Bürger, Hermann Vin­ kelbart, ein Freund der Overstolzen, daS feindliche Heer; in raschem Lauf

eilt er zur Altstadt und weckt die Overstolzen.

ES entsteht Lärm in der

Stadt; man ruft Waffen, die Straßen füllen sich, alles tobt in der fin­ stern Nacht durcheinander.

Indes während die Zünfte mit ihrer schwer­

fälligen Heeresorganisation sich noch sammelten, um den Etngedrungenen zu helfen, waren die Overstolzen schon am Platze.

Etwa 40 Mann stark

zogen sie unter dem Befehl Matheis OverstolzenS aus und unternahmen heldenmüthig den Kampf gegen die eingedrungene Uebermacht. fielen im

Scharf

ersten Morgengrauen die Kölnischen Hiebe auf die fremden

überraschten Streiter, hell tönte der Kampfruf, dumpf und gewichtig traf

die Keule der Geschlechter; allein es war kein Zweifel, daß sie über kurz oder lang der Uebermacht unterliegen mußten.

Da saßt Costhn Crop, einer der mitkämpfenden Geschlechter, einen verwegenen Gedanken; im Galopp verläßt er den Kampfplatz und eilt nach der Stadt zu den unter Hermann dem Fischer versammelten und

kampfbereiten Bruderschaften.

Mit kräftigen Worten mahnt er die Zünfte

an ihre gemeinsame Geburt, ihr gleiches vaterstädtisches Interesse uud

fordert sie auf, den Overstolzen gegen den eingedrungenen Feind zu hel­ fen.

Was man nicht zu denken gewagt hatte, geschieht: die Zünfte folgen

den Geschlechtern in den Kampf an der Ulrepforte. Jetzt war Kölns Sieg nicht mehr zweifelhaft; zwar bedeckten die

vornehmsten Geschlechter, unter ihnen Matheis Overstolz, todt oder schwer getrosten den Kampfplatz, aber der Feind wurde zu unaufhaltsamer Flucht gedrängt.

Auf der Flucht durch die

enge Pforte wurde noch mancher

edle Knecht, mancher gute Ritter gefangen; nicht am letzten der Herzog

Walram von Limburg.

Zwar war er schon durch das Mauerloch ent­

wichen, aber da faßte ihn noch rasch eine kräftige Hand von hinten und zog ihn unsanft wieder in's Innere der Stadt. —

Die Stadt war gerettet, bewahrt vor dem schrecklichsten aller Bürger­

kriege, in welchem auswärtige Kriegerhorden eine übermüthige Rolle ge­

spielt hätten.

Unter den Thaten des Stadtkölnischen Heroismus wird

die Nacht vom 14. auf den 15. October, die Nacht der heiligen drei

Köln im Mittelalter.

530

Mohren des Jahres 1268 unvergessen bleiben, solange die Stadt noch

steht; wenigstens lebt sie noch jetzt in der Erinnerung der Kölnischen Be­ völkerung.

UnterdeS saß der Erzbischof Engelbert immer noch fest im Schlosse Niedeggen; Graf Wilhelm von Jülich schien entschlossen, ihn nur gegen

ein bedeutendes Lösegeld, zugleich unter Aussöhnung mit Köln frei zu geben.

In der That kam

eL unter Vermittelung des Dominikaners

Albert des Großen, der wie ein guter Geist friedebringend über diesen

Jahrzehnten waltet, zu einer letzten Sühne zwischen der Stadt und dem harten Bischof, den 16. April 1271.

In ihr gewähren sich Stadt und

Erzbischof gegenseitig Amnestie, von welcher nur die Häupter der Weisen ausgenommen werden, sonst werden im Wesentlichen die Punktationen des Laudum Conradinum von 1258 aufrecht erhalten.

Als ständige

Ueberwachungscommission dieser Sühne, der letzten großen politischen That Alberts, werden eben Bruder Albert, der Chorbischof von Köln, Wilhelm

von Jülich und Gerhard von Landskron eingesetzt. Am 20. April wurde diese vom Stadtschreiber Godefrit Hagen in

der Stiftskirche S. Maria ad Gradus öffentlich verlesen, und mit ihr zog endlich Friede in die Kirchenhallen und in die Straßen der Stadt.

Engelbert von Falkenburg war zur Ohnmacht verdammt, dem schreck­ lichsten Zustande für seinen hochfahrenden @inn;x er starb zu Bonn am

20. October 1274 und wurde in der dortigen Münsterkirche bestattet. — Auf Erzbischof Engelbert II. folgte Siegfried von Westerburg 1274—1297;

ein hochgemuther Herr, der das Schwert besser zu führen verstand, als

den Krummstab; so recht eine Persönlichkeit voll stolzen Trotzes und über­ hebender Selbstherrlichkeit, zu welchen die lange Zeit des Interregnums

kräftige Naturen zeitigen mußte.

Indeß hielt der neue Erzbischof eine ganz andere Politik ein, als sein Vorgänger; die Lage des Erzstiftes zwang ihn hierzu.

Noch unter

Conrad von Hochstaden war das Kölnische Erzstift daS bedeutendste Fürsten­

thum des Westens gewesen: wohin aber war eS unter Engelbert II. ge­ rathen!

Bei der geringen Ausbildung des Verwaltungsmechanismus im

früheren Mittelalter hing die Bedeutung jeder Herrschaft wesentlich vom

regierenden Fürsten selbst ab; mit ihm stand und fiel das Gewicht des

Territoriums.

Engelbert II. unzuverlässiger Character, seine fortwähren­

den politischen Niederlagen und seine endliche Unbedeutendheit hatten da­ her dem Einfluß deS Kölnischen ErzstifteS die empfindlichsten Stöße ver­

setzt.

DaS Alles galt es jetzt für seinen Nachfolger Siegfried ungeschehen

zu machen:

die alte Größe des ErzstiftS war sein Ideal.

Und diese

Größe war denn doch im Wesentlichen eine territoriale, sie beruhte auf

der doppelten Herzogsgewalt Kölns; ihr gegenüber kam die Stadtherr­

schaft erst in zweiter Linie in Betracht. Mit vollem Rechte schlug daher Siegfried den einst schon von Conrad von Hochstaden im Beginn seiner Regierung betretenen Weg ein: ersuchte

sich mit der Stadt Köln leidlich zu stellen, um zunächst die umherliegen­

den in kräftigstem Aufschwung begriffenen Territorialgewalten, namentlich Jülich, zu treffen. Das Verhältniß von Stadt und Erzbischof blieb zunächst ein fried­ liches: der Erzbischof löste die Stadt vom Bann und Interdikt; man

versprach sich gegenseitig Wahrung der alten Rechte und Freiheiten.

Mit

diesem Friedensschluß ging die volle Wiederherstellung der Geschlechter­

herrschaft Hand in Hand; schon vorher waren sie im Stadtregiment wie­

der zu ihrem alten Einfluß gelangt, jetzt wurden ihnen auch die früher confiScirten Rheinmühlen wenigstens zur Hälfte wieder zugesprocheu. Nach dieser Ordnung der Stadtkölnischen Verhältnisse begann Sieg­ fried den Kampf mit Wilhelm von Jülich und dessen Verbündeten.

Er

führte ihn rasch nnd glücklich; es scheint als hätten ihm die Kölner in diesem Kampfe gegen den alten Freund sogar geholfen. Voller Friede trat allmählich ein, nachdem Graf Wihelm, ein Mann unbändigen Geistes und ungezügelter Thatkraft 1278 von einem Schmiede oder Metzger zu

Aachen erschlagen worden war; fast 10 Jahre inneren Aufschwungs und neuer Stärkung folgten.

Dann aber nahte sich auch der Stadt Köln ein Sturm, welcher schon seit 1280 die Länder am Niederrhein in Kampf und Verwirrung stürzte. 1280 war Herzog Watram von Limburg ohne direkte männliche Erben gestorben; nur eine Tochter hatte er, Irmgard, welche mit dem Grafen Reinald von Geldern vermählt war.

Dagegen hatte ein jüngerer Bru­

der des Herzogs Walram einen Sohn: dies war Graf Adolf von Berg. Nach dem Tode Walrams 1280 beanspruchten nun beide Grafen, von Geldern wie von Berg, die Erbschaft Limburg; und da der Graf von

Berg sich nicht stark genug fühlte, seine Ansprüche durchzusetzen, so über­

trug er sie dem Herzoge Johann von Lothringen und Brabant.

Zwischen

dem Grafen von Geldern und dem Herzoge von Brabant erbob sich da­ her ein wüster Krieg, in den allmählich alle niederrheinischen Fürsten her­

eingezogen wurden; so auch 1285 Erzbischof Siegfried von Köln. Bald trat auch

bei dieser Kriegführung, wie meist im 13. und

14. Jahrhundert eine empfindliche Ebbe in den Kassen des Erzbischofs

ein, welche ihm die Fortsetzung des Krieges zur Unmöglichkeit, machte.

Da

griff er zu dem alten Mittel, sich Einkünfte zu verschaffen; er legte neue Zölle und Steuern auf und erklärte dabei die Stadt Köln von diesen

Köln im Mittelalter.

532

neuen Auflagen frei, um sich die Gunst der Kölner nicht zu verscherzen.

Indes half diese feierliche Erklärung wenig gegenüber der Thatsache,

daß der Kölner Handel durch die neuen Verkehrserschwerungen in Wahr­ heit doch empfindlich geschädigt wurde; auch gewann der Erzbischof auf

diese Art doch Mittel, welche ihn zugleich der Stadt gegenüber unabhän­ giger hinstellten, wie früher.

Und auf der andern Seite waren die Kölner

sich jetzt ihrer Kraft bewußt; sie wollten allem Anlaß, welcher zu neuen Wirren führen konnte, vorbeugen; wie eine Quelle sich ausdrücktcives potentes sunt et non possunt sustinere dominum.

DaS waren von beiden Seiten die Ursachen, welche bei einem ge­

ringen äußeren Anlaß zum Ausbruch der alten noch unvergessenen Feind­ schaft führten.

Ein solcher Anlaß ergab sich

in

dem

Burgenbau des

Erzbischofs bei Worringen zwischen Neuß und Köln, welchen die Stadt als gegen ihren Rheinhandel gerichtet ansah.

Schlimm war es aber,

daß alle diese kleinen Differenzen sich nun an den Limburger Erbfolge­ krieg anlehnten; war der Erzbischof von Köln auf die Seite Reinalds

von Geldern getreten, so verband sich jetzt, wohl in der zweiten Hälfte

des Jahres 1287, Köln mit dem mächtigen Herzoge von Brabant.

Mit

der Stellungnahme der Stadt und des Erzstiftes Köln waren jetzt alle

Mächte des Niederrheins an diesem blutigen Ringen betheiligt; die Erb­

folgefrage wurde spruchreif, eine baldige Entscheidung mußte endlich den

Knoten lösen.

Sie siel bei Worringen Angesichts der neuen erzbischöf­

lichen Burg, am 5. Juni 1288. Auf der weiten sumpfigen Haide trafen sich am St. BonifaciuStage die niederrheinischen Schaaren, und ein Ringen, so blutig wie keines sonst in diesem Jahrhundert begann; fünf Stunden währte es, ehe die Entschei­

dung nahte.

Sie fiel durch die Tapferkeit hauptsächlich der Kölner Bürger

zu Gunsten des Herzogs von Brabant.

Als man am Abend des Tages

das Brachfeld übersah, bedeckten Massen von todten Streitern, darunter

viele edle Herren, den Boden; hierzu kamen viele vornehme Gefangene, nicht am letzten der Erzbischof Siegfried, welcher vom Grafen von Berg in Gewahrsam genommen wurde.

Nach der Schlacht konnte sich die Feste

Worringen nicht mehr halten, sie fiel, und unter Frohlocken führten die Kölner Bürger die Reste der stolzen Burg nach Köln, um sie zum Bau

deS städtischen MauerringS zu verwenden. In der Nacht nach der Schlacht kam der Herzog von Brabant stark

verwundet in einem Kahn den Rhein herauf nach Köln, mit ihm Trup­

pen des siegreichen Stadtheeres.

Ein begeisterter Empfang wartete ihrer

in der Stadt; schon sehr bald scheint man die große Bedeutung dieses

Sieges in der Stadt erkannt zu haben, man feierte ihn durch Stiftung

einer Bonifaciuscapelle auf confiscirtem erzbischöflichem Grund und Bo­

den und erhob den 5. Juni zum offiziellen Festtage. In der That bildet der Sieg bei Worringen den Abschluß der Köl­

nischen Entwickelung im 13. Jahrhundert. Mit diesem Erfolge war'die Emancipation der Stadt von der Herrschaft des ErzbischofeS für immer

besiegelt und zugleich der Character der Verfassung als einer Patricier-, einer Geschlechterherrschaft für die nächstfolgende Zeit ausgesprochen. Schon bald, am 28. Juni 1288, folgte dem Siege bei Worringen der Vergleich zwischen Stadt und Erzbischof: freilich führte er nicht von Neuem das

frühere freundliche Verhältniß zwischen beiden Mächten herbei.

Die Stadt

war übermächtig; der Bischof fühlte sich besiegt, beeinträchtigt, bedrückt. Nach einigen kraftlosen Versuchen, der Stadt noch Schwierigkeiten zu be­ reiten, starb er 1297 zu Bonn und wurde im dortigen Münster bestattet. Sein Nachfolger Wicbold von Holte 1297—1304 war ein ruhiger Geist von gereifter Erfahrung und großem Wissen; endlich einmal ein Gegensatz zu den vielen streitbaren und streitsüchtigen Herren, welche seit Kaiser Friedrichs Zeit den Stuhl von Köln bestiegen hatten. Sofort

begann er mit Erfolg an der Herstellung eines friedlichen Verhältnisses zwischen Stadt und Stift zu arbeiten; auch die Zwistigkeiten, welche sich 1301 an das Eingreifen Königs Albrechts in die unsinnige Zollpolitik der rheinischen geistlichen Kurfürsten anknüpften, wurden doch schließlich beigelegt; am 24. October 1301 kamen Verträge zwischen dem König, Wicbold und der Stadt zu Stande, denen zufolge der Erzbischof auf alle Zölle und Wegegelder innerhalb des Erzstiftes gegenüber den Kölnern verzichtete. So lagen die Dinge, als Wicbold am 28. Mai 1304 zu Soest verschied. Mit dem Tode WicboldS stehen wir am Ende einer der bedeutungs­

vollsten Epochen der Kölnischen Stadtgeschichte. Zwei Jahrhunderte tren­ nen uns jetzt von der Zeit, wo sich noch die Erzbischöfe als Herren der Stadt fühlen durften, wo sie fast unumschränkt über die Hülfsmittel der

reichsten Stadt Deutschlands geboten. Eine gewaltige Entwicklung hatte die inzwischen eingetretenen Veränderungen in sechs Generationen geschaf­ fen, voll von Kampf und heroischer Ausdauer, von Sieg und Niederlage auf beiden Seiten. Aber endlich nach unsäglichen Mühen hatte die Stadt

doch dem Erzbischof das Heft aus der Hand gewunden; dierevolutionären Mächte der Stadtfreiheit erhoben sich allgewaltig über die alten historisch verbürgten und verbrieften Rechte des Stadtherrn. Das Wort des Dich­ ters, daß Gesetz und Rechte sich wie eine ewige Krankheit forterben, ist

wahr für jede stagnirende Entwicklung, nirgends bewährte sich seine Wahr­

heit mehr in der deutschen Städtegeschichte, als zu Köln. Preujiische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft:>.

In diesem lan36

534

Köln im Mittelalter.

gen Zeitraum von 200 Jahren sehen wir mit Ausnahme der bald um­

gestürzten Versuche Engelberts I. keine einzige positive Maßregel gegenüber der Stadt von den Erzbischöfen ausgehen, welche zu einer Neuordnung der Dinge führen konnte; keine einzige Sicherheit ward von ihnen ge­ schaffen für den wahrscheinlichen Fall einer allmähligen Erhebung des

patricischen Bürgersinns. In reiner Defensive günstigen Falls, vielfach aber in wenig lauterer Offensive erscheinen die Erzbischöfe um die Mitte

deö 13. Jahrhunderts: man wird sich nicht Wundern dürfen, wenn ihre Nachfolger in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts die wenig angenehmen Folgen einer solchen Politik in vollem Umfange zu tragen hatten. Hiergegen auf städtischer Seite glückliche Initiative, Ausdauer und Heroismus — und dem entsprechend Erfolge trotz aller blinden Ver­ trauensseligkeit. Das naive Selbstbewußtsein, mit dem der Bürger den Kampf begann und durchführte, war die beste Bürgschaft eines endlichen

Erfolges; es zeigt die zunehmende Selbständigkeit der bürgerlichen Ent­ wicklung bis zur vollen Mündigkeit beim Abschluß des Kampfes. Mit dem Beginn des 14. Jahrhunderts war die Stadt nach außen hin wie in ihrer Verfassung und Verwaltung auf eigene Füße gestellt: auf dieser Grundlage beruht die Entfaltung deö Kölnischen Stadtlebens zunächst im 14. und 15. Jahrhundert. K. Lamprecht.

Kant und der preußische Staat. Gedächtnißrede gehalten in der Kant-Gesellschaft zn Königsberg am 22. April 1882

von

Hans Prutz.

Acht Jahrzehnte, — so viel wie nur wenigen Sterblichen zu leben

vergönnt wird, umfaßt das Leben des großen Denkers, dem diese festliche Stunde der Erinnerung geweiht ist.

Dieselben vertheilen sich auf drei der

wichtigsten Perioden aus der neueren Geschichte; insbesondere umfassen sie ein großes, inhaltreiches und inhaltschweres Stück von der Geschichte des preußischen StaateS.

Als Knabe hat Immanuel Kant die harte, arbeitsreiche und freude­ lose Zeit Friedrich Wilhelms I. gesehen.

Der Jüngling war Zeuge von

dem ersten glorreichen Siegesläufe Friedrichs des Großen.

Als Mann

stand ct unter dem Eindruck des verzweifelten Ringens, in welchem der König die Existenz seines Staates gegen das verbündete Europa verthei­ digte, und war dann ein dankbarer Bewrinderer und ein geistig ebenbür­

tiger Genosse desselben im Dienste der Aufklärung.

Als Greis hat er in

voller Erkenntniß ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung die französische Re­ volution und ihre Ausmündung in die rechtlose Militärherrschaft Bona­

partes gesehen, und als er endlich, müde und den Tod ersehnend, abge­

rufen wurde, da war die Entwickelung bereits in vollem, beschleunigtem Gange, welche den Zusammenbruch des deutschen Reiches herbeiführte und auch dem Staate Friedrichs des Großen eine Katastrophe sondergleichen

bereitete.

Welch anziehenden, anregenden und ergiebigen Stoff bot diese lange Kette welterschütternder Ereignisse einem denkenden Betrachter von dem weitumfassenden und tief

eindringenden Blicke

eines Kant!

Wie viel

mußte er aus dieser Fülle der Erfahrung gewinnen für die Ergründung

der Menschen und des Menschengeistes!

Wie mächtig mußte er sich auf« 36*

gefordert fühlen aus der Masse der scheinbar regellosen Erscheinungen die großen, unwandelbaren, ewig waltenden Gesetze zu erschließen, welche die

Entwickelung der Menschheit beherrschen! Auch wissen wir, daß Kant die großen Ereignisse seiner Zeit mit

lebhafter Theilnahme begleitet hat.

Ja, die verschlungenen Pfade der

Politik des Tages reizten seinen Verstand, und gern hat er die combina­ torische Schärfe desselben an ihnen geübt.

Freilich beschäftigte Kant sich

in anderer Weise mit der Politik als man das heute zu thun pflegt.

Er

war weit entfernt von der schwächlichen, aber bequemen Fiction, durch die man in unseren Tagen die zunehmende politische Gleichgültigkeit zu recht­

fertigen sucht, daß die Politik moralisch gefährlich sei, weil die Beschäfti­ gung mit ihr den Charakter verderbe.

Denn obgleich er in einer Zeit

lebte, wo die Regierten von jeder ernsteren Antheilnahme an den öffent­

lichen Angelegenheiten ausgeschlossen waren, hat Kant doch die Berechti­

gung derselben zur politischen Discussion und zur Geltendmachung ihrer

Einsicht alle Zeit nachdrücklich vertreten und in dem Kreise, dessen Mittel­ punkt er war, für seine Person von diesem Rechte auch stets ausgiebigen

Gebrauch gemacht.

Aber von seinem gelehrten Beruf hat er die Politik

stets unerbittlich fern gehalten.

„Seine Studierstube war nie der Ort,

wo über politische Gegenstände gesprochen werden durfte: erst bei Tisch, während der freundschaftlichen Tafelrunde wurden die wichtigsten Tages­

ereignisse, Siege und Friedenschlüsse freimüthig behandelt"*). bewies Kant

Auch dabei

seine Fähigkeit sich vermöge der staunenswerthen Energie

seines Denkens selbst in die fremdesten Verhältnisse bis zu vollem Ver­ ständniß zu vertiefen, so daß er sich nicht blos darin zurecht fand, sondern

gleichsam darin lebte.

„Sein weitreichender Scharfsinn in der Politik

drang sehr tief in das Innere der Ereignisse, so daß man oft eine mit

den Geheimnissen der Cabinette bekannte diplomatische Person reden zu hören glaubte"**). Als einen Deutschen hat Kant sich dabei freilich nicht gefühlt, ja sich

nach den damals gegebenen Verhältnissen auch nicht wohl fühlen können. Nicht ohne Stolz aber nannte er sich einen Unterthanen Friedrichs deS Großen.

So weit in jener Zeit von nationalem Sinn und patriotischem

Gefühl überhaupt die Rede sein kann, ist Kant davon erfüllt und sich

seiner Zugehörigkeit zu dem preußischen Staate immer mit Freuden be­

wußt gewesen.

Und nicht blos äußerlich, insofern er preußischer Professor und als

*) W-sianSki S. 19-20. **) Ebendas. 20.

solcher vorzugsweise aus die preußische Jugend zu wirken berufen war,

hat Kant zu dem preußischen Staate in einem näheren Verhältniß ge­

standen, sondern er war demselben, vielleicht ohne sich dessen immer klar bewußt zu sein, noch durch besondere, sehr innerliche, weil tief in seinem

eigenartigen Wesen begründete Beziehungen auf das Engste verbunden. der preußische Staat war für Kant

Ja, fast könnte man sagen: der Staat überhaupt.

Denn das Denken des großen Philosophen ist

überall da, wo eö politische Dinge und diese berührende Probleme zu be­ handeln hatte, unwillkürlich zunächst von der Betrachtung des preußischen

Staates

ausgegangen

und

schließlich zu derselben wieder zurückgekehrt.

Von diesem abstrahierte Kant die meiste» der von ihm aufgestellten all­

gemeinen politischen Sätze, unb bei den praktischen Winken und Rath­

schlägen, die er gelegentlich giebt, hat er gewöhnlich zunächst die beson­ deren Verhältnisse und Bedürfnisse des preußischen Staates im Auge ge­ habt.

Für das eigenartige Wesen desselben offenbart er dabei ein tiefes

Verständniß, und daher hat auch auf die Entwickelung desselben der dem praktischen Leben so fern stehende Weltweise in mancher Hinsicht einen

tiefgehenden und nachhaltig wirkenden Einfluß ausüben können.

In ge­

legentlichen Andeutungen zwar nur, aber klar und bestimmt hat Kant,

von einer unbefangenen Kritik der bestehenden Ordnung ausgehend, das

Ziel

bezeichnet,

auf welches, bei

vernunftgemäßer Entwickelung seiner

inneren Zustände, der preußische Staat schließlich hinauskommen mußte,

und der Geist, aus welchem kurze Zeit nach seinem Tode an der Stätte seiner einstig«en Wirksamkeit der Neubau des zertrümmerten preußischen

Staates begonnen wurde,

war der aus der Kantischen Philosophie und

ihrem kategorischen Imperativ geborene Geist der Hingebung an die Pflicht

unb der Treue in beren Erfüllung bis zum Tobe. Dem Gedächtniß des großen Denkers, dessen 158. Geburtstag pietät­

voll zu begehen wir uns nach

altem Herkommen hier zusammengefunden

haben, und zugleich den Anforderungen der ernsten Zeit, in der wir leben, gerecht zu werden, sei es mir daher gestattet, Kants Verhältniß zu dem preußischen Staate andeutend zu besprechen und in ihren Haupt­ momenten die Wechselwirkungen aufzudecken, welche zwischen beiden be­ standen haben.

Lernen wir dabei das Bild des edlen Philosophen viel­

leicht von einer Seite kennen, die man bisher weniger ins Auge gefaßt hat, so dürfen wir zugleich hoffen zwischen ihm und der Gegenwart eine engere Beziehung herzustellen durch Nachweisung des Zusammenhanges,

in dem sein Leben und seine Lehre mit den Aufgaben derselben stehen

und daher auch heute noch eine Quelle praktisch verwerthbarer Erkenntniß werden können. —

Vergegenwärtigt man sich die Verhältnisse des preußischen Staates in KantS Jugend, so begreift man, daß dieselben auf den empfänglichen

Sinn des Knaben einen tiefen Eindruck machen und denselben frühzeitig mit einem gewissen patriotischen Stolze erfüllen, aber auch zu einer ernsten und strengen Auffassung des Staates führen mußten.

Als Kant (1724) geboren wurde, war der letzte der großen nordi­ schen Kriege unlängst beendet und das Land zwischen Weichsel und Memel,

welches einst das Schwert des Deutschen Ordens christlicher und deutscher Cultur gewonnen und der starke Arm der Hohenzollern vor der drohenden Polonisierung geschützt hatte, endlich befreit von der Gefahr der Trennung

von Deutschland und der Einfügung in das baltische Reich der Wasas.

Zugleich hatte die Erwerbung des Landes an den Odermündungen Preußen unter den nordischen Mächten die Stellung gegeben, ohne welche es die

Hut der deutschen Grenze gegen das in slawischer Unbändigkeit aufstrebende Rußland nicht erfolgreich wahrnehmen konnte.

Und schon waltete Preußens

seit länger als einem Jahrzehnt, streng gegen sich selbst wie gegen seine Diener und Unterthanen, in selbstloser Hingabe und unentwegbarer Pflicht­

treue Friedrich Wilhelm L, in vorbildlicher Weise gleichsam die Verkör­ perung des kategorischen Imperativs auf dem Throne.

Schon hatte der­

selbe in das durch Hunger und Seuchen entvölkerte Ostpreußen den be­ lebenden und befruchtenden Strom der Colonisation gelenkt, welcher aus

dem gesegneteren Westen den preußischen Städten fleißige und erwerbs­ tüchtige Bürger, dem flachen Lande arbeitslustige Bauern zuführte.

Kant

stand im achten Lebensjahre, als die Salzburger Emigranten durch seine

Vaterstadt strömten,

um der Religion willen von HauS und Hof ver­

trieben, voll begeisterten Dankes der ihnen von dem hochherzigen König

gebotenen neuen Heimstätte zuwandernd.

Sicherlich ist der geweckte Knabe

mehr als einmal Zeuge gewesen von den ergreifenden Scenen, welche sich

in der Zeit vom Mai 1732 bis zum Juni 1733 in Königsberg wieder­ holten, indem allmählich 10000 Salzburger auf 66 Schiffen, von Stettin

her über See kommend, den Pregel aufwärts in die Stadt einfuhren und bei der Landung von dem Rathe und der Geistlichkeit, der Bürgerschaft

und der Schuljugend feierlich empfangen, kirchlich eingesegnet und gastlich bewirthet

wurden.

Manchesmal wird Kant mit seinen Altersgenossen

nach dem Brandenburger Thor geeilt sein um dem Einzug der Flüchtlinge

zuzusehen, welche die Reise nach dem fernen Nordosten zu Wagen auf dem

Landwege gemacht hatten. Konnte die Lehre, daß der Staat erhaben sei über dem Hader der Confessionen, konnte die hehre Idee der religiösen Toleranz dem 'empfäng­

lichen Geiste eines gemüthvollen Kindes wohl eindringlicher nahe gebracht

werden? Mußte, wer solche Eindrücke empfangen hatte, nicht sein Innerstes

sich empören fühlen, wenn er Intoleranz üben sah?

Nach dieser Vorbereitung hat Kant die 46jährige Regierung Friedrichs

des Großen mitdurchlebt und ist selbst eine der Zierden des durch sie ge­ kennzeichneten Zeitalters geworden. Als Kant im Herbst 1740,

ohne sich einem bestimmten Fach als

Brotstudium zu widmen, die Universität bezog, rüstete sich König Friedrich zu dem ersten Waffengange um die Gewinnung Schlesiens.

Als er seine

Studien beendete, war der zweite schlesische Krieg auSgefochten und Preußen Die folgenden Jahre des Friedens

als europäische Großmacht anerkannt.

für Preußen sind für Kant die des unscheinbaren HauslehrerthumS, zu­

gleich aber des inneren AusreifenS und der Sammlung für die akade­

mische Thätigkeit.

Es ist bezeichnend, daß Kant seine erste größere Schrift,

die 1755 erschienene „Allgemeine Naturgeschichte des Himmels" dem König

Friedrich widmete.

Aber kaum hat er seine akademische Lehrthätigkeit mit

viel verheißendem Erfolge begonnen, da scheint mit dem siebenjährigen

Kriege der Untergang des preußischen StaateS hereinzubrechen und Kants Heimath muß noch einmal fürchten aus dem Verbände mit dem Hohen-

zollernstaate herausgerissen zu werden.

Auch in KantS Schicksal griff die rauhe Hand des Krieges störend ein.

Am 22. Januar 1758 rückten die Russen in Königsberg ein, die

Albertus-Universität kam für längere Zeit unter die Leitung eines - russi­

schen Generals, und von diesem wurde Kant die erste gehoffte und reich­ lich verdiente Anerkennung zu Gunsten eines unbedeutenden Mitbewerbers

versagt. Erst der Friede von 1762 brachte für Ostpreußen und Königsberg die Herstellung der alten Ordnung.

Aber die Provinz und deren Haupt­

stadt hatten ihr doch unverschuldetes Unglück mit der dauernden Ungnade deS Königs zu büßen.

Um so bemerkenswerther ist eS, daß der Königs­

berger Philosoph von derselben nicht mitbetroffen wurde, sondern wieder­ holt die erfreulichsten Beweise von dem Interesse und dem Wohlwollen

der Regierung empfing. ihm

Dieselbe erkannte seine Verdienste an und suchte

eine denselben entsprechende Stellung zu schaffen.

Aber erst das

Jahr 1770 brachte Kant die ordentliche Professur, gerade noch zur rechten

Zeit, um ihn, der zugleich nach Erlangen und nach Jena berufen war, dem preußischen Staate und seiner heimathlichen Universität zu erhalten. An leitender Stelle wußte man diese glückliche Fügung zu schätzen, um so mehr als ein Jahr danach der hochverdiente, von edelstem Streben

erfüllte Freiherr von Zedlitz an die Spitze des preußischen UnterrtchtswesenS trat.

Es ist bekannt, mit welcher Verehrung dieser geniale Staatsmann

zu dem Königsberger Professor aufblickte; wie er die Thätigkeit desselben als eine besonders zweckentsprechende und ersprießliche den übrigen aka­

demischen Lehrern zum Vorbilde empfahl; wie er wiederholt den Versuch

machte Kant nach Halle zu ziehen und damit in eine Stellung zu bringen, wo derselbe auf viel weitere Kreise wirken konnte, als das in dem damals noch mehr als heute entlegenen Königsberg möglich war; wie er stolz

darauf war sich den Schülern desselben zuzählen zu können und die Muße,

welche die Pflichten deö Amtes ihm ließen, mit dem Studium eines Kan­

tischen Heftes über physische Geographie ausfüllte.

Und Kant hat den

Werth dieses schönen Verhältnisses vollkommen gewürdigt: er fand darin einen tiefern, für die von ihm vertretene Sache bedeutungsvollen und

förderlichen Sinn.

Es war nicht eine leere Form und noch viel weniger

eine von den Huldigungen, wie sie wohl Streber den auf ihr Fortkommen

Einfluß zu üben berufenen Mächtigen darzubringen pflegen, wenn Kant

sein Hauptwerk, die ein neues Zeitalter der Philosophie eröffnende „Kritik der reinen Vernunft" (1781) dem Unterrichtsminister Friedrichs des Großen

widmete.

Es lag darin zugleich eine Huldigung für den König, der diesen

Mann auf seinen Posten berufen hatte, und der Schöpfer der neuen Phi­

losophie bekannte sich damit gleichsam feierlich zu dem preußischen Staate als demjenigen, der die heraufdämmernde neue Zeit vorzugsweise zu tragen

berufen schien.

Ganz ähnlich aber stellte sich der preußische Staat seinerseits zur

Kantischen Philosophie. Kant hatte bereits die Schwelle des Greisenalters überschritten, als der große König starb.

Er bekleidete gerade die Würde eines Rektors

der Albertina und hatte daher, als im September 1786 Friedrich Wil­ helm II. zur Huldigung nach Königsberg kam, denselben an der Spitze

der Universitätsdeputation zu begrüßen und die Huldigungsansprache zu halten.

Er selbst wurde bei dieser Gelegenheit als die Hauptzierde der

Universität gefeiert.

Der König begrüßte ihn huldvoll als den „großen

Philosophen", und der Minister von Hertzberg, der sich als Huldigungs-

commissar in dem königlichen Gefolge befand, zeichnete Kant in fast demon­ strativer Weise aus.

Auch wurde derselbe bald danach durch eine bedeu­

tende Gehaltszulage erfreut. Damals stand Kant auf dem Höhepunkte seiner Laufbahn.

Der

preußische Staat selbst bekannte sich gewissermaßen zu seiner Philosophie, ja dieselbe wurde sozusagen als die von Staatswegen zu lehrende pro-

clamiert.

Im Wintersemester 1788 wurde Johann Gottfried Kiesewetter

auf Friedrich Wilhelms II. Kosten nach Königsberg geschickt, um unter

Kants eigener Leitung dessen Philosophie zu studieren.

Danach eröffnete

Kiesewetter 1791 in Berlin unter dem besonderen Schutze von Wöllner öffentliche Vorlesungen über Kantische Philosophie, welche sich eines er­

staunlichen Zulaufs erfreuten. Zwar stand König Friedrich Wilhelm II. seiner ganzen Natur nach der Philosophie im Allgemeinen und der Kantischen im Besondern sehr

fern, aber, obgleich er das Reltgionsedikt schon erlassen hatte (1788), ge­

fiel er sich doch darin den Beschützer der Philosophie und gelegentlich sogar den Freidenker zu spielen.

Möglicher Weise waren gewisse poli­

tische Rücksichten dem nicht ganz fremd.

und

Kants Ruhm erfüllte die Welt,

in Deutschland verehrte man in ihm den ersten Philosophen des

Jahrhunderts.

In den Augen der Zeitgenossen kam das dem Staate zu

gute, welchem er diente.

Die wunderbare Macht, welche der Name des

Königsberger Professors damals besaß, lernte Friedrich Wilhelm II. selbst

kennen, als er auf dem Wege zu der gegen Frankreich bestimmten Armee

am 19. Juli 1792 bei der Durchreise in Würzburg von den Studenten feierlich empfangen wurde unter dem Vortritt von Marschällen, golddurchwirkte Schärpen die Aufschrift trugen:

deren

Regiomontum in Bo­

We­

russia et Wirceburgum in Franconia per philosophiam unita*).

nige Monate später ging

der Würzburger Professor Reuß

mit Unter­

stützung seines Landesherrn, deö Bischofs Franz Ludwig von Erthal, nach Königsberg um die Kantischc Philosophie an der Quelle zu studieren.

Eben in jener Zeit aber bereitete sich der erste Gegenstoß vor.

Schon

Reuß fand Veranlassung die Kantische Philosophie gegen die Anklage der

Religionsfetndlichkeit zu vertheidigen, welche in „frommen Conventikeln"

gegen sie erhoben wurde.

Auch hatte er gegen die „Frechheit" zu eifern,

mit der man in gewissen Kreisen den Ursprung der französischen Revo­

lution aus den Lehren unterfing.

des Königsberger Philosophen

herzuleiten

sich

Im Jahr 1794 aber trat der Conflikt für Kant selbst ein.

Die Veröffentlichung der vier unter dem Titel „Religion innerhalb der

Grenzen der bloßen Vernunft" vereinigten Aufsätze, die 1793 in Königs­ berg erschienen, zog Kant jene Kabinetsordre vom 12. October 1794 zu,

worin ihm schuld gegeben wurde seine Philosophie zur Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christenthums gemißbraucht zu haben.

In unverantwortlicher

Weise sollte er damit gegen seine Pflicht als Lehrer der Jugend

und

gegen die ihm wohlbekannten landesväterlichen Absichten des Königs ge­ handelt zu haben.

Er wurde ermahnt, sich dergleichen in Zukunft nicht

*) Schubert, Leben Kants S. 115.

wieder zu Schulden kommen zu lassen, widrigenfalls er die strengsten Maßnahmen zu gewärtigen haben werde.

Wir wissen, wie Kant dem gegenüber handelte.

„Widerruf und

Verläugnung seiner inneren Ueberzeugung — so schrieb er in jenen Tagen

auf einen seiner Gedenkzettel — ist niederträchtig; aber zu schweigen in

einem Falle wie der gegenwärtige ist Unterthanenpflicht, und wenn alles,

was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht alle Wahr­ heit öffentlich zu sagen."

In diesem Sinne, die Sache dabei völlig ge­

heimhaltend, erwiderte er dem Könige.

Als „Sr. Majestät getreuster

Unterthan" erklärte er feierlichst, daß er sich fernerhin jeder öffentlichen

Aeußerung

über Religion enthalten

Wilhelm II. lebte,

hat Kant

wollte — und

über Religion weder

lassen noch eine Vorlesung gehalten.

so

lange Friedrich

eine Zeile

drucken

In seiner milden Weise aber machte

er den König selbst nicht verantwortlich für das Wöllnersche Treiben, „das, wie er sagt, schließlich zu einem sich immer mehr von der Vernunft entfremdenden Glauben führte*)".

Vielmehr sah er in Friedrich Wil­

helm II. auch später noch einen „tapfern, redlichen,

menschenliebenden

und — von gewissen Temperamentseigenschaften abgesehen — vortreff­

lichen Herrn", und vergaß es nicht, daß derselbe ihn persönlich gekannt

und von Zeit zu Zeit Aeußerungen der Gnade an ihn hatte gelangen lassen**).

Aber er beurtheilte den ganzen Vorgang doch als einen Ab­

fall des preußischen Staates von seinem Berufe und von den großen

Traditionen der friderieianischen Zeit.

Er athmete erleichtert auf, als

mit Friedrich Wilhelm III. der Geist königlicher Toleranz wieder die Herrschaft gewann.

Unbedenklich ließ er jetzt den „Streit der Facultäten"

und damit eine Darstellung seines Confliktes mit dem Wöllnerschen System in die Oeffentlichkeit hinausgehen, da nun, wie er sagt, „eine aufgeklärte,

den menschlichen Geist seiner Fesseln entschlagende und eben durch diese

Freiheit des Denkens desto bereitwilligem Gehorsam zu bewirken geeignete Regierung diesen Blättern den Ausflug gestattet". Wir sehen, Kant hat während der langen Zeit seines philosophischen

Schaffens und seiner litterarischen Produktivität zu dem preußischen Staate äußerlich lind innerlich in besonderen Beziehungen gestanden.

ES ist nun

die Frage, in welcher Weise diese auf sein philosophisches Denken einge­

wirkt haben und in demselben von ihm zum Ausdruck gebracht worden sind. Von der Einsicht und Bildungsfähigkeit der großen Menge hat Kant eilte ziemlich geringe Meinung gehabt.

Daher war er auch weit davon

entfernt für dieselbe einen Antheil an der Leitung des Staates zu ver*) Streit der Facultäten, Borrede, Werke 7, 330. **) Ebendas. 323.

langen.

Was er in dieser Hinsicht theoretisch,

gewissermaßen als das

Ideal einer fernen Zukunft aufgestellt hat, war zunächst doch nur eine

Reihe von Postulaten,

welche unter den zur Zeit thatsächlich gegebenen

Verhältnissen eine praktische Verwirklichung nicht zu hoffen hatten, wohl aber für die mit der Staatsleitung Beauftragten ein Antrieb sein sollten, ihres Amtes im Geiste des ihnen gewordenen Auftrages in treuer Hin­

gebung lind mit äußerster Gewissenhaftigkeit zu walten. Der Staat beruht nach Kant auf einem Vertrage, welcher auch in

jedem einzelnen Fall die besondere Staatsform bedingt.

Auf diese und

die in ihr gegebenen Verschiedenheiten legt Kant kein großes Gewicht. Staatsformen sind ihm

Die

„nur der Buchstabe der ursprünglichen Gesetz­

gebung im bürgerlichen Zustande, und sie mögen also bleiben, so lange

sie, als zum Maschinenwesen des Staates gehörig, durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjektiv) für nothwendig gehalten werden"*)/ ES

ist bezeichnend, daß Kant mit seinem Zeitgenossen Schlözer, einem der Be­

gründer deS StaatSrechtS als einer besonderen Wissenschaft, den Staat als eine Maschine betrachtet, für deren Güte zunächst die Einfachheit der

Construktion maßgebend ist.

Wie Schlözer von dem Staatsoberhaupte

als dem „Maschinendirektor" spricht, so notiert Kant einmal: „Eine Mon­ archie ist ein Bratenwender, eine Aristokratie eine Roßmühle, eine De­

mokratie ein Automat, welcher, wenn er sich selbst aufzieht und nur immer

gestellt werden darf, eine Republik heißt.

Der letzte ist der künstlichste".

Zur Lösung der Aufgaben, welche dem Staate gestellt sind, scheint ihm die Monarchie am meisten geeignet, zunächst weil sie die einfachste Staats­ form ist.

„Man wird leicht gewahr, sagt Kant nämlich, daß die auto­

kratische Staatsform die einfachste sei, nämlich von Einem (dem König) zum Volke, mithin wo nur einer Gesetzgeber ist.

Was die Handhabung

des Rechtes im Staate betrifft, so ist die einfachste auch die beste"**). Nicht der philosophischen Theorie nach, wohl aber in der poli­

tischen Praxis ist Kant also entschiedener Monarchist, d. h. er

stellt sich rückhaltlos auf den Boden der durch die geschichtliche Entwicke­ lung gegebenen Verhältnisse seiner Zeit.

Er ist darin ein richtiger Sohn

des Zeitalters der absoluten Monarchie und insbesondere ein Verehrer

deS aufgeklärten Despotismus, wie derselbe in der glorreichen Regierung Friedrichs des Großen zum Ausdruck gekommen ist. Andererseits aber täuschte Kant sich auch nicht über die Gefahren, welche dieses System mit sich bringen kann.

Die StaatSform, welche er

eben, weil sie die einfachste sei, auch für die beste erklärt hat, nennt er

*) Rechtslehre I, 1, 152. ** ) W. 7, 157.

(Werke 8, 158.)

selbst gleich danach „die gefährlichste für das Volk, was das Recht

selbst anlangt (nämlich im Gegensatz zu der Handhabung des Rechts), in Betreff des Despotismus, zu dem sie so sehr einladet".

Er hebt selbst

hervor, daß die Einfachheit doch nicht den alleinigen Maßstab abgeben

könne für die theoretische Werthschätzung der verschiedenen Staatsformen. „Das Simplificiren, sagt er, ist zwar im Maschinenwesen der Bereinigung des Volkes'durch Zwangsgesetze die vernünftigste Maxime: wenn nämlich

alle im Volke passiv sind und Einem, der über sie ist, gehorchen. das giebt keine Unterthanen als Staatsbürger.

Aber

Was die Ver­

tröstung, mit der sich daö Volk befriedigen soll, betrifft, daß nämlich die Monarchie (eigentlich hier Autokratie) die beste Staatsform sei, wenn

der Monarch gut ist, d. h. nicht blos den Willen, sondern auch die Einsicht

dazu hat, gehört zu den tautologischen Weisheitssprüchen und sagt nichts mehr als: die beste Verfassung ist die, durch welche der Staatsverwalter

zum besten Regenten gemacht wird, d. h. diejenige, welche die beste ist." Es handelt sich in Folge dessen darum die Garantien für eine gute Regierung des autokratischen Staates zu finden.

Und da weist Kant nun welche alle Zeit be­

zunächst nachdrücklich hin auf die Wechselwirkung,

standen hat und besteht zwischen der Art, in welcher ein Volk regiert wird, und dem sittlichen Zustande, in dem es selbst sich befindet.

Er meint, im

Allgemeinen werde jedes Volk so regiert, wie es regiert zu werden ver­ dient.

Die Ursachen etwaigen Mißbehagens habe es daher eher bei sich

selbst als bei der Regierung zu suchen. er*),

„Bei allgemeiner Ueppigkeit, sagt

klagt man über die göttliche Regierung und die Regierung der

Könige, man bedenkt nicht: 1) daß, was die letztere anlangt, eben dieselbe Ehrbegierde und Unmäßigkeit, welche den Bürger beherrschen, auf dem

Throne keine andere Gestalt haben können als wie sie haben — 2) daß solche Bürger nicht anders können regiert werden.

Sei allererst selbst

weise, rechtschaffen und mäßig: diese Tugenden werden bald zum Throne aufsteigen und den Fürsten auch gut machen.

Sehet die schwachen

Fürsten, welche in solchen Zeiten Gütigkeit und Großmuth blicken lassen:

können sie solche wohl anders auöüben als mit großer Ungerechtigkeit

gegen andere, weil diese in nichts anderes ihre Großmuth setzen als in die Austheilung eines Raubes, den man anderen entwendet hat.

Die

Freiheit, die ein Fürst ertheilt, so zu denken und zu reden als

ich jetzt thue, ist wohl so viel werth als viele Vergünstigungen

zu einer größeren Ueppigkeit.

Denn durch jene Freiheit kann

alles dieses Ueble noch gebessert werden"**). *) W. 7, 157. **) 8, 623.

ES ist kaum zu bezweifeln, daß bei diesem Tadel des einem üppigen Volke entsprechenden üppigen und der freien Meinungsäußerung feindlichen Fürsten Kant

die Zustände Preußens unter Friedrich Wilhelm II. im

Auge gehabt hat, daß dagegen das hier angedeutete Ideal eines absoluten Herrschers auf Friedrich den Großen und auf die Zeiten Friedrich Wil­

helms III. Hinweisen soll.

Denn in der Auffassung des Verhält­

nisses zwischen Fürsten und Volk kommt Kant, von dem Stand­

punkt des Unterthanen ausgehend, genau zu demselben Ergeb­

niß, zu welchem Friedrich der Große von dem Standpunkte des Herrschers aus gelangt war.

Mahnte Kant die Unterthanen: Seid

allererst selbst rechtschaffen, weise und mäßig,

beinahe

wörtlich

mit Friedrichs

so deckt sich das

des Großen Ausspruch, der

Fürst solle den Staat als dessen erster Diener „so weise, so redlich und uneigennützig verwalten, als wenn er jeden Augenblick seinen Mit­

bürgern Rechenschaft ablegen müßte". Wie Friedrich der Große, so faßt auch Kant die Stellung dcö ab­

soluten Monarchen keineswegs als eine völlig uneingeschränkte. ist sie moralisch eng gebunden und daher höchst verantwortlich.

Beiden

Der dem

Staate zu Grunde liegende Vertrag verpflichtet nach Kant den Regenten „der Idee des Staates entsprechend zu regieren, d. h. die Re-

gierungSart, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und continuirlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen

Verfassung, nämlich nach

einer reinen Republik,

zusammen stimme,

und jene

alten

ihren Wirkungen

empirischen

(statutarischen)

Formen, welche blos die Unterthänigkeit des Volks zu bewirken dienen,

sich in die ursprünglichen (rationalen) auflösen, welche allein die Frei­

heit zum Princip, ja zur Bedingung alles Zwanges machen, der zu einer rechtlichen Verfassung litt eigentlichen Sinn des Staates erforderlich

ist, und dahin auch dem Buchstaben nach (d. h. nach der äußeren

Verfassungsform) endlich führen wird" *).

Diesen Beruf der absoluten Monarchie die Völker zur Freiheit zu erziehen wird nun nach Kant am ersten derjenige Herrscher erfüllen, wel­

cher,

ohne sich der unumschränkten Gewalt in irgend einem Punkte zu

entäußern, doch aufgeklärt genug ist um bei dem Gebrauche, den er davon, namentlich bei der Gesetzgebung macht, seine Unterthanen freimüthig ihre

Meinung äußern zu lassen, d. h. dieselben nicht zur politischen Unmün­ digkeit zu verurtheilen.

Denn es sei für daS Staatsoberhaupt ohne Ge­

fahr, wenn den Unterthanen erlaubt werde von ihrer eigenen Vernunft

*) 7, 158.

öffentlich Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Ab­ fassung der Gesetze, sogar mit einer freimüthigen Kritik der schon gege­

benen, der Welt öffentlich vorzutragen— „davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch kein Monarch demjenigen vor­

ging,

welchen wir verehren.

Aber auch nur derjenige,

der,

selbst

aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiöciplinirtes Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann daS sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: Räsonnirt so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, nur gehorcht!" Diese von einem einsichtigen Mo­ narchen gewährte Freiheit des Denkens wirkt bildend und läuternd auf

den Sinn des Volkes und macht dasselbe allmählich fähiger und würdiger

der Freiheit.

In allmählicher Wandelung ihrer Grundsätze wird schließ­

lich die Regierung selbst eS für zuträglich finden, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln*).

Man sieht, die ganze Staatsrechtstheorie Kant's ist im Wesentlichen

auf den Staat Friedrichs deö Großen zugeschnitten.

Von den in diesem

gegebenen Verhältnissen sind ihre Fundamentalsätze abstrahirt; ihre Aus­

führungen exemplificiren auf dessen Zustände und Ordnungen. Einzelnheiten wiederholt sich dieser Zusammenhang.

Auch in

Wenn Kant einmal

vom Adel sagt, derselbe habe zuweilen nur die Bestimmung, die Sub­ ordination und zugleich den Ehrbegriff im Kriegswesen als Werkzeug der obersten Gewalt zu befördern**), so bezeichnet er damit ziemlich genau die Stellung, welche der Adel unter der absoluten Monarchie im Allge­

meinen und in dem preußischen Staate im Besonderen damals einnahm.

Andererseits freilich zeigt Kant in der Beurtheilung des Heerwesens mehr die ehrenwerthe Weichherzigkeit des Aufklärungszeitalters als politisches

Verständniß für die harte Nothwendigkeit.

Der gemeine Soldat erscheint

ihm entehrt und er erklärt die Lage desselben für eine menschenunwürdige. Den vagabundirenden Privatdozenten Penzel, der sich als Uebersetzer des

Strabo bekannt gemacht,

hielt vornehmlich Kant von dem akademischen

Katheder zurück, „indem er ihn für einen niederträchtigen Menschen hielt,

weil

er seinen Soldatenstand so ruhig bisher ertragen hatte".

Penzel

hatte sich nämlich in seiner Noth anwerben lassen und stand als gemeiner

Musketier bei einem Regiment in Königsberg***).

Dann haben wohl

die Erfahrungen, die er selbst mit dem Wöllner'schen System gemacht hatte, Kant geleitet, wenn er es für unwürdig der Obrigkeit erklärt sich

irgend in Sachen des kirchlichen Glaubens einzumischen. *) Was ist Aufklärung? W. 4, 167-68. **) 8, 642. ***) Schubert, Kants Leben 80.

Denn sie setze

sich „dabei als bei einem Schulgezänk" auf den Fuß der Gleichheit mit ihren Unterthanen:

der Monarch mache sich zum Priester.

Könne der

Gesetzgeber schon im politischen Gebiete ein Verbot künftiger Reformen nicht

erlassen, so könne er sein Volk noch viel weniger zwingen wollen

immer dasselbe zu glauben*). Idealistischer Republikaner in der Theorie war Kant in

der politischen

Praxis

unfraglich

Die politische Ordnung aber,

Monarchist,

ja Absolutist.

welche er für die zur Zeit beste erklärte,

sah er doch an als der Vervollkommnung fähig und bedürftig.

Er ließ

sie nur als eine später zu überwindende Durchgangsstufe gelten.

Auf

welche Weise diese vervollkommnende Entwickelung geschehen würde,

hat

er ebenfalls bestimmt ausgesprochen. Zwar hat nach Kant das Volk auch demjenigen Fürsten gegenüber,

der seine Gewalt mißbraucht, nicht das Recht des Widerstandes.

Unter

keinen Umständen kann es gegen seinen Oberherrn Feindseligkeiten ver­

üben, weil dieser ja das Volk vorstellt.

Auf das Nachdrücklichste hat sich

Kant wiederholt gegen die ihm zugeschriebcne Behauptung des Gegen­ theils verwahrt.

Wohl aber hat er dem Volke alle Zeit das Recht vin-

dicirt über die etwaigen Fehler der Regierung sein Urtheil offen auszu­

sprechen,

das Recht der Gegenvorstellung und der Bekanntmachung des

Bessern.

Denn der Souverän ist nicht der vereinigte Vvlkswille; dieser

soll erst allmählich herauskommen:

„Schriften müssen das Oberhaupt so

wie das Volk in den Stand setzen das Ungerechte einzusehen." Auf diesem Wege wird nach Kant die dem dermaligen Stande der

Entwickelung entsprechende absolute Monarchie fortschreitend sich allmäh­ lich zur wahren Republik umbilden, d. h. zu einem Staate, der nicht mehr Maschine ist, dessen Angehörige daher nicht mehr blos Unterthanen, son­

dern Staatsbürger sind.

In dieser Richtung, so faßt Kant die Verhält­

nisse auf, bewegt sich der preußische Staat unter Friedrich dem Großen, und die Zeit Friedrich Wilhelms III. dürfte Kant kaum wesentlich anders

beurtheilt haben.

Den Abschluß dieser Entwickelung aber kann nur

die Einführung einer Verfassung bezeichnen.

„Alle wahre Re­

publik, sagt Kant, ist und kann nichts Anderes sein als ein re­ präsentatives System des Volkes um im Namen desselben,

durch

alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten das Recht zu besorgen" **). Wie Kant sich nun den Uebergang von der absoluten Monarchie zur

verfassungsmäßig beschränkten für Preußen gedacht hat? — Merkwürdiger

*) W. 7, 145-146. "*) 7, 157.

Weise genau so, wie er sich nach mancherlei Irrungen und schweren inneren

Stürmen in der Hauptsache wenigstens thatsächlich vollzogen hat! Kant

spricht

Herrscher ab.

den

Unterthanen

jedes

Widerstandsrecht

gegen den

Das einmal geltende Recht, mag es noch so gewaltthätig

sein, hat den Anspruch.auf bedingungslosen Gehorsam, so lange es nicht ausdrücklich durch die dazu berechtigte Instanz aufgehoben worden ist, d. h.

den Herrscher selbst.

durch

Daher hat daS Volk auch nicht die Mittel

seine etwa gewonnene bessere Einsicht in Thaten umzusetzen.

Vielmehr

kann eine Reform immer nur aus dem Willen deS Herrschers hervor­ gehen.

Mithin kann auch eine Einschränkung der bisher unumschränkten

Herrschermacht nur durch den Willen des Herrschers selbst herbeigeführt werden,

d. h. die von Kant als Ziel der Entwickelung auch für

Preußen anerkannte Rcpräsentativverfassung kann allein durch

Octrohirung eingeführt werden.

Nur auf diesem Wege wird die nach Kants Auffassung unerläßliche Kontinuität der Entwickelung und die Einheit des Rechts gewahrt.

Da­

her will Kant auch nichts wissen von einer constituirenden Versammlung, welche, zeitweilig als höchste Autorität eingesetzt, daS Verhältniß zwischen

Herrschern und Beherrschten für die Zukunft regeln soll in der Weise etwa, wie das seit 1789 in Frankreich versucht wurde. gerade dieses Versuchs

Der Ausgang

konnte Kant in seiner Theorie nur

bestärken.

Daher sagt er: „Sobald ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag

sein König, Adelstand oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein) sich auch repräsentiren läßt, so repräsentirt das vereinigte Volk nicht blos den Souverän, sondern es ist dieser selbst; (dem Volke) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt,

denn in ihm

von der alle

Rechte der Einzelnen als bloßer Unterthanen abgeleitet werden müssen,

und die nunmehr errichtete Republik hat nicht mehr nöthig die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen und sie denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten und die nun alle neuen Anordnungen durch

absolute Willkür wieder vernichten könnten" *) — ein Satz, In dem Kant doch wohl die Summe zieht aus der Geschichte Frankreichs in den Jahren

1789—1793.

