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German Pages 210 [212] Year 1974
EZH
Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung Band 19 Herausgegeben von Kurt Koszyk, Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund
Manfred Overesch
Presse zwischen Lenkung und Freiheit Preußen und seine offiziöse Zeitung von der Revolution bis zur Reichsgründung (1848 bis 1871/72)
EZH
1974 Verlag Dokumentation, Pullach bei München
Gedruckt mit Unterstützung der STIFTUNG WISSENSCHAFT UND PRESSE. Hamburg
© 1974 by Verlag Dokumentation Saur KG, Pullach bei München Gesamtherstellung: Anton Hain KG, Meisenheim/Glan Printed in West Germany ISBN 3 - 7 9 4 0 - 2 5 1 9 - 9
Vorwort
Offiziöse Zeitungen sind das Instrument, mit dem die konstitutionellen Monarchien Europas im 19. Jahrhundert Pressepolitik betrieben haben. Das gilt fUr Berlin ebenso wie für Wien, Paris, Petersburg oder London. Das Wort "offiziös" ist vom französischen "officieux" abgeleitet und bedeutet "halbamtlich". Gemeint sind damit Presseorgane, durch die eine Regierung nicht geradezu amtlich, d. h. offiziell, spricht, aber doch so, daß den hier publizierten Nachrichten und Kommentaren ein größeres Gewicht beigelegt werden kann als jenen Äußerungen, die von Privatpersonen ausgehen. Dieser Tatbestand kennzeichnet den Charakter offiziöser Zeitungen aber nur zur einen Hälfte. Im 19. Jahrhundert beginnen Politik und Presse interdependente Größen zu werden. Die Ursachen liegen im Wesen der Demokratie begründet. Die Entwicklung nimmt in Deutschland spätestens 1848 ihren Anfang. Konservative Regierungen, die in der monarchischen Tradition vergangener Jahrhunderte leben, können diesem Prozeß nicht tatenlos zusehen. Sie müssen ebenfalls pressepolitische Aktivität entwickeln. Doch das Publikum "will durchaus nichts lesen, was von der Regierung ausgeht. Es will sich seine Meinung wohl machen lassen, aber nicht von Regierungsorganen" (s. Anhang Nr. 3). Deswegen versuchen alle europäischen Kabinette, Zeitungen zu gründen, die dem Leser als unabhängig erscheinen, deren politische Richtung aber jederzeit lenkbar bleibt. Auch das sind also offiziöse Presseorgane, möglichst zuverlässige, aber in ihrer Bindung an die Regierung unerkannte Blätter. Die vorliegende Untersuchung will die Geschichte dieser Zeitungen in Preußen von 1848 bis 1 8 7 1 / 7 2 darstellen; sie sucht ihren Funktionswert, aber auch deren Probleme zu erfahren. Die Forschung hat dafür bisher nur wenige Vorarbeiten geleistet. Der Grund mag in der zum T e i l delikaten Natur des Materials liegen, in seiner weitgehenden und mitunter bis auf den heutigen Tag gewahrten Geheimhaltung, aber auch in seiner Fülle. Langfristige Archivbesuche und umfangreiche Studien in den betreffenden Zeitungen und Akten, Nachlässen, persönlichen Briefen, Tagebüchern und anderen privaten Quellen waren notwendig. Die Ergebnisse mußten häufig mosaikartig zusammengesetzt werden. Eine über die Grenzen der BRD hinausgehende Korrespondenz mit noch lebenden Nachkommen jener Journalisten und Politiker, die mit der Geschichte der preußischen offiziösen Zeitungen in Zusammenhang standen, brachte manch wertvollen Hinweis. Viele Briefe, besonders in die DDR, blieben aber auch unbeantwortet. Die Lücken, die der 2. Weltkrieg in den Quellenbestand gerissen hat, besonders durch die Zerstörung vieler Zeitungsarchive, sind heute nicht mehr zu schließen. Die Darstellung kann und will das nicht verschleiern. Um so dankbarer begrüßt der Verfasser die ihm zuteilgewordene Hilfe der Direktoren des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn, des Bundesarchivs in Koblenz, des Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem, des Bismarckarchivs in Friedrichsruh, des Hauptstaatsarchivs in Düsseldorf, des Internationalen In-
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stituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, des Deutschen Zentralarchivs in Potsdam und Merseburg und des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien. Neben vielen Privatpersonen fühlt sich der Verfasser besonders Herrn Chefredakteur Joachim Pindter in Freiburg zu Dank verpflichtet. Herr Pindter hat nicht nur das unter seiner Verwaltung stehende Familienarchiv großzügig zur Verfügung gestellt, sondern auch viele und weiterhelfende Hinweise zur Geschichte seines Großvaters Emil Friedrich Pindter gegeben. Herr Professor Naujoks hat diese Arbeit, die auf seine Anregung zurückgeht, begleitet und gefördert.
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Inhalt Vorwon Abkürzungsverzeichnis Einleitung
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I . Die Anfänge einer offiziösen Pressepolitik in Preußen: Die Geschichte der "Deutschen Reform" 1848-1851 A. Die Motivationskraft der Revolution von 1848: Mildes Versuch eines "pressepolitischen Coups" B. Die Ausformung einer redaktionellen und ökonomischen Konzeption für die gouvernementale "Deutsche Reform" 1. Das Angebot an Friedrich Harkort 2. Die grundlegenden redaktionellen und ökonomischen Vorschläge des Gutachters Zinkeisen C. Die Zeitung im Widerstreit zwischen Absicht und Realität D. Das Wachsen des politischen Gegensatzes zwischen der Regierung und der Redaktion und das Ende der "Deutschen Reform"
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II. Von der offenen zur verdeckten Offiziösität: Von der "Zeit" zur "Allgemeinen Preußischen (Stern-)Zeltung" A. Die Geschichte der "Zeit" 1850-1858 1. Die publizistische Initiative des "Comités patriotischer Männer" 2. Die offiziöse "Zeit" als "Privatzeitung" Quehls 3. Das schwankende Interesse der Regierung an ihrer Zeitung . . . B. Max Duncker und die Neubesinnung Uber offiziöse Pressepolitik während der "Neuen Ära" in Preußen C. Die "Preußische Zeitung" im Spannungsfeld verdeckter Offiziösität 1. Der fehlgeschlagene Versuch mit der Weidmannschen Buchhandlung 2. Der Ausbruch der systemimmanenten Fehler unter dem Verleger Trowitzsch 3. Das Ende der "Allgemeinen Preußischen (Stern-)Zeitung" unter dem Verleger Decker
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III. Der Übergang zur freiwillig gouvernementale!! "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" Vorbemerkung A. August Heinrich Braß - ein preußisch-deutscher Patriot als Publizist in der Schweiz 1. Patriot und Revolutionär 2. Die Aufnahme der Beziehungen zu dem Genfer Publizisten . . 3. Die "Genfer Grenz-Post" als freiwillig gouvernementale preußische Auslandszeitung B. Der Ruf nach Berlin C. Die Umwandlung des Skandalblattes "Montagszeitung Berlin" in die gouvernementale "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" 1. Zum Charakter der "Montagszeitung" 2. Wehrenpfennigs geheimes Presseunternehmen und die Realität 3. Die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" am Vorabend der Berufung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten . . .
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IV. Bismarck und sein "Leibblatt" - Erfolg und erste Krise mit der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" A.
Bismarcks Initiativen im Herbst 1862 1. Die Vorschläge Zitelmanns und Wageners zur Neuorganisation des Pressewesens 2. Der endgültige Schritt von der offiziösen "Sternzeitung" zum freiwillig gouvernementalen Braß-Organ 3. Die Problematik der neuen publizistischen Lage B. Die Funktion der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" im Vorfeld der Diplomatie - Erfolge und Fehlgriffe 1. Die ersten Jahre der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" unter Bismarck 2. Der pressepolitische Einsatz der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" gegenüber Frankreich a) die "Nordschleswig"-Frage im Sommer 1867 b) das Salzburger Kaisertreffen im August 1867 3. Die erste schwere Krise in dem gouvemementalpersönlichen Verhältnis zwischen Bismarck und Braß
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V. Emil Friedrich Pindter - Vom Österreichischen Agenten zum preußischen Chefredakteur A. Der unerkannte österreichische Agent in der preußischen Zeitung 1. Vom Offizier zum Agenten - Der prädestinierende Lebenslauf Pindters bis zum Eintritt in die Redaktion der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" im August 1865 8
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2. Agent und Redakteur in der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" 6. Das Ende der "Ära Braß" und die Berufung Pindters Vorbemerkung Uber Änderungen in dem "Pressedezernat" des Auswärtigen Amtes 1. Die zweite und entscheidende Krise zwischen Braß und Bismarck 2. Aegidis undurchsichtige Rolle bei der Entlassung von Braß und der Übereignung der Zeitung an ein Hamburger Konsortium 3. Pindters Berufung zum Chefredakteur und die "neue" Lage . . Anmerkungen Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis
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143 147 151 190 206
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Abkürzungsverzeichnis
Amst. Arch.Fam.P. BA DZA DZA II Fried. GStA HHSt PA
Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam Archiv Familie Pindter, Freiburg Bundesarchiv, Koblenz Deutsches Zentral-Archiv, Potsdam Deutsches Zentral-Archiv, Hist.Abt. II, Merseburg Bismarck-Archiv, Friedrichsruh Geheimes Staatsarchiv, Berlin-Dahlem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn
NL PT
Nachlaß Pindter Tagebuch
AAZ KZ NAZ
Augsburger Allgemeine Zeitung Kölnische Zeitung Norddeutsche Allgemeine Zeitung
APP BGW
Die Auswärtige Politik Preußens 1858-1871 Bismarck, Die gesammelten Werke
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Einleitung
Das "International Press Institute" (IPI) in Zürich spricht in seinem Jahresbericht 1972 von einem "neuen Jahr verlorener Schlachten" im Kampf um die Pressefreiheit. (1) In kommunistisch regierten Ländern sieht der Überblick nicht einmal Anzeichen für eine freiere Meinungsbildung keimen. Für demokratische Staaten hinterlaßt er den Eindruck eines allgemeinen Rückschritts der Informationsfreiheit. Häufiger seien hier Versuche zu registrieren, die Massenmedien zu beeinflussen, Journalisten einzuschüchtern und den Glauben zu erwecken, das Interesse der gerade herrschenden Regierungen entspreche zwangsläufig dem des Staates und seiner Bürger; folglich könne es zu vielen Themen nur eine Meinung in der Presse geben. Zu den wenigen positiven Ausnahmen rechnet der Bericht die Bundesrepublik Deutschland und bescheinigt ihr, keine Beschränkungen der Pressefreiheit zu kennen. Art. 5 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes garantiert eine freie und Öffentliche Erörterung aller interessierenden Themen, auch der politischen. Ein darin begründetes Spannungsverhältnis zwischen Publizistik und Regierung wird von allen Beteiligten als natürlich empfunden, weil es die staatliche Macht im Sinne der demokratischen Verfassung kontrollieren hilft. Die Grundlage der freien Diskussion, eine möglichst breite Information, hat das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung erst jüngst als "wesentlich" bezeichnet und die Pflicht der Regierung anerkannt, alle Publikationsorgane "zur gleichen Zelt und in gleichem Umfange" zu unterrichten und selbst vertrauliche Informationen stets einem "möglichst fair ausgewählten Kreis von Journalisten" zugänglich zu m a chen, also nicht nur ihren publizistischen Lobrednern, (2) Dieses Angebot und die Anerkennung aus Zürich können aber nicht darüber hinwegtauschen, daß auch in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich des öffentlichen Meinens kritische Schlagworte geradezu inflationär in Umlauf gesetzt sind. "Manipulation der öffentlichen Meinung", "Monopolistische Kontrolle von Information und Meinungsäußerung", "Diktatur der Meinungsmacher", "Runclfunk- und Fernsehmonopol", "Herrschaft bestimmter Verlagsgruppen", "Pressekonzentration", "Gleichschaltung" und ähnliche Worte suchen - auf tatsächlich gegebene Sündenfälle bezogen, diese aber allzu oft vergröbernd und verallgemeinernd - die Öffentlichkeit aufzuschrecken und das Menetekel eines nahen Endes der Pressefreiheit an die Wand zu schreiben. (3) Der Grund solcher Kassandrarufe ist vor allem die Einsicht in die Macht der Presse. Zeitungen - seit etwa 50 Jahren vom Rundfunk, seit 20 Jahren vom Fernsehen unterstützt - stehen in einer direkten Beziehung zur öffentlichen Meinung. Sie artikulieren diese, das soll heißen, sie veröffentlichen sie, üben einen Druck auf sie aus, oder bilden sie erst. (4) Damit sind sie nicht nur Ausdruck der politischen Wirklichkeit, sondern in ihr auch ein gewichtiger kreativer Faktor. In der Innen- und Außenpolitik nehmen Intensität und methodische Vielfalt einer Politik mit der Presse ständig zu. 11
Das 19. Jahrhundert hat dafür entscheidende Vorarbeiten geleistet. Ein bedeutendes entwicklungsgeschichtliches Merkmal der deutschen Presse in jener Zeit ist die Herausbildung der Pressefreiheit, ein anderes das Entstehen der Parteipresse. (5) Beide sind vielfach Motiv und Ergebnis der großen Revolutionen g e wesen und gleichsam der publizistische Ausdruck von Demokratie und Liberalismus geworden. Wie die Parteien als Gruppen, so hat die jeweilige Regierung als verantwortlicher Repräsentant des Staatsganzen das neue Medium zu nutzen gesucht. Die Propaganda mit der Presse trat als eine zweite Front neben die herkömmliche von Parlament und Diplomatie. (6) Beide wirkungsvoll zu kombinieren, haben Metternich und Beust für Österreich, Napoleon III. für Frankreich und besonders Bismarck für das neue deutsche Reich versucht. Auch wenn Bismarck noch im Jahre 1863 sagte, "nicht aus Kammern- und Preßpolitik, sondern nur aus waffenmäßiger Großmachtspolitik" gehe die Stärkung eines Reiches - hier des deutschen - hervor (7), so hat er sich doch zum Meister der Pressepolitik entwickelt, vielleicht "wider Willen" (8), sicher aber mit Erfolg. Das hat Schatten auf die sich entwickelnde Pressefreiheit geworfen. Die bekannte Forderung Friedrichs II. von Preußen, die dieser im FrUhsommer 1740 seinem Kabinettsminister Heinrich Graf Podewils anvertraute, "daß Gazetten wenn sie intereßant seyn solten nicht geniret werden mllsten" (9), hat Bismarck wenig bekümmert, Friedrich den Gr. auch nicht. Schon als preußischer Parlamentarier hat der spätere Reichskanzler versucht, Einfluß auf die Presse zu gewinnen, zuweilen mit fast unzumutbarem Druck auf die zunächst Betroffenen. Die Presse, die ihm dafür in erster Linie zur Verfügung stand - er hat sie sich nicht erst geschaffen - war die offiziöse, ein Publikationsmedium und Propagandainstrument aller konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts, das seinen Funktionswert im Augenblick des Übergangs von der geheimen zur öffentlichen politischen Diskussion gewonnen hat. Es handelt sich dabei nicht um eine amtliche, also offizielle Zeitung; sie ist aber auch keineswegs völlig frei. Mit ihrem politischen T e i l soll sie der Regierung zur Verfügung stehen, ihr stets "ein Quantum weißes Papier zur Disposition" stellen (10) und darauf amtliche Ansichten als ihre eigenen vertreten. Das kann tägliche Abhängigkeit, aber auch für Wochen Selbständigkeit bedeuten. Die Zeitung erlangt dennoch den Ruf, Sprachrohr der Regierung zu sein. Im internationalen Dialog wird sie ein Kommunikationsmittel, mit dem man öffentlich, zuweilen auch offener als in der Diplomatie, reden kann, aber ohne direkte Verantwortlichkeit; diese liegt bei der Redaktion. Dem Leser soll die Zeitung als ein unabhängiges, höchstens gelegentlich inspiriertes Organ erscheinen. Doch rein äußerlich unterscheiden sich solche Einsendungen nicht von den übrigen. Die Artikel bleiben anonym, die Schrifttypen unverändert. Jede offiziöse Zeitung steht dadurch zwischen Lenkung und Freiheit. Das wirft Probleme nach beiden Seiten auf, für den Redakteur, seinen Drucker und Verleger, aber auch für die Regierung und ihre pressepolitisch aktiven Mitglieder. Zudem wird das Prinzip der "anerkannten" und weitgehend gewährten Pressefreiheit in Frage gestellt. Die vorliegende Arbeit will in diesen Komplex tiefer 12
eindringen, als es die Forschung bisher getan hat. Sie untersucht die Möglichkeiten einer offiziösen Presse, aber auch die in und mit solchen Blättern begründeten ideellen, politischen (11) und wirtschaftlichen Gefahren. Ihr Gegenstand sind Eigenart, Wert und Ruf dieser Zeitungen in Preußen mit einem Überblick Uber deren innerredaktionelle Geschichte. Die historische Phase von der 48er Revolution bis zur Reichsgründung stellt den zeltlichen Rahmen dar, in dem sich diese Presseart in Preußen, nach Anfängen unter Stein und Hardenberg, entwickelt hat. Erste, den Charakter einer solchen Presse näher erläuternde Beispiele lassen sich aus der Gegenwart schwerlich anführen. In einer modernen parlamentarischen Demokratie kann es ein offiziöses Blatt im Sinne des 19. Jahrhunderts nicht mehr geben. Zunächst widerspräche seine Existenz dem Prinzip der Pressefreiheit, zum anderen wäre es bei der täglichen Kontrolle von Seiten der Behörde für die Öffentlichkeit uninteressant, weil selten aktuell, nicht informativ genug, zu distanziert gegenüber den Ereignissen, zu unkritisch gegenüber der Regierung. Ein solches Blatt könnte sich wegen tausend-fältiger Rücksichten gegen die Konkurrenz auf dem publizistischen Sektor nicht durchsetzen und würde dem raschen wirtschaftlichen Ruin entgegengehen. An die Stelle der offiziösen Zeitung ist im 20. Jahrhundert zum großen Teil die Pressekonferenz getreten. Die Regierungen geben heute statt einer gedruckten eine gesprochene Zeitung heraus. (12) Die Zeit von 1848 bis 1871/72 erbringt in Preußen Beweise dafür, daß eine amtliche Pressepolitik mit den Mitteln einer offiziösen Zeitung auf die Dauer auch ein untaugliches Mittel publizistischer Propaganda wird. Die Regierung investiert viel Geld, muß für ständige Informationen sorgen, will und kann aber nicht Jeden Artikel schreiben. Bei selbständigen Beiträgen der Redaktion setzt sie sich der Gefahr aus, in ihren Absichten falsch interpretiert zu werden. Ständige Überwachung und gelegentliche Dementis in einem offiziellen Organ werden notwendig, belasten aber das Verhältnis beider Partner. Der Leser quittiert die mangelnde Glaubwürdigkeit mit der Ablehnung eines solchen Blattes. Nur selten finden sich besonders talentierte Redakteure bereit, unter diesen Umständen eine solche Zeitung zu redigieren. (13) Dem Leser soll der Redakteur als freier Publizist erscheinen. Er ist es aber nicht. Über Mittelsmänner hat die Regierung ihn vertraglich an sich gebunden. Themen und Ton der Berichterstattung seiner Zeitung vermögen das Geheimnis nicht lange zu hüten. Die Konkurrenz wird aufmerksam und nützt die günstige Gelegenheit, mit der offiziösen Zeitung zu polemisieren, um die Regierung zu treffen. Die Öffentlichkeit merkt das nur zu bald. Das Blatt gewinnt kaum einen großen Leserkreis, muß mit hohen Geldbeträgen subventioniert werden, erreicht aber trotzdem keine rechte publizistische Wirkung. Die preußische Regierung hat diese Nachteile bald erkannt, aber auf eine offiziöse Pressepolitik vor der Jahrhundertwende nicht verzichten wollen. Wohl lockerte sie die Bindungen zu ihrer Zeitung, gab sogar eine vertragliche Sicherung ihres Einflusses auf und suchte sich mit einem freiwillig gouvernementalen Redakteur zu arrangieren. Dabei behielt sie durch die Vergabe von Subventions13
geldern zunächst noch eine Garantie in der Hand, bis sie auch davon abließ und sich im wesentlichen nur auf die Ergebenheit des ersten Mannes in der Redaktion stutzte. (14) Doch die Spannungen wurden dadurch auf die Dauer nicht gemildert, falsche Darstellungen von Regierungsintentionen in den Spalten einer solchen Zeitung nicht ausgeschlossen, ihre Meinungsfreiheit nicht hergestellt. Ihr Ruf blieb in der Öffentlichkeit der gleiche. Der Übergang von der offiziösen zur freiwillig gouvernementalen Zeitung, den Bismarck sofort 1862 vollzog, änderte letztlich in der Sache wenig. Der Begriff "offiziöse Presse" blieb deswegen auch erhalten. Gegen Ende der Amtszeit Bismarcks, 1888, definierte der Geh.Regierungsrat im Auswärtigen Ministerium und Verbindungsmann des Kanzlers zur Presse, Rottenburg, den immer gleich gebliebenen Kern: "Die offiziöse Presse . . . ist die Presse, welche von der Regierung abhängt".(15) Auch wenn es eine vertragliche Bindung schon lange nicht mehr gab, direkte Subventionszahlungen nicht mehr geleistet wurden, so blieb die Abhängigkeit der Zeitungen doch erhalten, entweder durch das freiwillige Angebot des Redakteurs, wenn er gleichzeitig der Besitzer des Blattes war, oder durch das patriotischer Kaufleute, die aus dem Hintergrund das Blatt finanziell unterstützten und seinen Chefredakteur auf die Linie der Regierung verpflichtet hatten. In beiden Fällen hat Bismarck bedenkenlos und ausgiebig diese Chancen zur Pressepolitik genutzt, auch wenn er es nach außen hin leugnete. Doch die Öffentlichkeit hat sich von Dementis dieser Art nicht lange beeindrucken lassen und Berliner humoristische Blätter haben es durch Gedichte und Karikaturen pointiert zum Ausdruck gebracht. Bis 1862 standen nacheinander die "Deutsche Reform", die "Zeit" und die "Allgemeine Preußische (Stern-)Zeitung" im Mittelpunkt (16), danach die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" (NAZ), die zum Inbegriff eines offiziösen Organs geworden ist. Ihr erster Redakteur, August Heinrich Braß, wurde u. a. in einem Gedicht des "Kladderadatsch" wegen seiner Haltung mit viel Spott bedacht: "An einen Officiösen: Mächtig war es, was er sprach. Und der Hörer Herzen packt er! Welch' Talent! Doch leider, ach Ein Talent nur, kein Charakter! 'Unverschämt!' - Es klingt nicht fein; Doch fttr alles, was gesagt er. Was gewagt er, steht er ein Kein Talent, doch ein Charakter! Doch gekauft für mäß'gen Preis, Täglich werden abgeschmackter, Gestern roth und heut schwarzweiß Kein Talent und kein Charakter! "(17) 14
Dem Braß-Nachfolger Emil Friedrich Pindter erging es nicht anders. Als Mops oder Pudel dargestellt, war er Karikaturisten stets ein willkommenes Beispiel eines unfreien, Bismarck hörigen Journalisten. Der "Ulk" zeigte ihn am 27. Mai 1880 als einen schwarzen Pudel, der, auf den Hinterpfoten stehend, ein Stöckchen apportiert. Dazu lautete der Text: "Officiosus, Pudel; Besitzer: Fürst Bismarck; . . . zwickt ohne Weigern seinen besten Freund in die Wade, wenn man es von ihm verlangt".(18) Drei Jahre später ließ das gleiche Witzblatt in einer Karikatur Bismarck in der Tracht eines mittelalterlichen spanischen Granden auftreten, welcher der als spanische Dame verkleideten Nationalliberalen Partei aus "Don Carlos" zitiert: "Mädchen, kannst Du ewig hassen? Verzeihst gekränkte Liebe nie?" Vor der Dame steht ein Männchen machender Mops mit dem Kopf Pindters und einem Deckchen auf dem Rücken, in das "Norddeutsche Allgemeine" eingestickt ist. (19) Eine solche journalistische Ergebenheit, in der Karikatur Uberzogen dargestellt, nahmen die "Lustigen Blätter" am 21. März 1889 als Hintergrund einer Plauderei unter dem Titel:"Bismarck intime". Dort hieß es u. a . : " . . . In seinem eigenen Palais benutzt Bismarck immer die Vordertreppe, für Redaktionsangelegenheiten indeß auch die PindterTreppe. 'Pindter ist ein vortrefflicher Mensch', pflegt er zu äußern; 'er hat i m mer den Muth meiner Meinung'". (20) Seriösere Kommentare aus der damaligen Zeit waren nicht so ironisch-aggressiv, meinten aber in der Sache, d.h. im Verständnis einer offiziösen Zeitung, dasselbe. (21) Ebenso verhielt sich die zeitgenössische Forschung. (22) Auch heutige Gelehrte sind sich in der Kennzeichnung der NAZ und ihrer Vorgängerinnen als offiziöse Organe einig. Doch eine genauere Untersuchung zu diesem Begriff und den damit gemeinten Zeitungen fehlt noch. Das mag zunächst einmal daran liegen, daß dem Geschichtsforscher die Presse des 19. Jahrhunderts bisher nur vereinzelt lohnendes Medium historischer Erkenntnisse gewesen ist. 1903 bezeichnete Löbl das Zeitungswesen als ein "Aschenbrödel der Forschung". (23) Bald danach legten Salomon und Groth zeitungskundliche Gesamtdarstellungen vor, die lange Jahre hindurch Standardwerke blieben. (24) Erst in jüngerer Zeit sind - gestützt auf zahlreiche Einzeluntersuchungen - von Koszyk und H. D. Fischer zwar handbuchartig angelegte, aber spezieller auf das 19. Jahrhundert bezogene Studien Uber die gesamte deutsche Presse erschienen. (25) Beide vermitteln einen Überblick Uber die Entwicklung der Presse und die Geschichte der wichtigeren Zeitungen. Den Horizont des politischen Geschehens streifen sie - natürlich - nur am Rande. Thematisch enger begrenzte Gebiete, etwa das der offiziösen Presse, Ubergehen sie, in Einzelheiten sind sie gelegentlich ungenau. (26) Diese Nachteile lassen sich allerdings auch bei Büchern dieses Zuschnitts nur schwer umgehen. Es wUrde das Studium der Akten und die Lektüre der Zeitungen selbst voraussetzen, wollte man auch nur in allen gebotenen Einzelheiten präzis sein. Es liegen bereits Detailstudien vor, die methodisch z. T . so verfahren sind und anregend für die vorliegende Untersuchung sein konnten. Entweder beschäftigen sie sich dabei mit der Geschichte einer Zeitung (27), mit einer bestimmten
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Sparte innerhalb eines Blattes, zumeist der außenpolitischen (28), mit einem ausgewählten politischen Ereignis und seinem publizistischen Niederschlag (29), mit einem Staat oder Politiker und seinem Verhältnis zur Presse (30), oder, in engem Zusammenhang damit, mit Fragen der Pressepolitik und Presseorganisation. (31) Eine Arbeit über die offiziöse Presse wird gerade auf Forschungen zum letzten Themenbereich einen starken Bezug nehmen können, weil sie ja selbst auch einen Beitrag zur Politik mit der Presse und ihrer Organisation leisten möchte. Da sich hier wie dort die Aussagen auf Preußen (mit einem Schwerpunkt auf Bismarck) beziehen, bietet sich der Kontakt mit Forstreuters Aufsatz "Zu Bismarcks Journalistik", Wapplers Dissertation Uber die "Regierung und Presse in Preussen 1848-1862", einer ähnlichen von Loeber über "Bismarcks Pressepolitik in den Jahren des Verfassungskonfliktes 1862-1866" und den Arbeiten von Naujoks Uber die "Organisation der Regierungspresse" und "Bismarcks auswärtige Pressepolitik und die Reichsgründung (1865-1871)" noch stärker an. Der Bezug zeigt aber auch die Lücken in der Forschung. Wohl sind wir Uber die allgemeine Presseorganisation in Preußen durch die Institution des - mit Unterbrechungen - seit 1842 existierenden, häufiger umbenannten "Literarischen Büros" bis 1862 unterrichtet. Wir wissen um die danach durch Bismarck bewirkten Änderungen in der Struktur der Regierungspresse und können über ihren Umfang etwas sagen. In Einzelfällen läßt sich sogar der Einsatz der Presse im allgemeinen und auch der bestimmter Zeitungen verfolgen. (32) Indessen sind nicht nur viele Einzelheiten zu ergänzen oder schärfer zu fassen, es fehlt im ganzen eine vergleichende Geschichte der offiziösen Zeitungen und damit der Überblick Uber alle seit 1848 von der preußischen Regierung gelenkten offiziösen Blätter. Es mangelt vor allem an einem genauen Einblick in die Formen der Beziehungen zwischen Regierung und offiziöser Zeitung, in die konkrete Rolle eines solchen Blattes bei bestimmten Ereignissen, in die daraus resultierenden Erfolge und Mißerfolge, nicht zuletzt in das Problem von Lenkung und Freiheit einer solchen Zeitung. Der gedankliche Aspekt (Frage nach der Pressefreiheit), der politisch-historische (Frage nach der Aussagekraft der Z e i tung als Quelle des politischen Geschehens) und der zeitungskundliche (Geschichte der betreffenden Zeitungen und ihrer Redaktionen) greifen dabei stets ineinander Uber. Doch wird der somit interdisziplinäre Gegenstand im folgenden vornehmlich historisch beleuchtet.
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I.
A.
Die Anfänge einer offiziösen Pressepolitik in Preußen: Die Geschichte der "Deutschen R e f o r m " 1 8 4 8 - 1 8 5 1 Die Motivationskraft der Revolution von 1848: Mildes Versuch eines "pressepolitischen Coups"
Die Anfänge einer offiziösen Pressepolitik in Preußen sind noch weitgehend unerforscht. Die Meinung Wincklers, der Niedergang der Parteipresse seit etwa 1865 und die militärisch-politischen Ereignisse dieses Jahrzehnts seien "Ursache" für die Entstehung einer preußischen offiziösen Presse gewesen, stimmen ebenso wenig mit den zeitgenössischen Quellen überein wie der Gedanke, Bismarck habe in diesem Augenblick österreichische und französische Vorbilder "übernommen", um sie in Preußen zu verfeinern und auszubauen. (1) Es wird noch zu zeigen sein, daß die Aussage des preußischen Ministerpräsidenten vor dem Landtag am 22. Januar 1864, es sei sein "erstes Gewerbe" nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte gewesen, die offiziöse Presse abzuschaffen (2), falsch war. Hier vermag sie zunächst einmal den Tatbestand zu erhellen, daß es schon vor 1862 in Preußen eine offiziöse Presse gab. Ihre organisatorische Handhabung, publizistischen Erfolge und Mißerfolge sind aktenkundig gemacht worden. Bismarck hat davon Kenntnis nehmen können und es auch getan, um die Erfahrungen seiner Amtsvorgänger in die Methoden seiner eigenen offiziösen Pressepolitik einzubringen. Man kann festhalten, daß die erste offiziöse preußische Zeitung, die "Allgemeine Preußische Zeitung", die Hardenberg am 2. Januar 1819 gründen ließ, dem französischen "Moniteur" nachgebildet worden ist. Doch dieses regierungsnahe Organ blieb nur Episode und verlohnt deswegen keine nähere Betrachtung (3). Eigentlich ist die offiziöse Presse in Preußen - wie die Parteipresse Uberhaupt, von der sie sich ja nicht grundsätzlich unterscheidet - ein Kind der 48er Revolution. Die ersten Versuche der Regierung mit diesem Kommunikationsmittel beruhten nicht auf einer durchdachten und ausgewogenen Konzeption, sondern sie erweckten schon bei damaligen Kritikern den Eindruck einer schnell improvisierten Aktion, bei der der Drang zur Tat, Idealismus und guter Wille das Fehlen programmatischer und auch kaufmännischer Überlegungen nur unzulänglich verdeckten. Erst spürbare Widerstände und Mißerfolge haben die Vorstellungen der verantwortlichen Regierungsstellen über Ziel und Methode einer offiziösen Presse in Preußen geformt. Auch wenn die ersten Akten noch nicht umfangreich sind und auf viele wünschenswerte Details die Antwort versagen, läßt sich doch ein Gesamtbild gewinnen, das eine hinreichende Vorstellung von den Anfängen der offiziösen Pressepolitik vermittelt. Nachdem am 9. November 1848 die preußische Nationalversammlung in Berlin zunächst vertagt und dann am 5. Dezember durch königliches Dekret aufgelöst worden war, erneuerte im Zuge der nun einsetzenden restaurativen Politik der Innenminister von Manteuffel im Dezember 1848 auch das "Litera17
rische Cabinet".(4) Das Amt wurde personell verdoppelt und zu seinem Leiter der Generalkonsul Emil Freiherr von Richthoven ernannt. (5) Dessen Auftrag an seinen Mitarbeiter Dr. Balßer, eine Denkschrift "über die Wirksamkeit der deutschen zumal der preußischen Tagespresse im abgelaufenen Jahr 1848" zu verfassen, dokumentiert für uns heute den Neubeginn des pressepolitischen Unternehmens nach der inhaltlichen Seite. Die am 20. Januar 1849 eingereichte und fast 50 Seiten lange Fleißarbeit Balßers (6) ist die älteste erhaltene Quelle und geeignet, genauere Vorstellungen über die Entwicklung der Presse im Revolutionsjahr 1848 zu vermitteln. Die Aussagen des Autors sind von Erstaunen und einer mitunter geradezu wütenden Enttäuschung Uber das geprägt, was die Presse aus der ihr seit dem 18. März 1848 gewährten Freiheit gemacht hat. "Der heilloseste Einfluß auf die ganze staatliche und gesellschaftliche Gestaltung der Dinge in Deutschland" ist der Presse nach Meinung Balßers in den vergangenen 10 Monaten gelungen - und vorzuwerfen. Die Zeitungen hätten sich "weder auf den Standpunkt des unfruchtbaren Idealismus, noch auf den Standpunkt des alles nivellierenden Radicalismus, noch endlich speziell auf jenen Standpunkt des utopistischen Deutschthums" stellen dürfen. Das aber haben sie getan und so nach seinem Urteil "allerorten der Parteiwuth und dem Parteihaß oder der fixen Idee geschmeichelt und damit, was schon wirr war, mehr verwirrt, was schon schlimm war, verschlimmert". In seinen Augen hat die Presse damit einen Makel auf sich geladen, den sie "nie und nimmer von sich wischen kann. Die Zeitungen als Multiplikatoren politischer Grundsätze der Regierung, so stellte sich Balßer - und mit ihm natürlich auch der preußische Staat - ihre Aufgabe vor, wenn schon nicht Träger einer veröffentlichten Meinung, wie die offiziellen Zeitungen, so doch Repräsentant jener öffentlichen Meinung, die keinen revolutionären Charakter hatte. Das aber war die Presse nach den Märzereignissen des Jahres 1848 in ihrer überwiegenden Zahl nicht geworden. Anders als die große französische Revolution von 1789 hatte die 48er für die Entwicklung der Presse speziell in der preußischen Hauptstadt eine große Motivationskraft. Durch den Erlaß vom 18. März 1848 endlich der hemmenden Zensur enthoben, ergriff Berliner Verleger ein wahres Gründungsfieber. Bereits am 29. März erschien die erste Probenummer der "Urwählerzeitung"(7), die nach ihrem Verbot am 27. März 1853 am 10. April 1853 von Franz Duncker als "Volkszeitung" neu herausgegeben wurde. Sofort zu Anfang erfolgreicher war die "Nationalzeitung". A m i . April 1848 von Max Duncker, Diesterweg und anderen ins Leben gerufen, erreichte sie bis zum Jahresende bereits eine verkaufte Auflage von 11. 000 Exemplaren. Der "Kladderadatsch" setzte von seiner 1. Nummer am 7. Mai 1848 gleich 4. 000 Exemplare ab. Für die Zeitungsgeschichte Berlins später berühmt gewordene Männer zog es in diesem Jahr dorthin, so aus SUddeutschland den erst 22-jährigen Leopold Ullstein. Neben große Tages- und Wochenzeitungen trat eine Flut von kleineren Blättern, zumeist liberal und national ausgerichtet, wie die von dem späteren Chefredakteur der NAZ August Braß gegründete "Republik-Neue Zeitung für das Deutsche Volk". Wenn auch viele Blätter nach kurzer Zeit wieder eingingen, war das 18
politische Bewußtsein der Presse insgesamt erwacht. Die Zeltungen Berlins "registrierten nicht mehr die Politik. Sie machten sie. "(8) Ohne nachhaltigen Einfluß blieben in diesem Prozeß zunächst die durch private Initiative gegründeten Organe konservativer Richtung, so die "Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung", am 16. Juni 1848 von den Gebrüdern Gerlach, Bismarck, v. d. Goltz und Kleist-Retzow in einer 1. Probenummer vorgestellt, dann vom 30. Juni an fortlaufend erscheinend. (9) Noch schlechter erging es der "Neuen Berliner Zeitung", die seit Ende Juni zweimal täglich vom Kgl. Geh. Ober-Hofbuchdrucker Decker redigiert und gedruckt wurde. (10) Als Grund dieser geringen Erfolge muß allerdings mitbedacht werden, daß die politische Entwicklung in Preußen nach der Revolution zunächst - zumindest zum Schein - eine liberalkonstitutionelle Richtung nahm, so daß rein konservative Organe schlechtere Startbedingungen vorfanden. Da aber die Uberwiegende Zahl der Zeitungen auch im Sinne einer liberaleren Regierung destruktiv blieb (11), selbst die alten Berliner Zeitungen, die "Vossische" und "Spenersche"(12) t verspürte die Regierung im Spätherbst des Jahres 1848 das "dringende Bedürfnis", die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Der ehemalige Breslauer Kaufmann und jetzige Handelsminister Milde scheint die Initiative ergriffen zu haben. In einer rückschauenden Betrachtung des preußischen Ministerpräsidenten Graf von Brandenburg vom 24. April 1849 werden wir über das Ziel und die dabei befolgte Methode etwas genauer unterrichtet. (13) Milde hatte den Plan, "durch ein Organ in der Tagesliteratur die konstitutionelle Monarchie und das Königthum gegen die überfließenden Angriffe der Demokratie und der Anarchie zu vertheidigen". Er gründete dazu im Oktober die "Deutsche Reform - Politische Zeitung für das constitutionelle Deutschland". Um die Regierung dabei im Hintergrund zu halten, habe sich Milde, so schreibt Brandenburg, für diese Zeitungsgründung "mit einigen seiner Freunde" zusammengefunden. Mehrere Personen lassen sich namhaft machen. Der Arzt Dr. Emil Richard Rutsch fungierte nach außen hin als Eigentümer der Zeitung. Ihm stellte Milde am 13. Oktober eine Vollmacht aus. Deckers "Neue Berliner Zeitung", die sich ja durch große Regierungsnähe bereits ausgezeichnet hatte, aufzukaufen und alles zu arrangieren, "was das Interesse des Unternehmens erheischt".(14) Hauptredakteur wurde der Journalist C. M. Oldenburg aus Königsberg; als freie Mitarbeiter standen der Politiker und Publizist Friedrich Harkort, der Dichter Friedrich Bodenstedt und aus dem Literarischen Kabinett Carl Ludwig Aegidi bereit. (15) Der von Rutsch mit Decker zum 17. Oktober 1848 getätigte Kaufvertrag (16) betonte, daß sich dieser Freundeskreis darauf geeinigt hatte, nicht eine ganz neue Zeitung zu gründen, sondern eine bestehende aufzukaufen und fortan unter neuem Namen herauszugeben. Als Grund läßt sich unschwer vermuten, daß man auf diese Weise bereits über einen festen Leserkreis verfügen zu können glaubte. Weitere Abonnenten hoffte der Kreis aber auch durch andere, offensichtlich berechnete Äußerlichkeiten zu gewinnen. Der "Kladderadatsch" verrät sie. Schon am 29. Oktober 1848 wußte das Wochenblatt, daß Milde der eigentliche 19
Besitzer der neuen Zeitung war und warf diesem in einem "offenen Sendschreiben" unlautere Methoden vor. Die "Deutsche Reform" sei im Titel nahezu identisch mit einer Gründung des Republikaners Arnold Rüge: "Die ReformPolitische Zeitung". Daneben würden für das neue Blatt "derselbe Druck, dasselbe Format, dasselbe Papier, dieselben Extrablätter" verwendet, wie es Rüge tue. Für den "Kladderadatsch" wurde der Handelsminister bei einem solchen Verfahren zum "literarischen Beutelschneider". (17) Der Vorwurf ist berechtigt. Er zeigt, wie Milde und seine Freunde im äußeren Erscheinungsbild ihrer neuen Zeitung bewußt die Identität mit einem bereits eingeführten und seiner demokratischen Haltung wegen viel gelesenen Blatt gesucht hatten, um so ihre eigenen Chancen in der Öffentlichkeit zu steigern. Postanstalten, die Bestellungen und Versand Ubernahmen, wurden amtlich auf diese Übereinstimmung nicht aufmerksam gemacht. (18) Doch nützte die gezielte äußere Angleichung an ein florierendes demokratisches Blatt der Neugründung einer offiziösen Zeitung nicht viel. Wirtschaftliche Nöte stellten das Unternehmen bald in Frage. Mit welcher Euphorie, aber zugleich auch mit welchem Dilettantismus der Freundeskreis des Handelsministers Milde ans Werk gegangen war, offenbart ein im Sommer 1849 vom Redakteur des "Staatsanzeigers" Dr. J.W. Zinkeisen angefertigtes "Gutachten über die Verhältnisse der 'Deutschen Reform'". (19) In einem Augenblick, wo nach der Meinung des Gutachters "keine Seele den Gang der Ereignisse auch nur auf 30 Tage mit einiger Bestimmtheit vorhersehen konnte", habe Milde durch Rutsch dem Verleger Decker die "Neue Berliner Zeitung" für 8.000 T. abkaufen (20) und diesem gleichzeitig für 30 (!) Jahre das Druckrecht verbriefen lassen. Und dies, wie Zinkeisen glaubte, zu einem überhöhten Preis! Decker hatt e nämlich bei einer zugrundegelegten Auflage von 4. 000 Exemplaren einen Unkostensatz von 134 T. und 5 Sgr. pro Tag in Anschlag gebracht, 26 T. und 20 Sgr. mehr, als für den "Staatsanzeiger" bei gleicher Auflage gebraucht wurden. (21) Ob dieser Vergleich angemessen ist, muß fraglich bleiben. Die Herstellungskosten einer Zeitung werden nämlich zu einem nicht geringen Teil von der personellen und besonders der technischen Struktur eines Betriebes mitbestimmt. Ein Vergleich zwischen zwei Zeitungen setzt deswegen betriebswirtschaftliche Analysen beider Unternehmen voraus. Dies ist heute nicht mehr möglich. Es kann aber vorausgesetzt werden, daß der angesehene Druckereibetrieb Deckers auf dem modernsten Stand der damaligen Technik war und deswegen rationell arbeiten konnte. Das legt dem Vorwurf Zinkeisens eine gewisse Wahrscheinlichkeit bei. Die Preußische Regierung hatte darüber hinaus unter Zustimmung des Königs noch 40. 000 T. als Startkapital zur Verfügung gestellt. (22) Bezogen auf den amtlichen Goldpreis an der Frankfurter Börse vom 13. Oktober 1972 entspricht 1 T. von 1857 ungefähr 7,17 DM. 40. 000 T. wären danach heute etwa 286. 800, - DM. Die Kaufkraft eines Talers war aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch um ein Mehrfaches höher, denn man muß bei einem Vergleich auch noch die Entwicklung der Dienstleistungskosten berücksichtigen. 20
Da Zeitungsbetriebe lohnintensive Unternehmen sind, hat die preußische Regierung mit 40. 000 T. also ein ansehnliches Kapital zur Verfügung gestellt. Fortlaufende Unkosten sollten im Augenblick des Jahres 1849 nach der Hoffnung Mildes durch Aktien gedeckt werden, die von der Konservativen Partei gezeichnet werden sollten. (23) Diesem Geldgeber scheint sich die "Deutsche Reform" in ihrer politischen Haltung nicht so eindeutig verpflichtet gefühlt zu haben, wie es der Regierung wünschenswert sein mußte. Balßer machte "ungünstige Redactionsverhältnisse" dafür verantwortlich, daß das Blatt von rechts nach links schwankte. (24) Auch wenn die Exemplare der Zeitung bis Ende 1848 heute leider nicht mehr vorhanden sind (25), ist doch aus anderen Quellen ersichtlich, daß die "Deutsche Reform" im November 1848 sich recht eindeutig auf die Seite der preußischen Nationalversammlung und damit gegen die Regierung stellte.(26) Das "ceterum censeo neue Minister", das die Zeitung als Rat zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse beisteuerte (27), ist nur e i n Beleg dafür. Zu den Verantwortlichen für diese politische Linie muß in erster Linie Aegidi gerechnet werden, der ja zu diesem Zeitpunkt wegen der Aufhebung der Nationalversammlung am 5. Dezember 1848 aus dem Literarischen Kabinett austrat. Als die "Deutsche Reform" durch ihre Haltung auch noch Abonnenten verlor (28), zog die preußische Regierung die Konsequenz und ließ die Zeitung fallen. (29) Milde, bei anderen Blättern in den (unbegründeten) Verdacht geraten, sich persönlich an den 40. 000 T . bereichert zu haben, zog sich, resignierend über diese "übelste" Verleumdung, von seinem Unternehmen zurück. (30) Auf der Suche nach einem neuen offiziösen Presseorgan kam es zu einer nur episodenhaften Lösung. Der Justizrat Dr. Kahle wandelte mit Hilfe einer staatlichen Subvention seine Wochenschrift "Das neue Preußen" in eine Tageszeitung um, die vom 1. Januar 1849 an unter der Redaktion von Dr. Löffler bei Decker als "Neue Berliner Zeitung" herauskam. (31) Da es dieser Zeitung jedoch an "Kraft, Intelligenz und Material" fehlte, nahm sie "bald ein frühes Ende". (32) Im Rückblick auf diese erste Phase einer offiziösen Pressepolitik konnte der Fachmann Zinkeisen der Regierung bei Planung und Durchführung nur gänzliche Unfähigkeit oder unbegreifliche Übereilung attestieren. "Vielleicht handelte es sich in der ganzen Geschichte von ihrer Seite um weiter nichts, als einen politischen Coups, wozu man dieses Blatt a tout prix haben zu müssen glaubte. "(33) Die - spärlichen - Akten widersprechen diesem Verdikt nicht. Sie zeigen die Unerfahrenheit amtlicher Stellen, die in den für sie neuen pressepolitischen Fragen (noch) keine Experten besaßen. Sie weisen aber auch schon daraufhin, daß eine offiziöse Zeitung neben den erforderlichen finanziellen Aufwendungen redaktionelle Probleme aufwerfen konnte, die schnell das ganze Unternehmen in Frage stellten. Wie sollte die Regierung ihren - dauernden - Einfluß auf den Inhalt zumindest der wichtigeren politischen Artikel sichern? Wie weit und wie lange würde sich der leitende Redakteur in seiner journalistischen Unabhängigkeit beschränken lassen? Durfte man ihn überhaupt frei redigieren lassen? Das Blatt konnte sehr schnell in ein Spannungsverhältnis zwischen Lenkung und Freiheit geraten und dadurch seine publizistische Wirksamkeit selbst schmälern. 21
Hinzu kamen konkurrierende Blätter, die nur allzu gern die Öffentlichkeit über Dinge aufklärten, welche die Initiatoren einer offiziösen Zeitung lieber geheim gehalten hätten. Der Leser "dankte" es dadurch, daß er das Blatt abbestellte. All diese Erfahrungen machte die preußische Regierung schon bei ihren ersten Schritten auf dem Gebiet einer offiziösen Pressepolitik nach der Revolution von 1848, Sie gaben in Berlin den Anstoß zu einem genaueren Durchdenken der richtigen Methode.
