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German Pages [369] Year 2021
Tobias Braune-Krickau / Christoph Galle (Hg.)
Predigt und Politik Zur Kulturgeschichte der Predigt von Karl dem Großen bis zur Gegenwart
Mit einer Abbildung
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. © 2021 V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wilhelm Dürr (1815–1890), »St. Gallus predigt den Alemannen am Bodensee das Evangelium«, 1861, Öl auf Leinwand, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1309-3
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tobias Braune-Krickau / Christoph Galle Historische Predigtforschung als interdisziplinäres Projekt. Einleitung in den Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Maximilian Diesenberger 721–911: Karolingerzeitliche Predigt. Von der Mission des Bonifatius bis zum Aufstieg der Ottonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Galle 911–1198: Predigt und Politik in der Zeit der Ottonen, Salier und Staufer. Versuch einer Verhältnisbestimmung im Angesicht einer problematischen Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Regina D. Schiewer 1198–1302: Die Mendikantenpredigt als Instrument und Zeugnis von Weltpolitik, herrscherlichem Selbstverständnis und Ordenspolitik. Vom deutschen Kreuzzug bis zum päpstlichen Machtanspruch . . . . . .
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Georg Strack 1302–1414: »Gott machte die beiden großen Lichter … (Gen 1,16)«. Das Problem der zwei Gewalten in Konsistorialpredigten . . . . . . . . .
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Markus Wriedt 1414–1517: Gelehrte Predigt in den Städten im Wechsel von Spätmittelalter und Reformationszeit – samt einigen methodischen Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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Inhalt
Michael Basse 1517–1648: Die Predigt im Kontext der konfessionellen und religionspolitischen Ausdifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Christian Volkmar Witt 1648–1789: Beobachtungen und Überlegungen zur homiletischen Relation von Predigt und Politik im ›Zeitalter der Kritik‹ . . . . . . . . . . . . . . . 181 Martin Ohst 1789–1848: Politik und Predigt bei Schleiermacher. Eine Fallstudie . . . . 209 Ruth Conrad 1848–1914: »Nicht Politik sollen unsere Prediger predigen, aber wirkliches Leben sollen sie mit dem Lichte Gottes beleuchten« (Friedrich Naumann). Die Predigt in den sozialen und nationalen Transformationen in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 237 Rolf Schieder 1914–1945: Metamorphosen eines Predigers . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Lucian Hölscher 1945–2001: Politische Predigt unter demokratischen Bedingungen Tobias Braune-Krickau 2001–2018: Zwischen Pluralität und Parteilichkeit Autorinnen- und Autorenverzeichnis
. . . . 297
. . . . . . . . . . . . . 317
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Vorwort
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf eine gleichnamige Tagung zurück, die am 16. und 17. Februar 2018 am Fachbereich Evangelische Theologie der PhilippsUniversität Marburg von den beiden Herausgebern veranstaltet worden ist. Unser herzlicher Dank gilt daher zuerst den Referentinnen und Referenten, zugleich den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre überaus freundliche Mühe, Geduld und Kooperationsbereitschaft. Sodann danken wir den studentischen Hilfskräften Lea-Katharina Müller und Philip Steinbach (Göttingen), die zur Fertigstellung des Manuskripts, sowie Sarah Görgen (Greifswald), die zur Erstellung der Register Maßgebliches beigetragen haben. Der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, insbesondere Frau Patricia Buchner, danken wir für die Bereitstellung und freundliche Genehmigung zum Abdruck der Umschlagabbildung. Für großzügige Beiträge zur Finanzierung von Tagung und Publikation sind wir darüber hinaus der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, dem Ursula-Kuhlmann-Fonds der Universität Marburg sowie dem Marburger Rudolf-Bultmann-Institut für Hermeneutik und seinem Direktor, Herrn Prof. Dr. Malte-Dominik Krüger, zu großem Dank verpflichtet. Dieser Dank gilt in besonderer Weise dessen Vorgänger, Herrn Prof. Dr. Jörg Lauster (München), der nicht zuletzt auch immateriell ein wichtiger Impulsgeber dieses Vorhabens im Ganzen ist.
Tobias Braune-Krickau / Christoph Galle
Historische Predigtforschung als interdisziplinäres Projekt. Einleitung in den Band
1.
Zur Entwicklung der historischen Predigtforschung und zum Ansatzpunkt dieses Bandes
»Der Glaube kommt aus der Predigt.« In diesem Satz des Apostel Paulus (Röm 10,17) findet die herausgehobene Bedeutung der Predigt für die christliche Religion, erst recht in protestantischer Spielart, ihren klassischen Ausdruck. Im Wort der Predigt soll das Wort Gottes vernehmbar werden, sie soll Glauben wecken und die Gemeinschaft der Kirche – sine vi, sed verbo (CA 28) – stärken und anleiten.1 Doch sind Predigtbegriff und Predigtwirklichkeit nicht einfach identisch. Dem historischen Blick zeigt sich vielmehr die große Vielgestaltigkeit, die das Phänomen der Predigt im Laufe der Geschichte angenommen hat. In ihrer Form und ihrem Inhalt, ihrem Anlass und ihrer Wirkung und nicht zuletzt in ihrer Verwobenheit in die jeweiligen historisch-sozialen Kontexte weist ›die‹ Predigt eine ganz erhebliche Variationsbreite auf. Hier setzt die historische und empirische Predigtforschung an. Für sie ist die traditionelle theologische Hochschätzung der Predigt in erster Linie ein Anlass zur genaueren Analyse und ein Indiz für den Auskunftswert der Gattung Predigt: Wer sich für die geschichtliche Wirklichkeit des Christentums interessiert, der findet in seinen Predigten eine Quelle ersten Ranges – eine Quelle zudem, die im Ganzen wohl noch viel zu wenig ausgeschöpft worden ist. Die Hinwendung zur historischen bzw. empirischen Predigtwirklichkeit kann sich bis heute auf eine ganze Reihe von Forschungsperspektiven und Frage1 Vgl. zum historischen Hintergrund jener Formel Gunther Wenz: Sine vi, sed verbo. Toleranz und Intoleranz im Umkreis der Wittenberger Reformation, in: Ders: Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation, 2 Bde., Bd. 1, Hannover 2000, S. 233–258; zu deren gegenwärtiger Rezeption Jochen Cornelius Bundschuh / Jan Hermelink (Hg.): Nicht durch Gewalt, sondern durch das Wort. Die Predigt und die Gestalt der Kirche, Leipzig 2011; einen Überblick über die Geschichte der theologischen Bedeutung der Predigt bietet etwa Hans Martin Müller: Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin / New York 1996, Teil I.
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Tobias Braune-Krickau / Christoph Galle
richtungen stützen. Einen ersten Höhepunkt hat die wissenschaftliche Erschließung der Predigtgeschichte zweifellos im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert erlebt. Hier entstehen nicht nur umfangreiche Predigtsammlungen2 und Editionsprojekte – allen voran Jacques-Paul Mignes Patrologia Latina (1844–1865) sowie die deutschsprachige Bibliothek der Kirchenväter (1. Ausg. 1869–1888; 2. Ausg. 1911–1938), die beide auch umfangreiches Predigtmaterial enthalten. In diese Zeit fallen auch zahlreiche der zum Teil bis heute einschlägigen Überblicksdarstellungen zum Ganzen oder zu Teilen der Predigtgeschichte, welche die nunmehr erschlossenen Quellen und die diversen zeitgenössischen Einzelstudien in großer Breite aufnehmen. Sie stehen dabei zumeist im Zeichen des neu erwachten historischen Bewusstseins der Theologie oder zielen durch die Darstellung vorbildhafter Kanzelredner auf die praktische Verbesserung des kirchlichen Predigtwesens, teils auch auf persönliche Erbauung ab. Als exemplarisch für eine solche historisch-theologische oder kirchlichpraktische Historiographie der Predigt können – gerade in der Unterschiedlichkeit ihres Zugriffs – etwa Richard Rothes, aus dessen Nachlass herausgegebene Geschichte der Predigt von den Anfängen bis auf Schleiermacher (1881) sowie August Nebes Charakterbilder der bedeutendsten Kanzelredner (1879) gelten;3 unter den lexikographischen Studien ist besonders an die Arbeiten von
2 Vgl. etwa die beiden Serien der seit 1827 in insgesamt 20 Bänden herausgegebenen »Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit« (Gotha, Hildburghausen und New York 1827–1835) sowie der seit 1902 von Ernst Rollfs herausgegebenen »Moderne Predigtbibliothek« (Leipzig und Göttingen 1902–1917); dazu als Auswahl der größeren Sammelwerke, die sich teils auf die Geschichte, teils auf die damalige Gegenwart richten: Heinrich August Schott (Hg.): Musterpredigten der jetzt bekannten ausgezeichneten Kanzelredner Deutschlands und anderer protestantischer Länder, 4 Bde., 1836–1837; Edwin Bauer (Hg.): Allgemeine Predigtsammlung aus den Werken der vorzüglichsten Kanzelredner. Zum Vorlesen in Landkirchen wie auch zur häuslichen Erbauung, 3 Bde., Leipzig 1841–1844; Wilhelm von Langsdorff / Gustaf Leonhardi (Hg.): Die Predigt der Kirche. Klassikerbibliothek der christlichen Predigtliteratur, 32 Bde., Leipzig 1888–1905; sowie Andreas Räss / Nicolaus Weis (Hg.): Bibliothek der katholischen Kanzel-Beredsamkeit, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1829–1832; Dies. (Hg.): Neue Bibliothek der katholischen Kanzel-Beredsamkeit, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1832–1842. 3 Richard Rothe: Geschichte der Predigt. Von den Anfängen bis auf Schleiermacher, hg. v. August Trümpelmann, Bremen 1881; August Nebe: Zur Geschichte der Predigt. Charakterbilder der bedeutendsten Kanzelredner, 3 Bde., Wiesbaden 1879. Gesamtdarstellungen unterschiedlichen Detailgrades bieten außerdem Carl Georg Heinrich Lentz: Geschichte der christlichen Homiletik, ihrer Grundsätze und der Ausübung derselben in allen Jahrhunderten der Kirche, 2. Bde., Braunschweig 1839; Roderich Nesselmann: Buch der Predigten. Hundert Predigten aus verschiedenen Zeiten und Ländern, nebst einer Entwickelungsgeschichte der christlichen Predigt, Elbing 1858; Albert Brömel: Homiletische Charakterbilder, 2 Bde., Leipzig 1869, 1874; Joseph Lehmann: Geschichte der christlichen Predigt. Übersichtlich dargestellt und mit reichlichen Proben aus der homiletischen Literatur versehen, Kassel 1904; Franz Stingeder: Geschichte der Schriftpredigt. Ein Beitrag zur Geschichte der Predigt, Paderborn 1920.
Historische Predigtforschung als interdisziplinäres Projekt
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Gerhard von Zezschwitz, Martin Schian oder Theodor Christlieb zu denken;4 schließlich unter den homiletischen bzw. praktisch-theologischen Lehrbüchern an die Darstellungen von Hermann Hering und Ernst Christian Achelis.5 Daneben entstehen zahlreiche unvollendet gebliebene Gesamtdarstellungen6 sowie Untersuchungen zu einzelnen Epochen der Predigtgeschichte, etwa von Wilhelm Beste, Karl Heinrich Sack, Clemens Gottlob Schmidt, Ludwig Striebitz, Rudolf Cruel, Anton Linsenmeyer oder Felix Richard Albert.7 In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts – und gleichsam im Schatten der prinzipientheoretischen Aufwertung der Predigt durch die Dialektische Theologie – lässt das theologische Interesse an der tatsächlichen Predigtgeschichte zunächst spürbar nach. Das zeigt sich schon daran, dass protestantischerseits bis auf Werner Schütz’ 1972 veröffentlichte Geschichte der christlichen Predigt kaum noch größere Gesamtdarstellungen versucht worden sind und selbst in den homiletischen Lehrbüchern die Predigtgeschichte deutlich hinter die Theoriegeschichte der Homiletik zurücktritt.8 4 Gerhard von Zezschwitz: Homiletik, in: Handbuch der theologischen Wissenschaften in encyklopädischer Darstellung, hg. v. Otto Zöckler, 4 Bde., Bd. 4: Praktische Theologie, München 31890, S. 156–395, darin zur »Geschichte der Predigt« S. 230–395; Martin Schian: Art. Predigt, Geschichte der christlichen, in: RE3 15 (Leipzig 1904), S. 623–747; Theodor Christlieb: Art. Predigt, Geschichte der christlichen, in: RE2 18 (Leipzig 1888), S. 466–653. Vgl. ferner auch Paul Drews: Art. Predigt, I. Geschichte der Predigt, in: RGG2 4 (Tübingen 1913), Sp. 1736–1755, sowie als späteren Exponenten dieser Gattung Alfred Niebergall: Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia 2 (Kassel 1955), S. 180–352. 5 Hermann Hering: Die Lehre von der Predigt, Berlin 1905, hier S. 1–247; Ernst Christian Achelis: Lehrbuch der Praktischen Theologie, 3 Bde., Bd. 2: Die Lehre vom Kultus, Leipzig 3 1911, S. 84–117. Vgl. ferner Alfred Krauss: Lehrbuch der Homiletik, Gotha 1883, S. 23–111; Friedrich Niebergall: Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage, 2 Bde., Tübingen 1918–1919, hier Bd. 2, S. 98–108. 6 Vgl. dazu die umfassende Aufstellung bei Schian: Art. Predigt, S. 623f. 7 Wilhelm Beste: Die bedeutendsten Kanzelredner der älteren Lutherischen Kirche von Luther bis zu Spener, in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten, 3 Bde., Leipzig 1856– 1888; Karl Heinrich Sack: Geschichte der Predigt in der deutschen evangelischen Kirche von Mosheim bis Menken, Heidelberg 1866; Clemens Gottlob Schmidt: Geschichte der Predigt in der evangelischen Kirche Deutschlands. Von Luther bis Spener, Gotha 1872; Ludwig Stiebritz: Zur Geschichte der Predigt in der evangelischen Predigt von Mosheim bis auf die Gegenwart, mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von Schleiermachers Tod ab. Ein Versuch, Gotha 1875; Rudolf Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879; Anton Linsenmayer: Geschichte der Predigt in Deutschland. Von Karl dem Großen bis zum Ausgange des vierzehnten Jahrhunderts, München 1886; Ders.: Beiträge zur Geschichte der Predigt in Deutschland am Ausgang des Mittelalters, Passau 1889; Felix Richard Albert: Die Geschichte der Predigt bis Luther, 3 Bde., 1892–1896. 8 Vgl. Werner Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, Berlin u. a. 1972, sowie für die katholische Seite Johann Baptist Schneyder: Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg 1969. Siehe ferner die Zusammenschau bei Rudolf Landau: Predigt in der Zeit des Geistes. Ausgewählte neuere Untersuchungen zur Geschichte der Predigt und Homiletik. Walther Eisinger zum 50. Geburtstag am 28. 2. 1978, in: VuF 23 (1978), S. 73–100; Ders.: Prägungen des
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Dafür lässt sich allerdings seit den 1990er Jahren ein neues Interesse an der historischen und empirischen Predigtpraxis beobachten, das nun allerdings nicht mehr nur von theologischen oder kirchlichen Gesichtspunkten ausgeht, sondern sich in einer breiten interdisziplinären, auch internationalen Vielfalt artikuliert.9 In wachsender Zahl entstehen seitdem innovative Untersuchungen zu den verschiedenen Epochen und Sprachräumen der Predigtgeschichte, die das fachliche, methodische und inhaltliche Spektrum deutlich diversifiziert haben. So treten neben die kirchengeschichtlichen und -praktischen Zugänge zunehmend auch profanhistorische, literaturgeschichtliche sowie politik- und sozialwissenschaftliche Arbeiten, die schon jetzt den Erkenntnisgewinn erahnen lassen, den eine Predigtforschung verspricht, die sich als dezidiert interdisziplinäres Projekt begreift. Dieser interdisziplinäre, multiperspektivische Zugriff ist es denn auch, dem sich dieser Band in seiner Anlage verpflichtet weiß: Im Fokus der Frage nach dem Verhältnis von Predigt und Politik versucht er, Einsichten und
Wortes. Konfiskationen für eine Geschichte der Predigt, in: VuF 40 (1995), S. 64–81; Christian-Erdmann Schott: Predigtgeschichte als Zugang zur Predigt, Stuttgart 1986; Jan Hermelink: Bibliographie zur Predigtanalyse seit 1945, in: Die Predigtanalyse als Weg zur Predigt. Internationales Symposion »Predigtforschung« vom 8. bis 12. September 1986 im neuen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg, hg. v. Rudolf Bohren / KlausPeter Jörns, Tübingen 1989, S. 179–186. Über den Stand der Predigtforschung bis in die 1990er Jahre hinein informieren darüber hinaus die einschlägigen Lexikonartikel, hier insbesondere Albrecht Beutel: Art. Predigt II. Geschichte der Predigt, in: RGG4, Bd. 6 (2003), Sp. 1585–1591; Hans-Joachim Klimkeit et al.: Art. Predigt, in: TRE 27 (1997), S. 225–330; Albrecht Beutel / Heinz-Günther Schöttler / Albert Biesinger / Udo Sträter: Art. Predigt, in: HWRh 7 (2005), S. 45–96. Unter den homiletischen Lehrbüchern sticht besonders Müller: Homiletik, Berlin / New York 1996, durch eine längere Darstellung der Predigtgeschichte heraus: vgl. a.a.O., S. 7–170. Ihm ist auch der Band von Albrecht Beutel / Volker Drehsen (Hg.): Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte. Homiletische Analysen, Tübingen 1999, gewidmet. 9 Da die folgenden Beiträge dieses Bandes die neuere Literatur zur Predigtgeschichte im Zusammenhang ihrer jeweils behandelten Epoche aufnehmen, kann hier auf die einschlägigen Belege verzichtet werden. Es sei nur für die internationale Forschung auf die Reihe »A New History of the Sermon« (Leiden 1998ff.) verwiesen, die inzwischen sechs Bände hervorgebracht hat: Mary B. Cunningham / Pauline Allen (Hg.): Preacher and Audience. Studies in Early Christian and Byzantine Homiletics, Leiden 1998; Larissa Taylor (Hg.): Preachers and People in the Reformations and Early Modern Period, Leiden 2001; Carolyn A. Muessig (Hg.): Preacher and Audience. Studies in Early Christian and Byzantine Homiletics, Leiden 2002; Joris van Eijnatten (Hg.): Preaching, Sermon and Cultural Change in the Long Eighteenth Century, Leiden 2008; Robert Ellison (Hg.): A New History of the Sermon. The Nineteenth Century, Leiden 2010; Anthony Dupont / Shari Boodts / Gert Partoens / Johan Leemans (Hg.): Preaching in the Patristic Era. Sermons, Preachers, and Audiences in the Latin West, Leiden 2018. Vgl. ferner für die ausgedehnte britische Predigtforschung Peter McCullough / Hugh Adlington / Hugh Rhatigan / Emma Rhatigan (Hg.): The Oxford Handbook of the early modern sermon, Oxford 2011; aus der älteren Forschung James Downey: The Eighteenth Century Pulpit. A study of the sermons of Butler, Berkeley, Secker, Sterne, Whitefield and Wesley, Oxford 1969.
Historische Predigtforschung als interdisziplinäres Projekt
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Ansätze der jüngeren Predigtforschung zusammenzuführen und nach Möglichkeit miteinander ins Gespräch zu bringen.
2.
Zu Aufbau und Fragestellung
Fragt man nach den gemeinsamen Bezugspunkten, die die jüngeren Diskursstränge der Predigtforschung miteinander verbinden, so sind diese wohl vor allem in der grundlegenden Einsicht zu suchen, dass eine Predigt stets mehr ist als ein isolierter Text, mehr auch als eine rein innerreligiöse Sprachhandlung. Vielmehr ist sie stets verwoben in die größeren sozialen und kulturellen Zusammenhänge ihrer Zeit, denen sie auf je ihre Weise Ausdruck verleiht und auf die sie ihrerseits einzuwirken versucht. Als Chiffre hierfür steht der bewusst weit gefasste Begriff der ›Kulturgeschichte‹ im Untertitel dieses Bandes:10 In einer Predigt spricht sich nicht nur eine individuelle Predigtperson aus; in ihr kommen – sei es direkt oder indirekt – stets auch übergreifende Mentalitäten, Orientierungsmuster, mitunter auch handfeste politische Interessen zur Sprache. Eine Predigt bewegt sich unweigerlich in den Schnittfeldern von individueller Innerlichkeit und allgemeiner Öffentlichkeit, von Kirchen- und Laienfrömmigkeit, und nicht zuletzt von theologischen und kulturellen Bezügen. So wird sie potentiell zu einer Art Brennspiegel, in dem sich die kulturellen Großwetterlagen eines Zeitraums und die oftmals vielschichtige Rolle des Christentums darin verdichten und für die Forschung zugänglich werden. Betrachtet man die Predigt in dieser Weise, dann ergibt sich der interdisziplinäre und methodisch plurale Charakter der jüngeren Predigtforschung fast von selbst: Nicht nur können Geschichtswissenschaft und Philologie, Theologie und Religionswissenschaft, aber auch Soziologie, Psychologie, Politologie oder Rechtswissenschaft je eigene Beiträge und eigene Interessen an der Gattung der Predigt geltend machen. Zudem ist es die multiperspektivische Verschränkung der verschiedenen fachlichen und methodischen Zugänge selbst, die letztlich allererst dem konstitutiv mehrdimensionalen Phänomen der Predigt gerecht wird. Um das erschließende Potential einer solchen interdisziplinären Predigtforschung auch tatsächlich zum Austrag zu bringen, bedarf es gleichwohl – zu10 Vgl. aus der umfänglichen Debatte um Begriff und Programm der Kulturgeschichte nur Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte – Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 5 2006, sowie Lars Deile: Die Sozialgeschichte entlässt ihre Kinder – Ein Orientierungsversuch in der Debatte um Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 87 (2005), S. 1–25. Zu einer ›Kulturgeschichte des Politischen‹ Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005; zu einer Kulturgeschichte des Christentums Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 42006.
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mindest für ein Format wie den vorliegenden Band – einer thematischen, zeitlichen und räumlichen Zuspitzung, um in vergleichender Analyse Ähnlichkeiten und Unterschiede in der historischen Predigtpraxis herauszuarbeiten. In inhaltlicher Hinsicht ist es hier, wie schon der Titel zu erkennen gibt, die Frage nach dem Verhältnis von Predigt und Politik, die die verschiedenen Beiträge miteinander verbindet. Sie verdankt sich einerseits dem aktuellen, auch öffentlichen Interesse am größeren Themenfeld ›Religion und Politik‹, insbesondere hinsichtlich der Genealogie der gegenwärtigen religionspolitischen Konfliktlinien.11 Andererseits – und noch wichtiger – bietet sich der Bezug zum Politischen in herausgehobener Weise dafür an, den hier unterstellten Quellenwert der Predigt als ›Brennspiegel‹, oder anders gesagt: als historisch höchst aufschlussreiche kulturelle Praxis am Material zu erproben. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass die Begriffe, die zur Analyse verwendet werden, bisweilen selbst einer kritischen Revision zu unterziehen sind: Wer danach fragt, wie im Medium der Predigt Religion und Politik jeweils konfiguriert werden, steht zugleich vor der Frage, was eigentlich ›Religion‹ und ›Politik‹ zu einer bestimmten Zeit bedeuten, wie und ob sie sich voneinander unterscheiden lassen – und auch: was in diesem Zusammenhang überhaupt eine ›Predigt‹ ist. Vieles davon haben die einzelnen Beiträge minutiös herausgearbeitet. Manches allerdings steht auch gleichsam zwischen den Beiträgen und gewinnt seine Konturen erst in vergleichender Perspektive auf die rund eintausenddreihundert Jahre Predigtgeschichte, denen dieser Band gewidmet ist. Die Grundbegriffe dieses Bandes – Religion, Politik und Predigt – sind den Aufsätzen daher nicht als definitorisch festgelegter Kriterienkatalog vorangestellt, sondern als Fragestellung und Heuristik für die Untersuchung der Predigtgeschichte eines bestimmten Zeitraumes aufgegeben. In geographischer Hinsicht konzentrieren sich die folgenden Studien auf die verschiedenen deutschen Territorien bzw. deren historische Vorläufer. Schon allein innerhalb dieses ›einen‹ Sprach- bzw. Kulturraumes unterliegt das Verhältnis von Religion, Predigt und Politik derartig gravierenden Wandlungsprozessen, dass der Vergleich mit anderen kulturellen Räumen zwar reizvoll, aber innerhalb eines einzelnen Bandes kaum auf profilierte Weise zu bewältigen wäre. Der geographischen Konzentration korrespondiert dafür ein möglichst großer chronologischer Bogen: Er setzt ein mit der ersten großflächigen Predigttätigkeit im frühmittelalterlichen Karolingerreich und nimmt seinen Weg durch Mittelalter und Neuzeit hindurch bis in die Gegenwart. Im Unterschied zu manch 11 Vgl. aus den jüngsten Veröffentlichungen nur Doron Kiesel / Ronald Lutz (Hg.): Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Frankfurt a. M. 2015; Rochus Leonhardt: Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden 2017; Andreas Anter / Verena Frick (Hg.): Politik, Recht, Religion, Tübingen 2019.
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älteren Überblickswerken wird die Reformation dabei weniger als scharfe Zäsur, jedenfalls nicht als Anfangs- oder Endpunkt der Predigtgeschichte verstanden. Dass der Schwerpunkt der Analyse nach 1517, von wenigen Seitenblicken abgesehen, auf dem protestantischen Predigtwesen liegt, hat folglich einen rein pragmatischen, den Vergleich weiter fokussierenden Grund. Der genauere Blick auf die katholische Predigtpraxis muss, ebenso wie der internationale Vergleich, möglichen Folgestudien vorbehalten bleiben. Damit ist die zeitliche Einteilung der folgenden zwölf Kapitel bereits berührt: Sie orientiert sich jeweils an zentralen religionspolitischen Ereignissen, denen gemeinhin ein prägender Einfluss auf die weitere Entwicklung zugeschrieben wird. Angesichts der offenkundigen Relativität solcher historischen Einschnitte werden sie gleichsam als Orientierungsmarken und nicht als starre Zäsuren verstanden, welche nur die übergreifenden Kontinuitäten und die innere Vielgestaltigkeit der durch sie begrenzten Zeitabschnitte verdecken würden. Dass die Wahl eines solchen Abschnitts, der teilweise über zweihundert Jahre umfasst, auch die Beiträge selbst zur begründeten Auswahl nötigt, liegt ebenso auf der Hand, wie die Tatsache, dass die zum Teil höchst unterschiedliche Quellenlage sowie der Grad ihrer bisherigen Erschließung je eigenen Akzentsetzungen verlangt. Wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung und Anordnung ist allen Beiträgen gemeinsam, dass sie sich aus drei thematischen Elementen heraus aufbauen: Erstens aus einer Einführung in das Predigtwesen und die (religions-) politische Lage des jeweiligen Zeitraums; zweitens aus einer Analyse ausgewählter Predigtbeispiele; und drittens aus einer Reflexion auf die tragenden Begriffe und Konzepte aus der Perspektive des zugrundeliegenden Materials. Abgeschlossen werden die Kapitel jeweils durch umfassendere Quellen- und Literaturverzeichnisse, die kommenden Arbeiten zur interdisziplinären Predigtforschung den Zugang zum Feld erleichtern wollen. Im Ganzen versteht sich dieser Band daher nicht als Kompendium oder gar als Gesamtdarstellung, wohl aber als eine Art Zwischenbericht zur jüngeren historischen und empirischen Predigtforschung, und zwar anhand der exemplarischen Fokussierung auf die Wandlungsprozesse, die das komplexe Verhältnis von Predigt und Politik von der Zeit Karls des Großen bis zur Gegenwart genommen hat.
3.
Zur Übersicht über die Beiträge
Die Darstellung setzt ein um das Jahr 721, als der angelsächsische Missionar Wynfreth, besser bekannt unter dem Namen Bonifatius, seine Predigttätigkeit im heutigen Hessen, Thüringen und Bayern aufnimmt. Sie bedeutet den Auftakt für
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die groß angelegte Christianisierung im damaligen Karolingerreich. Dabei weist Maximilian Diesenberger zunächst darauf hin, dass die Predigt hier nicht allein aus missionarischen Gründen zum Zug kommt, sondern in gleicher Weise kirchenpolitischen Reorganisationszwecken dient. Auch ohne moderne Politikbegriffe auf das frühe Mittelalter zu applizieren, wird das enge Verhältnis von Predigt und Politik, von Predigern und Herrschern sowie die Verzahnung ihrer jeweiligen Interessen und Beweggründe anschaulich: Die Predigt wird im 8. und 9. Jahrhundert nicht zuletzt darauf verwendet, Normen und Ordnungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit zu etablieren und zu festigen. Dies zeigt sich am Beispiel der bonifatianischen Mission genauso, wie an den darauffolgenden Jahrzehnten karolingischer Königsherrschaft. Besonders einschlägig ist hier die so genannte ›Admonitio generalis‹, die ›Generalanweisung‹ Karls des Großen, in der er, obwohl weltlicher Herrscher, für sich in Anspruch nimmt, über die Predigt, ihre Inhalte und Zielsetzungen zu verfügen. Auch wenn diese Predigt auf den ersten Blick nur auf die Etablierung moralischer Standards abzielt, dient sie damit doch zumindest indirekt auch als Grundlage für die Durchsetzung des herrscherlichen Willens und die Stabilisierung seines Königtums. In deutlichem Kontrast zu den Verhältnissen der Karolingerzeit steht in vielerlei Hinsicht die unmittelbar darauffolgende Epoche. Das Jahr 911 markiert mit seinem Dynastiewechsel endgültig das Ende karolingischer Herrschaft im ostfränkischen Reich. Zwar sucht Konrad I. noch, in seiner nur siebenjährigen Regierungszeit die Herrschaftspraxis der Karolinger fortzuführen, doch ändern sich in den folgenden knapp dreihundert Jahren ottonischer, salischer und staufischer Herrschaft die Spielregeln der Politik grundlegend. Christoph Galle zeigt in diesem Zusammenhang, dass die zunehmende Vereinnahmung der Kirche durch das Königtum, die sich u. a. in der königlichen Einsetzung von Äbten und Bischöfen sowie in dem von der älteren Forschung als ›Reichskirchentum‹ bezeichneten System manifestiert, die früheren Formate einer ›politischen Predigt‹ nahezu zum Erliegen bringt. Andere Kanäle zur Proklamation und Durchsetzung des herrscherlichen Willens gewinnen an Bedeutung und das Predigtwesen, dessen Förderung nunmehr in die Hände der Bischöfe übergeht, handelt fast ausschließlich von Anleitungen zur Orthopraxie. Allerdings sind, auf Grund der allgemeinen Armut an Quellen, die in noch einmal besonderem Maße auch die Predigten des Zeitraums betrifft, verallgemeinernde Rückschlüsse auf das Verhältnis von Predigt und Politik nur mit einiger Vorsicht möglich. So können etwa die Inhalte bischöflicher Predigten zumeist nur aufgrund von Informationen aus Chroniken oder anderen Überlieferungen ansatzweise rekonstruiert werden; Vieles aber muss im Dunkeln bleiben. Dennoch existieren mit den Werken des Honorius Augustodunensis und Werners von Sankt Blasien zwei umfangreichere Predigtsammlungen, die immerhin exemplarische Einblicke in die zeitgenössische Predigtpraxis geben können.
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Um ein Vielfaches günstiger stellt sich indes die Quellenlage für den Zeitraum von gut hundert Jahren dar, den Regina D. Schiewer in den Blick nimmt. Eingerahmt wird er vom Ende des so genannten deutschen Kreuzzugs 1198 und der Erlassung der Bulle ›Unam sanctam‹ im Jahr 1302, durch die Bonifaz VIII. den Anspruch auf päpstliche Universalherrschaft erhebt. Angesichts der großen Zahl an Predigten, die aus dieser Zeit auf uns gekommen sind, kann man hier durchaus von der Predigt als dem ›Massenmedium des Mittelalters‹ sprechen. Zudem lässt sich nun auch wieder eine nicht unerhebliche Nähe zwischen Predigtwesen und Politik beobachten, auch ohne, dass sich die Prediger jeweils auf gleichsam tagesaktuelle Geschehnisse beziehen müssten. Ihre Einbindung in den Raum des Politischen ist vielmehr schon dort zu erkennen, wo die Mitglieder der zu dieser Zeit entstehenden Bettelorden bedeutende Machtpositionen einnehmen, sich in den Dienst der Ketzerverfolgung stellen oder die Befreiung des Heiligen Landes predigen. Überdies sind es die Franziskaner, die nicht nur die Seelsorge des Herrschers als ihre Aufgabe ansehen, sondern auch für die ›Schwarzwälder Predigten‹ verantwortlich zeichnen, die das beliebteste mittelalterliche Predigtbuch darstellen und zugleich Ausdruck der Ratgeberfunktion sind, welche die Franziskaner für die bayerischen Wittelsbacher einnehmen. Der päpstliche Universalanspruch zeitigt in den folgenden Jahrzehnten bis zum Konstanzer Konzil zahlreiche Konflikte zwischen der Kirche und Frankreich bzw. dem Reich. Dass sich die Vielzahl bedeutsamer (kirchen-)politischer Ereignisse des langen 14. Jahrhunderts nicht nur in Akten und Chroniken, sondern genauso in zeitgenössischen Predigten niederschlägt, verdeutlicht Georg Strack am Beispiel zweier Konsistorialpredigten, denn das Konsistorium, die Versammlung von Päpsten und Kardinälen, ist zu dieser Zeit der Ort der politischen Predigt. Für die Entwicklung des Reichs und seines Verhältnisses zur Kurie sind die ausgewählten Predigten von besonderer Bedeutung, denn Bonifaz VIII. hält die eine zur Approbation des römisch-deutschen Königs und Clemens VI. thematisiert in der anderen explizit das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht. Beide Beispiele feiern auf den ersten Blick das Einvernehmen von Papst und König, geben aber bei genauerer Betrachtung die unüberbrückbaren Differenzen beider Gewalten zu erkennen. Ganz im Geiste des spätmittelalterlichen Konziliarismus und des zeitgenössischen Rufs nach Reform präsentieren sich sodann die Predigten in den Jahrzehnten bis 1517. Markus Wriedt konzentriert seine Darstellung auf vier Prediger, die in jeweils verschiedenen Kontexten die spezifische Verbindung von Predigt und Politik anschaulich machen: Der Augustinereremit Johannes Zachariae tritt während seiner Teilnahme am Konstanzer Konzil für die Einheit der Kirche ein und geißelt zugleich den Lebenswandel vieler Konzilsteilnehmer. Johannes von Dorsten, wie Zachariae Augustinereremit und seines Zeichens Regens des Erfurter Ordensstudiums, kämpft in einer Weise gegen die Miss-
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stände in Kirche und Gesellschaft, die eine feinsäuberliche Unterscheidung von ›sakralen‹ und ›säkularen‹ Motiven kaum zulässt. Die beiden anderen Predigten von Johann Geiler von Kaysersberg und Johann Staupitz behandeln primär innerreligiöse Fragen, greifen aber zumindest zu deren Illustration auch immer wieder auf politische Beispiele zurück. So zeigt sich in vergleichender Betrachtung, dass die Kritik und Reform der herrschenden Zustände in Kirche und Gesellschaft ein wesentliches Zentrum der (politischen) Predigten des 15. Jahrhunderts bildet. Während schon die Predigten des Spätmittelalters im Verlauf ihrer Verschriftlichung einer erheblichen Redaktionsarbeit ausgesetzt sind, so gilt dies noch mehr für die Zeit nach 1517, in der sich die Predigt als eng verknüpft mit der Medienrevolution des Buchdrucks erweist. Die Predigten, auf die sich Michael Basse bis zum Ausgang des Dreißigjährigen Krieges stützen kann, sind meist entweder direkt für ein Lesepublikum verfasst oder auf der Grundlage mündlich gehaltener Predigten für den Druck überarbeitet worden. Nach- oder gar Mitschriften tatsächlich gehaltener Predigten sind demgegenüber deutlich seltener, gerade für Martin Luther liegen jedoch auch sie in größerer Zahl vor. Neben dem Wittenberger Reformator kommen allerdings noch weitere Protagonisten des zeitgenössischen Predigtwesens zur Sprache: als Repräsentant des lutherischen Lagers etwa der Hofprediger und Pfarrer Philipp Nicolai sowie auch katholische Prediger, namentlich die eher auf Vermittlung bedachten Johann Wild und Georg Witzel, zudem der Kontroverstheologe und entschiedene Luthergegner Johannes Eck. Insgesamt profiliert Basse die Predigt als besondere Form symbolischer Kommunikation, die eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Politik bzw. das weltliche Regiment entfaltet. Nicht nur Leichen-, Huldigungsund Regentenpredigten erweisen sich dabei als politisch aufgeladen, sondern ebenso die zahlreichen Predigten, die direkt oder indirekt zur Legitimation der Ständeordnung beitragen. Überdies lassen sich nicht wenige Belege anführen, nach denen ein Landesherr sich aufgrund von Predigten zum Eingreifen veranlasst sieht. In vielerlei Hinsicht stellt sich die darauffolgende Epoche der Aufklärungszeit als ein Wendepunkt in der Geschichte der politischen Predigt dar. Christian V. Witt greift daher in seinem Beitrag nicht direkt auf den – mittlerweile an wichtigen Protagonisten auch detailreich erforschten – Wandel der Predigtpraxis zurück, sondern analysiert vielmehr deren Niederschlag in den prominenten Lehr- und Programmschriften von Johann Christoph Gottsched, Johann Lorenz von Mosheim und Johann Joachim Spalding, die ihrerseits auch als drei der wirkmächtigsten Prediger ihrer Zeit gelten können. In Auseinandersetzung mit Reinhart Kosellecks These vom epochemachenden Wechselverhältnis von ›Kritik und Krise‹ zeichnet Witt die einschneidende Transformation einer Predigtkultur nach, die sich nicht länger an bloße Untertanen, sondern an mündige Bürger
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richten und sich dafür nicht auf die Autorität göttlicher Setzungen, sondern auf die Überzeugungskraft vernünftiger Argumente stützen will. Indem sie Staat und Religion im Ziel vernunftgeleiteter Moralität konvergieren sieht, weist diese neue Form politischer Predigt zunächst eine durchaus ordnungsstabilisierende Wirkung auf. Indem sie dabei aber zugleich Kritik und Mündigkeit zum leitenden Prinzip erhebt, trägt sie in sich bereits den Keim zu einer ihrerseits neuerlichen Form herrschafts- und kirchenkritischer Praxis. Mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher rückt Martin Ohst nicht nur den wohl einflussreichsten protestantischen Prediger in den Jahrzehnten zwischen den Revolutionen in Frankreich und Deutschland ins Zentrum seiner Beobachtung, sondern zugleich ein anschauliches Beispiel für die Folgewirkungen jenes fundamentalen Wandels der politischen Predigt im Zeichen der Aufklärung. Schleiermacher lebt und wirkt in einer Zeit, in der nach dem Zerfall der alteuropäischen Ordnungen nunmehr verschiedene politische Ideen und Strömungen miteinander konkurrieren. Er beruft sich in seinen Predigten denn auch nicht auf einen gleichsam mit göttlicher Beglaubigung ausgestatteten, biblischen und kirchlichen Standpunkt, sondern zielt, zumeist in den Bahnen der Kantischen Philosophie, auf eine religiös grundierte Stärkung eines solchen politischen Gemeinwesens ab, das die Einzelnen nicht mehr als Knechte oder Untertanen, sondern als Bürger gleichen Rechts behandelt und das daher den Richtungsstreit politischer Meinungen nicht als sein Gegenstück, sondern als wesentliches Medium des Politischen würdigt. In einem solchen Gemeinwesen muss sich jeder Anspruch auf politische Geltung an den Kriterien von vernünftiger und moralischer Einsicht messen lassen. Der Religion kommt darin für Schleiermacher vornehmlich die Bedeutung zu, die gleichsam ›vorpolitischen‹ sittlichen Kräfte zu stärken, die jenen Richtungsstreit allererst ermöglichen und ihn in konstruktive Bahnen lenken. In der Folgezeit zwischen der Revolution von 1848 und dem ersten Weltkrieg, treten die politischen Lager gleichwohl in nochmals verschärfter und konfligierender Weise auseinander. Schon von daher wird die Predigt in ihre Stellung als ein zentrales öffentliches Kommunikationsmedium zunehmend relativiert. Wie Ruth Conrad am Beispiel von Predigtsammlungen aus den Jahren 1892/93 darlegt, trägt dazu auch die mangelnde Fähigkeit vieler Pfarrer bei, überzeugende Antworten auf die ›soziale Frage‹ zu geben. Da sie selbst einer anderen sozialen Klasse angehören und ihnen die Nöte der Arbeiter oft fremd bleiben, wird die Kirche von Vielen als Institution der Besitzenden und Gebildeten wahrgenommen. Auch dort, wo sich Predigten direkt an die Arbeiterschaft richten, bleiben sie in der vielstimmigen Öffentlichkeit häufig ohne allzu große Wirkung. Zugleich pluralisiert sich in dieser Zeit ber auch die politische Predigt selbst: Je nach Zielgruppe, Anlass, Ort oder Prediger können Tonalität und Positionalität höchst unterschiedlich ausfallen. Dies gilt mitnichten nur für die Predigten zur ›sozialen
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Frage‹, sondern gleichermaßen auch für diejenigen zur ›nationalen Frage‹, wie die Kriegspredigten des Jahres 1870 oder eine Predigt Otto Baumgartens im Vorfeld des kaiserlichen Geburtstages 1902 zeigen. Wie sehr sich die Positionierung zu politischen Ereignissen und Entwicklungen bereits im Falle ein und desselben Predigers wandeln kann, veranschaulicht Rolf Schieder am Beispiel von Otto Dibelius. Er zeichnet damit zugleich ein eindrückliches Bild der wechselnden Mentalitäten und Stimmungslagen vom ersten Weltkrieg über die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus bis in die unmittelbare Nachkriegszeit hinein. Ist Dibelius zu Beginn des ersten Weltkrieges noch ganz von der allgemeinen Kriegsbegeisterung der Zeit ergriffen, erscheint ihm fünf Jahre später der Versailler Vertrag als ›schmachvolles Werk des Satans und als stärkendes Gericht Gottes‹. 1933 predigt er anlässlich der Eröffnung des neuen Reichstages in Potsdam über die Formel »ein Reich, ein Volk, ein Gott«, um zwei Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation allem völkischen Kollektivdenken im Namen des Christentums abzuschwören: »Gott will den Einzelnen!« In der Konzentration auf die Wandlungen ein und desselben Predigtwerkes unterstreicht der Beitrag noch einmal nachdrücklich den historischen und theologischen Wert der Quellengattung Predigt, insofern sie sich auch und gerade am konkreten Einzelfall als Faktor und Ausdruck der allgemeineren Strömungen der Zeit lesen lässt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden die Kirchen in erheblichem Maße in den Prozess des Wiederaufbaus und der politischen Meinungsbildung mit einbezogen. Lucian Hölscher verfolgt das Verhältnis von Predigt und Politik in dieser Zeit zunächst an der homiletischen Literatur, um dann zwei signifikante Beispiele der zeitgenössischen Predigtpraxis herauszugreifen. Helmut Thielickes Predigt über die deutsche Schuld aus dem Jahr 1946 rückt die gegenwärtigen politischen und sozialen Verhältnisse in das Licht von Buße und Vergebung, durch die dem Sünder allererst eine neue Zukunftsperspektive eröffnet werde. Der Hannoveraner Landesbischof Hans Lilje predigt dagegen 1961 vor dem Deutschen Bundestag und präsentiert den Abgeordneten im Angesicht des kurz zuvor begonnenen Mauerbaus keinen unmittelbaren Lösungsvorschlag mehr, sondern appelliert in Anlehnung an Ex 33,12–15 an die Zuversicht, die es brauche, um in einer unübersichtlichen Krise überhaupt zu sachgerechten Entscheidungen zu gelangen. Hier deutet sich eine Form politischer Predigt an, die weniger darauf abzielt, konkrete politische Probleme zu lösen, als vielmehr die konstitutiven Problemstellen offenzuhalten, die dem Politischen selbst innewohnen, aber dort nur allzu oft überdeckt werden. Gegenwärtig erfahren die Predigten der beiden christlichen Kirchen vor allem dann ein größeres öffentliches Gehör, wenn zu größeren Ereignissen oder aber an hohen kirchlichen Feiertagen stattfinden – besonders in der Weihnachtszeit. Ausgehend von den feuilletonistischen Debatten, die sich alljährlich an den je
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nach Sichtweise zu politischen oder zu unpolitischen Weihnachtspredigt entzünden, geht Tobias Braune-Krickau der Frage nach, wie politisch die gegenwärtige Predigt tatsächlich ist und welche argumentativen Muster dabei gegebenenfalls zur Anwendung kommen. Auf Basis einer vergleichenden Analyse von über dreißig Predigten, die seit 2001 anlässlich des Weihnachtsfests sowie am 7. Sonntag nach Trinitatis gehalten worden sind, zeigt sich, dass knapp die Hälfte aller Predigten zumindest deutliche politische Bezüge aufweisen, wobei der Anteil des Politischen an Weihnachten spürbar zunimmt. Auch wenn die Aussagekraft der gewählten Stichprobe angesichts der unübersehbaren Fülle tatsächlich gehaltener und prinzipiell zugänglicher Predigten der letzten zwanzig Jahre begrenzt ist, könnte es für künftige Forschungen insbesondere von Interesse sein, nach Generationeneffekten zu fragen: Schließlich zählen viele der politisch Predigenden zur Generation derer, die in den 1970er und 80er Jahren ihr Studium vermutlich auch unter dem Eindruck einer insgesamt stärker politisierten Theologie absolviert haben. In ihren Predigten lassen sich vielfach die (popularisierten) Motive der großen eschatologischen oder befreiungstheologischen Entwürfe jener Zeit wiedererkennen. Im Rückblick auf das Ganze dieses Bandes ist es vor allem das Wechselspiel von konkretem Predigtmaterial und übergreifenden Deutungskategorien, das den Reiz und den Erkenntnisgewinn der historischen und empirischen Predigtforschung ausmacht. Die sich wandelnden Konfigurationen im Verhältnis von Religion, Politik und Predigt, die dabei zu Tage treten, sind mit den vorliegenden Beiträgen keineswegs erschöpft. Auch da, wo sie Bilanzen ziehen und die Erträge der bisherigen Forschung resümieren, wollen sie die Fortschreibung des Projekts einer interdisziplinären Predigtforschung anregen.
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Tobias Braune-Krickau / Christoph Galle
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Maximilian Diesenberger
721–911: Karolingerzeitliche Predigt. Von der Mission des Bonifatius bis zum Aufstieg der Ottonen
Eine Verbindung von Predigt und Politik war schon in der Spätantike gegeben. Zum einen vermittelte die frühchristliche Predigt ein Menschenbild, das in der sozialen Umgebung der Christen Aufmerksamkeit erregte und oft zu politischen Maßnahmen führte. Zum anderen formierten sich die christlichen Gruppen selbst im politischen Feld, indem sie selbstbewusst eigene religiöse und moralische Werte vertraten. Augustinus spricht um 410 von den Kirchen als »heilige Hörsäle«, in denen die Sitten (mores) gelehrt und gelernt werden.1 Damit versuchte er eine von seinen Zeitgenossen befürchtete Kluft zwischen den traditionellen Sitten eines römischen Bürgers, wie sie in Ciceros Schriften formuliert wurden, und den christlichen Werten seiner Zeit zu schließen. Entschieden wandte er sich gegen Befürchtungen, dass die christliche Predigt nicht mit den Rechten und Pflichten eines römischen Bürgers konform sei, und er führt sogar den Beweis, dass die durch die Predigt gestiftete concordia (Eintracht) weitaus stabiler und beständiger sei, als sie es zu den Zeiten war, als Rom die heidnischen Götter verehrte. Deutlicher konnte die Verbindung zwischen christlicher Predigt und Belange der res publica nicht artikuliert werden. In den folgenden Jahrhunderten wird der Status der Predigt für die Politik nicht mehr so deutlich formuliert werden wie vom Kirchenvater. Trotzdem blieb die Predigt im Feld des Politischen, wenngleich lange Zeit nicht mehr in dem imperialen Rahmen wie um 410. Es gibt viele Theorien über die Politik aus den Politikwissenschaften, der Soziologie oder auch aus der Geschichtswissenschaft. Keine lässt sich ohne weiteres auf das frühmittelalterliche Europa übertragen, sind doch die Parameter zwischen der fernen Vergangenheit und dem neuzeitlichen Europa gänzlich anders. Allein der Nutzen und das Verständnis von »Staat« und »Staatlichkeit«, Begriffe, die in modernen politischen Definitionen oft grundlegend sind, werden
1 Augustinus, Epistula 91, 3 (CSEL 34, 2), hg. V. Alois Goldbacher, Wien 1898, S. 429.
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Maximilian Diesenberger
für das Frühmittelalter von der Forschung kontrovers diskutiert.2 Es finden sich aber trotz aller Bedenken, den Politikbegriff für das Frühmittelalter anzuwenden, durchaus Elemente des Politischen im Zusammenhang mit der frühmittelalterlichen Predigt.3 Jüngst haben sich Stefan Esders und Gunnar Folke Schuppert mit der Tauglichkeit des governance-Konzepts für die Frühmittelalterforschung vielversprechend auseinandergesetzt,4 sodass es lohnend erscheint, es anhand der Thematik von »Predigt und Politik« zumindest anzudenken. Das Wirken des Bonifatius am Kontinent lässt sich beispielhaft mit dem begrifflichen Instrumentarium der governance-Forschung umschreiben. Seine Entsendung in die Germania durch Papst Gregor II. Anfang Dezember 722 mit Begleitbriefen für die ansässigen Könige und Fürsten entspricht dem klassischen governance-Modus obrigkeitlichen Regierens: der Hierarchie. Mit päpstlichem Legat und mit der Bewilligung der ansässigen Fürsten etablierte oder festigte der Angelsachse religiöse Normen und Normordnungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit, um seine Tätigkeit im Jargon der governance-Forschung zu umschreiben. Denn keineswegs sollte der Angelsachse nur Heiden missionieren, vielmehr sollte er sich jenen widmen, die »vom Pfade des rechten Glaubens abgewichen« oder »unter Einwirkung der teuflischen List irrend« waren.5 Was im päpstlichen Sendschreiben zunächst nach lokalen Abweichlern und nach Häretikern klingt, waren aber oft nur notwendige Anpassungsprozesse an lokale Regelungsstrukturen, die aber von Bonifatius nach Rom als Normkonflikte gemeldet wurden. So klagte der Angelsachse wahrscheinlich zu Unrecht, jedenfalls aber maßlos übertreibend, über das häretische Gebaren der beiden Bischöfe Aldebert und Clemens in Neustrien und konnte so ihre Absetzung erzwingen.6 Die beiden Bischöfe waren aber nur die Spitze des Widerstandes gegen das Regime des Bonifatius, dies und jenseits des Rheins, vor allem in Bayern. Dieser Widerstand richtete sich nicht nur gegen den Angelsachsen allein, sondern auch gegen das Netzwerk von Klöstern und Bistümern, das er errichtet und mit Personen seines Umfelds besetzt hatte. Nach der governance-Forschung entspräche dies am ehesten einem »transnationalen Politiknetzwerk«, freilich mit der Ein2 Zur Diskussion vgl. Walter Pohl / Helmut Reimitz / Stuart Airlie (Hg.): Staat im frühen Mittelalter (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006; Walter Pohl / Veronika Wieser (Hg.): Der frühmittelalterliche Staat europäische Perspektiven (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009. 3 Zu weiterführender Literatur zur Predigt im Früh- und Hochmittelalter vgl. auch den folgenden Beitrag von Christoph Galle. 4 Stefan Esders und Gunnar Folke Schuppert: Mittelalterliches Regieren in der Moderne oder Modernes Regieren im Mittelalter? (Schriften zur Governance-Forschung 7), BadenBaden 2015. 5 Bonifatiusbriefe 17, (MGH Epistolae selectae 1: Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus), hg. v. Michael Tangl, Berlin 1916, S. 30. 6 Bonifatiusbriefe 59, S. 108–120.
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schränkung, dass wir im 8. Jahrhundert noch weit von Nationalstaaten entfernt sind. Dieses Netzwerk umfasste Missionare, Mönche, und Bischöfe bei den Friesen, Thüringern bis zu den Bayern, hatte also auf alle Fälle eine überregionale Dimension.7 Auf Dauer konnte dieser Verbund aber nicht bestehen, zu groß waren z. B. die politischen Spannungen zwischen den Franken und den Bayern, denen sich auch Bonifatius nicht entziehen konnte. Durch seine Zuwendung zu den fränkischen Hausmeiern, vor allem 742 zu Karl Martell, lösten sich die bayerischen Diözesen aus diesem Netzwerk.8 Letztlich hat der Versuch einer einheitlichen Normierung in den unterschiedlichen Regionen nicht funktioniert: zu unterschiedlich waren die lokalen Bedingungen. Selbst die Hausmeier mussten politisch Rücksicht nehmen auf manche von Bonifatius angegriffenen »schlechten« aber mächtigen Bischöfe; zu unsensibel war auch seine Durchsetzung globaler Normordnungen in den Randgebieten. Zudem war das Unternehmen allein auf Basis einer päpstlichen Legitimation dauerhaft nicht ausreichend gesichert. Die Reorganisation der Kirchen war immer auch mit den vorherrschenden politischen Normordnungen verbunden und so der Gefahr der politischen Einflussnahme oder des politischen Widerstands ausgesetzt. Die Legitimität seines Wirkens wurde damit von seinen Gegnern stetig infrage gestellt. Die Berechtigung über eine vom Papst zugewiesene Region in Glaubenssachen zu verfügen, erfolgte aber über die Erlaubnis zu predigen. Bei seinem ersten Missionsauftrag nach Thüringen im Jahr 719 sollte Bonifatius seine »Gnade der Kenntnis des göttlichen Wortes in unablässiger Bemühung auf das Werk heilbringender Predigt verwenden, um ungläubigen Völkern das Geheimnis des Glaubens bekannt zu machen«.9 Ähnlich klingt es im Begleitschreiben an Karl Martell von 722, dem Gregor II. mitteilt, dass Bonifatius in den Gebieten östlich des Rheins abgesandt sei ad predicandum plebibus Germaniae gentis (»den Leuten des Volkes Germaniens zu predigen«).10 Obwohl das zunächst nur nach Mission klingt, waren damit aber durchaus Reorganisationsaufgaben gemeint. 7 Lutz von Padberg: Mission und Christianisierung. Formen und Folgen bei Angelsachsen und Franken im 7. und 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 75–80. Siehe künftig James T. Palmer: Boniface’s networks and missionary circles, in: A Companion to St Boniface (Brill’s Companion to the Christian Tradition), hg. v. Michel Aaij und Sharon Godlove, Leiden / Boston 2018. 8 Siehe Stephan Freund: Von den Agilolfingern zu den Karolingern. Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und Karolingischer Reform (700–847) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 144), München 2004, S. 43–76. 9 Bonifatiusbriefe 12 (Gregor II.), S. 17: Experientes proinde te ab infantia sacras litteras didicisse profectusque indolem ad augmentum crediti caelitus talenti prospectu divini amoris extendere, videlicet gratiam cognitionis caelestis oraculi in laborem salutifere˛ praedicationis ad innotescendum gentibus incredulis mysterium fidei instanti conatu expendere: conlaetamur fidei tuae et adiutores effici cupimus gratiae praerogate˛. 10 Bonifatiusbriefe 20 (Papst Gregor II an Karl Martell), S. 34.
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744 erteilt ihm Papst Zacharias die Erlaubnis nicht nur in Bayern, sondern auch in der ganzen Provinz der Gallier zu predigen.11 Die praedicatio (»Predigt«) drückte damit nicht nur das Legat über ganze Kirchenprovinzen aus, sie selbst war ein wichtiger Indikator, um normgerechtes Handeln zu erkennen bzw. regelwidriges Verhalten zu thematisieren. Im Jahr 748 verurteilte Bonifatius in einem Brief an Papst Zacharias leidenschaftlich gotteslästerliche Priester im Frankenreich und bezeichnete sie als »Betrüger, Landstreicher, Ehebrecher, Mörder, Lüstlinge, Knabenschänder, Heuchler und Teufelsknechte, die weder den Heiden den katholischen Glauben predigen, noch selbst den rechten Glauben haben.«12 An dieser Stelle erkennt man, wie sehr Bonifatius in seinen Klagschriften sowohl kirchliche als auch weltliche Normen berührte. Der Vorwurf von normwidrigen Predigten war schließlich auch das entscheidende Kriterium, um unliebsame Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. 744 gerieten die Bischöfe Aldebert und Clemens ins Fadenkreuz des Angelsachsen. Alle, die den gotteslästerlichen Predigten (praedicationes) des Clemens zustimmten, sollten »mit den Fesseln des Bannes gebunden werden«, forderte Bonifatius ein Jahr später vom Papst.13 Nicht nur der Prediger selbst, sondern auch jene, die den Predigten beiwohnten und ihr zustimmten, sollten bestraft werden. Diese Forderung verdeutlicht, welche enorme Bedeutung der Predigt als Multiplikator der richtigen bzw. falscher Lehren zugeschrieben wurde. Über die Predigten des Bonifatius ist wenig bekannt und wenn, dann betreffen die Mitteilungen eher seine Tätigkeit als Missionar und nicht als Reformer.14 Die ihm zugeschriebenen Predigttexte stammen vom Beginn des 9. Jahrhunderts. Doch zeigt sich etwa in dem sog. Burchard-Homiliar eine Sammlung, wie sie im Zuge der angelsäschsischen Mission Verwendung gefunden haben dürfte.15 In der bald nach seinem Tod verfassten Lebensbeschreibung des Bonifatius jedoch wurde die Predigt des Angelsachsen als höchst wirksam und als das Maß aller 11 Bonifatiusbriefe 58, S. 108: Et non solum Baioariam, sed etiam omnem Galliarum provinciam, donec te divina iusserit superesse maiestas, nostra vice per predicationem tibi iniunctam, que˛ reppereris contra christianam relegionem vel canonum instituta, spiritaliter stude ad normam rectitudinis reformare. 12 Bonifatiusbriefe 80, S. 172–180, bes. 175. 13 Nicole Zeddies: Bonifatius und zwei nützliche Rebellen: die Häretiker Aldebert und Clemens, in: Ordnung und Aufruhr im Mittelalter. Historische und juristische Studien zur Rebellion (Ius Commune Sonderheft 70), hg. v. Marie Theres Fögen, Frankfurt am Main 1995, S. 217–263. 14 Zur Missionspredigt allgemein vgl. Lutz von Padberg: Die Inszenierung religiöser Konfrontationen. Theorie und Praxis der Missionspredigt im frühen Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 51), Stuttgart 2003. 15 Siehe dazu: Yitzhak Hen: The content and aims of the so-called Homiliary of Burchard of Würzburg, in: Sermo doctorum. Compilers, Preachers, and their Audiences in the Early Medieval West, hg. v. Maximilian Diesenberger, Yitzhak Hen und Marianne Pollheimer, Turnhout 2013, S. 127–152.
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Dinge beschrieben. So erzählt Willibald, der Autor der Vita Bonifatii, von einer Predigtreise des Angelsachsen nach Bayern zu Lebzeiten des Herzogs Hucbert, wo er einen sonst nirgends bezeugten scismaticus mit Namen Eremwulf angetroffen haben soll, den er verdammte und das Volk von dessen Irrlehre befreite.16 Bei einer weiteren Reise nach Bayern blieb er wieder viele Tage und predigte und verkündete das Wort Gottes – praedicans et evangelizans verbum Dei.17 Er musste erneut die Ordnung wiederherstellen, indem er die »Zerstörer der Kirchen« und »Verderber des Volkes« vertrieb und die bayerische Kirche 739 in vier Diözesen organisierte. Ohne Namen zu erwähnen, berichtet Willibald von einigen, die sich fälschlich das Bischofsamt angemaßt oder das Priestertum selbst angeeignet hatten und das Volk verführten (seducere). Motive und Terminologie erinnern an die Vorwürfe gegen Aldebert und Clemens.18 Diese und ähnliche Darstellungen über die Predigtleistungen des Bonifatius wurden nicht ohne Widerspruch von den Zeitgenossen wahrgenommen. Vor allem die Bayern, deren Kirche vom Angelsachsen einst heftig kritisiert und nach seinen Maßstäben reorganisiert worden war, entwickelten Gegenbilder zum Wirken des Bonifatius, die vor allem auf dem Motiv des Predigens gründeten. So sei der Heilige Corbinian von Freising ebenfalls vom Papst in Rom empfangen worden und habe dort die Lizenz erlangt, per universum orbem (»dem ganzen Erdball«) zu predigen, berichtet die Vita Corbiniani um 770, als eine Reaktion auf Willibalds Lebensbeschreibung.19 Dem Bonifatius war einst ja nur die Germania zugewiesen worden. Die Predigten des Corbinian hätten sogar den maior domus (»Hausmeier«) Pippin dazu bewegt, ihm einen mit Goldfäden durchwirkten Mantel, »den er nach dem Brauch der Alten auf dem Märzfeld zu tragen pflegte«, als Geschenk zu senden, erzählt die bayerische Vita weiter.20 Die Konkurrenz zwischen der Vita Bonifatii und den Lebensbeschreibungen bayerischer Heiliger, die hier nur kurz angerissen werden kann, hatte durchaus politisches Gewicht, steckten diese Texte doch Einflusszonen geistlicher und weltlicher Eliten ab und 16 Willibald von Mainz, Vita Bonifatii 6 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 4b), hg. und übers. v. Reinhold Rau, Darmstadt 31994, S. 450–525, hier 500f. 17 Willibald von Mainz, Vita Bonifatii 7, S. 502f. 18 Ebd. Zur Darstellung des Bonifatius als Prediger vgl. Christoph Galle: Bonifatius als Prediger. Zum Wandel des Predigtamtes und zur Entwicklung eines Predigerideals anhand hagiographischer Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 97 (2015), S. 5–45. 19 Arbeo von Freising, Vita Corbiniani episcopi Baiuvariorum 9, hg. u. übers. v. Franz Brunhölzl, Bischof Arbeo von Freising. Das Leben des Heiligen Corbinian, in: Vita Corbiniani. Bischof Arbeo von Freising und die Lebensgeschichte des hl. Korbinian, hg. v. Hubert Glaser, Franz Brunhölzl und Sigmund Benker, München / Zürich 1983, S. 77–159, hier 100. Vgl. Ian N. Wood: The Missionary Life. Saints and the Evangelisation of Europe, 400– 1050, Harlow 2001, S. 158. 20 Arbeo von Freising, Vita Corbiniani 5, S. 94f.
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mündeten schließlich in der Konfrontation Karls des Großen mit seinem bayerischen Vetter Tassilo.21 Am Siedepunkt dieser Auseinandersetzung, im Jahr 787, als sich fränkische und bayerische Truppen zum Kampf gegenüberstanden und ein Sieg des Königs als sicher galt, versuchte sich das junge Bistum Eichstätt sogar aus dem bayerischen Diözesanverband heraus zu stehlen. Die Nonne Hugeburc von Heidenheim, deren Familie aus dem Umkreis von Bonifatiusschülern stammte, fügte in diesen spannungsgeladenen Tagen zur Vita Wilibalds von Eichstätt einen Absatz hinzu, in dem sie behauptete, die vasta provincia (»öde Provinz«) Bayern sei allein durch die spirituelle Bepflanzung Willibalds in vitrei campi (»grüne Felder«) verwandelt worden.22 Die Predigten des heiligen Willibald hätten die Bayern erst christianisiert, so das Argument, und deshalb sei die Kirche von Heidenheim an der Spitze der bayerischen Kirche zu setzen oder müsse von dieser losgelöst werden. Heiligenleben blieben auch in den folgenden Jahrzehnten ein wichtiges Instrument, um Ansprüche eines Klosters oder einer Kirchenprovinz zu artikulieren bzw. um politische Programme zu formulieren. Als Alkuin von York das jahrzehntelange Desaster der Mission bei den Sachsen beobachtete, entwarf er in den 790er Jahren mit der Vita Willibrordi ein alternatives Modell für die Mission der Awaren, in dem die unterweisende Predigt und nicht Zwangstaufen wie bei den Sachsen im Vordergrund stand.23 Trotzdem blieb die Mission ein drängendes und nicht zufriedenstellendes Problem der Karolingerzeit.24 Für Karl den Großen aber formulierte er 789 die Admonitio generalis, die wie kein Kapitular davor die Predigt in den Vordergrund fränkischer Politik stellte und religiöse und politische Normordnungen anglich. In diesem Text wurde vorgegeben, dass Bischöfe und Priester regelmäßig predigen mussten. Zudem äußerte sich der Gesetzgeber an mehreren Stellen, was die Predigt alles inhaltlich umfassen sollte. Die Predigtaufforderung betraf zunächst die Vermittlung des
21 Maximilian Diesenberger: Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern. Arn von Salzburg, Karl der Große und die Salzburger Sermones-Sammlung (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 58), Berlin 2015, S. 206–213. 22 Hugeburc von Heidenheim, Vita Willibaldi 106, 15–20 (Quellen zur Geschichte der Diözese Eichstätt 1: Biographien der Gründerzeit), hg. u. übers. v. Andreas Bauch, Eichstätt 1962, S. 13–122, hier 86f. Diesenberger: Predigt und Politik, S. 193–196. 23 Alkuin, Vita Willibrordi archiepiscopi Traiectensis (MGH SS rerum Merovingicarum 7), hg. v. Wilhelm Levison, Hannover / Leipzig 1920, S. 81–141; vgl. Wood: Missionary Life, S. 79–85. 24 Maximilian Diesenberger: Les élites et la mission dans les manuscrits bavarois vers 800, in: Les élites aux frontières. Mobilité et hiérarchie dans le cadre de la mission, hg. v. Geneviève Bührer-Thierry und Thomas Lienhard (https://lamop.univ-paris1.fr/fileadmin/lamop/publi cations/Elites-Frontieres/Frontieres_manuscrits_bavarois_Diesenberger_2006.pdf), S. 1–10.
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Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers.25 Dann sollten moralische Aspekte thematisiert werden, also »Unzucht, Unlauterkeit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindseligkeit, Streit, Eifersucht, Groll, Zorn, Zank, Entzweiungen, Häresien, Spaltungen, Neid, Totschlag, Trinksucht, Schwelgerei und dergleichen.«26 Davor schon wurde den Predigern aufgetragen, über das große Übel des Hasses und des Neids zu predigen, oder auch über Habsucht und Gier, die Wurzel allen Übels.27 Das Besondere an diesem Kapitular war aber, dass die königliche admonitio (»Ermahnung«) wechselweise auch als praedicatio bezeichnet wurde.28 In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts hatten die Päpste Legaten wie Bonifatius bestimmt, und ihnen die Lizenz zur Predigt in den Provinzen gegeben. Die fränkischen Herrscher wurden darüber durch Schreiben unterrichtet und um Unterstützung gebeten. Nun aber nahm sich der fränkische König selbst heraus, über die Angelegenheiten der Predigt zu verfügen und zwar nicht nur als Gesetzgeber, sondern auch als maßgebende moralische Autorität. Folgerichtig wurde Karl der Große im Zusammenhang mit der Awarenmission in den 790er Jahren mehrfach als praedicator gentium (»Prediger der Völker«) bezeichnet;29 im Kontext seiner Rechtsprechung wurde er aber fast wie ein Bischof stilisiert. In einer Ansprache Erzbischof Arns von Salzburg anlässlich einer Metropolitansynode im Jahr 813 hörte sich das so an: »Er selbst [also Karl der Große] weist alle zurecht, die zu ihm kommen, durch seine wunderbare und rühmliche Predigt, und er wird nicht müde durch seine überaus angenehme Unterweisung zu jedem guten Werk aufzufordern.«30 Der alte Kaiser wurde nicht aus Zufall am Ende seines Lebens auf diese Weise stilisiert. Noch vor seiner Kaiserkrönung hatte er die Erstellung eines Homiliars für seine Kirchen beim langobardischen Mönch Paulus Diaconus in Auftrag gegeben. Obwohl die Predigtsammlung ursprünglich wohl nur für die zahlreichen, direkt Karl unterstellten Kirchen zum Gebrauch für die Nachtoffizien gedacht
25 Die Admonitio generalis Karls des Großen (MGH Fontes iuris antiqui in usum scholarum seperatim editi 16), hg. v. Hubert Mordek, Klaus Zechiel-Eckes und Michael Glatthaar, Hannover 2012, cap. 60, S. 210. 26 Admonitio generalis 80, S. 236f. 27 Admonitio generalis 65, S. 218f. 28 Vgl. Thomas Martin Buck: Admonitio und Praedicatio. Zur religiös-pastoralen Dimension von Kapitularien und kapitulariennahen Texten, 507–814 (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte), Frankfurt 1997, S. 141–156. 29 Alkuin, Epistolae 111 und 166 (MGH Epistolae 4), hg. v. Ernst Dümmler, Berlin 1895, S. 1– 481, hier 160f. und 272. 30 Proömium (ed. Herbert Schneider: Karolingische Kapitularien und ihre bischöfliche Vermittlung. Unbekannte Texte aus dem Vaticanus latinus 7701, in: Deutsches Archiv 63 (2007), S. 469–496, hier 493): Ipse enim omnes, qui sibi adveniunt, mirifica et gloriosa sua predicatione castigat et suavissima eruditione ad omne opus bonum exhortare non cessat.
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war, erfuhr diese Sammlung früh eine weite Verbreitung.31 Sie setzte vor allem aus der Perspektive der karolingischen Reformbemühungen Maßstäbe, konnte aber eine ältere, vor allem in Italien in der Mitte des 8. Jahrhunderts entstandene Sammlung des Alanus von Farfa nicht ganz verdrängen. Nachdem Karl der Große im Jahr 800 die Kaiserwürde erlangt hatte, setzte er die Predigtreform, die 789 begonnen hatte, verstärkt fort. In zahlreichen Bischofskapitularien, die nun erstmals zu Tage traten, wurden die Vorgaben des Kaisers zur Ausbildung der Priester in die Diözesen getragen.32 Zahlreiche Predigthandschriften wurden kompiliert und in den Diözesen verbreitet, Musterpredigten erstellt33 und Visitationsreisen unternommen, die u. a. die Befähigung der Priester zur Predigt prüften.34 Einige Sammlungen erfuhren eine weite Verbreitung und wurden an verschiedenen Skriptorien für ortspezifische Bedürfnisse zugeschnitten35 oder inspirierten die Erstellung eigenständiger Handbücher.36 Viele der Predigten in den neu erstellten Sammelhandschriften nahmen die Themen auf, wie sie in den Kapitularien seit 789 vorgegeben wurden. Darunter befinden sich auch jene 15 Predigten, die von der älteren Forschung noch dem Bonifatius zugesprochen worden waren, die aber deutlich Anklänge an die Admonitio generalis aufweisen.37 Hier wird auch deutlich, wie sehr die Predigt helfen sollte, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu stabilisieren. Mehrere Sermones der um 800 wahrscheinlich in Bayern entstandenen Sammlung des Pseudo-Bonifatius diskutieren Gebote, Tugenden und Sünden entsprechend der verschiedenen sozialen Ränge, wobei diese Hierarchie niemals in Frage gestellt 31 Zachary Morgan Guiliano: The composition, dissemination, and use of the Homiliary of Paul the Deacon in Carolingian Europe from the late eighth to the mid-tenth Century, unpublished Ph.D. thesis, University of Cambridge, 2016. 32 Carine van Rhijn: Shepherds of the Lord. Priests and Episcopal Statutes in the Carolingian Period (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 6), Turnhout 2007, bes. S. 13–48. Allgemein zu Prozessen, die durch die Erlangung des Kaisertums im Frankenreich eingeleitet oder verstärkt wurden, siehe Jennifer Davis: Charlemagne’s Practice of Empire, Cambridge 2015. 33 Wilhelm Scherer: Eine lateinische Musterpredigt aus der Zeit Karls des Grossen, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 12 (1865), S. 436–446. 34 Siehe dazu Diesenberger, Predigt und Politik, S. 120–126. 35 Z. B. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 27152; vgl. Raymond Étaix, Un manuel de pastorale de l’epoque carolingienne (Clm 27152), in: Revue Bénédictine 91 (1981), S. 105–130. 36 Vgl. z. B. James McCune, The Sermon Collection in the Carolingian Clerical Handbook, Paris, Bibliothèque nationale de France lat. 1012, in: Mediaeval Studies 75 (2013), S. 35–91. 37 Rob Meens, Christianization and the spoken word: the Sermons attributed to St Boniface, in: Sermo sanctorum. Compilers, Preachers, and their Audiences in the Early Medieval West (Sermo 9), hg. v. Maximilian Diesenberger, Yitzhak Hen und Marianne Pollheimer, Turnhout 2013, S. 263–282. Gerhard Schmitz: Bonifatius und Alkuin. Ein Beitrag zur Glaubensverkündigung in der Karolingerzeit, in: Alkuin von York und die geistige Grundlegung Europas (Monasterium Sancti Galli 5), hg. v. Ernst Tremp und Karl Schmuki, Sankt Gallen 2010, S. 73–90.
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werden sollte.38 In Ansätzen sind auch Bemühungen erkennbar, die Predigten in vernakularen Sprachen zu reglementieren.39 Darüber hinaus werden die Kapitularien nach der Kaiserkrönung vermehrt von einem moralischen Ton getragen und gehen weitaus weniger auf Anlassfälle ein, wie es noch die Gesetzestexte, in seinen Jahrzehnten als König, taten. Damit wurden die Kapitularien an einigen Stellen den Predigttexten dieser Zeit immer ähnlicher, und religiöse und weltliche Normen einander angeglichen. Im Kapitular von Nimwegen, das von der Not- und Krisenzeit von 805 / 6 geprägt war, wurden die Begierde, die Habgier, der Geiz und die Sünde des Wuchers auf eine Weise formuliert, wie sie auch in den zeitgenössischen Predigten zu finden ist.40 Die Ähnlichkeit zwischen kaiserlichem Kapitular und bischöflicher Predigt beschränkte sich aber nicht nur auf Inhalte. Einige erhaltene Kapitularientexte aus dieser Zeit verdeutlichen, dass sie von den missi (»Gesandten«) sogar in predigtähnlicher Form vorgetragen wurden.41 Der verstärkte Zugriff auf die klerikale Predigt im Zuge der karolingischen correctio und die Stilisierung des Herrschers als moralische Autorität, die in predigtähnlicher Weise das Volk unterweist, verfolgte einen politischen Zweck. Das Kaiserreich war mit seinen vielfältigen Regionen auf lokale Eliten angewiesen, die für Rechtssicherheit und Rechtsprechung verantwortlich waren. Gerade Bayern, das lange Zeit von den Agilolfingern beherrscht worden war und nun im Osten riesige Missionsgebiete im pannonischen Becken, dem ehemaligen Herrschaftsbereich der Awaren, aufwies, war schwer ohne das Mitwirken alter ansässiger Familien zu kontrollieren. Nur sie kannten die oft komplizierten Besitzverhältnisse, die häufig Anlass zu Konflikten gaben. Nur mithilfe dieser lokalen Netzwerke war die Konsolidierung karolingischer Herrschaft in Bayern selbst und die wirtschaftliche und politische Erfassung der Missionsgebiete im Ostland möglich. Die Bindung dieser Eliten erfolgte über den Treueid, den ab 802 jeder auf den Kaiser zu leisten hatte. Ihre Kontrolle erfolgte durch die missi, die schwierige Rechtsstreitigkeiten vor Ort zu lösen hatten, gleichzeitig aber auch von den potentes (»Mächtigen«) die vom Hof erwarteten und in den Kapitularien formulierten moralischen Standards einforderten.42 Es waren dies Fragen der 38 Diesenberger, Predigt und Politik, S. 334–341. 39 Diesenberger, Predigt und Politik, S. 175–192. 40 Capitulare missorum Niumagae datum, 806 m. Martio, cc. 12–15 (MGH Leges 2, Capitularia regum Francorum 1) hg. v. Alfred Boretius, Hannover 1883, S. 130–132, hier 132; vgl. dazu Diesenberger, Predigt und Politik, S. 300–302. 41 Siehe z. B. Missi cuiusdam admonitio 801–812 (MGH Leges 2, Capitularia regum Francorum 1), hg. v. Alfred Boretius, Hannover 1883, S. 238–240. Vgl. die Neuedition und Besprechung des Textes: Missi cuiusdam admonitio (ed. Buck, Admonitio und Praedicatio, S. 397– 401). 42 Stefan Esders und Heike Johanna Mierau, Die bairischen Eliten nach dem Sturz Tassilos III. Das Beispiel der adeligen Stiftungspraxis in der Diözese Freising, in: Les élites au moyen
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Unbestechlichkeit der Richter, der Wahrheitstreue der Zeugen, des sozialen Friedens, des harmonischen Miteinanders, der Gastfreundschaft usf., also all jene Aspekte, die zugleich auch als Themen der Predigten vom Hof aus erfordert waren. Ziel der Predigtreform war es also, im gesamten Kaiserreich flächendeckend einen moralischen Diskurs zu etablieren, auf den sich die Anordnungen des Kaisers stützen konnten. Wenn die Kapitularien kurz Sünden benannten und als Ursache der Missstände im Reich identifizierten, dann ging man davon aus, dass dieses Fehlverhalten in den Predigten ausgiebig behandelt wurde. Und umgekehrt: neu verbreitete Kapitularien konnten in ihrer moralischen Dimension im Zuge der Predigten vertieft werden. Was Alkuin vorschwebte, war ein Diskurs der gegenseitigen moralischen Evaluierung zwischen den Eliten am Hof und den hochrangigen potentes in den Randgebieten. Deshalb empfingen einige mächtige comites (»Grafen«) wie Wido von der Bretagne oder Erich von Friaul Fürstenspiegel, in denen sie genau jene moralischen Werte diskutierten, die auch in den zeitgleichen Predigtsammlungen behandelt wurden. Der comes von Bayern bekam von seinem Mitstreiter als missus in Bayern, Erzbischof Arn von Salzburg, sogar eine Predigtsammlung zugeeignet, die genau jene Themen aufgriff, die man als missus benötigte: Fragen der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Unbestechlichkeit, des Friedens usw. Diese Texte waren aber nicht nur zum privaten Studium des comes gedacht. Einige bayerische Gerichtsprotokolle vom Anfang des 9. Jahrhunderts verdeutlichen, dass diese Themen von den beiden missi (»Gesandten«) sogar während Gerichtsverhandlungen aufgegriffen und als Mahnreden verwendet wurden.43 Anders als einst bei Bonifatius wurde um 800 in den Randgebieten sorgsam darauf geachtet, dass der Rechtstransfer konfliktfrei vonstattenging. Während im Fall des Bonifatius die Predigt dazu diente, Irrtümer und Unerwünschtes anzuprangern und auszumerzen, diente unter Karl dem Großen die Predigt sogar dazu Aneignungsprozesse zu erläutern, zu begleiten und schließlich auch zu beschleunigen. Diese Implementierung des Inquisitionsbeweisverfahrens im Jahr 802 wurde von einer Predigt begleitet.44 Im Idealfall verfestigte die Predigt moralische Grundwerte in allen Regionen und in allen Gesellschaftsschichten des Reiches. Sie griff speziell auf Amtsträger zu und bot Elemente zu ihrer Kontrolle oder zur Selbstevaluation. Sie stabilisierte soziale Verhältnisse und regulierte juristische Abläufe. Sie vermittelte Modelle des Gebens und der Friedenssicherung. Damit war sie zur Zeit Karls des Großen ein wertvolles Medium, das die Politik des Herrschers entscheidend vorantreiben und dem sozialen Zusammenhalt seines Reiches dienen konnte. Aber die Realität âge. Crises et renouvellements (Collection Haut Moyen Âge 1), hg. v. François Bougard, Laurent Feller und Régine Le Jan, Turnhout 2006, S. 283–313, bes. 109. 43 Diesenberger, Predigt und Politik, S. 39–44 und 219–246 etc. 44 Diesenberger, Predigt und Politik, S. 272–276.
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zeigte, dass das soziale Leben nicht entlang dieser moralischen Linien verlief. In der Regel verhielt sich kaum jemand nach den in diesen Texten skizzierten Grundsätzen. Und selbst die Kommunikationskanäle, die überhaupt erst die Vermittlung dieser Inhalte gewährleisten sollten, konnten meist nicht so freigehalten werden, wie erhofft. Die Menschen wollten ihre Angelegenheiten oft unter sich ausmachen, und nicht unbedingt vor das Gericht eines missus bringen. Nur unter höchstem Druck verliefen soziale Begegnungen nach den moralischen Standards, die in den Predigten und Mahnreden definiert wurden. Trotzdem hatten diese Texte einen unschätzbaren Wert. Sie stellten ein vom Hof propagiertes oder zumindest von dort inspiriertes diskursives Repertoire moralischer Leitlinien zur Verfügung, das in der Umgebung, in die es getragen wurde, zumindest jene Themen anzeigte, die dem politischen Willen des Herrschers entsprachen. Wo der missus keinen Zugriff hatte, konnte die Predigt vielleicht noch etwas erreichen. Diese Texte bestimmten die Art und Weise, wie über Gesellschaft bzw. über gesellschaftliche Begegnungen gesprochen werden sollte. Das konnte im Alltag durchaus ignoriert werden. Aber in spezifischen Situationen kamen Elemente dieses Repertoires unvermutet zum Tragen. In einer Welt, in der grundsätzlich jeder nahm, was er bekommen konnte, in der Gabe und Gegengabe sogar Gerichtsverhandlungen bestimmten, setzte sich jeder potens einem Korruptionsvorwurf aus. In zahllosen Predigten und in vielen Kapitularien dieser Zeit wurde die Sünde der Habgier thematisiert, die im juristischen Diskurs leicht in einen Bestechlichkeitsvorwurf münden konnte, falls dies opportun war. Insofern hatte der Karolinger in der Predigt ein wirkungsvolles politisches Instrument gefunden. Aber schon am Ende seines Lebens erkannte Karl der Große, dass die Predigtreformen auch eine Schattenseite hatten. Gerade die Bischöfe, auf deren Ausbildung er so gedrängt hatte, nutzten ihr rhetorisches Geschick, um den ihnen Anvertrauten ihren Besitz abzuschwatzen.45 Über die Verschlagenheit und Unfähigkeit mancher Bischöfe berichtet 883 noch Notker von Sankt Gallen in Anekdoten.46 Die ersten Jahre unter der Regentschaft Ludwigs des Frommen waren von wichtigen Reformen für das kirchliche und monastische Leben geprägt, vor allem durch die Synoden von Aachen von 816–819. Das führte zunächst auch zu einem Aufschwung an der Erstellung von Predigthandschriften, wie z. B. das Homiliar von Saint-Père de Chartres, das Homiliar von Mondsee oder das erste Homiliar des Hrabanus Maurus.47 Obwohl danach in den Kapitularien auch 45 Capitula de causis cum episcopis et abbatibus tractandis a. 811, c. 5 (MGH Leges 2, Capitularia regum Francorum 1), hg. v. Alfred Boretius, Hannover 1883, S. 162–164, hier 163. 46 Notker Balbulus, Gesta Karoli magni imperatoris I, 18 (MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum seperatim editi, NS 12), hg. v. Hans F. Haefele, Berlin 1959, S. 25. 47 Réginald Gregoire: Les Homéliaires du Moyen Age. Inventaire et analyse des manuscrits (Rerum ecclesiasticarum documenta, Series maior. Fontes VI), Rom 1966. Henri Barré,
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weiterhin darauf gedrungen wurde, den Predigten am Sonntag beizuwohnen, konnten Ludwig der Fromme und seine Söhne die moralische Mitte, die einst Karl der Große eingenommen hatte, nicht mehr auffüllen. Das hieß aber nicht, dass die Parteigänger Ludwigs die Predigtleistung des Kaisers unter den Tisch kehren wollten: nach Brun Candidus hätte Ludwig persönlich den Mönchen von Fulda gepredigt,48 laut Ermoldus Nigellus hätte er sogar dem Dänenkönig Harald Klak eine selbst verfasste Missionspredigt zukommen lassen.49 Aber das sind panegyrische Verse und hagiographische Überzeichnungen, die nicht darüber hinweg täuschen können, dass sich der Kaiser und das Reich in einer moralischen Krise befanden. Und wie wir spätestens seit Mayke de Jong’s penitential State wissen, heißt das in dieser Zeit: eine politische Krise. Die überlieferten Predigten dieser Zeit tragen nun nicht mehr unbedingt zum großen Ganzen bei, sondern registrieren nur mehr den moralischen Zusammenbruch. Bischof Agobard von Lyon kritisierte in einer Ansprache im Jahr 822 vor dem König und den versammelten Großen des Reichs in Attigny den Zustand des Reiches in sehr harschen Worten, was ihn für einige Zeit den Zugang in den inneren Zirkel der Mächtigen des Reiches verbaute.50 Im Zuge der Revolte von 833 kritisierte er das Fehlverhalten Kaiser Ludwigs und seiner Frau Judith wahrscheinlich in Form einer langen Predigt in einem Heerlager vor den aufständischen Söhnen des Kaisers.51 Diese Kritik kam noch im Umfeld der klerikalen höfischen Eliten zu Tage. Nach dem Blutbad von Fontenoy im Jahr 841, als die Söhne Ludwigs des Frommen gegeneinander antraten und erstmals nach sehr langer Zeit, Franken fränkisches Blut vergossen,52 sah sich ein oberitalienischer Prediger am Weihnachtstag desselben Jahres genötigt, seine Herde wegen dieses besorgniserregenden Vorfalls zu beruhigen.53 Die Welt hatte sich innerhalb dreier Jahrzehnte
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L’homiliaire carolingien de Mondsee, in: Revue Bénédictine 71 (1961), S. 71–107. James E. Cross: Cambridge Pembroke College MS 25: A Carolingian Sermonary used by Anglo Saxon Preachers, London 1987. Brun Candidus, Vita Aegil abbatis Fuldensis 1, 8 (Vita Aegil abbatis Fuldensis a Candido ad Modestum edita prosa et versibus. Ein Opus geminum des IX. Jahrhunderts. Einleitung und kritische Edition) hg. v. Gereon Becht-Jördens, Marburg 1994, S. 8–11. Ermoldus Nigellus, Carmina in honorem Hludowici IV (MGH Poetae Latini aevi Carolini 2), hg. v. Ernst Dümmler, Berlin 1884, S. 1–79, hier 59–61. Vgl. Mayke de Jong: The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840, Cambridge 2009, S. 142–147. De Jong: Penitential State, S. 195f. und 213f. Janet L. Nelson: Violence in the Carolingian world and the ritualization of ninth-century warfare, in: Violence and Society in the Early Medieval West, hg. v. Guy Halsall, Woodbridge 1998, S. 90–107; hier 100 (»the trauma of Fontenoy«). John B. Gillingham: Fontenoy and after: pursuing enemies to death in France between the ninth and the eleventh centuries, in: Frankland: the Franks and the World of the early Middle Ages. Essays in Honour of Dame Jinty Nelson, hg. v. Paul J. Fouracre und David Ganz, Manchester 2008, S. 242–265. XIV homélies du IXe siècle d’un auteur inconnu de l’Italie du Nord, Sermo II, 5 (Sources chrétiennes 161), hg. v. Paul Mercier, Paris 1970, S. 158–160.