Im Gegensatz dazu verlangt Kant von dem

absoluten

Königthum, daß es seines Berufes alle Zeit eingedenk sei, niemals klein-

müthig werde und keiner Gefahr und keiner Schwierigkeit gegenüber die

Verantwortung auf andere Schultern abzuwälzen versuche.

Er kennt eben

keine andere Majestät als die einer einzelnen physischen Person, die über

alle anderen im Staate Gewalt hat.

Daß man von Volkssouveränetät

spreche, will er sich im Einklang mit seiner Theorie noch gefallen lassen,

der Au-druck VolkSmajestät aber, welchen, wie er sagt, sich „die schwin­

delnden Republikaner" oft entfahren lassen „fällt in'S Lächerliche"*). Niemand wird diese staatsrechtlichen Philosopheme KantS als eine prophetische Hinweisung auf den späteren Entwickelungsgang deS preußi­ schen Staates auffassen oder gar darin ein mit bewußter Absichtlichkeit aufgestelltes politisches Programm erblicken wollen.

Wohl aber bezeugt

die Uebereinstimmung zwischen der Theorie KantS und der nachmaligen

Gestaltung deS preußischen Staates die

wunderbare Congenialität deS

Philosophen mit den Ideen, die während der folgenden Jahrzehnte in der

Geschichte Preußens die

eigentlich leitenden gewesen sind.

Die staats­

rechtliche Seite der Kantischen Philosophie ist aus dem Geiste geboren,

welcher die Größe des preußischen Staates begründet hat.

Der Geist der

Kantischen Philosophie ist es gewesen, der in den Jahren des Elends und

der Erniedrigung Preußen jene stählerne Spannkraft gegeben hat, vermöge

deren es, je tiefer eS gebeugt wurde, nm so mächtiger und höher wiederum emporschnellte. Friedrich Wilhelm III. hat sicherlich keine Kenntniß gehabt von dem

Satze KantS, daß der Monarch sich niemals repräsentiren lassen und der Verantwortung entlasten dürfe, wenn er nicht gleich auf alle Gewalt und auf sein ganzes Recht verzichten wollte, als er 1807 unter dem peinvollen

Druck der französischen Contributionsforderungen und unheilvollen politi­ schen Zumuthungen, den kleinmüthigen Vorschlag Schön's ablehnte, welcher dahin ging die Gnade deS Imperators durch weitere Abtretungen an Ge­ biet zu erkaufen, die Verantwortung dafür aber auf eine schleunigst ein-

zuberufende Vertretung deS Volks abwälzen wollte **).

Der König und die

Männer, welche ihm dabei zur Seite standen, wrißten auch ohne die Philo­

sophie KantS studiert zu haben, was Ehre und Pflicht geboten, denn auch so hörten und verstanden sie den kategorischen Imperativ, der sich mächtig in ihrem Innern regte.

Generationen deS preußischen und deS deutschen Volkes sind unter dem Einfluß der Kantischen Philosophie und der von ihr auögegangenen

mächtigen Anregung gebildet worden.

Generationen

hindurch hat der

preußische Staat in selbstloser Hingebung an unerfüllbar scheinende Hoff­ nungen und oft mit Undank gelohnt für die Zukunft Deutschlands gear­

beitet, das Volk in seinen besten Männern nacheifernd dem leuchtenden

Beispiel strengster Erfüllung der klar erkannten und fest im Auge behal­ tenen Pflicht, daS die Nachfolger des großen Friedrich in Sinn und Geist *) 8, 640—641. *») S. Hassel, Preußen« Politik 1807—1813 I, S. 70. Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft 5.

37

Kant und der preußische Staat.

550

KantS und seines kategorischen Imperativs ihm vor Augen gestellt haben und noch vor Augen stellen.

preußischen Staats

Selbst hervorgewachsen aus dem Wesen des

ist dieser Kantische Geist das Fundament und die

Seele desselben geworden und geblieben.

Nicht der vielbesprochene preu­

ßische Schulmeister, — dessen Verdienst darum nicht herabgesetzt sein soll, sondern Kant und sein Geist haben die siegreichen Schlachten geschlagen, denen wir ein mächtiges Preußen und durch dieses und in diesem ein

einiges und geehrtes Deutschland verdanken.

Auch unsere erbittertsten Gegner erkennen das an.

Denn als im

Juli 1881 die französische Deputirtenkammer das Unterrichtsgesetz Jules

Ferrh's berieth, daS den confessionellen Religionsunterricht durch eine all­ gemeine Unterweisung in der Moral ersetzen wollte, erhoben die Gegner

namentlich den Einwand, daß es eine Moral ohne die Grundlage der Religion überhaupt nicht gebe.

Und da erwiderte Jules Ferry mit dem

Hinweis auf die von dem deutschen Philosophen Kant begründete morale

du devoir, ans welcher die Laienmooral,

um die eS sich hier handele,

beruhe*). Von allen Huldigungen, welche dem Andenken Kants in dem Säcularjahre der Kritik der reinen Vernunft dargebracht worden sind, ist diese

von einem der leitenden Staatsmänner der französischen Republik aus­

gehende wohl die

charakteristischste

und

zugleich die

bedeutungsvollste.

Nachdrücklich weist sie auf den praktischen Werth hin, welcher der Kanti­ schen Philosophie auch in unseren Tagen noch beiwohnt und berührt eine

Seite in der Entwickelung des preußischen StaateS, welche niemals ver­

gessen werden sollte. —

*) National-Zeilnng 27. Juli 1881.

Wildendruch's Harold. Die Aufführung des „Harold" auf der Königlichen Bühne und die überaus günstige Aufnahme von Seiten des Publikums kann einem Freunde der aufstrebenden Kunst nur willkommen fein: es zeigt wiedereinmal, daß die Scheu unserer Theater vor idealistischen Stücken in dem Geschmack

des Publikums keineswegs ihre unbedingte Begründung findet.

Ich gebrauche den Ausdruck „idealistisch", weil er der geläufigste ist,

obgleich er sich mit der Sache nicht ganz deckt.

Jeder echte Dichter muß

sowohl Realist als Idealist sein: Realist, indem er die Bilder und Stim­ mungen seiner Seele in greifbare Gestalten umzusetzen versteht; Idealist,

insofern er den Zuhörer aus dem Kreise der Alltagsvorstellungen in eine

höhere Sphäre erhebt.

Man bezeichnet diejenigen Stücke als idealistisch,

welche die letztere Absicht von vornherein durch ihre Form wie durch ihren

Inhalt bekunden. Solche Stücke sind zu allen Zeiten nur eine Ausnahme gewesen, und

man thut dem Geschmack unserer Tage Unrecht, wenn man ihm die be­

sondere Neigung zuschreibt, sich ausschließlich im Alltagsleben zu bewegen. ES war nicht anders in der „classischen" Zeit unseres Dramas —, die beiläufig nicht über zwölf Jahre dauerte: sie fängt mit dem Wallenstein an und endet mit dem Prinzen von Homblirg —: Iffland und Kotzebue

machten stets volle Häuser und sie waren auch unter Goethe's Direction

der eigentliche Stock des Weimarer Theaters; seine eigenen Stücke wie die seines Freundes ließ Goethe nur ausnahmsweise als Erfrischung auf­ führen.

Was Schiller als Programm seiner neuen dramatischen Thätig­

keit 1796 in den Lernen ausspricht, gilt noch heute. „Uns kann nur das Christlich-Moralische rühren, und was recht po­

pulär, häuslich und bürgerlich ist. . . .

„Man sieht bei uns nur Pfarrer,

Commerzienräthe, Fähndriche, SecretärS oder Husarenmajors." — „Aber

ich bitte dich Freund: was kann denn dieser Misere Großes begegnen? waS kann Großes denn durch sie geschehen?" —

„Was? Sie machen

Cabale, sie leihen ans Pfänder, sie stecken silberne Löffel ein, wagen den

37*

Mlbenbnrch'S Harold.

552

Pranger und mehr. . . .

UnS selber und unsre guten Bekannten, unsern

Jammer und Noth suchen und finden wir hier."

U. s. w. —

Die Regel kann das idealistische Drama niemals werden, einfach weil dazu die Kräfte nicht ausreichen.

In der classischen Zeit versuchte

zuletzt Alles zu idealisiren, weil es Mode wurde, auch Kotzebue leistete

Großes darin; aber jeder Unbefangene

wird seine „KlingSberge" oder

seine „Kleinstädter" seinem „Bayard", „Gustav Wasa", „Gisela", „Schutzgeist" u. s. w. vorziehen; dort ist er wenigstens aufrichtig der er ist, hier schneidet er ideale Grimassen, die nur einen närrischen Eindruck machen.

Nicht verdrängen soll die eine Gattung des Dramas die andere, aber sie soll sie ergänzen, denn ohne eine solche Ergänzung würde das Theater

versumpfen.

Das bürgerliche Drama, zu gewissen Zeiten nothwendig, wen» das Volk sich über seine eigenen Zustände orientiren will, führt nothwendig schwer wiegende Uebelstände mit sich.

Ist der Dichter ehrlich und ge­

wissenhaft in seiner Kunst, so führt er seine Zuhörer in Conflicte, die

außerhalb

deS gemein

Menschlichen,

des

eigentlich Poetischen

liegen.

In der echten Poesie steht der Held Gott und dem Weltlauf oder dem Schicksal gegenüber; im bürgerlichen Drama tritt der Ober-Cercmonicn-

meister, der Staatsanwalt und der Strafrichter an deren Stelle, unb das

drängt den Zuhörer ins Gebiet der Prosa.

Zu zeigen, waS ich meine,

führe ich zwei ausgezeichnete Dramen an: Ifflands „Verbrechen aus Ehr­

sucht", das eigentlich diese Richtung anbahnte, und aus neuerer Zeit Otto

Lndwig'S „Erbförster", in der realistischen Ausführung ein Meisterstück — aber wer könnte sich des bänglichen trüben Eindrucks erwehren, da das

erregende Motiv die unerlaubte Unkenntniß des Gesetzes ist! Ist dagegen der Dichter weniger gewissenhaft, und kommt eS ihm mehr auf die augenblickliche Wirkung an, so vermeidet er leicht dieses

Bängliche, indem er die Rührung ins Spiel zieht,

und durch weibische

Thränen alle sittlichen Conflicte inS Fließen bringt: der widerlichste Miß­

brauch eines wirklichen Talents. Endlich lastet auf allen bürgerlichen Dramen der Fluch einer gewissen Eintönigkeit.

Schiller'S Speisekarte ist noch heute maaßgebend, nur ein

neues Motiv ist dazu gekommen.

Früher ging jedes Drama auf eine

Hochzeit aus, neuerdings wird die Frau dem Dichter erst interessant, wenn

sie unter die Haube gekommen ist.

Dann treten eheliche Conflicte ein:

Sie wird von Ihm nicht verstanden, wenigstens von einem Dritten besser verstanden, oder Er verliebt sich in eine Dritte; Er gewöhnt sich das Trinken an oder Sie ist putzsüchtig und verschwenderisch.

Die Zahl dieser

Combinationen, abgesehen von den StandeScostümen, Künstler, moderner

Philosoph, Zofe, Gräfin, Banquiers Frau u. s. w. ist verhältnißmäßig

sehr gering.

Diese Monotonie ist der eigentliche Grund, warum die

Franzosen so gern zu der Würze deS Lasters greifen, um doch in das

ewige Einerlei einige Abwechselung zu bringen. der dramatische Dichter müsse seine eigene Zeit

Man sagt wohl,

schildern, die ihm doch am besten bekannt sei.

Aber was eigentlich die

Größe seiner Zeit auSmacht, ist ihm ja versagt; ich wollte den Drama­

tiker sehen, der eS unternehmen würde z. B. unsern Reichskanzler auf

das Theater zu bringen! Das Große der eigenen Zeit, also das wahre Leben der Zeit darzu-

stellcn, ist der moderne Dramatiker nicht im Stande.

Will er also über­

haupt großen weltbewegenden Naturen nachempfinden, so muß

er den

Schauplatz seiner Handlung in die Ferne rücken; er muß die kleinlichen Rücksichten der Convenienz auswischen, und dem Zuschauer die Perspective eröffnen, die ihm allein eine große Erscheinung als Ganzes sichtbar macht. Wer das unternehmen will, muß zunächst über eine gewisse sinnliche

Kraft verfügen. finden.

Er kann die Photographie nicht anwenden, er muß er­

Er darf nicht

in den Ton der gewöhnlichen Conversation ver­

fallen, er muß eines stärkeren erhöhteren Ausdrucks mächtig sein; eines leidenschaftlichen Ausdrucks, der den Zuhörer auch da mit fortreißt, wo

er ihn in eine fremde Region einführt.

Da endlich große Gestalten, um

auf der richtigen Höhe zu stehn, eine reiche Umgebung nöthig haben, so

muß der idealistische Dichter die Kunst der Gruppirung, der Architektur, der leidenschaftlichen Bewegung in weit höherem Grad verstehen als der

bürgerliche Dichter.

Er muß Massenwirkungen hervorbringen können,

stürmisch erregt und doch übersichtlich und kenntlich in ihrem Jneinandergreifen.

DaS sind Vorzüge, die man bei Wtldenbruch in hohem Maaße

anerkennen muß: und das will nicht wenig sagen.

Er hat eine blühende

feurige Sprache, die großer Steigerungen fähig ist und dabei dem Schau­ spieler sehr bequem liegt.

Die Gruppenbilder, die er hervorruft, gliedern

sich natürlich und mit Anmuth, jeder Acteur steht an dem Ort, wohin

er gehört, keiner stört den andern.

Der Dichter hat die Tableaux, die

er beabsichtigt, vor Augen, sie scheinen ungesucht zu kommen und sind doch

künstlerisch berechnet.

Die Ausdrücke, die er den Empfindungen seiner

Helden leiht, kommen aus seiner eigenen Empfindung und klingen daher

ebenso natürlich wie wuchtig. Diese sinnlichen Vorzüge sind eS, welche dem Dichter die Gunst der Schauspieler und deS Publikums verschafft haben: eS ist mir erlaubt htn-

zuzufügen, daß sie auch bet sämmtlichen Mitgliedern der Schillercommission

volle Würdigung

gefunden haben.

Schauspielerisch

betrachtet, ist das

Stück eine vorzügliche Leistung. — Hier die Handlung im Umriß.

König Eduard von England, ein bis zum CretiniömuS schwächlicher

Mensch, steht ganz unter dem Einfluß normannischer Barone, die darauf auSgehn, ihrem Lehnsherrn, dem Herzog Wilhelm die Nachfolge im König­

In ihrem Uebermuth verüben sie gegen die Bürger

reich zu verschaffen.

Londons unerhörte Gewaltthaten.

Diese sächsischen Bürger suchen Hilfe bei dem Helden ihrer Nation, dem Grafen Harold.

Er verheißt sie ihnen, trägt auf seinem Schloß

ihre Beschwerden in sehr harten und bitteren Worten dem König vor, und schlägt daS Verlangen desselben, den Herzog Wilhelm zu empfangen,

rundweg ab.

Nun aber schickt ihn der König wegen dieses Ungehorsams

in die Verbannung, und Harold fügt sich nach einigem Sträuben; er geht

mit seiner Mutter ab,

nachdem er noch vorher seinen jungen Bruder

nothgedrungen als Geißel in den Händen des Königs zurückgelasse» hat. Ebenso bleiben die sächsischen Bürger, denen er seinen Schutz verhieß,

hilflos den Händen ihrer normannischen Feinde Preis gegeben, die eine

peinliche Anklage gegen sie erheben.

Zu Anfang des zweiten Acts haben die Normannen den schwachen König so weit gebracht, daß er darein willigt, diese Unschuldigen hinrichten

zu lassen.

Es soll bereits geschehn, da erhebt sich ein Aufstand, Harold

sprengt mit seinem Gefolge die Thore Londons, befreit die Bürger und

treibt die Normannen aus.

Den König läßt er unangetastet in seiner

Würde, verlangt aber seinen Bruder zurück.

Allein dieser befindet sich

in der Normandie, der König hat ihn feiger Weise dem Herzog Wilhelm

ausgeliefert.

Harold erklärt sich bereit, ihn zurück zu holen, er begtebt sich

als Gesandter nach der Normandie, nachdem ihm der König eine seltsame

Art Sicherheitskarte mitgegeben hat: das Portrait AdelenS, der Tochter

des Herzogs Wilhelm. Im dritten Act, der in der Normandie spielt, hat der Dichter nach­

träglich Einiges geändert, das ich aber als unerheblich übergehe.

Die

Hauptsache ist, daß Herzog Wilhelm auf Harold einen unerwarteten, ja

überwältigenden Eindruck macht.

Er hatte zuerst Harold als seinen Feind

inS Gefängniß setzen wollen, daran hindert ihn aber theils die Sicher­

heitskarte, auf die Harold sich beruft, mehr aber noch der Wunsch, ihn für seine Pläne zu gewinnen.

Dazu bietet ihm Harold bald eine Hand­

habe, indem er seine aufketmende Liebe zu Adele nicht verhehlt.

Herzog

Wilhelm verspricht ihm ihre Hand, wenn er fortan ihm freundlicher ge­ sinnt sein würde.

AIS Beweis seiner veränderten Gesinnung soll er ihm

schwören, ein Versprechen zn erfüllen, das König Eduard zwischen dem ersten und zweiten Aet Herzog Wilhelm gegeben hat.

In Wirklichkeit

lautete dies Versprechen dahin, Wilhelm sollte Eduards Nachfolger in

England werden; Harold weiß das aber nicht, er glaubt eS handele sich

um unbedeutende Dinge, und leistet den Schwur.

Sobald er das gethan,

wird ihm der wahre Inhalt des Versprechens mitgetheilt.

Harold spricht

sich mit äußerster Entrüstung aus, und soll nun wieder gefangen oder ge-

tödtet werde».

Doch gelingt eS ihm zu entkommen, aber seinen kleinen

Bruder läßt der Herzog wieder in sichern Gewahrsam bringen. — Im vierten Aet ist Harold nach London zurückgekehrt.

Er stellt den

König zu Rede, der auch bekennen muß, daß er dem Herzog wirklich das

bewußte Versprechen geleistet.

Nun setzt sich Harold selbst die Krone auf,

aber unerwartet weigert seine eigene Mutter Ghtha ihm die Huldigung:

er hat seinen Bruder nicht zurück gebracht, und sie hält ihn daher für einen

Verrärher.

Ihrem

Beispiel

folgen verschiedene

andere

Große.

Dann tritt ein Abgesandter der Kirche auf, der über Harold den Bann ausspricht, weil er seinen Eid gebrochen.

Dadurch wird erst im Volk

Harolds Eid bekannt, und wieder fallen verschiedene seiner Anhänger ab;

die Einen aus Rücksicht auf die Kirche, die Andern, weil sie meinen, Harold sei heimlich im Einverständniß mit den Normannen und wolle sie

verrathen. Der fünfte Aet zeigt uns das Schlachtfeld von Hastings.

weigert den Leichnam Harolds seiner Mutter,

Wilhelm

entschließt sich aber an­

ders, als er erfährt, daß inzwischen seine Tochter Adele gestorben ist.

In der neuen Bearbeitung wird Adelens Tod dem Zuschauer vorgeführt, vor dem Schlußtableau. Dies der Umriß der Handlung.

Bevor ich denselben von dramati­

schem Standpunkt untersuche, glaube ich vorher mich kurz über die Grund­

sätze aussprechen zu sollen, die mich dabei leiten.

Ich erinnere nur an

das eigentlich Selbstverständliche.

Der Zuschauer soll nicht blos ein Schauspiel vor sich sehn, sondern

eine Handlung: dazu gehört, daß ihm die Motive der Handelnden klar werden.

Die Motive werden nicht immer logisch sein, denn das Handeln

wird meist

durch Leidenschaften bestimmt;

aber die Art dieser Leiden­

schaften soll aus dem Charakter der handelnden Personen psychologisch

begriffen werden.

Die Handlung muß also auf dem Charakter ruhen.

Die Handlung muß ferner ein stetiger Fortschritt sein.

Man er­

laube mir, was ich unter Einheit der Handlung verstehe, an einem an­

scheinend trivialen Bild zu erläutern.

Wenn man einen Korkzieher ein»

bohrt, so will man ihn nicht hin und her drehn, sondern vorwärts tret-

ben, bis man sich des ganzen Pfropfens bemächtigt hat und ihn dann mit einem Ruck herauszieht.

Dieser Ruck ist die Katastrophe.

Endlich muß sich die dramatische Handlung von den Handlungen deS gewöhnlichen Lebens dadurch unterscheiden, daß der Dichter von einer be­

stimmten Stimmung auSgeht und diese Stimmung auch in dem Zuschauer WaS er für eine Stimmung anschlagen will, daS ist seine

hervorruft.

Sache: ich verlange nicht von ihm, daß er mir den Weltlauf als ver­ nünftig erweist, er kann auch die entgegengesetzte Meinung verfechten: aber ich verlange, daß ich ihn verstehe und wenigstens bis zu einem ge­ wissen Grad von seiner Ueberzeugung bezwungen werde.

Halte ich nun diese Forderungen an den „Harold", so muß ich be­

kennen, daß keine derselben erfüllt wird.

Ich verstehe die Motive der

Handelnden nicht, ja sie kommen mir oft ganz widersinnig, ganz unglaub­

lich vor.

Ich finde in der Handlung keinen stetigen Fortgang, vielmehr

ein unsicheres Hin-

und Zurücktreiben; die eigentlichen Entscheidungen

liegen außerhalb der Bühne.

Endlich wird mir nicht klar, wie der Dich­

ter selbst sich zu seiner Handlung stellt. Harold tritt zu Anfang hochfahrend gegen den König, voller Haß

gegen die Normannen auf.

Er gebärdet sich als Herr, aber sobald der

König einen bestimmten Willen ausspricht, ist Harold geschlcigeu.

Ich

würde auS dem ersten Act den Schluß ziehen, daß Harold an Uebermuth, an Ueberschätzung seiner Kräfte krankt, und daß daS sein Schicksal

sein wird.

Der Schluß des zweiten Acts bestärkt mich darin.

Er über­

nimmt mit voller Zuversicht eine unausführbare Aufgabe: wie will er seinen Feind den Herzog, den er noch eben aufs schwerste gekränkt, dazu bewegen, seinen Bruder herauszugeben? — Der dritte Act bringt eine neue Ueberraschung.

Der leidenschaft­

liche, fast fanatische Feind des Herzogs und der Normannen ändert nach

einigen guten Worten des Herzogs plötzlich seine Ueberzeugung, er wird fast ganz von ihm gewonnen.

Er, der Abgeordnete seiner Nation, schwört

dem anerkannten Feinde seiner Nation einen Eid, ohne zu wissen, was er beschwört!

Ist so etwas in der Welt wohl möglich?

Freilich spielt

noch ein anderes Motiv mit, die Liebe zu Adele. Dies Motiv, die blinde

Leidenschaft zu einer Frau, über der man Pflicht und Ehre vergißt, kann wohl ein tragisches werden, wie es Shakespeare im Antonius durchgeführt hat, aber dann muß es der Mittelpunkt der Handlung sein; nebenbei angebracht, überzeugt es nicht und verwirrt das Gefühl.

Der Dichter

fühlt das im Stillen selbst: als letzten Drucker verwendet er ein Kelchglas

feurigen Weines. Nun der vierte Att. Den Zurückgekehrten empfängt die Mutter un-

gefähr mit den Worten: „Kain, wo ist Dein Bruder Abel?" Anstatt ihr

nun einfach zu antworten:

„der steckt in der Normandie hinter Schloß

und Riegel; ich habe etwas unternommen, was über meine Kräfte ging, und habe nur mein nacktes Leben gerettet! völlig unschuldig!"

In dem Punkt bin ich also

Anstatt so zu antworten und seine Mutter zu be­

schämen, appellirt er mystisch an daS Gefühl! Und anstatt nun dem Volk klar zu machen, was es mit seinem Schwur für eine Bewandniß habe, wie er vom Herzog Wilhelm schmählich betrogen sei, wie er diesen heim­ tückischen

Betrüger

nun

völlig durchschaut habe und bestrafen

Anstatt sich so mit seinem Volk wieder

unschuldigen Kirchendiener

den

wolle!

ins Klare zu setzen, läßt

umbringen,

der

er­

ihm den Bann ver­

kündigt I

Suche ich aus diesen einzelnen Zügen ein Ganzes zu machen, so wäre eS etwa Folgendes.

Auf Harolds Seele wie auf die Hamlets ist eine

Aufgabe gelegt, der er nicht gewachsen ist, und darum muß er zu Grunde gehn.

Er überschätzt seine Kraft, und wendet darum unausgesetzt verkehrte

Mittel an.

Er traut unbedingt seinem Gefühl, und dies Gefühl betrügt

ihn stetS; darum springt er aus einem Extrem ins andere, und nichts ist stetig bei ihm als seine Unstetigkeit. — Eine solche Natur mußte wohl erliegen, einem Mann gegenüber, der unablässig sein Ziel verfolgte und immer genau wußte waS er wollte.

Aber so will der Dichter ganz und gar nicht, daß wir empfinden.

Wir sollen Harold, der doch ein schwächlicher Gefühlsmensch ist, für einen Helden ansehn.

Auch der Dichter hat seinem Gefühl zu viel getraut: er

hat sich mit warmer Empfindung so gänzlich in die einzelnen Situationen

deS Helden hineingelebt, daß sich ihm daS Urtheil

über den ganzen

Character verwirrt hat.

Und ist denn wirklich der Gegenspieler der Mann, wie wir ihn haben wollten? Ist denn in Herzog Wilhelms Intriguen Stetigkeit und Zusam­

menhang? Harold zu gewinnen, war gar keine übele Idee, gar nicht un­ ausführbar, und wenn er weiter nichts durchsetzte, als daß Harold wirklich

seine Tochter heirathete und mit ihm in nähere Verbindung trat, so war eS Harold fortan absolut unmöglich, an der Spitze der Sachsen gegen

ihn aufzutreten.

Was soll aber der erschlichene Eid? Wenn nun Harold

gefragt hätte: WaS soll ich eigentlich beschwören?

Und die Frage mußte

von einem wirklichen Mann mit Nothwendigkeit erwartet werden, so ging die ganze Intrigue in die Brüche.

Sie geht eS eigentlich auch jetzt, denn

über den Einfluß der Kirche, die sich ziemlich spät meldet, und des Kirchen­

banns kommt man nicht recht ins Reine.

Die wahre Entscheidung fällt

auf dem Schlachtfeld, und das ist dramatisch nicht zu verwerthen.

558

Wildenbruch'S Harold.

Ich glaubte diesen vitalen Fehler des Stücks dem Dichter sehr be­ stimmt vorhalten zu müssen.

ernsten Wendepunkt.

Er steht in seiner Entwickelung auf einem

Er hat zum ersten Mal einen großen Erfolg davon­

getragen, und seine eigenthümliche Kraft kennen gelernt.

Geht er in diesem

Zuge fort, so kann der Beifall deS Tages sich noch oft wiederholen. Wenn ich ihn aber recht beurtheile, so strebt sein Ehrgeiz nach einem

höheren Ziel:

er will sich unter die bleibenden Dichter reihen.

Dies

Ziel wird er aber nur erreichen, wenn er die Eingebungen seines Gefühls, dem er nicht unbedingt trauen darf, durch ernstes dramatisches Denken corrtgiren lernt, wenn er nicht blos das

Aeußere sondern das Innere

einer Handlung aufdeckt.---------

Ich fing mit Schillers Xenien an: ich kann mich nicht enthalten, noch den Anfang dieser Lenien anzuführen:

er zeigt schöner als sonst je ge­

schehn, was ein bleibender Dichter ist.

Schiller oder Lessing begiebt

sich ins Reich der Schatten: dort trifft er den Herkules Shakespeare. Schauerlich stand das Ungethüm da. Gespannt war der Bogen Und der Pfeil auf der Senn' traf noch beständig das Herz.

Julian Schmidt.

Irland am Scheidewege. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 15. Mai 1882. Die irischen Angelegenheiten gehören zu der Hinterlassenschaft des Beaconsfield'schen Cabinets, welche Gladstone im Frühjahr 1880 zu seiner

eigenen Ueberraschung anzutreten berufen wurde.

In den zwei Jahren,

welche seitdem verflossen sind, hat es Gladstone wahrlich nicht an Ber­ suchen fehlen lassen, eine Aussöhnung der socialen Gegensätze herbeizu­

führen, welche ein Ergebniß Jahrhunderte langer Entwickelung sind; die

Erfolge

seiner Politik werden ihm selbst nach der grausamen Nieder-

metzelung des neu ernannten StaatssecretärS Lord Frederic Cavendish

und deS UnterstaatSsecretärs Burke im Phönix-Park in Dublin nicht in

besonders günstigem Lichte erscheinen.

Bei dem Regierungsantritt des liberalen CabinetS hat die Ankün­

digung, daß eS nicht die Absicht sei, das von dem Vorgänger erlassene Gesetz zur Erhaltung des Friedens in Irland zu verlängern, den Gegnern Gladstone's Anlaß zu düstern Prophezeihungen gegeben, die zum Theil wenigstens in Erfüllung gegangen sind.

1.

Jenes Gesetz bestimmte:

Müssen die Einwohner eines Distrikts für die Entschädigung

haften, falls durch Aufruhr Menschen getödtet, beschädigt oder Zerstörun­

gen angerichtet werden. 2.

Können, falls durch Unruhen besondere Kosten für eine Ver­

mehrung der Polizeimannschaften, oder durch Zuziehung solcher Mann­

schaften auS anderen Distrikten erwachsen, diese den betheiligten Distrikten auferlegt werden.3.

Ist das Tragen von Feuerwaffen ohne besonderen Waffenschein

verboten. Schon Anfang 1881 sah die Regierung sich genöthigt, dem Parla­

ment ein Gesetz zum Schutz der Person und des Eigenthums in Irland vorzulegen, demzufolge auf Befehl des Vicekönigs bis zum 30. Septem­ ber 1882 alle Personen festgenommen und

in

Haft gehalten

werden

können, welche nach dem Ermessen des Vicekönigs in begründetem Ber­ dacht wegen HochverratHS oder hochverräthischer Umtriebe stehen und vor

oder nach dem Erlaß deS Gesetzes Verbrechen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung, wie Gewaltthätigkeiten und Einschüchterung oder Aufwie­

gelung zu solchen Handlungen begangen haben.

Der Verdacht

wegen

HochverratHS gestattet die Verhaftung in allen Theilen Irlands, der wegen

anderer verbrecherischer Handlungen aber nur in gewissen, vom Vicekönig

genau vorher bestimmten Distrikten.

Jedwede in Gemäßheit dieses Ge­

setzes gefangen gehaltene Person soll die Behandlung eines Untersnchungsgefangenen, nicht die eines schuldig gesprochenen Verbrechers erfahren. Das Gesetz sollte die Mittel an die Hand geben, die Führer der Landliga, deren Verurtheilung vor den ordentlichen Gerichten an dem

Widerstand machen.

der

Geschworenen

gescheitert war,

faclisch unschädlich

zu

Kurze Zeit nachher folgte ein zweites Gesetz, die Waffenbill.

Sie erklärt das Führen von Waffen in solchen Distrikten, welche durch eine bezügliche Proklamation bezeichnet worden, mit Ausnahme der Fälle,

in welchen ein Waffenschein ertheilt wird, für ungesetzlich.

Die Behör­

den werden durch die Bill ermächtigt, in den Häusern uiib bei Personen nach Waffen zu suchen und die Einfuhr und den Verkauf von Waffen,

sowie von Dynamit und Nitroglycerin zu verbieten resp, zu regeln.

Bei

Uebertretung deS Verbotes findet ein summarisches Verfahre» statt, in

welchem auf Gefängniß bis zu 3 Monaten, aber nicht auf schwere Ar­ beit erkannt werden kann.

Die Dauer deS Gesetzes ist auf einen Zeit­

raum vou 5 Jahren festgesetzt.

In der Thronrede am 7. Februar d. I. sagte die Königin:

„Die

Lage Irlands zeigt, verglichen mit dem Anfänge des verflossenen JahreS

(1881), eine Besserung und bestärkt mich in der Hoffnung, daß die Aus­ dauer in dem eingeschlagenen Verfahren glückliche Erfolge haben wird. Die Rechtspflege wird mit größerer Wirkung gehandhabt und die Ein­

schüchterung, welche von den Ruhestörern angewandt wird, um die Land­ inhaber von der Erfüllung ihrer Verpflichtungen und von der Benutzung

deS Landgesetzes abzuschrecken, zeigt im Ganzen eine verminderte Hart­ näckigkeit."

Die Dubliner Mordthat vom 6. Mai hat diese Hoffnungen zerstört in

dem Augenblick, wo eS der Regierung gelungen zu sein schien, eine Verstän­

digung mit den Häuptern der Landliga, den Parnell, Dawitt, Dillon u. s. w. herbeizuführen auf der Basis, daß dieselbe der Reformpolitik der Regie­

rung ihre Unterstützung gewähre.

Die Ermordung deS Lord Cavendish,

der als Träger dieser Politik an jenem Tage in Dublin eingetroffen

war und die Vergeblichkeit aller Bemühungen der Polizei, die Mörder

ausfindig zu machen, beweisen zur Genüge, daß die Parnell und Genossen keineswegs die Lage in Irland beherrschen.

Am 7. erließen die Führer

ein Manifest an das irische Volk, in dem es heißt: am Vorabend einer

glücklichen Zukunft habe das traurige Geschick, von welchem Irland seit Jahrhunderten verfolgt werde, die Hoffnungen der Irländer getroffen. Die Laudliga spreche dem irischen Volke und allen denen, die in jüngster Zeit sich für eine Politik der Versöhnung entschlossen hätten, ihre auf­

richtigste Sympathie aus und hoffe, daß das gesammte irische Volk durch die Art seiner Handlungen beweisen werde,

daß eS das Verbrechen deS

Mordes verabscheue; sie hoffe, daß daS irische Volk auf jede Weise seinen

Abscheu über diese gräßliche

That und seine Theilnahme für die in

Trauer versetzten Familien kundgeben werde.

Der Name des das Gast­

recht schützenden Irland sei durch einen Act der Feigheit besudelt worden, er werde bis zu dem Momente besudelt bleiben, wo die Mörder der Ge­ rechtigkeit überliefert seien.

Ob die Versicherungen dieses Manifestes

aufrichtig

gemeint seien

oder nicht, mag unerörtert bleiben; eine Wirkung hat dasselbe bis jetzt

nicht auSgeübt.

Wer die Mörder sind, weiß Niemand.

daß sie Fenier sind, ist bis jetzt eben nur Vermuthung.

ligkeit,

mit der

die Ersetzung des bisherigen

Die Vermuthung, Bet der Schnel­

StaatSsecretärS

Forster

durch Cavendish erfolgte, wird man die Urheber nicht in Amerika, son­

dern in Irland selbst, vielleicht sogar in dem Schooße der Landliga suchen

müssen, in deren Namen Parnell und Genossen das Manifest an daS irische Volk erließen.

Am Tage vor dem Morde wurde in Belfast in

einer Versammlung der „Nationalisten" der Sieg der Landliga, deren

Präsident Parnell ist, mit Reden gefeiert, die in der Erklärung gipfelten,

eS könne in Irland nicht Frieden herrschen so lange England dort regiere. „ES ist nicht Lokalregterung, was wir wollen, sagte einer der Redner,

oder theilweise Selbstregierung; wir wollen Alles, wir wollen, daß Irland wieder eine Nation werde."

Ein anderer Redner bemerkte, das Amt eines

ObersecretärS wäre keine Sinecure, die durch die Sprößlinge englischer Lordsfamilien auSgefüllt werden könne; hoffentlich würde daS Volk das

Amt so heiß wie möglich machen.

DaS ist die Sprache, welche Parnell

und seine Freunde früher selbst geführt haben; mit der sie die Ermor­

dung der Pächter billigten, welche es wagten, in Widerspruch mit den Befehlen der Landliga ihre Pacht zu zahlen; mit der sie die Abschaffung

der Pacht forderten.

Der Geist der Landliga empört sich gegen die

Versöhnungspolitik und versetzt dadurch die Regierung in die Nothwen­

digkeit, zu immer schärferen AuSnahme-Maßregeln zu greifen, welche der Aufregung der Bevölkerung neue Nahrung geben und die Entschließun-

gen,

auS

mit denen

die Parnell, Davitt, Dillon u. s. w. ihre Entlassung

dem Gefängniß von Killmaham erkauft haben, auf eine schwere

Probe stellen. Bereits am 11. Mai hat der Staatssecretär des Innern eine neue

Bill betreffend die Unterdrückung der Verbrechen in Irland im Unter­ hause eingebracht, welche nicht mehr und nicht weniger bezweckt als die

Suspension der Geschworenengerichte.

Durch den Gesetzentwurf, der so­

fort in erster Lesung mit 327 gegen 22 Stimmen angenommen wurde, wird die Bildung von besonderen Gerichtshöfen in den Districten, welchen Unruhen vorkommen, gestattet.

Diese Gerichtshöfe sollen auS 3

Richtern bestehen und ohne Zuziehung von Geschworenen verhandeln. Polizei

wird ermächtigt,

in Die

Haussuchungen vorzunehmcn, um nach Mord­

werkzeugen zu recherchiren, sowie Personen zu verhaften, deren Benehmen

verdächtig ist; ferner wird die Polizei ermächtigt, Ausländer, deren An­ wesenheit für den Frieden

und auszuweisen.

in Irland bedrohlich erscheint, zu verhaften

Dem Vicekönig wird gestattet, ein summarisches Ver­

fahren einzuschlagen, geheime Gesellschaften sowie unerlaubte Versamm­

lungen und ausreizende Journale zu unterdrücken.

Die Dauer der Bill

wird auf 3 Jahre festgesetzt.

Die Regierung hat sich bemüht, soweit möglich, Garantien für das Ansehen dieser Ausnahmegerichte zu schaffen.

In erster Instanz sollen die­

selben aus drei Mitgliedern deS obersten Gerichtshofs bestehen, welche nur einstimmig urtheilen können; als zweite Instanz entscheidet der Ge­

richtshof für die reservirten Criminalfälle, der meist aus fünf Richtern besteht und nach Majorität entscheidet.

Die Quadratur des Cirkels ist

nicht schwerer zu finden, als Ausnahmegerichte, welche Vertrauen in die

Handhabung der Rechtspflege einflößen.

Mit den Geschworenengerichten

freilich, welche nach englischem Recht nur einstimmig verurtheilen können,

ist, wie der AuSgang des Processes Parnell in eclatantester Weise klar­ gestellt, in Irland jede, geschweige denn eine energische Rechtspflege un­ möglich geworden.

Dieser Auffassung hat sich endlich auch die liberale

Regierung angeschlossen unter dem Druck der tiefgehenden Entrüstung, welche der Dubliner Doppelmord

hervorgerufen hat.

Nur die neuen

Freunde Gladstone's, die Parnell und Dillon protestiren.

Parnell hat

nicht umhin gekonnt, sein Bedauern darüber auszusprechen, daß die ge­ mäßigte und ruhige Haltung der öffentlichen Meinung (sic!) von den Ur­ hebern der vorgelegten Maßregel bei Abfassung derselben nicht getheilt worden sei, und die Regierung zu warnen.

Niemand könne die auS der

Anwendung einer so durchgreifenden Maßregel entstehenden Folgen vorhcrsehen; er befürchte, daß dieselbe hundertfach größeres Unglück herbei-

führen werde, als die bereits mißlungene Zwangspolitik.

Wegen einiger

von ein paar Individuen begangener Verbrechen (I) habe das Parlament kein Recht, das Leben des ganzen irischen Volkes Partisan-Richtern und Magistrate auf Gnade und Ungande in die Hand zu liefern.

Dillon

scheut sich nicht, die einleitende Rede deS StaatSsecretärS Harcourt als

eine „blutdürstige" zu brandmarken und versteigt sich schließlich zu der einer Drohung täuschend ähnlich sehenden Warnung, die Regierung möge

sich vorsehen, damit nicht ein anderer Obersecretär (d. h. der Nachfolger deS ermordeten Cavendish), der auSgesandt werde,

eine ähnliche Acte

durchzuführen, wie die so kläglich mißlungene Forster'S, nicht noch einmal

die

Blätter der

jüngsthin,

irischen Geschichte mit fluchwürdigen Blutflecken,

besudele.

wie

Man fragt unwillkürlich, ob denn nach der An­

sicht Dillon's nicht die Mörder des Lord Cavendish, sondern dieser selbst der Verbrecher ist!

Nichts

Homeruler gegen diese

bezeichnet deutlicher als das

„brutale Unterdrückungsmaßregel",

Votum

der

daß Irland

mit den Gesetzen, welche in England selbst zum Schutz der Personen und

des Eigenthums und der staatlichen Autorität genügen, nun einmal nicht regiert werden kann; daß aber aber jede Ausnahmegesetzgebung dem tradi­

tionellen Haß der irischen Unterdrückten Nahrung giebt.

gegen ihre Unterdrücker neue

Es ist selbstverständlich, daß dieses Dilemma nicht be­

seitigt werden würde, wenn morgen ein Tory-Cabinet an die Stelle des liberalen treten sollte.

Und daS scheinen auch die Conservativen zu fühlen,

welche die Gelegenheit verschmäht haben, die Dubliner Morde zum Vor­

wand eines Sturmangriffs

auf daS Gladstone'fche Cabinet zu machen.

Ein Regierungswechsel in London wäre ohne Zweifel das Signal zu einer

allgemeinen Schilderhebung in Irland, welche Gladstone vielleicht noch verhindern kann, wenn er Muth genug hat, den „Warnungen" der Parnell,

Dillon u. s. w. zu trotzen. Grade dieser neue Zwischenfall illustrirt die Thatsache, daß

die

irische Frage in erster Linie eine politische ist, nicht eine sociale; daß die Landfrage, wenn auch nicht der Borwand, so doch der Ausgangs­

punkt einer Bewegung ist, deren letztes Ziel das Phantom der Wieder­ herstellung einer irischen „Nation" ist.

Die erste Vorbedingung also für

die Aussöhnung Irlands mit England wäre die Lösung der Landfrage. Leider ist eine radicale Lösung dieser Frage unmöglich.

Die Quelle der

Agrarfrage ist die nach der Schlacht am Bohneflusse erfolgte Expropriirung

der Irländer von ihrem eigenen Grund und Boden, die Ueberweisung desselben an Engländer und in Folge dessen die Züchtung eines mittelund gesetzlosen Agrarpöbels.

Diese Gütervertheilung könnte ja auf Kosten

deS englischen Staatsschatzes rückgängig gemacht werden; aber mit Einem

Schlage läßt sich aus der Masse der irischen Bevölkerung nicht ein seß

Hafter, betriebsamer und solider Bauernstand schaffen.

Die Kluft zwischen

dem englisch-protestantischen Grundbesitzer und dem irisch-katholischen Pächter

und Tagelöhner läßt sich nicht in Einem Tage ausfüllen.

Mag diese

radicale Lösung der Landfrage daS Ziel einer gesunden Politik sein; er­ reicht werden kann dasselbe nur auf dem langsamen und mühevollen Wege

einer die

allmäligen moralischen Kräftigung des Voltes, Sicherstellung

vor Allem durch

deS tüchtigen und redlichen irischen Pächters

die Willkür und die Habsucht englischer Großgrundbesitzer.

gegen

Die Glad-

stone'sche Land-Acte von 1870 hat einen ersten, bedeutenden Schritt aus diesem Wege gethan.

Die Revision derselben durch das Landgesetz von

1881 hat den Pächter gegen willkürliche und ungerechte Steigerung der Pachtsumme sicher gestellt, indem die Feststellung der billigen Pachtsnmme (fair rent) auf 15 Jahre einem Gerichtshöfe übertragen wird.

Bei

der Einbringung des oben erwähnten Ausnahmegesetzes hat der Staatssecretär des Innern ausdrücklich hervorgehoben, daß die Dubliner Unthat

die, Regierung nicht

in der Absicht irre gemacht habe,

einen weiteren

Schritt auf dem Gebiete der Agrarpolitik zu thun und daß der Gesetz­

entwurf betreffend die Regelung der Frage des rückständigen Pachtzinses demnächst vorgelegt werden solle.

Den Inhalt dieser Vorlage hat Parnell

in einer Unterredung mit dem Berichterstatter der Pariser „France“ an­ gegeben. Die Regierung werde ein Gesetz wegen Nachlaß eines dreijährigen Pachtrückstandes einbringen,

wonach

vermuthlich

die Grundherren den

Pachtzins für ein Jahr vom Staate ersetzt erhalten; den Pächtern solle der Ankauf des Bodens ermöglicht werden dadurch,

daß die Regierung

die Kaufsumme durch den Staat bezahlen lasse, welchem die Kälifer ihre

Schuld sammt 3 Procent Zinsen in 60 Jahren abtragen würden.

Aber

Parnell fügte charakteristischer Weise hinzn, wenn erst die Grundfrage gelöst sei, würden die (englischen) Grundbesitzer nichts mehr gegen die Schaffung eines irischen Parlaments einzuwenden haben.

Dann sei die Zeit

gekommen, wo Großbritanien, Irland, Canada und Australien besondere

Parlamente haben würden, während die Berathung gemeinschaftlicher An­ gelegenheiten Sache des Londoner Reichsparlaments wäre.

DaS ist

der Traum oder, wenn daS besser klingt, die Hoffnung der Home-Rule-

Partei, deren Constituirung in die ersten Monate der Regierung Gladstone'S fällt.

Daß die Extremen in Irland — von den amerikanischen Feniern mit

ihren republikanischen Tendenzen gar nicht zu reden — mit dieser relativen Selbstständigkeit Irlands nicht zufrieden sind, ist bekannt; aber der Grundge­

danke, welcher der Homerule-Bewegung zu Grunde liegt, ist in der That ein bedeutsames Symptom dafür, daß die Einsichtigeren aufgehört haben, auf

einen Erfolg der Repeal-Bewegung zu hoffen. Und mit Recht. Der radicalste

der englischen Minister, Chamberlain hat sich am 25. Oktober v. I. in der JahreS-Bersammlung der National-Liberal-Association über die irische Frage also ausgesprochen:

„Diese Frage ist nicht ein neues Problem.

Alle zehn oder alle zwanzig Jahre fällt

sie ohne Erklärung, zuweilen

wie ein Blitz aus. heiterer Luft uns auf den Kopf.

Seit 400 Jahren

hat eine jede Generation mit ihr zu thun gehabt.

Sie wissen,

lvährend dieser ganzen Zeit das

daß

irische Volk unzufrieden gewesen ist.

Ich fürchte, eö hat nicht ein einziges Jahr gegeben, in welchem das Zu­ rückziehen der englischen Garnison nicht das Signal für das Volk ge­ wesen wäre, sich sofort zu erheben und seine Unabhängigkeit zu erklären. Ich kann nicht zugeben, daß eS im Interesse Englands noch auch Irlands

sein würde, daß so nahe an unseren Küsten eine feindliche Macht entstände. Die Unabhängigkeit Irlands würde das Signal zu einem Bürgerkriege sein,

an dem uns zu betheiligen wir gezwungen sein würden.

Und wenn es

nicht dazu käme, so müßte ein unabhängiges Irland immer eifersüchtig und besorgt England gegenüber sein; die größere Macht, die commercielle Ueberlegenheit

des stärkeren Landes würde immer ein Gegenstand der

Beunruhigung für das kleinere, die beiden Länder würden eine immer­ währende Drohung für einander sein.

Früher oder später würde der

Zustand unerträglich und wir genöthigt sein, den Kampf aufs Neue zu beginnen, Irland noch einmal zu erobern, oder England würde ruinirt

sein.

Ich will mich nicht einer solchen Eventualität auSsetzen und ob­

gleich liberal und radical, so sage ich zu Irland, waS die Liberalen der amerikanischen Nordstaaten zu den Südstaaten sagten: die Union muß

erhalten bleiben, innerhalb derselben sollt ihr gleiche Gesetze, gleiche Ge­ rechtigkeit, gleiche Gelegenheiten, gleiches Gedeihen haben.

Eure Inter­

essen sollen die unsrigen sein, aber die Natur und eure Lage haben un­ lösbare Bande geschmiedet, welche nicht getrennt werden können, ohne die

Gefahr von Elend und Ruin für unsere beiden Länder, und welche wir daher mit allen Kräften deS Reiches unverletzt erhalten wollen."

Der Vergleich, den Chamberlain zwischen England und Irland einer­ seits und den amerikanischen Nord- und Südstaaten andererseits anstellt,

hinkt freilich auf beiden Füßen.

Wenn hier Sonderinteressen das natür­

liche Band der Union zu zerreißen bestrebt waren, so sind es nicht nur

diese, welche England und Irland trennen, sondern vor Allem der Unter­ schied der Race und der Religion und ein Abgrund von Haß und Ver­

achtung, den Jahrhundert lange Mißregierung und Mißbrauch der Macht des Stärkeren gegraben hat, und den zri überbrücken schöne Worte von Gleichheit der Rechte und Interessen nicht auszufüllen vermögen. Preußifchc Jahrbücher. Bd. XL1X. Heft 5.

38

Glad-

566

Irland am Scheidewege.

stone hat das unzweifelhafte Verdienst, daß er zuerst die Verpflichtung des

Staats anerkannt hat, sich nicht nur der Interessen der englischen Groß­ grundbesitzer, sondern auch der lange vernachlässigten des irischen Volkes

selbst anzunehmen; es ist ein Zug seltener Charaktergröße, daß er sich durch die periodischen Ausbrüche des Hasses in der Erfüllung dieser

Pflicht nicht beirren läßt.

Er hatte dabei nicht nur mit dem Wider­

streben der Conservativen, deren Sympathien bisher ausschließlich auf der Seite der englischen Grundherrn in Irland waren, zu kämpfen, sondern

auch mit den Bedenken in dem Lager der Liberalen, aber es ist ihm ge­ lungen, Freunde wie Gegner nicht nur zu überwinden, sondern auch zu

überzeugen.

Hatten doch selbst die Conservativen in den Tagen, welche

der Dubliner Mordthat vorhergingen, offen und unzweideutig die Noth­ wendigkeit weitergehender Zugeständnisse in der Landfrage auf ihre Fahne geschrieben. Die Frage ist nun, ob die Partei der Home-Rule in Irland selbst stark genug ist, dem Fenierthum die Stange zu halten, denn nur in diesem

Falle werden Zugeständnisse der englischen Regierung, im Sinne einer engeren oder weiteren Selbstverwaltung oder Selbstregierung, der Uiüoit

und nicht den auf die Sprengung derselben gerichteten Bestrebungen zu

Gute kommen.

Nur unter dieser Voraussetzung ist eine Versöhnung

zwischen Irland und England denkbar.

Verantwortlicher Redacteur:

k.

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Die Weltanschauung Petrarca's. Die inneren Vorgänge, durch welche sich der Uebergang des schei­

denden Mittelalters

in die

neu

aufsteigende Renaissance-Periode

ver­

mittelt, zeigen unS das Bild zweier Entwicklungsreihen, welche, in den­

selben Persönlichkeiten wirksam,

diese nach entgegengesetzten Richtungen

ziehen, und, da eine versöhnende Ausgleichung zwischen ihnen unmöglich

scheint, ihre Träger in einen inneren Zwiespalt versetzen, der ihrem Leben eine tragische Färbung verleiht.

Schwerlich hat jemand diesen Gegensatz in seiner ganzen Stärke so intensiv in sich erfahren als Petrarca.

Die Feinheit seines Empfindungs­

vermögens, seine nervöse Reizbarkeit ließ ihn auf das schmerzlichste die Disharmonie der geistigen Strömungen, die ihn ergriffen hatten, aus­ kosten.

Auf der einen Seite dem scheidenden Mittelalter angehörig, übt

der asketische Supranaturalismus, dem die Fülle der irdischen Genüsse als ein verbotenes Gebiet erscheint, auf sein Gemüth einen niederdrückenden

Einfluß; auf der anderen Seite erfüllen ihn Begierden, denen er die

Befriedigung zu versagen sich nicht zu entschließen vermag; verzehrt ihn

der Durst nach zeitlichen Gütern, den

er doch als Sünde verurtheilt.

Sehnsüchtig blickt er nach der Stille der Klostermauern, in denen alle selbstischen Wünsche schweigen; und doch nimmt er an allen wechselnden

Geschicken des irdischen Daseins den lebhaftesten Antheil; wird er von den vielen, bedeutenden Persönlichkeiten,

mit denen er in Beziehung

kommt, auf das tiefste bald sympathisch, bald antipathisch erregt.

Jetzt

möchte er alle individuellen Begierden ertödten, jetzt ihnen freien Raum

geben.

Und wenn im reiferen Alter, da das Blut kühler und langsamer

durch die Adern rollt, er mehr der Weltentsagung zu folgen scheint und reuevoll auf die Vergangenheit zurückblickt, so verräth doch sein Bekenntniß noch ein geheimes Wohlgefallen an den Verirrungen, deren er gedenkt.

Das Wort der Versöhnung, welches die Wahrheit des Mittelalters auf den Boden der neuen Welt hätte retten können, blieb ihm verborgen. Preußische Jahrbücher. Bd.XI.IX. Heft 6.

39

Das Mittelalter vertritt daS Recht deS Allgemeinen, der Autorität, der Tradition; das Individuum ist ihm nur dazu da, dasselbe zu ver­

treten und zu verwirklichen; die neue Zeit kämpft für die Berechtigung deS Individuums und fordert die innere Ausgestaltung, daS volle sich Aus­ leben desselben nach allen Beziehungen. Widersprüche.

Dies sind Gegensätze, aber nicht

Die Ideen des Mittelalters und die Tendenzen der neuen

Zeit gleichen sich auS, sobald das frei sich entwickelnde Individuum in den Dienst der Gemeinschaft tritt und die Zwecke derselben in eigenthüm­ licher Selbständigkeit vollbringt; sobald die Gemeinschaft, insoweit ihre

Aufgabe es gestattet, der Individualität Spielraum zu freier Bewegung gewährt.

Aber Petrarca hat diese Ausgleichung der Gegensätze nicht gefunden und auch nicht gesucht.

Er löste sich vom Mittelalter, wenn er auch oft

sehnsuchtsvolle Blicke rückwärts zur verlassenen Heimath wandte; er that

den ersten, nicht den zweiten Schritt.

Die Individualität, die sich selbst

gefunden hatte, wollte sich durch keine Gebundenheit das Glück des Selbst­

genusses schmälern lassen.

Petrarca will nur für sich selbst leben; die

ungestörte Entfaltung seines inneren Lebens ist die einzige Aufgabe, die

er sich stellt.

Deshalb begehrt er ungestörte Muße für die literarischen

Studien, die ihn fesseln; reichliche Mittel zu behaglicher Gestaltung seines

äußeren Lebens; landschaftliche Reize, die ihn anregen; eine Anerkennung seiner individuellen Persönlichkeit von huldigenden Freunden, von Vor­ nehmen und Fürsten, die ihn durch Ehrenbezeugungen auszeichnen.

Petrarca ist als Individualist Eudämonist, und daraus entspringt

sein Pessimismus.

Wer über den Werth des Lebens nach dem Maße

des Selbstgenusses entscheidet, welchen es ihm bietet, muß je länger desto

mehr Ungenüge empfinden.

Theils werden die mancherlei Störungen,

denen ein Genußleben ausgesetzt ist, peinlich gefühlt; theils erwacht das Bewußtsein, daß überhaupt auf dem Wege des Genießens das Glück nicht

erreicht werden kann.

Wer den Muth besitzt, sich dies offen einzugestehen,

und die Entschlossenheit, den Weg der selbstverleugnenden Arbeit und des hingebenden Wirkens für die Gemeinschaft zu betreten, wird vom Pessi­

mismus geheilt; wer aber weder jenen noch diese findet, bleibt in ihm gefangen.

Und dies war das LooS, das Petrarca zog.

Die Verhältnisse, unter denen er lebte; die Lage Italiens, der Zu­ stand RomS und des Papstthums begünstigten den in seiner Natur und

in seinem Charakter begründeten Zug zum Eudämonismus und Pessimis­ mus.

Ein großer Theil seines Lebens verlief in der unmittelbaren Nähe

AvignonS; längere Zeit hielt er sich in Avignon selbst auf, und oft er­ schien er am päpstlichen Hofe.

Hier zeigte sich ihm der Klerus durchaus

nicht als ein Träger sittlicher Würde und als ein Fürsorger der idealen

Interessen der Kirche.

Petrarca besaß, obwohl, ein Kind seiner Zeit, der

Forderung streng sittlicher Lebensgestaltung

sich entziehend, doch immer

noch soviel moralische Reizbarkeit, um am Treiben der Curie Anstoß zu

nehmen.