B. Die Ausformung einer redaktionellen und ökonomischen Konzeption für die gouvernementale "Deutsche Reform" 1. Das Angebot an Friedrich Harkort Nach dem schnellen Ende der "Neuen Berliner Zeitung" wurde im Frühjahr 1849 das Verhältnis zur "Deutschen Reform" wieder aktiviert. Die Zeitung hatte inzwischen selbst ihre Haltung zu den entscheidenden politischen Fragen modifiziert. So distanzierte sie sich in einem Leitartikel der Abendausgabe vom 2. Januar 1849 von der Revolution und ihren Prinzipien und stellte sich auf den Boden der preußischen Verfassung vom 5. Dezember 1848. Gleichzeitig ließ sie aber keinen Zweifel daran, daß die dort verkündeten Grundsätze nicht auf dem Papier stehen bleiben dürften, sondern "in's frische Volksleben eingeführt" werden müßten, ihrer Meinung nach eine Aufgabe "nicht nur konservativer, sondern auch schaffender Kräfte". (34) Man muß diesen Kommentar auf dem Hintergrund der für den 22. Januar 1849 angesetzten preußischen Landtagswahlen sehen. Von dort erscheint er als vorsichtige Ermunterung der Liberalen. Daß dies die Absicht der "Deutschen Reform" war, unterstreichen ihre Klagen über das bestehende indirekte Wahlsystem,die die Zeitung noch am 22. Januar führte. (35) Als das Wahlergebnis in der 2. Kammer dann den Konservativen bei einem Stimmenverhältnis von 192 zu 158 eine Mehrheit von 34 Abgeordneten brachte, blieb die "Reform" zurückhaltend. Es schien ihr für die Konservativen "kein glänzendes . . . . doch ein genügendes" zu sein, um eine solide Parlamentsarbeit zu sichern. (36) In der aktuellen politischen Diskussion, der Frage nach der nationalen Einheit, begrüßte das Blatt am 31. März 1849 das Ergebnis der in Frankfurt getroffenen Kaiserwahl geradezu überschwänglich, allerdings nicht ohne bei der bekannten Zurückhaltung Preußens gleich an den König die Mahnung zu richten, das Angebot auch anzunehmen: "Jetzt ist die Zeit gekommen, wo Friedrich Wilhelm sein Versprechen zu lösen hat, in Gefahr und Noth der Schirm und Schutz Deutschlands sein zu wollen. "(37) Die bald danach tatsächlich erfolgte ablehnende Antwort des Monarchen an die Deputation der Frankfurter Nationalversammlung quittierte die "Deutsche Reform" mit großer Enttäuschung. Weit sei eine solche Reaktion des Königs hinter den Erwartungen zurückgeblieben und habe "die Hoffnung der Patrioten tief herabgestimmt".(38) 22
Während die Zeitung in der ersten Aprilhälfte die Hoffnung, daß es in der nationalen Frage doch noch "zu einer guten Lösung" kommen werde, wachhielt, wurde der preußische Ministerpräsident Brandenburg von Friedrich Wilhelm beauftragt, erneut den Versuch einer offiziösen Pressepolitik zu wagen und dabei die Lenkung der Zeitung selbst in die Hand zu nehmen. (39) Wohl gewarnt durch das Mißgeschick Mildes, dessen Tätigkeit trotz der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen ihn und die Regierung in die Schußlinie der oppositionellen Blätter gebracht hatte, wie das Beispiel des "Kladderadatsch" gezeigt hat, suchte sich der Ministerpräsident besser abzusichern. Vor allem formulierte er die inhaltlichen Vorstellungen der Regierung von "ihrer" Zeitung präziser. Grundlage des Unternehmens sollte ein Kuratorium sein. Wahrscheinlich Anfang April beauftragte er den Reg. -Rat von Meusebach, dafür neben Decker einen weiteren Gesellschafter zu suchen. (40) Dessen Wahl fiel auf Friedrich Harkort, bisher bereits freier Mitarbeiter der "Deutschen Reform". Als Unterlage von Verhandlungen schickte Meusebach diesem einen Vertragsentwurf zu. (41) In seiner Antwort vom 9. April ging Harkort besonders auf den § 11 ein. Dort hatte die Regierung vorgeschlagen, die Redaktion einem Kuratorium, bestehend aus den Gesellschaftern Harkort und Decker, zu unterstellen. Harkort solle die "Redaction . . . selbständig d. h. ohne Einmischung des anderen Gesellschafters" führen und "Uber die Richtung des Blattes in Bezug auf Handels-Politik und innere Verwaltung" frei verfügen. Decker dagegen stehe "die Bestimmung der Richtung des Blattes in der höheren Politik, d. h. in der auswärtigen, in der deutschen Frage u. in der preußischen Verfassungsfrage" ausschließlich zu. Dies könne in der Praxis so aussehen, daß Decker damit einen Redakteur betraue, mitunter auch selbst Artikel zur Aufnahme in die Zeitung schreibe, oder der angegebenen Richtung widterstreitende zurückweise. Als wesentlicher Punkt dieses Vorschlags ist zu bedenken, daß der Politiker und erfahrene Publizist Friedrich Harkort im wesentlichen für die Verwaltung der Zeitung zuständig sein sollte, der Drucker Decker dagegen für die geistige Linie. Dabei mußte die Regierung einen Hintergedanken haben. Harkorts Antwort war bündig:"Wird in dieser Fassung nicht angenommen." Er gab zu erkennen, daß es durchaus in seiner Absicht liege, "die constitutionelle Monarchie in intelligenter Weise zu vertheidigen". Das konnte seiner Meinung nach aber nur geschehen, wenn versucht werde, "die öffentliche Meinung des Landes zu leiten, allein nicht schroff zu bekämpfen". Seine Formel dafür lautete:"Die leitenden Artikel müssen einen halboffiziellen Charakter tragen; in dem übrigen Theile herrsche Anstand und freie Bewegung. " An der Bestellung Harkorts war Brandenburg offensichtlich sehr gelegen, denn sonst wäre es nicht zu verstehen, wieso er zwei Tage später, am 11. April 1849, Meusebach anwies, die Verhandlungen mit dem Publizisten weiterzuführen und ihm "die selbsständige Bestimmung über die Richtung der Zeitung in der höheren Politik zuzusichern". (42) Das war der Kern der Harkortschen Forderungen.
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Es muß bezweifelt werden, daß Brandenburg die volle Verantwortlichkeit auf Harkort delegieren wollte, denn für diesen blieben auch in seiner Antwort vom 15. April die Bedingungen weiter unannehmbar.(43) Allenfalls wären sie "für einen Redacteur zweiter Klasse passend . . . , nicht aber für einen Mann der in den schwierigsten Zeiten in der ersten Reihe der constitutionellen Partei treu gefochten hat". Markant formulierte er deswegen seinen Schlußsatz:"Es geziemt mir schlecht, dem Publikum gegenüber als Werkzeug eines Druckers dazustehen. " Der Drucker war allerdings auch nur ein "Werkzeug", wie nachzuweisen ist. Durch den Widerstand Harkorts sah sich die Regierung veranlaßt, ihre Absichten deutlicher zu formulieren, aber auch ihr Dilemma nicht zu verschleiern. S i e wollte, wohl aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus, Pressepolitik b e treiben, war zu finanziellen Opfern bereit und suchte nun Personen, die kraft ihres Ansehens dem Publikum als Garanten einer qualifizierten Presse erscheinen konnten, die sie aber gleichzeitig aus dem Hintergrund mit dem Vorbehalt belasten konnte, selbst den entscheidenden Einfluß auf die Richtung des Blattes in der Hand zu behalten. Die Kernfrage des ganzen Unternehmens, die nach der "Unabhängigkeit" des Redakteurs wird zum ersten Mal gesehen. "Wenn", so instruierte Brandenburg Meusebach am 17. April 1849 und formulierte dabei in aller Schärfe die Absicht der Regierung (44), "es sich darum gehandelt hätte, ein unabhängiges Journal der conservativen Richtung unter Zuhilfenahme von Regierungsmitteln zu begründen, so würde die Regierung nur den Wunsch haben hegen können, einen Mann von so bewährter Gesinnung an der Spitze dieses Unternehmens zu sehen, und sie würde mit vollem und gerechtem Vertrauen die Leitung ausschließlich und ohne Vorbehalt in die Hände des Herrn Harkort gelegt haben. " Im vorliegenden Fall sei es aber die Absicht der Regierung, mit den einmal zur Verfügung gestellten Geldern "ein spezifisch gouvernementales Blatt ins Leben zu rufen und damit einem lang gefühlten BedUrfniß einer constitutionellen Regierung zu entsprechen". Für ein spezifisch gouvernemental orientiertes Blatt - diese präzise Ausformulierung der inhaltlichen Konzeption ist neu - Leser zu finden, sei schwieriger, als es zu gründen, gab Harkort noch einmal zu bedenken (45), "und das ist eben vor allen Dingen nöthig, wenn man einen Einfluß im Lande gewinnen will". Wie zutreffend dieser Gedanke ist, wird sich später immer wieder zeigen. Im Augenblick brach die Regierung die Verhandlungen mit Harkort ab, offensichtlich aus Angst vor der Möglichkeit, bei einer fehlenden vertraglichen Bindung des Redakteurs schließlich doch ein Organ zu subventionieren, das die Öffentlichkeit zur Kritik an der Regierung anregte, statt zur Verteidigung. Damit entfiel auch der Plan, als juristische Grundlage der Zeitung ein Konsortium zu gründen. Derweil übte die "Deutsche Reform" bereits wieder mit zunehmender Deutlichkeit Kritik an der Regierung. Gerade während Meusebach mit Harkort verhandelte, verschärfte die Zeitung ihre Position gegen das Verhalten des preußischen Staates in der Kaiserfrage spürbar. Am 3. April wurde noch in vorsichtiger 24
Form über das Verbot, die Frankfurter Deputation in Berlin mit Flaggenschmuck zu begrüßen, geklagt.(46) Die Morgenausgabe des 4. April formulierte offener die Enttäuschung der Zeitung Uber die ablehnende Haltung Preußens in der Kaiserfrage, die den preußischen Ministern angelastet wurde.(47) 14 Tage lang hoffte dann die "Deutsche Reform", die preußische Zirkularnote vom 3. April 1849 werde die Sache noch zum Besten wenden. Als das nicht geschah, machte sie Preußen schwere Vorwürfe, sich durch eine schwankende Haltung in der deutschen Frage selbst isoliert zu haben (48) und forderte am 24. April 1849, ähnlich wie im November 1848, die Entlassung der verantwortlichen Minister: "Das Land bedarf dringender als je einer Regierung, die dieser großen Zeit gewachsen ist, der sich die besseren Theile der Nation willig anschließen. H Würde der jetzige Zustand noch lange fortdauern, werde Preußen "der Auflösung durch Revolution oder Abspannung" entgegengehen.(49) Als 2 Tage später noch einmal der "Unverstand" preußischer Politiker beklagt wurde (50), war der Höhepunkt der kritischen Einstellung der "Deutschen Reform" gegenüber der preußischen Regierung erreicht. Am 27. April bereitete sie durch einen Leitartikel mit dem Tenor, es sei für Preußens vorrangige Stellung in der deutschen Frage "auch jetzt noch nicht" zu spät, vorsichtig den Rückzug vor.(51) Am 1. Mai billigte sie, "wenn auch mit schmerzlichen Gefühlen", Preußens ablehnende Haltung und stellte sich wieder hinter die Reg i e r u n g . ^ ) Fünf Tage später hatte sie auch in der innenpolitisch wichtigen Frage des Wahlsystems ihre alte Polemik gegen das bestehende indirekte Wahlrecht aufgegeben und plädierte jetzt sogar für dessen weitere Beschränkung. (53) Dieser auf den ersten Blick doch erstaunliche Rückgang in der Kritik an der Regierung läßt sich aus den Akten leicht erklären. Er stimmt exakt mit den zeitgleich getroffenen Änderungen in den redaktionellen Verhältnissen der Zeitung Uberein. Am 23. April mußten die Verhandlungen Meusebachs mit Harkort nach dessen Antwort als gescheitert betrachtet werden. Am 25. April überließ Milde, der ja bisher noch durch Rutsch als Eigentümer der "Deutschen Reform" fungierte, Decker durch einen Vertrag die Zeitung "zum vollen Eigenthum". (54) Ein Nachtrag zu dieser Übereignungsurkunde (55) zeigte die eigentliche Sachlage: Die Regierung übernahm de facto selbst die Rolle des 2. Gesellschafters. In § 1 des Nachtrages erkannte Decker nämlich an, "daß er das Verlegerrecht der deutschen Reform nicht für sich, sondern im Auftrage und im Namen des Ministerpräsidenten Grafen v. Brandenburg angekauft" hatte. Was das bedeutete, sagte §2: "Die Bestimmung der politischen Richtung des Blattes . . . sowie die Anstellung des Redakteurs bleibt der Zustimmung des Grafen v. Brandenburg . . . unterworfen Herr Decker verzichtet in dieser Beziehung ausdrücklich auf jedes Recht des Widerspruchs. " Bei diesen Konditionen wurde Decker natürlich kein Kaufpreis zugemutet. Der Drucker war jetzt wieder Verleger seiner alten Zeitung, die er im Sommer 1848 erstmals herausgegeben hatte, nur mit dem Unterschied, daß sich die Regierung jetzt, für den Leser unsichtbar, die Lenkung des Blattes als eines spezifisch gouvernementalen gesichert hatte. Es war nur noch kein Redakteur gefunden, der 25
sich bei diesen Konditionen bereitfand, das Blatt zu leiten. Darauf konzentrierten sich jetzt die Bemühungen der Regierung. Da desweiteren von den zur Disposition gestellten 40.000 T. nach weniger als 7 Monaten nur noch 18.000 T. übriggeblieben waren (56), war auch eine grundlegende wirtschaftliche Kalkulation des Presseunternehmens dringend geboten. 2. Die grundlegenden redaktionellen und ökonomischen Vorschläge des Gutachters Zinkeisen Die im Vertragsentwurf für Harkort vorgesehene Bestellung eines Redakteurs nahm Meusebach gleichzeitig mit der Übereignung der Zeitung an Decker in Angriff. Ende April/Anfang Mai forderte er den ehemaligen Lehrer einer höheren Mädchenschule und jetzigen Verleger der "Norddeutschen Zeitung" in Stettin, R. Graßmann, auf, "Garant und Hauptredacteur" der "Deutschen Reform" zu werden. Unter dem 5. Mai 1849 erklärte sich dieser dazu bereit.(57) Seine Aufgabe sah er selbst darin, für "die Kräftigung der konservativen Partei Berlins und damit die Rückwirkung auf die Provinzen, namentlich zur Zeit der Krisen", zu sorgen. Offensichtlich hat er den hier nur anklingenden Gedanken, die "Deutsche Reform" als Parteizeitung zu führen, in einem weiteren Schreiben aus diesen Tagen deutlicher formuliert, ja sogar zur Bedingung für die Übernahme der Redaktionsgeschäfte erhoben. Der Brief war in den Akten nicht mehr zu finden, ist aber durch Rückverweise in einem Schreiben unter dem 2. Juni erschließbar. (58)Damals, Anfang Mai, so schrieb Graßmann am 2. Juni, habe er die Bedingung gestellt, "daß das Blatt durchaus unabhängiges Organ der Parthei sein müsse, nicht aber einen halboffiziellen Charakter annehmen oder derartige Artikel aufnehmen dürfe". Diese Haltung vertrat Graßmann auch am Tage seiner formellen Übernahme der Redaktion der "Deutschen Reform", am 7. Mai 1849, in einem dreispaltigen "Wort an die Leser".(59) Es hieße, so schrieb er dort, "niedrigen Verdächtigungen" folgen, würde die Öffentlichkeit glauben, die Zeitung sei von der Regierung nahestehenden Kreisen gekauft worden und habe jetzt einen entsprechenden halboffiziellen Charakter angenommen. "Das Blatt hat eine v o l l k o m m e n u n a b h ä n g i g e Stellung. " Gedanklich stehe es der konservativliberalen Partei Berlins nahe. Über die früheren Umstände bei seiner neuen Zeitung scheint Graßmann durchaus im Bilde gewesen zu sein, denn er versprach seinen Lesern zum Schluß, daß die "Deutsche Reform" nicht noch einmal, wie im November 1848, den konservativen Standpunkt verlassen und in das Lager der Feinde übergehen werde. Diese öffentliche Versicherung wird der Regierung durchaus willkommen gewesen sein, das Plädoyer für die Selbständigkeit der "Deutschen Reform" als Tarnung der eigentlichen Verhältnisse ebenfalls. Der Ernsthaftigkeit, mit der Graßmann in der Erklärung an die Leser und in seinen Briefen an Meusebach diesen Standpunkt vertrat, wird sie indessen nicht gefolgt sein. Oder sollte sie ihm zugestanden haben, was sie Harkort verweigern zu müssen glaubte? Wahrscheinlich haben Brandenburg und Meusebach, unter dem Druck, einen 26
Redakteur finden zu müssen (60}, die Einwände des Neulings in der Zeitungsbranche (61} nicht ernst genommen. Zumindest haben sie das Blatt öffentlich als halboffiziell bezeichnet und entsprechende Artikel in die Druckerei gegeben^62) Für sie war Graßmann ersichtlich ein "Redacteur zweiter Klasse". Erst dessen wiederholte Gutachten zur wirtschaftlichen Lage der "Deutschen Reform"(63), die in der Forderung nach einem neuen, allein ihm zur Verfügung zu stellenden Startkapital von 50.000 T. für das 2. Geschäftsjahr (Beginn: 1. Oktober 18491 ausklangen (64), verbunden mit der erneut erhobenen Bedingung völliger Unabhängigkeit an der Spitze des Blattes (65), überzeugten Meusebach davon, nicht den richtigen Mann "zur Leitung eines halboffiziellen Organs" gefunden zu haben. (66) Wohl um diese Ansicht zu stutzen und gleichzeitig gangbare Wege vorgeschlagen zu bekommen, wurde ein Gutachten von einem Fachmann eingeholt. Dr. Zinkeisen, Redakteur des "Staatsanzeigers", erhielt Einsicht in die bisher vorliegenden Akten und legte am 12. Juli 1849 das bereits mehrfach zitierte 44-seitige "Gutachten über die Verhältnisse der 'Deutschen Reform'" vor.(67) Sein Urteil Uber die bisherigen Praktiken der Regierung und die neuen Vorschläge des Stettiners war gleichermaßen vernichtend. Jener konnte er nur "gänzliche Unfähigkeit oder unbegreifliche Übereilung" attestieren, diesem allein die "Eigenschaft des speculierenden Buchdruckers", nicht aber die eines verantwortlichen Redakteurs. Die Finanzierungsvorschläge bewiesen es. Die 50.000 T. würden in Graßmanns Händen bald aufgebraucht sein. Wollte die Regierung dann das Unternehmen nicht fallen lassen, würden neue Zuschüsse notwendig sein. "Es wird eine Schraube ohne Ende, und die 50.000 rth. haben mutatis mutandis das Schicksal der 40.000 rth., die bereits in weniger als einem Jahr auf die 'deutsche Reform' verwandt worden sind. " Der andere Finanzierungsplan Graßmanns, eine jährliche Steigerungsrate der Abonnentenzahl um 1.000, ausgehend von 4.000, auf 10.000 zu erreichen, war in den Augen Zinkeisens unrealistisch: "Da wäre ja nichts leichter, als neue Journale zu schaffen, wenn man mit einer solchen bloßen 'Annahme' schon ihre Zukunft verbürgen könnte." Zinkeisen schlug vor, den auf 30 Jahre mit Decker abgeschlossenen DruckVertrag, da er nicht zu lösen sei ("Vertrag ist Vertrag"), durch Vergleich auf bessere Konditionen zu stellen. Dann müßten die Kosten für alle Ausgabenposten detailliert und vorher erstellt und ein Hauptredakteur angestellt werden, der sich allein um die Artikel, nicht aber um die Geschäfte der Redaktion zu kümmern hätte. Ihm sollten 2 Mitarbeiter beigegeben werden. In der Frage der Finanzierung wäre die Regierung gut beraten, wenn sie "sich zunächst bedingungsweise zu einem angemessenen jährlichen Zuschuß" verstünde, gleichzeitig aber bereit wäre, das Risiko am Unternehmen mitzutragen. "Versteht es eine tüchtige und geschickte Redaction, welche sich der Sache mit Emst und redlichem Bewußtsein des Zweckes widmet, möglichst unabhängig das Blatt
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zu dem zu machen, was es sein soll, so werden auch die Früchte, die es bringen mag, dereinst nicht zu theuer erkauft sein. " Nachdem durch die Diskussion mit Harkort die geistige Konzeption der "Deutschen Reform" als einer spezifisch gouvernemental orientierten Zeitung gewonnen war, veranlaßten die Vorschläge Zinkeisens eine redaktionelle Durchgliederung und detaillierte finanzielle Kalkulation des Presseunternehmens. In der Idee waren damit im Sommer 1849 die Absichten der Regierung nach Inhalt und Methode ihrer offiziösen Pressepolitik vorerst abgeklärt und ausformuliert.
C. Die Zeitung im Widerstreit zwischen Absicht und Realität Die Vorschläge des Fachmannes Dr. Zinkeisen wurden sogleich in die Tat u m gesetzt. Graßmann kündigte am 19. Juli 1849 den Lesern der "Deutschen Reform" kommentarlos seinen sofortigen Rücktritt an.(68) An seine Stelle wurde der Abgeordnete der 2. preußischen Kammer, Professor Dr. Keller, berufen, offensichtlich nicht ohne eindringliche Bitten seitens der verantwortlichen Regierungsstellen.(69) Auffällig ist, daß in den Tagen bis zum Vertragsabschluß mit Keller in der "Deutschen Reform" nicht e i n räsonnierender Leitartikel politischen Inhalts zum Abdruck kam. Statt dessen wurden auf der 1. Seite in statistischer Weise Wahlangelegenheiten und die Reform der Einkommensteuer erörtert. Die Redaktion der Zeitung war ganz offensichtlich nicht handlungsfähig. Erst am 3. August erschien wieder ein Leitartikel, der von seinem Inhalt her einen Abgesang auf die deutsche Einigungsbewegung der letzten Jahre, die die "Deutsche Reform" doch so lebhaft unterstützt hatte, darstellte und damit die Zeitung wieder deutlich auf dem Standpunkt der preußischen Regierung sah.(70) Datum und Tenor des Artikels stimmen mit dem Vertrag vom 1. August 1849 überein, den die Regierung mit Keller abschloß.(71) Er ist ein Dokument jener inneren Widersprüche, in der sich die Redaktion einer Zeitung befinden mußte, die zwischen Lenkung und Freiheit stand. Gleich der § 1 ist dafür ein Beleg. Dort wurde Keller bei einem Jahresgehalt von 1.000 T. die "Hauptaufsicht und Leitung Uber die Redaktion der dt. Reform" zugesichert; jedoch war er nicht ihr verantwortlicher Redakteur und sollte als solcher auch nicht in dem Impressum des Blattes erscheinen. Diese Beschränkung hatte Harkort seinerzeit abgelehnt. Was dieses Verfahren beinhaltete, wurde in § 2 des Vertrages noch deutlicher. Keller erhielt danach "die ausschließliche Entscheidung über die Richtung und Haltung des Blattes", konnte dementsprechend seine Mitarbeiter selbst auswählen, mußte aber "die Aufsicht und letzte Entscheidung" in allen Fragen einem Garanten überlassen, den die Regierung stellte, während Keller dabei nur "berathende Stimme" hatte. Der hier gemachte Unterschied zwischen einer ausschließlichen und einer letzten Entscheidung ist juristisch wohl nicht faßbar. Er zeigt aber deutlich die Lage der Regierung, die dem Chefredakteur jene Kompetenzen geben 28
wollte, die ihm billigerweise zustanden, sie aber nicht geben konnte, weil dadurch die gouvernementale Ausrichtung des Blattes in ihren Augen nicht unbedingt gewährleistet war. Zinkeisens Vorschlag, eine möglichst unabhängige Redaktion zu etablieren, wollte die Regierung nicht befolgen, wohl dagegen seinen Rat, die eigentliche redaktionelle Tätigkeit von der kaufmännischen zu trennen. Am 31. August 1849 beauftragte Brandenburg den Reg.-Ass. Nordenflycht mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines Garanten.(72) In dieser Funktion sollte Nordenflycht bei einem Jahresgehalt von 400 T. ordentliche und außerordentliche Revisionen der Kasse vornehmen, Räumlichkeiten besorgen, die Beziehungen zum Verleger Decker leiten, von Abschlüssen mit dem Personal für die Redaktion und Expedition Kenntnis nehmen und darauf achten, " daß der Etat nicht überschritten und nicht Engagements zu Bedingungen geknüpft werden, welche das Blatt mehr, als nothwendig ist, binden". Auch wenn es in seiner Dienstanweisung hieß, er habe bei allem das Einverständnis mit dem Hauptredakteur zu suchen, so mußte das doch eher umgekehrt verstanden werden, wie der Vertrag mit Keller zeigte. Der Etat für das am 1. Oktober beginnende neue Geschäftsjahr wurde am 20. September aufgestellt. Bei einer Auflage von 4.000 Exemplaren, welche die Zeitung im Augenblick noch zu haben schien, wurden die Ausgaben mit 39.000 T . , die Einnahmen mit 27.000 T. angesetzt. Da die früher bewilligten 40.000 T. mit dem auslaufenden Monat verbraucht waren, wollte die Regierung das entstehende Defizit von 12.000 T . durch eine monatliche Subvention von 1.000 T. decken.(73) In einem begleitenden Brief an das Kgl. Staatsministerium vom 21. September 1849, der die UnterstützungswUrdigkeit zu begründen suchte, hat Meusebach nach den vielen Querelen zu dem alten Optimismus der Regierung zurückg e f u n d e n . ^ ) Der Reg. -Rat betonte, daß die Bedingungen für den Fortbestand der "Deutschen Reform" nicht nur unzweifelhaft vorhanden seien, sondern er sah sogar die publizistische Wirkung des Blattes wachsen. Grundsätzliche Erwägungen, ob ein solches Organ mit diesen finanziellen Opfern für die Regierung überhaupt von Interesse sei, beantwortete Meusebach entschieden positiv: "Die Erfahrung aller constitutionellen Staaten spricht hierfür mit unwiderleglichen Beweisen. " Gerade in entscheidenden Krisen hätten diese auf den Beistand spezifisch gouvernemental orientierter und entsprechend subventionierter Blätter rechnen wollen und auch können. Wenn alle Länder so verführen, könne Preußen nicht machtlos dastehen, gerade jetzt, wo es um deutsche Politik gehe.(75) "Ginge die Reform ein, so müßten andere Organe gesucht werden, die diese Stelle vertreten. " Dieser Einsicht wird die preußische Regierung in der Zukunft noch mehrmals folgen. Brandenburg setzte dem Plädoyer seines Referenten in einem eigenen Schreiben an den Innenminister vom 9. Oktober noch einen weiteren Gedanken hinzu.(76) Er betonte den Mangel an Blättern, welche die Interessen der Regierung in der Öffentlichkeit vertreten. In der Tat war es unter den größeren Berliner Blättern dieser Zeit nur die "Kreuzzeitung", die den Kurs des Ministeriums gelegentlich publizistisch unterstützte.(77) Unter den neuen Umständen, so hoffte 29
Brandenburg, könne mit der "Deutschen Reform" "zugleich den oppositionellen Blättern in mannigfacher Beziehung entgegen gewirkt" werden. Da ihm selbst keine speziellen Mittel für die Presse zur Verfügung standen, bat er Manteuffel, die Gelder aus dem Geheimfonds des Innenministeriums zu b e schaffen. Der optimistische Tenor beider Schreiben wurde von Manteuffel nur vorsichtig geteilt. Am 23. Oktober bewilligte er eine monatliche Subvention von 1.000 T . , allerdings nur für das laufende Vierteljahr. "Eine weitere Zusicherung kann im Augenblick nicht gegeben werden. "(78) Diese Zurückhaltung war berechtigt. Die seit Oktober 1849 immer häufiger zu beobachtende Kürzung der Morgenausgabe der "Deutschen Reform" auf 2 Seiten (= 1 Blatt) verdeutlichte bereits die durch den Rückgang der Auflagenzahl bedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zeitung. Eine am 19. November 1849 gezogene Zwischenbilanz wies für das laufende 4. Quartal bei Einnahmen in Höhe von 5.376 T. 27 Sgr. und 6 Pf. und Ausgaben von 10.806 T. 17Sgr. und 4Pf. bereits ein Defizit von fast 5.500 T. auf.(79) Meusebach b e gründete das gegenüber dem Innenminister mit dem durch den Quartalswechsel bedingten Rückgang der Abonnenten.(80) Bei seinem gleichzeitigen Hinweis darauf, daß auch sämtliche anderen Zeitungen mit Quartalswechsel derartige Einbußen hinnehmen müßten, darf nicht übersehen werden, daß der Rückgang der Abonnentenzahl bei der "Deutschen Reform" bis auf 3.125 Ende 1849 ( 81) offensichtlich stetig war, wie die ständig wachsenden Zuschüsse während dieser Zeit nahelegen.(82) Die ungünstigen finanziellen Verhältnisse belasteten auch die Beziehung der Regierung zu Keller. Meusebach sah sich am 29. Dezember 1849 gezwungen, dem Chefredakteur den Fall eines "gänzlichen Eingehens" der "Deutschen Reform" als denkbar hinzustellen. Neue Verträge dürften deswegen nur noch "auf möglichst kurze Fristen" abgeschlossen werden. Die Kündigungsfrist für ihn, Keller, müsse von halbjährlich, wie im Vertrag vorgesehen, auf vierteljährlich zurückgenommen werden. Vorsorglich kündigte der Reg. -Rat dem Redakteur zum 1. Juli 1850.(83) Dessen postwendende Antwort vom folgenden Tag macht das Ausmaß der katastrophalen Finanzlage noch deutlicher. Unter der Vorgabe von Geldmangel war ihm bisher nicht einmal das seit dem 1. Oktober fällige Vierteljahresgehalt von 250 T. ausgezahlt worden. Keller drohte: "Ich (werde) mir dieses Verhalten nicht länger gefallen lassen." (84) Die aufbrechende Finanzmisere setzte gleichzeitig die im Vertrag involvierten Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Hauptredakteur und dem von der Regierung bestellten Garanten frei. Keller, wiewohl mit der Anstellung von Mitarbeitern beauftragt und damit auf die Kenntnis der zur Verfügung stehenden Gelder angewiesen, erhielt keinen Einblick in den Etat der Zeitung. Er artikulierte seinen Ärger am 14. Januar 1850: "Daß man mir fortwährend von einem Etat spricht, ohne ihn mir mitzutheilen, charakterisiert sich von selbst. "(85) Gleichzeitig beschwerte er sich über die wiederholten Übergriffe Nordenflychts in seine Kompetenzen als die eines verantwortlichen Redakteurs.
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Die Unstimmigkeiten führten Anfang 1850 zur Trennung. Meusebach griff in den ersten Februartagen zu zwei Anlässen, um die Kündigung bereits zum 15. Februar 1850 auszusprechen: (86) Einmal war es die von Keller grundlos zurückgestellte Aufnahme eines - in den Akten nicht näher gekennzeichneten Artikels aus dem Innenministerium, der der Redaktion Anfang des Monats zugegangen, aber erst am 7. Februar zum Abdruck gekommen war, zum anderen Kellers Wahl in das Erfurter Unionsparlament. Daß die Suche nach Anlässen in dieser Situation eigentlich unnötig war, bewies Keller in seiner Antwort vom 10. Februar 1850, worin er Meusebach schrieb, die Regierung sei seinem "Wunsche zuvorgekommen".(87) Er trete sogar "von Stunde an" zurück. Der Kündigung wurde stattgegeben und aus der Redaktion selbst sofort deren ältestes Mitglied, Dr. L. Hahn, zum Hauptredakteur ernannt.(88) Die Leser der Z e i tung erfuhren die Änderung in der Leitung der "Deutschen Reform" am 11. Februar 1850 nur in einer kurzen Notiz in der rechten unteren Ecke der 1. Seite.(89) Der Bericht ist insofern interessant, als er zu erkennen gibt, daß Keller bereits seit Anfang Januar 1850 keinen Artikel mehr für die "Deutsche Reform" geschrieben hatte. Die "Kölnische Zeitung" sah darin ein Symptom für den Gegensatz zwischen Keller und der Regierung.(90) Wäre sie in die Verhältnisse genauer eingeweiht, so hätte sie sicher den Grund dieses Gegensatzes in dem Vertrag vom 1. August 1849 gesehen. Denn dort war er angelegt. Damals hatte Keller sich durch seine Unterschrift damit einverstanden erklärt, die ausschließliche, nicht aber die letzte Entscheidung in allen redaktionellen Fragen zu haben. Die Wirklichkeit mußte ihm seitdem gezeigt haben, daß diese Formel eine unerträgliche Widersprüchlichkeit beinhaltete. Er, Keller, hatte nur nicht sofort wie Harkort gemerkt, daß eine offiziöse Zeitung nicht eigentlich unabhängig sein kann und ihre Redakteure, sofern diese auf eine selbständige Leitung drangen, an diesem Spannungsverhältnis leicht scheiterten. Dafür ist der Fall Kellers beispielhaft. Anläßlich des von der Regierung schnell getroffenen neuen Arrangements mit Dr. L. Hahn, dem später unter Bismarck bekannt werdenden "Preßhahn", ist ein kurzes Aide-memoire angelegt worden, das Einblick in die verschiedenen Aufgabenbereiche der Redaktion und ihr Personal gibt.(91) Bereits Graßmann hatte, als er zum 19. Juli 1849 das Amt des ersten Redakteurs niederlegte, Namen und Aufgaben der Belegschaft festgehalten^92) Danach war damals neben ihm als weiterer Redakteur nur noch Dr. Rutenberg angestellt. Hinzukamen ein Mann für die wirtschaftliche Verwaltung (Philippsborn), ein Kassenführer (Waltz) und ein Sekretär (Berg). Nachdem laut Vertrag mit Keller am 1. August 1849 alle Verwaltungsgeschäfte ganz dem Garanten der Regierung übertragen waren, waren in der neuen Liste vom 12. Februar 1850 Philippsborn, Waltz und Berg nicht mehr genannt. An ihfer Stelle konnte Hahn Uber vier feste Mitarbeiter für die Redaktion verfügen: Dr. Rutenberg war zuständig für die tägliche "revue politique" und die Überarbeitung der Korrespondenzartikel der Morgenausgabe. Dr. Müller-Jochum, unter Keller für die österreichischschlesischen Artikel verantwortlich, übernahm die Redaktion des Abendblattes. Dr. Ruprecht schrieb wie bisher die englischen Artikel und Dr. Hübner ebenfalls 31
wie bisher die österreichischen. Hahn, der neue Chefredakteur, hatte sich für diesen Posten offensichtlich durch seine zahlreichen Leitartikel und die französische Spalte empfohlen. Er beteuerte nun, "die ganze geistige Richtung des Blattes zu hüten" und dazu den steten Kontakt zu den Ministerien und dem Literarischen Kabinett zu halten.(93) Neben diesen festen Mitarbeitern besaß die "Deutsche Reform" bereits seit einiger Zeit mindestens einen Auslandskorrespondenten^94) Hahn wiederholte seine Versicherung gegenüber der Regierung vom 24. Februar noch einmal öffentlich gegenüber den Lesern seiner Zeitung. Als dreispaltiger Aufmacher in der Morgenausgabe vom 14. März 1850 abgedruckt, ist sie für das Verständnis der Zeitung nicht uninteressant: "Die Deutsche Reform vertritt die Grundsätze einer konservativen Politik auf dem Boden der bestehenden Verfassung und macht sich besonders die Vertheidigung des Regierungs-Systems zur Aufgabe, welches seit dem November 1848 die Entwicklung der öffentlichen Freiheit mit den Erfordernissen einer kräftigen Regierung zu verbinden, und für Deutschland, wie für Preußen den Weg einer heilbringenden Neugestaltung anzubahnen gewußt hat. " (95) Wer hieraus noch nicht die Offiziösität der Zeitung heraushörte, konnte es aus der folgenden Bemerkung tun, wo Hahn sagte, das Blatt verfüge über "die besten Quellen". Der Unkundige sollte dadurch sicher zum Abonnement angeregt werden. Um der Zeitung eine größere Breite zu sichern, wurde zum ersten Mal den Lesern außerhalb Preußens ein Quartalsabonnement zum Preis von 25 T. 1 2 S g r . angeboten.(96) Aus Werbegründen wurde gleichzeitig den festen Abonnenten ein Inserat bis zu einem Kostenpunkt von 1 T . nicht berechnet, was bei einem Preis von 1 1 / 2 Sgr. pro Petitzeile immerhin die kostenfreie Aufnahme eines kleinen 20-zeiligen Inserats ermöglichte.