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vollständig geändert: Vom Zentrum, einst der Ort des Friedens und der moralischen Integrität, ging nun die Bedrohung der inneren Ordnung aus und erschütterte selbst den Weihnachtsfrieden einer kleinen Kirchengemeinde an der Peripherie der fränkischen Welt! Das hatte aber durchaus auch Auswirkungen auf das Zentrum des Reichs. Kaiser Lothar I., einer der Verlierer von Fontenoy, erbat sich in den 850er Jahren von Hrabanus Maurus eine Homiliensammlung, um auf allerlei Katastrophen des Reichs vorbereitet zu sein, wie auf Hungersnöte, Überschwemmungen und Einfälle von Heiden.54 Doch hatte er bei weitem nicht die Autorität seines Großvaters, Karl der Große, und auch nicht mehr die Macht, diesen imperialen Anforderungen aktiv entgegen zu treten. Hrabanus sandte ihm jedenfalls eine umfangreiche Sammlung von Predigten, die Lothar zum privaten Studium nutzen konnte, aber keine setzte sich explizit mit den erwünschten Themen auseinander. Offenbar erkannte der Mainzer Erzbischof, dass die politische Reichweite Lothars begrenzt und seine Rolle im Zusammenhang mit Predigten die eines Zuhörers war. Die Predigten konzentrieren sich auf das moralisch korrekte Verhalten des Kaisers und seines Umfelds und festigen dabei auch noch die Rolle Hrabans selbst als die eines Propheten.55 Während Karl der Große ganze Predigtsammlungen in Auftrag gegeben hatte, entstanden nun Exegese und Predigtliteratur an ausgewählten Orten, die nicht nur frei von der Einflussnahme durch die Könige waren, sondern diese sogar kritisierten. Ein solcher Ort war das Kloster Saint-Germain in Auxerre, wo Haimo und später auch sein Schüler Heiric große Predigtsammlungen erstellten, die nicht mehr für den Gebrauch im weltlichen Rahmen gedacht waren, ja deren Nutzen zur mündlichen Verbreitung ebenfalls anzuzweifeln ist. Sehr wahrscheinlich waren diese Texte zum privaten Studium gedacht.56 Wenn sich Haimo von Auxerre am dritten Sonntag der Fastenzeit mit Lukas 11, 17 auseinander setzt: »Jedes Reich, das in sich gespalten ist, wird veröden und ein Haus ums andere stürzt ein.«, dann erläutert er den Verlauf des Niedergangs mit den Erfahrungen seiner Zeit: »Gesagt wird nämlich 54 Brief Lothars an Hrabanus, Epistola 49 (MGH Epistolae 5), hg. v. Ernst Dümmler, Berlin 1898 / 1899, ND München 1978, S. 503f. Siehe dazu Marianne Pollheimer: Der Prediger als Prophet – Die Homiliensammlung des Hrabanus Maurus für Lothar I., in: Zwischen Niederschrift und Wiederschrift. Frühmittelalterliche Hagiographie und Historiographie im Spannungsfeld von Kompendienüberlieferung und Editionstechnik (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 18), hg. v. Richard Corradini, Maximilian Diesenberger und Meta Niederkorn-Bruck, Wien 2010, S. 285–299. Allgemein zum Homiliar: Raymond Étaix, L’homéliaire composé par Raban Maur pour l’empereur Lothaire, in: Recherches Augustiniennes 19 (1984), S. 211–240. 55 Pollheimer, Der Prediger als Prophet, passim. 56 Haimo von Auxerre, Homiliae (Patrologia Latina 118), hg. v. Jacques-Paul Migne, Paris 1852, Sp. 11–816. Heiric von Auxerre, Homiliae per circulum anni (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 116), hg. v. Riccardo Quadri, 3 Bde., Turnhout 1992.
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›ein Haus ums andere stürzen‹, wann der Geist des Vaters gegen den Sohn gerührt wird, und der des Sohnes gegen den Vater.«57 In der sogenannten Pseudo-Eligius-Sammlung, die sehr wahrscheinlich im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts entstanden ist, wird in einer Predigt, die ein (Erz-)Bischof an das Laienvolk in vernakularer Sprache übermittelte, ein Abschnitt aus der Pariser Synode von 829 referiert, in der die Pflichten des Königs formuliert wurden.58 In den Predigten zeigt sich in dieser Zeit eine moralisierende und reflektierende Distanz zu den Herrschern. Das hinderte allerdings geistliche Institutionen nicht daran, weiterhin Ansprüche und Rechte über (angeblich) geleistete Predigten zu formulieren und zu verteidigen. Als sich Cyrill und Method anschickten, den pannonischen Raum zu missionieren, erstellte die Salzburger Kirche, die sich in ihren Rechten bedroht sah, eine Denkschrift, die sie 871 König Ludwig dem Deutschen vorlegte. Darin dokumentierten die Salzburger ihre »jahrhundertealte« Missions- und Predigtleistung in diesem Raum.59 Manche politischen Winkelzüge blieben über Jahrzehnte unverändert. Wie wir es anfangs anhand von Augustinus’ Briefen gesehen haben, waren Predigten oft nicht nur auf jene Personenkreise beschränkt, die sich in den Kirchen versammelt hatten, sondern sie sprachen größere soziale Zusammenhänge an und schufen damit auch einen Zusammenhalt, der die Kirchengemeinde oft bei weitem überstieg. Bonifatius hatte einst versucht, mit der päpstlichen Lizenz zu predigen einen möglichst großen Rahmen abzustecken, zunächst als Missionar in Thüringen, dann predigte er in der Germania, schließlich schloss sein Auditorium sogar die Franken mit ein. Obwohl er in der Mission sehr erfolgreich war und auch einiges zur Reorganisation lokaler Kirchen beitrug, konnte er sich nicht überall durchsetzen, da der politische Zusammenhalt für all jene Regionen, für die er verantwortlich zeichnete, nicht gegeben war und die normativen Angleichungsleistungen nicht gewährleistet waren. Karl der Große holte die Predigt ins Zentrum der politischen Macht und verlieh ihr einen imperialen Rahmen, indem er überall in seinem Reich ein Netz von Kirchen er57 Haimo von Auxerre, Homilia LXII, col. 255. Vgl. auch Sermo XX, Sp. 149: »Et facta est tranquilitas« Ecclesiae, in tantum ut ipsi imperatores, reges et principes jugo Christi submitterent, et ipsos postmodum honorarent in quorum persecutionem prius exarserant, et in tantum, ut homines mirarentur, dicentes : »Qualis est hic, quia venti et mari obediunt ei ?« 58 Pseudo-Eligius, Sermo 1 (Patrologia Latina 87), hg. v. Jacques-Paul Migne, Paris, Sp. 595f. Siehe James McCune, Rethinking the Pseudo-Eligius sermon collection, in: Early Medieval Europe 16, 4 (2008), S. 445–476, bes. 454. Zur Bedeutung des Bischofsmodells, das in Paris 829 festgesetzt wurde vgl. Steffen Patzold: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelater-Forschungen 25) Ostfildern 2008, bes. S. 135–178. 59 Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und der Brief des Erzbischofs Theotmar von Salzburg c. 1 und 8 (MGH Studien und Texte 15), hg. v. Fritz Losˇek, Hannover 1997, S. 92f. und 114f.
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richten und darin Bischöfe und Priester regelmäßig predigen ließ. Das stetige Wiederholen immer gleicher moralischer Werte sollte das Fundament seiner moralisch begründeten Herrschaft darstellen. Nach dem Ende des Kaisertums dienten regionale Identitäten als Bezugsrahmen von Predigten, wie es die Homilien Abbos von Saint-Germain verdeutlichen. Im ersten Viertel des 10. Jahrhunderts ist die Francia das Maß aller Dinge, wobei damit allerdings nur der Großraum von Paris gemeint war. Größere Zusammenhänge artikulierte Abbo mit dem christianitas (»Christenheit«)-Begriff, der ein Netz von Kirchen als den eigentlichen gemeinsamen universalen Nenner in einer politisch fragmentierten Welt bezeichnet.60 Anders als am Beginn des 9. Jahrhunderts hatte dieses Netzwerk aber kein Zentrum mehr, von dem aus Informationen ein- und politische Impulse ausgingen, sondern es bestand aus weitgehend voneinander unabhängigen Netzknoten. Nun stellten die Prediger eher fest: »Brüder, jeden Tag seht ihr, wie dieses Reich dem Untergang entgegengeht.«61 Diesen Satz am Ende der karolingerzeitlichen Epoche zu setzen, fördert allerdings zu sehr die Meistererzählung eines gesellschaftlichen Niedergangs in der spät- und nachkarolingischen Zeit. Festzustellen ist allerdings, dass ein solcher Satz eines Predigers aus der Zeit Karls des Großen nicht ausgesprochen worden sein dürfte. Und damit verdeutlichen Abbos Worte, dass sich das Verhältnis von Predigt und Politik wesentlich verändert hat.
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Maximilian Diesenberger
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Christoph Galle
911–1198: Predigt und Politik in der Zeit der Ottonen, Salier und Staufer. Versuch einer Verhältnisbestimmung im Angesicht einer problematischen Quellenlage
Die fast drei Jahrhunderte vom Niedergang karolingischer Herrschaft über die Entstehung des römischen-deutschen Reichs bis hin zur Verleihung der Kaiserwürde an die deutschen Könige sind gekennzeichnet von einem fundamentalen Strukturwandel hinsichtlich der Politik und der Herrschaftsausübung. Nicht minder vielfältig, abwechslungsreich und spannungsgeladen präsentiert sich der Zeitraum mit Blick auf die kultur-, kirchen- und geistesgeschichtliche Entwicklung. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Predigt und Politik ist daher zunächst eine Skizze von Raum und Zeit, sodann auch eine Sichtung des überlieferten Quellenmaterials einschließlich des Versuchs, verschiedene Predigtarten zu typologisieren, unverzichtbar.
1.
Die Predigt in Zeiten der Untrennbarkeit von ›Staat‹ und Kirche »Die Messe war gelesen, auch die Predigt zu Ende, in welcher der Bischof ernst, aber ohne weich zu werden, in mannhaften tapferen Worten zu seinen Hörern sprach, dem Feldherrn vergleichbar, der seine Sturmschar ermahnt, dem sichern Tode kühn entgegenzuschauen.«1
Mit diesen Worten sucht der Rechtsprofessor und Romanautor Felix Dahn in seinem 1873 publizierten Werk ›Welt-Untergang‹ die Stimmung einzufangen, die in vielen Regionen des ottonischen Reichs unmittelbar vor der Wende zum zweiten nachchristlichen Jahrtausend herrschte. Auch in der Forschung hält sich die Überzeugung, dass das Jahr 1000 als besondere Markierung aufgefasst wurde, da es als gleichzeitiges Ende eines Jahrhunderts und eines Jahrtausends Anlass zu großen Erwartungen gab. Die Erwartungen der Zeitgenossen waren dabei sogar so groß, dass man gleich vom Ende aller Zeiten ausging. Auch der ein Jahr nach 1 Felix Dahn: Welt-Untergang – Geschichtliche Erzählung aus dem Jahre 1000 nach Christus, Leipzig 51889, S. 421.
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Dahns Roman veröffentlichte erste Band von Johannes Marbachs Studie über die ›Geschichte der deutschen Predigt vor Luther‹ geht daher von einer intensiven Predigttätigkeit aus, die noch mehr zunahm, je näher das befürchtete Ende rückte.2 Der Jahrtausendwechsel war allerdings – und dies wird in Marbachs Werk genauso deutlich wie in jüngeren Studien3 – nicht das einzige, tiefgreifende Ereignis, an das man die Erwartung intensiver Predigttätigkeit knüpfen dürfte. Schließlich finden sich vom 10. bis 13. Jahrhundert zahlreiche Ereignisse, Veränderungen und Entwicklungen, die als Zäsuren, Wendepunkte oder Weichenstellungen der Kirchen-, Politik-, Kultur- oder Geistesgeschichte gesehen werden.4 Manche dieser Veränderungen waren so einschneidend, dass sich die Phase von 911 bis 1198 einerseits alles andere denn als eine Einheit präsentiert, so dass die zeitliche Eingrenzung nur als künstlich aufgefasst werden darf, und andererseits nur anhand einiger Beispiele skizziert werden kann.5 2 Johannes Marbach: Geschichte der deutschen Predigt vor Luther, Bd. 1.1: Vorgeschichte und erste Periode enthaltend, Berlin 1874, S. 70. 3 Vgl. u. a. De l’homélie au sermon. Histoire de la prédication médiévale. Actes du Collques international de Louvain-la-Neuve (9–11 juillet 1992), hg. v. Jacqueline Hamesse, Xavier Hermand, Louvain-la-Neuve 1993; darin bes. die Beiträge von Thomas L. Amos: Early Medieval Sermons and their Audience, S. 1–14, und Beverly Mayne Kienzle: The Typology of the medieval Sermon and its Development in the Middle Ages: Report on Work in progress, S. 83–101. Vgl. daneben Jean Longère: La prédication médiévale, Paris 1983; Phyllis B. Roberts: Preaching in/and the Medieval City, in: Medieval Sermons and Society. Cloister, City, University. Proceedings of International Symposia at Kalamazoo and New York, hg. v. Jacqueline Hamesse, Beverly Mayne Kienzle, Debra L. Stoudt und Anne T. Thayer, Louvain-la-Neuve 1998, S. 151–164. Zur Predigt im Mittelalter vgl. sodann auch The Sermon (Typologie des Sources du Moyen Âge occidental, Fasc. 81–83), hg. v. Beverly Mayne Kienzle, Turnhout 2000; darin insbes. George Ferzoco, Carolyn Muessig: Bibliography, S. 19–142, bes. S. 30–40 (für weiterführende Literatur zur Predigt des Frühmittelalters bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts), Beverly Mayne Kienzle: Introduction, S. 143–174 (für einen Forschungsüberblick und eine Definition der mittelalterlichen Predigt als literarische Gattung), Thomas N. Hall: The Early Medieval Sermon, S. 203–269 (für einen Überblick und ausgewählte Textbeispiele), Beverly Mayne Kienzle: The Twelfth-Century Monastic Sermon, S. 271–324 (insbesondere auch für die sich u. a. aus der Überlieferung ergebenden Probleme der Interpretation), Mark A. Zier: Sermons of the Twelfth Century Schoolmasters and Canons, S. 325–362 (u. a. für die sich aus der Sprachwahl ergebenden Differenzen zwischen mündlichem Vortrag und schriftlicher Niederschrift der Predigt), Hans-Jochen Schiewer, Debra L. Stoudt: German Sermons in the Middle Ages, S. 861–962. 4 Aus der Fülle der Literatur sei hier stellvertretend auf die Bände 3 und 5 im ›Handbuch der deutschen Geschichte‹ verwiesen: Hagen Keller, Gert Althoff: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024, Stuttgart 102008; Alfred Haverkamp: Zwölftes Jahrhundert: 1125–1198, Stuttgart 102005. Die Veröffentlichung des 4. Bandes, der von Hanna Vollrath vorbereitet wird, ist unter dem Titel Das Reich der Salier – Lebenswelten und gestaltende Kräfte 1024–1125 für Ende 2018 geplant. 5 Dabei gilt wie im Falle jeder anderen zeitlichen Eingrenzung, dass die in den Blick genommene Phase natürlich genauso durch frühere Entwicklungen und Ereignisse mitgeprägt und beeinflusst wurde wie sie ihrerseits den folgenden geschichtlichen Verlauf mitbestimmte.
911–1198: Predigt und Politik in der Zeit der Ottonen, Salier und Staufer
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Am Anfang dieses Zeitraums steht das Ende der karolingischen Herrschaft. Konrad I. wurde 911 zum ersten König des Ostfrankenreichs ernannt und war damit zugleich der Erste, der nicht mehr der Dynastie der Karolinger angehörte.6 Seine Herrschaftszeit währte allerdings nicht lange, denn bereits acht Jahre später wurde er von Heinrich I. abgelöst, der seinerseits die Reihe ottonischer Könige – und ab Otto I. auch Kaiser – eröffnete, die für die nächsten hundert Jahre die Entwicklung des Reichs bestimmen sollten. Die darauf folgenden, wiederum für circa hundert Jahre regierenden Salier werden mit den Ottonen vor allem im Hinblick auf die Etablierung des so genannten Reichskirchensystems in Verbindung gebracht.7 Kennzeichnend dafür waren u. a. ein intensiver Ausbau der Kirche im Reich, in dessen Verlauf auch zahlreiche, häufig von der Herrscherfamilie initiierte Gründungen von Kirchen und Konventen (häufig Kanoniker- bzw. Kanonissenstifte) fallen oder Bischofsstühle und die Leitungen von Abteien mit Verwandten oder nahe stehenden Personen besetzt wurden.8 Diese Verbindung von Königtum und Kirche hatte auch tiefgreifende Folgen für die Politik und die Herrschaftsausübung: Während die »sakrale Repräsentation des Königs […] zu den Momenten der langfristigen Stabilisierung und Verstetigung in der Alltäglichkeit politischer und sozialer Kommunikation«9 gehörte,10 kam den kirchlichen Leitungspersonen aufgrund der ihnen zuge6 Zum Herrschaftsantritt Konrads und den auf ihn folgenden Ottonen vgl. u. a. Matthias Becher: Dynastie, Thronfolge und Staatsverständnis im Frankenreich, in: Der frühmittelalterliche Staat – Europäische Perspektiven (ÖAW.Phil.-hist. Klasse, Denkschriften 386 / Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), hg. v. Walter Pohl und Veronika Wieser, Wien 2009, S. 183–199, bes. S. 196–198. 7 Vgl. Althoff, Keller: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen, S. 364–372. Für die ältere Forschung vgl. Oskar Köhler: Die Ottonische Reichskirche. Ein Forschungsbericht, in: Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht, hg. v. Josef Fleckenstein und Karl Schmid, Freiburg 1968, S. 141–204. Für die Genese des Begriffs vgl. Rudolf Schieffer: Der ottonische Reichsepiskopat zwischen Königtum und Adel, in: FMSt 23 (1989), S. 291–301, 293. Zur Kritik am Begriff des Reichskirchensystems vgl. v. a. Timothy Reuter: The ›Imperial Church System‹ of the Ottonian and Salian Rulers. A Reconsideration, in: JEH 33 (1982), S. 347–374. Vgl. dagegen Josef Fleckenstein: Problematik und Gestalt der ottonisch-salischen Reichskirche, in: Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach, hg. v. Karl Schmid, Sigmaringen 1985, S. 83–98. 8 Vgl. dazu auch die Literatur bei Schieffer: Der ottonische Reichsepiskopat zwischen Königtum und Adel, S. 291f., Anm. 1–4, sowie S. 295, Anm. 22. 9 Ludger Körntgen: Möglichkeiten und Grenzen religiöser Herrschaftslegitimation. Zu den Dynastiewechseln 751 und 918/919, in: Walter Pohl und Veronika Wieser: Der frühmittelalterliche Staat, S. 369–389, hier: S. 387f. 10 Vgl. ferner Körntgen: Möglichkeiten und Grenzen religiöser Herrschaftslegitimation, S. 388: »Die Vorstellung von der göttlichen Beauftragung des Königs und der damit einhergehenden Verantwortung vor Gott können in diesem Zusammenhang wirksam werden; sie tragen dann dazu bei, das Königtum als transpersonale Einrichtung vorzustellen, erfahrbar zu machen und zu institutionalisieren.«
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standenen Gerichts- und Strafgewalten auch eine ›staatliche‹ Funktion zu.11 Aus diesem Grund ist der Ansicht Roman Deutingers beizupflichten: »Zu den Trägern der Staatlichkeit im Regnum muss man schließlich auch noch die Bischöfe und die Äbte von Reichsklöstern rechnen, denn die Trennung von Staat und Kirche liegt noch in ferner Zukunft.«12 Da sich bereits an diesen Bindungen erahnen lässt, in welchem Maße die Kirche im Reich zur Sicherung der weltlichen Herrschaft beitrug,13 ist hinsichtlich der Ereignisgeschichte u. a. der Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst als Folge dieser Entwicklung keine Überraschung mehr, sondern erscheint als geradezu zwangsläufig. Daher ist die Vorannahme berechtigt, dass diese Entwicklung genauso in zeitgenössischen Predigten thematisiert wurde wie manch andere Ereignisse des Zeitraums. In diesem Zusammenhang ist an die Klosterreform zu denken, die u. a. die Cluniazenser und Zisterzienser hervorgebracht hat,14 sowie an den Beginn der Kreuzzugsbewegung – und das Jahr 1198 markiert 11 Vgl. dazu Wilfried Hartmann: Der Bischof als Richter. Zum geistlichen Gericht über kriminelle Vergehen von Laien im früheren Mittelalter (6.–11. Jahrhundert), in: Römische Historische Mitteilungen 28 (1996), S. 103–124. 12 Roman Deutinger: Staatlichkeit im Reich der Ottonen – ein Versuch, in: Der frühmittelalterliche Staat: Walter Pohl und Veronika Wieser, S. 133–144, hier: 135. – In diesem Zusammenhang kann nur kurz auf die Forschungsdiskussion um den Begriff des Staates für (früh- bzw. hoch-)mittelalterliche Reiche verwiesen werden. Geprägt durch die Arbeiten von Otto Brunner, Theodor Mayer und Walter Schlesinger, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen, hielt sich noch lange die Überzeugung, bis weit ins Hochmittelalter hinein seien die europäischen Völker anders als in staatlicher Form organisiert gewesen. Diese Vorstellung wurde sodann durch den Begriff der ›Staatlichkeit‹ abgelöst, wie Hagen Keller (Die internationale Forschung zur Staatlichkeit der Ottonenzeit, in: Pohl und Wieser: Der frühmittelalterliche Staat, S. 113–131, hier: S. 121) deutlich gemacht hat: »[…] an Stelle des ›Staates‹ mit seinen Institutionen und Organen wurde – deutsch ausgedrückt – die ›Staatlichkeit‹ zum Thema, d. h. die Frage, wie die mittelalterlichen Königreiche und Fürstentümer, die man im weiten und vagen Sinne eines universalhistorischen Verständigungsbegriffs als ›Staaten‹ bezeichnen kann, strukturiert waren und funktionierten, unter Einschluss der Frage, wie viel oder wie wenig ›Staat‹ (im Sinne des modernen Begriffs) in dieser Organisation und im zugehörigen Leben enthalten war.« Der Begriff der ›Staatlichkeit‹ schließt sodann auch die (politische) Mitwirkung der Bischöfe und Äbte an der Herrschaft ein. Vgl. allgemein zur Forschungsdiskussion des Begriffs vor allem die hier bereits erwähnten Arbeiten von Deutinger und Keller. 13 Aufgrund der Bedeutung der Bischöfe für das Königtum kann kaum von einer bloßen Indienstnahme seitens des weltlichen Herrschers ausgegangen werden. Zu Recht betont Schieffer (Der ottonische Reichsepiskopat zwischen Königtum und Adel, S. 295) daher: »Wenn die ottonische Kirchenpolitik somit von Anfang an kaum gegen die weltlichen Großen realisiert werden konnte, so ist auch nicht zu erwarten, daß ihr Ergebnis ein beamtenartiger Episkopat an der kurzen Leine des Königs war.« 14 Vgl. dazu u. a. Haverkamp: Zwölftes Jahrhundert, S. 88–107; Hans-Werner Goetz: Cluny. Anfänge und Entwicklung eines mittelalterlichen Mönchsordens, in: Vorträge 2008–2014. Von der Gründung des Klosters Cluny 910 bis zum »Weimarer Dreieck«, hg. v. Reinhard Behrens, Wettin-Löbejün 2015, S. 15–38; Pius Engelbert: Art. »Cluniazensische Reform, Cluny«, in: LThK³ 2 (1994), S. 1235–1238; Karl Suso Frank, Art. »Cluny«, in: TRE 8 (1981),
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dabei zugleich den dritten großen und von Kaiser Heinrich VI. initiierten Kreuzzug. Ohne großen Aufwand ließen sich weitere Ereignisse und Entwicklungen von teilweise welthistorischer, in allen Fällen aber von politischer Bedeutung für das Reich anfügen, doch verdeutlichen die versammelten Beispiele bereits das Offensichtliche: Es mangelt keineswegs an relevanten Entwicklungen und Ereignissen zwischen 911 und 1198, so dass sich neben dem Jahrtausendwechsel auch manch anderes in zeitgenössischen Predigten niedergeschlagen haben dürfte. Daher scheint zumindest der politische Bereich genügend Material zu bieten, um auf das Verhältnis von Predigt und Politik in diesem Zeitraum eingehen zu können. Wie aber sieht es mit der Predigt und ihrer Überlieferung aus? Welche Typologie unterschiedlicher Predigtarten ist nach einer Bestandsaufnahme möglich? Und letztlich: Wie auskunftsfreudig sind diese im Hinblick auf zeitgenössische politische Entwicklungen?
2.
Die Vielfalt unterschiedlicher Predigttypen
Eine Sichtung des Materials lässt den zunächst erfreulichen Schluss zu, dass wohl nie zuvor in der Geschichte der christlichen Predigt eine so große Anzahl unterschiedlicher Predigtarten in einem Zeitraum zu beobachten ist. Fünf verschiedene Typen lassen sich feststellen, die – wenngleich zu je anderen Zeitpunkten einsetzend und unterschiedlich lange überdauernd – in ihrer Summe doch von dem Bestreben zeugen, die Predigten den sich wandelnden Bedürfnissen anzupassen und damit die Verkündigung möglichst erfolgreich zu gestalten. Um das ganze Panorama abzubilden, berücksichtigt der folgende Überblick alle Predigttypen der Zeit in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens, doch richtet sich die Intensität der Beschäftigung jeweils nach dem Potential jedes Typus, Auskunft über das Verhältnis von Predigt und Politik zu geben.
S. 126–132. Für die Zisterzienser vgl. u. a. Die Zisterzienser im Mittelalter, hg. v. Georg Mölich, Norbert Nußbaum und Harald Wolter-von dem Knesebeck, Köln 2017; Egon Boshof: Zisterzienser und Staufer: der Reformorden im Spannungsverhältnis zwischen Kaisertum und Papsttum, in: SMGB 127 (2016), S. 151–176; Jörg Oberste: Die Zisterzienser, Stuttgart 2014; Alberich Martin Altermatt: Art. »Zisterzienser / Zisterzienserin«, in: TRE 36 (2004), S. 704–715.
50 2.1
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Die Rezeption karolingischer Predigtsammlungen
Das große, von Karl dem Großen begonnene Reformprogramm bezog sich auch und gerade auf den kirchlichen Bereich. Zahlreiche Kapitularien bezeugen den herrscherlichen Willen, das Predigtwesen und die Predigtorganisation im Reich deutlich zu verbessern.15 In diesen Kontext sind auch die fünf großen Predigtsammlungen zu verorten, die zwischen dem ausgehenden 8. und der Mitte des 9. Jahrhunderts von Paulus Diaconus, Lantperhtus von Mondsee, Rabanus Maurus (mit gleich zwei Sammlungen) und Haymo von Auxerre im Auftrag geistlich und weltlich Großer angefertigt wurden.16 So unterschiedlich diese Sammlungen in inhaltlicher Hinsicht sein mögen, strebten sie doch alle das 15 Vgl. dazu exemplarisch Die Admonitio generalis Karls des Großen (MGH Fontes iuris germanici antiqui in usum scholarum separatim editi XVI), hg. v. Hubert Mordek, Klaus Zechiel-Eckes und Michael Glatthaar, Hannover 2013. Vgl. daneben u. a. Florence Close: Uniformiser la foi pour unifier l’Empire. La pensée politico-théologique de Charlemagne (Mémoire de la Classe des Lettres. Collection in-8°, 3e série, Bd. LIX), Brüssel 2011, bes. S. 211–301; Thomas Martin Buck: ›Capitularia imperatoria‹. Zur Kaisergesetzgebung Karls des Großen von 802, in: HJ 122 (2002), S. 3–26, bes. S. 18–23. Vgl. v. a. auch den Beitrag Maximilian Diesenbergers in diesem Band sowie seine Habilitationsschrift Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern. Arn von Salzburg, Karl der Große und die Salzburger Sermones-Sammlung (Millennium-Studien 58), Berlin 2015. 16 Für keine dieser Sammlungen liegt eine moderne, geschweige denn den heutigen Ansprüchen genügende Edition vor. Einer der Gründe ist die weite Verbreitung einzelner Predigten, die bereits wenige Jahrzehnte nach Fertigstellung der Sammlungen eingesetzt und keine geschlossenen Einheiten überliefert hat. Die Editionen bieten daher häufig Rekonstruktionen, die den ursprünglichen Fassungen unterschiedlich nahe kommen dürften. Dies wird schon am Beispiel mehrerer Versuche deutlich, die Sammlung des Paulus Diaconus zu rekonstruieren. Vgl. dazu Friedrich Wiegand: Das Homiliarium Karls des Grossen auf seine ursprüngliche Gestalt hin untersucht (SGTK 1), Leipzig 1897; Georg Loeck: Die Homiliensammlung des Paulus Diakonus, die unmittelbare Vorlage des Otfridischen Evangelienbuchs, Kiel 1890. In mancherlei Hinsicht hat Zackary Giuliano, dem ich für Auskünfte zu herzlichem Dank verpflichtet bin, mit seiner 2015 in Cambridge eingereichten, in Kürze erscheinenden Dissertation zur Klärung beigetragen. Vgl. für das von Paulus Diaconus erarbeitete Homiliar die Edition bei Migne in PL 95, 1159A-1580D. Die Sammlung des Lantperhtus von Mondsee liegt vor in den Handschriften Köln, Dombibliothek, Cod. 172 (die erste Hälfte der Sammlung) und Wien ÖNB, Ms. lat. 1014. Vgl. auch die Edition, die 1535 in der Offizin von Johannes Gymnich unter dem Titel ›Homiliae venerabilis Bedae Presbyteri Anglosaxonis, theologi celeberrimi, in D. Pauli epistolas & alias veteris & novi testamenti lectiones tam de tempore quam de sanctis, ut per totum annum in templis leguntur, nunc primum excusae‹ erfolgte. Für das Digitalisat vgl. das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16), Nr. B 1434 bzw. http://gate way-bayern.de/VD16+B+1434 (11. 01. 2018). Für die beiden Sammlungen des Rabanus Maurus vgl. PL 110.10B-134D, PL 110.78C-13AD, PL 110.135C-457D, sowie Hrabani Mauri, ex abbate Fuldensi, Archiepiscopi sexti Moguntini, Opera, quae reperiri potuerunt, omnia, in sex tomos distincta, hg. v. Georges Colvener, Köln 1626/1627, hier: tom. 5, S. 580–626. Für die Sammlung Haymos von Auxerre vgl. Haymonis Halberstatensis episcopi Opera Omnia, Bd. 3 in: Patrologia Latina, Bd. 118, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1852, Sp. 11B-816B.
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gleiche Ziel an, nämlich für möglichst jeden Predigtanlass den Predigern im Reich mindestens ein Predigtbeispiel zur Verfügung zu stellen. Da sie alle – wenn auch in unterschiedlichem Maße – ältere, meist patristische Texte rezipierten, ist jede Sammlung auch zu einer Blütenlese der besten Prediger früherer Zeiten geworden. Da sie sich zudem auf die Vermittlung der wichtigsten Inhalte der Bibel und des christlichen Glaubens konzentrieren, erfuhren die Sammlungen auch über die karolingische Zeit hinaus langanhaltende Beachtung. So hat Isnard Frank mit Blick auf die Überlieferungssituation resümiert, dass diese Predigtsammlungen bis ins 11. und 12. Jahrhundert hinein intensiv rezipiert wurden und offensichtlich als ausreichend betrachtet wurden, bis dann neue, umfangreichere Predigtsammlungen erarbeitet wurden.17 Allein ein Blick in die handschriftliche Überlieferung der von Rabanus Maurus erstellten Sammlungen beweist aber, dass die karolingischen Predigten auch noch darüber hinaus bis ins Spätmittelalter, ja bis in die Reformationszeit kopiert und verwendet wurden.18 In diesem Zusammenhang fällt allerdings das 12. Jahrhundert besonders ins Auge, da hier eine so außergewöhnliche Produktion von Handschriften nachweisbar ist, dass sie sicher nicht nur mit dem auch in anderen Literaturgattungen zu beobachtenden Anstieg der Handschriftenproduktion nach den ›dunklen‹ Jahrhunderten begründet werden kann.19 Bislang bekannt sind 61 Handschriften,20 für die eine Entstehung im 12. Jahrhundert angenommen wird und die 17 Vgl. Isnard W. Frank: Art. »Predigt. VI. Mittelalter«, in: TRE 27 (1997), S. 248–262, 254. 18 Vgl. dazu das Verzeichnis der Handschriften mit den Werken des Hrabanus Maurus (MGH Hilfsmittel 27), bearb. v. Raymund Kottje unter Mitarbeit von Thomas A. Ziegler, Hannover 2012. 19 Vgl. dazu u. a. Haverkamp: Zwölftes Jahrhundert, S. 13–23. In diesem Zusammenhang hat mich Regina D. Schiewer dank ihres noch unpublizierten Beitrags zur deutschsprachigen Predigt der Hirsauer Reform (vgl. die bibliographische Angabe in Anm. 72) sowohl auf den Begriff der ›Überlieferungsexplosion‹ aufmerksam gemacht wie auch auf die beiden folgenden Titel: Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert (Hermaea NF 115), Tübingen 2008; Ders. und Christa Bertelsmeier-Kierst: Man schreibt Deutsch. Volkssprachliche Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert. Erträge des ›Marburger Repertoriums deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts‹, in: Oswald-Jahrbuch 12 (2002), S. 21– 34, bes. 30. 20 Dies umfasst für die Überlieferung von Predigten des Rabanus Maurus folgende Handschriften: Admont, Stiftsbibl., Ms. 172; Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 270 (Rose Nr. 341, II); Berlin, SBB-PK, Ms. lat. qu. 677 (Görres 33); Brüssel, Bibl. Roy. de Belgique, Ms. II 1420; Cambridge, St. John’s College, Ms. 42; Florenz, Bibl. Nazionale Medicea Laurenziana, Plut. XVII Cod. XLI und Plut. XVIII Cod. XXIII; Frankfurt am Main, UB Johann Christian Senckenberg, Barth. 42; Freiburg i. Ü., Kantons- und UB, Ms. L 17, 316; Graz, UB, Cod. 83 (40/9); Hereford, Cathedral Libr., P 8 VII; Innsbruck, UB, Cod. 243; Kremsmünster, Stiftsbibl., Hs. 114, 246; Lincoln, Cath. Libr., Ms. 199; Madrid, BN, Cod. 10, 78, 212; Montpellier, Bibl. Interuniversitaire (Section Médicine), Ms. H 1/II; München, BSB, Clm 2539, 4508, 12609, 21531; München, UB, 2° Cod. ms. 312; Oxford, Bodleian Libr., Lyell 55; Oxford, Merton Coll., 15; Paris, Bibl. de l’Arsenal, Ms. 470, 471; Paris, Bibl. Mazarine, Ms. 568, 622; Paris, Bibl.
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Predigten aus den Sammlungen von Rabanus Maurus beinhalten. Ein repräsentatives Beispiel stellt die Handschrift Ms. Lyell 55 in der Oxforder Bodleian Library dar.21 Enthalten sind darin 51 Predigten für den 2. bis 24. Sonntag nach Pfingsten, die auf die folgenden Verfasser zurückzuführen sind:
Oxford, Bodleian Libr., Ms. Lyell 55, s. XII med. 0
5
10
15
20
25
30
Augustinus Beda Venerabilis Joh. Chrysostomos Leo Ps.-Augustinus Ps.-Leo Rabanus Maurus
Sowohl die Zusammensetzung als auch die Entstehung der Handschrift sind repräsentativ für die Rezeption karolingischer Predigtsammlungen: Sie wurden offensichtlich nicht mehr als Einheiten überliefert, denn es finden sich Predigten des Rabanus eingestreut zwischen denen anderer Verfasser. Vermutlich wurden entweder Predigten für Anlässe ausgewählt, für die in der Sammelhandschrift noch kein Text vorhanden war, oder man suchte die nach eigenem Ermessen am besten geeigneten Predigten und stellte sie zu neuen Sammlungen zusammen. Dabei ist auch zu beobachten, wie hoch die Predigten der karolingischen Homileten geschätzt wurden. Die in Oxford befindliche Handschrift, in der die Predigten des Rabanus nach denen des Kirchenvaters Augustinus am häufigsten vertreten sind, stellt schließlich keine Ausnahme dar. Zudem verweist auch die Entstehung der Handschrift Mitte des 12. Jahrhunderts im oberösterreichischen Benediktinerstift Lambach auf den üblichen Fall, dass der Ort der Rezeption und des Gebrauchs karolingischer Predigten in den Klöstern zu sehen ist. Ob sie dort allein zu Studium und Erbauung der Konventsmitglieder genutzt wurden oder Sainte-Geneviève, Ms. 127, 136–137; Paris, BnF, Ms. lat. 315, 794, 809, 2510, 14280, 16821– 16822; Porto, BPM, Santa Cruz 4; Rom, Bibl. Vallicelliana, Cod. 2, 15, 23; Stuttgart, Württemberg. LB, HB VII 59; Toronto, Bergendal Coll., Ms. 37; Udine, Bibl. Capit., Cod. 22; Vatikan, BAV, Borgh. lat. 4; Vatikan, BAV, Reg. lat. 457, 484; Vatikan, BAV, Vat. lat., 1210, 6074; Vorau (Steiermark), Stiftsbibl., Hs. 265, 345; Wien ÖNB, Cod. 701 (Theol. 87); Worcester, Cath. Libr., F 93. 21 Vgl. dazu Kottje: Verzeichnis der Handschriften mit den Werken des Hrabanus Maurus, S. 130f., Nr. 716; Catalogue of Medieval Manuscripts Bequeathed to the Bodleian Library Oxford by James P. R. Lyell, hg. v. Albinia C. de la Mare, Oxford 1971, S. 163–168.
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ob sie weiterhin auch außerhalb der Klostermauern zu Predigtzwecken herangezogen wurden, lässt sich aufgrund fehlender Quellenbelege allerdings nicht mehr entscheiden. Es ist jedoch nicht so sehr die Unklarheit hinsichtlich des Gebrauchs karolingischer Predigten, die sie für das Verhältnis von Predigt und Politik als ungeeignet erscheinen lässt. Der Grund ist vielmehr in ihrem Inhalt zu sehen: Da die fünf Sammlungen von Paulus Diaconus bis Haymo von Auxerre der Vermittlung der Grundpfeiler des christlichen Glaubens, der Anleitung zu einem frommen und tugendhaften Lebenswandel sowie der Erziehung zu guten Christenmenschen dienen sollten, waren sie eindeutig für Katechese und Erbauung gedacht; Bezüge zu zeitgenössischen politischen Ereignissen wurden daher nicht hergestellt, zumal diese drei- oder vierhundert Jahre später noch weniger zweckdienlich gewesen wären.
2.2
Die monastische Predigt
Neben den karolingischen Predigten ist in den Klöstern sodann mit der monastischen Predigt noch ein weiterer Typus zu finden. Der Begriff meint jene Predigt, die innerhalb von Konventsmauern gehalten wurde. Für den hier zu betrachtenden Zeitraum kommen daher neben Kanonikerstiften die Niederlassungen der Benediktiner, der Cluniazenser, sowie der Zisterzienser (und den entsprechenden Einrichtungen für Kanonissen bzw. Nonnen) in Frage. Für das Verhältnis von Predigt und Politik spielt aber auch die monastische Predigt keinerlei Rolle, schließlich gehen die wenigen überlieferten Zeugnisse kaum auf die Außenwelt ein. Zwar waren u. a. die Zisterzienser auch in die öffentliche Predigt, insbesondere im Rahmen der Kreuzzugsbewegung, involviert, doch entsprechen diese Beispiele nicht dem Verständnis der monastischen Predigt.22 Sie thematisiert das Leben im Kloster, zielt auf die geistliche Entwicklung der Mönche und Nonnen ab und weist damit eindeutig eine inwendige Ausrichtung auf.23 So etwa kritisiert der Benediktiner Julian von Vézelay im 12. Jahrhundert diverse Regelverletzungen, vor allem dass seine Ordensbrüder zu viel essen. Der Zisterzienser Hélinand von Froidmont geht wenig später in seinen Predigten u. a. auf Klostergebäude ein. Außerdem behandelt die monastische Predigt Lesungen, Hymnen oder geistliche Praktiken.24 Die Weltabgewandtheit im Kloster ließ offensichtlich jegliche Beschäftigung mit politischen Verhältnissen als überflüssig erscheinen. 22 Vgl. dazu Kienzle: The Typology of the medieval Sermon, S. 96. 23 Vgl. a.a.O., S. 95. 24 Vgl. a.a.O., S. 95f.
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2.3
Die Bischofspredigt
Die Ausbildung der Bischofspredigt als eigenständiger Typus – gelegentlich als Inbegriff einer »Blüte der Predigtkultur«25 bezeichnet – ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. So hat zunächst die Entwicklung des von den ottonisch-salischen Kaisern etablierte und von Teilen der Forschung so bezeichnete Reichskirchensystem den Bischöfen größere Bedeutung innerhalb der Reichsherrschaft verschafft.26 Dabei ist allerdings nicht so sehr von einer Zunahme an persönlichen Machtbefugnissen der Bischöfe auszugehen als vielmehr von einer stärkeren Bindung an die weltlichen Herrscher. Dies zeigt sich bei den Bischöfen genauso wie bei Äbten und Äbtissinnen, die zu einem nicht geringen Teil den Familien der Ottonen und Saliern entstammten.27 So hat Rudolf Cruel schon in seiner 1879 erschienenen ›Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter‹ geschrieben: »Die beiden Jahrhunderte von 900–1100 sind die Glanzepoche des deutschen Episkopates, der damals reichstreu und patriotisch gesinnt und die festeste Stütze der kaiserlichen Macht gegenüber den Sonderinteressen der weltlichen Fürsten war.«28
Daneben gewannen die deutschen Bischöfe auch aufgrund quantitativer Zunahme an Bedeutung. Ursächlich waren hierfür mehrere Missionsanstrengungen und die daraus resultierenden Neugründungen von Bistümern.29 Nachdem man sich von Bremen und Hamburg aus zunächst auf die Christianisierung im Gebiet nördlich der Elbe konzentriert hatte, rückte unter Kaiser Otto I. zunehmend die
25 Vgl. Wendelin Knoch: Die Predigt im Mittelalter. Medium der geistlichen Erziehung zu christlicher Lebensform, in: Das Mittelalter 9 (2004), S. 124–134, 125: »Die Entfaltung der bischöflichen Predigt von 900–1100 führte zu einer Blüte der Predigtkultur.« 26 Vgl. u. a. Schieffer: Der ottonische Reichsepiskopat zwischen Königtum und Adel, S. 295. 27 Vgl. stellvertretend Tina Bode: Die Bischöfe und Erzbischöfe der Mainzer Kirchenprovinz. Zur Darstellung und Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen des Episkopats mit dem ottonischen Königshaus, in: Familie – Generation – Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne (Bamberger Historische Studien 2), hg. v. Hartwin Brandt, Maximilian Schuh und Ulrike Siewert, Bamberg 2008, S. 151–175; Winfried Glocker: Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiserhauses, Köln, Wien 1989, bes. S. 119–153, 201–211. 28 Rudolf Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879, ND Hildesheim 1966, S. 80. Als Beispiele für seine These werden angeführt: Bruno von Köln, Konrad von Konstanz, Wolfgang von Regensburg, Ulrich von Augsburg, Anno von Köln, Bardo von Mainz, Godehard von Hildesheim, Adalbert von Bremen, Meinwerk von Paderborn (vgl. a.a.O., S. 81, 83, 87, 91f.). Die gleichen Personen nennt auch Wendelin Koch (Die Predigt im Mittelalter, S. 125). Bei Johannes Marbach (Geschichte der deutschen Predigt vor Luther, S. 69) finden sich zudem die Mainzer Erzbischöfe Friedrich (937–954) und Willigis (975– 1011). 29 Vgl. Lutz von Padberg: Christianisierung im Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 137–159; Ders.: Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 22009, S. 157–179.
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Missionierung der Slawen im Osten des Reichs in den Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang wurden Bischofssitze in Magdeburg, Merseburg, Meißen, Naumburg, Brandenburg und Havelberg sowie für Schlesien auch in Breslau etabliert.30 Besonders in den neuen Bistümern kam den Bischöfen die Hauptsorge um die Predigt und die gesamte Predigtorganisation zu. Damit waren sie ähnlich gefordert wie ihre Vorgänger, die zu karolingischer Zeit für die Umsetzung der Synodalbeschlüsse und die Überwachung des Predigtwesens verantwortlich waren.31 Auch hatten sie mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen wie im Falle der Sachsenmission gegen Ende des 8. Jahrhunderts. Denn auch die Slawen, obwohl man sie mehrheitlich zur äußerlichen Annahme des christlichen Glaubens hatte bringen können, huldigten vielfach weiterhin ihren alten Gottheiten und unternahmen zahlreiche Einfälle ins Reichsgebiet.32 Der Magdeburger Erzbischof Adelgorius rief daher die Bischöfe von Sachsen, Franken, Lothringen und Flandern auf, einen Kreuzzug gegen die Slawen predigen zu lassen.33 Schriftliche Zeugnisse sind allerdings nicht überliefert und das Meiste, das man über die Verkündigung während der Slawenmission in den Quellen erfahren kann, konzentriert sich auf Otto von Bamberg. Er galt bereits Zeitgenossen als erfolgreichster Prediger. Dieses Urteil kommt nicht von ungefähr, denn nachdem er vom polnischen König Bolesław Chrobry um die Missionierung in Pommern gebeten worden war,34 soll er laut Berichten innerhalb von zwanzig Tagen 7000 Heiden zur Bekehrung veranlasst und sie über den christlichen Glauben, religiöse 30 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 71. 31 Für die karolingischen Kapitularien vgl. u. a. Mordek, Zechiel-Eckes und Glatthaar: Die Admonitio generalis Karls des Großen, S. 220, Z. 291–300, S. 234, Z. 391–398. Vgl. auch die zwischen 823 und 825 erlassene Admonitio ad omnes regni ordines, in: Capitularia regum Francorum, Bd. 1 (MGH Leges II, Capitula regum Francorum I), hg. v. Alfred Boretius, Hannover 1883, Nr. 150, S. 303–307, 303, Z. 35–304, Z. 5, sowie a.a.O., Ansegisi Capitularium, Nr. 183, S. 394–450, 415, Z. 23–37. Für die spätere, v. a. ottonische Zeit vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 70: »Da nun die römische Kirche ebenfalls für christliche Bildung und Belehrung des Volkes weiter keine Sorge trug, so war die Durchführung der karolingischen Verordnungen und namentlich die Pflege der Predigt allein der Obhut der deutschen Bischöfe überlassen.« 32 Vgl. u. a. Marbach: Geschichte der deutschen Predigt vor Luther, S. 75: »Auf der Grenze des 10. und 11. Jahrhunderts sucht Wigbert, Bischof von Merseburg (+ 24. März 1009) in unablässiger Predigt und Lehre seine ihm anvertrauten Pfarrkinder von dem heidnischen Aberglauben abzubringen. […] Wären uns nur aus dieser Zeit und Praxis Predigten überliefert worden!« 33 Widerstand gegen die Missionsanstrengungen regte sich sodann auch in Schleswig und Holstein. Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 72f. 34 Um die Verkündigung erfolgreich zu gestalten, stellte der polnische König ihm zudem einen Dolmetscher zur Verfügung (vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 73). Zur Missionierung Ottos vgl. u. a. Cruel, a.a.O., S. 80–96; Anton Linsenmayer: Geschichte der Predigt in Deutschland von Karl dem Grossen bis zum Ausgange des vierzehnten Jahrhunderts, (München 1886) Frankfurt 1969, S. 18–22; Johannes Baptist Schneyer: Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg i. Br. 1969, S. 100–103.
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Feste und Bräuche, Fastenzeiten, den Verlauf des Kirchenjahres, sowie über das Leben Jesu und seiner Apostel belehrt haben.35 Ein Predigtbeispiel ist indes selbst für seine Predigttätigkeit nicht ausfindig zu machen. Es lässt sich somit schon erahnen, wie es um die Überlieferung von Bischofspredigten bestellt ist, weshalb bereits Cruel festhielt: »So wenig man daher in diesen zwei Jahrhunderten von Predigern aus dem Priesterstande hört, so vielfach werden einzelne Bischöfe als eifrige und wirksame Kanzelredner gerühmt, wenngleich nur geringe Proben ihrer homiletischen Thätigkeit sich erhalten haben.«36
Dieses Urteil ist bei genauerer Betrachtung noch zu wohlwollend ausgefallen, denn man wird zu dem Schluss kommen, dass fast überhaupt keine Beispiele überliefert sind.37 Selbst die intensive Predigttätigkeit im Vorfeld des Jahres 1000, das als Datum des nahenden Weltendes wahrgenommen wurde, lässt sich zumindest für das Reich nicht mehr quellenmäßig veranschaulichen.38 Alles, was wir über die Bischofspredigt sagen können, muss daher aus Chroniken gewonnen werden. Das dort gezeichnete Bild einer intensiven Predigttätigkeit, das u. a. Rudolf Cruel übernommen hat, scheint dabei im Widerspruch mit den Synodalakten zu stehen, die die Bischöfe daran erinnern, doch wenigstens an den höchsten Festtagen zu predigen.39 Von Bischof Hermann von Prag, der als gewissenhafter Vertreter präsentiert wird, heißt es, dass er immer recht kurz gepredigt habe, weshalb die Forschung mehrheitlich davon ausgegangen ist, die Bischofspredigt als vergleichsweise kurze, kunstlose Ansprache zu deuten.40 Einen besseren Eindruck über Möglichkeiten und Grenzen des Informationsgehalts mögen aber die drei folgenden Beispiele vermitteln. 35 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 74. Vgl. a.a.O., S. 75: »Otto brach sodann noch zu einer zweiten Missionsreise auf, die ihn zwischen 1127 und 1130 nach Pommern führte.« 36 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 70. 37 Zu diesem Urteil kommt auch Anna Maria Valente Bacci: The Typology of medieval German Preaching, in: De l’homélie au sermon, hg. v. Hamesse und Hermand S. 313–329, hier: 320. 38 Vgl. Marbach: Geschichte der deutschen Predigt vor Luther, S. 70: »Eine besondere Beachtung verdienten die Predigten über das nahe Ende der Welt, das allgemein mit dem Jahr 1000 erwartet wurde, am Schlusse des 10. Jahrhunderts. […] Für das deutsche Reich wollen die Quellen von Predigten mit Bezug auf das verhängnisvolle Jahr nicht fliessen. Eine Spur doch müsste sich von derartigen gehaltenen deutschen Predigten finden.« 39 Interessant ist, dass Cruel selbst (Geschichte der deutschen Predigt, S. 209) die Situation gegen Mitte des 11. Jahrhunderts anders beschreibt als den zuvor vermittelten Eindruck: »Was in dieser Hinsicht geschehen sollte, war nur von Seiten der Bischöfe zu erwarten, diese jedoch müssen auf verschiedenen Provinzial-Concilien sich selbst an ihre Pflicht erinnern lassen, wenigstens an den höchsten Festtagen persönlich oder durch Andre das Wort Gottes zu verkündigen.« 40 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 79.
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2.3.1 Die Predigt Erzbischof Aribos im Anschluss an die Krönung Konrads II. (1024) Nachdem der letzte ottonische Kaiser Heinrich II. im Juli 1024 kinderlos gestorben war, trat sieben Wochen später eine Wahlversammlung am Rheinufer gegenüber von Oppenheim zusammen. Die Wahl fiel letztlich auf Konrad den Älteren, der aus salischem Geschlecht und aus der Gegend um Speyer und Worms stammte, wohl auch aus dem Grund, weil er bereits einen minderjährigen Sohn hatte, so dass die Zukunft des Reichs durch Begründung einer neuen Herrscherdynastie gesichert schien.41 Treibende Kraft hinter der Wahl Konrads war wohl der Mainzer Erzbischof Aribo42, der im Rahmen der Krönungszeremonie43 auch die folgende Predigt hielt, die der Chronist Wipo in seinen Tatenbericht Kaiser Konrads eingeflochten hat. Es scheint wahrscheinlich, dass Wipo tatsächlich zugegen war,44 doch ist die aufgenommene Predigt mit Vorsicht zu betrachten. Schließlich war Wipo Hofkaplan von Heinrich und von Konrad und so hat er u. a. die Wahl, der ein längeres Ringen vorausgegangen war, als freie und ideale Abstimmung dargestellt, obwohl doch der Kölner Erzbischof und die Lothringer aus Protest abreisten.45 Außerdem hat Wipo von vollständiger Anwesenheit sächsischer Repräsentanten gesprochen, die indes jedoch zum großen Teil fehlten.46 Seine Parteinahme wird zudem deutlich, wenn er die Stimmung unmittelbar vor Predigtbeginn mit den Worten schildert, dass er noch nie erlebt habe, dass Gott so große Lobgesänge von Menschen an einem einzigen Ort erhalten habe, und dass die Begeisterung nicht hätte größer sein können, wenn Karl der Große höchstpersönlich anwesend gewesen wäre.47 Trotz dieser Vorbehalte scheint die niedergeschriebene Predigtpassage einen wahren Kern zu haben, da sie sich nicht nur mit Belobigungen Konrads aufhält, sondern nach Manier eines Herrscherspiegels durchaus auch kritisch ermahnt und an die Verantwortung des Königs erinnert. Gleich zu Beginn wird daher an 41 Zum Verhältnis zwischen Königtum und Kirche in der Herrschaftszeit Heinrichs II. und Konrads II. vgl. u. a. Hartmut Hoffmann: Mönchskönig und »rex idiota«. Studien zur Kirchenpolitik Heinrichs II. und Konrads II. (MGH Studien und Texte 8), Hannover 1993. 42 Aribo war von 1021 bis 1031 Mainzer Erzbischof. Vgl. Alois Gerlich: Art. »Aribo, Erzbischof von Mainz (1021/um 990–1031)«, in: LMA 1 (1980), Sp. 927f. 43 Wipo schreibt, die Predigt sei während der Salbung gehalten worden. Vgl. Wiponis Opera (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum 61), hg. v. Harry Breslau, Hannover, Leipzig ³1915, S. 1–62, 20.32–21.3. 44 So u. a. Herwig Wolfram: Konrad II. 990–1139. Kaiser dreier Reiche, München 2000, S. 60. 45 Vgl. dazu den ausführlichen Überblick in: Die Regesten des Kaiserreiches unter Konrad II. 1024–1039 (J. F. Böhmer, Regesta Imperii III: Salisches Haus: 1024–1125, Erster Teil: 1024– 1056), neu bearb. v. Heinrich Appelt unter Mitwirkung von Norbert Bischoff, Graz 1951, hier: Nr. m, S. 8–10. 46 Ebd. 47 Vgl. Wiponis vita Chuonradi imp., S. 20.24–27.
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das Gottesgnadentum erinnert: Die gesamte Macht komme einzig von Gott.48 Dieser sei, so heißt es weiter, der allmächtige König der Könige, der Ehre und Würde nur aus Gnade an weltliche Herrscher verleihe.49 Aus diesem Grund müsse sich Konrad auch sowohl seiner besonderen Verantwortung gegenüber Gott als auch seines Vorbildcharakters gegenüber den Untertanen bewusst sein. Hochmut, Neid, Begierde, Geiz, Zorn, Ungeduld und Grausamkeit seien einem König von Gottes Gnaden nicht nur unwürdig, sondern brächten Konrad und allen Menschen, über die er herrsche, Sündenschuld ein.50 Anschließend erinnert der Erzbischof daran, dass Konrad von Gott erwählt worden sei, über sein Volk zu herrschen,51 weshalb er ihn im Vorfeld auch intensiv geprüft, ja teilweise gequält habe, indem er ihn wie Abraham und David Versuchungen ausgesetzt habe.52 In diesem Zusammenhang wird an eine Auseinandersetzung mit dem Kaiser erinnert, bei der es um die Vorherrschaft in Kärnten gegangen war. Aribo verzichtet auf Einzelheiten, denn es geht ihm darum, deutlich zu machen, dass Gott diese Auseinandersetzung bewusst herbeigeführt habe. Es sei Gottes Wille gewesen, dass Konrad zunächst die Gunst des Kaisers verlor und erst nach einiger Zeit wiedererlangte. Dadurch habe Gott ihm vermitteln wollen, wie es sich anfühle, Unrecht zu erleiden.53 An Konrad ergeht damit die Mahnung, Unrecht zu beseitigen und sich denen gegenüber barmherzig zu erweisen, die durch ihr Fehlverhalten seinen Zorn auf sich gezogen hätten. Erst nach diesen Prüfungen habe Gott beschlossen, ihn zum König zu erheben, doch sei damit besondere Verantwortung verbunden: »Du bist zur höchsten Würde gelangt, du bist der 48 Wiponis vita Chuonradi imp., S. 21.10f.: Scriptum est enim »Omnis potestas a Deo«. (»Es ist nämlich geschrieben: ›Die ganze Macht kommt von Gott.‹«) 49 Wiponis vita Chuonradi imp., S. 21.11–13: Is omnipotens rex regum, totius honoris auctor et principium, quando in principes terrae alicuius dignitatis gratiam transfundit[.] (»Er ist der allmächtige König der Könige, der Urheber und Ursprung aller Ehre, wann immer er auf die Führer der Erde die Gunst irgendeiner Würde überträgt.«) 50 Wiponis vita Chuonradi imp., S. 21.14–22.1: Cum autem pervenerit ad eos, qui hanc dignitatem indigne tractaverint et eam cum superbia, invidia, libidine, avaritia, ira, impatientia, crudelitate polluerint, sibi et omnibus subiectis, nisi poenitendo se purgaverint, periculosum potum iniquitatis propinabunt. (»Wenn er jedoch zu denen kommt, die diese Würde unwürdig verwaltet und sie mit Hochmut, Neid, Wollust, Geiz, Zorn, Unenthaltsamkeit oder Grausamkeit beschmutzt haben, so werden sie sich selbst und allen ihren Untertan – wenn sie sich nicht durch Reue gereinigt haben – den gefahrvollen Trank der Sünde auftischen.«) 51 Vgl. Wiponis vita Chuonradi imp., S. 22.6–10. 52 Vgl. Wiponis vita Chuonradi imp., S. 22.10–15. 53 Vgl. Wiponis vita Chuonradi imp., S. 22.17–22: Permisit te antecessoris tui imperatoris Heinrici gratiam perdere et eandem iterum recipere, ut scias modo his misereri, qui perdunt gratiam tuam; passus est iniurias, ut nunc scias misereri sustinentibus iniurias[.] (»Er hat zugelassen, dass du die Gunst deines Vorgängers, des Kaisers Heinrich, verlierst und dieselbe wieder zurückerlangst, auf dass du wissest, wie du dich derer erbarmen sollst, die deine Gunst verloren haben; er hat Unrecht zugelassen, damit du nun weißt, wie du dich derer annehmen kannst, die Unrecht leiden.«)
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Stellvertreter [– oder besser: Nachfolger –] Christi«54, lässt Aribo ihn wissen und fügt an: »Niemand ist ein wahrer Herrscher, der nicht Christus nachahmt.«55 In Anwesenheit der versammelten Würdenträger lässt er den neuen König daher wissen, was Gott – und in gewisser Weise auch das Reich – von ihm erwartet: Er soll Recht sprechen und Gerechtigkeit und Frieden wahren.56 Er soll als Verteidiger der Kirche und aller Geistlichen, sodann auch der Witwen und Waisen auftreten. Vorher könne er sich keiner stabilen Herrschaft erfreuen.57 Beendet wird seine Predigt sodann mit dem im Rahmen einer mittelalterlichen Königssalbung obligatorischen Wunsch nach Vergebung aller Schuld, die im Vorfeld der Wahl im Zuge der Rivalitäten angefallen ist: »Und nun, Herr König, bittet die gesamte heilige Kirche mit uns deine Gunst für die, die gegen dich gesündigt haben und durch irgendeine Anmaßung deine Gunst verloren haben.«58
Wie lässt sich dieses Predigtbeispiel nun bewerten? Als Primas hat Aribo häufiger vor dem kaiserlichen Hof gepredigt, doch handelt es sich hierbei um das einzig bekannte Zeugnis.59 Die Predigt ist wie die Chronik, in die sie eingebettet ist, in lateinischer Sprache verfasst, wird aber in der Volkssprache vorgetragen worden sein, da Konrad kein Latein verstand und die meisten seiner Standesgenossen überhaupt keinen schulischen Unterricht erhalten hatten.60 Für die Verbindung von Predigt und Politik spricht allein schon die Notwendigkeit der Predigt, durch die die Salbung und die Krönung des mittelalterlichen Herrschers sowie die Ausstattung mit den herrscherlichen Insignien erst komplett und gültig werden. Ohne den Beitrag der kirchlichen Elite, insbesondere des Mainzer Erzbischofs, hätte das sakrale Element der Krönungszeremonie gefehlt, das Voraussetzung für die Anerkennung des Königs war. Daher war es auch wichtig, dass Aribo auf das Gottesgnadentum verwies, das den neuen König erst legitimierte und zu 54 Wiponis vita Chuonradi imp., S. 22.24–23.1: Ad summam dignitatem pervenisti, vicarius es Christi. 55 Wiponis vita Chuonradi imp., S. 23.1f.: Nemo nisi illius imitator verus est dominator[.] 56 Vgl. Wiponis vita Chuonradi imp., S. 23.5–7: Cum vero Deus a te multa requirat, hoc potissimum desiderat, ut facias iudicium et iustitiam ac pacem patriae[.] (»Auch wenn Gott vieles von dir fordert, so verlangt er doch am meisten, dass du Gericht hältst sowie Gerechtigkeit und Frieden im Vaterland bewahrst.«) 57 Vgl. Wiponis vita Chuonradi imp., S. 23.7–10: […] ut sis defensor ecclesiarum et clericorum, tutor viduarum et orphanorum: cum his et aliis bonis firmabitur thronus tuus hic et in perpetuum. (»[…] auf dass du ein Verteidiger der Kirche und Kleriker sowie ein Beschützer der Witwen und Waisen seist: dadurch und durch alles Gute wird dein Thron hier und in Ewigkeit gestärkt.«) 58 Wiponis vita Chuonradi imp., S. 23.10–13: Et nunc, domne rex, omnis sancta ecclesia nobiscum rogat gratiam tuam pro his, qui contra te hactenus deliquerunt et offensione aliqua gratiam tuam perdiderunt. 59 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 87. 60 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 86f.
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seinem Amtsantritt einen gewissen Vorschuss an Stabilität gab.61 Wer wollte denn sogleich einen Aufstand proben, wenn der neue König von Gott auserkoren war und man nicht wusste, wieviel Macht Gott ihm gegeben hatte!? Vor diesem Hintergrund sind die von Aribo vorgebrachten Ermahnungen und Erwartungen für Konrad II. beinahe als nebensächlich zu erachten. Sich der Sünden zu enthalten, stattdessen sich an die bereits aus der Antike tradierten Herrschertugenden62 zu erinnern, ein Gott gefälliges Leben zu führen und sich dabei für das Wohl von Reich und Volk einzusetzen, dürfte einen Gemeinplatz in Predigten zu diesem Anlass darstellen. 2.3.2 Die Predigt Bischof Imbrichos anlässlich der Bestattung Ottos von Bamberg (1139) Eine ähnliche Überlieferungssituation liegt im Fall der Predigt des Würzburger Bischofs Imbricho vor, die er anlässlich der Bestattung Ottos von Bamberg, des ›Apostels der Pommern‹63, gehalten haben soll. Die Predigt findet sich in der Lebensbeschreibung Ottos, die ein gewisser Herbord von Michelsberg 1159 und damit zwanzig Jahre nach dem Tode Ottos verfasst hat. Daher sind auch in diesem Fall wieder begründete Zweifel an der Überlieferung angebracht. Schließlich kann Herbord eine Abschrift der Predigt wortgetreu übernommen haben oder aber auch eigene Gedanken angestellt haben, was den Inhalt der Predigt angeht. Er behauptet immerhin, dass es sich um eine kurze Predigt handele – die übliche Bischofspredigt der Zeit dürfte also etwas umfangreicher gewesen sein.64 Der inhaltliche Charakter wird gleich zu Beginn deutlich, wenn es heißt: »Martha ist tot! Schau, wo sie liegt! Wer wird von nun an den kommenden Herrn Jesus in seinem Haus aufnehmen? Martha, die ihn sonst für gewöhnlich aufgenommen hat, ist wirklich verstorben.«65
61 Vgl. dazu Althoff, Keller: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen, S. 368: »Dem Zuwachs an Legitimation, den das ottonische Sakralkönigtum der Kirche verdankte, entsprach also eine Gebundenheit an die Erwartungen, die die Kirche an Könige richtete, die sie als christliche zu ehren bereit war.« Vgl. auch Schieffer: Der ottonische Reichsepiskopat zwischen Königtum und Adel, S. 292. 62 Vgl. dazu allein die Herrschertugenden, die in Suetons (um 70–122 n. Chr.) Kaiserviten genannt werden: C. Svetoni Tranqvilli De vita Caesarvm libros VIII, hg. v. Robert A. Caster, Oxford 2016. 63 So auch im Titel der Übersetzung seiner Lebensbeschreibung: Ebo von Michelsberg, Der Pommernapostel Otto von Bamberg. Das Leben des Bischofs und Bekenners, hg. und übers. v. Lorenz Weinrich, Schwerin 2012. 64 Vgl. Herboldi dialogus de vita Ottonis episcopi Babenbergensis (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum 33), hg. v. Rudolf Köpke, Hannover 1868, S. 43, § 42. 65 Ebd.
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Weiter wird ausgeführt, Otto sei ein wahrer Diener Christi gewesen, er hätte sich gegenüber allen Armen und Bedürftigen barmherzig gezeigt, hätte ein Beispiel dessen gegeben, wie man als Christ leben solle, zudem hätte seine Lehre mit seinem Lebenswandel übereingestimmt.66 Sowohl der Papst als auch der Kaiser würden von Ottos Tod erfahren,67 schließlich seien sie doch beide mit einem großen Verlust gestraft worden.68 Otto habe nämlich wahrhaftig die Forderung Jesu praktiziert, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers sei, und Gott, was Gottes sei (Mk 12,17).69 Allerdings scheint Imbricho zu vermuten, dass der Tod Ottos für Kaiser und Reich einen größeren Verlust bedeute, denn persönliche Worte werden nur an den weltlichen Lenker gerichtet: »Dir, o kaiserliche Majestät, dir wird nicht so schnell eine andere Säule sich erheben, auf die du so sehr vertrauend dich stützen kannst; er hat dich nicht nur mit Reichtümern und weltlicher Bildung, sondern, was größer ist, mit Verdiensten und Heiligkeit unterstützt.«70
Unter den Tugenden, durch die sich Otto ausgezeichnet habe, nimmt seine Barmherzigkeit einen besonderen Stellenwert ein.71 Wie kaum ein anderer habe er sich barmherzig gezeigt, was Imbricho zum Anlass nimmt, die Versammelten dazu aufzurufen, Gott im Gebet ebenfalls um Barmherzigkeit gegenüber dem
66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Herboldi dialogus de vita Ottonis episcopi Babenbergensis, S. 45, § 42: Huius enim interitum et tu, o Romane pontifex, caput sanctae matris ecclesiae, senties, et tu, regnator orbis, rex Alamanniae, imperator Romanorum auguste, casum quoque huius experieris. (»Dessen Verlust wirst nämlich sowohl du, Herr Papst, Haupt der heiligen Mutter Kirche, spüren als auch du, Herrscher des Weltkreises, König von Deutschland, erhabener Kaiser der Römer, wirst von dessen Schicksal erfahren.«) 68 Vgl. ebd.: Ambo permaximi, magne clade mulctati estis. (»Ihr beiden Höchsten, ihr werdet mit einem herben Verlust gestraft.«) 69 Vgl. ebd.: Occubuit, inquam, ille qui potis erat et industrius et prona voluntate reddere caesari quae caesaris sunt, et Deo quae Dei sunt. (»Gestorben ist jener, sage ich, der imstande war, fleißig und in geneigtem Willen dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.«) 70 Vgl. ebd.: Non tibi, o imperialis maiestas, non tibi cito consurget alia columpna, cui tam fiducialiter inniti queas; hic te quidem non solum divitiis et prudentia saeculari, sed, quod utroque maius est, meritis ac sanctitate suffulsit. Der Verlust für Kaiser und Reich wird sodann noch einmal präzisiert (ebd.): Sanctitate, inquam, et virtutum meritis imperatorem pariter et imperium sublevavit. (»Durch Heiligkeit, sage ich, und durch Verdienste seiner Tugenden hat er zugleich Kaiser und Reich unterstützt.«) 71 Vgl. a.a.O., S. 46, § 42: Misericordia Dei ante oculos eius semper fuit. (»Die Barmherzigkeit Gottes hatte er immer vor Augen.«) Vgl. ebd.: Equidem non surdis auribus illud evangelicum accepit: »Beati misericordes, quoniam ipsi misericordiam consequentur.« Et: »Estote misericordes, sicut pater vester misericors est.« Nullus autem misericors esse potest, qui humilis non fuerit. (»In der Tat vernahm er jenes Evangelienwort nicht mit tauben Ohren: ›Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.‹ Und: ›Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist.‹ Niemand kann jedoch barmherzig sein, der nicht auch demütig ist.«)
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Verstorbenen zu ersuchen.72 Herbord schließt mit den Worten: »So wurde die Messe beendet an jenem Ort, wo sich die Kirche des seligen Michael befindet, während Grafen, Markgrafen und andere Adlige die Totenbahre trugen und den Sarg niederließen[.]«73 Von der Gegenwart des namentlich angesprochenen Kaisers ist außerhalb der Predigt keine Rede, wohl aber waren offensichtlich zahlreiche Adlige zugegen, die die Worte vernahmen. Immer eingedenk der Tatsache, dass die wahre Gestalt der Predigt im Dunkeln bleibt, zeigt die gebotene Fassung doch erneut einen politischen Aspekt der Bischofspredigt: Dieser kommt nicht so sehr in den rühmenden Worten eines frommen und tugendhaften Lebenswandels zum Ausdruck, der natürlich ebenso allen Anwesenden ins Gedächtnis gerufen wird; er kommt vielmehr in der Eigenwahrnehmung der Bischöfe zum Ausdruck, die sich als Stützen der weltlichen Herrschaft betrachten. Die Aussage Imbrichos, der Tod Ottos stelle auch für den Kaiser einen herben Verlust dar, der so schnell nicht wettgemacht werden könne, ist in diesem Zusammenhang von besonderer Aussagekraft: Natürlich waren sich die Bischöfe ihrer Rolle innerhalb der das Königtum stützenden Reichskirche bewusst und so war ihnen auch klar, dass sie ihre Einsetzung zwar nicht ausschließlich, aber doch in Teilen auch dem weltlichen Herrscher zu verdanken hatten, der im Gegenzug entsprechende Leistungen und Gehorsam verlangte. Mit der an den Kaiser gerichteten Aussage – »so schnell wird sich dir keine andere Säule erheben, auf die du dich vertrauend stützen kannst« – erinnert Imbricho indes auch an die Bedeutung des Episkopats für die Stabilität der weltlichen Herrschaft und fordert hinsichtlich der bischöflichen Interessen mehr Rücksichtnahme. 2.3.3 Politik durch Predigt: Meinwerk von Paderborn anlässlich des Weihnachtsfests 1024 Wie selbstbewusst ein Bischof auftreten und dabei seine Predigterlaubnis missbrauchen konnte, zeigt das Beispiel des Paderborner Bischofs Meinwerk, von dem berichtet wird, er habe anlässlich der Einweihung von Kirchen und auch bei anderen Gelegenheiten gepredigt, sich jedoch hauptsächlich um die Mehrung seines Bistums bemüht, was Rudolf Cruel treffend auf den Nenner brachte: »Arm 72 Vgl. ebd.: Orate ergo, dilectissimi fratres, orate attentius, ut et ipse hodie misericordiam consequatur. (»Betet daher, geliebteste Brüder, betet inständig darum, dass auch er selbst heute Barmherzigkeit erlange.«) 73 Vgl. a.a.O., S. 47, § 42: Sic ergo finita missa, in loco ubi cernitur in ecclesia beati Michahelis, comitibus, marchionibus seu aliis quibuslibet nobilibus feretrum eius certatim gestantibus, sarcofagum levantibus, seu alia quae ibi necessaria erant more operariorum suis manibus devotissime paragentibus, corpus eius tumulatum est anno dominiciae incarnationis 1139. 3. Nonas Iulii feliciter.
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und vernachlässigt übernahm er dasselbe, reich und geordnet hinterließ er es.«74 Meinwerk bewerkstelligte dies durch sein eigenes Vermögen, durch fremde Schenkungen wie auch durch Erpressungen vom Kaiser.75 So verbrachte Heinrich II., der bereits im ersten Beispiel Erwähnung fand, auf Einladung Meinwerks das Weihnachtsfest 1024 in Paderborn und ließ seinem Gastgeber am Vorabend einen kostbaren Becher mit teurem Wein überbringen. Sein Diener hatte allerdings die Aufgabe, den Becher aufgrund seines Werts wieder zurückzubringen. Meinwerk aber beauftragte seine Goldschmiede auf der Stelle, den Becher zu einem Kelch umzugestalten, der gleich bei der nächtlichen Weihnachtsmesse zum Einsatz kam. Nachdem der Kaiser den Betrug feststellte, bezichtigte er den Bischof des Diebstahls, worauf dieser ihm entgegnete, er habe nur etwas vom Geiz des Kaisers genommen, um es Gott zu weihen. Wolle er es zurück, so bedeute dies, Gott zu bestehlen und Sünde auf sich zu laden.76 Der Kaiser überließ ihm daher den Becher und wurde vom Bischof vor allen Anwesenden mit Dankesworten bedacht. Als sodann aber beim Morgengebet der Kaiser ein erneutes Opfer darbringen wollte, lehnte Meinwerk die Annahme mit dem Hinweis ab, er wolle nur den königlichen Hof Erwitte als Opfer akzeptieren. Erst nach längerem Widerstand lenkte Heinrich auf Drängen seiner Gemahlin ein und unterzeichnete noch vor Ort die Schenkungsurkunde, woraufhin Meinwerk zu einer Predigt ansetzte, in der er die Freigebigkeit des Kaisers über alle Maßen rühmte und alle Zuhörer zur Nachahmung aufforderte. Zwar ist die entsprechende Predigt nicht überliefert, doch veranschaulicht bereits der Bericht auch die Macht der Predigt: So ist durchaus fraglich, ob der Paderborner Bischof mit seinem Bestreben erfolgreich gewesen wäre, wenn er das öffentliche Lob des Kaisers und dessen Tugenden und Frömmigkeit nicht als Gegenleistung hätte bieten können.
2.4
Die Parochialpredigt
Im 12. Jahrhundert wird mit der Parochialpredigt ein weiterer Predigttypus nachweisbar. Etwa zur gleichen Zeit, in der die Berichte und die Überlieferung von Bischofspredigten beinahe abbrechen, entstehen Predigtsammlungen mit Predigten für und von Pfarrgeistlichen.77 Die darin enthaltenen Texte unter74 75 76 77
Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 92. Vgl. dazu und dem Folgenden Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 92f. Vgl. a.a.O., S. 93. Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 128f. Regina D. Schiewer hat mir freundlicherweise eine bislang noch nicht veröffentlichte Untersuchung zur Verfügung gestellt, die unter dem Titel Die deutschsprachige Predigt der Hirsauer Reform – Eine Innovation in der Laienseelsorge mit Wirkmacht, in: Die Wirkmacht klösterlichen Lebens im
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scheiden sich von den übrigen Predigttypen der Zeit v. a. in sprachlicher Hinsicht, denn die Parochialpredigt ist wohl nicht nur in der Volkssprache gehalten, sondern auch niedergeschrieben worden.78 Die Schlussfolgerung, jede volkssprachliche Predigt aus dem 12. Jahrhundert sei zugleich eine Parochialpredigt gewesen, gehalten vor einer Laiengemeinde, ist allerdings nicht ganz zulässig. Schließlich teilt Caesarius von Heisterbach mit, dass seine lateinisch niedergeschriebenen Predigten auch vor Novizen und Laienbrüdern gehalten wurden, die kein Latein konnten. Daher erfolgte auch im Konvent der Vortrag zunehmend in der Volkssprache.79 Auf der anderen Seite berichtet Caesarius aber auch in einer Predigt, dass Hildegard von Bingen im Rahmen ihrer Predigtreise den Rhein entlang vor der versammelten Kölner Geistlichkeit in lateinischer Sprache gepredigt habe.80 Neu ist in jedem Fall das Nebeneinander lateinischer und volkssprachlicher Predigtsammlungen.81 Schließlich mussten auch weiter entfernte Pfarrkirchen mit Predigern versorgt werden, für deren Gebrauch volkssprachliche Muster-
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Mittelalter, hg. v. Gert Melville, Mirko Breitenstein und Jörg Sonntag in der Reihe ›Klöster als Innovationslabore‹ erscheinen wird. Darin zeichnet sie nicht nur die Entstehung der deutschsprachigen Predigt im 12. Jahrhundert nach, sondern führt auch überaus überzeugende Argumente für ihre Beobachtung an, die Entstehung der Predigten mit der Hirsauer Reform und der Einrichtung des Konverseninstituts in Verbindung zu bringen. Verbindungen sieht sie zudem – allerdings weitaus geringer – zu Augustinern und Zisterziensern. Einen Überblick über die Forschungssituation bietet Regina D. Schiewer: Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin, New York 2008, S. 1–6. Ein weiterer informativer und zugleich neuester Überblick findet sich sodann in Regina D. Schiewer und Hans-Jochen Schiewer: Predigt im Spätmittelalter, in: Textsorten und Textallianzen um 1500, hg. v. Mechthild Habermann, Jörg Meier, Alexander Schwarz, Franz Simmler, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler, hier: Handbuch, Teil 1: Literarische und religiöse Textsorten und Textallianzen um 1500 (Berliner sprachwissenschaftliche Studien 20), hg. v. Alexander Schwarz, Franz Simmler und Claudia Wich-Reif, Berlin 2009, S. 727–771. Ich danke Regina D. Schiewer herzlich, dass sie mir ein Exemplar des Beitrags übermittelt hat. Vgl. daneben für weitere Literatur Valente Bacci: The Typology of medieval German Preaching, S. 313f.; Dahn: Welt-Untergang – Geschichtliche Erzählung aus dem Jahre 1000 nach Christus, S. 421. Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt, S. 213; Homiliae Dominicales Venerabilis Fr. Caesarii Heisterbacensis Monachi S. Ordinis Cistertiensium: Quibuscunque Concionatoribus, Religiosis vero inprimis utiles, ad Sermones Spiritales instituendos; Pars Secunda: In Evangelia, Post Octavas Epiphaniae Ad Usque Pentecosten, Druck: Peter Henning, Köln 1615. VD17 39:135555P (http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00041176/image_8 (11. 01. 2018)). Vgl. Homiliae Venerabilis Fr. Caesarii Heisterbacensis Monachi Sacri Ordinis Cistertiensium: Quibuscunque Concionatoribus, Religiosis vero inprimis utiles, ad Sermones Spiritales instituendos; Pars Tertia. In Dominicas Pentecostes, Et Deinceps, Usque Ad Nativitatem Christi, Druck: Peter Henning, Köln 1615. VD17 39:135557D (http://daten.digitale-sammlungen.de /bsb00041178/image_62 (11. 01. 2018)). Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 70f.
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sammlungen verfasst wurden, die bis um 1300 noch hergestellt wurden.82 Diese griffen insbesondere auf zwei lateinische Homiliensammlungen zurück – auf die des Honorius Augustodunensis und die Werners von Sankt Blasien.83 Honorius war in der Regierungszeit Heinrichs V. (1106–1125) tätig und verfasste u. a. das so genannte ›Speculum ecclesiae‹, einen Spiegel, den die Priester sich selbst und der Gemeinde vorhalten sollten, um Verfehlungen zu erkennen und abzustellen.84 »Die hier vereinigten Reden auf Fest- und Heiligentage wie eine Anzahl gewöhnlicher Sonntage hatte Honorius selbst gehalten und auf Bitten seiner Ordensbrüder herausgegeben, weil die früheren Homiliarien durch den beständigen Gebrauch gleichsam abgenutzt und veraltet seien[.]«85
Honorius schöpfte so intensiv aus Kirchenvätern und frühmittelalterlichen Predigten, dass von eigenen Predigten kaum die Rede sein kann. Sein Verdienst war es aber, einerseits bereits bekannte Stoffe neu anzuordnen sowie andererseits wenig bekannte bis überhaupt noch nicht benutzte Passagen für die Predigt im Reich zur Verfügung zu stellen.86 Seine Sammlung hat daher in den für die einfachen Prediger verfassten Mustersammlungen häufig Aufnahme gefunden, in aller Regel aber nur in Auszügen, da nach Cruels Annahme die Predigten für das einfache Laienpublikum schlichtweg zu umfangreich, gelegentlich auch zu anspruchsvoll waren.87 Honorius scheint sich dessen ebenfalls bewusst gewesen zu sein, schließlich hat er für die Prediger hier und da ›Regieanweisungen‹ gegeben: So schreibt er gegen Ende eines Predigtabschnitts zum Palmsonntag: »Wenn du möchtest, mache hier Schluss. Wenn aber nicht, füge das Nächste noch an.«88 Für Ostern hält er die Empfehlung bereit: »Wenn das Volk für die große Fastenzeit zusammengekommen ist, kannst du entweder die Predigt über Christi Auferstehung oder aber jene zum Sonntag Oculi halten.«89 Damit zeigt sich hier eine besondere Berücksichtigung von Anlass und Publikum, um die Predigt möglichst erfolgreich und adressatengerecht zu gestalten.
82 Vgl. Schiewer, Die deutsche Predigt um 1200, S. 5. 83 Vgl. Valente Bacci: The Typology of medieval German Preaching, S. 320; Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 129. 84 Vgl. a.a.O., S. 129, 131. 85 a.a.O., S. 135. 86 Vgl. a.a.O., S. 135, 144. 87 Vgl. a.a.O., S. 144. 88 Vgl. Honorius Augustodunensis: Dominica in Palmis: Honorii Augustodunensis Opera Omnia, in: Patrologia Latina, Bd. 172, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1854, Sp. 914D-922C, 919C: Hic fac finem si vis; sin autem, haec adjice. 89 Vgl. Honorius Augustodunensis: De paschali die, in: Honorii Augustodunensis Opera Omnia, in: Patrologia Latina, Bd. 172, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1854, Sp. 927D-942B, 941 A: Si populus in Majori Letania confluxerit, sermonem Christus resurgens, vel Oculi Domini facere poteris[.]
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Im gleichen Zeitraum, d. h. um 1120, hat auch Werner von Sankt Blasien seine ›Deflorationes patrum‹ zusammengestellt. Wie der Titel bereits erahnen lässt, hat er darin ausschließlich Predigten anderer, vor allem der Kirchenväter, versammelt, die er nur selten geringfügig gekürzt oder verändert hat. Eigene Arbeiten finden sich darin überhaupt nicht.90 Die Sammlung ist einem eindeutigen Ziel verpflichtet: »Es sollte eine Vorrathskammer sein, woraus der Prediger je nach Bedürfniß nehmen könne, was er zur Verkündigung des göttlichen Wortes gebrauche.«91 Um dieses Ziel zu erreichen, hat Werner für jeden Sonn- und Feiertag eine Homilie geboten und ein bis zwei Sermone sowie einen oder drei Traktate hinzugefügt.92 Die Fülle an Material, das Werner auf diese Weise zusammengetragen hat, erklärt bereits die Rezeption ausgewählter Passagen in den volkssprachlichen Musterpredigtsammlungen, die jedoch im Vergleich mit dem Werk des Honorius weniger stark ausgefallen ist. Der Hauptgrund ist vermutlich darin zu sehen, dass die von Werner versammelten Beispiele noch umfangreicher und meist auch noch anspruchsvoller waren.93 Trotz der relativ guten Überlieferungslage der Parochialpredigten können sie aus zwei Gründen für das Verhältnis von Predigt und Politik im hier gewählten Zeitraum nicht zur Hand genommen werden: Entweder weisen die Predigten andere Inhalte auf, die vor allem auf Frömmigkeit und Glaubenspraxis, Fehlerbeseitigung und Besserung abzielen (wie im Falle der nach 1170 entstandenen, althochdeutschen Übersetzung des ›Speculum ecclesiae‹)94, oder es handelt sich um Stücke, die von der Forschung in den letzten Jahrzehnten eine Neudatierung erfahren haben, so dass mittlerweile von einer Entstehung frühestens um die Jahrhundertwende, häufig erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts ausgegangen wird.95 90 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 145. 91 Ebd. 92 Vgl. ebd. Zur begrifflichen Unterscheidung vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 2: »[…] so bezeichnet Homilie stets eine Predigt, welche wesentlich Texterklärung ist, und Sermon eine solche, welche mit oder ohne Text einen besonderen Gegenstand behandelt.« Vgl. daneben auch Jean Longère: Art. »Predigt, A. Ursprünge und Recht«, in: LMA 7 (1995), Sp. 171–174, bes. Sp. 171; Christine Mohrmann: Praedicare – tractare – sermo. Essai sur la terminologie de la prédication chrétienne, in: Dies., Études sur le latin des chrétiens, Bd. 2, Rom 1961, S. 63–72. 93 Vgl. Cruel: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 145f. 94 Vgl. dazu Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, 1. Textband, Wiesbaden 1987, S. 47; vgl. auch die Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 39. Genauso wenig dürfte die, wenngleich ins 12. Jahrhundert datierte, ›Predigt von Christi Geburt‹ für das Verhältnis von Predigt und Politik von Aussagekraft sein. Vgl. zu diesem Stück Schiewer: Die deutsche Predigt um 1200, S. 4. 95 Frühestens gegen Ende des 12. Jahrhunderts dürften entstanden sein: Das so genannte ›Predigtbuch Priester Konrads‹, überliefert in München BSB, Cgm 5248/6, (vgl. Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache, S. 50); die ›Zürcher Predigten‹ (Zürich ZB, C 58) (vgl.