In drei Sonetten hat er mit feurigen Worten den Avignoneser

Hof gegeißelt.

Wir theilen das erste und dritte mit.

„Feuer vom Himmel

ström' auf deine Locken, Unsel'ge! einst bei Quell und Eicheln weise, nun

strotzend von der Armuth Blut und Schweiße, gewohnt ob eigener Unthat zu frohlocken!

Nest des VerrathS, worin die Welt erschrocken jed' Un­

heil brüten siehet, wie's auch heiße; Sklavin des Betts, des Weines und der Speise, von jeder frechen Wollust anzulocken! durch deine Kammern

taumeln trunkne Dirnen mit Greisen; Satan fächelt froh die Schwüle,

mit Spiegel und mit Blasebalg beladen.

Einst warst du nicht genährt

auf welchem Pfühle, gingst nackt im Wind, barfuß auf Dornenpfaden;

nun dawpfe, wüster Qualm, zu den Gestirnen." Sonett!

Und nun das dritte

„Herberge du des Zorns, des Jammers Quelle, des Irrthums

Schule, HauS der Ketzereien, einst Rom, nun Babel, die wir maledeien,

weil ihr entsprang endloser Thränen Welle; Werkstatt des Trugs, der Unschuld Marterstelle, Pfuhl, den die Bösen ihren Lüsten weihen, Hölle Lebend'ger, hoffst du auf Verzeihen?

nicht zerschelle!

Gegründet arm

Ein Wunder wär'S, daß Gott dich

und keusch blickst frech du nieder auf

deine Gründer, zeigst der Hörner Stärke, Schamlose! wie, du willst noch Hoffnung setzen — auf was? auf deiner Buhlen schnöde Werke?

deinen Raub?

Auf

Nicht Constantin kehrt wieder; doch waS er gab, nehm'

es der Welt Entsetzen*)!"

Die Erkenntniß dieses Verfalls der Kirche

hielt aber Petrarca weder ab, Kleriker zu werden, noch sich mit Erfolg

um immer neue Pfründen zu bewerben.

Der maßgebende Wunsch nach

behaglichem Lebensgenuß zeigte keinen anderen Weg. Dasselbe Interesse führte ihn in die Kreise vornehmer Familien und

an den Hof der kleinen italienischen Tyrannen.

Hier fand er ehrenvolle

Auszeichnung und Ausstattung mit zeitlichen Gütern, zum Entgelt brachte er rhetorische oder poetische Huldigungen dar und Dienste von allerdings zweifelhaftem Werth.

leistete diplomatische

Aber sein bloßer Aufenthalt

an einem Hofe war für diesen eine Zierde und hob ihn in den Augen

des übrigen Italiens. Colonna.

Den größten Dank schuldete Petrarca der Familie

Mehrere Jahre lebte er im Hause deS Cardinals Giovanni

zu Avignon; in Rom genoß er die Gastfreundschaft des alten Stefano, deS Haupts der Familie.

Und doch brach er mit den Colonnefen, mußte

*) Die Reime des Francesco Petrarca übersetzt und erläutert von Karl Kekule und Ludwig von Biegeleben. Stuttgart und Tübingen 1844. Bd. IV, S. 181. 183.

39*

mit ihnen brechen.

Cola bi Rienzo bemächtigte sich auf kurze Zeit Roms

und stellte die römische Republik wieder her.

Petrarca'S schönste Hoff­

nungen schienen sich zu verwirklichen; er trat auf die Seite Rienzo'S und zerschnitt das Band, das ihn so lange mit den Colonnesen verknüpft hatte.

Mit vollem Vertrauen begrüßte er den Tribunen, mit freudiger Zuversicht

blickte er auf sein Werk.

„Du hast den festesten Grundstein gelegt, ruft

er ihm zu, die Wahrheit, den Frieden, die Gerechtigkeit, die Freiheit, auf ihnen baue.

Alles, waS du errichten wirft, wird gesicherten Bestand haben;

wer dagegen ankämpfen wird, wird zerschellen*)."

In maßlosem Enthu­

siasmus jauchzt er der neuen Republik zu und schüttet die vollen Schalen des Zornes und Spottes über die gestürzten Geschlechter aus, die, wer weiß, von woher gekommen, vielleicht von Gefangenen abstammend, einst, die Hände

auf dem

gebunden,

Rücken

Triumphators, bis dahin tyrannisch

hätten.

der Schmuck

eines römischen

über römische Bürger

geherrscht

Bettlerische Diebe schmäht er sie, reißende Wölfe, die in den

römischen Schafstall eingebrochen seien.

Und den neuen Tribunen, einen

dritten Brutus, mahnt er, daß er gegen die in Rom gebliebenen Anhänger der Vertriebenen mit rücksichtsloser, auch vor Verhängung der Todesstrafe nicht scheuender

Strenge

Mitleid Unmenschlichkeit.

völlig bezaubert;

Härte

vorgehe.

gegen sie

sei Frömmigkeit,

Der phantastische Abenteurer

nicht nur

ein

Camillus erscheint ihm Rienzo. war Petrarca selbst Phantast.

Brutus, Freilich,

ein

hatte Petrarca

zweiter Romulus

und

auf dem Gebiet der Politik

Damit sein Ideal den antiken Vorbildern

völlig entspreche, soll sich Rienzo auch nicht literarischer Beschäftigung ent­

ziehen.

Petrarca erinnert ihn — den Tribunen und Wiederherstcller der

Freiheit — an Augustus, der Unterbrechungen deö nächtlichen Schlafs

durch Lektüre ausgefüllt und auch während der Mahlzeiten gelesen oder geschrieben habe.

Ihm soll Cola folgen und vor allem die römische Ge­

schichte wieder und wieder lesen**).

Petrarca täuschte sich, wenn er sich als begeisterten Freund der römi­ schen Freiheit darstellte.

Roms meinte er.

Nicht die Freiheit, sondern die Weltherrschaft

So konnte er den Tribunen der Republik und den

Cäsar AugustuS auf dieselbe Linie stellen; es war kein Widerspruch.

Ja

ging es nicht anders, so war ihm auch ein Barbar auf dem römischen

Kaiserthron recht, zumal, wenn er, wie Karl IV., einen Theil seiner

Jugend in Italien verlebt und sich literarische Bildung angeeignet hatte***).

*) Fracassetti. F. Petrarcae Epistolae de rebus familiaribus et variae III, 402. ** ) Fracassetti III, 422 — 38. ** *) Körting.

Petrarca'S Leben und Werke.

Leipzig 1878.

S. 322.

Schriftlich und mündlich, in den bewegtesten Worten, mahnend und bittend,

aber auch grollend und zürnend drang er in den Fürsten, das römische „Wage, handle, ruft er ihm zu, ergreife

Imperium wieder aufzurichten.

den Zügel, besteige den Thron, der dir gebührt! — Alles, o Kaiser, be­ darf der Ueberlegung, aber nichts der Trägheit.

Und es giebt Fälle, in

denen nicht viel überlegen die beste Ueberlegung ist*).

Petrarca, als Karl wirklich sich Italien naht.

Und wie jubelt

Jetzt ist er ihm der König

der Welt, der Imperator Roms, der wahre Kaiser, den Diadem und Herrschaft, warten**).

offener Zugang

zum Himmel er­

Aber wie bald sollte er enttäuscht werden.

„Der neugekrönte

unsterblicher Ruhm

und

Kaiser, für alle Bitten der Römer taub und nur den päpstlichen Wünschen

nachzukommen sich beeifernd, verließ am Tage der Krönung Rom und trat

mit würdeloser Hast die Rückreise an, die fast eine Flucht zu nennen war und ihm manche Demüthigungen brachte.

berechtigte

Entrüstung

der

in

ihren

Der Hohn und die nur allzu

schönsten Hoffnungen betrogenen

Italiener verfolgte den kaiserlichen Geschäftsreisenden, der statt auf die

Wiederherstellung des Imperiums nur auf die Füllung seiner Börse be­ dacht gewesen war***).

Innerlich empört wagt jetzt Petrarca mit bitterem

Spott dem Kaiser die Worte zuzurufen:

„Die Tapferkeit ist kein Erbgut.

Ich will glauben, daß dir weder die Kunst zu herrschen noch Krieg zu führen fehlt; aber die Quelle alles Handelns, bitt)."

Und doch hört er auch jetzt nicht auf,

neuen Römerzug anzutreiben. ihn, die Stunde ist da,

die Willenskraft,

fehlt

den Kaiser zu einem

„Wache auf, Imperator, so ermuntert er

ja sie geht schon vorüber, eile — wache auf,

wache auf, Imperator, wache auf und höre den Schrei der Weltstadt und

des Weltkreises, der dich ruft, reibe die Augen und blicke umher, Im­

perator, steh', wie vieles Besserung verlangt, und erkenne, daß du die

Kaiserwürde nicht trägst, um müßig zuzuschauen."

„Dein Italien, Cäsar,

ruft nach dir: wo ist mein Cäsar, mein Cäsar, mein Cäsar, warum ver­ läßt du mich, was zögerst bu?ft)" Die Hoffnungen, bie Petrarca auf ben Kaiser gesetzt hatte, blieben vergeblich, unb so schien nur ein Weg gebahnt, auf welchem Rom zu

früherem Glanze zurückkehren unb sich wieder mit dem Diadem der Welt­ herrschaft schmücken konnte, die Verlegung des päpstlichen Stuhls Avignon nach Rom.

So wurde die

geistliche Haupt der Welt.

*) **) ***) t) tt)

Fracassetti II, 465. 471. Fracassetti II, 513. Körting a. a. O. S. 330. Fracassetti II, 547. Fracassetti III, 195. 230.

verwaiste Stadt

Unermüdlich

erhob

von

wenigstens das

daher Petrarca seine

Stimme und forderte die Rückkehr des Papstthums; poetische Episteln,

die dazu ermunterten, richtete er an Benedikt XII.

Nach langem Harren

schien ihm hier endlich eine späte Erfüllung seiner Hoffnungen beschieden. Am 30. April 1367 verließ Urban V. Avignon und zog Ende Juni in Rom ein, aber nur, um nach wenigen Jahren nach Frankreich zurückzu­

kehren. — So hatten Petrarca'S patriotische Hoffnungen dreimal eine schwere Enttäuschung erfahren; weder Cola di Rienzo noch Karl IV. noch endlich das Papstthum hatten Rom seinen alten Glanz wieder verliehen! Ein anderes Ungenüge erwuchs Petrarca aus seiner äußeren Lage. Dem väterlichen Wunsche folgend, aber mit innerer Abneigung, hatte er

sich in Montpellier und Bologna dem Studium der Rechtswissenschaft ge­ widmet, während ihn doch sein Herz zu den Klassikern Roms zog.

Wollte

er dieser Neigung folgen, so blieb ihm kaum ein anderer Ausweg als

der Eintritt in den geistlichen Stand.

Hier standen ihm Pfründen in

Aussicht, welche geringe Verpflichtungen auferlegten, aber doch reichliche Zeit zu wissenschaftlicher Muße gewährten.

So

that Petrarca diesen

Schritt, obwohl er durchaus nicht zum Kleriker qualifizirt war.

Nicht,

als ob ihn je Zweifel an der Wahrheit der kirchlichen Dogmen beunruhigt

hätten; wir finden davon keine Spur.

auf andere Wege.

Er stand fest auf dem Boden der

Aber Naturell und Charakter wiesen ihn

kirchlichen Lehrbestimmungen.

Er war im vollen Sinne deS Worts ein Weltkind,

auf irdischen Genuß gerichtet.

In einem Briefe an seinen Bruder Gherardo, der Karthäuser Mönch geworden war, gedenkt er der gemeinsam verlebten Jugend und der welt­

lichen Interessen, die sie erfüllte.

Er erinnert ihn daran, welchen Werth

sie beide damals auf glänzende Kleidung legten, und bekennt, leider auch

jetzt noch nicht diesem Hange entsagt zu haben, wenn derselbe ihn auch weniger als früher beherrsche.

Große Sorgfalt hätten sie damals auch

auf ihre Haarfrisur gewendet, ängstlich darauf bedacht, in der Gesellschaft zu gefallen, ja die Löwen deS Tages und der Gegenstand des Stadtge­

sprächs zu werden*). Eitelkeit, Sinnlichkeit, Ehrgeiz, waren die großen Charakterfehler

Petrarca'S, die ihn an einer sittlichen Lebensgestaltung im Sinne des Evangeliums und an einer Erfüllung seiner priesterlichen Pflichten hin­ derten.

Petrarca hatte davon ein deutliches Bewußtsein, ihn begleitete

immer ein böseö Gewissen.

Durchdrungen von der Aufgabe, die er lösen

solle, reuevoll seine Schuld erkennend, faßte er doch nie den entscheidenden Entschluß.

„Klar, schreibt er ein anderes Mal an seinen Bruder Gherardo,

*) Fracaasetti II, 66—82

sehe ich, wo ich bin, wohin ich gehen muß, und wieweit ich von Jeru­

salem, unserer wahren Heimath, entfernt bin."

Aber gleich darauf fährt

er fort, sich mit einem unabänderlichen Geschick zu trösten, das hier walte. „Das eine beklage ich auf das schmerzlichste, daß wir, obwohl von den­

selben Aeltern stammend, doch nicht unter demselben Gestirn geboren sind. Zu unähnlich sind wir, lieber Bruder, zu ungleiche Sprößlinge hat der­ selbe Mutterleib hervorgebracht."

Doch

will er sich den brüderlichen

Mahnungen nicht völlig entziehen und wenigstens drei Verpflichtungen, die ihm Gherardo auferlegt, nachkommen; ja er hat schon begonnen, eS

zu thun.

Er hat sich sein sündhaftes Leben zum vollen Bewußtsein ge­

bracht und vor Gott bekannt; er hält bei Tage und in der Nacht Gebet­ stunden; er hat endlich das Weib entlassen, mit dem er bis dahin zu­ sammengelebt hatte*).

In einen anders bedingten Widerspruch mit seinen Ueberzeugungen gerieth Petrarca durch seine Beziehungen zu den italienischen Fürsten.

Der

begeisterte Freund

Rienzo's,

der getreue Eckart Karl's IV.,

der

Schwärmer für Italiens Einheit und Größe, trug kein Bedenken, den ge­ fährlichsten Feinden desselben zu dienen, von ihnen Würden und Besitz­

thümer zu empfangen und ihnen dafür seine Feder zur Verfügung zu

stellen.

Und unter ihnen war ein Jacopo II. von Carrara, durch einen

Mord auf den Thron gelangt, durch einen Mord von ihm herabgestoßen,

von Petrarca aber als vortrefflichster Mann und wahrhaftester Vater des Vaterlandes gepriesen**).

Gedenken wir ferner seines Verhältnisses zu Laura, freilich nicht, um darin eine neue Quelle pessimistischer Weltanschauung zu suchen, wohl

aber als einer Stätte mehr oder weniger unwahrer Empfindungskünsteleien, die, wenn er sie auch mit seinem Zeitalter gemeinsam hegte, doch dadurch ihren ungesunden, die Lauterkeit der Gesinnung zerstörenden Charakter

nicht verloren, um so weniger, als sie Petrarca eine außergewöhnlich lange Zeit hindurch fortspann.

Bei dem Weltruhm, den Petrarca's Sonette an

Laura erworben haben, wird eS berechtigt erscheinen, wenn wir diese Be­

ziehung Petrarca's etwas eingehender zu beleuchten versuchen.

Noch immer schwankt das Urtheil, ob wir uns Laura als unvermählt

oder als verheirathete Frau, von einer zahlreichen Kinderschaar umgeben, vorstellen sollen.

Richten wir den Blick ausschließlich auf die Lieder deS

Dichters, die wir doch als die werthvollste Quelle betrachten müssen, so

scheint nur die erste Möglichkeit uns offen zu stehen.

Nicht bloß, daß

weder je deS Gatten oder der Kinder Laura'S gedacht wird; eine Canzone,

*) Fracassetti II, 93. 100. ** ) Fracassetti II, 109, vgl. Körting a. a. O. S. 249.

welche die LebenSentwicklung Laura'S bis zu ihrem Tode verfolgt*), läßt

sie nur das

dritte Blüthenalter, das

jungfräuliche,

erreichen.

schwerlich wird sich ein sicheres Urtheil gewinnen lassen.

Doch

Die Sonette

schildern die Geliebte in so allgemeinen Zügen, wenigstens in ihrem Ver­

hältniß zum Dichter; und

bei aller Zartheit der Empfindung, die in

einigen Liedern sich offenbart, sind doch andere so sehr Stylübungen, daß auch diese wichtigste Quelle uns nicht befriedigenden Aufschluß giebt.

ES genügt, um die Unächtheit der hier zur Schau getragenen Ge­

fühle zu erhärten, daß wir uns daran erinnern, wie der Tag und Nacht nur Laura's gedenkende Dichter gleichzeitig mit einer Frau lebt, von der ihm zwei Kinder,

zusammen

ein Sohn und eine Tochter,

geboren

werden. So schemenhaft erschien schon den Zeitgenossen Laura's Bild, daß Giacomo Colonna die Vermuthung aussprechen durfte, Petrarca huldige

in ihm allegorisch dem Lorbeer, der den Dichter krönt**); und daß dieser

vorwurfsvoll ein Sonett mit der Klage beginnen konnte:

„Ach, daß ich

glüh', und Niemand will mir's glauben", freilich, um dann, sich selbst be­

schwichtigend und tröstend, fortzufahren:

nur auf Eine***)."

„Nein, alle glauben mir,

bis

Offenbar, liebte Petrarca Laura, so war doch diese

Liebe völlig frei vom Verlangen nach ihrem Besitz; er begehrte nur Be­

zeugungen ihrer Huld, ihrer Theilnahme und Freundschaft; und Laura's Verhalten ihm gegenüber nöthigte ihn, auch diese Wünsche sehr herabzu­ stimmen.

Laura hielt den Dichter stets in respektvoller Entfernung, und

so ist sie ihm denn „ein Eiskristall,

klar, schön, von Spiegelgleiche^)"

oder „eine süße Kalte, die sein loderndes Herz mit kalter Tugend löschtch-f)".

Und „die Triumphe" bekennen „in der Tugend eisigem Empfangen ver­ losch der goldenen Geschosse Gluth, getaucht in Reiz, entzündet am Ver-

langenftt)". Mitunter freilich unterbricht Petrarca die Monotonie der Klage über Hoffnungen, die immer scheitern, und glaubt Spuren erwiederter Liebe

zu entdecken; aber wir vermögen die Vermuthung nicht zurück zu halten,

daß der Dichter ausschließlich aus poetischem Interesse, um seinen Liedern eine gewisse Mannichfaltigkeit zu geben, seiner Saite auch Töne beglückter

Empfindung entlockte.

Nur eine Thatsache scheint für eine innigere Be­

ziehung zwischen Petrarca und Laura zu sprechen. *)

Kekule-Biegeleben II, 75.

** ) Fracassetti I, 124. ** *) Kekule-Biegeleben I, 321. t) a. a. O. I, 322. tt) a. a. O. I, 255. ttt) a. a. O. II, 238.

Der berühmte Maler

Simone de Martino malte Laura's Bild für den Dichter.

hier können wir einige Zweifel nicht unterdrücken.

Und doch auch

Petrarca, der jede,

auch die geringfügigste Gunst Laura'S buchte, wäre in Jubeltöne auSge-

brochen, wenn sich Laura für Petrarca hätte malen lassen.

Aber die

beiden Sonette, die dieses Gemälde feiern, verherrlichen nur den Künst­

ler*).

UnS ist es daher sehr wahrscheinlich, daß dieser nicht bei Laura

erschien, um für Petrarca ihr Bild zu malen, sondern daß er von diesem, welches anderen Zwecken dienen sollte, vielleicht oder wahrscheinlich ohne Wissen Laura's, im Auftrag Petrarca'S für diesen eine Copie herstellte.

Von gar keinem Gewicht kann aber das Bekenntniß sein, welches der Dichter in „den Triumphen" der verklärten Laura in den Mund legt: „Getrennt war nie und nimmer mein Herz von dir und wird sich nimmer

trennen"; mein Herz war mehr denn tausendmal durchdrungen von Liebe,

wenn im Auge Zorn entbrannte"; „fast gleich in unS die Liebesflammen stiegen, feit wenigstens ich inne ward der deinen, du aber hast geredet, ich geschwiegen**)".

Da Petrarca hier ausdrücklich erklärt, daß Laura

auf Erden geschwiegen hat, so ruht das Liebesbekenntniß, das sie von der

Welt der Verklärung aus ablegen muß, auf willkürlichen Voraussetzungen. Laura's geheime Gegenliebe ist nichts als eine dichterische Fiktion, durch welche der Dichter seine Beziehung zur Geliebten noch etwas interessanter

zu machen, seiner Eitelkeit, die er selbst durch die stete Klage unerwiederter

Liebe gekränkt hatte, Genugthuung zu geben sich bemüht.

Seine Zeitge­

nossen sollen ahnen, daß eines Petrarca Liebe auch Laura nicht wider­

stehen konnte, wenn sie es

sich auch versagte, sichtbare Beweise

ihrer

Empfindungen zu gewähren. In

der That war das Verhältniß Laura's

zu Petrarca durchaus

sittlich unanstößig; und sollte wirklich Petrarca zeitweise geneigt gewesen fein, die Schranken zu durchbrechen, welche die Reinheit desselben sicherten, so hat Laura ihn stets daran gehindert; war sie Gattin, im Bewußtsein

ihrer ehelichen Pflichten; war sie Jungfrau, in Anerkennung der kirchlichen Gesetze, welche dem Kleriker die Ehe wehrten.

Nehmen wir an, was unS

allerdings sehr zweifelhaft ist, Petrarca habe ursprünglich Empfindungen

sinnlichen Verlangens Laura gegenüber gehegt, so war es Laura, deren Einfluß diese Empfindungen in die rein sittlichen Gefühle der Verehrung

wandelte.

Nicht bloß seine Lieder sind ein Denkmal derselben, ebenso ist

ein solches auch die Beurtheilung ihres sittlichen Werthes, welche Petrarca in der eigenthümlichen Schrift „von der Weltverachtung", einer geheimen

*) a. a. O. I, 182. 183. **) a. a. O. S 257—61.

Beichte,

die er vor Augustinus ablegt,

ausgesprochen hat.

Bergegen-

wärtigen wir uns das Bild, in welchem hier Laura erscheint. „Frei von irdischen Sorgen, glüht sie nur von himmlischem Ver­

langen, in ihrem Angesicht glänzt die Bewährung göttlicher Würde, ihre Sitten sind das Bild vollkommener Tugend." hier Petrarca ausdrücklich:

Und so bekennt denn auch

„Nicht einem sterblichen Gegenstände habe

ich mich geweiht; wisse, daß ich nicht sowohl ihren Körper, als vielmehr

ihre Seele geliebt, mich an ihrem, die Enge menschlicher Grenzen über­

schreitenden Charakter erquickt habe, dessen Gestalt mir das Leben der Himmelsbewohner vergegenwärtigt."

Was Petrarca ist, verdankt er ihr;

und, wenn er eine gewisse Anerkennung gefunden hat, so schuldet er sie

ihr, die den so schwachen Samen der Tugend in ihm mit den edelsten

Empfindungen gepflegt hat.

Sie hat den Geist des Jünglings von allem

sittlich Entwürdigenden zurückgehalten, ihm hohe Ziele gezeigt; ist es doch unzweifelhaft, daß die Liebe wenigstens einige Züge der Geliebten dem Liebenden mittheilt.

Und so hoch steht jene, daß niemand, wie geneigt

zur Verleumdung auch immer, ihren Ruf

beflecken oder einen Tadel

gegen sie, und träfe er auch nur den Ton ihrer Stimme, zu erheben ge­

wagt hat.

Dieselben, die sonst nichts unangetastet ließen, konnten ihr

Bewunderung und Verehrung nicht versagen.

Kein Wunder daher, daß

ein so geehrter Name auch für Petrarca ein Sporn wurde, auch für sich einen solchen zu begehren; daß er als Jüngling nach nichts so brennend

verlangte, als ihr allein zu gefallen, die ihm allein gefiel. sie ihn von den Wegen

des großen Haufens,

So entfernte

wurde seine Führerin,

spornte seinen trägen Geist, weckte die schlummernde Seele.

Seine Liebe

zu Laura war geistiger Natur; nicht sowohl ihr Leib, als vielmehr ihre Seele war es, welcher er huldigte; je älter sie wurde, der unabwendbaren

Vernichtung der Schönheit verfallend, desto mehr wuchs seine Verehrung. Und so geschah es, daß, als noch im Lenz des Lebens die Blüthe ihrer Schönheit sichtlich welkte, während die Tugend ihrer Seele an Kraft ge­

wann, Petrarca'« Liebe zu ihr keinen Wandel erfuhr. Hätte er unmittelbar

ihre Seele schauen können, er würde sie geliebt haben, wäre auch ihres

Leibes Hülle unschön gewesen; nun freilich liebte er beides, Laura's Seele und Laura's Körper.

Und weit entfernt, Petrarca's Abweichungen vom rechten Pfade zu verschulden, suchte sie vielmehr ihn auf demselben zurück zu halten. Keine

flehenden Bitten, keine Schmeicheleien vermochten ihre sittliche Würde zu erschüttern; trotz ihres und seines jugendlichen Alters, trotz so vieler und so mannichfaltiger Versuchungen, denen selbst ein demantharter Geist nicht

Widerstand geleistet hätte, blieb sie fest und unüberwunden.

Ja ihr ächt

weibliches Gemüth mahnte ihn, was dem Manne zieme, zu erstreben; sie ermunterte ihn durch ihr Vorbild und durch scharfen Tadel, den Weg sittlicher Reinheit zu verfolgen; und, als sie ihn von zügelloser Leiden­ schaft erfüllt sah, zog sie es vor, sich von ihm zurück zu halten, statt ihm zu folgen. Denn Petrarca will eS nicht leugnen, daß vielleicht früher die Leidenschaft der Jugend und Liebe sein Begehren auf verbotene Wege lenkte, die er jetzt, festeren Sinnes, zu meiden weiß; sie aber blieb immer dieselbe, ihrem Entschlusse treu; und diese weibliche Standhaftigkeit, welche er, je mehr er sie begreift, desto mehr bewundert, ist jetzt nur Gegenstand seiner Freude und seines Dankes, wenn er sie früher auch vielleicht schmerzlich empfunden hat. Bei diesem Charakter seiner Liebe zu Laura und ihres Verhältnisses zu ihm kann denn auch Augustin Petrarca keinen anderen Vorwurf machen, als daß er Gott und sich selbst darüber vergessen habe, sein Leben in ihrem Dienste verzehrt und dafür doch nur seltenen und kargen Lohn geerntet*). Auf diese Bekenntnisse drücken denn auch die Sonette Petrarca's das bestätigende Siegel. Zu der Verklärten redend, bekennt er ausdrücklich: „Daß ich dich auf dieser Erde geliebt, wie jetzt im Himmel; und begehret nichts anderes als die Sonne deiner Blicke." „Was sich mein Geist zur Stunde darf erkühnen, das wünscht' ich stets." Wir dürfen also danach annehmen, daß die stürmischen Bewegungen seiner Seele, deren er sich im Anfang seiner Liebe vor Augustinus anschuldigt, nur eine Fiktion waren, um seine an sich wahrscheinlich höchst harmlose Beziehung zu Laura etwas piquant und sich selbst interessant zu machen. Er kommt denn auch in den Sonetten schließlich darauf zurück, daß ihn nur der eine Vorwurf treffe, feine Zeit höheren Interessen entzogen zu haben. „Wohl wär' eS Zeit, klagt er, wohl war eS Zeit schon frühe, sie (die Zeit) bleibenderen Dingen zuzuwenden und dieser Qual Unendlichkeit zu enden**)." Uns modernen Menschen erscheint Petrarca's Verhältniß zu Laura höchst seltsam und befremdend; ein Räthsel, für welches uns der Schlüssel fehlt. Auch manche seiner italienischen Zeitgenossen mögen dasselbe nicht zu lösen vermocht haben, wie wir auS dem Briefe Colonna'S, dessen wir früher gedachten, entnehmen können. In Südfrankreich dagegen, Petrar­ ca's zweiter Heimath, wird man schwerlich vergeblich nach dem Schlüssel des Verständnisses gesucht haben. Petrarca folgte den Spuren der Troubadours; neben gelehrten Studien pflegte er die lyrische Poesie im Sinn und Geist derselben. Er besaß offenbar eine hervorragende poetische Begabung, wenn dieselbe auch eine einseitige war. Es war nicht Reich*) De contemptu mundi Amsterdam 1649, S. 775—809. **) Kekiile-Viegeleben II, 106. 91—95.

(Dialogus III.)

thum der Gedanken und Anschauungen, der Petrarca auSzeichnete; aber er war ein Formtalent, welches der Sprache die zartesten Töne zu ent­ locken verstand.

Und seine Phantasie besaß ausreichende Kraft, um eine

an sich schwache Empfindung seines Gemüths immer neu anzuregen und Begreiflich, daß er sich das

immer neue Gestaltungen ihr zu entringen.

Ziel setzte, nicht bloß als Gelehrter und lateinischer Dichter, sondern auch als italienischer Dichter gefeiert zu werden.

Und so hat Petrarca im Sinne

der Troubadollrpoesie, die ja auch in Italien Platz gegriffen hatte, Laura ver­ herrlicht. Um diese Verherrlichung zu verstehen, müssen wir unS die Gestalt der Liebe vergegenwärtigen, welcher die proventzalischen Sänger huldigten.

Ohne Zweifel war dieselbe nicht selten sehr ernst gemeint, und bei

der sittlichen Zerfahrenheit, die in Südfrankreich herrschte; bei der Ge­

ringschätzung, welche hier der Heiligkeit des ehelichen Bandes begegnete; der empörenden Leichtfertigkeit in der Beurtheilung ehelicher Untreue, die hier Platz gegriffen hatte, treffen wir oft auf sittlich höchst anstößige Ver­

hältnisse.

Aber gemeiniglich war der Minnedtenst der Troubadours ganz

anderer Art; kein Erzeugniß des Herzens, kein Ausdruck lebhafter Em­

pfindung, sondern nur ein freies Spiel der Phantasie.

„Die Liebe, wie

sie hier erscheint, ist, in ihren Hauptzügen aufgefaßt, eine rein poetische, d. h. zu

poetischen Zwecken geschaffene.

Der Dichter wählte sich

eine

Dame, welche ihm die würdigste schien, zum Gegenstand seiner Gesänge." „Wiewohl sich nun nicht leugnen läßt, daß jene Liebeshändel zwischen

Dichter und Gönnerin in einzelnen Fällen ernstlich gemeint gewesen, wie theils die schmelzende Innigkeit mancher Lieder verräth, theils die diach-

richten uns versichern, so bleibt die Behauptung, daß sie im Allgemeinen mehr den Geist als das Herz des Sängers in Bewegung setzten, voll­

kommen gegründet.

DaS Lieben wurde daher, wie das Dichten, als eine

Kunst dargestellt und auf Regeln zurückgeführt; darauf bezieht sich der

Ausdruck „sich auf Liebe verstehen";

einzelne Troubadours werden als

Liebeskundige erwähnt, und es ist kaum zu zweifeln, daß eigene Anwei­

sungen zu dieser Kunst geschrieben wurden, wobei man Ovids erotische Schriften benutzt haben mochte, wiewohl diese nicht als Veranlassung, sondern als Hilfsmittel betrachtet werden müssen."

„WaS die Wünsche

der Liebenden betrifft, so sind sie im Ganzen bescheidener Art, wie die

Natur der Verhältnisse eS mit sich bringt.

Die meisten begnügen sich

mit einem huldvollen Blick, einem freundlichen Wort, Geschenk*)."

einem geringen

In dieser Beleuchtung werden wir auch Petrarca'S Liebe

zu Laura betrachten müssen. *) F. Diez.

Die Poesie der Troubadours.

Zwickau 1826.

S. 135 — 169.

Aber noch von einer anderen Seite fällt ein eigenthümliches Licht auf

dieselbe.

Vergleichen wir sie mit der Verehrung, welche der

fast noch Petrarca'S Zeitgenosse,

italienische Dichter, seiner

Beatrice weihte,

Dante'S Liebe zu

welche Verwandtschaft hier und

Beatrice,

so

erscheint Petrarca'S

größte

Dante Alighieri

dort!

Liebe zu

Wie Laura.

„Diese Liebe, sagt Wegele, hat für Dante'S äußeres Leben ebenso geringe Bedeutung, als sie für seine Poesie und das richtige Verständniß der­

DaS Verhältniß, um das eS sich handelt,

selben die allergrößte hat.

muß daher als ein im Wesentlichen dichterisches aufgefaßt werden; eS hat

eine lebendige concrete Voraussetzung, ist aber bald und mit vollem Be­ wußtsein so hoch in daS Gebiet des Ideals entrückt worden, daß der reale Ausgangspunkt für Viele nicht mehr oder nur schwer erklärbar und ver­ ständlich wurde."

Gilt hier nicht Wort für Wort auch für Petrarca'S

Beziehung zu Laura?

Ja die Analogie geht noch weiter.

ein Verwaudtschaftsverhältniß zwischen den

Besteht nicht

Selbstbekenntnissen Dante'S

int „Neuen Leben" und den Selbstbekenntnissen Petrarca'S in der Schrift „Von der Weltverachtung"?

Suchen nicht beide Dichter die Begründung

ihrer idealen Lebensrichtung in dem Einfluß, den die Geliebte auf sie

auSübte?

Wenn Wegele von Dante sagt: „er sucht in seiner Liebe nicht

die rasch vorübergehende Befriedigung deS Augenblicks, er setzt sie mit seiner

ganzen

geistigen Entwicklung

in

Verbindung

und

knüpft seine

menschliche und sittliche Existenz an sie", so dürfen wir ein gleiches von

Petrarca

behaupten.

Wenn ferner,

um wieder mit Wegele zu reden,

Dante in der Göttlichen Komödie Beatrice eine Sympathie für ihn bei­

legt, von welcher er selbst es zweifelhaft läßt, ob sie im Leben je eine solche für ihn gehegt, ober, wenn ja, ihm solches verrathen hat, entlockt

nicht Petrarca Laura in den Triumphen dasselbe Geständniß *)?

Und

erinnert nicht die hohe Stellung, die Laura nach den Triumphen in der unsichtbaren Welt der Verklärung einnimmt,

an die Glorie,

Dante in der Göttlichen Komödie Beatrice bekleidet?

mit der

Wie für Dante

Beatrice, so wurde für Petrarca Laura daS Symbol des ewig Weib­

lichen, das uns zur idealen Welt erhebt, die Repräsentantin heiliger Le­ bensführung.

Die Beziehung dieser Jdealgestalten zu bestimmten weib­

lichen Persönlichkeiten gab der Dichtung nur die konkrete Färbung und schützte sie vor der Blässe der Abstraktion.

Hier und dort gewährte die

irdische Erscheinung dem Dichter nur daS äußere Bild, den sinnlichen Anknüpfungspunkt; ihrem

inneren Gehalt nach war Dante'S Beatrice,

Petrarca'S Laura eine bewußte, freie dichterische Schöpfung.

*) Wegcle. Dante Alighieri'« Leben und Werke.

3. Ausl.

Nur den

Jena 1879. S. 107—133.

Unterschied werden wir nicht übersehen dürfen, daß Dante's Beatrice eine durchaus originale Gestalt war, Petrarca'S Laura dagegen, sehen wir von dem geringen Antheil ab, den eigene Erlebnisse gewährten,

ein Bild,

welches zum Theil dem Anschauungs- und Empfindungskreise der Trou­ badours entstammte, zum Theil, in Bezug auf den tieferen ethischen Ge­ halt, Dante'S Beatrice nachahmte.

Denn, wenn wir es auch nicht mit

Bestimmtheit zu behaupten wagen, so wollen wir doch die Vermuthung der Beatrice-Kultus Dante's

nicht unterdrücken, daß

ein wesentliches

Motiv für Petrarca bildete, seinerseits mit einem Laura-Kultus hervor­ Diese Vermuthung ge­

zutreten und sich so Dante zur Seite zu stellen.

winnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir uns daS Verhältniß Petrarca'S zu

Dante vergegenwärtigen.

Es ist kaum einem Zweifel unterworfen, daß sich Petrarca'S Eitel­ keit und Ehrgeiz von Dante's Ruhm sehr peinlich berührt fühlte, und daß

er danach strebte, ihm gleich zu kommen, treffen.

vielleicht auch ihn zu über­

Dante sollte nichts vor ihm voraus haben.

Göttlichen Komödie seine

„Triumphe"

zur Seite,

So stellte er der die allerdings nur

seine Inferiorität dem Meister gegenüber dokumentieren; und, wie uns scheint, ist auch sein Laura-KultuS zum Theil durch die Rivalität mit

Dante bedingt.

Einen Beleg für dieselbe

gewährt uns

ein Brief Petrarca'S an

Boccaccio, in welchem er über sein Verhältniß zu Dante Rechenschaft giebt; ein Brief, der, wenn wir zwischen den Zeilen zu lesen wissen, eine nicht mißzuverstehende Deutung seiner Stimmung

gegenüber enthält.

dem großen Meister

Er erklärt, aufrichtig die große Standhaftigkeit und

Gesinnungstreue zu bewundern, welche Dante in den politischen Wirren

bewiesen, und sein Talent sowie seine auf bestimmtem Gebiet hervorra­

gende Darstellungsgabe zu schätzen.

Wenn man es ihm zum Vorwurf

mache, daß er, der sonst so leidenschaftlich werthvolle Schriften sammle,

bis dahin kein Buch Dante's besessen habe, so müsse er die Thatsache

selbst eingestehen, aber er dürfe hinzufügen, nicht aus Mißgunst sei es geschehen.

ES habe eine andere Ursache gehabt.

Er selbst habe früher,

ebenso wie Dante, seine poetische Begabung in den Lauten der italieni­ schen Sprache geübt.

Da sei in ihm die Besorgniß entstanden, daß, wenn

er sich eingehender, sei eS mit Dante's, sei es mit eines anderen Dichters Gesängen beschäftige, er seine Originalität einbüßen möchte.

Von jugend­

lichem Selbstgefühl erfüllt, habe er ausreichendes Talent zu besitzen ge­

glaubt, um fremde Hülfe entbehren und der eigenen Individualität folgen

zu können.

Ob er sich darin getäuscht, mögen andere beurtheilen, sagt

der bescheidene Mann.

Träfe man also, fährt er fort, in seinen italieni-

schen Gedichten, was an Dante oder einen anderen Schriftsteller erinnere,

so sei dies Zufall oder Ergebniß geistiger Verwandtschaft.

Jene Besorg­

nisse aber, die ihn damals von der Lektüre anderer italienischer Dichter zurückhielten, seien jetzt geschwunden, und er verehre diese,

vor allem

Dante, dem er gern den Ehrenpreis auf dem Gebiet der Beredsamkeit in der Vulgärsprache zuerkenne.

Nur dies

bedauere er auf das leb­

hafteste, daß auf den Straßen und in den Kneipen von unverständigen und ungebildeten Dkenschen Dante'S Verse aus dem Zusammenhänge ge­

rissen und korrumpirt vorgetragen würden. letzte Beweggrund

Dies sei für ihn nicht der

dichterischer Arbeit

gewesen,

auf

italienischen Sprache den Rücken zu wenden, habe

dem

Gebiet der

er doch zu seinem

großen Leidwesen erfahren, daß schon das wenige, was-er dort geleistet,

in den Mund des Pöbels gekommen sei. Man werfe ihm Dante gegenüber bald Haß, bald Mißachtung, bald

Mißgunst vor, völlig unbegründete Anklagen. nicht

einmal einen Virgil

sollte er ihn um daS Beifall-Klatschen und

Walkern,

Nein, ein Petrarca, der

Wie

beneidet einen Dante nicht.

beneidet,

das heisere Geschrei von

Schenkwirthen und Wollwebern beneiden, er, der sich Glück

wünsche, mit Virgil und Homer dessen zu entbehren.

Ueber Dante habe

er sich immer mit großer Anerkennung ausgesprochen, denn daS könne unmöglich als Tadel gelten, daß er Dante'S italienische Schriften seinen

lateinischen vorgezogen habe; es genüge doch wahrlich, sich auf einem Ge­ biet ausgezeichnet zu haben*). Dieser Brief ist charakteristisch für Petrarca; der Aristokratenhoch­

much des gelehrten Humanisten, der mit Mißachtung auf die VulgärSprache herabsieht; das maßlose Selbstgefühl des Dichters, der sich neben

Virgil und Homer stellt, hat hier den unverhülltesten Ausdruck gefunden. Und die Behauptungen, die Petrarca ausspricht, sind unrichtig.

ES ist

nicht wahr, daß er, um seine Originalität nicht einzubüßen, sich die Lektüre provenzalischer und italienischer Dichter versagt habe.

die fünfte Canzone.

Zum Beweise dient

Hier ist der SchlußverS jeder Strophe der An­

fangsvers einer bekannten Canzone.

Der letzte VerS der ersten Strophe

ist dem provenzalischen Dichter Arnaldo Daniello entnommen; in

den

folgenden Strophen werden Verse des Guido Cavalcanti, des Cino da Pistoja und des Dante verwendet**).

Das siebenzigste Sonett ist eine

Umarbeitung eines älteren von Antonio da Ferrara***). Auch ist die Beurtheilung des Werthes seiner italienischen Dichtun*) Fracaseetti III, S. 108—116. **) Kekule-Biegeleben I, 161—163. ***) a. a. O. I, 206.

gen, die hier als jugendliche Spiele erscheinen, für die er nicht mehr

Interesse habe, durchaus nicht der wirklichen Schätzung angemessen, die Petrarca ihnen zuerkannte.

Nicht bloß, daß er die Sonette und Canzonen

immer noch mehr zu feilen suchte; nicht bloß, daß er noch im Alter die „Triumphe" begann, beweist, wie er seinen Ruhm als italienischer Dichter

keineswegs geringschätzte, er hat zeitweise sogar bedauert, sich nicht aus­ schließlich der italienischen Poesie gewidmet zu haben*).

Danach werden

wir diesen Brief an Boccaccio nicht als Gegenbeweis gegen Petrarca's

Rivalität in Beziehung auf Dante betrachten dürfen, vielmehr in dem gereizten Ton, der hier laut wird, ein Zeugniß dafür erkennen, daß der

Vorwurf der Mißgunst dem großen Meister gegenüber,

den schon

die

Zeitgenossen erhoben, durchaus begründet war. — Haben wir uns bis dahin Petrarca's Weltanschauung vergegenwär­

tigt, insoweit sie auS den mannichfachen Beziehungen erkennbar ist, in welche er eintrat, und aus den Beurtheilungen, welchen er sie unterwarf,

so fällt unS jetzt die Aufgabe zu, die Werthschätzung des irdischen Daseins und der mannichfachen Verhältnisse

desselben, wie sie von ihm geübt

wurde, im Zusammenhänge darzustellen.

Wir legen dabei die Schrift

„von der Weltverachtung", deren wir schon früher gedachten, und die Ab­ handlung

„von

den

Heilmitteln

gegen

beide

Geschicke"

Wenden wir uns zuerst jener zu und versuchen,

zu

Grunde.

ihren Gedankengang

wiederzugeben**).

Die Verachtung der Welt setzt voraus, Lockungen und Reizen nicht überwinden lassen.

daß wir unS von

ihren

Zu diesem Zwecke müssen

wir unS das Elend der Welt und das Bild des TodeS vergegenwärtigen; dann wird der lebhafte Wunsch in unS erwachen, uns über die Welt zu

erheben.

Wer trotzdem ihr Unterthan bleibt, hat sich nicht über sie er­

heben wollen; er hat vielleicht Reue und Sehnsucht empfunden, aber die Energie des Entschlusses,

die Kraft deS Wollens hat ihm gefehlt. —

Der Weg der Weltverachtung führt aber durch die Ertödtung aller kör­ perlich bedingten Begierden.

Sie müssen erlöschen.

Die Betrachtung des

TodeS ist, wie gesagt, ein werthvolles Mittel, die Macht der sinnlichen Begierde zu dämpfen.

wir unS

Aber allerdings nur unter der Voraussetzung, daß

alle Schrecken desselben vor Augen halten; den Verfall des

Leibes, der ihn begleitet; die Schmerzen,

die er erzeugt.

Auch müssen

wir dies Bild durch die Anschauung der Verdammniß ergänzen, der wir

unrettbar anheimfallen, wenn wir unS nicht bekehren.

Und zwar nicht

als ein in weiter Ferne liegendes Geschick soll uns Tod und Hölle er*) Kekule-Biegeleben I, 63. ** ) vgl. die Rotterdamer Ausgabe von 1649.

scheinen, vielmehr als unmittelbar bevorstehend.

durchkosten, als erlebten wir sie jetzt.

Wir sollen alle Schrecken

Damit aber diese Vorstellungen

in unS kräftig hervorteten können, müssen wir die Eindrücke der Sinne

und die von ihnen bedingten Interessen abzuschwächen und niederzuhalten suchen.

Das ist der Weg, den wir einschlagen sollten; aber wie weit

sind wir von ihm entfernt! Die mannichfachen Arbeiten, denen wir uns widmen, verleiten unS

zum Hochmuth, während sie uns zur Demuth führen sollten; was wir

allein Gott verdanken, dessen rühmen wir uns als unseres eigenen Werks. Und doch, wie beschränkt ist unser Können, wie vieles bleibt uns versagt, in wie vielem anderen werden wir von den Thieren übertroffen! Unser Körper ist gebrechlich und Krankheiten ausgesetzt, empfindlich für so viele

störende Einflüsse, seine Schönheit eine Blüthe, die bald verwelkt.

Und

auf geistigem Gebiete, wie vielen Mängeln sind wir auch hier ausgesetzt! WaS hilft uns eine umfassende Lektüre, wenn, wie es der Fall ist, doch

ein so großer Theil dem Gedächtniß entschwindet; wie wenig kann unser Wissen uns befriedigen, wenn uns doch mehr verborgen bleibt, als sich

dem Erkennen erschließt.

Und wollten wir unS der Kraft unserer Bered­

samkeit erfreuen, wie sehr hindert uns daran das Bewußtsein, daß es unS so oft nicht gelingt, einen Begriff klar darzustellen und das treffende Wort für ihn zu finden; und nimmer kann unS der Beifall der Zuhörer

dafür entschädigen, daß wir mit unS selbst nicht zufrieden sind! — Hüten

wir unS daher vor einer Begehrlichkeit, welche sich höchste, unerreichbare Ziele steckt; lernen wir vielmehr uns zu beschränken und mit wenigem

Besitz und bescheidenen Erfolgen unS zu begnügen. Aber auch dies wäre ein thörichter und vergeblicher Gedanke, wenn wir unS die Aufgabe stellten, auf dem Gebiet deS äußeren Daseins nach

einer Freiheit zu streben, die, im völligen Gleichgewicht der Verhältnisse

gegründet, gleich weit vom Ueberfluß und vom Mangel, vom Herrschen Auch ein solcher Zustand ist eine Un­

und vom Dienen entfernt wäre.

möglichkeit.

Die Freiheit kann nur als eine innere Qualität deS Geistes

und Bewußtseins angesehen werden, welche wir unS durch Bändigung unserer Leidenschaften und durch völligen Gehorsam gegen die Forderungen

der Tugend erwerben.

Wohl vermögen wir dies Ziel nur durch die Hilfe

der göttlichen Gnade zu erreichen; aber diese versagt sich uns nicht, wenn

wir ernstlich um sie bitten. Ein besonders schweres Hinderniß unserer sittlichen Erhebung bildet

nun die Acidia, ein Seelenzustand, den wir am besten als „stetige Unzu­

friedenheit" bezeichnen möchten.

Der von ihr befallene ärgert sich über

alles, was er sieht und hört, was er empfindet und fühlt, über großes Preußische 2»hrducher. Bd. XL1X. H-sl 8.

40

und geringes. eS sind

Bald ist eS das Wagengerassel, ein schlechter Weg, oder

bellende Hunde und auf der Straße herumlaufende Schweine,

welche eine gereizte Stimmung hervorrufen; bald sind es Bettler, bald

endlich schwelgende Reiche.

Oder auch der Lärm der Zankenden auf der

Straße verdirbt die Laune.

Ein solcher Seelenkranker wird ebenso vom

Schmerz der Trauernden wie von der Lust der Fröhlichen verletzt.

Und

vor allem sind es die eigenen, körperlichen Schwächen und Bedürfnisse, über welche er seufzt.

Freilich, wer die innere Freiheit des Gemüths er-,

worben und, anderer LooS mit dem eigenen Geschick vergleichend, dieses

dankbar zu schätzen weiß, wird auch über die Acidia den Sieg davon tragen. An der sittlichen Erhebung hindern uns aber auch die Liebe imb die

Ruhmbegierde.

Indem Petrarca der Gefahren jener gedenkt, berichtet er

eingehend über seine Beziehung zu Laura.

Wir haben seine Alitthei-

lungen darüber in unsere Darstellung seines Berhältnisses zu Laura ver­ flochten;

und

uns hier darauf beschränken, die Heilmittel zu

können

nennen, welche er gegen die Liebe empfiehlt; die Entfernung vom Gegen­

stände der Leidenschaft und die Vermeidung der Einsamkeit.

Der Liebende

kann nur durch Flucht vor der Geliebten und durch Flucht vor sich selbst die Leidenschaft besiegen.

Ebenso thöricht wie schädlich endlich

ist das Haschen nach Ruhm.

Jede Persönlichkeit, die neuen Ruhm erwirbt, thut der Anerkennung derer

Abbruch, die ihn früher genossen.

Welche Hindernisse bereitet ferner

Mißgunst und Haß gegen die Wahrheit der berechtigten Ansprüche auf Ehre; und wie schwankend ist das Urtheil der Menge, in deren Hand die

Verleihung des Ruhmes liegt.

Ach, und wenn nur wenigstens die Denk­

male, welche unseren Ruhm begründen,

erhalten blieben;

aber Grab­

monumente, die unser Wirken verherrlichen, stürzen ein; Bücher, seien es

eigene, seien eS fremde, die unseren Namen rühmen, gehen verloren.

Und,

daS traurigste, von der Ruhmbegierde beherrscht, verlieren wir uns selbst. Jagen wir aber der Tugend nach, so folgt uns der Ruhm, auch ungesucht.

Diese Schrift ist im hohen Grade interessant und charakteristisch.

Wir sehen zwei Weltanschauungen mit einander streiten; auf der einen Seite den asketischen Zug mittelalterlicher Frömmigkeit, auf der anderen

den eudämonistischen Individualismus der Renaissance.

Petrarca vermag

diesem nicht zu entsagen und erkennt doch in jenem die Wahrheit. dieser Zwiespältigkeit

verharrt er.

Bon widersprechenden Idealen

In

be­

stimmt, kann er sich doch für keines von beiden entscheiden, keinem voll

und ganz sich hingeben.

Und so wendet er sich bald hierhin, bald dort­

hin; ohne freudige Gewißheit, den rechten Weg eingeschlagen zu haben; immer begleitet von einem bösen Gewissen.

Einen ganz anderen Charakter trägt das andere Werk Petrarca'-, dem wir uns jetzt

zuwenden,

die Schrift „Ueber die Heilmittel gegen

Sie enthält eine musternde Prüfung

beiderlei Geschicke*)".

aller Zu­

stände, Geistesrichtungen, Geschicke und Besitzthümer, in denen wir bald

Güter, bald Uebel zu erkennen suchen; und will den Beweis führen, daß sie weder das eine noch das andere sind.

Das Ergebniß kann und soll

nichts anderes sein als die Verachtung derselben.

Die Motive dafür sind

Jetzt hören wir den christlichen Asketen, der das

sehr verschiedener Art.

Irdische verachtet, weil er himmlische Güter zu hoffen berechtigt ist und nach

ihnen begehrt;

bald die Stimme des Eudämonisten,

dessen

ver­

wöhnter Geschmack Ansprüche erhebt, die nicht befriedigt werden können. In manchem finden wir den unmittelbaren Ausdruck eigenen Empfindens;

in anderem begegnen wir einer Reflexion, welche, um den Plan konse­

quent dlirchzuführen, mühsam hier Mängeln, dort Vorzügen nachspürt.

Im Ganzen ist die Schrift, eine Arbeit des späteren Alters, ermüdend

und nicht selten geschmacklos.

Wir verzichten hier darauf, ihren Gedanken­

gang im Zusammenhänge wiederzugeben,

und beschränken uns auf die

Mittheilung einzelner charakteristischer Stellen.

Vorher

bemerken

wir,

daß das umfangreiche Werk in Dialogen abgefaßt ist, welche im ersten Theil zwischen der Hoffnung und Freude auf der einen, der Vernunft

auf der anderen Seite stattfinden, während im zweiten Theile sich die Vernunft mit dem Schmerz und der Furcht unterredet.

Wir beginnen

mit dem ersten Theile.

Ein ungünstiges Urtheil fällt Petrarca über

holungen.

alle Spiele und Er­

Der Tanz erscheint ihm unmännlich, geschmacklos, lästig, ein

Erzeugniß der sinnlichen Begierde.

Auch dem Reiten ist er abhold, es

ist mit Gefahren verbunden und dient den Zwecken des Krieges.

der letzte Grund des Krieges sind — die Pferde." thörichte Zeitvergeudung.

wird getadelt.

„Richt

Die Jagd ist eine

Auch die Uebernahme eines öffentlichen AmtS

„Seine eigenen Geschäfte auszuüben, ist schon eine ar­

beitsreiche Aufgabe; waS bekümmerst du dich um fremde, zumal um die

Angelegenheiten der Mächtigen, denen gefallen zu wollen, eine stete Knecht­ schaft ist; denen zu mißfallen Gefahr bringt!" — die volle Schale seines

Zornes schüttet Petrarca über die Taubenzucht aus. ist niemals Ruhe.

„Im Taubenschlag

Kaum giebt es ein unruhigeres Thier als die Taube.

Sie zanken sich und stöhnen.

Am Tage beschmutzen sie die Wohnungen,

in der Nacht stören sie den Schlaf." Aber auch die werthvollsten Lebensgüter finden vor dem'Eudämonisten *) Wir legen auch hier die Rotterdamer Ausgabe von 1649 zu Grunde.

40*

keine Gnade.

befreit.

Die Ehe ist ihm eine goldene Kette, von der nur der Tod

Ist die Gattin häßlich, so wird man ihrer bald überdrüssig; ist

sie schön, so muß man sie mit Mühe bewachen. Ehe tritt, sagt dem Frieden Lebewohl.

Petrarca kein Verständniß.

Summa, wer in die

Auch für das Aelternglück hat

Söhne bezeichnet er

als ein Unglück und

Hauskreuz; und dem Sohn, der sich seines VaterS freut, ruft er zu: „Er wird dir oder du wirst ihm Trauer bereiten."

Diese herben Urtheile

werden wir etwas milder beurtheilen, wenn wir uns erinnern, daß der

Sohn Petrarca'S übel gerathen war und ihm viel Kummer verursacht hatte; und wenn wir unS ferner vergegenwärtigen, daß sein Vater seinen

eigenen humanistischen Neigungen entschieden entgegen getreten war. Eben­ falls erscheint ihm die pädagogische Thätigkeit als unerquicklich.

Lästig

ist eS, sagt er, sich zur Fassungskraft eines Knaben herabzulassen; lästig,

denselben stets im Auge zu behalten!

ziehung?

Und welcher Lohn winkt der Er­

Die Erfolge des Zöglings werden seinem Talent, die Mißer­

folge der Schuld des Erziehers zugeschrieben. Werth erscheint nur die Tugend,

die,

Als Güter von unbedingtem

ihrer Unvollkommenheit bewußt,

demüthig nach höheren Zielen strebt; die bescheidene, und mit sittlichem

Ernst geeinte Weisheit; die innere Freiheit deS Geistes.

Unter den er­

freuenden Gaben deS Geschickes aber schätzt Petrarca nichts so hoch als

treue Freundschaft; eine Gabe, die ihm auch selbst in reichlichem Maße zu Theil geworden war. —

Weniges heben wir aus

dem

zweiten Theil der Schrift hervor.

Seine ungünstige Beurtheilung der Ehe und des Familienlebens erscheint

hier in gesteigertem Grade, bis an sittliche Rohheit streifend.

Oder wie

sollen wir folgendes Zwiegespräch zwischen dem Schmerz und der Ver­ nunft bezeichnen! Vernunft:

„Der Schmerz:

Ich habe mein Weib verloren!