D. Das Wachsen des politischen Gegensatzes zwischen der Regierung und der Redaktion und das Ende der Deutschen Reform" Mit der Übernahme der Redaktion durch Hahn stellte sich die "Deutsche Reform" ganz auf die Seite der Regierung. Trotzdem kam es bald bei einzelnen außenpolitischen Themen zu Spannungen zwischen der Zeitung und verschiedenen Ministerien. Während der Auseinandersetzung mit Graßmann war im Staatsministerium wahrscheinlich zum ersten Mal erörtert worden, in welcher Form die Zeitung mit Artikeln aus den einzelnen Ministerien versorgt werden sollte. Am 11. Juni 1849 bezog sich Brandenburg in einem Schreiben an alle Minister erstmalig auf eine solche Diskussion und ordnete an, "daß der Redaktion der dt. Reform oder dem Königl. Regierungsrath von Meusebach alle t e l e g r a p h i s c h e n D e p e s c h e n , welche sich ganz oder theilweise zur Veröffentlichung eignen, unverzüglich nach ihrem Eingang . . . in Abschrift mitgetheilt werden. " Das Interesse der Regierung erfordere es, "daß solche Mittheilungen neben dem Staats-
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Anzeiger a u s s c h l i e ß l i c h der dt. Reform, und nicht einem anderen in in Berlin erscheinenden Blatt gemacht werden".(97) Diese Anordnung war nicht so ausdrücklich befolgt worden, wie sie gemeint war. Den Wechsel von Keller zu Hahn nahm Brandenburg nämlich zum Anlaß, um sich bei dem Außenminister von Schleinitz über die Artikel zu beschweren, die aus seinem Amt kamen.(98) Zum einen seien sie nicht lebendig genug, zum anderen von der Redaktion als Privatartikel des im Auswärtigen Amt mit der Arbeit für die Presse beauftragten Dr. Hepke verstanden und entsprechend nur dann abgedruckt worden, wenn sie mit der Auffassung Kellers Ubereingestimmt hätten. Artikel, welche die auswärtige Politik der Regierung beträfen, ten besser sein. Außerdem sei unzulässig, daß Hepke gleichzeitig für andere Zeitungen schreibe. In seiner Antwort sagte Schleinitz am 3. April 1850 dem Literarischen Kabinett "jede den Umständen nach thunliche Unterstützung" zu.(99) Hepke sei entsprechend angewiesen. Daß er auch für andere Zeitungen schreibe, gehe auf seine, des Außenministers Anordnung zurück. Dieser Zusatz in dem Schleinitz-Brief zeigt, wie das von Brandenburg initiierte Verfahren einer ausschließlichen Nachrichtenversorgung der "Deutschen Reform" an einer entscheidenden Stelle durchbrochen wurde. Ist es da verwunderlich, daß die gouvernementale Z e i tung eigene "raisonnirende Artikel über schwebende politische Fragen" abdruckte, wie Schleinitz Manteuffel mißbilligend vorhielt? (100) Seit Anfang Juli gäbe es jetzt keinen regelmäßigen Kontakt mehr zwischen dem Auswärtigen Amt und der Redaktion. Die Artikel über Schleswig-Holstein seien "in einer der Sache der Herzogthümer so feindlichen und dem Feinde so günstigen Richtung" abgefaßt. (101) Während die Artikel Uber Schleswig-Holstein nach diesen beiden Briefen vom 10. und 20. August 1850 schlagartig aufhörten, liefen ähnliche Beschwerden aus dem Handelsministerium ein. Schon am 7. April 1850 hatte von der Heydt über die lebhaften Angriffe gegen Schutzzölle geklagt, welche die "Deutsche Reform" unter der Rubrik "Osterreich" führe.(102) Die Kritik war offensichtlich an Hahn weitergegeben worden und hatte auch gefruchtet. Doch die Morgenausgabe vom 22. Dezember 1850 gab v. d. Heydt erneut zu einer ähnlichen Beschwerde Anlaß.(103) Die "Deutsche Reform" hatte in dem Leitartikel dieser Ausgabe unter Berufung auf Humboldt und Stein dafür plädiert, die Politik höher zu stellen als die materiellen Interessen. Wenn Preußen nicht zu einer Handelspolitik wie der österreichischen zurückgehe, sondern unabhängig davon ein freieres Handelssystem suche, gewinne es die natürliche alte Stellung in Deutschland zurück, "die nämlich, an der Spitze des Fortschritts in Wissenschaft und Industrie zu stehen, welche Stellung einer Hegemonie, größer und dauernder, als die der physischen Gewalt ist, weil ihr die Zukunft gehört, während diese stets nur die Gegenwart bewältigt".(104) Diesen Aufruf zu einer liberalen Wirtschaftspolitik hielt v. d. Heydt für völlig verfehlt. Gerade in dem Augenblick, wo die preußische Regierung eine wirtschaftliche Annäherung an Österreich ernstlich betrieb, konnte doch nicht ein offiziöses Blatt "bei den betheiligten Regierungen die entschiedensten Bedenken 33
gegen die Aufrichtigkeit alles dessen hervorrufen, was die königliche Regierung seit einem Jahr sowohl ihren ZollverbUndeten als Österreich gegenüber erklärt" hatte. Und das am Vorabend der Wiedereröffnung der Generalkonferenz des Zollvereins!(105) Die offiziöse "Deutsche Reform" hatte also auf außen- wie wirtschaftspolitischem Gebiet trotz der Versicherung ihres Chefredakteurs Hahn, die Regierung zu verteidigen, ihrer Ansicht entgegenlaufende Gedanken entwickelt. Für die Regierung war das der Grund, das Blatt in dieser Form aufzugeben. Es erschien, während das Literarische Kabinett bereits ein anderes Pferd für seine Pressepolitik sattelte, unter neuem Namen und in veränderter Funktion. Diese Umwandlung wurde Anfang März 1851 vollzogen. Am 10. März 1850 erschien die "Deutsche Reform" mit ihrer Nr. 1.355 zum letzten Mal unter ihrem alten Namen.(106) Fortan wurde sie neu als "Preußische (Adler-)Zeitung" herausgegeben. Der Vorgang ist in direktem Zusammenhang mit einer weiteren Umdisposition in der Regierungspresse zu sehen. Am 29. März 1851 informierte Manteuffel den seit Januar 1851 mit der Leitung des Literarischen Kabinetts beauftragten Dr. Ryno Quehl darüber, daß der "Preußische Staatsanzeiger" trotz steigender Subvention (9.000 T . ) so hohe Einbußen in der Auflage habe hinnehmen mflssen (107), daß er zum 1. Juli 1851 eingestellt und künftig in verkürztem Umfang "als ein wirkliches Centrai-Organ für amtliche Nachrichten von allgemeinem Interesse aus allen Zweigen der Verwaltung" für 20 Sgr. pro Quartal herausgegeben werden sollte. Unter dem Titel "Königlicher Preußischer Staatsanzeiger" werde er in einem Hauptteil den amtlichen T e i l des "Staatsanzeigers" alter Art weiterführen, in einem Nebenteil alle Bekanntmachungen, soweit sie bisher in mehr als einem Amtsblatt stünden, und Inserate verschiedener Behörden und dazu verpflichteter Korporationen aufnehmen.(108) Der direkte Zusammenhang zwischen der Umbenennung der "Deutschen Reform" in "Preußische (Adler-)Zeitung" und der Umgestaltung des "Preußischen" in den "Königlich Preußischen Staatsanzeiger" ist nicht nur durch diese zeitliche Kongruenz belegbar, sondern auch organisatorisch. Beide Blätter wurden Quehl unterstellt.(l 09) Was den Zusammenhang aber noch stärker dokumentiert, ist die Tatsache, daß die "Adlerzeitung" als Beilage des Anzeigers erschien und zwar so, daß wohl der Anzeiger ohne die Tageszeitung, nicht aber diese ohne jenen bezogen werden konnte. (110) Das ganze Verfahren bedeutet zum einen, daß die Regierung zwei kränkelnde Presseorgane durch eine kombinierte Neuherausgabe sanieren wollte, zum anderen, daß das schwache das noch schwächere, aber der Regierung offensichtlich wichtigere Blatt aus dem Abonnententief mit herausziehen sollte. Nur aus dieser Funktion heraus ist zu verstehen, daß die Pressestelle der Regierung die "Preußische (Adler-)Zeitung" bei sinkender Abonnentenzahl (111) durch eine bisher für ein offiziöses Presseorgan unvergleichliche Subvention von über 20.000 T . für 1852 unterstützte.(112) Dieses Mißverhältnis war dann doch für Quehl Anlaß, dem Drucker Decker zum Jahresende 1852 das Ende der Zeitung zum 1. April 1853 anzuzeigen.(113)
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Die sozialen Einwände Deckers (114) vermochten den Einstellungstermin nur noch auf den 1. Juli 1853 hinauszuschieben. (115) Damit ist der erste, nach der 48er Revolution unternommene Versuch einer offiziösen Pressepolitik in Preußen gescheitert. Es mangelte nicht an der Bereitschaft verantwortlicher Regierungsstellen, auch fehlten nicht die finanziellen Mittel. Vielmehr scheint die Methode, mit der eine solche Zeitung geleitet werden sollte, falsch gewesen zu sein. Sie hielt qualifizierte Redakteure (wie Friedrich Harkort) ab und schmälerte den Ruf des Blattes in der Öffentlichkeit. Ob aber der Dilettantismus der Regierung oder die Abneigung der Leser gegenüber einer unfreieren Presse entscheidender war, läßt sich auf Grund der bisherigen Erfahrungen nicht sagen. Das preußische Kabinett empfand trotz des Mißerfolges weiterhin das "dringende Bedürfnis", publizistisch wirksam zu werden. Meusebach hatte im September 1849 an Brandenburg geschrieben:"Ginge die Reform ein, so mußten andere Organe gesucht werden, die diese Stelle vertreten. "(116) Dieser Gedanke wurde jetzt aufgegriffen. Gleichzeitig änderte sich, wenn auch nur ganz allmählich, die Methode der offiziösen Pressepolitik.
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II.
V o n der offenen zur verdeckten Offiziösität: V o n der " Z e i t " zur "Allgemeinen Preußischen (Stern-) Zeitung"
A.
Die Geschichte der " Z e i t " 1 8 5 0 - 1 8 5 8
1.
Die publizistische Initiative des " C o m i t é s patriotischer Männer"
Während die "Deutsche Reform" ihrem Ende entgegenging, bahnte sich für die Regierung bereits eine neue Möglichkeit gouvernementaler Pressepolitik an. Am 16. September 1 8 5 0 hatte der Kaufmann und Fabrikant Carl Julius Barthol die Öffentlichkeit zur Gründung einer konservativen Zeitung aufgerufen.(1) Seinen Vorstellungen nach sollte es ein Blatt werden, das den Hauptakzent auf die innenpolitischen Verhältnisse Preußens l e g t e und darüber nicht eine b e s t i m m t e S c h i c h t , sondern das ganze Volk " b e i durchgängig anständiger Haltung schlicht, einfach f a ß l i c h " informierte und zu einer besonnenen Beurteilung brachte. Die Konservative Partei, die sich von e i n e m solchen Plan wohl direkt angesprochen fühlen konnte, verhielt sich aus nicht bekannten Gründen ablehnend. D a gegen meldeten sich Angehörige des Bürgertums: 1 B ä c k e r m e i s t e r , 5 Lehrer, dazu der 1 8 4 8 als demokratischer Volksredner bekannt gewordene Pastor Reinb e c k und, für das Unternehmen von besonderer Bedeutung, mit Adolph W i l h e l m Hayn ein angesehener Berliner Buchdruckereibesitzer.(2) Diese - mit Barthol 9 Personen schlössen sich Ende Oktober zu e i n e m " C o m i t é patriotischer Männer" zusammen. Ihr Z i e l war es, den preußischen Staat durch e i n e neu zu gründende und auch selbst finanzierte Zeitung in der Öffentlichkeit zu unterstützen.(3) Bereits am 3. November 1 8 5 0 spottete der "Kladderadatsch" Uber die geplante Zeitung und sagte ihr mit ironischem Wortspiel ein schnelles Ende voraus: " M a n hat uns aufgefordert, vom 1. November oder vom 1. Januar ab einen Verein demokratischer Schriftsteller zu begründen, dessen Tendenz bloß die sein sollte, die Z e i t todtzuschlagen. Wir müssen diesen Vorschlag als einen höchst überflüssigen von der Hand weisen, da wir überzeugt sind, daß auch ohne unsre Bemühungen die Z e i t sehr schnell vergehen wird. " ( 4 ) Unbeeindruckt von einer solch ungünstigen Vorstellung in der Öffentlichkeit wandte sich Barthol zwei Wochen später o f f i z i e l l an den preußischen Innenminister und erläuterte ihm in einer Denkschrift das Vorhaben seines K o m i t e e s . (5) Grund des Schreibens waren die nach der zum 1. Juli 1 8 5 0 eingeführten Kautionspflicht für periodisch erscheinende politische Druckschriften doch überforderten finanziellen Möglichkeiten der Patrioten. Barthol bat deswegen die Regierung, man möge dort die Stellung der Kaution für die neue Zeitung übernehmen. Als Begründung suchte er in e i n e m 7 - P u n k t e Programm die Würdigkeit seines Unternehmens nachzuweisen. Dabei e n t w i c k e l te er Gedanken, die Uber ihre (indirekte) Kritik an der bisherigen Art, e i n e der Regierung freundliche Presse zu unterhalten, hinaus zukunftsorientierte (und erst v i e l später auch tatsächlich realisierte) Vorschläge einer erfolgreichen o f f i z i ö sen Pressepolitik beinhalteten.
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Seiner Meinung nach mußte die Zeitung zunächst einmal billig sein, da es ja des keimenden demokratischen Bewußtseins wegen in erster Linie darum ging, in der Masse des Volkes Leser zu gewinnen. Deren Interessen erforderten, was den Inhalt der Zeitung betraf, eine stärkere Berücksichtigung der Innenund besonders der Sozialpolitik. Themen dieser Art von einem extremen Parteistandpunkt aus, womöglich einem überdeutlich vertretenen konservativen, zu interpretieren, hielt Barthol für gänzlich verfehlt. "Freie Besprechung aller Meinungen ohne p l u m p e A u s f ä l l e , Unduldsamkeit und gegenseitige Anfeindung" schien ihm für den Start eines solchen Blattes das Wichtigste zu sein. Ähnlich wie Harkort lag ihm "zunächst Alles" daran, daß die Zeitung gelesen wurde. Natürlich sollte ihre Generallinie konservativ sein. Würde sie aber von Anfang an ihre regierungsfreundliche Absicht "als höchstes Ziel offen und frei an der Stirn" tragen, hieße das nur, demokratischen Blättern einen Angriffspunkt zu bieten und sich selbst den Eingang in eine so gestimmte Öffentlichkeit zu versperren. Für Barthol war die Zeitung nicht in erster Linie Nachrichtenträger, sondern Erziehungsfaktor für die staatsbürgerliche Bildung des breiten Volkes, ein Gedanke übrigens, der durchaus die Klagen in dem Balßer Promemoria vom Anfang des Jahres ins Positive wendete. Folglich mußte es das Ziel einer offiziösen Zeitung sein, zunächst dort gelesen zu werden, wo die bisherigen Gegner der Regierung standen. "Für treu und redlich Gesinnte bedarf es weder einer neuen, noch überhaupt einer konservativen Zeitung. Wer bereits die Liebe zum Könige im Herzen trägt, wird sie nicht aus Zeitschriften herauszulesen brauchen. " Diese beiden Schlußsätze im Barthol - Promemoria werden später in noch entschiedener Formulierung von den Direktoren des Literarischen Büros, Duncker und Wehrenpfennig, vertreten und von dem Redakteur Braß in die Tat umgesetzt werden und dadurch die offiziöse Pressepolitik auf eine ganz neue Basis stellen. Im Augenblick fanden sie bei den verantwortlichen Regierungsstellen noch nicht den vollen Widerhall. Das "Comité patriotischer Männer" erhielt zunächst gar keine Antwort von der Regierung, so daß Barthol und seine Freunde aus eigenen Kräften die benötigten Mittel aufbringen mußten, um am 15. Dezember 1850 die erste Nummer ihrer Zeitung unter dem Namen " Zeit" herausbringen zu können.(6) Nicht unwesentlich für diese mögliche Eigeninitiative scheint das Angebot des Komiteemitglieds Hayn gewesen zu sein, in seiner Druckerei den kostenlosen Satz und Druck der neuen Zeitung für 1 Jahr zu übernehmen. Bei einem beispiellos billigen Preis von 15 Sgr. pro Quartal für Berlin (7) erreichte die "Zeit" in 3 Wochen 600 Abonnenten.(8) Der geglückte Start veranlaßte Barthol, am 10. Januar 1851 noch einmal an die Regierung heranzutreten.(9) Sein Schreiben, nun mit der Bitte um eine größere finanzielle Unterstützung schließend, ist im Inhalt ähnlich dem, das er vor knapp 2 Monaten verfaßte. Wiederum stellte er in den Mittelpunkt seiner Gedanken über eine erfolgreiche offiziöse Pressepolitik methodische Überlegungen. Die "Zeit" wolle "erst leise, sehr leise auftreten und besonnen 37
vorschreiten". Erst müßten die Lehren, von denen er noch einmal versicherte, sie seien Ja niemals "anticonservativ", durch ihre Qualität und Haltbarkeit im Volke Wurzeln schlagen, dann ließen sich Grundsatze deutlicher vertreten, bestimmte Richtungen ausprägen, halb Belehrte und Bekehrte ohne Widerstand gewinnen. Quehl, der den Brief Barthols als erster las und empfehlend an das Staatsministerium weiterleitete, hat den Autor an dieser Stelle nicht ganz richtig verstanden - oder verstehen wollen. Seine Marginalie zeugt davon:"Die Zeitung w i r d . . . einen g a n z b e s t i m m t e n P a r t e i - S t a n d p u n k t und zwar den der conservativen Partei vertreten, in der F o r m aber sehr vorsichtig u. besonnen auftreten. " Die Bemerkung zur Form ist richtig, die zum Inhalt aber Uberinterpretiert. Barthol wollte sich zu Anfang eben nicht auf einen "ganz bestimmten Partei-Standpunkt" festlegen^ 10) Ihm war deswegen auch daran gelegen, daß die "Zeit" im Eigentum des "Comités patriotischer Männer" verblieb. Die Zeltung wollte, und das ist ein neuer und zugleich wesentlicher Gedanke in der Diskussion Uber die offiziöse Pressepolitik der Regierung, f r e i w i l l i g gouvernemental sein. Entsprechend sollte auch die Redaktion wie bisher in den Händen der Grundungsmitglieder Dr. Wolff und Kruschke verbleiben und die Regierung nur durch "eine möglichst vollständige Ausstattung" der Zeitung zu Hilfe kommen. Während Barthol dabei allein an eine finanzielle und nachrichtendienstliche dachte, verstand Quehl darunter sofort etwas anderes. Verhaftet in den Vorstellungen bisheriger offiziöser Pressepolitik, blieb ihm der Gedanke an eine freiwillig gouvernementale Zeitung fremd. Er nutzte die Chance, gleich zu Beginn seiner neuen Tätigkeit als Direktor des Literarischen Kabinetts die dahinsiechende "Deutsche Reform" mit der aufkommenden "Zeit" zu vertauschen, in traditionellem Sinne. Er schlug Manteuffel vor, "daß 1) der Königl. Regierung nicht allein das Miteigenthumsrecht an dem Blatte, sondern auch 2) die alleinige Verfügung über die Rédaction gesichert sein muß. "(11) Bei der unentgeltlichen Übernahme von Satz und Druck der Zeitung durch Hayn für 1 Jahr wurden seiner Ansicht nach die Unkosten für die Regierung in dieser Zeit nicht über 1.300 bis 1.400 T. anwachsen. Für das zweite Jahr wäre eine Deckung der Unkosten durch die Einnahmen "nicht unwahrscheinlich". Nachdem Manteuffel diesen Vorschlag genehmigt hatte(12), wurde in dem Vertrag zwischen Quehl, Hayn und Barthol am 18. Januar 1851 die neue Lage entgegen den Vorstellungen der Zeitungsgründer, aber im Sinne der Regierung festgelegt.(13) Quehl erschien "mit Freunden" als Gründer eines Komitees zur Herausgabe der "Zeit" (11). Barthol trat an ihn und Hayn sein Eigentumsrecht zum 15. Januar 1851 ab (§2) und erhielt dafür das Geld, das er bisher in die Redaktion gesteckt hatte, zurück (§ 6). Quehl sicherte für die Regierung das Recht, die "Rédaction ganz selbständig und ohne alle weitere Einmischung" zu fuhren (§3). Druck und Expedition lagen bei Hayn (§4). Als Hauptredakteur wurde Dr. Rutenberg von der "Deutschen Reform" Ubernommen.(14) 38
Dieser Vertrag vom 18. Januar wurde der publizistischen Initiative des " C o m i tés patriotischer Männer" n i c h t gerecht (15), im Gegenteil, Quehl setzte gegenüber der neuen Vorstellung einer freiwillig gouvernementalen Zeitung die alte Brandenburgs durch, eine spezifisch gouvernemental orientierte Z e i tung müsse auch von der Regierung entscheidend geleitet werden. Die bisherigen negativen Erfahrungen mit der "Deutschen Reform" haben - noch - nicht ausgereicht, eine offiziöse Pressepolitik der Methode nach zu ändern.
2. Die offiziöse " Z e i t " als "Privatzeitung" Quehls Der frühere Redakteur der "Erfurter Zeitung" und jetzige Vertraute Manteuffels, Dr. Ryno Quehl (16), hat den Antritt seines neuen Amtes als Direktor des Literarischen Kabinetts offensichtlich mit einem gelungenen Neuanfang offiziöser Pressepolitik parallelisieren können. Zumindest liegen in den Akten für das Jahr 1851 keine gegenteiligen Zeugnisse vor. Bei dem Motiv bisheriger aktenmäßiger Registrierung zu diesem Thema ist das als positiver Beweis zu werten. Ohnehin konnten redaktionelle Gegensätze nicht aufkommen, da Quehl über Rutenberg "für geistigen Zustrom" sorgte (17) und finanzielle Schwierigkeiten, die das Ende der "Deutschen Reform" so beschleunigt hatten, einstweilen unmöglich waren. Die Zeitung blieb "sehr billig". (18) Ihre Auflagenzahl wuchs erfreulich. (19) Im Laufe des Sommers 1852 müssen Mißstimmigkeiten zwischen Quehl und Hayn angewachsen sein. (20) Durch die Einführung der Zeitungssteuer zum 1. Juli 1852 wurde der Preis der " Z e i t " von bisher 15 auf 25 Sgr. für ein Quartalsabonnement angehoben. (21 ) Bei gleichbleibender Größe der Zeitung(l 1 / 2 Bogen) scheint Hayn finanziellen Spekulationen nachgegangen zu sein (22), die den Zweck der Zeitung verfehlten und der Regierung den Gedanken nahelegten, Hayn, nicht ohne einen gewissen Druck, zum Rücktritt von seinem Eigentumsrecht zu bewegen. (231 Der Buchdrucker erklärte sich bereit, für 4.000 T . seinen Anteil an Barthol zum 30. September 1852 zu verkaufen. (24) In einer fingierten Annonce ließ der "Kladderadatsch" vier T a g e vorher "Freund Hayn" dazu sagen: "Der Prediger Salomo sagt: 'Ein jegliches Ding hat seine Zeit. ' Ich muß dies für einen Irrthum erklären, da ich meine 'Zeit' nicht mehr habe. "(25) Der jetzt, natürlich mit staatlichen Geldern, wieder zum offiziellen Miteigentümer an seiner alten Zeitung avancierte Barthol blieb in dieser Position nur für eine kurze Übergangsphase. Er trat währenddessen nur durch seinen bereits mehrfach zitierten Brief an Manteuffel vom 12. Dezember 1852 hervor, der im Rückblick das Erreichte würdigte: "Die Zeitung stellt bis jetzt den ersten gelungenen Versuch dar, ein Blatt, welches kein Partei-Interesse, sondern lediglich und aufrichtig das Interesse der Regierung vertritt, so ins V o 1 k einzuführen, wie es mit der 'Zeit' geschehen ist. " Bei der augenblicklichen Auflagenhöhe von 5 - 6 . 0 0 0 Exemplaren war diese Aussage nicht unberechtigt. 39
Allerdings brach sogleich das alte Wunschdenken, das solchen Unternehmungen bisher eigen war, wieder durch, wenn Barthol der " Z e i t " mit einer baldigen Verdoppelung, ja Verdreifachung der Auflagenhöhe eine "große Zukunft" voraussagte. Man muß dies in einem solchen Schreiben aber auch als berechnenden Optimismus werten, denn Manteuffel wurde um die Bewilligung von höheren Zuschüssen gebeten. Das Geld wurde für Julius Sittenfeld benötigt, der nach Hayn den Druck der " Z e i t " übernommen hatte.(26) Das Verhältnis der Regierung zu diesem neuen Buchdrucker blieb nicht ungetrübt (27) und wurde deswegen nach nur dreimonatiger Dauer zum 1. Januar 1853 wieder gelöst. Der zum gleichen Termin geschlossene Vertrag Quehls mit dem Buchdruckereibesitzer Carl David schaffte eine neue, in dieser Deutlichkeit noch nicht formulierte Rechtsgrundlage. (28) "Im alleinigen Privatbesitz des Dr. Ouehl". so hieß es gleich klärend zu Anfang, "befindet sich die neueste Berliner Morgenzeitung, die ' Z e i t ' . " Entsprechend diesem Proömium verpflichtete sich Ouehl zur Übernahme aller Kosten für Redaktion und Herstellung der Zeitung so lange, "bis die Herstellungskosten des Blattes von Satz, Druck und Papier durch die Einnahmen derselben völlig gedeckt" waren, verfügte aber auch "allein und ohne alle Einmischung des p. David" Uber die Redaktion (§ 4). David erhielt für seine nur technischen Dienstleistungen 13 1 / 2 Sgr. pro Exemplar pro Quartal (§ 7). Als Startkapital für 1853 hatte er bereits am 1. Januar 3.000 T . empfangen. (29). Trotz dieser für ihn günstig erscheinenden Bedingungen erwies sich das am 3. Januar im "Kladderadatsch" abgedruckte Zitat aus dem 132. Psalm: "Gedenke, Herr, an David und an alle seine Leiden"(30) sehr bald als zutreffendes Bonmot. So hoffnungsvoll nämlich die bis zum 1. Januar 1858 vorgesehene Vertragsdauer (§ 11) - Barthol erhielt für diese Zeit die Expedition und blieb somit im Unternehmen (§ 8) - stimmen mochte, der "Privatbesitz" Quehls ging rasch in andere Hände Uber. Bereits nach einem halben Jahr wurde die erste Umdisposition getroffen: Decker trat an die Stelle Davids (31); das Wort des "Kladderadatsch" erfüllte sich. Daß wiederum der Drucker wechselte, zeigt, wie sehr das ganze Unternehmen eine Kostenfrage für den technischen Bereich war. Der Vorschlag Zinkeisens, eine bedingungsweise, aber doch ständige Subvention zu zahlen, wurde von Quehl wieder aufgegeben, wohl durch die Gunst der Umstände veranlaßt. Der Vorschlag Barthols, eine freiwillig gouvemementale Zeitung zu subventionieren, blieb aus grundsätzlichen Erwägungen zu diesem Zeitpunkt noch unbefolgt. 3. Das schwankende Interesse der Regierung an ihrer Zeitung Die Ernennung Ryno Quehls zum Generalkonsul in Kopenhagen machte zum 1. Oktober 1853 eine Neuordnung in der Leitung der " Zeit" notwendig. (32) Nachdem Dr. Metzel "die spezielle u. technische Leitung der Central-Preßstelle" übernommen hatte (33), führte dieser noch vor Abschluß des Jahres mit Barthol Vorverhandlungen mit dem Ziel, dem Kaufmann das juristische Eigen-
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tunisrecht an seiner alten Zeitung zurückzugeben. Die Verhandlungen gerieten jedoch bald ins Stocken, weil Barthol eine größere Eigenverantwortlichkeit verlangte, als Metzel nach gewohnter Regierungssitte zugestehen wollte. Da schaltete sich Manteuffel ein: " . . . aus besonderem persönlichen Vertrauen zu seiner (gem. Barthols) patriotischer Gesinnung, seiner bewährten Ergebenheit für die Staatsregierung, und seiner vollen Bereitwilligkeit, den Anforderungen der Regierung und ihres Commissarius in der Haltung und Redaction der Z e i tung Uberall nach seinen Kräften nachzukommen und zu entsprechen", gestand der Ministerpräsident Barthol Rechte zu, die die Grundsätze bisheriger gouvernementaler Pressepolitik wesentlich lockerten. (34) Mit Vertrag vom 28. Januar 1854 (35) übernahm Barthol nämlich das "alleinige Eigentum der 'Zeit' von jetzt an" ( § 1 ) . Diese Formel beinhaltet dabei zum ersten Male eine gewisse Selbständigkeit eines Privatmannes, der eine offiziöse Zeitung herausgab. Die Regierung schränkte ihre Rechte auf "eine fortlaufende Controlle der Verwaltung der Zeitung und eine bestimmte Einwirkung auf die Redaction und Tendenz derselben" ein (§ 6). Der Unterschied wird deutlich, wenn man an den Vertrag mit Keller, dem Hauptredakteur der "Deutschen Reform", zurückdenkt. Damals mußte die "letzte Entscheidung" dem Garanten der Regierung überlassen bleiben. Barthol hatte jetzt nur eine "bestimmte Einwirkung" zu dulden. Sie bestand etwa darin, daß der bestellte Regierungskommissar die Vorlage eines Leitartikels vor der Drucklegung verlangen "konnte" (§ 7), oder eigene Leitartikel und andere Berichte der Redaktion zum verpflichtenden Abdruck zusandte. Die alleinige Entscheidung bei der Wahl der Redakteure und ihre Überwachung durch die Regierung hatte Barthol erfolgreich zugunsten seines eigenen Mitspracherechtes einschränken können. Der Vertrag begründete die Regierungsrechte nur mit einer offiziellen Subvention in Höhe von maximal 6.000 T . pro Jahr, die quartalsweise zu 1.500 T . aus der Polizeilichen Dispositionskasse gezahlt werden sollte. Seine Laufzeit wurde zunächst auf ein Jahr festgelegt ( § 1 2 ) . Die Forderung Brandenburgs, eine spezifisch gouvememental orientierte Zeitung müsse auch von der Regierung redigiert werden, war in diesem Vertrag nicht mehr so ausschließlich realisiert, eher die Vorstellung Harkorts. Wie dieser nämlich im wesentlichen nur die monarchisch-konservative Tendenz des Blattes zusichern wollte, hieß es auch für Barthol in I 3 seines Vertrages: "Die 'Zeit' soll in gouvememental-conservativer Tendenz fortgeführt werden. "(36) Das Spannungsverhältnis zwischen Lenkung und Freiheit, in dem die " Z e i t " bisher genauso stand wie früher die "Deutsche Reform", war damit zum ersten Mal deutlich zugunsten einer unabhängigeren Stellung der Zeitung gelockert. Das "besondere persönliche Vertrauen" Manteuffels in die patriotische Gesinnung Barthols hatte es ermöglicht, daß die offiziöse Pressepolitik auf der Basis einer freiwilligeren Gouvernementalität fortgeführt wurde. Von einer völlig freiwilligen publizistischen Unterstützung der Regierung wird man angesichts der von dort kommenden Subventionen nicht sprechen können.
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Ein Erfolg der neuen Methode kann in der steigenden Auflagenzahl der "Zeit" gesehen werden. Im Frühjahr 1854 verkaufte das Blatt 6.600 Exemplare. (37) Zunehmend verschaffte es sich auch "Kredit in den mittleren und höheren Schichten der Berliner Bevölkerung". (38) Trotzdem blieb die Finanzlage zunächst nicht ganz ausgeglichen (39), so daß die patriotische Gesinnung Barthols stark geprüft wurde. Ein Anstieg der Auflagenhöhe und Anwachsen der Einnahmen durch die Annoncen scheinen aber im Laufe der ersten Jahreshälfte 1854 eine gewisse Stabilisierung der finanziellen Verhältnisse bewirkt zu haben. (40) Da die Exemplare der "Zeit" heute leider nicht mehr vorhanden sind, kann die inhaltliche Kongruenz ihrer Artikel mit der Politik der preußischen Regierung nicht überprüft werden. Es scheint aber so, daß Barthol die politische Linie des Kabinetts vertreten hat, denn die Presseakten vermerken, abgesehen von zwei geringfügigen Ausnahmen, keine redaktionellen Differenzen. (41) Deswegen ist es von diesem Gesichtspunkt aus nicht verständlich, weshalb Metzel den Vertrag mit Barthol nach Jahresfrist zum 31. Dezember 1854 kündigte. (42) Gegenüber Hegel gab er an, das Maximum von 6.000 T. Subvention mindern zu wollen. (43) Darauf liefen dann auch die erneuten Verhandlungen hinaus. Auch wenn Barthol nachdrücklich vor einer Kürzung der Subvention aus Gründen beispielloser Konkurrenz warnte (44) und der Regierung ihr Eigeninteresse an der Zeitung vorhielt (45), drang er mit seinem Appell nicht durch. Es wurde ein Nachtrag zum Vertrag vom 28. Januar 1854 ausgehandelt, der die Höhe der Subvention auf 4.000 T. für 1855 begrenzte. (46) Wenn die Regierung dafür auf eine Kontrolle der Ein- und Ausgaben verzichtete, so bedeutete das zwar nicht einen gänzlichen Rückzug aus der redaktionellen Einflußnahme, wohl aber eine weiter vergrößerte Unabhängigkeit der"Zeit". Darin den Beweis einer sich in der Methode schon grundsätzlich und dauerhaft geänderten offiziösen Pressepolitik der Regierung sehen zu wollen, ist unangemessen und verfrüht. Vielmehr sind die Maßnahmen ein Indiz für das sinkende Interesse einer zunehmend von politischer Reaktion befangenen preußischen Regierung. Das Maß der publizistischen und organisatorischen Freiheit der "Zeit" wurde auch bald wieder eingeschränkt. Zunächst half sich der Kaufmann Barthol bei der verschlechterten Finanzlage, die durch einen leichten Rückgang der Abonnentenzahl auf 6.393 zu Ende des Jahres 1855 noch verschärft wurde (47), dadurch, daß er sich den bisher als "Insertion" betrachteten und damit kostenlosen Abdruck von Ministerreden bezahlen ließ. (48) Die daraus resultierenden Spannungen (49) mündeten nicht ursächlich in die erneute Kündigung des Vertrages zum 1. Januar 1857.(50) Allerdings waren sie ein Symptom der sich wieder ändernden Auffassung von der offiziösen Stellung der "Zeit". (51) Der Barthol am 1. November 1856 zugesandte Entwurf eines neuen Vertrages (52) macht das in einem Begleitschreiben deutlich. "Cardinalpunkt" sollte der § 3 des Vertrages vom 12. Januar 1851 sein, wonach Quehl ja seinerzeit das Recht hatte, "die Redaction ganz selbständig und ohne alle weitere Einmischung zu führen". Die Regierung kehrte jetzt zu ihrer alten Forderung zurück, begründet 42
mit ihren materiellen Unterstützungen. (53) Neben diesem "Cardinalpunkt" waren ihr alle anderen Neuformulierungen "rein nebensächlicher Natur". Ob es zur Vertragsunterzeichnung gekommen ist, läßt sich aus den Akten nicht entnehmen. Das ist jedoch kein Desiderat, denn Barthol war ohnehin ausgeschaltet. Daß die " Z e i t " jetzt ihre Dienste erfüllte, muß indessen bezweifelt werden; denn bei weiter sinkender Auflagenzahl (54) stiegen die Subventionsgelder der Regierung für 1857 auf insgesamt 15.000 T . und damit auf eine bisher nicht erreichte Höhe. (55) Darin deutet sich bereits mit dem Ende der Ära Friedrich Wilhelms IV. auch das jener Zeitung an, die in der Zeit der Reaktion das maßgebliche Organ der Regierung war.
B. Max Duncker und die Neubesinnung Uber offiziöse Pressepolitik während der "Neuen Ära" in Preußen Die Rücknahme der " Z e i t " in den Besitz der Regierung hatte sich nicht bewährt. Metzel scheint sich bemüht zu haben, die Attraktivität der Zeltung dadurch zu heben, daß er namhafte Autoren (56), Literaten ohne Ruf (57), oder auch nur Gelegenheitsjournalisten, die dann aber in großer Zahl (58), zu freien Mitarbeitern zu gewinnen suchte. Nur vereinzelt bot er feste Verträge Uber 6 bezw. 12 Wochen an.(59) Bedenkt man, daß auch ein journalistisch begabter fester Mitarbeiter einen längeren Zeitraum zur Einarbeit braucht, bis er sich für die Redaktion zu einer wirklich wertvollen Kraft entwickelt, so erscheinen diese Methoden Metzels als auffällig dilettantisch. Erklärlich sind sie nur aus der Furcht des Direktors der Pressestelle, fest angestellte Mitarbeiter oder Redakteure könnten die Richtung der " Z e i t " in einer Weise beeinflussen, die der zum Chefredakteur des Blattes bestellte Robert Wentzel aus dem Literarischen Kabinett (60) dann auch nicht mehr kontrollieren konnte. Die Absicht des ganzen Unternehmens wäre dann in Frage gestellt. In der Öffentlichkeit gewann die " Zeit" durch dieses Verfahren Metzels kaum eine bessere Resonanz. Die Steigerung ihrer Abonnentenzahl blieb minimal(61), während die Subvention für 1857 die schon erwähnte Rekordhöhe von 15.000 T . erreichte. Als die Summe für 1858 noch einmal um 1.200 T . überboten werden mußte (62), scheint man an die Manipulationen mit der "Deutschen Reform" zurückgedacht und das Heil in einer Namensänderung gesucht zu haben. Zum 18. November 1858 erschien die " Z e i t " als "Preußische Zeitung", unter neuem T i t e l in altem Gewande.(63) Das Taktieren Metzels erwies sich nicht als glücklich. Das Datum legt die Vermutung nahe, daß die Umbenennungder offiziösen preußischen Zeitung in einem Zusammenhang mit der veränderten politischen Lage zu sehen ist. Dies läßt sich durch den Gang der Ereignisse im Sommer 1859 erhärten. Mit der Übernahme der Regentschaft durch Wilhelm wurde im Oktober 1858 die einjährige, staatsrechtlich fragwürdige Stellvertretung beendet und mit der Eidesleistung des neuen Regenten am 26. Oktober 1858 wieder ein verfassungs43
mäßiger Zustand erreicht. In dem am 5. November gebildeten Kabinett der "Neuen Ära" unter der nominellen Leitung des Fürsten Karl Anton von Hohenzollem-Sigmaringen scheint der Minister ohne Portefeuille Rudolf von Auerswald seine pressepolitischen Erfahrungen aus der Revolutionszeit bald erneut aktiviert zu haben. Das an ihn und den Fürsten Karl Anton gerichtete Schreiben des Regenten vom 30. Juli 1859 (64) vermag das, wenn auch nur indirekt, zu beweisen. Wie 1848 wurde auch jetzt das Motiv offiziöser Pressepolitik darin gesehen, "den maßlosen Angriffen in der Tagespresse wirksam entgegenzutreten". Im kritischen Rückblick auf die vergangenen 2 Jahre sah Wilhelm das nicht immer so beachtet, wie "es die Größe der Aufgabe erfordert" hätte. Wenn er den Mangel an Einheit in der Leitung der gouvernementalen Presse beklagte, konnte diese Kritik nur auf Metzel gezielt sein. Folgerichtig wurde der Hebel auch da erneut angesetzt. Auf Vorschlag Auerswalds wurde der Geh.Reg. -Rat Max Duncker damit beauftragt, "der diesseitigen Politik auf dem Gebiete der Presse die gebührende Geltung zu verschaffen". Um die Wirksamkeit seiner Arbeit zu heben, wurde ihm nicht allein die "Centraistelle für Preßangelegenheiten" unterstellt, sondern die gesamte Tätigkeit der Regierung auf dem Gebiete der politischen Presse in seiner Hand vereinigt. Damit erhielt Duncker eine sehr viel stärkere Position, als sie seine Vorgänger Quehl und Metzel je innehatten. Er wurde Vortragender Rat in Preßangelegenheiten, hatte in dieser Funktion zu jedem Ministerium Zutritt und sollte von dort nicht nur Materialien über abgeschlossene Themen, sondern Gesichtspunkte zur Behandlung noch schwebender Fragen einholen bzw. automatisch geliefert bekommen. Diese Grundsätze einer gestrafften Organisation wurden gleichzeitig allen Ministern zur Kenntnis gebrachte 65) Detaillierter noch als Wilhelm entwickelte Auerswald selbst diese Pläne dem inzwischen berufenen Duncker am 4. August 1859.(66) Neben dem Leiter der Zentralstelle wurde die Stelle eines Direktors eingerichtet, der "den laufenden Betrieb" zu besorgen hatte. Außerdem wurden die reinen Verwaltungsgeschäfte einer dritten Person, dem Geh. Rechnungs-Rat Nobiling, übertragen. Duncker selbst oblag die Beziehung zu den einzelnen Ministerien, denen er Bericht zu erstatten und von denen er Informationen, und zwar "jeder Zeit ausreichend", einzuholen hatte. Duncker hat in seiner Antwort vom 3. September 1859 recht, wenn er bemerkte, daß "das gegenwärtige Gouvernement... das aus dem Jahre 1850 eingeführte System der Einwirkung auf die Presse verlassen" hat.(67) Damals lag die jetzt dreigeteilte Funktion in der Leitung der Zentralstelle in einer Hand. Zugleich war das enge wechselseitige Verhältnis zwischen diesem Amt und den einzelnen Ministem nicht so ausdrücklich gemacht.(68) Gerade das aber hob Duncker als bedeutend für eine erfolgreiche offiziöse Pressepolitik hervor. Die "Preußische Zeitung" habe zwar"übermäßig" viel Geld gekostet, ihre Wirkung sei aber zunehmend geringer geworden. Von dem reichen politischen und volkswirtschaftlichen Material, Uber das die einzelnen Ministerlen stets verfügten, hätten sie der "Preußischen Zeitung" nur "geringe Brosamen" zukommen lassen. Der Grund 44
sei in der fehlenden lebendigen Wechselwirkung zwischen der Zentralstelle und den Ministerien zu sehen. Das neue System der direkten Verbindung, "d. h. des theils mündlichen theils schriftlichen Verkehrs", war zwar sinnvoller, aber nach Dunckers Meinung so nicht praktikabel. Er verwies auf seine bisherigen viermonatigen Erfahrungen, wonach er "allein den halben Tag" für diesen Verkehr benötigte. Er schlug 4 bis 5 Stellvertreter vor. Weitere Einblicke in Gründe für die abnehmende publizistische Wirksamkeit der zentralen Pressestelle der Regierung vermag Dunckers Bemerkung zu geben, es säße dort außer dem Direktor kein einziger Literat, "welcher im Stande ist, einen Leitartikel zu schreiben". Die Erinnerung an Harkort kommt bei seiner Forderung auf, "schreibende Kräfte ersten Ranges zu besitzen, die durch das moralische Gewicht ihres Namens, durch ihr literarisches Talent, durch die Artikel und Flugschriften, welche von ihnen ausgehen, im Stande sind, der Tagespresse und durch dieselben der öffentlichen Meinung Antriebe und Impulse zu geben". Das war nicht möglich gewesen, weil die Regierung den Vorteil eines guten, aber ungebundenen Journalisten stets dem Nachteil eines vertraglich gebundenen, zwar willigen, aber "zweitrangigen" hintangestellt hatte. Diese Bindung hatte, wie alle bisherigen offiziösen Blätter, so auch die "Preußische Zeitung" getroffen. Die direkte Beziehung derselben zur Staatsregierung, d. h. ihre ja zumeist straffe Lenkung, legte nach der Meinung Dunckers der Z e i tung "die hemmendsten Rücksichten auf". Die pikantesten Neuigkeiten durfte sie nicht "auf der Stelle" bringen, in eine Polemik sich nicht einlassen. Leitartikel konnte sie erst nach eingeholter ministerieller Genehmigung drucken. Dieser Mangel an Tempo und Aktualität, der fehlende Spielraum bei einem raschen und direkten Kampf mit oft tendenziösen Meinungen in der oppositionellen Tagespresse, diese Sterilität des Blattes "demoralisierten" seine Mitarbeiter und veranlaßten seine Leser zur Abbestellung. "Um es spitz zu sagen", so schloß Duncker, "die Regierung hält ein Blatt um in demselben wenig zu sagen aber zu schweigen und verkauft dieses Schweigen mit einem Aufwände von jährlich 18.000 Thalern." Als Folgerung aus seinen Überlegungen schlug Max Duncker vor, was Harkort wollte und Barthol meinte: "Die Zeitung muß die Regierung vertreten, aber sie darf ihr nicht gehören. " Nur so konnte offiziöse Pressepolitik erfolgreich sein. Alles andere wäre offizielle, mithin im "Staatsanzeiger" zu vertreten. So radikal, allerdings nicht neu, der Ansatz ist, die Methode, zu der Duncker riet, blieb wieder dahinter zurück. Die "Preußische Zeitung" sollte einem selbständigen Verleger übergeben werden, ihre Redaktion dagegen, "wenn auch nicht nominell", von der Regierung gestellt und bezahlt werden. Auch der liberale Gelehrte und junge Beamte der "Neuen Ära" vermochte nicht die Ängstlichkeit der Behörden aus der Reaktionszeit ganz abzulegen; auch er wollte nämlich das Instrumentarium, mit dem die Regierung die offiziöse Z e i tung lenken konnte, nicht so drastisch beschneiden, daß man von einer freiwillig gouvernementalen Haltung der Zeitung sprechen könnte. Offiziöse Presse45
politik sollte zumindest zu jeder Zeit lenkbare Pressepolitik bleiben. Die dabei befolgte Methode sollte allerdings vor der Öffentlichkeit verdeckt werden. Es wird sich zeigen lassen, daß hier Grtlnde für die Erfolglosigkeit der "Preußischen Zeitung" in den nächsten drei Jahren, die sie noch bestehen wird, lagen. Aus einer vergrößerten, aber doch weitgehend nur nominellen Unabhängigkeit wird wieder eine strenge faktische Abhängigkeit werden, für gute Redakteure ein Grund, den angebotenen Posten gar nicht erst anzunehmen, für die Leser ein Grund, in dieser Zeitung einen zweiten "Staatsanzeiger" in verwässerter Form zu sehen und sie ebenfalls abzulehnen. Vorerst jedoch wurden Dunckers Überlegungen von Auerswald akzeptiert und ein neuer Verleger gesucht.