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Die Kreuzzugspredigt
Zeugnisse für die Kreuzzugspredigt sind relativ spät nachweisbar und so stellt sie hier den letzten Predigttypus dar. Im Rahmen der Kreuzzugsbewegung waren es insbesondere Ordensangehörige, die die Öffentlichkeit suchten, um teilweise in päpstlichem Auftrag möglichst viele Menschen von der frommen Tat einer Kreuzzugsteilnahme zu überzeugen. Aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen, von denen die muslimische Expansion die Hauptursache darstellte, wurde im christlichen Abendland zu bewaffneten Pilgerfahrten aufgerufen, die Sündentilgung versprachen. So fanden in den gut hundert Jahren von 1096 bis 1198 die ersten drei großen Kreuzzüge mit den Zielen Jerusalem und Damaskus statt, in deren Folge auch die Kreuzfahrerstaaten in der Levante gegründet wurden.96 Wenn es darum ging, Laien für die Teilnahme an Kreuzzügen zu gewinnen, zählte Bernhard von Clairvaux97 zu den erfolgreichsten Predigern. Ein Eindruck von seiner Predigttätigkeit ist allerdings nur schwer zu gewinnen und es muss wie auch in früheren Fällen auf hagiographische und historiographische Quellen zurückgegriffen werden: So berichten die Annalen aus dem Kloster Pöhlde, dass ein türkischer Fürst namens Sanguin Edessa belagert, den dortigen Erzbischof und weitere Kleriker getötet, Reliquien zerstört und Kirchen entweiht habe.98 Papst Eugen III. hatte daraufhin die Christen im Abendland dazu aufgerufen, Schneider: a.a.O., S. 63); ›Haupts Predigtfragmente‹ (vgl. Nigel F. Palmer: Die ›Klosterneuburger Bußpredigten‹. Untersuchung und Edition, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. FS Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. v. Konrad Kunze, Johannes G. Mayer und Bernhard Schnell, Tübingen 1989, S. 210–244, hier: S. 211); die so genannten ›Frankfurter Bruchstücke‹ (vgl. Nigel F. Palmer: Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft. Anläßlich von Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, Bd. I, in: PBB 113 (1991), S. 212–250, hier: S. 216). Die Entstehung der ›Klosterneuburger Bußpredigten‹ wird nicht vor 1190, möglicherweise erst im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts angenommen (vgl. Palmer: Die ›Klosterneuburger Bußpredigten‹, S. 211). 96 Vgl. u. a. die Beiträge in Stauferzeit – Zeit der Kreuzzüge (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 29), hg. v. Karl-Heinz Rueß, Göppingen 2011, sowie Hans Eberhard Mayer: Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 92000, bes. S. 53–185. 97 Vgl. Peter Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers, Darmstadt 1998. Zu den edierten Predigten Bernhards vgl. die 86 ›Sermones super Cantica Canticorum‹, zu finden in Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler in Verbindung mit Alberich Altermatt, Denis Farkasfalvy und Polykarp Zakar, Bde. 5 und 6, Innsbruck 1994 / 1995. Die Predigten über das Hohelied Salomos werden allerdings nicht für den Predigtvortrag genutzt worden sein, sondern dürften nach Jean Leclercq aufgrund ihrer Literarizität für die Lektüre bestimmt gewesen sein. Vgl. dazu Kienzle, The Typology of the Medieval Sermon, S. 97. Zu Bernhards Predigten vgl. ferner seine ›Sermones per annum‹, ediert in den Bänden 7 (1996 / 1997) sowie die ›Sermones varii‹ bzw. ›Sermones de diversis‹ in Band 9 (1998). 98 Vgl. Annales Palidenses (MGH SS XVI), hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1859, S. 82.14–21.
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diese Geschehnisse nicht unbeantwortet zu lassen, sondern Prediger ausgesandt, die Freiwillige für eine bewaffnete Wallfahrt versammeln sollten.99 Weiter berichten die Annalen davon, dass der Stauferkönig Konrad III. unter den ersten gewesen sei, die sich auf Drängen Bernhards von Clairvaux dazu entschlossen hätten. Neben dem König werden noch verschiedene Bischöfe des Reichs sowie die Herzöge von Böhmen und Lothringen und andere Adlige genannt. Dieser Entschluss war unmittelbar nach der Feier des Weihnachtsfestes in Speyer 1146 gefasst – oder zumindest öffentlich gemacht – worden, genauso wie die Vereinbarung, im folgenden Mai gemeinsam aufzubrechen.100 Die Problematik, die sich aus der Überlieferung ergibt, wird aber bereits darin deutlich, dass in der Forschung höchst umstritten ist, ob sich Konrad III. zur Kreuzzugsteilnahme entschied, weil er wirklich derart von Bernhards Predigt berührt und überzeugt worden war,101 oder ob er sich nicht eher dazu gezwungen sah, nachdem sein 99 Vgl. a.a.O., S. 82.23f. 100 Vgl. Annales Palidenses, S. 82.24–32: Primi ad hanc expeditionem accepta cruce signantur rex et regina Francorum cum numerosa multitudine plebis ipsorum; Conradus Romanorum rex, nativitate Domini Spire celebrata, sumens et ipse crucem ad eandem expeditionem cum aliis principibus preparatur, Bernhardo Clarevallensi abbate nimium urgente eius profectionem; frater regis Conradi Frisingensis episcopus, Otto nomine, Udo Cicensis cum aliis eiusdem officii, item alius frater regis Heinricus, dux quoque Bohemie et dux Lotaringie, Welpho dux, comes Flandrie, Bernhardus comes de Ploceke, cum reliquis eiusdem societatis pari voto se praeparaverunt, et hi omnes probande fidei testimonio egressi sunt mense Maio. (»Als erste schmückten sich zu diesem Heereszug mit der Aufnahme des Kreuzes der König und die Königin der Franken mit einer großen Volksmenge der ihren; nachdem die Geburt des Herrn in Speyer gefeiert worden war, nahm Konrad, der König der Römer, auch selbst das Kreuz und bereitete sich mit anderen Fürsten auf diesen Zug vor, während Bernhard, der Abt von Clairvaux, ihn sehr zum Aufbruch drängte; König Konrads Bruder, der Bischof von Freising mit Namen Otto, Udo von Zeitz mit anderen seines Amts, ebenso Heinrich, der andere Bruder des Königs, auch der Herzog von Böhmen und der Herzog von Lothringen, Herzog Welf, der Graf von Flandern und Graf Bernhard von Plötzkau bereiteten sich mit anderen desselben Standes nach einstimmigem Votum darauf vor und sie alle brachen nach anerkennendem Treuegelöbnis im Monat Mai auf.«) Vgl. daneben auch Ottonis gesta Friderici imp., lib. I, MGH SS rer. Germ. 46, S. 60.30–61.2: Sed et dux Boemorum Labezlaus et Stirensis marchio Odoacer et Carinthiae illustris comes Bernhardus non multo post cum magno suorum comitatu cruces acceperunt. (»Aber auch Herzog Vladislav von Böhmen, Markgraf Ottokar von der Steiermark und der erlauchte Graf Bernhard von Kärnten nahmen nicht viel später mit großem Gefolge der ihren das Kreuz auf sich.«) Vgl. auch Beverly Mayne Kienzle: Preaching the Cross: Liturgy and Crusade Propaganda, in: Preaching and Political Society. From Late Antiquity to the End of the Middle Ages. Depuis l’Antiquité tardive jusqu’à la fin du Moyen Âge (Sermo 19), hg. v. Franco Morenzoni, Turnhout 2013, S. 11–46, hier: S. 21. 101 Diesen Eindruck vermittelt auch die Lebensbeschreibung Bernhards. Vgl. Philippus de Clara-Valle, Bernhardi Vita prima, in: Patrologia Latina, Bd. 185, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1860, Sp. 371B-466D, 382B: Continuo signatus est Rex, et vexillum ab altari per manum Patris suscepit, quod ipse in exercitu Domini manu propria deportaret. (»Sogleich wurde der König mit dem Kreuz versehen und empfing aus den Händen des Vaters die Fahne vom Altar, die er beim Heerzug des Herrn in eigenen Händen hielt.«) Vgl. auch
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Rivale Herzog Welf VI. schon drei Tage zuvor das Kreuz genommen hatte.102 Außer Zweifel steht indes, dass Bernhard in Speyer gepredigt hat,103 und wie die ›Vita prima‹ paraphrasiert, hat er zunächst auf das zukünftige Gericht verwiesen, bei dem jeder Mensch vor dem Richterstuhl Christi stehen werde.104 Daran anschließend erinnerte er an Macht, Reichtum, Ratschläge, Geisteskraft und körperliche Stärke, die allesamt Geschenke Gottes seien. Davon wurde nach Aussage der Vita ein Mensch – und die Ausführungen sind derart zurückhaltend, dass nicht einmal entschieden werden kann, ob hier Bernhard, Konrad oder jemand anderes gemeint ist – so sehr gerührt, dass er unter Tränen rief, er habe nun die Geschenke der göttlichen Barmherzigkeit erkannt und wolle fortan nicht mehr undankbar sein, sondern willig Gott folgen, wohin auch immer er ihn rufe.105
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Annalium S. Blasii Brunsvicensium maiorum fragmenta, (MGH SS 30.1), hg. v. Oswald Holder-Egger, Hannover 1896, Nr. III, S. 16–19, 19.8: Rex Conradus Spire in natali cruce signatur a sancto Bernardo. (»König Konrad wurde in Speyer am Geburtstag [des Herrn] vom heiligen Bernhard mit dem Kreuzzeichen bezeichnet.«) Außerdem wird diese These vertreten von Wilhelm Bernhardi: Konrad III. (Jahrbücher der Deutschen Geschichte 16), Berlin (1883) 1975, S. 530–533; Elphège F. Vacandard: Vie de Saint Bernard. Abbé de Clairvaux, 2 Bde., Paris 1895, hier: Bd. 2, S. 317; Mayer: Geschichte der Kreuzzüge, S. 92; Steven Runciman: A History of the Crusades, 3 Bde., Cambridge 1951–1954, hier: Bd. 2: The Kingdom of Jerusalem and the Frankish East 1000–1187, S. 256f.; Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux, S. 295. Diese Position wird v. a. eingenommen von Harald Cosack: Konrads III. Entschluß zum Kreuzzug, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 35 (1914), S. 278–296, hier 292; Gerd Althoff: Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 229–257, hier 248– 250. Davon berichtet auch Bernhardi Vita prima, PL 185.381C. Zu Bernhards Predigten im Rahmen der Kreuzzugsbewegung und deren Überlieferung vgl. auch Hendrik Breuer: Die rheinische Kreuzzugspredigt des Heiligen Bernhard von Clairvaux: Überlegungen zur Herkunft der Glossen im Codex 23 der Kölner Dombibliothek, in: Analecta Coloniensia 7/8 (2007/2008), S. 83–180. Vgl. Bernhardi Vita prima, PL 185.382A: Proponebat enim futurum judicium, hominem ante tribunal Christi astantem, imperantem Christum, et dicentem: »O homo! quid debui tibi facere, et non feci?« (»Er schilderte nämlich das zukünftige Gericht, bei dem ein jeder Mensch vor dem Richterstuhl Christi stehen werde, während Christus herrschen und sprechen werde: ›Oh, Mensch! Was schulde ich dir zu tun und habe ich nicht getan?‹«) Vgl. Bernhardi Vita prima, PL 185.382A-B: Ex hoc autem numerans regni culmen, divitias, consilia, virilem animum et corporis robur; his et hujusmodi verbis commovit hominem, ut in medio sermone non sine lacrymis exclamaret: »Agnosco prorsus divina munera gratiae; nec deinceps, ipso praestante, ingratus inveniar: paratus sum servire ei, quandoquidem ex parte ejus submoneor.« (»Darauf jedoch zählte er den Gipfel der Herrschaft, Reichtümer, Ratschläge, einen wachen Verstand und körperliche Kraft auf; damit und mit Worten dieser Art bewegte er einen Menschen so sehr, dass dieser mitten in der Predigt unter Tränen ausrief: ›Ich erkenne wahrhaftig die göttlichen Geschenke der Gnade; und fortan will ich mit ganzem Einsatz nicht mehr undankbar erscheinen: Ich bin bereit ihm zu dienen, wann auch immer ich von seiner Seite ermahnt werde.‹«)
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Weitere Informationen werden nicht geboten. Die deutschsprachige Kaiserchronik ist allerdings noch zurückhaltender: Sie beschränkt sich auf die Mitteilung, Bernhard habe mit seiner süßen Lehre das Herz Konrads erweicht und ihn davon überzeugt, dass er von Gott erwählt sei, das Kreuz auf sich zu nehmen.106 Nachweisbar ist sodann wieder nur, dass in der Folge ein Kreuzzug vereinbart wurde, der allerdings nicht wie ursprünglich geplant ins Heilige Land, sondern in den Osten des römisch-deutschen Reichs führte, da die Beseitigung der Götzenverehrung bei den Wenden als dringlicher erschien.107
3.
Die Überlieferungsproblematik und die Schwierigkeit allgemein gültiger Schlussfolgerungen
Das zuletzt angeführte Beispiel verdeutlicht die Überlieferungsproblematik vieler mittelalterlicher Predigten, im Besonderen die der Kreuzzugspredigten. Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass es sich um einen besonderen Fall handelte, für den noch vergleichsweise viele Informationen geboten werden. Es sprach schließlich einer der erfolgreichsten Prediger – er predigte unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen – er predigte vor dem König und der versammelten geistlichen und weltlichen Elite. In welchem Maße seine Predigt nun Anlass gegeben hat, mag in diesem Zusammenhang zweitrangig sein, aber dass die Folge die Verabredung zu einem Kreuzzug war, kann nicht ignoriert werden. In mehrfacher Hinsicht handelte es sich daher um eine außergewöhnliche Predigt sowie eine geschichtsträchtige Predigtsituation. Dennoch aber erfahren wir nichts über die Sprache der Predigt oder ihre Länge, ja nicht einmal wirklich etwas über ihren Inhalt. Zumindest für die Zeit der ersten drei großen Kreuzzüge kann daher über die Beschaffenheit des Typus der Kreuzzugspredigt nur gemutmaßt werden. Dass, wie die historiographischen Quellen berichten, Bernhard 106 Vgl. Deutsche Kaiserchronik (MGH Dt. Chron. I), hg. v. Edward Schröder, Hannover 1895, S. 1–416, 392, V. 17275–17283: daz enstuont niht lange wîle,| unze der abbât Pernhart | den vursten geliebte die vart. | er chom ze dem chunige Chuonrâte, | er manet in harte | mit sîner suozen lêre. | er sprach, daz selbe unser hêrre | in dar zuo erwelte. | der chunich niht langer netwelte[.] (»Es dauerte nicht lange und Abt Bernhard hatte die Fürsten für den Kreuzzug gewonnen. Er kam zu König Konrad und ermahnte ihn heftig mit seiner süßen Lehre. Er sagte, dass unser Herrgott ihn dazu erwählt habe, und der König lehnte nicht länger ab.«) 107 Vgl. Ottonis gesta Friderici imp. (MGH SS rer. Germ. 46), hg. v. Georg Waitz und Bernhard von Simson, Hannover, Leipzig ³1912, lib. I, S. 61.2–5: Saxones vero, quia quasdam gentes spurciciis idolorum deditas vicinas habent, ad orientem proficisci abnuentes cruces itidem easdem gentes bello attemptaturi assumpserunt[.] (»Da die Sachsen aber bestimmte Volksstämme zu Nachbarn haben, die dem Unflat des Götzendienstes erlegen sind, lehnten sie es ab, in den Orient aufzubrechen, nahmen aber in gleicher Weise die Kreuze auf sich, um die genannten Volksstämme anzugreifen.«)
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an das Jüngste Gericht erinnerte, um seine Zuhörer zu Umkehr und Buße zu veranlassen, ist sicher keine Überraschung. Beobachten lässt sich indes, dass sich die Gattung Predigt im 10. bis 12. Jahrhundert in verschiedene Typen ausdifferenzierte. Der Rückzug der weltlichen Herrscher aus dem Bereich der christlichen Verkündigung hat dabei zunächst die gesamte Organisation des Predigtwesens allein auf die Bischöfe verlagert. Dadurch kam der Typus der Bischofspredigt auf, der sich aufgrund der wachsenden Bedeutung wie auch der zunehmenden Anzahl der Bischöfe im Reich bis ins 12. Jahrhundert halten konnte. Im Gegensatz zu den aus der Karolingerzeit rezipierten Predigten, den monastischen oder den volkssprachlichen Parochialpredigten wurde die Bischofspredigt seltener in Sammlungen überliefert, die letzte Untergattung, die Kreuzzugspredigt, indes fast gar nicht. Für alle Predigttypen ist die Quellenlage schlecht. Davon zeugt auch, dass in aller Regel nur jene Bischofspredigten überliefert sind, die zu besonderen Anlässen – etwa einer Königserhebung oder eines Bischofsbegräbnisses – gehalten wurden. Da sie aber meist nur Eingang in Chroniken und Annalen gefunden haben, und dort ihr Inhalt zudem häufig nur paraphrasiert wird, bleibt ihre ursprüngliche Gestalt im Dunkeln. Das gleiche Problem kennzeichnet auch die übrigen Predigttypen, häufig noch in gesteigerter Form. So wurde die Predigt selbst von einer so prominenten Gestalt wie Hildegard von Bingen nicht einfach überliefert, sondern vielfach verändert und zu Briefen umgeschrieben.108 Mit dem Überlieferungsproblem ist auch das Sprachproblem verknüpft: Es darf davon ausgegangen werden, dass im Allgemeinen in der Volkssprache gepredigt wurde, aus verschiedenen Gründen aber eine schriftliche Überlieferung im Lateinischen stattfand.109 So werden etwa auch die lateinisch niedergeschriebenen Predigten von Mönchen nicht nur außerhalb des Klosters in der Volkssprache vorgetragen worden sein, sondern häufiger als angenommen auch innerhalb der Konventsmauern.110 Für die volkssprachlich überlieferten Predigten ergibt sich wiederum ein anderes Problem: Die schriftlichen Fassungen sind meist nur durch Einschübe, die auf einen Vortragsgebrauch hindeuten, als Predigten zu erkennen, unterscheiden sich ansonsten in aller Regel nicht von Abhandlungen oder Briefen.111 108 Vgl. Kienzle: The Typology of the medieval Sermon and its Development in the Middle Ages, S. 86. 109 Vgl. a.a.O., S. 87. 110 Vgl. a.a.O., S. 98; Longère: La prédication médiévale, S. 161–164; Roberts: Preaching an/ and the Medieval City, S. 158. 111 Vgl. Kienzle: The Typology of the medieval Sermon and its Development in the Middle Ages, S. 87; Hans-Jochen Schiewer: Texttypologie. Typ und Polyfunktionalitat (Predigt), in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 24 (1992), S. 44–47, bes. 46; Ders.: Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und kommentierend-interpretierendes Edieren, in: editio 6 (1992), S. 64–79.
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Diese Problematik wird noch dadurch verschärft, dass auf die Ottonen eine Zeit folgte, in der nicht nur die Wissenschaft, sondern fast der gesamte Literaturbetrieb beinahe zum Erliegen kam. Es gibt wohl keine andere Zeit im gesamten Mittelalter, die so wenig Texte hervorgebracht hat – und diejenigen, die auf uns gekommen sind, sind in aller Regel von den geschilderten Problemen gekennzeichnet. Will man auf dieser Grundlage noch allgemein gültige Aussagen zu inhaltlichen Aspekten der Predigten des 10. bis 12. Jahrhunderts treffen, so wird man mit Blick auf die Ausgangsfrage resümieren dürfen: Die Predigt war in aller Regel weder politisch noch politisierend. Es ging vorwiegend um die Vermittlung eines frommen, Gott gefälligen und tugendhaften Lebenswandels. Davon können sich selbst die als politisch präsentierten Beispiele der Bischofspredigt nicht ganz befreien. Dieser Befund mag auf unterschiedliche Weise erklärt werden, wenngleich drei Gründe sicher eine zentrale Rolle spielen: 1. Durch die Überzeugung, der weltliche Herrscher sei von Gottes Gnaden eingesetzt, d. h. durch die göttliche Vorsehung auserkoren, war es von vornherein schwierig, politisch, geschweige denn kritisch zu predigen. 2. Zwar nahm die (weltliche) Bedeutung führender Kleriker innerhalb des Herrschaftssystems zu, doch standen sie seit ottonischer Zeit mit dem weltlichen Herrscher meist in enger Verbindung. Bezüge zur Tagespolitik waren daher in ihren Predigten ebenso wenig zu erwarten. 3. Da die Kirche gerade im 10. und 11. Jahrhundert noch mehr zu einer tragenden Säule der Herrschaft wurde, war die Aufgabe der Predigt vor allem, das zu thematisieren, was zur Konsolidierung der von Gott eingesetzten Herrschaft beitrug. In manchen Regionen, gerade in den dem Reich angegliederten Missionsgebieten, ging es vordringlich darum, die Bevölkerung zu Christen zu erziehen, ihnen einen frommen Lebenswandel zu vermitteln und Überreste paganer Religiosität zu beseitigen. Damit, so wird man schlussfolgern müssen, gab es einerseits keinen Anlass zu politischer Predigt und andererseits aus klerikalem Blickwinkel weit wichtigere Themen. Die seltenen Beispiele, die Politisches berühren, präsentieren sich als zur Stabilisierung der Herrschaft instrumentalisierte Predigten.
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Regina D. Schiewer
1198–1302: Die Mendikantenpredigt als Instrument und Zeugnis von Weltpolitik, herrscherlichem Selbstverständnis und Ordenspolitik. Vom deutschen Kreuzzug bis zum päpstlichen Machtanspruch
1.
Die deutschsprachige Predigt des Mittelalters als Massenmedium
Es ist weitgehend unbekannt, dass wir im deutschsprachigen Raum über eine volkssprachliche Predigtüberlieferung verfügen, wie sie sich in keinem anderen europäischen Land findet.1 Wenn man von der ebenfalls nennenswerten, aber nicht so wirkmächtigen althochdeutschen Predigtüberlieferung absieht, setzt die mittelhochdeutsche Predigtüberlieferung ungefähr gegen 1170 ein. Die mittelhochdeutsche Predigtüberlieferung ist eine beeindruckende Überlieferung, sowohl was die Anzahl der überlieferten Texte als auch die Anzahl der Überlieferungsträger angeht. Aufgrund zahlloser lateinischer Predigtvorlagen und Musterpredigtbücher sowie der Artes Praedicandi ist bekannt, dass die Predigt nicht ein, sondern das Massenmedium des Mittelalters ist, doch wie die Verwendung dieses Mediums in der Volkssprache erfolgte, welche Inhalte 1 Die neuesten Gesamtdarstellungen zur deutschsprachigen Predigt des Mittelalters finden sich bei Regina D. Schiewer/Hans-Jochen Schiewer: Predigt als Gattung, in: Hans-Jochen Schiewer: Kleine Schriften zur deutschsprachigen Predigt des Mittelalters (Spätmittelalter, Reformation und Humanismus), hg. von Regina D. Schiewer/Stefan Seeber, Tübingen 2020 (in Vorbereitung); Volker Mertens: Art. »Predigt«, in: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping, Stuttgart 2009, S. 519–527; Regina D. Schiewer / HansJochen Schiewer: Predigt im Spätmittelalter, hg. v. Mechthild Habermann u. a., Textsorten und Textallianzen um 1500. Handbuch Teil 1: Literarische und religiöse Textsorten und Textallianzen um 1500 (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 20), hg. v. Alexander Schwarz, Franz Simmler und Claudia Wich-Reif, Berlin 2009, S. 727–771. Die in diesen drei vorgenannten Publikationen verwendete Predigtdefinition liegt dem für den vorliegenden Aufsatz herangezogenen Textcorpus zugrunde. – Zur Überlieferung der Predigt des 12. und 13. Jahrhunderts vgl. auch Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert (Hermaea 115), Tübingen 2008, Kap. II.1.1. Monastisches Schrifttum I: Predigt, S. 149–171. – Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen meiner Arbeit für das Projekt »Predigt im Kontext« an der Forschungsstelle für geistliche Literatur der Universität Eichstätt-Ingolstadt, welches von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.
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transportiert und an welche Zielgruppe sie auf welche Art und Weise vermittelt wurden, lässt sich anhand der deutschsprachigen Predigtliteratur geradezu ungebrochen von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis hin zur Reformation nachvollziehen. Eine vorsichtige Schätzung lässt vermuten, dass es sich bei einem Viertel der ungefähr 26.000 deutschsprachigen Handschriften um Predigthandschriften handelt, d. h. um Handschriften, die mindestens eine Predigt enthalten. Dabei geht im Laufe der Überlieferung das Interesse an älteren Predigten nicht verloren: Noch im 15. Jahrhundert werden ganze Sammlungen des 13. Jahrhunderts weiter abgeschrieben, ja selbst einzelne Texte des 12. Jahrhunderts werden im Kontext späterer Sammlungen weiter tradiert. Immer sind es die Reformbewegungen, die die Produktion und Reproduktion von Predigten hervorgebracht und gefördert haben, angefangen von der Hirsauer Reformbewegung im 12. Jahrhundert über die Seelsorge der neuen Orden im 13. Jahrhundert bis hin zur Observanzbewegung der Dominikaner, deren Auswirkung auf die Verbreitung deutschsprachiger geistlicher Literatur gut dokumentiert und erforscht ist.2 Die überlieferten deutschsprachigen Predigten sind mit wenigen Ausnahmen Schriftpredigten in dem Sinne, dass sie von den Predigern selbst aufgeschrieben oder zumindest ihre Niederschrift vom jeweiligen Prediger autorisiert wurde. Wir verfügen für die deutschsprachige Predigt über keine sogenannten reportationes, und nur sehr wenige Handschriften enthalten Predigtexzerpte über einzelne Punkte einer Predigt, die sich ein Zuhörer als merkenswerte Inhalte einer Predigt notierte.3 2 Hierzu grundlegend: Werner Williams-Krapp: Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/87), S. 41–51, und Ders.: Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG Symposion 1991, hg. v. Joachim Heinzle, Stuttgart / Weimar 1993, S. 301– 313. Seit Williams-Krapps bahnbrechenden Erkenntnissen hat sich eine Vielzahl von Publikationen eingehende mit diesen Zusammenhängen befasst. Der neueste Forschungsbericht findet sich bei Simone Mengis, Schreibende Frauen um 1500. Scriptorium und Bibliothek des Dominikanerinnenklosters St. Katharina in St. Gallen, Berlin / Boston 2013, Kapitel II.1: Ordensreform und Bibliothekszuwachs in Frauenklöstern, S. 44–48. 3 reportationes deutschsprachiger Predigten dürften aufgrund der fehlenden Kurzschrift in der praktischen Umsetzung ein Problem dargestellt haben. Aus den Prozessakten des Prozesses gegen Meister Eckhart (1260–1328) wissen wir, dass einige von Eckharts deutschen Predigten für die Anklage gegen ihn in lateinischer Sprache (vermutlich zunächst in der lateinischen Kurzschrift) mitgeschrieben wurden. Hieraus ergaben sich während des Prozesses Missverständnisse und Uneindeutigkeiten. Mitschriften lateinischer Predigten finden sich im deutschsprachigen Raum wie überall in Europa vor allem im gebildeten universitären Umfeld. – Bei einem der Überlieferungszweige der Augsburger Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg (1145–1510) wird die Frage, ob er auf eine Mit- oder Nachschrift zurückgehen könnte, diskutiert: Die Handschriften Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 8° Cod. Aug. 18, sowie Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. theol. 2105, dürften von einem religiösen Schwärmer und Laienprediger, dem Augsburger Weber Jörg Preining (gest. um 1527), geschrieben worden sein. Aber auch hier kann nicht ausgeschlossen werden, dass Preining oder
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Insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert begegnen uns zunehmend Predigtsammlungen, die von Nonnen kompiliert wurden. Häufig stellen diese Kompilationen Zusammenstellungen von Predigten des Beichtvaters eines Klosters dar. Oder aber sie versammeln Predigten, die innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes in ein und demselben Konvent oder wenigstens in derselben Stadt gepredigt wurden. Andere inhaltliche Kriterien solcher Predigtsammlungen können Themen wie das Leiden Christi oder ein verehrter Heiliger wie der Evangelist Johannes oder die Heilige Maria Magdalena sein. In vielen Fällen entstanden solche Kompilationen in dominikanischen Frauenklöstern. Auf die Klausur ihrer Konvente beschränkt, sahen es die Dominikanerinnen offensichtlich als ihre Aufgabe an, die Verpflichtung ihrer männlichen Ordensgenossen, nämlich zu predigen und das Wort Gottes zu verkündigen, durch das Abschreiben von Predigten und die Zusammenstellung von Predigtkompilationen fortzusetzen. Predigten und Predigtsammlungen fanden Verbreitung, indem die Nonnen ihre Handschriften anderen Konventen, aber auch Personen außerhalb einer Klostergemeinschaft zur Abschrift überließen. Abgesehen von den deutschsprachigen Sammlungen des 13. Jahrhunderts, die wie beispielsweise die ›Schwarzwälder Predigten‹ der Predigtvorbereitung dienten, und von den Postillen und Plenarien des 14. und 15. Jahrhunderts stellen diese Klosterpredigten den größten Teil der deutschsprachigen Predigtüberlieferung dar. Nur sehr wenige der Sammlungen und Kompilationen sind bisher ediert worden. Insgesamt können wir von ca. 3.000 editierten deutschsprachigen Predigten in der Zeit von 1170 bis zur Reformation ausgehen.4
jemand aus seinem Umfeld über persönliche Aufzeichnungen Geilers verfügt haben könnte (Johannes Geiler von Kaysersberg, Die Augsburger Predigten [Deutsche Texte des Mittelalters 92], hg. v. Kristina Freienhaben-Baumgardt und Werner Williams-Krapp unter Mitarbeit von Katrin Stegherr, Berlin / München / Boston 2015, S. XX–XXIII). 4 Die bis 1974 erschienen Editionen wurden von Karin Morvay und Dagmar Grube zusammengestellt: Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters. Veröffentlichte Predigten (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 47), München 1974. Bis 2009 erschienene Editionen sind bei Schiewer / Schiewer, Textsorten, S. 754–757, aufgelistet. Seitdem sind eine Reihe größerer Editionen erschienen: Die Hessischen Reimpredigten (Deutsche Texte des Mittelalters 89/1–2), hg. v. Barbara Lenz-Kemper, Berlin 2008 / 2009; Die St. Georgener Predigten (Deutsche Texte des Mittelalters 90), hg. v. Regina D. Schiewer und Kurt Otto Seidel, Berlin 2010; Johannes Nider, ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹. Edition und Kommentar (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 60), hg. v. Stefan Abel, Tübingen 2011; Johannes Geiler von Kaysersberg, Die Augsburger Predigten (Deutsche Texte des Mittelalters 92), hg. v. Kristina FreienhabenBaumgardt und Werner Williams-Krapp unter Mitarbeit von Katrin Stegherr, Berlin / München / Boston 2015; Die Millstätter Predigten (Deutsche Texte des Mittelalters 93), hg. v. Regina D. Schiewer, Berlin / Boston 2015.
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Angesichts des ungedruckten Materials, insbesondere der weitgehend unerforschten Handschriften mit Predigten des 15. Jahrhunderts zeigt sich, dass unsere Kenntnis der deutschsprachigen Predigt des Mittelalters noch eingeschränkt ist. Wir müssen davon ausgehen, dass eine Schätzung von mehr als 12.000 überlieferten Predigten keine Übertreibung darstellt.5 Der Einfluss der Predigt auf das Denken und Handeln der Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Predigtgeschichte ist Mentalitätsgeschichte. Die Predigt – sowohl als gesprochene Rede als auch als in ihrer schriftlichen Überlieferung – war das Massenmedium des Mittelalters. Erst mit dem Aufkommen der Einblattdrucke am Ende des 15. Jahrhunderts sollte sich die Medialität verändern. Die theologisch-katechetischen Kenntnisse der Menschen im Mittelalter lassen sich recht genau durch die überlieferte volkssprachliche Predigt erschließen. Die in den Predigten vermittelten Kenntnisse und die vom Prediger als kirchliche Richtlinien verkündigten Auffassungen bestimmten Denken und Handeln der Menschen, also einer ganzen Gesellschaft – sicher nicht immer unreflektiert, aber doch in ständiger Auseinandersetzung mit den Lehrmeinungen. Gleichzeitig ist jedoch auch Vorsicht geboten bei der Erforschung der Inhalte des Massenmediums Predigt. Jede Textsorte hat ihre eigenen Überlieferungsbedingungen, und so auch die Predigt. Wenn man von der überlieferten deutschsprachigen Predigt Aufschluss über einschneidende historische Ereignisse, Reflexionen von Naturkatastrophen oder Informationen über politische Einflussnahme der Prediger erwartet, wird man enttäuscht. Wo immer man ansetzt, um Motive oder Themen in den überlieferten Predigten zu finden, die eine konkrete räumliche oder politische Verortung zulassen, sind die Ergebnisse spärlich: Die Untersuchung der Bildkatechese der deutschsprachigen Predigt des Mittelalters6 zeigt dasselbe wie die Untersuchung des Antijudaismus in diesen Predigten7: Die uns überlieferten Predigttexte nehmen nur äußerst selten auf konkrete Orte oder aktuelle politisch-gesellschaftliche Probleme Bezug. Die ganz Westeuropa in Angst und Schrecken versetzenden Mongoleneinfälle des 13. Jahrhunderts beispielsweise werden weder in deutschen noch in lateinischen 5 Der Abschnitt ist eine Zusammenfassung meiner Einleitung zu folgendem Aufsatz: Regina D. Schiewer: Sub Iudaica Infirmitate – ›Under the Jewish Weakness‹: Jews in Medieval German Sermons, in: The Jewish-Christian Encounter in Medieval Preaching (Routledge Research in Medieval Studies), hg. v. Jonathan Adams und Jussi Hanska, New York / London 2015, S. 59–91, 59f. 6 Regina D. Schiewer: darumbe ist och daz gemælde gemachot, daz der mensche sin herce vinde. Die Bildkatechese in der deutschen Predigt des Mittelalters, in: Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit. Internationale NFS-Tagung in Genf vom 10.–13. 9. 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven 13), Zürich 2010, S. 85–107. 7 Vgl. Schiewer: Sub Iudaica Infirmitate.
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Predigten thematisiert. Da das u. a. auch zur Predigtvorbereitung gedachte und genutzte ›Speculum historiale‹ Vinzenz’ von Beauvais (gest. 1264) eingehende Informationen über die Mongolen zur Verfügung stellt, dürfen wir davon ausgehen, dass diese Informationen in tatsächlich gehaltenen Predigten Verwendung fand. Diese sind uns jedoch nicht überliefert.8 Auch Naturkatastrophen finden in keiner der überlieferten deutschsprachigen Predigten Erwähnung.9 Ohne Frage gab es Predigten mit solchen Bezügen oder als Reaktionen auf gerade Erlebtes – sie sind uns jedoch nicht überliefert. Ein Grund für die fehlende Reflexion gesellschaftlicher und politischer Themen in den erhaltenen Predigttexten dürften die Überlieferungswege der deutschsprachigen geistlichen Literatur sein, die uns Aufschluss über die Interessenbildung erteilen: Die Überlieferungswege verlaufen noch im 15. Jahrhundert in der überwiegenden Zahl der Fälle über Frauenkonvente und -klöster sowie über die Kartausen. Das Interesse, Predigten mit politischen Implikationen in diesen geistlichen Gemeinschaften abzuschreiben und zur erbaulichen Lesung aufzubewahren, dürfte eher gering gewesen sein. Eine weitere Erklärung bietet eine weitere, oben bereits angesprochene Spezifik der handschriftlichen Überlieferung der Textsorte Predigt: Wer im 15. Jahrhundert eine Entscheidung zu treffen hatte, welche Predigten aus älteren Handschriften für die Predigtvorbereitung im allgemeinen und als erbauliche Lesepredigt von Interesse sein könnten, um sie abzuschreiben und zu reproduzieren, wählte sicher nicht solche Predigten aus, die Ereignisse längst vergangener Zeit betrafen. Diese Beobachtung wird bestätigt durch den Verlust der Predigernamen im Laufe der Überlieferung: Je weiter sich die Überlieferung von Entstehungsort und Entstehungszeit einer Predigt entfernt, um so seltener werden die Namen der Prediger mit überliefert. Namentliche Predigtüberlieferung ist uns fast ausschließlich aus den Kontexten der spezifischen Ordensüberlieferung (z. B. bei dem Franziskaner Berthold von Regensburg), im Bereich der Hausüberlieferung verschiedener Klöster oder aber auch in Bezug auf ein gewisses brand marking von Predigten mit einem bestimmten Inhalt bekannt: Im 15. Jahrhundert wird zum Beispiel der Name Johannes Taulers (1300–1361) zunehmend als Verfassername von Predigten und anderen Texten mystischen Inhalts verwendet, die nicht seine eigenen waren.10 8 Siehe dazu Rudolf K. Weigand: Die Mongolen in Nürnberg. Zu Expansion des Kanonwissens über den Ostern in Enzyklopädien für die Predigt, in: Religiosità e civiltà. Conoscenze, confronti, influssi reciproci tra le religioni (secoli X–XIV), hg. v. Giancarlo Andenna, Mailand 2013, S. 133–149. 9 Auch in lateinischen Predigten ist die Bezugnahme auf Naturkatastrophen die Ausnahme, wie Jussi Hanska in einer umfassenden Studie gezeigt hat: Jussi Hanska: Strategies of Sanity and Survival. Religious Responses to Natural Disasters in the Middle Ages, Helsinki 2002. 10 Rudolf K. Weigand und Regina D. Schiewer: Ich glaube vestiglich, das dise predigen entweder Meister Eckhards oder Taulers sind, dan sich durch auss ire worte gleich lautent.
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Wenn man alle diese Beobachtungen zusammennimmt, stellt sich unwillkürlich die Frage, was die in deutscher Sprache überlieferte Predigt zu einer ›Kulturgeschichte‹ der Predigt beitragen kann, insbesondere dann, wenn man über die Verbindung von Politik und Predigt nicht abgelöst von Predigttexten sprechen möchte. Letzteres wäre gerade für das 13. Jahrhundert problemlos möglich angesichts der Bedeutung der Gründung der Bettelorden, deren Predigt auch die deutschsprachige Predigtüberlieferung des 13. Jahrhunderts bestimmt. Die Gründung der Bettelorden selbst war ja ein nicht hoch genug einzuschätzendes Politikum: In vielen Bereichen politischer Einflussnahme entwickelten die Bettelorden während des 13. Jahrhunderts bedeutende Machtpositionen. Abgesehen von ihrem Einsatz gegen die Ketzerbewegungen wissen wir um die Bedeutung der Franziskaner und Dominikaner für die Politik der deutschen Städte und der Fürstenhäuser und ihre Oppositionshaltung gegenüber den Staufern.11 Die Bedeutung der Bettelorden und ihrer Predigt für die politische und gesellschaftliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum im 13. Jahrhundert steht nicht in Frage. Aber wo und wie lässt sie sich anhand der überlieferten deutschsprachigen Predigttexte nachweisen? Hierzu möchte ich im Folgenden drei gänzlich unterschiedliche Beispiele vorstellen, anhand derer zugleich unterschiedliche literaturwisschenschaftliche Methoden der Texterschließung demonstriert werden.
2.
Den Kreuzzug predigen – Die Übersetzung eines Kreuzzugsaufrufs von 1265
In deutscher Sprache ist uns weder aus dem 12., noch aus dem 13. Jahrhundert eine authentische Kreuzzugspredigt überliefert.12 Das heißt natürlich nicht, dass im deutschsprachigen Raum nicht in deutscher Sprache zum Kreuzzug aufgeZur Problematik der Rezeption und Authentizität der Predigten Johannes Taulers und Meister Eckharts, in: Ons Geestelijk Erf. Journal for the History of Spirituality in the Low Countries 84 / H. I–II (2013), S. 7–19. 11 John B. Freed hat diese Zusammenhänge bereits 1977 umfassend dargestellt: John B. Freed: The Friars and German Society in the Thirteenth Century (The Medieval Academy of America Publication 86), Cambridge / Mass. 1977. Seit Freeds im deutschsprachigen Raum leider kaum rezipierten Studie entstanden zahlreiche Untersuchungen, die sich mit dem Verhältnis von Mendikantenkonventen und Bürgerschaft in verschiedenen Städten beschäftigen. Eine umfangreiche Auflistung dieser Untersuchungen findet sich bei Christian Speer: Das Verhältnis von Franziskanern und Stadt am Beispiel Görlitz, in: Die Klöster der Franziskaner im Mittelalter. Räume, Nutzungen, Symbolik (Vita regularis 63), hg. v. Gert Melville, Leonie Silberer und Bernd Schmies, Berlin 2015, S. 141–163, 141, Anm. 1. 12 Die Kreuzzugspredigt ist natürlich das Genre der Predigt, bei der die politische Komponente unübersehbar ist. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass es zahlreiche Untersuchungen zur Kreuzzugspredigt gibt, von denen ich nur einige wenige hier benennen kann: Penny
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rufen worden wäre. Doch wo lässt sich dies auch textlich verifizieren? Und wie mögen sich deutschsprachige Kreuzzugspredigten von ihren lateinischen Vorlagen unterschieden haben? Denn lateinische Kreuzzungspredigten sind uns durchaus überliefert. Bei der Beantwortung dieser Fragen hilft uns ein Text, dessen Überlieferungsform nicht nur unikal, sondern in ihrer Art auch singulär ist.13 Dieser Text ist mit seiner spezifischen Überlieferungsform sozusagen ein Monolith in der Literaturlandschaft nicht nur des deutschsprachigen Raums. Es handelt es sich um die deutsche, sehr freie Übersetzung einer Urkunde, in der sich Papst Clemens IV. (1200–1268; 1265–1268) im August 1265 an den Provinzialprior des Dominikanerordens und die Provinzialminister der Franziskaner in den deutschen Landen (per Regnum Alemannie) wendet und sie auffordert, den Kreuzzug predigen zu lassen. Die Urkunde und die auf der Rückseite der Urkunde befindliche Übersetzung stammen aus dem Dominikanerkloster Freiburg. Das Dokument weist noch den Rest des Siegels des Provinzialpriors auf, der offensichtlich die päpstliche Bulle in seiner Provinz verbreiten ließ. Interessanterweise findet sich dieser Aufruf nicht im Register Clemens’ IV.; er ist lediglich ein weiteres Mal in variierter Form an die Dominikaner in Frankreich und Dacien gerichtet in der Briefsammlung Berards von Neapel (1212–ca. 1292) überliefert. Hintergrund des Aufrufs ist die Eroberung Caesareas und der Hafenstadt Haifa im Winter 1265 durch die Mameluken, die von Sultan Baibars I. (Al-Malik az-Zahir Rukn ad-Din Baibars (I.) al-Bunduqdari = Bendocdar) (1223– 1277) angeführt wurden. Ich hebe diese beiden Städte aus der Vielzahl der erfolgreichen Eroberungen Baibars I. heraus, weil Caesarea und Haifa (in der Urkunde Caiphas) auch in Cole: The Preaching of the Crusades to the Holy Land, 1095–1270, Cambridge / Mass. 1991; Christoph T. Maier: Preaching the Crusades. Mendicant Friars and the Cross in the Thirteenth Century, Cambridge 1994; Christoph T. Maier: Crusade Propaganda and Ideology: Model Sermons for the Preaching of the Cross, Cambridge 2000; Beverly Mayne Kienzle: Preaching the Cross: Liturgy and Crusade Propaganda, in: Preaching and Political Society. From Late Antiquity to the End of the Midlle Ages (SERMO: Studies on Patristic, Medieval, and Reformation Sermons and Preaching 10), hg. v. Franco Morenzoni, Turnhout 2013, S. 11–46; Miikka Tamminen: Crusade Preaching and the Ideal Crusader (SERMO: Studies on Patristic, Medieval, and Reformation Sermons and Preaching 14), Turnhout 2018. 13 Morvay / Grube: Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters, S. 68, Sigle T 74A: »Papst Clemens IV.: Kreuzzugspredigt«. Die Urkunde trägt die Signatur 0065 (Bestand A 106 im Findbuch) Universitätsarchiv Freiburgs i. Br. und ist auf den 10. August 1265 datiert. Sie ist abgedruckt im Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Bd. 1: 1200– 1282, hg. v. Friedrich Wilhelm, Lahr 1932, Nr. 93, S. 136–138. Das »Corpus« und seine gesondert veröffentlichten Regeste sind heute auch online abrufbar auf den Internetseiten der Universität Trier (http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl). Der im Folgenden zitierte Text folgt der Transkription des »Corpus«.
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unserem Kreuzzugsaufruf genannt werden, ebenso wie die Pilgerburg, das Castrum peregrinorum oder auch Château Pèlerin genannt, von dem der päpstliche Brief behauptet, es sei ebenfalls zerstört worden, was jedoch nur auf die benachbarte Siedlung Atlit zutraf – das Château Pèlerin wurde als einzige Kreuzfahrerburg niemals erobert. Der Kreuzzugsaufruf berichtet ausführlich über den Verlauf der Kämpfe im Heiligen Land und von der schlechten Lage der Christen dort. Er weist die Ordensoberen an, den Kreuzzug predigen zu lassen: so heizen wir vffen die zvᵒ virsiht, die wir zi vnsierme herren han, der gewalt het vzir steinen lvte zi machenne, des wort craft vnde tvgende gebent allen den, die in anrvᵒ fent, vnde vch vnde den irs bevelhent sine gnade tvᵒ t vnde git zi predigenne dc crvce in alleme romescheme riche in Tivtscheme lande. Vnd wir kiesen vch darzvᵒ vnd von uwiren ordinen, alle die ir dar zvᵒ zezent, vnd die ir sehent das sie dar zvᵒ nvzze sint. Vnd sezzentz vch vnd in vur alle ir svnde, dc sie nach uwirre vnd der ir wisheit vnde lere, die in got het gegeben predien vnde tvᵒ n vnde werben vnde sich vliziche erbietent an dirre botschefte vnd es dar vmbe nvt lazzen wand wirs lihte och andiren bevolhen han die von uwiren ordinen niht sint zi predigenne! (»So befehlen wir aufgrund der Hoffnung, die wir auf unseren Herren setzen, der die Macht hat, aus Steinen Menschen zu erschaffen, und dessen Worte allen Kraft und Tugend geben, die ihn anrufen, sowohl euch als auch denen, denen ihr es auftragt und die in seiner Gnade stehen und denen er die Gabe verliehen hat, das Kreuz zu predigen im ganzen römischen Reich im deutschen Lande. Und wir erwählen euch hierzu und euren Orden und alle, die ihr dazu bestimmt und von denen ihr wisst, dass sie dazu befähigt sind. Und wir tragen es euch und ihnen ungeachtet aller ihrer Sünde auf, dass sie gemäß eurer und ihrer [eigenen] Klugheit und Gelehrtheit, die ihnen von Gott gegeben ist, predigen und danach handeln und darum werben und sich emsig um diese Nachricht bemühen und es nicht deswegen sein lassen, weil wir vielleicht auch anderen befohlen haben, darüber zu predigen, die nicht von eurem Orden sind!«)14
Der Aufruf nennt auch die Begünstigungen für die, die das Kreuz nehmen: Ihre Schulden bei den Juden werden ihnen erlassen, bei jüdischen Pfandleihern als Sicherheit hinterlassene Gegenstände müssen ihnen ohne Bezahlung der Schuld zurückgegeben werden. Aber auch der Kirchenbann könne dadurch gelöst werden, dass der Betroffene das Kreuz nehme. Andererseits könne unter Androhung des Kirchenbannes anstelle einer anderen Buße für begangene Sünden von den Beichtvätern des Ordens die Kreuzfahrt verhängt werden. Die Inhalte des Aufrufs selbst, insbesondere aber auch die in Abschnitten äußerst freie deutsche Übersetzung, sind zu großen Teilen gut geeignet, um als Material für tatsächliche Kreuzzugspredigten Verwendung zu finden: So wird der Aufruf beispielsweise eingeleitet mit einer an Passionsmeditationen im Stile Bernhards von Clairvaux (um 1090–1153) erinnernden Beschreibung der Leiden
14 Übersetzungen sind hier und im Folgenden meine eigenen.
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Christi. Kombiniert mit einer Arma Christi-Auslegung wird daraus dann eine direkte Ansprache an die deutschen Fürsten: e
Nv lazen schowen alle gelobigen livte, wie in zi herzen gange irs schopfers, irs behalters laſter vnde sin smacheit vnde irs herren, des zeichen sie tragent – dc ist dc cruce, da mitte sie gezeichent wrdent in dem tofe vnde da mit si sich tageliches vur den tiuvel o wefenent – vnde des schilt sie vurent – das ist cristen gelobe, an den sie niemer behalten mvgen werden. Vnde zi vorderoſt die vurſten, die herren, die grauen, die vrien vnde die dienestman von tivtscheme lande, an die got me éren mit romeschereme riche, dc ob allen irdeschen kvnecrichen ist, het geleit vnde mere manheit vnde vrumiger ritterschaft vnde kvnheit vnde richeit libes vnde mvᵒ tes vnde miltekeit des gvᵒ tes het in vor andiren landen gegeben. (»Nun lasst alle gläubigen Leute zeigen, wie ihnen zu Herzen geht das Leid und die Schmach ihres Schöpfers, ihres Erretters und ihres Herrn, dessen Zeichen sie tragen, – das [Zeichen] ist das Kreuz, womit sie in der Taufe gezeichnet werden und womit sie sich täglich gegen den Teufel wappnen – und dessen Schild sie führen – der [Schild] ist der christliche Glaube, ohne den sie niemals gerettet werden können. Und vor allem die Fürsten, die Herren, die Grafen, die Freien und die Dienstleute aus deutschem Lande, denen Gott mehr Ehre durch das römische Reich, das über allen irdischen Königreichen steht, erwiesen hat und größere Mannhaftigkeit und tapferere Ritterschaft und Kühnheit und Reichtum des Körpers und des Geistes und Großzügigkeit hinsichtlich des Besitzes gegeben hat als allen anderen Ländern.«)
Diese Passage findet in der lateinischen Vorlage nur eine sehr ungefähre Entsprechung, was darauf hinweist, dass der Übersetzer seinen Text bereits im Hinblick auf die anzusprechende Zielgruppe schrieb. Sucht man nach weiteren Unterschieden zwischen dem lateinischen Text und seiner deutschen Übersetzung, fällt ins Auge, dass die ungläubigen Heiden in der Übersetzung als schlimmer als die Juden bezeichnet werden: Denn die Juden hätten Christus nur in seiner menschlichen Natur Leid zugefügt, während die Ungläubigen nun seine Gottheit lästerten. Diese direkte Gegenüberstellung, die u. U. die ansässigen Juden vor Anfeindungen schützen will, findet sich in der lateinischen Vorlage nicht.15 Denkbar, allerdings nicht nachweisbar, ist, dass diese Bearbeitung der Vorlage darauf zielte, Pogrome wie während des 1. Kreuzzugs entlang des Rheins zu verhindern. Zur Übersetzungtechnik lässt sich feststellen: Die komprimierte lateinische Syntax der Urkunde wird als eine Art textueller Rahmen genutzt: In ihre deutsche Übertragung werden funktionale Äquivalente als ergänzende Informationen in Form von Relativsätzen eingefügt, die keine lateinischen Entsprechungen haben, offensichtlich mit dem Ziel einer Verbreiterung und Verlangsamung der Informationsvermittlung. Teilweise helfen auch Doppelungen, die auditive Aufnahme 15 Zum Antijudaismus in der deutschen Predigt des Mittelalters vgl. zuletzt Schiewer: Sub Iudaica Infirmitate.
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zu erleichtern und den Informationsgehalt besser zu entfalten. Darüber hinaus geht es bei den Eigenheiten der sehr unabhängigen Übersetzung sehr wahrscheinlich auch um eine Verstärkung der emotionalen Tendenz des Textes. Alle diese Beobachtungen, die sich noch vermehren ließen, dürfen als Indizien dafür gewertet werden, dass es sich bei der Übersetzung der päpstlichen Urkunde um mehr als eine reine Übersetzung handelt: Hier entstand Material für eine Kreuzzugs-Musterpredigt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang für die Korrelation von Politik und Predigt im 13. Jahrhundert, dass die Übersetzung ins Deutsche unmittelbar nach der Publikation der Bulle erfolgt sein muss: Zunächst einmal weist eine Analyse der Schrift des Textes in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts,16 aber weit schwerer wiegen die inhaltlichen Aspekte, die auch eine genauere Entstehungszeit ermöglichen: Clemens IV. starb bereits 1268, eine Übersetzung des Aufrufs wäre nach seinem Tod nicht mehr sinnvoll gewesen. Die Übersetzung muss also zwischen August 1265 und November 1268 entstanden sein. Im Juli 1270 begab sich der französische König Ludwig IX. (1214–1270; Regentschaft 1226–1270), der später der Heilige genannt werden sollte, auf den 7. Kreuzzug (nach anderen Zählungen den 8. Kreuzzung), den er nicht überlebte und der weder das Ziel erreichte, Jerusalem zurückzuerobern noch die Präsenz der Kreuzfahrer in den Outremer zu stärken. König Ludwig IX. spielt auch bei unserem zweiten Beispiel, wie sich Politik in der deutschsprachigen Predigt des 13. Jahrhunderts widerspiegelt, eine entscheidende Rolle.
3.
Das Exemplum von Ludwig dem Heiligen in den ›Hochalemannischen Predigten‹
In einer Predigtsammlung dominikanischer Provenienz, die zumindest zu Teilen noch ins 13. Jahrhundert zu datieren ist, findet sich ein Exemplum von Ludwig dem IX. Bei der Sammlung handelt es sich um die sog. ›Hochalemannischen Predigten‹, die ihren Ursprung höchstwahrscheinlich im Dominikanerinnen-
16 Bei Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband. Tafelband, Wiesbaden 1987, wird unsere Urkunde, bzw. ihre Übersetzung, nicht berücksichtigt, obwohl die genaue Datierbarkeit des Schriftstücks, die Sicherheit ihrer Provenienz (Freiburg i. Br.) sowie das hohe kalligraphische Niveau der gotischen Buchschrift der deutschen Übersetzung gute Referenzmöglichkeiten zur Datierung anderer Handschriften des 13. Jahrhunderts bieten.
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kloster St. Katharinental bei Diessenhofen nahe Schaffhausen haben.17 Nicht nur die Namensnennung einiger dominikanischer Prediger und Oberen und ein Lokalbezug zu Diessenhofen und Schaffhausen weisen auf ihre Provenienz hin, sondern auch eine Reihe von Exempla, die im dominikanischen Umfeld zu verorten sind, sowie die einzige deutschsprachige Predigt auf Petrus Martyr OP (Petrus von Mailand / von Verona [um 1206–1252]), den ersten dominikanischen Ordensmärtyrer.18 In dieser Sammlung nun findet sich in einer Predigt für die Verstorbenen (Allerseelen) folgendes Exemplum von Ludwig dem Heiligen: (fol. 127va) Ich gedench ains worts das sprach der chünig von frankreich der christenist fürst was den dye christenhait ye gewan pei iren zeyten. der het ainen syten das er albeg in der vasten ze Paris in vnser haus chom vnd nam denn dye nouitzen vnd setzt sy all für sich der etwenn fünffzig was vnd predigat yn vnd vndern andern worten sprach er dise wort »liebe chind lobet onsern herren vnd lasst ewch nit iamern nach der wellt freyd Jch pin vierczig iar chünig gewesen vnd han mer freyd gehebt dan ir allsampnet das ways ich Vnd in allen meinen tagen do vertraib ich nie ganczen tag (fol. 127vb) er wär vermischet mit herczenleycher betrubt.« Dis wortes vergas ich nye Seyt das ainen allso grossem herren weltleych frewd allso vermisscht was Liebe chind hier an gedenkt vnd lat ewch nit iameren nach der wellt freyd. (»Ich erinnere mich an ein Wort, das der König von Frankreich einst sprach, der der christlichste Fürst war, den die Christenheit während der Zeit ihres Bestehens je hatte. Der [König] hatte die Gewohnheit, dass er immer während der Fastenzeit in unser Haus kam, und er rief dann die Novizen zusammen und ließ sie sich vor ihn setzen – es waren etwa fünfzig –, und predigte ihnen, und unter anderem sagte er Folgendes: ›Liebe Kinder, lobt unseren Herren, und habt keine Sehnsucht nach den Freuden der Welt. Ich bin vierzig Jahre König gewesen und habe mehr Freude gehabt als ihr alle zusammen. Das weiß ich. Aber in meinem ganzen Leben verlebte ich nie einen ganzen Tag, der nicht mit einer Betrübtheit des Herzens vermischt gewesen wäre.‹ Dieses Wort vergaß ich nie. Wenn nun selbst die weltliche Freude eines so großen Herrn so getrübt war: Liebe Kinder, denkt daran und habt keine Sehnsucht nach den Freuden der Welt.«)
Diese Begebenheit, von der das Exemplum berichtet, ist gemäß den Angaben, die sich im Exemplum selbst finden, zwischen 1267 und dem Beginn des 7. Kreuzzuges zu datieren, da Ludwig am 29. November 1226 den Thron bestieg und am 25. August 1270 starb. Wenn man die vierzig Jahre Königtum, von dem im Exemplum die Rede ist, ernst nimmt, kommen nur die Fastenzeiten der Jahre 17 Zu den ›Hochalemannischen Predigten‹ siehe Regina D. Schiewer: Sermons for Nuns of the Dominican Observance Movement, in: Medieval Monastic Preaching, hg. v Carolyn Muessig, Leiden u. a. 1998, S. 75–92, 83–91. 18 Regina D. Schiewer: Worte über einen ungeliebten Heiligen: Die einzige deutschsprachige Petrus Martyr-Predigt, in: Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beihefte 18), hg. v. Rudolf Bentzinger, UlrichDieter Oppitz und Jürgen Wolf, Stuttgart 2013, S. 285–299.
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1267 bis 1270 als Predigtzeitpunkt in Frage. Die Gegebenheit, von der das Exemplum berichtet, liegt also in nächster zeitlicher Nähe zum zuvor behandelten Kreuzzugsaufruf. Der Prediger muss sich in der fraglichen Zeit entweder als Novize im Pariser Dominikanerkonvent befunden oder am Studium generale der Dominikaner in Paris studiert haben: ein gelehrter Mann, der in derselben Predigt das literarische Exemplum von Wirnt von Gravenberg aus Konrads von Würzburg (gest. 1287) ›Der Welt Lohn‹ (vor 1260) verwendet. Der Text des Exemplums von Ludwig dem Heiligen wurde in einem Aufsatz, der vor mittlerweile 20 Jahren publiziert wurde,19 abgedruckt und im Kontext der Sammlung der ›Hochalemannischen Predigten‹, in der es überliefert ist, diskutiert. In der Folge dieser Publikation stellte sich das kleine deutschsprachige Exemplum des französischen Königs als Kronzeuge für eine Tätigkeit und Haltung Ludwigs des Heiligen heraus, die dessen politisches Handeln bestimmten: Zwar war und ist bekannt, dass Ludwig der Heilige ein großer Unterstützer der Bettelorden war – nicht nur der beiden großen, der Franziskaner und der Dominikaner, sondern auch der kleineren – und dass er sogar den Beginen und Begarden in seinem Reich Schutz angedeihen ließ, was eine durchaus nicht selbstverständliche Politik war angesichts dessen, dass Ludwig sich nicht in Konfrontation mit den Staufern begeben wollte, zu deren härtesten Widersachern die neuen Orden gehörten. Darauf, dass Ludwig IX. aber auch regelmäßig predigte, wurde der Historiker William Chester Jordan, der in den vergangenen Jahrzehnten die maßgebliche Forschung zu Ludwig IX. hervorbrachte,20 durch das von mir publizierte Exemplum aufmerksam.21 Es gelang ihm, ergänzend hierzu eine Quelle zu finden, die belegt, dass Ludwig auch in dem von seiner Schwester, der später heiliggesprochenen Isabella von Frankreich (1224–1269), gegründeten Klarissenkonvent Longchamp in der Nähe von Paris in der Klausur der Frauen (!) regelmäßig Predigten hielt, und zwar die erste anlässlich der Gründung des Konvents 1256. Welche politischen Implikationen lassen sich aus dieser Tatsache herleiten, ohne die Predigttexte selbst zu 19 Schiewer: Sermons for Nuns. 20 Willam Chester Jordan: Louis IX and the Challenge of the Crusade: A Study in Rulership, Princeton 1979; ders.: Men at Center: Redemptive Governance under Louis IX. (Natalie Zemon Davis Annual Lectures 11), Budapest 2012; Ders.: The Case of Saint Louis, in: Viator 19 (1988), S. 212–214. 21 William Chester Jordan: Louis IX., Preaching to Franciscan and Dominican Brothers and Nuns, in: Defenders and Critic of Franciscan Life: Essays in Honor of John V. Fleming, hg. v. Michael Cusato und G. Geltner, Leiden/Boston 2009, S. 219–236. Jordan (S. 223) hält Christoph T. Maiers Behauptung, Ludwig habe Kreuzzugspredigten gehalten, für falsch, da es weder überlieferte Texte noch Belege für eine formale Kreuzzugspredigt Ludwigs gibt: Christoph T. Maier: Civilis ac pia regis Francorum deceptio: Louis IX as Crusade Preacher, in: Dei Gesta per Francos: Études sur les Croisades dédiées à Jean Richard, hg. v. M. Balard u. a., Ashgate 2001, S. 57–63.
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kennen? Die Belege für die regelmäßige Predigt Ludwigs IX. weisen auf ein Selbstverständnis Ludwigs hin, das kaum bekannt und noch weniger untersucht wurde: Er, der sich stets gegen die Laienpredigt gewendet hatte, verstand sich selbst in dieser Hinsicht offensichtlich nicht als Laie. Während Karl der Große (747 / 748–814) in seiner ›Admonitio generalis‹ (789) für sich noch in Anspruch nahm, festlegen zu können, wer wann über was zu predigen hätte, ging dieses Privileg nach dem Investiturstreit des 12. Jahrhundert den weltlichen Herrschern weitgehend verloren. Trotzdem hielt sich noch bis ins 14. Jahrhundert hinein vereinzelt die Tradition der königlichen Predigt.22 Für Frankreich war diese Praxis jedoch bisher nicht belegt. Dass Ludwig IX. regelmäßig predigte, zeigt allerdings, dass er diese Tradition für sich in Anspruch nahm und sie als Teil seines Königtums von Gottes Gnaden ansah, das sich in der Salbung mit dem in Legenden häufig als direkt vom Himmel kommenden königlichen Crisam manifestierte.23 Zu diesem Selbstverständnis Ludwigs IX. passt auch, dass er für sich die Heilkraft des Königs beanspruchte – eine Tradition, die es in England, aber auch in Frankreich gab. Für Frankreich ist eine Einführung des Heilungsritus durch den König erst seit dem 14. Jahrhundert belegt. Überliefert ist jedoch, dass auch König Ludwig bereits Mitte des 13. Jahrhunderts, und zwar vor seinem Aufbruch zum 6. Kreuzzug, Menschen, die am morbus regis, der Skrofulose, einer Hauttuberkulose, litten, die Hand auflegte.24 Dass dieses Symbolhandeln eine politische Implikation hatte, muss nicht eigens betont werden.
22 Jordan, Louis IX., S. 220f.; Jordan nennt das Predigen eine »priestly practice« und vergleicht die königliche Predigt mit dem Usus, dass der König während der Krönungsmesse das Abendmahl in beiderlei Gestalt empfing (S. 220). Das eine hat mit dem anderen jedoch nichts zu tun: Weder ist der Empfang des Abendmahls ein Zeichen des Priesteramtes noch das Predigen, da beides nicht an die Priesterweihe gebunden ist. Das Predigen ist zunächst ein bischöfliches Vorrecht, das von den Bischöfen auf andere übertragen wird, jedoch nicht im Rahmen der Priesterweihe. Zum Empfang des Abendmahls in beiderlei Gestalt als königliches bzw. kaiserliches Privileg siehe Peter Browe: Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Mit einer Einführung herausgegeben von Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer (Vergessene Theologen 1), Berlin 62011, S. 22–25. 23 Vgl. M. Cecilia Gaposchkin, Talking about Kingship when Preaching about Saint Louis, in: Preaching and Political Society: from Late Antiquity to the End of the Middle Ages (SERMO: Studies on Patristic, Medieval, and Reformation Sermons and Preaching 10), hg. v. Franco Morenzoni, S. 135–172, 161. Gaposchkin analysiert eingehend die Inhalte der überlieferten Predigten auf Ludwig den Heiligen. Wie auch in den Kanonisationsakten (vgl. Jordan, Louis IX, S. 234) ist in keiner der lateinischen Predigten davon die Rede, dass Ludwig regelmäßig predigte. Deutschsprachige Predigten auf Ludwig den Heiligen sind für die Zeit vor der Reformation nicht überliefert. 24 Jordan, Louis IX, S. 220.
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4.
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Die Entstehung der ›Schwarzwälder Predigten‹
Eine der einflussreichsten und verbreitetsten deutschen Predigtsammlungen des Spätmittelalters sind die Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen ›Schwarzwälder Predigten‹. Für sie ist mit großer Wahrscheinlichkeit franziskanische Provenienz anzunehmen. Die Menge der überlieferten Handschriften weist die ›Schwarzwälder Predigten‹ als das beliebteste Predigtbuch des Mittelalters aus.25 Die Überlieferung der Sammlung, die aus ca. 100 Predigten für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres besteht, zeigt, dass sie nicht primär zum Gebrauch im eigenen Orden intendiert war, sondern Klerikern außerhalb des Ordens als Musterpredigtsammlung dienen sollte. Noch bis in die 2. Hälfte des 15. Jahhrunderts ist diese Gebrauchsform nachweisbar. »Sammlungstypisch sind die sogenannten urkunden, bei denen es sich um narrative Exempla zumeist aus dem Alten Testament handelt, die anschließend einer Allegorese unterzogen werden. Das Alte Testament, insbesondere die historischen Bücher, werden mit einmaliger Intensität ausgewertet und für die Paränese genutzt. In der Überlieferung werden gerade diese Exempla immer wieder mittels Glossierung hervorgehoben. Dies verweist auf ihre Bedeutung für die Popularität dieses Predigtjahrgangs, der damit zu einem Kompendium alttestamentlicher Erzählungen in der Volkssprache wird.«26
Am Beginn der Überlieferung der ›Schwarzwälder Predigten‹ steht eine sog. Gebrauchshandschrift: ein kleinformatiger Pergamentcodex vom Ende des 13. Jahrhunderts, der in der Hand eines Predigers zur Predigtvorbereitung dienen konnte.27 Der Codex weist alle Merkmale einer Musterpredigtsammlung des 13. und 14. Jahrhunderts auf: Die Anlage der Handschrift ist sorgfältig, aber am Gebrauch der Predigten orientiert. Das Pergament ist eher minderwertig mit Löchern und genähten Rissen. Die Schrift der vier Hände, die am Ende des 25 Schiewer/Schiewer: Textsorten, S. 735. Zu den ›Schwarzwälder Predigten‹ siehe ausführlich: Hans-Jochen Schiewer: ›Die Schwarzwälder Predigten‹. Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Sonntags- und Heiligenpredigten. Mit einer Musteredition (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 105), Tübingen 1996. 26 Schiewer/Schiewer: Textsorten, S. 736. Neben H.-J. Schiewer: Schwarzwälder Predigten, vgl. hierzu vor allem: Gerhard Stamm: Studien zum »Schwarzwälder Prediger« (Medium Aevum 18), München 1969; Hans-Jochen Schiewer, Et non sit tibi cura quis dicat sed quid dicatur. Entstehung und Rezeption der Predigtcorpora des sog. Schwarzwälder Predigers, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. v. Volker Mertens und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1992, S. 31–54, sowie Werner Williams-Krapp: Mittelalterliche deutsche Heiligenpredigtsammlungen und ihr Verhältnis zur homiletischen Praxis, in: Mertens / H.-J. Schiewer: Die deutsche Predigt im Mittelalter, S. 352–360. 27 Hierbei handelt es sich um die Handschrift 460 der Universitätsbibliothek der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Schiewer/Schiewer: Textsorten, S. 735; eine ausführliche Beschreibung der Handschrift bietet H.-J. Schiewer, Schwarzwälder Predigten, S. 26–96.
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13. Jahrhunderts an der Erstellung der Handschrift beteiligt waren, zeigt kein hohes kalligraphisches Niveau.28 Bei dem Codex handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das ›kollektive‹ Autograph einer Autorengruppe, die systematisch an der gemeinsamen Erstellung der Musterpredigtsammlung zusammengearbeitet hat. In seiner Untersuchung zur Überlieferung der ›Schwarzwälder Predigten‹ konnte Hans-Jochen Schiewer eine Entstehung dieser franziskanischen Predigtsammlung im Auftrag des bayerischen Herrschergeschlechts der Wittelsbacher wahrscheinlich machen. Diese Annahme wird vor allem durch zwei großformatigen Pergamentcodices gestützt, die beide nicht als Gebrauchshandschriften angelegt wurden, sondern repräsentativen Zwecken dienten: Es handelt sich hierbei um die Handschrift der Münchener Staatsbibliothek Cgm 9 und um Cod. Pal. germ. 54 der Universitätsbibliothek in Heidelberg, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im unmittelbaren Umfeld der Wittelsbacher entstanden sein dürften. Die Entstehung der ›Schwarzwälder Predigten‹ im Rahmen der Seelsorge für ein anspruchsvolles und in der höfischen Literatur bewandertes, aber weitgehend lateinunkundiges Publikum am Hofe und im Auftrag der Wittelsbacher ist ein weiterer Beleg für die enge Verbindung zwischen den Franziskanern und dem bayerischen Adelsgeschlecht, die sich schließlich im Armutsstreit der Franziskaner mit Papst Johannes XXII. (1245 / 1249–1334; 1316–1334), durch den Schutz, den Kaiser Ludwig der Bayer (1282 /1286–1347; 1328–1347) den Franziskanern gewährte, manifestierte. Predigtsammlungen wie die ›Schwarzwälder Predigten‹ und ihre Überlieferung können zeigen, dass die Franziskaner nicht nur durch ihre antikuriale Haltung das Vertrauen der Fürsten erlangten und somit als Berater und Verbündete die Politik im Reich mitbestimmten, sondern dass an diesem Erfolg auch ihre zielgruppengerechte Seelsorge und – wie die von den Franziskanern erstellten deutschsprachigen Rechtsbücher belegen – ihre Gelehrtheit beteiligt war.
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Schluss: Die politische Relevanz vermeintlich unpolitischer Predigten
Zwischen Predigt und Politik besteht auch im 13. Jahrhundert ein unauflöslicher Konnex. Die volkssprachliche Predigt, die im 13. Jahrhundert von der Bettelordenspredigt bestimmt wird, bietet allerdings keine politische Predigt im engeren Sinne des Wortes. Anhand dreier Fallbeispiele konnte jedoch gezeigt werden, wie 28 H.-J. Schiewer, Schwarzwälder Predigten, S. 38–52 mit Abbildungen der verschiedenen Schreiberhände auf S. 40–47.
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die überlieferten Texte trotzdem dazu beitragen können, der Verbindung zwischen Predigt und Politik auf die Spur zu kommen: 1. Obwohl uns keine deutschsprachigen Kreuzzugspredigten überliefert sind, können wir mit Hilfe der Analyse des Freiburger Kreuzzugsaufrufs und seiner Übersetzung zu Erkenntnissen über die konkrete Ausführung von Kreuzzugspredigten der Dominikaner kommen: Die Bereitschaft der Bettelorden, zur Befreiung des Heiligen Landes aufzurufen, war hoch, und sie kamen der Bitte des Papstes mit der ihnen eigenen Sprach- und Predigtkompetenz nach, die sich in der gekonnten Übertragung eines lateinischen Textformulars in eine von Oralität und Emotionalisierung gekennzeichnete Musterpredigt zeigt. 2. Das in einer um 1300 entstandenen dominikanischen Predigt überlieferte Exemplum von Ludwig dem Heiligen als Prediger aus exakt derselben Zeit wie der zuvor behandelte Kreuzzugsaufruf lässt ein Selbstverständnis Ludwigs als von Gott gesalbter König aufscheinen, das in normativen Texten und anderen historischen Quellen nicht zutage tritt. Nur die Überlieferung dieses Exemplums innerhalb einer deutschsprachigen Predigtsammlung – und seine Edition – haben diese Beobachtung möglich gemacht. 3. Die Analyse der Überlieferungsgeschichte der ›Schwarzwälder Predigten‹ erlaubt es, die Sammlung als Ausweis seelsorglicher Bemühungen der Franziskaner um das Herrscherhaus der Wittelsbacher, ja, sogar in deren Auftrag zu sehen. Anhand solcher konkreter Seelsorge-Zeugnisse wird das enge Verhältnis zwischen Fürsten und einem dem Armutsideal verpflichteten Orden beschreibbar und greifbar. Diese drei Beispiele zeigen, dass die Textsorte Predigt auch dort, wo den mittelalterlichen Predigten keine offensichtlichen politischen Inhalte eignen, durch ihre Funktion in Seelsorge und Verkündigung wichtige Aufschlüsse über politische Zusammenhänge geben kann, die durch andere Quellen nicht oder nur unzureichend erschließbar sind. Arbeitsfelder und -techniken der Literaturwissenschaft wie Textphilologie, Editionswissenschaft und Überlieferungsgeschichte machen Predigttexte zugänglich, setzen sie in ihre jeweiligen Kontexte und ermöglichen ein Verständnis und eine Einordnung ihrer Bedeutung. Ex negativo oder durch die Analyse kleinster Hinweise innerhalb der Predigtüberlieferung bewahrheitet sich auf diese Weise die Feststellung: Predigt ist immer politisch – auch und gerade dort, wo sie den Anschein erweckt, unpolitisch zu sein.
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1302–1414: »Gott machte die beiden großen Lichter … (Gen 1,16)«. Das Problem der zwei Gewalten in Konsistorialpredigten*
1.
Das Konsistorium als Ort der politischen Predigt im späten Mittelalter
Das späte Mittelalter lässt sich zwar nicht pauschal als Epoche des Verfalls qualifizieren, doch war Europa durchaus mit krisenhaften Entwicklungen konfrontiert.1 Die Frage nach dem Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt,2 führte zunächst zu Konflikten des Papsttums mit Frankreich und dem römischdeutschen Reich. Danach konkurrierten im »Großen Schisma« mehrere Päpste, ehe auf dem Konzil von Konstanz die kirchliche Einheit wiederhergestellt wurde. All diese (kirchen-)politischen Ereignisse haben sich nicht nur in Akten und Chroniken, sondern auch in Predigten niedergeschlagen.3 Dabei war das Konsistorium,4 also die Versammlung von Papst und Kardinälen, ein wichtiges * Der Beitrag ist die gekürzte, mit einer Einleitung versehene und ansonsten nur geringfügig geänderte Fassung eines Kapitels meiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel Solo sermone: Überlieferung und Deutung politischer Ansprachen der Päpste im Mittelalter im Jahr 2017 an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität angenommen wurde. 1 Vgl. den programmatischen Titel des Handbuchs von Heribert Müller: Die kirchliche Krise des Spätmittelalters. Schisma, Konziliarismus und Konzilien (Enzyklopädie deutscher Geschichte 90), München 2012 sowie Jean-Marie Mayeur u. a. (Hg.): Die Geschichte des Christentums, Religion, Politik, Kultur, Bd. 6: Die Zeit der Zerreißproben 1274–1449, Freiburg / Basel / Wien 2010; Michael Menzel: Die Zeit der Entwürfe, 1273–1347 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 7a), Stuttgart 2012; Christian Hesse: Synthese und Aufbruch, 1346–1410 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 7b), Stuttgart 2017. 2 Vgl. Wilhelm Kölmel: Regimen christianum. Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses. 8. bis 14. Jahrhundert, Berlin 1970; Volker Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund (Spätmittelalter und Reformation 26), Tübingen 2005. 3 Vgl. zu dieser Quellengattung Nicole Bériou: Les sermons Latins après 1200, in: The Sermon (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 81–83), hg. v. Beverly Mayne Kienzle, Turnhout 2000, S. 363–447. 4 Vgl. zu dieser Institution Ralf Frassek: Art. »Konsistorium«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2 III (2016), Sp. 121–126; Thomas Wetzstein: Heilige vor Ge-
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Forum der »politischen« Predigt, schließlich wurden hier allgemein verbindliche Entscheidungen diskutiert und verkündet, die Kirche und Welt, Klerus und Laien gleichermaßen betrafen.5 Dies galt insbesondere für das öffentliche Konsistorium, das den feierlichen Rahmen für den Empfang von fürstlichen Gesandten bot.6 Da diese meist gelehrte Kleriker waren, orientierten sich ihre Reden – genau wie die von Papst und Kardinälen – an den Vorgaben des Sermo modernus.7 Das heißt, sie rekurrierten primär auf religiöse Texte und reproduzierten theologischphilosophische Argumentationsmuster. Der Sermo modernus beginnt stets mit einem Bibelzitat, dem Thema, worauf das Prothema folgt, also eine Art Einleitung, die einer ersten Erläuterung des Zitats dient. Der Hauptteil setzt mit der Divisio des Themas ein, die den gesamten Vortrag strukturiert. Er ist in weitere Distinctiones gegliedert, die wiederum neue Autoritäten heranziehen, was als Dilatatio bezeichnet wird. Derartig aufgebaute Konsistorialansprachen sind in formaler Hinsicht von Predigten im engeren Sinne nicht zu unterscheiden. Inhaltlich zielten sie freilich nicht wie die Gemeindepredigt auf die Belehrung und Ermahnung in Fragen von
richt. Das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 28), Köln / Weimar / Wien 2004, S. 105–140 und zur konsistorialen Redekultur Ralf Lützelschwab: Flectat cardinales ad velle suum? Clemens VI. und sein Kardinalskolleg. Ein Beitrag zur kurialen Politik in der Mitte des 14. Jahrhunderts (Pariser Historische Studien 80), München 2007; Claudia Märtl: Actio und aemulatio. Zur Wirklichkeit der Rede an der Kurie des 15. Jahrhunderts, in: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620) (Pluralisierung und Autorität 27), hg. v. Jan-Dirk Müller u. a., Berlin / Boston 2011, S. 733–767. 5 Wir folgen damit der Definition des ›Politischen‹ bei Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte 35), hg. v. Ders., Berlin 2005, S. 9–24, hier: 14, die den Begriff mit einem »Handlungsraum« gleichsetzt, »in dem es um die Herstellung und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen geht.« Für die Vormoderne lässt sich das ›Politische‹ in diesem Sinne kaum vom Bereich des ›Religiösen‹ differenzieren, da weltliche und geistliche Sphäre bekanntermaßen eng verflochten waren. Vgl. Johannes Helmrath, »Geistlich und werntlich«: Zur Beziehung von Konzilien und Reichsversammlungen im 15. Jahrhundert, in: Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 48), hg. v. Peter Moraw, Stuttgart 2002, S. 477–517. 6 Vgl. zum öffentlichen Konsistorium, das sich in den Quellen des 14. Jahrhunderts nicht konsequent vom geheimen Konsistorium differenzieren lässt, Franz J. Felten: Verhandlungen an der Kurie im frühen 14. Jahrhundert. Spielregeln der Kommunikation in konfliktgeladenen Beziehungsnetzen, in: »Das kommt mir spanisch vor«. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), hg. v. Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, Münster 2004, S. 411–474, hier: 464f. 7 Vgl. zum Folgenden die Erläuterungen von Siegfried Wenzel: Medieval Artes praedicandi. A Synthesis of Scholastic Sermon Structure (Medieval Academy Books 114), Toronto / Buffalo / London 2015.
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Glauben und Moral.8 Stattdessen erfüllten diese Sermones die Funktionen der klassischen Redegenera, das heißt, der Fest-, Beratungs- und Gerichtsrede.9 Sie waren stets argumentativ, also in gewisser Weise deliberativ und persuasiv angelegt, dienten aber meist weniger der tatsächlichen Beratungs- und Überzeugungsarbeit, sondern der feierlichen Bekanntgabe bereits gefallener Beschlüsse.10 Die Zielsetzung von Predigten des Spätmittelalters lässt sich bei einer rein textimmanenten Interpretation ohnehin nur recht allgemein bestimmen. Oft beschränkt sich die Forschung auf Hinweise auf die mehr oder weniger gelungene sprachliche Gestaltung oder die (vermutete) Wirkung auf die Zuhörer. Die historische Deutung gewinnt hingegen an Kontur, wenn neben dem Predigttext selbst noch Informationen zur Überlieferung und Berichte über den Vortrag vorliegen, was freilich selten genug der Fall ist. Nicht zuletzt wegen der günstigen Quellenlage wird der folgende Beitrag Konsistorialpredigten des 14. Jahrhunderts in den Blick nehmen, die insofern politischen Charakter haben, als sie anlässlich der »Approbation« des römisch-deutschen Königs gehalten wurden und das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt behandeln. Seit etwa 1200 beansprucht der Papst das Recht im Rahmen einer »Approbation«, die Eignung des Elekten zu überprüfen, die erfolgte Wahl zu bestätigen und dann erst die Kaiserkrönung in Aussicht zu stellen.11 Schon von Innozenz III. ist ein entsprechender Vortrag – wohl die früheste päpstliche Konsistorialpredigt
8 Vgl. die Definition nach Beverly Mayne Kienzle: Introduction, in: The Sermon (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 81–83), hg. v. Ders., Turnhout 2000, S. 143–174, hier: 151, die ausgehend von Quellen des Mittelalters festhält: »The sermon is essentially an oral discourse, spoken in the voice of a preacher who addresses an audience, to instruct and exhort them on a topic concerned with faith and morals and based on a sacred text.« 9 Schon Johann B. Schneyer: Einführung, in: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350 I (1969), S. 1–32, hier: 9, wies darauf hin, dass im Mittelalter die »Staats- und Gerichtsreden führender Staatsmänner und Juristen« ebenfalls wie Predigten aufgebaut sind, auch wenn diese »nicht auf die Verkündigung der Heilswahrheiten« zielen, »sondern […] Einfluß in der Politik bzw. Rechtsprechung zu gewinnen« suchen. Vgl. Thomas Haye: Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache (Mittellateinische Studien und Texte 27), Leiden / Boston / Köln 1999, S. 6; Ders.: Art. »Rede, B: Geschichte, Lateinisches Mittelalter«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik VII (2005), Sp. 713–718, hier: 715. 10 Vgl. zu diesem Spannungsfeld die Überlegungen von Jörg Feuchter: Deliberation, rituelle Persuasion und symbolische Repräsentation. Zugänge zur Redekultur auf vormodernen französischen Generalständen, in: Politische Versammlungen und ihre Rituale. Repräsentationsformen und Entscheidungsprozesse des Reichs und der Kirche im späten Mittelalter (Mittelalter-Forschungen 27), hg. v. Jörg Peltzer, Gerald Schwedler und Paul Töbelmann, Ostfildern 2009, S. 207–217. 11 Vgl. Carl August Lückerath: Art. »Approbation, päpstliche«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte2 I (2008), S. 272–276; Jürgen Miethke: Art. »Approbation der deutschen Königswahl«, in: LThK3 I (1993), Sp. 888–891.
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überhaupt – erhalten,12 doch werden wir uns auf Ansprachen von Bonifaz VIII. und Clemens VI. konzentrieren.
2.
Papst Bonifaz VIII., Die fingierte Konsistorialrede gegen Albrecht I. (1298)
Bonifaz VIII., der als besonders autoritärer Papst gilt,13 äußerte sich in zwei Predigten zur Approbation Albrechts I. – in der ersten ablehnend, in der zweiten zustimmend. Der neue König war zunächst nicht unumstritten, da die Kurfürsten seinen Vorgänger, Adolf von Nassau, im Juni 1298 zwar abgesetzt hatten, dieser seine Deposition aber nicht anerkannte.14 Erst nachdem Adolf im Juli in der Schlacht bei Göllheim gefallen war, fand Albrecht I. allgemeine Akzeptanz im Reich. Die Kurfürsten hatten Bonifaz VIII. zwar schriftlich über die Neuwahl informiert, aber weil sie den päpstlichen Einfluss auf die Königserhebung möglichst beschränken wollten, nicht um die Approbation gebeten. Auch die Gesandtschaft des neuen Königs scheint nicht eigens um eine Bestätigung angesucht zu haben.15 Eine viel zitierte Quelle für den Empfang der Gesandten in Rieti im September 1298 ist die um 1315 / 20 verfasste Weltchronik des Dominikaners Francesco Pipino, deren zeitgeschichtliche Passagen in vielen Punkten als verlässlich gelten.16 Über das öffentliche Konsistorium, das den Rahmen für den Gesandtschaftsempfang bot, dürfte es protokollarische Aufzeichnungen gegeben haben, die auch in anderem Kontext zitiert wurden.17 Möglicherweise auf Grundlage derartiger Notizen berichtet Francesco Pipino, Albrecht I. habe 12 Vgl. Thomas Haye: Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin / New York 2005, S. 18f. 13 Vgl. zur Biographie des Papstes Eugenio Dupré Theseider: Art. »Bonifacio VIII«, in: Enciclopedia dei papi, Bd. 2: Niccolò I, santo – Sisto IV, hg. v. Massimo Bray, Rom 2000, S. 472–493; Agostino Paravicini Bagliani: Boniface VIII. Un pape hérétique?, Paris 2003. 14 Vgl. zum Herrschaftsantritt Albrechts I. Menzel: Zeit, S. 120–123. 15 Vgl. zu dieser Gesandtschaft Alfred Niemeier: Untersuchungen über die Beziehungen Albrechts I. zu Bonifaz VIII. (Historische Studien 19), Berlin 1900, S. 43–51; Paravicini Bagliani: Boniface, S. 205–208. 16 Chronicon Fratris Francisci Pipini Bononiensis Ordinis Praedicatorum. Ab anno MCLXXVI usque ad annum circiter MCCCXIV, in: Rerum Italicarum scriptores, Bd. 9, hg. v. Lodovico Antonio Muratori, Mailand 1726, Sp. 581–752. Vgl. Marino Zabbia: Art. »Pipino, Francesco«, in: Dizionario Biografico degli Italiani LXXXIV (2015), S. 122f.; Luigi G.G. Ricci: Art. »Franciscus Pipinus«, in: Compendium auctorum Latinorum medii aevi III (2011), S. 525f. 17 Nämlich in einer der Anklageschriften gegen Bonifaz VIII., die ediert wurde als Mémoire du cardinal Pietro Colonna développant les articles du 14 juin 1306 (B 8–36) et en annonçant les preuves, in: Boniface VIII en procès. Articles d’accusation et déposition des témoins (1303– 1311) (Pubblicazioni della Fondazione Camillo Caetani 5), hg. v. Jean Coste, Rom 1995, S. 247–356, hier: 341f., Art. 172. Vgl. Paravicini Bagliani: Boniface, S. 205.