Die

Unsinniger, stimme einen Jubelhhmnus an — in einem großen

Kampf hast du gesiegt, und von einer langen Belagerung bist du befreit

— niemals vielleicht hat dir ein Tag einen herrlicheren Gewinn gebracht;

welchen Ketten bist du entronnen, aus welchem Schiffbruch gerettet! —

Thorheit ist es,

seine Fesseln,

(II. Dialogus XVIII.)"

das denselben Geist athmet.

Die Vernunft:

Doch

und seien es auch goldene, zu lieben.

Fügen wir noch ein anderes Gespräch hinzu,

„Der Schmerz: Mein Weib ist unfruchtbar.

ein Heilmittel gegen das Ungemach

der Ehe.

Unfruchtbarkeit macht die Frauen gehorsam und demüthig; eine Mutter vieler Kinder glaubt nicht Gattin, sondern Herrin zu sein, während die unfruchtbare weint und schweigt."

Derartige Aeußerungen würden für

den Laura-Kultus Petrarca'S noch gravirender sein, wenn wir nicht an­ nehmen müßten, daß viele Ansichten, die in unserer Schrift ausgesprochen

werden, wesentlich nur als eine Consequenz des einmal acceptirten Schemas zu betrachten sind, welches in jedem scheinbaren Dunkel einen Lichtschimmer

wie in jedem scheinbar Hellen ein finsteres Element zu suchen nöthigt.

Und so ist nicht alles so herbe gemeint, als der Wortlaut an die Hand Doch bleibt immer genug übrig, was mit Recht verletzt. —

giebt.

Wir können unsere Schrift als einen Compromiß des Eudämonismus mit der Wirklichkeit betrachten; ihr Verfasser sucht auf jedem Wege eine Stellung zu dieser zu gewinnen, welche eS ihm ermöglicht, wenn auch mit

erheblicher Resignation, sich eine im Ganzen behagliche Stimmung zu er­ und zu bewahren.

werben

Immer aber bleibt ihm die Summe aller

Lebenserfahrungen unerquicklich genug, um den Tod als Tag der Be­

freiung zu begrüßen; und zwar' nicht sowohl im Sinne des Evangeliums, welches den Tod

als Uebergang zu einer Stätte sittlicher Vollendung,

reineren und reicheren Wirkens verklärt, sondern ebenfalls im Geiste des Eudämonismus, und zwar wesentlich im Geiste des negativen Eudämonis­ Denn es sind nicht sowohl positive Güter, die Petrarca vom Leben

mus.

nach dem Tode erwartet, als vielmehr negative, die Befreiung von allen

den Belästigungen, unter denen er hier so lange geseufzt hat. Wir stehen am Schlüsse unserer Darstellung.

Je länger, desto mehr

hat dieselbe unwillkürlich, wir können es nicht leugnen, den Ton einer

Anklageschrift gegen Petrarca angenommen.

Wir vermochten

eS nicht,

uns dem unerquicklichen Eindruck zu entziehen, den nicht bloß seine maß­ lose Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, nicht bloß sein eudämonistischer Egois­

mus, den e'ben so sehr die Unächtheit seines Empfindungslebens hervor­

bringt.

Ab«er wir wären ungerecht gegen den Begründer des Humanismus,

wenn wir nücht der zwei großen Ideale gedächten, denen er mit aller Be­ geisterung, mit Wahrhaftigkeit und Treue sich hingab, der Liebe zu Italien und der Liebe zum klassischen Alterthum.

Hier entsprangen die Quellen,

aus denen er sittliche Kraft schöpfte; hier begegnen wir Petrarca als einem lauteren, ethisch energischen Charakter. Fehler seiner Zeit; und

Seine Fehler waren die

er besaß nicht die Kraft, sich von ihnen zu

befreien.

Die Selbstherrlichkeit der individuellen Persönlichkeit, die rücksichts­ lose Ausbeutung aller Mittel, um sie zur Geltung zu bringen, das war

die Losung, der jenes Zeitalter folgte.

Wer dieses Ziel mit Erfolg er­

strebte, erschien groß. Die Mächtigen des Staats, Cäsaren, Imperatoren des Alterthums, die kleinen Tyrannen, die kühnen Condottieren der Ge­ genwart wurden bewundert.

Und ihre Glorie fiel auch auf die Dichter

und Geschichtschreiber, welche die Thaten der Mächtigen der Nachwelt überlieferten.

Der Kultus des mächtigen Genius, der Zauber der ge-

wattigen Persönlichkeit hielt die italienische Welt in ihrem Banne.

Und

als milderer Ton mischte sich in diese Stimmen das Erbe des Mittel­ alters, die begeisterte Berehrung einer durch Schönheit oder Rang aus­

gezeichneten Frau, die ihr Sänger als weiblichen Genius verherrlichte. Diese Zeit maß nicht nach ethischen, nur nach ästhetischen Normen;

wo wir jene finden, wie in Petrarca's Laura-Kultus, erkennen wir die Nachwirkung des scheidenden Mittelalters.

Eine ästhetische Zeitrichtung

ist aber nicht zur sittlichen That, nicht auf die ethische Ideenwelt,

selbstverleugnendes Wirken

in

ihrem Dienst

hingewandt,

auf

sondern auf

Genuß, mag er in der sinnlichen Erscheinung beschlossen sein, mag die Phantasie ihn sich erzeugen.

Je nach dem Maß geistiger Bildung ist ein

derber oder ein ästhetisch veredelter Eudämonismus die maßgebende Rich­

tung einer solchen Epoche. Die schweren sittlichen Fehler des Zeitalters der Renaissance waren auch die Fehler Petrarca's.

Aber wie jenes vermöge der ausschließlich

ästhetischen Gestalt, die ihm eignete, Werke geschaffen hat, zu deren un­ sterblicher Schönheit alle Folgezeit bewundernd aufschaut, so war es auch

Petrarca gegeben,

die Sprache, die

lateinische wie die italienische, zu

einem Kunstwerk zu bilden, dessen vollendete Form uns noch jetzt, erfreut.

Vor allem aber hat er in begeisterter Hingabe an das klassische Alter­ thum eine entschwundene Welt dem ästhetischen Bewußtsein vergegenwär­

tigt, welche seitdem eine unversiegbare Quelle höherer geistiger Bildung für uns geworden ist. Was verbunden und innig mit einander verschmolzen das Bild eines,

menschlich gemessen, vollkommnen Geisteslebens erzeugt hätte, sollte nach der höheren Weisheit, welche den Lauf der Geschichte bestimmt, in zeit­

licher Aufeinanderfolge

in

die Erscheinimg

Formenwelt der Renaissance

treten.

Auf

folgte die ethische That

die ästhetische

der Reformation.

Wir dürfen den nicht richten, der, in den Schranken seiner Zeit befangen, mit tieferem ethischen Gehalt den eigenen Charakter nicht erfüllte; wenn wir auch Recht und Pflicht haben, auf die dunkeln Schatten hinzuweisen,

die in Folge dessen auf seine Lebensführung fallen.

Petrarca, nach dem

Maße seiner Zeit gemessen, hat keinen harten Urtheilsspruch zu fürchten; aber vor dem Richterstuhl sittlich kräftiger Zeiten

wird seiner ethischen

Persönlichkeit nur geringe Anerkennung zu Theil werden. Königsberg i. Pr.

H. Jacoby.

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Frage.

Schon wenige Jahre, nachdem zum erstenmale ein Europäer,

der

Spanische Conquistador Nunez de Balbao, 1513 die Landenge von Panamn

vom atlantischen zum stillen Ocean überschritten hatte, tauchte der Gedanke auf, beide Meere hier durch einen Canal zu verbinden.

Cortez plante

1521 einen solchen über den Isthmus von Tehuantepec.

Wie damals,

kam man auch später nicht über die ersten Anläufe hinaus.

Unserer Zeit

scheint es vorbehalten zu sein, das großartige Project zur Ausführung zu bringen.

Die heutige Technik kennt keine natürlichen Schwierigkeiten mehr,

und nach den glänzenden finanziellen Ergebnissen des Suez-CanalS bietet auch die Geldfrage nicht länger ein unüberwindliches Hinderniß.

So hat

man denn nach genauer Durchforschung der Landenge von Mittelamertka

zwiscken dem 5. und 16.0 n. Br. Dutzende von interoceanischen Canal­ linier entworfen.

Schließlich

sind jedoch nur zwei derselben,

diejenige

durch Nicaragua und diejenige zwischen Aspinwall (Colon) und PanamL

ernstlich in Betracht gezogen.

Für die erstere, welche sich auch der Gunst

der Negierung der Vereinigten Staaten erfreut, hat sich bereits 1875 ein

amerkanischer Canalcongreß ausgesprochen, und unbekümmert darum hat ein rom 15. bis 29. Mai 1879 in Paris abgehaltener „Congres inter-

naticnal d’etude du Canal interoceanique“

den Bau des Panamä-

Canals beschlossen und den Urheber des Suez-CanalS,

Ferdinand von

LessesS, zum Leiter des Unternehmens bestimmt. Dieser Beschluß und die Nachricht, daß die sofort gebildete Gesell­ schaft das einer anderen Französischen Compagnie 1878 von der Regie­

rung von Columbien ertheilte Bau-Privilegium erworben und mit den Vorarbeiten begonnen habe, wurden in weiteren Kreisen sympathisch be­ grüßt

Man glaubte ein seit Jahrhunderten vergeblich erstrebtes Ziel

endlih seiner Verwirklichung

nahe

gerückt.

Da trat zu den sonstigen

Schwierigkeiten, auf welche die Unternehmer unter allen Umständen ge-

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Tanal-Frage.

590

faßt sein mußten, unerwartet eine neue politische von nicht zu unter­ schätzender Bedeutung hinzu.

Herr v. Lesseps hatte die Hälfte des veranschlagten Anlagecapitals

für den amerikanischen Markt reservirt und auf eine starke Betheiligung in den Vereinigten Staaten gerechnet.

Statt

ihm diese zu gewähren,

unterzog man dort die Verhandlungen des Pariser Congresses einer nicht

unbegründeten scharfen Kritik in der Presse, erklärte die Sache für phan­ tastisch und unausführbar.

Dann ging man weiter, stellte das Vorhaben

einer Französischen Privatgesellschaft als das Unternehmen einer fremden Regierung dar und läutete mit Erfolg die Glocke der sogenannten Monroe-

Doctrin.

Ehe noch ein Monat verflossen war, stellte General Burnside am

26. Juni 1879 im Senat der Bereinigten Staaten den Antrag, zu erklären:

daß jeder Versuch einer Europäischen Regierung, unter ihrem Schutz oder ihrer Vorherrschaft einen Schiffscanal durch Mittelamerika zu bauen, das Amerikanische Volk ernstlich

beunruhigen und

gegen die Union angesehen werden müsse.

als eine Unfreundlichkeit

Diese Resolution blieb zwar

im Committee für auswärtige Angelegenheiten, an welches sie verwiesen

ward, unerledigt liegen; aber zur Ruhe kam die Sache damit nicht. öffentliche Meinung war erregt.

Die

Die Regierung von Nicaragua bean­

tragte ,im August die Wiederaufnahme der früheren Verhandlungen über den Bau eines interoceanischen Canals durch ihr Gebiet und fand ein­

flußreiche Fürsprecher.

Columbien entsandte, zum erstenmal nach Wieder­

herstellung des diplomatischen Verkehrs, im October einen neuen Minister nach Washington.

Der Präsident Hayes bezeichnete dessen Eintreffen in

seiner Jahresbotschaft an den Congreß vom 1. December 1879 mit Rück­ sicht

auf die neuerdings in den Vordergrund getretene Canalbau-Frage

als einen besonders glücklichen (especially fortunate) Umstand, erwähnte der schwebenden Verhandlungen und

gab deutlich zu erkennen, daß

er

einem Canal durch Nicaragua unter Amerikanischem Schutz (protective

auspices) vor anderen Unternehmungen den Vorzug geben würde.

Im

März 1880 kam der Präsident in einer speciellen Botschaft auf den Gegen­ stand zurück und in seiner letzten Jahresbotschaft vom 6. December s. I.

erklärte er: die vertragsmäßigen Verpflichtungen,

durch welche die Ver-'

einigten Staaten die Neutralität des Transitverkehrs und die Souveränetät und das Eigenthum Columbiens auf dem Isthmus von Panama garantirt hätten, — es

ist der Art. 35 eines Vertrags mit Neu Granada vom

12. December 1846 gemeint, — machten es nothwendig, daß im Fall der

Durchstechung der Landenge die Bedingungen, unter welchen eine so ge­ waltige Veränderung der bestehenden Verhältnisse erfolge, die Genehmigung der amerikanischen Regierung erhielten.

„Es ist das Recht und die Pflicht

der

Vereinigten

Autorität über

Staaten,

fügte er hinzu,

eine solche Oberaufsicht und

irgend einen interoceanischen Canal über die Landenge,

welche Nord- und Süd-Amerika verbindet, geltend zu machen und aufrecht zu erhalten, die unsere nationalen Interessen schützen wird." ES blieb nicht bei Worten.

Authentische Berichte über die von dem

Amerikanischen Ministerresidenten Deichmann in Bogota gepflogenen und

später in Washington auf veränderter Basis weitergeführten Verhandlungen sind allerdings bis jetzt nicht veröffentlicht.

Die erste Jahresbotschaft des

jetzigen Präsidenten Arthur vom 6. December v. I. scheint jedoch die Mit­ theilungen der Presse darüber zu bestätigen.

Danach soll, nachdem der

Versuch mißlungen war, die Columbische Regierung zur Abtretung des­

jenigen Theils des Isthmus von Panama zu bewegen, durch welchen der Canal projectirt ist, der Staatssecretär Evarts kurz vor seinem Rücktritt mit dem Gesandten von Columbien ein Protokoll unterzeichnet haben, wo­

durch die Vereinigten Staaten das Recht erhalten sollten, Befestigungen auf dem Isthmus anzulegen und ihre Kriegsschiffe jederzeit ungehindert durch den Canal passiven zu lassen.

In Bogota erregte die getroffene Vereinbarung einen Sturm des Unwillens.

Der Columbische Senat verwarf dieselbe, und die Regierung

entsandte einen Agenten nach Europa, um die Seemächte und Spanien um Garantie der Neutralität des projectirten Canals anzugehen.

Nun­

mehr hielt Präsident Garfield, der inzwischen am 4. März v. I. die Re­ gierung der Vereinigten Staaten übernommen und sich in seiner Jnaugurationsädresse ähnlich wie sein Vorgänger ausgesprochen hatte, den Augen­

blick für gekommen, die Amerikanischen Gesandtschaften bei den betreffen­

den Höfen instruiren zu lassen, daß sie jeder gemeinschaftlichen Action der

Europäischen Mächte in dieser Angelegenheit in geeigneter Weise entgegen­ zuwirken hätten.

Auffallender Weise übersah jedoch sowohl der Präsident

als sein Staatssecretär, H. James G. Blaine, daß der Anspruch auf eine

ausschließlich Amerikanische Controle über den Canal mit dem am 19. April

1850 zwischen den Vereinigten Staaten und England über etwaige Canal­ anlagen in Mittelamerika abgeschlossenen, unter dem Namen des „ClaytonBulwer-VertragS" bekannten Vertrage schwer in Einklang zu bringen ist.

Die am 24. Juni 1881 an den Gesandten Lowell in London erlassene Depesche erwähnt desselben nicht.

Erst der Nachfolger des seinem Lande

durch die ruchlose That eines niederträchtigen Verbrechers zu früh ent­ rissenen ehrenwerthen Generals Garfield, der jetzige Präsident Arthur, hat, wie sich auS dessen Jahresbotschaft vom 6. December v. I. ergießt, richtig

vorausgesehen, daß die Englische Regierung sich auf diesen Vertrag be­ rufen und aus demselben das Recht ableiten werde, sich an den vier Jahre

592

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Frage.

vorher zwischen den Vereinigten Staaten und Columbien vereinbarten Garantien zu betheiligen. DaS hat dann zu einem weiteren Schrift­

wechsel zwischen der Amerikanischen und der Englischen Regierung geführt, der unlängst dem Britischen Parlament unter dem Titel: „United States. Nr. I. 1882. Correspondence respecting the projected Panama Canal“

vorgelegt ist. Als ich diese diplomatische Correspondenz las, wurde ich dadurch leb­

haft an die Verhandlungen erinnert, welche sich in den Jahren 1853 bis 1861 über die Auslegung des Clayton-Bulwer-Vertrags und die ver­ schiedenen Transitrouten durch Mittelamerika zwischen den Vereinigten Staaten, England, den Centralamerikanischen Staaten und Mexico unter meinen Angen abgespielt haben. Ich hatte damals in Washington be­

sondere Veranlassung, diesen Verhandlungen mit Aufmerksamkeit zu folgen, und Gelegenheit, von manchen Einzelheiten und Actenstücken Kenntniß zu erhalten, die in mehrfacher Beziehung auf die jetzt ventilirten Fragen ein neues Licht werfen und, weil sie niemals veröffentlicht sind, selbst in den Vereinigten Staaten und in England nur sehr wenigen bekannt geworden sein dürften. Ich glaube deshalb allen denen, welche sich für die Her­ stellung einer Canalverbindung zwischen dem Atlantischen und Stillen Ocean interessiren, einen Dienst zu erweisen, wenn ich aus den mir zu Gebote stehenden Materialien dasjenige zusammenstelle, was für die richtige Be­ urtheilung des nunmehr von der amerikanischen Regierung erhobenen

Anspruchs auf Ausübung einer maßgebenden Controle über den projectirten Panamä-Canal von Wichtigkeit ist. Ich beginne mit dem zur Begründung dieses Anspruchs angerufenen, am 12. December 1846 zwischen den Vereinigten Staaten und der jetzt

den Namen „Vereinigte Staaten von Columbien" führenden Republik Neu Granada abgeschlossenen Vertrage*). Es ist dies ein auf liberalster Basis verhandelter Freundschafts-, Schifffahrts- und Handelsvertrag, durch welchen die Regierung von Neu Granada u. A. verspricht, die Bürger der Vereinigten Staaten, ihre Schiffe und Waaren in den Häfen des JsthmuS

von Panama in seiner ganzen Ausdehnung, sowie beim Uebergang über dies Gebiet von See zu See mit den eigenen Bürgern auf völlig gleichem Fuße zu behandeln, — eine Begünstigung, die thatsächlich bisher auch allen anderen Nationen zugestanden wird. Hier kommt nur dessen Ar­ tikel 35, pass. 1. in Betracht. In demselben garantirt die Regierung von Neu Granada der Re­ gierung der Vereinigten Staaten, daß ihr, ihren Bürgern und deren ge-

U. St. Statutes at Large. IX. S. 881.

Die rechtliche und politische Seite der Pana>nL-Lanal-Frage.

593

setzmäßigem (lawful) Handel mit Produkten und Waaren aller Art daWege- oder DurchgangSrechts (tlie right, of way or transit) über den

Isthmus von Panama auf allen Verbindungswegen, Straßen oder Canälen, welche zur Zeit existircn oder hergestellt werden mögen, zustehen solle, ohne dafür höhere Abgaben als die Bürger von Neu Granada zu zahlen u. s. w. Dann heißt es wörtlich weiter: „und um sich selbst den ruhigen und be­

ständigen Genuß dieser Vortheile zu sichern, sowie als eine besondere Ver­

gütung für die gedachten Vortheile und für die Begünstigungen, welche

sie durch die Artikel 4, 5 und 6 — aus deren Inhalt es hier nicht an­ kommt, — erworben haben,

garantiren

die Vereinigten Staaten Neu

Granada durch die gegenwärtige Bestimmung, in positiver und wirksamer Weise, die vollkommene Neutralität des besagten Isthmus, in der Absicht,

daß der freie Verkehr von dem einen Meere zum andern zu keiner künftigen Zeit, so lange dieser Vertrag besteht, unterbrochen oder verhindert werde,

und deshalb garantiren die Vereinigten Staaten gleichfalls in derselben Weise bie Souveränetäts- und Eigenthumsrechte, welche Neu Granada über das genannte Gebiet hat und besitzt*)."

Zu Gunsten des Verkehrs anderer Nationen über den Isthmus sind keine besondere Bestimmungen getroffen.

Ebenso wenig ist irgend etwas

darüber gesagt, daß der souveräne Staat Neu Granada (Columbien) durch diesen Vertrag behindert sein solle, mit anderen Staaten gleiche Verträge

einzugchen.

Der künftige Abschluß solcher Verträge ist denn

auch im

Art. 51 des am 15. April 1850 von der Regierung von Neu Granada mit der Panamü-Eisenbahn-Gesellschaft abgeschlossenen und am 29. Mai

s. I. vom Congreß der Republik genehmigten Contracts über den Bau der Panama-Eisenbahn in unzweideutigen Worten vorgesehen**). Da die

20 Jahre,

vom Tage der Auswechslung der Ratificationen angerechnet,

für welche

der Vertrag ursprünglich

abgeschlossen wurde,

am 12. Juni

1868 abgelaufen sind, kann derselbe seitdem nach Art. 35. pass. 3 jeder­

zeit mit zwölfmonatlicher Frist gekündigt werden.

Die Regierung von

*) Der Englische Text lautet: „and in order to secure to themselves the tranquil and constant enjoyment of these advantages, and as an especial compensation for the said advantages and for the favors they have acquired by the 4th, ßth and ßth articles of thia treaty, the United States guaranty, positively and efficaciously, by the present Stipulation the per­ fect neutrality of the beforementioned isthmus, with the view that the free transit frorn the one to the other sea may not be interrupted or embarrassed in any future time while this treaty exicts; and in consequence, the United States also guaranty, in the same männer, the rights of sovereignty and property which New Granada has and possesses over the said territory.“ **) Ngl. die 1856 von Antonio Artells mit beigefügter Englischer Uebersetzung in New Uork bei John F. Trow veröffentlichte Ausgabe dieses Contracts S. 45.

594

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

Columbien hat es also in ihrer Gewalt, der jetzt von der Amerikanischen

Regierung so laut verkündigten Politik der Geltendmachung eines aus­ schließlichen Schutzrechts über den projectirten Panamü-Canal, schon lange

vor Beendigung des Baus desselben, durch einfache Kündigung des Ver­ trags von 1846 den Boden zu entziehen. Wm. Beach Lawrence erzählt in

seiner

werthvollen Ausgabe von

Wheaton’s international law (2. ed. p. 365): daß Henry Wheaton als

Amerikanischer Gesandter in Berlin

Ende 1845, nach Berathung mit

Alexander von Humboldt, eine eingehende Depesche über die Wichtigkeit der Wiedereröffnung der alten Wasserverbindung zwischen Europa und Indien durch Aegypten und das rothe Nieer, sowie der Herstellung eines

Schiffscanals zwischen dem Atlantischen und stillen Ocean durch die Nordund Süd-Amerika verbindende Landenge an den Amerikanischen StaatSsecretär — den späteren Präsidenten Buchanan — gerichtet und darin zu­

gleich

habe,

anheimgegebe»

diese Wasserstraßen unter die

gemeinsame

Garantie aller Seemächte (the common guarantee of all the maritime

powers) zu stellen.

Man sollte glauben, daß diese ihrem Urheber zu

hoher Ehre gereichende Anregung oder auch der bald nachher ausgebrochene

Krieg mit Mexico, der die Aussicht auf große Landerwerbungen am stillen

Meer eröffnete, den Anlaß dazu gegeben haben müsse,

den wichtigen

Art. 35 in den Vertrag mit Neu Granada aufzunehmen, und daß Wheaton's

Vorschlag in Betreff einer gemeinschaftlichen Garantie aller Seemächte in Folge einer wohlüberlegten Politik unbeachtet geblieben sei. doch keineswegs der Fall.

Das ist je­

Es liegt mir dafür ein unwiderlegliches Zeug­

niß in einer sehr merkwürdigen vertraulichen Botschaft des Präsidenten Buchanan vom 5. April 1860 vor, mit welcher derselbe dem Senat einen am 28. März s. I. mit Honduras abgeschlossenen Vertrag — auf welchen

ich unten zurückkommen werde — zur Mitgenehmigung vorlegte.

In der

Einleitung derselben characterisirt er die allgemeine Politik der Regierung in Betreff der Transitrouten durch Mittelamerika mit den Worten: „Auf

der einen Seite die Bewilligung (grant) freien und ungehinderten Ver­ kehrs über die Transitrouten für die Regierung der Bereinigten Staaten,

und

von der

anderen

Seite eine

Garantie der Neutralität und deS

Schutzes dieser Routen, nicht blos zum Besten der Republiken,

durch

welche dieselben führen, sondern in den Worten unseres Vertrags mit

Neu Granada: ,um sich selbst den ruhigen und beständigen Genuß dieser interoceanischen Verbindungen zu sichern'."

Der Präsident erwähnt dann

ferner, daß der noch vor der Erwerbung CalifornienS und zu einer Zeit, wo die Amerikanischen Interessen an den Küsten deS stillen MeereS un­ gleich geringer als gegenwärtig gewesen seien, 1846 mit Neu Granada

abgeschlossene Vertrag der erste Vertrag sei, in welchem diese Politik zum

Ausdruck komme, und fährt dann, nachdem er die oben angeführten Be­ stimmungen

des Art. 35, pass. 1 citirt hat,

folgendermaßen fort:

„ES

verdient bemerkt zu werden, daß, als dieser Vertrag an den Senat ge­ sandt ward, er von einer Botschaft des Präsidenten Polk vom 10. Februar

1847 begleitet war, in welcher die Aufmerksamkeit jener Körperschaft auf diese wichtigen Bestimmungen deS Art. 35 hingelenkt und ferner angeführt

wlirde, daß unser Geschäftsträger — es war Herr Benjamin A. Bidlack —,

welcher den Vertrag verhandelte, ,rücksichtlich

dieses Punktes auf feine

eigene Verantwortlichkeit und ohne Instructionen handelte' (it was stated moreover that our Charge d’affaires who negotiated the treaty, ,acted iu this partikular upon Ins own responsability and without

instructions’).

Unter diesen Umständen wurde der Vertrag vom Senat

genehmigt und die von mir erwähnte Transitpolitik mit Bedacht (deliberately) angenommen."

Dieser Erklärung ungeachtet, scheint übrigens zu jener Zeit weder die Amerikanische Regierung noch der Senat besonderes Gewicht auf den

Art. 35 gelegt zu haben.

Denn des Abschlusses des Vertrages wurde in

der letzten Jahresbotschaft deS Präsidenten Polk vom 5. December 1848 lediglich mit den Worten erwähnt:

„Vortheilhafte Handelsverträge sind

in den letzten 4 Jahren mit Neu Granada, Peru, Beiden Sicilien, Belgien, Hannover, Oldenburg und Mecklenburg-Schwerin abgeschlossen."

In der

Jahresbotschaft vom 7. December 1847 war des Vertrages wahrscheinlich deshalb nicht Erwähnung gethan, weil damals die Ratificationen noch

nicht ausgetauscht waren,

obgleich die Ankündigung:

daß der Marine­

minister Contracte wegen deS Baus von Postdampfschiffen zur Fahrt von New 9)otf, via Havana, nach Chagres, und von PanamL nach Oregon abgeschlossen habe, guten Anlaß dazu geboten hätte.

Um später nicht den Zusammenhang unterbrechen zu müssen, will ich gleich hier daS Nöthige über die weiteren Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Neu Granada (Columbien) anführen.

Die am 15. April 1850 von der Regierung von Neu Granada con-

cessionirte Panamä-Eisenbahn wurde am 28. Januar 1855 eröffnet.

Am

15. April 1856 machten Bewohner von Panama einen aufrührerischen

Angriff auf die Anlagen der Eisenbahngefellschaft, wobei mehrere Amerikaner um'S Leben kamen, andere beraubt wurden, und viel Eigenthum zerstört ward (die sogenannten „Panama riots“).

Die Betheiligten wandten sich

mit ihren Klagen an die Regierung der Vereinigten Staaten.

Der nicht

zur Ausführung gekommene Versuch Neu Granada'S, eine neue Hafenab­ gabe und eine Post- und Transitabgabe auf der Eisenbahn einzuführen,

596

Die rechtliche und politische Seite der Panama-Canal-Frage.

gab derselben weiteren Anlaß zur Beschwerde.

Der Präsident Pierce ent­

sandte Kriegsschiffe zum Schutz der Transitroute nach dem Isthmus und kündigte dies dem Congreß in seiner Jahresbotschaft vom 2. December 1856 unter lebhaften Auslassungen über das vertragswidrige Verfahren Neu Granada's mit dem Bemerken an, daß die Kriegsschiffe, seines Er­ achtens, dort so lange belassen werden müßten, bis entsprechende Ueber­

einkommen

(adequate arrangements) getroffen seien,

um

interoceanischer Verbindung zu schützen und sicher zu stellen,

eine

Linie

die bereits

nicht nur für die Vereinigten Staaten, „sondern auch für alle übrigen

Seestaaten, sowohl in Europa als in Amerika", sehr wichtig sei. Die sofort in Bogota eingeleiteten Unterhandlungen hatten kein Re­ sultat.

Präsident Buchanan, der inzwischen die Regierung übernommen

hatte, beauftragte am 17. April 1857 den Amerikanischen Gesandten, seine

Pässe

zu

verlangen.

Im

Sommer

Washington wieder ausgenommen.

die

wurden

Verhandlungen

in

Die Amerikanische Regierung wünschte

eine Art von Amerikanischer Municipalverwaltung auf dem Isthmus ein­

geführt zu sehen, welche ihr die Polizeihoheit über die Panama-Eisenbahn geben sollte, und auf einer der Inseln in der Bay von Panama festen Fuß zu fassen.

Sie hat schließlich weder das eine noch das andere durch­

zusetzen vermocht.

Ein am 10. September 1857 von dem StaatSsecretar

Caß und dem früheren Präsidenten und damaligen Gesandten von Nen Granada, General Herran, alle vor Abschluß

Reclamationen,

der

unterzeichneter Vertrag verwies im Art. 1

Convention

namentlich

gegen

diejenigen

Neu

wegen

Granada

angebrachten

der sogenannten Panama

riots, „für welche die gedachte Regierung von Neu Granada ihre aus ihrem Privilegium und ihrer Verpflichtung, Frieden und gute Ordnung längs der Transitroute aufrecht zu erhalten, entspringende Verbindlichkeit anerkennt", zur Entscheidung einer gemischten Commission, worüber die

folgenden

Artikel

7. Artikel gestattete

die

näheren

Bestimmungen

enthielten.

Neu Granada der Amerikanischen

Durch

den

Regierung,

auf

einer der Inseln der Bay von Panama Land in der Größe von höchstens

100 Acres zu kaufen oder zu pachten und abgabenfrei zu besitzen, um darauf ein Kohlendepot, Werste, Hafendämme und andere Baulichkeiten

(„other buildingsu) anzulegen,

wodurch jedoch die Souveränetät Neu

Granadas über dieses Land in keiner Weise beeinträchtigt werden solle

(shall not be impaired or affected).

Die Fragen der Hafentaxe, der

Post- und Transitabgabe bleiben in dem Vertrage unberührt.

Als ich

gegen den General Herran mein Erstaunen darüber äußerte, daß er in die Aufnahme der Worte „other buildings“

in den Art. 7 gewilligt

habe, weil daraus das Recht zur Anlage von Befestigungen abgeleitet

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Tanal-Frage.

597

werden könne, erwiderte er: daß daran offenbar nicht gedacht werde, da

ja die Sonvcränetät Neu Granada's über das Land ausdrücklich aner­ kannt sei; die ganze den Vereinigten Staaten gemachte Concession bestehe

überhaupt nur in dem Zugeständniß der Abgabenfreiheit, denn in Neu

Granada könne jeder Fremde auch ohne Genehmigung der Regierung Land

kaufen oder pachtweise erwerben.

Anders und bedenklicher faßte man jedoch die Sache in Bogotü auf. Der Senat der Republik lehnte den Art. 7 gänzlich ab und nahm auch an den oben angeführten Worten des Art. 1 Anstoß, die er in der Art

modificirt zu sehen verlangte, daß die Regierung von Neu Granada nur die ihr nach dem Völkerrecht und nach dem natürlichen Recht obliegende Verpflichtung zur Aufrechthaltung der Ruhe auf der Transitroute aner­ kenne.

Bkit diesen und einigen mehr redactionellen Amendements gelangte

der Caß-Hcrran-Bertrag nach Washington zurück, und nach längeren Ver­ handlungen erklärte sich die Amerikanische Regierung bereit,

den bean­

standeten Art. 7 fallen zu lassen, bestand jedoch auf Aufrechthaltung der bestrittenen Worte des Art. 1.

Dem solchergestalt modificirten Vertrage

ertheilte der Amerikanische Senat am 8. März 1859 seine Mitgenehmi­ gung, nachdem er seinerseits abermals ein neues Amendement deS In­ halts hinzugefügt hatte: daß auch die nachträglich bis zum 1. Sept. 1859 angebrachten Reclamationen — es waren deren allein aus den sogenannten

Panamü riots nicht weniger als 161 angemeldet — zur Entscheidung der Commission verstellt werden sollten.

So abgeändert wurde der Vertrag

vom 10. September 1857 dem Senat von Neu Granada zum

zweiten

Male vorgelegt und, nachdem er dessen Zustimmung erhalten, wurden die

Ratificationen endlich am 5. November 1860 in Washington ausgetauscht,

und der Vertrag dort am 8. s. M. publicirt*). Als charakteristisch für die Art, wie die Administration deS Präsi­ denten Buchanan in jeder Beziehung einen maßgebenden Einfluß über

die Mittelamerikanischen Transitrouten zu gewinnen versuchte, verdient in diesem Zusammenhänge im Uebrigen nur noch der folgende Vorgang Er­ wähnung.

Die Regierung von Neu Granada hatte einem Amerikanischen

Dampfschiff- Speculanten Ambrose W. Thompson werthvolle Privilegien

für die Einrichtung einer Transitroute über den Isthmus von Chirique

unter der ausdrücklichen Bedingung bewilligt, fremde Regierung übertragen werden dürften.

daß dieselben

auf keine

Thompson ließ sich dadurch

nicht abhalten, am 21. Mai 1859 einen Conträct mit dem Amerikanischen

*) U. St. Statutes at Large XII S. 985. Vgl. auch ibid. XIII S. 685, ZusatzEonvention vom 10. Februar 1864.

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

598

Marineminister Touceh

Privilegien

abzuschließen,

wodurch

der Amerikanischen Regierung

die

Ausbeutung

überlassen

wurde.

dieser

Dieselbe

trug kein Bedenken darauf einzugehen, weil ihrer Ansicht nach die Ueber-

tragung des Nießbraitchs der Privilegien durch die erwähnte Bedingung

nicht ausgeschlossen werde, und der Congreß ließ sich denn auch im Winter

1859—1860 bereit finden, eine größere Summe zur Erforschung dieses Isthmus zu bewilligen.

Indem ich nunmehr zu dem Clahton-Bulwer-Bertrage vom 19. April 1850 und den Verhandlungen, zu welchen derselbe später Anlaß gegeben

hat, übergehe, glaube ich meine Bemerkungen darüber nicht besser einleiten zu können, als durch Anführung der Worte, mit welchen sich Prä­ sident Buchanan in seiner bereits erwähnten Botschaft an den Senat vom

5. April 1860 über diesen Vertrag ausspricht.

Sie beweisen meiltes Er­

achtens deutlich, daß Herr Buchanan den neuerdings von der Amerikani­ schen Regierung eingenommenen Standpunkt keineswegs getheilt hat.

In

unmittelbarem Anschluß an die oben angeführten Bemerkungen über den Neu-Granada-Bertrag von 1846 fährt der Präsident nämlich folgender­

maßen fort:

„Der Zeitfolge nach ist von diesen Transit- und Garantie-

Verträgen derjenige mit Großbritannien vom 19. April 1850,

der ge­

wöhnlich der Clayton- und Bulwer-Vertrag genannt wird, der nächste. Dieser Vertrag stellte,

in Bestätigung

der Politik

des Neu-Granada-

Vertrages, ein allgemeines Princip auf, welches, glaube ich, seitdem immer das Verhalten beider Regierungen geleitet hat.

(„This Treaty, in affir-

mance of the policy of the Clayton and Bulwer Treaty, established a general principle, which has ever since, I believe, guided the pro-

ceedings of both governments.“) die folgenden

Bestimmungen:

Der 8. Artikel jenes Vertrags enthält

,Da die Regierungen der Vereinigten

Staaten und Großbritanniens, als sie diesen Vertrag eingingen, nicht bloß einen besonderen Zweck (nämlich den in der Einleitung dieses Vertrages

als das nächste Ziel hingestellten Kanal durch Nicaragua) zu erreichen,

sondern zugleich ein allgemeines Princip aufzustellen wünschten, kommen sie hierdurch

überein,

im

Wege

vertragsmäßiger

Verpflichtung

ihren

Schutz auf jede andere ausführbare Verbindung, sei es mittelst Kanals

oder Eisenbahn,

über den

verbindet, auszudehnen;

Isthmus, welcher

Nord- und

Südamerika

und insbesondere auf die interoceanischen Ver­

bindungen, sofern dieselben sich

als

ausführbar erweisen

sollten,

sei

es mittelst Kanals oder Eisenbahn, deren Herstellung über Tehuantepec oder Panama jetzt vorgeschlagen ist, und daß die gedachten Kanäle oder

Eisenbahnen unter den gleichen Bedingungen auch den Bürgern und Unter­ thanen jedes anderen Staats offen stehen sollen, der bereit ist, denselben

eben solchen Schutz zu bewilligen, wie die Vereinigten Staaten und Groß­ britannien ihn zu gewähren beabsichtigen."

Die Vereinigten Staaten hatten zur Zeit des Abschlusses des Clahton-

Bulwer-Vertrageö keinerlei Besitzungen in Centralamerika und übten dort England besaß dagegen damals, außer

keine Art von Herrschaft auS.

seiner Niederlassung in Belize, Ruatan und andere Inseln an der Küste

von Honduras (die sogenannten Bah Islands) und hatte ein Protektorat über die an der Küste von Nicaragua angesiedelten Mosquito-Jndianer.

Die Amerikanische Regierung wollte die damaligen Verhandlungen dazu

benutzen, den großen Einfluß, welchen England naturgemäß in Folge da­

von in Centralamerika auSübte, einfürallemal zu beseitigen.

Sie glaubte

diesen Zweck durch Aufnahme der Bestimmung in den Artikel 1 des Ver­ trages erreichen zu können:

daß beide Theile sich verpflichteten, für sich

selbst keine ausschließliche Controle über den projectirten Kanal zu er­ langen oder zu behaupten (to obtain or maintain), und weder Befesti­ gungen an demselben oder in der Nähe desselben anzulegen oder zu be­

haupten (errect or maintain), noch auch Nicaragua, Costa Rica,

die

Mosquito-Küste oder irgend einen Theil von Centralamerika zu occupiren,

oder zu befestigen, oder zu colonisiren, oder irgend eine Herrschaft darüber sich beizulegen (assume) oder auszuüben, noch von irgend einem ihnen

zustehenden Schutzrecht (protection) Ende

Gebrauch zu machen.

oder irgend einer Allianz zu dem

Die Amerikanische Regierung faßte diese

Bestimmungen so auf, daß dieselben zwar für sie selbst nur eine Be­ schränkung für die Zukunft enthalten, für England aber, das thatsächlich die ganze Ostküste jenes Gebiets beherrschte, nicht nur in Zukunft, son­

dern sofort wirksam sein sollten, während England denselben auch für sich nur eine Bedeutung

für die Zukunft beilegte.

In den diplomatischen

Kreisen von Washington wollte man wissen, daß die sehr unbestimmte

Fassung des Artikels 1 auf den besonderen Wunsch des Staatssekretärs Clayton gewählt fei, um zu verhindern, daß der englische Unterhändler,

Sir Henry Lytton Bulwer, das britische Protektorat über die MosquitoJndianer ebenso in einer speciellen Note reservire, wie er es vor dem

Austausche der Ratifikationen rücksichtlich der britischen Niederlassungen

in Honduras durch richtig ist,

Congreß

eine Note vom 29. Juni 1850 that*).

vermag ich nicht zu

controliren.

Ob dies

Die dem Amerikanischen

mit der Jahresbotschaft des Präsidenten Pierce vom 31. De­

zember 1855 vorgelegten Aktenstücke enthalten Manches, was dafür zu

*) Vgl. über letztere: 34th Congr. lsl Sess. Ho. of Bepr. Ex. Doc. No. 1. vol. I. S. 18 ic. Lawrence’s Wheaton, 2 ed. S. 455. Phillimore’s Commentaries P. III. Chap. IX. 88 206—208. Preußische Jahrbücher. Bd. XUX. Heft 6.

41

Die rechtliche und politische Seite der Panamü-Canal-Frage.

600

sprechen scheint.

Gewiß ist, daß alle späteren Streitigkeiten zwischen den

Vereinigten Staaten und England über den Clayton-Bulwer-Vertrag, die mehrfach zu einem offenen Bruch zu führen drohten, sich nur um die

Auslegung dieser Stipulationen, aber niemals um diejenigen über die

Anlage und die Neutralität des projectirten Kanals oder um

das im

Artikel 8 ausgesprochene allgemeine Prinzip gedreht haben.

Die Erkenntniß, daß man die Bestimmungen des Art. 1 verschieden verstehe,

und die beiderseitigen Bemühungen

die daraus erwachsenden

Differenzen auszugleichen, ließen nicht lange auf sich warten.

Deutet doch

sogar schon die Jahresbotschaft deö Präsidenten Fillmore vom 2. De­

zember 1850, in welcher der Abschluß deS Vertrages angekündigt wird, die Möglichkeit solcher Differenzen leise an.

Die ersten Schwierigkeiten

erhoben sich über San Juan del diorte oder Greytown an der Mündung

des für die Transitroute durch Nicaragua in Aussicht genommenen San

Juan-FlusseS in den Golf von Mexiko.

Die Stadt, welche früher als

zu Nicaragua gehörig angesehen ward, war im Jahre 1848

von den

Engländern unter dem Vorwande besetzt, daß sie zum Gebiet der Mos-

quito-Jndianer gehöre, und war, da Nicaragua Jene nicht zu vertreiben

vermochte, ganz wider Erwarten der Washingtoner Regierung, auch nach Abschluß deö Clahton-Bulwer-VertrageS unter englischem Protektorat ver­ blieben.

Die Amerikanische Regierung erkannte dieses Protektorat nicht

an, weil sie den in einer Entscheidung deS Oberbundesgerichts von 1846*) für

die Vereinigten Staaten aufgestellten Satz:

daß die eingeborenen

Indianer niemals als unabhängige Nation betrachtet seien, auch auf die MoSquito-Judianer anwenden zu dürfen glaubte und deßhalb das von

diesen bewohnte Gebiet als Theil von Nicaragua ansah. — Die englische

Regierung wollte diese Theorie von der Unfähigkeit der Indianer zur Ausübung von Souveränetätsrcchten nicht als bindend für andere Staaten

anerkennen, obgleich sie einräumte, in früheren Zeiten selbst darnach ver­ fahren zu haben.

Sie berief sich auf ihr seit langer Zeit bestehendes

und bis Ende 1849 auch von den Vereinigten Staaten nicht angezweifeltes

Schutzrecht über die Mosquito-Jndianer, deren König sogar gelegentlich in Jamaika gekrönt war, und behauptete, daß der Vertrag von 1850

zwar den aus diesem Protektorat sich ergebenden Einfluß habe beschränken

sollen,

jedoch keineswegs dessen Aufhebung beabsichtigt habe.

aber zugleich

bereitwillig

30. April 1852 kam

zu einer Verständigung die Hand,

ein neuer Vertrag zwischen dem

Staatssekretär Webster und dem

*) Lawrences Wheaton S. 264.

englischen Gesandten

Sie bot

und am

Amerikanischen in Washington

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Frage.

601

John F. Crampton zu Stande, durch den die Verhältnisse in Central­

amerika definitiv geordnet werden sollten, und u. a. bestimmt ward: daß San Juan del Norte (Grehtown) an Nicaragua zurückfallen solle. Die Ratification dieses Vertrages unterblieb jedoch, weil der Congreß von Nicaragua am 19. Juli desselben Jahres wegen der ihm darin zugemutheten Zahlung einer geringen Entschädigung an den König von Mos-

quitien, sowie wegen der zugleich beabsichtigten Grenzregulirung zwischen Nicaragua und Costa Rica Protest dagegen einlegte. UebrigenS hatte Grehtown bereits am 29. März 1852 eine eigene Stadtverfassung er­

halten, wodurch die Stadt von dem sogenannten Könige von Mosquiticn, dessen Flagge sie allerdings beibehielt, fast ganz unabhängig ward und das Recht bekam, sich eine eigene Municipalität zu wählen, die sofort in

die Hände der dort ansäßigen Nordamerikaner überging. Mit den weiteren Verhandlungen wurde nunmehr der Amerikanische Gesandte in London beauftragt, und Präsident Pierce konnte, indem er dies dem Congreß mittheilte, schon in seiner ersten Jahresbotschaft vom 5. Dezember 1853 von „embarrassanten" Fragen mit England in Betreff Centralamerikas reden. Diese Eröffnung führte im Januar 1854 zu der ersten größeren Discussion über den Clahton-Bulwer-Vertrag im Senat, indem der spätere Staatssecretär General Caß denselben lebhaft angriff, während dessen Unterhändler, Senator Clayton, sein Werk glänzend ver­ theidigte. Aus der Rede des letzteren vom 16. selben Monats verdient hervorgehoben zu werden, daß er zwar die Aufrechthaltung der Neutralität

auf dem Gebiete zwischen Nord- und Südamerika für alle Zukunft für eine unerläßliche Nothwendigkeit erklärte, zugleich aber stark betonte, daß die Vereinigten Staaten dort nichts, was einem Monopol ähnlich sähe, für sich verlangten, sondern gern einwilligten, daß Andere mit ihnen die gleichen Rechte genössen. („We (Jemand nothing like a monopoly for ourselves, hat are willing that others shall enjoy equal rights

with us.“)

Am 13. Juli 1854 führten verschiedene Streitigkeiten zwischen den städtischen Behörden von Grehtown und der Nicaragua Transit Company

sowie eine von der Stadtverwaltung nicht verschuldete Jnsultirung des rohen Amerikanischen Gesandten Borland zu der berüchtigten brutalen Zerstörung der unglücklichen Stadt durch das Amerikanische Kriegsschiff „Cyane", Capitän Hollins.

Diese Vorgänge und die unerledigten Miß­

verständnisse zwischen den Vereinigten Staaten und England in Betreff der Auslegung des Vertrages von 1850 boten dem Präsidenten Pierce

reichen Stoff zur Besprechung in seiner Jahresbotschaft vom 4. Decem­ ber 1854.

602

Die rechtliche und politische Seite der Panamü-Canal-Frage.

Von dem Wunsche beseelt, zunächst wenigstens die Differenzen in Betreff des ProtectoratS über die MoSquito-Jndianer aus der Welt zu

schaffen, trat nunmehr H. Crampton mit seinem College» von Nicaragua, H. v. Marcoleta, in directe Verhandlung, und im October 1855 kam

zwischen ihnen ein Vertrag in 14 Artikeln zu Stande, wonach Greytown, daS zugleich zum Freihafen erklärt wurde, und die ganze MoSquito-Küste gegen eine an deren König genannten Chef zu zahlende billige Entschädi­

gung an Nicaragua zurückfallen sollte, und England seine guten Dienste versprach, um auch Honduras zum Verzicht auf alle Rechte an diese Küste

zu bewegen. Aber ehe noch Herr v. Marcoleta den Vertrag an seine Regierung einzusenden vermochte, hatte diese zu existiren aufgehört,

berüchtigten

Amerikanischen

Freibeuter

General

William

weil eS dem Walker

am

12. October gelungen war, Granada zu besetzen und sich interimistisch zum

Herrn von Nicaragua zu machen, wo er demnächst im Interesse der Nord­ amerikanischen Südstaaten die Sklaverei wieder einzuführen versuchte und

die Vanderbiltsche

Concession

für

den

interoceanischen

Transitverkehr

widerrief*). Fast gleichzeitig mit der Nachricht hiervon traf Anfang November 1855

auch die Meldung in Washington ein, daß die in London zwischen Lord Clarendon und

dem

Amerikanischen

Gesandten,

späteren Präsidenten,

Buchanan gepflogenen Verhandlungen über das Verständniß des Clahton-

Bulwer-VertrageS abgebrochen seien,

und erregte um so größere Ver­

stimmung, weil gerade damals die ernsten Differenzen mit England über

die

bekannte Recrutirungsangelegenheit

eine

bedenkliche

Wendung

zu

nehmen begannen.

In seiner Jahresbotschaft vom 31. December 1855, welcher die be­ treffende Correspondenz angeschlossen war**), machte Präsident Pierce hier­

von mit dem Bemerken Mittheilung, daß der Vertrag durch Englands Verhalten praktisch nichtig (practically null) geworden sei, und die Sach­

lage, wenn er auch die Hoffnung auf eine freundschaftliche Lösung der Differenzen nicht aufgeben wolle, ernste Gefahr einer Störung der guten Beziehungen mit sich führe.

Offen sprach der Präsident zugleich aus,

daß der Clahton-Bulwer-Vertrag niemals von den Vereinigten Staaten eingegangen sein würde, wenn sie denselben nicht so verstanden hätten,

*) Walker hat wenige Monate vor seinem unrühmlichen Tode selbst die Geschichte dieses seines erfolgreichsten Freibeuterzuges, den er dadurch zu rechtsertigen ver­ suchte, in einem dicken Buche unter dem Titel: „The War in Nicaragua, by General W. Walker“, Mobile 1860, veröffentlicht. **) 34th Congr. Ist Sess. Ho. of Kepr. Ex. Doc. No. 1 vol. I S. 40—120.

daß dadurch beide Theile für Vergangenheit und Zukunft auf alle und jede Ansprüche und "Nechte in Centralamerika Verzicht leisteten, was Eng­

land nicht anerkennen wolle.

Daß Lord Clarendon bet den Verhandlungen

mit Herrn Buchanan mündlich vorgeschlagen hatte, diese Differenz zum Schiedsspruch einer dritten Macht zu verstellen, ließ General Pierce un­

erwähnt, und doch ist kaum ein stärkerer Beweis für die bona fides der

Englischen Regierung denkbar,

als gerade dieser Vorschlag, da nur sie

selbst möglicherweise durch eine solche schiedsrichterlicher Entscheidung ver­ lieren konnte, nicht aber die Vereinigten Staaten, die keinerlei Besitzrechte

in Centralamerika in Anspruch nahmen.

Nicht minder bleibt in der Bot­

schaft unerwähnt, daß der darin angekündigte mit Nicaragua abgeschlossene

Freundschafts-, Handels- und Schiffahrts-Vertrag auch einen Artikel ent­

hielt, durch welchen die Vereinigten Staaten die Hoheitsrechte Nicaraguas über die MoSquito-Küste anerkennen.

Thatsächlich blieb allerdings auch

dieser kurz vor der Walker'schen Expedition mit dem früheren legitimen

Präsidenten Estrada abgeschlossene Vertrag ohne alle Wirkung, weil er in

Folge jenes Freibeuterzugs niemals ratificirt ward. —

Obwohl die Differenzen mit England

über das Verständniß

des

Clahton-Bulwer-Vertrages in der Jahresbotschaft von 1855 in erster,

diejenigen über die Recrutirungsangelegenheit erst in zweiter Linie be­

sprochen werden, ist eS doch nicht zweifelhaft, daß die letzteren damals weit­ aus die wichtigeren und ernsteren waren.

ES war die Absicht der Re­

gierung, beide in Verbindung mit einander zu behandeln.

Der kluge

StaatSsecretär Marcy wünschte persönlich die Verhandlungen über den Vertrag

mit Herrn Crampton wieder aufzunehmen, um, falls sie zum

Ziele führten, dadurch zugleich Herrn Buchanan, der nicht reussirt hatte, als Candidaten für die nächste Präsidentenwahl weniger gefährlich zu machen; und er gedachte die dabei als Pressionsmittel zu benützende Recrutirungs­

angelegenheit alsdann ganz fallen zu lasten.

Die Besprechungen zwischen den Herren March und Crampton blieben

resultatloS; dagegen einigten sich Lord Clarendon und der inzwischen an Herrn Buchanan'S Stelle getretene neue Amerikanische Gesandte in Lon­

don, Herr DallaS, am 17. October 1856 über einen Vertrag*), wodurch man alle bisherigen Differenzen dauernd ausgeglichen und Nicaragua'S

Souveränetät über das streitige Gebiet in einer Weise zur Anerkennung

gebracht zu haben glaubte, die zu weiteren Mißverständnissen keinen Anlaß

bieten könne.

In seiner letzten Jahresbotschaft vom 2. December 1856

*) Dieser Vertrag nebst den später von dem Amerikanischen Senat dazu beschlossenen Amendement« ist u. A. in der „New York Times“ vom 19. März 1857 ab­ gedruckt.

Die rechtliche und politische Seile der Panamä-Caiial-Frage.

604

erklärte Präsident Pierce, daß wenn dieser Zusatz-Vertrag von allen Be­ theiligten angenommen werde, der mit dem Originalvertrage von 1850

beabsichtigte Zweck völlig erreicht werden würde. des

Den eigentlichen Zweck

Clayton-Bulwer-Vertrages aber bezeichnete er mit den Worten:

„zum Besten aller Nationen die Neutralität und die gemeinschaftliche Be­

nutzung aller Transitrouten oder interoceanischen Verbindungen über den Isthmus von Panamü sicher zu stellen, welche innerhalb der Grenzen von Centralamerika eröffnet werden möchten" („to secure for the benefit

of all nations, the neutrality and common use of any transit-way or interoceanic communication, across the Isthmus of Panama, which

might

he opened within the limits of Central America“).

Herr

Buchanan, der drei Monate nachher, am 4. März 1857, den Präsidenten­

stuhl der Bereinigten Staaten bestieg, machte jedoch seine Genehmigung

des Clarendon-Dallas-Vertrages von verschiedenen Modificationen desselben abhängig.

Der Senat kam seinen Wünschen entgegen und nahm den

Vertrag am 12. März mit 32 gegen 15 Stimmen nur mit verschiedenen

Amendements an.

Die beiden wichtigsten derselben gingen dahin, daß die

Vereinigten Staaten es ablehnten, die von dem sogenannten MosquitoKönige

ertheilten

Landbewilligungen

(grants)

mitzugarantiren,

diese

Garantie vielmehr England allein überlassen wollten und daß sie ferner

an der ausdrücklichen Erwähnung eines am 26. August 1856 zwischen

England und Honduras abgeschlossenen, jedoch damals noch nicht ratisicbeten, Vertrages Anstoß nahmen, weil die Souveränetät von Honduras über die Bay Islands darin, ihres Erachtens, zu beschränkt anerkannt,

auch darin ausdrücklich bestimmt war, daß in dem abgetretenen Gebiete

niemals die Sklaverei

eingeführt werden dürfe.

Das durch Walker'S

scheinbare Erfolge in Nicaragua gesteigerte Gelüste der Sklavenhalter, durch Einführung der Sklaverei in Centralamerika im Laufe der Zeit die

eigene Macht zu verstärken, war bereits bei den lebhaften Debatten deutlich hervorgetreten,

welche

vom 28.—31. Januar 1857

im Amerikanischen

Senat über die Centralamerikanische Frage Statt hatten, und welche da­

mit endeten, daß der spätere berühmte Staatssecretär Lincoln's, W. H. Seward, sie durch scheinbares Einstimmen in das Kriegsgeschrei gegen England erschreckte, indem er als Grund dafür anführte, daß man in

solchem Kriege Canada annectiren und daraus mehrere neue freie Staaten bilden könne.