C.
Die "Preußische Zeitung" im Spannungsfeld verdeckter OffiziOsität
1.
Der fehlgeschlagene Versuch mit der Weidmannschen Buchhandlung
Dunckers konkreter Vorschlag, die "Preußische Zeitung" zum 1. Januar 1860 in die Hände eines selbständigen Verlegers zu geben, wurde noch im Laufe des Septembers genehmigt. Am Ende des Monats informierte nämlich der zum Direktor der Pressestelle ernannte v. Bardeleben Decker Uber fttr ihn, den Drucker, mögliche Folgen "einer anderweitigen Organisation" der Zeitung zum 1. Januar 1860.(69) Einen Monat später konnte er bereits berichten, daß die Weidmannsche Buchhandlung der neue Verleger sein werde, dem "die Verpflichtung auferlegt" sei, den Druck bis zum 1. Juli 1860 in Deckers Händen zu belassen.(70) Nicht allein diese Verpflichtung enthielt der Vertragsentwurf, den die Weidmannsche Buchhandlung, vertreten durch den Kaufmann Adalbert Delbrück, und die Regierung, vertreten durch den Geh. Reg. -Rat Max Duncker, zwischenzeitlich ausgehandelt und am 24. Oktober 1859 unterschrieben hatten.(71) Zwar sind Elemente der bisher im offiziösen Pressewesen geschlossenen Verträge wiederzufinden, aber sie wurden sowohl an Umfang (17 SS auf 17 Folioselten), als auch an inhaltlicher Präzision durch den vorliegenden Vertrag weit Ubertroffen. Die Handschrift Dunckers ist dabei unverkennbar. Im Grunde ist hier der Kernsatz seiner September-Denkschrift ( " D i e Zeitung muß die Regierung vertreten, aber sie darf ihr nicht gehören.") in Einzelparagraphen aufgegliedert. Ohne eine Entschädigungssumme an die Regierung (oder eventuell auch Barthol) zu zahlen, Ubernahm die Weidmannsche Buchhandlung die "Preußische Zeitung" zum 1. Januar 1859 in ihr Eigentum ( i 1). Entsprechend hatte sie, mit Ausnahme der von der Regierung gestellten Kaution Uber 5.000 T . (S 10), die Kosten für die Redaktion, den Verlag und den Druck (§ 6 u. 7) zu tragen, konnte aber auch jeden eventuellen finanziellen Gewinn behalten. Der Umfang des Blattes und seine Erscheinungsweise zweimal täglich blieben erhalten (§ 3 und 4), der Preis von gegenwärtig 1 T . u. 22 1/2 Sgr. konnte auf 2 T . pro Quartal erhöht werden (§ 5). 46
Diese Bestimmungen erhärten den 2. T e i l des Duncker-Grundsatzes: Die Z e i tung gehört dem Verleger. Der wichtigere 1. T e i l , die Sicherung der offiziösen Haltung des Blattes, kam besonders da zur Sprache, wo es um Redakteure und Artikel ging. In § 5 hieß es über den wichtigsten Posten: "Für die Bestellung des Hauptredakteurs hat die Weidmannsche Buchhandlung das Recht, Vorschläge zu machen. Die Wahl sowohl wie die Bestätigung des Hauptredakteurs steht jedoch dem Regierungs-Commissar zu. " Da tauchte jenes alte Vertragselement wieder auf, das Brandenburg als Sicherung spezifisch gouvernementaler Pressepolitik erstmalig vertrat, damals wie j e t z t verstärkt durch die Formulierung in § 8: "Artikel, welche der Zeitung von Seiten der Staats-Regierung zur Aufnahme zugesandt werden, sind unverändert in die nächste Nummer des Blattes an der bezeichneten Stelle zu inserieren. " Wenn Duncker gleichzeitig die Kündigungsfrist des Chefredakteurs auf nur 6 Monate festzulegen vermochte ( § 6 ) , konnte ein eventuell später sich herausstellender Fehlgriff in der Person des Journalisten keine allzu langzeitigen Gefahren heraufbeschwören. Da dem Regierungskommissar ferner das entscheidende Mitspracherecht bei der Anstellung von Unterredakteuren eingeräumt wurde (I 5), durfte die gesamte Redaktion zwar als äußerlich unabhängig gelten, ihre Regierungsnähe mußte aber als gesichert angesehen werden. Es erscheint sinnvoll, bei einer solchen Organisation von einer v e r d e c k t e n O f f i z i ö s i t ä t d e r "Preußischen Zeitung" zu sprechen. Wohl um bei diesen Konditionen Personen von Rang zu gewinnen, mußte die Weidmannsche Buchhandlung zusichern, mindestens 6.000 T . pro Jahr für die Gehälter aller Redakteure, einschließlich des Chefredakteurs (72), aufzuwenden. Um die Qualität der Zeitung weiter zu heben, mußte sie im gleichen Zeitraum zusätzlich mindestens 3.000 T . für Auslandskorrespondenten ausgeben (§ 7). Die enge Verzahnung zwischen den beiden Teilen des Duncker-Grundsatzes wird faßbar und damit die tatsächlich nur verdeckte Offiziösität noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß Weidmann zwaT diese Gehälter in Höhe von insgesamt 9.000 T . pro Jahr zu zahlen hatte, ihm die g l e i c h e Summe aber als Subvention von der Regierung zufloß. Der Verleger hatte die Redakteure juristisch in seine Dienste genommen, die Regierung sich ihre Dienste faktisch durch Auswahl und indirekte Bezahlung gesichert. Die Subvention konnte sich noch erhöhen, wenn die zugrundegelegte Auflagenzahl von 4.000 unterschritten wurde.(73) In diesem Fall mußte die Regierung für j e 100 Exemplare 100 T . mehr zahlen (§ 9). Die Kündigungsfristen des Vertrages waren halbjährlich auf den 30. Juni bezw. 31. Dezember festgelegt (§ 11). Der gute Wille der Weidmannschen Buchhandlung, den Vertrag zu erfüllen, scheiterte, noch ehe dieser in Kraft trat. Der Grund war nicht so sehr das Recht der Regierung, den Chefredakteur zu wählen und zu bestätigen, sondern ihre Möglichkeit, Artikel zum verpflichtenden und unveränderten Abdruck in die Zeitung zu geben. Jeder der von der Buchhandlung angesprochenen möglichen Redakteure, Hofrat Freytag, Staatsrat Mathy, Reg. -Rat Lannver, DT. Neumann 47
und Dr. Baumgarten, lehnte ab, Neumann und Baumgarten unter dem direkten Hinweis darauf, gerade diese l e t z t e Verpflichtung nicht akzeptieren zu können. S i e forderten " n a m e n t l i c h die Lösung der Verpflichtung, wonach von der S t a a t s regierung der Zeitung zugesandte Artikel in der nächsten Nummer an der b e z e i c h n e t e n S t e l l e wirklich aufzunehmen sind".(74) Als auch ein Versuch mit Dr. Lorentzen aus Gotha scheiterte, weil die Buchhandlung nicht bereit war, dessen Forderung nach einer Entschädigung für die Aufgabe seiner unkündbaren Stellung zu erfüllen ( 7 5 ) , kündigte Weidmann den Vertrag am 2 5 . November 1 8 5 9 auf.(76) Die Kündigung wurde in beiderseitigem Einvernehmen am 2 6 . November 1 8 5 9 rechtskräftig.(77)
2.
Der Ausbruch der systemimmanenten Fehler unter dem Verleger Trowitzsch
Unmittelbar nach dem Rücktritt Weidmanns griff Duncker offensichtlich noch e i n m a l auf Verhandlungen mit dem Berliner Verlegerpaar Winckelmann und Gärtner zurück, das er ebenfalls im September angesprochen h a t t e . Auch von dort traf j e t z t , am 2 8 . November 1 8 5 9 , e i n e endgültige Absage ein.(78) Die Gründe, die beide dazu veranlaßten, sind denen Weidmanns im Inhalt ähnl i c h , nur sprechen sie stärker die grundsätzlichen Schwierigkeiten aus, mit denen Verleger und besonders der Hauptredakteur einer offiziösen Zeitung b e lastet waren. Selbst wenn a l l e Beteiligten, der Minister, der Regierungskommissar, der Hauptredakteur und der Verleger, in bester Harmonie die Arbeit aufnahmen, konnte es sehr schnell zu Situationen kommen, die das ganze Unternehmen in Frage stellten. Wie sollte sich etwa der Redakteur verhalten, wenn er eine ministerie l l e Auffassung zu publizieren hatte, die vom bisherigen Kurs abwich und g e gen seine eigene Überzeugung vom Wohl des Landes gerichtet war? Oder was sollte er in der noch extremeren Lage eines plötzlichen Ministerwechsels m a chen? Den scheidenden Minister hatte er weisungsgemäß bis zur letzten Stunde unterstützt. Konnte er sofort für den neuen eintreten, den er bisher v i e l l e i c h t bekämpft hatte? Winckelmann und Gärtner zeigen hier die Hauptschwierigkeiten einer offiziösen Presse auf.(79) Eine Zeitung, der Regierung als "his masters v o i c e " verpflichtet, war zur gedanklichen Unselbständigkeit verurteilt und damit für die Öffentlichkeit e i g e n t l i c h ein totes, zumindest ein uninteressantes Organ. Eine solche Z e i tung wollten Neumann und Baumgarten nicht e i n m a l versuchsweise redigieren, es sei denn, ihre geistige Unabhängigkeit wäre vorher garantiert worden. T h e o dor Mommsen, mit dem Duncker in den ersten Dezemberwochen über diesen Punkt korrespondierte, hatte dafür volles Verständnis. Auch Duncker selbst war dieser Meinung und scheint sich b e i m Innenminister in diesem Sinne verwandt zu haben und sogar, als er damit nicht durchdrang, mit dem Gedanken an e i nen Rücktritt von der Leitung der offiziösen Presse getragen zu haben.(80) Er tat diesen Schritt vorerst nicht, v i e l l e i c h t , weil es am 7. Dezember 1859 gelang, mit der zweitgrößten Berliner Druckerei, dem Betrieb von Trowitzsch 48
und Sohn, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen (81) und kurz darauf auch den von Weidmann bereits angesprochenen Dr. Lorentzen als Hauptredakteur zu gewinnen. In dem Vertrag mit Trowitzsch wurden die beiden Passagen, die Weidmann zum Rücktritt gezwungen hatten, ein wenig modifiziert, allerdings nicht im Kern verändert. In § 5 hieß es jetzt nur noch: "Die Bestätigung des Haupt-Redacteurs steht . . . dem Regierungs-Commissar z u . " Vorher war ausdrücklich von W a h l und Bestätigung die Rede. Im noch entscheidenderen I 8, wo die Übernahme der Artikel geregelt war, wurde ein Zusatz gemacht: "Änderungen in der Form dieser Mittheilungen stehen dem Haupt-Redacteur zu, wenn ihm dieselben durchaus geboten erscheinen." Selbst dieses nominelle, weil nur auf die Form bezogene Zugeständnis wurde sofort eingeschränkt: " . . . jedoch nur unter Genehmigung des Regierungs-Commissars". Hier sah sich die Regierung also innerhalb der Organisation ihrer offiziösen Pressepolitik an einer wesentlichen Stelle, die sie nicht aufzugeben vermochte: Die Zeitung mußte zu jeder Zeit lenkbar bleiben. Leichter fiel es, die weitere Forderung des des Dr. Lorentzen zu erfüllen. Die Regierung Ubernahm die Verpflichtung, ihm im Falle einer vorzeitigen Kündigung ein einmaliges Jahresgehalt von 2 . 4 0 0 T . als Überbrückung zu zahlen.(82) Für Lorentzen war das eine genügende Sicherheit, um seine Stellung in Gotha zum Jahresende aufzugeben. Durch seine Unterschrift unter den zwischen ihm und dem Verleger Trowitzsch am 20. Januar 1860 abgeschlossenen Dienstvertrag sicherte er der Regierung ihre Einflußnahme zu.(83) Neben ihm wurden mit Engel, Wentzel, Driesen, Köhler, Kerckhoff, Cossmann und Samson noch sieben Personen für die Redaktion übernommen bezw. neu berufen. Daß alle Genannten als Redakteure angestellt wurden, wie es Lorentzen in einem Brief an Duncker vom 6. Juni 1861 darzustellen scheint (84t, ist nicht recht glaubhaft. Man muß bedenken, daß von den 6.000 T . , die pro Jahr zur Deckung der Personalkosten vorgesehen waren, Lorentzen allein schon 2.500 T. bekommen sollte. Setzt man das Jahresgehalt eines Redakteurs einer Berliner Zeitung mit mittlerer Auflage bei etwa 800 T . an, so bleibt nur die Wahrscheinlichkeit, daß vielleicht zwei der genannten Sieben als Redakteure, die anderen dagegen als feste Mitarbeiter gegen ein Zeilenhonorar oder ein kleines Fixum plus Zeilenhonorar verpflichtet worden sind. Der Neuanfang der so geregelten Pressepolitik der preußischen Regierung wurde auch durch die Umbenennung der "Centraistelle für Preßangelegenheiten" in "Das literarische Bureau des K. Staats-Ministeriums" augenfällig gemacht.(85) Der Optimismus, die "Preußische Zeitung" werde durch ihre nun geschaffene "selbständige Stellung" und bei entsprechender materieller Unterstützung durch alle Ministerien "den Standpunkt der Regierung in freier Bewegung nach allen Richtungen hin" erfolgreich vertreten, wurde durch die Realitäten schnell gedämpft. Leider liegen die Exemplare der Zeitung heute nicht mehr vor, so daß Artikel zur Illustration bezw. Widerlegung der Aktenaussagen nicht herangezogen werden können. Doch das Interesse vieler Leser scheint die "Preußische Zeitung" mit ihren Nachrichten und Kommentaren, soviel kann aus den Akten gefolgert werden, nicht gewonnen zu haben. Entgegen der im Vertrag zugrunde49
gelegten Auflagenhöhe von 4.000 Exemplaren hat die Zeitung Anfang 1860 nur noch 2.179 Leser.(86) Im 2. Quartal 1860 sank diese Zahl auf 1.983 (87), zu Anfang des folgenden Jahres waren es noch 1.725.(88) Der Leserverlust mußte vertragsgemäß durch höhere Subventionszahlungen an Trowitzsch ausgeglichen werden.(89) Dadurch wuchs bei der Regierung und dem Verleger die Unlust an dem gemeinsamen Unternehmen standig. Trowitzsch sah den Hauptgrund für das sinkende Interesse an der "Preußischen Zeitung" "in der Natur der Zeitung selbst". Sie galt in der Öffentlichkeit inzwischen sogar als offizielles Organ des Ministeriums, war "also nicht unabh ä n g i g " . ^ ) Hinzukam, daß ihr zu wenig und nicht einmal als einziger Zeitung das Regierungsmaterial zufloß, sondern andere Blätter auch bedacht wurden, die dann "das anerkannte Organ der Regierung nachzudrucken genöthigt" war. Welche nur grotesk zu nennenden Züge der schwache Materialfluß annehmen konnte, beweist ein Vorfall aus dem Oktober 1860. Der Geh. Rechnungs-Rat Nobiling warf der Zeitung damals vor, zuviele Falschmeldungen über den Königlichen Hof zu bringen. Trowitzsch konterte mit dem Hinweis, seine Z e i tung bekäme, "obwohl Organ der Regierung . . . , auf direktem oder amtlichem Wege über den Hof durchaus keine Nachricht". Sie sei demnach darauf angewiesen, über Hintertreppen Portiers und Bedienstete des Königlichen Hofes Uber dortige Vorgänge zu fragen. Daß dabei Irrtümer nicht auszuschließen seien, läge auf der Hand. (91) Max Duncker gab zu, daß die Umgestaltung der "Preußischen Zeitung" mißlungen war. Zwar wurde sie zunächst interessanter, aber durch die Berichterstattung während des Militärkonfliktes zu schnell wieder ganz offiziell. Statt eine Zeitung zu schaffen, die nicht das Blatt der Regierung war, diese aber wohl vertrat, hatte "man nichts als einen zweiten ausführlichen Staatsanzeiger" geschaffen.(92) Der Fehler lag, das erkannte Duncker klar, im System. Einmal war Trowitzsch ein zu finanzschwacher, weil zu kleiner Verleger. Decker oder gar Brockhaus müßten die Zeitung herausgeben. Zum anderen mußte die Zeitung eine w i r k l i c h u n a b h ä n g i g e Stellung einnehmen. "Jedes Organ der Tagespresse, welches die Regierung in die Hand nimmt, welches sie auch nur indirekt leitet, ist durch diese Stellung eine stumpfe Waffe." Es ging nur so, daß die "Preußische Zeitung" "wirklich frei" war; wurde sie dabei oppositionell, mußte die Regierung sie eben zurückkaufen. Mit diesem Gedanken Dunckers wird der Grundsatz bisheriger offiziöser Pressepolitik, ob offener oder verdeckter, verlassen. Der Weg zur freiwillig gouvernementalen Zeitung bahnte sich an. 3. Das Ende der "Allgemeinen Preußischen (Stem-)Zeitung" unter dem Verleger Decker Die Herausgabe der nun abermals umbenannten "Allgemeinen Preußischen (Stern-)Zeitung" unter dem Verleger Decker blieb nur eine Episode. Nachdem Trowitzsch am 17. Dezember 1860 für den Fall, daß keine höheren Zuschüsse 50
gezahlt würden, die Kündigung angedroht (93) und knapp 2 Wochen später zum 1. Juli 1861 ausgesprochen hatte (94), wurden Verhandlungen mit Decker aufg e n o m m e n . ^ ) Sie drohten zunächst an der Subventionsfrage zu scheitern. Decker stellte sich auf den Standpunkt, "daß ohne bedeutende Mittel nichts Bedeutendes geleistet werden kann" (96), und hielt 20.000 T. pro Jahr für "nicht zu hoch gegriffen".(97) Die Regierung bot dagegen im Höchstfall 14.000 T.(98) Duncker, der die Verhandlungen führte, wollte sie an dieser Frage scheitern lassen und sich selbst zurückziehen. Von Auerswald aufgefordert, andere Vorschläge zu machen, riet er zwar u . a . dazu, die Zeitung entweder zum 1. Juli 1861 einzustellen, oder Trowitzsch die im Vergleich zu Deckers Forderungen geringere Erhöhung zuzusagen, gab aber deutlich zu erkennen, daß die Regierung sich bei einer Übernahme der Zeitung durch Decker ein Anheben von Niveau und Leserzahl versprechen konnte, und schlug deswegen vor, das Angebot auf 18.000 T. zu erhöhen. In dieser Zwangslage entschied sich die Regierung, mit Decker am 1. Juni 1861 einen neuen Vertrag abzuschließen.(99) Während ihre Rechte im Hinblick auf die Bestätigung des Chefredakteurs und die verpflichtende Aufnahme von Artikeln aus dem Literarischen Büro ungeschmälert blieben, mußte sie zunächst sogar 18.500 T. als Subvention zahlen (§ 10). Diese Summe galt für eine Auflage von 3.000 Exemplaren; sie erniedrigte sich bei steigender Auflage in progressiver Weise. So sollten bei 3.500 festen Abonnenten nur noch 17.000 T . , bei 4.000 noch 15.000 T. gezahlt werden. Die hohe finanzielle Unterstützung sowie eine zunächst auf drei kündigungsfreie Jahre festgelegte Vertragsdauer waren in den Augen Dunckers "schwer wiegende Verbindlichkeiten", welche die Regierung eingegangen war. (100) Seine bange Fra» ge, ob das in einem ausgewogenen Verhältnis zu den erwarteten Vorteilen stand, stellte sich schon bald als berechtigt heraus. Er selbst, durch den Verlauf seiner pressepolitischen Tätigkeit enttäuscht, zog sich von der Stelle eines Leiters des Literarischen Büros zurück. Kommissarischer Direktor wurde Wilhelm Wehrenpfennig, bisher bereits wichtigster Mitarbeiter Dunckers.(lOl) Dieser wollte auf die technischen und untergeordneten redaktionellen Verhältnisse des vom 1. Juli 1861 an als "Allgemeine Preußische (Stern-)Zeitung" erscheinenden Blattes keinen Einfluß mehr ausüben, sondern nur da eingreifen, "wo es sich um auffällige das Blatt als offiziöses Organ compromittirende Übelstände" handelte.(l 02) Die personelle Besetzung der Redaktion blieb im wesentlichen unverändert.(l 03) Allerdings hat Lorentzen den Posten eines Chefredakteurs nur noch nominell besetzt gehalten und das auch nur bis zum 1. Oktober.(104) Sein Nachfolger wurde zu diesem Zeitpunkt Dr. Trautwein v. Belle, dessen endgültige Anstellung und damit verbundene Zeichnungsberechtigung Wehrenpfennig aber einer dreimonatigen Probezeit überlassen wollte.(105) Wenige Wochen genügten dann bereits, um zu erkennen, daß v. Belle nicht der geeignete Mann war. In der Redaktion fehlte es ihm an Autorität (106), in der Druckerei vermochte er das Überhandnehmen von Druckfehlern nicht zu verhindem.(107) So wurde auf einer Konferenz Ende Oktober zwischen 51
Wehrenpfennig, dem Verleger Decker, dessen Generalbevollmächtigten Schulze und dem Redakteur Schenck seine Absetzung beschlossenst 08) Nach den mißglückten Versuchen Deckers, einen neuen Redakteur zu finden, ergriff Wehrenpfennig die Initiative. Auf seinen Rat hin kam es nach langwierigen Verhandlungen am 18. Dezember 1861 zu einem Vertragsabschluß zwischen Decker und dem bisherigen Berliner Korrespondenten des "Daily Telegraph", Dr, Carl Abel,(109) Auch wenn dieser es dabei durchsetzen konnte, daß fortan 11.000 T. pro Jahr für die Redakteure ausgegeben werden sollten (110) und die Zeitung zum 1. April 1861 nur noch einmal täglich erschien (111), gelang es nicht, die "Allgemeine Preußische (Stern-)Zeitung" durch diese finanziellen Mehraufwendungen und gleichzeitige Konzentration auf nur eine Tagesausgabe vor dem Untergang zu bewahren. Im Gegenteil, ihre Auflage sank unter Abel schnell auf 1.557 verkaufte Exemplare.(112) Wehrenpfennig gab die Schuld der Passivität des Chefredakteurs (113), dessen Ausscheiden dann auch schnell im Mai 1862 erfolgte. Zwei Monate später war es einmal mehr der "Kladderadatsch", der seinen Lesern die "Geheimnisse" und "Erfolge" der offiziösen Pressepolitik der preußischen Regierung offenlegte. Schultze und Müller, die als typisierte Berliner Bürger ständige Dialogpartner in den Spalten des Witzblattes waren und jeweils aktuelle Themen zur Sprache brachten, unterhielten sich am 22. Juni 1862 Uber das Regierungsblatt: "Also die Sternzeitung kriegt 15.000 Thaler aus die Fonds für die jeheime Politik? Man sagt es, weil sich dies Blatt nicht s e l b e r halten kann. Und es wird d a r u m von's Ministerium gehalten, weil es sonst von N i e m a n d gehalten wird. '1(114) Auch wenn die Höhe der Subventionszahlungen noch "untertrieben" wurde, paßte doch die geringe Auflagenhöhe der "Sternzeitung" zu dieser Ironie. Eine weitere Episode der unter Decker von der Regierung noch einmal mit viel Optimismus und Geld regenerierten offiziösen Zeitung ging ihrem Ende entgegen. Nicht allein der ständige Wechsel in den Personen des Verlegers und Chefredakteurs konnte dafür verantwortlich gemacht werden. Es war eine Krise des offiziösen Pressewesens überhaupt, das "wider den Geist der liberalen Ära"(115) mit den Methoden der Reaktionszeit organisiert wurde, auch wenn von Duncker ein freieres Konzept vorgelegt worden war. Auch dessen engster Mitarbeiter, W. Wehrenpfennig, zog aus diesen Mißerfolgen die Konsequenzen und legte sein Amt Ende März 1862 nieder.(116) Wenn beide nur kurze Zeit im Amt waren, wurden ihre Initiativen doch für die Ausbildung neuer Konzeptionen zur offiziösen Pressepolitik von ausschlaggebender Bedeutung. Dunckers Rat, die Zeitung solle die Regierung vertreten, dürfe ihr aber nicht gehören, hatte sich in der Methode der verdeckten Offiziösität am Beispiel der "Allgemeinen Preußischen (Stern-)Zeitung" nicht durchgesetzt, in einer etwas abgewandelten Weise haben er und vor allen Dingen Wehrenpfennig aber großen Erfolg gehabt. Während die "Sternzeitung" ihrem Ende entgegenging, erwuchs der Regierung bereits in der Person des August Heinrich Braß eine neue Chance, die sie tatkräftig nutzte. Wie sich 1850 der Privat 52
mann Barthol aus patriotischer Überzeugung als freiwillig gouvernementaler Journalist und Verleger angeboten hatte, so kam jetzt von dem ehemaligen 48er Revolutionär Graß ein neues, sehr ahnliches Angebot. Was Barthol damals als Grundsatz vorgeschlagen hatte, erst die Leser, dann die Ideologie, wurde von der Regierung bei Braß in einer geradezu sensationellen Weise praktiziert. Gleichzeitig ist dessen Tätigkeit in der Form von einer weiteren methodischen Veränderung in der offiziösen Pressepolitik gekennzeichnet, vom Übergang zur freiwillig gouvernementalen Zeitung.
53
III.
Der Übergang zur freiwillig gouvernementalen "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
Vorbemerkung Die Kündigung des Verlegers Trowitzsch, am 29. Dezember 1860 zum 1. Juli des folgenden Jahres ausgesprochen, offenbarte die Krise des offiziösen Pressewesens nur allzu deutlich. Auch die Methode der verdeckten Offiziösität war erfolglos geblieben. Die "Preußische Zeitung" hatte gar nicht erst den Charakter eines zwar regierungstreuen, aber doch selbständigen Blattes erwerben können und so die ohnehin nicht mehr zahlreichen Leser nach und nach auch verlieren müssen. Während Max Duncker, durch Rücktrittsabsichten bereits gehemmt, eher geschäftsmäßig daranging, das alte System in ein neues Gewand zu kleiden, was dann zum Übergang der "Preußischen Zeitung" auf Decker führte, verfolgte er einen anderen, fast abenteuerlich zu nennenden Plan. Auch Regierungsstellen müssen dies so empfunden haben, denn es fand sich darüber kein Beleg in den amtlichen Presseakten, nicht einmal ein kleiner, aber ex eventu deutbarer Hinweis. Nur Wehrenpfennig, der geschäftsführende Nachfolger Dunckers, hat anläßlich seines eigenen Ausscheidens aus dem Literarischen Büro rückblickend auf drei engzeilig und doppelseitig beschriebenen, z . T . von eigener Hand, überkorrigierten Folioblättern die Anregungen seines einstigen Chefs festgehalten. Sie liegen in dem T e i l seines Nachlasses, der - zunächst noch ungeordnet - die Korrespondenzen zwischen ihm. Braß und einem in diesem Zusammenhang wichtigen und noch vorzustellenden Hugo Jensen enthält.(1) Das Manuskript ist undatiert und trägt keine Unterschrift, aber nach Inhalt und Schrift eindeutig als von Wehrenpfennig Ende März 1862 verfaßt bestimmbar. An dieser Stelle interessieren zunächst nur die einleitenden Sätze. Danach hat Duncker Anfang 1861 beim Innenminister "angeregt, eines der hier (in Berlin) erscheinenden demokratischen Organe zu erwerben und dasselbe äußerlich in demokratischer Gestalt, in der That aber im Interesse der Regierung forterscheinen zu lassen". Man suchte, um diese Idee zu realisieren, einen Agenten, "der einerseits der Regierung als zuverlässig bekannt war, andererseits den Personen, mit welchen er in Unterhandlung zu treten hatte, als unverdächtig erschien", und fand diesen in der Person des Hugo Jensen. Jensen war bis dato Hamburger Journalist und Vertrauter Dunckers für die Presse in schleswig-holsteinischen Angelegenheiten gewesen. Nach mehreren mißglückten Versuchen, Verhandlungen mit einem Berliner demokratischen Blatt aufzunehmen, gelang es diesem Mann im Mai 1861, für 2.500 T . , die ihm natürlich die preußische Regierung zur Verfügung gestellt hatte, das vom Buchdrucker Gensch herausgegebene Lokal- und Skandalblatt, die "Montagszeitung Berlin", aufzukaufen. Nur die permanenten Mißerfolge und die daraus wachsenden Einsichten in jene Bedingungen, unter denen eine der Regierung nahestehende Zeitung zum Erfolg 54
kommen konnte, machen diesen Schritt verständlich. Die preußischen Behörden suchten sich - unerkannt - in den Kreis ihrer publizistischen Gegner einzukaufen, um in deren Gewand die Leser zunächst zu gewinnen und dann umzuerziehen! Weiterer Garant für den Erfolg eines solchen Unternehmens sollte August Braß sein, ein in den Augen der Leser bekannter 48er Revolutionär und Demokrat, aber nach Kenntnis und Erfahrung der Regierung inzwischen ein überzeugter preußisch-deutscher Patriot mit zuverlässigem monarchischen Staatsbewußtsein.
A.
August Heinrich Braß - ein preußisch-deutscher Patriot als Publizist in der Schweiz
1.
Patriot und Revolutionär
August Heinrich Braß ist ein besonders interessanter Fall eines 48er Revolutionärs, der sich zu einem ergebenen Anhänger und Verfechter der preußischen Monarchie gewandelt hat. Als Sohn eines Kriegsgerichtsrats wurde er am 30. Juli 1818 in Berlin geboren. Nach seinem Schulabschluß auf dem Friedrichstädtischen Gymnasium hatte er früh Züge eines besonders an der preußischen Geschichte interessierten Schriftstellers zu erkennen gegeben. Mit leichter Hand, ohne sonderliche wissenschaftliche Akribie, dafür aber mit ausgeprägter Vorliebe für gereimte Darstellungen und pädagogisierende Prologe und Leitworte verbreitete er sich in den Jahren 1841-1848 in zehn Veröffentlichungen fast ausschließlich über Themen der preußischen Vergangenheit.(2) Neben diese freiberufliche Tätigkeit trat in den Jahren 1844-1847 eine dreijährige feste Anstellung als Redakteur beim "Berliner Wochenblatt". (3) Beide Beschäftigungen, die eines historisch-patriotisch orientierten Roman- und StUckeschreibers und die eines am aktuellen Geschehen interessierten Journalisten prägten sich aus in einer Zeit offenbar großer innerer Unruhe.(4) Sie finden sich später in seiner Redakteurszeit und der Eigenart seiner immer historisch-politischen-Artikel wieder. Bei der Unruhe kann sein baldiges politisches Engagement nicht Uberraschen, das in der 48er Revolution erwachte und ebenfalls konstitutiv für seine spätere Laufbahn geworden ist. Braß gehörte zum Kreis der Radikalsten (5), die bei den Märzunruhen in Berlin aktiv für eine republikanische Staatsform kämpften. Mit seinem Färberlied: "So woll'n wir denn mit frischem Muth Das Banner neu uns färben; Wir färben's ächt, wir färben's gut. Wir färben's mit Tyrannenblut, Diesmal soll's nicht verderben!'1(6) erwarb er sich bei ihnen viele Sympathien.(7) Mit seiner Flugschrift "Berlins Barrikaden - Ihre Entstehung, ihre Verteidigung und ihre Folgen" bewies er die Fähigkeiten eines schnell reflektierenden, vom Aktuellen erregten und federgewandten Schreibers. Gerade zwei Wochen nach den blutigen Barrikaden55
kämpfen vom 18. und 19. März, am 3. April 1848, erschien das Werk bereits. Es enthält radikale antimonarchische Vorstellungen (8), bleibt aber im Stil weit hinter seinem Anspruch, in thukydideischer Manier, also nüchtern und unparteiisch, zu berichten (9), zurück. Von ähnlichem Gehalt ist die 91 Seiten lange Braß-Broschüre "Der Freiheitskampf in Baden und in der Pfalz im Jahre 1849". Der Autor hatte, u. a. mit Liebknecht, als aktiver Offizier an diesem revolutionären Schlußakt im Südwesten des Deutschen Bundes teilgenommen. Nach dem Sieg der Reaktion glaubte er noch an einen erneuten Umschwung und prophezeite mit revolutionärem Pathos: " . . . es ist nicht mehr lange Zeit, so wird ein Schrei ertönen, der von der Weichsel bis zum Rheine herunter dringt; die Glocken werden durch das Land heulen und die Trommeln wirbeln und das Volk zu Häuf kommen, denn es ist der Generalmarsch der Revolution, den man schlägt, die Rebeille der Freiheit".(10) Doch dieser Satz, mit dem die am 10. August 1849 in St. Gallen in der Schweiz publizierte Schrift schloß, ist für Braß gleichzeitig auch der Schlußsatz seines revolutionären politischen Engagements. Mit Liebknecht und anderen teilte er das Schicksal der Flucht, die Ausleihe seiner Revolutionsschriften aus öffentlichen Berliner Bibliotheken wurde verboten (11), er selbst suchte in der Schweiz Zuflucht. Nach eigenen Aussagen lebte er zunächst abwechselnd in Zürich und Luzern.(12) Dort wird er seine vierbändige "Geschichte der Demokratie und Reaktion in Berlin" verfaßt haben. Sie erschien noch 1849, ist aber nicht mehr als eine schon schwache Nachbesinnung auf die bereits vergangene Revolutionsperiode. Zwei im folgenden Jahr erschienene historische Erzählungen haben zwar noch Freiheitskämpfe zum Hintergrund (13), sind aber wieder im Feuilletonstil früherer Publikationen vor 1848. Möglicherweise sind beide Werke in Paris geschrieben, wo Braß sich 1850 aufhielt. Ähnlich dem häufigen Wohnungswechsel in Berlin in den 40er Jahren ist auch jetzt sein Aufenthalt sehr unstet. Er verließ 1851 Paris, um nach Turin zu ziehen. Hier blieb er allerdings fünf Jahre und beschäftigte sich nach eigenen Aussagen "mit staatswissenschaftlichen, speziell nationalökonomischen Studien". Ob er diese mit einer Promotion abgeschlossen hat, ist sehr fraglich. Boehmers Meinung, Braß habe den Doktorgrad als einen "gewissen Abschluß" seiner Studien "wahrscheinlich 1853 in Lausanne" erworben, ist nachweislich falsch. Auch in Genf, wo Braß 1856 die Bürgerrechte erwarb, wurde er nicht promoviert.(14) Wenn er die akademische Auszeichnung wirklich erworben hätte, wäre in der kleinen Denkschrift, die Braß am 24. Februar 1861 an die preußische Regierung auf Anforderung geschickt hat, Ort und Anlaß gewesen, davon zu sprechen. Dort steht aber nichts davon. Wenn auch weitere konkrete Daten Uber Braß aus diesen Jahren fehlen (15), so lassen doch die vorliegenden und die Situation am Ende der 50er Jahre den Schluß auf eine geistige Besinnung zu. Braß selbst bestätigt das in seiner 1860 erschienenen Schrift "Was noth ist". Die Broschüre ist vom Charakter her eine Bilanz seiner politischen Erfahrungen speziell in Paris und Genf, dazu ein Dokument seiner stark veränderten politischen Einstellung.(16) Von ihm selbst als 56
"politische Studie" verstanden, entwirft er in ihr das Bild eines notwendig zu einenden deutschen Reiches auf föderativer Basis unter Einschluß Österreichs. (17) Dies ist ihm gleichermaßen von der vergangenen deutschen Geschichte wie von der politischen Gefahr der Gegenwart her gefordert. Napoleon I I I . , der "Bandit mit der Maske der Freiheit", die "Inkarnation der Fäulniß unserer Zeit"(18), bedroht das zerstrittene deutsche Reich.(19) Hoch Uber allen Parteiungen muß jetzt das Vaterland stehen.(20) Geblieben ist nach diesem Dokument die patriotische Grundstimmung, die Braß seit den 40er Jahren bezeugt hat. Modifiziert hat sich die politische Konzeption. Aus dem aggressiven 48er Revolutionär ist in der geistigen Auseinandersetzung mit dem imperialen Streben Napoleons III. ein deutscher, national eingestellter und monarchisch gesonnener Konservativer geworden. An den Direktor des Literarischen Büros schreibt Braß am 23. August 1860: "Wir sehen mit Freuden den kräftigen Aufschwung eines frischen Lebens, den Deutschland, speziell Preußen . . . genommen, wir sagen uns, daß wenn eine Republik so unsittliche Zustände zu Tage fördern könnte, wie wir es an Frankreich erlebt, es ein strafbares Beginnen wäre, an den Thronen zu rütteln. "(21) Geblieben ist bei Braß aber auch die Radikalität seiner Ausdrucksweise. Er konzentriert sie auf Napoleon III. und sichert sich dadurch das Interesse der preußischen Regierung an seiner journalistischen Arbeit.
2.
Die Aufnahme der Beziehungen zu dem Genfer Publizisten
Der Forschung ist bisher der Weg, den Braß nach Berlin und zu Bismarck genommen hat, kaum bekannt. Das ist auffällig; denn es muß doch von Interesse sein zu erfahren, w i e sich der ehemalige Revolutionär zunächst zu einer wertvollen journalistischen Kraft des Literarischen Büros und dann zum "Leibjournalisten" Bismarcks entwickelt hat. Zum anderen sollte die Chance gesehen und genutzt werden, über die Beziehungen Berlins zu Braß konkrete Einblicke in die Anfänge der auswärtigen Pressepolitik Preußens in dem politisch wichtigen Grenzgebiet zu Frankreich zu gewinnen. Es liegen Akten und Zeitungen bereit, um unsere Kenntnisse auf diesen Gebieten zu erweitern. Anfang 1860 suchte Braß - soweit erkennbar - aus eigener Initiative eine Verbindung mit der Pressezentrale in Berlin. Mittels der Fürsprache des bereits mit ihm in einer gewissen Zusammenarbeit stehenden preußischen Oberst von Roeder, Adjutant des Prinzen Alexander von Preußen, und durch die Vermittlung des Gesandten v. Balan konnte er Anfang Februar eine Denkschrift nach Berlin weiterreichen, die einigen Aufschluß über seine im Oktober 1859 gegründete "Neue Schweizer Zeitung" und ihre Tendenz gibt.(22) Nach dieser Denkschrift hat er der Zeitung mit dem anspruchvollen Untertitel "Eine Wochenschrift für Politik, Wissenschaft und Kunst" als dem einzigen deutschsprachigen Blatt in der französischen Schweiz die Aufgabe gestellt, die öffentliche Meinung gegen Frankreich und besonders den napoleonischen "Imperialismus und . . . Nationalitätenschwindel" zu mobilisieren.(23) 57
Der dabei von ihm vertretene demokratische Standpunkt ist nicht ohne die Erfahrungen der 48er Revolution zu denken (24), aber auch aus taktischen Gründen zu verstehen. Er garantierte in den Augen von Braß die größere Argumentationsschärfe und Erfolgschance, weil es der Standpunkt Napoleons war, den er, Braß, in seiner bloßen Verbalität entlarven konnte und zwar an der "verwundbarsten Stelle" des französischen Kaisers. Der Erfolg der publizistischen Arbeit wäre seiner Meinung nach bereits größer gewesen, wenn das Geld reichlicher zur Verfügung gestanden hätte. Deswegen sprach er die Bitte um eine einmalige Subvention von 1.500 T . aus. Auerswald zeigte sich von der Notwendigkeit, "die deutschen Interessen gegen den Einfluß der französischen Agenten in der schweizerischen Presse" zu vertreten, ebenso überzeugt, wie von den bisherigen Erfolgen des August Braß angetan, sagte aber aus Geldmangel ab. Da es um auswärtige Pressepolitik ging, reichte er das Schreiben an den Außenminister v. Schleinitz weiter, der aber aus denselben Gründen abwinkte.(25) So blieb die erste Braß-Initiative ohne Erfolg. Ende Juni startete der Schweizer Emigrant eine neue, dieses Mal allein Uber seinen Gönner, den im benachbarten Vevey wohnenden Roeder, und direkt an das Literarische Büro. Wahrscheinlich hat der Oberst grundsätzlichere Bedenken seiner Regierung gegen Braß geahnt, er schrieb nämlich begleitend: "Der. p. Brass ist mir seit längerer Zeit bekannt und ich glaube daß seine Feder jetzt ebenso n ü t z l i c h wirken kann, als seine Reden im Jahre 4 8 nachteilig und verführerisch waren - Mir erscheint derselbe ehrlich und die von ihm . . . unternommene Sache der Opfer werth die man zu bringen geneigt sein dürfte. "(26) Man war in Berlin geneigt und forderte deswegen eine präzise Wunschliste aus Genf an.(27) Die Aufforderung muß Braß in einem Augenblick erreicht haben, wo die Einstellung seiner "Neuen Schweizer Zeitung" bereits kurz bevors t a n d . ^ ) Er ergriff deswegen die sich bietende Gelegenheit gleich mit beiden Händen. Zum einen publizierte er Mitte Juli die bereits erwähnte Broschüre "Was noth ist" und deklarierte sie zum geistigen Fundament seiner Zeitung (29), zum anderen entwickelte er unter speziellen publizistischen Gesichtspunkten das Programm für eine ganz neue Zeitung. Das Blatt, wie er es sich jetzt vorstellte, sollte einen doppelten Zweck erfüllen: " a ) in der Schweiz die deutschen Interessen im Gegensatz zu dem französischen Imperialismus vertreten, b) in Deutschland, vom demokratischen Standpunkt aus, Napoleon, den Plonplonismus und den Nationalitätenschwindel . . bekämpfen, die republikanischen Elemente Deutschlands zu der Anschauung . . . bringen, daß doch Uber allen politischen Partheien das Vaterland steht, daß nur ein enger Anschluß, ein williges Unterordnen aller Parteien unter dem Königthum" das Vaterland in möglichen Gefahren retten kann. Aus diesem Doppelaspekt war dem Leser im Literarischen Büro in Berlin das Bekenntnis zum Kampf gegen republikanische Tendenzen und für die Monarchie wichtig; das, was ein offiziöses Presseorgan ja erreichen sollte, die 58
"Preußische Zeitung" aber nicht erreicht hatte, hob er folglich durch besondere Unterstreichung hervor. Die "Neue Schweizer Zeitung", so meinte Braß, habe mit diesem "großen und schönen Zweck" wenig Berührungspunkte. Sie sollte die französische Schweiz den deutsch sprechenden Kantonen gegenüber vertreten. Ein Blatt mit einem so erweiterten publizistischen Programm brauchte dagegen einen anderen Titel. "Deutsche Zeitung in Genf" würde sagen, was gemeint ist: den Gegensatz zwischen dem deutschen und französischen Teil ebenso herauszustellen, wie Sprachrohr für die Schweiz und zugleich Deutschland zu sein. Eine Subvention von 2.500-3.000 T. "höchstens" pro Jahr, dazu ständige Original-Artikel aus Berlin würden die Zeitung in kürzester Zeit zu einem "der gelesensten Schweizer Blätter" machen. Dieser Brief, von Roeder eloquent, unter Einsatz seines persönlichen Ansehens und "in den höchsten Sphären" unterstützt (30), fand in Berlin ein positives Echo. In einer interministeriellen Diskussion zwischen Auerswald und Schwerin Anfang August (31) wurde die Chance erkannt, zum ersten Mal erfolgreiche auswärtige Pressepolitik zu treiben. In einer Zeit, so meinte man in Berlin, wo Österreich "bedeutende Mittel", Frankreich sogar "kolossale Summen" für die Pressepolitik im Ausland ausgaben und Rußland in anderen Ländern Uber "große Organe" verfügte, konnte Preußen nicht wie bisher "so gut wie unvertreten" bleiben. Zwar klingt noch der schon jetzt fast anachronistisch anmutende Gedanke an, die preußische Politik vertrete sich kraft ihrer Qualität von selbst und bedürfe nicht künstlicher Publizität (32), aber er setzte sich nicht mehr durch. Erfolg hat die Verlockung, von dem exponiertesten Punkte der Schweiz, von Genf aus, einmal den "in größtem Maaßstabe betriebenen Napoleonischen Wühlereien in der Schweizer Presse" ein Gewicht entgegenzusetzen, zum anderen gleichzeitig eine Ausstrahlung dieser Zeitung nach Süddeutschland zu erwarten.(33) Während Schwerin einige Bedenken wegen der Vergangenheit des 48er Revolutionärs "nicht ungerechtfertigt" erschienen, unterstrich Auerswald, gestutzt auf den durch Roeders Briefe verbürgten Gesinnungswandel des Braß, gerade die darin liegenden Vorteile. Wo sich die napoleonischen Agitationen "mit besonderer Liebhaberei an die demokratischen Sympathien der Massen" wenden, sei ihm die Vergangenheit des Publizisten "von ganz besonderem Werthe". Angesichts dieses Gegensatzes unter den Ministern griff man zu einem Kompromiß. Braß erhielt für das erste Jahr 1.000 T. und das Angebot weiterer Subvention bei entsprechender Bewährung.(34) Gestützt auf die - negativen - Erfahrungen mit der "Preußischen Zeitung" sollte von Berlin aus keinerlei öffentliche Besprechung des Braß-Organs betrieben werden. Man empfand es als "sehr wesentlich", nicht einmal "in den Schein besonderer Beziehungen" zu Braß zu geraten und damit das Unternehmen von vornherein zu diskreditieren.(35)
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3. Die "Genfer Grenz-Post" als freiwillig gouvernementale preußische Auslandszeitung "Mit großer Befriedigung" nahm Roeder den Erfolg seiner Vermittlung zur Kenntnis.(36) Sein Mandant, erfüllt von dem Bewußtsein, von seinem Vaterland eine "Waffe" gegen Napoleon III. erhalten zu haben, ließ eigens neue Lettern für die Herausgabe seiner Zeitung gießen. Da in Genf keine deutsche Schriftgießerei ansässig war, verzögerte sich das Ericheinen der erste Nummer um eine Woche. Außerdem gab der vorgeschlagene Name "Deutsche Zeitung in Genf" nachträglich zu denken. "Bei dem im Schweizer Volk vorherrschenden Mißtrauen gegen Alles, was sich deutsch nennt", erschien er Braß als unzweckmäßig. Mit "Genfer Grenz-Post" war wenige Tage später der passendere gefunden.(37) Die Formulierung konnte durchaus programmatischen Charakter zu erkennen geben. Braß selbst wollte ja eine Zeitung, mit der er Uber die Schweizer Grenze hinaus gegen Frankreich polemisieren und nach Süddeutschland wirken konnte. Auch in Berlin hob man hervor, "vor Allem eine richtige conséquente Behandlung der e u r o p ä i s c h e n Politik" zu erwarten« Würden dafür "unzweideutige Erweise . . in den Nummern der ersten Monate" gezeigt, sei man im November geneigt, die restlichen 500 T . zu zahlen.(38) Obwohl Braß um genauere inhaltliche Instruktionen bat, ließ man ihn zunächst allein starten. S o erschien am 8. 9. 1860 die erste Probenummer, von ihm allein geschrieben und verlegt.(39) "An den Leser" gewandt, erklärte er darin die Devise des Genfer Nachbarkantons Waadt, "Liberté et Patrie", auch zu der seiner Z e i tung. Sie stand in deutscher Übersetzung Uber dem T i t e l "Genfer Grenz-Post", darunter der von der "Neuen Schweizer Zeitung" übernommene Untertitel: "Eine Wochenschrift für Politik, Wissenschaft und Kultur". Entsprechend war der Gehalt der Artikel auch nicht speziell auf Preußen ausgerichtet, wie Braß ausdrücklich betonte.(40) Die Zeitung fand unter den in der Schweiz lebenden Deutschen schnell ein lebhaftes Echo. "Schmeichelhafte schriftliche Anerkennungen" von nicht-preußischen Staatsmännern liefen ein, und deutsche Blätter begannen, Artikel aus der "Genfer Grenz-Post" nachzudrucken.(41) In Berlin dagegen schwieg man sich zwei Monate lang aus. Der Grund liegt in einer erneuten Umbesetzung im Literarischen Büro. Erst der an die Stelle des zurückgetretenen Baumgarten zunächst zum kommissarischen Direktor berufene Wehrenpfennig äußerte sich am 15. Nov. 1 8 6 0 . ( 4 2 ) Sein sieben Folioseiten langer Brief ist von doppelter Bedeutung. Einmal gibt er uns eine genauere Vorstellung von den politischen Anschauungen, die Braß in den bisher erschienenen sieben Nummern seiner Zeitung vertreten hatte; zum anderen entwickelte Wehrenpfennig sehr ausführlich den Standpunkt der preußischen Bundespolitik, wie er sich nach den kriegerischen Ereignissen in Norditalien seit dem Vorjahr deutlicher entwickelt hatte. Zwischenbeidem klaffte ein Gegensatz, das sprach der Leiter der Pressestelle im Interesse der publizistischen Erwartungen Berlins deutlich aus.