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einige legati an den Papsthof gesandt, die lediglich bekannt geben sollten, dass er nach Rom ziehen und zum Kaiser gekrönt werden wollte.18 Mit dieser Botschaft sollten die Verhandlungen vermutlich eröffnet werden, denn es dürfte allen Beteiligten klar gewesen sein, dass Bonifaz VIII. nicht ohne gewisse Zugeständnisse auf diese Forderung eingehen würde. Glaubt man dem Bericht Francesco Pipinos, dann machte der Papst seine Sicht der Dinge den königlichen Gesandten auch performativ deutlich.19 Wie üblich saß Bonifaz VIII. während des Konsistoriums auf einem Thron und trug als Zeichen seiner geistlichen Würde die päpstliche Tiara (diadema). Weniger gebräuchlich war ein zweites Symbol, das er als Zeichen seiner weltlichen Machtbefugnisse mit sich führte, nämlich ein Schwert (ensis). So ausgestattet hielt der Papst eine Konsistorialpredigt, in der er zunächst den Wunsch des neugewählten Königs, im Rahmen eines Romzugs zum Kaiser gekrönt zu werden, ablehnte. Der Vortrag ist großteils nur in indirekter Rede überliefert, weshalb über seine formale Gestaltung nichts bekannt ist. Inhaltlich erklärte das Kirchenoberhaupt, dass die Wahl Albrechts I. ungültig und der Elekt unwürdig sei, die Kaiserwürde zu empfangen. Schließlich habe er gegen den früheren König, Adolf von Nassau, einen unrechtmäßigen Krieg geführt und ihn heimtückisch getötet.20 Dass er in dieser Angelegenheit das letzte Wort habe, machte Bonifaz VIII. in einer Reihe von rhetorischen Fragen deutlich, die in der Feststellung gipfelten, selbst die höchste weltliche Gewalt innezuhaben, was in wörtlicher Rede wiedergegeben wird: »Bin ich nicht der Papst? Ist dies nicht der päpstliche Stuhl? Kann ich nicht die Rechte des Reiches schützen? Ich bin Cäsar, ich bin der Kaiser!« (Numquid ego summus sum pontifex? Nonne ista est cathedra Petri? Nonne possum imperii jura tutari? Ego sum Caesar, ego sum imperator!).21 Auch wenn diese Worte häufig als authentische Aussagen des Papstes zitiert werden, bleibt doch zu bedenken, dass sie nur bei Francesco Pipino überliefert sind.22 Es wäre durchaus möglich, dass er den Machtanspruch Bonifaz VIII. besonders deutlich akzentuieren wollte und er deshalb den Konsistorialbericht ein wenig dramatisierte.
18 Francesco Pipino: Chronicon, Sp. 745. 19 Ebd. 20 Vgl. Menzel: Zeit, S.120f. zu der Legende, dass Albrecht König Adolf von Nassau in der Schlacht bei Göllheim getötet habe. 21 Francesco Pipino: Chronicon, Sp. 745. 22 Paravicini Bagliani: Boniface, S. 208 hält den gesamten Konsistorialbericht Francesco Pipinos eher für plausibel. Vgl. dagegen Niemeier: Untersuchungen, S. 50, der sich skeptisch äußert, da das in Anm. 17 zitierte Mémoire du cardinal Pietro Colonna nichts von dem ungewöhnlichen Auftritt erwähnt, obwohl er gut in die Anklageschrift gegen Bonifaz VIII. gepasst hätte.
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Ein zweiter Bericht dieses Konsistoriums findet sich in einer Historia, die Ferreto de’ Ferreti etwas später, nämlich um 1330 / 37 verfasste.23 Ferreto wirkte in Vicenza als Notar und widmete sich – bereits beeinflusst von frühhumanistischen Strömungen – auch der Dichtung und Historiographie.24 In der Forschung wird diskutiert, ob er auf dieselben aktenmäßigen Aufzeichnungen zurückgriff wie Francesco Pipino.25 Wahrscheinlicher scheint allerdings eine Abhängigkeit der Historia von der Chronik des Dominikaners. Der Notar aus Vicenza bearbeitete und erweiterte seine Vorlage ein wenig, was als »rhetorische Amplificatio« bei mittelalterlichen Autoren gängige Praxis war.26 Da Ferreto sich durchweg ablehnend zum Anspruch auf Approbation äußerte, dürfte er beabsichtigt haben, die Inszenierung der päpstlichen Amtsgewalt als übersteigert darzustellen. Schon den Kontext der Predigt schilderte er dramatischer als Francesco Pipino: So ließ sich Bonifaz VIII. Tiara (diadema) und Schwert (ensis) in dieser Version der Ereignisse zunächst umständlich herbeibringen und legte beides mit finsterer Miene an.27 Die Rede trug der Papst erst vor, nachdem er eine Kunstpause gemacht und sich erhoben hatte. Dabei führte er nicht nur das Schwert in der Rechten, sondern präsentierte in der linken Hand zusätzlich die Schlüssel (claves verendae) als Zeichen der päpstlichen Macht. Ferreto deutet durchaus an, dass er Bonifaz VIII. nicht wörtlich zitiert, sondern seinen Vortrag nur so ungefähr (huiusmodi) wiedergibt, ihn also mehr oder weniger frei fingiert.28 Darauf weist auch die Form der Ansprache hin, denn der Papst trägt nicht einen predigtartigen Sermo modernus vor, der mit einem Bibelzitat einsetzt, sondern beginnt mit einer klassischen Anrede der Kardinäle: »Ihr wisst, geliebte Brüder, dass der kaiserliche Thron vakant ist, und der, der rechtmäßig herrschen müsste, durch die Verdorbenheit und Heimtücke des verkommenen Konkurrenten ums Leben gekommen ist.« (Certum est vobis, fratres dilectissimi, sedem augustam suo duce vacare, illumque, qui iuste debuit
23 Le opere di Ferreto de’ Ferreti vicentino (Fonti per la storia d’Italia 42), Bd. 1, hg. v. Carlo Cipolla, Rom 1908, S. 132–134. A.a.O., S. XIV zur Datierung des Geschichtswerks auf ca. 1330–1337. Vgl. zu diesem Bericht Niemeier: Untersuchungen, S. 50f.; Alexander Lee: Humanism and Empire. The Imperial Ideal in Fourteenth-Century Italy, Oxford 2018, S. 349f. 24 Vgl. zur Biographie dieses Autors Sante Bortolami: Art. »Ferreti, Ferreto de’«, in: Dizionario Biografico degli Italiani XLVII (1997), S. 57–60; Rino Modonutti: Art. »Ferretus de Ferreto«, in: Compendium auctorum Latinorum medii aevi III (2011), S. 348f. 25 Vgl. Paravicini Bagliani: Boniface, S. 208. 26 Vgl. zu diesem literarischen Verfahren Leonid Arbusow: Colores rhetorici. Eine Auswahl rhetorischer Figuren und Gemeinplätze als Hilfsmittel für akademische Übungen an mittelalterlichen Texten, Göttingen 1948, S. 21–29; Rita Copeland / Ineke Sluiter: Medieval Grammar and Rhetoric. Language Arts and Literary Theory. 300–1475, Oxford / New York 2009, S. 34. 27 Ferreto: Historia, S. 133, Z. 1–6. 28 Ebd. Z. 6. Vgl. Haye: Oratio, S. 12f. zu fingierten Ansprachen als »huiusmodi-Reden«.
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imperare, perfidi competitoris nequitia dolisque peremptum esse).29 Damit klingt das – schon bei Francesco Pipino formulierte – Hauptargument gegen Albrecht I. an, nämlich die persönliche Unwürdigkeit; schließlich soll er seinen Vorgänger, Adolf von Nassau, eigenhändig umgebracht haben, worauf der Papst bei Ferreto sogar zweimal hinweist.30 Danach thematisiert Bonifaz VIII. die päpstliche Machtstellung (auctoritas, potentia), was – wie in der älteren Chronik – als eine Abfolge von drei, allerdings elaborierteren rhetorischen Fragen formuliert wird.31 Nur in dieser Fassung der Rede kommt das Kirchenoberhaupt nun explizit auf die Approbation zu sprechen, die vor der Kaiserkrönung zu erbitten wäre.32 Auch die Aussage des Papstes, Albrecht I. möge über die Deutschen (apud Germanos) herrschen, er aber über die Römer (Latiae gentes), ist ausschließlich in Ferretos amplifizierter Version des Konsistorialberichts belegt.33 Der Notar aus Vicenza dürfte hier nicht Aufzeichnungen, die Francesco Pipino unbekannt waren, herangezogen, sondern die ältere Chronik bearbeitet und erweitert haben. Schließlich erscheint es als wenig wahrscheinlich, dass Bonifaz VIII. anlässlich des Empfangs der königlichen Gesandten 1298 keinen Sermo modernus, sondern eine freie, antikisierende Rede vorgetragen hat. Fragwürdig scheint zudem die immer dramatischere Beschreibung der Performanz. Schon das nur bei Francesco Pipino belegte Schwert, das Bonifaz VIII. mit sich geführt haben soll, gehörte nicht zum üblichen Ornat des Papstes, noch weniger die von Ferreto de’ Ferreti erwähnten Schlüssel.34
3.
Papst Bonifaz VIII., Die Konsistorialpredigt zur Approbation Albrechts I. (1303)
Der erste Empfang der Gesandten Albrechts I. war also möglicherweise weniger exzeptionell, als es die spätere Geschichtsschreibung darstellte. Die Verhandlungen über die Kaiserkrönung gingen jedenfalls weiter, was auch mit den Auseinandersetzungen zu tun hatte, in die sich Bonifaz VIII. mit dem König von Frankreich verstrickte.35 Der Streit drehte sich zunächst um die Besteuerung des 29 30 31 32 33 34
Ebd. Z. 6–9. Ebd. Z. 6–13. Vgl. Francesco Pipino: Chronicon, Sp. 745. Ebd. Z. 13–16. Vgl. Francesco Pipino: Chronicon, Sp. 745. Ebd. Z. 16–19. Ebd. Z. 24–26. Nach Paravicini Bagliani: Boniface, S. 208 könnte es sich bei dem Schwert um die Waffe eines päpstlichen Leibwächters gehandelt haben, die Bonifaz VIII. während der Predigt an sich nahm. 35 Vgl. Paravicini Bagliani: Boniface, S. 299–336; Karl Ubl: Die Genese der Bulle »Unam sanctam«. Anlass, Vorlagen, Intention, in: Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Political Thought in the Age of Scholasticism. Essays in Honour of Jürgen Miethke
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französischen Klerus, doch spätestens als Bonifaz VIII. in der Bulle »Unam sanctam« den Vorrang des Papstes vor jeder weltlichen Gewalt verkündete, war klar, dass es um grundsätzliche Machtfragen ging.36 Während sich der Konflikt mit Philipp dem Schönen weiter zuspitzte, zeichnete sich eine Lösung der Streitfrage mit dem römisch-deutschen König ab.37 Denn Bonifaz VIII. war nun sehr daran gelegen, Albrecht I., der im Jahr 1299 ein Bündnis mit Philipp geschlossen hatte, auf seine Seite zu ziehen. Im Gegenzug sagte er ihm – wohl im Rahmen von Verhandlungen im Winter 1302 / 3 – die Approbation zu.38 Im folgenden Frühjahr zog eine königliche Gesandtschaft nach Rom, die am 30. April 1303 feierlich am Papsthof empfangen wurde. Die Quellenlage ist sehr viel günstiger als für den Empfang des Jahres 1298, denn in diesem Fall liegt ein Konsistorialprotokoll vor, das vermutlich ein Angehöriger der Kurie verfasste hatte.39 Die Predigt, die Bonifaz VIII. anlässlich der Anerkennung Albrechts I. hielt, ist hier nicht vollständig, aber in den wichtigsten Punkten überliefert.40 Der Form nach handelte es sich um einen typischen Sermo modernus, wobei der Papst 2 Makk. 1,22 als Thema wählte: »Nach einiger Zeit brach die Sonne hervor, die von Wolken verdeckt gewesen war.« (Affuit tempus, quo sol refulsit, qui prius latebat in nubilo).41 Im Prothema erläuterte Bonifaz VIII. anhand von Gen 1,16 (»Gott machte die beiden großen Lichter, das große zur Herrschaft über den Tag, das kleine zur Herrschaft über die Nacht.«) den Begriff der Sonne (sol) genauer, wobei er zu einem »ungewöhnlich[en]« Schluss kam, wie schon Wilhelm Kölmel anmerkte.42 Üblicherweise wurde die Sonne als Symbol für die kirchliche, der Mond hingegen für die weltliche Macht gedeutet. Denn so wie der Mond nur durch das Licht der Sonne leuchtete, so bedurfte die weltliche Herrschaft der kirchlichen Legitimation. Anlässlich der feierlichen
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(Studies in medieval and reformation traditions 103), hg. v. Martin Kaufhold, Leiden / Boston 2004, S. 129–149, hier: 146f. Die Bulle »Unam sanctam« vom 18. November 1302 ist ediert in Les registres de Boniface VIII. Recueil des bulles de ce pape, publiées ou analysées d’après les manuscrits originaux des archives du Vatican, Bd. 3: Septième, huitième et neuvième années (Nos 3925 à 5408) (Bibliotheque des écoles Françaises d’Athènes et de Rome 4), hg. v. Georges Digard u. a., Paris 1921, S. 888–890. Vgl. die klassische Studie von Walter Ullmann: Die Bulle Unam sanctam. Rückblick und Ausblick, in: RöHM 16 (1974), S. 45–77 sowie die Revision seiner Thesen bei Ubl: Genese und außerdem Mantey, Schwerter, S. 54–72. Vgl. Menzel: Zeit, S. 124–130. Vgl. Niemeier: Untersuchungen, S. 100–105. Die Quelle ist ediert in den Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 4,1: 1298–1313 (MGH. Const. 4), hg. v. Jacob Schwalm, Hannover / Leipzig 1906, S. 138– 145. Vgl. Niemeier: Untersuchungen, S. 109–142; Paravicini Bagliani: Boniface, S. 340– 342. Constitutiones, Bd. 4,1, S. 139–141. A.a.O, S. 139. Kölmel: Regimen, S. 402, Anm. 302.
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Approbation sollte jedoch der Kaiser als Sonne gelten, die alle erleuchten möge. Die höchste Macht ging freilich nicht von ihm aus, wie Bonifaz VIII. anhand der Ausdeutung des Begriffs »Tag« (dies) des Prothemas weiter ausführte. Er setzte diesen mit der »Macht« (potestas) gleich und erläuterte mit Verweis auf Ps. 138,16, dass alle Tage – also jede potestas – von Christus und damit von seinem Stellvertreter dem Papst ausgingen. Das erklärte, weshalb das Kirchenoberhaupt im Rahmen der Translatio imperii das Kaisertum von den Griechen auf die Deutschen übertragen konnte.43 Seither wählten die sieben Kurfürsten einen römischen König, den das Kirchenoberhaupt zum Kaiser erhob. Dieser hatte den Vorrang vor allen anderen weltlichen Fürsten, auch vor dem König von Frankreich. Bonifaz VIII. warf Philipp dem Schönen wegen seiner Weigerung, sich dem Kaiser unterzuordnen, typisch »französischen Hochmut« (superbia Gallicana) vor. Sollte er diese Haltung nicht aufgeben, werde er exkommuniziert, wie der Papst mit Anspielung auf Gal. 1,8 und 9 erklärte: »Und wenn euch einer etwas anderes verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der verfalle dem Anathem, auch wenn es ein Engel vom Himmel wäre.« (Et si quis evangelizaverit vobis aliud, quam evangelizamus, etiam angelus de celo, anathema sit).44 Nachdem damit einige grundlegende Punkte geklärt waren, kam Bonifaz VIII. auf das Thema der Predigt zurück. Die Mitschrift konzentrierte sich dabei auf die wesentlichen Aspekte einzelner Distinctiones. Demnach beschrieb der Papst die erwähnte Wolke, welche die Sonne – also den zukünftigen Kaiser – verdunkelte, genauer als »Wolke der Anmaßung und Unwissenheit« (nubilus arrogantiae et ignorantiae), da sich Albrecht I. der Kirche gegenüber lange Zeit nicht angemessen verhielt.45 Mittlerweile erweise er sich aber als fromm und bereit dazu, alles zu tun, was Papst, Kardinäle und die gesamte Kirche verlangten. Daher war nun der im Predigtthema angesprochene Zeitpunkt gekommen (affuit tempus), sich dem Habsburger gnädig zuzuwenden. Bonifaz VIII. setzte ihn, wie er unter Zitierung von Jer. 1,10 erklärt, als Herrscher über Völker und Reiche ein, damit er ausreiße und niederreiße, vernichte und einreiße, aufbaue und einpflanze. Damit übertrug er – wie schon bei der Ausdeutung der Sonne – ein Bild, das übli-
43 Vgl. dazu die klassische Monographie von Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, sowie die neuere Studie von Thomas Wetzstein: La doctrine de la translatio imperii et l’enseignement des canonistes médiévaux, in: Science politique et droit public dans les facultés européennes, XIIIe-XVIIIe siècle (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 229), hg. v. Jacques Krynen und Michael Stolleis, Frankfurt am Main 2008, S. 185–221. 44 Constitutiones, Bd. 4,1, S. 139. 45 A.a.O, S. 140.
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cherweise auf das Priester- und Papsttum bezogen wurde,46 auf Albrecht I. um dessen Approbation in besonderer Weise zu würdigen. Selbstverständlich könne er das Imperium jederzeit auf ein anderes Volk übertragen, wie Bonifaz VIII. betonte, doch wollte er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen. Stattdessen erklärte er unter Berufung auf die päpstliche Vollgewalt sämtliche Rechtsprobleme, die bei der Wahl Albrechts I. zu bemängeln waren, für unerheblich. Das Kirchenoberhaupt approbierte den Wahlakt und bestätigte alle Entscheidungen des Königs, sofern sie gerecht und legitim zustande gekommen waren. Als wichtigen Grund für seine Entscheidung nannte Bonifaz VIII. die Hoffnung, dass Albrecht seinem Vater, Rudolf I. von Habsburg, ähnlich werde. Denn Rudolf war rechtgläubig, der Kirche ergeben und stets aufrichtig (catholicus, devotus ecclesie, verax). Sollte Albrecht sich nicht daran orientieren und wortbrüchig werden, drohte er ihm mit ernsthaften Konsequenzen. Bündnisse des Königs mit anderen Fürsten schüchterten den Papst dabei nicht ein, denn selbst wenn alle weltlichen Herrscher sich gegen ihn verbündeten, habe er doch die Wahrheit auf seiner Seite. Noch einmal erinnerte Bonifaz VIII. daran, dass Albrecht I. nun alle anderen Könige an Bedeutung überrage und keiner davon ausgenommen sei. Der neue rex Romanorum sollte sich für die Rechte des Reichs einsetzen, wobei ihn das Kirchenoberhaupt nach Kräften unterstützen werde.47 Mit der Aufforderung an die Gesandten, sie mögen nun die vereinbarten Eide im Namen des Königs leisten, schloss die päpstliche Predigt. Danach folgte die geforderte Eidleistung, die durch eine Ansprache des königlichen Kanzlers eingeleitet wurde.48 Abschließend ergriff Bonifaz VIII. noch einmal das Wort, wobei der Vortrag über Ps. 67, 29–30 (bzw. Ps. 68, 29–30 der Einheitsübersetzung »Bekräftige, Gott, was du für uns getan hast, von deinem Tempel aus, hoch über Jerusalem«) in dem Protokoll nur knapp zusammengefasst wurde.49 Der Papst drückte darin noch einmal seine Hoffnung aus, dass sich der König an alle Zusagen halten und gemeinsam mit ihm den »Hochmut der Franzosen« (superbia Gallicorum) vernichten werde. Dafür erklärte er Kraft seiner päpstlichen Vollgewalt das Bündnis Albrechts I. mit Philipp dem Schönen für aufgelöst und dispensierte den römischen König von allen Strafen, die eigentlich aus dem Vertragsbruch resultierten. Tatsächlich dürfte Bonifaz VIII. anlässlich der Approbation Albrechts I. am 30. April 1303 eine solche Predigt gehalten haben. Dafür spricht nicht nur die Form des Vortrags, sondern auch, dass ein weiteres, 46 Vgl. schon das Zitat (Jer. 1,10) im Titel der Biographie von John C. Moore, Pope Innocent III. (1160–1216). To Root Up and to Plant, Notre Dame 2009 und a.a.O., S. 28 und 127, sowie die Predigt Clemens’ VI. für Karl IV. unten bei Anm. 74. 47 Constitutiones, Bd. 4,1, S. 141. 48 A.a.O., S. 141–144. 49 A.a.O., S. 144f.
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verlorenes aber in anderen Quellen zitiertes Konsistorialprotokoll von dem Vortrag berichtete.50 Zunächst griff der gelehrte Jurist Guillaume de Plaisians, der zu den wichtigsten Beratern Philipps des Schönen gehörte, darauf zurück, als er eine Liste von Anklagepunkten gegen den Papst zusammenstellte.51 Guillaume akzentuierte vor allem die Aussagen nach Gal. 1,8 und 9 (»Und wenn euch einer etwas anderes verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der verfalle dem Anathem, auch wenn es ein Engel vom Himmel wäre«), die wohl das überhöhte Selbstverständnis des Papstes illustrieren sollten. Außerdem spitzte er die Äußerungen Bonifaz’ VIII. zum Vorgehen gegen den »Hochmut der Franzosen« zu einer Absichtserklärung zu, Frankreich zerstören zu wollen. Schließlich stellte er das Kirchenoberhaupt noch als Kriegstreiber dar, da er das Friedensbündnis zwischen Albrecht I. und Philipp dem Schönen aufgehoben und so militärischen Auseinandersetzungen den Weg geebnet habe. Dasselbe verlorene Protokoll dürfte dem Dominikaner Heinrich von Herford vorgelegen haben, der es in seiner um 1355 abgeschlossenen Weltchronik, dem Liber de rebus et temporibus memorabilioribus, auswertete.52 Heinrich behielt die Form des Sermo modernus bei, griff aber ein wenig in den Text ein, den er teils kürzte, teils erweiterte.53 Da er grundsätzlich die Position des römisch-deutschen Reiches vertrat und dessen Gegner kritisch sah,54 griff er die negativen Aussagen gegen die Franzosen auf und amplifizierte sie. So ergänzte Heinrich zum »französischen Hochmut« noch die »Dummheit« (stultitia et superbia Gallicana), die nun gemeinsam dafür verantwortlich sein sollten, dass sich Philipp der Schöne keiner anderen Macht unterwerfen wollte. Um die überragende Stellung des Kaisers gegenüber anderen Herrschern zu belegen, verglich der Chronist sie mit der des Papstes, dem alle Menschen gehorchen mussten, um ihr Seelenheil nicht zu gefährden. Den Satz hatte er der Bulle »Unam sanctam« entnommen, die 50 Vgl. zu diesem zweiten Konsistorialprotokoll, das von dem oben diskutierten Bericht in einigen Details abwich, die Hinweise in der Edition einer Anklageschrift gegen Bonifaz VIII.: Procès-verbaux des séances de ces deux jours, comportant la liste des articles d’accusation contre Boniface lue par Plaisians et l’adhésion, tant du roi que des prélats, à la convocation d’un concile (13.– 14. juin 1303, Paris, au Louvre), in: Boniface VIII en procès. Articles d’accusation et déposition des témoins (1303–1311) (Pubblicazioni della Fondazione Camillo Caetani 5), hg. v. Jean Coste, Rom 1995, S. 122–173, hier: 157, Anm. 3. 51 Procès-verbaux des séances, S. 156–158, Nr. 29. 52 Heinrich von Herford: Liber de rebus memorabilioribus sive chronicon Henrici de Hervordia, hg. v. August Potthast, Göttingen 1859. Vgl. Eugen Hillenbrand: Art. »Heinrich von Herford«, in: VerLex2 III (1981), Sp. 745–749; Klaus Peter Schumann: Heinrich von Herford. Enzyklopädische Gelehrsamkeit und universalhistorische Konzeption im Dienste dominikanischer Studienbedürfnisse, Münster 1996. 53 Heinrich von Herford: Liber de rebus memorabilioribus, S. 217. Vgl. Niemeier: Untersuchungen, S. 139–141. 54 Vgl. Schumann: Heinrich von Herford, S. 113f..128–131 und passim zur »reichstreuen Auffassung« in den Papst-Kaiser-Konflikten.
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er explizit an dieser Stelle zitierte.55 Die Franzosen müssten sich dem Reich aus historischen Gründen unterordnen, da sie ihm viel verdankten: erstens in kultureller Hinsicht, schließlich gingen ihre Städte, Gewohnheiten und ihre Sprache, die kaum mehr sei als Verballhornung des Lateinischen (balbutiamentum lingue Latine), auf die Zeit des römischen Reiches zurück; zweitens in religiöser Hinsicht, denn Dionysius und andere (National-)Heilige lebten zur Zeit der römischen Herrschaft in Gallien. Danach ließ Heinrich von Herford den Papst wieder zum eigentlichen Gegenstand der Rede zurückkommen, also zur Aussöhnung der Kurie mit Albrecht I., dessen Wahl approbiert wurde. Ähnlich wie in dem oben erwähnten Konsistorialprotokoll folgten danach eine Predigt des königlichen Gesandten und die Aufhebung des Bündnisses zwischen Frankreich und dem Reich.56 Die Änderungen, die Guillaume de Plaisians und Heinrich von Herford vornahmen, um die Rede des Papstes ihrer jeweiligen Darstellungsabsicht anzupassen, lassen sich mit größerer Sicherheit bestimmen als in anderen Fällen. Auch wenn das zunächst diskutierte Protokoll keine wortwörtliche Mitschrift bietet, legt der Vergleich mit dieser Quelle doch nahe, dass Bonifaz VIII. sich nicht so aggressiv gegen die Franzosen, ihre Kultur und Sprache geäußert hatte, wie es die späteren Autoren darstellten. Aus »Unam sanctam« dürfte das Kirchenoberhaupt nicht zitiert haben, um die übergeordnete Stellung des Kaisers zu begründen. Doch Bibelstellen wie Gen 1,16 und Jer 1,10, die üblicherweise angeführt wurden, um die Macht das Papstes zu illustrieren, bezog Bonifaz VIII. tatsächlich auf Albrecht I. Der neue König wurde damit oratorisch auf eine Ebene mit dem Kirchenoberhaupt gestellt, was das Einvernehmen zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt allen Zuhörern deutlich gemacht haben dürfte. Nach gängiger Lesart erfüllte auch die letzte Predigt, die wir diskutieren wollen, nämlich die Konsistorialansprache, die Clemens VI. anlässlich der Anerkennung Karls IV. hielt, genau diese Funktion. Die Interpretation soll im Folgenden hinterfragt werden um hervorzuheben, dass politische Predigten des Spätmittelalters auch eine sehr viel komplexere Funktion erfüllen konnten als nur die feierliche Bekanntmachung von Konsens.
55 Heinrich von Herford: Liber de rebus memorabilioribus, S. 217. Der Satz in der Bulle »Unam sanctam« lautet nach Les registres de Boniface VIII., Sp. 890 Porro subesse Romano Pontifici, omni humane creature declaramus, dicimus et diffinimus omnino esse, de necessitate salutis. Vgl. zur Tradition dieser Aussage, die sich bis zu Thomas von Aquin zurückverfolgen lässt, Ubl: Genese, S. 138. 56 Heinrich von Herford: Liber de rebus memorabilioribus, S. 217f.
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4.
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Clemens VI., Die Konsistorialpredigt zur Approbation Karls IV. (1346)
Als Clemens VI. die Approbation Karls IV. verkündete, bedeutete dies das Ende eines langjährigen Konflikts zwischen Kurie und Reich, der die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts überschattet hatte.57 Karls Vorgänger (und Konkurrent), Ludwig IV. »der Bayer«, war bereits 1324 exkommuniziert worden, da er sich weigerte, um die päpstliche Anerkennung seiner Wahl anzusuchen und dennoch seine Machtansprüche in Oberitalien geltend machte.58 Clemens VI. predigte mehrfach gegen Ludwig, zuletzt im Zusammenhang mit der erneuten Exkommunikation im April 1346, die das endgültige Scheitern jeglicher Einigungsbemühungen markierte.59 Gleichzeitig kamen die Verhandlungen über die Kandidatur des Markgrafen Karl von Mähren, mit dem der Papst seit langem persönlich bekannt war, zu einem erfolgreichen Ende.60 Da Karl seine Wahl im Juli 1346 vor allem der päpstlichen Unterstützung verdankte, bezeichneten ihn seine Gegner bald als »Pfaffenkönig« (rex clericorum).61 Die Politik des neuen Reichsoberhaupts war aber keineswegs so stark an den Interessen des Papsttums ausgerichtet, wie es diese Zuschreibung vermuten lässt. Die Forschung diskutiert seit Langem, weshalb Karl IV. in der »Goldenen Bulle« von 1356, welche die Königswahl für die folgenden Jahrhunderte regelte, die päpstliche Approbation als offensichtlich unmaßgeblichen Akt gar nicht erwähnte.62 Dabei zeichnete sich die Position des König zu dieser Frage bereits in der Predigt ab, die sein Gesandter, der Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz, am 57 Vgl. Menzel: Zeit, S. 153–191. Zur Biographie des Papstes vgl. Bernard Guillemain: Art. »Clemente VI«, in: Enciclopedia dei papi, Bd. 2: Niccolò I, santo – Sisto IV, hg. v. Massimo Bray, Rom 2000, S. 530–537; Diana Wood: Clement VI. The Pontificate and Ideas of an Avignon Pope (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 14), Cambridge 1989. 58 Vgl. Heinz Thomas: Ludwig der Bayer (1282–1347). Kaiser und Ketzer, Regensburg u. a. 1993. 59 Vgl. Georg Strack: Doppelzüngige Phrasendrescherei? Die Konsistorialansprachen Papst Clemens VI. gegen Ludwig den Bayern in: Ludwig der Bayer (1314–1347). Reich und Herrschaft im Wandel, hg. v. Hubertus Seibert, Regensburg 2014, S. 413–433. Die folgenden Ausführungen gehen auf Überlegungen a.a.O, S. 416–420 zurück, die ich für den vorliegenden Beitrag noch einmal aufgreife und fortführe. 60 Vgl. Hesse: Synthese, S. 27–29. Heinz Stoob: Kaiser Karl IV. und seine Zeit, Graz / Wien / Köln 1990; Ferdinand Seibt: Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346 bis 1378, München 1978. 61 Vgl. zu dieser Charakterisierung Michael Lindner: Es war an der Zeit. Die Goldene Bulle in der politischen Praxis Kaiser Karls IV., in: Die Goldene Bulle. Politik, Wahrnehmung, Rezeption (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen, Sonderband 12), hg. v. Ulrike Hohensee u. a., Berlin 2009, S. 93–140, hier 115. 62 Vgl. Lindner: Zeit, S. 115–131; Stefan Weiß: Das Papsttum, Frankreich und das Reich. Die Goldene Bulle und die Außenpolitik Karls IV., in: Die Goldene Bulle. Politik, Wahrnehmung, Rezeption (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen, Sonderband 12), hg. v. Ulrike Hohensee u. a., Berlin 2009, S. 917–932, hier 926f.
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5. November 1346, also am Tag vor der Approbation im öffentlichen Konsistorium hielt.63 Ernst von Pardubitz wählte als Thema seines Vortrags ein Zitat aus dem Buch der Könige, das er leicht abwandelte, nämlich »Auf dich […] sind nun die Augen ganz Israels gerichtet. Du sollst ihnen bekannt geben, wer […] auf dem Thron sitzen wird« (1 Kön 1,20 bzw. 3 Reg 1,20 der Vulgata In te oculi respiciunt totius Israel, ut indices eis quis sedere debeat in solio tuo). In dem Bibelvers ging es allerdings nicht einfach um »DEN Thron«, sondern um »DEINEN Thron«, was der königliche Gesandte sicher gezielt umformulierte. Die Adaption des Bibelverses im Thema entsprach dem Inhalt der Predigt, in der zwar um Salbung, Weihe und Krönung gebeten wurde, aber eben nicht um die päpstliche Approbation. Die meisten Zuhörer im Konsistorium dürften den genauen Wortlaut des Verses gekannt haben. Folglich wird ihnen klar gewesen sein, dass der königliche Gesandte den Papst provozierte, indem er dessen Verfügungsgewalt über den Thron schon im Predigtthema in Frage stellte. Darauf wies jedenfalls der böhmische Chronist Benesˇ Krabice von Weitmühl hin, der ein Geschichtswerk im Auftrag Karls IV. verfasste und über die Ereignisse gut informiert war.64 Benesˇ hielt ausdrücklich fest, dass Clemens VI. diese Provokation aufgefallen sei und er seine Ansprache am nächsten Tag darauf abgestimmt habe. Nach seinem Bericht griff das Kirchenoberhaupt nun das Thema auf und ergänzte das fehlende Possessivpronomen ostentativ. Mit Ausführungen über die Translatio imperii habe Clemens VI. – nicht anders als der oben erwähnte Bonifaz VIII. – sein Verfügungsrecht über das Kaisertum ausführlich begründet. Zudem soll er darauf hingewiesen haben, dass die höchsten weltlichen Herrscher seit jeher dem Papst Ehrerbietung, Gehorsam und Treue schwören (reverencia, obediencia et fidelitas). Erst nach dieser Klarstellung approbierte er nach Benesˇ Krabice von Weitmühl die Wahl des Luxemburgers. Die entsprechende Predigt Clemens’ VI. vom 6. November 1346 hat sich in mehreren Abschriften erhalten.65 Ihr Thema war ein leicht adaptierter Abschnitt
63 Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 8: 1345–1348 (MGH Const. 8), hg. v. Karl Zeumer und Richard Salomon, Hannover 1910–1926, S. 138–142, Nr. 99. 64 Vgl. den Auszug aus seiner Chronik in den Constitutiones, Bd. 8, S. 137f., wobei sich Seibt, Karl IV., S. 151f. kritisch zu dieser Darstellung äußert. Zur Biographie des Chronisten vgl. Ivan Hlavácˇek: Art. »Benesˇ Krabice von Weitmühl«, in: Lexikon des Mittelalters I (1980), Sp. 1907; Alexandru Cizek / Anna Rodolfi: Art. »Benessius Krabice«, in: Compendium auctorum Latinorum medii aevi II (2005), Sp. 241–242f. 65 Die Predigt ist ediert in den Constitutiones, Bd. 8, S. 143–163. Zum Inhalt vgl. die ausführliche Studie von Hans Patze: Salomon sedebit super solium meum. Die Konsistorialrede Papst Clemens’ VI. anläßlich der Wahl Karls IV., in: Kaiser Karl IV. 1316–1378. Forschungen über Kaiser und Reich, hg. v. Dems., Neustadt / Aisch 1978, S. 1–37, dessen Interpretation aber nicht überzeugt. Weitere Hinweise finden sich bei Wood: Clement VI., S. 182–184 und passim; Stoob: Karl IV., S. 42–44; Thomas: Ludwig, S. 375; Ernst Schubert: Königsabsetzungen im deutschen Mittelalter. Eine Studie zum Werden der Reichsverfassung (Ab-
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aus 1 Kön 1,35 »Salomon wird auf MEINEM Thron sitzen und er wird für mich herrschen, und ich werde ihm befehlen, dass er Herr über Israel sei« (Salomon sedebit super solium meum, et ipse regnabit pro me, illique precipiam, ut sit dux super Israel [3 Reg 1,35]).66 Der Papst ging einleitend auf die Umstände seines Vortrags ein, also auf die Bitte um Bekanntgabe des neuen Königs durch die Gesandten Karls IV. Danach gliederte er das Thema in vier Punkte, die den gesamten Vortrag strukturierten.67 Sie betrafen erstens die Eignung des Elekten (persone assumende ydoneitas et sufficientia), zweitens die besondere Bedeutung des Throns, der für die kaiserliche Würde stand (kathedre assequende nobilitas et excellentia), drittens Rang und Amtsgewalt desjenigen, der diese Würde verlieh, also des Papstes (promoventis persone auctoritas et eminentia), und viertens den Nutzen, der aus der Rangerhöhung erwuchs (cause consequende utilitas et efficacia).68 In der ersten, vielfach untergliederten Distinctio wurde der im Predigtthema erwähnte Salomon – genauer gesagt seine nützlichen, ungewöhnlichen und schlechten Eigenschaften – zum Ausgangspunkt für die Erörterung der Idoneität des neuen Königs.69 Letztlich kam Clemens VI. zu dem Ergebnis, dass Karl teilweise dieselben Herrschertugenden wie der biblische König besaß, nämlich im Hinblick auf seine Frömmigkeit (devotio), Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia) und Milde (clementia). Was Wissen (scientia), Besitz (possessio), Größe des Haushalts (familia) und die Regierung in Friedenszeiten (pacifica gubernatio) betraf, war Salomon dem neuen König überlegen. Dafür übertraf Karl ihn hinsichtlich ehelicher Treue (coniugalis continentia), Ausdauer (perseverantia), Gottesverehrung (divina adoratio) und körperlicher Tapferkeit (fortitudo). Die zweite Distinctio behandelte die besondere Bedeutung von Kaiser und Reich, wobei der Papst eingangs noch einmal das Predigtthema zitierte, also betont, dass es SEIN Thron war, der besetzt werden sollte.70 Die Kaiserwürde verdankte ihren besonderen Rang demnach der Prophezeiung des Ezechiel von den vier Weltreichen (imperia), die Clemens VI. in Bezug zu den vier Evangelistensymbolen (Löwe, Mensch, Ochse, Adler) setzte. Dabei stand der Löwe für das Reich der Assyrer, der Mensch für das der Perser, der Ochse für das der Griechen und der Adler schließlich für das letzte, noch existierende Imperium Romanum, das die
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handlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse III/267), Göttingen 2005, S. 347f. Constitutiones, Bd. 8, S. 143. Vgl. zum Aufbau der Konsistorialpredigten Clemens’ VI. Lützelschwab: Clemens VI., S. 64–66; Wood: Clement VI., S. 15. Constitutiones, Bd. 8, S. 144. Vgl. Patze: Konsistorialrede, S. 13. Constitutiones, Bd. 8, S. 144–149. Vgl. Patze: Konsistorialrede, S. 13–18. Constitutiones, Bd. 8, S. 149–152. Am Beginn steht die Erinnerung an das Thema, das sonst nur selten wiederholt wird: Unde dicitur in themate: ›Sedebit super solium meum‹.Vgl. die abweichende Interpretation der folgenden Passage bei Patze: Konsistorialrede, S. 18–20.
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Kirche auf die Germanen übertragen habe. Der Papst zitierte eine weitere Allegorie der vier Weltreiche, nämlich eine Statue, die Nebukadnezar im Traum erschienen war (Dan 2, 32–33). Ihr goldener Kopf stand symbolisch für die Assyrer, der silberne Brustbereich für die Perser, der bronzene Bauch für die Griechen und ihre eisernen Beine für die Römer. Das Kirchenoberhaupt erinnerte daran, dass nach Dan 2, 41–42 nur eines der Beine wirklich aus Eisen, das andere aber aus Ton war, weshalb stets die Gefahr drohte, dass sie auseinanderbrachen. Damit spielte Clemens VI. auf die Doppelwahlen der letzten Jahrzehnte an, wobei er Karl IV. wohl zu den verlässlichen Stützen des Reiches zählte. Ein wenig irritiert allerdings der Hinweis auf die Brüchigkeit der Reichsgewalt und ihre Gleichsetzung mit dem am wenigsten kostbaren Metall in der Festrede für den neuen König. Auch die folgenden Ausführungen zur Bedeutung von Herrscher und Reich wirken wenig enthusiastisch. Zwar betonte der Papst, dass das Imperium himmlischen und nicht irdischen Ursprungs sei, verwies aber in dem Zusammenhang wieder auf das von Bonifaz VIII. so ungewöhnlich gedeutete Gleichnis von Sonne und Mond nach Gen 1,16. Die Macht des Kaisers setzte er dabei – wie üblich – mit dem weniger bedeutenden Mond gleich, schließlich war sie durch das Papsttum vermittelt (mediante pontificali). Das Kirchenoberhaupt wies eigens darauf hin, dass sich der Herrschaftsbereich des Kaisers nur nach Meinung der Legisten über die ganze Welt erstreckte, während er nach Auffassung der Kanonisten begrenzt war. Wenn die Legisten Ez 37,22 anführten, wo es hieß »ein König wird alle beherrschen« (Rex unus erit omnibus imperans), dann waren damit nämlich nicht »alle« sondern »viele« gemeint. Nicht nur hinsichtlich seiner äußeren Ausdehnung, sondern auch im Hinblick auf die innere Beschaffenheit pries Clemens VI. das Imperium noch als ruhmreich und erhaben. Am Ende dieser Passage erinnerte er aber erneut daran, dass die Verfügung über die Reichsgewalt ihm selbst, also dem Papst oblag: »Und seht, es heißt nicht nur, ›dass er auf DEM Thron sitzen wird‹, sondern ›auf MEINEM Thron‹; der kaiserliche Thron ist nämlich meiner.« (Et videte, quod non dicit solum, quod ›sedebit super solium‹, sed ›super solium meum‹; solium enim imperiale solium meum est.) 71 Die Ausführungen über das Kaisertum wirkten eher verhalten, zudem fielen sie (mit etwa drei Druckseiten) überraschend knapp aus. Mehr als doppelt so lang (nämlich auf etwa sieben Druckseiten) ging Clemens VI. in der folgenden Distinctio auf die Amtsgewalt desjenigen ein, der diese Würde verlieh, also auf die auctoritas des Papstes.72 Sie zeigte sich an erster Stelle im Recht auf die Approbation, welche die königliche Gesandtschaft mit Schweigen übergangen hatte. Clemens VI. führte mehrere Bibelstellen an (Hos 8,4; Gen 14,18), die belegten, 71 Constitutiones, Bd. 8, S. 151. 72 A.a.O., S. 152–159.
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dass erst die päpstliche Anerkennung »den Unterschied zwischen einer tyrannischen und usurpierten und einer rechtgläubigen Herrschaft ausmacht« (ista est differentia inter dominium tyrannicum et usurpatum et dominium katholicum).73 Der Akt der Salbung, den das Kirchenoberhaupt ausführte, schloss das Recht der Prüfung des Elekten ein. Grundsätzlich unterstand der Kaiser der Kirche, da er seine Herrschaft der Translatio imperii durch das Papsttum verdanke. Die Abhängigkeit der weltlichen Gewalt erläuterte Clemens VI. in den längsten Dilatationes der Predigt, die jeweils zehn Punkte umfassten. Er verwies dabei unter anderem auf die Binde- und Lösegewalt des Papstes, die ZweiSchwerter-Lehre und Jer 1,10 (»Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und einreißen, aufbauen und einpflanzen.«), also auf Aussagen, die Bonifaz VIII. auf den König bezogen hatte.74 Wörtlich zitierte Clemens VI. aus der Bulle »Unam sanctam« den Satz, dass jedes menschliche Geschöpf dem römischen Papst aus Heilsnotwendigkeit unterworfen sei.75 Auch auf das bereits in der vorhergehenden Distinctio erwähnte Gleichnis von Sonne und Mond nach Gen 1,16 kam das Kirchenoberhaupt in dem Zusammenhang noch einmal zu sprechen. Aus diesen und weiteren Belegen leitete Clemens VI. schließlich drei Folgerungen ab: Der König müsse dem Papst einen Treue- und Gehorsamseid leisten, für die Verteidigung der Kirche sorgen und sich freigiebig zeigen – eine Forderung, die Bonifaz VIII. anlässlich der Approbation Albrechts I. nur schriftlich, nicht aber in der Predigt erhoben hatte.76 Möglicherweise spielten materielle Gegenleistungen für Clemens VI., der bekanntermaßen eine besonders kostspielige Hofhaltung pflegte, eine größere Rolle. Die letzte Distinctio der Predigt war schließlich dem Nutzen (utilitas) gewidmet, welcher der Allgemeinheit aus der Herrschaft des neuen Königs erwachsen sollte.77 Clemens VI. erinnerte mit mahnenden Worten daran, dass sich mehrere Herrscher nach ihrer Krönung gegen die Kirche gewandt haben. Trotz dieser schlechten Erfahrungen wäre es notwendig, wieder einen Kaiser zu erheben, denn die lange Vakanz an der Spitze des Reiches habe zu zahlreichen Missständen geführt. Der neue Imperator müsse folglich eine Reihe von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung in Kirche und Reich durchführen: An erster Stelle nannte der Papst den Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, dann den Kampf gegen Ludwig den Bayern und andere Häretiker. Eine gewisse Rolle 73 74 75 76
A.a.O., S. 152. Vgl. dazu die Erläuterungen oben bei Anm. 46. Constitutiones, Bd. 8, S. 156. Vgl. das Zitat aus »Unam sanctam« oben in Anm. 55. Vgl. das Schreiben Bonifaz’ VIII. an Albrecht I., Lateran, 30. April 1303, das ediert ist in Les registres de Boniface VIII., Sp. 864–867, hier Sp. 866f., Nr. 5349 sowie in den Constitutiones, Bd. 4,1, S. 145–147, hier 147, Nr. 174. 77 Constitutiones, Bd. 8, S. 159–161. Vgl. Patze: Konsistorialrede, S. 27f.
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spielte zudem das Engagement für den Kreuzzug, denn Clemens VI. erwähnte explizit die Türken als Feinde der Christenheit und erinnerte an die Erfolge, die Karl der Große gegen die Muslime errungen hatte.78 Die Ansprache endete mit der Erteilung der Approbation und Glückwünschen, die Clemens VI. dem Herrscher mit auf den Weg gab. Dabei zitierte er unter anderem aus 1 Chr 22,11 (1 Par 22,11 der Vulgata) »Möge jetzt der Herr mit dir sein, mein Sohn, damit du Erfolg hast und das Haus des Herrn, deines Gottes, baust, wie er es von dir vorausgesagt hat.«79 Erneut betonte der Papst, dass er das Imperium SEINEM König gebe und SEINEN Gesalbten erhöhe (nach 1 Sam 2,10 bzw. 1 Reg 2,10 der Vulgata). Abschließend kam Clemens VI. nochmals auf die auctoritas des Papstes zurück, seine Funktion als Wächter des Reiches (custos imperii), Beschützer des Kaisers im Diesseits (protector in terra) und Fürsprecher im Jenseits (intercessor in celo); mit seiner Hilfe möge Karl IV. nach einer langen Regentschaft den Weg ins Paradies finden. Die Ansprache wurde in mehrere Predigtsammlungen integriert,80 zudem fand sie die Aufmerksamkeit einiger zeitgenössischer Chronisten. Der Geschichtsschreiber Franz von Prag formulierte eine etwas flüchtige Zusammenfassung der »feierlichen Predigt« (solempnis sermo), die dem Ruhm Karls IV. (bona fama), seiner alle anderen Fürsten überstrahlenden Würde (dignitas) und Ehre (honor) gewidmet gewesen sein soll.81 Eine weitere, fast vollständige Abschrift hat sich in der Chronographia des Konrad von Halberstadt erhalten, der zeitweise als Kaplan am Hof Karls IV. wirkte. Ein wenig griff der Historiograph in den Predigttext ein, um den Vergleich des neuen Königs mit Salomon noch deutlicher zu machen. Zudem tilgte er einige Passagen, die »mahnende Worte des Papstes […] über die Stellung von sacerdocium und imperium« enthielten.82 Dem königlichen Kaplan war offensichtlich aufgefallen, dass der Vortrag ein gewisses Konfliktpotenzial enthielt, das er minimierte, da es nicht zur feierlichen Anerkennung des zukünftigen Kaisers passte. Die historische Forschung sah hier 78 Constitutiones, Bd. 8, S. 161. Vgl. Norman Housley, The Avignon papacy and the crusades 1305–1378, Oxford 1986, S. 31–36 zu den Kreuzzugaktivitäten Clemens VI. 79 Constitutiones, Bd. 8, S. 161f. 80 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung das Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350 IV (1972), S. 764 Nr. 64; Philibert Schmitz: Les sermons et discours de Clément VI, O. S. B., in: Revue Bénédictine 41 (1929), S. 15–34, hier: S. 30, Nr. 66. 81 Chronicon Francisci Pragensis (Fontes rerum Bohemicarum. Series nova 1), hg. v., Prag 1997, S. 192. Vgl. auch nach der älteren Edition den Ausschnitt in den Constitutiones, Bd. 8, S. 143, Nr. 100/4. Zu Franz von Prag vgl. Ivan Hlavácˇek: Art. »Franz (Franziskus) von Prag«, in: Lexikon des Mittelalters IV (1989), Sp. 799. 82 Rainer Leng: Konrad von Halberstadt O. P. Chronographia Interminata 1277–1355/59 (Wissensliteratur im Mittelalter 23), Wiesbaden 1996, S. 109 mit der Edition des Texts auf S. 232–241. Vgl. zu Werk und Verfasser auch Dieter Berg: Art. »Konrad d. J. v. Halberstadt«, in: Lex.MA V (1991), Sp. 1359.
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weniger Probleme, ohnehin befasste sie sich lange Zeit kaum mit der Predigt, in der scheinbar nur »die scholastische Phrasendrescherei aufs höchste getrieben« wurde.83 Am ausführlichsten befasste sich bislang Hans Patze mit der Ansprache, wobei er ihren Stil ebenfalls als »umständlich« und die inhaltliche »Gedankenführung« als schwach kritisierte.84 Nur in wenigen Passagen gelinge es dem Papst, »sein rhetorisches Talent brillieren« zu lassen und so seine Zuhörer mitzureißen. Letztlich habe die Predigt wohl dazu beigetragen, dass »Karl IV. der König Salomon als Leitbild deutlicher vorschwebte denn manchem seiner Vorgänger«. Der Vortrag im Konsistorium soll vor allem darauf gezielt haben, den neuen König »zu feiern«. Tatsächlich handelte es sich formal um eine Festrede, die der öffentlichen Anerkennung Karls IV. diente; doch ließ der Vortrag zugleich erkennen, dass die Frage der päpstlichen Approbation und damit das Verhältnis der zwei Gewalten weiter umstritten war. Der königliche Gesandte hatte das Kirchenoberhaupt oratorisch herausgefordert, indem er durch eine gezielte Adaption des Predigtthemas dessen Anspruch auf die Vergabe des Kaiserthrons in Frage stellte. Clemens VI. reagierte darauf mit einem ausführlichen Sermo, dessen Thema die päpstliche Machtposition deutlich akzentuierte. Er äußerte sich darin zwar grundsätzlich positiv zu Karl IV., doch die Art und Weise seiner »Panegyrik« machte deutlich, dass es ihm eigentlich darum ging, die Überordnung des Papstes über den Kaiser hervorzuheben.85 Die Ausführungen über die Bedeutung des Reiches fielen deshalb eher knapp und verhalten aus, die zur auctoritas des Papstes waren hingegen sehr detailliert und doppelt so lang. Aus der Abhängigkeit der weltlichen von der geistlichen Gewalt leitete das Kirchenoberhaupt die Pflicht des Königs zu Gehorsam und Freigiebigkeit gegenüber der Kurie ab. Karl IV. kam dem nur bedingt nach, schon bald nach seiner Wahl verschlechterte sich sein Verhältnis zu Clemens VI. merklich, da er die Anhänger Ludwigs des Bayern nicht so entschieden verfolgte wie es von ihm verlangt wurde.86 Der Papst verweigerte deshalb die Kaiserkrönung, doch der Konflikt eskalierte nicht weiter. Als Karl IV. im Jahr 1378 verstarb, zeichnete sich bereits die Konkurrenz zweier Päpste im »Großen Schisma« ab. Beide Kirchenoberhäupter versuchten, den neuen König, Wenzel I., auf ihre Seite zu ziehen. Sie akzeptierten seine Wahl und
83 Emil Werunsky: Geschichte Kaiser Karls IV. und seiner Zeit. Bd. 2 (1346–1355), erste Abtheilung, Innsbruck 1882 [Reprint New York 1961], S. 74, Anm. 2. 84 Patze: Konsistorialrede, S. 1, Anm. 3, 30. Die folgenden Zitate a.a.O., S. 27, 32, 15, 1, Anm. 3. 85 Vgl. schon Kölmel: Regimen, S. 565f., dessen Thesen aber von der Forschung nicht beachtet wurden. 86 Vgl. Gerhard Losher: Königtum und Kirche zur Zeit Karls IV. Ein Beitrag zur Kirchenpolitik im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 56), München 1985, S. 29–31.
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stellten ohne weiteres die Kaiserkrönung in Aussicht, womit die päpstliche Anerkennung die Brisanz verlor, die sie lange gehabt hatte.87 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich von den politischen Streitthemen des späten Mittelalters vor allem das der Approbation gut in Predigten verfolgen lässt. Schon Innozenz III. äußerte sich dazu in einer Konsistorialansprache, ebenso wie Bonifaz VIII., der die Wahl Albrechts I. zunächst ablehnte. Die knappen Angaben, die Francesco Pipino zu dem Vortrag machte, erweiterte Ferreto de’ Ferreti zu einer antikisierenden Rede, die der Papst nicht nur mit einem Schwert, sondern auch mit den päpstlichen Schlüsseln in Händen vorgetragen haben soll. Dabei stützte sich Ferreto wohl nicht auf neue Informationen, sondern auf das literarische Verfahren der rhetorischen Amplificatio. Sehr viel plausibler wirken die Aufzeichnungen in einem Konsistorialprotokoll, das von der Anerkennung Albrechts I. im Jahr 1303 berichtete. Die Ansprache, die Bonifaz VIII. bei dieser Gelegenheit hielt, war ein typischer Sermo modernus, der die Bekanntmachung der Approbation feierlich ausgestaltete. Die meisten politischen Predigten, die im päpstlichen Konsistorium des späten Mittelalters gehalten wurden, erfüllten eine solche demonstrative Funktion, machten also den bereits feststehenden Konsens oder Dissens der Akteure öffentlich. Die Approbationspredigt für Karl IV. zeigt allerdings, wie sich beide Aspekte auch auf eine komplexe Art und Weise verbinden ließen. Auf den ersten Blick feiert sie das neue Einvernehmen von Papst und König, auf den zweiten markierte sie unüberbrückbare Differenzen der zwei Gewalten.
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Markus Wriedt
1414–1517: Gelehrte Predigt in den Städten im Wechsel von Spätmittelalter und Reformationszeit – samt einigen methodischen Anmerkungen*
1.
Zur Fragestellung
Es sind große und vielschichtig konnotierte Begriffe, die den thematischen Rahmen der Konferenz abstecken. Um hier nicht im Nebel zu stochern, möchte ich einige, durchaus diskussionswürdige und willkürliche Einschränkungen meinem Vortrag vorwegschicken:
1.1
Predigt – ein nur interdisziplinär zu bewältigendes Phänomen
Einem gängigen Nachschlagewerk aus dem Internet folgend bezeichnet Predigt, »eine Rede im Rahmen einer religiösen Feier, zumeist mit religiösem Inhalt.«1 Ein auch nur oberflächlicher Religionsvergleich zeigt, dass die Predigt nicht dem Christentum als exklusives Auszeichnungsmerkmal eignet, sondern in vielen Religionen gepredigt wird. Man denke nur an die Chutba (Freitagspredigt) im Islam oder auch die sich immer weiter durchsetzende Gesetzesauslegung im Synagogengottesdienst des Judentums. Offenkundig ist der Begriff derartig selbsterklärend, dass neuere Lexika christlich-theologischer Provenienz auf eine Definition oder Näherbestimmung verzichten.2 Hierin liegen einige methodische Probleme, die nicht zu unterschätzen sind. Sie verweisen zugleich auf die unabdingbar notwendige interdisziplinäre Behandlung des Phänomens, die eine * Teile dieses Aufsatzes wurden bereits unter dem Titel: Biblische Predigt fürs Volk, in: ThLZ 136 (2011), 1267–1282, veröffentlicht. Für Hilfe bei den Korrekturen, der Literaturrecherche und der mit großer Sorgfalt beobachteten Aufforderung zur Evaluation der Lesefreundlichkeit danke ich meiner studentischen Hilfskraft Pia Dieling, Frankfurt am Main, sehr herzlich. 1 Wikipedia Art. »Predigt«, https://de.wikipedia.org/wiki/Predigt (15. 02. 2018). 2 Als Ausnahme sei notiert: Albrecht Beutel: Art. »Predigt A. Definitorisches«, in: Gregor Kalivoda, Franz-Hubert Robling (Redaktion): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, mitbegründet v. Walter Jens, in Verbindung mit Wilfried Barner, unter Mitwirkung von mehr als 300 Fachgelehrten, 7, Berlin 2005, S. 45–51.
124
Markus Wriedt
exklusive Betrachtung durch (historisch arbeitende) Theologen von vornherein ausschließt. a) In formaler Hinsicht: Insofern es sich bei Predigten um eine Redeform handelt, ist zunächst danach zu fragen, ob es ein spezifisches Genus der Rede im Sinne der Predigt gibt und, wie dieses beschaffen ist. Hier wäre also die Rhetorik als Fachwissenschaft gefragt, eine Lösung anzubieten. Der Berliner Kirchenhistoriker Andreas Stegmann vertritt in einem Aufsatz3 die These, dass Melanchthon aufgrund seiner humanistischen Vorbildung und Kenntnis der antiken Rhetorik für die evangelische Predigt ein genus didascalicum entwickelt habe.4 M. E. kann das für die spätmittelalterliche Predigt zumindest teilweise auch behauptet werden: – Die der Beobachtung Stegmanns zugrundeliegende Transformation spätantiker-humanistischer Rhetorik verweist auf eine wirkmächtige Tradition des Spätmittelalters und kann schon darum nicht als Spezifikum der reformatorischen Predigt angenommen werden. – Das genus didascalicum ist bei Melanchthon keine Spezifik der Rhetorik, sondern ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Rhetorik und Dialektik – letztlich allen Fächern des Triviums.5 – Das genus didascalicum ist nicht einem literarischen Genre, der Predigt, vorbehalten, sondern gehört in den Zusammenhang des lehrenden und unterrichtenden Handelns der Kirche. – Nebenbemerkung: es ist bekannt, dass Melanchthon mehr als zweihundert Reden gehalten hat. Ober er allerdings gepredigt hat, ist füglich zu bezweifeln. Insofern ist kaum zu erwarten, dass er für diese kirchliche Praxis dezidierte Handlungsüberlegungen angestellt hat. Vielmehr gehört die Diskussion um das genus didascalicon in den größeren Zusammenhang seiner propädeutischen Aufgabe an der Universität im Kontext der artesAusbildung und seines insgesamt auf die Vermittlung von reformatorischen Überzeugungen ausgerichteten Tätigkeit, die ihm den Beinamen des »praeceptor Germaniae« – im Übrigen noch vor Rabanus Maurus – eingetragen hatte.6
3 Andreas Stegmann: »evangelium pure docetur«. Beobachtungen zum Verhältnis von Lehre und Predigt bei Luther und Melanchthon sowie im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: LuJ 81 (2014), S. 249–302. 4 So auch Hans-Jürgen Pandel: Reden als Quellengattung, in: Geschichte lernen 15 (2002) H. 85, S. 6–13. 5 Vgl. Carl Joachim Classen: Antike Rhetorik im Zeitalter des Humanismus, München / Leipzig 2003, S. 254–309. 6 Theodor Mahlmann: Die Bezeichnung Melanchthons als praeceptor Germaniae auf ihre Herkunft geprüft, in: Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus, hg. v. Udo Sträter, Wittenberg 1999, S. 135–222.
1414–1517: Gelehrte Predigt in den Städten
125
– Die Frage, wie sich das melanchthonische genus didascalicon zu Luthers Begriff und Methode des modus loquendi theologicus verhält, wäre in einer eigenen Untersuchung zu klären. – Kurzum: damit dürfte keine Spezifik der evangelischen Predigt referenziert worden sein. Abgesehen davon, dürften auch die anders-konfessionellen Lehrpredigten dieses genus bevorzugt oder berücksichtigt worden. b) In inhaltlicher Hinsicht reicht der Begriff des »religiösen Inhalts« sehr weit und verleitet insbesondere zu einer Diskussion des verwendeten ReligionsBegriffes. Das ist auch deswegen misslich, weil der Begriff der »Predigt« oder des »Predigens« eine selbstständige, teilweise verballhornende Verwendung in außer-religiösen Kontexten findet. Dort trägt er allerdings zu einer spezifischen Charakterisierung bei, die einen klaren Definitionsgehalt voraussetzt. Hier wäre eine semantische Analyse der Sprach- und Literaturwissenschaft erforderlich. c) In materialer Hinsicht bieten Predigten eine so große Bandbreite an Themen und deren rhetorischer Aufbereitung, dass kaum eine Übersicht möglich ist. Das liegt daran, dass die christliche Predigt eine sehr lange Geschichte hat, die von den Anfängen der Verkündigung Jesu bis hin zur gegenwärtigen Predigt reicht, die kaum über einen Leisten zu schlagen ist. Die Frage, ob sich Charakteristika dessen, was eine christliche Predigt ausmacht, festhalten lassen, ist nur zeitlich und nicht selten auch lokal eingeschränkt zu beantworten. Auch wenn ohne Frage die biblische Botschaft, die aktuelle Christusverkündigung sowie handlungspraktische, erbauliche oder spirituelle Gehalte immer wieder zu finden sind, ist deren Einheitlichkeit im Sinne eines rhetorischen Topos nicht oder nur kaum gegeben.
1.2
Politik
Politik bezeichnet »die Gesamtheit aller Interaktionen […], die auf die autoritative [durch eine anerkannte Gewalt allgemein verbindliche] Verteilung von Werten [materiellen wie Geld oder nicht-materiellen wie Demokratie] abzielen.«7 Der handlungsorientierende bzw. pragmatische Ansatz überwiegt in modernen Definitionen von Politik als Politisches Handeln. Es wird verstanden als »Soziales Handeln, das auf Entscheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die allgemein verbindlich sind und das Zusammenleben von Menschen regeln.«8 7 Frank Schimmelpfennig: Internationale Politik, Paderborn 2010, S. 19–21; zitiert nach Wikipedia Art. »Politik«, https://de.wikipedia.org/wiki/Politik#cite_note-4 (15. 02. 2018). 8 Thomas Bernauer et al.: Einführung in die Politikwissenschaft. Studienkurs Politikwissenschaft, Baden-Baden 2009, S. 32; zitiert nach Wikipedia Art. »Politik«, https://de.wikipedia. org/wiki/Politik#cite_note-4 (15. 02. 2018).
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Markus Wriedt
Trotz dieser handlungspragmatischen Zuspitzung bleibt der Begriff sehr weit: »Sehr allgemein kann jegliche Einflussnahme, Gestaltung und Durchsetzung von Forderungen und Zielen in privaten oder öffentlichen Bereichen als Politik bezeichnet werden. Zumeist bezieht sich der Begriff nicht auf das Private, sondern auf die Öffentlichkeit und das Gemeinwesen im Ganzen. Dann können das öffentliche Leben der Bürger, Handlungen und Bestrebungen zur Führung des Gemeinwesens nach innen und außen sowie Willensbildung und Entscheidungsfindung über Angelegenheiten des Gemeinwesens als Politik beschrieben werden. Im engeren Sinne bezeichnet Politik die Strukturen (Polity), Prozesse (Politics) und Inhalte (Policy) zur Steuerung politischer Einheiten, zumeist Staaten, nach innen und ihrer Beziehungen zueinander.«9 Vor diesem Hintergrund ist es völlig zutreffend, wenn im Einladungsschreiben die Organisatoren der Tagung darauf verweisen, dass »nicht nur die Politik die Predigt macht bzw. bestimmt, sondern auch die Predigt die Politik.« Erneut verbergen sich hinter dieser Verhältnisbestimmung einige methodische Probleme: a) Die Notwendigkeit eines spezifischen Verständnisses von Politik, das den Gebrauch des bestimmten Artikels rechtfertigt. Hier wäre die Politikwissenschaft gefragt,10 deren o. a. Definitionsversuche aber jenen Zugriff gerade nicht erlauben. Erst aufgrund einer solchen Präzisierung des Terminus könnte sodann nach Charakteristika von politischen Positionierungen in der Predigt gesucht werden. b) Insofern es in Predigten häufig um handlungspragmatische Stellungnahmen zu zeitaktuellen Problemen, nicht selten Handlungshemmnissen der Gemeinschaft geht, steht im Hintergrund der Frage nach der politischen Dimension der christlichen Verkündigung deren öffentlicher Charakter. Damit sind wir inmitten der Frage nach Öffentlichkeit und den damit verbundenen soziologischen Problemen:11 ist die Hörerschaft oder der Leserkreis einer Predigt eine Teilmenge der Öffentlichkeit und in welcher Weise ist die Teilmenge unterschieden? Inwiefern repräsentiert die christliche Gemeinde, an
9 Wikipedia Art. »Politik«, https://de.wikipedia.org/wiki/Politik#cite_note-4, (15. 02. 2018). 10 Vgl. Ulrich von Alemann / Erhard Forndran: Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechnik und Forschungspraxis, Stuttgart / Berlin / Köln 1995; Dieter Fuchs / Edeltraud Roller (Hg.): Lexikon Politik – Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2007; Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Darmstadt 2002; Karl Rohe: Politik – Begriffe und Wirklichkeiten, Stuttgart 1994. 11 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990; Volker Gerhardt: Öffentlichkeit: Die politische Form des Bewusstseins, München 2012.
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127
welche die Predigt gerichtet wird, ein Subsystem im Sinne Niklas Luhmanns des Systems »Gesellschaft«?12 c) Schließlich ist die Dimension der mündlichen – teilweise auch schriftlichen – Kommunikation im Sinne der handlungsorientierenden Sprechakte zu analysieren.13
1.3
Kulturwissenschaft
Die zunächst im Kontext der sozial-historischen Hinwendung zu den ›unteren Klassen‹ der Gesellschaft mit deutlich links-ideologisch, marxistischer Theoriebildung im anglo-amerikanischen Raum als interdisziplinärer Zusammenhang entstandenen Cultural Studies führten in der Folge seit ca. 1970 zu einem cultural turn in den historisch arbeitenden Wissenschaften.14 Neben einer unklaren Verwendung des »Kulturbegriffs« erwies sich die Vielfalt der theoretischen Ansätze und methodischen Zugriffe als insgesamt eher verwirrend denn als weiterführend. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte sich neben der Fülle an kulturwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen ein neues Fach: Kulturwissenschaft. Sie nahmen im Wesentlichen die von Wilhelm Dilthey als Geisteswissenschaften bezeichneten Analyse- und Interpretationspraktiken auf und versuchten die interdisziplinären Ansätze zu einer »Synthese« (Assmann) zu führen. Insbesondere wegen des – vermeintlich – zu sehr durch Vorverständnisse geprägten methodischen Ansatzes der Theologie, Philosophie und auch der Geschichte setzte ein Verdrängungswettbewerb ein, in dessen Folge zahlreiche methodische und hermeneutische Grundlagen erneut problematisiert und nicht immer glücklich zu einer Lösung geführt wurden.15 Vor dem Hintergrund dieser aus meiner Sicht immer noch gravierenden Defizite kulturwissenschaftlicher Forschung verzichte ich im Folgenden darauf, 12 Eberhard Hauschildt / Uta Pohl-Patalong: Kirche. Lehrbuch Praktische Theologie, 4, Gütersloh 2013, S. 129–137. 13 Vgl. etwa Götz Beck: Sprechakte und Sprachfunktion, Tübingen 1980; Edda Weigand: Sprache als Dialog: Sprechakttaxonomie und kommunikative Grammatik, Tübingen 2003; sowie die Zusammenfassung von Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns durch Kerstin Reich: Die Ordnung der Blicke: Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus, Bd. 1: Beobachtung und die Unschärfen der Erkenntnis, Weinheim 1998. 14 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 62018; Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 2007. 15 Vgl. dazu Serjoscha P. Ostermeyer: Der Kampf um die Kulturwissenschaft. Konstitution eines Lehr- und Forschungsfeldes 1990–2010, Berlin 2016; Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006; Doris BachmannMedick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006 / Doris Bachmann-Medick a.a.O.
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diese pointiert herauszuarbeiten und beschränke mich auf einen »Sehepunkt« (Chladenius) der theologischen Kirchengeschichtsschreibung, wobei ich die konfessionelle Zuspitzung für den von mir bearbeiteten Bereich der spätmittelalterlichen Predigt ein Stückweit ausblenden kann. Die Frage nach der »vorreformatorischen« oder »wegbereitenden« Dimension dieser Predigten soll – auch aus Zeit- und Umfangsgründen – keine Rolle spielen. Dass dies kein Defizit sein muss, dokumentiert die neuere Forschung zur spätmittelalterlichen Predigt(praxis) in hinreichendem Maße.16 Nach einem allgemeinen Überblick über das Verständnis der spätmittelalterlichen Predigt werden in einem stärker personenbezogenen Teil auf insgesamt vier Prediger Bezug genommen, die in der Zeit des Umbruchs von Spätmittelalter und früher Moderne einige wirkmächtige Akzentsetzungen vorgenommen haben. Weniger deren sich andeutende Ablösung von einem als vorherrschend betrachteten Trend spätmittelalterlicher Verkündigung als vielmehr ihre enge Verbindung zur vorherrschenden Tradition gilt es sichtbar zu machen und in die gegenwärtige Spätmittelalterhistoriographie einzutragen.17
16 Vgl. ergänzend zu den o.g. Beiträgen die folgende Literatur: Larissa Taylor: Soldiers of Christ. Preaching in Late Medieval and Reformation France, New York / Oxford 1992; Alan J. Fletcher: Preaching in late-medieval Ireland: the English and the Latin tradition, Colmán N. Ó Clabaigh Preaching in late-medieval Ireland: the Franciscan contribution, beide in: Irish Preaching 700–1700, hg. v. Alan J. Fletcher und Raymond Gillespie, Dublin 2001, S. 56–80 bzw. S. 81–93; Daniel R. Lesnick: Preaching in Medieval Florence. The social world of Franciscan and Dominican Spirituality, Athens, London 1989; Nirit Ben-Aryeh Debby: The Preacher as Goldsmith: the Italian preacher’s use of the visual arts, in: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. v. Carolyn Muessig, Leiden 2002, S. 127–153; Carolyn Muessig: Audience and Preacher. Ad Status sermons and social classification, in: a. a. O., S. 255–276; Blake Beattie: Coram Papa preaching und rhetorical community at papal Avignon, in: a.a.O., S. 63–86; Rudolf Hirsch, Printing, Selling and Reading, 1450– 1550, Wiesbaden 1967; Kathrine L. French, The People of the Parish, Philadelphia, PA, 2001; Christopher Harper-Bill: The Pre-Reformation Church in England 1400–1530, London 1989. 17 Dass weitaus mehr und andere Prediger möglich gewesen wären, versteht sich von selbst. Hierzu sei nur verwiesen auf Johannes von Paltz, vgl. dazu Berndt Hamm: Frömmigkeits theologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Um kreis, Tübingen 1982; sowie die seit 1983 von Christoph Burger verantwortete Edition seiner Werke, oder Eberlin von Günzburg, dazu Lothar Noak: Johann Eberlin von Günzburg (um 1460–1533) und seine Flugschriften in der deutschsprachigen Flugschriftenliteratur der Jahre 1520–1524, Leipzig Univ. Diss 1983; Günther Heger: Johann Eberlin von Günzburg und seine Vorstellungen über eine Reform in Reich und Kirche Berlin 1985; Christian Peters: Johann Eberlin von Günzburg : ca. 1465–1533 ; franziskanischer Reformer, Humanist und konservativer Reformator, Gütersloh 1994; Geoffrey Dipple: Antifraternalism and anticlericalism in the German Reformation : Johann Eberlin von Günzburg and the campaign against the friars, Aldershot 1996.
1414–1517: Gelehrte Predigt in den Städten
2.
129
Die spätmittelalterliche Predigt
Im 13. und 14. Jahrhundert nimmt die in handschriftlichen Zeugnissen belegte Predigttätigkeit in auffälligem Maße zu.18 Die Gründe dafür liegen gleichermaßen in den sozio-politischen wie theologischen Entwicklungen jener Zeit: die ökonomische Prosperität seit und infolge der Kreuzzüge, die rapide Bevölkerungsentwicklung mit der die Agrarproduktion mithalten kann, gleichzeitig die Entwicklung der Städte mit der Akkumulation von Menschen, Kenntnissen, Wirtschaftskraft und neuen Methoden wirtschaftlicher Entwicklung,19 sowie schließlich die Ausbildung von Universitäten20 und die Entstehung der Mendikantenorden.21 Die soziale Entwicklung macht eine Ausweitung und neue For-
18 O.C. Edwards: A History of Preaching, Nashville 2004, TN, S. 210 unter Bezug auf J.B. Schneyer: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150– 1350, Münster 1969–80; sowie David L. D’Avray: The Preaching of the first Friars. Sermons diffused from Paris before 1300, Oxford 1985. – Eine Übersicht zu den erhaltenen Manuskripten und Beständen diverser Bibliotheken im europäischen Raum ist gegenwärtig nicht zu erstellen. Gleichwohl gibt es zahlreiche elektronische Ressourcen, die hier weiterhelfen: Vgl. Alois Haidinger: Elektronische Hilfsmittel für den Handschriftenbibliothekar. Referat auf dem 4. Tübinger Symposium »Handschriften, Alte Drucke vom 7. 11. 2000«, einzusehen in: http://www.ksbm.oeaw.ac.at/varia/tb2000.htm (01. 04. 2018). Gegenwärtig werden zahlreiche nationale Bibliotheken mit Recherchen zu Predigtbeständen beauftragt. Siehe dazu etwa: Johannes Baptist Schneyer (Hg.): Repertorium der lateinischen Sermone des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350, Münster 1969–1990; ders. (Hg.): Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters. Anonyme Predigten Bibliotheken A bis N, Münster 1978; Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters. Anonyme Predigten Bibliotheken O bis Z, Münster 1980, mit den ergänzenden Indexbänden zu den Textanfängen hg. v. Charles H. Lohr, Münster 1989 / 1990; Hans-Jochen, Repertorium der ungedruckten deutschsprachigen Predigten des Mittelalters, 1. Die Handschriften aus dem Straßburger Do minikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis und benachbarte Provenienzen, Tübingen 2000. Zur literaturgeschichtlichen Gattungsbestimmung vgl. Volker Mertens / Hans-Jochen Schiewer: Edition, Katalogisierung und Abbildung der deutschsprachigen Predigt des Mittelalters, in: Editio 4 (1990), S. 93–111; zur Forschungsgeschichte siehe jetzt: Augustine Thompson: From Texts to Preaching. Retrieving the Medieval Sermon as an Event, in: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. v. Carolyn Muessig, Brill 2002, S. 13–37. 19 Vgl. zusammenfassende Darstellungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters bei Michael Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002; Michael North: Europa expandiert 1250–1500, Stuttgart 2007. 20 Walter Rüegg: Geschichte der Universität in Europa, 1: Mittelalter, München 1993. 21 Vgl. dazu den umfassenden Überblick bei André Vauchez (Hg.): Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur, Bd. 5: Machtfülle des Papsttums (1054–1274) deutschsprachige Ausgabe bearbeitet und hg. v. Odilo Engels, Freiburg 1994; Michel Mollat Du Jourdin und André Vauchez (Hg.): Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur, Bd. 6: Die Zeit der Zerreißproben (1274–1449); deutschsprachige Ausgabe bearb. und hg. v. Bernhard Schimmelpfennig, Freiburg 1991.
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Markus Wriedt
men der Seelsorge und auch der Verkündigung notwendig.22 Im Blick auf den deutschsprachigen Raum kann von einer signifikanten Förderung der Pfarrpredigt gesprochen werden.23 Eine Regelung der Predigtpraxis erfolgte im Zuge der kirchlichen Reformbewegungen anlässlich des 4. Laterankonzils unter Papst Innozenz III.24 In dessen Folge wird die für das Spätmittelalter wichtige Trennung von Predigt und Messliturgie zementiert: War das Recht zur Predigt im Mittelalter dem Bischof vorbehalten und konnte (nur) von diesem auf andere, in klarer Subordination befindlicher Kleriker delegiert werden, kommt es seit 1250 in Ausweitung der klösterlichen Sonderrechte zur Verlegung der Predigtaktivitäten vor allem in die Ordenskirchen der neu gegründeten Mendikantenorden.25 Der für diese explizite Predigtauftrag nötigte zu einer theoretischen Durchdringung der homiletischen Praxis drängte.26
2.1
Die Quellenlage
Bis weit in das 15. Jahrhundert wurden Predigten handschriftlich überliefert. Dabei ist die Quellenkritik zu größter Vorsicht angehalten: die Provenienz der Handschrift muss geklärt werden, die Autoren und Schreiber eindeutig zugewiesen und redaktions- wie literarkritisch untersucht werden, die Intention der schriftlich niedergelegten Predigt ist zu ergründen. Weiterführende Aussagen zu 22 Hellmut Zschoch: Die Christenheit im Hoch- und Spätmittelalter, Göttingen 2004; etliche wertvolle Hinweise bietet jetzt auch die Aufsatzsammlung von Berndt Hamm: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. v. Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon, Tübingen 2011. 23 Isnard W. Frank Op, Art. »Predigt VI«, TRE XXVII (1997), S. 250. Zur Predigt im Hochmittelalter siehe jetzt Regina D. Schiewer: Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin / New York 2008. Sie betont darin, »dass es sich beim Corpus der Frühen deutschen Predigt […] um autochthon deutschsprachiges Schriftgut, das das Genre der Predigt durchaus kreativ und innovativ erstmals in beachtlicher Quantität in die deutsche Schriftkultur einführt.« 24 Konst 10 (COD 239–240); zur Geschichte des Konzils siehe: Giuseppe Alberigo / André Duval (Hg): Les Conciles œcuméniques, 2 Bde.: L’Histoire und Les Décrets. Collection Le magistère de l’Église) Paris 1994; Raymonde Foreville: Lateran I–IV. (Geschichte der ökumenischen Konzilien 6) Mainz 1970 (Übersetzung des frz. Originals, Paris 1965) (Die ökomenischen Konzilien: Geschichte und die Dekrete; Sammlung der Magister der Kirche); Edition der Konzilsbeschlüsse lateinisch/deutsch, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien 2: Konzilien des Mittelalters, hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn (u. a.) 2000, S. 227–271. 25 Isnard W. Frank, Art. »Predigt VI«, S. 250. 26 Siehe beispielsweise Georg Buchwald: Die Ars praedicandi des Erfurter Franziskaners Christianus Borxleben, in: Franziskanische Studien 8 (1921), 67–74; sowie die Anmerkungen zu Alanus ab Insulis w.u.; vgl. auch Phyllis B. Roberts: The ars praedicandi and the medieval sermon, in: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. v. Carolyn Muessig, Leiden 2002, S. 41–62.
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Qualität und Besonderheit überlieferter Predigtstücke und -sammlungen sind erst vor dem Hintergrund einer umfassenderen Quellenrecherche und darauf basierender Vergleiche möglich. Mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern setzt eine erhebliche Zunahme von Predigtdrucken und -sammlungen ein. Ungeklärt ist jedoch, bis auf wenige Teiluntersuchungen, der »Markt« dieser Druckerzeugnisse: Wer stellt diese her? Wer kauft zu welchem Zweck derartige Bücher? Die Leserschaft ist mit Sicherheit nicht mit der Hörerschaft identisch. Entsprechend unterschiedlich dürften die rhetorische bzw. literarische Akzentuierung und Ausgestaltung vorgenommen worden sein. Auch hierzu liegen bisher kaum belastbare Studien vor. Schließlich ist zu klären, in welchem Maße die Drucklegung eigener Predigten zur Performanz des sich etablierenden späthumanistischen Gelehrtenstandes und seiner klerikalen Untergruppe beitrug. Bei gedruckten wie handschriftlich archivierten Predigten ist außerdem zu klären, in welchem Verhältnis sie zum mündlichen Vortrag stehen.
2.2
Charakteristika der spätmittelalterlichen Predigt
Ohne die in zahlreichen Einzeluntersuchungen noch zu beschreibende Vielfalt spätmittelalterlicher Predigt nivellieren zu wollen,27 seien im Folgenden einige Charakteristika herausgearbeitet; freilich weder mit dem Anspruch auf den Nachweis ihres innovativen Potentials noch deren Vollständigkeit.28 Dabei mag zunächst einmal dahingestellt bleiben, inwiefern die Mendikanten einen ›neuen‹ Predigtstil initiierten.29 Wichtiger scheint die insgesamt positive Wahrnehmung ihrer Predigt in breiten Schichten der Bevölkerung. 27 Vgl. dazu als Übersicht jetzt: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. v. Carolyn Muessig, Leiden 2002. 28 Dass die Autoren spätmittelalterlicher Predigten die den historiographischen Axiomata des 19. Jahrhunderts folgenden Parameter von »Individualität« oder »Innovativität« kaum Rücksicht zollten, betont R. Schiewer, a.a.O., S. 73–75. – Vor diesem Hintergrund erscheint der Hinweis auf ›innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit‹, wie ihn Berndt Hamm unter dem Obertitel: Die ›nahe Gnade‹, in: »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. v. Jan A. Aertsen und Martin Pickaéve, Berlin / New York 2004, S. 541–557 (= Ders.: Religiosität im Mittelalter, a.a.O., S. 544–560) behauptet, doch diskussionswürdig; vgl. dazu meine knappe Skizze: Theologische Innovation und konservatives Beharren bei Martin Luther und Philipp Melanchthon, in: Martin Luther und die Freiheit, hg. v. Werner Zager, Darmstadt 2010, S. 59–80. 29 Die Originalität der Bettelorden besteht nicht in der Erfindung einer auf Predigt beruhenden Seelsorge, sondern in der Intensivierung und Institutionalisierung der Predigt als Verbandsaufgabe. Den kanonischen Rechtsgrund bildet die päpstliche Predigtlizenz (commission ad officium praedicandi), ausgesprochen zunächst in Einzelmandaten, generell geregelt
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Markus Wriedt
Die Predigten folgten in der Regel einem einheitlichen Aufbau: Einem Stemma analog wird der Text (Thema) als Ausgangspunkt (Stamm) eines dreifach ausgegliederten Astwerkes gesehen: Prothema, Praelocutio und Dilatatio. Ergänzt werden kann diese Gliederung entweder durch eine erneut zu vollziehende Dreiteilung innerhalb der jeweiligen Abschnitte oder aber die ergänzende Erwähnung von biblischen oder kirchlichen Autoritäten. Theoretisch wurde dieser Ansatz reflektiert: etwa in der Summa de arte praedicandi des Thomas von Salisbury, Thomas Waley und Robert of Basevorn.30 Sowohl die Beispielsammlungen als auch die Predigthilfen des Spätmittelalters zielen im Wesentlichen auf die Spannung zwischen Bußruf und Evangeliumsverkündigung.31 Allen Predigten gemeinsam ist die handlungsorientierende32 und / oder moralische Fokussierung des Themas.33 Bemerkenswert ist hierbei allerdings die Beobachtung einer graduellen Akzentverschiebung innerhalb dieses theologischen Rahmens: Betont die Mendikantenpredigt im Zeitalter wirtschaftlicher Prosperität, wachsender Städte und eines signifikant verbesserten Lebensalltags verstärkt die Notwendigkeit tätiger Reue,34 so ist seit der sog. »kleinen Eiszeit« zu Beginn des 15. Jahrhunderts35 deutlich zu bemerken, dass der individuelle Trost und Gnadenzuspruch stärker ins Zentrum rückt.