Ich glaube schon hier anführen zu müssen, daß der beanstandete Ver­ trag Englands mit Honduras vom 26. August 1856 noch eine andere

Stipulation enthält, die wenn sie auch bei der Beschlußfassung des Senats

über den Clarendon-DallaS-Vertrag nicht in Betracht kam, für die ganze

Frage der interoceanischen Communication von hohem Interesse ist. Die Regierung von Honduras hatte am 23. Juni 1853 mit einer Amerikani­ schen Gesellschaft unter dem Namen „Honduras Interoceanic Railway Company“ einen Contract über Erbauung einer Eisenbahn von Porto

CaballoS am Atlantischen nach der Bah von Fonseca am stillen Meere geschlossen, der, nach Genehmigung durch die Legislatur, am 28. April 1854 als Gesetz proclamirt war. Durch Artikel 5 sub 6 dieses ContractS ver­

pflichtete sich die Regierung von Honduras u. A. mit den ihr befreun­ deten Regierungen in Unterhandlung zu treten, um zum Schutz dieser Verbindungslinie eine Garantie ewiger (perpetual) Neutralität, in Ueber­ einstimmung mit den Bestimmungen des Cläyton-Bulwer-VertrageS vom

19. April 1850, auözuwirken*).

Durch einen Zusatz-Artikel zur Con­

vention vom 26. August 1856 erkennt nun England die Souveränetät und daS EtgenthumSrecht von Honduras an der projectirten interoceani­ schen Eisenbahn an, garantirt positiv und wirksam (positively and efficaciously) die vollständige Neutralität derselben und verpflichtet sich, so­ bald die Bahn vollendet sein werde, sie in Verbindung mit Honduras gegen Unterbrechung, Wegnahme und ungerechte Confiscation, von welcher Seite solche auch versucht werden möge, zu schützen**). Dieser ZusatzArtikel des Vertrages von 1856, der, wenn ich recht unterrichtet bin, nod). ehe am 24. August 1857 die Ratificationen ausgetauscht wurden, bereits im Juli desselben JahreS auch von Frankreich seinem älteren Vertrag mit Honduras hinzugefügt ist, wurde im letzten Regierungsjahre deS Präsi­ denten Buchanan wörtlich als Artikel 14 in einen am 28. März 1860 zwischen den Vereinigten Staaten und Honduras abgeschlossenen FreundschaftS-, Handels- und Schiffahrtsvertrag ausgenommen. Der Amerikani­ schen Regierung war damals so sehr am Abschluß dieses Vertrages ge­ legen, daß sie sogar keinen Anstoß an der starken Beimischung von Negerblut in der Person deS. Unterhändlers von Honduras, H. Alvarado, nahm, sondern ihm die freundlichste Aufnahme gewährte. Die schon mehrfach

von mir angezogene vertrauliche Botschaft des Präsidenten Buchanan vom 5. April 1860 war in erster Linie der Genehmigung dieses Vertrages gewidmet. Derselbe wurde am 26. Juni desselben JahreS vom Ameri­ kanischen Senat genehmigt. Er scheint aber damals, ich weiß nicht aus welchen Gründen, bet der Legislatur von Honduras auf Widerstand ge*) Die Hauptbestimmungen dieses ContractS sind in E. G. Squier „Notes on Central America“, New Dort 1855, S- 263 und in der von Karl Andree unter dem Titel: „Die Staaten von Centralamerika, von G. Squier", Leipzig 1856, herausgegebenen Deutschen Bearbeitung dieses Werks, S. 260, angeführt. **) Die betreffenden Papiere sind dem Englischen House of Lords im Jahre 1859 vorgelegt.

Die rechtliche uub politische Seite der PanamL-Eanal-Frage.

606

stoßen zu sein.

Unter der Regierung des Präsidenten Lincoln wurden

die Verhandlungen wieder ausgenommen,

und

der am 4. Juli 1864

zwischen den Bereinigten Staaten und Honduras abgeschlossene FreundschaftS-, Handels- und Schiffahrtsvertrag, dessen Ratificationen am 5. Mai

1865 ausgetauscht wurden*), stimmt in seinem Artikel 14 § 1 wörtlich mit dem angeführten Zusatzartikel des Englischen Vertrages von 1856

überein und wiederholt in § 3 die Bestimmungen des Artikels 5 des

Clayton-Bulwer-Vertrageö. Ich kehre nach dieser Abschweifung zu den Verhandlungen über den

Clahton-Bulwer-Vertrag zurück. Anfang Mai 1857 traf die Nachricht in Washington ein, daß England die vom Amerikanischen Senate beschlossenen Amendements zum Clarendon-DallaS-Vertrage verworfen und seinerseits

andere für unannehmbar erachtete Aenderungen vorgeschlagen habe.

Sie

erregte große Erbitterung, und man nahm ziemlich allgemein an:

Lord

Palmerston habe sich durch sein ablehnendes Verhalten für den schmä-

lichen Ausgang der Recrutirungsangelegenheit, und die Wegsendung seines

früheren Gesandten Crampton — der Anfangs März 1857 durch Lord Napier (.jetzt Lord Napier of Ethridge) ersetzt war — rächen wollen, um

nun noch

einmal seine Kräfte in anderer Weise gegen die Vereinigten

.Staaten zu versuchen.

Von dieser Erbitterung geben auch verschiedene

Auszüge aus dem damaligen Schriftwechsel Zeugniß, welche in die neueste Correspondenz zwischen der Amerikanischen und Englischen Regierung über­

gegangen sind**), während sich in derselben über alle von mir vorstehend angeführten, dem Vertrage vom 17. October 1856 vorangegangenen Ver­

handlungen

kaum

ein Wort findet.

Die mir anderweitig

stehenden Materialien setzen mich in den Stand

zu Gebot

auch rücksichtlich der

weiteren Vorgänge die Angaben des Herrn Blaine und Lord Granville's zu vervollständigen. Mit Recht hebt Lord Granville in seiner Depesche vom 14. Januar

dieses Jahres hervor, daß weder der Staatssecretär Caß noch der Präsi­ dent Buchanan selbst jemals in ihrem amtlichen Verkehre mit Lord Napier

Einwendungen gegen das dem Clayton-Bulwer-Vertrage zu Grunde lie­

gende Princip — die Sicherstellung der

interoceanischen Verbindungs­

wege — dessen Wichtigkeit sie vielmehr vollständig anerkannt hätten, er­

hoben habe, sondern ihre Einwürfe immer nur gegen die unglückliche Fassung eines einzelnen Theiles des Vertrages gerichtet gewesen seien. Zum Beweise dafür führt er aus den von Herrn Blaine citirten Depe­ schen des Gesandten an Lord Clarendon vom 12. März und 6. Mai 1857

*) U. St. Statutes at Large XIII. S. 699. ** ) United States N. I. 1882. no 4 S. 8 und no 6 S. 15.

und aus einer Note des Generals Caß an Lord Napier vom 29. desselben Monats einige schlagende Stellen an, die der Amerikanische Staatssecretär

in seiner Depesche vom 29. November v. I. zu unterdrücken für gut be­ funden hatte.

Immerhin konnte sich auch Lord Napier nicht darüber täu­

schen, daß die Ansicht: der Clayton-Bulwer-Vertrag sei ungeeignet, die

sich entgegenstehellden Anschauungen Englands und der Vereinigten Staaten in Betreff der Verhältnisse in Centralamerika auszugleichen, und es werde

deßhalb besser sein, den Vertrag aufzuheben, in immer weiteren Kreisen, lind insbesondere im Schooße der Amerikanischen Regierung, Wurzel faßte. Er hielt es deßhalb für seine Pflicht, Lord Clarendon am 22. Juni davon

in Kenntniß zu setzen und kam, wenn ich recht unterrichtet bin, in einem im September

erstatteten Bericht

eingehender

darauf

zurück.

In den

diplomatischen Kreisen Washington'S wollte man nämlich wissen, General

Caß habe um die Mitte September 1857 den schon mehrfach von Lord Napier

gestellten

Antrag:

in

Gemeinschaft

mit

den

Cabineten

von

St. James und den Tuillerien die Freiheit und Sicherheit der Transit­ route über den Isthmus von Mittelamerika durch einen Triple-Vertrag

zu garantiren, in einer höflichen Note definitiv abgelehnt.

Der General

habe sich in dieser Note dahin ausgesprochen, daß die Vereinigten Staaten die gewünschte Garantie längst durch den bereits erwähnten Separatver­

trag mit Neu Granada vom 12. December 1846 Artikel 35 übernommen hätten, und in den gegenwärtigen Verhältnissen kein Anlaß liege, dieselbe durch einen Vertrag in Gemeinschaft mit England und Frankreich zu er­ neuern.

Die Amerikanische Regierung könne daher nur anheim geben,

daß England und Frankreich gleichfalls im Wege von Separatconventionen mit Neu Granada eine solche Garantie aussprechen möchten. — Die Fortsetzung

des neuerdings zwischen der Amerikanischen und

Englischen Regierung geführten Schriftwechsels wird möglicherweise über

diesen Punkt nähere Aufklärung bringen.

Gewiß ist, daß die Mitthei­

lungen Lord Napier'S über die damalige Stimmung in Washington seine

Regierung zu dem Entschluß führten, die Frage in Betreff der Bah Is­ lands, des Mosquito-Gebietes und der Grenzen von British Honduras durch directe Verhandlungen mit den Centralamerikanischen Staaten zu

ordnen.

Sir William Gore Ouseley,

der

zu dieser außerordentlichen

Mission auSersehen ward, sollte zugleich auf dem Wege nach Central­ amerika Washington besuchen,

um die Anschauungen der dortigen Re­

gierung genau zu ermitteln und sich wenn möglich mit derselben über die

Punkte zu verständigen, rücksichtlich deren bisher eine Meinungsverschieden­ heit zwischen den beiden Regierungen bestanden hatte. Lord Napier theilte die bevorstehende Ouseley'sche Mission der Amerikanischen Regierung mit

608

Die rechtliche und politische Seite der Panamü-Eanal-Frage.

und trug kein Bedenken sich in einer Conferenz

mit dem Präsidenten

Buchanan am 19. October 1857 dahin auszusprechen:

daß es, wie er

glaube, dabei die Absicht seiner Regierung sei, den Clahton-BulwerVertrag durch diese Separatverhandlungen in wesentlicher Uebereinstim­ mung mit der Auslegung, welche die Vereinigten Staaten demselben ge­

geben hätten, zur Ausführung zu bringen.

Er knüpfte zugleich daran den

Wunsch, daß, solange die Verhandlungen des außerordentlichen Gesandten

nicht zum Abschluß gelangt seien,

weder der Präsident noch seine Re­

gierung einen Vorschlag, den Vertrag von 1850 zu annulliren, sanctioniren

oder ermuthigen möge.

Der Präsident erwiderte mit Emphase, daß, wenn

es wirklich die Absicht der Englischen Regierung

sei,

den Vertrag

in

Uebereinstimmung mit der Amerikanischen Regierung zur Ausführung zu bringen, gar nicht mehr von ihr verlangt werden könne,

und

daß er

solchen Falls den entsprechenden, bereits von ihm entworfenen Theil seiner

bevorstehenden Jahresbotschaft an den Congreß darnach modificiren und mit Vergnügen den Ausdruck seines aufrichtigen und warmen Wunsches hinzufügen werde,

daß die freundlichen

Beziehungen

zwischen

beiden

Ländern erhalten bleiben möchten.

In einer Note, welche General Caß am folgenden Tage (20. October) an Lord Napier richtete, sprach der StaatSsecretär sich von neuem ein­ gehend über die allgemeine Politik der Vereinigten Staaten in Betreff

der Regierungen amerika aus.

und

der

interoceanischen Transitrouten von Central­

Seine Bemerkungen gipfelten — was Herr Blaine

in

seinem Auszuge aus dieser Note abermals unterdrückt — in den Worten: „Die Vereinigten Staaten verlangen, wie ich schon früher Gelegenheit

gehabt habe, Eurer Herrlichkeit zu versichern, keine ausschließlichen Privi­ legien auf diesen Transitrouten, sondern werden immer ihren Einfluß an­ wenden, um die Vortheile derselben, frei und unbeschränkt, sowohl im

Frieden als im Kriege, dem Handel der ganzen Welt zu sichern*)."

Als

der Englische Gesandte in einer Conferenz mit General Caß am 27. des­ selben Monats beiläufig auf die früher von seiner Regierung gestellte

Alternative zurückkam, die streitigen Punkte in dem Vertrage, nicht aber den Vertrag im Ganzen, zum Schiedsspruch einer dritten Macht zu ver­

stellen, erwiderte dieser,

daß,

wenn er auch kein principieller Gegner

eines solchen Ausgleichs sei, die Regierung in diesem Falle doch nicht

*) Der Englische Text lautet: „The United States, as I have before had occasion to assure your Lordship, demand no exclusive Privileges in these passages, but will always exert their influence to s ecu re their free and unrestricted benefits, both in peace and war, to the commerce of the world.“

darauf eingehen könne, weil der streitige Vertrag in Englischer Sprache

abgefaßt lind keine fremde Regierung so wohl im Stande (competent) sei, wie die Englische und Amerikanische, den seines Erachtens klaren Sinn

des Wortlauts festzustellen. — Am 18. November 1857 traf Sir William G. Ouseley in Washington

ein.

Zwei Tage vorher war plötzlich die ganze Situation durch einen

völlig unerwarteten Vorgang in einer Weise verändert, die eö ihm un­

möglich machte, seine Reise nach Centralamerika nach kurzem Aufenthalt

fortzusetzen und die ihn beinahe ein volles Jahr am Sitze der Negierung zurückhielt.

Da dieser Vorgang in der neuesten Correspondenz zwischen

beiden Regierungen mit Stillschweigen übergangen wird, liegt es mir ob,

diese Lücke hier auszufüllen. Während der zeitweiligen Occupation Nicaraguas durch Walker hatte

die Regierung von Costa Rica zu ihrem eigenen Schutz die vom August 1852 bis zum 18. Februar 1856 von der Amerikanischen Accessory Transit Company

auf Grund eines damals von der Regierung von

Nicaragua zurückgenommenen Freibriefes zu regelmäßigen Fahrten benutzte Transitroute längs deS San Juan Flusses nach dem See von Nicaragua und San Juan dcl Sur besetzt.

Der Gedanke an eine bleibende Erwer­

bung des Gebiets lag ihr fern, wenn sie auch vielleicht das augenblickliche Besitzverhältniß zur endlichen Ausgleichung langjähriger Grenzstreitigkeiten mit Nikaragua zu verwerthen gedachte.

Als Walker sich am 1. Mai 1857

dem Amerikanischen Commodore Davis ergeben mußte, uud nach New Orleans zurückgeschafft war, fehlte es nicht an Amerikanischen Spekulanten,

die sich sowohl bei Costa Rica als bei Nicaragua um Concessionen zur Ausbeutung dieser Transitroute bewarben.

Die beiden Centralamerikani­

schen Regierungen vermochten sich nicht über eine gemeinschaftlich zu be­

folgende Politik zu verständigen, und Präsident Buchanan, welcher schon

früher als Staatssecretär des Präsidenten Polk und als Gesandter

in

London die Ansicht vertreten hatte, daß es dem Interesse der Vereinigten Staaten am meisten entspreche, wenn nur eine der beiden Regierungen Einfluß auf die Regulirung des Transitverkehrs nach und von dem stillen

Meere zu üben vermöge,

wollte nur Nicaragua daS Recht zuerkennen,

einen Contract mit irgend einer Compagnie über den Verkehr auf der

gedachten Transitroute und eine Convention mit den Vereinigten Staaten

über den Schutz derselben abzuschließen.

Es waren jedoch noch keinerlei

Verhandlungen mit Nicaragua eingeleitet und dem mit einem Accreditiv

der beiden provisorisch mit der Regierung der Republik betraut gewesenen Generäle Martinez und Jerez versehenen Gesandten von Guatemala und

San Salvador in Washington, Herrn von Irizarri, war es, weil man

Die rechtliche und politische Seite der Pananiä Canal-Frage.

610

das Resultat der neuen Präsidentenwahl in Nicaragua abwarten wollte, noch nicht gelungen, den Präsidenten Buchanan zur Entgegennahme dieses Beglaubigungsschreibens zu bewegen, als es dem General Walker am 11. November 1857 glückte, mit einer neuen Freibeuter-Expedition nach

Unter dem ersten Eindruck dieser Nachricht

Centralamerika auszulaufen.

unterzeichnete der StaatSsecretär Caß

mit Herrn v. Irizarri 5 Tage

nachher (am 16. November) einen Vertrag, der zugleich einige völlig neue Momente zur Sicherung des Einflusses der Vereinigten Staaten auf die

Transitroute enthält.

So eilig hatte man es mit dem Abschluß, daß die

Unterzeichnung erfolgte, ehe noch Herr v. Arizarri sein Beglaubigungs­ schreiben an Herrn Buchanan überreicht hatte.

Dies

geschah

erst am

folgenden Tage (17. November), und es kam dabei die scherzhafte Scene

vor, daß der Präsident, obgleich er die Verhandlungen mit dem Bevoll­ mächtigten Nicaraguas persönlich geführt hatte, die Frage an ihn richtete,

ob er wirklicher Gesandter oder nur Geschäftsträger sei.

Damit nicht

genug, ließ Herr Buchanan auch noch an die New Aorker Dampfschiff­ fahrtsgesellschaft daö sofort bewilligte Ersuchen richten, ihr am 20. des­ selben Monats nach Centralamerika gehendes Schiff „The Star of the

West“ ausnahmsweise San Juan del Norte anlaufen zu lassen, damit schon mit dieser Gelegenheit an seine Re­

der Gesandte den Vertrag

gierung gelangen lassen könne.

Gegen Herrn v. Arizarri hatte er nämlich

den Wunsch ausgesprochen, daß die Ratification, wenn möglich, schon Ende December nach Washington zurückgelangen möge, ganz übersehend, daß

der Vertrag jedenfalls auch der Zustimmung des CongresseS von Nicaragua

bedurfte. Die ersten 13 Artikel des Caß-Irizarri-VertrageS enthalten die ge­ wöhnlichen Stipulationen eines auf dem Fuße der Gleichstellung mit den

meistbegünstigten

Nationen

SchiffahrtSvertrageS.

vereinbarten

Artikel 14 giebt

Freundschafts-, Handels-

den

Bürgern

und

der Vereinigten

Staaten für sich und ihre Waaren das Recht des freien Durchganges auf allen zur Zeit in Nicaragua vorhandenen oder künftig dort anzulegenden Transitrouten und allgemeinen Communicattonöwegen, unbeschwert durch

Abgaben und Zölle Seitens der Staatsregierung.

Im Artikel 15 ver­

sprechen die Vereinigten Staaten ihren Schutz (protection), garantiren

die Neutralität der Transitrouten durch Nicaragua und erklären, daß sie

auch die anderen hiebei interessirten Nationen auffordern würden, gleiche Protection und Garantie zu gewähren.

Das alles, sowie die in dem­

selben Artikel enthaltenen Bestimmungen über die Anlage von Freihäfen

an den beiden Endpunkten der interoceanischen Transitroute und die Be­ rechtigung des Amerikanischen Generalpostmeisters,

ohne Zahlung einer

Abgabe, eine geschlossene Amerikanische Post auf eigenen Schiffen durch

Nicaragua durchzuführen oder mit irgend einem anderen über solche Post­ beförderung zu contrahtren, konnten zu keinen besonderen Bedenken Anlaß

geben.

Eigenthümlicher war schon die gleichfalls im Artikel 15 auöbe-

dungene Berechtigung der Vereinigten Staaten, ohne Zahlung besonderer Abgaben und ohne vorgängige Anfrage bet der Staatsregierung, Truppen über die Transitroute zu befördern.

(Ein Antrag des Herrn v. Irizarri

hinzuzufügen, daß die Truppen unbewaffnet — without arms — sein müßten,

war kurzweg

abgelehnt.)

weiter ging

Noch

der Artikel 16.

Durch denselben verpflichtet sich Nicaragua, die Transitroute mit bewaff­

Sollte ihr dies jedoch nicht

neter Macht zu beschützen und offenzuhalten.

gelingen (in case of failure), so haben die Vereinigten Staaten das

unbeschränkte Recht das zu thun, indem sie lediglich eine Anzeige von der beabsichtigten Entsendung von Truppen an die Regierung von Nicaragua

oder an deren Gesandten in Washington zu machen

verbunden

sind.

Sobald der bewaffnete Schutz nicht länger nöthig ist, sollen die Truppen sofort (immediately) zurückgezogen werden.

(Ein Antrag Arizarri'S: zu

bestimmen, daß vor der Absendung der Truppen eine Anfrage an seine Regierung 511 richten sei, war gleichfalls kurzer Hand zurückgewiesen.)

Wohl konnte man fragen, was entstehen würde, wenn England einen

ähnlichen

Vertrag

schlösse, und

Englische

und Amerikanische Truppen

gleichzeitig auf Nicaragua'schem Gebiete zusammenträfen? — Der Inhalt

der übrigen sechs Artikel läßt sich noch kürzer zusammenfassen.

ES wird

darin Sorge dafür getragen, die den Transitverkehr besorgende, einstweilen noch nicht näher bezeichnete Gesellschaft in Abhängigkeit zu erhalten; der

Fall der Erbauung einer Eisenbahn berücksichtigt; der Regierung

von

Costa Rica indirekt das beanspruchte Recht auf Antheil an der Juris­ diction über den San Juan Fluß und

auf eine Grenzregulirung mit

Nicaragua, wodurch ein Theil der Transitroute auf das Gebiet von Costa

Rica fallen würde, abgesprochen; die Dauer deS Vertrages auf 20 Jahre

— nach deren Ablauf 12monatliche Kündigung zulässig sein soll — und die Ratificationsfrist auf 9 Monate bestimmt.

Wenn eS sich bei den angeführten Bestimmungen der Artikel 15

und 16 auch nur um einen nicht politischen Schutz der Transitroute han­ delt,

weßhalb denn auch die Englischen Kronjuristen später anerkannt

haben, daß dieselben mit dem Clayton-Bulwer-Vertrage nicht im Wider­ spruch ständen, so lag doch unverkennbar darin, daß dieser Vertrag in dem­

selben Augenblick abgeschlossen wurde, wo man täglich der angekündigten

Ankunft Sir William G. Ouseley's entgegen sehen mußte, eine um so

größere Rücksichtslosigkeit gegen England, weil das ausbedungene Ameri-

Die rechtliche und politische Seite der Paiiamä-Lanal-Frage.

612

kanische Protectorat

über die Transitroute durch Nicaragua leicht zur

faktischen Besitznahme des Landes führen konnte.

Die Gefahr, daß es

schon bald zu einer solchen kommen könne, schien aber dadurch nahe gerückt zu sein, daß Nicaragua am 19. October plötzlich Costa Rica den Krieg

erklärt hatte, weil dieses, unter dem Vorgeben, dadurch künftigen Frei­

beuterzügen besser entgegentreten zu können, die Ueberlieferung des am Ausfluß des San Juan Flusses aus dem See von Nicaragua belegenen Forts San Carlos verlangt hatte, und deßhalb zu befürchten war, daß die gegen Costa Rica ohnehin ungünstig gestimmte Amerikanische Regie­ rung im Falle der Ratification des Vertrages sofort Truppen entsenden

werde, um die Costaricenser zu vertreiben. Der völlig unerwartete Abschluß des Caß-Arizarri-Vertrages, aus dessen Inhalt der Gesandte von Nicaragua kein Geheimniß machte, erregte int ganzen diplomatischen Corps in Washington ein peinliches Aufsehen,

um so mehr, weil die offenen Auslassungen der Minister des Präsidenten die Besorgniß erweckten, daß ein Bruch mit England schwer zu vermeiden

sein werde.

Mir selbst sagte der Staatssekretär Caß am 21. November

in vertraulicher Uuterhaltung:

„the Clayton-Btilwer Treaty will not

do any longer; it is a nuisance;“ und wenige Tage später sprach der Finanzminister Cobb gegen mich auö: Walker's nenc Expedition sei der Regierung um so ungelegener gekommen, weil deren Politik allerdings

auf eine Gebietserweiterung gerichtet sei und nun der Schein entstehe,

als ob sie sich zur Erreichung ihrer Zwecke illegitimer Mittel bedienen

wolle und insgeheim Walker'S Freibeuterzug billige.

Die Iahresbotschaft des Präsidenten Buchanan vom 8. Dezember 1857, der man unter diesen Umstäuden mit besonderer Spannung entgegen ge­

sehen hatte, machte einen über Erwarten günstigen Eindruck.

Der die Be­

ziehungen zu England behandelnde Abschnitt derselben schloß nach Wieder­

holung der

alten Klagen über die verschiedene Auslegung des Clayton-

Bulwer-Vertrages, die bei Verwerfung der Amendements des Senates

zum Clarendon-Dallas-Vertrage seitens Englands von neuem deutlich hervorgetreten sei, mit den Worten: daß es, wenn zwei befreundete Na­ tionen unglücklicherweise (unfortunately) einen Vertrag geschlossen hätten,

den sie in völlig entgegengesetztem Sinne verständen, am weisesten sein würde,

ihn mit beiderseitiger Zustimmung aufzuheben und von vorne

anzufangen („the wisest course is to abrogate such a treaty by mutual

consent and to commence anew“).

Wäre das sofort ge­

schehen, so würden vermuthlich alle Schwierigkeiten in Centralamerika

längst zur Zufriedenheit beider Theile erledigt (adjusted) sein.

Neuer­

dings habe die englische Regierung in freundlichem Geiste Eröffnungen

wegen Ausgleichung der Differenzen gemacht, erwidere. — Das

entsprach völlig

die der Präsident herzlich

der Lord Napier am 19. October

ertheilten Zusage, und die beiden Englischen Gesandten konnten auch an den Bemerkungen über die Zweckmäßigkeit der Aufhebung deS Vertrags

keinen Anstoß nehmen, da ausdrücklich hervorgehoben war, daß dieselbe nur mit beiderseitiger Zustimmung erfolgen dürfe.

Des Abschlusses des Caß-Nrizarri-Vertrages geschah in der Botschaft keine Erwähnung, und der von dem Präsidenten mit großer Emphase

gestellte Antrag:

ihn zu autorifiren, im Fall der Noth die Land- und

Seemacht der Vereinigten Staaten zur Durchführung der den Transit­ routen durch Centralamerika und über den Isthmus von Panama gewährten Garantie der Neutralität und des Schutzes zu verwenden, blieb, aller An­

strengung der Anhänger der Regierung ungeachtet, ohne Folgen.

Ebenso

erfolglos war, wie gleich hier erwähnt werden mag, die Erneuerung dessel­

ben Antrags in der Botschaft vom 6. December 1858, in einer speciellen Botschaft vom 18.Februar 1859 und in den Jahresbotschaften vom ^.De­

cember 1859 und 3. December 1860.

An lebhaften Erörterungen und an

scharfen Ausfällen gegen England ließ es der Congreß von 1857—1858

allerdings nicht fehlen, doch verliefen diefelben ausnahmslos im Sande. Das gilt insbesondere auch von den Resolutionen, welche der Vorsitzende

deS Comittee'S deS Repräsentantenhauses für die auswärtigen Angelegen­ heiten am 26. Januar 1858 einbrachte, und welche auf nichts geringeres als

die Abrogation des Clayton-Bulwer-Vertrages hinausliefen.

Es

kam darüber auch in der folgenden Session zu keinem Beschlusse, als sie am 7. December 1858 abermals im Hause ausgenommen wurden. — Die vorstehenden Ausführungen schienen mir nothwendig, um den weiteren Gang der Verhandlungen zwischen der englischen und der amerika­ nischen Regierung besser verständlich zu machen.

Es liegen mir darüber

keine in Betracht kommende Actenstücke vor, die nicht auch in der jetzt

veröffentlichten neuesten Correspondenz derselben erwähnt würden.

Die

betreffende Depesche des Herrn Blaine vom 29. November v. I. gibt

allerdings ein durchaus unrichtiges Bild von dem wirklichen Hergang, da er darin seiner Methode treu bleibt, nur einzelne Sätze, die er für seine Argumentation verwerthen zu können glaubt, aus dem Zusammen­

hang heranözureißen.

Die Hauptmomente lassen sich ziemlich kurz zu-

sammensassen. Lord Clarendon hatte am 13. November 1857 Lord Napier beauf­

tragt, seinen früheren mündlichen Vorschlag, die Streitpunkte zur schieds­

richterlichen Entscheidung zu verstellen, schriftlich zu wiederholen — was am 30. desselben Monats geschah — und am 19. November Sir William

Die rechtliche und politische Seite der Panamü-Canal-Fragc.

614

Ouseley inftruirt, keine Zugeständnisse wegen der Bay Islands zu machen, ehe sich die Haltung des Congresses zu der ganzen Vertragsfrage klar

erkennen lasse.

Sobald man in England von der veränderten Sachlage

Kunde erhielt, erging der fernere Auftrag an Sir William, vorläufig in Washington zu bleiben, den Gang der Dinge zu beobachten und sich mög­

lichst genau über die Anschauungen der Regierung zu unterrichten, was ihm

durch

frühere

freundschaftliche

Beziehungen

zu dem

Präsidenten

Buchanan wesentlich erleichtert wurde. Von der

Jahresbolschaft des Präsidenten nahm

Lord

Clarendon

demnächst Anlaß, Lord Napier zu autorisiren, den Staatssekretär Caß

zu benachrichtigen, daß die Königliche Regierung die von dem Präsidenten

gemachte Andeutung in Betreff der Aufhebung des Clayton-Bulwer-Vertrages im Wege beiderseitigen Einverständnisses (by mutual consent) nicht von der Hand weisen wolle.

Sein Nachfolger, Lord Malmesbury,

kam am 10. März 1858 mit dem Bemerken darauf zurück, daß es, falls die amerikanische Regierung eine schiedsrichterliche Entscheidung ablehnen sollte, in Erwägung gezogen werden werde, ob man englischer Seits mit

einem desfälligen Vorschlag hervortreten, oder welchen anderen Weg man je nach den augenblicklichen Umständen einschlagen wolle. — Am 22. März

berichtete Lord Napier über eine Conferenz, die er mit General Caß ge­ habt hatte.

Er meldete: er habe demselben bereits zweimal mitgetheylt,

daß es der Königlichen Regierung angenehm sein würde, wenn die ameri­

kanische Regierung, falls sie auch jetzt noch die Aufhebung des Vertrags von 1850 wünschen sollte, dies in ihrer erwarteten Erwiderung auf seine Noten in

Betreff

einer schiedsrichterlichen Entscheidung — die er am

17. Februar wieder angeregt hatte — und über den Character und die

Motive der Ouseleh'schen Mission vorschlage.

In der Unterhaltung über

die Art, wie, und über die Bedingungen, unter denen die Aufhebung

eventuell erfolgen könne, welche sich daran angeknüpft, habe er als seine persönliche Ansicht ausgesprochen, daß der Clayton-Bulwer-Vertrag nur

durch einen neuen Vertrag aufgehoben werden könne, der seines Erachtens, aus drei Artikeln zu bestehen habe.

Der erste dieser Artikel müsse den

Wunsch der contrahirenden Theile erklären: Die Anlage von Transitrouten

in dem interoceanischen Gebiet zu ermuthigen und zu beschützen, und müsse

beide Theile verpflichten, sich niemals durch Verhandlungen mit den central­ amerikanischen Staaten Rechte oder Privilegien in Betreff des Transits

auszubedingen, welche den Charakter eines Vorzugs- oder ausschließlichen

Rechts hätten, und die nicht auch andern Nationen im Wege der Ver­ handlung im

gleichen

Maße zugestanden werden dürften, indem man

solchergestalt das Princip aufstelle, daß alle Länder der Welt gleichen An-

theil an diesen großen Handelsstraßen haben sollten*).

Der zweite Ar­

tikel könne die Jurisdiktion Nicaraguas über den San Juan Fluß anerkennen, worüber die Vereinigten Staaten ja bereits einen Vertrag abgeschlossen hät­

ten.

Er halte eS für wahrscheinlich, daß seine Regierung in eine solche

Beschränkung ihres Protektorats über MoSquitien einwilligen werde. Der dritte Artikel müsse dann einfach die Bestimmungen deS Vertrags von

1850 für aufgehoben (void) und wirkungslos erklären.

In Folge davon

werde Centralamerika künftig Landerwerbungen von Seiten der Vereinig­ ten Staaten offenstehen; England aber werde seine Colonie in Honduras, nach Maßgabe

des

mit Guatemala abzuschließenden Vertrags behalten

und im Besitze der Bah Islands bleiben.

Er habe dies besonders stark

betont, weil man vielfach anzunehmen scheine, daß England im Falle der

Aufhebung des Clahton-Bulwer-Vertrags die Bah Islands aufgeben werde.

In seiner Erwiderung vom 8. April 1858 billigte Lord Malmesburh das Verfahren des Gesandten, behielt sich aber volle Freiheit des Han­ delns rücksichtlich der eventuellen Aufhebung des Clayton-Bulwer-Ver­

trages vor.

Er äußerte zugleich lebhafte Bedenken gegen den von Lord

Napier vorgeschlagenen zweiten Artikel, weil derselbe die Gefahr mit sich

führe, die bisherigen Verwicklungen mit den Vereinigten Staaten über die

Verhältnisse in Centralamerika, die man gerade zu beseitigen wünsche, zu

verewigen.

Dagegen sei der vorgeschlagene erste Artikel geeignet, als Basis

zu einer neuen Verständigung mit der amerikanischen Regierung zu die­

nen und einen passenden Ersatz (suitable substitute) für den Vertrag von 1850 zu bilden, weil er, was die contrahirenden Theile betreffe, den

anerkannten Zweck jenes Vertrages, die Freiheit der interoceanischen Ver­ bindung, sicher stellen würde.

Weiter werde aber die Königliche Regie­

rung nicht gehen; sie werde im Falle der Aufhebung des Clahton- Bul­

wer -Vertrages nur die Förderung der britischen Interessen zur Richtschnur ihrer Handlungen nehmen, und Lord Napier möge der amerikanischen

Regierung klar machen,

daß solche Aufhebung

gleichbedeutend mit der

Rückkehr zum Status quo vor dem Abschluß deS Vertrages von 1850 sei.

England sei nicht eifersüchtig auf amerikanische Colonisation in Central­ amerika, welche zur Civilisirung deS Landes dienen werde, und wünsche für sich selbst keinerlei ausschließliche Privilegien in jenen Gegenden. —

*) Der Englische Text lautet: „The first article should declare the desire of the Contracting Parties to encourage and protect the Organization of transit routes in the interoceanic region, and bind those Parties never to negotiate for any rights or Privileges of transit with the Central Amerika States of a preferential or exclusive character, to which otther nations might not, by negotiation, be equally admitted, establishing thus the principle of an equal enjoyment of those avenues of trade for all the countries of the world.“ Preußische Jahrbüch-r. Bd. XbIX. Heft 6.

42

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

616

Mittelst Note vom 6. April 1858 hatte auch General Caß endlich Lord Napier davon benachrichtigt, daß die Vereinigten Staaten, solange das Resultat der Ouseleh'schen Mission in Centralamerika noch nicht vor­

liege,

auf die gestellte Alternative, die streitigen Puitkte des Clayton-

Bulwer-Vertrages schiedsrichterlicher Entscheidung zu unterbreiten, nicht eingehen könne.

Andererseits könne die Aufhebung deö Vertrages ernste

Folgen haben, wenn nicht gleichzeitig die Streitpunkte, welche sie veran­ laßt hätten, erledigt würden, und der Präsident möge deshalb diesen Schritt

nicht

in's Auge fassen,

weil

er nicht vorzeitig

an dem Erfolg jener

Mission zweifeln wolle und den lebhaften Wunsch hege, die glücklicher­

weise bestehenden frenndschaftlichen Beziehungen zur englischen Regierung zu erhalten. —

Damit waren die Dinge in eine Lage gebracht, welche den Beginn

der directen Verhandlungen Sir William Gore Ouselch's mit den central­ amerikanischen Staaten ermöglichte, und am 18. August beauftragte Lord Malmesbury Lord Napier, der amerikanischen Regierung, die in allen

Hauptpunkten den Wünschen derselben entsprechenden Absichten und Zwecke

der Königlichen Regierung bei dieser Mission mitzutheilen.

ES vergingen

jedoch noch volle zwei Monate, ehe Sir William sich am 27. October

wirklich nach San Juan del Norte einschisfte.

Inzwischen hatten sich in

Centralamerika verschiedene Vorgänge zugetragen, welche nicht ohne Ein­ fluß auf die Verhandlungen des außerordentlichen englischen Gesandten bleiben konnten.

Dieselben sind in der dem britischen Parlament vor­

gelegten neuesten Correspondenz zwischen der englischen und amerikanischen Regierung unberührt geblieben.

Ich glaube sie umsomehr anführen zu

müssen, weil sie auf die Politik der Vereinigten Staaten in Betreff der

Frage der interoceanischen Verbindungswege weiteres Licht werfen.

Am

25. November

(Nicaragua) gelandet,

1857 war General Walker in Punta-Arenas

aber schon

am 7. December

von dem wackeren

Commodore Paulding, der — wie er in einem am 15. desselben Monats an den Marineminister erstatteten Bericht selbst einräumt, — damit seine

Instructionen überschritten und eine große persönliche Verantwortlichkeit übernommen hatte, durch an's Land gesetzte Truppen mit seiner ganzen

Schaar gefangen und nach den Vereinigten Staaten zurückgesandt.

Dort,

und namentlich im Süden, erhob sich ein gewaltiges Geschrei über das eigenmächtige Verfahren des energischen SeeofficierS.

Die Demokraten,

welche die Erwerbung Centralamerikas wünschten, um dort neue Sklaven­

staaten zu bilden, und jetzt die ihrer Partei gehörige Regierung angriffen,

und die Republikaner, welche in den Freibeuter-Expeditionen zugleich die Sklaverei bekämpften, wechselten bei den leidenschaftlichen Debatten, zu

welchen der Vorgang im Congreß Anlaß gab, vollständig die Rollen.

Die

Regierung rief den Commodore zurück; England erhob jedoch nicht, wie man erwartet,

und vielleicht sogar gehofft hatte, Einspruch gegen die

Landung Amerikanischer Truppen auf dem streitigen Gebiet, und Herr

von Arrizarri sprach dem Amerikanischen Staatsdepartement officiell den Dank seiner Regierung für Paulding'S entschiedenes Auftreten aus. Dank

Ehrendegens und einer großen Landschenkung denen

Diesen

bethätigte Nicaragua später noch weiter durch Verleihung eines freilich

der Congreß im

an den Commodore, von

Februar 1861

nur

die Annahme deS

ersteren gestattete. Der Einfall Walker's in Nicaragua war übrigens, so rasch er auch

sein Ende erreicht hatte, nicht ohne wichtige Folgen geblieben.

drängte Staat hatte schneller, Rica Frieden geschlossen.

Der be­

als zu erwarten gewesen war, mit Costa

Andererseits war der Zusammentritt des neu-

gewählten, in seiner Majorität der conservativen Partei angehörigen Kon­ gresses von Niearagua und die Ratification deS Caß-Arrizarri Vertrages

dadurch verzögert.

Erst im März 1858 legte der am 10. October des

Vorjahres erwählte, derselben Partei angehörige Präsident Martinez den Vertrag der Legislatur in der festen Ueberzeugung vor, daß

er ohne

Weiteres werde verworfen werden, und als der Congreß ihm dennoch feine Zustimmung ertheilte, sandte er denselben mit verschiedenen, auf die

oben angeführten anstößigen Bestimmungen der Art. 15 und 16 bezüg­

lichen Amendements nochmals an den Senat zurück, der ihn nunmehr nach abermaliger Berathung ganz verwarf.

Der kurz vorher am Regie­

rungssitz eingetroffene neue amerikanische Ministerresident, General Mira-

beau B. Lamar, der zwar nicht den Geist, aber ganz die extremen An­

sichten seines großen französischen NamenSgenossen theilte und schon des­ halb

nicht auf vertrauensvolles Entgegenkommen rechnen durfte, hatte

nicht einmal einen Versuch machen können, das abzuwenden.

Er hatte

nämlich bei seiner Ankunft die unangenehme Entdeckung gemacht, daß er — echt amerikanisch — sein Beglaubigungsschreiben.in den Vereinigten Staa­

ten zurückgelassen hatte, und so war die Sache längst erledigt, als er dasselbe dem Präsidenten überliefern konnte.

Verwerfung

In Washington erregte die

des Vertrags große Verstimmung.

Man glaubte dieselbe

einer geheimen Einwirkung Englands zuschreiben zu müssen, gegen welches damals ohnehin starke Erbitterung herrschte, weil britische Seeofficiere auch gegen amerikanische, des Sklavenhandels verdächtige Schiffe in den

Gewässern von Cuba das Untersuchungsrecht auSzuüben begonnen hatten.

Frankreich entging gleichfalls nicht dem Verdacht, seine Hand dabei im Spiel gehabt zu haben.

Denn das Gerücht wollte von Intriguen eines 42*

618

Die rechtliche und Politische Seite der Panamä-Lanal-Frage.

Herrn Felix Belly wissen, der irrthümlich für dessen officieller Agent ge­ halten wurde. Erst im Juni erfuhr die amerikanische Regierung aus der „London Times" — General Lamar hatte gar nicht über die Sache berichtet, — daß Herr Belly ihr noch einen viel empfindlicheren Streich gespielt hatte, indem dieser französische Publicist am 1. Mai 1858 mit den beiden Prä­ sidenten von Nicaragua und Costa Rica, unter dem hochtönenden Titel „Convention de Rivas“, einen Contrakt in 28 Artikeln abgeschlossen hatte, wodurch ihm und einer von ihm zu bildenden Compagnie die aus­ schließliche Concession zur Anlage und zum Betriebe eines interoceanischen Kanals über den Isthmus von Nicaragua unter den allervortheilhaftestcn Bedingungen für 99 Jahre ertheilt ward. Die Sache hatte allerdings anscheinend eine sehr ernste Seite. Aus der im Artikel 26 des Contrakts enthaltenen Bestimmung: daß „par inesure exceptionelle et ponr sanvegarder les interets et la responsabilite d’une Compagnie dont la direction est tonte Franchise“ die französische Regierung be­ rechtigt sein solle, während der Dauer des Baues des Kanals auf diesem und auf dem See von Nicaragua zwei Kriegsschiffe zu halten, fürchtete man den Schluß ziehen zu müssen, daß der bisherige Einfluß der Ver­ einigten Staaten auf dem Isthmus, mit oder ohne Zustimmung der fran­ zösischen Regierung, durch denjenigen Frankreichs ersetzt werden könne. War doch der Kaiser Napoleon III. schon 1846 als Gefangener in Ham in einer damals in London publicirten Broschüre*) mit Lebhaftigkeit für den Bau eines interoceanischen Kanals durch Nicaragua eingetreten, die zwar die hübsch klingenden Worte enthält: „La guerre et le commerce ont civilise le monde, la guerre a fait son temps, le commerce seul poursuit aujourd’hui ses conquetes“, aber immerhin zu denken gab. Dazu kam, daß der mit unverkennbarem Geschick abgefaßte Vertrag ganz darauf berechnet war, auch Englands Sympathien für das Project zu ge­ winnen. Der Artikel 23 lautet: „Les contractants s’engagent reciproquement :i faire immediatement, auprös des gouvernements de France, d’Angleterre et des Etats-Unis, les demarches nccessaires ponr que la neutralite du canal soit garantie par ces trois puissances sur les bases du traite Clayton-Bulwer.“ Herr Belly hatte sich be­ eilt, die Convention von RivaS in Gemäßheit dieses Artikels sofort am Tage der Unterzeichnung (1. Mai) an Lord Malmesbury einzusenden, und dieser schon am 11. Juni darauf erwidert, daß seines Erachtens die Stipu­ lationen des Clahton-Bulwer-Vertrages auf das Bellh'sche Projekt anwend*) Dieselbe ist in der Schrift von Felix Belly: „Percement de l’isthme de Panama, par le canal de Nicaragua“, Paris 1858, von Neuem abgedruckt.

bar feien*). Die Erwiderungen der beiden andern Regierungen sind mir unbekannt geblieben. — Rücksichtlich des Verhaltens Frankreichs wurde die amerikanische Regierung übrigens schon bald dadurch einigermaßen beruhigt, daß Graf Walewski den französischen Gesandten in Washington, Grafen SartigeS, am 26. Mai 1858, zur Mittheilung an das Staats­ departement, davon benachrichtigte, daß Bellh lediglich der Agent einer französischen Privatgesellschaft sei. — Unangenehmer noch als durch die Convention von Rivas vom 1. Mai 1858 war die amerikanische Regierung durch eine an demselben Tage von den Präsidenten von Nicaragua und Costa Rica erlassene, in der That sehr provocirende Deklaration**) berührt. Dieselbe beschuldigt u. a. die Vereinigten Staaten offen, einen drohenden neuen amerikanischen Frei­ beuterzug zwar officiell mißbilligt, aber in Wirklichleit unter ihren Schutz genommen zu haben, um auf diese Weise definitiv Besitz von Central­ amerika zu ergreifen, falls dasselbe sich ihnen nicht freiwillig ergeben wolle. Sie brandmarkt ferner alle bisherigen Agenten der Union als Gehülfen der Freibeuter; stellt die Kanalkonvention unter den Schutz des civilisirten Europas und trägt Frankreich, England und Sardinien das Protektorat über Nicaragua und Costa Rica an. Es ist begreiflich, daß die amerikanische Regierung für die ihr öffentlich zugefügten Beleidigun­ gen volle Genugthuung verlangen und, wenn sie nicht mit ihrer seit mehr als 30 Jahre befolgten Politik in Widerspruch treten wollte, gegen das in Aussicht genommene Protektorat dreier europäischer Mächte in entschie­ dener Weise Verwahrung einlegen mußte, weil ein solches Schutzrecht nur zu leicht zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten der beiden cen­ tralamerikanischen Republiken führen konnte. Beides geschah durch eine Depesche des Staatssekretärs Caß an den Ministerresidenten Lamar vom 25. Juli 1858***). Der Zweck dieses Aufsatzes erfordert nicht, auf den Inhalt des umfangreichen Aktenstücks näher einzugehen. Hier verdienen nur die zugleich darin erneuerten Beschwerden über die Nicht-Ratification des Caß-Urizarri-Vertrages und ein paar Sätze daraus hervorgehoben zu werden, in denen die jetzt von Herrn Blaine verläugnete allgemeine *) Der Contract vom 1. Mai 1858, das Schreiben Lord Malmesbury's und verschie­ dene andere auf das Project bezügliche Documente sind abgedruckt in dem Werke: „Carte d’etude pour le trace et le profil du Canal de Nicaragua, par M. Thome de Gamond, precedee de documents publiee sur cette question par M. Felix Belly“. Paris 1858. 4°. — Der Mitarbeiter Belly's, Thome de Gamond, ist derselbe Französische Civilingenieur, der bereits 1857 die Idee des Baus eines Tunnel» unter dem Canal zwischen England und Frankreich in einer eigenen Schrift angeregt hatte. ** ) Abgedruckt unter den Anlagen der Jahresbotschast vom 6. December 1858. 35ti> Congr. Sees. Ho of Kepr. Ex. Doc. No. 2. vol. I. S. 62. ** *) Dgl. die schon citirten Anlagen der Jahresbotschaft von 1858, 1.1. S. 51.

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Lanul-Frage.

620

Politik der Vereinigten Staaten in Betreff der Neutraltät der Transitrouten durch Mittelamerika besonders deutlich ausgesprochen ist.

Lord Granville

hat in seiner Depesche vom 14. Januar d. I. den folgenden Satz daraus entlehnt*):

„Diese großen Straßen des Zwischenverkehrs sind für alle

handeltreibenden Mächte von dem höchsten Interesse, und alle haben Grund

sich zu vereinigen, um deren Freiheit und Benutzung gegen die Gefahren

sicher zu stellen, denen sie durch Angriffe und Gewaltthätigkeiten ausgesetzt sind, welche innerhalb oder außerhalb der Gebiete, durch die sie führen,

entstehen." — Mir scheinen die nachstehenden, diesem Satze unmittelbar vorangehenden Worte des amerikanischen Staatssekretärs von mindestens gleicher, wenn nicht von größerer, Bedeutung zu sein.

Sie lauten**):

„Eine Garantie der allgemeinen Benutzung einer Transitroute ist eine

wünschenswerthe Maßregel, welche die aufrichtige Mitwirkung der Ver­ einigten Staaten finden würde.

Diese Ansichten sind den Regierungen

von Costa Rica und Nicaragua bereits bekannt gemacht, und dieselben sind davon unterrichtet, daß sich der Präsident der Hoffnung hingiebt, daß diese Routen, mit allgemeiner Zustimmung, als neutrale Heerstraßen für

die ganze Welt angesehen werden werden, die nicht durch Kriegsoperationen

behindert werden dürfen." Als diese Depesche, welche mit der Ankündigung schließt, daß die

amerikanische Regierung, deren Geduld durch die nicht gerechtfertigte Ver­

zögerung der Ratification des Vertrages vom 16. November 1857 erschöpft sei, nunmehr selbst den Schutz ihrer Bürger und des amerikanischen Eigen­

thums in die Hand nehmen und einstweilen zu dem Ende Kriegsschiffe bei San Juan del Norte, San Juan del Sur und Realejo stationiren werde, nach Nicaragua gelangte, hatte die dortige Regierung, in Voraussicht des

heraufsiehenden Ungewitters, jenen Vertrag bereits wieder ausgenommen.

Am 27. Juni war derseibe nach nochmaliger Berathung mit verschiedeuen

Amendements

Monats

vom

genehmigt, Präsidenten

und das betreffende Decret am 29. desselben

Martinez

bestätigt.

Die wichtigsten dieser

Amendements bestanden in einer Modification des Art. 16, — wonach

*) Der Englische Originaltext lautet: „These great avenues of intercommunication are vastly interestiog to all commercial Powers, and all may well join in securing their freedom and use against those dangers to which they are exposed from aggressions or outrages, originating within or witbout the territories through which they pass.“ ** ) Der Englische Text lautet: „A guarantee for the general use of a transit route, and also for its neutrality, is a desirable mesufe which would meet the hearty concurrence of the United States. These views have already been made known to the governments of Costa Rica and Nica­ ragua, and they have been informed, that the President indulges the hope that these routes may yet be considered, by general consent, as neutral higways for the world, not to be disturbed by the operations of war.“

die Vereinigten Staaten,

abgesehen von Fällen eminenter Gefahr für

das Leben und das Eigenthum ihrer Bürger, nur mit Zustimmung oder auf Ersuchen („with the consent or at the request“) der Regierung

von Nicaragua oder ihres Gesandten in Washington oder der competenten Lokalbehörden berechtigt sein sollen, Truppen zum Schutze der Transit­

routen zu verwenden, — und in einem Zusatzartikel, wodurch die amerikanische Regierung die Verpflichtung übernehmen sollte, die Organisation bewaff­

neter Expeditionen gegen Nicaragua auf ihrem Gebiet zu verbieten und

zu verhindern.

Ein außerordentlicher Gesandter, General Maximo Jerez,

überbrachte das Ratificationsdecret vom 27./29. Juni nach Washington.

General Caß nahm dasselbe am 16. August jedoch nur als eine Prtvatmitheilung entgegen und machte die ofstcielle Anerkennung des Gesandten

von einer vorgängigen völlig befriedigenden Entschuldigung wegen der beleidigenden Declaration vom 1. Mai abhängig. Diese wurde denn auch mittelst Schreibens des Präsidenten Martinez an General Lamar vom

25. September gemacht.

Präsident Mora von Costa Rica hatte, schon

ehe er dazu aufgefordert war, am 16. desselben Monats sein Bedauern über seine Betheiligung an dem auf irrthümlichen Annahmen beruhenden

Manifest vom 1. Mai ausgesprochen.

Nachdem General Jerez die ver­

langte „apology“ in einer Note an General Caß vom 4. October wieder­ holt hatte, wurde er am folgenden Tage vom Präsidenten Buchanan offi-

ciell empfangen, der Verkehr mit ihm jedoch bald abermals unterbrochen, weil er seine Zusage, daß Nicaragua die erwähnten in Washington bean­ standeten Amendements fallen lassen werde, nicht gut zu machen vermochte. Sehr ungelegen kam es der amerikanischen Regierung, daß gerade damals General Walker eine neue Expedition nach Centralamerika an­

kündigte.

Durch eine Proklamation vom 30. October ermahnte der Prä­

sident alle Behörden zu besonderer Wachsamkeit und verwarnte alle Bürger vor der Theilnahme an solchen verbrecherischen Versuchen.

Er vermochte

aber dadurch nicht zu verhindern, daß Lord Napier wenige Tage später

dem Staatssekretär mündlich ankündigte: seine Regierung werde unter kei­

nen Umständen die Landung amerikanischer Freibeuter und sogenannter Colonisten in Nicaragua gestatten, solange Sir William Gore Ouseley dort

verhandle.

Diese Erklärung gab dem damals noch keineswegs geschwun­

denen Mißtrauen gegen die Königliche Regierung und der fortdauern­

den Erbitterung gegen Nicaragua neue Nahrung.

Man schwieg jedoch,

weil Frankreich, das nur das Resultat der Ouseley'schen Verhandlungen abwartete, um ähnliche Verträge mit den Centralamerikanischen Staaten abzuschließen, bald nachher anzeigen ließ, daß es im Falle einer neuen Invasion mit England gemeinsame Sache machen werde.

622

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Eanal-Frage.

Gerade damals fand auch ein neuer Schriftwechsel zwischen England

und den Vereinigten Staaten über die Ouseleh'sche Mission statt.

Lord

Malmesbury ließ sich weitere Eröffnungen von der Amerikanischen Re­

gierung erbitten, weil er unter dem Eindruck stand, daß dieselbe mit dem Plane der Verhandlung von Einzelverträgen mit Honduras, Nicaragua und Guatemala nicht völlig einverstanden sei.

Andererseits erwartete das

Eabinet von Washington eine nähere Mittheilung über das Verfahren,

welches Sir W. G. Ouseley einzuschlagen beauftragt sei, um durch diese Verträge die Amerikanische Auslegung des Clayton-Bulwer-Vertrages zum Die in durchaus freundlichem und ruhigem Ton

Ausdruck zu bringen.

gehaltene Note, welche General Eaß in dieser Veranlassung am 8. No­

vember 1858 an Lord Napier richtete, formulirt die allgemeine Politik der Vereinigten Staaten in Betreff der Centralamerikanischen Transit­ routen in so klarer, der neuerdings von Herrn Blaine, — welcher die­

selbe begreiflicherweise völlig ignorirt, — aufgestellten Theorie schnurstracks widersprechenden Weise, daß Lord Granville dieselbe großentheils in seine

Depesche vom 14. Januar dieses Jahres ausgenommen hat, und daß ich es für nothwendig halte, auch hier die Hauptsätze daraus zu wiederholen.

General Caß schreibt:

„Während der

ausgesprochene Zweck jenes (des

Clayton-Bulwer-)Vertrages sich auf die Herstellung eines Schiffskanals

längs des San Juan Flusses und der Seen von Nicaragua und Managua

vom Atlantischen zum Stillen Ocean bezog, stellte derselbe nichts destoweniger doch zugleich In deutlichen Worten ein allgemeines Princip in

Betreff aller ausführbaren Verbindungen über den Isthmus, sowie eine

bestimmte Politik auf, Princips

würde.

durch welche

wahrscheinlich von Das Princip

die praktische Durchführung

allen Verwicklungen

bestand

frei

dieses

gehalten werden

darin, daß die interoceanischen Routen

unter der Souveränetät der Staaten, durch welche sie führen, verbleiben,

und

daß sie neutral sein und allen Nationen

sollten.

gleichmäßig offen stehen

Die Politik aber war, daß, um zu verhüten, daß irgend eine

Regierung außerhalb jener Staaten unzulässige Gewalt oder Einfluß über

jene interoceanischen Transitstraßen erlange,

keine solche Nation irgend

welche Befestigungen, die dieselben beherrschen würden, oder in der Nähe derselben, errichten oder unterhalten,

oder Nicaragua, Costa Rica, die

Mosquito-Küste, oder irgend einen Theil von Centralamerika occupiren, oder befestigen, oder colonisiren, oder sich eine Herrschaft darüber anmaßen

oder ausüben sollte.

Soweit die Vereinigten Staaten und Großbritannien

betheiligt waren, waren diese Bestimmungen in Ausdrücken abgefaßt, die

nicht mißverstanden werden konnten; und rücksichtlich der anderen Nationen war erklärt, daß ,die diesen Vertrag abschließenden Theile sich verpflichten,

jeden Staat, mit welchem beide, oder einer von ihnen, freundlichen Ver­

kehr unterhalten, einzuladen, sich mit ihnen über Bestimmungen zu ver­ ständigen,

welche denjenigen ähnlich seien,

gangen'."

Nachdem General Caß dann daran

die sie mit einander einge­

erinnert hat, daß die

Vereinigten Staaten damals keinerlei Besitzungen in Centralamerika ge­ habt hätten, England aber fast die ganze Ostküste jenes Gebiets besessen

habe, und die schon früher von mir angeführte Amerikanische Auffassung des Vertrages dahin wiederholt hat, daß England darnach verpflichtet ge­ wesen sei, diese ihre Besitzungen aufzugeben, recapitulirt er die bisher

gepflogenen vergeblichen Verhandlungen über das Verständniß der Con­

vention und knüpft daran den Ausdruck der Hoffnung, daß man nunmehr eine Basis der Verständigung gefunden habe.

daß

er:

rücksichtlich der Neutralität der

In dieser Beziehung sagt

interoceanischen Transitrouten

und ihrer Freiheit von dem überlegenen und beherrschenden Einfluß irgend

einer

einzelnen Regierung

Controlling

influence

(„their freedom from

of any

one

tbe superior and

government“);

rücksichtlich

der

Grundsätze, nach welchen das Mosquito-Protectorat unter gleichmäßig ge­ rechter Würdigung der Integrität Nicaragua's

und der Interessen

der

Jndianerstämme geordnet werden könnten; rücksichtlich der Bah JslandS unter gewissen Stipulationen im Interesse des Handels und deö Schutzes

der dort

ansäßigen Engländer; sowie rücksichtlich der Feststellung der

Grenzen der Brittischen Niederlassung in Belize anscheinend keine Mei­ nungsverschiedenheit obwalte.