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Die Hauptrichtung der "Genfer Grenz-Post" war von dem bisherigen außenpolitischen Denken ihres Chefredakteurs bestimmt, von dem Kampf mit dem Bonapartismus. Wehrenpfennig gestand zu, daß Braß diese selbstgestellte Aufgabe "mit Geist, Kraft u. Geschick angegriffen" habe.(43) Aber, und das macht das Lob sofort recht formelhaft, er beging dabei zwei Fehler. "Dann und wann" verstieg er sich zu "phantastischen Combinationen u. gewagten Versicherungen", die durch Tatsachen schnell zu widerlegen waren. So mutete sein Projekt, Franz II. von Neapel durch russische Heeres- und Flottenmacht zu helfen, recht seltsam an, wo doch jederman wußte, daß Gortschakoff zu einer solchen Aktion Wille und Macht ganzlich fehlten. Der andere Fehler war gravierender, weil er die eigentlichen politischen Kraftrichtungen im Deutschen Bund verkannte. Braß hatte schon in seiner Broschüre "Was noth ist" als Voraussetzung einer erfolgreichen Abwehr des napoleonischen Imperialismus einen vaterländisch-föderativen Zusammenschluß des alten deutschen Reiches gefordert, ohne langwierige Diskussion über Einzelheiten der Form. Diese Interpretationslinie hat er offensichtlich in seinen Artikeln jetzt fortgesetzt. Sie war Wehrenpfennig viel zu oberflächlich und ohne Verständnis für die tatsächlich vorhandenen und bestimmenden Interessen im Deutschen Bund. Der Gegensatz zum Bonapartismus, so hielt er Braß vor, sei zwar allgemein, aber die Motivation verschieden. Österreich wolle seine frühere Stellung in Italien halten bezw. zurückgewinnen, die deutschen Mittelstaaten fürchteten um ihre uneingeschränkte Souveränität. Allein Preußen liege "die Sicherung der Gesammtexistenz der deutschen Nation am Herzen". Bei diesen unterschiedlichen Konstellationen schreibe Braß "dem Scheine nach wenigstens . . . mehr im österreichischen oder mittelstaatlichen als im preußischen Sinne". So seien seine Artikel unter der Rubrik "Die Politik der Woche", soweit sie Italien beträfen, ganz im "Ton der österreichischen Restaurationspolitik" geschrieben, während doch die preußische Politik gerade in diesem politischen Fall das Desinteresse an einem solchen Engagement gezeigt habe. Dies erkläre sich aus dem preußisch-österreichischen Gegensatz in der deutschen Frage, von Braß auf seinem jahrelangen Genfer Außenposten überhaupt noch nicht richtig gesehen. Während er zu diesem Thema noch den Standpunkt von 1848 vertrat, war Berlin bereits auf dem Wege zu einer preußisch geführten deutschen Politik. Wehrenpfennig erläuterte das am Gegensatz zwischen dem Gothaer Programm und der preußischen Note vom 6. Juni 1860. Preußen wollte den Bund auf das engste Maß seiner Kompetenzen zurückdrängen, um die eigene Selbständigkeit nicht durch die Absichten kleinerer und leistungsunfähigerer Staaten gehemmt zu sehen. Gleichzeitig wollte man auf diese Weise die, wie Wehrenpfennig formulierte, "natürliche Anziehungskraft der wahren Machtverhältnisse wirken" lassen.(44) Eine solche Absicht lag der speziellen Diskussion um die Bundeskriegsverfassung zugrunde, aber auch, und damit kam der Direktor des Literarischen Büros auf den Anfang seiner Interpretationshilfe über preußische Politik für Braß zurück, der allgemeineren über das Verhältnis Deutschlands zu Napoleon III. "Alle Phrasen von Einigkeit der Fürsten 61
und Völker Deutschlands helfen gar nichts, und sind gar nichts, so lange die Mehrzahl der deutschen Regierungen Preußen hartnäckig die Bedingungen verweigert, unter denen Deutschland allein gegen Frankreich kämpfen kann." Dies hatte Braß publizistisch zu vertreten, wenn er deutsche Politik im Ausland vertreten wollte (45), "das ist hier und jetzt die deutsche Frage". Bei ihrer so durch Eigeninteresse und auch Machtpolitik bestimmten Ausformung etwa den Nationalverein zu unterstützen, hieße, ein "unmögliches idealistisches Ziel" verfolgen. Wenn Braß dagegen die ihm hier gegebenen Direktiven beachte, und das ist die abschließende Verlockung, werde das Literarische Büro für die fernere Unterstützung der "Genfer Grenz-Post" sorgen. Der Unterschied in der politischen Auffassung ist deutlich. Braß schrieb vom Stand der 48er Diskussion Uber deutsche Nationalpolitik. Sein Denken entzündete sich an dem ihm im Ausland neu begegneten Feind eines geeinten deutschen Reiches, an Napoleon III. Die Devise seiner Zeitung, "Freiheit und Vaterland", sollte Ausdruck dieser Einstellung sein. Sie traf aber nicht die preußischen Intentionen. Wehrenpfennig gab dagegen zu erkennen, wie die politische Diskussion in Berlin ganz auf jene Vorstellungen eingeschwenkt war, wie sie etwa der Frankfurter Bundestagsgesandte Otto von Bismarck 1859 geäußert hatte: Richtige deutsche Politik betreiben hieß, preußische Politik b e treiben. Braß, auf dem Wege von einem Bekämpfer zu einem Vorkämpfer des preußischen Staates, ging sofort auf die ihm vorgezeichnete Linie über. Er entschuldigte sich sogar ob seiner bisherigen Interpretationsrichtung, erklärte sie nicht aus Grundsätzen heraus, sondern aus dem Fehlen jeglicher Instruktion: "Ohne derartige Leiter (gemeint ist der vom 15. Nov. 1860) bleibt mir hier in Genf nichts weiter als der allgemeine internationale Standpunkt, von dem aus wir die Interessen des gesamten Deutschlands im Gegensatz zu denen des Imperialismus in Paris betrachten."(46) Den allgemeinen europäischen Standpunkt aber wollte Berlin nicht durch ein finanziell unterstütztes auswärtiges Presseorgan vertreten wissen, sondern den spezifisch preußischen. Die Versicherung von Braß, fortan so zu schreiben, wie Wehrenpfennig es angegeben hatte, war Auerswald die Mühe wert, noch einmal, wie im März des gleichen Jahres, diesmal aber erfolgreich beim Außenminister Schleinitz um eine finanzielle Mithilfe zu bitten. Dieser bewilligte die Braß schon für den November versprochenen 500 T.(47) Währenddessen vertrat Braß bereits in der nächsten Ausgabe (Nr. 8) vom 24. November Wehrenpfennigs Interpretationsgrundsätze.(48) Er tat es in einer geradezu überraschenden Vollständigkeit. Da das auch für seine Leser ein gewisses Umdenken bedeuten mußte, ging er in der Methode behutsam vor. T h e ma des Leitartikels "Die Politik der Woche" war die napoleonische Gefahr. Diese sei nicht nur aktuell, sondern sie werde den Tod Napoleons III. überdauern, da Nachfolger mit dem gleichen politischen Ziel an dessen Stelle treten würden. Die in dieser Argumentation unausgesprochen liegende Aufforderung, in die Zukunft zu denken, wendete Braß auf Deutschland an. Deutschland werde zuletzt die Aufgabe zufallen, dem französischen Autokraten, wie immer 62
er dann heißen möge, entgegenzutreten. Dann mußten die deutschen Kleinstaaten bekennen, "was sie gethan, um sich auf den Krieg vorzubereiten... eingedenk der alten Worte: Si vis pacem, para bellum". Sicher würden sie etwas getan haben, aber nicht genug und nicht das Richtige. Das Thema "Bundeskriegsverfassung", für Preußen im Augenblick neuralgischer Punkt seiner Politik, war erreicht. Durch Vergleiche mit der Geschichte Friedrichs d. Gr. und Napoleons I. suchte Braß die Notwendigkeit eines einheitlichen Kommandos nachzuweisen. Es dürfte "nur e i n Kopf denken, nur e i n Mund befehlen, nur e i n Arm den Schlag führen". Von selbst falle diese Aufgabe dem zu, dessen militärische Kraft überwiege. "Sagten wir vorher, daß Deutschland den Ausschlag geben wird, so würde es unter diesen Umstanden Preußen sein, welches den Ausschlag geben wird. " Das war die Sprache, die Wehrenpfennig von der "Genfer Grenz-Post" hören wollte. Braß vervollständigte sein direktes Plädoyer für Preußen gleich noch durch ein indirektes. In einem 2. Artikel, überschrieben "Der Systemwechsel in Österreich", sprach er diesem Land wegen seines inneren Zerfalls das Vertrauen ab, das Preußen in der deutschen Politik erwarten dürfe. Diese Linie baute er in den folgenden Nummern seiner Zeitung aus. Mit Nachdruck redete er jetzt der Reform der Bundeskriegsverfassung das Wort. Die Würzburger Konvention wurde als "verderblich" hingestellt, das Majoritätsgutachten der Bundes-Militärkommission zugunsten des preußischen Minoritätsvotums abgelehnt. Preußen sei "die zu der erforderlichen Kraftanstrengung (gegen Frankreich) nothwendige Stellung zu geben". Jede Opposition, die sich dagegen wende, verkenne den Ernst der Lage.(49) In enger Verbindung mit diesen Artikeln ist Braß' Eintreten für die Heeresreform in Preußen zu sehen, war diese doch Voraussetzung des preußischen Anspruchs im Bund. Braß machte das schon äußerlich dadurch deutlich, daß er Stellungnahmen dazu unmittelbar im Anschluß an das Thema "Bundeskriegsverfassung" brachte. In einer dreiteiligen Folge wurde in den Nummern 1, 2 und 5 des neuen Jahrgangs 1861 "Die Wehrkraft Deutschlands, I. Preußen" untersucht und dabei die Notwendigkeit der preußischen Militärreorganisation betont. Wo Frankreich in 40 Friedensjahren seine Heeresstärke verdoppelt hatte, wäre es Sparsamkeit am falschen Ort, wenn Preußen seine Heeresgröße stationär hielte. Das Kriegsbudget müßte und könnte auch "um 10 Millionen Thaler" aufgestockt werden. Preußen müsse als Großmacht an sein Heer höhere Ansprüche stellen. Wenn die oppositionelle Presse in Deutschland das nicht einsehe, sei sie "entweder in Unklarheit befangen oder perfide". Wie ein Schlußstrich unter diese beiden aktuellen Themen der Bundeskriegsverfassung und der Heeresreform hieß es in dem Leitartikel in Nr. 3 von 1861: "Preußen ist heut zu Tage die Nation, auf die sich die Augen Europas erwartungsvoll richten. " Und wie eine Vision klang aus dem gleichen Artikel, der wohl aus Anlaß der Thronbesteigung Wilhelms geschrieben worden ist, die Begrüßung des neuen Regenten, den Braß für berufen hielt, "mit Preußens Macht die Macht Deutschlands zu stärken". Preußen hatte kraft seiner Stellung das Recht, in Deutschland "moralische Annexionen" zu machen.(50) 63
Angesichts dieser zunehmend offiziösen Haltung der "Genfer Grenz-Post" hatte Braß mit früheren Verbindungen gebrochen. Diese von ihm selbst-gegebene Versicherung (51) bezieht sich wahrscheinlich auf Beziehungen zu ehemaligen Kampfgefährten aus der 48er Revolution. Braß hatte sie publizistisch unterstützt, so in der Fehde mit dem Plonplonisten Karl Vogt, der 1849 ebenfalls in die Schweiz geflohen war, dann aber bezahlter Geheimagent Napoleons III. wurde und in dieser Rolle von Karl Marx in dessen Schrift "Herr Vogt" entlarvt wurde. Braß hatte damals, um das Werk in seiner "Genfer Grenz-Post" noch auffälliger anzeigen zu können, eigens größere Lettern gießen lassen.(52) Möglicherweise hatte er dafür auch finanzielle Unterstützung aus diesem Kreis bekommen, denn in dem erwähnten Brief an Wehrenpfennig vom 29. Januar 1861 stellte er eine Beziehung zwischen "den früheren Verbindungen" und seiner jetzigen Geldknappheit dar. Zwar hatte er versucht, durch Publikationen eigener Broschüren die Lücke zu schließen (53), Ende Januar 1861 war aber die finanzielle Not nicht mehr aus eigener Kraft zu beheben.(54) In einem Telegramm an das Literarische Büro unterstrich Roeder die ausweglose Lage: "Ebbe plötzlich eingetreten, soll ich hülfreich einschreiten oder im jetzigen Augenblick das Unternehmen eingehen? Umgehende Antwort. "(55) In dieser Lage reagierte Wehrenpfennig zweifach: Einmal telegraphierte er an Roeder sofort zurück, er möge selbst Geld vorschießen (56), zum anderen schrieb er Braß einen Brief mit einem recht interessanten Passus.(57) Er lobte die Artikel seiner Zeitung über die preußische Heeresverfassung und gegen den napoleonischen Imperialismus. "Auf diese", und das ist der wichtige Satz, "und andere Ihrer Arbeiten gestutzt, habe ich in dieser Woche manche auf Sie bezügliche Pläne im Kopf gehabt, Uber die ich Ihnen Montag vielleicht Näheres schreiben werde. " Wehrenpfennig hat diesen Brief leider nicht geschrieben. Aber der spätere Briefwechsel zwischen beiden und einige andere Dokumente geben die Möglichkeit, zu erkennen, was man in Berlin inzwischen von dem freiwillig gouvernementalen auswärtigen Redakteur August Braß dachte und was man mit ihm vorhatte.
B. Der Ruf nach Berlin Die dunkle Andeutung Wehrenpfennigs an Braß ist zunächst auf dem Hintergrund der augenblicklichen Tatsachen und Überlegungen zur offiziösen preußischen Pressepolitik zu sehen. Die Kündigung durch den Verleger Trowitzsch am Jahresende 1860 hatte die Erfolglosigkeit der "Preußischen Zeitung" signalisiert und den Anstoß zu einem erneuten grundsätzlichen Bedenken des ganzen Systems gegeben. Aus dieser Situation heraus machte Duncker als der verantwortliche Leiter des offiziösen Pressewesens zwei Vorschläge: 1) Es sollte in Berlin ein demokratisches Blatt aufgekauft, in seiner Gestalt erhalten, aber im Interesse der Regierung redigiert werden. Diesen Vorschlag datiert Wehrenpfennig auf den Anfang des Jahres 1861.(58)
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2) Die "Preußische Zeitung" sollte weitergeführt werden, aber an die Stelle von Trowitzsch ein kapitalkräftigerer Verleger treten, der die Zeitung als ein "unabhängiges liberal-demokratisches Blatt" herausgab. Dieser Vorschlag wurde Auerswald am 26. Februar 1861 unterbreitet.(59) Es gibt nun starke Indizien dafür, daß Braß zeitweise in b e i d e Planungen einbezogen war. Ausgangspunkt sei noch einmal der Brief an ihn vom 2. Februar 1861. Wehrenpfennig sagt da deutlich:". . . i c h (habe) in dieser Woche m a n c h e auf Sie bezügliche Pläne im Kopf gehabt". Der 2. Februar war ein Donnerstag, und Wehrenpfennig hoffte wohl, über das Wochenende die Pläne so zu konkretisieren, daß er am Montag, den 6. Februar, "Näheres" schreiben konnte. Dieser Brief ist aber bis zur Mitte des Monats nicht geschrieben worden.(60) "Näheres" konnte Wehrenpfennig nur mit Duncker besprechen. Nimmt man seine eigene Aussage im Brief an Braß wörtlich, und es besteht kein Grund, das nicht zu tun, so kann das nur bedeuten, daß Wehrenpfennig am 1. Februarwochenende mit Duncker über das offiziöse Pressewesen im allgemeinen sprechen und dabei eigene, Braß betreffende Vorschläge machen wollte. Wer anders sollte auch Konkretes über Braß sagen, wenn nicht der, der die Korrespondenz mit Genf führte? Ob es an diesem Wochenende zwischen Duncker und seinem ersten Mitarbeiter zu einem solchen Gespräch gekommen ist, läßt sich aus den Akten nicht nachweisen. Daß es in diesen Tagen stattgefunden hat, ist indessen sicher. Sicher ist aber auch, daß dabei nicht sofort eine Entscheidung getroffen wurde, die Wehrenpfennig dann an Braß hätte schreiben können. Duncker wollte sich zunächst über die "Genfer Grenz-Post" und damit über August Braß informieren. Er forderte dazu eine Denkschrift an. Diese wurde von einem Mitarbeiter des Literarischen Büros auf Wehrenpfennigs Veranlassung geschrieben, von diesem unterzeichnet und Duncker am 19. Februar 1861 zugesandt.(61) Die einleitenden Sätze sagen sofort das Entscheidende aus: "Die in Genf unter dem Titel 'Genfer Grenzpost' und der Redaktion von A. Braß erscheinende Wochenschrift hat sich seit ihrem Entstehen im Herbst 1860 bis heute als eine geist- und taktvolle Vertreterin der Interessen Preußens erwiesen. Das innerste Prinzip des Blattes ist der Gegensatz gegen den Napoleonismus, der mit einer Beweglichkeit und Unerschöpflichkeit in der Wahl der Mittel, mit einer Geistesfrische und Energie bekämpft wird wie sich das vielleicht an keinem zweiten Journal in solchem Maaße nachweisen läßt. Abgesehen von dieser allgemeinen Tendenz der Genfer Grenzpost ist dieselbe für Preußen theils direkt durch eine geschickte V e r t e i d i g u n g der preußischen Politik theils indirekt durch eine scharfe Kritik der Preußen widerstrebenden Richtungen mit einem bedeutenden Aufwände von Talent thätig gewesen." Bevor Duncker diese Sätze und die auf 17 Folioseiten folgende Beweisführung nicht gelesen hatte, konnte er Wehrenpfennig gar kein grünes Licht geben und dieser Braß nichts "Näheres" schreiben. Das aber muß Wehrenpfennig gleich nach dem 19. Februar getan haben, wenn auch noch nicht mit deutlichen Formulierungen. Der Brief ist zwar nicht erhalten, aber eine postwendende Antwort 65
durch Braß vom 24. Februar 1861 macht es möglich, sowohl die Existenz nachzuweisen, als auch die Grundaussage zu rekonstruieren. Braß Ubersandte nämlich unter diesem Datum ein "eingefordertes Memoire" nach Berlin.(62) Darin machte er deutlich, daß Wehrenpfennig ihm eine "Stellung" in Berlin angeboten, aber noch keine "weiteren Mittheilungen" hinzugefügt hatte. Da das Memoire im übrigen den Charakter eines Lebenslaufes hat, ist unschwer zu vermuten, daß Duncker zusätzlich zu der in seinem Amt erstellten Denkschrift Uber die Haltung der "Genfer Grenz-Post" von Braß selbst eine Darstellung Uber dessen Person erbeten hatte. Braß spürte die ihn offensichtlich verlockende Chance einer Berufung nach Berlin. Andererseits wußte er aber auch um die Bedenken, die man dort trotz der aufgenommenen Beziehungen noch immer wegen seiner roten Vergangenheit gegen ihn hegen konnte. Er richtete seinen Lebenslauf deswegen ganz auf diesen Gesichtspunkt aus. Den Männern der "Neuen Ära" glaubte er sagen zu können, daß die badische Bewegung "nicht von der Art war, daß sie unbedingt eine Verurtheilung herbeigeführt hätte". Folglich war der Grund seiner Flucht in die Schweiz nicht die Angst vor verdienter Strafe, sondern "vielmehr die allgemeine Richtung..., die im Jahre 1849 in Preußen vorwaltete..., welche den Aufenthalt dort für alle bei den Bewegungen von 1848 Betheiligten nicht recht 'geheuer' machte". Das war jetzt anders, wie nicht zuletzt die von Wilhelm I. ausgesprochene Amnestie bewies. Jetzt war Preußen ein Sammelbecken für alle die geworden,"denen es mit der Freiheit des deutschen Vaterlandes Ernst" war. Da die Ereignisse von 1848 in seinen Augen bereits Geschichte waren, konnte man 1861 Uber die mögliche Schuld eines Einzelnen "nicht mehr richten". Alle waren anders geworden, "die Richter so gut wie die 'armen Sünder'". Auf sich persönlich bezogen suchte Braß das zweifach zu beweisen. Einmal konnte er seit dem Erwerb der Schweizer Bürgerrechte 1856 als ein "homo novus für Preußen" angesehen werden. Wichtiger als dieser formale Beleg aber war seine vollzogene geistige Metanoia. Das Studium Napoleons III. hatte ihm gezeigt, daß dieser Franzose "die Idee der Republik für Generationen hinaus discreditirt hat, während Preußen den revolutionären Bewegungen nicht nur das Recht, sondern den Vorwand" genommen hat. So konnte sein Memoire nur noch als ein "kleines Plädoyer für die moralische Rehabilitation der Amnestirten" angesehen und angenommen werden, wie er abschließend meinte. Der über ein Jahrzehnt währende Auslandsaufenthalt des August Braß mag die Ernsthaftigkeit dieser Gedanken glaubwürdig machen; ein taktisch bestimmtes Einfühlungsvermögen des Absenders auf den Adressaten ist dabei sicher nicht zu Ubersehen. Das läßt sich auch aus einem Postskriptum zu dem Begleitschreiben dieses Memoires herauslesen. Dort bezog sich Braß auf seine Broschüre "Berliner Barrikaden" von 1848. Wehrenpfennig hatte diese Publikation neben anderen angefordert. Braß besaß kein Exemplar mehr, glaubte auch nicht, daß noch eines im Buchhandel erhältlich sei. Die Schrift habe ohnehin, so schreibt er, "gar keine Bedeutung", und er sich "erst lange besinnen" müssen, ein "Ding dieses Titels wirklich geschrieben" zu haben. Ohne Wehrenpfennigs 66
Anfrage hatte er sich wahrscheinlich nie wieder daran erinnert. Es fällt schwer, an diese Darstellung zu glauben. In Berlin aber wurden keine Bedenken laut. Das Literarische BUro wollte ihn rufen, aber es bestand Anfang März noch keine Einigung darüber, in welcher Position Braß verwendet werden sollte. Vorrangig war jedoch der Plan, ihn zum Chefredakteur eines aufzukaufenden demokratischen Blattes zu machen. Am 7. Marz konnte Wehrenpfennig schreiben, daß "jetzt Verhandlungen wegen des Unternehmens im Gange" seien (63), die möglicherweise "in 8-14 Tagen" zum Abschluß führten, oder sich auch ganz zerschlagen könnten. Sollte das Letztere der Fall sein, würde Wehrenpfennig " d a n n eine andere Idee, wobei ich auch auf Sie rechnete, zu realisieren suchen". Diese Formulierung unterstreicht zweierlei: 1) Wehrenpfennigs Absichten ("manche Pläne'") waren konkret zwei: a) Entweder sollte Braß Redakteur des zu kaufenden demokratischen Blattes werden, wobei nicht ganz klar ist, ob der Gedanke eines solchen Zeitungskaufes ursprünglich von Duncker ausging;(64) oder b) Braß sollte die redaktionelle Leitung bei der "Preußischen Zeitung" unter dem in diesem Augenblick noch zu findenden neuen Verleger übernehmen. 2) Bei dieser Alternative hatte der erste Gedanke den Vorrang, zumal dafür als innere Konsequenz auch die Anstellung eines ehemaligen Republikaners als Chefredakteur in einer demokratischen Zeitung sprach. Doch die Versuche, ein solches Blatt zu finden, scheinen sich recht schwierig gestaltet zu haben. Als unverdächtigen Vermittler hatte Duncker Hugo Jensen, einen Hamburger Journalisten, gewonnen. Mit diesem stand er schon seit längerer Zeit in Verbindung. Im Sommer 1859 hatte er sogar erwogen, ihn zum Redakteur der "Preußischen Zeitung" zu machen, dann aber als Korrespondenten für schleswig-holsteinische Fragen im norddeutschen Grenzraum belassen und u. a. Uber ihn Verbindungen zu den "Hamburger Nachrichten" und der dortigen "Reform" gesucht.(65) Im Frühjahr 1861 nun führte Jensen im (unerkannten) Auftrag des Literarischen Büros Verhandlungen mit verschiedenen demokratischen Blattern in Berlin. Die von Wehrenpfennig Braß am 7. März bereits als laufend gemeldeten Verhandlungen lassen sich nicht konkretisieren.(66) Dagegen liegt ein Brief Jensens an Dr. Thiele, den Eigentümer des auflagenstarken Berliner "Publizisten" (ca. 7.000 Exemplare), vom 18. März 1861 vor (67), der einen gewissen Einblick in die Art vermittelt, wie das Vorgehen getarnt wurde. Jensen betont darin, daß es "das Interesse der Schleswig-Holsteiner" notwendig mache, in Berlin ein Blatt zu besitzen, über das man völlig verfügen könne. Dafür "große Opfer" zu bringen, sei man bereit. Die Hamburger Firma A.F. Woldsen werde die Zahlungen vermitteln. Für eine solche Begründung mußte gerade Jensen unverdächtig sein. Doch Thiele lehnte aus nicht genannten Gründen ab.(68) Während sich so die Verhandlungen in Berlin zunächst ergebnislos hinzogen, wurde Braß in Genf unruhig. Er will nach Berlin kommen, um "persönlich... über diese Angelegenheiten", von denen er bis dato gar nichts Inhaltliches weiß, mit Wehrenpfennig zu sprechen (69),wird aber zurückgehalten.(70) 67
Statt zu kommen, so bedeutete man ihm, solle er sich in Geduld fassen und die "Genfer Grenz-Post" weiter herausgeben, "als sei nichts im Werke". Roeder schaltete sich noch einmal ein und lobte Braß als "einen selten befähigten Kopf", den man unbedingt nach Berlin rufen m(lsse.(71) Braß reizte mit dem Einwurf, daß er die Stelle vielleicht gar nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne und ablehnen mtlsse. (72) Berlin schwieg, "Über zwei Monate" ließ man Braß nach dessen eigenen Worten der trostlosen Beschäftigung nachgehen, "an einem zum Tode bestimmten Körper herumzuarbeiten, und nicht zu wissen, was nachher kommt". Der Redakteur schrieb Wehrenpfennig über diese Enttäuschung am 23. April 1861.(73) Vom folgenden Tag datiert das Konzept einer kurzen Denkschrift, in der Dunkker einen genaueren Einblick in die Gründe solcher Verzögerung gibt.(74) Nachdem die Versuche, den "Publizisten" zu gewinnen, fehlgeschlagen waren, setzte man sie "gegenwärtig bei anderen Organen von freilich geringerer Verbreitung" fort. Doch "Unterhandlungendieser Art", das betonte Duncker nachdrücklich, seien "von der delikatesten und schwierigsten Natur". Die amtlichen Behörden müßten unbedingt im Hintergrund bleiben. Am 24. April 1861 war ein dafür geeignetes Blatt noch nicht gefunden. Doch danach überstürzten sich die Ereignisse. Am 3. Mai ist die Entscheidung gefallen. Jensen erhielt unter diesem Datum von Wehrenpfennig 2. 500 T . und den Auftrag, für dieses Geld die "Montagszeitung Berlin" im Interesse der Regierung, aber ohne diese zu nennen, "bis zum 15. May d. J. zu erwerben".(75) Zwischen dem 24. April und 3. Mai 1861, wahrscheinlich am 30. April, muß Braß dann den Ruf erhalten haben, zum 15. Mai 1861 nach Berlin zu kommen.(76) Die Verbindung zwischen dem Zeitungskauf und seiner Berufung in die preußische Hauptstadt war damit bis in die Terminplanung hinein exakt aufeinander abgestimmt. Man wollte Braß nicht eher in Berlin haben, bevor man wußte, wo man ihn einsetzen konnte. Die plötzliche Eile traf ihn unvorbereitet, zumal er sich darauf eingestellt hatte, die "Genfer Grenz-Post" nach der Weisung Wehrenpfennigs noch bis zum 30. Juni 1861 erscheinen zu lassen. Sollte er nun, "koste es was es wolle, Alles hier stehen und liegen lassen und bis zum 15. n.Mts. in Berlin sein?" Wäre es da nicht besser, das für ihn vorgesehene Blatt in der bisherigen Form noch zumindest vier Wochen weitererscheinen zu lassen, damit er in Genf seine "häuslichen und geschäftlichen Verhältnisse" ordnen konnte? Zudem, er kennt "noch heute . . . nicht einmal den Namen des Blattes".(77) An dieser Bemerkung zeigt sich, daß man im Literarischen Büro glaubte, Uber den Redakteur völlig nach eigenem Gutdünken verfügen zu können. Daß dies eine Fehlkalkulation mit durchaus weitreichenden Folgen war, mußte man schon im Juni in Berlin einsehen. Zunächst erfuhr Braß doch umgehend den Namen seiner neuen Zeitung, der "Montagszeitung", aber nichts Uber ihren Charakter. Er stellte sich am 5. Mai durch ein Schreiben bei Jensen kurz vor und schickte auch einen Artikel mit. Gleichzeitig kündigte er für das Monatsende sein Eintreffen in Berlin an.(78)
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Die Hast, mit der Braß aus Genf aufgebrochen ist, ist aus dem plötzlichen Drängen Wehrenpfennigs allein nicht zu erklären. Als Schweizer Staatsangehöriger, Genfer Bürger, Ehemann einer Tochter aus einer Genfer Industriellenfamilie und Vater von 2 Kindern hätte Braß gewichtige Griinde genug gehabt, seine Schritte sorgfältig zu wägen. Aber er zauderte keinen Augenblick; im Gegenteil. Noch waren - drei Monate zuvor - die Dinge völlig in der Schwebe, da wollte Braß bereits die "Genfer Grenz-Post" aufgeben und sofort nach Berlin kommen. Freilich, seine Ehe scheint unglücklich gewesen zu sein, vielleicht weil er weit Uber seinen sozialen Stand hinausgegriffen hat. Sie wurde noch 1861 geschieden. Ob die Beziehungen zu seinen angeheirateten Verwandten Uber eine nur formelle Art hinauskamen, muß unter solchen Umständen b e zweifelt werden. Auffällig ist in dem Zusammenhang, daß Braß später mit seinem Nachfolger in der Leitung der NAZ, Pindter, niemals Uber seinen Genfer Aufenthalt oder seine gescheiterte Ehe gesprochen hat. Zu diesem familiären UnglUck kamen bei Braß die beruflichen Fehlschläge. Sein revolutionärer Elan wurde von der Reaktion gebrochen. Seine publizistischen Unternehmen in der Schweiz vermochten trotz aller Anstrengungen nicht die Starthypotheken abzuschütteln. Mit seinen ehemaligen politischen Freunden stand er nicht mehr in dauerndem Kontakt. Kurzum, eine glückliche familiäre Grundlage hat er nicht gefunden, beruflich ist er weitgehend erfolglos geblieben. Allein sein Patriotismus scheint bei all den Fehlschlägen eine Konstante geblieben zu sein; aber auch ein Hang zum Opportunismus ist unverkennbar. All dies macht bei Braß die zähen Bemühungen verständlich, mit der preußischen Regierung in einen Kontakt zu kommen, ihn zu vertiefen und möglichst eng zu gestalten. Jetzt, wo nach monatelangen Verhandlungen endlich der Ruf nach Berlin bei ihm in Genf eintraf, ist deswegen sein fast fluchtartiger Aufbruch begreiflich. Während er sich auf die Heimreise in das Land, das er vor 12 Jahren verlassen mußte, machte, schrieb der Mann, der mit seinem anfänglichen Einsatz diese Rückkehr mit ermöglicht hat, Oberst v. Roeder, am 27. Mai 1861 beruhigend an Wehrenpfennig, Braß werde "das Prahlen ein . . . Demokrat zu sein" aufgeben und aus Überzeugung ein zuverlässiger Pressemann für die preußische Regierung werden.(79) Das wollte Braß sicher auch sein - aber 10 Jahre später wird Bismarck diese Meinung nicht mehr teilen. C. Die Umwandlung des Skandalblattes "Montagszeitung Berlin" in die gouvernementale "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" 1.
Zum Charakter der "Montagszeitung"
Die "Montagszeitung Berlin" erschien als Wochenblatt. 1855 von Adolph Glaßbrenner gegründet, war sie zum 1. Januar 1861 auf den bisher nur für den Druck und Verlag zuständigen Rudolf Gensch Ubergegangen und hatte seither unter dem neuen Chefredakteur Friedrich Matthias ihren alten Ruf als Skandal-
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blatt nur noch bestätigt.(80) Die wenigen, in heute noch vorhandenen Akten nachprüfbaren Vorgänge bestätigen diesen bereits von Boehmer erkannten, aber nicht belegten Charakter.(81) So erregte etwa der Leitartikel vom 25. März 1861 "Wer regiert ist gleichgültig, im Wie? beruht der Unterschied" beim Innenminister so starke Bedenken, daB dieser den Polizeipräsidenten nicht nur um die Konfiszierung der Ausgabe, sondern nach den vielen vorhergegangenen ähnlichen Ausfällen des Blattes nun um eine strafrechtliche Untersuchung gegen Matthias ersuchte. (82) Gleichen Anlaß bot kurz darauf die Matthias-Behauptung vom 22. April, "daB das Preußische Volk zur Zeit einer ehrlichen Verwaltung und unparteiischer Richter nicht sicher, und den ungestraften Brutalitäten des Militärs ausgesetzt" sei. (83) Obwohl den ganzen Sommer hindurch vom Innenministerium beim Polizeipräsidium an ein strafrechtliches Einschrelten und eine schnelle Verurteilung erinnert wurde (84), kam es erst am 27. September 1861 zu einem Prozeß gegen Matthias. Das Ergebnis war eine siebenmonatige Gefängnisstrafe für den zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschiedenen Redakteur.(85) Der Grund solcher Verschleppung ist leicht zu finden. Die Regierung konnte nicht durch einen Prozeß das Erscheinen einer Zeitung in Frage stellen, die sie selbst zu kaufen beabsichtigte. Erst nachdem sich die neuen Verhältnisse stabilisiert hatten, Matthias zum 1. Juli von Gensch entlassen und die "Montagszeitung" bereits in das "Norddeutsche Wochenblatt" umbenannt war, als also die "Ära BraB" bereits begonnen hatte, konnte dieser Prozeß abgewickelt werden. 2. Wehrenpfennigs geheimes Presseunternehmen und die Realität Die "Magdeburger Zeitung" brachte in ihrer Ausgabe vom 2. Oktober 1886 anläßlich des 25-jährigen Bestehens der NAZ in einem Rückblick auf die Geschichte dieses Blattes die Meldung, Braß habe von Graz aus für Österreichisch gesinnte deutsche Blätter Artikel geschrieben und sei dann 1861 von dort nach Berlin gekommen.(86) Diese Nachricht k a n n zwar n i c h t zutreffen (87), ist aber in ihrer Entstehung verstehbar und nicht uninteressant. Braß hatte bereits in der "Genfer Grenz-Post" Österreich-freundliche Artikel geschrieben. Seinerzeit hatte Wehrenpfennig das zwar unterbunden (88), aber Braß damit nicht für alle Zeiten hindern können, Artikel mit solchen Tendenzen zu schreiben. Dies hatte dem Redakteur zeitweise den Ruf eingebracht, in österreichischem Solde zu stehen.(89) Die "Magdeburger Zeitung" nun ist mit ihrem Artikel vom 2. Oktober 1886 ein Beleg dafür, wie sich diese Gerüchte zu einer konkreten Aussage verdichtet hatten. Beweise für die Unrichtigkeit sind bereits in den im vorigen Kapitel behandelten Briefen zwischen Wehrenpfennig in Berlin und Braß in Genf zu sehen. Unterstellt man einmal. Braß sei von Genf Uber Graz nach Berlin gefahren, so erscheint auch das angesichts vorhandener Daten als undenkbar. Am 5. Mal 1861 schrieb er zum letzten Mal nachweislich nach Berlin. Am 16. Mal berichtete Roeder. 70
daß Braß die "Genfer Grenz-Post" zum 1. Juni einstellen werde (90),am 27. Mai vermutete derselbe. Braß sei wohl jetzt in Berlin eingetroffen.(91) Da die "Genfer Grenz-Post" eine Wochenzeitung war und der Redakteur den Erscheinungstermin der letzten Mainummer noch abwarten mußte, ist eine solche Vermutung (erst!) zu diesem Zeitpunkt statthaft. Sie ist auch zutreffend, denn es liegt ein Brief von Braß an Wehrenpfennig vor, der in der Datumszeile den Vermerk trägt "Berlin Sonntag May", im Inhalt sogar zwei Tage zurückgreift. Der letzte Sonntag im Mai - nur um den kann es sich hier handeln trägt das Datum des 28. Setzt man danach alle Angaben zusammen, so muß Braß spätestens am 26. Mai 1861 in Berlin eingetroffen sein. Sein Erscheinen löste sofort verschiedene Aktivitäten aus. In deren Verlauf mußte Wehrenpfennig einsehen, Braß zu oberflächlich als nur wunschgemäß reagierenden, nicht aber eigen w i l l i g e n Redakteur beurteilt zu haben. Der Plan eines gouvernementalen Presseorgans im Boulevard-Gewande mußte grundlegend und schnell geändert werden. Es begann mit einem Streit zwischen Matthias und Braß. Letzterer hatte einen in den Akten nicht näher bezeichneten Artikel geschrieben, der von Matthias mit der Bemerkung zurückgewiesen wurde, er liefe der bisher in der "Montagszeitung" vertretenen Richtung "schnurstracks" entgegen.(92) Braß hatte dem Chefredakteur gegenüber nachgegeben und seinen Artikel zurückgezogen, aber bei dem Verleger Gensch auf eine Korrektur in der Richtung des Blattes gedrungen. Daß er dies mit ausdrücklicher Duldung Wehrenpfennigs getan hatte, ist aus seinem Brief an diesen von Anfang Juni zu entnehmen.(93) Der Brief nimmt Bezug auf ein mehrfach interessantes Gespräch zwischen beiden. Wehrenpfennig hatte bei einer der ersten Zusammenkünfte Braß die redaktionelle Leitung der offiziösen "Preußischen Zeitung" angetragen. Dieses Angebot legt, wenn es dessen noch ausdrücklich bedarf, den Schlußstein für den Beweis, daß man die Verwendung des August Braß im Literarischen Büro immer auf zwei Bahnen bedachte: als Redakteur eines zu kaufenden demokratischen Blattes oder der "Preußischen Zeltung". Offensichtlich war sich Wehrenpfennig bis zum Schluß nicht letztgültig schlüssig geworden. Auch daraus erklären sich seine hinausgezögerten genauen Angaben an Braß nach Genf. Deswegen stellte er jetzt sogar noch einmal gesprächsweise in Berlin die Frage. Braß lehnte das Angebot mit der Begründung ab, in der "gehobenen" Position zu wenig Spielraum zu haben: "Ich wäre", so nahm er im Brief an Wehrenpfennig noch einmal dazu Stellung, "sicherlich Manns genug, mich auch dort meiner Haut zu wehren. Lieber ist mir freilich meine gegenwärtige Stellung aber ich muß offen für dieselbe auftreten können. " (94) Um dies zu erreichen, solle Matthias ausscheiden und ihm selbst die redaktionelle Leitung übertragen werden. Gleichzeitig müsse die "Montagszeitung" ihren bisherigen Charakter eines kleinen Lokal- und Skandalblattes aufgeben, dafür "ein größeres Format, ein besseres Äußeres und über den Begriff eines lokalen Blattes hinausgehenden Titel" erhalten.(95) Vom Gehalt her werde die Zeitung dann den Standpunkt der "gesunden Vernunft" vertreten.