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in der Bulle Super Cathedram von Bonifatius VIII und erneuert durch das Konzil von Vienne (1312) im Dekret Dudum; Frank, a.a.O., S. 250. Vgl. dazu James J. Murphy: Rhetoric in the Middle Ages: A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance. Berkeley, Los Angeles 1974. John O’malley: Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine, and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521, Durham NC 1979, siehe weiterhin Berndt Hamm: Severity and Mercy. Three Models of pre-reformation Urban Preaching: Savonarola, Staupitz, Geiler, in: Continuity and Change. The Harvest of Late Medieval and Reformation History. Essays Presented to Heiko A. Oberman on his 70th Birthday, hg. v. Robert J. Bast und Andrew C. Gow, Leiden u. a. 2000, S. 321–358. Sicherlich zielt diese Handlungsorientierung auch in die Richtung der später so massiv kritisierten Verdienstlehre. Freilich ist diese ausführlicher in den dazu angelegten dogmatischen Traktaten oder Handbüchern behandelt, als unter expliziter Verwendung der einschlägigen kontroverstheologisch markierten Terminologie in den Predigten. Insofern der Verdienstgedanke gerade aus der späteren Sicht seiner reformatorischen Bestreitung einen kontroverstheologisch aufgeladenen Terminus darstellt, wird im Folgenden auf die Begrifflichkeit von »Verdienst, verdienstlich« etc. verzichtet. Es bedarf weitergehender Untersuchungen, ob die von den Reformatoren im 16. Jahrhundert zu Recht kritisierte Depravation des Verdienstgedankens im Sinne einer heilswirksamen Eigenaktivität des Menschen in dieser krass dem biblischen Zeugnis und der Tradition widersprechenden Weise auch schon in den Predigten des 13. und 14. Jahrhunderts vertreten wurde. Vgl. hierzu: Martin Ohst: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1996. Vgl. The New Cambridge Medieval History, hg. v. David Abulafia, Christopher Allmand und Michael Jones u. a., Cambridge 1998–2000, S. 5–7; Gerhard Fouquet u. a.: Europa im Spätmittelalter 1215–1378 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 8), München 2003; Malte Prietzel: Das Heilige Römische Reich im Spätmittelalter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004; Hans-Friedrich / Hellmut Rosenfeld: Deutsche
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Versuche, die Vielfalt der spätmittelalterlichen Predigt systematisch zu kategorisieren, scheitern in der Regel an der wenig dienlichen weil anachronistischen Terminologie und Systematik. Folgt man hingegen Alanus ab Insulis, lässt sich eine präzise Definition des scholastischen Verständnisses einer Predigt festhalten: Predicatio est manifesta et publica instructio morum et fidei, informationi hominum deserviens ex rationum semita auctoritatum fonte proveniens.36 In ihrer populären Form erlangen Predigten seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts steigende Bedeutung. Die Fülle scholastischen Wissens wird jedoch auf moralische Anwendung (Handlungsorientierung) reduziert37 und eine große Zahl von Beispielen (exempla) bestimmen die traditionellen Formen der Auslegung. Die steigenden Anforderungen an die Prediger stehen in Wechselwirkung mit den Ausbildungsangeboten der Universitäten. Waren schon die Generalstudia der Mendikanten wesentlich auf die Ausbildung eines gelehrten Predigtklerus ausgerichtet, so reagierten nun auch die Weltkleriker mit einer verstärkten Nachfrage an den Universitäten auf diese Konkurrenz. In der Folge entstand eine universitär gebildete Gruppe von Weltklerikern, deren Elite das geistige und pastorale Klima bestimmte.38 Zweifelsfrei beeinflusste die aktuelle theologische Diskussion auch das homiletische Verfahren. Kaum hingegen jedoch die im Zuge der Scholastik entwickelte Methodenreflexion. Allein das Verfahren, komplexe Vorgänge zu entfalten, indem sie in kleinere, überschaubare Sachzusammenhänge aufgespalten werden, dürfte die scholastische Dialektik mit dem homiletischen Differenzierungsprogramm verbinden. In der bisherigen Forschung werden die exegetischen Studien und ihr Niederschlag in der konkreten homiletischen Praxis kaum thematisiert. Dabei dürfte es alles andere als selbstverKultur im Spätmittelalter 1250–1500, Wiesbaden 1978 (= Handbuch der Kulturgeschichte, I, [5]). 36 »Die Predigt ist eine offizielle und öffentliche Belehrung über Lebensweise und Glaube; hergeleitet aus Verstandesgründen und der Quelle der Autoritäten, dient sie zur Unterweisung der Menschen.« OL 210, 111C zitiert nach Frank, a.a.O., S. 253. 37 Insofern dieser Vorwurf mit dem gegen die aufgeklärte, vor allem neologische Predigt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hoch kompatibel erscheint, wäre einmal zu prüfen, ob die Anwendung der seit einigen Jahren gegenüber den neologischen Predigten angewandte Methode, die zu anderen Schlussfolgerungen kommt, auch für die spätmittelalterliche, humanistisch geprägte Predigt zu einer Revision des Urteils über die deviante und oberflächliche Predigt am Vorabend der Reformation führen könnte. Vgl. dazu etwa Albrecht Beutel: »Gebessert und zum Himmel tüchtig gemacht«. Die Theologie der Predigt nach Johann Joachim Spalding, in: Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen, hg. v. Wilfried Engmann (APrTh 21), Leipzig 2002, S. 161–187), verbesserter Wiederabdruck in Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, S. 210–236. 38 Vgl. Société des Historiens Médiévistes de l’Enseignement Supérieur Public (Hg.): Le clerc séculier au Moyen Âge (Die Forschung des Mittelalters des öffentlichen Hochschulunterrichts : Die weltliche Klerikerin im Mittelalter), Paris 1993.
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ständlich sein, anzunehmen, dass sich die Ausführungen in exegetischen Handbüchern und Kommentaren auch tatsächlich im konkreten Vollzug der täglichen oder wöchentlichen Predigt niederschlagen.39 Eine gravierende Transformation erhält die scholastische Predigttheorie unter dem Einfluss des Späthumanismus im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert.40
2.3
Zum Problem der volkssprachlichen Predigt
Der im Folgenden noch näher zu behandelnde Johann von Staupitz hat vor einem wohl als ›Hörergemeinde‹ zu bezeichnenden Publikum gepredigt. Er war als prominenter Gastprediger sowohl in Nürnberg als auch in Salzburg durchaus bekannt. Seine Predigten hat er in deutscher Sprache gehalten. Sie sind nicht erhalten, wohl aber Nachschriften von Hörern, die entweder simultan oder nachträglich ins Lateinische übersetzt wurden. Zahlreichen anderen Publikationen von Staupitz dürften ebenfalls Predigten zugrunde liegen. Die meisten Predigten des Spätmittelalters waren im Verlauf ihrer Verschriftlichung einer erheblichen Redaktion ausgesetzt.41 Nur in wenigen Ausnahmen sind authentische Vorlagen oder aber detaillierte Berichte über ihren Vortrag erhalten. Es stellt sich mithin die Frage, ob das literarische Phänomen der Predigt des Spätmittelalters im Sinne einer literaturgeschichtlichen Typologie überhaupt erfasst werden kann. Möglicherweise wird nicht viel mehr als die Analyse von mehrfach überarbeiteten, übersetzten und redigierten Manuskripte übrigbleiben, deren ursprüngliche Gestalt nur in einem hypothetischen und reichlich spekulativen Reduktionsverfahren erschlossen werden kann. So lange die Predigt in lateinischer Sprache entweder einem ausgewählten Fachpublikum (Klerus, Konvent, Gebildete Bürger etc.) oder aber einem weitgehend ungebildeten Publikum zugemutet wurde, dürfte ihr keine populäre Massenwirksamkeit beigemessen werden können. Insofern kommt den volks39 Nach wie vor einschlägig Berryl Smalley: The Study of the Bible in the Middle Ages, Notre Dame ³1978, Hughes Oliphant Old: The Reading and Preaching of the Scriptures in the Worship of the Christian Church. Vol. 3: The Medieval Church: Grand Rapids, MI, 1999. 40 Vgl. dazu Dorothea Roth: Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant, Basel / Stuttgart 1956. Leider verzichtet die Studie auf einen Vergleich zur scholastischen Homiletik. – Siehe weiterhin Franz Posset: Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches, Leiden u. a. 2005; Carolyn Muessig: Images and Themes related to Augustine in Late Medieval Sermons, in: Augustine beyond the Book. Intermediality, Transmediality, and Reception, hg. v. Karla Pollmann und Meredith J. Gill, Leiden u. a. 2012, S. 131–145. 41 Vgl. dazu auch Hans-Jochen Schiewer: Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und beschreibend-interpretierendes Edieren, in: Editio 6 (1992), S. 64–79.
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sprachlichen Predigten eine ungleich größere Bedeutung zu. Vor allem zur Etablierung dogmatischen, i. e. heilsverbindlichen Wissens und der Implementierung erwünschten Verhaltens ist hier ein, wenn nicht der entscheidende Ort kirchlich-theologischer Kommunikation zu vermuten. Von Anfang an dürfte die Predigt in volkssprachlicher Form Anwendung gefunden haben.42 Im Hochmittelalter setzte wie bereits erwähnt eine Verdrängung der Predigt aus dem gottesdienstlichen Geschehen ein, die nicht selten dazu führte, dass im eigentlichen Gottesdienst die sakramentale Feier der Eucharistie im Zentrum stand und die Predigt entweder ganz ausfiel oder an den Rand gedrängt wurde. Die Orte mittelalterlicher Predigt waren außerhalb des Sakraments-Gottesdienstes zu suchen, bei religiösen Praktiken aller Art (Kasualien, Wallfahrten, Heiligenfesten und den damit verbundenen Versammlungen, Predigtreisen von Vertretern kirchlicher oder auch kirchlich marginalisierter Vereinigungen, etc.) aus unterschiedlichen Anlässen (erneut Wallfahrten, Reliquienkulten, Ablasskampagnen etc.). Hinzu dürften eher individual ausgerichtete Gelegenheiten kommen, an denen katechetisches Handeln einsetzt: Bußsakrament und lebensbegleitende Maßnahmen, Katechese als Taufvorbereitung bzw. im Verlauf des Rekonziliationsprozesses reuiger Sünder, Jugendkatechese etc. Es sind freilich nicht nur die mangelnden Quellen, sondern auch das ihnen aufgezwungene Interpretationsmuster, welche einen erfolgreichen Abschluss zahlreicher historiographischer Untersuchungen bis heute verhindert haben.43 Als Beispiel sei hier auf die schlicht unausrottbare Behauptung verweisen, dass die in den Niederlanden gegründete und rasch bis ins Innere des Alten Reiches vordringende reformorientierte Bewegung der devotio moderna zu den vorreformatorischen Kräften zu zählen sei. Sie legte nicht nur den Laien die fleißige Lektüre der Bibel nahe und trug darüber hinaus durch praktische Lebensführung, vor allem aber ein hohes wenig hierarchisches Bildungsverhalten zur Implementierung evangelischen Gedankengutes in weiten Kreisen der Bevölkerung bei. So waren es wiederum »protestantische Pfarrer und Theologen, die im 19. Jahrhundert die wissenschaftlich-historische Erforschung der devotio moderna initiierten und grundlegten«.44 Dass die devotio moderna in er42 Unter Bezug auf die Predigtpraxis der Mendikanten bemerkt David d’Avray durchaus überzeugend: »That friars achieved their undoubted successes by preaching in a language which their audience could not understand is so wildly implausible that the onus of proof is on those who propose it.« A.a.O. S. 94; vgl. weiter Giles Costable: The Language of Preaching in the Twelfth Century, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 25 (1994), S. 131– 152, sowie The Sermon, hg. v. Beverly Mayne Kienzle, Turnhout 2000, S. 971–974. 43 Zu diesem Zusammenhang vgl. jetzt: Beverly Mayne Kienzle: Medieval sermons and their performance: Theory and Record, in: Carolyn Muessig (Hg.): Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, Leiden 2002, S. 89–124. 44 Nikolaus Staubach: Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Laienbibel, in: Lay Bibles in Europe 1450–1800 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium CXCVIII), hg. v. Mathijs Lamberigts, A.A. Den Hollander, Leuven 2006, S. 3–26, hier: S. 3, Anm. 1; vgl. ebenso Ders.: Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Apologie der Laienlektüre in der
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heblichen Maße zur spätmittelalterlichen Buchproduktion45 und auch zur einer Verbesserung des Bildungsstandes der Laien beigetragen hat, steht außer Zweifel.46 Freilich konnte Nikolaus Staubach nachweisen, dass das Engagement für den Laienstand durchaus seine Grenzen fand. In einer subtilen Analyse des Traktates De libris teutonicalibus47 von Gerhart Zerbolt von Zutphen vermag er nachzuweisen, dass dieser der volkssprachlichen Verkündigung und einer umfassenden Laienbildung keineswegs das Wort redete.48 Die insgesamt aus zwei Teilen bestehende Schrift wirft ein bezeichnendes Licht auf eine offenkundig im 14. und 15. Jahrhundert virulente Diskussion. In ihrem ersten Teil behandelt sie die grundsätzliche Befürwortung der Laienlektüre und wendet dabei durchaus juristisch-dialektische Fähigkeiten an, den spröden kirchenrechtlichen Texten die eigene Position aufzuzwingen. Der zweite Teil hingegen erläutert »die Beschränkungen, denen sie [sc. die Laien] sich zu unterwerfen haben.«49 Dabei geht es, wie Staubach betont, um Unterweisung und Belehrung. In mehrfacher Untergliederung werden Schriften aufgeführt, die für die Laienlektüre ungeeignet sind. Interessant sind dabei die zwei Modi, in denen theologische Fragen behandelt und vermittelt werden sollten: »Während die Gelehrten sich in subtiler Disputation um ein eindringendes Verständnis bemühen dürfen, müssen sie den Laien in lapidarer Formulierung zur fraglos glaubenden Hinnahme präsentiert werden.«50 Die lapidare Formulierung erfährt aber eine durchaus lebens- und frömmigkeitspraktische Zuspitzung. Es gilt nämlich, das Interesse der Lektüre bevorzugt auf jene Dinge zu richten, die dem Glauben, dem Handeln, dem Leben und dem Beispiel der Heiligen gewidmet sind. Nicht nur erklingt der biblische Dreiklang von Glaube, Liebe, Hoffnung in einer praktischen Anwendung, auch wird das Leben der Heiligen gleichsam diesen Aspekten subsumiert. Entscheidendes Kriterium ist in jedem Falle die fraglos richtige Kirchenlehre, von der unter keinen Umständen abgewichen werden darf. Jegliche neuartige Ausdrucks- und Betrachtungsweisen, die dem Entstehen abweichender oder gar häretischer Meinungen Vorschub zu leisten im Stande wären, sind abzuweisen. Vielmehr gelten das apostoli-
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Devotio moderna, in: Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, hg. v. Thomas Kock und Rita Schlusemann, Frankfurt a.M.1997, S. 221–289. Vgl. dazu Wolfang Oeser: Die Brüder des gemeinsamen Lebens in Münster als Bücherschreiber, In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe 18 (Nr. 42a), 1962, S. 979–1079; Thomas Kock: Die Buchkultur der devotio moderna, Frankfurt a.M. 2002. Vgl. Staubach: Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Laienbibel, Anm. 21, sowie die Beiträge von Anton G. Weiler / Heinrich Rüthin, in: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, hg. v. Klaus Schreiner, München 1992, S. 191–226. Albert Hyma: The ›De libris teutonicalibus‹ by Gerhard Zerbolt of Zutphen, in NAKG 17 (1924), S. 42–70. Staubach, Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Laienbibel, S. 13. Staubach, Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Laienbibel, S. 17. Misteria fidei seu documenta alta dupliciteer possunt proponi, dupliciter potest de eeis tractari in libris … Illi enim (sc. libri), qui quesciones vel dubia movent vel dicta super argumenta et raciones mulitpliciter probant, laycis non expediunt, sed possunt impedire multum. Sed illi libri, qui simpliciter dicunt et simplici et plano modo pertractant quid sit credendum, quid agendum, quid vitandum, quid nobis in exemplis santorum ymitandum, isti sunt laycis utiles et fructuosi. Hyma, ›De libris teutonicalibus‹, S. 61f. zitiert nach Staubach, Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Laienbibel, S. 18, Anm. 42.
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sche Zeugnis und seine Explikation in den verbindlichen Lehren der Kirche als Richtschnur und Maßstab. Auch hier ist also der Aspekt der Innovation, u. a. in der Zurückweisung einer Eckhardt zugeschriebenen, pseudepigraphen Schrift, rigoros abgelehnt.
Die Bibel wird in Predigt und Erbauung tradiert, freilich stets nach Maßgabe kirchlich approbierter Lehre, was einer tatsächlich tiefgreifenden Reform grundlegend entgegensteht. Die Kontinuität dieser Auffassung wird bestätigt durch einen Blick in die Stellungnahmen im Kontext konfessioneller Identitätsbildung etliche Jahrzehnte später: Die Mehrheit der Löwener Theologen um Johannes Latomus vertrat etwa die Meinung, dass die Gläubigen allein eine gründliche Kenntnis des Glaubensbekenntnisses, der zehn Gebote, der notwendigen Verhaltensweisen in der Kirche und zum Sakramentsempfang sowie des Vater Unsers haben sollten. Sie können sich ganz auf die Bibellesungen und Predigten im kirchlichen Rahmen verlassen. Gleichwohl ist seit den humanistischen Forderungen nach einer volkssprachlichen Bibelübersetzung und einem freien Zugang dazu ein verstärktes Bedürfnis der Bevölkerung nach einer selbstbestimmten Bibellektüre festzustellen. Faktisch unterwerfen sich die kirchlichen Eliten diesem Druck, indem sie derartige Praxis nicht aktiv bekämpften. Hier liegen die Gründe für eine verstärkte politische Stellungnahme der Prediger. In dem Maße, wie die Predigthörer selbstständig zu handlungsorientierenden Positionierungen gelangten, war die kirchlich-theologische, nicht selten auch seelsorgerliche Orientierung gefragt und geriet unter Druck. Aufgrund der insgesamt äußerst engen Verbindung von kirchlicher Loyalität und des die Tätigkeit der freien Weltpriester allererst ermöglichenden Wohlwollens der säkularen Obrigkeiten waren allerdings kritischen politischen Stellungnahmen eher enge Grenzen gesetzt. Der spätmittelalterlichen Predigt kommt hierbei mehr konservativ-beharrende als innovative Potenz zu.
2.4
Gelehrte Predigt – gelehrte Prediger
Bereits im 15. Jahrhundert machte das Sprichwort »Die Gelehrten, die Verkehrten« die Runde. Der anti-akademische Spott stammte dabei nicht nur von bildungsfernen Bevölkerungsschichten, sondern auch von durchaus gebildeten Kritikern des mittelalterlichen Ausbildungssystems und nicht zuletzt von gebildeten Klerikern.51
51 Vgl. dazu Carlos Gilly: Das Sprichwort »Die Gelehrten, die Verkehrten«. Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, Florenz 1991, einzusehen in: www.saaved rafajardo.org/Archivos/LIBROS/Libro0802.pdf, (15. 02. 2018).
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Die Ordensgeistlichen, deren Predigten im Rahmen der vorzutragenden Untersuchung untersucht worden sind, gehören in diesem Sinne alle zum Stand des gelehrten Klerus. Sie haben Ausbildungszeiten an Generalstudia ihrer Orden und an Universitäten verbracht und häufig akademische Grade bis zum Doktor erworben. Nicht wenige von ihnen dienten in erster Linie als Professoren der theologischen Fakultäten. Eine sozialgeschichtlich tragfähige Untersuchung der Prediger und ihren Predigten aus weniger bis gar nicht gebildeten Kontexten steht aus, dürfte aber aufgrund mangelhaften Quellenmaterials nur sehr schwierig anzustellen sein. Gerade darum ist allerdings bei der Übernahme kritischer, spöttischer oder gar diskreditierender Aussagen über das spätmittelalterliche Predigtwesen größte Vorsicht geboten. Das gilt auch im Blick auf die Quellenlage zur Geschichte der Predigt.
3.
Predigten aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert
3.1
Johannes Zachariae
Wie eng Seelsorge, Kirchenreform und Politik zusammenhängen, wird exemplarisch deutlich im nachgelassenen Predigtwerk des Augustinereremiten Johannes Zachariae.52 Mitte der sechziger Jahre des 14. Jahrhunderts in Eschwege geboren trat er sehr bald in den Augustinerkonvent seiner Heimatstadt ein. 1384 finden wir ihn in Oxford, wo er 1389 zum Lektor promovierte. Bis zum Frühjahr 1391 hielt er am dortigen Generalstudium der Augustiner Vorlesungen. Intensiv setzte er sich mit John Wycliff, den er als modernus haereticus charakterisierte, auseinander. Ab 1392 lehrte Zachariae in Erfurt, wo das Ordensstudium in die Universität inkorporiert wurde. In diesen Jahren erwarb er, wohl aufgrund einer häufigen und öffentlichen Predigttätigkeit, einen ausgezeichneten Ruf, der ihm den Auftrag einbrachte, zur Erfurter Klerikersynode zu predigen. In diesen Ansprachen traktiert er ausführlich das kirchliche Schisma und die politische Not der Zeit. Dabei kontrastiert er seine apokalyptisch gefärbte Zeitansage mit der Friedensbotschaft des Evangeliums. Zur Fortsetzung seiner akademischen Laufbahn ging Zachariae 1395 nach Bologna und erwarb dort weitere akademische Grade. Auch hier predigte er. Überliefert ist eine akademische Predigt am Tag des Thomas von Aquin in der 52 Vgl. Adolar Zumkeller: Leben, Schrifttum und Lehrrichtung des Erfurter Universitätsprofessors Johannes Zachariae O.E.S.A. († 1428), Würzburg 1984; siehe auch Ders.: Die Augustinereremiten in der Auseinandersetzung mit Wyclif und Hus, ihre Beteiligung an den Konzilien von Konstanz und Basel, in: Analecta Augustiniana 28 (1965), S. 214–254.
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Dominikanerkirche der Universitätsstadt. Neben den Prägungen aus Oxford durch Robert Grosseteste und Galfriedus Hardby, wirkten jetzt die Werke Augustinus Favaronis, und in besonderem Maße Hugolinos von Orvieto auf den Universitätslehrer ein. Er setzte sich weiterhin mit dem Corpus Iuris Canonici auseinander und zitiert häufig die glossa decreti. Schließlich nahm er auch Anregungen des italienischen Humanismus auf. Am 29. September 1400 wurde Zachariae als sacrae theologicae professor in Erfurt eingeschrieben. Trotz einer insgesamt gut dokumentierten Lehrtätigkeit hat Zachariae häufig gepredigt und erwarb sich einen ausgezeichneten Ruf. Aus dem Jahr 1405 ist ein Band mit ca. 160 Blättern erhalten, in den er seine Predigten eingetragen hat. Gleichermaßen in den Lehrveranstaltungen wie auch in den Predigten nimmt er ausführlich zur geistlichen wie kirchlichen und politischen Not infolge des sog. großen Kirchenschismas Stellung. Darin erwies er sich als loyaler Parteigänger Urbans VI. und seiner Nachfolger und positionierte sich entschieden gegen Benedikt XIII. Das Scheitern des Konzils von Pisa 1409 führte zu einer großen Ernüchterung und auch wohl persönlichen Enttäuschung. Angesichts der sich verstetigenden Kirchenspaltung forderte er seine Hörer zu inständigem Gebet auf. Zugleich sparte er nicht mit Vorwürfen gegen die praelati gubernatores und den Klerus insgesamt, denen er die Schuld am Niedergang der Kirche gab. Seine Reformforderungen zeichneten ungeschützt ein kritisches Bild der Missstände in Klerus und Volk in Erfurt zu seiner Zeit. Als im Herbst 1414 das Konzil von Konstanz zusammentrat, nahm Zachariae als Repräsentant der Universität und des Ordens an der Versammlung teil. Bis 1415 ist seine Anwesenheit belegt. Auch dort wurde er um seine Predigt gebeten. Insgesamt sind fünf erhalten, in denen er sich als Vorkämpfer für Reform und Einigung der Kirche profiliert. In großem Freimut geißelt er auch hier die Missstände seiner Zeit und kritisiert das wenig vorbildliche Leben der Konzilsväter in deutlichen Worten. Wohl auch dadurch erwarb er sich das Wohlwollen des Einigungspapstes Martin V., der ihn zum Leiter des Generalkapitels der Augustiner im Herbst 1419 in Asti ernannte. Der bekannte Augustiner starb am 26. Juli 1428 und wurde in der Erfurter Augustinerkirche beigesetzt. Noch Luther wurde dabei die Legende vorgetragen, wonach Zachariae durch seine Predigten in Konstanz erheblichen Anteil an der Überwindung der hussitischen Ketzerei gehabt habe.
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Johannes von Dorsten
Ein weiterer Augustiner, der in diesem Zusammenhang genannt werden muss, ist Johannes von Dorsten.53 Er wurde um 1420 geboren und 1437 in die Artistenfakultät der Kölner Universität immatrikuliert. 1454 finden wir ihn in Erfurt, wo er erneut an der Artistenfakultät eingeschrieben wird und wohl auch noch einmal das Studium der artes liberales absolvierte. Er promovierte zum Magister artium im 6. Januar 1458 und wurde nach seinem Eintritt in das Augustinerkloster 1459 zwei Jahre später zum Priester geweiht. Er durchlief das Studium der Theologie und wurde nach erfolgreicher Promotion als Magister der Theologie zum Regens des Generalstudiums der Erfurter Augustiner. Bis zu seinem Tode 1481 prägte er das akademische und geistliche Leben in Erfurt in außergewöhnlichem Maße.54 Nicolaus von Siegen charakterisiert ihn in seinem Chronicon Ecclesiasticum als scharfsinnigen und tiefgründigen Theologen, treffsicher in der Lösung schwieriger Fragen, dabei im Umgang bescheiden, im Reden bedächtig, fromm und sittenstreng, und auch ein Verächter der weltlichen Ehren und Sinnenfreuden.55 Seine Predigten wurden in insgesamt 10 Folianten gesammelt, von denen allerdings nur ein einziger bis in die Gegenwart erhalten blieb.56 Er enthält 175 Predigten und Konzepte zu Sonn- und Festtagen sowie Fastengelegenheiten. Homilien und Themapredigten sprechen unterschiedliche Hörergruppen in Klerus und allgemeiner Bevölkerung an. Alle zeichnen sich durch eine einfache und anschauliche Predigtweise aus. Als Ziel seiner Predigt gibt Johannes die fromme Belehrung und Erbauung sowie die Stärkung seiner Hörer im Kampf gegen die Laster im Streben nach christlicher Tugend an. Dabei bezieht er sich intensiv auf die Bibel, von der ein überliefertes Handexemplar mit zahlreichen Einträgen von seiner intensiven Lektüre zeugt.57 Gleichzeitig rekurriert er auf Augustin und lässt zahlreiche Werke der theologischen Tradition zu Worte kommen. Erstaunlich ist seine Kenntnis von Geschichtswerken, naturwissenschaftlichen Schriften, medizinischen Traktaten und Rechtstexten. Johannes hatte keine Scheu, ausführlich klassische Autoren zu zitieren, die ihm durch die humanistische Edition erschlossen wurden. Diese nahm er allerdings nicht unkritisch zur Kenntnis.
53 Vgl. Adolar Zumkeller: Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters, Würzburg 1984, S. 306–313. 54 Vgl. Erich Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, II: Spätscholastik. Humanismus und Reformation 1461–1521, Leipzig 2 1992, S. 100 und 118. 55 Zitiert nach Zumkeller: Erbsünde, Gnade und Verdienst S. 308 mit Anm. 15. 56 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Cod. Lat. Fol. 57 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Cod. Lat. Fol 825.
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Auch Johannes von Dorsten war von der Reformnotwendigkeit in Staat und Kirche überzeugt. Ähnlich Zachariae äußerte er sich sehr direkt und ungeschminkt zu den Missständen in Klerus und Gemeinden. Er geißelte die Verwilderung der Sitten, die Verweltlichung und Habgier des höheren Klerus und die Verleihung von kirchlichen Benefizien an Minderjährige. Dabei nahm er Papst und Kaiser von seiner Kritik nicht aus. Sie würden zu wenig durch Wort und Beispiel Gottesfurcht und christliche Lebensführung bei ihren Untertanen wecken. Einen wesentlichen Grund für die Depravation der öffentlichen Sitten sah er im Überhandnehmen des Rechtsstudiums unter den Klerikern, dem zahlenmäßigen Rückgang der Theologiestudenten sowie der Geringschätzung der Heiligen Schrift und dem Rückgang der Predigt durch den höheren Klerus. Drastisch wendete er sich gegen die exzessive Anwendung der Folter in Prozessen und stellte diese Verhörpraxis insgesamt in Frage. Besonders wendete er sich Fragen zeitgenössischer Frömmigkeitspraxis zu. So behandelte er im Vorgriff des Heiligen Jahres 1475 dessen grundlegenden Sinn und verteidigte die Sitte der Romwallfahrt bzw. der Wallfahrten insgesamt. Freilich kritisierte er auch Auswüchse und äußerte sich eher distanziert zur Wilsnacker Blutwallfahrt. Hier sah er trotz geistlicher Begleitung die Gefahr einer förmlichen Massenpsychose und damit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Gleichermaßen warnte er noch 1480 vor einer falschen Wundersucht und Leichtgläubigkeit am Beispiel der Heilig-Blut-Reliquie, die Landgraf Balthasar von Thüringen aus dem Heiligen Land nach Gotha mitgebracht haben sollte. Erneut beinhalten diese Predigten eine Menge kirchlich-politischen Zündstoffs. Eine trennscharfe Unterscheidung von sakralen und säkularen Motiven und Themen ist kaum möglich. Vielmehr verschränkt das allgegenwärtige Reformmotiv diese Bereiche und wendet sich einem Corpus Christianorum zu, in welchem Kirche und Staat gleichermaßen politisch agieren.
3.3
Johann Geiler von Kaysersberg
Im Advent 1495 predigte Johann Geiler58 eine Serie von Predigten in der Kapelle des Klosters der »bußfertigen Schwestern«.59 Obwohl die Konventskapelle wohl der Klausur unterstand, dürften zahlreiche Hörer aus den umliegenden Wohn58 Zu Biographie und Werkverzeichnis vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Art. »Geiler von Kaysersberg, Johannes«, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) 2, hg. v. Traugott Bautz und Friedrich Wilhelm Bautz, Herzberg 1990, Sp. 194f. Die auf 11 Bände geplante maßgebliche Ausgabe: Johannes Geiler Von Kayserberg: Sämtliche Werke, Teil 1, Die Deutschen Schriften, Abt. 1, Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Band 1–3, hg. v. Gerhard Bauer, Berlin / New York 1989–1995. Zu Stagnation der Editionstätigkeit siehe dazu Gerhard Bauer, Johannes Geiler von Kaysersberg: Ein Pro-
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gebieten sich eingefunden haben. War doch die Bewegung der devotio moderna für ihre Offenheit bei der Verkündigung des Evangeliums bekannt. Im Kontext eines wachsenden Rufes nach einer Reform des Ordenslebens entwickelte Geiler seine Auslegung als eines Prozesses, den der Christ zu durchlaufen hat: Zunächst sind die Wünsche und Begierden des natürlichen Menschen zu töten. Der erste der insgesamt vier Sermone beginnt mit eben dieser Forderung nach Abtötung der natürlichen Begierden. Geiler unterscheidet zwischen dem physischen, dem ewigen Tod und den Todeserfahrungen, wenn ein Mensch der Todsünde verfällt bzw. stirbt, um der Sünde zu verfallen. Grundlage seiner Auslegung ist Ps 116,15 »Der Tod seiner Heiligen ist wertgehalten vor dem Herrn«, wobei nicht recht klar ist, ob dieser Text im Rahmen des liturgischen Formulars vorgeben war oder von Geiler frei gewählt wurde. Auch ist die Akzentuierung des Todes um zu sündigen nicht frei von zeitbedingter Textunabhängigkeit. Wichtig erscheint allerdings die mystisch anmutende Quintessenz auf das Absterben des Frommen gegenüber den weltlichen Versuchungen: so wie der Tote keine Kontrolle mehr über seinen Körper hat, so hat der Devote keinen eigenen Willen mehr, keine Wünsche und Begierden. Er ist völlig von Gott abhängig.60 Die zweite Predigt wendet sich der Unterscheidung von Natur und Gnade zu. Den Vers Mt 3,10: »Die Axt ist dem Baum an die Wurzel gelegt« allegorisiert Geiler mit der Behauptung, dass die menschliche Seele zwei Wurzeln habe, die der Natur und die der Gnade. Aus ihnen gehen alle Handlungen des Menschen, die guten wie die bösen, hervor. In insgesamt 40 Distinktionen führt Geiler nun blemfall für Drucker, Herausgeber, Verleger, Wissenschaft und Wissenschaftsförderung, in: Daphnis 5 (1994), 559–589. – Unter der jüngeren Lit. seien zitiert: E. Jane Dempsay Douglass: Justification in late medieval preaching. A study of John G. of K., (Diss. Harvard), Cambridge (Massachusetts) 1962 / Leiden 1966 / Leiden u. a. ²1989; Herbert Kraume: Die Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen GersonRezeption, Zürich / München 1980; Klaus Manger: Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg (1478–1510), Heidelberg 1983; Roland Fillinger: Johannes Geilers von Kaysersberg Predigtzyklus »Von den neun Früchten eines rechten Klosterlebens« und seine Quellen, Mannheim 1991 (Diss.); Gerhard Bauer: »Auch einer« – Leiden, Weisheit, Mystik und Mystiker bei Johannes Geiler von Kaysersberg, in: Leiden und Weisheit in der Mystik, hg. v. Bernd Jaspert, Paderborn 1992, 207–233; Herbert Schmidt: »Seelenparadies« und »Paradisus animae«. Studien zu einem Predigtwerk Johannes Geilers von Kaysersberg und seiner lateinischen Vorlage, Mannheim 1994 (Diss.); Gerhard Bauer: Wandel und Bestand um 1500: Die Predigten des Johannes Geiler von Kaysersberg über Sebastian Brants »Narrenschiff«, in: Wandel und Bestand. Festschr. Bernd Jaspert, hg. v. Makarios Hebler u. a. Paderborn / Frankfurt 1995; Rita Voltmer: Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510) und Straßburg, Trier 2005. 59 Sie wurden erstmals 1503 gedruckt; siehe jetzt die kritische Edition: Johannes Geiler von Kaysersberg: Sämtliche Werke, Teil 1, Die Deutschen Schriften, Abt. 1, Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Band 1–3, hg. von Gerhard Bauer, Berlin / New York ²1991, S. 176–222. 60 Geiler: Predigten, S. 185.
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eine Meditation des scholastischen Grundthemas durch. Erneut betont er die Notwendigkeit der radikalen Abtötung aller gottfeindlichen und vom eigentlichen Ziel entfernenden Handlungen und Wünsche. Eine moralische Ausrichtung der Auslegung ist unübersehbar. Sie verdrängt die christologische Botschaft des Evangeliums zugunsten der Handlungsorientierung. Diese Tendenz ist auch in der dritten Predigt zu Sir 3,27: »Das verhärtete Herz wird ein böses Ende am letzten Tage finden« unübersehbar. Geiler erläutert insgesamt neunzehn Zeichen eines verhärteten Herzens. Neben der Phänomenologie wendet sich der Prediger allerdings auch einer Interpretation von Anfechtungen und Nöten zu, die einerseits aus der Herzensverhärtung resultieren und andererseits dazu dienen, diese aufzulösen. Die Interpretation wird durch etliche Anspielungen und Zitate aus den Vätern und der Schrift selbst ergänzt. Die Härte des Herzens und Wege zu ihrer Auflösung sind schließlich auch der thematische Schwerpunkt der letzten Predigt. Erneut werden ausführlich Autoritäten der Tradition, diesmal Thomas von Aquin und Bernhard, zitiert. Die Verstockung findet diesmal ihren Ausgangspunkt bei der Geschichte der Verstockung Pharaos. Freilich ist eben dieser das moralische Beispiel dafür, wie durch aufrichtige Reue und wahre Buße das Heil dennoch erworben werden kann. Die Predigtreihe kommt zum fulminanten Schluss in der Bußaufforderung des Propheten Joel 2,12: »Kehrt um zu mir mit ganzem Herzen und reinigt Eure Herzen und nicht Eure Gewänder«. Die Gemeinde soll sich zum Evangelium und bußfertiger Gesinnung bekehren. Zahlreiche Konkretionen des Ausdrucks dieser Gesinnung werden geboten. Geiler steht erkennbar in der Tradition der franziskanischen Predigt.61 Doch nicht nur die systematische Nähe zu Ockham, Gerson und teilweise auch Biel ist zu sehen, auch die grundsätzliche Ausrichtung auf eine zur Buße mahnende, gesellschafts- und wirtschaftskritische Auslegung der Evangeliumsbotschaft steht in dieser Linie. Der Fokus von Geilers Predigt liegt erkennbar auf seelsorgerlichen Phänomenen. Sein Anliegen ist die evangeliumsgemäße, durchaus an der Schrift und in ihrem Licht auch der Vätertradition entfalteten Bußpredigt. Es ist wohl die in franziskanischer Tradition formulierte konkrete Handlungsanweisung,62 welche die Hörer in besonderer Weise ansprach: Sie wussten anschließend schlicht, was zu tun und was zu lassen ist. Die akzentuierte Bußpredigt hindert Geiler freilich nicht, die Gnade und Barmherzigkeit Gottes, seinen unbedingten Erlösungswillen gegenüber den durch Buße und Sündenangst Angefochtenen deutlich zu artikulieren. Das unterscheidet ihn von radikalen Bußpredigern wie Savonarola in Florenz. Die Predigten Geilers bieten das ganze Panorama der scholastischen Gnadenlehre. 61 Jane Dempsey Douglass: Justification; Hamm: Severity, S. 344. 62 Vgl. Hamm: Severity, S. 348.
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Christi Leiden wird zur Grundlage menschlicher Hoffnung und Zuversicht.63 Erkennbar fehlt die radikale Infragestellung menschlicher Handlungsfähigkeit, die etwa in den Predigten der zeitgleichen Verkündigung der Augustinereremiten in der Tradition der antipelagianischen Gnadenlehre Augustins thematisiert wurde. Die Leistungsfähigkeit der Christen wird durch den Verweis auf Christi Heilshandeln eher noch herausgefordert. Es ist jenes ausbalancierte Verhältnis von Gnade und Handlungsforderung gegenüber dem Menschen,64 das Geiler in die Reihe der spätmittelalterlichen Prediger einfügt und ihn zugleich in seiner Akzentuierung der Buße als, wiewohl dem säkularen Klerus zugeordnet, Vertreter der franziskanischen Predigttradition auftreten lässt. »Politische Themen« tauchen dabei nur am Rande und nicht selten als illustrierendes Beispielmaterial auf.
3.4
Johann von Staupitz65
Auf Einladung des Nürnberger Ratskonsulenten Christoph Scheurl,66 hielt Staupitz im Advent 1516 in der Augustinerkirche eine Reihe von Predigten, die aufgrund ihrer großen Resonanz, die sie bei den Hörern gefunden hatten, wenige Tage nach Neujahr 1517 im Druck erschienen.67 Es gehört zur spätmittelalterlichen Predigttradition, in der Fastenzeit vor Ostern oder im Advent prominente Prediger einzuladen. Sie traktierten neben der erbaulich-spirituellen Betrach63 Vgl. Dempsey Douglass: Justification, S. 168–170. 64 Vgl. Jacob Wimpfelings Charakterisierung: Nulli blandus adulator, non peccata nimium attenuas nex plus aequo exaggerans, in dicenda veritate nullius timens potentiam. Zitiert nach Hamm: Severity, S. 256, Anm. 130. 65 Vgl. zu Leben und Werk von Staupitz: Markus Wriedt: Johann von Staupitz OSA/ OSB (1460–1524) – Gelehrter – Diplomat – Seelsorger. Zur geistlichen Reform am Vorabend der Reformation, in: SMGB 127 (2016), S. 309–329; sowie Ders: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zur Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991; Franz Posset: The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot 2003. Die ältere Forschung ist relativ vollständig erfasst bei Rudolf K. Markwald / Franz Posse: 125 years of Staupitz Research (Since 1867): An annotated Bibliography of Studies on Johannes von Staupitz (c. 1468–1524) (Sixteenth Century Bibliography 31), SaintLouis, MO,1995; neue Einsichten finden sich in dem Band von Lothar Graf Zu Dohna und Richard Wetzel: Staupitz, theologischer Lehrer Luthers. Neue Quellen – bleibende Erkenntnisse, Tübingen 2018, mit einer Übersicht zur aktuellen Forschung bis 2016. 66 Vgl. Markus Wriedt: Art.: »Scheuerl, Christoph«, in: BBKL 9, hg. v. Traugott Bautz und Friedrich Wilhelm Bautz, Herzberg 1995, Sp. 178–185. 67 Johannes Von Staupitz: Libellus de Excecutione aeternae preaedestinationis mit der Übertragung von Christoph Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein von der entlichen Volziehung ewiger Fürsehung, bearb. v. Lothar Graf Zu Dohna, Richard Wetzel und Albrecht Endriss, Berlin / New York 1979. – Anstelle ausführlicher Nachweise sei auf meine o.g. Veröffentlichung Gnade und Erwählung hingewiesen.
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tung der Fastenzeit häufig aktuelle gesellschaftliche und auch kirchliche Probleme. Sie sind – als besonders Merkmal der Fastenpredigt – nicht selten »politisch«. Staupitz macht mit dem Titel der lateinischen Predigtsammlung Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis deutlich, dass er mit den folgenden 257 Paragraphen eine Darstellung der Fragen und tröstenden Antworten vorlegt, die im Umgang mit der Prädestinationslehre entstehen. Es geht um die »entliche Vollziehung« (exsecutio) der ewigen Prädestination; gemeint sind die lebenspraktischen Konsequenzen dieser Lehre. Staupitz beschreibt die göttliche Erwählung als universalen Heilsprozess und gliedert seine Darstellung in zwei große Blöcke: Der erste, stärker dogmatisch orientierte Teil handelt von jenen Dingen, »die zu der Seligkeit notwendig und zu Erlangung derselben notwendig zu glauben seien.« Der zweite, mehr seelsorgerlich ausgerichtete Abschnitt beinhaltete den Trost, der aus dieser Lehre folgt und die praktischen Konsequenzen für ein Leben unter und mit dieser Lehre. Wie Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt erscheinen im Verlauf der Predigten die zentralen Topoi der klassischen Dogmatik von der Gotteslehre bis hin zur Eschatologie und werden im Blick auf die Erwählungslehre in christologischer Akzentuierung interpretiert. Die dogmatische Aussage findet ihre Erklärung im Miteinander von christologischer und seelsorgerlicher Predigt zum Trost der geängsteten Gewissen. Konkrete politische Anspielungen vermisst man allerdings. Auch dezidierte Kirchenkritik, wie sie andere Fastenprediger durchaus äußern konnten, fehlt im Predigtwerk des sächsischen Augustinereremiten. Eine weitere Sammlung von Adventspredigten aus dem Jahre 1517 veröffentlichte Staupitz unter dem Titel »Von der Liebe Gottes«68. In zwanzig Unterabschnitten beleuchtet der Augustiner darin die Frage der Gottesliebe. Er beginnt mit dem Gebot, Gott über alle Dinge zu lieben, und stellt die Unerfüllbarkeit dieser Forderung für den Menschen fest. Staupitz löst die Problematik unter Rückgriff auf die Pneumatologie und die Erwählungslehre: der Heilige Geist ist es, der die Liebe zu Gott in die Herzen der Menschen senkt. Allerdings ist es Gottes freie Gnade, die verfügt, wer in welchem Ausmaß der Einwohnung des Geistes teilhaftig wird. Staupitz rekurriert dazu auf eine allen Dingen schöpfungsmäßig inhärierende Ordnung, die freilich nur Gott völlig offenbar ist. Stärker noch als die Nürnberger Predigten sind die Münchner Adventspredigten von Schriftzitaten insbesondere aus den Paulusbriefen geprägt. Aus den Jahren 1517 bis 1520 sind erneut zahlreiche Predigtmitschriften erhalten. In ihnen setzt Staupitz die theologischen Akzente wie bereits zuvor. Im Zentrum steht das Zeugnis der Schrift, die Autoritäten der Tradition treten völlig 68 Vor der Fertigstellung der Tübinger kritischen Edition muss zunächst auf die ebenfalls unvollständige Herausgabe von Joachim Karl Friedrich Knaake: Iohannis Staupitii opera quae reperiri potuerunt omnis I, Potsdam 1867 verwiesen werden.
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zurück. Tenor nahezu aller Auslegungen ist der Trost der geängsteten Gewissen aus der Offenbarung des Versöhnungs- und Erlösungswillens Gottes im Leiden und Sterben Jesu Christi. Stärker noch als in frühen Jahren betont Staupitz das Wirken Gottes verborgen unter dem Gegensatz, die Alleinwirksamkeit Christi bei der Erlösung und die des Heiligen Geistes beim Trost und in den Werken der Liebe, sowie die faktische Unfreiheit des menschlichen Willens. Auffällig ist ein explizit antipelagianischer Akzent: Staupitz wendet sich gegen jegliche Mitwirkung des Menschen zu seinem Heil. Allein das Sündenbekenntnis und die Bitte um Vergebung sind sein Teil. Deutlich fällt in diesem Zusammenhang seine Polemik gegen die »eitle Wundenmeditation«, d. h. eine selbstgefällige und auf die eigene Leistung konzentrierte Reflektion der persönlichen Nachfolgebereitschaft, und den Ablass aus. Staupitz war ein von tiefer Frömmigkeit geprägter Mensch, der sich der Not seiner Zeitgenossen nicht verschließen wollte oder gar konnte. Sein seelsorgerliches Handeln ist zwar theologisch reflektiert und begründet, gleichwohl fehlen weitgehend theoretische oder allgemeine Geltung beanspruchende Überlegungen. Die Seelsorge von Staupitz speist sich aus der persönlich erfahrenen Geborgenheit in der Liebe Gottes und dem unerschütterlichen Wissen um die Barmherzigkeit des Schöpfers. Zumeist wendet sich der Augustiner dem einzelnen Menschen in seiner individuellen Not und in dem für ihn persönlich wirksamen Kontext zu.69 Stets rücken das Vorbild Christi und die Forderung an alle Menschen, sich ihm nachzubilden, in den Mittelpunkt der tröstenden Überlegungen. Er setzt dabei den Anfechtungen konkrete Bilder und Vorstellungen entgegen. Sein Trost besteht in dem immer neuen Hinweis auf die Überwindung des Todes in Jesus Christus. Auch diese Predigten beinhalten keine »politische Aussage«. Wohl aber ist eine gewisse »Existentialisierung« der Schriftauslegung und des meditativen Umganges mit theologischen Fragestellungen zu nennen. Darunter soll die Aufnahme der individuellen Erfahrung des sich im Prozess des Glaubens befindlichen Menschen verstanden werden. Allerdings geht es bei Staupitz nicht um die Verifikation biblischer oder traditioneller Aussagen im Lichte der Erfahrung, sondern um die Brechung und Artikulation persönlicher Glaubenserfahrung im Lichte der Heiligen Schrift. Insbesondere der Anfechtung des Glaubens misst Staupitz dabei große Bedeutung zu. Akzentuierter als in anderen spätmittelalterlichen Traditionen des 13. und 14. Jahrhunderts macht Staupitz einerseits die persönliche Erfahrung und Frömmigkeit zum Ausgangspunkt seiner Überlegung. Stärker andererseits aber wird die Schrift in christozentri69 Vgl. dazu die knappe Untersuchung von Markus Wriedt anhand seines Büchleins von der Nachfolgung des willigen Sterben Christi, Leipzig 1517, in: Geschichte der Seelsorge in Einzelportraits, Bd. 2, hg. v. Christan Möller, Göttingen 1995, S. 45–64.
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scher Auslegung zum Maßstab der Formulierung möglicher Lösungsvorschläge. Immer wieder betont Staupitz die Einmaligkeit persönlicher Erfahrungen, ihre prinzipielle Inkompatibilität und die Tatsache, dass sie sich im Grunde kaum vermitteln lassen. Entsprechend gering schätzt er ihre Bedeutung im Kontext theologischer Normfindung und -begründung, umso mehr aber bei der Behandlung der Fragen des Glaubensalltags. Die Brechung der alltäglichen, menschlichen Erfahrung im Licht der biblischen Botschaft von der freien, unbedingten Gnade Gottes, seiner Barmherzigkeit, sowie der allein in Christus geschehenen Versöhnung mit der gefallenen Schöpfung und die daraus resultierende prinzipielle Offenheit für das Anliegen seiner angefochtenen Mitmenschen machen die außergewöhnliche Bedeutung Johanns von Staupitz aus. Sie liegt in der kontextbezogenen, auf den Einzelnen und seine geistliche Not ausgerichteten Vermittlung bestimmter Antworten und Argumentationsmuster der Heiligen Schrift und der theologischen Tradition. Die seelsorgerliche Vermittlung lebt nun allerdings in gleichem Maße von den Inhalten wie von dem modus loquendi, in dem sie geschieht. Bei Staupitz zeichnet sich dieser aus durch eine eigentümliche Verbindung von biblischer Terminologie und Denkweise mit einem weitgehend unstrukturierten Konglomerat an Traditionsstücken, welches seine Kontur erst durch die biblische Argumentationsstruktur und eine aus ihr gewonnenen Frömmigkeit gewinnt.
4.
Ausblick
Die vorgetragenen Beobachtungen gestatten keine zusammenfassende Ergebnissicherung. Wohl aber lassen sich einige Tendenzen für die zukünftige Beschäftigung mit spätmittelalterlicher Predigt festhalten. 1. Die Beschäftigung mit spätmittelalterlichen religiösen Quellen hat sorgfältig über das erkenntnisleitende Interesse Rechenschaft abzulegen. Nicht aus der – anachronistischen – Sicht späterer Entwicklungen, sondern vielmehr aus der Perspektive ihres Herkommens sind die Differenzierungen der mittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie zu beschreiben. 2. Etikettierungen einer nachträglich angebrachten und konstruierten Systematik sind zu vermeiden. Hingegen ist den Selbstbezeichnungen und authentischen Charakterisierungen größere Aufmerksamkeit zu schenken. 3. Die spätmittelalterliche Predigt ist vor allem anhand der Mendikantenpredigt analysiert worden. Der Weltklerus hat sich offenkundig im Wesentlichen an den aufgrund ihrer Bildung und methodischen Fertigkeit weit überlegenen Dominikanern und Franziskanern orientiert. Eine gleichsam selbständige Predigtentwicklung der Augustiner ist nicht nachweisbar.
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4. Die bereits im 14. Jahrhundert für Florenz nachweisbare hörergemeindenspezifische Ausprägung der scholastischen Theologie akzentuiert insgesamt den individual-ethischen Aspekt der Auslegung. Dabei steht die lebenspraktische Anwendung bzw. mit ihr verbunden mannigfaltige Kritik an herrschenden Zuständen im Sinne der Aufforderung zu ihrer Veränderung im Zentrum. 5. Es lässt sich weiterhin eine Tendenz zu stärkerer Berücksichtigung des biblischen Textes und seiner selbstständigen Rezeption durch fromme, nicht klerikale Kreise erkennen. Die Reaktionen der kirchlichen Leitungseliten sind nicht nur im Blick auf das Zerrbild einer suppressiven kirchlichen Praxis, sondern vor allem auch im Blick auf die Krise religiöser Identität im ausgehenden Mittelalter hin wahrzunehmen: die bisher fraglose Heilsmittlerschaft gerät unter Druck und damit die kirchlich-religiöse Struktur, die über lange Jahrhunderte hinweg Gesellschaft und Kultur geprägt hatten. 6. Fraglos liegt eine christozentrische Auslegung vor, die allerdings stärker im Sinne des ethischen Vorbildes als einer dogmatischen Durchdringung vorgenommen wird. Christus ist der Urheber allen Heils. Allerdings akzentuiert die spätmittelalterliche Predigt vor diesem Hintergrund stärker die Buße und Aufforderung zu einem christusförmigen Leben in konkreter Nachfolge. 7. Dies alles fügt sich zu politischer Zeitansage, vor allem Aspekten der Reformbedürftigkeit von Kirche und Gesellschaft an Haupt und Gliedern zusammen. Dezidiert politische Predigten sind nicht zu finden, wohl aber Themen- und Kasualpredigten, die aufgrund des Anlasses eine dezidiert politische Ausrichtung erhalten. Ob und inwieweit sich in Predigten der seit der Renaissance wirkmächtige Trend zur Individualisierung und Pluralisierung – und sei es reziprok im Sinne seiner Ablehnung – niederschlägt, ist gegenwärtig nicht abschließend zu beantworten. Damit entfällt auch eine klare Aussage zur Frage des Verhältnisses von Säkularisierung einerseits und Sakralisierung andererseits und seiner Entwicklung. Ob den Predigten der dann im 16. Jahrhundert dominante Effekt zur Modernisierung eignet, lässt sich erst auf einer methodisch gesicherten Analyse eines insgesamt breiteren Quellencorpus erarbeiten.
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Michael Basse
1517–1648: Die Predigt im Kontext der konfessionellen und religionspolitischen Ausdifferenzierung
Der Zusammenhang von Predigt und Politik ist im Blick auf die Frühe Neuzeit vielfältig untersucht worden, wobei der Schwerpunkt bislang auf der Predigtgeschichte des Konfessionellen Zeitalters liegt. Im Folgenden werden die Grundlinien der bisherigen Forschung skizziert, zunächst steht aber das protestantische Predigtwesen in Deutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, d. h. in der Reformationszeit im engeren Sinne, im Vordergrund. In einem kürzeren Seitenblick wird dann in einem dritten Abschnitt auch die Katholische Predigt betrachtet. In methodologischer Hinsicht gilt es zu berücksichtigen, dass Predigten aus dem Zeitraum von 1517 bis 1648 zumeist als Bearbeitungen von mündlich gehaltenen Predigten überliefert sind oder auch nur in gedruckter Form für ein Lesepublikum verfasst wurden. Vergleichsweise seltener sind Nachschriften gehaltener Predigten, wobei es insbesondere von Luther solche Nachschriften in größerer Zahl gibt – sie vermitteln zwar auch keinen unmittelbaren Eindruck der Predigten des Wittenberger Reformators, lassen jedoch dann, wenn sie mit Predigten verglichen werden, die er selbst für eine Drucklegung bearbeitet hat, gewisse Rückschlüsse auf seinen Predigtstil zu.1 Generell gehört die rezeptionsgeschichtliche Frage nach der Wirkung von Predigten zu den interessanten Aspekten der gegenwärtigen Forschung und hier zeigt sich, wie ertragreich die Kooperation von theologiegeschichtlicher und kulturgeschichtlicher Forschung nicht zuletzt im Blick auf kommunikationstheoretische Aspekte ist. Unter einer ›Predigt‹ wird im Folgenden eine Gattung von Texten verstanden, die einen religiösen Verkündigungsauftrag wahrnahmen und die explizit als ›Predigt‹ – mit dem deutschen Begriff oder einem äquivalenten Verweis auf das lateinische ›praedicare‹ – bezeichnet wurden. Der Terminus ›Politik‹ ist begriffsgeschichtlich in erster Linie aus der Semantik der Texte des 16. und frühen
1 Vgl. Hellmut Zschoch: Predigten, in: Luther Handbuch, hg. v. Albrecht Beutel, Tübingen 2005, S. 315–321, 316.
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Michael Basse
17. Jahrhunderts zu rekonstruieren.2 Historisch und theologisch bedeutsam ist hierbei zum einen das Substantiv ›Politia‹ – und das davon abgeleitete ›Policey‹ –, das von Luther verwendet wurde, um damit das ›weltliche Regiment‹ im engeren Sinne bzw. die politische Ordnung im Allgemeinen zu bezeichnen.3 Zumeist begegnet der Begriff der ›Politia‹ im Zusammenhang mit der Drei-Stände-Lehre Luthers und wird dann mit ›civitas‹ gleichgesetzt.4 In der deutschen Sprache benutzte Luther das Adjektiv ›bürgerlich‹, das im politisch-theologischen Sprachgebrauch dieser Zeit nicht auf das städtische Bürgertum begrenzt war, sondern die weltliche, d. h. ›politische‹ Sphäre bezeichnete. Das lateinische Adjektiv ›politicus‹ wiederum verwendete der Wittenberger Reformator im Rahmen seiner Zwei-Reiche-Lehre zur Unterscheidung des ›weltlichen Reiches‹ (regnum politicum) vom ›geistlichen Reich‹ (regnum sprituale).5 Zudem fand es Verwendung, um die spezifischen Funktionen des Gesetzes zu unterscheiden,6 was dann in der weiteren Lehrentwicklung des Protestantismus zur Rede vom ›usus politicus‹ des Gesetzes führte.7
2 Vgl. Luise Schorn-Schütte: Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015, S. 18–30. 3 Vgl. Martin Luther: Predigt vom 2. Oktober 1524 über Ex 2,1–4, in: WA 16, 19,20; Ders.: Predigt vom 25. Mai 1525 über Ex 13,1–4, in: WA 16, 260,30; Ders.: Predigt vom 7. März 1529 über Dtn 1,16f, in: WA 28, 539,18; Ders.: Predigt vom 20. April 1530 über Joh 21,1–14, in: WA 32, 67,2; Ders.: Enarratio Psalmi II [v. 11] (1532), in: WA 40/II, 285,33–286,1; Ders.: Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund (1535), in: WA 38, 367,25–28. – In der Vorrede zum Heidelberger Katechismus ist dann in der kurpfälzischen Kirchenordnung explizit von dem »politische[n] regiment« die Rede (vgl. Kirchenordnung vom 15. November 1563, in: EKO 14, bearb. v. Johann Friedrich Gerhard Goeters, Tübingen 1969, S. 333–408, 341; Fritz Büsser: Die Bedeutung des Gesetzes, in: Handbuch zum Heidelberger Katechismus, hg. v. Lothar Coenen, Neukirchen-Vluyn 1963, S. 159–170, 160f). 4 Vgl. Martin Luther: Genesisvorlesungen (1535–1545), in: WA 43, 524,23 [Gen 27,28f]. 5 Vgl. Ders.: Vorlesungen über die Stufenpsalmen (1532/33 [Druckfassung 1540]), in: WA 40/ III, 417,32 [zu Ps 132,11]. 6 Vgl. Ders.: Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann (1. Juni 1537), in: WA 39/I, 225,18. 7 Vgl. Reinhard Slenczka: Usus Politicus Legis. Das universale Gesetz und Gericht Gottes. Probleme theologischer Rechtsbegründung, in: ZEvKR 55 (2010), S. 374–401, 378. – Die terminologische Veränderung vom ›usus civilis‹ zum ›usus politicus‹ lässt sich ab 1535 in den Druckbearbeitungen von Luthers Galaterbriefvorlesung feststellen (vgl. Martin Luther: Galaterbriefvorlesung (1531/1535), in: WA 40/I, 429,10f.28–430,14; Gerhard Ebeling: Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: Ders., Wort und Glaube, Bd. I, Tübingen 31967, S. 50–68, 59).
1517–1648: Die Predigt im Kontext religionspolitischer Ausdifferenzierung
1.
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Das Verhältnis von Predigt und Politik im Protestantismus der Reformationszeit
Mit der öffentlichen Debatte über die reformatorische Theologie wurde diese selbst zu einem Politikum und war damit auch die Predigt, die bei der Ausbreitung der Reformation eine wichtige Rolle spielte und nach protestantischem Selbstverständnis eine zentrale Bedeutung für die Gemeinschaft der Gläubigen hat, von politischer Relevanz. Dabei waren nicht nur theologische Überzeugungen und politische Interessen miteinander verwoben, vielmehr bildete die Predigt eine besondere Form der »symbolischen Kommunikation«8, die vielfältige Zeichensysteme und ritualisierte Handlungsmuster umfasste. Das Verhältnis von Prediger und Gemeinde wurde durch den dialogischen Charakter der reformatorischen Predigten bestimmt.9 Ihre öffentliche Wirkung und damit auch politische Bedeutung lässt sich vor allem daran ablesen, dass sie Zustimmung hervorriefen bzw. auf Ablehnung stießen und so Auseinandersetzungen provozierten, die einen Landesherren oder einen städtischen Magistrat zum Eingreifen veranlassen konnten, woraufhin wiederum Reaktionen der Bevölkerung erfolgten.10 An Predigten konnten sich auch Konflikte zwischen dem Prediger und der weltlichen Obrigkeit entzünden – etwa im Zusammenhang mit der Kirchenzucht. So führte die »Verschärfung der Gesetzespredigt«11, die in der Wittenberger Reformation im Zuge der Visitationen einsetzte, nicht nur zu Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden, sondern auch zu scharfen Reaktionen vonseiten der politischen Repräsentanten bis hin zur Entlassung von Predigern. Die Breitenwirkung reformatorischer Predigt hing ganz wesentlich mit den Prädikaturen zusammen, die im Zuge der spätmittelalterlichen Reformbemü-
8 Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 389–405; Dies.: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriff – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527. 9 Vgl. Bernd Moeller / Karl Stackmann: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 (AAWG.PH 220), Göttingen 1996, S. 207; Monika Nickel: Predigt als Dialog (STPS 31), Würzburg 1998, S. 277; Albrecht Beutel: Martin Luther, in: Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte. Homiletische Analysen (FS Hans Martin Müller), hg. v. Albrecht Beutel und Volker Drehsen, Tübingen 1999, S. 11–26, 22. 10 Vgl. Gottfried Seebass: Das reformatorische Werk des Andreas Osiander (EKGB 44), Nürnberg 1967, S. 90–92; Nickel: Predigt als Dialog, S. 277. 11 Martin Brecht: Lutherische Kirchenzucht bis in die Anfänge des 17. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Pfarramt und Gesellschaft, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (SVRG 197), hg. v. Hans-Christoph Rublack, Gütersloh 1992, S. 400–420, 402.
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Michael Basse
hungen vor allem in den Städten eingerichtet worden waren.12 Auch Luther hatte zu Beginn seiner Predigttätigkeit in Wittenberg eine solche Stelle inne.13 Später predigte er zu politischen Anlässen auch in der Wittenberger sowie Torgauer Schlosskirche, wobei die Kurfürsten ihrerseits den Schulterschluss mit dem Reformator demonstrierten.14 Mit den evangelischen Predigern und Pfarrern entstand eine »neue Sozialgruppe«15, die einen eigenen soziokulturellen Habitus entwickelte und in die frühmoderne Ständegesellschaft eingebunden war.16 Die Anforderungen der theologischen Qualifikation und der Berufung durch die Gemeinde schränkten den reformatorischen Grundsatz ein, »das nicht mehr ist, denn eyn eyniges ampt tzu predigen gottis wort, allen Christen gemeyn, das eyn iglicher reden, predigen und urteylln müge und die andern alle verpflicht sind, zu zuhören«17. Luther begründete die Einschränkung dieses Grundsatzes damit, dass die christliche Gemeinde das Recht und die Pflicht habe, über die Eignung derer zu befinden, »die gott mit verstand erleucht und mit gaben datzu getziert hat«18. Deshalb bedürfe es des Predigt-›Amtes‹ und müssten diejenigen, die predigten, ohne dazu durch eine Gemeinde berufen zu sein, als »Pseudopropheten« beurteilt und bestraft werden.19 Als Prediger wirkte Luther über Wittenberg hinaus, denn seine gedruckten Predigten und Postillen waren ein bedeutendes »Instrument reformatorischer 12 Vgl. Karl Schlemmer: Gottesdienst und Frömmigkeit in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation (Forschungen zur fränkischen Kirchen- und Theologiegeschichte 6), Würzburg 1980, S. 255–258; Nickel: Predigt als Dialog, S. 271–278; Michael Basse: Von den Reformkonzilien bis zum Vorabend der Reformation (KGE II/2), Leipzig 2008, S. 161– 164. 13 Vgl. Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation, 1483–1521, Stuttgart 3 1990, S. 150; Volker Leppin: Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 71f. 14 Vgl. Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in der Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 370. 15 Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühen Neuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafenschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig (QFRG 62), Gütersloh 1996, S. 19. 16 Vgl. a.a.O., S. 17–226; Moeller / Stackmann: Städtische Predigt, S. 197–205; Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (SuR NR 29), Tübingen 2006, S. 303–322. 17 Martin Luther: Vom Mißbrauch der Messe (1521), in: WA 8, 498,15–18; vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 310–314; Schilling: Luther, S. 367. – Zur Wirkmächtigkeit von Luthers Prinzip des ›Priestertums aller Gläubigen‹ vgl. Chang Soo Park: Das Prinzip des allgemeinen Priestertums, ein politisches Konzept?, in: ARG 105 (2014), S. 129– 157. 18 Martin Luther: Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Vollmacht hat, alle Lehren zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen: Begründung und Rechtsanspruch aus der Schrift (1523), in: WA 11, 411,29f. 19 Ders.: Predigt vom 30. Juli 1531 über Mt 7,15, in: WA 34/II, 34,18–35,2.
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Öffentlichkeit«20. Der Zusammenhang von Predigt und Politik ist rezeptionsgeschichtlich mit der Medienrevolution des Buchdrucks eng verknüpft.21 Die Predigten umfassten deshalb als Kommunikationsgeschehen nicht nur den Prediger und die Hörerinnen und Hörer, sondern auch die Nachschreiber, die Drucker und deren Auftraggeber sowie die Leserinnen und Leser.22 Die gedruckten Predigten und die Postillen, die als Musterbeispiele und Anleitungen zum Predigen dienten,23 fungierten auch als Multiplikatoren der politischen Auffassungen des Wittenberger Reformators. Gesellschaftspolitisch trugen Luthers Predigten zur Legitimation des Ständesystems bei. Mit seiner Aufforderung zu akzeptieren, dass es coram mundo unterschiedliche Stände und Ämter geben müsse,24 distanzierte er sich von den sozialrevolutionären Bewegungen seiner Zeit. Exemplarisch deutlich wird das an einer Predigt, die Luther am 20. April 1530, am Mittwoch nach Ostern, über Joh 21,1–14 gehalten hat.25 Für den Wittenberger Reformator ging es in diesem Bibeltext neben der »erscheinung Christi und bestetigung seiner aufferstehung« um das Fischeramt und diesbezüglich darum, »das man die stucke treibe und predige, da die stende gegrundet sein, darynne man Gott dienen kan«26. Die Intention dieses Textes bestand für Luther gerade nicht in einer übertragenen Bedeutung, wonach die Jünger zu ›Menschenfischern‹ geworden seien und ihren weltlichen Beruf aufgegeben hätten, vielmehr 20 Schilling: Luther, S. 366; vgl. Hans-Christoph Rublack: Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, S. 344–395, 345. 21 Vgl. Andrew Pettegree: Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation, New York 2015, S. 8–12; Thomas Kaufmann: Der Buchdruck der Reformation und seine Weltwirkungen, in: ARG 108 (2017), S. 115–125. 22 Vgl. Bernd Moeller: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozess, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Hartmut Boockmann, Göttingen 1994, S. 148–164; Ders. / Stackmann: Städtische Predigt, S. 8– 17.230–253; Susanne bei der Wieden: Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (AWA 7), Köln / Weimar / Wien 1999, S. 24; Philip Hahn: Von der Kanzel in die Druckerpresse: Predigten zu politischen Anlässen als Druckerzeugnisse in Thüringen und Sachsen, 1550–1675, in: Der Politik die Leviten lesen. Politik von der Kanzel in Thüringen und Sachsen, 1550–1675, hg. v. Philip Hahn, Kathrin Paasch und Luise Schorn-Schütte (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 47), Erfurt 2011, S. 75–84. 23 Vgl. Albrecht Beutel: Art. Predigt. VIII. Evangelische Predigt vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: TRE 27 (1997), S. 296–311, 300; John M. Frymire: The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany (SMRT 147), Leiden / Boston 2010, S. 77–98; Hellmut Zschoch: Theologie des Evangeliums in der Zeit. Martin Luthers Postillenwerk als theologisches Programm, in: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie (FS Ulrich Köpf), hg. v. Albrecht Beutel und Reinhold Rieger, Tübingen 2011, S. 575–599; Ders: Predigten, S. 317. 24 Vgl. Martin Luther: Predigt vom 9. Juli 1531 über 1Petr 3, in: WA 34/I, 577,14–578,2; ders., Predigt vom 1. Oktober 1531 über Eph 4, in: WA 34/II, 306,11–15. 25 WA 32, 66–76. 26 A.a.O., 66,4–7.
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lasse sich aus dieser Geschichte lernen, »das Gott, was ehrliche stende und hendel hin und widder ynn der welt sind, die selbigen durch das Evangelien nicht auffhebt noch zubricht, wie denn zuvor die Munche und itzt unsere Rotten leren, das man nicht Gottselig ynn einem gemeinen stand leben kunne«27. So habe auch der Auferstandene nicht die Jünger vom Fischfang abgehalten, »sondern lest politian und Oeconomian bleiben, das ist: was zum regiment und haushalten gehort, das zerreisst er durchs Evangelion nicht«28. Für Luther ist das »denn nu ein feine sicherheit, das du daher gehest wie ein ander burger und bist gleichwol ein Christ daneben«29. Es ist für Luthers politische Ethik aufschlussreich, wie hier der Begriff der ›Sicherheit‹, der in den theologischen Diskursen des Spätmittelalters und der Reformationszeit in den Mittelpunkt rückte, insofern er mit der Frage der ›Gewissheit‹ des Heils verknüpft wurde,30 nun eine existentielle Haltung bezeichnete, in der politisches Handeln und christlicher Glaube zwar unterschieden, aber gleichwohl aufeinander bezogen waren. Luther entfaltete den konkreten Lebensbezug dieses Ansatzes dann in der Predigt vor allem im Blick auf die Knechte und Mägde, die sich, so gering auch ihre Werke dem Anschein nach anmuten, doch der Gnade Gottes und seines Segens gewiss sein könnten, wenn sie ihre Arbeit »treu«, »gehorsam« und »fleissig« verrichteten, denn jeder, der das tue, sei »ein lebendiger heilig, so ferne doch, das er auch an Christum gleube«31. Die Verbindung von ›Treue‹ und ›Gehorsam‹ einerseits sowie ›Fleiß‹ andererseits verdeutlicht, wie Luther hier gesellschaftliche Normen im Zusammenspiel von ›Politik‹ und ›Ökonomie‹ zur Geltung brachte. Für die Menschen aller Stände sollte gelten: »Ein iglicher dencke, wie er seinem ampt gnug thue«32, und dieses Verantwortungsbewusstsein grenzte Luther scharf von einer vordergründigen Dienstbeflissenheit gegenüber Höhergestellten ab, die nur »ubel trew heissen«33 könne. Bei offensichtlichem Amtsmissbrauch, wie er sich beispielsweise darin zeige, wenn der Berater eines Fürsten vergesse, »das du nicht darumb zu hofe bist, das du wein solt sauffen«34, war es für Luther um der Wahrheit willen angebracht, so etwas gerade auch von der Kanzel offen anzusprechen, ohne den Anspruch zu erheben, strafen oder gebieten zu wollen. Er 27 28 29 30
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A.a.O., 66,14–17. A.a.O., 67,1–3. A.a.O., 67,21f. Vgl. Michael Basse: Certitudo Spei. Thomas von Aquins Begründung der Hoffnungsgewißheit und ihre Rezeption bis zum Konzil von Trient als ein Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Eschatologie und Rechtfertigungslehre (FSÖTh 69), Göttingen 1993; Sven Grosse: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (BHTh 85), Tübingen 1994. Martin Luther: Predigt vom 20. April 1530 über Joh 21,1–14, in: WA 32, 69,5f.12. A.a.O., 69,27f. Vgl. a.a.O., 70,1–4. A.a.O., 73,3.
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wies deshalb auch den Vorwurf zurück, dass sich die Pfarrer damit in die Angelegenheiten des weltlichen Regiments einmischen wollten.35 Die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Stände war für Luther in der Gewissheit begründet, dass ein jeder Stand Gott gefällt, was eben auch für Luther selbst galt, insofern er feststellte: »Ich weiss auch kein andern trost fur mich nicht, denn das ich gewis bin, das Ich beten, schreiben und predigen sol, und bins gewis und weis es auch, das Gott wol gefellt, Darumb gibt er mir auch gnad und gluck dazu.«36 Die Neubewertung weltlicher Lebenszusammenhänge, die aus Luthers rechtfertigungstheologisch begründetem Freiheitsverständnis resultierte und mit seiner Auffassung des ›Amtes‹ bzw. ›Berufes‹ eines jeden Christen korrespondierte, verstärkte eine gesellschaftliche Dynamik, von dem insbesondere das städtische Bürgertum profitierte.37 Das galt jedoch in erster Linie für die Männer, während die Frauen in Luthers Predigten auf ihre Rollen als Ehefrau und Mutter bzw. als Bedienstete beschränkt blieben.38 Auch als Predigerinnen konnte und wollte Luther sich Frauen nicht vorstellen, wobei er zum einen auf die bestehende ›Ordnung‹ im Anschluss an das paulinische Redeverbot 1Kor 14,34f verwies und zum anderen mit unterschiedlichen Begabungen von Männern und Frauen argumentierte, denn zum Predigen seien »eyn gutte stymm, eyn gutt außsprechen, eyn gutt gedechtniß und ander naturliche gaben« erforderlich, weshalb der Mann »geschickter« sei zu predigen39. Theologie- und kulturgeschichtlich richtungsweisend war die Konzentration der Predigt auf die Schrift und somit die Verkündigung des Wortes Gottes.40 An Luthers Predigten wird paradigmatisch deutlich, wie der Predigttext als eine »lebendige Textwelt« zur Sprache gebracht wird und es so zu einer »Horizontverschmelzung und -erweiterung« im Verhältnis von Prediger und Text einerseits sowie Text und Gemeinde andererseits kommen kann.41 Gemäß Luthers homiletischem Grundsatz, den er von Paulus übernahm, wonach das Predigtamt aus 35 Vgl. a.a.O., 73,5–11. 36 A.a.O., 73,16–19. 37 Vgl. Berndt Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, S. 57–103. 38 Vgl. Martin Luther: Predigt vom 1. Oktober 1531 über Eph 4, in: WA 34/II, 306,15–307,18. 39 Ders.: Vom Missbrauch der Messe (1521), in: WA 8, 497,31f.37; vgl. Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation, 1521–1532, Stuttgart 1986, S. 37; Christine Globig: Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch (KiKonf 36), Göttingen 1994, S. 28–33; Schilling: Luther, S. 367f. 40 Vgl. Werner Schütz: Geschichte der christlichen Predigt (SG 7201), Berlin / New York 1972, S. 90–95; Moeller / Stackmann: Städtische Predigt, S. 283–299; Beutel: Predigt, S. 296; Alexander Kupsch: Martin Luthers Gebrauch der Heiligen Schrift. Untersuchungen zur Schriftautorität in Gottesdienst und gesellschaftlicher Öffentlichkeit (HUTh 77), Tübingen 2019, S. 94–156. 41 Beutel: Luther, S. 21.
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zwei Teilen besteht, der Lehre und der Ermahnung,42 finden sich politische Aspekte im engeren Sinne vor allem im zweiten Teil, der Ermahnung. Dabei ging es u. a. um Fragen der Kirchenpolitik, des Schulwesens und der Einrichtung eines Gemeinen Kastens sowie wirtschaftspolitische Themen wie Teuerung und Wucher.43 Große Aufmerksamkeit wurde zudem der Ehe in ethischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht zuteil.44 So forderte Luther, dass Ehebrecher vom Abendmahl und vom Patenamt ausgeschlossen werden sollten, und er ermahnte den Magistrat ausdrücklich, darauf zu achten.45 Zudem sprach er sich dafür aus, dass ein Prediger, wenn er mit seinen Predigten nichts ausrichten könne, die »öffentlichen, halßstarrigen Sünder« mit dem Bann belegen dürfe, so wie die weltliche Obrigkeit einen Bürger, der den Frieden nicht wahre, in den Turm einsperren könne46. Mit der grundlegenden Unterscheidung von ›Gesetz und Evangelium‹, die ein Grundprinzip und wiederkehrendes Motiv der Predigten Luthers ist,47 wurden politische Fragen eher der Sphäre des Gesetzes zugeordnet,48 zumal die Rede von dem ›äußeren‹ bzw. ›politischen‹ Gebrauch des Gesetzes zu den Grundsätzen reformatorischer Theologie gehörte.49 Deshalb spiegelt sich der Zusammenhang von Predigt und Politik in den Katechismuspredigten, die in der Glaubensunterweisung der Gemeinden einen großen Stellenwert hatten, und hier vor allem in den Dekalogpredigten besonders deutlich wider.50 Dabei wurden die Gebote der 42 Vgl. Martin Luther: Adventspostille (1522), in: WA 10/I.2, 1,19f. 43 Vgl. Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, S. 93f; Moeller / Stackmann: Städtische Predigt, S. 342f. 44 Vgl. Martin Luther: Eine Hochzeitpredigt über den Spruch Hebr. 13,4 (1531), in: WA 34/I, 50,9–75,29; Ders.: Predigten v. 7. Januar 1532, in: WA 36, 80,1–96,20. 45 Vgl. Ders.: Predigt v. 8. Januar 1531, in: WA 34/I, 79,5–9. 46 Ders.: Predigt v. 29. September 1531, in: WA 34/II, 252,18–23. 47 Vgl. Ders.: Adventspostille, in: WA 10/I.2, 155,21–24; Gerhard Heintze: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium (FGLP 10. Ser. 11), München 1958, S. 66–283; Dietrich Rössler: Beispiel und Erfahrung. Zu Luthers Homiletik, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre, hg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber, Tübingen 2002, S. 9–25, 11. 48 Vgl. Heintze: Luthers Predigt, S. 82f. 49 Vgl. Martin Luther: Predigt über das erste Gebot vom 24. Februar 1523, in: WA 11, 31,6–8; Philipp Melanchthon: Loci Communes VI (1535), CR 21, 405; Johannes Calvin: Institutio religionis christianae II 7,10–11, in: Opera selecta, Bd. 3, hg. v. Petrus Barth, München 2 1957, 335,30–337,22; Ebeling: Lehre vom triplex usus legis, S. 50–68; Martin Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den »Schwärmern« (JusEcc 114), Tübingen 2016, S. 411f; Guenther H. Haas: Ethik und Kirchenzucht, in: Calvin Handbuch, hg. v. Herman J. Selderhuis, Tübingen 2008, S. 326–338, 333. 50 Vgl. Michael Basse: Luthers frühe Dekalogpredigten in ihrer historischen und theologischen Bedeutung, in: Luther 78 (2007), S. 6–17, 10f. – Die deutsche Übersetzung der frühen Dekalogpredigten Luthers durch Sebastian Münster hat zur Verbreitung der reformatorischen Ideen im oberdeutschen und schweizerischen Raum beigetragen (vgl. Ders. [Hg.]:
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zweiten Tafel des Dekalogs auf den konkreten Lebensalltag der Menschen bezogen, um so zu einer bürgerlichen, d. h. weltlichen Gerechtigkeit anzuleiten und die politische Ordnung zu festigen. In der Auslegung des Gebotes, die Eltern zu ehren, wurde die göttliche Bestimmung des weltlichen Regimentes zur Geltung gebracht und daraus die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit abgeleitet.51 Mit der theologischen Überordnung des Evangeliums über das Gesetz wurden die politischen Implikationen solcher ethischen Anleitungen aber soteriologisch entlastet und somit relativiert. Diese Unterscheidung galt es für Luther grundsätzlich zu beachten, »damit nicht Moral und Glaube, Werke und Gnade, Politik und Religion vermischt werden«52. Von politischer Relevanz waren die reformatorischen Predigten auch dann, wenn entsprechende Themen gar nicht unmittelbar angesprochen wurden, sondern die Predigt ihre Wirkung in einer konkreten Situation entfaltete. Ein Beispiel hierfür sind die Invocavit-Predigten, die Luther angesichts der politischen Unruhen in Wittenberg nach seiner Rückkehr von der Wartburg hielt.53 Den radikalen Forderungen zur Umgestaltung des religiösen und gesellschaftlichen Lebens, wie sie etwa Karlstadt vertrat, setzte Luther nicht einfach andere, ordnungspolitische Handlungsanweisungen entgegen, vielmehr fokussierte er seine Predigten auf die grundlegende Verbindung christlicher Freiheit und Dienstbarkeit im Sinne der Rücksichtnahme auf die Schwachen.54 Dadurch vermittelte er eine biblisch begründete Orientierung und trug so zur politischen Beruhigung der Situation bei. Das Gegenmodell zu diesem reformatorischen Ansatz einer differenzierten Verbindung von Predigt und Politik bot die Fürstenpredigt Thomas Müntzers, die auf eine direkte Beeinflussung der Adressaten abzielte und deshalb aus dem Predigttext – dem zweiten Kapitel des Buches Daniel – ein politisches Programm ableitete, mit dem die Herrschaftsverhältnisse radikal verändert werden sollten.55
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Martin Luthers Dekalogpredigten in der Übersetzung von Sebastian Münster [AWA 10], Köln / Weimar / Wien 2011, S. XIII). Vgl. Martin Luther: Decem praecepta Wittenbergensi praedicta populo (1518), in: WA 1, 440,1–3; Ders.: Predigt über das vierte Gebot vom 17. September 1528, in: WA 30/I, 35,23– 36,14; Ders.: Predigt über das vierte Gebot vom 3. Dezember 1528, in: WA 30/I, 70,9–15. Vgl. Luther: Galaterbriefvorlesung, in: WA 40/I, 51,12. Vgl. Brecht: Luther, Bd. 2, S. 67–72; bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 112–152; Zschoch: Predigten, S. 318f; Leppin: Luther, S. 201–204. Vgl. Martin Luther: Predigt vom 12. März 1522, in: WA 10/III, 36,10–39,1. Vgl. Thomas Müntzer: Auslegung des anderen Unterschieds Danielis (1524), in: ders., Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe (QFRG 33), hg. v. Günther Franz, Gütersloh 1968, S. 241–263; Walter Elliger: Thomas Müntzer, Göttingen 31976, S. 443–463; Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67, Tübingen 2012, S. 142; Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer – Revolutionär am Ende der Zeiten. Eine Biographie, München 2015, S. 139–151;
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Eine eigene Gattung bilden die sogenannten ›Türkenpredigten‹, die in der Frühen Neuzeit zum Standardrepertoire sowohl der katholischen als auch der protestantischen Predigten gehörten.56 Luther hat neben seiner ›Heerpredigt wider die Türken‹, die er 1529 angesichts der Belagerung Wiens durch die Osmanen verfasste,57 immer wieder in seinen Predigten die Auseinandersetzung mit den Türken thematisiert.58 Dabei ging es ihm zum einen um die theologische Legitimation eines Verteidigungskrieges gegen die Osmanen, zum anderen stilisierte er ›den Türken‹ zum Sinnbild der widerchristlichen Mächte der Endzeit, die es seiner Auffassung nach theologisch wie religionspolitisch zu bekämpfen galt. Die besondere Bedeutung, die den Türkenpredigten in der Kirchen- und Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts zukam, spiegelt sich auch darin wider, dass sie von rituellen und liturgischen Formen wie dem Türkenläuten und dem Türkengebet flankiert wurden.59 Interessant im Blick auf die konfessionelle Ausdifferenzierung der Predigtgeschichte ist die Beobachtung, dass sich gedruckte Türkenpredigten innerhalb des Protestantismus nur im Luthertum feststellen lassen, jedoch nicht im reformierten Protestantismus.60 Damaris Grimmsmann führt das in ihrer Untersuchung zu den Türkenpredigten des 16. Jahrhunderts einerseits auf die homiletische Praxis zurück, insofern sich »bis auf wenige Ausnahmen die Tradition der textgebundenen Themapredigt im Reformiertentum nicht etablierte«61; andererseits verweist sie in politischer Hinsicht auf die ablehnende Haltung der reformierten Territorien gegenüber den Türkensteuern, die auf Reichstagen beschlossen wurden.62 Daraus wird ersichtlich, dass die Rücksichtnahme auf die politischen Rahmenbedingungen bei den gedruckten Türkenpredigten eine große Rolle spielte, und konfessionspolitisch waren die Türkenpredigten von Belang, insofern sie mit der konfessio-
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Siegfried Bräuer / Günter Vogler: Thomas Müntzer – Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh 2016, S. 231–237. Vgl. Damaris Grimmsmann: Krieg mit dem Wort. Türkenpredigten des 16. Jahrhunderts im Alten Reich (AKG 131), Berlin / Boston 2016. Martin Luther: Eine Heerpredigt wider den Türken (1529), in: WA 30/II, 160–197; vgl. Rudolf Mau: Luthers Stellung zu den Türken, in: Leben und Werk Martin Luthers von 1526– 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, 2 Bde., hg. v. Helmar Junghans, Göttingen 1983, S. 647–662. 956–966, 654f; Ludwig Hagemann: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen, Darmstadt 1999, S. 82–91; Siegfried Raeder: Der Islam und das Christentum. Eine historische und theologische Einführung, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 188; ders.: Luther und die Türken, in: Luther Handbuch, hg. v. Albrecht Beutel, Tübingen 2005, S. 224–231, 229f; Johannes Ehmann: Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546) (QFRG 80), Gütersloh 2008, S. 311– 319; Grimmsmann: Krieg mit dem Wort, S. 127–130. Vgl. Ehmann: Luther, Türken und Islam, S. 356–358.406–409. Vgl. a.a.O., S. 409–415; Grimmsmann: Krieg mit dem Wort, S. 32–38. Vgl. Grimmsmann: Krieg mit dem Wort, S. 7–9. A.a.O., S. 8. Vgl. ebd.
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nellen Abgrenzung sowohl zwischen Protestanten und Katholiken als auch innerprotestantisch zwischen Lutheranern und Reformierten verknüpft wurden, indem der jeweils Andere als ›Türke‹ verunglimpft wurde.63 Was die Resonanz bzw. Rezeption der reformatorischen Predigten anbetrifft, so bedarf es noch intensiver Forschung, die sich an der innovativen Untersuchung von Arnold Hunt zum Predigtwesen in England in der Zeit von 1590–1640 orientieren könnte.64 So konnte Hunt aufzeigen, wie die Predigten zu einem kulturgeschichtlichen Wandel vom Sehen zum Hören beigetragen haben. Die spezifische Kultur oder ›Kunst‹ des Zuhörens und das damit verbundene Wahrnehmen der Predigt umfasste neben den hermeneutischen Implikationen auch Aspekte der Gestaltung und Einrichtung des Kirchenraums mit der Kanzel und Kirchenbänken, wobei die Anordnung von Altar, Kanzel und Gestühl die jeweiligen sozialen und politischen Strukturen widerspiegelte.65 Die Bedeutung nicht nur des Hörens, sondern auch des Lesens von Predigten, die Hunt in seiner Studie insbesondere in politischer Hinsicht herausgestellt hat,66 entspricht dem Zusammenhang von Predigt- und Lesebewegung, wie er für die frühe Reformation in Deutschland typisch war67 – aber auch in dieser Hinsicht bedarf es noch der genaueren Erforschung der unterschiedlichen Rezeptionsformen reformatorischer Predigt. Dabei gilt auch in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive der Grundsatz, dass die Predigtgeschichte »nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, das theologisch Typische, sondern das situativ Besondere herausarbeitet«68.