Nur hinsichtlich der Bedingungen, unter

denen die Bah Islands aufgegeben werden sollten, und der künftigen Grenzen von Belize sei man noch nicht einig.

Aber es sei unmöglich,

daß man sich nicht auch über diese beiden Punkte verständigen sollte, wenn man mit versöhnlichem Geiste und gutem Willen an die Fragen heran­

trete.

Die Vereinigten Staaten verlangten in Centralamerika, außer dem

Glück seiner Bevölkerung, nichts als die Ikeutralität der interoceanischen Routen,

die hindurch führten.

Das aber sei gleichmäßig der Wunsch

Englands, Frankreichs und der ganzen Handelswelt.

Könne Sir William

G. Ouseleh die Centralamerikanischen Fragen durch Separatverträge in wesentlicher

Uebereinstimmung

mit der

Amerikanischen Auslegung

deS

Clayton-Bulwer-Vertrages zur Erledigung bringen, so sei das Alles, was

der Präsident von jeher gewünscht habe, und deßhalb habe er den Vor­ schlag von dessen Mission herzlich willkommen geheißen und er erwartete

davon die günstigsten Folgen. Nach dieser Eröffnung konnte es nicht Wunder nehmen, daß der auf

England bezügliche Theil der Jahresbotschaft des Präsidenten vom 6. De­ cember 1858 überaus friedlich lautete.

Herr Buchanan beschränkte sich

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Frage.

624

darauf anzukündigen, daß die Differenzen über das Untersuchungsrecht in

befriedigender Weise erledigt seien, und die schon im vorigen Jahre von ihm angedeuteten freundlichen Vorschläge Englands in Betreff der Central­

amerikanischen

Frage dahin gingen, die Amerikanische Auslegung des

Clayton-Bulwer-Vertrages, mit einigen Modificationen, durch directe Ver­

handlungen mit den Centralamerikanischen Staaten zur Anerkennung zu bringen. — Allerdings ließ sich der friedliche Ton dieser Anzeige auch

daraus erklären, daß der Präsident den Schein der Streitsüchtigkeit zu vermeiden wünschte, denn seine Auslassungen über Spanien, Mexiko und

die Centralamerikanischen Staaten lauteten um so kriegerischer. —

Gegen Nicaragua und Costa Rica ergeht der Präsident sich in bitteren Klagen wegen Störung des Transitverkehrs dlwch ihr Gebiet, bei dem sie doch viel weniger interessirt seien, als der Rest der Welt.

Ihre Sou-

veränetätörechte sollten allerdings respectirt werden, aber es sei die Pflicht

anderer Nationen, zu verlangen, daß diese wichtige Durchgangsstraße nicht

durch Bürgerkriege und revolutionäre Ausbrüche unterbrochen werde oder durch Streitigkeiten rivalisirender Compagnien leide, die sich auf unter sich im Widerspruch stehende Contracte mit Nicaragua beriefen.

Die

Vereinigten Staaten erwarteten nichts mehr als Dieses, aber sie würden

auch nicht mit weniger zufrieden sein.

„Sie wollten, selbst wenn sie es

könnten, keinerlei Vortheil von dem Transit durch Nicaragua haben, der nicht auch dem Rest der Welt zu Gute komme.

Die Neutralität und der

Schutz derselben zum gemeinsamen Nutzen aller Nationen ist ihr einziges

Ziel."

Als Herr Buchanan diese guten Worte hinzufügte,

nahm

er

offenbar an, daß niemals bekannt werden werde, daß sein Staatssecretär

am 3. Juni 1858 eine Instruction an den Ministerresidenten Lamar er­ lassen hatte, durch welche derselbe angewiesen ward dahin zu wirken, daß

der Transitverkehr demnächst einer Amerikanischen Compagnie übertragen

werde, weil etz nur unter solchen Umständen dem Interesse der Vereinigten Staaten entsprechen würde, die Transitstraße für die ganze Welt zu öffnen.

Weiterhin erwähnt der Präsident dann des zwar am 16. November 1857

abgeschlossenen, aber noch immer nicht ratificirten Caß-Irrizarri-Vertrages

und hebt hervor, daß derselbe namentlich wegen der Bestimmung auf Widerstand gestoßen zu sein scheine, wonach die Vereinigten Staaten be­

rechtigt sein sollten, die Transitstraße mit ihren Truppen offen zu halten, falls Nicaragua seine Pflichten in dieser Beziehung nicht erfüllten sollte.

Eine solche Bestimmung sei bei der Schwäche jener Republik, den häufigen

Regierungswechseln und inneren Streitigkeiten absolut nothwendig.

Da der

Amerikanischen Regierung in ihrem Verkehr mit fremden Nationen nur

diplomatische Mittel zu Gebote ständen, und sie ohne Autorisation des

CongresseS Gewalt nur gegen feindliche Angriffe anwenden dürfe, müsse er ernstlich seinen bereits oben erwähnten, nicht zur Folge gezogenen An­

trag wiederholen, ihn zu autorisiren, die Land- und Seemacht zur Ver­

hinderung der Störung des Transitverkehrs und zum Schutz des Lebens und Eigenthums Amerikanischer Bürger, die dort reisten, zu verwenden.

Ein solches Gesetz sei auch zum Schutz der Panamä- und der Tehuantepec-

Route nöthig, wobei, was erstere betrifft, auf die in dem jetzt angerufenen Vertrage mit Neu

Granada

vom

12. December

1846

übernommene

Garantie der Neutralität Bezug genommen wird. —

Am Tage, nachdem diese Botschaft des Präsidenten an den Congreß übersandt war, am 7. December, gelang es einem Theil der von Walker angekündigten neuen Expedition von Mobile nach Centralamerika auSzu-

Sie kam jedoch zu einem unerwartet raschen, ziemlich lächerlichen

laufen. Ende.

Das Schiff, an dessen Bord sich die tapferen Freibeuter befanden,

strandete unweit Belize in Honduras; der Englische Gouverneur nahm sich der Besatzung als Schiffbrüchiger einer befreundeten Nation auf das freundlichste an und sandte sie nach Mobile zurück, wo sie am 2. Januar

1859 wieder eintrafen. Inzwischen war Sir William Gore Ouseley glücklich in Managua angelangt und hatte am 26. December 1858 dem Präsidenten Martinez sein Beglaubigungsschreiben überreicht.

Er hatte zwei Verträge abzu­

Durch den einen wollte England zu Gunsten Nicaragua's auf

schließen.

das Protectorat über die Mosquito-Küste und Greytown verzichten und eine Grenzberichtigung zwischen Nicaragua und Costa Rica herbeiführen.

Der zweite sollte sich an den Caß-Urrizarri-Vertrag anschließen und alle

von Nicaragua gewünschten Modificationen desselben, Amerikanische Regierung

zu

acceptiren

welche auch die

bereit sein würde,

zugestehen.

Ueber diesen 2. Vertrag trat der Gesandte sofort mit dem Minister des Auswärtigen Zeledon in Verhandlung.

Da er die in dxm Decret der

Legislatur von Nicaragua vom 27. Juni 1858 verlangten Aenderungen

bewilligte, namentlich auch der der Amerikanischen Regierung besonders anstößige Additional-Artikel wegen Verhütung von Freibeuterunterneh­

mungen in dem Artikel 22 seines Vertrages Aufnahme fand, gelangte dieser rasch zum Abschluß.

Schon am 20. Januar 1859 konnte er der

Legislatur zur Ratification vorgelegt werden, und diese erfolgte zwei Tage später.

Am 25. Februar theilte der Minister Zeledon dem Amerikanischen

Ministerresidenten Lamar, vor dem die ganze Sache bis dahin geheim ge­

halten war, den Englischen Vertrag mit der Anfrage mit, ob er sich für befugt halte, auf dieser Basis einen neuen Vertrag mit Nicaragua abzu­ schließen?

Herr Lamar verneinte dies zuerst mündlich, erklärte sich jedoch

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Caual^Frage.

626

am 8. März schriftlich bereit, einen solchen Vertrag sub spe rati zu discutiren; wurde dann wieder einen Augenblick schwankend, nahm die Ver­ handlungen jedoch am 12. März von neuem auf und unterzeichnete am 16. den gewünschten Vertrag,

welcher am 19. desselben Monats

der Legislatur und dem Präsidenten Martinez ratificirt wurde.

von

Derselbe

unterschied sich von dem Ouseleh'schen Vertrage nur durch eine etwas ab­ geschwächte Fassung

Nicaragua in Form

der

in dessen Artikel 22 enthaltenen,

früher von

eines Additional-Artikels geforderten Bestimmung

über die Verhinderung von Freibeuterzügen.

Bei Einsendung des Ver­

trages berichtete General Lamar, daß ihm der Abschluß desselben

durch ein solches Zugeständniß möglich geworden sei.

nur

Kaum war dieser

Bericht abgesandt, als eine Depesche des Staatssecretärs Caß vom 4. März

bei ihm einlief, in welcher derselbe ernste Unzufriedenheit über die noch nicht

erfolgte Ratification des Caß-Arrizarri-Vertrages aussprach,

den

von Nicaragua vorgeschlagenen, beleidigende Zweifel an der getreuen Aus­ führung der Amerikanischen Neutralitätsgesetze ausdrückenden Additional-

Artikel über die Freibeuterexpeditionen von Neuem für unannehmbar er­ klärte und hinzufügte, daß ein längerer Verzug der Ratification den Ab­

bruch

würde.

der diplomatischen Beziehungen zu Nicaragua zur Folge haben Dieser Depesche folgte bald eine zweite vom 1. April, welche die

Weisung enthielt, daß Herr Lamar, falls die Ratification noch nicht, oder nur mit dem anstößigen Additional-Artikel erfolgt sei, oder nicht innerhalb

14 Tagen

erfolge, seine Pässe

zu verlangen und der Regierung

von

Nicaragua anzuzeigen habe, daß, wenn das Verhalten derselben nicht so­ fort geändert und volle Genugthuung für die bisherigen Beleidigungen

gegeben werde, der Präsident dem Eongreß die Anwendung von Gewalt empfehlen werde, und daß inzwischen Amerikanische Kriegsschiffe an der Küste von Nicaragua kreuzen würden.

Nachschrift hatte

General

Caß

In einer vom 2. April datirten

hinzugefügt,

er

habe

soeben

die

am

25. Februar von Herrn Zeledon an Lamar gerichtete Aufforderung zum Abschluß eines Vertrages auf der Basis des Ouseleh'schen erhalten.

Die­

selbe sei eine Beleidigung der Ehre und Würde der Vereinigten Staaten

(„nothing less than an insult to the honor and dignity of the United States“) und völlig unannehmbar. — Mancher andere Diplomat würde

sich wahrscheinlich durch solche Instructionen sehr unangenehm berührt ge­ fühlt haben.

Nicht so Herr Lamar.

In einem Berichte vom 25. April,

worin er den Empfang der Depeschen mit dem Bemerken anzeigte, daß er sofort seine Pässe verlangen werde — was auch am 5. Mai geschah —,

erklärte er nicht nur, daß er selbst große Zweifel gehabt habe,

ob es

richtig sei, den „Zeledon-Lamar-Vertrag" (so nennt er ihn selbst) abzu-

schließen, sondern er sprach darin zugleich seine lebhafte Freude über das von seiner Regierung gegen Nicaragua beabsichtigte Verfahren aus.

Das

sei die einzig richtige Art, die Centralamerikaner zu behandeln, und ein

Die Vereinigten

Amerikanischer Gesandter sei ganz unnütz in Nicaragua.

Staaten müßten die Monroedoctrin praktisch zur Geltung bringen oder

dieses Land Europäischer Herrschaft überlassen.

„Ich habe die Central­

amerikanische Frage immer als eine solche angesehen, die nur mit den Waffen auSgefochten werden könne" („I have always

regarded the

Central American question as a fighting question“), fügte er hinzu

und berühmte sich, diese Ansicht bereits vor seiner Abreise von Washington gegen den Präsidenten ausgesprochen zu haben.

Es muß unter diesen Umständen gar ärgerlich für Herrn Lamar ge­ wesen sein, in der nächsten ihm zugesandten, vom 3. Mai datirten Depesche

des Generals Caß warme Lobsprüche für die Motive, die ihn zum Ab­ schluß des Vertrages vom 16. März veranlaßt,

und

zugleich

die Er­

klärung zu erhalten, daß der Präsident diesen Vertrag unbedenklich dem Senat zur Genehmigung empfehlen würde, wenn nicht der zwar gemil­

derte, aber immer noch anstößige Satz in Betreff der Freibeuterunter­ nehmungen darin enthalten wäre.

Er wird sich aber wohl wie ein Christ

in dieses Lob und diese Erklärung gefunden haben, da wenigstens die dem Amerikanischen Senat demnächst mit vertraulicher Botschaft vom 17. De­

cember 1859 vorgelegte Correspondenz über diesen Vertrag keine HerzenSergießung von ihm darüber enthält. — In einer Note vom 26. Mat

sprach sich General Caß auf desfällige Anfrage in ganz ähnlicher Weise auch gegen den General Jerez aus.

beanstandeten Satz fallen.

den so

Nun ließ man in Nicaragua den

Am 22. Juli 1859 ratificirte die Legislatur

amendirten Zeledon-Lamar-Vertrag zum

zweiten Male.

26. desselben Monatö genehmigte Präsident Martinez das Decrct,

Am

betreffende

und am 26. September wurde daö neue Vertragsdocument in

Washington überreicht. —

Inzwischen hatte die englische Regierung Sir William Gore Ouseley

desavouirt, weil er nicht gleichzeitig mit dem Transitvertrage auch den Vertrag wegen der Mosquito-Küste mit Nicaragua abgeschlossen und bei den Verhandlungen

über diesen die in Washington

Basis eigenmächtig verändert hatte.

dafür verabredete

Unter diesen Umständen vermochte

Präsident Buchanan in seiner Jahresbotschaft vom 19. December 1859

noch nicht die völlige Erledigung der Differenzen

wegen des Clayton-

Bulwer-Vertrages anzukündigen; aber er sprach darin die zuversichtliche Erwartung aus, daß diese bald erfolgen werde, da der Abschluß der ver­

abredeten Verträge Englands

mit Honduras und Nicaragua nur durch

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

628

Ursachen verzögert sei, welche die königliche Regierung nicht habe vvraus-

Daß England am 30. April 1859 durch einen Vertrag

sehen können.

mit Guatemala die Frage der Grenzen der britischen Niederlassung in Belize definitiv erledigt und durch einen am 28. November abgeschlossenen

Vertrag mit Honduras die Bah Islands an das Protektorat

diese Republik abgetreten,

über die dortigen Mosquito-Indianer aufgegeben und

alle auf deren Stellung bezüglichen Fragen zum Austrag gebracht hatte, war Herrn Buchanan damals noch unbekannt.

Erst wenige Tage später,

am 26. December, meldete ein Bericht des amerikanischen Gesandten in Guatemala, Beverly L. Clarke, dem Staatsdepartement den Abschluß des englischen Vertrags vom 30. April mit dem Bemerken, daß die darin

enthaltene Grenzbestimmung von dem Berichterstatter für eine eklatante Verletzung deS Clayton-Bulwer-Vertrages gehalten werde, und er deßhalb

dagegen protestirt habe.

Weitere Folgen hatte dies

Amerikanische Regierung

erklärte sich später

jedoch nicht.

Die

durch beide Verträge be­

Derjenige mit Honduras bot jedoch, wie gleich hier bemerkt werden mag, dem berüchtigten General Walker noch einmal Anlaß zu friedigt.

einem letzten Einfall in Centralamerika.

Er unternahm denselben unter

dem Vorwande, der mit der Art ihrer Session an Honduras unzufriedenen Bevölkerung zu Hülfe kommen und ihr Garantiern für die Zukunft ver­ schaffen zu wollen, und besetzte am 6. August,1860 Truxillo (Honduras). Dort vermochte er sich jedoch nicht zu halten.

Am 3. September wurde

er von dem Capitän des britischen Kriegsschiffes „JcaruS" gefangen ge­

nommen und an den General Alvarez von Honduras auSgeliefert, der ihn am 12. September erschießen ließ.

In Nicaragua war mittlerweile Herr Chas L. Wyse als englischer Gesandter an die Stelle Sir W. G. Ouseley's getreten.

Die beiden Ver­

träge, mit deren Verhandlung er beauftragt war, wurden am 28. Januar

1860 von ihm und Herrn Zeledon unterzeichnet und, nach Genehmigung Seitens der Legislatur, am 4. April vom Präsidenten Martinez ratificirt.

Durch den einen derselben wird das innerhalb des Gebiets von Nicaragua

belegene Territorium der Mosquito-Indianer als integrirender Theil der Republik und als unter deren Souverainetät stehend anerkannt und das

bisherige Protektorat über dasselbe aufgehoben.

Im Artikel 7 verpflichtet

Nicaragua sich, Greytown zum Freihafen zu erklären — was durch Ver­ ordnung deS Präsidenten vom 23. November 1860 geschah —, wo weder von Schiffen noch von Effecten „in transitu de mar ;i mar“ Abgaben

erhoben werden dürfen.

Der zweite Vertrag stimmt völlig mit dem von

Sir William G. Ouseley abgeschlossenen Transitvertrage überein.

die Klausel

im Artikel 22 wegen

Nur

Verhinderung von Freibeuterunter-

nehmungen ward darin gestrichen, weil die Vereinigten Staaten auf

deren

Entfernung

standen hatten.

aus dem

entsprechenden Zeledon-Lamar-Vertrag be­

Fast gleichzeitig schloß Frankreich einen ähnlichen, wenn

auch formell etwas abweichenden, Vertrag mit Nicaragua ab.

Beide Staaten hatten solchergestalt einen Vorsprung vor den Ver­

einigten Staaten gewonnen, da die Ratification des Zeledon-Lamar-VertrageS noch nicht erfolgt war. — In seiner Jahresbotschaft vom 19. De­

cember 1859 hatte Herr Buchanan den Abschluß

desselben

an

des unratificirt gebliebenen Caß-Irrizarri- Vertrages angekündigt. 22. Dezember

wurde

er

dem

amerikanischen Senat

17. desselben Monats datirten Botschaft vorgelegt.

mit

einer

Stelle

Am vom

Am 14. Februar 1860

beschloß das SenatS-Committee für die auswärtigen Angelegenheiten, die

Ratification zu empfehlen.

Als der Vertrag endlich

am

letzten Tage

vor Ablauf der Ratificationsfrist', am 15. März, in executiver Sitzung

des Senats ausgenommen ward, erhielt er jedoch, wider alles Erwarten, nicht die erforderliche zwei Drittel Aiajorität und bei nochmaliger Be­

rathung (sog. reconsideration) am folgenden Tage ward er abermals verworfen, indem nur 31 Senatoren dafür, 20 dagegen stimmten.

Die

der republikanischen Partei angehörige Opposition hatte Anstoß an den

Bestimmungen des Artikel 16 über die Anwendung bewaffneter Gewalt

zum Schutz des Lebens und Eigenthums amerikanischer Bürger genommen und das in zwei auf Beseitigung derselben gerichteten Amendements der Senatoren Collamer und Hamlin zum Ausdruck gebracht.

Der Gesandte

von Nicaragua machte in vertraulichem Gespräch kein Hehl daraus, daß er sich über diese Niederlage des Präsidenten freue.

Die Unzufriedenheit,

welche der Erfolg der republikanischen Opposition vielfach im Publikum,

und namentlich bei der demokratischen Partei erregte, führte dazu, daß

der Vertrag

ganz wider den hergebrachten Gebrauch, noch ein drittes

Mal im Senat ausgenommen ward.

Nunmehr erhielt er am 26. Juni

1860 die Genehmigung desselben, jedoch erst nachdem er dahin amendirt war, daß die amerikanische Militärmacht nur mit Zustimmung des Congresses zum Schutze des Transitverkehrs verwandt werden dürfe. Obgleich Nicaragua begreiflicherweise mit diesem Zusatz sehr zufrieden war, be­ nutzte es gern den bald nachher erfolgten neuen Einfall Walker's als Vor­

wand, die Legislatur bis zum nächsten Januar zu vertagen, und schließlich

blieb die Sache unerledigt. — Erst unter der Regierung des Präsidenten Johnson kam am 21. Juni 1867 ein Freundschafts-, Handels- und Schiff­ fahrtsvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Nicaragua zu Stande*),

*) U. St. Statutes at Large XV. S. 549.

630

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Frage.

dessen Artikel 14—18 in der Hauptsache mit dem amendirten ZeledonLamar-Vertrage übereinstimmen. Der Artikel 14 sichert den Bereinigten Staaten den Transit auf allen damaligen oder künftigen, natürlichen oder künstlichen, Verbindungswegen durch Nicaragua, zu Lande und zu Wasser, unter gleichen Bedingungen wie Nicaragua selbst, unter Aner­ kennung der Souverainetät der Lokalregierung, zu. Im Artikel 15 garan« tiren die Vereinigten Staaten nicht nur die Neutralität und den gesetzlich erlaubten Gebrauch (innocent use) aller solcher Transit-Straßen, sondern sie versprechen zugleich, ihren Einfluß bei anderen Nationen geltend zu machen, um dieselben zu veranlassen, gleichfalls solche Neutralität und solchen Schutz zu garantiren („They also agree to employ tlieir infkience with other nations to induce them to guarantee such neutrality and protection.“). Der in diesem Artikel neben Stipulationen über Freihäfen und über die Postbeförderung enthaltenen Bestimmung, daß die Vereinigten Staaten nach vorgängiger Anzeige an die Landes­ behörde nach und zwischen den Freihäfen Truppen und Kriegsmunition befördern dürfen, ist die Bedingung hinzugefügt, daß solche Truppen und Munition nicht gegen einen mit Centralamerika befreundeten Staat ver­ wandt werden dürfen. Die Verwendung der amerikanischen Militärmacht zum Schutze des Transitverkehrs ist im Artikel 16 ebenso wie in dem englischen Vertrage und im Artikel 16 des Zeledon-Lamar-Vertrages be­ stimmt; zugleich ist htnzugefügt, daß die Truppen sofort zurückgezogen werden müssen, wenn nach der Ansicht der Regierung von Nicaragua deren Anwesenheit nicht länger nothwendig ist. Auch ist, in Ueberein­ stimmung mit dem SenatS-Amendement vom 26. Juni 1860 zu letzterem Vertrage die gesetzgeberische Thätigkeit des amerikanischen Congresses in einer Weise gewahrt, welche die Rechte Nicaraguas noch weiter sicher stellt. In dem Artikel 17 haben, ebenso wie in dem oben erwähnten Vertrage mit Honduras v. 1864, Artikel 14 Paß. 3, die Stipulationen des Artikel 5 des Clayton - Bulwer-Vertrages Aufnahme gefunden. Die 15 Jahre, vom Tage deS Austausches der Ratificationen an gerechnet, für welche der Vertrag abgeschlossen ist, laufen am 20. Juni 1883 ab, und wird derselbe, falls er nicht schon früher gekündigt werden sollte, von da an mit zwölfmonatlicher Kündigungsfrist in Kraft zu bleiben. In dem Bestreben, die Resultate seiner Administration auch rück­ sichtlich der Beziehungen zum Auslande so günstig wie möglich erscheinen zu lassen, hatte Präsident Buchanan in seiner letzten Jahresbotschaft vom 3. Dezember 1860 der Verhältnisse zu den centralamerikanischen Staaten nur mit wenigen Worten und des Zeledon-Lamar-Vertrages gar nicht Erwähnung gethan. Dagegen gab ihm die glückliche Erledigung der

Differenzen mit England zu so freundschaftlichen Auslassungen über die

Beziehungen zu diesem Anlaß, daß der mittlerweile an Lord Napier'S Stelle getretene neue englische Gesandte, Lord Lyons, dieselben bei Ein­

sendung der Jahresbotschaft an seine Regierung am 10. December als die herzlichsten (the most cordial) bezeichnete,

welche sich in Betreff

Englands in irgend einer Präsidenten-Botschaft seit Gründung der Re­ Die betreffenden Worte deS^Herrn Buchanan

publik finden dürften*).

lauten folgendermaßen**): von der freundschaft­

„Unsere Beziehungen zu Großbritanien sind lichsten Art . . .

Die auS dem Clayton-Bulwer-Vertrag entsprungenen

gefährlichen Fragen . . . sind freundlich u. ehrenhaft erledigt.

widersprechenden

welche

Auslegungen,

die

beiden

Die sich

Regierungen

dem

Clayton-Bulwer-Vertrage gaben, und deren Erörterung zu verschiedenen

Zeiten ein drohendes Aussehen annahm, haben zu einer schließlichen Ver­

ständigung geführt, welche die amerikanische Regierung durchaus befriedigt." — Zum Beweise dafür letzten Jahresbotschaft

fügt der Präsident hinzu,

daß die

in seiner

ausgesprochene zuversichtliche Erwartung

(1859)

erfüllt sei, indem England seitdem mit Honduras und Nicaragua die (oben erwähnten)

Verträge

abgeschlossen

habe,

welche

in

allen

wichtigen

Punkten (in every important particular) mit den von dem Senat zu dem

vom

Clarendon-DallaS-Vertrage

beschlossenen

17. October 1856

Amendements übereinstimmlen, welche England zu jener Zeit verworfen hatte. — Während

Buchanan über auS dem

Herr' Blaine

diese

die durchaus

emphatische

Erklärung

deS

befriedigende definitive Erledigung

Herrn aller

Clayton-Bulwer-Vertrage hervorgegangenen Differenzen mit

England völlig ignorirt und auch ignoriren mußte,

als er neuerdings

die wesentlichsten Modificationen dieses Vertrages gerade aus dem Grunde verlangte, weil dessen Auslegung auch noch heute streitig sei, konnte Lord Granville seine Argumentation

gegen

diese

eigenthümliche Zumuthung

nicht schlagender als mit der Hinweisung auf diese Erklärung schließen. Neben den interoceanischen Transitrouten Centralamerika hatten

über den JsthmuS von

auch diejenigen durch Mexiko schon

früher die

*) Bgl. die 1862 dem Britischen Parlament voraeleaten Actenstücke „North America“. Nr. I., S. 3. Nr. 5.

** ) Der Englische Text lautet: „our relations with Great Britain are of the most friendly character .... The dangerous questions arising from the Clayton Bulwer treaty .... have been amicably and honorably adjusted. The discordant constructions of the Clayton and Bulwer treaty between the two governments, which at different periods of the discussion bore a threatening aspect, have resulted in a final Settlement entirely satisfactory to this government.“ Preußische Jahrbücher. Bd. XLIX. Heft G.

43

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

632

Aufmerksamkeit der Bereinigten Staaten auf sich gezogen.

darüber gepflogenen Verhandlungen

bisher

nicht direkt dabei betheiligt war, glaube

Ich habe die weil England

übergangen,

aber nunmehr auch diese kurz

recapituliren zu müssen, weil sie die von der amerikanischen Regierung rücksichtlich

des

interoceanifchen Transitverkehrs

noch

Politik

verfolgte

deutlicher erkennen lassen. — Die mexikanische Regierung hatte bereits am 1. März 1842 einem gewissen Jose de Garey eine Concession für den Transitverkehr über den

mit

Isthmus von Tehuantepec

ertheilt.

auf 50 Jahre

exorbitanten Privilegien

ging

Am 7. September 1847

auf britische

diese Concession

bei den

Unterthanen über, und in Folge davon weigerte sich Mexiko,

nachher

bald

eröffneten

Friedensverhandlungen

mit

den

Vereinigten

Staaten, diesen das Wegerecht über den Isthmus zu verkaufen

erwarb ein Amerikaner

P.

Später

A. Hargous die Concession von den Eng­

ländern und Präsident Fillmore kündigte in seiner Jahresbotschaft vom

2. December 1850 an, daß Verhandlungen über den Schutz der projek-

tirten Eisenbahn über den Isthmus mit Mexico schwebten, die jedoch auf Schwierigkeiten zu stoßen schienen.

Sie geriethen bald ganz üf$ Stocken,

annullirte die mexikanische Regierung

im Mai 1851

und

die Garey-

Hargous'sche Concession wegen angeblicher Nichterfüllung der llrsprünglichen G.

Bedingungen

Mexiko.

völlig*).

Am

5. Februar 1853 erhielten Colonel

eine neue

Concession

von

Davon nahm die amerikanische Regierung Veranlassung,

sich

und Genossen

Sloo

in New Orleans

bei den Verhandlungen über einen am 30. December 1853 mit Mexiko

ohne

Zeitbeschränkung

Grenzen

zwischen

den

abgeschlossenen Vereinigten

Vertrag**),

Staaten

und

durch

welchen

der Republik

die

sowie

mehrere Artikel des Friedensvertrags von Guadalupe Hidalgo abgeändert

werden, auch für den Transit-Verkehr über den Isthmus von Tehuantepec wichtige Rechte auszubedingen.

Es war dies der erste nach Abschluß des

Clayton-Bulw.er-Vertrags von den Vereinigten Staaten verhandelte Ver­ trag, in welchem diese das dort aufgestellte Prinzip der Zusicherung ihres

Schutzes für jede ihnen eröffnete interoceanische Verbindungsstraße praktisch zur Ausführung cember

brachten.

Der Artikel 8

1853 gewährt nämlich

des Vertrags

den Bürgern

vom 30. De­

der Vereinigten Staaten

für sich und ihre Waaren den Transit über die am 5. Februar 1853

concessionirte Bohlen-Straße und Eisenbahn (plank and railroad) gegen Entrichtung

von Abgaben,

die nicht

höher sein dürfen,

als

die von

*) Vgl. über diese Verhältnisse: ©arbner „Institutes of international law“. York 1860. S. 645. **) U. St Statutes at Large X S. 1031.

New

Die rechtliche und Politische Seite der Panamü-Tanal-Frage.

633

anderen Nationen bezahlten, nnd bestimmt, daß keiner fremden Regierung ein Antheil an der Transitstraßc oder am Ertrage derselben eingeräumt werden

solle.

Nach einigen ferneren

Stipulationen über Beförderung

einer amerikanischen Post in geschlossenen Beuteln, Befreiung von Paß­ zwang rind Anlage eines neuen Einfuhrhafens am mexikanischen Golf,

heißt es dann weiter, daß beide Regierungen ein Uebereinkommen über von Truppen und Munition treffen wollten,

die prompte Beförderung

welche die amerikanische Regierung Anlaß haben möchte, von einem Theil ihres Gebiets nach einem andern an der entgegengesetzten Seite des Con-

tinents belegenen zu senden.

Der Artikel schließt mit folgenden Worten*):

„Da die mexikanische Regierung sich bereit erklärt hat, die Ausführung, Erhaltung und Sicherheit des Unternehmens mit ihrer ganzen Macht zu

unterstützen, so können die Vereinigten Staaten ihren Schutz,

soweit sie

dies für zweckdienlich halten, auf dasselbe ausdehnen, wenn sie meinen, daß das durch das öffentliche und internationale Recht sanktionirt und gerechtfertigt sei."

Der Vertrag

kam

erst nach

vielen Amendirungen

und Zwischen­

verhandlungen, die sich jedoch nicht auf den 8. Artikel, sondern auf die

Grenzbestimmungen und Landabtretungen, sowie auf den an Mexiko zu zahlenden,

schließlich

auf 10 Millionen Dollars

bestimmten Preis be­

zogen, zu Stande, und die Ratificationen wurden erst am letzten Tage

der dafür gesetzten Frist, am 30. Juni 1854, ausgetauscht.

Das weit­

gehende Recht, welches der amerikanischen Regierung durch den angeführten

Schlußsatz des Artikels 8 eingeräumt wird, ist niemals auf eine prak­ tische Probe gestellt, weil die beabsichtigte Transitstraße überhaupt nicht

vollständig zur Ausführung gekommen ist, wenngleich 1859 eine kurze Zeit lang ein regelmäßiger Dampfschiff- und Eilwagen-Verkehr zwischen

New Uork und San Franzisko über den Isthmus von Tehuantepec unter­ halten

ward.

Durch

Dekret

des

Präsidenten

von

Mexiko,

General

Comonfort, vom 3. September 1857 wurde auch die der Gesellschaft Sloo

im Februar 1853 ertheilte Bauconcession wegen Nichterfülllmg der Be­ dingungen wieder aufgehoben, aber durch ein am 7. desselben Monats erlassenes ferneres Dekret einer am 4. Aug. unter Verständigung aller bisherigen Interessenten gebildeten

„Louisiana Tehuantepec

Company"

ein umsichtiger abgefaßtes neues Privilegium zum Bau einer Eisenbahn über den Isthmus ertheilt.

Hier kommt dessen 24. Artikel in Betracht.

*) Der Englische Text lautet: „The Mexican Government having agreed to protect with its whole power the prosecution, preservation, and security of the work, the United States may extend its protection as it shall judge wise to it, when it may feel sanctioned and warranted by the public and international law.“

Die rechtliche und Politische Seite der PaiiainL-Canal-Frage.

634

Derselbe erklärt ausdrücklich den Transit über die neue Straße für frei für alle Bewohner der Welt,

fügt aber hinzu: daß von allen Gütern

einer Nation, die nicht bereit sei, mit Mexiko einen Neutralitätsvertrag

abzuschließen, ein den ohnehin hohen Tarifsatz um

25 Procent

über­

steigenden Frachtsatz erhoben werden solle. Als Präsident Buchanan im Frühjahre 1858 den Versuch machte,

Mexiko zu einer nenen Landabtretung — insbesondere Unter-Californiens — zu bewegen, wünschte er bei dieser Gelegenheit auch die Bestimmungen

des Vertrages von 1853 über den Transitverkehr zu verbessern. Mexikanische Regierung

22. März von dem

schläge ab,

und

lehnte

jedoch schon am 5. April

amerikanischen Gesandten Forsyth

die

auch

weiteren Verhandlungen

Die

alle ihr am

gemachten Vor­

blieben

erfolglos.

Kaum aber hatte die amerikanische Regierung nach kurzer Unterbrechung

des diplomatischen Verkehrs im April 1859 die damals in Vera Cruz

residirende Regierung

anerkannt,

Mexikos

des Präsidenten Juarez als

sie die

als

legitime Regierung

Verhandlungen des

Vorjahres durch

den neu ernannten Gesandten Mc Lane in der Hoffnung wieder auf­

nehmen ließ, bei der Machtlosigkeit und Geldbedürftigkcit der sog. con-

stitutionellen Regierung

rasch zum Ziel zu gelangen.

Es

ist für den

Zweck dieser Darstellung nicht nöthig, auf die Einzelheiten der Verhand­ lungen, so viel Interessantes dieselben auch darbieten, näher einzugehen. Am 27. August mußte der Gesandte berichten, daß jede Aussicht, Herrn Buchanan Anspruch auf den Titel eines Mehrers des Reiches zu ver­

schaffen, verschwunden sei. — Ueber die Transitrouten verhandelte man

weiter:

Besonderen Widerstand

fand bei der mexikanischen Regierung

das beanspruchte Recht, nach eigenem Belieben die amerikanische Militär­ macht für den Schutz

des Verkehrs auf diesen Straßen zu verwenden.

Insbesondere war dieselbe abgeneigt, ein solches Recht auf dem JsthmuS

von Tehuantepec zuzugestehen, weil andere Nationen, welche später die Neutralität derselben Artikel 2

des

garantiren möchten — wozu sie nach

einem dem

ersten Vertragsentwurfs hinzugefügten Zusatz aufgefor­

dert werden sollten — das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen

könnten.

Dieser Zusatz wurde in Folge Schreibens des Washingtoner

Staatsdepartements an Herrn Mc Lane vom 30. Juli wieder gestrichen,

aber erst nach manchen Zwischenverhandlungen, nach zweimaligem Wechsel

des mexikanischen Ministers des Auswärtigen und nachdem der Gesandte mit neuen Instruktionen, die er sich persönlich in Washington geholt, nach Vera Cruz zurückgekehrt war, konnte er am 7. Dezember 1859 be­

richten, daß er nunmehr begründete Aussicht habe, einen vortheilhaften

Transitvertrag

und,

unabhängig

davon,

einen

zweiten Vertrag

zum

Schutze der Rechte und Interessen amerikanischer Bürger in Mexiko ab­

zuschließen. beiden an

8 Tage später, am 14. desselben Monats,

sandte er die

dem mexikanischen Minister

demselben Tage von ihm und

Ocampo unterzeichneten Verträge*) an seine Regierung ein.

Hier kommen

nur die nachstehenden Bestimmungen des Haupt-Vertrages in Betracht.

Durch den ersten Artikel räumt Mexiko, zur Vervollständigung und

Verbesserung (amplification) des Artikels 8 deS Vertrags vom 30. De­ cember 1853 den Vereinigten Staaten, ihren Bürgern und deren Eigen­ thum für immer (in perpetuity) das Wegerecht über den Isthmus von Tehuantepec von einem Ocean zum andern auf jeder Art von Straße

welche jetzt besteht oder später bestehen mag, in der Weise ein, daß das­ selbe beiden Republiken und deren Bürgern zu Gute kommen soll.

Durch

den zweiten Artikel verpflichten sich die contrahirenden Staaten, alle jetzt

und künftig existirenden Straßen über den JsthmuS zu beschützen und deren

zu

dteutralität

Der dritte

garanliren.

Artikel

beseitigt

unter

Anderem alle Transitabgaben und stellt Passirende fremde Personen und

deren Eigenthum

den Mexikanern und dereil Eigenthum gleich.

vierte Artikel ordnet die

für

Verhältnisse

den Verkehr

Nationen in zwei an den Endpunkten der Transitrouten

aller

Der

fremden

anzulegenden

Der ans

Entrepot-Häfen (Ports of deposit) in der liberalsten Weise.

den Schutz der Transitstraße mit militärischer Macht bezügliche Artikel 5

stimmt wörtlich mit dem Artikel 16 des Zeledon-Lamar-Vertrages vom

16. März 1859 überein.

Durch den sechsten Artikel erhalten die Ver­

einigten Staaten das Recht, nach vorgängiger Anzeige an die mexikanischen Lokalbehörden, Truppen, Kriegsbedürfnisse und Munition über den Isth­

mus von Tehuantepec

und über eine andere näher bezeichnete Straße

zwischen dem Golf von Californien und der amerikanischen Grenze pas-

siren zu lassen.

Die den Transit besorgende Gesellschaft soll dafür nur

die Hälfte der gewöhnlichen Fahr- und Frachtpreise Sollte

irgend eine

Gesellschaft

auf

Grund

früher

berechnen

bereits

dürfen.

erhaltener

Privilegien eine solche Preisermäßigung ablehnen, so werden die Ver­ einigten Staaten derselben den in dem Artikel 2 und 5 zugesagten Schutz nicht angedeihen lassen.

Im Artikel 7 gesteht die Mexikanische Regierung

den Vereinigten Staaten noch

auf einer

dritten Transitstraße zwischen

dem Golf von Mexiko pnd demjenigen von Californien daö Wegerecht

für immer

zu,

und

soll Alles,

was

rücksichtlich

des

Isthmus

von

*) I» Folge einer unaufgeklärt gebliebenen Judiscretion sind beide Verträge, jedoch uicht die am 4. Januar 1860 dem Amerikanischen Senat vorgelegten und „in confidence for the use of the ü. St. Senate“ gedruckten, mehr als 150 Seiten umfassenden Aktenstücke über die Verhandlungen, in der „New York Times“ vom 15. Februar 1860 publicirt.

636

Die rechtliche uiib politische Seite der Pauamli, Canal-Frage.

Tehuantepec vereinbart ist, mit alleiniger Ausnahme der Bestimuntngen über den Transport von Truppen, Kriegsbedürfnissen und Mlmition, auch auf diese Route Anwendung leiden. In Berücksichtigung dieser imb anderer werthvoller Zugeständnisse und als Compensation für den Verzicht auf Transitabgaben, verspricht die Amerikallische Regierullg im Artikel 10, der Mexikanischen 4 Millionen Dollars zu bezahlen, und zwar die Hälfte dieser Summe sofort bei Gelegenheit des innerhalb von 6 Monaten stattfindenden Austausches der Ratifieationen, wahrend aus der anderen Hälfte zllnächst alle Reelamationen amerikanischer Bürger gegen Mexiko berichtigt werden sollen, von denen nachgewiesen wird, daß sie nach Völker­ recht oder in der Billigkeit begründet sind. Obgleich die Verträge vom 14. Deeember 1859 bereits in Was­ hington eingetroffen waren, als der Präsidellt am 27. desselben Monats seine vom 19. datirte Jahresbotschaft an den Kongreß sandte, hatte er dennoch die darin enthaltenen, auf Mexiko bezüglichen Ausführungen nicht abgeändert. (Sr legte darin die vielfachen, angeblich nur von der in der Hailptstadt etablirten Regierung des fiibftituirtcn Präsidenten Miramon verschuldeten Beschwerden gegen die Nachbarrepublik dar imt> deutete an, daß vielleicht auf die Cooperation und Zustimnutng der nur die Seeküste beherrschenden eonstitittionellen Regierung des Präsidenten Juarez — deren rechtliche Existenz einer eingehenden Erörterung unterzogen ward, — gerechnet werden könne. Der daran geknüpfte Antrag ging dahin, ihn zu autorisiren, eine ausreichende Militärmacht in Mexiko einrücken zu zu lassen, um Schadenersatz für die Vergangenheit und Sicherheit für die Zukunft zu erzwingen. Es hätte des in dem Munde eines Präsidenten der Vereinigten Staaten höchst eigenthümlich klingenden Versuchs, eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Mexiko's zu rechtfertigen, um so weniger bedurft, als der zweite der abgeschlossenen Verträge prak­ tisch auf das Recht der Einmischung hinausläuft. — Am 4. Januar 1860 legte Herr Bilchanan die Verträge dem Senat zur Genehmigung vor und, als dieser Monate vergehen ließ, ohne die Sache aufzunehmen, be­ nutzte er, unbekümmert um den inzwischen von General Miramon in feier­ licher Proklamation dagegen erhobenen Protest, den Abschluß des Vertrags mit Honduras vom 28. März dazu, um in seiner von mir schon mehr­ fach allegirten vertraulichen Botschaft vom 5. April auch diese Verträge von Neuem dringend zu befürworten. Nachdem er entwickelt hat, daß in sämmtlichen, 1846 mit Neu Granada, 1850 mit England, 1853 und 1859 mit Mexiko, am 16. März 1859 mit Nicaragua, und jetzt auch mit Honduras abgeschlossenen Verträgen über den interoeeanischen Transit­ verkehr dieselbe Politik zum Ausdruck komme, fährt er fort: die Wichtig-

feit, welche es für die Vereinigten Staaten habe, sich den freien und ungestörten

Transitverkehr für den amerikanischen Isthmus zu sichern,

könne nicht überschätzt werden.

Diese Transitstraßen seien selbstverständ­

lich für alle handeltreibenden Nationen von großem Interesse; aber ganz

besonders

seien sie eS für die Vereinigten Staaten

wegen

ihrer geo­

graphischen und politischen Lage als amerikanischer Staat, und weil sie

eine nothwendige Verbindung zwischen deren Staaten

am Atlantischen und am Stillen Meere böten. einigten Staaten könne

und Territorien

Die Regierung der Ver­

niemals gestatten (permit),

daß diese Straßen

dauernd unterbrochen würden, noch könne sie ohne Gefahr zugeben (allow),

daß dieselben unter die Controle anderer rivalisirender Nationen geriethen. Wenn sie auch kein ausschließliches Privilegium auf diesen Straßen für

sich erstrebe (while it seeks no exclusive privilege upon them for

itself), könne sie doch niemals ihre Zustimmung dazu geben, beim Ge­

brauch derselben irgend einer europäischen Macht tributpflichtig zu werden. Es sei aber doch der Beachtung werth, ob das nicht nothwendiger Weise eintreten würde, wenn die Bereinigten Staaten, nachdem England und

Frankreich ihre Politik angenommen und in Folge davon mit den Re­ gierungen auf dem Isthmus Verträge abgeschlossen hätten, ihrerseits die­

selben aufgeben (reconsider) und es ablehnen sollten,

diese Politik in

ihren Verträgen weiter zu verfolgen u. s. w. Alle diese sehr beachtenswerthen Erwägungen vermochten jedoch nicht, den Verträgen die erforderliche zwei Drittel Majorität im Senat zu ge­

winnen.

Die Opposition konnte sich nicht gewichtiger Zweifel erwehren,

ob der Präsident Juarez, auch wenn der Bestand seiner Regierung ge­

sicherter wäre, als es damals den Anschein hatte, befugt fei, wie es im Artikel 10 des Transitvertrages und im Artikel 2 des NebenvertrageS

heißt: „in virtue of bis extraordinary and actual executive functions“, seinerseits die Verträge ohne die Zustimmung eines mexikanischen Con-

gresseS zu ratisiciren.

Auch die Abneigung dagegen, daß der Regierung

des Herrn Buchanan der ganze Ruhm einer so vortheilhaften Erledigung der seit Jahren brennenden mexikanischen Frage zufallen würde, machte sich geltend.

Entscheidenden Einfluß auf die Abstimmung übte indessen die

mit oder ohne Grund verbreitete und geglaubte Nachricht, daß die meisten

Reclamationen gegen Mexiko von Anhängern der Regierung deS Herrn Buchanan in Washington aufgekauft seien und diese sich erboten hätten,

die Hälfte der zu ihrer Befriedigung in dem Hauptvertrage ausgesetzten Gelder, also eine volle Million Dollars, im Falle der Ratification der demokratischen Partei als einen Corruptionsfonds für

sidentenwahl zu überlassen.

die nächste Prä­

Am 31. Mai verwarf der Senat die Ver-

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

638 träge.

Alle Bemühungen, eine Abänderung des Beschlusses herbeizuführen,

hatten kein günstigeres Resultat als das, daß der Senat am 27. Juni

beschloß,

die ganze Angelegenheit in der nächsten Sitzungsperiode noch Jedoch auch diese ging am 4. März 1861 zu Ende,

einmal zu berathen.

ohne daß der in der letzten Jahresbotschaft des Präsidenten Buchanan vom 3. December 1860 erneuerten

Empfehlung entsprochen,

und

die

Verträge auf- und angenommen wären. — Auch später ist dieser oder

ein anderer Transitvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko nicht zu Stande gekommen.

Es ist jedoch wahrscheinlich, daß neue Ver­

handlungen darüber schon bald wieder eingeleitet werden, falls dies nicht vielleicht schon jetzt geschehen sein sollte.

Denn Herr Blaine erwähnt in

seiner Depesche vom 19. November v. I., daß der Bau einer Eisenbahn über den JsthmuS von Tehuantepec

nehmern in Angriff genommen sei.

bereits von amerikanischen Unter­ Die Nähe der Vereinigten Staaten

macht eine solche wünschenswerth. DaS als ein Paroli gegen den Panama-

Kanal in der Union lebhaft begrüßte, von dem berühmten Erbauer der Miffiffippi-Brücke bei St. Louis, Colonel Eads, aufgestellte Projekt einer

Schiffseisenbahn über den JstmuS dürfte dagegen schwerlich jemals realisirt

werden, obwohl das Senatscommittee für Handel schon eine „Bill to incorporate tlie Interoceanic Ship Railway Company“ eingebracht hat.

Wie die vorangehende Darstellung ergibt, hat die Amerikanische Re­ gierung in keinem Stadium der langwierigen Verhandlungen mit Eng­

land

über die Auslegung

einiger Bestimmungen des Vertrages

19. April 1850 für die Vereinigten Staaten

eine bevorzugte

vom

Stellung

und ausschließliche Eontrole über irgend eine der in Aussicht genommenen

interoceanischen Land-

oder Wasserverbindungen in Anspruch genommen.

Ebenso wenig hat sie das bei ihren Verhandlungen mit Nicaragua und

Mexiko gethan oder zu jener Zeit aus der von ihr in dem Vertrag mit Neu Granada (Columbien)

von

1846

übernommenen

Garantie

der

Neutralität des Isthmus von Panamä den Schluß zu ziehen versucht, daß die Principien des Clahton-Bulwer-Vertrages auf Kanalanlagen auf der Landenge von Panama oder auf derjenigen von Tehuantepec keine An­

wendung litten, oder gar mit dieser Garantie unvereinbar seien. — Die

beiden nächsten Nachfolger des Präsidenten Buchanan, die Herren Lincoln und Johnson, haben durch die resp. 1864 und 1867 mit Honduras und

Nicaragua abgeschlossenen Verträge den Beweis geliefert, daß sie den­ selben Standpunkt

einnahmen.

Diese Verträge

Grunde nur eine Erbschaft aus früherer Zeit.

waren

übrigens

im

Denn während der Re­

gierung beider Präsidenten war die Aufmerksamkeit derselben durch den

Bürgerkrieg und daS rasche Aufblühen der ausgedehnten Besitzungen am

Stillen Meere von

der Anlage eines Verbindungsweges über fremdes

Gebiet ab- und auf die Routen durch das eigene Land hingelenkt, wo man mit auswärtigen Mächten nicht zu rechnen brauchte.

Zwei Monate

nach dem Regierungsantritte des Präsidenten Grant wurde am 15. Mai

1869 die erste transkontinentale Eisenbahn nach dem Stillen Meere er­ öffnet, und bald nachher wurden mehrere andere solcher Linien in Angriff genommen.

Unter General Grant wurden zwar auch die Expeditionen

zur Ermittelung einer günstigen Kanallinie durch den Isthmus von Mittel­ amerika mit neuem Eifer wieder ausgenommen; aber auch er hielt an der

Politik seiner Vorgänger fest.

Lord Granville erwähnt am Schluffe seiner

Depesche vom 7. Januar dieses Jahres Verhandlungen zwischen dessen StaatSsecretär

Fish

Hamilton

und

dem

Gesandten

von

Nicaragua,

Dr. Cardenaö, welche eine gemeinsame Neutralitätsgarantie aller See­

mächte, auf Grundlage des Clahton-Bulwer-Vertrages, in'S Auge faßten.

Näheres darüber ist mir nicht bekannt geworden, weil in die veröffent­ lichte officielle „United States Foreign Correspondenee“ nichts darüber

ausgenommen ist. — Erst unter den Präsidenten HaheS, Garfield und Arthur trat — offenbar veranlaßt durch das sich anscheinend seiner Ver­ wirklichung nähernde Lesseps'sche Project deS Panama-Kanals — in den

letzten Jahren allmälig ein gänzlicher Wechsel der Anschauungen ein.

Ich

habe daS Nöthige darüber bereits in der Einleitung dieses Aufsatzes an­ geführt; aber es liegt mir ob, nunmehr dem Leser auch die Gründe vor­

zulegen, durch welche Herr Blaine in seinen Depeschen an Herrn Lowell

vom 24. Juni, 19. und 29. November v. I. diese veränderte Auffassung zu rechtfertigen versucht, und dieselben durch einige Bemerkungen zu be­ leuchten.

Herr.Blaine beginnt

seine Argumentation

in der Depesche

vom

24. Juni v. I. mit einer petitio principii, indem er die Garantie der Neutralität des Isthmus von Panamk, welche die Vereinigten Staaten durch den Vertrag mit Neu Granada (Columbien) von 1846 übernommen

haben, als eine ihnen zum Schutze ihrer wichtigsten Interessen durch gegebieterische Nothwendigkeit auferlegte und ausschließliche hinstellt.

Wie

unrichtig dieses ist, glaube ich in meinen Bemerkungen über diesen Ver­ trag unwiderleglich nachgewiesen zu haben.

Andere Rechtsgründe führt

der ehemalige Amerikanische StaatSsecretär überhaupt nicht an.

Dagegen

macht derselbe verschiedene politische Gesichtspunkte zur Begründung des

erhobenen Anspruchs auf eine ausschließlich Amerikanische Controle über

den projectirten Kanal geltend. bloße Phrasen hinaus.

So

Mehrere derselben laufen allerdings auf bezeichnet er jeden

Versuch Europäischer

Brächte, sich an der Amerikanischen Garantie zu betheiligen, als eine un-

640

Die rechtliche uiib politische Seite der Poiiamä-Eanal-Frage.

provocirte Anmaßung (uncallecl-for iutrusion) und, falls derselbe dahin ginge, solche Garantie an die Stelle der Amerikanischen treten zu lassen, als eine Art von Alliance gegen die Vereinigten Staaten und als ein Zeichen unfreundlicher Gesinnung („would partake of the nature of an alliance against the United States and would be regarded by this government as an indication of unfriendly feeling“). Er erklärt, daß eine Vereinbarung zwischen Europäischen Staaten, gemeinschaftlich die Neutralität zu garantiren und damit faktisch (in effect) den politischen Charakter einer Heerstraße zu controliren, die von ihnen entfernt sei, während sie ihrem Wesen nach einen Theil der Amerikanischen Küstenlinie bilde („forming substantialiy a part of our coast lino“), nur mit der ernstesten Beuilruhigung (with the gravest coucern) betrachtet werden könne. Was ihn annehmen läßt, daß die Europäischen Mächte jemals daran beiden könnten, unter Ausschließung der Vereinigten Staaten, eine gemeinsame Garantie zu übernehmen und eine politische Controle über den Kanal zu erstreben, wird nicht gesagt. Es dürfte auch ebenso schwierig fein, einen Anhalt für eine solche Snpposilion zu finden, wie die kühne Behaliptnng zu begründen, daß der Isthmus von Panama zum Küstengebiet der Vereinigten Staaten zu rechnen fei, solange Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Columbien ihre staat­ liche Unabhängigkeit bewahren. Ueber die angeführten Phrasen darf mau jedoch nicht einige beachlenswerthe Momente übersehen, welche sich gleichfalls bereits in der ersten Depesche des Herrn Blaine finden. Das wichtigste derselben besteht in der Erklärung: daß die beanspruchte politische Oberaufsicht (control) über den projectirten Kanal für die Vereinigten Staaten in Kriegszeiten un­ entbehrlich sei, um auch die Möglichkeit zu verhüten, daß der Transitver­ kehr über den Isthmus jemals zu einem Angriff (offensively) auf ihre Interessen zu Laude oder zu Wasser benutzt werde. Dieselbe wird durch Hinweisung auf den seit langen Zeiten bestehenden Glaubenssatz (longsettled conviction) begründet: daß der Friede und die Wohlfahrt der Nation gefährdet werden würde, wenn die Großmächte das politische System, nach welchem sie die Ereignisse in Europa controlirt und ent­ schieden hätten, auf die Amerikanische Küste ausdehnen wollten. Von diesem Standpunkte auS hätten sich die Amerikanischen Staaten auch nie­ mals bei den Vereinbarungen betheiligt, durch welche die Großmächte die dieutralität von Luxemburg, Belgien, der Schweiz und einzelner Theile des Orients garantirt hätten. Dieser Amerikanische Gesichtspunkt wird in der zweiten Depesche des Herrn Blaine vom 19. November v. I. noch weit schärfer betont. ES heißt dort: „Die Amerikanische Regierung wird,

Die rechtliche und politische Seite der PaiiamL-Canal Frage.

641

was Europäische Staaten betrifft, nicht darin willigen, irgend einen Ver­

trag fortzusetzen, welcher unseren berechtigten und seit langer Zeit fest­ stehenden Anspruch auf ein Vorrecht auf dem Amerikanischen Continent anficht*).

halb

Und gegen den Schluß wird mit Bezug auf die Frage, weß­

die Amerikanische Regierung

Einwendung

dagegen

erhebe,

daß

Europäische Regierungen zu den Bedingungen der Neutralisirung des

Kanals ihre Zustimmung ertheilen, bemerkt:

„Es ist die bestimmte Ab­

sicht der Vereinigten Staaten, diese Frage strenge und lediglich als eine

Amerikanische Frage zu behandeln, über welche nur die Amerikanischen Re­ gierungen sich zu benehmen und zu entscheiden haben**)."

Im Uebrigen bildet diese zweite Depesche ein Seitenstück zu dem be­ rüchtigten Circularschreiben des Fürsten Gortschakow vom 31. October 1870,

durch welches sich Rußland unter frivolen Vorwänden von den Clauseln des Pariser Vertrages vom 30. März 1856 über die Neutralisirung des

Schwarzen Meeres und von der gleichzeitigen Convention mit der Pforte über die Beschränkung der Zahl ihrer Kriegsschiffe

lossagte***).

auf diesem Meere

Die Depesche vom 19. November v. I. verlangt nämlich in

peremtorischem Tone die nachfolgenden Veränderungen des Clahton-BulwcrVertrages, dessen Existenz Herr Blaine bis dahin ganz übersehen hatte:

1.