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Gensch, vermutlich am 4. Juni mit diesen Braß-Vorschlägen konfrontiert, war auf eine solche neue Lage völlig unvorbereitet. Irritiert bat er Jensen telegraphisch um seinen Rat und sein Kommen.(96) Dessen Brief an Wehrenpfennig zeigt an, daß die ganze Situation in ihrer Verwicklung einem gordischen Knoten nicht viel nachstand. Weder Matthias noch Gensch kannten die wahren Hintergründe, nach denen die Verhältnisse ihrer Zeitung zum 15. Mai 1861 neu geregelt worden waren. Beide sahen in Hugo Jensen den tatsächlichen Eigentümer, in dem seit dem 1. Juni bei ihnen tätigen August Braß nichts als einen w e i teren Redakteur. Dieser aber wußte um den stillen Auftrag, den die Regierung ihm erteilt hatte, und wollte entsprechend ans Werk. In Jensen konnte er nicht seinen eigentlichen Adressaten sehen und überging ihn im Augenblick auch.(97) Der ehemalige Hamburger Journalist vermochte angesichts solcher Umstände und seiner ihm bewußten Funktion eines vorgeschobenen "Eigentümers" Wehrenpfennig nur zu schreiben: "Sehen Sie einmal nach. Ich komme nicht, melde mich krank." Als in diese Situation hinein am 6. Juni auch noch das Angebot des Verleger« der "Augsburger Allgemeinen Zeitung", Dr. Cotta, an Braß, doch in seine Redaktion einzutreten, in Berlin eintraf und von Braß auch Wehrenpfennig b e kannt gemacht wurde (98). war nicht nur das Durcheinander vollkommen, sondern für das Literarische Büro auch der Zwang zur Handlung gegeben. Wehrenpfennig fühlte sich gedrängt, Braß freie Hand für die von ihm gewünschte Umwandlung der "Montagszeitung" zu geben. Jensen mußte doch nach Berlin kommen und am 10. Juni eine Konferenz über dieses Thema zwischen Braß und Gensch leiten.(99) Möglicherweise als Gesprächsgrundlage für dieses Zusammentreffen hatte Braß eine Denkschrift ausgearbeitet, die seine in der Unterredung mit Wehrenpfennig schon geäußerten Vorstellungen weiter entwickelte.(100) Sein Grundsatz lautete, "daß die Montagszeitung zwar im demokratischen Sinne weitergeführt werden wird, daß aber das Blatt aufhört, ein lokales Skandalblatt zu sein". Eine solche Umgestaltung plötzlich herbeizuführen, erschien ihm "wenig rathsam", weil dann die ohnehin nur knapp 1.000 Abonnenten (101) in der Zahl noch weiter zurückgehen könnten. Eine allmähliche Umgestaltung war ihm aber aus Gründen der drängenden Zeit auch "eine wenig rathsame Sache".(102) So sollte man eine Zwischenlösung suchen. Die "Montagszeitung" bliebe erhalten, aber nur als eine "Extrabeilage" eines Hauptblattes, das unter dem möglichen Titel "Allgemeine Norddeutsche Zeitung" als täglich erscheinende Zeitung zu gründen wäre, beide zusammen für 10 Sgr. pro Quartal zu abonnieren. Außerdem, wollte man die Arbeiter, kleinen Handwerker, Soldaten und Bauern, also Leute, die nicht täglich eine Zeitung lesen könnten, aber im Sinne des Staates beeinflußt werden sollten, ansprechen, empfahl es sich in den Augen von Braß, ein zweites Wochenblatt hinzuzufügen, das nach Art der amerikanischen Praxis die wichtigsten Artikel der Tageszeitung aus der laufenden Woche noch einmal zusammengestellt abdruckte. Die Kosten für diese 3 Unternehmungen errechnete er in seiner Denkschrift mit insgesamt 9.500 T. im ersten Jahr; i m 3. Erscheinungsjahr versprach er sich bereits Gewinn. 72
Es ist klar, daß man im Literarischen Büro Uber diese Kosten- und Gewinnspekulationen und Uber Gründungen offiziöser Zeitungen genügend Vorlagen und Erfahrungen hatte, um diesen neuen Plan, von dem das Amt sicher vor der Konferenz vom 10. Juni erfuhr, von vornherein abzulehnen. Die Konferenz ließ dann auch fast gar nichts davon übrig, auch wenn Jensen als Ergebnis eine "Combination" aller gemachten Vorschläge nannte. Es blieb bei e i n e r Wochenzeitung, über deren T i t e l noch keine Einigung bestand.(103) Dem bisherigen Lokalcharakter der "Montagszeitung" wurde dadurch Rechnung getragen, daß Berliner Verhältnisse in einem T e i l weiterbesprochen wurden.(104) Ansonsten würde die Zeitung aber über Berlin hinaus in den norddeutschen Raum greifen. Angesichts dieses Konferenzergebnisses mußte Matthias zum 1. Juli 1861 zurücktreten. Braß übernahm die verantwortliche Leitung der Redaktion. Daß er auch von der Regierung als ein f r e i w i l l i g gouvernementaler Redakteur angesehen wurde, macht der Dienstvertrag deutlich, der jetzt mit ihm abgeschlossen wurde.(l 05) Zugrundegelegt wurde der Vertrag zwischen Trowitzsch und Lorentzen vom 20. Januar 1861 mit der entscheidenden Ausnahme des § 3. Dort hatte Lorentzen die jederzeitige und widerspruchsfreie Aufnahme von Artikeln, welche die Regierung einsandte, zusagen müssen. Das war bei Braß nicht mehr nötig; folglich entfiel in seinem Vertrag dieser Paragraph! Das "Norddeutsche Wochenblatt", wie das umgewandelte Blatt zum 1. Juli 1861 hieß, blieb nur eine Zwischenlösung. Ohnehin hatte man bei der Konferenz am 10. Juni den zukünftigen Ausbau zu einer Tageszeitung schon ins Auge gefaßt und als vagen Zeitpunkt das Jahr 1862 genannt.(106) Dieser Termin wurde durch die Aktivität, die Braß entwickelte, unterschritten. Seine Forderungen, mit der äußeren Umgestaltung des Blattes auch dessen Qualität durch den regelmäßigen Bezug anderer, informierender Journale und auswärtiger Korrespondenzen zu heben, dazu aus Gründen der Werbung kostenlose Probeexemplare zu verschicken, erhöhten das im Voranschlag errechnete Defizit für das 3. Quartal (das 1. der neuen Zeitung) um mehr als 450 1o gegenüber den vergangenen sechs Wochen.(107) Um die Relation dieser Kosten zum erhofften Nutzen der Zeitung zu verbessern, schlug Jensen vor, zum 1. Januar 1862 das Blatt täglich erscheinen zu lassen; Braß selbst setzte sich "vom finanziellen Gesichtspunkt aus" für den 1. Oktober 1861 ein. (108) Diesem Vorschlag schloß Jensen sich an und verwandte sich bei Wehrenpfennig nachdrücklich dafür, um "Dr. Brass so früh wie thunlich einen Einfluß auf die demokratische Presse zu sichern".(109) Sein Schreiben vom 18. Juli geriet ihm zu einem Plädoyer für "ein vernünftiges demokratisches Blatt in Berlin". Das hatte Braß ihm in einem Brief nahegelegt und seinen eigenen publizistischen Einsatz dabei ganz auf einen Kampf mit der "Volkszeitung" bezogen.(l 10) Um die bei einer solchen Zielvorstellung erforderlichen 16.000 T . aufzubringen, müßte, - so sein Vorschlag, - 1 /4 des Kapitals von einem Buchhändler als einem zweiten zu beteiliegenden Unternehmer gegen Gewinnabgabe aufgebracht werden, was den Staat für das 1. Quartal bei einer Auflage von 1.000 Exemplaren 1.762 T . Subvention kosten würde. 73
Bei der jetzt zwischen Wehrenpfennig und dem Innenminister einsetzenden Diskussion Ober diese Vorschläge empfand man das Talent des Dr. Braß als "so bedeutend", die Notwendigkeit, Gegengewichte gegen die demokratische Presse der Hauptstadt zu schaffen, als "so groß" und, so ließe sich Uber die vorhandenen Quellen hinaus hier hinzufügen, den publizistischen Erfolg der inzwischen auf Decker Ubergegangenen "Allgemeinen Preußischen Zeitung" als zu klein, so daß die Kostenfrage zurücktrat und Manteuffel der Umwandlung des "Norddeutschen Wochenblattes" in eine Tageszeitung zum 1. Oktober zustimmte.(lll) Über die Modalitaten eines zwischen Jensen und einem Buchhändler zu treffenden Assoziationsverhältnisses wollte Wehrenpfennig nicht mitreden, vorausgesetzt, daß darauf geachtet wurde, dem Buchhändler keinen Einfluß auf die Redaktion zuzugestehen. Für die Regierung war "wesentlich nur das politische Interesse oder Wirksamkeit des Blattes geltend zu machen". Dafür werde sie fUr das 1. Quartal der neuen Tageszeitung 2.000 T. in Aussicht stellen und bei entsprechenden publizistischen Erfolgen "die moralische Verbindlichkeit" Ubernehmen, das Blatt nicht fallen zu lassen.(112) Auf diese Nachricht hin stellte Jensen Braß eine Vollmacht aus, in seinem Namen mit einem Buchhändler Verhandlungen bezüglich einer Beteiligung an dem zum 1. Oktober 1861 zu gründenden Unternehmen zu führen.(113) Um nicht eine fremde Person in "die ganze Affaire" hineinzuziehen, was seiner Meinung nach "leicht sie rebus stantibus Fatalitäten" entstehen lassen könnte, suchte Braß nicht einen selbständigen Buchhändler, sondern fand in Gustav Hasse, einen Mitarbeiter des Buchdruckers Gensch, einen von diesem sogar als zuverlässig beschriebenen Partner.(114) Mit ihm schloß er am 15. August im Namen Jensens einen Vorvertrag ab, in den er seine kaufmännischen Ideen von einer durch prognostizierten Gewinn motivierten finanziellen Beteiligung eines Dritten einbrachte. Hasse wurde zu einer Art Werbechef des Unternehmens gemacht. Er bekam für jeden neuen, namentlich nachgewiesenen Abonnenten 25 Sgr. Provision, fUr die Expedition 10 Sgr. pro Exemplar und Quartal (§^4). Diese Stimulanzien seines Eigeninteresses an der Zeltung wurden erhöht, aber gleichzeitig auch bezahlt durch die Verpachtung der letzten Zeitungsseite. Für eine Pachtsumme von 2.000 T. im 1 . , 2.500 im 2. und 3.000 im 3. Jahr stand Hasse diese Seite zur Aufnahme von eingeholten und an ihn zu bezahlenden Annoncen zur Verfügung (§1 u. 2). Zusätzlich hatte er die Verpflichtung zu Ubernehmen, halbjährlich in fünf verschiedenen deutschen und einer österreichischen Zeitung für das neue Blatt seinerseits zu annoncieren. Wehrenpfennig war mit diesen Bedingungen grundsätzlich einverstanden und monierte nur Einzelheiten. So war seiner Meinung nach der Paragraph 5 zu korrigieren, in dem die Laufzeit des Vertrages auf 3 Jahre festgelegt, aber nicht bedacht war, einen eventuellen Anspruch auf Entschädigung seitens des Gustav Hasse für den Fall vorzeitiger Vertragsaufkündigung auszuschließen^ 15) FUr den in solchen Unternehmen erfahrenen Wehrenpfennig war das eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Bei der Provision schlug er eine Verminderung von 25 auf 20 Sgr. vor. Eventuelle Zahlungsunwilligkeiten Hasses sollten vorher 74
bedacht und ihnen dadurch vorgebeugt werden, daß dem Buchdrucker Gensch erst dann seine Unkosten erstattet würden, wenn Hasse eingezahlt hatte. Wie sich nachher herausstellen wird, waren diese angeregten und nachträglich zum größeren Teil im Vertrag vorgenommenen Korrekturen von großem Nutzen, denn Hasse entpuppte sich seinen unwissenden Geschäftspartnern als ehemaliger Zuchthäusler mit sehr zwielichtigem Charakter. Vor der Hand war auch Wehrenpfennig froh, daß keine weitere Person in das ja von den Hintergründen her bisher geheim gebliebene, vom Gehalt her nun offiziöse, von der Form her aber freiwillig gouvernementale Presseunternehmen eingestiegen war. Wie vollkommen die Tarnung war, zeigt nicht nur der Umstand, daß man im Literarischen Büro bis zu diesem Zeitpunkt keine Akte Uber das doch seit dem 15. Mai laufende Unternehmen angelegt hatte (die Korrespondenzen finden sich folglich im p r i v a t e n Nachlaß Wehrenpfennigs), sondern auch die Tatsache, daß von der Seite der Regierung neben dem inzwischen ausgeschiedenen Duncker und dem Innenminister im Literarischen Büro a l l e i n Wehrenpfennig die entscheidenden Kenntnisse besaß. Dieser bat deswegen auch vor Antritt seines Jahresurlaubs am 24. August Braß, während der Ferienwochen keine Post ins Büro zu schicken. Er begründete das für den Leser einsichtig - damit, daß es nicht wünschenswert sei, wenn die "secrete Angelegenheit noch einer dritten Person, nämlich meinem Stellvertreter während der Urlaubszeit - trotz alles ebenfalls gebührenden Vertrauens bekannt" werde.(116) Während des Septemberurlaubs Wehrenpfennigs tTaf Braß letzte Vorbereitungen, um zum 1. Oktober 1861 die neue Tageszeitung erscheinen lassen zu können.^ 17) Das von Wehrenpfennig im Stil einer geheimen Kommandosache begonnene "Unternehmen Braß" verlor damit gänzlich jenen Zuschnitt, den ihm sein Initiator zugedacht hatte. An der Dynamik und Eigenwilligkeit des heimgekehrten Emigranten scheiterte der ohnehin von der Regierung als "delikat" empfundene Plan, im unverdächtigten Gewand eines demokratischen Blattes pressepolitlsche Aktivität zu entwickeln. Mit Beginn des 4. Quartals 1861 verfügte das preußische Kabinett für kurze Zeit Uber zwei Organe, die offiziöse "Preußische Allgemeine Zeitung" und die freiwillig gouvernementale "Norddeutsche Allgemeine Zeitung". Während aber das Decker-Blatt einem baldigen Ende entgegenging und darin den Zusammenbruch des bisherigen offiziösen Pressewesens dokumentierte, suchte die NAZ mit neuer Methode die alte Absicht der Regierung zu realisieren, in der durch die 48er Revolution zur Eigenständigkeit gerufenen Presse wirksam vertreten zu sein. Nach dem Erfolg ist jetzt ebenso zu fragen wie nach dem Verhältnis von Lenkung und Freiheit, in das die "Norddeutsche" damit eintrat.
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3. Die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" am Vorabend der Berufung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten Am 1. Oktober 1861 erschien die NAZ als eine tägliche Abendausgabe mit ihrer ersten Probenummer. Wenn auch der Untertitel und die fortlaufende Jahreszählung (118) eine gewisse Fortführung der Tradition der alten "Montagszeitung" zu dokumentieren suchten, so war doch eine vollständige inhaltliche Neuorientierung nicht zu verkennen. Der Übergang von einer Boulevardzeitung mit lokalem Charakter zu einer politischen Tageszeitung mit europäischem Horizont, von dem "Norddeutschen Wochenblatt" bereits eingeleitet, war abgeschlossen. Die gründliche Umwandlung hat Braß allein und gegen den Willen Wehrenpfennigs durchgesetzt. Während dieser daran dachte, die neue Tageszeitung in dem kleinen Format der "Volkszeitung" und zu einem ebenso billigen Preis herauszugeben, forderte Braß ein größeres Format und einen schon dadurch b e gründeten höheren Abonnentenpreis (1 1/2 T . pro Quartal). Aber auch die inhaltliche Neukonzeption zwang dazu: "Überwiegend von Gesichtspunkten der auswärtigen Politik", so urteilte Wehrenpfennig über die Absichten des August Braß, "glaubte er in einem kleinen Organ keinen Raum für seinen sich weitausspannenden Ideenkreis zu finden."(119) Der Direktor des Literarischen Büros, gleichermaßen dem eigenen publizistischen Erfolgszwang unterworfen, wie durch auswärtige Angebote an Braß getrieben (120),gab nach.(121) Er gestand Braß ein größeres, der "Nationalzeitung" ähnliches Format zu und ließ ihm auch in der äußeren Ausstattung freie Hand. Die grundsätzlichen Faktoren seines "weitausspannenden Ideenkreises" führte Braß dem Leser auf der ersten Seite der neuen Ausgabe als die Prinzipien vor, die sein Blatt "bei der Anschauung der politischen Lage Europa's" leiten würden. Es entspricht seinen bisherigen Erfahrungen und Äußerungen, dabei von der Person Napoleons III. auszugehen. Allerdings anders als in der Schrift "Was noth ist", anders auch als auf dem Genfer Auslandsposten, gab er jetzt, vom gesicherten Berlin des Jahres 1861 aus, dem Motiv aller Revolutionen den Vorrang, dem Kampf für die Freiheit. Das in Napoleon verkörperte Cäsarentum wird als abschreckende Folge einer politischen, die Freiheit tötenden Zentralisation b e - und verurteilt. Frankreich ist es seit 1848 selbst so ergangen, Italien ist auf dem Wege dorthin und Deutschland der gleichen Gefahr ausgesetzt. "Nur in der Dezentralisation ist die Freiheit möglich. " Auf die Realitäten der deutschen Politik bezogen, bedeutete das für Braß Konföderation. Sie war jetzt die einzige Quelle der Freiheit, des Wohlstandes, der geistigen und materiellen Entwicklung". "Wir wollen nicht", so lautete der Kernsatz des Programms, "daß man dem Volke statt des Brodtes der Freiheit den Stein der Einheit gibt, wir wollen nun und nimmer diese Einheit, die zur Despotie und zu dem Cäsarenthum führt, wir wollen sie nicht diese Einheit, gleichviel ob man ihr eine schwarz-weiße oder eine schwarz-roth-goldene Fahne voranträgt. " Was Wehrenpfennig im November 1860 als politische Ausrichtung der "Genfer Grenz-Post" anmahnen konnte, vorrangig und deutlicher für Preußens Rolle 76
in Deutschland einzutreten, war im Programm vom 1. Oktober 1861 wieder verblaßt. Zwar wünschte Braß, daß Preußen "im nächsten Jahrhundert und weiter hinaus" wegen seiner geistigen Entwicklung, seiner freisinnigen Institutionen und seines wachsenden Wohlstandes unter den deutschen Staaten zuerst genannt werde, "aber es ist eine hohe Anmaßung, es ist eine verderbliche Vermessenheit, dies mit Sicherheit behaupten zu wollen". Wenn die Freiheit ein Wert sei, müsse auch den übrigen deutschen Stämmen das Recht auf Bewerbung um die führende Position zugestanden werden, allen voran Österreich. Weder für Preußen noch für Österreich werde dann Deutschland Objekt eigener Interessen sein. Wollten beide Staaten Deutschland das "Brodt der Freiheit" geben, werde Preußen begreifen, daß Deutschland getroffen, wenn Österreich am Mincio geschwächt werde und dies werde seine schwarz-rot-goldenen Fahnen den schwarz-weißen am Rhein oder an der Eider zur Seite stellen. Diese Anschauung der politischen Lage Europas, freilich mehr eine Betrachtung der deutschen Frage, war in ihrer Tendenz so weit vom preußischen Standpunkt entfernt, daß Braß damit in Berlin und darüber hinaus sehr schnell auffiel, zumal die programmatischen Äußerungen zum 1. Oktober in den folgenden Wochen noch expliziert wurden. Jensen schrieb am 9. November Wehrenpfennig, viele Leute, "die den wirklichen Verhältnissen natürlich ganz fernstehen", hätten ihm gegenüber die Meinung vertreten, die NAZ sei ein österreichisches Organ.(122) Sorgenvoll gab er zu bedenken, daß ein Blatt mit diesem Ruf natürlich "nie aufkommen" könne. In einem Augenblick, wo Uber die große europäische Politik die divergierendsten Ansichten herrschten, über die politische Stellung Österreichs ausgesprochen feindliche Äußerungen in Berlin zu hören seien, vertrete Braß als noch unerkannter preußisch-gouvernementaler Redakteur - eine zumindest unklare, wenn nicht sogar eine für Österreich freundliche Linie. Statt deutlich den Standpunkt der preußischen Regierung zu vertreten und den Leser in diese Richtung zu ziehen, erzeuge er in der Öffentlichkeit den "Widerwillen gegen ein 'österreichisches' Blatt" und überlasse so den Leser weiter den "krämerhaften politischen Raisonnements der Berliner Presse". Nichts könne sich so in der öffentlichen Meinung ändern; die Presse werde von ihren Verlegern weiter als ein kaufmännisches Objekt verstanden werden und ihre Leser "consequent nicht über das Maaß der Weißbierstubenpolitik" hinausführen. Gerade dagegen, so sah es doch nach der Meinung Jensens der Plan bei der vorliegenden Zeitungsgründung vor, wollte man im Sinne der Regierung, im Sinne einer richtigen staatsbürgerlichen Erziehung vorgehen. Aber weder in der Diskussion über die Rolle Preußens bezw. Österreichs in der deutschen Frage tue Braß das mit der wünschenswerten Klarheit, noch bei anderen politischen Themen. Kennzeichnend für das Blatt sei nicht sein richtungsweisendes Kommentieren und gelegentliches Polemisieren, sondern seine alles zersetzende Kritik.(123) In mehreren Punkten riet Jensen Wehrenpfennig an, was Braß zu schreiben habe: Der Nationalverein dürfe nicht einfach verketzert, es müßten seine Schwächen für die politischen Realitäten erläutert werden. Was die französische Presse leiste, sei von dem abzusetzen, was sie leisten sollte. Warum gegen Viktor 77
Emanuel und wann gegen Italien aufzutreten sei, wolle das Publikum wissen, nicht aber allgemein gehaltene Aufforderungen lesen. Schließlich, und das sei doch seine wichtigste Aufgabe, müsse Braß deutlicher für den preußischen Standpunkt eintreten. Wehrenpfennig trafen diese Reflexionen aus Hamburg, die leider heute nicht mehr an den (verlorenen) Zeitungsexemplaren nachgeprüft werden können, nicht unvorbereitet. Auch er hatte die Gerüchte Uber das "österreichische Organ" vernommen und wollte darüber mit Braß konferieren.(124) Leider gibt es Uber die Konferenz am 20. November keine Aufzeichnung. Es kann aber nicht Uber diesen Punkt zu einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit zwischen beiden gekommen sein, denn Wehrenpfennig, der alle bisher bedeutsamen Unstimmigkeiten in seinem Promemoria festgehalten hat, berichtet darüber nichts. Vermutlich hat er, wie vor Jahresfrist im Brief vom 15. November 1860 nach Genf, Braß jetzt mündlich den Standpunkt der preußischen Politik dargelegt und ihn darauf vergattert. Gravierender wirkten sich zwei andere Punkte aus, welche die Form des ganzen Unternehmens nachhaltig veränderten. Es begann bereits Ende Oktober mit der Entdeckung, in Hasse, dem durch einen Pachtvertrag mitengagierten Expedienten der Zeltung, einem ehemaligen Zuchthäusler aufgesessen zu sein.(125) Während dessen abermalige Verhaftung wegen Betruges seine Funktion in der NAZ und das Partner-Verhältnis mit Braß nach wenigen Wochen wieder aufhob und nur den (abermaligen!) Beweis zurückließ, daß die Regierung bei ihrem Tarnungsbedürfnis allzuoft unkontrollierbaren Gefahren ausgesetzt war, weitete sich im Winter 1861 /62 eine latente Mißstimmigkeit zwischen Jensen und Wehrenpfennig zu einer ernsten Krise dieses Presseunternehmens aus. Wehrenpfennig sah den Grund darin, daß Jensen von Hamburg aus für die Verwaltung und den Betrieb der Zeitung nicht genügend Vorsorge treffen konnte.(126) Jensens Briefe dagegen zeigen sehr deutlich, daß in seiner Rolle als juristisch tatsächlicher, faktisch aber nur vorgeschobener Eigentumer der Grund der Krise lag. Sie entzündete sich an finanziellen Fragen. Im Vertrag vom 3. Mai 1861 hatte die Regierung Jensen "für seine Mühen" eine jährliche Zahlung von 400 T. zugesagt.(127) Das Geld sollte quartalsweise in Raten zu 100 T. aus dem Fonds des Literarischen Büros genommen, mußte aber von Jensen immer wieder angemahnt werden. Sein entgegenkommender Vorschlag, diese Subvention nach einer einmaligen Abfindung von 300 T. gänzlich zu streichen und ihm allein die Zinsen aus der in Aktien angelegten Kaution zu belassen (128), wurde zunächst von Wehrenpfennig dahingehend mißverstanden, daß er die zu zahlenden 400 T. durch Jensen auf 300 T. ermäßigt glaubte.(129) Jensen war so korrekt, auf dies Mißverständnis aufmerksam zu machen, protestierte aber mit großem Nachdruck dagegen, daß Wehrenpfennig ihn als einen nur der Öffentlichkeit gegenüber "figurirenden Eigenthümer" der NAZ apostrophierte. Hinzu kam sein Ärger darüber, daß Gensch sich häufig - korrekterweise - an ihn wenden mußte, weil er von der Regierung für Druck und Satz der Zeitung nicht pünktlich und ausreichend das Geld bekam, und jetzt auch noch der Jensens 78
Namen seiner Meinung nach entehrende Reinfall mit Hasse.(130) Ihm wurde die Korrespondenz mit Wehrenpfennig aber diese Streitpunkte zu "unerquicklich". Deshalb faßte er am 7. Februar 1862 in einem Brief an Duncker seine Vorwurfe zusammen und sprach dabei offen von einer Krise des ganzen Unternehmens.(131) Duncker gab, da er nicht mehr der Leiter der offiziösen Presse war, den Brief an Wehrenpfennig weiter. Dieser zog sich in seiner Antwort vom 15. Februar 1862 zunächst ganz auf die juristische Lage zurück. Jensen sei Eigentumer und habe sich in dieser Position von Hamburg aus "selbstverständlich auch um den Betrieb des betreffenden B l a t t e s . . . zu kümmern". Seine eigene Aufgabe sah Wehrenpfennig "lediglich in einer pecuniären Verpflichtung". Doch er scheint selbst eingesehen zu haben, daß dieses Argument der komplizierteren Situation nicht gerecht wurde. Hatte nicht auch er Jensen einen nur nach außen hin "figurirenden EigenthUmer" der Zeitung genannt? Er fragte deswegen bei ihm an, ob er geneigt sei, "das Eigenthum des in Rede stehenden Blattes an eine Persönlichkeit abzutreten, welche sich hier in Berlin befindet, u. daher geeignet ist, die Interessen des Blattes nach den verschiedenen erforderlichen Richtungen wirklich zu vertreten". Für den Fall, daß Jensen dieses Angebot annehmen sollte, womit Wehrenpfennig offensichtlich rechnete, bot er eine Entschädigung an, die aber angesichts der unsicheren Zukunft des Blattes "nicht zu hoch bemessen sein dürfte".(132) Jensen fühlte sich durch die Interpretation seiner im § 3 des Vertrages vom 3. Mai 1861 festgehaltenen Pflichten verletzt, zu Recht, wenn man mit ihm die damalige Situation bedenkt. Weder die Regierung noch er hatten im Mai vorigen Jahres gewußt, welch eine Person Gensch war. Sowohl Duncker als Wehrenpfennig hatten den Vertrag mit dem Drucker vom 15. Mai 1861 genehmigt. Jetzt ihm, Jensen, den Vorwurf mangelnder Vorsicht zu machen, hielt der Hamburger Journalist für unberechtigt. Und ganz als verletzter Ehrenmann gab er seine Stellungnahme zu dem Vorschlag eines Verkaufs seiner Rechte ab: "Unter diesen Umständen versteht es sich ganz von selbst, daß Ich mir eine Uebergabe der Allg. Nordd. Zeltung zu Eigenthum eines Andern n i c h t bezahlen lassen werde." Er wollte nur noch die Form wissen, in der die Übergabe erfolgen könnte, um dann möglichst schnell von der ihn jetzt "quälenden" Sache befreit zu sein.(133) Duncker, wiederum Adressat dieser Kündigung, riet Wehrenpfennig, "möglichst rasch" die nötigen Umdispositionen zu treffen.(134) Sie wurden auch umgehend eingeleitet. Am 19. Februar erläuterte Wehrenpfennig Jensen seine Vorstellungen über die Modalltäten.(l 35) Entsprechend den Umständen dieses Zeitungsuntemehmens lag ihm vorrangig daran, das Geheimnis, das er und Jensen hüteten, "keiner dritten bisher ununterrichteten Person mittheilen zu müssen". Er schlug deswegen vor, das Eigentum der Zeitung auf Braß übergehen zu lassen. Sollte der Justizrat Winter, der vor einem Jahr den Ankauf des Blattes von Gensch notariell beurkundet hatte, damals in die"Fiktion" eingeweiht worden sein, daß Jensen das Blatt "auf Wunsch politischer Freunde" gekauft hatte, so wäre diese "Fiktion" auch bei der jetzigen Übertragung aufrecht zu halten. 79
Jensen erklärte sich damit einverstanden, seine Rechte an Braß abzutreten, hielt eine notarielle Hilfe für unnötig und wollte nur noch vorher alle Gensch gegenüber bestehenden Verbindlichkeiten geklärt wissen.(136) Bevor der Vertrag am 19. März 1862 zustandekam, doch notariell beurkundet von dem Justizrat Ulfert(137), hat Wehrenpfennig sich von Braß die Grundzüge vorlegen lassen, nach denen dieser als der verantwortliche Redakteur und gleichzeitige Verleger "seine" Zeitung in Zukunft zu redigieren gedachte.(138) Die Denkschrift zeigt, daß die Meinungsverschiedenhelten Uber die inhaltliche Ausrichtung der NAZ, die ja Ende 1861 bestanden hatten, offensichtlich damals beigelegt wurden, denn sie spielten jetzt keine Rolle mehr. Um so deutlicher dagegen traten nun unterschiedliche Betrachtungen Uber den Charakter der Zeitung hervor. Sie sind geeignet, unsere Vorstellungen von einer "offiziösen" Zeitung, wie sie damals herrschten, inhaltlich etwas umfangreicher zu füllen, als das bisher möglich war. Deswegen seien die Hauptpunkte der Denkschrift kurz vorgestellt. Braß glaubte, Wehrenpfennigs Intentionen bei der Gründung dieser Zeitung so verstanden zu haben, daß die Regierung ein Blatt suchte, daß "mit freierer Bewegung als die offiziöse Zeitung" da ergänzend eingreift, "wo die Administration nicht unmittelbar in's Spiel kommen darf". An zwei Punkten faßte er das etwas konkreter: 1)Die NAZ mußte "die Polemik mit der übrigen Presse" führen. Während die offiziöse Zeitung überhaupt keine Polemik, allenfalls eine kasuelle Berichtigung tatsächlicher, in der Oppositionspresse vertretener Unwahrheiten betreiben durfte, andererseits aber an einem solchen Kernpunkt des Presseinhalts nicht vorbeigegangen werden konnte, mußte die Regierung ein Organ haben, das in ihrem Sinne in diese Lücke trat. Eine Polemik der "Sternzeitung" mit der "Volkszeitung" etwa hätte diesem Blatt eine ihm gar nicht zukommende Wichtigkeit gegeben und seine Abonnentenzahl nur erhöht. Deswegen wäre sie für die Regierung nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich gewesen. Zudem durfte das Regierungsorgan gar nicht mit solchen "cynischen Grobheiten oder talmudischen Redensarten oder einschmeichelnden Witzen" kämpfen, wie sie auf diesem Felde gebraucht würden und beim Leser ankämen. 2)Die NAZ mußte ein "'Fühler' für die öffentliche Meinung" werden. Dieser Aufgabe maß Braß ein gleiches Gewicht bei. Die Regierung konnte nicht darauf verzichten, wenn sie "eine legislatorische oder Administrativ-Maasregel, oder eine politische Combination" anbahnte, die öffentliche Meinung dazu zu vernehmen. Umgekehrt wollte auch der Leser in den Vorgang und dessen Entwicklung informativ einbezogen werden. Das konnte eine offiziöse Zeitung nicht leisten, die abwarten mußte. Die "freiere" NAZ dagegen konnte hier einspringen, indem sie die keimenden Dinge besprach, Einwendungen begegnete und so die öffentliche Meinung abtastete und führte. Sollte sich der besprochene Gegenstand anders entwickeln, konnte die Regierung jeder Zeit dementieren, "da sie nicht engagirt gewesen" war. Beide Punkte, denen Braß noch als dritten die Möglichkeit anfügte, daß bei einem eventuellen politischen Umsturz die zurückgetretenen Politiker "ein 80
ernstes, kräftiges Oppositionsblatt" hätten, verbalisieren zum ersten Mal jene Grundsätze, die eine offiziöse Zeitung nicht befolgen konnte, eine der Regierung nahestehende jedoch tatkräftig befolgen mußte. Nimmt man noch die vertraglich gefaßten Kriterien, die den Chefredakteur spezifisch gouvernementaler Zeitungen binden sollten und bei Braß ausdrücklich nicht angewandt wurden, hinzu, so hat sich die Vorstellung von den Vorbedingungen und Intentionen einer neuen, einer freiwillig gouvernementalen Zeitung ausgebildet. Bei ihr sollte der Akzent nicht so sehr auf Lenkung, denn auf Freiheit liegen. Braß brauchte zu ihrer Kennzeichnung den Begriff eines "'wohlunterrichteten' Blattes". Fraglos gehörte dazu, daß die Regierung entsprechendes Material zur Verfügung stellte, der Redakteur aber Uber den Ursprung seiner Informationen sich ausschwieg. "Aber man hat von alle dem Nichts gethan", so formulierte Braß das bisherige Verhalten der Regierung. Anders ausgedrückt könnte man sagen, daß der Geheimplan Wehrenpfennigs, eine demokratische Zeitung aufzukaufen und sie im Sinne der Regierung zu redigieren, stark im Formalen stecken geblieben war. Der Schritt zur tatsächlich freiwillig gouvernementalen Zeitung war aus Ängstlichkeit - nicht konsequent genug getan worden. Für Braß lag darin der Grund, daß die NAZ trotz erhöhter Subventionen noch nicht Uber 400 Abonnenten hinausgekommen war.(139) Leider schließt mit der Übertragung der Eigentumsrechte auf Braß am 19. März 1862 der umfangreiche und inhaltlich sehr ergiebige Nachlaß Wehrenpfennigs zu diesem Thema. Der Grund liegt darin, daß Wehrenpfennig, "durch die außerordentliche Anspannung, welche die gewissenhafte Erfüllung des Amtes unter den schwierigsten Verhältnissen der letzten 6 Monate erforderte", erschöpft, am 12. März 1862, eine Woche vor der Übereignung der NAZ an Braß, Auerswald zunächst um einen sechswöchigen Urlaub bat (140), aus dem er dann aber nicht mehr auf seinen Posten als Direktor des Literarischen Büros zurückgekehrt ist. Am Tage nach der Unterzeichnung des Vertrages zwischen Jensen und Braß, am 20. März, erläuterte Wehrenpfennig in einer längeren Denkschrift für das Staatsministerium die Gründe, die ihn veranlaßten, als "Leiter der offiziösen Presse" ganz zurückzutreten.(141) Er wollte dabei "allein aus der Sache" heraus seinen Rücktritt verständlich machen. Wesentliche Gründe waren ihm die Änderung der politischen Richtung angesichts der Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Preußen und sein Ärger Uber die vom Auswärtigen Amt so schlecht gepflegte Verbindung zu seiner Dienststelle. Doch es dürften wohl nicht die strapaziösen Begleiterscheinungen unberücksichtigt bleiben, die ihm sowohl die Leitung der "Allgemeinen Preußischen Zeitung" als auch sein eigener, mit Duncker näher besprochener, aber dann von ihm allein realisierter ünd beaufsichtigter Geheimplan auferlegt haben. Für den Historiker sind Dunckers und Wehrenpfennigs Aktivitäten, die Braß eigenständig weiterentwickelt hat, Grundsteine für die Konzeption einer freiwillig gouvernementalen Zeitung. Es ist wegen einer Quellenlücke nicht möglich, die Rolle der NAZ bis zur Berufung Bismarcks so weiter zu verfolgen, wie bisher. Die oberste Leitung 81
des bis zum Frühjahr 1 8 6 2 dem Staatsministerium unterstellten Literarischen Büros wurde Ende März 1 8 6 2 dem Innenministerium übertragen.(142) Doch das Büro b l i e b das ganze Jahr über ohne e i g e n t l i c h e direktoriale Führung.(143) Die trotzdem im Frühjahr 1 8 6 2 i m Innenministerium angelegte Akte über die NAZ ist durch die Einwirkungen des 2 . Weltkrieges verloren oder vernichtet.(144) Es besteht nur eine kleine Möglichkeit, die Lücke bis zum September 1862 z u mindest teilweise zu überbrücken. Es sind Stücke einer Korrespondenz zwischen Braß und Liebknecht erhalten, die sowohl e i n e gewisse Vorstellung von der politischen Richtung des Blattes, als auch einen Einblick in die frühen Redaktionsverhältnisse vermitteln. Schon bald nach dem 1. Oktober 1 8 6 1 , als das Wochenblatt in eine T a g e s z e i tung umgewandelt wurde, muß Braß mit Liebknecht, der noch in London war, in einem Briefwechsel dessen Mitarbeit b e i der neuen Berliner Zeitung besprochen haben. Wer dazu angeregt hat, läßt sich aus den Quellen nicht mehr ermitteln. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Braß, auf der Suche nach guten Redakteuren, die Initiative ergriffen hat. Sicher ist, daß Liebknecht, der in London inzwischen für den " D a i l y T e l e g r a p h " schrieb, diese M ö g l i c h keit mit Verve ergriffen hat, denn am 13. November 1861 schrieb ihm Braß: "Ihre Correspondenzen sind mir, wie Sie an dem Abdruck gesehen haben, angenehm, dagegen erlaubt es mir der Stand des kleinen Blättchens nicht, täglich dieselben aufzunehmen." ( 1 4 5 ) Er schlug ihm deswegen vor, " e i n e n T a g um den andern" zu schreiben, so daß die Briefe jeweils montags, mittwochs und freitags in Berlin einträfen. Charakteristisch für die von Braß bevorzugte Darstellungsweise, die er selbst in seinen Büchern anzuwenden l i e b t e , ist seine Bitte an Liebknecht, die Korrespondenzen "soviel als möglich mit Anekdoten aus dem Londoner Leben (zu) durchspicken", um dem Berliner Publikum s e i nen Willen, " d i e Politik als Unterhaltungslektüre" zu empfinden, zu erfüllen. Für die Annahme, daß mit diesem Brief Liebknechts Mitarbeit bei der NAZ z u nächst als "Auslandskorrespondent" grundgelegt wurde, spricht die T a t s a c h e , daß Braß bei der Gelegenheit auch die Honorarfrage anschnitt. Leider ist der T e x t an der entscheidenden S t e l l e , wo von der Höhe des Entgeltes pro Korrespondenz die Rede ist,durch nachträgliche Korrekturen unleserlich g e m a c h t . Deutlich wird nur, daß Braß mit dem Hinweis auf seine beschränkten Mittel "bis Neujahr" wenig zahlen konnte, danach aber mit dem Aufschwung des Blattes an eine Verbesserung dachte. Von der gouvernementalen Abhängigkeit der NAZ ist natürlich keine Rede. Wir wissen, daß sich die finanzielle Lage der Zeitung infolge ihrer geringen Auflagenzahl (400) und der dadurch relativ hohen Druckkosten, die von Gensch i m m e r wieder eingefordert werden mußten, bis in das Frühjahr 1 8 6 2 nicht wunschgemäß entwickelt hat. S o schickte auch Braß Liebknecht erst a m 7. Mai 1 8 6 2 4 0 T . mit der Entschuldigung, vorher "nicht bei Kasse" gewesen zu sein.(146) Dagegen war ihm aber sehr daran gelegen, Liebknechts Mitarbeit b e i der NAZ auf eine neue, bessere Grundlage zu stellen. Er schlug ihm vor, " l i e b e r ganz hierher" nach Berlin zu k o m m e n und offerierte ihm e i n e feste 82
Anstellung bei seiner Zeitung für " 5 bis 600 T . jährlich". Das sei zwar "fllr den Anfang nicht brillant", aber mit der Verbesserung der Zeitungslage wurde sich das in positiver Weise ändern. Liebknecht hat offenbar dieses Angebot mit Zurückhaltung aufgenommen und seinerseits vorgeschlagen, sich erst "heraus zu arbeiten", bevor er nach Berlin käme.(147) Aus der Antwort, die ihm Graß darauf am 6. Juni schickte (148), spricht die Ungeduld eines Chefredakteurs, der einen guten, aber nur periodischen Mitarbeiter zum ständigen Redakteur machen möchte. Ein solches "Herausarbeiten" dauerte ihm zu lange und war ihm nicht so wichtig wie Liebknechts Einverständnis "mit der Haltung des Blattes". Um ihm darüber eine Vorstellung zu vermitteln, entwickelte er sein eigenes, der NAZ zugrundegelegtes politisches Programm. Dieses Schriftstück "ersetzt" in willkommener Weise die verlorenen Zeitungsexemplare. Seinem Inhalt kann man starke Bezüge zu jenen "Prinzipien... bei der Anschauung der politischen Lage Europa's", die Braß in der Probenummer der NAZ vom 1. Oktober 1861 vertreten hatte, entnehmen. Aber man darf auch nicht Ubersehen, daß die dort als Konsequenz einer antinapoleonischen Politik eingenommene "gesamtdeutsche" und das hieß konkret Österreich gegenüber freundliche Haltung in dem Liebknecht vorgelegten Programm zugunsten einer antiliberalen Tendenzpolitik etwas zurückgetreten ist. Braß sagte sofort mit dem ersten Satz: "Ich bekämpfe die Fortschrittspartei, den Nationalverein, den Nationalitätenschwindel etc. mit der äußersten Consequenz. " Gerade seinem alten Kampfgefährten von 1848 glaubte er deutlich sagen zu müssen, daß die Zeit der Revolution durch die Existenz der in Napoleon inkarnierten, aber durchaus auf nachfolgende Bonapartisten übertragbaren Cäsarenidee vorbei sei. Folglich müsse die NAZ jede Regierung unterstützen, die sich dem Franzosen feindlich zeige. Die Bedeutung dieses Gedankens suchte er durch die sprachliche Form zu unterstreichen: "Ceterum censeo Napoleon esse delendum. Da haben Sie mein Glaubensbekenntnis." Auffällig ist die Nähe dieses Programms und sogar seiner Formulierung zu einer Äußerung des damaligen Unterstaatssekretärs Justus von Gruner vom 22. März 1861 gegenüber dem preußischen Außenminister Bernstorff. Vor die Alternative gestellt, "Widerstand gegen das napoleonische Frankreich" oder "liberale T e n denzpolitik" zu vertreten, entschied sich Gruner wie Braß: "Für mich gibt es natürlich nur eines, das erstere. Das ist nicht meine A n s i c h t , es ist bei mir politischer G l a u b e n s a r t i k e l . Alle anderen Fragen haben in meinen Augen nur untergeordneten Wert."(149) Seine Folgerung, eine Realisierung durch die Verständigung mit Österreich und den anderen deutschen Regierungen zu versuchen, hatte Braß im Programm vom 1. Oktober 1861 ebenfalls deutlich gezogen. Im Brief vom 6. Juni 1862 wird das nicht mehr so ausdrücklich. Man könnte meinen, Fortschrittspartei, Nationalverein und Nationalitätenschwindel zu bekämpfen, hieße, daß Braß jetzt auf den Boden der von der preußischen Regierung vertretenen Politik stand, dies umso mehr, als er sich bei seinen politischen Zielen bis zum Anhänger der Kreuzzeitungspartei entwickeln zu 83
können glaubte.(150) Aber Braß hatte die großdeutsche Richtung noch nicht verlassen. Ein späterer Brief an Liebknecht macht das deutlich. Es ist das Schreiben vom 6. Juli, das zugleich einen gewissen Einblick in die inhaltliche Breite der NAZ und die in der Redaktion getroffene - oder vielleicht erst nach Liebknechts Eintritt zu treffende? - Ressorteinteilung gibt. Dem Brief zufolge hätte Liebknecht "täglich morgens im Redactionsbureau den politischen Tagesbericht (eine Rundschau der Neuigkeiten) zu schreiben", im Stil flüssig, "hier und da durch einige Hörner pikant gemacht". Dieser Artikel ist sicher eine Weiterentwicklung des mit "Politik der Woche" Uberschriebenen Leitartikels in der alten "Genfer Grenz-Post" und hat in der NAZ alle Jahre hindurch seinen Platz in der ersten Spalte der Titelseite gehabt. Entsprechend seiner Bedeutung ist der Wunsch von Braß verständlich, hier nicht nur Tatsachen mitgeteilt zu sehen, "sondern auch ihre Bedeutung dem Leser klar zu machen". Von welcher Position diese Deutung zu bemessen war, sagt die knappe Formulierung: "Die Tendenz dieses Artikels ist großdeutsch. "Aus dieser Angabe ist zu schließen, daß Braß die NAZ noch nicht, wie etwa 1 8 6 0 / 6 1 die "Genfer Grenz-Post", auf eine spezifisch preußische Richtung gebracht hatte. Auch die Konferenz mit Wehrenpfennig vom 20. November 1861, die ja den Zweck hatte. Braß zu veranlassen, die Zeitung von dem Ruf eines "österreichischen Blattes" abzubringen, hat dies offensichtlich nicht nachhaltig bewirken können. Zumindest bis zu diesem Augenblick war Braß sich seiner politischen Grundhaltung eines in erster Linie deutschen und dann erst preußischen Patrioten treu geblieben. Eine zeitweilige Abkehr von diesem Standpunkt muß nach dieser Quelle als taktisches Vorgehen gewertet werden. Neben dem Leitartikel sollte Liebknecht das Neueste und Wichtigste Uber England, Amerika, Skandinavien und Rußland aus anderen Zeitungen herausschneiden. Nachmittags wäre noch eine Korrespondenz Uber eins der hier genannten Länder zu schreiben, dazu wöchentlich ein Artikel Uber die Literatur oder das soziale Leben in England "in Feuilletonmanier". Dieser Brief zeigt neben der in einem Punkt wesentlich ergänzten inhaltlichen Ausrichtung der NAZ und ihrer Themenbreite auch an, daß die Zeitung damals noch keine eigenen Auslandskorrespondenten hatte. Dazu weist er daraufhin, daß Braß Liebknecht als Redakteur fUr den außenpolitischen T e i l der Zeitung, mit Ausnahme der Berichterstattung Uber Frankreich, die er sich wegen ihrer Bedeutung wohl selbst vorbehalten wollte, anzustellen beabsichtigte. Unzutreffend ist die in der Forschung u. a. von Kiaulehn vertretene Meinung, Liebknecht habe den sozialpolitischen T e i l der Zeitung redigierte 151) Eine so weitgehende Ressortaufteilung hat es selbst bei der DAZ, der Nachfolgerin der NAZ, in der Zeit der Weimarer Republik noch nicht gegeben, wo die Sozialpolitik von dem innenpolitischen Ressort wahrgenommen wurde.(l 52) In seiner Antwort auf den Braßbrief vom 6. Juli scheint Liebknecht sich eine Woche später immer noch unschlüssig gewesen zu sein und den Gedanken an andere mögliche Anstellungen erwogen zu haben.(153) Ob ihn dazu die veränderte politische Auffassung seines alten Revolutionskameraden bewogen hat, muß offen bleiben. Braß appellierte postwendend am 14. Juli an sein Verant84
wortungsgefühl als Familienvater. Er, Liebknecht, sei "In dem Alter, wo man daran denken muß, eine sichere Lebenstellung zu gewinnen". (154) Gleichzeitig ließ er durch eine weibliche Mittelsperson in London Frau Liebknecht ausrichten, er könne ohne ihren Mann nicht fertig werden.(155) Diesen selbst machte er aber auch darauf aufmerksam, das Angebot nur dann anzunehmen, wenn er daran denken könne, "bei der Zeitung zu bleiben". Wenn er jene Hoffnung nicht habe, müsse er das Engagement zurückweisen. Um das noch einmal abklären zu können, schickte er Liebknecht mit gleicher Post "die letzte Probenummer, die eine Art von Collection früherer Leitartikel enhält", mit. Sie sollte ihm jene Ansichten "Uber Preußen, Deutschland, Italien, Frankreich etc. " verdeutlichen, von denen die NAZ so lange nicht abweichen werde, bis der Sturz Napoleons eine Neuorientierung ermögliche. Das von Braß abschließend angefügte Bekenntnis, "daß eine Republik gewaltsam In den großen Staatskörper Alt-Europa's eingeführt werden müsse", überrascht etwas, weil Gedanken dieser Art bei Braß in den letzten Jahren nicht mehr zu finden sind. Deswegen liegt hier die Vermutung nahe, daß er diese Reminiszenz an die 48er Revolution absichtlich, das kann dann nur heißen, aus taktischen Gründen, einfließen ließ, um Liebknecht als ständigen Mitarbeiter der NAZ zu gewinnen. Ob dieser dadurch veranlaßt wurde, seine endgültige Zusage zu geben, muß natürlich offen bleiben. Auffällig ist jedoch, daß Liebknecht den Gedanken ausdrücklich in die eigene Definition seiner Redaktionsrichtlinien, wie er sie im Rückblick von 1872 formulierte, einbezog. Dort heißt es nämlich: "Bekämpfung des Bonapartismus nach Außen und des falschen Bourgeoisliberalismus nach Innen im Sinne der Demokratie und des Republikanismus. 1(156) Das sind nicht mehr ausschließlich Braßsche Gedanken von 1862. Vielleicht zeitgleich mit Liebknecht ist Robert Schweichel von Braß als Schriftleiter bei der NAZ angestellt worden (157), so daß die Redaktion in ihrem Grundstock zu Anfang aus drei alten Kämpfern der Revolution von 1848 bestand, von denen Braß allerdings nicht von einer so grundsätzlichen geistigen Ausrichtung war, wie die beiden anderen, sondern durchaus ein taktisches Element in sein Verhalten einbezog. Später wird sich noch deutlicher zeigen, daß er nicht der Mann von politischen Grundsätzen war, sofern diese nichts mit der Beurteilung Napoleons III. zu tun hatten. "Anfangs ging alles Gut", bemerkte Liebknecht (158), der überglücklich über seine Rückkehr nach Berlin war.(159) Mit der Berufung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten wird sich das nur zu schnell ändern. Ebenso wird die "Norddeutsche" ihre augenscheinlich freiere Position, die der Braßvorstellung von der Rolle eines "wohlunterrichteten Blattes" entsprach, wieder verlieren. In ihrem Ruf, aber auch in ihrer Funktion wird sie das Erbe der "Sternzeitung" antreten, in ihrem pressepolitischen Erfolg diese sogar weit übertreffen. Doch an dem Spannungsverhältnis von Lenkung und Freiheit, das trotz Änderungen in der Form der offiziösen Presse unvermindert erhalten blieb, wird der Chefredakteur ebenfalls scheitern.