63 Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und protestantischen Theologen im 16. Jahrhundert (Frühe Neuzeit 104), Tübingen 2005, S. 232–234; Thomas Kaufmann: »Türckenbüchlein«. Zur christlichen Wahrnehmung »türkischer Religion« in Spätmittelalter und Reformation (FKDG 97), Göttingen 2008, S. 42– 55; Grimmsmann: Krieg mit dem Wort, S. 191–197. 64 Vgl. Arnold Hunt: The Art of Hearing. English Preachers and their Audiences 1590–1640, Cambridge 2010. 65 Vgl. Peter Poscharsky: Die Kanzel. Erscheinungsformen des Protestantismus bis zum Ende des Barock, Gütersloh 1963, S. 56–71; Inga Brinkmann: Kanzeln im lutherischen Kirchenraum. Konfessionelle, soziale und politische Aspekte ihrer Positionierung sowie ikonographischen und künstlerischen Gestaltung, in: Der Politik die Leviten lesen, hg. v. Philip Hahn u. a., S. 28–31. 66 Vgl. Hunt: The Art of Hearing, S. 292–342. 67 Vgl. Hamm: Bürgertum und Glaube, S. 78; Wilhelm H. Neuser: Evangelische Kirchengeschichte Westfalens im Grundriß (BWFKG 22), Bielefeld 2002, S. 27–35; Kaufmann: Der Anfang der Reformation, S. 577–586. 68 Beutel: Luther, S. 20.
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Evangelische Predigt im Konfessionellen Zeitalter bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges
Mit der Institutionalisierung des landesherrlichen Kirchenregiments wurde die Kooperation von weltlicher Obrigkeit und Predigtamt weiter gefestigt. Dabei war die Personalpolitik für die weltliche Obrigkeit ein probates Mittel, um bei der Besetzung von Predigerstellen oder von Superintendenturen die eigenen Interessen zur Geltung zu bringen.69 Auch wenn die »konfessionspolitische Funktionalisierung« der Geistlichkeit durch die weltliche Obrigkeit erst in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg signifikant zunahm70, kam den Pfarrern doch auch schon vorher eine Mittlerfunktion zu,71 die sich nicht zuletzt auf ihre Predigten auswirkte. Bestimmte Predigtgattungen waren aufgrund ihres Anlasses bzw. ihrer Adressaten politisch motiviert, wie etwa Leichenpredigten oder Huldigungs- und Regentenpredigten.72 Eine besondere Rolle spielten die lutherischen und reformierten Hofprediger,73 die der Staatsräson des jeweiligen Herrscherhauses verpflichtet waren und zu »erheblichem kirchenpolitischen Ein-
69 Vgl. Monika Hagenmaier: Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614–1639 (Nomos Universitätsschriften: Geschichte 1), Baden-Baden 1989, S. 17–24.46–52; Norbert Haag: Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm 1640–1740 (VIEG 145), Mainz 1992, S. 192f. 70 Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit, 25. 71 Vgl. Hagenmaier: Predigt und Policey, S. 17–63. 72 Vgl. Wolfgang Sommer: Obrigkeits- und Sozialkritik in lutherischen Regentenpredigten des frühen 17. Jahrhunderts, in: Predigt und soziale Wirklichkeit. Beiträge zur Erforschung der Predigtliteratur (Daphnis 10), hg. v. Werner Welzig, Amsterdam 1981, S. 113–140; Sabine Holtz: Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550–1750 (SuR NR 3), Tübingen 1993, S. 241–257; Mary J. Haemig / Robert Kolb: Preaching in Lutheran pulpits in the age of confessionalization, in: Lutheran ecclesiastical culture, 1550–1675 (Brill’s companions to the Christian tradition 11), hg. v. Robert Kolb, Leiden 2008, S. 117–157; Volker Leppin: Politische Predigten und ihr biblischer Resonanzhorizont. Eine exemplarische Lektüre, in: Der Politik die Leviten lesen, hg. v. Philip Hahn u. a., S. 32–36; Cornelia Niekus Moore: Mitteldeutsche Leichenpredigten als Spiegel des Zeitgeschehens, in: Der Politik die Leviten lesen, hg. v. Philip Hahn u. a., S. 48–58; Schorn-Schütte: Gottes Wort, S. 85–95. 73 Vgl. Wolfgang Sommer: Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit, in: Ders., Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze (FKDG 74), Göttingen 1999, S. 74–90; Ders.: Die lutherischen Hofprediger in Dresden. Grundzüge ihrer Geschichte und Verkündigung im Kurfürstentum Sachsen, Stuttgart 2006; Luise Schorn-Schütte: Umstrittene Theologen. Hofprediger im Europa der Frühen Neuzeit, in: Religion Macht Politik. Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit (1500–1800) (Wolfenbütteler Forschungen 137), hg. v. Ulrike Gleixner u. a., Wiesbaden 2014, S. 27–47; Sivert Angel: The Confessionalist Homiletics of Lucas Osiander (1534–1604). A Study of a South-German Lutheran Preacher in the Age of Confessionalization (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 82), Tübingen 2014, S. 67– 138.
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fluß«74 gelangten, wobei sie auch das Recht in Anspruch nahmen, Kritik an dem politischen Handeln der Obrigkeit zu üben. Mit ihrer Drucklegung und Publikation konnten Predigten über den engeren Kreis der Predigthörerinnen und -hörer hinaus sowie unabhängig von ihrem konkreten Anlass verbreitet werden.75 Die Initiative zur Drucklegung einer Predigt ging entweder von den Predigthörerinnen und -hörern selbst aus oder aber dem Prediger.76 Oftmals wurden die Predigten vor ihrer Veröffentlichung gründlich überarbeitet und erweitert. Mit Widmungen und Illustrationen konnte ihre politische Intention noch unterstrichen werden.77 Für die Rezeptionsgeschichte der gedruckten Predigten ist zu berücksichtigen, dass sie der Zensur unterlagen, denn seit dem Frankfurter Abschied von 1558 »betrachteten die protestantischen Fürsten die Bücherzensur als wichtigen Bestandteil ihres Jus reformandi«78. Die Prediger der lutherischen Orthodoxie knüpften an Luthers Zwei-ReicheLehre an, indem sie die Zusammengehörigkeit der weltlichen Gewalt und des Predigtamtes als den beiden Regimenten Gottes herausstellten und von daher die Pflichten sowohl der Obrigkeit als auch der Untertanen ableiteten.79 Dabei fällt auf, dass die spezifischen Aufgaben der Obrigkeit vor allem im Rekurs auf das Alte Testament begründet wurden80 – etwas Vergleichbares lässt sich zwar auch schon bei Luther feststellen, wie beispielsweise in seiner Auslegung des 101. Psalms, die er als Fürstenspiegel konzipierte,81 aber auch hier hielt Luther an der grundlegenden Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium fest. Demgegenüber implizierte die alttestamentliche Fokussierung des Herrscherideals in den Predigten der lutherischen Orthodoxie eine andere Akzentuierung insbesondere des Gesetzesverständnisses, insofern nun der tertius usus legis zum Leitprinzip auch des politischen Handelns der Obrigkeit erklärt wurde.82 Auch wenn die protestantischen Predigten des Konfessionellen Zeitalters von ihrer Gesamtintention her zur Legitimation und Stabilisierung bestehender politischer Verhältnisse beitrugen, wurde in ihnen doch auch Kritik an der Ob74 Wolfgang Sommer: Stellung lutherischer Hofprediger, S. 78. 75 Vgl. Johannes Wallmann: Prolegomena zur Erforschung der Predigt im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie, in: ZThK 106 (2009), S. 284–304. 76 Vgl. Hahn: Von der Kanzel in die Druckerpresse, S. 75. 77 Vgl. a.a.O., S. 77–83. 78 Wallmann: Prolegomena, S. 298; vgl. Hagenmaier: Predigt und Policey, S. 52–59. 79 Vgl. Hagenmaier: Predigt und Policey, S. 83–140; Holtz: Theologie und Alltag, S. 236–241. 80 Vgl. Holtz: Theologie und Alltag, S. 243f; Schorn-Schütte: Gottes Wort, S. 89. 81 Vgl. Wolfgang Sommer: Die Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes in Luthers Auslegung des 101. Psalms, in: Ders., Politik, S. 11–53; Michael Basse: Ideale Herrschaft und politische Realität. Luthers Auslegung des 101. Psalms im Kontext von Spätmittelalter und Reformation, in: ZKG 114 (2003), S. 45–71; Kupsch: Luthers Gebrauch der Heiligen Schrift, S. 309–350. 82 Vgl. Leppin: Politische Predigten, S. 32.
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rigkeit oder sozialen Missständen geübt.83 Die Obrigkeit wiederum konnte sich dazu veranlasst sehen, öffentliche Kritik von den Kanzeln zu verbieten, wie der ernestinisch-sächsische Landesherr Herzog Johann Friedrich II. zu Beginn der 1560er Jahre.84 Dabei ging es letztlich um einen strukturellen Konflikt in der Abgrenzung zwischen den Aufgabenbereichen des status politicus einerseits und des status ecclesiasticus andererseits.85 Besonders brisant und konfliktträchtig wurde die konfessionspolitische Ausrichtung der Predigten im Falle eines Konfessionswechsels des Landesfürsten, wie er in den 1590er Jahren am kursächsischen Hof in Dresden und dann 1614 in Brandenburg vollzogen wurde.86 Die protestantischen Predigten dieser Zeit bemühten sich darum, die in sich differenzierte »Einheit der Schöpfungsordnung«87 im Sinne der Drei-StändeLehre zur Geltung zu bringen. Zudem wurden sie von dem Bestreben bestimmt, den eigenen konfessionellen Standpunkt in Abgrenzung zu anderen zu markieren.88 Ein Beispiel hierfür ist Philipp Nicolai, der sich nicht nur als Liederdichter einen Namen gemacht hat, sondern auch als Verfechter eines lutherischen Konfessionalismus.89 So gelang es ihm während seines Wirkens als Pfarrer in Unna, die Stadt mit polemischen Predigten und Publikationen für das Luthertum zurückzugewinnen, nachdem dort vorübergehend die Reformierten den Ton angegeben hatten.90 In einer – nicht genau zu datierenden – Predigt über das Leitmotiv des ›guten Hirten‹ brachte Nicolai seine konfessionspolitische Auffassung mit Nachdruck zum Ausdruck, indem er die Fürsorge des guten Hirten mit dem teuflischen Verhalten der – wie er sie nannte – »geistlichen Wölfe« und »Mietlinge« kontrastierte.91 Zu den ›geistlichen Wölfen‹ von geradezu apokalyptischer Bedeutung zählte er an erster Stelle die Türken und das Papsttum als »blutdürstige Weerwölfe«92, unter denen ganze Landstriche Europas zu leiden 83 Vgl. Hagenmaier: Predigt und Policey, S. 106–109; Sommer: Obrigkeits- und Sozialkritik, S. 113–140; Ders.: Obrigkeitskritik und die politische Funktion der Frömmigkeit im deutschen Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, hg. v. Robert von Friedeburg, Berlin 2001, S. 245–263. 84 Vgl. Schorn-Schütte: Gottes Wort, S. 77. 85 Vgl. a.a.O., S. 77–85. 86 Vgl. a.a.O., S. 92–95. 87 A.a.O., S. 87; Dies.: Evangelische Geistlichkeit, S. 416–433. 88 Vgl. Frymire: The Primacy of the Postils, S. 159f. 89 Vgl. Felix Blindow: Der unbekannte Philipp Nicolai – Apokalyptiker am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, in: JVWKG 93 (1999), S. 39–63. 90 Vgl. Michael Basse: Die Reformation in der Grafschaft Mark, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte 118 (2018), S. 7–27, 18. 91 Philipp Nicolai: Predigt am Sonntage Misericordias Domini, in: Ander Theil / Aller Teutschen Schrifften / des weyland Ehrwürdigen hochgelahrten Herrn Philippi Nicolai, hg. v. Georg Dedeken, Bd. 2, Hamburg 1617, S. 343–351. 92 A.a.O., S. 346a.
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hätten, wobei die damaligen Religionskriege in Frankreich und den Niederlanden besonders erwähnt werden. Aber auch innerhalb des Protestantismus treibe der ›Wolf‹ in Gestalt der »Rottengeister« der Calvinisten und Zwinglianer sein Unwesen.93 Umso mehr galt es nach Nicolais Auffassung, diesen Feinden Christi vor allem in Predigten entgegenzutreten – und dafür verantwortlich, dass dieses nicht geschah, waren in seine Augen die weltliche Obrigkeit und deren Juristen, die sich für einen friedlichen Ausgleich der Konfessionsparteien einsetzten, sowie Prediger als deren ›Mietlinge‹, die diesen politischen Direktiven folgten und darauf verzichteten, die konfessionellen Differenzen zu thematisieren.94 Das führe dazu, dass sie »die reine Lehre des Evangelii in Kirchen und Schulen abschaffen und den Gottlosen Calvinismum einführen«95, was letztlich »eine Zerrüttung der Land und Leute«96 zur Folge habe. Gegenüber ›subtilen‹, d. h. auf Ausgleich und Toleranz bedachten Predigten, die weder warm noch kalt seien, sondern »lau« – im Anschluss an Offb 3,15f –, wofür die Prediger von der Welt als verständig, freundlich und umgänglich gelobt würden, wollte Nicolai wieder das ›Affirmative‹ in der Predigt betonen.97 Nur so könne ein Prediger seiner Verantwortung als ›guter Hirte‹ gerecht werden, indem er die Warnung des göttlichen Strafgerichts über die Ungläubigen unmissverständlich ausspreche und deshalb auch das ›Strafamt‹, d. h. die Exkommunikation ausübe.98 Andernfalls drohe das gleiche Schicksal, wie es die Christen in der Ostkirche ereilt habe, die nicht genügend geistliche Widerstandskraft besessen hätten, um sich dem Vordringen des Islam entgegenzusetzen.99 Ungeachtet dessen, dass Nicolai hier – aus seinem persönlichen Blickwinkel heraus – die weltliche Obrigkeit wie auch die Mehrheit der evangelischen Pfarrer auf einer religionspolitischen Linie der Toleranz agieren sah, was den historischen Gegebenheiten des Konfessionellen Zeitalters so nicht entsprach, ist seine Predigt doch auch wiederum ein Spiegelbild dieser Zeit, insofern sie die Bedeutung der Konfessionalität innerkirchlich wie auch politisch zur Geltung brachte und die ›Reinheit‹ der eigenen Glaubensüberzeugung zum Garanten sowohl der kirchlichen Stabilität als auch des 93 A.a.O., S. 346b. 94 Vgl. ebd. – In einer Predigt, die sich eigens dem Predigtamt widmete, wandte sich Nicolai scharf gegen das Bestreben vor allem der Juristen an den Fürstenhöfen und in den Rathäusern, den Predigern vorschreiben zu wollen, »wie sie das Evangelium lehren, mit Straffen und Vermahnungen sich verhalten sollen« (Ders.: Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, in: Ander Theil, S. 332–342, 334b). 95 Ders.: Predigt am Sonntage Misericordias Domini, S. 346b. 96 A.a.O., S. 348a. 97 Vgl. a.a.O., S. 348a-b. 98 Vgl. a.a.O., S. 348b. – Mit der Notwendigkeit der Exkommunikation befasste sich Nicolai eingehender in seiner Predigt über das Predigtamt (Ders.: Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, S. 341a-b). 99 Vgl. Ders.: Predigt am Sonntag Misericordias Domini, S. 348a.
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politischen Wohles erklärte. Dazu dienten die Kirchenzucht und deren Zuspitzung in Form der Exkommunikation, d. h. in der kirchlichen Praxis des Protestantismus der Ausschluss vom Abendmahl, der stets auch eine gesellschaftliche Relevanz hatte und so zur Sozialdisziplinierung beitragen konnte.100 Die geschichtstheologische und konfessionspolitische Selbstvergewisserung des deutschen Protestantismus gewann von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges an Intensität. Besonders eindrücklich wurde das angesichts des Reformationsjubiläums 1617, aus dessen Anlass eine Vielzahl von Predigten publiziert wurde.101 Nach dem Ausbruch des Dreißigjähriges Krieges wurde die politische Situation in Predigten mit Hilfe »apokalyptischer Deutungsmuster«102 interpretiert, um so den Charakter eines ›Religionskrieges‹ zu unterstreichen. Damit sollten zugleich die innerprotestantischen Differenzen überwunden und die evangelischen Stände zur inneren Geschlossenheit gegenüber der katholischen Liga mobilisiert werden. Der militärische Erfolg der sächsisch-schwedischen Truppen im Jahr 1631 wurde dann in Dankpredigten als »Heilserweis, den Gott durch seine ›Gesalbten‹, Kurfürst Johann Georg von Sachsen und König Gustav Adolf von Schweden, geschenkt habe«103, empfunden, wobei jedoch nicht der Triumph, sondern »die Mahnung zu Buße im Vordergrund«104 stand. Damit korrespondierten wiederum die vielen Leichen- und Gedenkpredigten, die den Tod des schwedischen Königs im November 1632 als Strafe Gottes ansahen.105 Inhaltlich und methodisch wegweisend für die weitere Erforschung der Predigtgeschichte nicht nur des Konfessionellen Zeitalters ist das Forschungsprojekt »Religion und Politik in protestantischen Predigten des 16. und 17. Jahrhunderts im thüringisch-sächsischen Raum. Tiefenstrukturanalyse und Erschließung von gedruckten und handschriftlichen politischen Predigten der Forschungsbibliothek Gotha«,106 das 2008–2015 unter Leitung von Luise Schorn-Schütte wichtige Erkenntnisse gewonnen hat. Der reichhaltige Bestand an politischen Predigten 100 Vgl. Brecht: Kirchenzucht, 400–420; Ders.: Protestantische Kirchenzucht zwischen Kirche und Staat. Bemerkungen zur Forschungssituation, in: Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, hg. v. Heinz Schilling, Berlin 1994, S. 41–48; Andreas Holzem: Die Konfessionslandschaft. Christenleben zwischen staatlichem Bekenntniszwang und religiöser Heilshoffnung, in: ZKG 110 (1999), S. 53–85; Luise Schorn-Schütte: Priest, Preacher, Pastor: Research on Clerical Office in Early Modern Europe, in: Central European History 33 (2000), S. 1–39. 101 Vgl. Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchenhistorische Studien zur lutherischen Konfessionskultur (BHTh 104), Tübingen 1998, S. 12f. 102 A.a.O., S. 46. 103 A.a.O., S. 56. 104 A.a.O., S. 57. 105 Vgl. a.a.O., S. 62f. 106 Vgl. die Website des Projektes: https://www2.uni-erfurt.de/politische-predigten/ (15. 02. 2018).
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wurde dabei nicht nur in Form von Digitalisaten zugänglich gemacht, sondern auch inhaltlich erschlossen, indem ein »Thesaurus« erstellt wurde, der mit einer Auswahl von insgesamt 93 Begriffen auf verschiedenen Ebenen begriffsgeschichtliche Untersuchungen zur theologisch-politischen Semantik der Predigten ermöglicht. Den Ertrag dieses methodischen Ansatzes hat Philipp Hahn exemplarisch an dem Begriffsfeld ›Sicherheit‹ aufgezeigt, indem er die semantischen Veränderungen von einem reformatorischen hin zu einem säkularen Verständnis von Sicherheit analysierte.107 Nach diesem Vorbild – und gegebenenfalls unter Berücksichtigung weiterer Begriffe bzw. Verknüpfungen – könnten in Zukunft noch andere Bestände politischer Predigten erforscht werden.
3.
Die katholische Predigt des 16. und frühen 17. Jahrhunderts
Nachdem das Fünfte Laterankonzil ein Dekret zur Beseitigung von Missständen im Predigtwesen der römischen Kirche erlassen hatte,108 bemühten sich zu Beginn der Reformationszeit vor allem Kontroverstheologen wie Johannes Eck und eher auf Vermittlung bedachte Prediger wie Johann Wild oder Georg Witzel um eine Reform der katholischen Predigt.109 Dabei wurden die spätmittelalterlichen Ansätze fortgesetzt, den Primat der Bibel in den Predigten zur Geltung zu bringen,110 indem etwa Eck von den Predigern forderte, »das sie das netz der predig nicht außwerffen in menschlichen fabeln, sonder wie s. Peter: in deinem
107 Vgl. Philip Hahn: »Sicherheit« – gut oder böse? Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten im alten Reich des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation (Frühneuzeit-Impulse 2), hg. v. Christoph Kampmann und Ulrich Niggemann, Köln / Weimar / Wien 2013, S. 47–56. 108 Vgl. Dekrete der ökumenischen Konzilien, hg. v. Josef Wohlmuth, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters, Paderborn 2000, S. 634–638; Johann B. Schneyer: Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg i. B. 1969, S. 234f; Nickel: Predigt als Dialog, S. 282. 109 Vgl. Schneyer: Geschichte der katholischen Predigt, S. 235–238; Erwin Iserloh: Johannes Eck (1486–1543). Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe (KLK 41), Münster 1981, S. 71–74; Wilbirgis Klaiber: »Ecclesia militans«. Studien zu den Festtagspredigten des Johannes Eck (RST 120), Münster 1982, S. 22f; Gottfried Bitter: Art. Predigt. VII. Katholische Predigt der Neuzeit, in: TRE 27 (1997), S. 262–296, 263f; John M. Frymire: »Der rechte Anfang zur vollkommenen Reformation der Kirchen«. Johann Wild und die katholische Predigt im Anschluss an das Augsburger Interim, in: Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag (SHCT 124), hg . v. Gudrun Litz, Heidrun Muntzert und Roland Liebenberg, Leiden / Boston 2005, S. 437–451; Ders.: The Primacy of the Postils, S. 139–148. 110 Vgl. Hermann Schüssler: Der Primat der heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter (VIEG 86), Wiesbaden 1977, S. 159–293; Klaiber: Ecclesia, S. 25.
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wort in dem wort Christi, soll wir vnnser netz außwerffen«111. Das politische Interesse an diesen Reformbestrebungen wird insbesondere an der Initiative der gemeinsam regierenden bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. deutlich, die 1530 verfügten, dass die zweibändige Sammlung der Predigten Ecks für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres in allen Pfarreien und Klöstern ihres Territoriums angeschafft werden sollte.112 Auch wenn die Herzöge ihre Verfügung nach dem Einspruch der Bischöfe von Freising, Regensburg und Passau wieder zurücknehmen mussten, zeigte sich doch in diesem Vorgang das Bestreben, Predigt und Politik im Dienste eines »territorialstaatlichen Konfessionalisierungsprogramms«113 zu verknüpfen. Dem Reformanliegen Ecks, das mit der Kirchenpolitik der bayerischen Herzöge verbunden war, entsprach auf Reichsebene das Predigtwerk Friedrich Nauseas, der als Hofprediger Kaiser Ferdinands I. dessen gegenreformatorische Bemühungen unterstützte.114 Die konkreten Ausführungen katholischer Predigten zu politischen Themen entsprachen in vielerlei Hinsicht den protestantischen Predigten und spiegelten damit einen konfessionsübergreifenden Grundkonsens im Blick auf die idealtypischen Normen weltlicher Gerechtigkeit wider. Jedoch zeigen sich Differenzen hinsichtlich der moraltheologischen Begründung dieser Normen, insofern sie im Rahmen der scholastischen Tugendlehre entfaltet wurden und damit die kategoriale Unterscheidung reformatorischer Theologie zwischen der göttlichen und der menschlichen Gerechtigkeit aufgehoben wurde. Zudem wurde das spezifische Verständnis von Kirche in ihrer Relation zur Welt in den katholischen Predigten anders bestimmt, indem die besondere Sakralität der Kirche und ihre hierarchische Struktur herausgestellt wurden. Das zeigt sich beispielweise in Ecks Dekalogpredigten, in dessen Predigtreihe zum vierten Gebot ein eigener Abschnitt dem Gehorsam nicht nur gegenüber der weltlichen, sondern auch der geistlichen Obrigkeit gewidmet ist.115 Dabei wird der Gehorsam, der dem Papst, den Erzbischöfen und Bischöfen gebühre, aus der Ehrerbietung gegenüber der »Königin Maria« als der »Mutter der Gnaden« abgeleitet und in Analogie dazu die Kirche als »geistliche Mutter« verstanden.116 Die weltliche Obrigkeit wiederum wird als »diener vnn stathalter Gotes« bezeichnet, wodurch »äusserlicher frid, ain burgerlich geselligklich leben, ain gemaine sicherhait, räthung vnnd erhal111 Johannes Eck: Der Ander Tail Christenlicher predig über die Euangelien, Ingolstadt 1530 (VD 16 E 282), S. 119rb; vgl. Iserloh: Eck, S. 74; Klaiber: Ecclesia, S. 24. 112 Vgl. Heribert Smolinsky: Die Reform der Kirche in der Sicht des Johannes Eck, in: Johannes Eck im Streit der Jahrhunderte (RST 127), hg. v. Erwin Iserloh, Münster 1988, S. 155–173, 170; Iserloh: Eck, S. 74; Klaiber: Ecclesia, S. 5. 113 Bitter: Predigt, S. 264. 114 Vgl. Bitter: Predigt, S. 265. 115 Vgl. Johannes Eck: Der Fünft und letst Tail Christenlicher Predig von den Zehen Gebotten, Ingolstadt 1539 (VD 16 E 289), S. XXXIIIra-XXXVrb. 116 A.a.O., S. XXXIIIrb.
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tung burgerlicher recht vnnd satzung« gegeben sei117. Deshalb müsse auch eine tyrannische, »grimmige herschaft« erduldet werden und gebühre ihr Gehorsam, solange sie nicht »etwas wolt bietten wider Gott vnnd der seelen seligkait«118. Dabei sei stets zu beachten, dass menschliche Satzungen den göttlichen Geboten wie auch den Satzungen der Kirche nicht widersprechen dürften.119 Der Vorrang der geistlichen Obrigkeit wurde so implizit zur Geltung gebracht, ohne damit die theologischen und politischen Auseinandersetzungen, die sich aus den spätmittelalterlichen Debatten über die Zwei-Schwerter-Lehre ergeben hatten,120 zu evozieren. Das Konzil von Trient befasste sich dann erneut mit dem Thema der Predigtreform – nun unter dem Eindruck der Ausbreitung der Reformation und deren Konzentration auf die evangelische Predigt. Auf ihrer fünften Sitzung verabschiedeten die Konzilsväter ein Reformdekret, in dem die Prediger zur regelmäßigen Predigt an Sonn- und Feiertagen verpflichtet wurden und die Predigt vor allem auf ihren Schriftbezug sowie die Vermittlung der katholischen Lehre fokussiert wurde.121 Eine führende Rolle bei der Umsetzung dieses Reformprogramms spielten die Reformorden der Kapuziner und Jesuiten.122 Mit gedruckten Predigtsammlungen und homiletischen Hilfsmitteln sollte die Predigtreform unterstützt werden, zugleich kam es jedoch zu Restriktionen mithilfe der Zensur.123
4.
Zusammenfassung
Die Predigten vom Beginn der Reformationszeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges wurden von der Ausdifferenzierung der Konfessionskulturen des Protestantismus und des Katholizismus geprägt und sie haben gerade auch deren politische Bedeutung in einer Weise zur Sprache gebracht, wie es nicht zuletzt im Blick auf den relativ breiten Kreis der Rezipienten, d. h. die Predigthörerinnen 117 118 119 120
A.a.O., S. XXXIIIvb–XXXIVra. A.a.O., S. XXXIVra-b. Vgl. a.a.O., S. XXXVra. Vgl. Volker Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund (SuR NR 26), Tübingen 2005, S. 118–155. 121 Vgl. Dekrete der ökumenischen Konzilien, hg. v. Josef Wohlmuth, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit, Paderborn 2001, S. 667–670.763; Schneyer: Geschichte der katholischen Predigt, S. 234f; Bitter: Predigt, S. 266f; Nickel: Predigt als Dialog, S. 313. 122 Vgl. Bitter: Predigt, S. 267–270. 123 Vgl. Franz M. Eybl: Gebrauchsfunktionen barocker Predigtliteratur. Studien zur katholischen Predigtsammlung am Beispiel lateinischer und deutscher Übersetzungen des Pierre de Besse (Wiener Arbeiten zur deutschen Literatur 10), Wien 1982, S. 63f.81; Bitter: Predigt, S. 267.
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und -hörer sowie Leserinnen und Leser, in diesem Ausmaß mit keinem anderen Medium möglich war,124 wenngleich die Klagen über eine geringe Zahl an Gottesdienstbesuchern und eine mangelnde Resonanz der Predigten im Alltag zu berücksichtigen sind.125 Die Predigten wurden nicht nur von der Politik bestimmt, sondern sie ›machten‹ ihrerseits Politik, indem sie in konkrete Situationen hineinwirkten und dabei sowohl der Legitimation bestehender Machtstrukturen sowie den politischen Interessen der Herrschenden dienten als auch Kritik an bestehenden Verhältnissen übten und politische Veränderungen herbeiführten. Mit dem reformatorischen Schriftprinzip kam es zu einer Fokussierung auf die theologische Begründung sowie Vermittlung religionspolitischer Stellungnahmen, so dass der Schriftbezug der Predigt zu deren autoritativen Anspruch verhelfen wie auch zu ihrem kritischen Korrektiv werden konnte. In den unterschiedlichen Ausprägungen und Akzentuierungen des Zusammenhangs von ›Predigt und Politik‹ wurde die jeweilige Verhältnisbestimmung von ›Gesetz und Evangelium‹ zur Geltung gebracht. Im Zuge der konfessionspolitischen Auseinandersetzungen führte das zu gravierenden Normierungen und Verengungen, deren Sprengkraft sich schließlich im Dreißigjährigen Krieg entlud.
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Christian Volkmar Witt
1648–1789: Beobachtungen und Überlegungen zur homiletischen Relation von Predigt und Politik im ›Zeitalter der Kritik‹
Seine Einschätzung der Verschiebungen der politischen Machtgewichte seit 1648 kleidet der Göttinger Historiker Ludwig Timotheus Spittler in folgende Worte: »Die Theologen hörten auf, die Premierministers der Fürsten, wie vorher, zu seyn. Selten wurden sie mehr in politischen Angelegenheiten zu Rath gezogen, ob sie schon bey entstehenden Religionsstreitigkeiten noch genug Kräfte des Staats in Bewegung zu setzen wußten«.1 Nicht zuletzt der politische Einflussverlust der Theologen sollte eine Epoche einläuten, deren Höhepunkt Spittler Anfang der 1780er Jahre in der segensreichen Wirkung der historischen Kritik sieht: »Im Ganzen haben wir durch diese Revolution der letztern dreyßig Jahre (scil. durch das Aufkommen und den Sieg der historischen Kritik in der Theologie, C.W.) ausserordentlich gewonnen und sie werden sich wahrscheinlich einst als die glänzendste Periode der Lutherischen Kirchengeschichte auszeichnen«.2 Damit stehen uns in genauso exemplarischer wie prominenter zeitgenössischer Zuspitzung Anfangs- und Endpunkt des nun im Mittelpunkt stehenden Zeitraums vor Augen, und beide – Machteinbußen der Theologen sowie Durchsetzung der Kritik in der Theologie – werden von Spittler in der historischen Rückschau als Rahmen um einen ungeheuer wendungs- und wirkungsreichen Prozess der letztlich heilsamen Aufklärung gezeichnet. Die Jahrzehnte innerhalb dieses Rahmens bilden den auch in der historischen Rückschau nur schwer zu überblickenden Schauplatz der Erprobung und Entfaltung vielfältiger ideen-, medien-, rechts- und institutionengeschichtlicher Neuerungen sowie Transformationen in Gesellschaft, in Staat, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und Kirche, die dann bei verstärkter Medialisierung, wachsender Öffentlichkeit und zunehmender Theoriebildung zu dem Phänomenbestand gerinnen, der gemeinhin unter dem Titel »Aufklärung« versammelt wird. Allerdings herrscht auch für diesen Begriff gerade im Rahmen historischer Be1 Ludwig Timotheus Spittler: Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche, Göttingen 1782, S. 395. 2 A. a. O., S. 466.
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trachtung längst kein wissenschaftssprachlicher Konsens, »ob er als Parteiund Programmname, Denkstil, Reformprozess oder Epoche verstanden wird«.3 Entsprechend umständlich ist es, mit seiner Hilfe die für diesen Beitrag zur Verfügung stehenden Stoffmassen strukturierend zu bändigen. In Anbetracht dessen wird statt seiner ein bestimmtes Programm darstellungsleitend herangezogen, das sowohl zu den Kernanliegen als auch zu den Strukturmerkmalen der sog. Aufklärung zu zählen ist und bereits eine gewisse Auswahl innerhalb jener Stoffmassen erlaubt, nämlich das der Kritik. Kritik spielt hier einmal an auf die Herbeiführung vernunftbasierter Mündigkeit der Predigthörenden im Sinne fortschreitender Befähigung derselben zur kritisch-moralischen Beurteilung des Politischen durch Predigt und Prediger. Kritik impliziert sodann die Notwendigkeit der Überzeugung selbstständig urteilender, weil vernünftiger und entsprechend mündiger Subjekte. Das Politische wiederum ist ebenfalls in zweifacher Hinsicht zu verstehen, nämlich einmal in Richtung auf Obrigkeit und Staat und sodann mit Blick auf Bürger oder Untertanen. Unter dieser Leitperspektive, deren Einnahme zwar eine – an dieser Stelle letztlich unabdingbare – thematisch-inhaltliche Beschränkung impliziert, zugleich aber in gewisser Weise schon zeitgenössische Deutungen wie die Spittlers grundierte, wird im Folgenden der hochgradig komplexe Zusammenhang von Politik und Predigt bis 1789 – mit Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert – fokussierend ausgeleuchtet. Gedanklicher Ausgangspunkt ist dabei, dass auch die Predigt und mit ihr naturgemäß die Homiletik grundsätzlich zur Befähigung zu vernünftiger Urteilsbildung über das Politische dienen sollten, und das bedeutete Befähigung zu vernunftgemäßer Kritik des Politischen in angeführter zweifacher Richtung. Von Kant selbst stammt das bekannte Diktum: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können«.4
3 Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, Göttingen 2018, S. 16. 4 Immanuel Kant: Vorrede zur ersten Auflage, in: ders., Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil (Kant Werke Bd. 3), Darmstadt 1983, S. 11–19, hier: S. 13, Anm.
1648–1789: Predigt und Politik im ›Zeitalter der Kritik‹
1.
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Voraussetzungen
Den Zusammenhang von Predigt und Politik unter dem Aspekt der Kritik im Sinne der zeitgenössisch programmatischen Befähigung zur kritischen Urteilsbildung bezüglich politischer Sachverhalte oder Akteure einerseits, der vernünftigen Reflexion der eigenen Rolle sowie des eigenen Verhaltens in Staat und Gesellschaft andererseits zu untersuchen, um einen Eindruck von der spezifischen Kontur ebenjenes Zusammenhangs im 18. Jahrhundert zu gewinnen, lenkt nun unter bestimmten Voraussetzungen die Aufmerksamkeit auf das Feld von Vernunft und Moral. Nach dem streitbaren und aus denselben Gründen hochgradig anregenden Zugriff Reinhart Kosellecks auf die politische Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts stehen Kritik und Krise in einem engen Zusammenhang: Die moralische Kritik führt die Krise des Politischen in Gestalt des Staates herauf. »Der hohe Gerichtshof der Vernunft, zu dessen natürlichen Beisitzern sich die aufsteigende Elite selbstbewußt zählte, verwickelte in verschiedenen Etappen alle Bereiche des Lebens in seine Prozeßführung. Die Theologie, die Kunst, die Geschichte, das Recht, der Staat und die Politik, schließlich die Vernunft selber, werden früher oder später vor seine Schranken zitiert und haben sich zu verantworten«.5 Vom absolutistischen Staat von politischer Machtpartizipation ferngehalten, jedoch moralisch freigesetzt, geraten die Bürger »zwangsläufig in Gegensatz zu einem Staat, der durch die Unterordnung der Moral unter die Politik das Politische auf formale Art versteht und so die Rechnung ohne das Eigengefälle der Emanzipation seiner Untertanen macht. Ihr Ziel wird es nämlich sein, sich moralisch so weit zu vervollkommnen, daß sie tatsächlich selber wissen, und zwar jeder für sich, was gut ist und was böse. Auf diese Weise wird jeder zum Richter, der sich auf Grund seiner Aufgeklärtheit autorisiert weiß, allem den Prozeß zu machen, was an heteronomen Bestimmungen seiner moralischen Autonomie widerstreitet«.6 Die Emanzipation auf dem Feld der Moral gleichsam im Inneren des vernünftig-kritischen Bürgers, die die Fähigkeit zur eigenen vernunftgemäßen Urteilsbildung genauso erkennen lässt wie die Ermächtigung und Verpflichtung zu derselben, führt, ja drängt demnach zum Bewusstsein sich steigernder politischer Mündigkeit, die sich in aufgeklärter Haltung und bürgerlichem Verhalten niederschlägt sowie sich kommunikativ nach außen wendet: »Die Aufklärung nimmt ihren Siegeszug im gleichen Maße als sie den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit ausweitet. Ohne sich ihres privaten Charakters zu begeben, wird die Öffentlichkeit zum Forum der Gesellschaft, die den gesamten Staat durch5 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 36), Freiburg u. a. 132017, S. 6. 6 A. a. O., S. 8.
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setzt. Schließlich wird die Gesellschaft anpochen an den Türen der politischen Machthaber, um auch hier Öffentlichkeit zu fordern und Einlaß zu erheischen. Mit jedem Schritt der Aufklärung wird die Grenze der Zuständigkeiten verschoben, die der absolutistische Staat so sorgsam zwischen dem moralischen Innenraum und der Politik zu ziehen versucht hatte«.7 Das mündige, durch die Kritik geschulte Urteil der Moral erfasst nach und nach auch den Bereich der Politik, »das moralische Gericht wird zur politischen Kritik«.8 Die dadurch heraufbeschworene und in der Französischen Revolution ihren ersten blutigen Höhepunkt erreichende politische Krise beruht folglich auf dem Dualismus von Politik und Moral, von Staat und Kritik: »Die dualistische Aufspaltung der Welt in einen Bereich der Moral und einen Bereich der Politik ist in ihrer Geschichtlichkeit Voraussetzung und Folge der politischen Kritik. Die Kritik tritt also nicht nur da auf, wo sie explizit zum Ausdruck gebracht wird, sondern sie liegt bereits dem dualistischen Weltbild zugrunde, das diese Zeit geprägt hat«.9 Im Zuge des dialektischen Verhältnisses von vernunftgemäßer Moral und Politik etabliert sich die Kritik überhaupt erst »als Souverän«10, dessen moralischem Urteil sich keineswegs zuletzt der Staat zu unterwerfen hat. »Die herrschende Politik wurde in den Prozeß der Kritik verwickelt. […] Auch in diesem Prozeß waren die Kritiker Ankläger, oberste Urteilsinstanz und Partei zugleich«.11 Ihre souveräne Kritik »macht auch nicht mehr Halt vor dem Souverän. […] Die Kritik ist der Tod des Königs. Die Expansion über die ursprünglich vorgegebene Grenze zwischen Innen und Außen zeitigte also unerwartete Folgen. Die alles erfassende Kritik weitete sich zwar auf die Politik aus, verzichtete aber nicht auf ihren eigenen unpolitischen, d. h. auf ihren vernünftigen, natürlichen oder moralischen, das Vorrecht der Wahrheit garantierenden Anspruch«.12 Das angeführte vielzitierte Diktum Kants bezeugt nach Koselleck die neue Qualität einer moralisch begründeten Kritik: »Die Kritik, die sich anfangs vom Staat abgesetzt hatte, um ungehindert walten zu können, beseitigt jetzt kraft eigener Autorität die Grenze, die sie sich einst selbst gezogen. Im Vollzug ihrer kritischen Selbstbegründung tritt der Herrschaftsanspruch der kritischen Vernunft auch auf den Staat offen zutage. Die Herrschaft der Kritik über die Öffentlichkeit gewinnt politische Dignität«.13 Soweit die ebenso pointierte wie vieldiskutierte Deutungslinie Kosellecks, auf die nun auch die anschließenden Überlegungen zu reagieren suchen, indem sie 7 8 9 10 11 12 13
A. a. O., S. 41. A. a. O., S. 85. A. a. O., 85f. A. a. O., S. 92. A. a. O., S. 95. A. a. O., S. 97. A. a. O., S. 101.
1648–1789: Predigt und Politik im ›Zeitalter der Kritik‹
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– nach wie vor in dem Bestreben, auf gedrängtem Raum eine historisch belastbare Schneise durch das Materialdickicht zu schlagen – nach dem Verständnis und der Rolle von Prediger und Predigt im soeben skizzierten Kontext fragen, den Koselleck selbst als wesentlichen Bestandteil der titelgebenden »Pathogenese der bürgerlichen Welt« auffasst. Ob man diese Interpretation der Gesamtentwicklung teilt oder nicht, sie weist in bemerkenswerter Zuspitzung zuallererst auf umfassende Phänomene der Machtverschiebung hin, die in engstem Zusammenhang mit spezifischen Prozessen der Ermündigung als vernünftig und ebendeshalb als urteilsfähig erachteter Subjekte stehen. Zu den Stichworten Kritik und Moral gesellen sich als Seitenstücke folglich Tugend, Vernunft und Verstand. Vor dem Hintergrund dieses historisch charakteristischen Gefüges mit seinen Implikationen für das Feld des Politischen gilt es nun, Aufgabe und Leistung von Prediger und Predigt nach der Wahrnehmung der Zeitgenossen exemplarisch zu ermitteln, um die politische Dimension der Predigt im Werden bürgerlicher Emanzipation sowie im Vollzug vernunftgemäßer Ermündigung schlaglichtartig zu analysieren. Dazu bietet sich vorzugsweise die Lektüre von Homiletiken an, um Verständnis und Rolle der Predigt in genanntem Rahmen in gewisser Konzentration zu ermitteln. Finden sich also Spuren jenes Gefüges in der homiletischen Theoriebildung einer Zeit oder Strömung14, die ihrerseits »in der Vergewisserung und Stärkung individueller religiöser Mündigkeit eine identitätsstiftende Motivkonstellation«15 fand? Falls ja, wie verarbeiten wirkungsreiche Homiletiken mündigkeitsaffine Faktoren wie Vernunft, Verstand oder Kritik, und wie verhalten sich diese Verarbeitungen zum steigenden Mündigkeitsbewusstsein ihres Publikums? Was trägt also die predigtgeschichtliche Analyse von Beispielen homiletischer Theoriebildung somit zur Überprüfung der übergeordneten Koselleck’schen Dichotomie von Moral und Politik oder Kritik und Staat aus? Kann jene an dieser überhaupt etwas zu denken finden oder gar über sie zu denken geben? Diesen Fragen ist der nachfolgende Untersuchungsgang hauptsächlich gewidmet. Im Zusammenhang der weitläufigen Wandlungsprozesse des hier in Rede stehenden Zeitraums jedenfalls »unterlag auch das Predigtinstitut dem tiefgreifenden ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ (Habermas): Die schlechterdings zentrale Funktion, die die Predigt nach innen wie nach außen zunächst innehatte, 14 S. dazu einführend die Überblicke in Hans Martin Müller: Art. Homiletik, 2.2.3 Aufklärung, in: TRE 15 (1986), S. 536–538, und Alfred Niebergall: Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes Bd. 2/I: Der Hauptgottesdienst, hg. v. Karl Ferdinand Müller, Walter Blankenburg, Kassel 1955, S. 181– 353, hier: S. 306–315. 15 Albrecht Beutel: Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2014, S. V.
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sah sich nun einem vielschichtigen Relativierungsprozeß ausgesetzt. Diese umfassende Modifikation des kirchlichen und gesellschaftlichen Rahmens ist als Konstitutionsbedingung evangelischer Predigt durchgängig mit zu bedenken«16 – besonders im Vergleich zu vorherigen Epochen. Denn hatte die Predigt »bislang für alle religiös-moralischen Themen sowie als Instanz einer verbindlichen, integrativen Welterklärung und -deutung das weithin unbestrittene Monopol, so begann sich nun ein durchaus profaner literarischer Markt zu etablieren«17, mit dem die Predigt in Konkurrenz und Wechselwirkung zugleich trat. Dabei sind zwar die predigt- und theologiegeschichtlichen Kontinuitätsmomente nicht aus dem Blick zu verlieren; die Predigten des 18. Jahrhunderts »would not have been the brunt of so much criticism if they had not been popular among large sections of the church-going public«.18 Gleichwohl durch die großen Bewegungen der Zeit beeinflusst, mussten Predigt und Predigtlehre angesichts der angeklungenen Ermündigungsprogramme nach Möglichkeiten und Themen suchen, selbst Einfluss auszuüben, um kritischen Vernunftgebrauch, religiöse Moral und bürgerliche Haltungen oder Tugenden nach dem Geschmack der Zeitgenossen zu vermitteln, wollten sie sich nicht dezidiert von diesem entkoppeln oder sich gar gegen ihn stellen. Freilich gab es auch dazu durchaus Versuche, es brach sich »eine Reaktion gegen die herrschende Strömung teils vom ästhetischen, teils vom biblisch-evangelischen Standpunkt aus kräftig Bahn«.19 Doch auch solche Gegenbewegungen als »Nachwirkungen älterer homiletischer Richtungen«20 konnten sich den gedanklichen Einflüssen ihrer Umwelt naturgemäß nicht gänzlich entziehen und werden im Zuge der anschließenden Ausführungen auch nur am Rande Behandlung finden. Im Mittelpunkt werden dagegen zur punktuellen Profilierung des Zeitalters Entwürfe und Bemühungen des affirmativen Umgangs mit dem waltenden ›Zeitgeist‹ oder der angesagten ›Denkungsart‹ stehen, um zwei weitere damals gängige Begriffe aufzunehmen. Das bedeutete, wie zu zeigen sein wird, nicht etwa unkritische Aufnahme jener Faktoren. Gleichwohl hatten Geistliche »eine zentrale Funktion für die Formierung der politischen Öffentlichkeit des Ancien régime. Sie mußten die obrigkeitlichen Erlasse verkündigen und erläutern und waren bei der Bevölkerung als gebildete Vorleser der Tageszeitungen gefragt. Sie versorgten die Gemeinden mit politischer Information und bespra16 Albrecht Beutel: Art. Predigt, VIII. Evangelische Predigt vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: TRE 27 (1997), S. 296–311, hier: S. 304. 17 Ebd. 18 Joris van Eijnatten: Preface, in: Preaching, Sermon and Cultural Change in the Long Eighteenth Century, hg. v. Joris van Eijnatten, Leiden 2009, S. VII–XIV, hier: S. IX. 19 Theodor Christlieb (†), Martin Schian: Art. Predigt, Geschichte der christlichen, RE3 15 (1904), S. 623–747, hier: S. 690. 20 Ebd.
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chen diese mit den Interessenten. Dazu kam noch ihr Predigtamt«21, das in seiner ganzen praktischen Vielfalt dem ausgreifenden politischen Interesse in Gestalt obrigkeitlicher Steuerungsanliegen einerseits, dem Streben nach mündiger Urteilsbildung der Untertanen eben als Bürger andererseits nicht entzogen werden konnte und sollte.22 Vielmehr wurde es selbst zu einer mit anderen Medien konkurrierenden Vermittlungsinstanz von Angeboten, und zwar keineswegs nur zur Interpretation des mehr oder weniger aktuellen politischen Geschehens, sondern auch zur religiösen Plausibilisierung vernunftgemäßer Moral und zur Überfügung derselben in tugendhafte Haltungen und Verhaltensweisen. Schließlich forderte das Zeitalter »die Anpassung auch des Inhalts der Predigt an das Zeitbedürfnis«.23 Das aufzuklärende Publikum »hatte sich nun einmal daran gewöhnt, ›vernünftige Gedanken‹, Beibringung ›richtiger Begriffe‹, Beweise auch für den ›Verstand‹, nicht bloß Schriftbeweis vom Kanzelredner zu erwarten«.24 Insofern lässt sich auch in unserem Kontext »die Predigt des 18. Jahrhunderts, die ›Die Kanzel als Katheder der Aufklärung‹ (Schütz) entdeckte und nutzte, als eine konstitutive Reformmaßnahme verstehen, durch die insbesondere das gebildete Bürgertum, das unter dem Einfluß der philosophisch-literarischen Zeitströmungen an der überkommenen Gestalt des Christentums, an reformatorischem Bibelglauben und konfessioneller Kirchlichkeit zunehmend den Geschmack verloren hatte, der christlichen Religion erhalten und einem Prozeß fortschreitender Entkirchlichung der deutschen Aufklärung gewehrt werden konnte«.25 Unter den bis hierhin offengelegten inhaltlich-thematischen Prämissen dieses Beitrags bilden im Anschluss also ausgewählte protestantische Homiletiken die Gegenstände der stichprobenartigen Beobachtungen (2.) und der darauf aufruhenden Überlegungen (3.). Es werden prominente, weil wirkmächtige und von daher bezüglich des Zeitgeists aussagekräftige Beispiele von Predigtlehren untersucht, um repräsentative Integrationsweisen von mündigkeitsaffinen Aspekten wie Vernunft, Verstand, Kritik etc. in nachweislich breitenwirksame Muster 21 Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 103), Göttingen 1994, S. 151. 22 Vgl. zur Illustration den Überblick von O. C. Edwards, Jr.: Varieties of Sermon. A Survey of Preaching in the Long Eighteenth Century, in: Preaching, Sermon and Cultural Change, hg. v. van Eijnatten, S. 3–53, bes. S. 34–51. 23 Christlieb (†), Schian, Art. Predigt, S. 291. 24 Ebd. 25 Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, Göttingen 2009, S. 229. Die Anspielung gilt Werner Schütz: Die Kanzel als Katheder der Aufklärung, in: Zur Sozialgeschichte der Literatur und Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. Günter Schulz (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. 1), Bremen 1974, S. 137–171.
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Christian Volkmar Witt
christlicher Verkündigung im Rahmen homiletischer Theoriebildung vorzustellen. Der Zusammenhang von Predigt und Politik kommt somit auf einer Metaebene in Betracht und wird gleichsam entlang subkutaner Symptome untersucht, um ihn zum einen in allgemeinere ideelle und institutionelle Transformationsprozesse des 18. Jahrhunderts einzeichnen zu können und dabei zum anderen die grundlegenden Voraussetzungen des Verhältnisses von Predigt und Politik im 19. Jahrhundert zu erhellen. Es wird daher beispielsweise nicht um den aufkommenden Typ der »politischen Predigt« gehen, »der seinen Ausgangspunkt und sein Betätigungsfeld in den öffentlichen Institutionen und Gesetzen oder in den politischen Tagesfragen sucht und aus diesem säkularen Bereich heraus eine moralische Frömmigkeit entwickelt. […] Der Begriff ›Politische‹ Predigt bezieht sich hier in Übereinstimmung mit dem damaligen Sprachgebrauch nicht nur auf rein politische Gegenstände im engeren Sinne, sondern auch auf die Behandlung öffentlicher, z. B. sozialhygienischer Fragen«.26 Auch werden exemplarische institutionelle Konkretisierungen aufgrund der Forschungslage guten Gewissens ausgeblendet.27 Der gewählte inhaltlich-thematische Zuschnitt dieses Beitrags ist zudem der Tatsache geschuldet, dass zu anderen wichtigen Akzentuierungen des Zusammenhangs von Predigt und Politik im 18. Jahrhundert bereits luzide Einzelstudien vorliegen28, deren Befunde al26 Reinhard Krause: Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770–1805) (Arbeiten zur Theologie 2. Reihe Bd. 5), Stuttgart 1965, S. 125. 27 Vgl. zum Beispiel die glänzende Studie von Konrad Hammann: Universitätsgottesdienst und Aufklärungspredigt. Die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus (Beiträge zur historischen Theologie Bd. 116), Tübingen 2000. 28 Gedacht ist neben der zuvor genannten Studie von Schütz: Die Kanzel als Katheder der Aufklärung, vornehmlich an Christian-Erdmann Schott: Akkomodation – Das homiletische Programm der Aufklärung, in: Vestigia Bibliae 3 (1981), S. 49–69; Joachim Eibach: Politische Predigten in England und Brandenburg-Preußen zwischen konfessionellem Zeitalter und Frühaufklärung. Prolegomena zur Erschließung eines Feldes der Religionsgeschichte für die Kulturvergleichs- und Transferforschung, in: Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850, hg. v. Thomas Fuchs, Sven Trakulhun (Aufklärung und Europa Bd. 12), Berlin 2003, S. 159–183; Andres Straßberger: Die Kanzelverlesung landesherrlicher Mandate als homiletischer Anknüpfungspunkt in der Zeit der deutschen Spätaufklärung. Kein Beitrag zur Geschichte der »Nützlichkeitspredigt«, in: Herbergen der Christenheit 32/33 (2008/2009), S. 53–73; Pasi Ihalainen: The Enlightenment Sermon. Towards Practical Religion and a Sacred National Community, in: Preaching, Sermon and Cultural Change, hg. v. van Eijnatten, S. 219–260; Stefan Michel: Das Aufkommen der politischen Predigt um 1800. Das Konzept Johann Hermann Zacharias Hahns (1768–1826) »Politik, Moral und Religion in Verbindung«, in: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, hg. v. Albrecht Beutel, Volker Leppin u. a. (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte Bd. 31), Leipzig 2010, S. 329–345. Alle sechs Studien bieten reichhaltige weiterführende Literaturhinweise zur Vertiefung der jeweils beleuchteten Einzelaspekte. Stefan Michel und Andres Straßberger danke ich ganz herzlich für ihre Hinweise und Ratschläge.
1648–1789: Predigt und Politik im ›Zeitalter der Kritik‹
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lerdings – wenn auch nicht ausschließlich, so doch primär – auf der Auswertung von einzelnen Predigten oder Predigtsammlungen ruhen. Den schon vorliegenden Studien verdanken freilich die unmittelbar folgenden Ausführungen ausgesprochen viel. Zugleich beabsichtigen sie in ihrer bestimmten Wendung der aufgegebenen Themenstellung und durch Heranziehung von protestantischen Zeugnissen der homiletischen Theoriebildung, zu jenen ergänzend und gelegentlich auch diskutierend hinzuzutreten.
2.
Beobachtungen
Nehmen wir unseren Ausgang dazu bei der Person, für die der Anspruch erhoben werden kann, »die erste aufklärerische Homiletik im deutschsprachigen Raum geschrieben zu haben«, in welcher sich das Engagement ihres Verfassers »im Vorzeichen eines aufklärerischen Normenwandels« niederschlägt.29 Die Rede ist von Johann Christoph Gottsched, der anonym seinen Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen 1740 in erster und bereits 1743 in zweiter Auflage vorlegt. In Anspielung auf den Entstehungskontext – eine Kabinettsordre des preußischen Königs zur qualitativen Hebung der homiletischen Ausbildung von Anfang März 1739 – stellt Gottsched gleich eingangs das obrigkeitliche Engagement in Predigtangelegenheiten in den größeren Kontext herrschaftlicher Gesamtverantwortung: Jene Kabinettsordre seiner Majestät bezeuge »eine höchstrühmliche und recht landesväterliche Sorgfalt für das ewige Heil ihrer Unterthanen«.30 Schließlich hänge nicht weniger als die »zeitliche und ewige Glückseligkeit der Christen« von der Predigt ab, die im wahren Glauben zu unterrichten und zu gottgefälligem Leben anzuleiten hat.31 In ihrer Bedeutung für zeitliche wie ewige Glückseligkeit unterstrichen, muss das Predigtinstitut von geradezu natürlichem Interesse für politische Verantwortungsträger sein; dieses Interesse nicht zu haben oder zu zeigen, wäre eben auch nicht »recht landesväterlich«. Aufgrund seiner Bedeutung auch für die zeitliche Wohlfahrt hat sich der seiner Verantwortung insgesamt bewusste Prediger als gerade »öffentlicher 29 Andres Straßberger: Einleitung, in: Johann Christoph Gottsched (Anonymus): Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, nach dem Inhalt des königl. preuß. allergnädigsten Befehls, vom 7 März des 1739 Jahres, entworfen […], mit einem Vorwort von Andres Straßberger (Christian Wolff Gesammelte Werke Bd. 151), Hildesheim u. a. 2017, S. 5–50, hier: S. 7f. 30 Vorrede des Verfassers, in: Johann Christoph Gottsched (Anonymus): Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, nach dem Inhalt des königl. preuß. allergnädigsten Befehls, vom 7 März des 1739 Jahres, entworfen […], Berlin 21743, S. 1. 31 A. a. O., S. 1f.
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Lehrer« seinerseits »des guten Vortrags, vor allen Dingen aber der Deutlichkeit, und sodann einer, so viel als möglich ist, überzeugenden und eindringenden Lehrart« zu befleißigen.32 Das stellt unter den zeitgenössischen Bedingungen zwar eine besondere Herausforderung dar, ist doch »in unsern Tagen durch den besondern Fleiß vieler gelehrten Männer, in allerley Wissenschaften und freyen Künsten, ein großes Licht aufgegangen«.33 Von den daraus resultierenden Anfechtungen der Religion profitieren allerdings nicht zuletzt die Prediger: »Selbst die Feinde der Offenbarung, haben nach ihrer Art ein vieles dazu beygetragen. Denn indem sie die Wahrheit und Gewißheit der Christlichen Religion aufs schärfste angefochten, haben sie die Lehrer des Glaubens behutsamer gemacht und ihnen Anlaß gegeben, auch die Waffen der Vernunft hervor zu suchen«.34 Daher ist nichts »bey solcher Beschaffenheit unserer Zeiten nöthiger, als eine deutliche, überzeugende und rührende Art des Vortrags in den öffentlichen Versammlungen der Christen: wofern man nicht die Wahrheit ihren Feinden Preis geben, und den Spöttern unsrer Zeiten, bey aller ihrer Unvernunft, den völligen Sieg über die Religion einräumen will«.35 Nur mit den Waffen der Vernunft kann die Predigt dem gelehrten Druck von außen zum zeitlichen und ewigen Wohl der Untertanen standhalten, weshalb der Befehl Friedrich Wilhelms I. als Ausdruck seines Pflichtbewusstseins nach Gottsched in genau die richtige Richtung zielt, wenn der die Ausbildung der Prediger in den Blick nimmt.36 Die begrüßenswerte Absicht des Königs zum Besten auch der zeitlichen Wohlfahrt kommt in Anbetracht der scharfen Religionskritik zum rechten Zeitpunkt, zumal man »den verderbten Geschmack, der im vorigen Jahrhunderte in der weltlichen Beredsamkeit geherrschet, auch auf die Kanzel gebracht, und die abgeschmacktesten Erfindungen verwirrter Köpfe zur Erbauung der Gemeine GOttes anwenden wollen«.37 In der Tat markiert die Erbauung den Hauptzweck jeder vernünftigen Predigt, wobei Erbauung den »Begriff eines Unterrichts in den geoffenbarten Wahrheiten, und einer Aufmunterung zur Erfüllung der Christenpflicht« umfasst.38 »Wer nämlich so prediget, daß seine Zuhörer mit einem erleuchtetern Verstande, und mit einem festern Vorsatze, fromm und christlich zu leben, aus der Versammlung nach Hause gehen; der predigt erbaulich«.39 Verstand und Sittlichkeit sind demnach gleichermaßen anzusprechen und zu fördern. 32 33 34 35 36 37 38 39
A. a. O., S. 3. A. a. O., S. 5. A. a. O., S. 5f. A. a. O., S. 6f. A. a. O., S. 7. Gottsched (Anonymus): Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, S. 20. A. a. O., S. 22f. A. a. O., S. 23.
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Daraus folgt, dass ein Prediger zum Zwecke der Erbauung »den Verstand seiner Zuhörer von dem, was er noch nicht weis, zu unterrichten, und von dem, was er schon weis, mehr zu überzeugen«, dass er zudem »den Willen seiner Zuhörer theils vom Bösen abzuziehen, theils zum Guten zu lenken« hat40. Das setzt notwendig voraus, dass »der Gegenstand eines evangelischen Redners, nämlich seine Zuhörer, Menschen sind, die Verstand und Willen haben«.41 Dabei ist der den Willen lenkende Verstand vorzustellen als »eine Gemüthskraft, womit man sich eine Sache deutlich vorstellet, davon urtheilet, und vernünftige Schlüsse macht«.42 Er ist folglich im Zuge der Predigt als Quell vernünftiger Erkenntnis anzusprechen, und zwar im Einklang mit der Offenbarung, die voraussetzt, »daß derjenige, dem sie gegeben wird, eine vernünftige Creatur sey«.43 »Ohne die Vernunft würden wir ja die Offenbarung weder verstehen noch nutzen können«.44 Entsprechend muss und wird die vernunftbegabte Zuhörerschaft den Urteilen des Predigers nicht blindlings folgen, im Gegenteil: Will ein »evangelischer Lehrer hier thun, was seines Amts ist, […] so muß er seinen Zuhörern nichts vortragen, was er ihnen nicht gründlich beweiset«.45 Seine Beweisführung muss wiederum auf zweierlei ruhen, nämlich auf Vernunft und Erfahrung, um seine Schlüsse »nach den Regeln der Vernunftlehre so überzeugend und nachdrücklich zu machen […], daß ein jeder, der ihn höret, davon überführet werde«.46 »Nun hat der Mensch einen Willen, der sich nicht ohne Beweggründe zum Thun und Lassen entschließt«.47 Zugleich ist es »Pflicht evangelischer Lehrer, auch den Willen seiner Zuhörer durch kräftige Bewegungsgründe anzugreifen«.48 Folgerichtig geht es der zur tugendbefördernden Beeinflussung des Willens auf Vernunft und Erkenntnis angelegten Predigt darum, zum Vorteil der Gemeinde »in ihrem Verstande, so zu reden, ein helles Licht anzuzünden«49, also »blinden Köhlerglauben« um der zeitlichen und ewigen Glückseligkeit des Publikums willen durch schlüssige Beweisführung zu verhindern.50 »Der menschliche Verstand ist nämlich von Natur so geartet, daß er nichts ohne Ursache für wahr nimmt«.51 Daher ist es »unumgänglich nöthig, daß ein evangelischer Redner […] 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
A. a. O., S. 24. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 25. A. a. O., S. 211. A. a. O., S. 27. A. a. O., S. 28. A. a. O., S. 34. A. a. O., S. 35. A. a. O., S. 30. A. a. O., S. 31. A. a. O., S. 204.
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Hindernisse einer völligen Ueberzeugung […] aus dem Wege räume«.52 Gerade dazu müssen sie »in der Vernunftlehre und der Redekunst geübt seyn«.53 Wo die so zu schulende Überzeugungsarbeit des Predigers ohne Frucht bleibt, »wird man die schönsten Sittenlehren tauben Ohren vorpredigen«54; sind aber Verstand und Wille der Zuhörenden im »Namen einer gesunden Vernunft«55 erst mal gewonnen, werden sie nicht nur glauben, sondern auch wissen, »daß die Ausübung der christlichen Sittenlehre, möglich, nützlich, leicht, angenehm, billig und nothwendig sey«.56 Das heißt dann erfolgreich »Moral predigen«.57 Somit »ist es denn gewiß, daß ohne Beweisgründe und Ursachen keine Ueberredung, keine Erbauung statt finden könne«.58 Die »bündige[n] und scharfschlüßende[n] Beweise«59 wiederum sind »nach den Regeln der Vernunftlehre« einzurichten, um einerseits »die schärfste Prüfung eines geübten Weltweisen« aushalten zu können60 und andererseits »beweglich zu predigen«.61 Schließlich gilt es, sich predigend »mit allem möglichen Fleiße um die Erkenntniß der menschlichen Gemüther« zu bemühen62 – denn die Bekehrung der Menschen als »vernünftige Geschöpfe«63 folgt »erst der sattsamen Erleuchtung des Verstandes nach; und an dieser muß oft so lange gearbeitet werden, ehe man das Herz gewinnen und lenken kann«.64 Nun gehört Gottsched zu den langjährigen Korrespondenz- bzw. Gesprächspartnern eines Theologen, dessen erheblicher Rang in der Geschichte der homiletischen Theoriebildung genauso unstrittig ist wie sein herausragendes Talent als Prediger, der sich also Theorie und Praxis gleichermaßen verpflichtet wusste und in beiden Bereichen schon unter Zeitgenossen einen außerordentlichen Ruf genoss: Johann Lorenz von Mosheim. Dieser »zweifellos bedeutendste Prediger der Übergangszeit«65, dem zugleich aufgrund seiner homiletischen Leistung u. a. der Titel des »Bahnbrecher[s] der modernen Predigt« zugesprochen wurde66, 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66
A. a. O., S. 32. A. a. O., S. 44. A. a. O., S. 35. A. a. O., S. 64. A. a. O., S. 35. A. a. O., S. 274. A. a. O., S. 205 A. a. O., S. 218. A. a. O., S. 216. A. a. O., S. 275. A. a. O., S. 284f. A. a. O., S. 306. A. a. O., S. 288. Beutel: Art. Predigt. VIII., S. 306. So der Titel von Martin Peters: Der Bahnbrecher der modernen Predigt Johann Lorenz Mosheim in seinen homiletischen Anschauungen dargestellt und gewürdigt. Ein Beitrag zur Geschichte der Homiletik, Leipzig 1910.
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nahm Gottscheds Grundriß in dessen »Ausrichtung der homiletischen Theorie auf aufklärungsphilosophische Prämissen«67 nachweislich zur Kenntnis.68 Umgekehrt verweist Gottsched in seiner Homiletik wiederholt auf die gedruckten Predigten Mosheims.69 Dieser hielt in umfassender Kenntnis fremdsprachiger Literatur auch selbst Vorlesungen zur Predigtlehre, die dann posthum Christian Ernst von Windheim, der Schwiegersohn und Schüler des Göttinger Kanzlers, in Gestalt eines homiletischen Lehrbuchs unter dem Titel Anweisung erbaulich zu predigen herausgab. 1763 in erster, 1771 in zweiter Auflage und 1773 noch einmal in Auszügen erschienen, kommt dem Werk »ganz unzweifelhaft in der Geschichte der Homiletik eine überragende Bedeutung zu«.70 Mosheims Anweisung beginnt mit begriffsdefinitorischen Klärungen: »Eine Predigt ist eine Rede, worin nach Anleitung eines Stückes der heiligen Schrift, eine Versammlung solcher Christen, die schon in den Gründen der Religion unterwiesen ist, theils in der Erkenntnis soll befestiget, theils zum Fleisse in der Gottseligkeit erwecket und ermuntert werden«.71 So soll die Predigt diejenigen, »so die Gründe der Religion schon gefasset haben, weiter bringen, sie darinnen mehr fest setzen, und erbauen«.72 Sie richtet sich demnach an Fortgeschrittene mit dem Ziel der religiösen und sittlichen Progression. Dabei wird das Wesen der Predigten als »Kanzelreden […] durch den Endzweck derselben bestimmt. Dieser ist […] die Unterrichtung und Erweckung oder Ermahnung des Volkes«.73 Jene Unterrichtung wiederum zielt darauf, dass das durch Katechese bereits grundsätzlich informierte Publikum »in der Erkenntnis mehr gegründet und befestiget«74 wird, und damit »auf den Verstand« des Publikums.75 Dagegen 67 Straßberger: Einleitung, in: Gottsched (Anonymus): Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, S. 45. Vgl. dazu umfassend Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik (Beiträge zur historischen Theologie Bd. 151), Tübingen 2010, S. 235–286. 68 Vgl. Straßberger: Einleitung, in: Gottsched (Anonymus): Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, S. 48f. m. Anm. 82. 69 Vgl. zum Beispiel Gottsched (Anonymus): Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, S. 178, 240, 261f. 70 Dirk Fleischer: Predigtdienst und Gegenwartsbezug. Johann Lorenz von Mosheims Verständnis christlicher Verkündigung, in: Johann Lorenz von Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen. Aus den vielfältigen Vorlesungen des seeligen Herrn Kanzlers verfasset und zum Drucke befördert von Christian Ernst von Windheim, neu herausgegeben und eingeleitet von Dirk Fleischer (Wissen und Kritik Bd. 12), Waltrop 1998, S. 1–105, hier: S. 5. 71 Johann Lorenz von Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen. Aus den vielfältigen Vorlesungen des seeligen Herrn Kanzlers verfasset und zum Drucke befördert von Christian Ernst von Windheim, Erlangen 1763, S. 1. 72 A. a. O., S. 6. 73 A. a. O., S. 7. 74 A. a. O., S. 12.
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wollen Erweckung und Ermahnung den »Willen der Zuhörer«76 bessernd beeinflussen. Die doppelte Zielrichtung der Predigt – auf den Verstand zwecks Erkenntniserweiterung oder -festigung und den Willen zwecks sittlicher Hebung – nennt auch Mosheim »mit einem Worte die Erbauung«.77 Während zur Erbauung die Erkenntnis durch Unterrichtung »weitläufiger, klärer, richtiger, gewisser und gründlicher« werden soll, sollen die Zuhörenden durch Erweckung und Ermahnung bewegt werden, »daß sie den Willen fassen, entweder sich zu bekehren, oder wenn sie schon bekehret sind, in der Gottseeligkeit und Heiligkeit fortzufahren«.78 Sollen aber Verstand und Wille gleichermaßen angesprochen und vorangebracht werden, kann und darf der Prediger sein Publikum freilich weder langweilen noch bedrohen. Vielmehr muss er bei Beachtung einer »vernünftige[n] Sammlung von Regeln« durch den »Vortrag der Glaubens und Lebenslehren« die Hörenden dahin bringen, dass sie der Predigt »gerne ihre Aufmerksamkeit schenken«.79 Die »Definition einer auf ›Erbauung‹ ausgerichteten Predigt als dem eigentlichen Zentralthema der homiletischen Reflexion, die weiterhin konstant als Belehrung des Verstandes und Bewegung des Willens unter rhetorischen Vorzeichen aufgefaßt wurde«80, erweist sich damit als die große Gemeinsamkeit zwischen Mosheims und Gottscheds Predigtlehre. Das beste Mittel zur Erregung und Bindung von Aufmerksamkeit ist nun nach Mosheim die Ernstnahme der Anwesenden als die, die sie sind: »Wir haben es mit Menschen, mit vernünftigen freyen Wesen, zu thuen«.81 Allerdings sind die Menschen, obgleich oder gerade weil vernünftig und frei und insofern mündig, allermeist mit ihren Alltagsgeschäften befasst und haben daher nicht die zeitlichen Ressourcen, sich eigenständig und intensiv in die Heilige Schrift zu vertiefen.82 Und wer »die Welt und die Menschen kennet, weiß auch, daß dem einen der Wille, dem anderen das Vermögen fehlet, sich selbst zu erbauen, und im Guten zu stärken«.83 Daher haben alle, »welche die Lehre Christi bekennen, […] eines Unterrichtes und einer Ermahnung nöthig«.84 Mit dieser »Nothwendigkeit eines allgemeinen und öffentlichen Unterrichtes«85 ist dann die Pflicht des Predigers genauso benannt wie seiner schwerlich zu überschätzende Verantwortung gegenüber seinem vernünftigen Publikum. Angesichts dessen war die »geistliche 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85
A. a. O., S. 13. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 14. A. a. O., S. 17. Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt, S. 285. Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, S. 22. A. a. O., S. 25f. A. a. O., S. 25. A. a. O., S. 24. A. a. O., S. 26.
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Beredsamkeit nach den Regeln der gesunden Vernunft, und nach den Grundsätzen der wahren Beredsamkeit einzurichten«86, worauf man einst kam, nachdem »wir angefangen haben, die Predigten der Franzosen und der Engländer zu übersetzen«.87 Konkret heißt das für die Vermittlungsebene, dass man im Zuge der Nutzanwendung »die Lehre, die man aus der Predigt ziehet, mit klaren und deutlichen Worten vortragen«88 muss und »auch in der Masse […] Vernunftgründe gebrauchen«89 kann, um den vernünftigen und freien Menschen einsichtig zu machen, »wie sie es anfangen müssen, wenn sie diese oder iene Tugend sich angewöhnen sollen«.90 Es geht Mosheim folglich darum, mit Vernunftgründen und in einleuchtender Weise den Vernünftigen den Weg zu weisen, »wie man in den Besitz der Tugend gelangen könne«, denn ein jeder Mensch, »in welchem ein fester Vorsatz soll gewirket werden, muß durch vernünftige und starke Gründe dazu gebracht werden«.91 Der Prediger hat demnach vor allem eines zu leisten, nämlich Überzeugungsarbeit an eigenständigen vernunftbegabten Geistern, denen letztlich mittels der Kanzelrede unter Wahrung und Achtung ihrer Freiheit Anlass zur moralischen Selbstprüfung gegeben werden soll.92 »›Aufklären‹ und ›Erbauen‹ heissen die beiden Ziele«93, denen sich Mosheims Anweisung verpflichtet weiß. Insofern werden Predigten nach ihr »zugleich Voraussetzung, Teil und Artikulation frühbürgerlicher Emanzipation«, was sie zu Motoren »der Herstellung einer neuen religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Identität« werden lässt.94 Dieselbe Stoßrichtung verfolgt in bemerkenswerter Überbietung ein nicht minder einflussreicher homiletischer Entwurf: Johann Joachim Spaldings Schrift Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung erlebte zwischen 1772 und 1791 drei Auflagen und wirkte auf dem Feld der Prägung prominenter literarischer Gestaltungen von Pfarrfiguren genauso wie auf dem der Predigtlehre.95 »Indem sie als Homiletik eine Aufklärungsschrift und zugleich als Apologie eine Erbauungsschrift darstellt, hat sie bereits in ihrer Zeit die Auf86 87 88 89 90 91 92 93
A. a. O., S. 82. A. a. O., S. 314. A. a. O., S. 321f. A. a. O., S. 322. A. a. O., S. 324. A. a. O., S. 325. A. a. O., S. 336f. Karl Heussi: Johann Lorenz Mosheim. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Tübingen 1906, S. 111. 94 Fleischer: Predigtdienst und Gegenwartsbezug, S. 37f. 95 S. dazu die Einleitung, in: Johann Joachim Spalding: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 31773; 31791), hg. v. Tobias Jersak (Kritische Ausgabe, 1. Abt., Bd. 3), Tübingen 2002, S. XVII–XXX, hier: S. XXVII–XXX. Die folgenden Zitate richten sich nach dem gebotenen Text der zweiten Auflage.
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klärung weit mehr befruchtet und rezipiert, als dies später vor allem im theologischen Bereich wahrgenommen wurde«.96 Dabei äußert sich ihre Ausrichtung an bestimmten Aufklärungsprogrammen schon im Titel: »Die Häufung von Untersuchungen zur Nutzbarkeit wurzelte im zeitgenössischen Denken, in dem die Vernunft sich von überkommenen Ansichten selbstständig zu machen suchte. Die Feststellung der Nutzbarkeit verschaffte dem Untersuchungsobjekt somit zugleich eine vernunftgemäße Legitimation«.97 Vor diesem Hintergrund wendet sich Spalding also dem Predigtamt zu und formuliert grundsätzliche Erwartungen an den idealiter genauso aufgeklärten wie aufklärenden Prediger: »Zu wünschen und auch zu fordern wäre es, daß er, als Gelehrter, von diesem seinem Namen Ehre hätte, daß er zuvorderst die Religion, die er lehren will, hinlänglich in ihren Quellen und Gründen studiert hätte, um so wohl selbst seiner Sache gewiß zu seyn, als auch bey andern den mancherley Zweifeln und Einwendungen, die er doch unstreitig zu unsern Zeiten häufiger, als sonst, erwarten muß, mit dem guten Erfolge einer einleuchtenden Ueberzeugung zu begegnen.«98 Zusätzlich könnten »auch würdige Kenntnisse von anderer Art nicht wenig dienen, ihn zu einem geachteten Gliede des gelehrten Reichs sowohl als der bürgerlichen Gesellschaft zu machen.«99 Gebricht es dem Prediger jedoch an Bildung, Überzeugungskraft sowie Menschenkenntnis und darüber an Integrationspotenzial in die bürgerliche Gesellschaft, »so bedaure ich nicht allein ihn, wegen der Figur, die er alsdenn in dem Urtheile der Aufgeklärteren macht, sondern ich bedaure auch mit einem noch empfindlicherem Schmerze den Schaden der Religion, der ihr so leicht aus diesem Urtheile zuwächst.«100 Das kritische Urteil der Aufgeklärteren hat der Prediger demnach maßgeblich mit zu bedenken und sich entsprechend aufzustellen, wenn er als delegierter Repräsentant einer Religionsgemeinschaft in Gestalt einer besonders verfassten »Gesellschaft von Menschen« als mündigen Subjekten101 auf die Kanzel tritt. Nicht nur durch seine Selbstbildungsanstrengungen, sondern auch durch die vernünftige Ausgestaltung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse müssen sich die Prediger als »sehr verdiente Bürger des Staats« erweisen102, um ihrer Aufgabe nach den Vorstellungen der Zeit gleichermaßen verantwortbar wie vorbildlich gerecht zu werden. »Bey dem allem aber bleibt doch Eines die Hauptsache des Predigers und sein eigentliches Werck; er soll Religion und Glückseeligkeit leh96 97 98 99 100 101 102
A. a. O., S. XVII. A. a. O., S. XIX. A. a. O., S. 42f. A. a. O., S. 44. A. a. O., S. 43. S. dazu a. a. O., S. 51–55. A. a. O., S. 49.
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ren«103, und das heißt konkret, »an der Ausbreitung der Erkenntniß und Ausübung der Religion bey andern zu arbeiten«.104 Diese anderen wiederum finden »den beständigen Unterricht darin für sich und die Ihrigen unentbehrlich. Ich glaube, dies ist nicht Schwärmerey, sondern klare Vernunft. […] So wird der Unterricht in der Religion bey einer jeden menschlichen Gesellschaft, die Religion hat, unumgänglich nothwendig«.105 Anders gewendet: Den Predigern wird von der religiösen Gesellschaft aufgetragen, »eine ganze Menge weiser, besser und glücklicher zu machen; und diese Menge, das sind ihre Brüder, von Gott geliebte, mit der Fähigkeit zur Vernunft begabte, zur Ewigkeit erschaffene, von Jesu Christo erlösete Menschen. Diese erwarten von ihnen ihr wesentliches Wohl«.106 Der Prediger hat es daher mit einer natürlichen, weil existenziell bedeutsamen Erwartungshaltung der zur Vernunft befähigten Gesellschaft zu tun, aus der sowohl seine Daseinsberechtigung resultiert als auch seine Verantwortung. Denn die mündigen Mitglieder der religiösen Gesellschaft übertragen es dem Prediger, »sich der Erhaltung, Ausbreitung und Einschärfung der Religion, dieser Grundlage ihrer wesentlichen Glückseligkeit, in ihrer Gesellschaft anzunehmen, die Lehren dieser Religion bey der Menge einleuchtend und thätig zu machen, und ihnen, ohne Ausschließung ihrer eigenen gemeinschaftlichen Bemühungen, auf diese Art ungehinderter und vollständiger zu den Vortheilen zu verhelfen, die sie, als die wichtigsten für die menschliche Natur, ansehen. Da ist also der Prediger; und da ist auch schon in so weit seine Nutzbarkeit.«107 Kurzum: »Die genuine Aufgabe des Predigers, stellt er (scil. Spalding, C.W.) fest, liege darin, daß er seine Hörer zur Wahrnehmung ihrer eigenen religiösen Identität anleiten soll«108, und zwar unter Ernstnahme und gleichzeitiger Beförderung ihrer religiösen Mündigkeit in und durch Verkündigung. Diese ist somit gesellschaftstheoretisch und religionspraktisch begründet und verbietet deswegen jede religiöse (Selbst-)Überhöhung des Predigtamtes. Zwar hat die »gesetzgebende Macht«, der sich die religiöse Gesellschaft qua »bürgerliche[r] Verfassung« ein- und unterordnet, das Recht zu prüfen, »ob die Lehren dieser Religion mit der gesellschaftlichen Ordnung und Wohlfahrt, als dem einzigen Zwecke eines jeden Staats bestehen können«.109 Doch markiert die Behebung eventueller Schädigungen von Ordnung und Wohlfahrt »die äusserste Gränze aller irdischen Gewalt in Ansehung der Religion. Die Bekenner von dieser 103 104 105 106 107 108 109
A. a. O., S. 50. A. a. O., S. 51. A. a. O., S. 52. A. a. O., S. 123. A. a. O., S. 53. Beutel: Spalding, S. 228. Spalding: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes, S. 54.
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behalten das Recht, nicht allein sie zu glauben, sondern sich auch darin unterrichten zu lassen; ein Recht, welches schlechterdings unveräusserlich und von einer unverletzlichen Heiligkeit ist«.110 Ganz unter dem Eindruck der staatsphilosophischen und religionsrechtlichen Annahmen und Debatten der Zeit ist damit das Predigtamt im Sinne seiner Nutzbarkeit für die »bürgerlich unschädliche Religion«111 als Teil der bürgerlichen Gesellschaft gegen obrigkeitliches Diktat oder staatliche Willkür abgesichert. Mehr noch: Die Mitglieder der religiösen Gesellschaft können »mit dem billigsten Grunde von dem Staate, unter welchem sie leben, fordern, daß sie (scil. die unschädliche Religion, C.W.) ihnen gelassen werde, daß ihnen auch die Gelegenheit und Mittel gelassen werden, sich darin zu unterrichten und zu befestigen, daß ihnen folglich Personen gelassen werden, die sie, als Lehrer dieser unschädlichen Religion, für sich nutzbar und nöthig achten«.112 Unter diesen Voraussetzungen ist es dem Prediger nach dem Entschluss der ihn beauftragenden Gesellschaft aufgetragen, seinem Publikum religiöse Gehalte einleuchtend zu machen und es moralisch nach den Maßgaben der Religion anzuspornen. Daraus ergibt sich dann nach Spalding die politische Relevanz des Predigtamtes. Schließlich sind die Geistlichen gerade als predigende Vermittler religiöser Moral »die eigentlichen Dispositairs der öffentlichen Moralität. Sonst ist noch auf keinerley Art in wirklichen verordneten Einrichtungen dafür gesorget, daß die Menschen Tugend lernen und Tugend behalten«.113 An der zweckmäßigen Erledigung der Aufgabe des Predigtamtes muss somit auch der Staat ein erhebliches Interesse haben, zumal ja »keine bürgerliche Gesellschaft ohne Moralität glücklich bestehen kann. […] Wenn also zum Besten des Staats Tugend nöthig ist, so sind auch alle diejenigen für denselben nützliche Menschen, welche die Tugend allgemeiner und wirksamer machen helfen«114, weiß Spalding in seiner Homiletik selbstbewusst zu konstatieren. Schließlich wird ein Volk, das in wohlfahrtsförderlicher und ordnungsstabilisierender Moral und Tugend durch den Prediger unterrichtet und deshalb »mit solchen Vorstellungen familiarisiert« ist, das sie also »als sich selber angemessen, als seine eigene Angelegenheit, erkennen lernet, […] allemahl leichter und besser zu regieren seyn«.115 Bei allen noch so aufwendigen Selbstinszenierungen des Staates zwecks Begeisterung der Bürger für sich und seine Ziele ist jedenfalls nicht zu vergessen, »daß der Mensch natürlicherweise Wahrheit sucht, und sich immer wieder, so viel er kann, auf die Wahrheit zurückwirft. Er wird wissen wollen, 110 111 112 113 114 115
A. a. O., S. 55. A. a. O., S. 56. Ebd. A. a. O., S. 70. A. a. O., S. 65. A. a. O., S. 66.
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worauf diese ganze stürmische Begeisterung sich gründet und wohin sie führet?«116 Aufrichtige Staatsbegeisterung setzt nicht nur sinnlich beeindruckende Inszenierung voraus, sondern verlangt innerliche Überzeugung; »so ist Belehrung der Vernunft nöthig, so sind erleuchtende Erkenntnisse nöthig«117 – und deren Vermittlung und religiöse Fundierung obliegt dem Prediger. Zu diesem Ziel muss er als »der wahre Sittenlehrer« und »Tugendlehrer« in der Lage sein, »sich schon der Gemüther so bemächtigen« zu können, »daß er die Triebe zu handeln auf eine festere Grundlage bauet, gerader leitet, und ihnen doch an ihrer Stärke nichts benimmt. So läßet sich die Tugend lehren; so lassen sich Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Menschenliebe, treuer Fleiß im Eigenen, Sorgfalt für das gemeine Wesen, zu lebendigen und thätigen Principien in den menschlichen Seelen machen, welche das Wohl der Gesellschaft unterstützen und erhöhen, indem sie dem Handelnden selbst Zufriedenheit und Vortheile schaffen«.118 »Lasset uns also die Prediger als bestellte Sittenlehrer ansehen, in so ferne sie auf die bürgerliche Gesellschaft eine eigene Beziehung haben. Es wird leicht zu zeigen seyn, daß sie sehr gut im Stande sind, ihr diesen Dienst zu leisten«, denn die »Lehre der Religion ist zugleich Lehre der Tugend. Die Religion ist Tugend um Gottes Willen«.119 Eben deshalb ist die Annahme völlig irrig, »daß die Lehrer der Religion […] auch nichts anderes lehren müßten, als was unmittelbar diesem gemeinen Wesen in seiner zeitlichen Verbindung zum Nutzen gereicht«.120 Ganz im Gegenteil: In erster Linie ist der Prediger als bestellter Sittenlehrer dem Bedürfnis der religiösen Gesellschaft nach Unterricht in der glückseligmachenden Wahrheit durch »Belehrung, […] Rath, […] Erweckung«121 verpflichtet. Daraus ergeben sich dann erst jene »lebendigen und thätigen Principien« als Zeugnis einer »thätige[n] gute[n] Gesinnung«122, die die vernunftbegabten Mitglieder der religiösen Gesellschaft als kritische Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft durch »Unterwerfung unserer Triebe unter die Oberherrschaft der Vernunft«123 zu aufgeklärten Untertanen des Staates macht. Wenn nun umgekehrt »der Regente sieht, wie er es vernünftiger Weise sehen muß, daß eben diese Lehren der Religion einen so sichtbaren Einfluß auf das Beßte seines Volkes haben, und daß folglich diejenigen Personen, welche mit diesem Unterrichte beschäftiget sind, durch die daraus entstehende Bildung der Denkungsart und 116 117 118 119 120 121 122 123
A. a. O., S. 67. Ebd. A. a. O., S. 69. A. a. O., S. 70. A. a. O., S. 86. A. a. O., S. 87. A. a. O., S. 126. A. a. O., S. 127.