Alle Bestimmungen, welche den Vereinigten Staaten verbieten, den Kanal zu befestigen und denselben, in Verbindung mit dem Staate, durch dessen Gebiet er führt,

unter seiner politischen

Oberaufsicht (control) zu halten, werden aufgehoben.

2.

Alle Bestimmungen, durch welche England und die Vereinigten

Staaten sich verpflichten, keine Landerwerbungen in Centralamerika

zu machen, bleiben in voller Kraft.

Die Erwerbung von für den

Schutz des Kanals nöthigen Militär- und Flottenstationen Seitens

der Vereinigten Staaten, welche diesen von den Centralamerika­ nischen Staaten freiwillig abgetreten werden, gilt nicht für eine

Verletzung dieser Vereinbarung. 3.

Die Bestimmungen über die Anlage von Freihäfen an den End­

4.

Die Clausel des Artikels 8, durch welche beide Regierungen über-

punkten können, wenn England es wünscht, beibehalten werden. einkamcn, sich über ein gemeinsames Protectorat über alle Eisen-

*) Der Englische Text lautet: „This Government with respect to Europeau States will not consent to perpetuate any Treaty, that, impeaches onr rightful and long-established Claim to priority on the American continent.“ **) Der Englische Text lautet: „It is the flxed purpose of the United States to confine it strictly and solely as an American question, to be dealt with and decided by the American Governments.“ ***) Aegidi und Älauholdt: Staatsarchiv. XX. Nr. 4223.

Die rechtliche und politische Seite der Paliaiiiü-Cnual Frage.

642

bahn- und Kanal-Anlagen auf den Landengen von Panamä und

Tehuantepec vertragsmäßig zu verständigen, soll, weil sie bisher nicht auSgeführt ward, als mit beiderseitiger Zustimmung außer

Gebrauch gekommen (obsolete) angesehen werden.

5.

Da die Entfernung von beiden Endpunkten deS Kanals, wo nach

Artikel 2 deS Vertrages in Kriegszeiten von den Kriegführenden

auf offener See keine Prisen gemacht werden dürfen, niemals bestimmt ist, ist der Präsident im Interesse deS friedlichen Han­

dels der Ansicht, daß dieselbe so liberal wie möglich bemessen werden solle und, da sich diese Frage auf die hohe See beziehe und allen Nationen gemeinsam sei, zweckmäßiger Weise von den

Großmächten der Welt festzusetzen sein dürfte.

Daran schließt sich die Erklärung: daß die Bereinigten Staaten, indem sie die politische Oberaufsicht über alle Kanalanlagen auf dem Isthmus

als eine Nothwendigkeit für sich in Anspruch nehmen, dabei in Ueberein­ stimmung mit den Regierungen handeln werden, auf deren Gebiet die­

selben belegen

seien.

Zwischen ihnen und den anderen amerikanischen

Republiken könne keine Feindseligkeit, keine Eifersucht, keine Rivalität und kein Mißtrauen bestehen!

Die Vereinigten Staaten erstrebten keinen aus­

schließlichen oder engherzigen commerciellen Vortheil für sich selbst; sie

würden zur geeigneten Zeit, in Verbindung mit der betreffenden Local­ regierung, durch öffentliche Proklamation verkünden: daß dieselben Rechte und Privilegien, dieselben Abgaben und Verbindlichkeiten bei Benutzung

deS Kanals mit unbedingter Unparteilichkeit auf die Handelsmarine der ganzen Welt zur Anwendung gebracht werden sollten. in

Gleichfalls solle

Friedenszeiten die friedliche (harmless) Benutzung des Kanals den

Kriegsschiffen anderer Nationen in vollem Maße (freely) zugesichert sein.

In Kriegszeiten aber solle der Kanal, abgesehen von der Benutzung des­ selben zu VertheidigungSzwecken (defensive use) Seitens des Landes, in

welchem er belegen sei, und Seitens der Vereinigten Staaten, unparteiisch den Kriegsschiffen aller kriegführenden Mächte verschlossen bleiben. Die Regierung der Vereinigten Staaten nimmt also hiernach das Recht in Anspruch: die Frage der Neutralität des Panama-Kanals, unter

Ausschließung jeder Mitwirkung europäischer Mächte, als eine rein ameri­ kanische Angelegenheit zu behandeln; die Abänderung des ohne Zeitbeschrän­

kung und ohne Vorbehalt der Kündigung abgeschlossenen Clayton-Bulwer-

VertrageS zu verlangen; und den Kanal in Kriegszeiten für die Kriegs­ schiffe der kriegführenden Mächte zu verschließen.

Bei der Prüfung dieser drei Prätentionen kommt neben dem Völker-

recht, welches für Amerika und Europa ein und dasselbe ist*), nur noch

die sog. Monroe-Doctrin**) in Betracht.

Es darf als bekannt voraus­

gesetzt werden, daß der Name und die ursprüngliche Bedeutung dieser

Lehre von der Botschaft hcrrührt, mit welcher Präsident Monroe am 2. December 1823 den amerikanischen Congreß eröffnete. Die heilige Alliance stand damals im Begriff, Spanien bei Unterdrückling des Aufstandes sei­ ner von den Vereinigten Staaten bereits als unabhängig anerkannten Co­ lonien zu unterstützen.

Auf Anregung Englands erklärte Präsident Mon­

roe, um dies zu verhindern: daß die Vereinigten Staaten, einen Versuch der verbündeten Mächte (d. h. der heiligen Alliance), ihr System auf einen Theil der westlichen Hemisphäre auSzudehnen, als ihrem Frieden

und ihrer Freiheit gefährlich betrachten müßten.

In die bestehenden Co­

lonien oder Dependenzien einer europäischen Macht würden sie sich da­ gegen nicht einmischen; aber die Einmischung irgend einer europäischen Macht zum Zweck der Unterdrückung oder der Controlirung eines von den

Vereinigten Staaten als unabhängig anerkannten amerikanischen StaateS, müßten sie als ein Zeichen unfreundlicher Gesinnung ansehen. — Daran

knüpfte sich dann, veranlaßt durch die damals obwaltenden Differenzeu mit Rußland über die nordwestliche Grenze — sehr gegen den Wunsch Canning's — als dritter Satz die Erklärung: daß die Kontinente Amerikas nicht länger Gegenstände einer neuen europäischen Colonisation fein soll­

ten. — Wie dieser Satz inhaltslos geworden ist, seit es kein unoccupirteS Land mehr in Amerika gibt, so haben auch die beiden ersten Erklärungen mit der Krisis, welche sie veranlaßt hatte, längst ihre ursprüngliche Be­

deutung verloren.

schützern

Der Gedanke, die Vereinigten Staaten selbst zu Be­

oder gar zu Herren von ganz Amerika zu machen, hatte der

Botschaft fern gelegen.

Vielmehr sollte, wie Adams später erklärte, jeder

amerikanische Staat sich selbst gegen neue Colonisationen schützen, und

Europa nur erfahren, daß die Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit

ihrer Schwesterstaaten unterstützen würden. Marcy auch

Es hat zwar der Staatssekretär

bei den Verhandlungen über die Auslegung des Clayton-

Bulwer-VertrageS in einer Depesche an H. Buchanan vom 12. Septem­

ber 1853***) ausgesprochen, daß die amerikanische Regierung eS als eine Verletzung der Monroe-Doctrin ansehen werde, wenn England Anspruch

*) Dgl. u. a. Lawrence, Commentaire. II. S. 312. **) Vgl. darüber u. a. Lawrence 1 1. S. 210. Calvo (2. ed.) I. S- 203. Friedrich Kapp „Auö und über Amerika", I. S. 131, und meine Kritik seines Aufsatzes in der „Allgemeinen Zeitung" 1876 Nr. 125, sowie einen vortrefflichen Aufsatz des früheren Amerikanischen Gesandten Körner in „The Nation“ Nr. 862 vom 5. Januar 1882.

***) 34. Congr. 1 Sees. Ho. of Repr. Ex. Doc. No. 1. vol. I. S. 49.

Die rechtliche und politische Seite der Panamrl-Canal-Frage.

644

auf volle Souveränetät über Belize erhebe.

Aber er hat sich dabei be­

ruhigt, als Lord Clarendon dem Gesandten am 2. Mai 1854*) erwie­ derte, daß die Monroe-Doctrin zwar der Ausspruch eines ausgezeichneten Mannes, aber kein völkerrechtliches Axiom sei, wonach die europäischen

Staaten ihr Verhalten zu richten hätten.

Die sog. Monroe-Doctrin ist

denn auch nicht einmal durch einen Beschluß des amerikanischen Congresses

ausdrücklich anerkannt oder zum Gegenstand vertragsmäßiger Vereinbarun­ gen

zwischen den Vereinigten Staaten und den spanisch-amerikanischen

Staaten gemacht, geschweige denn von den europäischen Mächten gutgehei­ ßen.

Aber der dieser Doctrin zu Grunde liegende staatsmännische Ge­

danke, daß das eigene Interesse der amerikanischen Großmacht enge mit der politischen Wohlfahrt des ganzen Continents verknüpft sei, und daß es diesem Interesse entspreche, sich möglichst von allen Verbindungen mit

europäischen Mächten fern zu halten, die zu ernsten Verwicklungen Anlaß

geben könnten, lebt noch heute im ganzen amerikanischen Volke fort.

Daß

die sog. Monroe-Doctrin von Politikern, Volksrednern und der Presse viel­ fach mißdeutet, sogar zur Rechtfertigung von Freibeuterzügen gegen Cen­

tralamerika und Cuba angerufen ist und jetzt auch gegen das Lesseps'sche

Canalprojekt angerufen wird, kann nicht Wunder nehmen.

Männer

Ernsthafte

in den Vereinigten Staaten werden aber kaum glauben, daß

nach den Erfahrungen Spaniens in San Domingo und Frankreichs in Mexiko irgend eine europäische Macht wieder den Versuch machen werde,

auf amerikanischem Boden eine Art Herrschaft zu begründen.

Damit ver­

trägt sich jedoch sehr wohl der Wunsch, die Verhältnisse des projectirten PanamL-Kanals in einer Weise geordnet zu sehen, welche die europäi­

schen Mächte von jeder Mitwirkung ausschließt und den Vereinigten Staa­ ten einen maßgebenden Einfluß auf dieselben gestattet.

Hat doch sogar

der Congreß, aus Furcht vor Verwicklungen mit europäischen Mächten,

1867 das Geld zum Ankauf von St. Thomas verweigert, nachdem ein

Cessionsvertrag

mit Dänemark bereits verhandelt war, und

1870 die

Annexion von San Domingo abgelehnt, als General Grant dieselbe zur

Zeit seiner höchsten Popularität dringend empfahl. Um den Vereinigten Staaten den entscheidenden Einfluß über den Panamü-Canal zu sichern, ist die völlige Beseitigung oder eine wesent­

liche Modification des Clahton-Bulwer-Vertrages die erste Voraussetzung. Einstweilen ist die Amerikanische Regierung

auch

nach

Amerikanischem

Recht noch an diesen Vertrag gebunden, da Verträge zum „supreme law

of the land“ gehören.

*) Ibid. S. 83.

Nun ist jeder Staatsvertrag ein bonae fidei con-

tractus, und die unbeschränkt übernommene Verbindlichkeit eiiteS Staates aus einem solchen Vertrage hört, wie lästig dieselbe auch sein mag, strenge genommen erst mit dem Staate selbst auf. Um die Aufhebung oder Abänderung eines ohne Zeitbeschränkung abgeschlossenen Vertrages verlangen und den Versuch machen zu können, den Mitcontrahenten zu überzeugen, daß das auch seinem Interesse entsprechen würde, muß der Verpflichtete klar nachzuweisen im Stande sein, daß die thatsächlichen Zu­ stände, welche nach dem Willen beider Theile die ausdrückliche oder still­ schweigende Voraussetzung und Grundlage der übernommenen VertragsPflicht gewesen sind, sich im Laufe der Zeit in dem Maße geändert haben, daß die Erfüllung des Vertrages zur Unmöglichkeit geworden ist, wenn er (der Verpflichtete) nicht Gefahr laufen will, seine bisherige politische Stellung nicht behaupten zu können oder die Wohlfahrt des Volkes dauernd zu beeinträchtigen. Dies ist — wenigstens meines Erachtens — die allein zulässige Auslegung der fast von allen Völkerrechtslehrern als eine stillschweigende Bedingung solcher Verträge angenommenen Clauscl „rebus sic stantibus“. Die zur Regelung der Pontus-Frage vom 17. Januar bis 14. März 1871 in London abgchaltene Europäische Conferenz hat zwar kein Princip über die beschränkte Wirksamkeit per Ver­ träge aufgestellt, aber eS doch in dem Anhang (annexe) des Protokolls vom 17. Januar*) für einen wesentlichen Grundsatz des Völkerrechts er­ klärt: „qu’aucune Puissance ne peut se delier des engagemonts d’un Traite, ni en meditier les stipulations, qu’ä la suite de Fassentimeut des Parties Contractantes, au moyen d’une entente amicale.“ Diesem Grundsatz werden auch die Vereinigten Staaten die Anerkennung nicht versagen können, obgleich sie nicht an der Londoner Conferenz betheiligt waren. — Fragt man nun, in welcher Weise Herr Blaine den Nachweis ge­ führt habe, daß sich die Verhältnisse, unter welchen 1850 der ClaytonBulwer-Vertrag abgeschlossen ward, so wesentlich verändert haben, daß derselbe nicht ohne Gefährdung der wichtigsten Amerikanischen Interessen unverändert fortbestehen könne, so sucht man in seinen drei Depeschen ver­ gebens darnach. Denn in der durch Nichts begründeten Behauptung, daß der Vertrag unter ausnahmsweisen und außerordentlichen Verhält­ nissen (exceptional and extraordinary conditions) abgeschlossen sei, die längst aufgehört hätten zu bestehen, und die ihrer Natur nach höchstens temporär (at best temporary) gewesen seien und niemals wiederkehren könnten, liegt ein solcher Beweis nicht. Herr Blaine beruft sich weder *) Staatsarchiv XX. Nr. 4286 S. 190.

Die rechtliche und Politische Seite der Panainä-Canal-Frage.

646

auf die in den letzten Decennien eingetretenen Verschiebungen der Macht­

verhältnisse unter den Europäischen Staaten, noch

auf die leider auf

unserem Kontinente vorgekommenen Vertragsverletzungen, noch auf irgend einen sonstigen Umstand, der eine gemeinschaftliche Garantie der Neutra­ lität des Canals den Vereinigten Staaten jetzt bedenklicher

lassen könnte als im Jahr 1850.

erscheinen

Alle feine Einwendungen gegen den

Vertrag, bis auf eine einzige, hätten sich zur Zeit des Abschlusses mit

ganz demselben Rechte geltend machen lassen wie heute.

Eine Ausnahme

davon macht nämlich nur die Behauptung, daß eines der Motive, welche die Amerikanische Regierung ursprünglich zum Abschluß des Vertrags ver­ anlaßt hätten, in der nicht in Erfüllung gegangenen und unter den seit­

dem eingetretenen Verhältnissen ziemlich werthlos gewordenen Erwartung

bestanden habe, den Nicaragua-Canal mit Hülfe Britischen Capitals bauen

zu können.

Herr Blaine ist übrigens ehrlich genug selbst einzugestehen,

daß dies in dem Vertrage nicht bestimmt ausgedrückt sei, meint jedoch zu­

gleich, daß es aus jeder Zeile desselben gefolgert werden müsse.

Ob eilt

unbefangener Leser aus der Fassung der Artikel 3, 5 und 7 denselben Schluß ziehen wird, dürfte mindestens zweifelhaft sein; gewiß ist, daß ein

solches unausgesprochenes Motiv, wenn es vorhanden gewesen,

für die

Rechtsbeständigkeit des Vertrags ein völlig gleichgültiger Umstand ist. Als eine der hervorragendsten und handgreiflichsten (most salient

and palpable) Einwendungen gegen den Vertrag hebt Herr Blaine her­

vor, daß derselbe praktisch die Coutrole jedes zu erbauenden Canals Eng­

land übertrage, weil dieses in Folge seiner insularen Lage eine große Flotte halte, während die Vereinigten Staaten, welche deren nicht be­ dürften,

verhindert seien,

Landbefestigungen am Canal anzulegen oder

auch nur ein einziges Regiment zum Schutze ihrer Interessen dorthin zu

schicken.

Er behauptet, daß dies dem Zweck deö Vertrages widerspreche,

wonach beide Mächte in Betreff des Canals auf gleichen Fuß gestellt werden sollten, vergißt aber, daß ganz dasselbe Mißverhältniß zwischen

den beiderseitigen Flotten schon 1850 bestand, die Amerikanische Regierung aber darin keinen Grund fand, sich weitergehende Rechte auszubedingen. —

Er legt ferner großes Gewicht auf die gewaltige und noch immer zuneh­

mende Entwickelung

der

Amerikanischen Staaten und Territorien am

Stillen Ocean, läßt aber — worauf Lord Granville in seiner Depesche

vom 7. Januar d. I. aufmerksam macht — unerwähnt, daß diese bereits von den Unterhändlern des Vertrags von 1850, ja sogar schon vom Prä­

sidenten Monroe und dessen Cabinet in den Jahren 1823 und 1824 Bor«

auSgesehen war, und daß auch England ausgedehnte Colonialbesitzungen am Stillen Meere hat, deren Bevölkerung größer ist, als diejenige aller

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Frage.

647

anderen Amerikanischen Staaten, mit alleiniger Ausnahme der Vereinigten

Staaten selbst, Mexico'S und Brasiliens. — Eine weitere Einwendung gegen den Clahton-Bulwer-Vertrag, welche Herr Blaine stark betont, be­ steht darin, daß zur Zeit des Abschlusses desselben die Vereinigten Staaten und England die einzigen Staaten gewesen seien, welche an dem Handel

mit Central- und Südamerika vorzugsweise betheiligt waren, während seitdem auch andere Staaten ihren Handel dorthin sehr erweitert hätten,

und in den letzten 4 Jahren mehr Französische und Deutsche Schiffe an den Küsten von Centralamerika gelandet seien als Britische.

Er über­

sieht dabei völlig, daß dies eine natürliche Folge des Vertrages selbst ist,

durch dessen spätere Auslegung England sich um des Friedens Willen ge­ nöthigt sah, alle seine Besitzungen in Centralamerika und sein Protcctorat über die Mosquitoküste aufzugeben.

Er vergißt ferner, daß der Canal

gerade dazu bestimmt ist, einen Seeweg durch die Landenge von Mittel­

amerika hindurch nach China, Japan, Indien und Australien zu eröffnen, bei welchem der Handel der ganzen Welt, und insbesondere auch Eng­

lands, mindestens in gleichem, wenn nicht höherem Maße betheiligt ist, als derjenige der Vereinigten Staaten.

macht es,

wenn Herr Blaine an die

Einen nahezu komischen Eindruck

erwähnte Einwendung

noch die

weitere knüpft, daß, während nach dem Clahton-Bulwer-Vertrag der Canal

unter der ausschließlichen Eontrole der beiden englisch sprechenden Na­

tionen habe stehen sollen, jetzt irgend eine dritte oder vierte Macht oder mehrere vereint einschreiten und die Vereinigten Staaten um die klaren

Rechte und Privilegien bringen könnten, welche sie schon vorher durch den feierlichen Vertrag mit Columbien (Neu Granada) von 1846 erworben hätten.

Herr Blaine hat offenbar versäumt, den Artikel 6*) des Clahton-

Butwer-Vertrages wieder nachzulesen, durch welchen sich die beiden contrahirenden Mächte verpflichteten, jeden Staat, mit welchem beide oder eine von ihnen freundlichen Verkehr unterhielten, aufzufordern, mit ihnen

einen ähnlichen Vertrag zu schließen,

damit solchergestalt alle anderen

Staaten an der Ehre und dem Vortheil Theil nehmen könnten, zu einem

Werke von so großem und allgemeinem Interesse, wie der in's Auge ge­

faßte Canal es sei, beigetragen zu haben. — Das Hauptgewicht scheint der vormalige Amerikanische Staatssecretär

*) Die betreffenden Worte des Artikels 6 lauten im Original: „The Contracting Parties in this Cvonvention engage to invite every State with which both or either have friendly intercourse, to enter into stipulations with them similar to those which they have entered into with each other, to the end that all other States may share in the honour and advantage of having contributed to a work of such general interest and importance as the canal herein contemplated.“ Preußisch« Jahrbücher. Bd. XL1X. Heft 6.

44

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

648

darauf zu lege», daß nach der Ueberzeugung seiner Regierung Canäle

über den Isthmus nur dadurch entschieden und

für alle Zeiten gegen

Einmischung und Störung in Kriegszeiten sicher gestellt werden könnten,

wenn die Vereinigten Staaten die Oberaufsicht darüber ausübten.

Ein

papierner Neutralitätsvertrag der Europäischen Großmächte, sagt er, würde beim

voraussichtlich

ersten Kanonenschuß in einem Europäischen Kriege

annullirt werden, und die erste Seemacht, welche dazu im Stande sei,

würde die beide Meere beherrschende strategische Position dadurch

die

Vereinigten Staaten

(domestic) Handels zu nöthigen können,

einem

im

Interesse

besetzen und

ihres binnenländischen

defensiven Kriege zum eigenen

Schutze

um diejenige Controle über den Canal zu erlangen,

welche sie von vornherein

als ihrer Stellung gebührend und als eine

Nothwendigkeit in Anspruch nähme».

Sie behaupteten ihr Recht auf eine

solche Controle des Transitverkehrs zum Schutze ihrer eigenen Interessen

und sie böten durch solche Controle zugleich den Europäischen Mächten

diejenige absolute Neutralisirung des Canals, die auf keine andere Weise völlig erreicht und dauernd sicher gestellt werden könne. —

Es ist in der That eine starke Zumuthung, wenn die Amerikanische

Regierung, unmittelbar nachdem sie die chnische Annahme ausgesprochen hat, daß eine Europäische Macht sich, trotz der Neutralisirung des Canals, eigenmächtig in dessen Besitz setzen könne, für sich selbst ein Vertrauen

in Anspruch nimmt, das sie allen anderen Mächten versagt.

Nicht minder

auffallend ist es, daß sie die Zustimmung der Localregierungen auf dem

Isthmus zu der von ihr beanspruchten maßgebenden Controle über den Canal stillschweigend voraussetzt und jeden Zweifel daran durch die Be­

merkung beseitigen zu können glaubt, daß zwischen den Vereinigten Staaten und den anderen Amerikanischen Republiken keine Feindseligkeit, keine Eifersucht, keine Rivalität und kein Mißtrauen bestehen könne.

Ich habe bereits in der obigen geschichtlichen Uebersicht der früheren Verhandlungen mit den central-amerikanischen Staaten und Mexiko über die Transitrouten mehr als einen Vorgang angeführt, der diese Bemer­

kung sehr gewagt erscheinen läßt.

Die neuesten Nachrichten aus Colum­

bien,

das

dies.

Präsident Nunez soll darnach in seiner Botschaft bei Eröffnung

bei

dem

Panama-Canal zunächst betheiligt

ist, bestätigen

des Columbischen Congresses die Idee cines alleinigen ProtectoratS der Vereinigten Staaten über den Canal für unannehmbar erklärt und die Hoffnung ausgesprochen haben, daß die Amerikanische Regierung

nicht

darauf bestehen werde, und diese Botschaft hat in dem Anträge ein Echo

gefunden, den Vertrag vom 12. December 1846, welchen die Vereinigten Staaten zur Begründung des erhobenen Anspruchs anrufen, zu kündigen.

In hohem Grade auffallend ist eS endlich auch, daß die Frage einer

gemeinschaftlichen Neutralitätsgarantie Seitens der Vereinigten Staaten

und der Europäischen Seemächte einer Erörterung überall nicht unter­ zogen, vielmehr nur eine ausschließlich Amerikanische Garantie einer aus­ Einen scheinbaren Anhalt

schließlich Europäischen gegenüber gestellt wird.

für dieses Verfahren bot Herrn Blaine eine Vergleichung der Mittel,

durch welche sich England die Verbindung mit seinen ostindischen Be­

sitzungen gesichert hat, mit denjenigen, welche der Amerikanischen Regierung zum Schutze der Verbindung zwischen ihren am Atlantischen und am Stillen Meere belegenen Staaten und Territorien zu Gebote stehen, sowie der

Verhältnisse des Suez-Canals mit denjenigen des projectirten PanamLCanals.

In dieser Beziehung wird auf Gibraltar, Malta und Chpern,

welche England die Herrschaft auf dem Mittelmeer sicherten, sowie auf Aden und die Insel Perim hingewiesen, wodurch das Rothe Meer zu einem

mare clausum werde, und betont, daß Indien doch nur eine entlegene britische Colonie mit verschiedener Race, Sprache und Religion sei, wäh­ rend die Bewohner der einen integrirenden Theil der Union bildenden

Staaten Californien, Oregon und Nevada, sowie der angrenzenden Terri­ torien, Amerikanische Stammesgenossen seien.

Die Vereinigten Staaten,

heißt es weiter, würden nach der Ansicht des Präsidenten mit größerem

Recht einen Antheil an den englischen Befestigungen jener Punkte oder

deren vollständige Neutralisirung, als England die fortdauernde Neutralisirung des Transitverkehrs über den Amerikanischen Continent verlangen

können. — Allerdings konnte es Lord Granville nicht schwer werden, in seiner

Erwiderung vom 7. Januar d. I. nachzuweisen, daß die aufgestellte Ana­

logie zwischen dem Suez- und dem Panamä-Canal nicht ganz zutreffend sei.

England hat Chpern noch nicht befestigt,

Gibraltar, Malta und

Aden erworben, ehe an eine Militärstraße zwischen dem mittelländischen

und dem rothen Meere gedacht ward, die die Meerenge von Bab-el-Mandeb beherrschende Insel Perim bis jetzt nicht zu einem zweiten Gibraltar ge­

macht, und sich im letzten Türkisch-russischen Kriege mit der Versicherung zufrieden gegeben, daß die Kriegsoperationen nicht auf den Canal aus­ gedehnt werden sollten.

Andererseits läßt sich aber nicht leugnen, daß

die Amerikanische Regierung hier eine Saite angeschlagen hat, die auch

Denn der Welt­

in Europa vielfach Anklang finden wird und muß.

handel ist an der Freiheit

des Verkehrs durch den

Suezcanal nicht

weniger interessirt, als an derjenigen des Verkehrs durch den projectirten Panama-Canal, England aber hat

verhindern

gewußt,

daß

jener

es bisher in seinem Interesse zu

Canal

in

gleicher

Weise

44*

neutralisirt

650

Die rechtliche und Politische Seite der Panamä-Canal-Frage-

werde, wie eö nach dem Clahton-Bulwcr-Vertrage für diesen beabsichtigt ward. — Schon zur Zeit eines der ersten Projecte zur Durchstechung der ägyptischen Landenge hat Fürst Metternich 1838 die Neutralisirung des geplanten Canals durch einen europäischen Vertrag vergeblich empfohlen. Als später Herr von Lesseps, aller Gegenbemühungen der englischen Re­ gierung ungeachtet, auf Grund des ihm von Said-Pascha ertheilten Fer­ mans das großartige Werk in Angriff nahm, besetzte England am 1. Fe­ bruar 1857 die Insel Perim und wurde nur durch den Widerspruch der anderen Seemächte verhindert, dort sofort Befestigungswerke zu errichten, welche es in den Stand setzen würden, jedem Kriegsschiffe die Durchfahrt durch die Straße von Bab-el-Mandeb unmöglich zu machen. 1869 wurde der Suez-Canal eröffnet, und er hat seitdem in Kriegs- wie in Friedens­ zeiten den Kriegs- und den Handelsschiffen der ganzen Well zur freien Benutzung offen gestanden, obgleich seine vollständige Neutralität bisher nicht vertragsmäßig garantirt ist. — Die 1873 auf Einladung der Pforte in Konstantinopel abgehaltene internationale Commission, in welcher, mit Ausnahme von Portugal, alle europäischen Seestaaten vertreten waren, beschränkte sich darauf, in der Acte vom 6./18. December anzuerkenucu, daß der Canal auch von Kriegsschiffen und zum Transport von Truppen allgemein benutzt werden könne. Beim drohenden Ausbruch des russichtürkischen Krieges ließ die britische Regierung der Gencralversarnmluug der Actionäre der Canalgesellschaft erklären, daß sie jeden Versuch, den Canal oder dessen Einläufe zu blockiren oder in irgend einer Weise zu behin­ dern, als eine Bedrohung Indiens und als eine ernste Schädigung deS Welthandels ansehen würde und nicht in ihrer passiven Neutralität be­ harren könnte, falls die beiden kriegführenden Mächte dies nicht beachten sollten. Als sie eine ähnliche Erklärung in St. Petersburg abgeben ließ, erwiderte Fürst Gortschakow am 30. Mai 1877: „Le cabinet imperial ne veut ni bioquer, ni interrompre, ni menacer en rien la navigation du canal de Suez. Je le considere comme une oeuvre inter­ nationale, interessant le commerce du monde, et qui doit rester hors de tonte atteinte.“ Eine die freie Schifffahrt auf dem Canal für alle Zukunft gegen feindliche Eingriffe sicherstellende internationale Ver­ einbarung hatte England selbst nicht gewünscht, vielmehr die darauf ge­ richteten Anträge des Herrn v. Leffeps am 16. Mai abgelehnt. Auch seitdem ist, soweit mir bekannt, die Frage der Neutralisirung des SuezCanalS niemals Gegenstand von Verhandlungen der Europäischen Cabinete gewesen. Dagegen hat das „Institut de droit international“ in seinen Sitzungen zu Paris 1878 und in Brüssel 1879 sich eingehend mit

dieser Frage beschäftigt*), und der bekannte englische Völkerrechtslehrer Sir Travers Twiß hat in zwei interessanten Referaten die Analogie

zwischen dem Suez- und dem Panamä-Canal stark betont.

Die Verhand­

lungen dieser Versammlung — welche ohnehin zur vollständigen Würdigung der neben den völkerrechtlichen Gesichtspunkten

in Betracht

kommenden

politischen Rücksichten und Schwierigkeiten kaum für kompetent zu erachten

sein dürfte, — endeten mit einigen, wesentlich auf den Schutz der Canal­ anlagen berechneten Resolutionen und Zurückweisung des Gegenstandes

an eine Commission.

Die neuesten Vorgänge in Aegypten drängen auch

die Suez-Frage wieder in den Vordergrund und legen den am Welt­ handel betheiligten Mächten die Erwägung nahe, ob nicht die Verein­

barung vom December 1873 durch eine den Suez-Canal und den freien Verkehr durch denselben unter allen Umständen sicherstellen neu zu ersetzen

sein dürfte. Ich habe dieser Verhältnisse hier deßhalb weitläufiger Erwähnung

thun zu müssen geglaubt, weil, meines Erachtens, eine befriedigende Er­ ledigung der PanamL-Frage wesentlich dadurch erleichtert werden könnte,

wenn dieselbe mit der Suez-Canal-Frage in Verbindung gebracht würde. Für die Möglichkeit, daß die amerikanische Regierung bereit sein würde

auf eine Verhandlung einzugehen, hat Sir Travers Twiß in dem zweiten seiner oben erwähnten Referate**)

einen Präcedenzfall angeführt.

Er

citirt den Artikel 3 eines 1865 von den europäischen Seestaaten und dem Präsidenten der Vereininigten Staaten mit dem Sultan von Marocco

abgeschlossenen Vertrages, wodurch die contrahirenden Theile sich, jeder, soweit es ihn angeht, verpflichten, die Neutralität eines von der Maroccanischen Regierung auf Cap Sparte! zu errichtenden Leuchtthurms selbst in dem Falle zu respectiren, wenn es zwischen ihnen oder zwischen ihnen und Marocco jemals zum Kriege kommen sollte.

Einer Besprechung

Staaten in Anspruch

des

von

Herrn Blaine

genommenen Rechts,

für die

Vereinigten

den projectirten Panamü-

Canal in Kriegszeiten für die Kriegsschiffe der kriegführenden Mächte zu schließen, glaube ich mich enthalten zu dürfen.

Die Frage, ob und welche

Modificationen der im Artikel 2 des Clayton - Bulwer- Vertrags für den

Kriegsfall verabredeten Bestimmungen***) sich nach den sonst geltenden

*) Vgl. Annuaire de l’inatitut de droit international. 1879 et 1880. Bruxelles 1880. I. S. 111 und 329. **) Vgl. Annaire 1.1. I. S. 340. ***) Der Artikel 2 de» Clayton-Bulwer-BertrageS lautet: »Vessels of Great Britain or the United States traversing the said canal ehall, in case of war between the Contracting Parties, be exempted from blockade, detention, or capture by either of the belligerents; and this Provision shall extend

652

Die rechtliche und politische Seite der Panamä-Canal-Froge.

Grundsätzen des

Bölkerrechts und

auö politischen Gründen

empfehlen

möchten, ist eine so weitschichtige, daß ihre gründliche Erörterung seine eigene Abhandlung erfordern würde.

Eine Berständigung darüber wird

jedenfalls die größten Schwierigkeiten bieten.

Denn nicht verkennen läßt

sich, daß das mit England vertragsmäßig vereinbarte Recht das Inter­

esse der Vereinigten Staaten, den Canal unter allen Umständen, nament­ lich auch während der Kriege anderer Staaten, offen zu halten, keines­

wegs sicher stellt.

So lange diese Wasserverbindung

von irgend einer

Seite der Unterbrechung ausgesetzt ist, liegt nämlich der Verlust ihrer Besitzungen am Stillen Meere immerhin im Bereiche der Möglichkeit. Das Gewicht dieser Erwägung wird auch in England nicht lmterschätzt

militärische Bedenken zur vorläufigen Suspendirung des

werden, wo

Tunnelbaus unter dem Britischen Canal geführt haben. Der besonnene Geist, in welchem der jetzige amerikanische Staats­

sekretär, Herr Frelinghuisen, bisher die auswärtigen Angelegenheiten der

Union geleitet hat, läßt übrigens auch die angedeuteten Schwierigkeiten nicht unüberwindlich erscheinen.

Jedenfalls kann man sicher sein, daß er

in der Behandlung der Panama-Frage einen anderen Ton anschlagen

wird als sein Vorgänger Herr Blaine.

gegen Chile

und

Er hat bereits die von diesem

Peru befolgte, ziemlich skandalöse Politik desavouirt

und die im dtovember v. I. an Mexiko und die Republiken von BUttel-

nnd Südamerika erlassene Aufforderung zur Beschickung einer ans Kosten der Bereinigten Staaten in Washington abznhaltenden Conferenz, welche über gemeinschaftliche Schritte zur Sicherung beider amerikanischen Con-

tinente gegen jede europäische Einmischung

und Beeinflussung Beschluß

fassen sollte, wird nicht zur Folge gezogen werden, bis der Amerikanische

Congreß

sich damit

hältnisse richtig

einverstanden erklärt

beurtheile,

fürchten, bei Verfolgung

hat.

Wenn

ich

die

einer England und

liche Meinung in den Vereinigten Staaten behindert zu werden. 13. December vorigen Jahres

von dem

zu

den übrigen Mächten in

der PanamL-Canal-Frage entgegenkommenden Politik durch die

am

Ver­

so hat Herr Frelinghuisen auch nicht

öffent­

Ein

Abgeordneten Ellis von

Louisiana im Repräsentantenhause gestellter Antrag: den Clayton-BulwerVertrag

zu kündigen,

nicht erhalten.

wird die Zustimmung des

CougresseS sicherlich

Es hat dort zu keiner Zeit an Anträgen und Reden ehr­

geiziger Politiker gefehlt, welche

mehr

auf die Wähler

im HeimathS-

distrikt, als darauf berechnet waren, ihre parlamentarischen College» zu gewinnen.

In diese Classe gehört jener Antrag,

und gehört auch die

to such a distance from the two ende of the said canal as tnay hereafter be found expedient to establish.*

Rede, in welcher der Abgeordnete Whitthorne

von Tennessee bei Be­

rathung des Etats für das Consulatwesen und die Dipiomatie (Consu ar

and Diplomatie Appropriation Bill) Anfang März dieses Jahres im Repräsentantenhause Namens der

(spirited)

demokratischen Partei

auswärtige Politik empfohlrn und

eine

„kühne"

„die von Herrn Blaine

zur Herbeiführung einer Modification des Clayton-Bulwer-VertrageS ge-

thanen Schritte" als solche gepriesen hat.

Ist doch Herr Blaine selbst

in der amerikanischen Presse nicht dem Vorwurf entgangen, daß es ihm bei seinen hochtönenden Depeschen nicht sowohi darauf angekommen sei, die englische Regierung

von der Berechtigung der

überzeugen und zum Entgegenkommen geneigt

gestellten Forderung zu zu machen',

sich selbst dadurch den Weg zum Weißen Hause zu bahnen.

als darauf,

Der ameri­

kanische Admiral Ammen, einer der besten Kenner Mittelamerikas, guter

Patriot und eifriger Befürworter des itticaragua-Canals, ist sogar soweit

gegangen, eö für Piratenhaft (piratical) zu erklären, wenn man die Controle über einen mit fremdem Geld auf fremdem Gebiete erbauten Canal

in Anspruch nehme*). Die Vereinigten Staaten sind in ihrer Entwicklung längst dem Sta­ dium entwachsen, wo es für sie solcher Anträge, Reden und Depeschen,

wie der erwähnten, bedürfen konnte, um ihrer Stimme Geltung zu ver­

schaffen.

Sie wissen, daß Europa ihnen nie Gehör versagen wird, wenn

sie begründete Rechte und Interessen geltend zu machen haben.

Das ge­

sprochene und geschriebene Wort bilden das Sicherheitsventil der amerika­

nischen Staatsmaschine, und ich habe während meines 11jährigen Auf­ enthalts in den Vereinigten Staaten die Erfahrlmg gemacht, daß alle Fragen der auswärtigen Politik, welche die Gemüther in Bewegung setz­

ten, tone drohend auch manchmal die Anzeichen sein mochten, schließlich nach solchen Wortergüssen immer einen friedlichen Abschluß fanden.

Ich mag

umsotoeniger bezweifeln, daß das auch diesmal der Fall sein wird, weil

sich auch Lord Granville schon zu einer Diskussion darüber bereit erklärt

hat, wie die allgemeine und umfassende Benutzung des Panama-Canals sich auf einer gemeinsamen internationalen Basis sichern lasse.

Gewiß wäre es im Interesse des großartigen Unternehmens erwünscht

gewesen, wenn die Frage, wie die Neutralität des Panama-Canals nach seiner Vollendung am besten sicher zu stellen sei, nicht schon beim ersten

Beginn der Arbeiten angeregt wäre.

Denn eö liegt in der Natur der

Sache, daß es schwer halten wird, die noch fehlenden großen Kapitalien für ein Projekt zusammen zu bringen,

über das sich zwei Großmächte

*) „The Nation“ Nr. 864 vom 10. Januar 1882.

654

Die rechtliche und politische Seite der PanamL-Canal-Frage.

streiten.

Dennoch scheint der Zeitpunkt für eine solche Diskussion insofern

glücklich

gewählt zu sein, als — wie sowohl Herr Blaine

als Lord

Granville in den bis jetzt gewechselten Schriftstücken ausdrücklich anerken­ nen, — die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und England augenblicklich besonders

herzlich, und Mißdeutungen bei einem offenen

Dieinungsaustansch daher weniger zu besorgen sind. welchem man in weiten Kreisen

Das Interesse, mit

einem allseitig befriedigenden AuSgange

der Verhandlungen zwischen den Mächten entgegensieht, wird es rechtfer­ tigen, daß ich den Versuch gemacht habe, die dabei in Betracht kommen­

den rechtlichen und politischen Gesichtspunkte allgemein verständlich zu machen.

R. Schleiden.

Zum Andenken Lotze's. Lotze's

Zur

philosophische Erinnerung

an

Weltanschauung den Verstorbenen

nach

ihren

Grundzügen.

von Prof. Dr. Edmund

Berlin G. Reimer 1882.

Pfleiderer in Tübingen.

Seil Lotze todt ist, erheben sich alle Stimmen zu seinem Lobe.

Selbst

die im Leben seine Gegner waren, weil die Eigenthümlichkeit ihres Bil­

dungsganges sie die Wahrheit auf anderen Wegen und in anderen Rich­

tungen suchen ließ als der Verstorbene, stimmen doch nun, da er uns durch herbes Geschick entrissen ist,

ausnahmslos mit uns ein in die Trauer

um den Dahingegangenen und in die Anerkennung seiner Verdienste.

Dies kann uns nicht wundern.

ES ging ein großartiger Zug durch

die Geistesarbeit deS Mannes, welcher sie über das Parteigetriebe der

widerstreitenden Ansichten erhob.

Der Schwerpunkt seines Nachdenkens

lag auf einem Gebiete in dem alle widerstreitenden Ansichten wurzeln, durch dessen Aufklärung daher alle gefördert wurden.

Sein Standpunkt

war so hoch gelegen, sein Geist arbeitete in so großem universalistischen Sthle, daß er stets auch den Gegnern Achtung einflößte, daß alle sich gern auf ihn beriefen und eigentlich Niemand ihm in directer Polemik

entgegenzutreten wagte.

Wie uns oft erst das Dahinscheiden einer geliebten Person mit dem vollen Bewußtsein dessen erfüllt, was sie uns im Leben werth war, so

scheint auch das Gefühl der hohen Bedeutung Lotze's erst jetzt durch dessen unerwarteten Tod überall tiefer und lebendiger zum Bewußtsein gebracht zu sein.

In zahlreichen Nekrologen ist das Andenken des Verstorbenen

gefeiert, und alle durchzieht das mehr oder weniger deutliche Bewußtsein,

daß der Geist der Lotze'schen Forschung sich wie die Morgenröthe einer neuen Zeit über die trübe Atmosphäre der materialistischen und pessimisti­ schen Theorien erhebt, deren Verirrungen jetzt immer noch wie ein brei­

ter schwerer

Schatten

über den

Gemüthern lasten, die freie Umschau

hemmend und die wahren Werthe und Ziele des Lebens und der For­ schung verhüllend.

In der vorliegenden kleinen Schrift deS rühmlichst bekannten Tübin­ ger Professors

steigert sich dieses Bewußtsein zu sonnenheller Klarheit.

Die Grundzüge der Lotze'schen Weltanschauung sind hier in prägnanter Kürze mit wenigen deutlichen Strichen ebenso schlicht und einfach als klar

und ansprechend in übersichtlichem Zusammenhänge und zugleich in einem

daö Verständniß wesentlich erleichternden Anschlusse an die herrschenden landläufigen Auffassungsweisen entwickelt.

Es sind, wie der Verfasser treffend hervorhebt, zwei Hauptgebiete

der Untersuchung, deren rastlose Fortschritte die moderne Weltanschauuug weit über die bisherigen Grenzen hinausgeführt und deren eigenthüm­

liches Gepräge bestimmt hat.

Auf der einen Seite steht Naturwissen­

schaft und Medicin, welche die Einzelheiten der Erscheinungen und deren

Zusammenhänge zum gesonderten Gegenstände der Forschung machen, auf der anderen die Philosophie, welche ihren Blick auf das Ganze der sinnlichen und geistigen Welt richtet.

In der Beschaffenheit der Probleme,

deren Lösung auf beiden Hauptgebieten erstrebt wird, liegt an sich kein innerer Widerstreit, aber die Einseitigkeiten der Gesichtspunkte und der

Behandlungsart erzeugten auf beiden widerstreitende Ansichten, welche sich allmählich

zu typischen Gegensätzen verfestigt haben, und einen breiten

und tiefen Riß in die Einheit der ganzeu Cultur- und Lebensentwickelung

der Gegenwart zu machen drohen.

Lotze vermied diese Einseitigkeiten, weil

er in beiden Hauptgebieten Meister, und weil sein Standpunkt über bei­ den belegen war.

Er wurde den in beiden gestellten Anforderungen in

gleichem Maße gerecht und verdiente sich den Dank und die Anerkennung

aller Parteien, indem er die unabweislichen letzten Voraussetzungen in

beiden Gebieten einem Läuterungsprozesse unterwarf, der ihre innere Ein­

heit und ihre gemeinsame Wurzel erkennen und ihn einen höher gelege­

nen Standpunkt finde»: ließ, von dem aus sich alle jene widerstreitenden Momente, vo»r dem aus insbesondere die allgemeine Naturnothwendigkeit und die freie Lebendigkeit des sittlichen Wollens, Causalität und Finalität, sich central und harmonisch zu dem Ganzen einer abschließenden Welt­

ansicht zusammengliedern. schaftliche Mission,

Es war, wie Pfleiderer sagt,

gleich sehr zu wahren

„seine wissen­

das gute Recht eines

ethisch-religiösen Idealismus und eines unbestechlich nüchter­ nen Realismus."

Der Weg, den Lotze einschlug, war ihm einerseits durch die sorgsame

und gewissenhafte Methode der exacten Naturforschung, andererseits durch die umfassende Selbstbesinnung vorgezeichnet, welche Hand in Hand mit

dem Geiste jener Forschung den Grundcharakter des Kant'schen KriticiSmuS bildet.

Lotze ergänzte und vollendete das Reformwerk Kant'S

und heftete zugleich das phänomenale Gebiet der exacten Na­ turforschung an einen festen metaphysischen Grund, indem er

als die gemeinsame Wurzel alles Wissens dasjenige erkennen lehrte, was wir unmittelbar in uns erleben.

Er zeigte, wie der

letzte Inhalt aller unserer Begrisfsbildungen nur auS den ursprünglichen Erregungen unseres Wesens, aus den primitiven Erlebnissen geschöpft

werden könne, aus denen all unser Leben und Denken, alle Formen und

Gestaltungen des Wirklichen in unserer Vorstellung in der aufsteigenden

Entwickelung des Lebens unter dem Einflüsse beständiger Anregungen von Außen felbstschöpferisch von uns hervorgebracht werden.

Er zeigte,

wie

die Formulirung und Rectificirung unserer letzten metaphysischen Begriffe

nur durch Vertiefung und Verdeutlichung dieses ursprünglich und

thatsächlich gegebenen Inhalts, nicht blos in der bisherigen Weise durch

Abstraction, Classification und Generalisirung aus diesem concret Gege­ benen gelingen könne.

Seine Philosophie ist daher eine Philosophie

des Unmittelbaren, eine Wissenschaft des Wirklichen, deren Quell das Leben selbst ist.

In einem grundlegenden Ergebnisse gipfeln diese mit umfassender Sorgfalt und bewundernSwerthem Scharfsinn durchgeführten Untersuchun­

gen.

Wie nur das Leben selbst alle concreten Vorstellungen des Wirk­

lichen und deren Beziehungen hervorbringt, so kann auch alles Wirk­

liche nur in der concreten Lebendigkeit des FürsichseinS real und existent sein: Realität ist Fürsichsein.

Von diesem Ergebnisse

fällt ein Helles Licht auf alle besonderen Aufgaben deS Wissens und das gemeinsame Ziel, dem sie alle zustreben.

Ist nur das Lebendige wirklich,

so können auch alle Formen, Einrichtungen und Gesetze des Wirklichen nur aus den Werthen und Zwecken des Lebens verstanden und erklärt

werden.

DteS ist Lotze's höchste unerschütterliche Ueberzeugung.

Sie ist die

letzte nothwendige Consequenz des Kant'schen Grundgedankens.

Lotze er­

reichte sie, indem er die Vorurtheile vermied, welche Kant verhinderten,

bis zu dieser Tiefe durchzudringen, indem er nicht dem falschen Wahne

huldigte, es sei höchstes Ziel des menschlichen Erkennens, die Substanz

der Dinge, ihr eigentliches Was zu erkennen und begrifflich zu formuliren. Er wies mit überzeugender Schärfe nach, daß alle Wissenschaft mit der

Anerkennung eines Thatsächlichen, als des letzten gegebenen Inhalts

unserer Begriffe, enden müsse, und daß es nur darauf ankommen könne,

Werth und Bedeutung dieses Gegebenen zu erkennen, nicht aber noch einen

tieferen Einblick in das Zlistandekommen, in die Art der Entstehung dieses

Gegebenen zu erlangen, da dieses letztere nur dann unabweisbare Anfor-

derung der Wissenschaft sein könne, wenn es Misere Aufgabe wäre,

die

Welt zu schaffen, anstatt «Sinn und Werth der Geschaffenen zu verstehen und unsere Bestimmung darin zu erkennen.

Für die thatsächliche Ein­

richtung der Welt sind wir nicht verantwortlich, wir müssen sie als gegeben anerkennen und können daran nichts ändern, wohl aber dafür, daß wir

unser Leben und die uns verliehenen Kräfte ihrer Bestimmung gemäß

anwcnden, und dazu gehört vor Allem, daß wir den Sinn und die Be­

deutung des Gegebenen und daS Verhältniß unserer Kräfte und Anlagen zu allen übrigen in der Welt wirksamen Potenzen, mit einem Worte un­

sere Bestimmung in der Welt erkennen.

Die Ethik galt Lotze daher auch

als Ausgang und letzte Grundlage der Metaphysik, welche Ziel und Rich­

tung dieser bestimmen muß. Diesem Ziele gab Lotze dadurch eine feste Grundlage und einen frucht­

baren Boden, daß er in den Calcül seiner Untersuchungen stets an den rechten Stellen die thatsächlich gegebenen Factorcn in reiner unverfälschter

Gestalt einsetzte, und die leitende Maxime der Untersuchung selbst einer strengen und scharfen Selbstanalyse der unmittelbaren Geistesthätigkeit entlehnte.

Er zeigte, wie auch diese, wie auch die Berkuüpfungsformen,

in denen wir das Mannigfaltige der in uns angeregten Empfindungen,

Gefühle, Strebungen und Vorstellungen zusammenfassen, wie die Ver­ standes- und Vernunftkategorieen, ja selbst die Formen und Gesetze der Logik, von jener höchsten ethischen Basis ausgehen und nur dieser ihren

eigentlichen Sinn und ihre Nothwendigkeit verdanken. So erhebt sich unsere ganze Weltansicht auf subjectiver und ethischer

Basis.

Der ganze Grundriß, alles Material, alle Formen und Regeln

der Verknüpfung sind in und mit unserer Geistesanlage gegeben.

Diese

Subjectivität ist jedoch kein Mangel, der das wahre Erkennen ausschließt, sie charakterisirt nur den Standpunkt, auf welchem

wir stehen und

orientirt uns über die Mittel und Wege, die das Erkennen einzuschlagen

hat.

Dieser Standpunkt erhält seine rechte Würdigung durch die fernere

Erwägung, daß wir selbst mit zu dem Ganzen der Welt gehören, und daß alle subjektive Geistesentfaltung durch die Regeln und Gesetze

der gesummten Weltentwickelung mitbestimmt, daß sie nur eine individuell charakterisirte Function der letzteren ist.

Unser Erkennen, wenn es die

den inneren Erregungen entsprechenden Vorgänge der Außenwelt auch nicht direct zu erfassen vermag, muß sich doch in gesetzlich bestimmter Weise nach ihnen richten, so daß die Weltbilder in den verschiedenen Wesen

ausnahmslos zusammenstimmen, daß wir uns in der Welt zu orientiren vermögen, und auch von unserem subjektiven Standpunkte aus eine Er­

kenntniß des objectiven Weltganzen möglich ist, welche dessen Sinn und

Bedeutung

auch dem endlichen Geiste zu seinem Theile offenbart.

Da

dieser Sinn und Werth nur im bewußten individuellen Geistesleben offenbar werden kann,

so erscheint dieses als die Blüthe und höchste Potenz des

Wirklichen, gegen dessen überwiegende Bedeutung der ganze Mechanismus der materiellen Welt nur als ein System vorbereitender Mittel erscheint.

Die Welt der Werthe wird auf diese Weise der Schlüssel für die Welt der Formen.

Führte die Physik zu der Annahme, daß das ganze materielle Uni­ versum aus Atomen bestehe, die einander nach bestimmten Gesetzen an­

ziehen und abstoßen, so erlangt diese Hypothese erst eine metaphysische

Basis durch die weitere Einsicht, daß auch die Realität der Atome nur

in einer Form psychischen Fürsichseins bestehe, daß nur der Wechsel ihrer innerer Erregungen den Grund ihres gegenseitigen wechselnden Verhal­

tens bilden könne.

Durch das universelle inhaltliche Aufeinanderbezogen-

scin alles dessen, was in allen in jedem Momente geschieht, stehen alle in einer intelligiblen Ordnung, deren Gesetzlichkeit in

Verhältnissen des Raums wiedcrerscheint.

den geometrische»!

Die Thatsache der alle mit­

einander verbindenden Wechselwirkung selbst wird nur durch die weitere

Annahme eines einheitlichen absoluten Wesens erklärlich, welches in allen wechselwirkenden Einzelwesen auf besondere Weise für sich ist.

Und dieses

absolute Wesen selbst, eS war unmöglich, es als ruhende Substanz, als sittliche Weltordnung oder in irgend welcher anderen Form unpersönlicher Existenz zu denken.

Seine Einheitlichkeit ist nur als Einheit selbstbe­

wußter Persönlichkeit begreiflich.

Lotze hat den Begriff der Persönlichkeit zu Ehren gebracht und als höchsten metaphysischen Wirklichkeitsbegriff erkannt,

indem er das Wesen des Wirklichen nicht auf dem bisher üblich gewesenen

Wege durch ein alle concreten Inhalte beseitigendes Verfahren der Abstraction von den unmittelbar erlebten Einzelthatsachen und Bildung ganz

inhaltleerer Allgemeinbegriffe,

sondern durch vorurtheilöfreie Verdeut­

lichung dessen zu erfassen suchte, was das Wesentliche und Wesenhafte an diesen unmittelbaren Erlebnissen ist, und durch sorgfältige Erwägung der

Voraussetzungen, welche den Zusammenschluß dieser Einzelerlebnisse zur Einheit eines ihren steten Wechsel überdauernden Wesens bedingen. Dieser

Weg führte mit zwingender Evidenz zu der Einsicht, daß nur im Bewußt­ sein ein und desselben Wesens die wechselnden Erlebnisse desselben auf einander bezogen und dadurch zu einer Einheit von höherer Bedeutung, zur Einheit des Selbstbewußtseins verbunden werden können, und daß

diese allein wahre Einheit ist, welche nach allen Richtungen hin das er­ füllt, was wir von ihrem Begriffe verlangen.

Nur wenn alle Momente

des Geschehens in allen Wesen in der Einheit deS Selbstbewußtseins eines allumfassenden persönlichen Wesens verknüpft sind, ist es möglich,

die Gesammtheit alles Geschehens als

einheitlichen Proceß aufzufassen.

Nur unter dieser Voraussetzung ist die Thatsache der Wechselwirkung und die Einheit des allgemeinen gesetzlichen Zusammenhanges alles Geschehens

denkbar und erklärlich.

Das höchste Weltwesen ist daher kein leerer und abstracter

Allgcmeinbegriff, sondern die lebendige Persönlichkeit Gottes.

Durch solche Aufhellung des höchsten Wirklichkeitsbegriffs Licht in allen Sphären unserer Erkenntniß.

wird eS

Die resultirenden Endergeb­

nisse aller Einzeluntersuchungen schießen radial und concentrisch in dieser höchsten Einsicht zusammen, und erlangen in ihr erst volle Rechtfertigung, festen Boden und inneren Zusammenhang.

Nur als iniegrirende Mo­

mente eines einheitlichen teleologischen Weltprocesses erscheinen die that­

sächlichen Natureinrichtungen,

die Einheit des Zusammenhanges und die

allgemeine Gesetzlichkeit alles Geschehens, begreiflich; nur im persönlichen

Leben können Zwecke und Werthe existent werden, nur als Einheit eines

im persönlichen Leben Gottes gehegten Zweckes ist die Einheit des Welt-

processeS denkbar. Nicht nur die theoretische Weltbetrachtung

schließt sich

in dieser

höchsten metaphysischen Spitze einheitlich zusammen, durch sie allein erhält daS Wesen der Heiligkeit und des Guten eine thatsächliche verständ­

liche Basis,

welches

den specifischen Charakter unserer ganzen sittlich­

religiösen Weltauffassung bestimmt, und im Gewissen und religiösen Ge­ fühl einerseits,

wie in den concreten Formen der Zweckmäßigkeit der

Natureinrichtungen und im Laufe der Geschichte andererseits sich überall

um so deutlicher und intensiver offenbart,

je vorurtheilsfreier wir alle

diese Momente thatsächlich gegebener Wirklichkeit ins Auge fassen.