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IV.
Bismarck und sein "Leibblatt" — Erfolg und erste Krise mit der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
A.
Bismarcks Initiativen im Herbst 1862
1.
Die Vorschläge Zitelmanns und Wageners zur Neuorganisation des Pressewesens
Die Geschichte der von der preußischen Regierung seit 1848 beeinflußten Zeitungen zeigt, daß die Methode einer offenen, aber auch die einer verdeckten Offiziösität nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Trotz steigender Subventionsgelder sank die Auflage und damit die Wirkungsbreite einer jeden Zeitung dieser Art. Die Regierung wollte das spezifisch gouvernementale Blatt, selten jedoch fand sie dafllr einen geistig profilierten Redakteur oder einen kaufmännisch versierten und dabei uneigennützigen Verleger, nie eine breite Resonanz. In dem Augenblick, wo die Öffentliche Meinung als Folge des erweckten demokratischen Bewußtseins eine entdeckte und sich selbst entdeckende Kraft wurde, scheint diese Methode der Pressepolitik dem Leser uninteressant zu sein. "Das Publikum wie es heutzutage ist", so hatte Duncker im April 1861 seine Gedanken zu diesem Punkt zusammengefaßt(1), "will durchaus nichts lesen, was von der Regierung ausgeht. Es will sich seine Meinung wohl machen lassen, aber nicht von Regierungsorganen." Zudem waren Blätter dieser Art in ihrer Berichterstattung zu steril. Wo die Öffentlichkeit, durch die liberale, d.h. zugleich oppositionelle Presse gelenkt, Uber den V e r l a u f der Dinge raisonnierte und polemisierte, durfte das offiziöse Blatt nur Uber das E r g e b n i s informieren. War ihm gelegentlich eine freiere Bewegung gelassen, mußte die Regierung kraft der einmal bekannten und dann immer wieder vorausgesetzten Identität zwischen ihr und dieser Presse schnell irrige und gefährliche Interpretationen ihrer Politik fürchten. Während sie doch die öffentliche Meinung, zumindest zu einem T e i l , an sich binden wollte, konnte sie nur zu leicht in den unbeabsichtigten Zwang einer umgekehrten Bindung geraten. Max Duncker hat als erster eingesehen, daß eine Regierung in diesem Stil keine erfolgreiche Politik mit der Presse betreiben konnte. Seine Vorschläge, von Wehrenpfennig und Braß weiterentwickelt, mündeten - über die Zwischenstufe einer in demokratisches Gewand gehüllten offiziösen Zeitung - in die Konzeption einer freiwillig gouvemementalen Presse. Noch während die "Sternzeitung" als offiziöses Blatt existierte, wuchs die NAZ in die neue Rolle hinein. Als Bismarck an die Spitze des preußischen Staates berufen wurde, existierten b e i de "Systeme" nebeneinander. Für welches hat sich der neue Ministerpräsident entschieden? Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die "Sternzeitung" wurde zum 1. Januar 1863 von der Regierung aufgegeben, die NAZ dafür intensiver benutzt, sosehr, daß sie, wohl im 86
Anschluß an eine Formulierung französischer Zeitungen, "la feuille de M. de Bismarck" zu sein (2), in den Ruf eines "Leibblattes" des Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzlers kam. Damalige Quellen und heutige Forschung nennen sie offiziös, gar hochoffiziös.(3) Dagegen stehen Aussagen Bismarcks, z . B . die vor dem preußischen Landtag vom 22. Januar 1864, es gäbe keine offiziöse Presse mehr, denn es sei sein "erstes Gewerbe" gewesen, diese bei der Übernahme des Ministeriums abzuschaffen.(4) Demnach galt die NAZ für ihn nicht als ein offiziöses Blatt? In seiner großen Reichstagsrede vom 9. F e bruar 1876, in der Bismarck noch in Erinnerung an die ihn gefährdende Rolle der Presse während der "Krieg-in-Sicht-Krise" vom Vorjahr Uber den "Schwindel" wetterte, der mit dem Wort "offiziös" getrieben würde, sagte er von der NAZ, sie habe sich der Regierung "aus reiner Überzeugung, ohne Geldunterstützung . . . in freundlicher Weise zur Disposition gestellt". Offiziös nannte er sie auch da nicht.(5) Bei der Widersprtlchlichkeit der Aussagen läßt sich die Frage nach dem Ende 1862 übernommenen System nur auf dem Hintergrund der seit 1848 gewachsenen Kriterien für ein offiziöses Preßorgan und ein freiwillig gouvernementales bei gleichzeitiger Beachtung aller verfügbaren Aussagen Uber das Verhältnis Bismarcks zur NAZ beantworten. Ausgangspunkt sei noch einmal die Landtagsrede Bismarcks vom 22. Januar 1864. Bismarck gab bei dieser Gelegenheit für das Ende der "Sternzeitung", das er mit der Abschaffung des offiziösen Pressewesens gleichsetzte, zwei Gründe an. Einmal sei es für die Regierung "ein mangelhafter Zustand", die Verantwortung für alles, was in dieser Zeitung stehe, zu tragen, zum anderen habe die "Sternzeitung" durch das bestehende System die Qualität eines "verwässerten Staatsanzeigers" gewonnen, ein für die Regierung nicht nur mangelhafter, sondern zugleich unnötiger Zustand. Wolle sie über den "Staatsanzeiger" hinaus unter Verantwortung zur Öffentlichkeit sprechen, könne sie die Güte anderer Blätter in Anspruch nehmen, die ihr "zu diesem Zwecke ein Quantum weißes Papier zur Disposition" stellten. Prüft man den Gehalt dieser Rede an der Wirklichkeit, so läßt sich zunächst sagen, daß pressepolitische Maßnahmen tatsächlich Bismarcks "erstes Gewerbe" gewesen sind. Noch in den letzten Septembertagen, also unmittelbar nach seinem bis zum 8. Oktober nur provisorischen Eintritt in die Regierung, hat Bismarck an engste Mitarbeiter Ordre erlassen, ihm sofort zum Thema "Presse" Denkschriften auszuarbeiten. Am 2. Oktober 1862 reichte Hermann Wagener, Bismarck seit der gemeinsamen Arbeit für die "Kreuzzeitung" bekannt und nach dem 23. September einer seiner ersten Gäste bei Arbeitsessen, "das befohlene skizzirte Promenoria" mit dem T i t e l "Was im Innern zunächst geschehen muss" ein.(6) Die auf die "zunächst" anstehenden Probleme bezogene "Skizze", die dieser Bezeichnung in der Form durchaus gerecht wurde, mag die Eile verraten, mit welcher der Verfasser seine Gedanken zu innenpolitischen Reformmaßnahmen und darin eingeschlossene Vorschläge zur Pressepolitik zu Papier gebracht hat.
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Ebenso deutlich wird das Tempo der Aktion aus dem Begleitbrief, mit dem der Reg. -Rat Zitelmann ebenfalls am 2. Oktober sein "Promemoria betreffend die Organisation der Presse" vorlegte. Er schreibt dort: "Bei der Kürze der Zeit u. dem Mangel der betreffenden Akten habe ich mich auf die Hauptpunkte b e schränkt."^) Bismarck konnte sich bei Zitelmann, vielleicht noch mehr als bei dem 1. Chefredakteur der "Kreuzzeitung", Wagener, sicher sein, daß dieser trotz des Mangels an Zeit und Akten das Wesentliche schnell und in großer Nähe zu seinen eigenen Vorstellungen zu Papier brachte. Zitelmann hatte sich nämlich als "preußischer Preßfachmann" in Frankfurt seit 1852 die Kenntnis der Materie und ihrer Handhabung durch Bismarck ebenso erworben, wie die Anerkennung seiner Qualitäten durch den damaligen preußischen Bundestagsgesandten.( 8) Beide Denkschriften, am 2. Oktober eingesandt, beweisen, daß Bismarck sich tatsächlich sofort nach der Übernahme des Ministeriums mit der Presse beschäftigt hat. Daß dies im Zusammenhang einer umfangreichen und als notwendig empfundenen innenpolitischen Aktivität gegen den Liberalismus stand, braucht in diesem Rahmen nicht näher erörtert zu werden.(9) Interessant ist hier v i e l mehr: 1) zu untersuchen, welchen Bezug beide Schriften zum Stand der Diskussion Uber die Pressepolitik der Regierung haben, und 2) zu fragen, wie Bismarck sie in die Realität seiner dann getroffenen Maßnahmen - unter Beachtung der Aussage vom 22. Januar 1864 - eingebracht hat. Auch wenn die Forschung beide Denkschriften inhaltlich bekannt gemacht hat, allerdings ohne ihre Parallelität zu beachten, sind diese Fragestellungen nicht deutlich genug aufgeworfen. Der Grund ist in den bisher unbekannten Kriterien ftlr die Beurteilung einer offiziösen Presse, wie sie seit 1848 gewachsen sind, zu sehen. Wagener und Zitelmann sprechen beide aus den Erfahrungen bisheriger offiziöser Pressepolitik. Übereinstimmend schlugen sie vor, die "Sternzeitung" aufzugeben. Allerdings läßt sich bei Wagener aus seiner Formulierung "Fallenlassen der Sternzeitung" nicht mit Bestimmtheit entnehmen, ob er für das definitive Ende dieses Blattes plädierte, oder nur für die Entziehung der Subventionen. Bei Zitelmann ist der Vorschlag eindeutig: "Aufhebung der Sternzeitung vom 1. Januar 1863, da sie . . . nur Inkonvenienzen herbeiführt. " Das Datum zeigt konkreten Handlungswillen, der begründende Zusatz Einblick in die der Regierung aus der offiziösen Zeitung erwachsenden Schwierigkeiten. Ein gleiches Verständnis spricht aus seiner Anregung, das Literarische Büro formell aufzuheben, um so der Oppositionspresse den ostensiblen Angriffspunkt zu nehmen und die Regierung "von der formellen Verantwortung für jede Publikation" zu befreien. Bei Wagener sind diese begründenden Überlegungen nicht ausformuliert, können aber bei seinem Vorschlag "Organisation der Zentralpreßstelle als Kontroll- und Berichtigungsbüro" mitgedacht werden. Denn wenn dieses Amt auf seine Funktionen von 1851 zurückgesetzt würde, wäre die Regierung des Vorwurfs ostensibler und das heißt hier offiziöser Pressepolitik schnell enthoben. 88
Was aber sollte an die Stelle dieser Defensivmaßnahmen treten? In dem Artikel "Presse" des von H. Wagener herausgegebenen "Staats- und GesellschaftsLexikons" übersah der Autor kurze Zeit später (10) nicht die "gemeinschädlichen Einflüsse der Presse", betonte aber die Möglichkeit, "daß eine durchgreifende Preßverbesserung durch bloße Preßgesetzgebung unmöglich" sei, wohl aber durch eine Besinnung auf eine schon von Tacitus gerühmte Qualität der Germanen: "plus boni mores valent, quam alibi l e g e s " . ( l l ) Den gleichen Optimismus legte er seinen Vorschlägen einer offensiven Pressepolitik in dem Memorandum vom 1. Oktober 1862 zugrunde. Dort heißt es: "Hebung der Presse im allgem. durch anständige B e h a n d l u n g d e r g e n t l e m e n o f t h e p r e s s und dadurch die Möglichkeit wirkliche Kapazitäten dafür zu g e w i n n e n . " ( 1 2 ) Ein solcher Gedanke, der an Harkort erinnert und sich später bei Aegidi wiederfinden wird, steht im Zitelmann-Promemoria nicht. Dort wird für die Zurücknahme plakativer Angriffspunkte plädiert unter gleichzeitiger Einrichtung weniger auffälliger Maßnahmen: 1) Einrichtung von Lektorenstellen in den einzelnen Ministerien, was nichts anderes als eine Dezentralisation der bisher im Literarischen Büro geleisteten Arbeit bedeuten würde (13), 2) Benutzung des Statistischen Büros und seiner Kräfte, 3) bessere Ausnutzung der Rubrik "Nichtamtliches" im Staatsanzeiger und 4) Erstellung einer täglichen litographischen Korrespondenz als Nachrichtengrundlage der verschiedenen Zeitungen. Die beiden letzten Punkte kann man auch bei Wagener finden (14), die beiden ersten nicht, sie passen ohnehin nicht in den Grundgedanken, aus der Defensive durch eine qualitativ bessere Offensive herauszukommen. Die Notwendigkeit zur Polemik übersah Wagener nicht, sie sollte in die "befreundete Presse" verwiesen werden. Die vorgelegten Denkschriften raten übereinstimmend von dem System einer offiziösen Presse, wie es in der "Sternzeitung" zu dieser Zeit seine Verkörperung fand, ab. Ein Plädoyer für eine freiwillig gouvernementale Zeitung findet sich ausdrücklich in keiner Denkschrift; in großer inhaltlicher Nähe zu ihr steht allerdings Wagener. Die Frage, wie Bismarck die Vorschläge verwertet hat, kann nun angegangen werden.
2. Der endgültige Schritt von der offiziösen "Sternzeitung" zum freiwillig gouvernementalen Braß-Organ Saile sagte noch 1958 in seinem Buch über "Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck": " . . . wir wissen nicht, wie Bismarck auf das Blatt des republikanischen Redakteurs Braß gekommen ist."(15) Diese Ungewißheit läßt sich heute zwar nicht eindeutig, aber doch einsichtig beheben. Zitelmanns und Wageners Ubereinstimmender Rat, die "Sternzeitung" aufzugeben, wurde vom Auswärtigen Ministerium sofort befolgt (16), von der 89
preußischen Regierung zum vorgeschlagenen Termin (1. Januar 1863) durch das Ende dieser Zeitung vollständig durchgeführt. In der Zwischenzeit wurden die Beziehungen Bismarcks zur NAZ aufgenommen, von verschiedenen Seiten gefördert und auf eine abschließende Grundlage gestellt, welche die Zeitung in die Position einer zwar subventionierten, aber freiwillig gouvernementalen Zeitung brachte. Die Entwicklung läßt sich recht genau verfolgen. Am 9. Oktober, also bereits einen Tag nach Bismarcks definitivem Amtsantritt, ist es zwischen ihm und Braß zu einer ersten Unterredung gekommen. Es existiert ein Brief des Chefredakteurs an den Ministerpräsidenten vom 31. Oktober 1862, in dem jener Bismarck an die gemeinsame Politik erinnert, "die uns vom 9. Oktober bis hierher geführt hat".(17) Andererseits gibt es ein Schreiben vom 9. Oktober, in dem Braß einleitend bedauert, nicht "ausführlicher, als es geschehen" sei, seine Ansicht über notwendige Pressemaßnahmen begründet zu haben.(18) Das kann nach Lage der Quellen nur auf ein Gespräch vom gleichen Tag, den 9. Oktober 1862, hinweisen. Initiator dieses Gesprächs kann Wagener gewesen sein; denn der Inhalt, soweit er sich aus dem Brief und einem beigefügten "kleinen Aufsatz" vom 9. Oktober rekonstruieren läßt, zeigt deutlich Wagenersche Gedanken. Es sei daran erinnert, daß sich in dessen Denkschrift die Anregung fand, die "Zentralpreßstelle als Kontroll- und Berichtigungsbüro" zu organisieren, um die gegnerische Presse zu bekämpfen. Bismarck scheint das eher eingeleuchtet zu haben, als der Zitelmann-Vorschlag, das Büro formell aufzulösen, denn zum einen ist das Büro zwar seiner früheren Aktivität beraubt, aber nicht formell aufgelöst worden, zum anderen hat Bismarck mit Braß am 9. Oktober eingehend über das Thema "Berichtigungen" gesprochen. Der "kleine Aufsatz" legt sogar die Interpretation nahe, daß es Bismarck in dem Gespräch sehr zentral, vielleicht sogar ausschließlich um dieses Thema ging. Braß sagt nämlich einleitend, er wolle noch einmal "nach bester Überzeugung auf die eine vorgelegte Frage" antworten, die nach der Möglichkeit und Opportunität der Berichtigungen als Mittel einer erfolgreichen Politik mit der Presse. Dazu noch etwas zu sagen, fühlte sich Braß auch deswegen gemüßigt, weil Bismarck in der Unterhaltung anderer Ansicht war. (19) Das kann, da Braß das System der Berichtigungen als "der Würde einer Regierung nicht für angemessen" beurteilt, nur bedeuten, daß Bismarck den Wagener-Vorschlag vertrat. Allerdings ist Braß, nimmt man seinen Brief und den beigelegten "kleinen Aufsatz" mit dem Denkschriftencharakter zusammen, nicht ganz von Widersprüchen frei. Im Brief formulierte er markant, Berichtigungen seien deswegen "zu kleinlich für eine Regierung", weil sie "eine Ausflucht da, wo der B e f e h l - eine Schikane, wo das Z e r b r e c h e n des Widerstandes nothwendig wird", darstellten. In dem "kleinen Aufsatz" dagegen maß er den Berichtigungen wünschenswerte und fruchtbringende Züge bei. Er schlug sogar positiv vor, es zwar nur einstweilen, "aber mit s t r e n g e r Consequenz, auf alle thatsächlich f a l s c h e n , oder im Parteisinne gefälschten Mittheilungen der Presse" energisch anzuwenden. Man fragt sich, welche Fälle außer denen, in denen Meldungen objektiv falsch oder subjektiv gefälscht sind, noch denkbar sind, 90
bei "consequenter Durchführung", für die Braß plädierte und auch gleich m e thodische Vorschläge unterbreitete (20), eigentlich keine. Dieser Widerspruch läßt sich wohl nur aus dem stark taktisch eingestellten Wesen des NAZ-Redakteurs erklären, eine Eigenart, die bisher bereits zum Verständnis seiner Handlungsweise herangezogen werden mußte. Braß betonte selbst in dem Brief vom 9. Oktober 1862, nicht eigentlich aus Gründen der Logik zu argumentieren, sondern "eher" aus denen des Gefühls. Die Stetigkeit eines solchen Gefühls ist wie bisher so auch in diesem Augenblick die Zielvorstellung, die NAZ in der von ihr schon befolgten Funktion eines der Regierung nahestehenden Organs auszubauen.(21) Darüber ist am 9. Oktober zumindest kein entscheidendes Wort gesprochen worden. Es hätte sich in dem Brief vom gleichen Tag niederschlagen müssen. Braß scheint sich und seine Zeitung aber nachdrücklich ins Gespräch gebracht zu haben. Es findet sich bei Bismarck fortan nicht mehr der Gedanke, Pressepolitik auf ein System von Berichtigungen abzustellen. Dagegen verfolgte er eine andere, von Braß in dem "kleinen Aufsatz" als Alternative vorgeschlagene Methode, die des Entzugs des Postdebits. Braß hatte diese Entziehung "eine remide violent, mais infaillible" genannt und sie als ein ganz neues Mittel gegen Zeitungen im eigenen Lande empfohlen. Die an dieser Stelle an den Rand geschriebene Notiz "ungesetzlich" stellt die Anwendung eines solchen Verfahrens bereits in Frage. Der Schriftduktus der Bleistiftmarginalie macht wahrscheinlich, daß sie von Hahn stammt. Von ihm wurde jedenfalls unter dem 30. Oktober 1862 über Zitelmann eine "Notiz in Betreff der PostdebitsEntziehung" an Bismarck gesandt (22), in der er unter Berufung auf das Gesetz Uber das Postwesen vom 5. Juni 1852 auf die Unzulässigkeit einer solchen Maßnahme hinwies. Bismarck hat den Braß-Vorschlag also prüfen lassen, seine Ungesetzlichkeit und damit auch Unzweckmäßigkeit aber einsehen müssen.(23) Parallel zur Prüfung dieser Defensivmaßnahme liefen Bemühungen verschiedener Personen, die NAZ in die Rolle eines Regierungsorgans zu heben. Bismarck selbst bekam am 13. Oktober von Roon das Material Uber das bisherige Verfahren mit der gouvernementalen Presse.(24) Am 8. November meldete sich der aus der Zeit der "Genfer Grenz-Post" bekannt gewordene Oberst v. Roeder mit einem Empfehlungsschreiben für Braß bei Bismarck.(25) Am 14. November fragte Bernstorff bei Bismarck an, wie es jetzt mit der Beziehung der Regierung zur NAZ stehe. Am 21. November antwortete ihm dieser, es sei "wegen der Norddeutschen Zeitung schon eine amtliche Mittheilung herbeigef ü h r t " . ^ ) Die endgültige Entscheidung muß also in der Woche vom 14. - 2 1 . November 1862 gefallen sein. Es bietet sich dazu die Sitzung des Staatsministeriums vom 17. November an. Das darüber angefertigte Protokoll (27) gibt allerdings keinen direkten Beleg dafür, daß die NAZ Gesprächsthema war. Das muß, ja darf auch gar nicht erwartet werden, bedenkt man die Tendenz der beiden Denkschriften vom Anfang Oktober und das Bismarck-Wort vom 22. Januar 1864. Es liegt ganz in der Richtung aller drei gemachten Aussagen, daß das Staatsministerium am 91
17. November 1862, entsprechend den bestehenden Kompetenzen nach einem Vorschlag Hahns vom Literarischen Büro, beschlossen hat, "die Sternzeitung zum 1. Januar n . J . eingehen zu lassen und von diesem Zeitpunkt an solche officiösen Artikel, zu denen sich die Staats-Regierung nach Inhalt und Form nöthigenfalls bekennen kann, in den nichtamtlichen Theil des Staatsanzeigers aufzunehmen, zu anderen officiösen Artikeln aber die dazu geeigneten Privatzeitungen zu benutzen". Dieser dreiteilige Beschlußkatalog ist ein deutliches Echo auf die beiden Promemoria vom 2. Oktober.(28) Auf die Frage, welches System Bismarck übernommen hat, das einer offiziösen oder das einer freiwillig gouvernementalen Presse, ist die Antwort noch nicht deutlich genug. Zwar kann man jetzt sagen, daß die Entscheidung gegen das offiziöse Pressewesen gefallen ist, aber das Votum für e i n e freiwillig gouvemementale Zeitung ist hier nicht formuliert. Es ist nur von mehreren "geeigneten Privatzeitungen" die Rede. Dabei vornehmlich an die NAZ zu denken, ist angezeigt, wie der Immediatbericht deutlich macht, mit dem das Staatsministerium vier T a g e nach seiner Sitzung die Zustimmung des Königs zu den neuen Pressemaßnahmen einzuholen suchte.(29) Der Forschung ist dieser Immediatbericht zum ersten Mal 1927 durch Geheeb bekannt geworden, der daraus aber ebenso wie Zechlin 1936 nur einige, die NAZ betreffende T e i l e zitiert hat.(30) Diese T e i l e sind zwar für die Einschätzung dieser Zeitung wichtig, aber sie antworten nicht ausdrücklich genug auf die augenblickliche pressepolitische Entscheidungssituation.(31) Gleich der Anfang des Immediatberichts zeigt, daß es berechtigt, ja notwendig ist, mit dem Regierungsantritt Bismarcks eine grundsätzliche Neuorientierung in der Pressepolitik der preußischen Regierung gleichzusetzen. Es werden alle Erfahrungen, die bisher, und das heißt hier seit 1848, mit einer offiziösen Zeitung gemacht wurden, besonders aber die der letzten 3 1 / 2 Jahre seit den Initiativen Dunckers zur Beurteilung der Situation herangezogen. Darauf gestützt, kam das Staatsministerium zu der Einsicht, "daß ein anerkannt von der Regierung abhängiges Blatt einerseits zu einer geachteten Stellung in der Presse nicht zu gelangen vermag, andererseits selbst mindestens ebenso viele Schwierigkeiten und Verlegenheiten bereitet, wie Dienste leistet".(32) Beides wurde näher erläutert. Zunächst wurden die Nachteile, die der Leser zu spüren bekam, an zwei Stellen aufgewiesen. Es fehlte der Zeitung an thematischer Aktualität, zum anderen an geschickt räsonnierenden, den wirklichen Tatsachen in ihrer Entwicklung immer ein wenig vorauseilenden und deswegen für die Öffentlichkeit interessanten Kommentaren. Die Regierung ist sich bewußt, daß darin die Hauptmacht und der tägliche Einfluß der großen Tageszeitungen liegen, "daß sie schon unfertige Thatsachen im Voraus von ihrem Standpunkte zu deuten und zurechtzulegen und durch möglichst eindringliche, drastische Darstellung den Sinn des großen Publikums zu präoccupiren suchen", ein Gedanke, der von Braß 1862 gegenüber Wehrenpfennig besonders betont worden war.(33) Das anerkannt offiziöse Blatt kann aber so nicht schreiben, es muß bei jedem Ereignis warten. 92
bis die Regierung eine Stellung bezogen hat und auch öffentlich beziehen will. Selbst dann aber kann diese Zeitung "nur mit der größten Vorsicht und Zurückhaltung" sprechen. So kommt sie für die Bildung der öffentlichen Meinung immer zu spät. Das wachsende Desinteresse der Leser (34) korrespondiert unerträglich mit den wachsenden Subventionsgeldern des Staates.(35) Neben diesen finanziellen Lasten zeigen sich die "Schwierigkeiten und Verlegenheiten" für die Regierung besonders an dem Echo, das sie sich selbst durch ihr anerkanntes Organ in der Öffentlichkeit bereitet. Dessen notwendige Zurückhaltung und verhältnismäßige Sterilität setzen die Regierung dem Vorwurf eigener "Unklarheit und Unschlüssigkeit" aus. Oppositionelle Blätter suchen das sofort auszunutzen. Ihre der Form nach gegen die offiziöse Zeitung gerichteten Angriffe gelten in Wirklichkeit der Regierung - wie jeder Leser weiß. Diese, die bisherigen Erfahrungen mit einer anerkannt offiziösen Zeitung summierenden Gedanken geben weit detaillierter die Bedenken wieder, die Wagener und Zitelmann in ihren ad hoc geschriebenen Denkschriften zum Ausgangspunkt einer methodisch neuen Pressepolitik nahmen. Der dortige gemeinsame Kerngedanke, Rücknahme ostensibler Angriffspunkte, drang am 21. November 1862 durch. Es soll keine offiziöse Zeitung mehr geben. "Für die Zwecke einer gouvernementalen Presse" werden zwei andere Verfahrensweisen gültig: 1) Der "Staatsanzeiger" soll in seinem nichtamtlichen Teil "die wirklich officiösen, orientierenden Aufsätze" publizieren. Das entspricht dem gemeinsamen Vorschlag von Zitelmann und Wagener. 2) "Alle eigentliche Diskussion und Polemik vom gouvernementalen Standpunkte" soll Organen zugewiesen werden, die der Regierung befreundet, "aber äußerlich unabhängig von ihr sind". Das entspricht allein Wageners Vorschlag.(36) Unter diese Zeitungen fiel neben der "Spenerschen" vor allem die NAZ. Der Immediatbericht erweckt den Eindruck, als existierte dieses Blatt in Berlin "seit Jahr und Tag" und als hätte es sich während dieser Zelt zur Hauptaufgabe gemacht, die monarchischen Prinzipien "gegen die Übergriffe der liberalen und demokratischen Parteibestrebungen" zu verteidigen. Zumindest die zeitliche Angabe ist leicht übertrieben, vielleicht im Blick auf den königlichen Adressaten und dessen Abneigung gegen ehemalige Revolutionäre.(37) Sicherlich diente ein anderer Hinweis dazu, die Legitimation der NAZ in den Augen Wilhelms zu erhöhen. Er sollte wohl auch die Zuverlässigkeit der NAZ für die konstitutionelle Monarchie in Preußen sichern und auf der anderen Seite das ja direkte - Verhältnis zwischen Zeitung und Regierung vor der Öffentlichkeit verschleiern: Es ist der Hinweis auf die Beziehung der NAZ zur "Patriotischen Vereinigung" (P. V.). Unter ihren "Auspizien und Vermittelung", so heißt es im Immediatbericht,sei die NAZ bereit, "die Tendenzen der Regierung in der Presse polemisch zu vertreten". Nicht von der Hand zu weisen ist der Gedanke, daß die Gründung der P. V. und die Frage nach der Rolle der NAZ in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Am 27. Oktober 1862 war die Vereinigung gegründet worden, also in einem Augenblick, wo sich bei Bismarck die Überlegungen über die Aufgabe der NAZ 93
zu konkreten Ergebnissen formten.(38) Am 8. November berichtete Roeder in dem bereits erwähnten Empfehlungsschreiben an Bismarck, Braß sei mit der P. V. "sehr unzufrieden", weil dort mehr geredet als gehandelt werde.(39) Am 21, November hieß es dann im Immediatbericht, die NAZ stünde unter den Auspizien der P. V. Daß Wagener hier wieder seine Hände im Spiel gehabt hat, ist deswegen wahrscheinlich, weil die P. V. zwar nicht in einem organisatorischen Zusammenhang, aber doch auf gleicher ideologischer Ebene mit dem wesentlich von seinen Initiativen lebenden "Preußischen Volksverein" (P, V. V . ) stand.(40) Von einer in dieser Weise "unabhängigen" gouvernemental orientierten NAZ versprach sich die Regierung, "unbefangener, frischer und rückhaltloser"(41), wir können hinzufügen: und damit erfolgreicher in der Presse vertreten zu werden, Nach positiv verlaufenen Vorverhandlungen mit Decker konnte sie den eigentlich erst am 1. Juli 1864 auslaufenden Vertrag mit dem Kgl, Ober-Hofbuchdrucker zum 1. Januar 1863 lösen.(42) Decker bekam 5.333 T . als Entschädigung und den Titel eines "Geh. Kommerzien-Raths", sein Generalbevollmächtigter Schultze ein ministerielles Dankschreiben.(43) Der "Kladderadatsch" dichtete spottend zum Abschluß Uber den "Sternzeitungsstern": "Ein Sternchen schien es, als am Himmelszelt Es fest stand in des Kreuzgestirnes Gerippe Gebt acht! sobald es sinkt und fällt. Wird es, was es uns längst war - Schnuppe."(44) Der Vierzeiler ist zugleich ein, dem "Kladderadatsch" allerdings unbewußter Abgesang auf die Periode einer offenen wie auch einer verdeckten offiziösen preußischen Zeitung. Noch vor dem Jahresende unternahm es der Vorsitzende der P. V . , der Generaldirektor der Kgl. Museen und Wirkl. Geh. Reg.-Rat v. Olfers, der bereits 1849 einen ähnlichen, aber nur kurzlebigen "Patriotischen Verein" gegründet hatte (45),für die NAZ als Blatt seiner Vereinigung zu werben. Am 23. Dezember 1862 übersandte er im Namen eines Ausschusses der P. V. Eulenburg 40 Exemplare eines "Circulars betreffend die 'Allgemeine Norddeutsche Zeitung' und ihre Wirksamkeit als Organ unserer Vereinigung" mit der Bitte, j e ein Exemplar an die höheren Provinzialbehörden weiterzugeben.(46) Auf blauem Papier hieß es da, die P. V. habe die NAZ "nunmehr ausdrücklich als Vereinsblatt gewählt". Entsprechend werde die Zeitung ein- oder mehrmals in der Woche "in einer für die Vereinsangelegenheiten bestimmten besonderen Rubrik" M e l dungen bringen, soweit sie für die Öffentlichkeit von Interesse seien.(47) Den parteipolitisch nicht besonders orientierten Leser suchte Olfers mit der Verlockung zu gewinnen, die Beziehungen der P. V. würden die ja immer schon an politischem und polemischem Inhalt reiche Zeitung in den Stand setzen, zuverlässige und interessante Nachrichten aus allen Zweigen des preußischen Staates "vorzugsweise rasch" zu bringen. Damit konnte direkt jener Nachteil der alten offiziösen Presse behoben werden, den der Immediatbericht vom 21. November 1862 in ihrem publizistischen Tempoverlust gesehen hatte.