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der Sitten einen so gemeinnützigen Vortheil schaffen, so ist es natürlich, […] daß er es gerne sehe, durch sie gute Verehrer Gottes zu haben, damit er desto bessere Bürger habe«.124
3.
Überlegungen
Nicht anders als im Falle Gottscheds und Mosheims war die »Wirkung, die Spalding auf die Predigtpraxis und -theorie seiner Epoche ausübte, […] durchaus erheblich«.125 So lassen sich die Ergebnisse unserer exemplarischen Beobachtungen wie folgt zusammenfassen: Prominente Beispiele protestantischer Predigtlehre des 18. Jahrhunderts setzen ganz grundsätzlich und selbstverständlich auf ein mündiges, vernunftbegabtes und daher urteilsfähiges Publikum des zur (Selbst-)Aufklärung verpflichteten Predigers. Es lauscht ihm – wenn es denn überhaupt Interesse zeigt – meist kritisch und muss deshalb für die in der Predigt entfaltete Botschaft erst gewonnen werden. Das gelingt nur, wenn Verstand und Wille der Hörenden als vernünftigen und freien Menschen im Zuge der Verkündigung gleichermaßen angesprochen und im Sinne christlicher Sittlichkeit und Tugend gleichsam in Bewegung gesetzt werden. Darauf hat sich der Prediger durch umfassende Bildung seiner selbst und rhetorischen Schliff seiner Ausführungen einzustellen, um sich in die Lage zu versetzen, auf angemessenem Niveau die notwendige Überzeugungsarbeit zu leisten. Aber es gilt inhaltlichargumentativ nicht nur, den kritisch Lauschenden Angemessenheit und Richtigkeit des Verkündeten deutlich und nachvollziehbar zu machen; es müssen schon aus seelsorgerlicher Verantwortung auch diejenigen zu einem moralisch der christlichen Botschaft angemessenen und somit tugendhaften Leben bewegt werden, die zwar über eine grundlegende religiöse Vorbildung verfügen (müssten), es aber an Intellekt und/oder Interesse fehlen lassen. Denn unabhängig von ihren Voraussetzungen oder Begabungen sind auch sie frei, vernünftig, urteilsfähig – und deshalb überzeugungsbedürftig. Die doppelte Zielrichtung der nach den vorgestellten Homiletiken erbaulichen Predigt auf Verstand und Wille ist dabei die conditio sine qua non für eine Verkündigung, die in Konkurrenz mit anderen Medien sowie Optionen der Meinungsbildung die Wahrheit des Christentums gegen zeitgenössische Infragestellungen in überzeugender Weise behaupten und zugleich ihren Wert für die Gesellschaft insgesamt herausstellen will und muss. Das Publikum ist als eine Versammlung von mündigen Bürgern anzusprechen, denen neben der gottesdienstlichen Verkündigung andere Informationsquellen zur Verfügung stehen 124 A. a. O., S. 87f. 125 Beutel: Spalding, S. 231.
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und die unbenommen ihrer Heterogenität in Fassungsvermögen, Bildung oder Interesse gleichwohl möglichst flächendeckend zu christlicher Moral und bürgerlicher Tugend anzuleiten sind. Damit sind Pflicht und Verantwortung des Predigers gleichermaßen benannt, der als aufgeklärter Bürger seine urteilsfähige Gemeinde ihrerseits über ihre Christen- und Bürgerpflichten so aufzuklären hat, dass ihr ihre Verantwortung für einzelne Mitmenschen und die ganze Gemeinschaft einleuchten. Christliche Überzeugung äußert sich eben in tugendhaftem Verhalten, das am Nächsten und im bürgerlichen Untertanenverband tätig ist. Beides scheint sich nicht trennen zu lassen, im Gegenteil: Die Predigt ist wesentliches Instrument der Installation und Aufrechterhaltung christlich-bürgerlichen Gemeingeistes, der nur dann nachhaltig vermittelt und dauerhaft wirksam werden kann, wenn die vernunftbegabten Predigthörenden in Verstand und Wille durch die Kanzelrede angesprochen und überzeugt werden. So kommt der Predigt in der homiletischen Reflexion der Zeit auch politisch eine eminent ordnungsstabilisierende Bedeutung zu. Genau deshalb gebühren ihr Wertschätzung und Schutz durch die Obrigkeit bzw. durch die politischen Verantwortungsträger, die sich gerade damit als vernünftige Regenten erweisen. Doch das ist bei aufmerksamer Betrachtung nur die eine Seite: Untergründig schwingen unverkennbar Wahrnehmungsmuster, Grundannahmen und Semantiken mit, die auf die eingangs skizzierten ideen- und kulturgeschichtlichen Verschiebungen sowie deren politische Konsequenzen verweisen, die Koselleck in die Rede von »Kritik und Krise« gefasst hat. Der homiletische Befund wäre keineswegs überstrapaziert, zöge man ihn heran als ein Indiz – nicht mehr, aber auch nicht weniger – für die politische Ambivalenz bestimmter Ermündigungsprogramme, die im Laufe 18. Jahrhunderts zu den einschlägigen kulturellen Transformationen und gesellschaftlichen Umbrüchen führen sollten. Dass sich die versammelte Gemeinde unabhängig von Bildung und Auffassungsvermögen aus freien und urteilsfähigen – kurz: kritischen – Individuen zusammensetzt, die im Rahmen der mündigen Meinungsbildung nicht mehr ausschließlich auf die sonntägliche Verkündigung gewiesen sind, steht für die angeführten Homiletiken außer Frage. Das Zusammenspiel von vorgefassten Meinungen und alternativen Informationsquellen setzt die kirchliche Verkündigung unter beträchtlichen Legitimationsdruck, sei es aufseiten der Gemeindeglieder mit Blick auf das wirksame Einwirken auf ihre Lebensführung, sei es aufseiten der obrigkeitlichen Verantwortungsträger bezüglich der politischen Bedeutung von Predigt und Kirche für das Funktionieren des bürgerlichen Untertanenverbands. Daraus ergibt sich ja das erhebliche Herausforderungsniveau einer zeitgemäßen und erbaulichen Predigt, die nicht zu oktroyieren hat, sondern in Anbetracht konkurrierender Medien zu überzeugen. Sie kann und darf nicht mit blindem Gehorsam rechnen, der nach Einschätzung der angeführten Predigtlehrer auch gänzlich unreformatorisch wäre, sondern muss sich auf freies
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Desinteresse, abweichende Meinungen und vielleicht sogar kritischen Einspruch einlassen. In Anbetracht dessen ist der Prediger aufgerufen, sich mit umfassender Bildung und rhetorischem Geschick sowie im Bewusstsein der vielfältigen Konkurrenz auf dem Feld der Meinungsbildung in Stand zu setzen, durch differenzierte und einleuchtende Argumentation auf Verstand und Wille des vernünftigen Publikums einzuwirken, nicht etwa durch Drohungen, Einschüchterungen oder Gemeinplätze. Das empfehlen die wirkmächtigen Predigtlehrer und Prediger Gottsched, Mosheim und Spalding dringend. Dazu sind sie freilich allein deshalb in der Lage, weil sie sehr genau wissen, was moralisch gut, wahrhaft tugendhaft und folglich für die Wohlfahrt von Gemeinde und Gesellschaft richtig ist und was nicht. Als selbst mündige und kritische Individuen nehmen sie die Vernunft und Urteilsfähigkeit von Prediger und Publikum an sowie ernst und entfalten vor dem Forum der Öffentlichkeit ihre Konzepte der ordnungsstabilisierenden Aufklärung durch Predigt. Weil sie dabei sehr genau zu benennen wissen, dass und warum die Predigt als religiöse Überzeugungsarbeit in und an bestimmten Versammlungen mündiger Bürger keineswegs zuletzt gut für den Staat ist, bringen sie sich als politisch urteilsfähige Denker in Stellung, die über Inhalte und Formung von Moralität sowie Tugend Auskunft geben und deren Funktion für den bürgerlichen Untertanenverband insgesamt herausstellen. Der Predigt wird so neben ihrer religiösen eine dezidiert politische Dimension zugesprochen, die homiletisch vor dem Hintergrund der kategorischen Ablehnung autoritärer Bevormundung eigens reflektiert wird. Darüber gewinnt dann auch die Predigtlehre einen politischen Charakter, zumal Gottsched, Mosheim und Spalding völlig selbstverständlich auf die Identität der politischen Vorstellungen von gut und schlecht, von nützlich und schädlich mit den ihrigen setzen. Sie sind über die Interessen des Staates nicht im Zweifel und zudem im Bilde darüber, was dessen Wohlfahrt dient. Das teilen sie dem Publikum ihrer Homiletiken auch bereitwillig mit und beanspruchen dabei die mitnichten nur religiöse Deutungshoheit über Tugend und Moral. Und gerade das markiert eine für die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Predigt und Politik bedeutende Veränderung im Vergleich mit vorangegangenen Epochen: In der Predigtlehre schlägt sich nun unter den Vorzeichen von Vernunft und Kritik eine allgemeine Mündigkeitsannahme nieder, die Verstand und Willen gleichermaßen zu Adressaten der erbaulichen Verkündigung erklärt, um Moralität und Tugend zum vernunftgemäß Besten der kirchlichen und staatlichen Wohlfahrt zu fördern. Aufgrund der gezielten Reflexion der politischen Funktion und des gesellschaftlichen Nutzens von Tugendvermittlung und Moralunterweisung durch die Predigt hält gewissermaßen die bürgerliche Emanzipation Einzug in die homiletische Theoriebildung, die die kritische Urteilsfähigkeit voraussetzt und zugleich zwecks erbaulicher Aktivie-
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rung von Verstand und Wille zur vernünftigen Urteilsbildung anleiten will. Dass das wiederum ganz im Sinne der herrschenden Obrigkeit sein müsse, ist den Predigtheoretikern in ihrer Deutungshoheit über Tugend und Moral genauso selbstverständlich wie die Annahme der Notwendigkeit mühevoller Überzeugungsarbeit von der Kanzel aus. Erinnert sei in diesem Zusammenhang exemplarisch an folgende Spitzensätze Spaldings: »Lehre der Religion ist zugleich Lehre der Tugend. Die Religion ist Tugend um Gottes Willen«.126 Die Geistlichen wiederum seien »die eigentlichen Dispositairs der öffentlichen Moralität. Sonst ist noch auf keinerley Art in wirklichen verordneten Einrichtungen dafür gesorget, daß die Menschen Tugend lernen und Tugend behalten«.127 Unter den Voraussetzungen der darin liegenden Geltungsansprüche muss auch das gepredigte Wort vor dem »Gerichtshof der Vernunft« bestehen, die kirchliche Verkündigung kann und darf sich der Kritik nicht entziehen, will sie sich bleibende Geltung verschaffen. Gelingt der Predigt das durch die entsprechenden Leistungen der aufgeklärten und aufklärenden Predigttheoretiker und späterhin der Prediger, wirkt sich das aufgrund des aufgezeigten politischen Nutzens der Predigt zwangsläufig positiv auf die konkrete Ausgestaltung des bürgerlichen Untertanenverbandes als Vollzugsraum zuvor gepredigter Moralität und Tugend aus. Scheitert hingegen die Predigt vor jenem aufklärerisch unumgehbaren Gerichtshof, drohen negative Auswirkung, die unvermeidlich die Funktion und Stabilität der politischen Ordnung tangieren. Das impliziert allerdings auch, dass sich eine Obrigkeit oder ein Staat, die oder der die ordnungsstabilisierende Predigt in ihrer genannten Gestalt und Ausrichtung nicht befördert oder gar behindert, selbst delegitimiert und folgerichtig nicht auf die Unterstützung durch die aufgeklärte und aufklärende Kanzelrede rechnen dürfen. Die Regentschaft erwiese sich in diesem Falle eben als unvernünftig. Zugespitzt formuliert: Eine nach zeitgenössischen Vorstellungen erbauliche und darum »gute« Predigt setzt auf eine ebenso »gute«, weil vernünftige Obrigkeit, in deren Dienst sie sich dann bewusst stellt. Und lediglich eine »gute«, weil der verkündigenden Entfaltung sowie Ansprache von Vernunft, Mündigkeit und Freiheit förderliche Obrigkeit wird von Tugendhaftigkeit und Moralität, wie sie die Predigt religiös verankert und breitenwirksam zu vermitteln verspricht, profitieren und dem kritischen Urteil ihrer Untertanen standhalten können. Wie dagegen eine »schlechte«, eine unvernünftige Obrigkeit handelt und sich auswirkt, dürfte genauso klar sein wie die mindestens potenziell folgenschweren Konsequenzen, die ihre schädliche Herrschaft vonseiten der mündigen Prediger und ihrer vernünftig-tugendhaften Gemeinden zu gewärtigen hätte. Gerade das Wissen darum, was an einer erbaulichen Predigt weshalb Tugendhaftigkeit und 126 Spalding: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes, S. 70. 127 Ebd.
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Moralität fördernd, entsprechend vernunftgemäß und besonders für Staat und Gesellschaft nutzbringend ist, untermauert wiederum die kritische Urteilsfähigkeit der Predigtlehrer selbst, die ansonsten kaum in der Lage wären, auch politisch Nützliches von Schädlichem plausibel zu unterscheiden. Aus derlei Ausdrücken des von Koselleck diagnostizierten Eigengefälles der Emanzipation aufseiten der zur kritischen Urteilsbildung fähigen Untertanen im Kontext einflussreicher protestantischer homiletischer Theoriegestalten des 18. Jahrhunderts ergibt sich selbstredend noch keinerlei umstürzlerische Agitation mittels zeitgenössischer Homiletik. Im Gegenteil: Predigttheorie und -praxis sind zentraler Bestandteil der »gesellschaftsstabilisierende[n] und obrigkeitslegitimierende[n] Funktionalisierung des Pfarramtes in Zeiten des aufgeklärten Absolutismus«, in der die meisten Prediger ihre »staatlicherseits zugedachte und amtskirchlich sanktionierte pastorale Rolle und die damit zusammenhängende homiletische Aufgabe« akzeptierten.128 Doch genauso unleugbar äußern sich in bestimmten Geltungsansprüchen emanzipatorische Tendenzen und kritische Potenziale, die erkennbar die »aufklärungstheologische Deutung des Staates als moralische Anstalt bei gleichzeitiger Bestimmung des Wesens der Religion als Moral«129 zum gedanklichen Fundament haben. Predigtlehre und -praxis partizipieren folglich auf eigene Weise an den allgemeinen geistig-kulturellen Bewegungen der Zeit, auf welche sie nach dem Prinzip der Akkommodation integrativ zu reagieren suchten. »Das fiel ihnen umso leichter, als sie selbst Gebilde waren und in der Regel die Voraussetzungen der Aufklärung teilten«.130 Der homiletische Rekurs auf Tugend und Moral, auf Freiheit und Vernunft unter Ausrichtung auf das »selbstbewußter werdende, unaufhaltsam zur tonangebenden Schicht in der Gesellschaft aufsteigende gebildete Bürgertum«131 legt davon beredt Zeugnis ab. Dessen politische Emanzipation spiegelt sich gewissermaßen in der predigttheoretischen Annahme seiner religiösen Mündigkeit und kritischen Urteilsfähigkeit. Dadurch werden im »Zeitalter der Kritik« auch die Predigt und die ihr zugrunde liegende Theorie Teil der expandierenden Kommunikationsräume der auf politische Partizipation drängenden Öffentlichkeit, die als Forum der vernünftig-kritischen Gesellschaft dann den gesamten Staat durchzieht und diesen nach heteronomen moralischen Maßstäben beurteilen und späterhin auch aburteilen lernt. Alles in allem lässt sich die gelehrte Reflexion über Gestalt und Nutzen aufgeklärter Verkündigung somit in den umfassenden kulturgeschichtlichen Prozess einzeichnen, in dessen Verlauf »das moralische Gericht […] zur 128 129 130 131
Straßberger: Die Kanzelverlesung landesherrlicher Mandate, S. 67. A. a. O., S. 72. Schott: Akkomodation, S. 53. A. a. O., S. 51.
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politischen Kritik«132 wurde; denn im »Vollzug ihrer kritischen Selbstbegründung tritt der Herrschaftsanspruch der kritischen Vernunft auch auf den Staat offen zutage. Die Herrschaft der Kritik über die Öffentlichkeit gewinnt politische Dignität«.133 Dabei wurden im Feld der protestantischen Homiletik wichtige Voraussetzungen für künftige Konfigurationen der Relation von Predigt und Politik geschaffen – Voraussetzungen, hinter die es kein Zurück mehr geben sollte.134
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132 Koselleck: Kritik und Krise, S. 85. 133 A. a. O., S. 101. 134 S. dazu neben dem folgenden, auf Schleiermacher fokussierenden Beitrag in diesem Band beispielsweise auch Christian-Erdmann Schott: Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärungspredigt. Dargestellt am Beispiel Franz Volkmar Reinhards (Arbeiten zur Pastoraltheologie Bd. 16), Göttingen 1978. Ob sich Vergleichbares auf dem Feld katholischer Homiletik des 18. Jahrhunderts beobachten ließe, muss an dieser Stelle leider offenbleiben. Erste Stichproben lassen eine entsprechende Untersuchung jedenfalls als hochgradig lohnenswert erscheinen. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Paul Wehrle: Orientierung am Hörer. Die Predigtlehre unter dem Einfluss des Aufklärungsprozesses (Studien zur praktischen Theologie Bd. 8), Zürich u. a. 1975, sowie Christian Volkmar Witt: Johann Michael Sailer als Prediger und sein Verhältnis zur Aufklärung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 110 (2013), S. 187–218.
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Martin Ohst
1789–1848: Politik und Predigt bei Schleiermacher. Eine Fallstudie
Mir waren als Berichtszeitraum die Jahre zwischen den Revolutionen von 1789 und 1848 aufgetragen, gut zwei Menschenalter also, in denen sich in Europa und Deutschland unermeßliche Veränderungen zugetragen haben. Die alteuropäische Ordnung zerfiel.1 Sie machte nicht einfach einer neuen Ordnung Platz, sondern an ihre Stelle trat eine Mehrzahl miteinander konkurrierender neuartiger Ordnungsmodelle. Gleichzeitig entstand eine Vielzahl von Gesellschafts-, Staats- und Rechtstheorien. In die praktisch-politische Transformationsdynamik wurden auch die Institutionen verfaßten evangelischen Christentums hineingerissen. Und es entstanden einander widerstreitende theologische Deutungs- und Bewältigungskonzepte, die ihrerseits von intensiven rechts- und staatsphilosophischen Debatten beeinflußt waren und in sie zurückwirkten. All das sorgte für einen Diversifizierungs- und Pluralisierungsschub, der bis in die Theorie2 und Praxis der Predigt,3 auch der Predigt über politische Angelegenheiten,4 hineinfuhr. 1 Daß es sinnvoll ist, trotz aller Differenzen und Konflikte doch vor den 1789 beginnenden Umbrüchen von einer, die unterschiedlichen Herrschaftsgefüge miteinander verbindenden Ordnung zu reden, ist mir verstärkt deutlich geworden durch Leonhard Horowski: Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts, Reinbek 3 2017. 2 Einen lebendigen Eindruck vermittelt Friedrich Wintzer: Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der ›dialektischen Theologie‹ in Grundzügen (Arbeiten zur Pastoraltheologie 6), Göttingen 1968. 3 Vgl. Martin Schian: Art. Predigt, Geschichte der christlichen, in: RE3 Bd. XV, S. 623–747, bes. 693–698. 708–725. 4 Wie sich in jenen Jahren der Stellenwert der Politik im Kreise möglicher Predigtgegenstände und -themen verschob, das zeigen zwei höchst instruktive Fallstudien: Stefan Michel: Patriotismus auf der Kanzel. Beobachtungen zur Predigt der Befreiungskriege am Beispiel des Geraer Superintendenten Johann Hermann Zacharias Hahn (1768–1826), in: Zur Kirche gehört mehr als ein Kruzifix. Studien zur mitteldeutschen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte. Festgabe für Gerhard Graf zum 65. Geburtstag (Herbergen der Christenheit Sonderband 13), hg. v. Michael Beyer u. a., Leipzig 2008, S. 393–407. Ders.: Das Aufkommen der
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Wie faßt man das historiographisch? Ich habe drei Versuche vor Augen, die politische Predigt in wichtigen Territorien des protestantischen Norddeutschland während der Zeit der Befreiungskriege, also etwa von 1806 bis 1815, einigermaßen großräumig zu erfassen. Die dazu notwendige Reduktion von Komplexität bewerkstelligen sie durch wertende Auswahl, deren Kriterien jeweils von Gegenwartsinteressen bestimmt sind: Die Untersuchung von 19215 stellt und beantwortet mit unüberhörbarem apologetischen Unterton die Frage, welchen Beitrag der kirchliche Protestantismus zur Wiedergeburt des Vaterlandes geleistet habe. Auch die Arbeit von 19396 ist apologetisch bestimmt, allerdings in einer doppelten Frontstellung. Einmal bemüht sich der Autor um den Nachweis, daß evangelische Verkündigung produktiv an der Entstehung des völkischen Bewusstseins mitgewirkt habe.7 Ebenso markant ist sein Bestreben, den Verdacht zu entkräften, die Thematisierung von Volk und Nation führe zur unzulässigen Funktionalisierung der Verkündigung: »Aber der auf die reformatorische Verkündigung des Evangeliums Hörende ist als Prediger und Gemeindeglied Deutscher. Deshalb kann die Predigt nicht an der Gegebenheit der völkischen Ordnungen vorübergehen, sondern muß bei ihnen anknüpfen«.8 Radikal veränderte Kategorien sind in der Arbeit von 19939 leitend. Sie spürt der Vorgeschichte einer als verderblich gewerteten Verschmelzung von Protestantismus, Nationalismus und Militarismus nach. Dabei gelangt sie zu bemerkens- und bedenkenswerten Ergebnissen, etwa hinsichtlich der religiös-mentalen Vorbedingungen, welche die erstaunliche Revitalisierung wichtiger Bestandteile der religiösen Vorstellungswelt des Alten Testaments im Zeitalter der Befreiungskriege begünstigten, und sie schafft es auch, sich von anachronistischen Moralurteilen und denunziatorischen Schwarz-Weiß-Malereien fernzuhalten.
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politischen Predigt um 1800. Das Konzept Johann Hermann Zacharias Hahns (1768–1826). »Politik, Moral und Religion in Verbindung«, in: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts (AKThG 31), hg. v. Albrecht Beutel u. a., Leipzig 2010, S. 329–345. Leopold Zscharnack: Die Pflege des religiösen Patriotismus durch die evangelische Geistlichkeit 1806–1815, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte; ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem siebzigsten Geburtstage (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921, S. 394–423. Adolf Heger: Evangelische Verkündigung und deutsches Nationalbewußtsein 1806–1848 (Neue Deutsche Forschungen, Abteilung Religions- und Kirchengeschichte Bd. 7), Berlin 1939. Das Buch ist dem Berliner Systematiker Georg Wobbermin zum 70. Geburtstag gewidmet; das auf den 18. September 1939 datierte Vorwort hat Heger offenkundig auf Helgoland geschrieben, wo er Militärdienst tat. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verteidigung Schleiermachers gegen den im »Völkischen Beobachter« erhobenen Vorwurf, sein Volksbegriff sei bürgerlich-elitär konstruiert und biologisch nicht hinreichend bestimmt; vgl. ibd. S. 53f. mit Anm. 129. Ibd., S. 256. Gerhard Graf: Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815 (FKDG 52), Göttingen 1993.
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Dennoch ist sie letztlich durch eine an den Stoff von außen herangetragene Fragestellung zentriert. Ich habe mich, bei allem Respekt vor allen diesen jeweils sehr lesenswerten, materialreichen Studien, für eine ganz andere Vorgehensweise entschlossen. Ich werde mich mit Friedrich Schleiermacher auf einen einzigen Prediger und Autor konzentrieren, der weder aus der politischen Ideengeschichte Deutschlands im frühen 19. Jahrhundert10 noch auch aus der Geschichte der Befreiungskriege und der preußischen Reformzeit11 wegzudenken ist. Dabei werde ich exemplarisch einige seiner »politischen« Predigten vorführen. Vor allem jedoch werde ich den Gedankenfiguren nachspüren, mittels derer er seine Praxis politischer Stellungnahmen auf der Kanzel begründet hat. Dabei wird ein Typus politischer Predigt zutage treten, der sich deutlich von dem unterscheidet, was heutigentags affirmativ oder kritisch mit dieser Formel angesprochen wird.
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Hinführung: Konturen politischer Predigt im 19. und 20. Jahrhundert
Wilhelm Dilthey hat schon 186212 besonders Schleiermachers Predigten der Jahre 1806–08, die dieser 1808 als »Zweite Sammlung«13 publizierte, zusammen mit Fichtes »Reden an die deutsche Nation« bescheinigt, daß durch sie »der Geist der Stadt [Berlin] in diesen Jahren völlig umgewandelt wurde. Auf ihnen, auf ihrer Überzeugung von der göttlichen Weltregierung und dem Beruf des protestantischen Deutschland in dem Plane derselben, nicht auf orthodoxen Theorien von Erbsünde oder Zurechnung beruhte die religiöse Begeisterung, welche die Freiheitskriege durchdrang«14; Heinrich von Treitschke, Diltheys befreundeter Kollege seit den gemeinsamen Kieler Jahren, hat diese Facette des SchleiermacherBildes ins Geschichtsbewußtsein weiter Bildungskreise eingeschrieben.15 10 Vgl. Miriam Rose: Schleiermachers Staatslehre (BhTh 164), Tübingen 2011. 11 Vgl. Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit (AKG 85/1–2), 2 Bde., Berlin / New York 2004. Aus der älteren Literatur bleibt gerade zu unserem Thema beachtenswert Johannes Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Heft 4), Gießen 1908. 12 Wilhelm Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, in: Ders: Gesammelte Schriften Bd. 12, hg. v. Erich Weniger, Leipzig/Berlin 1936, S. 1–36. 13 Predigten von F. Schleiermacher, Doctor der Theologie. Zweite Sammlung, Berlin 1808 (in SW II/1, Berlin 1834, S. 187–377 ist die 1820 erschienene 2. Auflage reproduziert). – Ich zitiere im folgenden nach dem Originaldruck der Erstauflage; die Zitate sind in der Kritischen Gesamtausgabe (KGA III.1, Berlin/Boston 2012, S. 217ff.) mühelos verifizierbar. 14 Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung, S. 23. 15 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. I, Leipzig 1879, S. 245–254. 299–335.
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Aber Dilthey vermochte jene Predigten auch noch einmal aus einer ganz anderen Warte zu würdigen. Schleiermacher zeige sich in ihnen als »der erste politische Prediger in großem Stil, welchen das Christentum hervorbrachte«.16 Und im selben Zusammenhang plausibilisiert er diese auf den ersten Blick doch sehr erstaunliche Einschätzung, indem er den ihn leitenden Begriff der politischen Predigt präzisiert: Er setzt ihn deutlich ab von den »politischen Anspielungen oder de[n] übliche[n] Zitate[n] von der ›Obrigkeit‹, unter welcher wir ›ein geruhiges Leben führen mögen‹, wie man sie bis dahin in den Kirchen vernommen hatte – von den wilden Reden fanatischer Sekten abgesehen«.17 Erst Schleiermacher habe auf neuartige Weise verstanden, daß christlicher Glaube nicht erst gleichsam sekundär unter bestimmten Umständen ein wie auch immer geartetes Verhältnis zur politisch-sozialen Welt aufzubauen vermöge. Vielmehr habe er eingesehen, daß der Glaube immer schon seinen Realisationsort in den natürlich-geschichtlichen Organisationsformen menschlichen Lebens hat, also auch in der politisch-sozialen Welt. – Bezüglich des vor- und außerreformatorischen Christentums hat Dilthey damit sicher recht. Ob nicht zumindest Luther in diesem Problemzusammenhang doch schon grundsätzlich zu einem ganz ähnlichen Bild christlichen Lebens in der Ehe und der Familie18 oder in der Welt der Politik und des Rechts19 vorgestoßen ist, bleibt allerdings zu diskutieren. Wie fremd nun aber dasjenige, was Dilthey im Anschluß an Schleiermacher als politische Predigt anspricht, demjenigen ist, was heute gemeinhin unter diesem Begriff verstanden wird, mag ein kurzer Seitenblick verdeutlichen. So definierte jüngst eine Praktisch-theologische Lehrstuhlinhaberin: »Die politische Predigt konzentriert sich auf Vorstellungen vom Leben, die sie aus der reflektierten Auseinandersetzung mit den biblischen Überlieferungen gewinnt, und bezieht sich damit auf Fragen des öffentlichen Lebens und des Gemeinwohls«.20 Ihre Quelle und Legitimationsbasis ist »die biblische Botschaft als prophetisch-verwandelnde oder auch affirmierende Kraft«,21 denn diese bezeugt die »Parteinahme«22 Gottes »für das Leben des Menschen und gegen den Tod, für seine Freiheit und gegen die Unterdrückung, für sein Heil und gegen sein Verderben, für den Frieden und gegen die Gewalt«.23 Und diese material-normative Vorgabe 16 17 18 19 20 21 22 23
Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung, S. 13. Ebd. Vgl. Christian V. Witt: Luthers Reformation der Ehe, Tübingen 2017. Vgl. Martin Ohst: Regieren als Beruf. Martin Luther und die Obrigkeit, in: Religion und Politik. Historische und aktuelle Konstellationen eines spannungsvollen Geflechts, hg. v. J. Dierken/ Dirk Evers, Frankfurt a. M. u. a. 2016, S. 31–51. Isolde Karle: Herausforderungen politischer Predigt, in ThLZ 142/2017, Sp. 995–1006, hier: 999. A.a.O., Sp. 997. A.a.O., Sp. 998. Ebd, nach W. Engemann.
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ermächtigt den Prediger nun seinerseits dazu, »selbst Partei zu ergreifen und dabei die realen Bedingungen der Predigtkommunikation zu beachten«.24 Er tut das, indem er in seiner Praxis politischer Predigt »sachkundig über ein Problem informiert, überzeugungskräftige Argumente für die eigene Urteilsbildung anbietet und damit die Gewissen der Anwesenden erreicht«.25 Etwas simpler und einprägsamer hat das Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der EKD, im Zivilberuf bekanntlich auch Vordenker einer sogenannten »Öffentlichen Theologie«, in einem Zeitungsinterview zu Jahresbeginn 2018 ausgedrückt. Gefragt, was in seinen Augen »am Evangelium [!] unverhandelbar und keine Auslegungsfrage« sei, nannte er die Trias von Menschenrecht/Menschenwürde, Option für die Armen sowie universaler Verpflichtung zur Sorge für die Schöpfung.26 »Ein zentraler Punkt im Neuen Testament ist das Doppelgebot der Liebe: Gott lieben und den Nächsten lieben. An Gott glauben, bedeutet immer auch, sich für andere Menschen zu engagieren. Wenn man aber die Not des Nächsten überwinden will und sie politische Ursachen hat, müssen sich Christen auch in die Politik einmischen«, wobei dann Politiker, die sich als Christen verstehen, in »Dilemmasituationen«27 geraten können, wenn sie Gehalte des verpflichtenden christlich-kirchlichen Normenverbundes und politische Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen widereinander abzuwägen haben. Es ist deutlich: In diesen beiden Voten wird vorausgesetzt, daß sich politische Predigt aus einem bestimmten, aus dem autoritativen Gotteswort des Bibelbuchs entspringenden Reservoir an materialen ethisch-moralischen Normen speist und diese argumentativ vertritt – mit dem Ziel, die Gemeinde auf sie zu verpflichten bzw. die Gemeinde durch die Verpflichtung auf sie in ihrem Zusammenhalt zu erbauen und zu stärken, wodurch dann auch Gesellschaft und Staat moralpolitisch auf Kurs gehalten bzw. nötigenfalls gebracht werden sollen. Dieses Verständnis politischer Predigt hat sicher eine wichtige legitimatorische Bezugsgröße an der Barmer Theologischen Erklärung mit ihrer volltönenden Rede von der »Kirche«, die »in der noch nicht erlösten Welt« steht. Sie ist zwar in der Welt präsent, gehört ihr aber doch nicht an. Und es ist dieser distanzierte Sonderstatus, aus dem heraus die in ihrem Namen Bekennenden von ihr und damit von sich selbst bezeugen können: »Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit«.28 Geht man predigt- und theologiegeschichtlich etwas weiter zurück, dann findet sich die deutlichste und wirkungsreichste Präformation wohl bei Adolf 24 25 26 27 28
Ebd. Ebd. Westdeutsche Zeitung (Düsseldorf), 8. Februar 2018. Ebd. Barmer Theologische Erklärung, Artikel 4; Hervorhebung M.O.
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Stoecker (1835–1909),29 dem Vorkämpfer einer von staatlicher Gängelung befreiten, religiös-geistig zur schlagkräftigen Einheit sich formierenden Kirche,30 die in ihrer Predigt31 ihre Aufgabe als moralpolitische Leitinstanz von Staat und Gesellschaft erfüllt. 29 Vgl. Günter Brakelmann / Martin Greschat / Werner Jochmann: Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982. 30 Ich gebe im folgenden nur ganz wenige Belege aus Adolf Stoecker: Wach’ auf, Evangelisches Volk! Aufsätze über Kirche und Kirchenpolitik, Berlin o. J. (1893). Für den Grundschaden des deutschen Protestantismus hält Stoecker den Individualismus: »Es ist der Charakter und das Unglück der Zeit, daß ein christlicher Individualismus herrschend geworden ist, der nichts weiter von der Kirche fordert und in der Kirche gelten läßt als persönliche Erbauung, der aber nicht die geringste Lust verspürt, das Evangelium und seine Kräfte in das Volksleben hineinzutragen, geschweige denn die Feinde des Evangeliums mit aller Macht zu bekämpfen« (S. 572). Es gibt nur einen Ausweg: »Soll es anders werden, so muß der Protestantismus praktischer werden. Er muß den Glauben, den er allein unter den großen Kirchen der Christenheit unverfälscht bewahrt, auf die weite Peripherie des menschlichen Lebens anwenden« (S. 403). Das alles läßt sich nur realisieren, wenn die Kirche sich aus den in der Reformation entstandenen Bindungen des landesherrlichen bzw. – schlimmer noch – staatlichen Kirchenregiments löst: »Das Ziel aber kann kein anderes sein als der Ersatz der vom Staat beherrschten durch eine selbständige Kirche, die sich mit dem Staat auseinandergesetzt und freundschaftliche, auf gegenseitige Anerkennung gegründete Beziehungen zu ihm ausgebildet hat« (S. 159) Staat und Kirche sind einander wesentlich unterschieden: »Nun ist der Staat, obwohl wir seinen Ordnungen die göttliche Autorität selbstverständlich nicht bestreiten, doch eine Weltordnung. Die Kirche aber ist eine Gnadenordnung. Wird die Kirche vom Staat beherrscht, so steht damit das Gnadenreich unter dem Weltregiment« (S. 469). So formuliert Stoecker eine »Zwei-Reiche-Lehre«, gemäß der Staat und Kirche im wechselseitigen Respekt vor ihrer jeweiligen Eigenart an der gemeinsamen Aufgabe der Erziehung des Volkes arbeiten – jeweils mit den ihnen wesensgemäßen Mitteln: »jene [die staatliche Ordnung] wirkt mit den Mitteln des Rechts und des Zwanges, diese [die Kirche] mit den Mitteln der Gnade und der Freiheit« (S. 332). Stoecker bemühte sich bekanntlich um die Formierung der Kirche, indem er ihr Profil im Kampf gegen Gegner hervorheben und schärfen wollte. Sein Feindbild setzt sich zusammen aus politischem, wirtschaftlichem und religiösem Liberalismus, atheistischem Sozialismus – und Juden, weil und sofern er in ihnen wichtige Vordenker und Vorkämpfer jener Bewegungen ausmachte. Mit alledem hat heutige politische Predigt und Öffentliche Theologie gründlich aufgeräumt; ob sich vielleicht doch eine antiliberale Kontinuitätslinie aufspüren läßt, bleibt zu eruieren und zu diskutieren. Was sie dennoch enger mit Stoecker verbindet, als ihren Protagonisten bewußt sein mag, ist der Grundgedanke, daß »die Kirche« als Kollektivum bzw. als Institution in gesellschaftlich-politischen Fragen bestimmte Positionen zu vertreten und durchzusetzen habe und dabei dann auch geistlich und institutionell Kraft gewinne. Daß solche Integrationen am besten gelingen, wenn man einander auf Bedrohungsszenarien und Feindbilder einschwört, markiert eine weitere, abgeleitete Gemeinsamkeit mit Stoecker. 31 S. z. B. Adolf Stoecker: Das Salz der Erde. Ein Jahrgang Zeitpredigten, Berlin 1892: »Bleibt unsere Kirche individualistisch in ihrem Wirken wie bisher, so ist nicht abzusehen, wie sie das Volksleben mit evangelischem Geist durchdringen und so die ihr von Gott in der Reformation gestellte Aufgabe erfüllen soll. Der Verfasser ist seit langem der Ueberzeugung, daß die Kirche das staatliche und rechtliche, das wirthschaftliche und soziale Gebiet zu beeinflussen hat, soweit es sich hier um Geltendmachung sittlich-religiöser Grundsätze des christlichen Gemeinschaftslebens handelt. Wie die Predigt an dieser Sauerteigsarbeit theilzunehmen hat,
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Im Kontrast zu diesem Hintergrund heben sich die Konturen von Schleiermachers politischer Predigt mit besonderer Deutlichkeit hervor.
2.
Religions- und moralphilosophische Hintergründe von Schleiermachers Predigten
Für Schleiermachers politische Predigten sind bestimmte Basiskonstellationen seines Systemdenkens maßgeblich, die deshalb hier kurz ins Gedächtnis gerufen werden müssen. Schleiermacher ist in der kritischen Rezeption Immanuel Kants zum selbständigen Denker herangereift. Dessen Postulatenlehre, welche die Möglichkeit eröffnet, bestimmte Plausibilitätslücken der prinzipiell allein auf immanent-vernünftige Evidenz basierten Ethik durch den Rückgriff auf den Gottesgedanken zu füllen, hat er dabei von Anfang an abgelehnt, und zwar nicht bloß deshalb, weil dadurch die Religion der Ethik ein- und untergeordnet werde, sondern weil auf diese Weise auch der Eigenstand der Ethik in Gefahr gerate. Andersherum gesagt: Schleiermachers bekannte und viel gerühmte kategoriale Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral impliziert auch die folgerichtige Verselbständigung des Ethos und seiner Reflexionsstufen von allen heterogenen Triebfedern und Zielsetzungen. Die Ethik erhebt bei Schleiermacher wohl folgerichtiger noch als bei Kant den Anspruch, ein in sich stimmiges und schlüssiges Gesamtkonzept allen menschlichen Handelns hinsichtlich seiner Motivationen, Realisationsbedingungen und Zielperspektiven auszuarbeiten. Das heißt: Die Ethik, verstanden als »Wissenschaft der Geschichtsprincipien«,32 stellt ihrerseits die Kategorien für das Verstehen geschichtlicher Religion bereit, aber nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe könnte sie in ihre oder in ihre materialen Ausführungen Lehnsätze aus dem Normen- und Vorstellungsarsenal irgendeiner geschichtlichen Religion aufnehmen. Ich mache das an der 2. Aufl. der »Reden« deutlich, die Schleiermacher im Spätsommer 1806 in den Druck gab, die also werkgeschichtlich den Predigten der Zweiten Sammlung unmittelbar benachbart ist. Erheblich präziser als in der Erstausgabe mit ihrem bisweilen ungezügelten rhetorischen Überschwang bestimmt er hier das Verhältnis von Religion und moralischem Handeln: Religion lebt in einer Doppelbewegung. Sie empfängt passiv Einwirkungen vom Universum, welche der Mensch dann aktiv »nach innen zu fortpflanze und in die innere
möchte der Verfasser in der vorliegenden Predigtsammlung klar machen« (Vorrede, nicht paginiert). 32 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 21830, §35, S. 16.
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Einheit seines Lebens und Seins aufnehme«.33 Diese »innere Einheit des Seins und Lebens« ist auch für das Handeln des Subjekts ursächlich und maßgeblich, aber eben als ein werdendes und gewordenes Ganzes, nicht etwa als bloßer Durchgangspunkt einzelner religiöser Erregungen oder Impulse. Vielmehr geht jedes Handeln des religiös affizierten Subjekts aus einem ganz eigenen Motivationsgefüge hervor – eben dem spezifisch ethischen. Die Erstauflage hatte hier ebenso lapidar wie einprägsam formuliert: »Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch«.34 Die Zweitauflage dagegen differenziert das weiter aus: Das Empfangen und Verarbeiten religiöser Impulse und das ethisch reflektierte Handeln bilden im Bewußtsein je eine »Reihe für sich«,35 die wiederum in ihrer kategorialen Unterschiedenheit doch untrennbar von einander sind – als »Functionen Eines und desselben Lebens«.36 Sie gehören also in ihrer Differenziertheit im einen menschlichen Subjekt zusammen: »Darum wie nichts aus Religion, so soll alles mit Religion der Mensch handeln und verrichten, ununterbrochen sollen wie eine heilige Musik die religiösen Gefühle sein thätiges Leben begleiten, und er soll nie und nirgends erfunden werden ohne sie«.37 Sicher, Schleiermacher kennt, wie er im folgenden, über die Erstauflage der Reden hinausgehend, ausführt, auch einen Bereich von Aktivitäten, in denen der Mensch sich selbst bewußt und ausdrücklich als Subjekt seiner Religion betätigt, »seine äußere Zucht und Übung, seine Gymnastik des Gefühls selbst«.38 Aber die unterliegt keinen Regeln, und sie generiert auch keine, denn »jeder religiöse Mensch bildet sich seine Ascetik selbst«.39 33 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zweite Ausgabe, Berlin 1806, S. 101. Die Zweitauflage ist in KGA I.12 leicht zugänglich. 34 Anonymus [Friedrich Schleiermacher]: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799 (KGA I.2), S. 68 (Original-Paginierung). 35 Schleiermacher: Über die Religion, 2. Aufl. (wie Anm. 32), S. 103. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 A.a.O., S. 109. 39 A. a. O., S. 103. – Ein ganz ähnlicher Begriffsgebrauch findet sich in J.G. Fichtes aus dem Nachlaß publizierter »Ascetik als Anhang zur Moral« (1798, zit. nach I. H. Fichte [Hrsg.], Fichtes Werke Bd. 11 [ 1835], Nachdruck Berlin 1971, S. 119–144): »Dem moralischen Menschen wird es innig wehe thun, ungeachtet seiner besten Vorsätze sich nicht besser zu finden. Man überlasse sich diesem Schmerz und diesen Vorwürfen; denn nichts erinnert besser als der Schmerz. – Durch solche fortgesetzte Selbstprüfungen kommt der Mensch dem angegebenen Ziele immer näher. Er wird nicht heilig, denn er ist unendlich; und der Naturtrieb treibt ihn fortwährend an und muß ihn antreiben, eben weil er endlich ist: aber er wird gut. Durch diese Bestimmung aber, wodurch die Ascetik, als eigene Kunst eines Jeden, eine sehr ehrwürdige Realität bekommt, scheint sie als Wissenschaft abermals hinwegzufallen. Wie kann man nämlich allgemeingültig bestimmen, inwiefern jemand in sittlicher Gefahr sei, und durch welche Mittel er sich besonders dagegen schützen könne? Das ist einem Jeden selbst zu überlassen« (131f.).
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Wichtig ist: Schleiermacher kritisiert durchgreifend die Figur eines spezifisch religiösen Ethos, also eines Kanons von moralisch-ethischen Normen, deren Plausibilität und Verbindlichkeit in einem bestimmten System religiöser Vorstellungen und Begriffe oder gar in einem heiligen Kodex gründet, dessen (mehr oder minder folgerichtige) lebenspraktische Realisierung den Angehörigen einer Religion von anderen Menschen empirisch unterschiede. Dieser Vorstellung gegenüber besteht er auf der kantischen Denkfigur, daß allein das Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der in ihr waltenden Maxime über den ethischen Wert einer Handlung entscheide. Weiterhin heißt das: Der religiöse Mensch lebt nicht in zwei unterschiedlichen Lebensbereichen, einem engeren, von religiös fundierten Regeln bestimmten, und einem weiteren, von anderweitig begründeten Normen strukturierten. Und er lebt auch nicht unter zwei unterschiedlichen Normensystemen. Vielmehr lebt der religiöse Mensch, der Christenmensch, ganz und gar in einer bestimmten, individuell gestalteten geschichtlichen Lebenswelt, und zwar gemäß deren gegebenen, gewachsenen Normen, die ihrerseits zu ihrer kritischen Auslegerin und Weiterbildnerin die vernünftige ethische Reflexion haben. Damit ist jedoch der Christenmensch mitnichten zur politischen Abstinenz verurteilt; im Gegenteil: Er ist aufgerufen, sich nach Maßgabe seiner Fähigkeiten und der gegebenen gesellschaftlichen Ordnungen für das Gedeihen seines Gemeinwesens zu engagieren. Aber er tritt dabei nicht als Sachwalter bestimmter religiös begründeter Autoritätsvorgaben oder gar als Inhaber eines spezifisch kirchlich begründeten Wächteramtes auf, sondern er vertritt mit Argumenten, die Anspruch auf allgemeinvernünftige Plausibilität erheben, theoretisch wie praktisch seine wohlerwogenen Überzeugungen.
3.
Schleiermachers Predigt »Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört« (1806)
Alle diese kategorialen Vorgaben sind in Schleiermachers eben schon erwähnten Predigten von 1806–08 wirksam. Schleiermacher hat diese Kanzelreden selbst als eminent politische Handlungen gedeutet.40 Und das galt dann auch noch einmal 40 Friedrich Schleiermacher: Brief an Reimer, 12. Dezember 1806; KGA V.9, S. 247: »Wenn ich noch ein Paar mal in dieser Zeit zum Predigen komme, dann ließ ich gern diese Predigten, die sich so ganz auf die gegenwärtige Zeit beziehn zusammen drukken, weil ich sie wirklich für ein gutes Wort halte. Ich will auch gern dafür stehen und meinen Namen drauf sezen; allein gedrukt können sie wol schwerlich werden in einer Stadt die in französischem Besiz ist, und so werde ich es wol aufgeben müssen, wenn es nicht etwa in Stralsund geschehen könnte«. 24. Mai 1808 an Carl Gustav von Brinckman; KGA V. 10, S. 134: »Freilich müssen noch ein
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für deren Publikation, bei der er die einzelnen Predigten, wie ich anderswo gezeigt habe,41 zu einem stringenten Zusammenhang gefügt hat. Auch als Prediger, zumal als politischer Prediger, blieb Schleiermacher kritischer und selbstkritischer Intellektueller, und er handelte im Bewußtsein seiner Verantwortung als akademischer Lehrer, denn er verband mit seinen Predigten auch die didaktische Absicht, »durch das Verhältniß meiner Kanzelvorträge zu meinen Vorlesungen den Studirenden das Verhältniß der Speculation und der Frömmigkeit recht anschaulich zu machen«.42 Wie er das tat, das soll nun im Ausgang von der dritten und wohl bekanntesten Predigt der Sammlung untersucht werden. Der Titel der Predigt bringt deren Thema und deren These prägnant zum Ausdruck: »Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört«.43 Die Einleitung bezeichnet den Anlaß und Bezug der Predigt: Einen »Mangel an Gemeinsinn«,44 der allerdings nicht im groben Egoismus gründe, sondern in einem ethisch durchaus anspruchsvollen »Weltbürgersinn«, der mit der »höchsten Liebe das ganze Geschlecht der Menschen zu umfassen«45 trachte. Aus dem Blickwinkel dieser Haltung komme der bestimmte Staat nur als hemmender Störfaktor in Betracht, und eine »eifrige Vaterlandsliebe nur [als] eine beschränkende Gesinnung«.46 Gerechtfertigt werden könne der Staat ohnehin nur als notwendiges Übel, das außen und innen drohende Gewalt im Zaum hält und so die Lebens- und Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen stütze. Ob der so rein von seinem Nutzen für das Individuum her verstandene Staat groß oder klein, national oder übernational strukturiert sei, falle für seinen Wert nicht weiter ins Gewicht.
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42 43 44 45 46
Paar Meisterstükke gemacht werden an Oestreich und der Türkei aber ich denke, die werden in diesem Jahre noch fertig dann aber hoffe ich soll alles gut werden und beneide jeden der das Glükk hat in irgend einem Sinn eine politische Person zu sein. Leider kann ich nichts thun für die Regeneration als predigen. Wie ich das gethan habe, das liegt auf schönem Velin Papier für Dich bei, […]«. Vgl. Martin Ohst: Eine Marginalie zum Verhältnis Schleiermachers zu Fichte, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne (Beiträge zur rationalen Theologie 16), hg. v. Roderich Barth/Claus-Dieter Osthövener/Arnulf von Scheliha, Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 131–146. Dort auch weitere Notizen zum lebens- und werkgeschichtlichen Kontext, die hier nicht nochmals ausgebreitet werden müssen. Friedrich Schleiermacher: Brief an E. v. Willich, 1. Dezember 1805, KGA V.8, S. 377. Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 53–78. A.a.O., S. 53. A.a.O., S. 54. Ebd.
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Es liegt auf der Hand: Schleiermacher reproduziert hier mit seiner kritischen Charakterisierung Thesen, die er erstmals in den Monologen (1800)47 zur Diskussion gestellt hat. Und im weiteren Fortgang der Predigten entfaltet er die hier anschließenden konstruktiven Einsichten, die er gerade im Wintersemester 1805/ 06 in seiner ersten Vorlesung zur Philosophischen Ethik48 breit ausformuliert hat: Es ist die bestimmende Globalaufgabe allen menschlichen Lebens, Natur dem Geist als Organ zu formen und anzueignen. Dieses Organisieren kann nur gemeinschaftlich vonstattengehen. Die Menschen, die miteinander an ihrem Ort den Zweck der Menschheit verfolgen, müssen einander »verstehen« und »kennen«:49 »Eben deshalb kann nie eine solche Verbindung das ganze menschliche Geschlecht umfassen; sondern wie die Einrichtung selbst, so nothwendig ist auch durch die Natur des Menschen ihre Vielheit; denn sie beruht auf den geheimnißvollen Eigenthümlichkeiten, auf der verschiedenen Lebensweise, und auf der Sprache vorzüglich, welche ganz bestimmt jedes Volk von den übrigen absondert«.50 Aus der Vielzahl der menschlichen Gemeinwesen ergeben sich zwangsläufig Konflikte zwischen ihnen, wenn sich die Verhältnisse neu konfigurieren, also in Situationen, »wo die wesentlichen Verhältnisse eines bedeutenden Theiles unsers Geschlechtes sich ändern oder umkehren sollen, wo eine gewisse Stuffe der Bildung abgelebt ihr Ende erreichen soll, kurz, wo ein großer Abschnitt in der Geschichte der Menschheit nahe ist«.51 Das alles gehört also »unter die wesentlichsten bleibenden Ordnungen im Hause Gottes«;52 diesen Gedanken entfaltet, insbesondere in Beziehung auf den Krieg, die vierte Predigt der Reihe unter dem paradox-provokanten Titel »Daß überall Friede ist im Reiche Gottes«.53
47 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Monologen, Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800, Originaldruck S. 83–86 (KGA I.3). 48 Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik, in: Friedrich Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. v. Otto Braun (PhB 137), Leipzig 1913 (unveränderte Nachdrucke), S. 79–239. Vgl. zum folgenden auch Martin Ohst: Staat und Volk in Schleiermachers Ethik, in: Mattei Chihaia/Georg Eckert (Hg.), Kolossale Miniaturen. Fschr. Gerrit Walther, Münster 2019, S. 159–169. 49 Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 59. 50 Ebd. Zu vergleichen ist Kants Ablehnung der Idee eines Universalstaats; Zum Ewigen Frieden, 2. Abschnitt, 1. Zusatz, B S. 56–58. 51 Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 60. In seiner ethischen Beurteilung des Krieges strebt Schleiermacher auch sonst über die Beurteilungsschemata der herkömmlichen Doktrin vom gerechten Krieg hinaus, indem er unterschiedliche Konfliktmuster aufsucht bzw. konstruiert (Geschäftskrieg, Demonstrationskrieg, Entwicklungskrieg, Ideenkrieg, Revolutionskrieg); vgl. Ders.: Über die verschiedene Gestaltung der Staatsverteidigung (SW III/ 3, S. 260–262; KGA I.11). 52 Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 60. 53 A.a.O., S. 79–97.
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So ist also das gegebene, konkrete, geschichtlich gewachsene, kulturell geprägte und prägende Gemeinwesen, in dem er lebt, vom einzelnen Menschen als Ort seiner Lebensführung anzunehmen: Er bietet ihm die Möglichkeit zur Ausbildung und Entfaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten, und das, was er in der Welt wirkt, ist seiner Eigenart nach vom individuellen Charakter des Gemeinwesens geprägt. Diese Vorgabe seines Handelns ist ihm auch als Aufgabe gestellt: Der einzelne Mensch muß sich, nötigenfalls auch unter Hintanstellung und Aufopferung seiner eigenen Lebensinteressen bis hin zum physischen Leben selbst, in den Dienst des Gemeinwesens stellen. Wer nun behauptet, sich über das alles in die Äquidistanz des Kosmopoliten hinein zu erheben, der führt ein Leben als Gast und Fremdling – nicht nur im eigenen Vaterland, sondern in der geschichtlichen Welt überhaupt: Einmal beschränkt er sich in seinem Wirken auf Menschen, die sich so deuten und so leben wie er, also auf die bloße Einwirkung auf isolierte bzw. sich isolierende Subjekte, weil er die staatlich-gesellschaftlichen Institutionen als Mittelglieder des Wirkens ins Große geringschätzt. Aber mehr noch: Er verstellt sich auch das Verstehen der geschichtlichen Welt insgesamt. Wer die eigene geschichtlich-kulturelle Herkunft als Prägung und Bedingung seines Verstehens und Handelns unterschätzt, dem bleiben letztlich auch andersartige national individuierte Kulturzusammenhänge unverständlich, und das Mit- und Widereinander der geschichtlichen Kräfte in der politischstaatlichen Welt bleibt seinem Sinnverstehen verschlossen. Mehrfach rekurriert Schleiermacher dabei auf das Bild des Alleinstehenden, der in einer großen, lebendigen Familie Hausgast ist und in deren Leben einbezogen wird, aber doch nie wirklich ganz dazugehört.54 Diese Figur nun ist keineswegs ausschließlich negativ konnotiert, sondern sie steht in Schleiermachers Denken auch für durchaus respektable, ja, positive Konfigurationen von Lebensvollzügen. Einmal erinnert der in der Predigt skizzierte Fremdling unverkennbar an die Figur des »Josef« am Schluß der »Weihnachtsfeier«55 und damit zugleich an Schleiermacher selbst, der in jener Zeit eine solche Existenz als sein Los ansah, seitdem Eleonore Grunow das Verhältnis zu ihm unwiderruflich gelöst hatte. Aber diese Gedankenfigur steht in Schleiermachers System sodann auch noch in einem ganz anderen, sehr viel weiter ausgreifenden Verweisungszusammenhang: Zu den ethischen Grundformen des Lebensvollzuges, die Schleiermacher in der Philosophischen Ethik deduziert, gehört auch die freie Geselligkeit, in der das 54 A.a.O., S. 63f. 68. 55 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Halle 1806, S. 132– 135 (KGA I.5).
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als elementare Gemeinschaft des materiellen wie des kulturellen Erwerbs verstandene »Haus« Außenstehenden Gastfreundschaft gewährt, ihnen also einen Modus der Teilhabe an seinen Lebensvollzügen und Lebenserträgen gewährt, der deutlich unterschieden ist vom Status des Hausherrn und der anderen Familienmitglieder, aber gerade darin wiederum einen ganz eigenen Wert und eine ganz eigene Bedeutung hat.56 Beim ersten Lesen wirkt das alles ein wenig verschroben – so, als müßte Schleiermacher nun aus einem systembedingten Zwang zur Vollständigkeit heraus neben dem identischen Organisieren auch noch dem individuellen Organisieren seine Lebensgestalt anweisen. Sieht man etwas näher hin, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild. Hier liegt der Elementar- und Modellfall einer Teilhabe an fremdem kulturellen Leben vor, die ihren Weg und ihre Gestalt zu finden vermag zwischen der Scylla der teilnahmslosen Ignoranz und der Charybdis des aggressiven Aufsaugens und Assimilierens des Fremden. Und eben diese Aufgabe der interessierten, aber zugleich bewußt distanzierten Partizipation an fremdem kulturellen Leben ist nach Schleiermacher nicht lösbar in der Haltung der prinzipiellen Äquidistanz zu allen individuierten Gestalten menschlichen Lebens, sondern nur in der Haltung der bewußt bejahten Zugehörigkeit zu einer von ihnen. Es ist genau diese Konfiguration der reflektiert zu gestaltenden abgestuften Teilhabe an unterschiedlichen individuellen Formationen menschlicher Kultur, welche im Unterschied zum rein technischen Dolmetschen den Reiz und die Schwierigkeit echten Übersetzens ausmacht und als dessen Theorie die Hermeneutik hervorbringt. Wie nahe alle diese Problemfelder in Schleiermachers Systemdenken beieinanderliegen, zeigt die Beobachtung, daß er seine kritische Auseinandersetzung mit dem kosmopolitischen Lebenskonzept in seiner Akademieabhandlung »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens« (1813)57 noch einmal in eindrucksvoller Weise formuliert hat. 56 Vgl. Schleiermacher: Brouillon zur Ethik, S. 128f.; in späteren Entwürfen sehr viel breiter ausgeführt. 57 »Denn so wahr das auch bleibt in mancher Hinsicht, daß erst durch das Verständniß mehrerer Sprachen der Mensch in gewissem Sinne gebildet wird, und ein Weltbürger: so müssen wir doch gestehen, so wie wir die Weltbürgerschaft nicht für die ächte halten, die in wichtigen Momenten die Vaterlandsliebe unterdrükkt, so ist auch in Bezug auf die Sprachen eine solche allgemeine Liebe nicht die rechte und wahrhaft bildende, welche für den lebendigen und höheren Gebrauch irgend eine Sprache, gleichviel ob alte oder neue, der vaterländischen gleich stellen will. Wie einem Lande, so auch einer Sprache oder der andern, muß der Mensch sich entschließen anzugehören, oder er schwebt haltlos in unerfreulicher Mitte« (SW III/2, S. 236; KGA I.11; Hervorhebung M.O.). Das ist jedoch keineswegs ein Aufruf zur Selbstabschließung; vgl. Schleiermachers Bild des »großen europäischen Marktes, […], wo alles sich kennt und gleichsam in denselben Hallen lustwandelt« (Über den Begriff der Hermeneutik, 2. Abhandlung, SW III/3, S. 378).
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So ermutigt und ermuntert die Predigt zum Engagement und Einsatz für das gegebene politische Gemeinwesen. Dabei zielt sie mitnichten auf Untertanengehorsam, sondern auf den Willen zur Partizipation und zur Verantwortung. Der Nationalstaat, dessen ethisches Recht Schleiermacher hier so eindrücklich vertritt, steht im untrennbaren Zusammenhang mit dem Anspruch des mündig werdenden Bürgers auf Mitgestaltung und Mitbestimmung, für welche eben der nationale Staat als Ort der Kommunikation und der Willensbildung die Grundlage ist.58 Diejenigen Gedanken und Gedankenverbindungen, die diese gedruckte Predigt zu einem eminent politischen Text machen, sind ihrer Herkunft und ihrem Geltungsanspruch nach rein philosophisch, d. h. sie erheben ihren Anspruch auf Geltung allein unter der Bedingung ihrer vernünftigen Plausibilität und verzichten auf jede Legitimation anhand vorgegebener Autoritätsgrößen. Diese politische Predigt richtet sich als gottesdienstliche Rede in liturgischer Rahmung an Christenmenschen. Aber für die Plausibilität und Verbindlichkeit ihrer materialen politisch-moralischen Gehalte beruft sie sich nirgends auf spezifisch religiöse Autoritätsinstanzen. Dieser Gestus beherrscht die Predigtreihe als Ganze. Ein wichtiges äußerliches Indiz: Alttestamentliche Texte fehlen – daß eine Predigt Koh 7,11 zur Textgrundlage hat,59 steht hierzu nicht im Widerspruch, denn hier ist ja gerade alles das absent, was alttestamentliche Predigttexte für viele politische Prediger sonst so attraktiv macht, nämlich der ganze deuteronomisch-deuteronomistische Gedankenkreis von Volkserwählung, Bund, Verpflichtung, Versagen, Strafe, Buße und Begnadigung. Erst recht fehlt jede Rede von einem prophetischen Wächteramt der Kirche oder Ähnlichem. Es drängt sich also die Frage auf: Was macht denn diesen ethisch-politischen Traktat überhaupt zu einer Predigt?
58 Für das Aufgehen einer Mehrzahl zunächst unabhängiger kleinerer Staaten in einem einigenden Nationalstaat hielt Schleiermacher eine (konstitutionelle) Erbmonarchie für notwendig; vgl. Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, SW III/2, S. 274–281; KGA I.11. 59 »Daß die lezten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen«, Predigten. Zweite Sammlung, S. 123–146. – Die Predigt ist am letzten Sonntag des Jahres 1806 gehalten; sie spiegelt also getreulich Schleiermachers durchgängige Gewohnheit wider, zu nicht spezifisch christlichen Festtagen wie zur Jahreswende oder zum Bußtag alttestamentliche Texte, mit Vorzug aus der Weisheitsliteratur, zu wählen.
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Zum Umgang mit dem Predigttext
Hier legt es sich primär nahe, den Blick auf den Predigttext und auf Schleiermachers Umgang mit ihm zu lenken; es handelt sich um Eph 2,19: »So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen«. Schleiermacher räumt ein, daß Eph 2,19 nicht die politische Sphäre, sondern die religiöse Gemeinschaft vor Augen hat: Der Auctor ad Ephesios, den Schleiermacher hier noch, anders als späterhin,60 mit Paulus identifiziert, schärfe den Heidenchristen ein, daß sie, die vorher als Gottesfürchtige lediglich einen Platz an der Peripherie der Synagogengemeinden gehabt hätten, nun gänzlich gleichrangig mit den Gliedern des alten Gottesvolkes seien. Hierbei bediene er sich allerdings einmal rechtlich-politischer Begriffe, und damit gebe er zu verstehen, daß diese für ihn mitsamt ihrem Ursprungskontext durchaus positiv konnotiert seien. Sodann: Paulus habe immer für kirchliche Einheit und gemeindlichen Zusammenhang geworben und gemahnt »die Versammlungen nicht zu verlassen«.61 In der Situation der konfessionellen Ausdifferenzierung der Christenheit gelte das sinngemäß für jeden Christen in Bezug auf das Kirchentum, dem er angehöre. Und diesen Schluß spinnt Schleiermacher noch weiter: »Warum soll nicht auch dasselbige von dem Verein unter bürgerlichen Gesezen gelten?«62 Sicher, sub specie Dei, als »Hauswesen Gottes«63 betrachtet, ist die Menschheit eine. Aber diese Einheit ist eben nirgend anders präsent und wirksam denn in der Fülle der Individuationen, und wer ihr zuarbeiten und dienen will, kann das nur tun, wenn er sich an diejenige Individuation gibt, welcher er angehört. Das sind, wie gesagt, alles Gedanken, die Schleiermacher in seiner philosophischen Ethik ohne jeden Bezug auf religiöse oder gar spezifisch christliche Voraussetzungen deduziert und expliziert, und für die er nun, nicht ganz ohne Anstrengung, exempla im Neuen Testament findet – aber mehr auch nicht, denn der Duktus 60 »Die Unechtheit des Epheserbriefes wird mir beim Lesen immer gewisser, und die Echtheit meiner Dialektik auch« (An Joachim Christian Gaß, 28. Dezember 1818: zit. nach Fr. Schleiermachers Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, mit einer biographischen Vorrede hg. v. Dr. W. Gaß, Berlin 1852, hier S. 160). 61 Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 58. – Schleiermacher bezieht sich offenkundig auf Hebr 10,25, hält also zu diesem Zeitpunkt auch Hebr noch für paulinisch. Dessen unpaulinischer Charakter fand damals erst allmählich wieder Anerkennung, nachdem humanistische und reformatorische Kritik im Gefolge des Trienter Konzils zeitweilig in Vergessenheit geraten war; vgl. Heinrich Julius Holtzmann: Lehrbuch der Historischkritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 21886, S. 330. Schleiermacher hat den Hebr späterhin für eindeutig nichtpaulinisch gehalten; vgl. Einleitung ins neue Testament (SW I/8), S. 195. 431–449. 62 Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 58. 63 Ebd.
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der Rede zeigt eindeutig: Im Gang der Argumentation hat das lediglich illustrativen, keinesfalls aber konstitutiven Rang. Weder Schleiermachers Textwahl noch sein Umgang mit dem gewählten Text beantwortet also die Frage nach dem Predigtcharakter dieser Rede bzw. Abhandlung, sondern sie stellen sie gemeinsam nur desto dringlicher.
5.
Zum Verhältnis von Kirche und Staat
Verfolgen wir eine andere Spur. Sie beginnt bei Schleiermachers Verwahrung gegen ein »verkehrtes Lob«,64 das der christlichen Religion gezollt werde, weil sie den Menschen der transnationalen Gemeinschaft der Kirche einfüge und so seine nationalen Bindungen relativiere und löse. Hieran anknüpfend thematisiert er, immer in den gedanklichen Spuren seiner Philosophischen Ethik, Familie und Kirche, also die beiden anderen ursprünglichen, ethisch fundamentalen Sozialgestalten menschlichen Lebens, in ihrem Verhältnis zum Staat. Dabei entwickelt er die These, daß sie alle gleich ursprünglich und nicht aufeinander reduzierbar sind, aber dennoch nicht gedeihen können, wenn sie sich beziehungslos widereinander abschotten. Für die religiöse Gemeinschaft, die Kirche, heißt das: Sie ist primär die Gemeinschaft des gänzlich selbstzweckhaften Austausches über die religiösen Erregungen und Gemütszustände. Sie bleibt jedoch steril, »wenn nicht eine äußere Gemeinschaft wirklichen Thuns, wirkliche Hülfsleistungen in bestimmten einzelnen Fällen uns jene innere und allgemeinere darstellte«65 – und genau diesen Realisationsort derjenigen mentalen Dispositionen, die im eigentlichen, zentralen religiösen Kommunikationsprozeß der Kirche entstehen, gepflegt und kultiviert werden, hat die Kirche nicht in sich, sondern außerhalb ihrer selbst: Das im Staat verfaßte Volk, verstanden als in der Gemeinsamkeit der Sprache und Kultur verbundene Gemeinschaft des Herkunftsbewußtseins und der Zukunftsverantwortung. Kirche und Staat sind Vergemeinschaftungen unterschiedlicher Art, sind aber auch nicht beziehungslos, wie ja auch im einzelnen Menschen Religion und Ethos unvermischt und ungetrennt beieinander sind und Menschsein sich dann wirklich entfaltet, wenn das Subjekt sich gemäß seinen individuellen Anlagen und Gaben in allen elementaren Sozialformen betätigt. Die Kirche, also die Gemeinschaft der Religion, gibt dem Menschen keine materialen Regeln für sein Wirken in der Welt vor. Aber sie verweist ihn auf das ihm vor- und aufgegebene weltliche Gemeinwesen als den Ort, an dem er gemäß den dort geltenden Regeln und den dort sich stellenden Anforderungen zu wirken hat: »Hierhin, würde sie 64 A.a.O., S. 74. 65 A.a.O., S. 74; vgl. auch Schleiermacher: Brouillon zur Ethik, S. 176–181, bes. 178.
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[die Kirche] sagen, bist du durch Gott selbst, der in den Veranstaltungen der Natur redet, gewiesen. Hier allein kannst du dich vollkommen verständlich machen, hier kannst du dich an ein gemeinsames Gefühl wenden, und an gemeinsame Vorstellungen, daß deine Gedanken sich deinen Brüdern empfehlen als solche welche zugleich die ihrigen sind«.66 Und daraus folgt für Schleiermacher, »daß mit der klaren Einsicht in alle Verhältnisse der Menschen die Liebe zum Vaterlande nicht abnimmt sondern zu«.67 Und das ist die politische Botschaft, die nach Schleiermacher jedem Christen aufgetragen ist: »Denn wozu wir auch im Einzelnen bestimmt sein mögen, das liegt uns Allen ob, kraft der Stuffe auf welcher wir stehen, von der Wahrheit zu zeugen, und uns zu erweisen als das belehrende, warnende strafende Gewissen unseres Volkes«.68 Von einem kirchlichen Wächteramt im Sinne des IV. Artikels der Barmer Theologischen Erklärung ist hier nicht die Rede. Vielmehr sind die einzelnen Christenmenschen angesprochen: Sie sind ermächtigt und verpflichtet, sich gemäß ihrer wohlerwogenen Einsicht und gemäß ihrer sozialen Stellung im Gemeinwesen zu Wort zu melden. Aber hiermit ist noch nicht erschöpfend geklärt, worin nach Schleiermacher der Zusammenhang zwischen gelebter und reflektierter christlicher Religion und Staats- und Nationalethos besteht. Wir müssen noch einmal zu seiner Kritik am Kosmopolitismus zurückkehren: Wer ihm gemäß denkt und handelt, der isoliert sich selbst und beschränkt entgegen dem ersten Augenschein den Horizont seiner Wahrnehmung sowie das Bezugsfeld seiner Handlungen.69 Was gewinnt er bzw. was meint er zu gewinnen? Nun, er meint eine Erweiterung seines Horizonts ins Universale zu gewinnen, handelt sich jedoch, so Schleiermacher, in Wahrheit lediglich die Fokussierung seines gesamten Weltbildes auf nach freier Wahlanziehung ausgewählte je einzelne Individuen mit ihren Bestrebungen und Geschicken ein – letztlich also die Fokussierung auf sich selbst.70
6.
Schleiermachers Predigt »Daß wir nicht Knechte Gottes sein sollen, sondern Freunde« (1806)
Das positive Widerlager zu dieser Kritik befindet sich allerdings schon im vorangehenden Stück der Sammlung: In der Predigt »Daß wir nicht Knechte Gottes sein sollen, sondern Freunde« über einige Verse aus Joh 1571 werden die reli66 67 68 69 70 71
Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 75. A.a.O., S. 77. A.a.O., S. 78. Vgl. A.a.O., S. 70f. Vgl. A.a.O., S. 54. 62f. A.a.O., S. 29–52.
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giösen Haltungen rekonstruiert, die im Kosmopolitismus und in der Vaterlandsliebe jeweils leitend sind. Alles menschliche Leben ist mit allen seinen Vollzügen, so Schleiermachers Grundthese, in die All- und Alleinwirksamkeit Gottes eingebunden. Hierunter tut sich der Gegensatz auf zwischen Gottes Freunden, die ihr Leben führen als seine »mitwissende, mitwollende, in Lust und Liebe mitwirkende Werkzeuge«,72 und den Knechten Gottes, die als »unbewußte, gezwungene Werkzeuge« Gottes Willen tun, ihm lediglich verbunden »durch seine Macht und ihre gänzliche Abhängigkeit«.73 Die Gottesknechte sind von dem Bestreben geleitet, dem ihnen gefügten Leben das Maximum an Befriedigung ihrer Wünsche und Neigungen abzugewinnen, und im Verfolg dieses Vorhabens sind sie bereit, Leistungen zu erbringen: Sie sind Eudämonisten, und deshalb leben sie in Heteronomie. Diese Konfiguration ist selbstverständlich der stufenweisen Verfeinerung fähig, die in ein Ethos des Utilitarismus hineinführt,74 und sie hat auch die ihr entsprechende religiöse Ausdrucksform: »Froh und frei können sie sich nur unter dem fühlen, was menschlich ist nach ihrem Sinne, was auf die Befriedigung jener Wünsche abzwekt oder sich wenigstens danach fügt. Bei mäßigen Tugenden könnten sie vergnügt sein die ihre Ansprüche nicht zu hoch steigerten zum Nachtheil der Glükseligkeit; eine menschenfreundliche Vorsehung wäre ihnen ein angenehmer Gedanke, die zwar ihre Macht bisweilen zu erkennen gäbe, aber doch früher oder später alles zum Vergnügen Aller ins gleiche brächte«.75 Lebenserfahrungen oder Pflichtanmutungen, welche diesen Lebensentwurf aus dem Gleichgewicht bringen, in welchen scheinbar unverbrüchliche Lebensgrundlagen schwinden oder die Forderung der rückhaltlosen Hingabe eigener Lebenswünsche und Lebenspläne sich stellt, stürzen dieses gesamte Lebenskonzept in die Sinnkrise: »Jenes wahrhaft göttliche, was hierüber hinausgeht, ist eine Schrekkensgestalt, die sie von sich zu verbannen suchen, und wie furchtsame Kinder versuchen sie vergeblich sich einzureden, sie sei nur ein Werk ihrer Einbildung, es sei nicht möglich, Gott könne dieses nicht fordern, jenes nicht strafen, ein Anderes nicht thun«.76 Die gedanklichen Konstruktionen, welche eine Lösung der so sich ergebenden Problemknoten für das Jenseits ins Aussicht stellen, halten der Forderung nach gedanklicher Konsistenz nicht Stand.
72 A.a.O., S. 31. 73 Ebd. Es liegt auf der Hand, daß hier hier Kants Unterscheidung vom Afterdienst Gottes in der statutarischen Religion und dem moralischen Prinzip der Religion im Hintergrund steht; vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, IV. Hauptstück. 74 Vgl. Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 37f. 75 A.a.O., S. 45. 76 A.a.O., S. 46.
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Die einzig tragfähige Alternative ist das grundsätzlich anders geartete Lebenskonzept der Gottesfreundschaft: »Darum ist es der Anfang unserer Freundschaft mit Gott, daß was sich uns nur offenbart als Gottes Werk und Wesen, wir auch lieben wie wir es finden an und für sich als Liebe, gleichermaßen in milden Segnungen die ruhig fördernde, in schweren Verhängnissen die züchtigende und bessernde in gewaltigen Zerstörungen die umbildende auferwekkende Liebe; daß wir überall auch das lieben in den göttlichen Geboten, was andere als Strenge fürchten, auch das in den göttlichen Fügungen, was sie lieber als unerforschlich stehn lassen, weil sie besorgen es möchte ihnen näher betrachtet als ungerecht erscheinen«.77 Es ist also ein Pflichtethos, welches als Handlungsnorm allein das Sittengesetz anerkennt und, gut kantisch, die Glückseligkeit nicht als normatives Ziel, sondern lediglich als aus dem pflichtgemäßen Handeln in Langzeitperspektive zwangsläufig sich ergebendes Resultat gelten läßt.78 Das Reich Gottes ist also, ebenfalls wieder gut kantisch,79 weder eine eschatologisch-apokalyptische Größe noch eine Chiffre für einen innerweltlichen Idealzustand, erst recht nicht für ein sichtbar verfaßtes Kirchentum, sondern die ihrem Bestand nach unsichtbare Gemeinschaft derer, die Gottesfreunde sind, weil und sofern sie je an ihrem natürlich-geschichtlichen Lebensort jenes autonome Pflichtethos leben. Seine jeweilige materiale Füllung empfängt es in den und durch die geschichtlichen Situationen und die Forderungen, welche sie stellen. Und das heißt: Die politisch-soziale Welt ist der Ort, an welchem dem Menschen der Wille Gottes begegnet – in den Geschicken und Fügungen, welche ihm widerfahren, und in den Pflichtgeboten, zu welchen sie sich verdichten. Jeder Gedanke daran, daß in der politisch-sozialen Welt ein bestimmter materialer, spezifisch christlicher Normenkanon durchzusetzen sei, ist verabschiedet – und erst recht der Gedanke, ein solcher Normenkanon mache zumindest ernsten, konsequenten Christen die aktive Mitgestaltung der politischsozialen und rechtlichen Weltordnung zum Problem. Vielmehr ist das nach den Maßgaben des vernünftig reflektierten Ethos gestaltete Arbeiten und Kämpfen in den unterschiedlichen Formationen der geschichtlichen Welt schlichtweg der Ort, an dem christlicher Glaube seine Lebensgestalt gewinnt – er befindet sich also in der Politik, im Rechtswesen oder im Kriegsdienst ebenso wenig im Exil wie in der Ehe oder in der Familie. Ist er deshalb zur restlosen Diffusion verurteilt? So verhält es sich nach Schleiermacher mitnichten. Das autonome Pflichtethos, welches den Menschen zum verantwortungsbewußten Bürger und Gestalter seines Gemeinwesens 77 A.a.O., S. 48. 78 Vgl. A.a.O., S. 34f. 79 Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, III. Stück, 1. Abt. Kapp. 3f.
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macht, ist ja keine humane Selbstverständlichkeit. Es ist in seiner religiösen Grundierung und Fundierung rückgebunden an Jesus Christus: Er ist der »Vermittler unserer Freundschaft mit Gott«,80 denn er ist als gelebte Gottesfreundschaft zugleich die Personifikation des Sittengesetzes, dessen Geltung wiederum sein Reich konstituiert: »Darum ist das billig der Anfang der Freundschaft, daß es für uns nichts furchtbares gebe in den Gesezen welche wir im Reiche Christi geltend finden, nichts zurükkschrekkendes in der Art wie er seine ihm anvertraute Gewalt handhabt, daß wir auch wo Ernst und Strenge walten, doch sagen müssen, Herr wo sollten wir hingehen, Du allein hast Worte des Lebens! […] daß der welchem Gewalt und Gericht übergeben sind uns nur der Weg ist, die Wahrheit und das Leben«.81
7.
Schleiermachers Predigt »Wie sich das Edlere in der Welt aus dem Niedrigen entwikkelt« (1807)
Während in dieser Predigt der Kontrast zwischen den Lebensdeutungen und Lebensführungen der Gottesfreunde und der Gottesknechte im Vordergrund steht, wird die Genese der Haltung der Gottesfreundschaft in der 8. Predigt der Reihe thematisiert. Unter dem Titel »Wie sich das Edlere in der Welt aus dem Niedrigen entwikkelt«82 allegorisiert Schleiermacher die Geschichte von Jesus auf der Hochzeit zu Kana und deutet die Wandlung von Wasser in Wein als Bild für den immer wieder neu sich ereignenden Transformations- und Bildungsprozeß, in dem Menschen auf den Weg aus der Befangenheit in Eudämonismus und Heteronomie in die Freiheit des autonomen Pflichtethos geführt werden.83 In einem Raisonnement, das an Spaldings »Bestimmung des Menschen« erinnert, legt Schleiermacher dar, daß und wie die Lebensform des Eudämonismus und der Heteronomie wesentlich aporetisch ist und darum über sich selbst hinausweist. Aber er problematisiert diesen Übergang, und er lokalisiert ihn in kommunikativen Prozessen: Diejenigen Mitmenschen, in denen die Alleinherrschaft von Eudämonismus und Heteronomie in ihren gröberen oder feineren Varianten schon durchbrochen ist, versuchen, ihren noch in jenen Haltungen befangenen Mitmenschen die Teilnahme an ihrer Autonomie im Pflichtethos zu eröffnen. Allein: Hier stößt aller menschliche Überzeugungs- und Erziehungseifer an unüberwindliche Grenzen. Ob sich in einem Menschen jene Revolution der 80 81 82 83
A.a.O., S. 47. A.a.O., S. 47f; vgl. Joh 6,68; 14,6. Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 174–195. Vgl. A.a.O., S. 192f.
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Denkungsart84 ereignet oder nicht, das liegt letztlich außerhalb aller menschlichen Verfügungsgewalt. Wo sie jedoch stattfindet, da geschieht sie in den Zusammenhängen menschlicher Kommunikation, bisweilen erleichtert und vorbereitet durch die konventionelle Verhaftung an die Observanzen statutarischer Religion.85 Letztlich allerdings ist es Christus selbst, der diesen Umschwung immer wieder initiiert und bewerkstelligt. Sein Wirken hat weder mit Ekstase oder Mystik zu tun noch ist es an ein quasi-magisch verstandenes biblisches Gotteswort oder ein abstrakt-formales Kerygma gebunden. Es geschieht vielmehr durch vernünftige, der ethischen Rechenschaft fähige Akte zwischenmenschlicher Kommunikation. Und so ist denen, welchen das im Wechselspiel von Eudämonismus und Heteronomie sich verfehlende Leben ihrer Mitmenschen Sorge bereitet, Überzeugungsarbeit aufgetragen: Sie ist »das einzige wodurch wir uns ein Verdienst um sie erwerben können das in etwas mehr besteht als gutem Wünschen«.86 Gewißheit darüber, daß diese Arbeit zum Ziel führen wird, gibt es nicht, denn es muß sich hier etwas ereignen, das mit keiner noch so feinen Technik herbeigeführt werden kann, und dieses Moment der Unverfügbarkeit und Unverrechenbarkeit benennt die religiöse Perspektive: »Es ist auch jezt Christus, es ist auch jezt die vereinigte Gewalt dessen, was durch ihn schon in der Welt gewirkt worden ist, wodurch immer noch Menschen der Gewalt des irdischen und sinnlichen entzogen zu einem höheren Leben und einer höheren Seligkeit gebildet werden«.87 Der Zusammenhang des ethisch-rechenschaftsfähigen sprachlich-kulturellen Handelns wird nicht unterbrochen, aber die religiöse Perspektive taucht ihn noch einmal in ein besonderes Licht: »In den Seinigen fortlebend, deren größte Angelegenheit es ist die Menschen zu Ihm zu ziehen ist Christus überall, eben so aufmerksam, eben so bereitwillig, und überall findet er früher oder später die Gelegenheit, wenn auch nur einigen, seine Wohlthaten zu spenden«.88
84 Vgl. zum Begriff Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, I. Stück, Allgemeine Anmerkung. 85 Vgl. Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 188f. – Hier steht deutlich sichtbar Kants relativierendes Urteil über statutarische Religionen als Introduktionsmittel des reinen Religionsglaubens im Hintergrund. In mehrfach gebrochener Weise geht diese Gedankenfigur auf das reformatorische Verständnis der Buße zurück; s. Martin Ohst: Vom Leistungsprinzip zum Bildungsgedanken. Motive und Tendenzen in Martin Luthers Verständnis der Buße, in: BThZ 34/2017, S. 47–72. 86 Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 186. 87 A.a.O., S. 191. 88 A.a.O., S. 180.
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8.
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Resümee: Schleiermachers politische Predigt im Kontext seines Gesamtwerkes und heutiger Predigtpraxis
Schleiermachers 1806–08 gehaltenen und 1808 gedruckten Predigten repräsentieren ein bestimmtes Stadium seiner intellektuellen Entwicklung zwischen dem Ende der romantischen Phase und der eigentlichen Reifezeit, die lebensgeschichtlich mit der beruflichen Etablierung in Berlin (1809/10) und literarisch der mit Erstauflage der »Kurzen Darstellung des Theologischen Studiums« (1811) begann: Das Zentrum seiner Ethik, die Güterlehre, baute er weiter aus, und seine Bestimmungen über die Eigenarten der »Vollkommenen ethischen Formen« und über die unterschiedlichen Weisen ihrer wechselseitigen Beeinflussung verfeinerten sich. Ebenso hat er das insbesondere in der Predigt »Wie sich das Edlere in der Welt aus dem Niedrigen entwikkelt« umrissene Konzept vom Fortwirken der Erlösungstätigkeit Christi in dem von ihm gestifteten Gesamtleben und mittels seiner als Schnittpunkt von Christologie, Ekklesiologie und Soteriologie weiter ausgearbeitet und dann in seinen Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre89 ein immer komplexeres Verständnis der ethisch-kulturellen Potenzen der christlichen Religion und ihrer geschichtlichen Realisationsgestalten ausgearbeitet. In der Zweiten Sammlung der Predigten finden sich hierzu erst Ansätze. Mich hat beim nochmaligen Lesen und Durchdenken dieser Texte einmal die Allgegenwart von Gedanken aus Kants Aufsatz »Zum ewigen Frieden« und aus seiner Religionsschrift überrascht. Und in Erstaunen versetzt hat mich sodann die – offenbar durch Kant bzw. den Hallischen Pietismus vermittelte – strukturelle Nähe bestimmter Gedankenverbindungen zu Elementen der frühen Bußtheologie Luthers, also zur Erstgestalt reformatorischer Theologie überhaupt. Diejenigen Reminiszenzen an reformatorisches Denken bzw. Konstrukte aus reformatorischen Gedankenfetzen, die dann seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts die Diskussionen um Theorie und Praxis politischer Predigt bestimmt haben, also Konzepte und Schlagworte wie »Zwei-Reiche-Lehre« und »Königsherrschaft Christi«,90 sind in dem von Schleiermacher glanzvoll repräsentierten Typus politischer Predigt völlig absent. Darum soll abschließend sein Profil noch einmal knapp markiert werden. Diese Predigten sind einmal darin politisch, daß sie Christenmenschen argumentativ zur leidens- und opferbereiten Treue gegen das um seine Existenz kämpfende Vaterland aufrufen. Dieses Vaterland ist für Schleiermacher der 89 Hg. von Ludwig Jonas, Sämmtliche Werke I/12, Berlin 1843. 90 Vgl. Hans-Walter Schütte: Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, in: Handbuch der christlichen Ethik Bd. I, Freiburg/Gütersloh 1978, S. 339–353. Kurt Nowak: Zweireichelehre. Anmerkungen zum Entstehungsprozeß einer umstrittenen Begriffsprägung und kontroversen Lehre, in: ZThK 78/1981, S. 105–127.