Daß die Gesammtheit der Erscheinungen, in denen sich diese Mo­ mente offenbaren, kein vollständig lückenloses, in allen Zügen deutliches

Bild darbietet, daß namentlich die concreten Erscheinungen des Uebels und des Bösen in der Well schwere Räthsel aufgeben, für welche wir

auf der gegenwärtigen Höhe der Wissenschaft keine vollständig befriedigende Lösung wissen, das zu leugnen würde nur sanguinische Leichtfertigkeit im

Urtheil verrathen, und auch Lotze wußte und fühlte es tief.

Nichtsdesto­

weniger bestimmt uns, wenn wir alle Eventualitäten unbefangen und vorurtheilsfrei erwägen, der Gesammteindruck des Wirklichen, einstweilen mit

voller Ueberzeugung an das thatsächliche Vorhandensein einer solchen Lösung

zu glauben.

Dieser Glallbe tritt sogleich in voller imponirender Majestät

hervor, wenn wir etwas weiter zurücktreten und die jammervollen und

widersprechenden Ergebnisse materialistischer und

pessimistischer Welter­

klärung dagegen halten, welche weder eine einheitliche theoretische noch

eine irgendwie practisch haltbare Ansicht des Lebens und der Welt er­ möglichen. Ziehen wir alle diese entgegenstehenden Eventualitäten und auch die sonst im Laufe der Geschichtsentwickelung aufgetretenen Versuche der

Welterklärung von gleicher oder verwandter Art in Betracht, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß auf jenem Glauben allein alle Moral und alles

Recht, alle staatliche und gesellige Ordnung, alle Culturentwickelung über­ haupt beruhen könne, und wir schätzen es als daS höchste Verdienst Lotze'S,

daß er nicht nur die Leerheit, Nichtigkeit und Ungefährlichkeit deS ganzen Wogenschwalls sophistischer Einwendungen aufdeckte, ded sich auS den Fort­ schritten der neueren Naturforschung dagegen erhob,

sondern sogar die

Hauptmomente dieses grandiosen Fortschritts selbst zu neuen und festen Stützen jenes Glaubens machte.

Erwägen wir dies alles und bedenken daneben,

daß die Lotze'sche

Philosophie nicht etwa auf subjectiven Einfällen individueller Eigenart beruht, oder an dem schwachen Faden eines Prinzips hängt, mit dessen Riß die ganze Ansicht dahinfallen müßte, daß sie vielmehr als daS re«

sultirende Endergebniß einer vollständig und systematisch entwickelten Reihe aufsteigender Betrachtungen dasteht, welche sich mit logischer Nothwendig­ keit auf der Basis der wichtigsten unmittelbar erlebten Thatsachen erheben, die sich unS als einzige primitive Elemente aller Weltbetrachtung dar­ bieten, so erscheint sie uns in ihrer Totalität gradezu als ein hochbedeutsameS culturgeschichtliches Moment, von dessen Wirksamkeit aus die

Gesammtbildung des Volkes wir die segensreichsten Folgen erhoffen. ES bedarf, um diese Behauptung zu rechtfertigen, kaum noch deS

Hinweises auf die Allgemeinverständlichkeit dieser Philosophie, welche sich in einer

jedem denkenden Menschen in allen Einzelnheiten durch­

sichtigen und klaren Gedankenentwickelung auf einer allen ihrem ganzen Umfange nach in sich selbst vollständig erlebbaren thatsächlichen Basis er­

hebt, und eben deßhalb, weil sie nur Thatsächliches zu Grunde legt, keine

historischen Voraussetzungen und keine fachmännische Vorbildung erfordert. Freilich,

ohne sorgsames Studium wird eS auch dem Gebildeten

nicht gelingen, daS ideale Weltgebäude der Gesammtansicht Lotze'S wie eS

namentlich im „Mikrokosmus" in so reichentwickelter und schöner Form vor unS liegt, in seiner ganzen Bedeutung und allen seinen Zusammen­ hängen erschöpfend zu verstehen.

So meisterhaft die Darstellung ist, „so

läßt die wiederholt absetzende und vorsichtig stufenartige Aufführung jenes Baues dessen Struktur und inneren Zusammenhang wie das organische

Verhältniß aller Centraltheile nicht sofort überall deutlich und klar her-

vortreten."

Dieses Werk findet jetzt zwar eine hocherfreuliche Ergänzung

und Vervollständigung durch die von Herrn Professor E. Rehnisch in

Göttingen mit gründlicher Sachkenntniß und gewissenhafter Sorgfalt in Angriff genommene Herausgabe der von Lotze selbst zu dessen sämmtlichen

Vorlesungen gegebenen Dictate'^), aber doch erschien daneben ein Leit­ faden, der mit weniger Anspruch auf sofortige allseitige Begründung nur die Grundgedanken Lotze's zunächst in prägnanter Kürze und Ueber-

sichtlichkeit hervortreten läßt, recht wünschenswerth.

Als solchen kann ich

die Pfteiderer'sche Schrift allen denjenigen, welche ohne mühsames Studium

eine vorläufige Uebersicht über das Ganze der Lotze'schen Weltanschammg gewinnen möchten, nicht dringend genug empfehlen.

Der Verfasser hat es trefflich verstanden, in der nur 81 Seiten laugen

Schrift die Hauptgedanken dieser Weltanschaunng mit der ihm eigenen lebendigen Frische und warmen Begeisterung in sehr ansprechender Form und

unter Darlegung ihres inneren organischen Zusammenhanges klar

und übersichtlich darzustellen. Möge die kleine, aber sehr inhaltreiche Schrift möglichst ausgedehnte

Verbreitung finden, imb in immer weiteren Kreisen zum ernsten Studium der Lotze'schen Werke anregen, damit diese dereinst ihre Mission erfüllen und zum Gemeingut aller Gebildeten werden.

Mögen die Gesundheit imb

Kraft der Gedanken, die Tiefe der Begeisterung für das Gute und Edle und der Ernst der Forschung und des sittlichen Wollens, welche diese Werke beleben, den idealen Grundzug des deutschen Wesens auf's d^eue

entzünden nnd zu heller Flamme anfachen, damit der politische Neubau unseres Vaterlandes, welchen die Begeisterung für die idealen Güter des Lebens schaffen half, auch innerlich stark und fest werde und die ^Stürme

überdaure, welche ihn von Innen und Außen bedrohen. *) Wir sind Herrn Prof. Rhenisch für die Herausgabe dieser Vorlesun deren Wortlaut, da Lotze seine Vorträge stets ohue alle schriftlichen Vorbereitungen und Notizen zu formuliren pflegte, nur durch mühsame Vergleichungen verschiedener Aufzeichnungen ganz genau zu constatiren war, zu großem Danke verpflichtet. Die Vorlesungsdictate, welche in der That wirkliche, von Lotze selbst formulirte Dictate, nicht von einzelnen Zuhörern nach eigenem Ermessen gemachte Auf­ zeichnungen sind, bilden fortan eine höchst bedeutsame Bereicheruug uud Ergänzung der Werke Lotze's, da sie nicht nur denen, welchen es nicht vergönnt war, zu den Füßen des berühmten Mannes zu sitzen, einen Einblick in dessen Lehrthätigkeit ge­ währen, sondern auch eigenartige Formulirungen der wichtigsten Ge­ danken desselben enthalten. Im Berlage von S. Hirzel sind bereits er­ schienen „Grundzüge der Psychologie" und „Grundzüge der praktischen Philosophie". Im Laufe des Jahres werden noch erscheinen: „Grundzüge der Religronsphilosophie", „Grundzüge der Aesthetik", „Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant", „Grundzüge der Naturphilo­ sophie", „Gruudzüge der Logik und Encyclopädie der Philosophie" und „Grundzüge der Metaphysik".

Hugo Sommer.

Aus dem alten Bundestag. NUt großer Spannung sah das Publicum dem zwölften Band der

„Publikationen aus

dem deutschen Staatsarchiv" entgegen, welcher die

preußischen Acten des deutschen Bundestags aus den Jahren 1851—1854

enthält, also die ersten Jahre der amtlichen Thätigkeit unseres gegenwär­

tigen Reichskanzlers. Diese Erwartungen sind auch insofern nicht ge­ täuscht worden, als der Band eine Reihe köstlicher Portraits enthält: mit der scharfen Feder, die wir an ihm kennen, characteristisch und zuweilen mit dem äußersten Humor, hat Herr von Bismarck die Bilder seiner

damaligen Collcgen im Umriß gezeichnet; sein Talent war in dieser Be­

ziehung vor dreißig Jahren bereits so entwickelt wie heute.

Da aber

diese Stellen von den Zeitungen bereits fast vollständig ausgczogen wor­ den sind, glaube ich sie hier übergehen zu dürfen; daS Buch enthält sonst

ernste Dinge genug. Freilich wird ein großer Theil des Publicums enttäuscht sein.

Be­

sondere Enthüllungen über die Vorgänge von 1851—1853 giebt daS Buch nicht, und die frühere Annahme, daß diese Periode, wenigstens für Deutsch­ land

wie ein halb leeres Blatt zwischen den aufgeregten Zeiten von 1848

bis 1850 und 1854 bis 1859 liegt, wird nicht gerade widerlegt; erst ge­ gen das Ende deS Bandes mit dem Jahre 1854 beginnt die neue Krisis

sich

anzudeuten, und der nächst folgende Band verspricht ein reicheres

Material. Gleichwohl giebt auch dieser Band für den denkenden Leser höchst werthvolle Aufschlüsse, wenn nicht über die Begebenheiten selbst, so doch

über den Character deS Mannes, von dem man seit zwanzig Jahren an­

nimmt, er mache für Europa Regen und Sonnenschein. Nicht häufig wird eS dem Historiker geboten, noch zu Lebzeiten eines

großen Staatsmannes über die Art seines Wirkens sich eine bestimmte auf authentischen Quellen beruhende Vorstellung zu machen; und darin

liegt doch der eigentliche Werth der Geschichte, zu erfahren, so weit eS möglich ist, worin seine Größe bestand. Preußische Jahrbücher. Bd.

XI.IX.

Heft 6.

45

Am 27. August 1850 wurde Herr von Bismarck, damals 36 Jahre

alt, als preußischer Gesandter beim Bundestag eingeführt.

Wir erfahren

auS einer Note, die doch wohl aus erster Quelle geschöpft sein wird, daß ihn König Friedrich Wilhelm IV. schon damals zu seinem künftigen Mi­ nister ausersehen hatte und daß die Stellung in Frankfurt wie eine spä­

ter in Aussicht genommene in Wien die Vorstufen fein sollten.

Preußen war 1850 durch die unglaubliche Unklarheit seiner Regie­

rung in eine ebenso peinliche als gefährliche Lage versetzt.

Es war ein

Schwanken in der Potitik, für das man höchstens in der preußischen Po­ litik von 1805 und

1806 ein Gegenbild findet.

Bereits in den ersten

Monaten des Jahres 1849 mußte Graf Brandenburg sich sagen, daß die

Richtung, die man damals einschlug, nothwendig zu einer blutigen Collision mit Oesterreich führen müsse.

Für einen vernünftigen Staatsmann

war also angezeigt, zunächst jede Verlegenheit zu benutzen, und zwar schnell und

augenblicklich, in der Oesterreich sich befand; die eigene Kraft im

äußersten Maaß anzuspannen und von denen, die man auf seiner Seite

zu haben glaubte, genau zu ermitteln, ob sie zuverlässig und wie weit sie geeignet waren, diese Kraft zu verstärken. Nichts von alledem geschah. Man ließ Oesterreich Zeit, sich aus seinen Verlegenheiten loszuwickeln; für die

Armee geschah wohl etwas, aber nicht mit dem Ernst, der geboten erscheint, wenn man einem Krieg auf Leben und Tod entgegen sieht.

Statt dessen

verbrachte man seine Zeit in zwecklosen Unterhandlungen, die in ihrem

Ziel einen Tag um den andern wechselten, und auS denen nur eines klar hervorging: daß Preußen zu einem wirklichen Wagniß keinen Muth haben

würde.

Die natürliche Folge war, daß alle bedeutenderen Bundesgenossen,

die doch nur die Furcht zum Bunde getrieben, abfielen, und daß Preußen

ganz allein stand.

In der Zeit deS Erfurter Parlaments war die Sache

bereits verloren, und im Grunde wußte man das auch in Berlin.

Statt

sich nun aber rasch zu einem Ministerwechsel zu entschließen und sich mit Oesterreich zu verständigen, was damals noch mit einigem Anstand mög­ lich war, glaubte man, die alte Fiction noch aufrecht halten zu müssen,

und ließ sich in Engagements ein, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie man sie erfüllen solle.

So taumelte man rückwärts einen Schritt

nach dem andern, bis man sich endlich in Ollmütz fand.

Es war eine

schwere Schädigung der preußischen Ehre: man war einer Drohung ge­

wichen, und hatte die noch eben eingegangenen Engagements aus Furcht einseitig gelöst.

Aber eS war kaum mehr zu vermeiden.

Bis dahin hatte

der österreichische Minister Fürst Schwarzenberg

die Situation mit Geschick und Energie auSgebeutet; er hatte Preußen auö jedem Schlupfwinkel vertrieben, hatte es gezwungen, im schwersten

Augenblick Farbe zu bekennen.

Seitdem aber war er seiner Aufgabe

nicht gewachsen. Ein Sieg hilft nichts,

wenn man ihn nicht zu benutzen versteht.

Ein verständiger Sieger hat die Wahl: entweder den Gegner zu ver­

söhnen, oder ihn unschädlich zu machen; jeder Mittelweg ist von Uebel. Die Praxis der Römischen Zeiten, ein gefangenes Heer erst unter das

Joch kriechen zu lassen und dann frei zu geben, ist mir immer ebenso absurd wie barbarisch vorgekommen. Wenn Fürst Schwarzenberg die Aufgabe seines Staates in großem Stil als die einer europäischen Großmacht auffaßte, so mußte er die Ver­

söhnung mit Preußen vorziehen, er mußte dem Gegner goldne Brücken

bauen.

Niemals seit 1740 war das so leicht als damals.

Bei dem

eigenthümlichen Character des Königs von Preußen war es gar nicht

schwer, ihn zu überzeugen, daß jetzt ja nur geschehe, was er inS Ge­ heim selber stets erstrebt; es konnten Preußen in Deutschland erheb­ liche Vortheile geboten werden, für das Gegengebot einer intimen Allianz

zwischen Oesterreich und Preußen. 1815 nicht

bestanden:

währen lassen,

Eine solche hatte in Wahrheit seit

Preußen hatte Oesterreich

aber in dem

großen

europäischen

in Deutschland ge­

Gegensatz zwischen

Oesterreich und Rußland hatte eS im Stillen sich immer mehr zu letz­ terem gehalten.

Dies gründlich zu ändern, war im December 1850 die

Möglichkeit geboten, Warschau geinacht.

nach

den bitteren Erfahrungen, die Preußen in

Daß der alte Gegensatz im Orient wieder auftauchen

würde, mußte Schwarzenberg voraussehen; wurde doch damals als ge­

flügeltes Wort von ihm colportirt, er werde Rußland durch einen Act eclatanter Undankbarkeit überraschen! Sah

Schwarzenberg

aber

die Lage ausschließlich

vom

deutschen

Standpunkt an, wollte er die alte Politik des Kaiserhauses von 1756 wieder aufnehmen, so muß man bekennen, daß er Preußen in Ollmütz

viel zu wohlfeilen Kaufs davonkommen ließ.

Preußen war beschimpft,

aber es war nicht geschwächt, und so behielt ManteufelS viel angefochtenes Wort „der Starke kann zurück gehn", eine relative Wahrheit.

Schwarzen­

berg mußte eine gründliche Schwächung Preußens verlangen, wenn er

sich für die Zukunft sichern wollte.

Seine deutschen

Bundesgenossen

waren damals in dem Haß gegen Preußen so blind, daß sie sich zu Allem verstanden hätten.

Freilich auf die Gefahr eines schweren Krieges,

dessen Chancen aber damals für Oesterreich so günstig standen wie nie zuvor.

Statt dessen begnügte sich Schwartzenberg mit einem

zweiten

geflügelten Wort: „il saut avilir la Prusse et puis la detruire!“ und

sorgte dafür, daß das Schimpfliche deS Ollmützer Vertrags dem Publt-

45*

Er bildete sich ein, der verlorene

cum recht gründlich eingeschärft werde.

Augenblick

nach

könne

Willkür

Leidenschaften legen sich endlich, wieder geltend.

ergriffen

wieder

werden.

Aber

die

und die realen Interessen machen sich

So geschah es mit Oesterreichs Bundesgenossen, während

in Preußen, das seit einem Jahrhundert ein starkes historisches Ehrgefühl

in sich ausgebildet,

die schwere Beleidigung,

gegen welche freilich die

empfindlich waren, zu einem ge­

damaligen Machthaber am wenigsten

heimen Groll sich einfraß, der dann endlich sein Recht finden sollte.

Schwarzenberg hatte den Feldzug

mit dem ausgesprochenen Zweck

begonnen, zur alten Verfassung Deutschlands zurück zu kehren; was er

in den Dresdener Conferenzen verlangte, zeigte seinen völligen Mangel an eigenen Ideen

und an Initiative.

Zuletzt stellte sich heraus,

daß

Preußen am besten fuhr, wenn es auf die irrsprünglichen Anforderungen seines Gegners einfach und

vollständig einging.

Dies kennzeichnet am

besten die Stellung, welche Herr von Bismarck im reactivirten Bundes­

tag einllahm. „Ja, meine Herren!", sagte Manteufel in der preußischen Kammer

1851,

„es ist ein Wendepunkt in unserer Politik!

Es soll entschieden

mit der Revolution gebrochen werden."

Der Brllch war in der That so entschieden als möglich, namentlich blieb in ihrem Personal

ungeändert,

und so blieb von Außen auch das alte Mißtrauen gegen sie.

Man hatte

im Innern;

aber die Regierung

Manteufel nie im Verdacht gehabt, ein Revoültionair zu sein, wohl aber im Verdacht, die Revolution zu seinen egoistischen Zwecken ailsbeuten zu

wollen, so weit es ohne zu große Unkosten möglich war. Hier

Lage.

war nun Herr von Bismarck in einer ungleich

günstigeren

Er hatte 1848 die Demokratie, seit 1849 die Unionspolitik be­

kämpft; er hatte erklärt, er könne dem phaetonischen Flug der preußischen Politik nicht weiter folgen; und wenn er dafür als Hauptgrund anführte,

daß jede Verbindung mit der Revolution den preußischen Staat schwäche und in einen Sumpf verlocke; daß die Schwachen — damit meinte er das Parlament — sich nicht heraus

höhen zu wollen;

nehmen dürften, den Starken er­

wenn er also in seiner politischen Stellung sich nur

von specifisch preußischen Interessen

bestimmen

ließ,

so

galt draußen

der Feind der Unionspolitik naturgemäß als Anhänger Oesterreichs und war in den dortigen maaßgebenden Kreisen so sehr persona grata als

Da im Publicum diese Ansicht, Herr

es ein Preuße nur sein konnte.

von Bismarck sei früher Anhänger Oesterreichs gewesen, getheilt wurde, so

hat

man

später gemeint,

fahrungen davon zurückgebracht.

er

sei

erst

durch

die Frankfurter Er­

Diese Ansicht wird durch die vorliegen-

den Actenstücke nicht bestätigt,

wenigstens müßte die Umstimmung sehr

rasch erfolgt sein: am 27. August wurde er in den Bundestag eingeführt, am 28. December erstattete er den in der Vorrede mit vollem

bereits

Recht als sehr merkwürdig- bezeichneten Bericht, der eine weniger ver­ trauensvolle Haltung gegen Oesterreich empfahl.

Herr v. Bismarck ist

nie ein unbedingter Anhänger Oesterreichs gewesen; er war nur gegen den im Bund mit der Revolution unternommenen Kampf gegen Oester­ reich; er ist nie ein unbedingter Gegner Oesterreichs geworden, er wollte nur durchsetzen, daß Preußen die Arme frei bekam.

Im

reactivirten Bundestag

war,

wenn es

auch

nicht so

schroff

ausgesprochen wurde, moralisch die Lage so, daß Oesterreich in der Mitte

seiner

bisherigen Bundesgenossen

rend ihm gegenüber Preußen,

sünderstuhle saß.

auf dem

wenngleich

Siegesstuhl thronte,

amnestirt,

wäh­

auf dem Armen­

Dies Verhältniß gründlich zu ändern, war Bismacks

erste Aufgabe, und er hat sie gelöst.

„Ich", konnte er sagen, „habe früher und lauter die Revolution be­

kämpft, als es Oesterreich einfiel,

und wenn

ich sie weiter bekämpfe,

so gehe ich nur meinen alten Gang fort und habe keine Reue nöthig. Aber nun auch gründlich aufgeräumt!

Fort mit allem Plunder aus der

Revolutionszeit! und nur ja keine Sentimentalität!

Holstein,

stecken!

Fort mit Schleswig-

der Herzog von Augustenburg mag seine Entschädigung

ein­

Fort mit der deutschen Flotte, die doch zu nichts zu gebrauchen

ist, und wenn es nicht anders geht, unter den Hammer mit ihr!

Fort

mit dem revolutionairen Gedanken, die preußischen Ostseeprovinzen in den deutschen Bund einzuverleiben! und so fort mit Allem, was an das tolle

Jahr erinnert! Mit einem Schlage

ist

die Situation völlig geändert.

Der ehe­

malige Unionsstaat Preußen geht voran im Aufräumen, ja er ist eifriger

darin als seine ehemaligen Sieger.

„Das glaube ich wohl, Ihr Herren

ails Baiern, Württemberg, Hessen, Schaumburg-Lippe und wie Ihr sonst heißt!

Ihr habt Furcht vor der öffentlichen Meinung,

Ihr seid sen­

timental und Euer Muth ist von der Blässe des Gedankens d. h. von

der Revolution angekränkelt. gescholten sein!

Ihr möchtet gern gelobt, wenigstens nicht

Ihr möchtet in Schlafrock und Pantoffeln die Freiheit

und Ehre Deutschlands und Gott weiß was sonst noch erreden. — Gut,

es soll Euch gewährt sein!

Wir beiden Starken, Preußen und Oester­

reich, werden das Geschäft besorgen, Ihr sollt gar nichts damit zu thun

haben.

Singt im Stillen für Euch das Lied: Wir hatten gebauet ein

stattliches Hauö u. s. w.

Aber setzt Euch dazu gefälligst auf den Armen-

Sünderstuhl, wir haben dort nichts mehr zu suchen."

Au« dem alten Bundestag.

668

ES hat einen unglaublich komischen Beischmack, wenn in den Be­ richten an Manteufel immer Schonung gegen diese empfindsameil Mittel­

staaten empfohlen wird.

Die Mittelstaaten merken gar nicht, daß ihnen

damit das Recht entzogen wird, in der großen Politik mitzureden, und Oesterreich merkt gar nicht, daß eS damit das bequemste Mittel aus der

Hand giebt, Preußen, wie eS doch beabsichtigte, mit Hilfe der Mittel­

staaten in jeder Frage zu überstimmen.

Am Komischsten ist eS aber mit

dem Austritt der Ostseeprovinzen aus dem Bund.

Oesterreich, das die

Absicht hatte, mit seinem ganzen Reich dem Bunde beizutreten, ist offen­

bar verblüfft, und eS werden einige sehr ernste Mienen ausgetauscht, ja

Schließlich

die Mienen des preußischen Abgeordneten werden fast drohend. findet man denn doch nichts dagegen zu erinnern.

Was nun diese drohenden Mienen betrifft, so lese ich in dem Be­ richt vom 28 December 1851 noch etwas zwischen den Zeilen.

ES heißt

offfciell: Seid nicht zu vertrauend gegen Oesterreich, denn es meint eS übel mit Euch! aber officiöS: Seid nicht zu blöde gegen Oesterreich, eS

läßt sich die

etwas bieten! — Das waren die beiden

Bismarck in Frankfurt machte.

ersten Erfahrungen,

Fast regelmäßig *ant

aus Berlin

ein billigender Bescheid und wenn eS zu lange dauerte, so wurde durch den General

Gerlach nachgeholfen.

Freilich ist

es

nicht

ganz

leicht,

schwerfällige Weichheit inS richtige Tempo zu bringen. In Bismarcks

Gegensatz

gegen die revolutionäre wie gegen die

mittelstaatliche Politik lag von vornherein nichts Doctrinäres; er fragte sich in jedem einzelnen Fall: wie kann eine Situation für Preußen aus­

genutzt werden?

Er hatte in Berlin die Gothaer aufs lebhafteste be­

kämpft, in Frankfurt unterstützt er sie, weil sie Preußen geneigter waren als ihre Gegner die Schwarzen.

Er half die Mittelstaaten niederdrücken,

wenn sie große Politik treiben wollten, aber er nahm keinen Anstand, sich an ihre Spitze zu stellen, als ihr Vorkämpfer aufzutreten, wenn es galt die Anmaßung des Präsidiums Mückzuweisen.

Er empfahl ein gutes

Einvernehmen mit Bayern, weil man Bayern auf der Landkarte nach­ weisen konnte, es habe von Preußen nichts zu befahren, was bei Hannover

nicht anging.

Im Kampf der oberrheinischen Staaten gegen den Episkopat

nahm er entschieden Partei für die ersteren; er bestärkte sie aufs äußerste

in ihrem Widerstand, und wußte auch die preußische Regierung dafür zu

gewinnen.

Er verlangte von der Regierung, jedem Einzelnen von den

Mittel- und Kleinstaaten begreiflich zu machen, daß Preußen ihnen nutzen und schaden könne, und daß beides von ihrem guten Betragen gegen Preußen

abhinge.

Die Personenfrage spielte dabei eine große Rolle, aber doch

nicht ausschließlich: Bismarck machte einen großen Unterschied zwischen den

Politikern, die aus eigenem Gelüst ohne staatliche Nothwendigkeit gegen

Preußen wühlten, und denen, die nur auf höhere Weisung handelten.

Diesen Umstand muß man sehr im Auge behalten, um seine Politik richtig zu verstehen. Darum ist auch die Kanitz'sche Angelegenheit so ausführlich behandelt,

die von geringer Tragweite scheint.

Einer der eifrigsten Gegner Preu­

ßens war der großherzoglich-hessische Minister Dalwigk: nun hatte dieser

sich im Uebermuth zu einem höchst unpassenden Schritt gegen den preußi­ schen Gesandten von Kanitz verleiten lassen, der, richtig auögebeutet, seinen

Sturz herbeiführen mußte.

Hier bot nun Bismarck alles auf, in Berlin

das angemessene Verfahren zu empfehlen, seine Gründe waren unwider­ leglich, und man gab ihm wenn auch mit einigem Sträuben in Berlin

durchweg Recht.

Aber im entscheidenden Augenblick zeigte sich doch wieder

eine gewisse schlaffe Weichmüthigkeit, durch die das Spiel verloren ging. Ganz anders war fein Verhalten gegen den österreichischen Präsidial-

Gesandtcn Ritter von Prokesch.

Eö waren der preußischen Regierung

Papiere in die Hände gefallen, die ihn aufs äußerste compromittirten, und die, wenn sie zur Sprache kamen, den Wiener Hos genöthigt haben würden, ihn fallen zu lassen.

Das widerrieth aber Bismarck entschieden,

obgleich ihn Prokesch mehr geärgert hatte als irgend ein anderer von seinen

Eollegen.

Bei Dalwigk, meinte er, war der Preußenhaß persönliche Lieb­

haberei, und seine Entfernung wäre daher von Nutzen für Preußen ge­ wesen; Prokesch dagegen war nichts als Werkzeug; er handelte im Sinn

und nach Instructionen seines Hofes, mit seiner Entfernung war daher

Man hätte an seine Stelle einen tactvolleren Mann

nichts gewonnen.

geschickt, der eben deswegen mehr Schaden angerichtet hätte als ein un­ besonnener Polterer.

Statt dessen sollte man Prokesch nur andeuten, daß

man von seinen Umtrieben wisse, und ihn dadurch unsicher machen. BiSmarckS Stellung gegen den Präsidial-Gesandten hatte etwas Pein­

liches, aber zugleich ohne Zweifel auch etwas Lustiges.

Da Oesterreich

die Anwendung von Gewalt aufgegeben hatte und an fruchtbaren Ideen

arm war, suchte es sich seinen Vorrang gleichsam zu ersitzen; eS suchte Präcedenzfälle zu schaffen, welche dem Präsidial-Gesandten mehr die Be­ fugnisse eines Regierungspräsidenten, der zuletzt allein entscheidet, als eines

Gerichtspräsidenten gaben.

gehn zu lassen,

Protest einzulegen. sich

Hier kam eS darauf an, durchaus nichts durch­

auch gegen die kleinste Ueberschreitung sofort energisch Mit Prokesch' Vorgänger, dem Grafen Thun, ließ

daS in leidlich höflichen Formen ausrichten; mit Prokesch kam eS

wiederholt zu lärmenden Auftritten.

Beobachter

einigermaßen wehe thut,

Wenn eS nun einem unbefangenen einen Mann

von so

gewaltigen

Dimensionen wie Bismarck in diesem kleinen Kriege seine Kräfte aus­ geben zu sehn, so war eS doch nothwendig, und wenn sich Bismarck bei Manteufel wiederholt darüber beschwerte, man sage ihm Rechthaberei und

Zanksucht nach, so merkt man, daß ihm die Sache zugleich Spaß machte,

und daß er spielte wie die Katze mit der Maus.

Weiter auf die Einzelheiten einzugehn, ist überflüssig.

Eine große

Sache wurde in diesen Jahren durchgesetzt, die Erneuerung und Erwei­ terung deö Zollvereins, gegen das Ansinnen Oesterreichs, das ganze Ge­ biet der österreichischen und deutschen Staaten in einem gemeinsamen Zoll­

gebiet zn vereinigen.

Hier wurde Preußen durch die Natur der Dinge

unterstützt: die Mittelstaaten hätten sich gern seinem Einfluß entzogen, aber die wirthschaftlichen Verhältnisse waren von der Art, daß sie sich ihm nicht entziehn konnten, und die österreichischen Anerbietungen blieben

leere Worte wie zu Anfang der Bewegung. Diese Lage hat Bismarck theils durch die Presse theils durch per­

sönliche Verhandlungen mit den Regierungen mit Energie und Geschick auögebeutet.

Wenn er bei diesen Verhandlungen als überzeugter Frei­

händler auftrat, so giebt er den politischen Grund unbefangen selbst an: daS Freihandel-System war das historische des Zollvereins, den unklaren

und schwankenden Wünschen Oesterreichs und seiner vermeintlichen Ver­

bündeten gegenüber kam es darauf an, an diesem Princip festzuhalten, ohne nach links und rechts zu sehn, weil ein bestimmter geschlossener Wille

über den unklaren und schwankenden stets den Sieg davon trägt.

Im Lauf der drei Jahre hatte sich Preußens Stellung wesentlich ge­

hoben.

Die antipreußische Coalition war thatsächlich gelöst, Preußen nahm

seinen anerkannten ehrenvollen Platz innerhalb des Bundes, seine unab­ hängige Stellung als Großmacht wieder ein, und war in der Organi­ sation, die seinen eigentlichen Einfluß repräsentirte, im Zollverein nicht

rückwärts, sondern vorwärts gegangen.

In dieser Lage trat die orientalische

Krisis ein, die, wenn Schwartzenberg in Ollmütz eine aufrichtige Ver­ söhnung angestrebt hätte, wohl einen andern Verlauf genommen haben

würde. — Es reizt mich noch, zum Schluß das Bild, welches man aus diesen kleinen Verhältnissen von dem großen Staatsmann entnimmt, mit dem

zu combiniren, welches die späteren Ereignisse uns eingeprägt haben.

Mit

den unbestimmten Ausdrücken „Genialität" u. s. w. ist nicht viel gesagt,

man geräth dabei leicht in die Mystik.

Zwar ist in jeder, auch der kleinsten

Persönlichkeit, etwas Jncommensurables, aber auch in der größten kann man einzelne Merkmale deutlich unterscheiden.

Man stellte sich früher unter einem

großen Diplomaten einen ge-

schmeidigcn Hofmann vor, ungefähr in der Art der Scribe'schen Intri­ ganten, der Jedem

zum Munde redet,

Jeden mit kleinen Mitteln zu

überlisten trachtet, und um so weiter kommt, je weniger er hervorzutreten

scheint.

Auch diese Art ist nicht zu verachten; aber sicherer kommt der

zum Ziel, der mit mächtiger Persönlichkeit die Anderen zwingt.

Schon

in den kleinen Streitigkeiten in Frankfurt kam eS darauf an, daß Preußen,

welches sich erst wieder „herauspauken" sollte, durch einen Mann vertreten

wurde, der wohl geeignet schien Furcht einzuflößen, der von sehr starken Leidenschaften bewegt wurde und

doch darüber die Besonnenheit nicht

verlor, der nach Hamanns Ausdruck „seine Leidenschaften gebrauchte wie Ein solcher Mann mußte noch in der Jugend daS

seine Gliedmaßen".

fast vergessene Bild vom altenfritzischen Preußen erst wieder wach rufen;

in seinem Alter ist er gleichsam ein Capital geworden, das uns ein Paar

Armeecorps erspart.

Sie haben alle Furcht vor dem „schwarzen Mann"

in Barzin, und besinnen sich dreimal, ehe sie mit ihm anbinden. — Das hat nun freilich seine Kehrseite:

eine so gewaltige Persönlichkeit braucht

viel Platz, und wer ihr in den Weg kommt, fährt nicht gut. Als zweite hervorragende Eigenschaft finde ich die ununterbrochene

kalte Beobachtung der Wirklichkeit.

Die Augen müssen gesund sein, und

nichts sehn wollen als was wirklich da ist.

Sie dürfen niemals träumen.

So war schon der alte Fritz: in seiner Studierstube zu Sanssouci sah er Alles was in den vier Welttheilen vorging, wie auf einem Schachbrett

vor sich, und machte seine Rechnungen darnach.

„Ich trage", sagt Wilhelm

von Oranien bei Goethe, „viele Jahre her alle unsere Verhältnisse am

Herzen, ich stehe immer wie über einem Schachspiel und halte keinen Zug des Gegners für unbedeutend; und wie müßige Menschen mit der größten Sorgfalt sich um die Geheimnisse der Natur bekümmern, so halte ich es für Pflicht, für Beruf eines Fürsten, die Gesinnungen, die Rathschläge

aller Parteien zu

kennen." — Nicht blos

was

geschieht

muß

erkannt

werden, sondern auch das Motiv. — Auch das hat wieder seine Kehrseite:

unausgesetzte scharfe Beobachtung führt naturgemäß zum Mißtrauen. Dieser äußern Beobachtung muß aber ein festes mächtiges Innere

entgegen wollen,

arbeiten.

Der

große

Staatsmann

muß

etwas

Bestimmtes

sich über sein Wollen klar sein und an demselben mit voller

Seele festhalten.

Denn die Wirklichkeit antwortet nur dann

dem fra­

genden Beobachter, wenn er bestimmt weiß, was und warum er zu fragen hat.

Bismarcks Lebensinhalt ist die Größe Preußens, wie es der Friedrich

des Großen war; was er nebenbei will, zuweilen mit starkem Eigensinn

will, steht doch immer mit diesem leitenden Princip in Zusammenhang. Eine solche stetige Hingebung an den herrschenden Willen, bringt zugleich

im entscheidenden Moment den Entschluß hervor.

Es kommt im Leben

jedes großhandelnden Menschen ein Augenblick, wo Für und Wider etwa

gleich in der Wagschaale stehn, wo der Verstand mit seiner Rechnung nie fertig werden würde, wo eS gilt, alles aufs Spiel zu setzen, nicht blos

sich selbst:

„Du mußt glauben, du mußt wagen, denn die Götter leihn

kein Pfand!"

Wer einen solchen Moment nicht erlebt hatte, gehört der

Weltgeschichte nicht an. — Gemüthsbedenken sind freilich mit einer schnell­

kräftigen, also ungeduldigen Natur nicht vereinbar. Aber ein solcher Moment kommt nicht wie eine Eingebung auf ein­

mal, er will lange vorbereitet sein, jeder große Mensch, wenigstens in der

neueren Geschichte, war zugleich ein rastloser angestrengter Denker.

Die

Beobachtung der Wirklichkeit ist das eine, aber zugleich hat der Geist

etwas anderes zu erwägen und zu combiniren: das weite Reich der Mög­

lichkeiten und ihren innern Zusammenhang.

Der Schachspieler, der vier

Züge voraus berechnet, wird immer den schlagen, der es nur zu dreien bringt.

In diesem Sinne, glaube ich, denkt und rechnet unser Reichskanzler mehr als irgend ein anderer Mensch unserer Zeit.

Er unterscheidet sich von

seinen Vorgängern hauptsächlich dadurch, daß er es liebt, laut zu denken.

Die vielen Zeugen seines Denkens haben es meist darin versehn, daß sie den einen Faden faßten und nun das ganze Gewebe zu halten glaubten. Das Gewebe seines Denkens ist aber sehr verwickelter Art. — In dieses

Gewebe ist er nun freilich so eingesponnen, daß nicht leicht ein anderes Denken hineindringt; Antworten auf Fragen, die er nicht gestellt, hört er, glaub ich, gar nicht, und diese Abgeschiedenheit nimmt mit dem Alter zu.

Und hier ist — ein Umstand, der zuweilen Sorge macht — bei allem scharfen Blick für das wirkliche doch eins, das er nicht recht durchschaut,

obgleich er

sich viel mit ihm beschäftigt hat: die öffentliche Meinung.

Freilich ist sie ein Schattenwesen, das sich schwer betasten und wägen läßt, aber sie ist doch ein Etwas, und Bismarck hat das wiederholt fac-

tisch anerkannt z. B. durch seine Thätigkeit in der Presse, die, wie wir

aus dem vorliegenden Buch erfahren, in Frankfurt einen Haupttheil seiner Zeit in Anspruch nahm.

Es wird einem

wesentlich

handelnden Menschen sehr schwer,

unter diesem Schattenbegriff etwas Bestimmtes vorzustellen.

sich

Es ist mir

wiederholt aufgefallen, wie bei jeder etwas lauten Meinungsäußerung im Parlament der Kanzler sich sofort die Frage vorlegte: was bezweckt der

Mann damit? was hat er für Interessen? oder wenn er keine hat, wer steht hinter ihm? Er hat zuweilen glänzend divinirt, zuweilen aber auch sich

gründlich getäuscht, weil er nicht die Möglichkeit erwog, daß der Mann

garnichtS bezweckte, gar keine Interessen hatte, daß Niemand hinter ihm

stand, sondern daß er einfach seine Meinung sagen wollte. Dem wesent­

lich handelnden Menschen kommt eS unbegreiflich vor, daß man in bloßem Urtheilen und Meinen sich genügen könne. Aber diese blos reflectirenden Menschen bilden, namentlich in Deutschland, die ungeheure Mehrheit dessen,

waS man zu gewissen Zeiten „Publicum", zu andern Zeiten „Volk" nennt. Auch gerade die stark beschäftigten Leute, die nicht zu den eigentlich Handeln­ den gehören, weil sie nur mit mehr oder minder Sorgfalt ausführen, was

ihnen aufgetragen ist oder woran sie gewöhnt sind, hegen die Sphäre des

UrtheilenS und Meinens als ihr eigenstes Heiltgthum: hier sind sie frei, hier sind sie Menschen, im Geschäft sind sie Maschinen.

Nun entspricht

der Neigung zum Urtheilen nicht immer die Produktivität im Urtheilen, man läßt sich, ohne es zu wissen, seine Meinungen geben, aber wie we­

nig Werth sie an sich haben mögen, sie verwachsen mit dem Gemüth; sie sind ihrer Natur nach bequem, konservativ, dem Wechsel, namentlich dem schnellen Wechsel abgeneigt, und es ist sehr gefährlich, sie unvorbereitet in

eine andere Richtung schieben zu wollen.

Die berühmten Lustspielscenen,

welche das Publicum als dem schnellsten Wechsel leicht ausgesetzt darstellen,

entsprechen keineswegs der Wirklichkeit, wenigstens in Deutschland nicht.

Mit Gewalt richtet man gegen die Meinungen garnichtS aus.

Vielmehr

wenn sie durch starken Widerspruch gereizt und in Bewegung gesetzt wer­ den, so wachsen sie in geometrischer Progression, bis sie endlich in Höhen

dringen, die weit über ihrem Horizont zu liegen scheinen. Der reflectirende Mensch mag gegen dieses Wesen seine Gering­

schätzung auösprechen; der handelnde Mensch muß sich die Frage vorlegen:

wie weit ist eS fähig, ein Factor der Wirklichkeit zu werden? Julian Schmidt.

Die neueste Phase der egyptischen Frage. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 12. Juni 1882. Die vielleicht

Mittelmeer-Frage entscheidendes

Pharaonenlandes

ist in den letzten Wochen in

getreten.

Stadium

Ueber

das

ein neues,

Schicksal

des

werden dieses Mal die Würfel noch nicht geworfen

werden, aber die schweren diplomatischen Fehler, deren sich England und

Frankreich seit Jahresfrist schuldig gemacht haben, werden wenigstens das eine, wenngleich negative Resultat herbeiführen, daß der Schutzherrschaft der beiden Alliirten

und

doch

engere Schranken gezogen werden.

rivalisirenden

Großmächte

in Ephpten

Das türkische Schutzdach über Egypten,

welches schon im Jahre 1879 aufgeschlagen wurde, wird gegen künftige Stürme besser befestigt werden, mag nun Arabi Bey durch die moralische

Einwirkung des

Pfortencommissars

oder durch

türkische

Truppen

zur

Achtung vor den bestehenden Rechtszuständen des Landes zurückgeführt werden.

Die neueste egyptische Crisis hat eine unverkennbare Aehnlichkeit mit derjenigen von 1879, welche zu

Pascha führte.

Wie damals

der Absetzung des Vicekönigs Ismail

ist auch heute das Recht der egyptischen

Nation die Fahne, unter der der Vorstoß gegen die fremden Eindringlinge unternommen wird, nur mit dem Unterschiede, daß der Vorstoß dieses

Mal von dem Haupte der sogenannten Militairpartei gegen den unter

dem maßgebenden Einfluß der Westmächte stehenden Khedive unternommen wird, während im Jahre 1879 der Vorgänger Tewfik Pascha's die hei­

ligen Rechte der egyptischen Nation als Vorwand benutzte, um sich der Curatel der westmächtlichen Minister der Finanzen und der össentlichen

Arbeiten zu entziehen.

Das Resultat der 16jährigen Regierung Ismail

Paschas war eine colossale Bereicherung des Vicekönigs, in dessen Besitz sich

der größte Theil der fruchtbaren Ländereien befand schuld von über

und eine Staats­

100 Millionen Pf. St., deren Verzinsung zu

die Westmächte im Jahre 1878 unternommen hatten.

sichern,

Der Khedive wurde

Nubar Pascha zurück­

neuer Anleihen gezwungen,

durch Verweigerung

zurufen und an die Spitze eines Ministeriums zu stellen, in welchem der Engländer Wilson

als Finanzminister und der Franzose de Bligniöres

als Minister der öffentlichen Arbeiten fungirte.

Italien hatte vergebliche

Anstrengungen gemacht, sich gleichfalls einen Einfluß auf die Verwaltung

europäischen Gläubiger zu sichern.

Die Be­

kehrung des Khcdive zur Sparsamkeit war von kurzer Dauer.

Die von

Egyptens zu Gunsten der

dem Khedive selbst in Scene gesetzte gtevolte von etwa 400 Officieren,

welche

das

Ministerium

aus Sparsamkeitsrücksichten,

obendrein

ohne

Zahlung des rückständigen Solds entlassen hatte, lieferte den Vorwand

für die Entlassung des Ministeriums Nubar Pascha (18. Februar 1879),

der wenige Monate später der „Staatsstreich" des egyptischen Herrschers

folgte.

Es

war das

der letzte Versuch, den

von der internationalen

Enquete-Commission für nothwendig erachteten Verwaltungsreformen aus

dem Wege zu gehen.

In seinem Schreiben an Cherif Pascha, der mit

der Bildung des neuen, „nationalen" Cabinets beauftragt wurde, wird

die Erweckung des Nationalgefühls gegen das frühere Ministerium dem

von dem englischen Finanzminister entworfenen Finanzplan zugeschrieben, welcher von der Voraussetzung ausging, daß Egypten zahlungsunfähig sei.

?lls Gegengewicht gegen die Ausbeutung des Landes zu Gunsten der aus­ wärtigen Gläubiger sollte ein Parlament berufen werden, Minister „wirklich verantwortlich" sein würden.

welchem die

Die Controls der Finanz­

verwaltung sollte dem europäischen Einflüsse entzogen und ausschließlich wieder von der egyptischen Regierung geübt werden.

testirt Deutschland in einer Note, der sich

Am 12. Mai pro-

nach und nach die übrigen

Großmächte anschlossen, gegen diese Verletzung der Rechte der Gläubiger,

und da der Khedive nicht nachgab, wurde er am 26. Juni durch einen auf Anrufen der Großmächte erlassenen Jrade des Sultans abgesetzt und sein

Sohn Tewfik zu Rechte

und

seinem

Nachfolger

Pflichten in dem

ernannt.

Tewfik

von dem Sultan

Pascha,

dessen

erlassenen Jnvestitur-

Decret genau festgesetzt wurden, hatte den Großmächten gegenüber, welche seine Einsetzung veranlaßten, von vorn herein eine ungleich beschränktere

Stellung als sein Vater.

Die financielle Controle EgyptenS wurde von

den Großmächten in aller Form England und Frankreich übertragen, die somit zu Mandataren Europas bestellt wurden.

Der erste Ansatz zu

einer völligen Verschiebung der Verhältnisse war gegeben. vestitur-Decret hatte der Sultan

als

seine

In dem In­

ausdrücklich die Bewohner EgyptenS

„Unterthanen" in Anspruch

genommen.

Durch die Verein­

barung vom 13. October 1879 hatten England und Frankreich ihre selbst­ ständige Stellung eingebüßt.

Ihre Vertreter in Egypten mußten sich mit

der Stellung von Generalcontroleuren begnügen,

während

eine inter­

nationale LiquidationScommission, zu der freilich England und Frankreich vier von sieben Mitgliedern bestellten, die eghptischen Finanzverhältnisse end­

gültig regelte.

Auf der Grundlage ihrer Beschlüsse wurde Ende 1880

das eghptische Budget mit einem für die Verhältnisse des Landes nicht unerheblichen Einnahme-Ueberschuß festgestellt. Kein Wunder, daß Tewfik Pascha, der sich der Oberherrschaft des

Sultans und den Beschlüssen

Europas

rückhaltlos

unterworfen hatte,

im Lande selbst jeder selbstständigen Autorität entbehrte. seiner

Einsetzung

hatte

der

Khedive

die

Armee,

Sofort nach

welche

im Frieden

16,000 Mann stark sein durfte, auf 12,000 Mann reducirt; ein Schritt,

der ebenso wie die früheren Ersparnißmaßregeln Nubar Paschas, ihm die unversöhnliche

Feindschaft

der

Militairpartei

Begreiflicher

eintrug.

Weise trugen die Orientpolitik Englands, die Expedition Frankreichs nach Tunis, die Aufstände in Algier nicht dazu bei, die muhammedanische Be­

völkerung Egyptens mit den Westmächten

auszusöhnen.

Aber was die

Hauptsache ist: die Militairpartei fand in Arabi Bey einen energischen

und rücksichtslosen Führer, dessen Ziel kein anderes war,

als die Be­

seitigung des regierungsunfähigen Tewfik Pascha. Unglücklicher Weise, für die Westmächte und den Khedive nämlich,

brachten die Neuwahlen zur französischen Deputirtenkammer Gambetta an

die Spitze der Regierung.

Das letzte englische Blaubuch über Egypten

hat über die auswärtige Politik Gambetta's einige Enthüllungen an's Licht gebracht, welche die instinctive Beunruhigung Europa's

französischen Möglichkeiten vollauf gerechtfertigt haben.

über die

Egypten

der Anlaß zu einer intimen englisch-französischen Allianz werden.

sollte

„Wenn

eS irgend Jemandem", schrieb Gambetta, „gelingen könnte, auch nur einen kleinen Finger zwischen England und Frankreich in der egyptischen Frage einzuzwängen, dann wäre alles Gute, was die Westmächte in Egypten

thaten und thun können, zu Ende.

Ja, noch mehr, auch das Zusammen­

wirken der Westmächte in der ganzen Welt, welches so viel Ersprießliches

für die ganze Menschheit erzielen könnte, wäre beendet."

Vorerst sollte

dieses Zusammenwirken der Westmächte in Egypten gleichzeitig den Einfluß

deS Sultans und Europa's beseitigen. Einen Augenblick schien England ge­ neigt, auf diesen verwegenen Plan einzugehen. Aber die erste Kundgebung der

West-Mächte in der Note vom 8 Januar d. I. stieß auf den Protest deS

Sultans und der übrigen Großmächte. machen lassen.

Noch Ende Januar,

Gambetta wollte sich nicht irre

wenige Tage vor seinem Sturze,

schrieb er nach London, Englands Stellung in Egypten sei wegen Indiens

ohne Gleichen, während Frankreichs Stellung als große africanische Macht

auch in Egypten eine ganz ausnahmsvolle sei.

die Westmächte

sollten die

Er beantragte demnach,

eghptische Angelegenheit kurzer Hand

und

allein lösen. Leider hatte Freycinet, der die Erbschaft Gambetta'S antrat, nicht

den Muth, vollständig mit dieser phantastischen Politik zu brechen.

ES

mag sein, daß Gambetta hoffte, der Sultan und die Großmächte würden eS bei Worten bewenden lassen, wenn sie England und Frankreich fest

entschlossen sähen, rechnen.

mit Arabi Bey

und Genossen

ohne Weiteres abzu­

Aber mit einer Hand voll Marinesoldaten war das Ziel nicht

zu erreichen, und wenn es zu einem Kampf mit der egyptischen Armee

kam, so konnte sich doch herausstellen, daß

daS

Wiedererwachen deS

Muhamedanismus selbst auf den Fellah Egyptens nicht ohne Wirkung geblieben.

Frankreichs

Daß selbst Gambetta an die Möglichkeit einer Verständigung

und Englands

über

die Zukunft Egyptens

geglaubt habe,

erscheint völlig ausgeschlossen; nicht weniger freilich eine gewaltsame Aus­

einandersetzung zwischen den beiden Concurrenten.

Gambetta konnte die

eghptische Unternehmung nur dann als Kitt für ein englisch-französisches Zusammenwirken „in der ganzen Welt" verwerthen, wenn er entschlossen war, die Allianz Englands auch gegen Deutschland und Oesterreich mit

dem Verzicht Frankreichs auf Egypten zu erkaufen. Freycinet, der bei ber Uebernahme deS Ministeriums gegen die Po­ litik der Abenteuer Gambetta'S protestirte, würde den Interessen Frank­

reichs besser gedient haben, wenn er auch auf die Mittel der Gambettistischen Politik verzichtet hätte.

Die Sonderaction

der Westmächte,

die

Sendung englischer und französischer Kriegsschiffe nach Alexandrien ist für

Niemanden nützlich gewesen als für Arabi Bey, der sich neben dem den West­

mächten gegenüber allzunachgiebigen Khedive als Vertreter der Rechte des

Sultans geriren konnte.

Tewfik Pascha hat sich in der That als unfähig

erwiesen, zwischen den Westmächten und der Pforte eine selbstständige

Stellung einzunehmen.

Als er, für einen Augenblick freilich nur, Arabi

Bey auf den Befehl der Westmächte, obgleich dieselben jede Fühlung mit

Europa, ihrem Mandanten, verloren hatten, zum Rücktritt zwang, unter­ grub er die Basis seiner Existenz. er

Andererseits hat Arabi Bey, indem

offen gegen die Aussaugung Egyptens zu Gunsten der europäischen

Gläubiger desselben protestirte

und

die Beseitigung

der Finanzcontrole

Europa's zu seinem Programm machte, auch die Pforte in die Unmöglich­

keit versetzt, mit ihm zu pactiren.

Indessen ist nicht Tewfik Pascha, son­

dern Arabi Bey thatsächlich im Besitz der Gewalt.

Mit diplomatischen

Mitteln allein wird demnach die Verwirrung in Egypten schwerlich gelöst werden können, und deshalb ist es begreiflich, daß die Pforte keine Nei-

gung bezeigt, die Regelung der Verhältnisse einer Botschafter-Conferenz in

Constantinopel zu überlassen, mit deren Berufung

Blößen ihrer eghptischen Politik verdecken möchten.

die Westmächte die

Die Westmächte haben

im Jahre 1875 die Souzeränetätsrechte des Sultans anerkannt, weil die Ausübung derselben ihren Ansprüchen zu Gute kommen mußte; sie können

sich nicht darüber beklagen, daß der Sultan heute dasselbe Recht einem Khedive gegenüber in Anspruch nimmt, der die Interessen Egyptens und des Sultans im Dienste der Westmächte mißachtet hat.

Daß die Fehler,

welche die Cabinette von London und Paris begangen haben, nicht auf

die europäischen Gläubiger Egyptens zurückfallen, dafür werden auch die Ostmächte ihren Einfluß einsetzen; aber sür die Zukunft wird es unerläßlich

sein, die Grenzen des europäischen Mandats, dessen Träger die Westmächte

sind, genau zu bezeichnen und besser als bisher den Interessen Egyptens selbst, dem Rechte des Landes auf eine selbstständige politische und wirthschaftliche Entwickelung, welche in letzter Instanz auch den europäischen

Gläubigern zu Gute kommen wird, Rechnung zu tragen.

Der Augenblick

ist um so günstiger, als keine der dircct interessirten Mächte in der Lage

ist, den Jnteressenkampf auf die Spitze zu treiben.

Eine gesunde und

vorschauende Politik wird dafür zu sorgen haben, daß nicht die eine oder andere Macht, unter dem Vorwande, die Rechte der Gläubiger Egyptens

zu vertreten, in ihrem Sondcrinteressc und zu politischen Zwecken Egypten mitsammt dem Suezcanal, der doch nur der englische Weg nach Indien ist, mit Beschlag belegt.

Nachschrift.

Die inzwischen in Alexandrien wenige Tage nach der Ankunft des Pfortencommissars zum Ausbruch gekommene Bewegung gegen die Frem­

den, welche am 11. d. M. bereits zahlreiche Opfer gefordert hat, ist, ab­

gesehen von dem unmittelbaren Anlaß,

der Ermordung

eines Arabers

durch einen Malteser, ohne Zweifel auf die von Arabi Bey und seinen Freunden genährte Vorstellung zurückzuführen, daß das bisher von den

Fremden ausgebeutete egyptische Volk auf die Unterstützung des Sultans gegen die Westmächte,

die durch

die Sendung von Kriegsschiffen ohne

Truppen die einheimische Bevölkerung nur erbittert, nicht erschreckt haben, rechnen könne.

Daß die Gährung grade in Alexandrien, der Hafenstadt

mit einer bunt zusammengewürfelten Bevölkerung von Einheimischen, Eng­ ländern, Franzosen, Italienern, Maltesern blutige Blasen getrieben hat,

kann nicht überraschen.

Die Vorgänge vom 11. Juni sind das Signal

zum Exodus der in Cairo und Alexandrien ansässigen Europäer geworden,

deren Rettung einzig und allein von dem guten Willen Arabi Bey's und

von der Nichtintervention der Westmächte abhängt.

Der bloße Versuch,

europäische Truppen in Alexandrien auszuschiffen, würde zu einem entsetz­

lichen Blutbade führen.

Selbst Tewfik Pascha hat sich beeilt, unter dem

Schutze seines meuterischen Kriegsministers und in Begleitung des türki­ schen Commissars Cairo zu verlassen und sich nach Alexandrien unter dem

Schutz

der Kanonen der französisch-englischen Kriegsschiffe

Arabi Bey

ist thatsächlich unbeschränkter Machthaber,

zu begeben.

und wenn diese

Wendung der Pforte nicht zusagt, hat sie alle Ursache zu bedauern, daß

sie Derwisch Pascha ohne eine Truppenmacht von 8 bis 10,000 Mann nach Egypten schickte, um dort die grüne Fahne des Propheten zu ent­

falten.

Mag die Diplomaten-Conferenz, die von den Westmächten in ihrer

Verlegenheit immer dringender verlangt wird, etwas früher oder etwas später zufammentreten — die Macht, die Egypten den Egyptern wieder

streitig machen will, wird daS Land mit Waffengewalt erobern müssen. 1t.

Preußische Jahrbücher, ißt. XLIX. Heft 6.

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Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.