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Der abschließende Aufruf Olfers an die Mitglieder und Freunde der P. V . , den Stoff der NAZ als Diskussionsanregung fUr die regelmäßigen Vereinsversammlungen zu nutzen und ebenfalls für eine weitere Verbreitung der Zeitung in öffentlichen Lokalen und anderen Vereinen zu sorgen, mußte Regierungskreisen ebenfalls willkommen sein. Der Immediatbericht hatte ja über die abnehmende publizistische Präsenz in der Öffentlichkeit geklagt. Wenn jetzt eine Vereinigung dem Abhilfe bringen wollte, indem sie sich bereit erklärte, "in der jetzigen immer wichtiger sich gestaltenden Krise unserer öffentlichen Verhältnisse . . . den regierungsfreundlichen Kreisen . . . eine feste und unabhängige Stutze zu bieten", lag das genau in der erwünschten Linie. Der Öffentlichkeit als Vereinsblatt deklariert, den konservativen Grundsätzen verpflichtet, konnte die NAZ jenes gouvememental orientierte, von der Regierung unabhängige Blatt werden, das dem Ende des alten offiziösen Pressewesens den Beginn eines neuen, freiwillig gouvernementalen nachfolgen ließ. Das Schreiben, mit dem Eulenburg am 8. Januar 1863 sämtlichen Regierungspräsidenten den Flugzettel der P. V. weiterleitete (48), kennzeichnete diese neue Lage. Es ist im Gehalt dem Immediatbericht verwandt und betont das Neue in dem Schlußsatz, wo es heißt, jedes Regierungspräsidium solle sich die Verbreitung des Blattes "auf vertraulichem Wege möglichst angelegen sein lassen". Der Reg.-Vize-Präsident in Münster z. B . , v. Mauderode, hatte den Charakter der neuen Situation richtig erfaßt, wo es darum ging, ein äußerlich unabhängiges, freiwillig gouvememental orientiertes Blatt so zu unterstützen, daß keine Beeinflussung sichtbar wurde, denn er unterstrich allein die Formulierung "auf vertraulichem Wege" und schrieb dazu an den Rand: "wird thunlichst ausgeführt" .(49)
3. Die Problematik der neuen publizistischen Lage Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf die weiteren pressepolitischen Neuorganisationen in dieser Zeit einzugehen.(50) Im Hinblick auf die Tatsache, daß die NAZ, von Bismarck gewählt (und nicht etwa vom Chef des Literarischen Büros, dem Innenminister Eulenburg), fortschreitend ihre inhaltlichen Schwerpunkte auf die auswärtige Politik legte und dementsprechend vom auswärtigen Ministerium mit Nachrichten versehen wurde, ist es aber interessant zu wissen, wie in diesem Amt die pressepolitischen Kompetenzen verteilt waren. Nach der kurzen Gastrolle, die Bardeleben, der Direktor des Literarischen Büros, praktisch als sein eigener Delegierter bis zu seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im AA als pressepolitischer Sachbearbeiter gespielt hatte (51).hatte dieses Amt einem schriftlichen Abkommen mit dem Literarischen Büro gemäß jede Pressebesprechung, sowohl für die "Sternzeitung", wie für andere Blätter, in eigene Regie übernommen und "jede anderweitige Leitung abgelehnt". Zu diesem Zweck war als Arbeitskraft Prof. Neumann vom Literarischen Büro dem Auswärtigen Ministerium überlassen worden.(52) Diese Regelung sollte die dauernden Kompetenzquerelen zwischen beiden Behörden(53) beheben. 95
Bismarck hat diese Einrichtung institutionalisiert und damit organisatorisch die Einwirkung auf die Presse endgültig gespalten - zum Bedauern Eulenburgs.(54) Nach einer undatierten Dienstanweisung für die Reg. -Räte Keudell und Zitelmann gehörten zu den Amtsobliegenheiten des Letzteren an erster Stelle "die Preßsachen".(55) Das Ress&rt wurde zwar im Staatsministerium eingerichtet, erstreckte sich aber zunächst auch auf das Auswärtige Amt, denn am 18. Januar 1863 legte Zitelmann ein kleines Promemoria "betreffend die Einwirkung auf die Tagespresse in Sachen des Auswärt. Amtes" vor.(56) Das Datum ist gleichzeitig ein terminus post für die obige Dienstanweisung. Daß Zitelmann zu diesem Zeitpunkt b e i d e Ministerien pressepolitisch betreut hat, schrieb er ausdrücklich Hahn am 21. Januar 1863.(57) Erst zum 1. April 1863 wurde er von der Aufgabe für das AA befreit und Dr. Metzler damit betraut.(58) Dieser ehemalige Mitarbeiter der Zentralpreßstelle sollte nun der Mann werden, der für den Nachrichtenstrom zwischen Bismarck und Braß in den 60er Jahren wesentlich verantwortlich zeichnete. Die so auch organisatorisch neu orientierte pressepolitische Lage bleibt indessen, was die Freiheit der NAZ betrifft, problematisch. Als sicher gelten darf zunächst, daß Braß nach der von ihm und Wehrenpfennig geheim gehaltenen Phase gouvernementaler Orientierung der "Norddeutschen" in deren erstem Erscheinungsjahr Ende 1862 von sich aus, nach wahrscheinlicher Fürsprache Wageners und sicherer Vermittelung Roeders und anderer, sein Blatt Bismarck "aus reiner Überzeugung" zur Verfügung gestellt hat und nicht nur "ein Quantum weißes Papier", ohne allerdings vertraglich gebunden zu werden, wie frühere Chefredakteure offiziöser Zeitungen. Die Auspizien der P. V. können nicht als gravierend betrachtet werden, zumindest ist nichts darüber bekannt. In dieser äußeren Unabhängigkeit ist ein wichtiges Kriterium für die freiwillig gouvemementale NAZ zu sehen. Daß diese auch "ohne Geldunterstützung" geblieben ist, wie Bismarck am 9. Februar 1876 sagte (59), ist zumindest für die Zeit vor 1872 falsch. Noch Wehrenpfennig hat die Quartalsrate im März 1862 auf 3.000 T . gehoben.(60) Ob diese Höhe von jährlich 12.000 T . im Oktober 1862 beibehalten wurde, läßt sich heute nicht mehr sagen, da die darüber im Literarischen Büro angelegte Akte verloren ist. Sicher ist jedoch, daß das Innenministerium auch weiterhin eine namhafte Subvention an die NAZ gezahlt hat, wie andere Aktenfragmente beweisen. Für 1866 sind 9.600 T . belegt, die monatlich zu 800 T . bezw. vierteljährlich zu 2.400 T . aus dem "Fonds für Preßangelegenheiten" gezahlt wurden.(61) Diese Summe ist dann fortlaufend gesenkt worden, zunächst auf 2.100 T . pro Quartal, ab 1. April 1868 auf 1.800 T.(62), ein Jahr später, zum 1. April 1869 auf 1 . 5 0 0 T . ( 6 3 ) Diese Höhe von jährlich 6.000 T . scheint dann bis zum Verkauf der NAZ an ein Hamburger Konsortium 1872 beibehalten zu sein.(64) Neben dieser fortlaufenden Unterstützung durch das Literarische Büro hat Braß aber auch - und das entspricht der organisatorischen Doppelung in der Pressepolitik der Regierung - "aus dem nicht mehr ungewöhnlichen DispositionsFonds" des Auswärtigen Ministeriums Gelder bekommen, so im Juni 1864 93 T . und 17 1/2 Sgr. für Drucksachen und Portoauslagen.(65) 96
Bei der Frage nach regelmäßiger Subventionierung, auch ein Kriterium bisheriger offiziöser Zeitungen, ist die NAZ also in der Rolle, wie sie zuletzt die "Sternzeitung" innehatte, bis 1872 geblieben. Der Öffentlichkeit ist das aber, zumindest zunächst, unbekannt geblieben.(66) Dagegen ist die NAZ inhaltlicher Beziehungen zur Regierung von der übrigen Presse mit Ausnahme der konservativen Blatter "sofort unisono . , . verdächtigt" worden.(67) Da die Subventionsgelder jederzeit und später tatsächlich als Druckmittel gegen die Redaktion eingesetzt werden konnten, ist die Stellung der NAZ als eines freiwillig gouvernementalen Organs sehr problematisch. Die wirklichen Umstände lassen sich am besten aus der Haltung der Zeitung zu verschiedenen politischen Tagesfragen und kleineren erhaltenen Aktenstücken Uber den internen Verkehr zwischen Regierung und Redaktion, aber auch innerhalb der Redaktion erfassen. Zu den ersten, die aus der unklaren Lage der NAZ Konsequenzen zogen, gehörten die wohl besten Redakteure von Braß, Liebknecht und Schweichel. Der latente Streit zwischen Liebknecht und Braß, von diesem mit der Unfähigkeit Liebknechts, "sich nicht in die auf einem Redaktionsbureau nöthige Disziplin finden" zu können, nur oberflächlich erklärt (68), von jenem dagegen mit nicht gezahlten Honoraren und besonders der Verschiedenheit der politischen Ansichten eigentlich begründet (69), brach schon im November 1862 offen aus. Braß sah sich offenbar in einer Zwickmühle. Während Liebknecht vermutete, daß die NAZ Beziehungen zu Bismarck aufgenommen hatte und Braß deswegen zur Rede stellte, "leugnete (dieser) hartnäckig, daß er Verpflichtungen gegen das neue Ministerium eingegangen sei" und erneuerte ihm demonstrativ die Zusage, auf dem Sektor der auswärtigen Politik "carte blanche" zu haben.(70) Gleichzeitig wies er Besorgnisse der preußischer Regierungsstellen wegen der Anstellung Liebknechts als "unbegründet" zurück.(71) Eine solche Lage war allerdings auf die Dauer unhaltbar. Als ein von Bismarck geschicktes Schreiben, das sofort veröffentlicht werden sollte, Schweichel in die Hände fiel, da Braß in der Redaktion nicht anwesend war, sahen beide, Schweichel und Liebknecht, ihre Vermutung bewiesen und nahmen den Vorfall als Anlaß zur KUndigung.(72) Dies muß sich schon zu Anfang der zweiten Novemberhälfte 1862 zugetragen haben, denn Braß bat Liebknecht am 20. November 1862, ihm "gefälligst s c h r i f t l i c h davon Mittheilung machen zu wollen", wie und wann er das für ihn selbst nicht förderliche, für Liebknecht nicht angenehme Verhältnis zu lösen beabsichtige.(73) In den Augen der alten 48er Revolutionäre hatte Braß bald jeden Kredit verloren. Schweichel hatte nur noch Sarkasmus für ihn übrig (74), Marx und Engels grobe Schimpfworte.(75) Der "Kladderadatsch" warf ihm vor, "gestern roth und heut schwarzweiß" zu sein.(76) Die preußische Regierung dagegen unterstützte die NAZ mitunter unbesehen.(77) Sein Chefredakteur dekorierte dafür seine Berliner Wohnung mit Bildern der preußischen Könige und Bismarcks.(78)
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B. Die Funktion der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" im Votfeld der Diplomatie - Erfolge und Fehlgriffe 1. Die ersten Jahre der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" unter Bismarck Eine detaillierte Geschichte der NAZ von 1862 bis zur Mitte der 60er Jahre läßt sich heute nicht mehr schreiben. Die Zeitungsexemplare sind ganz, die Akten zum größeren T e i l verloren. Doch die wenigen verfügbaren Quellen ermöglichen zumindest einen kleinen Einblick in die Haltung des Blattes und seines Chefredakteurs. Der soll hier zunächst versucht werden. Ftlr Bismarck war das Verhältnis zur NAZ nach außen hin eindeutig bestimmt. Der preußische Botschafter in Paris, Graf von der Goltz, erfuhr auf seine Anfrage über die Stellung der "allgemeinen norddeutschen Zeitung" von ihm am 19. Februar 1863, daß dieses Blatt "in keiner Weise einen offiziösen Charakter" habe, sondern "durchaus unabhängig" sei. Einschränkend fügte Bismarck jedoch hinzu, daß die NAZ aus amtlichen Kreisen "gelegentliche Mittheilungen von allgemeinem Interesse" erhalte, in dieser Begünstigung aber selbst entschieden oppositionelle Zeitungen stünden. Wenn die NAZ bevorzugt zu werden scheine, so liege das nur daran, daß sie die ihr zur Verfügung gestellten Meldungen " i m Ganzen bereitwilliger aufnimmt". Darüber hinaus könne aber die Regierung die Redaktion weder beherrschen, noch entscheidend beeinflussen und müsse deswegen auch jede Verantwortung für den Inhalt der Zeitung ab^ehnen.(79) Die schon in diesem Schreiben anklingende Sonderstellung der NAZ wird unterstrichen durch eine Liste derjenigen Zeitungen und Korrespondenten, die zu dieser Zeit offiziöse Mitteilungen erhielten. Es sind 9 Korrespondenten für 14 verschiedene Zeitungen, unter denen die NAZ n i c h t aufgeführt wird.(80) Das kann nur bedeuten, daß dieses Blatt in direktem Kontakt zum Auswärtigen Ministerium stand; nur sollte das der Öffentlichkeit und besonders den ausländischen Regierungen gegenüber unerkannt bleiben. Dem mag auch entsprechen, daß gerade die NAZ Mitte Januar 1863 dazu ausersehen wurde, die jetzt ganz anderen preußischen Pressezustände gegenüber den nach wie vor streng offiziösen in Österreich zu besprechen. Braß hatte das abgelehnt mit dem Bedenken, bei einer möglichen Änderung der Pressegesetze nicht "in ächtungswerther und logischer Weise" für die neue Lage plädieren zu können (81), aber ansonsten sein Blatt schnell auf den Kurs der Blsmarckschen Politik gebracht. Die Ausrichtung auf Preußen wurde so stark, daß die NAZ nicht nur ihre frühere großdeutsche Tendenz aufgab(82), sondern sogar vor dem Kriege von 1866 in ihren Spalten die Ereignisse in den deutschen Staaten südlich des Mains unter der Rubrik "Mitteleuropäische Staatengruppe" besprach und somit als Ausland betrachtete. Braß erntete daraufhin von der "Neuen Frankfurter Zeitung" den Vorwurf, "Deutschland abgeschafft" zu haben.(83) Zum Ende des Jahres änderte er die Überschrift wieder in: "Süddeutsche Staaten". Zu diesem Zeitpunkt war die NAZ bereits ein renommiertes Berliner Blatt.
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Schon im März 1863 sah die "Patriotische Vereinigung" ihre Hoffnungen auf einen schnellen Aufschwung der NAZ "glänzend" erfüllt.(84) Bei einem gegenüber allen größeren Berliner Blättern billigeren Abonnentenpreis von nur 1 1 / 2 T . pro Quartal für Preußen (85) stieg die Auflage von 500 Exemplaren im 3. Quartal 1862 innerhalb eines Jahres auf das Vierfache.(86) Im Urteil Wageners, der Bismarck im April 1863 einen ersten Erfahrungsbericht Uber die Wirkung der getroffenen pressepolitischen Maßnahmen einreichte, hatte die NAZ schon in den ersten sechs Monaten einen "gouvernemental-persönlichen" Charakter angenommen. (87) Für ihren guten Informationskontakt zu Bismarck mag ein Vorfall vom Sommer 1863 beispielhaft sein. Braß beschwerte sich im Juli des Jahres bei Bismarck darüber, nicht ausreichend und schnell genug über die Vorkommnisse im Bundestag in Frankfurt informiert zu werden. Außerdem seien von dort Berichte Uber die politischen Verhältnisse in SUddeutschland sehr erwünscht, aber bisher nicht zu bekommen.(88) Bismarck waren die Sorgen des NAZ-Redakteurs so wichtig, daß er aus seinem Urlaubsort Gastein Uber v. Sydow den Reg. -Ass. Frank, der in der Frankfurter Pressestelle saß, beauftragen ließ, für die Zusendung der erbetenen Korrespondenzen Sorge zu tragen.(89) Gleichzeitig forderte er von Frank einen Rechenschaftsbericht Uber dessen publizistische Tätigkeit an. Dieser am 5. September 1863 vorgelegte Bericht (90) ist hier insofern interessant, als er sehr klar zu erkennen gibt, daß Braß einen direkten Informationskontakt zu der Pressestelle im Auswärtigen Ministerium bezw. in diesem Fall zu der Außenstelle in Frankfurt bevorzugte. Frank hatte nämlich e i nen dortigen Korrespondenten namens Dr. Zirndorfer veranlaßt, sich bei Braß für die Nachrichtendienste aus Frankfurt zu bewerben. Der aber hatte den Mann zunächst abgelehnt und dann die Entscheidung Zitelmann über lassen. (91) Die Bereitschaft Franks, selbst regelmäßig Korrespondenzen an Braßzuschicken(92), nützte ihm nichts mehr. Am 7. Dezember 1863 wurde Ihm gekUndigt.(93) Nachfolger wurde zunächst Dr. Wentzel, längerer Mitarbeiter im Literarischen Büro, ein Jahr später dann der Reg. -Ass. Urban.(94) Dieses Frankfurter Revirement kann auf die Initiative von Braß zurückgeführt werden. Eine andere, von ihm im Sommer 1866 ausgehende Anregung, zumindest während des preußisch-österreichischen Krieges die auswärtige Presse durch eine lithographische englisch- und französischsprachige Korrespondenz Uber die Vorgänge in Preußen zu informieren, stieß wohl auf Interesse (95), jwurde aber erst zwei Jahre später und ohne Beteiligung der NAZ realisiert^ 96) Möglicherweise als Ersatz dafür wurde Braß zu Anfang 1867 die Herstellung einer täglichen Korrespondenz Uber die Verhandlungen des norddeutschen Reichstages angeboten. Durch seine besonderen Beziehungen zur Regierung, so meinte man dort, wäre er in der Lage, die Publikation 24 Stunden vor der bisher allein dafür zuständigen privaten "Oldenbergschen Correspondenz" herauszugeben. Das war auch für die Regierung ein pressepolitischer Gewinn. Braß nahm das Angebot an.(97) Diesen Zeugnissen einer wachsenden Verbindung zwischen der NAZ und der Regierung standen Spannungen gegenüber, die in der Art dieses "gouverne99
mental-persönlichen" Verhältnisses, aber auch in der Natur des August Braß begründet waren. Schon vor der für die neue Methode der Pressepolitik entscheidenden Sitzung des Staatsministeriums am 17. November 1862 hatte Braß sich wegen einer französischen Korrespondenz rügen lassen müssen.(98) Im Sommer 1866 fiel sein "Hang zu publizistischer Klopffechterei" im Auswärtigen Ministerium wie im Innenministerium unangenehm auf.(99) Da die Quellen für 1867 reichlicher fließen, ist es angezeigt, an ausgewählten Themen aus diesem Jahr die der NAZ von Bismarck zugedachte und von Braß wahrgenommene Rolle genauer zu untersuchen. 2. Der pressepolitische Einsatz der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" gegenüber Frankreich a) Die "Nordschleswig"-Frage im Sommer 1867 Die hervorragende Bedeutung, die Frankreich im politischen Denken des August Braß seit dessen Genfer Aufenthalt eingenommen hat, läßt es sinnvoll erscheinen, den pressepolitischen Einsatz seiner Zeitung an solchen Themen zu untersuchen, die das Verhältnis Preußens bezw. des Norddeutschen Bundes und späteren Deutschen Reiches zu Frankreich betreffen. Da auf der anderen Seite für die Zeit nach dem österreichisch-preußischen Krieg von 1866 das deutsch-französische Verhältnis für die Politik Bismarcks vorrangige Bedeutung bekommt, ist eine solche thematische Konzentration auch von dorther angeraten. Ja, es darf sogar vermutet werden, daß sich gerade bei einer so bestimmten Interessenkonstellation am ehesten die Konturen der gouvernementalen NAZ verdeutlichen lassen. Im Sommer 1867 wurde die europäische Diplomatie durch die Frage nach der politischen Zugehörigkeit Nordschleswigs beherrscht. Die Presse hatte daran einen nicht geringen Anteil. Nach Artikel V des Prager Friedens vom 30. August 1866 sollte die Bevölkerung in den örtlichen Distrikten Schleswigs darüber entscheiden, ob sie mit Dänemark vereinigt werden wollte oder nicht.(lOO) Mit der Durchführung dieses Artikels hatte Bismarck keine Eile gezeigt und das auch öffentlich in der "Provinzial-Correspondenz" vom 22. Mai 1867 damit begründet, daß der Zeitpunkt für eine Abstimmung "im Präger Frieden unbestimmt gelassen" sei. Da aber deutsche Minderheiten davon betroffen waren, wurde eine solche Passivität in einem großen Teil der deutschen Presse immer offener angegriffen.(lOl) Diese wachsende Unruhe konnte für den Kredit, den Preußen in der Öffentlichkeit für seine deutsche Einigungspolitik genoß, nur ungünstig sein. Bismarck trat deswegen aus der Reserve heraus und ließ am 18. Juni 1867 in Kopenhagen anfragen, ob die dänische Regierung sich in der Lage sehe, bei einer eventuellen Abtretung die nationalen Eigentümlichkeiten der dort wohnenden Deutschen zu schützen.(102) Die Note, die über den Artikel V des Prager Friedens hinaus dänische Garantien für das deutsche Element in Nordschleswig einforderte, brachte Bewegung in 100
die internationale Diplomatie und besonders in die Presse. Zuerst reagierte Frankreich. Am 22. Juni beanspruchte der Abgeordnete Morin in der Debatte über den Ergänzungshaushalt für 1866 im Corps Legislative für sein Land das Recht, in die strittige deutsch-dänische Frage einzugreifen.(103) Die NAZ wies ihn vier Tage später mit leiser Ironie, aber auch sachlicher Bestimmtheit zurück: "Herr Morin dürfte es entschuldigen, wenn sein guter Rath diesseits des Rheins mit einer gewissen Vorsicht aufgenommen wird . . . Die Ausführung des Artikels V ist durchaus nicht . . . eine allgemeine europäische Frage, sondern geht einstweilen nur die Kontrahenten des Präger Friedens an."(104) Gerade diese Zurückweisung scheint eine Pressefehde speziell zwischen den der Regierung nahestehenden Blättern in Paris und Berlin entfacht zu haben. Die französische Presse, ihrer Rücksichten auf den am 14. Juni 1867 beendeten Besuch des preußischen Königs auf der Pariser Weltausstellung enthoben, griff die nordschleswigsche Frage vehement auf. Die Vermutung des preußischen Botschafters in Paris, von der Goltz, die polemischen Äußerungen besonders der "France" und des "Etendard" könne man sich "nicht ohne die Begünstigung offizieller Persönlichkeiten erklären"(105), bestätigte die "France" selbst am 27. Juni.(l 06) In einem längeren Leitartikel bezog diese Zeitung unter direkter Berufung auf Inspirationen aus dem französischen Außenministerium Stellung zu der Frage, ob der Prager Friede, besonders sein Artikel V, anderen Mächten das Recht einräume, "wegen der Nichtausführung der Verpflichtungen Preußens Dänemark gegenüber zu reklamieren". Die am Tage zuvor von der NAZ dem Abgeordneten Morin erteilte Zurückweisung qualifizierte sie als "kindisch" ab. Paris habe, "vielleicht nicht kraft eines diplomatischen Aktes, aber . . . kraft des großen Princips des modernen Völkerrechts" die Pflicht, für die Wiederherstellung der Ruhe in der europäischen Familie zu sorgen, sobald diese durch ein einzelnes Mitglied gestört werde. Durch eine Anleihe bei dem antiken Dichter Terenz suchte das Blatt sich dafür noch eine erhöhte Legitimation zu verschaffen:"Homo sum et nihil humani an me alienum puto. " In freier Übersetzung hieß das für die französische Zeitung: "Wir sind Europa, und nichts, was den Frieden, die Ordnung und das Gleichgewicht betrifft, kann uns fremd sein."(107) Die NAZ, durch diesen Artikel direkt angesprochen, bekräftigte noch einmal ihre Position vom 26. Juni, wonach die Ausführung des Prager Friedensvertrages allein Preußen und Österreich obliege. Die Erörterungen der "France" und anderer Pariser Blätter Uber das französische Mitspracherecht hielt sie für nichts anderes als "Wichtigtuerei".(108) Es spricht einige Wahrscheinlichkeit dafür, daß diese Haltung der "Norddeutschen" in den letzten Junitagen auf eine Direktive Bismarcks zurückging. Im Friedrichsruher Archiv fand sich ein Brief von Braß an Bismarck, der als Datum nur den Vermerk trägt: "Berlin, diesen Donnerstag".(109) Sein Schriftduktus ist auffällig kursiv und deutet auf Eile hin. In wenigen Zeilen bittet der Schreiber nachdrücklich darum, "in der neuen Situation der dänischen Frage" Bismarcks Intentionen mündlich zu erfahren. Eine neue Situation ist in der hier als "dänische Frage" apostrophierten nordschleswigschen Angelegenheit erst 101
durch die preußische Note vom 18. Juni entstanden. Da Bismarck am 22. Juni einem Donnerstag! - nach Pommern in Urlaub fahren wollte (110), mußte Braß Viel daran gelegen sein, noch am gleichen Tag von ihm selbst genaue Anweisungen zu erhalten, zumal auch sein etatmäßiger Informant im Auswärtigen Amt, Metzler, bereits im Urlaub war.(111) Das mag seine Schrift und die ebenfalls auf Eile hinweisende Datierung "diesen Donnerstag" erklären. Die Wahrscheinlichkeit, daß es noch zu einer Unterredung gekommen ist, erhöht sich durch die Tatsache, daß die NAZ in diesen Tagen gegenüber Frankreich den preußischen Standpunkt so vertrat, wie Bismarck ihn selbst am 20. Juni 1867 in einem Runderlaß an alle Auslandsmissionen umschrieb. Eigenhändig hatte der Ministerpräsident dort in ein ihm vorgelegtes Konzept, das seine und des Königs politische Gespräche anläßlich ihres Besuches in Paris für die preußischen Diplomaten referierte, die Bemerkung eingefügt, man habe in Paris "von jeder Einmischung in die deutschen Angelegenheiten abgerathen", weil daraus nur neue Spannungen zwischen beiden Staaten entstehen könnten.(112) Eine vorrangige deutsche Angelegenheit war neben dem von der französischen Presse inzwischen ausdiskutierten Zollvereinsvertrag vom 4. Juni 1867 in diesem Augenblick die nordschleswigsche Frage. Braß stand mit seinem dazu an die französische Adresse gerichteten Kommentar also ganz auf dem Boden dieses Zirkularschreibens. Sein "Federfeldzug" mit der "France" scheint aber erst der Anfang einer längeren preußisch-französischen Auseinandersetzung Uber das Thema "Nordschleswig" zu sein. Die Erregung wurde durch das Gespräch zwischen Goltz und dem Marquis de Moustier vom 27. Juni 1867 g e s t e i g e r t e n 3) Bismarck, in Varzin davon unterrichtet, wollte das Thema gar nicht erst zum Gegenstand diplomatischer Aktivitäten machen, sondern adressierte es durch Schreiben vom 4. und 5. Juli Uber Thile an die Presse zurück.(114) Interessantes wird dabei Uber die Rolle der NAZ gesagt. Im Brief vom 4 . , direkt an den Unterstaatssekretär im AA gerichtet, hieß Bismarck zunächst die entschiedene Sprache seines Botschafters Moustier gegenüber gut.(115) Für den Fall, daß der französische Außenminister, der übrigens ihm selbst gegenüber bei seinem Pariser Aufenthalt Gesprächen über die dänische Angelegenheit ausgewichen war(116), noch einmal davon anfange, solle Goltz ihn "kühl und schneidig abweisen". Da sich die französische Presse aggressiv in die Erörterung eingeschaltet habe, seien diplomatische Interpellationen jetzt unangemessen. "Auf die Preß-Kosaken müssen wir das amtliche schwere Geschütz nicht leicht abfeuern, dabei kommen wir in unverhältnismäßigen Munitionsverlust. Dagegen müßte meines Erachtens unsere Presse, mit alleiniger Ausnahme von Braß und Correspondenzen viel patziger ins Zeug gehen, drohend u. aggressiv." Beide Sätze geben Einblick in Bismarcks Einstellung zur Presse im allgemeinen und zur NAZ im besonderen. Zeitungen, soweit sie nicht im Ruf enger (NAZ) und sogar amtlicher ("Provincial-Correspondenz") Beziehungen zur Regierung standen, hatten ihre Aufgaben im weiteren Vorfeld der Diplomatie. Dort konnten sie ungehindert agieren, brauchten ihren Ton nicht zu mäßigen, konnten 102
den Gegner durch Grobheiten herausfordern, ihn nach seinen Ansichten abtasten, um entweder unterhalb der Stufe der Diplomatie ein Thema auszudiskutieren, oder durch ihre Sondierungen gleichsam, um im Bilde Bismarcks zu bleiben, als vorgeschobener Beobachter dem späteren Feuer des amtlichen schweren Geschützes das genaue Ziel zu weisen. Beide Seiten, Frankreich und Preußen, wußten um diese Pressefunktionen und nutzten sie entsprechend. Ein politischer Schaden konnte ihnen daraus nicht so leicht erwachsen, weil die Zeitungen in eigener Verantwortung sprachen und deswegen von Regierungsstellen jederzeit desavouiert werden konnten. Anders war es mit jenen Blättern bestellt, deren Kontakt zur Regierung als eng b e kannt war. Bismarck leugnete zwar am 22. Januar 1864 für Preußen die Existenz einer offiziösen Presse. Die seit 1848 für solche Zeitungen gewachsenen Kriterien geben ihm dazu auch ein gewisses Recht. Aber die NAZ hat - auch in den Augen Bismarcks - nur in der Form, nicht von ihrem Charakter und Ruf her, eine offiziöse Qualität verloren. Sie hat nicht den Rang eines Diplomaten erworben, aber sie ist mehr als andere Zeitungen geworden. Das Ausland wußte das und nannte die NAZ deswegen "1"organ accrédité du cabinet de Berlin".(117) Noch zutreffender wäre es, von einer Akkreditierung direkt bei Bismarck zu sprechen. Das entspräche der schon frühen Beobachtung Wageners, Braß stehe mit seiner Zeitung in einem gouvernemental-persönlichen Verhältnis zum preußischen Ministerpräsidenten. Die undatierte BraßBitte, von Bismarck selbst "in der neuen Situation der dänischen Frage" die richtige interpretatorische Linie zu erfahren, unterstreicht diese Funktion. Auf keinen Fall konnte die NAZ eigenen Eingebungen oder Mutmaßungen ihres Chefredakteurs folgen oder gar selbständig eine Polemik beginnen oder in sie eingreifen. Trotz der ausdrücklich gemachten Ausnahme der NAZ von dem preußischen Pressefeldzug gegen Paris notierte sich der inzwischen zum stellvertretenden Chefredakteur der "Norddeutschen" avancierte Österreicher Emil Friedrich Pindter unter dem 5. Juli 1867 in seinem Tagebuch: " Brass erzählt mix, daß Bismarck befohlen, sehr nachdrücklich gegen französische Presse aufzutreten."(118) Sollte Braß nun doch mitstreiten? Neben dem Brief vom 4 . Juli schickte Bismarck am 5. Juli Uber Keudell noch eine telegrafische Anweisung an Thile (119), deren Sprache etwas zupackender war als die des Briefes. Danach sollte Thile die deutschen Zeitungen beauftragen, sich von den französischen nichts bieten zu lassen, sondern "kühl und kampfbereit" zu antworten. Die Defensive dürfe in diesem Augenblick nicht so stark akzentuiert werden. "Entweder ignoriren und lächerlich machen, oder a n g r e i f e n , indem man die ganze Imperialistische Politik tadelt", so lautete seine Devise. Da dieses Telegramm die NAZ nicht ausnahm, kann vermutet werden, daß Thile auch Braß am selben Tag entsprechend instruiert hat. Ansonsten wäre die Tagebucheintragung Pindters nicht zu erklären. Braß hat dann aber ganz im Sinne der Bismarck-Direktive vom 4 . Juli reagiert! Er äußerte sich zunächst eine Woche lang gar nicht zu diesem Thema oder zu anderen Bereichen, die das deutsch- französische Verhältnis oder die Pariser 103
Politik allein betrafen. Auch am 12. Juli, als er durch die Veröffentlichung eines Pariser Briefes vom 9. des Monats zum ersten Mal wieder zur französischen Pressepolitik Stellung nahm, tat er das ganz und gar nicht im Stile des Bismarckschen Entweder-Oder von "ignoriren und lächerlich machen, oder angreifen". Zwar beschwerte er sich Uber den gereizten Ton, in dem die gesamte Pariser Presse die "scheinbaren Verwicklungen zwischen Preußen und Dänemark in Betreff Nord-Schleswig" kommentierte, aber er bescheinigte ihr gleichzeitig ein Abschwächen der Polemik. (120) Die noch vorhandenen gereizten Töne hielt er für wenig repräsentativ. Man würde, so ließ er abschließend durch seinen Pariser Korrespondenten schreiben (121), die Zeitungsangriffe völlig überschätzen, "wenn man in der Haltung dieser Blätter, selbst solcher, wie des 'Etendard' und der 'France', mehr als die einseitigen Auffassungen der leitenden Redakteure erblicken wollte". Das war nun ersichtlich ein Herunterspielen der ganzen Situation, denn auch Braß waren, wie Bismarck, die Inspirationen gerade der "France" durch französische Regierungsstellen klar.(122) Zu erklären ist dieses Verhalten nur durch die gehobene Funktion seiner Zeitung, nicht zu verschärfen, sondern richtigzustellen und in gegebenen Situationen allenfalls zu entschärfen. Diese Linie behielt die NAZ den ganzen Juli hindurch bei, während aus Varzin weitere verschärfende "Preßbefehle" eintrafen. Deren Grund war die französische Depesche vom 11. Juli 1867, mit der das Pariser Außenministerium vorgab, in Berlin "die Frage wegen der Retrozession von Nordschleswig" anzuregen.(123) Da ihre scharfe Kritik an der preußischen Note vom 18. Juni wohl nicht mehr so recht in die inzwischen ja beiderseits abgeschwächte polemische Diskussion paßte, verhielt sich der französische Geschäftsträger in Berlin, Lefebvre de B¿haine bei der Übergabe zunächst unsicher, dann aber auch ungeschickt. Am 16. las er Thile nur einige Teile daraus vor und suchte überdies ihren fordernden Ton dadurch zu entschärfen, daß er frei hinzufügte, es ginge den Franzosen nur darum, zu erfahren, was die Deutschen "in der in Rede stehenden Angelegenheit zu tun gedächten". Thile, der Bismarck um "einige Weisheit" für sein Verhalten bat (124), erhielt aus Varzin am 19. Juli zunächst den Auftrag, nur amtliche Äußerungen entgegenzunehmen und diese auf diplomatischem Wege durch Goltz schriftlich beantworten zu lassen.(125) Als er am folgenden Tag aber davon berichten mußte, Lefebvre zeige die "nasenweise Depesche wegen Schleswig" bei allen in Berlin akkreditierten Diplomaten herum (obwohl das Dokument ihm selbst noch nicht zur vollständigen Kennt' nis gebracht war), um "damit bedeutende Reclame" zu machen (126), reagierte Bismarck schärfer: "Der Lefebvre'sche Schritt muß in die Presse, nachdem er die Depesche gezeigt h a t . . . Bisher finde ich nicht, daß die französischen Einmischungsgelüste in deutsche Sachen in der Presse scharf genug denunziert werden. "(127) Interessant ist, daß damit am 21. Juli die vor zwei Tagen erst in Aussicht gestellte diplomatische Aktivität wiederum, wie zu Anfang des Monats, durch eine pressepolitische ersetzt werden sollte. In ihrem Verlauf kam es zu einer scharfen Rüge Bismarcks an die Adresse der NAZ, welche die Vorstellung des 104
Kanzlers von dieser Zeitung in noch klareres Licht hebt. Das Geschehen kam durch Lefebvre selbst, wenn auch von diesem ungewollt, ins Rollen. Nachdem der französische Geschäftsträger am 21. Juli Thile die Note seiner Regierung ganz vorgelesen, nicht allerdings übergeben hatte (128), suchte dieser sofort die Presse zu mobilisieren.(129) Er erteilte dem erst gerade aus dem Urlaub zurückgekehrten Metzler entsprechende Weisungen und reichte auch Bismarcks Pressebefehle " e i n d r i n g l i c h s t " an das Literarische Büro weiter.(130) Dort war man in diesem Sommermonat aber "leider sehr matt", Hahn im Urlaub und sein Stellvertreter zu ängstlich und unbeholfen. Von Metzler mußte Thile Bismarck berichten, daß dieser zwar fleißig schreibe,, seine Artikel von den Redaktionen aber kaum aufgenommen würden.(131) Erst am 28. Juli sah er die inszenierte Zeitungspolemik, "wenn auch nur ganz allmählich", in Fluß kommen.(132) In der Redaktion der NAZ erregte die Depesche einige Unruhe.(133) Erst am 27. wurde in den Zeitungsspalten von ihrem Inhalt berichtet. Braß beging dabei den Fehler, die nur vorgelesene Depesche als "überreicht" zu bezeichnen.(134) Während Thile das nicht als besonders gravierend empfand und Bismarck vorschlug, das Versehen "beiläufig" zu korrigieren (135), scheint dieser darüber anderer Ansicht gewesen zu sein. Da eine übergebene Note zweifellos größeres politisches Gewicht hat als eine nur vorgelesene, mußte in seinen Augen der verbale Fehlgriff gerade der NAZ vor aller Öffentlichkeit den Anschein erwecken, als dulde die preußische Regierung jetzt doch die Einmischung Frankreichs in ihre Angelegenheiten. Bismarck griff deswegen zu einer für Braß harten Zurechtweisung. Er ließ ihn durch Zitelmann dieses einen Wortes wegen tadeln und auffordern, diesen Tadel "noch besonders" zu quittieren.(136) Der Text dieser "Quittung" zeigt die Position, in der Braß stand, besonders auch die Spannung, die sie für ihn als Journalisten bedeutete. Braß bestätigte den durch Zitelmann mündlich erhaltenen Tadel und fügte die "gehorsamste und aufrichtigste Bitte um Entschuldigung dieser neuen Ungeschicklichkeit wegen" ebenso an wie das Versprechen,"in Zukunft Ähnliches zu vermeiden". Diese Worte kennzeichnen ihn als den unbedingt ergebenen, eher gelenkten denn freien Redakteur, als der er sich mit dem Schreiben vom 9. Oktober 1862 ja auch angeboten hatte und der nun bis in die Formulierung hinein um die Aufgabe seiner Zeitung wußte und sie erfüllen wollte. Daneben steht der Journalist, "der", wie Braß Bismarck zu bedenken gab, "eben nicht die Zeit hat, jedes Wort genau abzuwägen". Begeht er einmal Fehler, so stellt sich bald ein Gefühl der Unsicherheit bei der Arbeit ein, "die schlimmste Klippe für einen Journalisten". Es wird sich schon 2 Monate später zeigen, daß sich diese "Ungeschicklichkeiten" wiederholten und das Verhältnis Bismarcks zu Braß so stark belasteten, daß der Kanzler deswegen daran dachte, die NAZ aufzugeben. Für den Augenblick hatte der Tadel seine Wirkung. Am 29. Juli mußte sich Braß von der "Augsburger Allgemeinen Zeitung" vorhalten lassen, entsprechend höherer Weisung Zurückhaltung zu üben.(137) Sieht man einmal von den ohnehin kargen Stellungnahmen zur französischen Depesche ab, so hatte die NAZ in den letzten 105
Tagen ihren Ende Juni/Anfang Juli im Sinne der Bismarckschen Zirkularnote vom 20. Juni eingenommenen Kurs nicht verlassen. Sie vermied jede Polemik und unterschied bei den französischen Stimmen sorgfältig zwischen maßgeblichen Regierungsäußerungen und unmaßgeblichen Oppositionspolemiken. Neben der unmittelbar kommentierenden Reaktion auf die große Budgetdebatte im Corps Legislative vom 15. und 16. Juli (138) bewies das besonders gut ihr "Politischer Tagesbericht" vom 23. Juli. Zum ersten Mal wurde dabei im Monat Juli in einem Leitartikel Frankreich behandelt. Schon das ist für die bisherige Zurückhaltung der NAZ nicht unwichtig. Unter der Frage, "wer in Frankreich denn eigentlich den Krieg wolle", unterschied der Artikel 3 Parteien: 1) Die demokratische Partei mit Gournier-Pages und Jules Favre führe zwar starke Worte, gehe aber doch davon aus, daß die Einigung Deutschlands eine innerdeutsche Angelegenheit sei. Diese Partei sei folglich der Idee, "zur Verhinderung dieser Einigung einen Krieg zu führen, von Grund aus abhold". 2) Des Kaisers ganzes Bestreben sei "dem Frieden gewidmet". Gouvernementalen Gegenströmungen trete er erfolgreich entgegen. 3) Einzige Gegner seien neben den Orleanisten und Legitimisten diejenigen Presseorgane, die "zur Regierung in einem gewissen Verhältniß" stünden. Diese dürfe man aber nicht überschätzen.(139) Für die anerkannte Bedeutung der NAZ spricht, daß sie durch diesen Leitartikel in Frankreich eine positive Wirkung hervorgerufen hat. Moustier lobte am 25. Juli gegenüber Goltz seinen "vortrefflich beruhigenden" Charakter, der ihn veranlaßt habe, seinerseits "der ministeriellen Presse eine bestimmte Verhaltungslinie für die Besprechung der Preußischen Politik zu empfehlen". (140) Die Wirkung dieser auf Zurückhaltung drängenden Ministerdirektive war bereits am 27. Juli im offiziellen "Moniteur" zu sehen.(141) Mit der "Revue Contemporaine" folgte ihm am 31. Juli die erste offiziöse Zeitung, die das neue mot d'ordre von einem gar nicht beanspruchten Mitspracherecht Frankreichs bei deutschen Angelegenheiten verkündete.(142) Ausdrücklich wurde es noch einmal an der Thematik dieses Sommers, der nordschleswigschen Frage, von dem "Constitutionnel" am 3. August belegt. "Der Gedanke", so schrieb das Blatt, "an eine diplomatische Einwirkung Frankreichs in diese Verhandlungen trat natürlich in den GemUthern h e r v o r . . . Die Leute, welche den doppelten Vortheil in sich vereinigen, gleichzeitig wohlunterrichtet und wohlgesinnt zu sein, wissen vollkommen, daß dies gerade die französische Regierung fest entschlossen ist, nicht zu thun.(143) Dieses durch die NAZ schon am 23. Juli eingeleitete Ende der Pressepolemik Uber die politische Zukunft Nordschleswigs erklärt, daß Bismarck mit seiner etwas spontan wirkenden Aufforderung vom 21. Juli zur erneuten Pressepolemik "ad vocem Frankreich" bei deutschen Blättern keine Gegenliebe mehr fand. Folgerichtig blies er auch seinerseits am 30. Juli zum Rückzug.(144) Die NAZ hat in der damit zu diesem Thema abgeschlossenen Presse-Diskussion ihre gouvernemental-persönliche Rolle sehr deutlich unter Beweis gestellt. 106
Der straffe Zügel Bismarcks hat sich aber auch als eine journalistische Zwangsjacke erwiesen, aus der Braß schon bald wieder, wenn auch ungewollt, ausbrach.
b) Das Salzburger Kaisertreffen im August 1867 Bei der Diskussion über die "Nordschleswig"-Frage kam der NAZ fast die Rolle eines Diplomaten zu, der als anerkannter und deswegen auch nicht ganz unverantwortlicher Vertrauter Bismarcks das Ausland bald informierend, bald mahnend, im Ton stets abgewogen und in der Wortwahl Uberlegt Uber die Grundsatze preußisch-deutscher Politik ins Bild zu setzen suchte. Die andere Seite einer solchen Aufgabe erfüllte die Zeitung bei dem gleich im August folgenden Salzburger Treffen der Kaiser Franz Joseph und Napoleon III. Hier, wo sich Möglichkeiten einer fUr Preußen durchaus gefährlichen neuen europaischen Mächtekonstellation abzuzeichnen drohten (145), Bismarck aber offiziell darüber im unklaren blieb, fühlte die NAZ als ein Sondierungsorgan vor, das durch eigene Interpretationen, vage Vermutungen und offene Fragen Informationen Uber das tatsächliche Geschehen einzuholen suchte. War sie bei dem vorhergehenden Thema stärker Übermittler von Informationen, so hatte sie über die Salzburger Entrevue eher zu ermitteln. Eine französisch-österreichische Annäherung lag seit 1866 immer im Bereich des Möglichen. Im Sommer 1867 wurde sie sehr aktuell. Bereits Anfang Juli hatte Goltz aus Paris an Bismarck telegraphiert, er sehe hier "seit einiger Zeit ein größeres Bestreben zu dem Wiener H o f ' . Ein Gesprächspartner habe ihm gegenüber die französische "Besorgniß vor einer Auflösung des österreichischen Kaiserstaates" geäußert, durch die "zum ausschließlichen Vortheile Rußlands (vielleicht dachte er auch an Preußen) eine bedenkliche Lücke im europäischen System entstehen würde".(146) Gegen Ende dieses Monats verstärkten sich die Symptome einer französischösterreichischen Annäherung. Napoleon hatte für Mitte August einen Besuch in Österreich angekündigt. Zwar hatte der österreichische Kaiser dadurch, daß er Wien als Treffpunkt ablehnte, die politische Bedeutung des Besuches gemindert, aber eine Zusammenkunft durch die nach Salzburg gehende Einladung doch gutgeheißen.(147) Am Tage vor dem Antritt seiner diesjährigen Urlaubsreise nach Deutschland hatte Goltz am letzten Julitag 1867 noch ein Abschiedsgespräch mit Napoleon und dabei in einer Art tour d'horizon jene Probleme besprochen, die von beiderseitigem Interesse waren. "Ich habe", so schrieb er Bismarck, "von dieser Unterredung den Eindruck, daß der Kaiser entschieden friedliche Absichten hat und bis auf weiteres Alles sorgfältig vermeiden wird, was seine Beziehungen zu Eurer Königlichen Hoheit Regierung trüben könnte."(148) Das bevorstehende Salzburger Treffen widerspräche dieser Generallinie nicht unbedingt, sondern erkläre sich "zunächst" als Kondolenzvisite wegen der Ermordung Maximilians in Mexiko.(149) In der Wilhelmstraße war man sich darüber im klaren, daß 107
eine auch nur längerfristige Ruhe in Europa sehr fraglich war und unterstrich folglich die 3 Worte "bis auf weiteres". Der Botschaftsbericht konnte zu solcher Skepsis nur auffordern, denn Goltz schloß mit der Mutmaßung, Napoleon scheine angesichts der preußischen Fortschritte in der deutschen Politik zu Uberlegen, "wenn nicht sich an das schwache Österreich anzulehnen, doch mit diesem in eine gewisse Solidarität zu Defensivzwecken zu treten und die desfällige gemeinsame Haltung (bei dem Besuch) zu verabreden". Hier klang in vorsichtiger diplomatischer Formulierung jene Vermutung Uber eine Allianz an, welche die von Frankreich subventionierte Presse in Konstantinopel bereits often vor dem 25. Juli ausgesprochen hatte.(150) Sie traf sich jetzt mit der allgemeinen Stimmung in Paris, die ein dortiger Gewährsmann des preußischen Botschafters in Wien, Werther, als "sehr feindlich gegen Preußen und in zweiter Linie auch gegen Rußland" bezeichnete, wohingegen sich geradezu eine "Schwärmerei für Österreich" offenbare.(151) Dieser, im eigentlichen Sinne des Wortes populären antipreußischen und proösterreichischen Stimmung entgegenzutreten, war für Napoleon zu dieser Zeit schon aus Gründen der Selbsterhaltung nicht opportun. Seit dem Frühjahr 1867 kursierte bereits in den Pariser Vorstädten die Losung: "La première étape pour aller à Berlin sont les Tuileries."(152) Der mit fast 95