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Preußische Staat, aber dieser wird von Schleiermacher verstanden und gewürdigt als eine Größe, die sich noch auf dem Wege zu ihrer eigenen wahren Gestalt und Rolle hin befindet, nämlich zum deutschen Nationalstaat, in dem aus Untertanen partizipierende und verantwortlich mitbestimmende Staatsbürger werden. Deshalb kann der Wiederaufstieg Preußens, den er vor Augen hat, keinesfalls in einer Restauration bestehen, sondern er muß sich in einer umfassenden Reform bzw. Regeneration vollziehen.91 Schleiermacher verzichtet völlig darauf, diese politisch-ethischen Überlegungen in irgendeiner Weise durch den Rekurs auf die Bibel oder die kirchliche Lehrtradition autoritativ zu begründen: Er verläßt sich stattdessen auf die Plausibilität seiner Zeitdiagnosen sowie auf die intellektuelle Überzeugungskraft seiner an diese anknüpfenden handlungsleitenden Überlegungen. Im engen Zusammenhang damit steht, daß er seine Hörerschaft in keiner Weise als existierendes oder zu konstituierendes Kollektivsubjekt mit gemeinverbindlichen politischen Überzeugungen und gemeinsam zu vertretenden und durchzusetzenden praktischen, moralpolitischen Maximen anspricht. Was die Menschen, die den Gottesdienst besuchen, zur Gemeinde macht, ist ihr auf gleichartige Weise geschichtlich-individuell bestimmtes religiöses Bewußtsein: Sie sind durch Jesus Christus affiziert, sie sind Glieder des in ihm gestifteten Reiches Gottes, sie sind nicht mehr Gottes Knechte, sondern sie sind dazu bestimmt, immer mehr zu Gottes Freunden heranzureifen – in je individuellen, lebenslangen Bildungsprozessen, in denen das Zusammensein und der wechselseitige Austausch mit anderen Christenmenschen sie fördert. Die solchermaßen religiös gestimmten und bestimmten Menschen sind nun in soziale Zusammenhänge eingefügt: Als Männer und Frauen mit ihren unterschiedlichen Pflichten und Aufgabenbereichen im Hause und außerhalb des Hauses, als Staatsbürger bzw. als Untertanen, als Gewerbetreibende oder als Akademiker etc. Das Christsein ist nach Schleiermachers Verständnis kein Prädikat, das die Verfaßtheit eines menschlichen Subjekts alleingültig bestimmt, sondern das eine menschliche Subjekt ist immer zugleich und irreduzibel Subjekt einer ganzen Reihe von Prädikaten. Es spiegelt darin gleichsam mikrokosmisch den Makrokosmos der Gesellschaft wider, die ja auch nach seiner Ethik ein Ganzes von lebendig bei- und miteinander existierenden Bezugs- und Handlungssystemen ist: Staat und Haus/Ökonomie, Wis91 Vgl. vor allem die Predigt am Geburtstag Friedrichs d. Gr. 1808 »Ueber die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit. Am vierundzwanzigsten Januar 1808« (Schleiermacher: Predigten. Zweite Sammlung, S. 275–303). – Vgl. zu der mit dieser Predigt beginnenden besonderen Linie von weiteren zeitgeschichtlich-politischen Stellungnahmen Schleiermachers Martin Ohst: Der »Große Mann«. Zu einem Aspekt von Schleiermachers Geschichtsverständnis, in: M. Matthias/R. Roukema/G. van Klinken (Hg.), Erinnern und Vergessen – Remembering and Forgetting (Fschr. H.-M. Kirn), Leipzig 2020, S. 115–126.
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senschaft und Kirche – sie alle sind miteinander ein lebendig bewegtes Ganzes, aber keines dieser Sozialgefüge kann den anderen gegenüber den Anspruch erheben, es stehe für die Ganzheit des Ganzen und darum müßten sich ihm die anderen subordinieren. Schleiermachers Bild der Gesellschaft ist von der Grundannahme bestimmt, daß immerdar Konflikte entstehen, die zu lösen sind, indem widerstreitende legitime Interessen zum Ausgleich gebracht werden. Die so zu verstehende Gesellschaft ist der Ort christlichen Lebens. Das Christsein stattet den Menschen nicht mit einem aparten Kanon an fixierten Verhaltensmaximen und -regeln aus, sondern betrifft und prägt ihn in seinen naturwüchsig-sozialen Bezugssystemen und den Pflichten, welche sie für ihn bereithalten. Insofern ist Schleiermacher auch und gerade als politischer Prediger ein treuer Schüler Immanuel Kants und hält sich strikt innerhalb der von ihm aufgestellten Grenze: »Religion ist (subjektiv betrachtet) die Erkenntnis all unserer Pflichten als göttlicher Gebote«,92 und das heißt: Jedes materiale politisch-moralische Votum muß sich, und wenn es noch so kirchlich, biblisch oder jesuanisch ist, hinsichtlich seiner Plausibilität vernünftig ausweisen, d. h. den Beweis seiner Verallgemeinerbarkeit antreten. Das heißt für die Predigt: Sie hat politisch zu sein, weil und sofern Prediger und Predigthörer als Untertanen/Bürger (auch) in der Welt des Staates und der Politik leben, welche sie, als »Vaterland« gedeutet und angenommen, sittlich beansprucht. Politische Predigt leistet damit einen Beitrag zur Ausbildung einer öffentlichen Meinung,93 also des nach Schleiermacher wichtigsten Faktors bei der Durchbildung von Staatlichkeit zur bürgerlichen Partizipation und Mitbestimmung. Aber sie ist nicht das Organ einer sich selbst auf biblischer Autoritätsgrundlage als zugleich politische und überpolitische Moralautorität verstehenden Institution namens Kirche.
Literaturverzeichnis Quellen Fichte, Johann Gottlieb: Ascetik als Anhang zur Moral (1798), in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.), Fichtes Werke Bd. 11 (1835), Nachdruck Berlin 1971, S. 119–144. Kant, Immanuel: Zum Ewigen Frieden, B 1794. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 1794.
92 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, IV. Hauptstück, Teil I, B S. 229. 93 Vgl. Am 24. Januar 1817; SW III/3, S. 28–40, hier: S. 38 (KGA I.11).
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Schleiermacher, Friedrich: Über den Begriff der Hermeneutik I.II (1829), SW III/3, S. 344–386 (KGA I.11, S. 601–641). Schleiermacher, Friedrich: Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (1813), SW III/2, S. 246–286 (KGA I.11, S. 95–124). Schleiermacher, Friedrich: Briefwechsel und biographische Dokumente (KGA V), Berlin / New York 1985ff. Schleiermachers, Friedrich: Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, mit einer biographischen Vorrede, hg. v. Wilhelm Gaß, Berlin 1852. Schleiermacher, Friedrich: Brouillon zur Ethik, in: Ders.: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre (PhB 137), hg. v. Otto Braun, Leipzig 1913, S. 79–239. Schleiermacher, Friedrich: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 21830. Schleiermacher, Friedrich: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre (PhB 137), hg. v. Otto Braun, Leipzig 1913. Schleiermacher, Friedrich: Über die verschiedene Gestaltung der Staatsverteidigung (1820), SW III/3, S. 252–270 (KGA I.11, S. 363–377). Schleiermacher, Friedrich: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813), SW III/2, S. 207–245 (KGA I.11, S. 65–91). Schleiermacher, Friedrich: Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800 (KGA I.3). Schleiermacher, Friedrich: Predigten. 2. Sammlung, Berlin 1808 (KGA III.1, S. 203– 418). Schleiermacher, Friedrich [Anonymus]: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799 (KGA I.2). Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 2. Aufl., Berlin 1806 (KGA I.12). Schleiermacher, Friedrich: Die christliche Sitte, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1843 (SW I/12). Schleiermacher, Friedrich: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Halle 1806 (KGA I.5). Stoecker, Adolf: Das Salz der Erde. Ein Jahrgang Zeitpredigten, Berlin 1892. Stoecker, Adolf: Wach’ auf, Evangelisches Volk! Aufsätze über Kirche und Kirchenpolitik, Berlin o. J. (1893).
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Martin Ohst
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1789–1848: Politik und Predigt bei Schleiermacher
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Ruth Conrad
1848–1914: »Nicht Politik sollen unsere Prediger predigen, aber wirkliches Leben sollen sie mit dem Lichte Gottes beleuchten« (Friedrich Naumann). Die Predigt in den sozialen und nationalen Transformationen in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert* 1.
Einleitung
Predigtforschung ist ein Schnittstellenphänomen. Sowohl die historisch orientierte wie die gegenwartsbezogene Predigtforschung ist in unterschiedlichen akademischen Disziplinen Gegenstand wissenschaftlichen Arbeitens: in den Geschichtswissenschaften, in den Sprachwissenschaften und der Linguistik, in Literaturwissenschaften, in ausgewählten Kultur- und Sozialwissenschaften wie bspw. der Ethnologie bzw. Kulturanthropologie1 und eben auch in der Theologie, hier insbesondere in der Kirchengeschichte2 und der Praktischen Theologie. Idealerweise also erfolgt sowohl die historische wie die gegenwartsbezogene * Das titelgebende Zitat findet sich bei Friedrich Naumann: Gegen den Landwucher, in: ders.: Gotteshilfe. Gesamtausgabe der Andachten aus den Jahren 1895–1902, sachlich geordnet, Göttingen 31907, S. 231. 1 So widmete sich v. a. die Ethnologie bzw. Anthropologie in den zurückliegenden Jahren der Erforschung gegenwärtiger islamischer wie auch evangelikaler Predigtkulturen und deren Einfluss auf die jeweilige Gesellschaft bzw. Gemeinschaft. Für islamische Predigtkulturen vgl. v. a. die bahnbrechende Studie von Charles Hirschkind: The Ethical Soundscape. Cassette Sermons and Islamic Counterrepublics, New York 2006. Dann aber auch Richard T. Antoun: Muslim Preacher in the Modern World. A Jordanian Case Study in Comparative Perspective, Princeton 1989; Susanne Olsson: Preaching Islamic Revival. ʿAmr Khaled, Mass Media and Social Change in Egypt, London/New York 2015; Jacquelene G. Brinton: Preaching Islamic Renewal. Religious Authority and Media in Contemporary Egypt, Oakland 2016; Julian Millie: Hearing Allah’s Call. Preaching and Performance in Indonesian Islam, London 2017 und Max Stille: Islamic Sermons and Public Piety in Bangladesh: The Poetics of Popular Preaching, London 2020. Für den Evangelikalismus siehe v. a. Susan Harding: The Book of Jerry Falwell. Fundamentalist Language and Politics, Princeton 2000 und Grant Wacker: America’s Pastor. Billy Graham and the Shaping of the Nation, Cambridge/London 2014. – Innerhalb der deutschsprachigen Praktischen Theologie sind Ethnographien religiöser Reden weitgehend ein Forschungsdesiderat. Eine Ausnahme stellt dar Peter Meyer: Predigt als Sprachgeschehen gelebt-religiöser Praxis. Empirisch-theologische Beiträge zur Sprach- und Religionsanalyse auf der Basis komparativer Feldforschung in Deutschland und in den USA (PThGG 15), Tübingen 2014. 2 Vgl. hierzu im Überblick insbesondere Albrecht Beutel: Art. »Predigt«, in: HWRh 7 (2005), Sp. 45–96 und ders.: Art. »Predigt«, in: RGG4 3 (2008), Sp. 1585–1607.
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Predigtforschung in einem interdisziplinär angelegten Verfahren. Das dies bislang kaum geschieht, ist angesichts der enormen sozio-kulturellen und literarischen Bedeutung der Predigt sehr zu bedauern. Innerhalb der Praktischen Theologie ist es zuletzt vergleichsweise ruhig geworden um die Predigtforschung, und zwar sowohl um die historische wie die gegenwartsbezogene. Hierfür lassen sich mehrere Gründe finden: Erstens überwiegt in der Praktischen Theologie zuletzt ein Trend zu empirischen Forschungen.3 Historische Problemrekonstruktionen und systematische Untersuchungen sind gegenwärtig eher selten. Und wenn, dann beziehen diese sich auf die Theorie der Praxis, weniger auf die Praxis selbst. Dies gilt in besonderem Maße für die Homiletik. Deshalb ist zweitens festzustellen, dass die gegenwärtige Homiletik sich überwiegend der Theoriebildung widmet. Es geht darum, was eine gute Predigt ist bzw. wie diese zu sein hat. Kaum rekonstruiert wird, was in der Predigtpraxis geschieht, was in der Praxis wie und warum funktioniert oder eben auch nicht funktioniert.4 In der Konsequenz bleiben nicht nur die historische, sondern auch die gegenwartsbezogene Predigtforschung auf Einzelarbeiten beschränkt.5 Der empiric turn in der Praktischen Theologie ist in der Homiletik nur sehr verhalten angekommen. Die vereinzelt vorliegenden Studien wiederum konzentrieren sich überwiegend auf die Predigtwirkung am Ort des Individuums.6 3 Exemplarisch sei hier verwiesen auf: Praktische Theologie und empirische Religionsforschung (VWGTh 39), hg. v. Birgit Weyel, Wilhelm Gräb und Hans-Günter Heimbrock, Leipzig 2013. 4 Auf diese Differenz zwischen Predigttheorie und Predigtpraxis wurde bereits in den 1960ern verwiesen. Vgl. Dietrich Rössler: Das Problem der Homiletik (1966), jetzt in: Homiletisches Lesebuch, hg. v. Albrecht Beutel, Volker Drehsen und Hans Martin Müller, Tübingen 21989, S. 23–38 und Hans-Martin Müller, Art. Homiletik, in: TRE 15 (1986), 526– 565, hier 527, 41–43. 5 Solche Einzelarbeiten beschäftigen sich entweder mit der Predigtpraxis herausgehobener Persönlichkeiten, wie z. B. Sebastian Kuhlmann: Martin Niemöller. Zur prophetischen Dimension der Predigt (APrTh 39), Leipzig 2008 oder Christian Plate: Theorie und Praxis der Predigt im Gesamtwerk Otto Haendlers (APrTh 53), Leipzig 2014. Oder aber sie sind auf bestimmte historische Kontexte bezogen wie z. B. Karl-Hermann Kandler: Situationsbezogene Verkündigung. Die Predigt während der »Wende« 1989/90 in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen, Leipzig 1997; Peter Lippelt: Postulierter Pragmatismus. Studien zur Theorie und Praxis der evangelischen Predigt in der DDR (1949–1989), Leipzig 2015 und Birge-Dorothea Pelz: Revolution auf der Kanzel. Politischer Gehalt und theologische Geschichtsdeutung in evangelischen Predigten während der deutschen Vereinigung 1989/1990, Göttingen 2018. Daneben gibt es auch Untersuchungen, die die Behandlung bestimmter theologischer Themen in Predigten in den Blick nehmen. Für vorliegende Fragestellung ist dabei von besonderem Interesse Dieter Wittmann: Die Auslegung der Friedensanweisungen der Bergpredigt in der Predigt der Evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert (EHS.T 224), Frankfurt am Main 1984. 6 Vgl. Helmut Schwier / Siegfried Gall: Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption (Heidelberger Studien zur Predigtforschung 1), Berlin
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Und damit ist m. E. der dritte Grund für die gegenwärtige Zurückhaltung von Praktischer Theologie und Homiletik bezüglich der Predigtforschung benannt. Die gegenwärtige Homiletik orientiert sich überwiegend am Einzelnen. Ich zitiere exemplarisch Winfried Engemann: »Alle homiletische Kunst ist vergeblich, wenn sich der Einzelne aus der Predigtkommunikation nichts ersehen kann, wenn sie für seine Existenz keine Bedeutung gewinnt«.7 Die soziale Wirksamkeit der Predigt ist zuletzt eher in einen ›toten Winkel‹ gerutscht. Dieser Befund ist für die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Politik in der Geschichte der Predigt von 1848 bis 1914 von zentraler Bedeutung. Denn fragt man nach der homiletischen Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik, dann nimmt man wesentlich die soziale Dimension und soziale Wirksamkeit der Predigt in den Blick. Die Frage nach dem Verhältnis von Predigt und Politik versteht die Predigt als eine soziale und politische Ressource, die – und zwar gerade indem sie das Verhältnis von Religion und Politik explizit wie implizit aushandelt – einen Beitrag zur Bildung, Erhaltung und Erneuerung der sozialen Identität derjenigen Gruppe leistet, auf die sie sich bezieht.8 Wird diese soziale Wirksamkeit der Predigt homiletisch nicht hinreichend reflektiert, dann droht der Diskurs bezüglich der homiletischen Repräsentation des Verhältnisses von Religion und Politik auf Pro und Contra der sog. »politischen Predigt« reduziert zu werden.9 Dieser Diskurs aber ist in der Regel nicht frei von normativen Interessen bezüglich dessen, was eine gute Predigt leisten solle. 2008; dies.: Predigt hören im konfessionellen Vergleich (Heidelberger Studien zur Predigtforschung 2), Berlin 2013. 7 Winfried Engemann: Einführung in die Homiletik, 2., vollständig überarb. u. erw. Aufl., Tübingen 2011, S. 256. 8 Vgl. zu dem hier verwendeten Ressourcen-Konzept, das ›Ressourcen‹ als sozio-kulturelle Konstrukte und Aushandlungsprozesse darüber, was in einer Gesellschaft bzw. in einer Gruppe einen zentralen Wert darstellt, begreift Roland Hardenberg/Martin Bartelheim / Jörn Staecker: The ›Resource Turn‹. A sociocultural Perspective on Resources, in: ResourceCultures. Sociocultural Dynamics and the Use of Resources – Theories, Methods, Perspectives [RessourcenKulturen 5], hg. v. Anke Scholz, Martin Bartelheim, Roland Hardenberg und Jörn Staecker, Tübingen 2017, S. 13–23). Für die Predigtforschung wurde dieser Ansatz erprobt in Ruth Conrad/Roland Hardenberg: Religious Speech as Resource. A Research Report, in: International Journal for Practical Theology 1 (2020), S. 1–31 9 Dieser Diskurs erfährt gegenwärtig wieder mehr Aufmerksamkeit, erweist sich aber gelegentlich als die Kehrseite einer am Individuum – und zwar sowohl an der individuellen Predigtperson wie am individuellen Hörer – orientierten Homiletik. So v. a. bei Manuel Stetter: Wie sagen, was gut ist? Überlegungen zu drei Verfahrensweisen ethischer Predigt, in: Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung. Eine Veröffentlichung des Ateliers Sprache e. V. Braunschweig, hg. v. Helmut Schwier, Leipzig 2015, S. 159–183. Die grundsätzliche Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion und Politik in homiletischer Perspektive verhandelt der Tagungsband Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, hg. v. Sonja Keller, Leipzig 2017.
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Vor diesem Hintergrund werde ich die evangelische Predigtpraxis der ›Epoche‹ von 1848 bis 1914 daraufhin befragen, wie sich das Verhältnis von Religion und Politik in unterschiedlichen Predigtgattungen, zu unterschiedlichen Predigtanlässen und bei unterschiedlichen Personen jeweils konfiguriert und darstellt. Dazu werde ich zwei inhaltliche Perspektiven ins Zentrum rücken, die für diese Zeit als zwischen Staat und evangelischer Kirche bzw. zwischen Protestantismus und Politik besonders aushandlungsbedürftig gelten dürfen: Einmal die Stellung der Predigten zur sozialen Frage und zum anderen die Behandlung der nationalen Frage in den Predigten. Beide Fragen entfalten in dieser Epoche für den Protestantismus – neben der Verfassungsfrage – eine hohe Dynamik und unterliegen vielfältigen Transformationen.10 Diese können im Folgenden nicht vollständig nachgezeichnet werden. Daher werde ich Überblicksdarstellung und exemplarische Fallanalysen miteinander verbinden und mich bezüglich der Predigtpraxis ausschließlich auf die beiden genannten Fragen und die Darstellung ausschließlich auf gedruckte Predigten beziehen. Die erste Frage wird ausführlicher behandelt werden als die zweite. Auch wenn der liturgische Kontext, in welchem die Predigten gehalten wurden, nicht eigenständig analysiert wird, ist im Folgenden ein Verständnis leitend, dass die Predigt als religiöse Rede im rituell-liturgischen Kontext begreift. Einen Schwerpunkt lege ich auf die Evaluierung der homiletischen Entscheidungen und Perspektiven, wie sie in den Predigten erkennbar werden. D. h., gefragt wird nach der Funktion des biblischen Textes für die Repräsentation des Verhältnisses von Religion und Politik, nach dem Ziel der Predigt, welches sich mit der je spezifischen Repräsentation verbindet, nach den Argumenten, mit denen die spezifische Konfiguration dieses Verhältnisses gestützt wird, und damit auch danach, ob sich in den Predigten positionelle Muster der theologischen und homiletischen Theoriebildung spiegeln.11 Daher werden vergleichend auch ausgewählte Texte der zeitgenössischen Homiletik herangezogen, um das Theorie-Praxis-Verhältnis und damit mögliche Muster der Theoriebildung evaluieren zu können. Abschließend wird der Befund im Blick auf künftige Forschungen zur Predigtgeschichte als Kulturgeschichte zusammengefasst.
10 Dass sich »die Frage nach der Stellung des Protestantismus zur Politik« in der Stellung »zur Nation, zur Verfassung und zur sozialen Frage« konkretisiere, entfaltet ausführlich Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 486–507, 486. Die homiletische Behandlung der Verfassungsfrage wird in folgenden Überlegungen hintangestellt. 11 Nicht erörtert werden mögliche Korrespondenzen und Differenzen von religiöser und politischer Sprache, die sich in den Predigten finden und die sich auf die Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik abbilden.
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»[U]nserem arbeitenden Volke mit neuen Zungen das alte Evangelium zu predigen«12 – Die Predigt und die soziale Frage
»Die Kirche hat die Arbeiterschaft weithin verloren«,13 so fasst Thomas Nipperdey kurz und bündig das Verhältnis von Kirche und Arbeiterschaft zusammen. Dass der evangelischen Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Integration der Industriearbeiter nicht umfänglich gelungen ist und die soziale Frage auch eine nationale Frage war, ist ein hinlänglich bekanntes und oft diskutiertes Phänomen. Homiletisch von Relevanz ist m. E., dass dieser Umstand wesentlich an der engen Verbindung der Kirche mit dem Staat und den herrschenden Klassen lag.14 So entstammten die predigenden Pfarrer teilweise einer anderen sozialen Schicht und dass sie eine akademische Ausbildung durchlaufen hatten, prägte die Predigten in sprachlicher wie inhaltlicher Gestaltung. Zeitgenössisch entstand einerseits der Eindruck, die Kirche sei »im wesentlichen die Pastorenkirche der Besitzenden und Gebildeten«.15 Andererseits aber wurde beklagt, dass die ethischen wie politischen Überzeugungen innerhalb dieser »Pastorenkirche« oft eher am ›Kleinbürgertum‹ orientiert seien. Dieses galt als die eigentliche Klientel der Kirche. Es sei ein »kleinbürgerlicher Geist in die Kirche gekommen«, klagte beispielsweise der Marburger Praktische Theologe Friedrich Niebergall (1866–1932). »Jene Schichten sind konservativ und halten die Kirche; die Kirche ist konservativ und hält zu diesen Schichten. Das ist der Kleineleute-Geruch, von dem oft vornehme Zeitungen sprechen, das ist auch die Wurzel der langweiligen Ehrbarkeit und pathetischen Feierlichkeit im Stil, die die Kirche diesen Kreisen zuliebe pflegt, weil sie etwas Drum und Dran haben wol-
12 Paul Drews: Die Kirche und der Arbeiterstand, in: Die Verhandlungen des zwanzigsten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Heilbronn von 1. bis 3. Juni 1909, Göttingen 1909, S. 106–129, 121. 13 Zit. bei Joachim Mehlhausen: Die Christlich-soziale Bewegung, der Zentralverein für Sozialreform und die innere Mission, in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 2: Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850–1918), hg. v. Joachim Rogge und Gerhard Ruhbach, Leipzig 1994, S. 258–284, 262. Die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses von Kirche und entstehender Arbeiterschicht wie auch die unterschiedlichen kirchlich-theologischen Haltungen zur Sozialdemokratie kann hier nicht nachgezeichnet werden, auch wenn sie den Hintergrund für die im Folgenden skizzierten Predigttypen bildet. 14 Auch der entstehende Anstalts- und Vereinsprotestantismus, der die sozialen Verwerfungen zunächst sensibel wahrgenommen hatte, agierte zunehmend staatsnah und in der Tendenz patriarchal-hierarchisch. 15 Martin Wenck: Friedrich Naumann. Ein Lebensbild, hg. v. der Staatsbürgerschule Berlin, Berlin 1920, S. 50.
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len«.16 Demgegenüber blieb die Lebenswelt der Arbeiter – wie auch die des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums – den meisten Pfarrern strukturell fremd.17 Dieser Umstand bildete sich, wie sich zeigen wird, in unterschiedlicher Weise in der Predigtpraxis ab. Blickt man auf die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in Predigten, so finden sich – konfessionsübergreifend – erste maßgebliche Impulse bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Exemplarisch sei erinnert an die Predigttätigkeit von Johann Hinrich Wichern (1808–1811)18 oder an die Adventspredigten des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) im Jahr 1848.19 Im Folgenden wird der Schwerpunkt freilich auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts gelegt. Hier lässt sich eine dynamische Heterogenisierung der politischen Gesinnungen unter den protestantischen Pfarrer konstatieren. Die Auseinandersetzung mit der sogenannten sozialen Frage erweist sich als Trennscheide. Sie wird einerseits im Horizont einer als notwendig und wünschenswert eingestuften Armenfürsorge verhandelt, andererseits aber auch im Horizont als ein grundlegendes politisch-ökonomisches Problem. Nicht wenige Pfarrer zeigten sich jetzt, so der Rückblick des Praktischen Theologen Paul Drews (1858–1912), willens, »dem Arbeiterstand wirtschaftlich zu helfen, nicht mit Wohltaten, sondern mit Rechten und Einrichtungen, ihm Anteil zu gewähren an den Gütern unserer Kultur, ihn fest anzuschweißen an unseren Gesellschaftsorganismus und daher auch von unserer Kirche abzustreifen alles, was ihr an einseitigem Klassencharakter kraft ihrer Geschichte anhaftete, sie vor allem in 16 Friedrich Niebergall: Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage. Bd. 1: Grundlagen. Die ideale und die empirische Gemeinde. Aufgaben und Kräfte der Gemeinde, Tübingen 1918, S. 150. 17 An dieser Distanz zur Lebenswelt und der hieraus resultierenden Unkenntnis setzt bekanntlich die sog. »empirische Wendung« in der Praktischen Theologie in dieser Zeit an. Im Blick auf die Wahrnehmung der sozialen Bedingungen der Arbeiterwelt ist von besonderer Bedeutung Paul Göhre: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Sozialreportage eines Pfarrers um die Jahrhundertwende (GTBS 268), hg. v. Joachim Brenning und Christian Gremmels, Gütersloh (1891) 21978. 18 Das Motto von Wichern lautete bekanntlich: »Den Armen muss das Evangelium gepredigt werden« (Johann Hinrich Wichern: Kommunismus und die Hilfe gegen ihn [1848], in: ders. Sämtliche Werke Bd. 1: Die Kirche und ihr soziales Handeln. Grundsätzliches und Allgemeines, hg. v. Peter Meinhol, Berlin/Hamburg 1962, S. 133–151, 142; im Orig. hervorgeh.). Vgl. hierzu auch Walter Göggelmann / Gerhard K. Schäfer: Johann Hinrich Wichern. Ausgewählte Predigten. Einleitung, in: Johann Hinrich Wichern. Ausgewählte Predigten (VDWI 50), hg. v. Volker Herrmann und Gerhard K. Schäfer, Leipzig 2014, S. 17–53. 19 Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Schriften, Aufsätze und Reden. 1848–1866, bearb. v. Erwin Iserloh, Christoph Stoll, Emil Valasek und Norbert Jäger (Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler Sämtliche Werke und Briefe, Abt.I/1), Mainz 1977, S. 35. Für den Bereich der katholischen Predigt in der Zeit bis 1848 vgl. auch Michaela Collinet: Frohe Botschaft für die Armen. Armut und Armenfürsorge in der katholischen Verkündigung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (KoGe 49), Stuttgart 2015.
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der Einzelgemeinde volkstümlicher auszugestalten, und zuletzt: unserem arbeitenden Volke mit neuen Zungen das alte Evangelium zu predigen«.20 Drews spricht im Rückblick auf diesen Aufbruch nach 1890 gar von einem »Frühlingshauch sozialer Begeisterung«.21 Dieser zeitweilige Aufbruch verdankt sich für das Gebiet Preußens unter anderem einem Erlass des Evangelischen Oberkirchenrats von Preußen, der nach dem Ablauf des sogenannten Sozialistengesetzes im April 1890 eine aktive Teilnahme der Pfarrer an den Sozialdebatten der Zeit gefordert hatte, so dass es zu jener »sozialreformerische[n] Aufbruchsstimmung in der Kirche« kam.22 Am 16. 12. 1895 jedoch mahnte der Oberkirchenrat aufgrund veränderter politischer Rahmenbedingungen – unter anderem durch den Einfluss des Industriellen Carl Ferdinand von Stumm-Halberg (1836– 1901) ging Kaiser Wilhelm II auf kritische Distanz zur Sozialdemokratie – wieder mehr Zurückhaltung an. Das Verhältnis der Kirche zur Arbeiterschaft wie auch zur Sozialdemokratie blieb daher ambivalent, in der Tendenz patriarchalisch geprägt bzw. im Blick auf die Sozialdemokratie weitgehend von Ablehnung bestimmt. Diese Ambivalenz bildet sich in der homiletischen Behandlung der sozialen Frage wie auch in der konkreten Predigtpraxis ab. Von besonderem Interesse sind hierbei die unterschiedlichen Konfigurationen der sogenannten sozialen Predigt. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts wird sie innerhalb der homiletischen Debatte als eigener, wenn auch nicht ›stilreiner‹ Predigttyp benannt und diskutiert23, wie z. B. beim 5. Evangelisch-Sozialen Kongress 1894 in Frankfurt/Main.24 Bis in die gegenwärtige homiletische Diskussion ist freilich ihre homiletische Zuwie Einordnung alles andere als eindeutig. Nach Hans Martin Müller gilt die ›soziale‹ Predigt als »Sonderform der speziellen Predigt«.25 Friedrich Wintzer dagegen versteht sie als einen »Modellfall politischer Predigt«26 und rechnet zur 20 21 22 23
Drews: Die Kirche und der Arbeiterstand, S. 121. A.a.O., S. 122. Nipperdey: Geschichte, S. 499. Vgl. z. B. Martin Schian, Neuzeitliche Predigtideale, in: MPTh 1 (1904), S. 88–109, abgedruckt in: Protestantische Predigtlehre. Eine Darstellung in Quellen, hg. v. Ruth Conrad und Martin Weeber, Tübingen 2012, S. 137–156; Ders.: Praktische Predigtlehre (Praktischtheologische Handbibliothek 2), Göttingen 31923, S. 15–21. 24 Vgl. v. a. [Hermann] Cremer: Die soziale Frage und die Predigt, in: Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. Nach den stenographischen Protokollen, Berlin 1894, S. 11–22. 25 Hans Martin Müller: Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, S. 129. Die Rede von der »speziellen Predigt« hat maßgeblich geprägt Paul Drews: Die Predigt im 19. Jahrhundert. Kritische Bemerkungen und praktische Winke (Vorträge der theologischen Konferenz zu Giessen 19. Folge), Giessen 1903. 26 Friedrich Wintzer: Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der ›dialektischen Theologie‹ in Grundzügen (APTh 6), Göttingen 1969, S. 149. Vgl. auch ders.: Evangelische Predigt seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: Seelsorge und Diakonie in
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›sozialen Predigt‹ im weiteren Sinn auch diejenigen Predigten, »die sich durch einen ›sozialen Gehalt‹ auszeichnen.«27 Die folgende Darstellung stellt in einem ersten Schritt einmal nicht die prominenten Vertreter der ›sozialen Predigt‹ ins Zentrum – wie beispielsweise den aufgrund seiner antisemitischen Auslassungen hochgradig umstrittenen Adolf Stoecker (1835–1909), der freilich »das soziale Thema unverlierbar auf die Tagesordnung der Kirche gesetzt« hat28 oder die Predigtpraxis der religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz (1869–1945)29 und Hermann Kutter (1863–1931). Stattdessen geht die Darstellung von zwei Sammelbänden, deren Herausgebern und den dort vertretenen Autoren aus. Beide Bände erschienen innerhalb des erwähnten ›sozialpolitischen Interregnums‹ von 1890–1895. Dass beiden Bänden auch eine umfangreiche homiletische Einleitung beigegeben ist, erweist sich für die Analyse als zusätzlich hilfreich. Es handelt sich dabei um folgende Werke: (1.) Im Jahr 1892 gab Ludwig Weber (1846–1922), von 1881 an Pfarrer in Mönchengladbach und einer der Mitbegründer des Evangelisch-Sozialen Kongresses, unter dem Titel »Christus ist unser Friede« soziale »Zeitpredigten und Betrachtungen« heraus.30 Er sammelte darin einerseits Predigten von namhaften
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Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (VHKB 74), hg. v. Kaspar Elm und Hans-Dietrich Loock, Berlin / New York 1990, S. 293–306. Wintzer: Homiletik, S. 151. – Es stellt ein bedauerliches Desiderat der homiletischen Forschung dar, dass bislang kaum detaillierten Studien zur Genese, theologischen Struktur, sozio-kulturellen Kontextualisierungen wie lokalen Ausprägungen der ›sozialen‹ Predigt im Protestantismus vorliegen. Gerade im Hinblick auf ein profiliertes Verständnis dessen, was heute gemeinhin als ›politische Predigt‹ bezeichnet wird, versprechen solche historischen Studien einen erheblichen Erkenntniszugewinn. Nipperdey: Geschichte, S. 497. Vgl. z. B. Adolph Stoecker: Abendpredigt zum Schlusse des Congresses für Innere Mission, gehalten am 25. September 1879 in der Stiftskirche zu Stuttgart, Stuttgart 1879; ders.: Zur Gemeinschaftspflege und kirchlich-sozialen Arbeit. Predigten und Reden gehalten in Kornthal und Stuttgart am 30. April und 1. Mai 1899, Berlin 1899. Vgl. hierzu den Sammelband Leonhard Ragaz: Dein Reich komme, zweite, vermehrte Aufl., Basel 1911 sowie die Darstellung bei Ulrich von den Steinen: Agitation für das Reich Gottes. Ein Beitrag zur religiös-sozialen Predigtpraxis und homiletischen Theorie bei Leonhard Ragaz unter besonderer Berücksichtigung seiner unveröffentlichten Vorlesungsmanuskripte (BEvTH 77), München 1977. Christus ist unser Friede. Soziale Zeitpredigten und Betrachtungen, gesammelt und hg. v. [Ludwig] Weber. I. Sammlung. Mit einer Einleitung des Herausgebers: Über die soziale Aufgabe der Predigt in unserer Zeit, Göttingen 1892. – Zu Weber siehe: Ludwig Weber. 1881– 1914 Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Mönchengladbach. Leben und Arbeit eines evangelischen Sozialreformers. Im Auftrag der Presbyterien der Evangelischen Kirchengemeinden Mönchengladbach, hg. und eingeleitet v. Dieter Pauly, Mönchengladbach 1986. Neben biographischen Ausführungen finden sich dort weitere Texte zur Aufgabe der Predigt wie auch zu sozialpolitischen Fragen. Dann jetzt auch Karl-Heinz Fix: Art. Weber, 1. Ludwig, in: RGG4 8 (2005), Sp. 1316.
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Vertretern aus Kirche und Theologie wie beispielsweise Friedrich Naumann,31 Paul Drews, Otto Baumgarten, andererseits aber auch von weniger prominenten, freilich lokal relevanten Kirchenmännern. Die politisch-religiöse Gesinnung Webers beschrieb Nipperdey anhand dessen Haltung zu den Evangelischen Arbeitervereinen, die dieser »betont kirchlich und scharf anti-sozialdemokratisch« ausrichtete und sie zugleich »in Beziehung zu den entstehenden christlichen Gewerkschaften« brachte.32 (2.) Nahezu zeitgleich und im gleichen Verlag, nämlich im Jahr 1893 im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, veröffentlichte Paul Walther, Pastor in Moritzburg bei Zeitz, Sociale Gedanken in Anlehnung an die Sonn- und Festtags-Evangelien mit Einleitung und Nachwort. Walthers Band ging hervor aus einem vom Königlichen Konsistorium der Provinz Sachsen den Diöcesan-Konferenzen gestellten Proponendum: »Wie sind die socialen Probleme der Gegenwart auf der Kanzel zu behandeln?«.33 Stellt man den Inhalt wie auch jeweils die spezifische Einleitung beider Bände vergleichend nebeneinander, so fällt auf, dass sich auf dem Feld der ›sozialen‹ Predigt die in der Forschung bekannten religions-, mentalitäts- und kirchenpolitischen Milieudifferenzen wie auch -fragmentierungen abbilden, diese sich freilich zugleich, je nach Individualität des Predigers und nach situativem Anlass, ineinanderschieben und so in immer auch veränderten Konfigurationen erscheinen. Im Blick auf das hier interessierende Verhältnis von Religion und Politik, wie es in Predigt und homiletischer Theorie begegnet, sollen drei mögliche Konfigurationen dieses Verhältnisses im Blick auf die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage rekonstruiert werden.
2.1
Die homiletische Betonung der ethisch-religiösen Dimension der sozialen Frage
Für die Behandlung der sozialen Frage in der Predigt wird in Anschlag gebracht, dass diese zwar in der Predigt nicht verschwiegen werden dürfe, die Predigt aber nicht der Ort sei, die politische Dimension dieser Frage zu behandeln, sondern 31 Zu Naumann siehe unten Abschnitt 1.3. 32 Nipperdey: Geschichte, S. 502. Die Position Webers von ihm selbst dargelegt findet sich in: Ludwig Weber: Die Behandlung der sozialen Frage auf evangelischer Seite. Ein Bitt- und Mahnwort (Flugschriften des evangelischen Bundes 15), Halle 1888, jetzt in: Von der kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II (1881–1890). 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearb. v. Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter (Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Sozialpolitik II. Abteilung), Mainz 2003, S. 315–329. 33 Paul Walther: Sociale Gedanken in Anlehnung an die Sonn- und Festtags-Evangelien mit Einleitung und Nachwort, Göttingen 1893, S. 1.
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vielmehr deren ethisch-religiöse Dimension zum Ausgangspunkt der Argumentation zu machen habe. Von hier aus sei die Predigtintention zu beschreiben. In diesem Sinne konstatiert Paul Walther in der Einleitung: »Daß die socialen Probleme der Gegenwart auf der Kanzel zu behandeln sind, ist mir nicht fraglich, ob ich es auch für selbstverständlich halte, daß sie nach der rein technischen, national-ökonomischen, socialpolitischen Seite nicht auf die Kanzel gehören; nur nach ihrer religiös-sittlichen Seite können sie für die Predigt in Betracht kommen«.34 Denn nur die Behandlung der sozialen Frage »nach ihrer religiössittlichen Seite«35 sichert homiletisch die Unterscheidbarkeit von Religion und Politik, von Predigt und politischer Rede. Zugespitzt: »Die Kanzel ist zur Verkündigung des Wortes Gottes bestimmt, nicht aber zur Erörterung socialer Zeitund Streitfragen.«36 Eine zu radikale Unterscheidung freilich, so schränkt Walther ein, droht den Lebens- und Weltbezug der Predigt zu unterlaufen. »[W]illst du etwa Gottes Wort verkündigen ohne Beziehung auf das wirkliche Leben, auf die Strömungen der Zeit, auf die Ereignisse der Gegenwart? Soll die Kanzel zum Kloster werden, und die Predigt die Nonne darin?«37 In diesem Fall würde die Predigt irrelevant für die Hörer und deren Lebensvollzüge. Wie aber sind die realen Lebensvollzüge und damit die lebenspraktische Verbindung von Religiösem und Politischem in der Predigt darzustellen? Walther votiert für eine Verlagerung in die individuellen ethischen Haltungen. Zwar sollten in der Predigt keine politischen Stellungnahmen abgegeben und entsprechende Perspektiven nicht verfolgt werden, aber gerade indem dies nicht geschieht und die soziale Frage stattdessen ausschließlich »nach ihrer religiös-sittlichen Seite«38 behandelt wird, stelle die Predigt einen originären Beitrag zur sozialen Frage dar und trage zur Abwehr und Rückdrängung der Sozialdemokratie bei.39 Damit ist ein entscheidender Punkt benannt – das Verhältnis von Religion und Politik wird im Blick auf die soziale Frage von Walther zugespitzt auf eine kritische Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie. Dieser Sachverhalt ist für die Beschreibung der Predigtaufgabe von hervorgehobener Bedeutung, denn zwischen Kirche und Sozialdemokratie existiere, so 34 35 36 37 38 39
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 2. Ebd. A.a.O., S. 1. Die ablehnende Haltung Walthers zur Sozialdemokratie spiegeln bspw. folgende Äußerungen: So fragt er einerseits: »Vertritt nicht die Socialdemokratie so manche Wahrheit? Bestehen nicht thatsächlich viele und schwere Nothstände? Wie ist denen abzuhelfen?«. Andererseits aber schränkt er ein: »Ist nicht die Socialdemokratie, bei uns wenigstens, auch eine gottlose Partei? Vermengt sie nicht Wahrheit und Irrthum? Greift sie nicht mit dreister Zunge unsere Religion, unsere Kirche an?« (a.a.O., 3; Hervorh. im Orig.).
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Walther, im Blick auf die öffentliche Rede eine rhetorische Konkurrenzsituation. Erstens seien aus den Reihen der Sozialdemokraten und Kommunisten bedeutende Redner mit hoher Wirksamkeit hervorgetreten40 und zweitens stelle insbesondere das Aufkommen der sozialdemokratischen (Massen-)Versammlungen eine rhetorisch-liturgische Konkurrenz für kirchliche Redesituationen und -kulturen dar. »Seht doch die socialdemokratischen Volksversammlungen, wie die besucht sind, wie das Volk da hineinströmt! Wie kommt das? Die socialdemokratischen Redner sind eben überaus praktische Leute, die wissen, wo die Leute der Schuh drückt, die wissen in ihren Ansprachen zu packen und zu fesseln.«41 Die Predigt dagegen habe »vielfach die Fühlung mit dem Volke und seinen Bedürfnissen verloren.«42 Und eben deshalb verliere sie an öffentlicher Bedeutung und gesellschaftlicher wie sozialpolitischer Relevanz. Diese könne sie nur wiedergewinnen, indem sie zur ›sozialen‹ Predigt werde, sich also der Wahrnehmung der konkreten Lebensumstände und realer Armut nicht verschließe: »Die heutige Predigt muß sociale Predigt werden, so wird sie auch ein gut Theil volksthümlicher, eindrucksvoller und fruchtbarer werden«.43 Eine theologisch adäquat konzeptionalisierte ›soziale Predigt‹ vermöge, so die Idee bei Walther, der Sozialdemokratie eine Alternative entgegenzusetzen und damit einen Beitrag »zur friedlichen Lösung der socialen Frage« zu bieten.44 Gerade hierin liege ihr spezifisches rhetorisch-kommunikatives, aber eben auch gesellschaftliches Potential. Denn die Predigten suchen nach Walther nicht die politische Revolution, also den Umsturz der sozialen wie gesellschaftlichen 40 Man kann hier bspw. an Rosa Luxemburg (1870–1919), Karl Liebknecht (1871–1919) und August Bebel (1840–1914) denken. 41 A.a.O., S. 5. 42 Ebd. 43 A.a.O., S. 4 (Hervorh. im Orig.). – Der Hinweis auf den fehlenden volkstümlichen Charakter findet sich in zahlreichen homiletischen Texten dieser Zeit und dient als Legitimation sowohl für eine Hinwendung zu empirischen Methoden innerhalb der Praktischen Theologie wie auch zur Etablierung neuer Predigtorte und -formen in evangelistisch orientierten Kreisen (vgl. dazu unten die Ausführungen zu Naumanns Predigtpraxis). Zugleich durchzieht dieser Topos auch zahlreiche Berichte über Predigten und Prediger und dient – auch via negationis – zur Charakterisierung derselben. Vgl. z. B. einen Bericht über Stoeckers Rede am 03. 01. 1878 anlässlich der Volksversammlung zur Begründung einer christlich-sozialen Partei: »Zum ersten Male stand ein königlich-preußischer Hofprediger vor den sozialistischen Maßen Berlins. Seine Rede war eine Meisterleistung. Nichts vom Predigtton, alles war volkstümlich packend und bewies politisch Instinkt, hier sprach ein oratorisches Naturtalent« (Karl Kupisch: Adolf Stoecker. Hofprediger und Volkstribun. Ein historisches Porträt [Berlinische Reminiszenzen 29], Berlin 1970, S. 29). Der Hinweis auf das »oratorische[] Naturtalent« Stoeckers ist auch deshalb aufschlussreich, weil damit signalisiert wird, dass es Stoecker – wie auch Friedrich Naumann – aufgrund ihrer rhetorischen Begabung durchaus möglich war, in der Konkurrenz mit sozialdemokratischen Rednern kirchliche bzw. religiöse Positionen adäquat zu vertreten. 44 A.a.O., S. 7.
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Ordnung.45 Stattdessen zielen sie darauf, bei den Hörern eine soziale, gemeinwohlorientierte Gesinnung zu befördern. Das soziale Potential des Evangeliums liege in der Transformation der Gesinnung des Einzelnen – er soll sich stärker am Gemeinwohl orientieren. Der Prediger dürfe »nicht abstrakt individualistisch verfahren, er darf die sozialen Sünden nicht ungerügt lassen, er muss das Evangelium als die Macht verkünden, welche zwar nicht die sozialen Fragen lösen, aber zur Lösung der sozialen Frage das rechte Herz geben kann,« so formuliert in diesem Sinne etwa auch der Breslauer Praktische Theologe Martin Schian (1869–1944).46 Die soziale Frage wird insofern als eine ethisch-religiöse behandelt, als dass die Predigt nicht auf eine Änderung der politische Gesinnung zielt, sondern auf eine Transformation der ethisch-religiösen Haltungen im Einzelfall. Das Verhältnis von Religion und Politik wird homiletisch zu einer Frage der religiösen Haltung und Gesinnung des einzelnen Hörers. Als ein Beispiel für diese Umsetzung dieser Argumentationslogik eignet sich eine Predigt von Paul Walther selbst, und zwar zu Lk 16, 19–31, dem Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus.47 Im Rahmen dieser Predigt werden die soziale Not und die soziale Ungerechtigkeiten weder dementiert noch beschönigt oder transzendiert. Der im biblischen Text angelegte Antagonismus von materiellem Reichtum und materieller Armut wird nicht als ein historischer behandelt, sondern als einer, der sich auch jetzt, in der Gegenwart der Hörer findet.48 Als Beispiel wird unter anderem auf die zeitgenössisch drängende Wohnungsfrage verwiesen. So wohne im Gleichnis der Reiche »im stolzen Palaste«, der Arme »obdachlos im Freien vor fremder Thür kauernd«.49 Dieser soziale Gegensatz wird mittels einer rhetorischen Frage auf die Gegenwart bezogen: »Giebt es solche grellen, erschütternden Gegensätze heute noch?«. Die Antwort erfolgt im Modus eines Analogieschlusses: »Leider ja, noch immer, auch noch in unserem christlichen Volke. In der Großstadt zumal drängen sie sich überall auf. Hier ein glänzender Palast mit 20, 30 Zimmern, die einer einzigen kleinen Familie zur Verfügung stehen, daneben eine fürchterliche Kellerwohnung mit 2 engen, dumpfen, licht- und luftlosen, ungesunden Räumen, in der 10 oder mehr Menschen zusammengepfercht wohnen und schlafen müssen«.50
45 Gegen eine solche zu einseitige Betonung des revolutionären Charakters der Sozialdemokratie votiert u. a. sehr kritisch und dezidiert Hermann Kutter: Sie müssen! Ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft, Jena 1910, S. 69–93. 46 Schian: Predigtideale, S. 139f. 47 Walther: Sociale Gedanken, S. 158–172. 48 Zum Problem historischer Armutsforschung und deren Rezeption für homiletische Fragestellungen vgl. Collinet: Frohe Botschaft, S. 99–186. 49 Walther: Sociale Gedanken, S. 159. 50 Ebd.
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Dieser Antagonismus wird in weiteren, teilweise drastischen, jedenfalls aber anschauungsgesättigten Beispielen von Walther entfaltet, um von hieraus den Hörern eine Veränderung ihrer Haltung zu empfehlen. Da soziale Ungleichheit ein vom Menschen zu verantwortender Zustand sei, könne sie nur durch eine Änderung der religiös-ethischen Gesinnung überwunden werden: »Christlicher Geist, sociale Gesinnung wird diese Aufgabe lösen, wird auch zu den Opfern sich verstehen, die deren Lösung für das Gemeinwohl erfordert.«51 Eben diese Transformation der individuellen religiös-ethischen Gesinnung führe zu einer Erneuerung der Gemeinschaft und gerade nicht die politisch-revolutionäre Umgestaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung: »Nur hinweg mit dem heillosen Egoismus, der nur sich kennt und liebt, der vergißt, daß der Einzelne nur Glied ist an dem großen Volkskörper, welcher in allen seinen Theilen von gesundem Leben erfüllt sein muß, soll nicht die Krankheit einzelner Glieder allmählich den ganzen Körper zerstören.«52 Einem vermeintlich rein mechanisch-technischen Verständnis von Gemeinschaft wird die Denkfigur des gesellschaftlichen Organismus entgegen gesetzt, in welche auch das vom Redner favorisierte Verhältnis von Religion und Politik eingezeichnet wird. Die Vorstellung eines lebendigen Organismus orientiert die Verhältnisbeschreibung von Religion und Politik, von Kirche und sozialer Gemeinschaft dahingehend, dass die Religion der Beförderung einer individuellen ethisch-religiösen Gesinnung dient, welche den sozialen Körper lebendig und funktionsfähig hält.53 Im Blick auf die Predigt gilt es festzuhalten, dass die Rezeption des Organismusgedankens homiletisch darauf hinausläuft, das Ziel der Predigt eher als Generierung von Einheit statt als Diskurs von Heterogenität zu bestimmen. Die Hörer der Predigt werden aufgefordert, sich innerlich durch die Not der ›Armen‹ berühren zu lassen, arme Menschen aufzusuchen und persönlich kennenzulernen, gleichsam in eine ihnen fremde Lebenswelt hinein zu gehen. Dank einer Ausrichtung der Leserichtung des Gleichnisses vom reichen Mann hin zum armen Lazarus werden die Hörer aufgefordert, die Position des reichen Mannes zu verlassen und die Sünde der Teilnahmslosigkeit hinter sich zu lassen. Die Hörer der Predigt sind nicht die Armen, sondern diejenigen Menschen, die Mittel und Kapazitäten zur Fürsorge und Hilfe hätten. Die ›Armen‹ sind Thema, nicht Zielgruppe der Predigt.54 Geredet wird über, nicht mit den ›Armen‹. Dem Reichen
51 A.a.O., S. 161. (Hervorh. im Orig.). 52 A.a.O., S. 162. 53 Zur kirchentheoretischen und homiletisch-rhetorischen Relevanz der Organismusmetapher vgl. Ruth Conrad: Kirchenbild und Predigtziel. Eine problemgeschichtliche Studie zu ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik (PThGG 11), Tübingen 2012, v. a. S. 64–84. 54 Vgl. zu dieser hermeneutisch-homiletischen Strategie Ruth Conrad: Parteiisch predigen!? Eine homiletische Analyse theologischer, ekklesiologischer und weltanschaulicher Grund-
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»fehlte es an Barmherzigkeit, an Nächstenliebe. Es fehlte ihm auch an Frömmigkeit, an Gottesliebe.«55 Und deshalb gilt es: »Die verborgene Armuth in den Kellern und Mansarden und Höfen und Hintergebäuden, in den Armenvierteln! Die aufsuchen, kennen lernen, auf sich wirken lassen, sich durch’s Herz gehen lassen, daß man die fürchterliche Lage dieser Armen vergleiche mit dem überreichen Luxus und Wohlleben im eigenen Hause, daß man zu der Überzeugung sich drängen lassen: ›Nein, das ist nicht mehr menschenwürdig, das schreit laut zum Himmel, das ist nicht zu ertragen, nicht länger zu dulden, da muß etwas geschehen, muß viel geschehen!‹ und daß man nun Herz und Hand aufthue, aber auch alles Ansehen und allen Einfluß geltend mache bei den Behörden, in der Öffentlichkeit, daß diese Nothstände allgemein bekannt werden, und daß so bald, wie möglich, wirksame Abhilfe erfolge […]«.56 »Abhilfe« meint bei Walther in dezidierter Differenz zur Sozialdemokratie eine friedliche Veränderung – was auch immer der Begriff ›friedlich‹ näherhin bezeichnet –,57 allerdings eine reale Veränderung und keine Vertröstung auf das Jenseits. Es gilt die diesseitigen Handlungsoptionen zu finden und für diese die adäquate religiös-ethische Gesinnung zu schaffen.58 Eine solche religiös-ethische Behandlung der sozialen Frage impliziert die rhetorisch-homiletische Konstruktion eines Gegenübers – ›die‹ Sozialdemokratie –, von der es sich abzusetzen gilt. Das Verhältnis von Religion und Politik, wie es sich in Predigten darstellt, ist ganz offensichtlich immer auch bestimmt von Identitäts- und Abgrenzungsdispositionen.
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lagen parteiischer Predigt in: Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, hg. von Sonja Keller, Leipzig 2017, S. 83–97. Walther: Sociale Gedanken, S. 169 (Hervorh. im Orig.). A.a.O., S. 164 (Hervorh. im Orig.). Vgl. z. B. a.a.O., S. 171: »Die Socialdemokratie neigt zu der Behauptung, diese Kluft sei im Frieden nicht zu überbrücken, die Selbstsucht der Besitzenden sei viel zu mächtig, von ihnen sei nichts zu erwarten. Von nicht Wenigen mag das gelten, aber nicht von Allen. […] Das Gerede von der einen großen reaktionären Masse ist auch nicht begründet, vielmehr sind Viele bei der Arbeit, voll Verständniß für die sociale Frage und voll Theilnahme für der Arbeiter Wohl und Wehe jene große Kluft überbrücken zu helfen und den socialen Frieden herbeizuführen.« Vgl. a.a.O., S. 170: »Seien wir jedoch vorsichtig bei dem Trösten der Armen, mit dem Vertrösten auf den Himmel! Zumal aus dem Munde Wohlhabender klingt das den Armen leicht wie Heuchelei oder Hohn«. Mit der Rückweisung einer Eschatologisierung der sozialen Frage ist für Walther auch das Argument, Armut als Wille Gottes zu verstehen, dem es sich unterzuordnen gilt, verschlossen. »Wie viel Elend, das ihn (den Armen, RC) drückt, stammt eben nicht von Gott, sondern von den Menschen, ist die Folge der Selbstsucht, der Habgier, der Ausbeutung, der Herrschsucht, der Ungerechtigkeit, der Lieblosigkeit der menschlichen Gesellschaft, wie auch oft die Folge der Schwachheit und Sünde des Betroffenen selber« (ebd.).
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2.2
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Die homiletische Behandlung der sozialen Frage als Heilsfrage
Neben diesem Argumentationsmuster begegnet in der zeitgenössischen Homiletik und Predigt die theologische Idee, die soziale Frage im Horizont von Eschatologie und Soteriologie zu behandeln. Das ist das zweite Argumentationsmodell, welches hier anzuzeigen ist. So beschreibt Ludwig Weber die Aufgabe der sozialen Predigt explizit im Horizont der christlich geglaubten Ewigkeit: Wer »an die Ewigkeit wieder glauben gelernt hat, der meint nun eben nicht länger, daß die Lösung der sozialen Frage in der Zuerkennung des gleichen Anrechts auf die irdischen Güter an alle bestehe, der weiß, daß ihre Lösung sich vermittelt durch Anerkennung der gleichen überirdischen Anlage und Bestimmung aller, eine Anerkennung, welche mit der Achtung der natürlichen sozialen Unterschiede zusammenbesteht«.59 Dieser eschatologischen Einschränkung der sozialen Frage korrespondiert ihre Verbindung mit der Heilsfrage und damit zugleich eine eschatologische Fokussierung. Hier werden Spuren derjenigen Tradition der sozialen Predigt erkennbar, die »bei dem dogmatischen locus der Heiligung ein[setzt] und […] die soziale Predigt eng mit der Glaubens- und Bußpredigt« verbindet.60 Damit aber wird die soziale Frage dezidiert zu einer Frage nach dem individuellen Heil umcodiert. Soziale Missstände verweisen auf religiöse Missstände und zwar nicht nur bei denjenigen Hörern, denen finanzielle Mittel und materieller Reichtum zur Verfügung stehen, sondern auch bei den von Armut Betroffenen selbst. Damit freilich wird die Verantwortung für soziale Missstände weg von der Gesellschaft hin auf das Individuum verschoben. Weber betont, dass die Predigt grundsätzlich »Bußpredigt« sei »über all’ die sozialen Sünden unserer Zeit, aus denen die soziale Frage ihre Bitterkeit und Schärfe empfangen hat – und sie sei Glaubenspredigt zur Ehre dessen, der auch auf sozialem Gebiet der einzige Friedensmittler und Friedensfürst ist: Jesus Christus«.61 Einerseits wird die Kirche zum »Gewissen des Volkes«62, andererseits aber zielt die Predigt als Bußpredigt auf den individuellen Glauben bzw. die individuelle Rückkehr zum Glauben und weniger auf eine veränderte politische oder ethische Haltung zur sozialen Frage. Weil die soziale Not eine geistliche Not indiziere, gehe es wesentlich darum, getaufte, aber ungläubige Kirchenmitglieder zu wahren Christen
59 Ludwig Weber: Zur Einführung: Über die soziale Predigt in unserer Zeit, in: Christus ist unser Friede. Soziale Zeitpredigten und Betrachtungen, gesammelt und hg. v. dems. I. Sammlung. Mit einer Einleitung des Herausgebers: Über die soziale Aufgabe der Predigt in unserer Zeit, Göttingen 1892, VII–XVI, XI (Hervorh. im Orig.). 60 Wintzer: Homiletik, S. 152. 61 Weber: Einführung, VIII. 62 Ebd.
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zu machen. Als »eine Variante der individuellen Glaubens- und Bußpredigt«63 ist die soziale Predigt geleitet von der Überzeugung, dass nur eine massenhafte und damit gesamtgesellschaftliche Rückführung zum Christentum – weil Rückführung vieler Einzelner – die sozialen Missstände dauerhaft überwinden kann. Die soziale Frage wird homiletisch zu einer missionarischen Aufgabe. Bis zur endgültigen Überwindung gilt es, die eigene Gegenwart in all ihren Ambivalenzen auszuhalten. Paul Drews hat indes geargwöhnt, dass eben diese Art der Predigt, die das Christentum als ›Ergebungsreligion‹ kommuniziere und dabei implizit die patriarchalisch-hierarchische Gesellschaftsstruktur affirmiere, mitverantwortlich sei für den wachsenden Abstand der Predigt zur sozialen wie politischen Wirklichkeit der Hörer und damit auch für die Entfremdung der Arbeiter von der Kirche: »Wäre man auf ein Christentum gestoßen, das vielleicht weniger Passivität, mehr Aktivität gepredigt hätte, es fragt sich, ob der Haß gegen das Christentum dann so laut und scharf und einschneidend eingesetzt und so entschieden sich festgesetzt hätte«.64 Damit ist via negationis ein drittes Argumentationsmuster angedeutet, nämlich die Tradition eines ethischen Reich-Gottes-Verständnisses.
2.3
Die homiletische Tradition eines ethischen Reich-Gottes-Verständnisses und die Kritik des Politischen
Hier nun sind solche Predigten in Blick zu nehmen, die sich mit den ökonomischen wie sozialpolitischen Entwicklungen kritisch auseinandersetzen und daher eine anders gelagerte Repräsentation des Verhältnisses von Religion und Politik abbilden. Als Beispiel sei auf Friedrich Naumann (1860–1919), den »Pastor der armen Leute«65, verwiesen. Naumann predigte, so die Berichte, nicht nur über Armut, sondern in seiner Zeit als Pfarrer in Langenberg (1886–1890), »einer industriell geprägten Landgemeinde bei Chemnitz«66 vor und für bis zu 2.000 Menschen in sogenannten Waldgottesdiensten.67 Ähnlich gestaltete sich auch 63 Wintzer: Evangelische Predigt, S. 299. 64 Drews: Kirche und Arbeiterstand, S. 111. 65 Diese Beschreibung Naumanns begegnet an verschiedenen Stellen. U. a. bei Martin Wenck: Die Geschichte der Nationalsozialen von 1895 bis 1903, Berlin 1905, S. 2, oder auch bei Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Mit einer Einleitung von Günther Roth, München 1989, S. 141. 66 Frederick Bacher: Friedrich Naumann und sein Kreis (Historische Mitteilungen – Beihefte 97), Stuttgart 2017, S.23. Vgl. auch die Analysen bei Jochen-Christoph Kaiser: Naumann und die innere Mission, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin / New York 2000, S. 11–26, bes. 12–14. 67 Zu diesen ›Waldgottesdiensten‹ siehe Wenck: Friedrich Naumann, S. 53.
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seine spätere Predigtpraxis in Frankfurt, als er in der dortigen Inneren Mission tätig war. Erklärtes Ziel seiner Predigten war eine (Re-)Integration der Arbeiter in Kirche und Gesellschaft.68 Naumann ging von einer anhaltenden gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Predigt aus. Um die Arbeiter, die von traditionellen gottesdienstlichen Formen und Praktiken religiöser Rede nicht erreicht würden, wieder zu erreichen, schuf er neue liturgische Formen und ging an Orte jenseits der klassischen Kirchenräume. Wie im Falle der Evangelisationspredigt indizieren auch hier die Orts- und Formwechsel eine programmatische Abgrenzung von einer als wenig ›korrekt‹ und wenig ›volksnah‹ wahrgenommenen kirchlichen Predigtpraxis.69 Bemüht, eine christliche Antwort auf die sozialen Herausforderungen der Moderne zu geben, beschrieb Naumann erstens das Verhältnis von christlicher Nächstenliebe und Sozialismus als eines »wie Bruder und Schwester«70 und verstand zweitens die Predigt als ein wirksames soziales Instrument, diese enge Verbindung zu kommunizieren: »Es gibt viel Verzagtheit im Betreff der christlichen Predigt. Wir teilen sie nicht, wir halten dafür, daß sie vom Übel ist, weil sie die Wirkung der Predigt lähmt. Nein, laßt uns der Predigt noch immer etwas Großes zutrauen, laßt uns von ihr viel hoffen«.71 Denn: »Die Predigt ist noch immer eine bedeutende Macht im evangelischen Volke. Um die Redner der Kirche scharen sich noch jeden Sonntag Hundertausende.« Allerdings gilt eben auch, »daß in den Zentren des Volkslebens die Predigt nicht mehr an die Menge herankommt«.72 Der öffentliche Charakter wie Anspruch der kirchlichen Predigtpraxis befindet sich in einer als ambivalent wahrgenommenen Situation. Einerseits werden die Predigten noch als eine gesellschaftlich relevante religiöse 68 In diesem Sinne zitiert Bacher Predigthörer aus der Frankfurter Zeit: »Noch sind vielen von uns seine Predigten im Vereinshaus Westend unvergeßlich, Predigten, die das alte Evangelium von Jesus Christus als unserm Heiland und Seligmacher, den breitesten Schichten der Bevölkerung lieber und vertrauter machten« (zit. nach Bacher: Naumann, 24f.). Bekannt wurde v. a. die sogenannte Arbeiter-Predigt, gehalten beim ersten Jahresfest des evangelischen Arbeitervereins Eilkau-Niederhaßlau am 13. Mai 1888, jetzt in: Friedrich Naumann: Werke. Erster Band. Religiöse Schriften, hg. v. Walter Uhsadel, Köln/Opladen 1963, S. 56– 67. 69 Für Berlin findet sich eine Beschreibung dieser evangelistischen Predigtpraxis im Umfeld von Stoecker jetzt bei Thomas Hahn-Bruckart: Friedrich von Schlümbach – Erweckungsprediger zwischen Deutschland und Amerika. Interkulturalität und Transkonfessionalität im 19. Jahrhundert (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 56), Göttingen 2011, S. 280–291. Von Schlümbach ist als Gründer des ersten deutschen CVJMs bekannt. 70 Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München 31968, S. 86. 71 Friedrich Naumann: Die Predigt der Kirche, in: ders.: Werke, S. 231–241, 231. – Ausführlich rekonstruiert wurde Naumanns Predigt- und Redepraxis von Albrecht Grözinger: Friedrich Naumann als Redner. Ein Beitrag zur gegenwärtigen homiletisch-rhetorischen Diskussion. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde des Fachbereichs Evangelisch Theologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1978. 72 Naumann: Predigt der Kirche, S. 231f.
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Kommunikationsform wahrgenommen, andererseits wird diese Form öffentlichreligiöser Kommunikation als für viele Menschen und gesellschaftliche Gruppen zunehmend irrelevant wahrgenommen, da kein Widerhall erkennbar scheint. Das bedeutet: Die kirchliche Predigtpraxis findet in keiner umfassend-homogenen, sondern in einer zunehmend fragmentierten und segmentierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit statt.73 Diese zunehmende gesellschaftliche Fragmentierung wird befördert durch die verstärkte Ausbreitung massenmedialer Kommunikationsformen.74 Neben den mündlichen Predigten waren seit dem 18. Jahrhundert zunehmend massenmediale Formen religiöser Kommunikation wichtig geworden: Andachtsbücher, Zeitschriften, Erbauungsschriften, religiöse Unterhaltungsblätter, Kalender, illustrierte Bibelgeschichten, kurz: das weite Feld der sogenannten ›Schriftenmission‹.75 So veröffentliche Naumann bekanntlich Andachten in der Zeitschrift »Die Hilfe«, die dann unter dem Titel »Gotteshilfe« gesammelt als Andachtsbuch erschienen.76 Die verschriftlichte Predigt wird in umfassende Prozesse der Medialisierung und Kommerzialisierung eingestellt. Indem sie damit den gottesdienstlichen Raum verlässt und an eine erweiterte und anders strukturierte Öffentlichkeit adressiert wird, wird ihre soziale Wirksamkeit transformiert. Denn als Leseerfahrung wird die Predigt zugleich auch sozial differenzierter wie individueller. Wie aber stellt sich das Verhältnis von Religion und Politik in den Andachten Naumanns dar? Dies soll exemplarisch an einer Andacht rekonstruiert werden, die sich ebenfalls der oben bereits diskutierten Wohnungsfrage widmet. Es handelt sich um die Andacht »Landwucher« zu Jesaja 5,8.77 Der biblische Text ist der Andacht vorangestellt: »Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitzt!« Naumann argumentiert grundsätzlich von der Historizität des biblischen Textes aus: »Natürlich sprach Jesaja aus seiner Zeit heraus und für seine Zeitgenossen, und es würde an sich ganz gut möglich sein, daß sein ›Wehe‹ heute nicht mehr Geltung hätte.«78 Der aktuelle, auch praktische Anspruch des Textes bleibe freilich erhalten, da die Situationsanalogie zu evident sei. »Aber das 73 Die gleiche Analyse findet sich bei Leonhard Ragaz. Vgl. von den Steinen: Agitation, S. 45f. 74 Vgl. hierzu Corey Ross: Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society and Politics from the Empire to the Third Reich, Oxford 2008. 75 Vgl. hierzu auch Naumann selbst in: Naumann: Predigt, S. 231 und auch Wenck: Naumann, S. 66–72. 76 Von Naumanns 1904 als Buch erschienenen »Briefe[n] über die Religion« wurden bis 1927 über 72.000 Exemplare verkauft. Siehe hierzu Hartmut Kramer-Mills: Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Naumanns Briefe über die Religion (zugl. Diss.), Neukirchen-Vluyn 1997. 77 Naumann: Gegen den Landwucher, S. 189f. 78 A.a.O., S. 190.
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Gewissen jedes sittlich stark empfindenden Menschen sagt gerade in diesem Falle: Jesaja hat recht! Er hat recht, denn noch heute leben die Menschen zwischen uns, für die ›kein Raum mehr‹ da ist. Diese Raumverkürzung ist eine Vergewaltigung des Lebens.«79 Eine solche konkrete Anwendung des biblischen Textes zur Deutung und Orientierung der Gegenwart wird von Naumann dezidiert von einer kirchlichen Pazifizierung des Textes abgesetzt: »Unsere Pastoren predigten nicht über die veraltete Meinung des israelitischen Propheten, unsere Kirchenpatrone halten derartige Stücke des alten Testaments für Menschensatzung, und unsere Mitglieder des Kirchengemeinderates fühlen nichts vom alten Prophetensinn. […] Auch die Rechtgläubigsten halten den Kampf des Propheten gegen die großen Landherren für etwas, was nur aus damaligen Verhältnissen erklärt werden kann. Warum soll man sich auch mit der Bibel praktische Angelegenheiten machen?«80 Ein solcher homiletischer Umgang mit biblischen Texten stehe freilich in der Gefahr, »daß man das Evangelium der Liebe zum Evangelium der Gleichgültigkeit werden läßt«.81 Die biblischen Texte seien stattdessen explizit und in der Tendenz wörtlich auf die Gegenwart zu beziehen. Sie böten gleichsam das Material zur Reflexion der Gegenwart, eine Reflexion freilich, die auf Veränderung ziele: »Wo eine Predigt Gedankenkraft hat, da verzeiht man ihr jede andere Schwäche. Zur Gedankenkraft aber gehört, daß man nicht die Gedankenaufgaben vergangener Tage repetiert, sondern daß man mit den Resultaten vergangener Perioden neu weiterdenkt«.82 Im Rahmen dieser spezifischen Verbindung von Schrift- und Gegenwartshermeneutik kommt Naumann in einer weiteren Andacht zu dem oben erwähnten Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus dann auch zu einer dezidierten Kritik des Redens über ›Arme‹ bzw. Reden vom ›Armen‹ anstelle des Redens mit.83 Hier zeigt sich, dass eine unterschiedliche Hermeneutik bezüglich der Verbindung von biblischem Text und jeweiliger Gegenwart eine veränderte Konstruktion der Predigtadressaten zur Folge hat. In Bezug auf die hier besprochene Perikope aus Jes 5,8 mündet die Andacht in einer rhetorischen, auf Aktualisierung zielenden Anrufung Jesajas: »O komm, Jesaja, steige aus deiner steinernen Gruft und hilf uns, die wir jetzt leben, im Kampfe gegen das Unrecht!«84 Zugleich zeigt sich ein spezifisches Modell der homiletischen Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik. Auch Naumann plädiert für eine 79 80 81 82 83
Ebd. A.a.O., S. 189. A.a.O., S. 190. Naumann: Predigt, S. 232. Vgl. Friedrich Naumann: Der reiche Mann, in: Ders.: Gotteshilfe. Gesamtausgabe der Andachten aus den Jahren 1895–1902, sachlich geordnet, Göttingen 31907, S. 230f., 230. 84 Naumann: Gegen den Landwucher, S. 190.
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homiletische Trennung von Religion und Politik. »Die Kanzel ist und bleibt ein ganz besonderer und bestimmter Ort, etwas ganz anderes als die Tribüne der Volksversammlung, auf der der Pfarrer genau dasselbe Recht hat, wie jeder andere Mensch«.85 Politische Dinge betrachtet er als »außerhalb des Wirkungskreises der Heilsverkündigung« stehend und lehnt es ab, »grundlegende Staatsfragen in der Bergpredigt entschieden zu sehen«.86 Für die Predigt folge hieraus: »Nicht Politik sollen unsere Prediger predigen, aber wirkliches Leben sollen sie mit dem Lichte Gottes beleuchten.«87 Das aber bedeutet bei Naumann, dass das Soziale nicht etwas Nachgängiges bzw. Spezielles sei, was an eine Predigt zusätzlich herangetragen wird, sondern es deren Grundzug ist. Die Predigt ist dann aber von ihrem theologischen Selbstverständnis her ›soziale Predigt‹ und die ›soziale Predigt‹ keine homiletische Spezialgattung: »Eine soziale Spezialpredigt wird immer etwas Unnatürliches haben und dem Pfarrer sitzen wie eine vom Schneider für einen anderen gemachte Jacke«.88 Fassen wir kurz zusammen: Im Blick auf die Behandlung der sozialen Frage changiert die Predigt in der Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten. Drei mögliche Konstellationen wurden hier exemplarisch rekonstruiert: Erstens die Betonung der religiösethischen Dimension der sozialen Frage, die eine Änderung der individuellen Gesinnung nötig erscheinen lässt und die politisch-gesellschaftliche Dimension als für die Predigt nachgeordnet betrachtet. Zweitens die dogmatische Behandlung der sozialen Frage, die diese mit eschatologischen und soteriologischen Perspektiven verbindet. Auch hier wird die politisch-gesellschaftliche Dimension hintenangestellt. Ekklesiologisch wird in beiden Fällen mehr oder weniger explizit ein Verständnis von Kirche als sozial-patriarchalischem Fürsorgegarant befördert. Drittens kommt es in der homiletischen Tradition eines ethischen Reich-Gottes-Verständnisses zu einer in der Bibel begründeten strukturellen Kritik am Politischen, die in der Pointe freilich zu einer konsequenten Trennung von Religion bzw. Kirche und Politik führt.89 In dieser Multiperspektivität sind 85 Friedrich Naumann: Debattenrede, gehalten auf der Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses in Frankfurt a. M. am 16. Mai 1894 im Anschluß an ein Referat Hermann Cremers: Die soziale Frage und die Predigt, jetzt abgedruckt in: ders.: Werke , S. 421–424. 86 Friedrich Naumann: Briefe über Religion. Mit einem Nachwort »Nach 13 Jahren«, Berlin 1916, S. 84. 87 Naumann: Gegen den Landwucher, S. 190. 88 Naumann: Debattenrede, S. 421. 89 Naumann verließ bekanntlich das Pfarramt und wechselte in die aktive Politik, was Paul Drews zu der Einschätzung bewog, dass Naumann bewusst »auf seinen Beruf in der Kirche« verzichtet habe (Drews: Kirche und Arbeiterstand, S. 124). – An den Rändern der Kirche agierte auch Albert Kalthoff (1850–1906), von dem ebenfalls ein Sammelband mit »sozialen Predigten« vorliegt. Vgl. Albert Kalthoff: An der Wende des Jahrhunderts. Kanzelreden über die sozialen Kämpfe unserer Zeit. Gehalten in der St. Martinikirche zu Bremen, Berlin
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die Predigten Ausdruck der Pluralität und Fragmentierung theologischer Positionalitäten unter den protestantischen Pfarrern dieser Epoche. Zugleich kann im Blick auf eine ›Kulturgeschichte‹ der Predigt gesagt werden, dass die Predigt durch das Aufkommen von Massenversammlungen und -medien in Konkurrenzsituationen gerät, die auch für die Repräsentation des Verhältnisses von ›Religion und Politik‹ erhebliche Konsequenzen haben. Blicken wir vor diesem Hintergrund noch – allerdings deutlich kürzer – auf ein weiteres Themenfeld, in welchem das Verhältnis von ›Religion und Politik‹ homiletisch vorstellig wird, nämlich die Thematisierung nationaler Fragen in Predigten der hier interessierenden Epoche.
3.
»[G]ottgewollter, christlicher Patriotismus«?90 – Die Predigten und die nationale Frage
Die folgenden Überlegungen schließen an die Beobachtung an, dass Predigten personenabhängige Reden sind, d. h. sie spiegeln immer auch die theologische Überzeugung wie die Biographie und Sozialisation der Predigtperson. Die bisherigen Analysen legen dies nahe. Diese Beobachtung wird im Folgenden dahingehend vertieft, dass Predigten oft deutlich situationsbezogen sind und dass diese beiden Faktoren – Predigtperson und Predigtsituation – die Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik in homiletischer Perspektive maßgeblich beeinflussen. Das Verhältnis von Religion und Politik wird in den Predigten jeweils neu ausgehandelt und hergestellt. Es liegt nicht statisch vor, sondern ist jeweils abhängig von der konkreten historischen wie lokalen Situation und dem damit verbundenen Predigtanlass sowie der predigenden Person und der konkreten Gemeinde, an die die Predigt gerichtet ist. Dies soll im Blick auf die Behandlung der nationalen Frage und der alles andere als eindeutigen Rede von ›Nation‹, ›Volk‹ und ›Vaterland‹ verdeutlicht werden.91 Auch wenn davon aus1898. Vgl. hierzu Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 63–74. Die Vertreter einer freien, vagabundieren Religiosität können in ihren homiletischrhetorischen Konzepten zur Behandlung der sozialen Fragen hier aus Raumgründen nicht eigens behandelt werden. Im Blick auf eine ›Kulturgeschichte der Predigt‹ bleiben diese – wie auch die sogenannten Religiösen Sozialisten – jedoch von erheblicher Bedeutung. 90 Otto Baumgarten: Predigten aus der Gegenwart gehalten in der Kieler Universitätsaula, Tübingen/Leipzig 1903, S. 85. 91 Die im Themenfeld Nation und Religion geführte Diskussion ist breit und kann für diesen Anlass nicht aufgearbeitet werden. Exemplarisch sei auf folgenden Sammelband verwiesen: Nation und Religion in der deutschen Geschichte, hg. v. Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche, Frankfurt am Main / New York 2001. Dort finden sich weiterführende Literaturangaben.
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zugehen ist, dass die »eigentliche durchgreifende Nationalisierung des deutschen Protestantismus […] erst nach 1871« einsetzt,92 ist – auch im Blick auf die Predigten – davon auszugehen, dass bereits die Julikrise 1870, der folgende deutschfranzösische Krieg und die Proklamation des deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 in Versailles als Dynamisierungsfaktoren in Richtung einer aggressiveren Betonung des Nationalen wirkte. Als Beleg für eine in der Tendenz aggressivere Kommunikation des Nationalen innerhalb der Predigten wird häufig auf die Gattung der sogenannten Kriegspredigten verwiesen, und zwar sowohl für 1870/7193 wie später dann auch 1914.94 Dabei ist gerade dieses Genre ein markantes Beispiel dafür, dass in Predigten die Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik weitgehend anlassbezogen erfolgt und entsprechend zu differenzieren ist. Schon der Begriff der ›Kriegspredigt‹ ist alles andere als eindeutig. Es macht homiletisch betrachtet nämlich einen Unterschied, wann und wo das Politische, gerade das NationalPolitische, zum Gegenstand einer Predigt wird – anlässlich eines Kriegsbeginns, anlässlich einer Niederlage oder anlässlich eines Sieges, im Feld vor Soldaten95 92 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat (1983), München 1998, S. 439. 93 Zur ›Kriegspredigt‹ 1870/71 siehe noch immer Paul Piechowski: Die Kriegspredigt von 1870/71, Leipzig 1917. Dann auch Johannes Wischmeyer: Buße, Andacht, patriotische Erhebung. Protestantische Inszenierungen der Reichsgründung 1871, in: Reichsgründung 1871. Ereignis – Beschreibung – Inszenierung (Eine gemeinsame Veröffentlichung des Sonderforschungsbereichs 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit« der Technischen Universität Dresden und des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg), hg. v. Michael Fischer, Christian Senkel und Klaus Tanner, Münster / New York / München / Berlin 2010, S. 15– 37, bes. 24–28 und Günter Brakelmann: Der Krieg 1870/71 und die Reichsgründung im Urteil des deutschen Protestantismus, in: ders.: Deutscher Protestantismus in den Kriegen 1870/71 und 1914–1918. Sechs Einblicke (Schriften der Hans Ehrenberg-Gesellschaft 17), Kamen 2014, S. 9–43. 94 Vgl. noch immer Wilhelm Pressel: Die Kriegspredigt 1914–1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands (APTH 5), Göttingen 1967 sowie jetzt den Tagungsband: Predigt im Ersten Weltkrieg. La prédication durant la »Grande Guerre« (VIEG Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte Beiheft 109), hg. v. Matthieu Arnold und Irene Dingel unter Mitarbeit von Andrea Hofmann, Göttingen 2017. Ausdrücklich verwiesen sei auf die dort beigefügte Auswahlbibliographie von Andrea Hofmann und Benjamin Pfannes (S. 145– 152). Allerdings spiegelt dieser Band in seiner Anlage doch auch die Dringlichkeit künftiger und prinzipiellen Interdisziplinarität der Predigtforschung. – Auf Predigten im Ersten Weltkrieg wird im Folgenden nicht eingegangen. 95 Vgl. z. B. Hermann Faulhaber: Acht Feld-Predigten. Gewidmet Angehörigen in der Heimat, Stuttgart 1870. Faulhaber war Feldprediger der I. württembergischen Brigade und der Verkaufserlös des Bandes »war zur Anschaffung von Büchern für unsere Soldaten bestimmt« (so die Titelei). – Diese und alle in den folgenden Anmerkungen angeführten Angaben von Predigtsammlungen haben exemplarischen Charakter, erheben also keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und verfolgen die Intention, die situative, lokale und personale Pluralität in Ansätzen aufzuzeigen und mögliche Vergleichs- und Analysehorizonte für künftige Arbeiten anzudeuten.
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oder in heimatlichen Gemeinden,96 im Kontext spezieller Liturgien wie anlässlich eines Totengedenkens97 oder eines Friedensfestes nach erfolgtem Sieg.98 Zusätzlich gilt es im Blick zu behalten, dass die Themen ›Volk‹, ›Nation‹ und ›Vaterland‹ auch in Predigten verhandelt wurden, die in völlig anders gelagerten politisch-gesellschaftlichen Kontexten gehalten wurden, beispielsweise anlässlich eines kaiserlichen oder königlichen Geburtstages,99 eines herrschaftlichen Ehejubiläums100 oder einer innenpolitischen Krise.101 Diese anlassbezogenen Differenzen und die damit verbundenen Polyvalenzen in der Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik sollen im Folgenden verdeutlicht werden, indem die Vielfalt der situativen Kontexte zum Ausgangspunkt genommen wird, um exemplarisch die jeweilige inhaltliche Konturierung der Topoi ›Volk‹ und ›Vaterland‹ in ihrer Bedeutung für die Beschreibung des Verhältnisses von Religion und Politik zu evaluieren. Dazu werden zwei unterschiedliche Konttexte exemplarisch nebeneinandergestellt – einmal aus dem Feld der sogenannten ›Kriegspredigten‹ und einmal eine Predigt im Vorfeld des kaiserlichen Geburtstags. Im ersten Fall erfolgt der Zugang über einen konkreten Ort und eine bestimmte Zeit, nämlich den Sommer 1870 in Leipzig. Hier beziehe ich mich auf einen Sammelband von sechs Predigten, die in den Stadtkirchen und der Universitätskirche Leipzigs anlässlich des außeror96 Eine Zusammenschau von Predigten aus der Zeit 1870/71, welche die wechselnden historischen Kontexte im Horizont einer konkreten Predigtgemeinde und Predigtperson spiegeln, bietet der Sammelband von Rudolph Kögel: Kirchliche Gedenk-Blätter an die Kriegszeit 1870/71. Evangelische Zeugnisse aus dem Dom in Berlin. Zum Besten des Baus einer Friedenskirche herausgegeben, Berlin 1871. 97 Vgl. z. B. Vier Kriegspredigten am Totenfest gehalten meist 1870/71 von Albert Bitzius, Karl Gerok, Fr. Luger und Fr. Ahlfeld, hg. v. [Oswald] Kramer, Leipzig 1914. 98 Vgl. z. B. für das Königreich Württemberg [Karl] Kapff: Friedensfestpredigt am 7. März 1871 in der Stiftskirche zu Stuttgart gehalten. Herausgegeben für Angehörige von gefallenen Kriegern, Stuttgart 1871 und Christian Palmer: Predigt zur Friedensfeier am 5. März 1871 gehalten in der Stiftskirche zu Tübingen. Der Erlös ist für den Invalidenfonds bestimmt, Tübingen 1871. – Während Kapff dem württembergischen Pietismus nahestand, steht Palmer für eine vermittlungstheologische, in der Tradition Schleiermachers argumentierende, akademische Praktische Theologie. – Zugleich sind die sog. Kriegspredigten für die Forschung immer zu beziehen auf andere Medien wie z. B. Kriegserinnerungen, Soldatenlieder, Kriegszeitungen, Kriegsbriefe etc. 99 Vgl. hierzu im Folgenden die Predigt von Otto Baumgarten. 100 Um exemplarisch den Blick von den Zentren der politischen Macht in die Fläche zu erweitern, vgl. hierzu z. B. Johannes Wiesinger: Deutsche Wünsche frommer Herzen. Predigt über 5. Mos. 3, 23–28 am Geburts- und Namensfeste des Königs, Kissingen 1870. Der Ertrag für verwundete bayrische Soldaten bestimmt. Oder ders.: Festpredigt über Psalm 128, zum fünfzigjährigen Ehejubiläum des deutschen Kaiserpaares am 11. Juni 1879 gehalten in Kissingen, Weimar 1879. – Johannes Wiesinger war Pfarrer in Kissingen. 101 Vgl. z. B. Heinrich Rocholl: Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Predigt über 2. Corinther 4,8 nach dem zweiten Mordattentat auf Se. Majestät, den Kaiser Wilhelm, vom 2. Juni 1878, Straßburg 1878. – Heinrich Rocholl war Divisionspfarrer der 31. Division zu Colmar.
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dentlichen Buß- und Bettags am 3. August 1870 gehalten wurden, nachdem durch die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen am 19. Juli 1870 die Kriegshandlungen begonnen hatten.102 Zum zweiten wird eine Predigtperson ins Zentrum gerückt – betrachtet wird eine Predigt von Otto Baumgarten, die im Rahmen eines Kieler Universitätsgottesdienstes und im Umfeld der Feierlichkeiten anlässlich des kaiserlichen Geburtstags im Jahr 1902 gehalten wurde. Diese Quellenauswahl ermöglicht es, die Bedeutung von Situation und Predigtperson für die Predigtforschung noch stärker zu fokussieren.
3.1
Die homiletische Relevanz der biblischen Text- und Metaphernwelten für die Beschreibung von ›Volk‹ und ›Nation‹
Nach der Einschätzung von Gerhard Besier war in den Wochen der Julikrise des Jahres 1870 in den Predigten »kaum etwas von allgemeiner Kriegsbegeisterung oder nationalem Pathos zu hören; vielmehr bestimmte in der ersten Zeit Gedanken über Demut und bußfertigen Gehorsam, Schuldlosigkeit und Sieg, Unrecht oder Niederlage die Predigten«.103 Der hier interessierende Sammelband bietet insgesamt sechs Predigten, allesamt gehalten am außerordentlichen Bußtag, dem 03. August 1870:104 (1.) Friedrich Ahlfeld (1810–1884), seit 1851 102 Eine Auswahlbiographie, zusammengestellt von Winfried Münch findet sich in: Von Kaiser zu Kaiser. Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Katalog zur Sonderausstellung 31. Juli bis 31. Oktober 2010 im Wehrgeschichtlichen Museum Rastatt, bearb. v. Alexander Jordan, Thomas Jadeja und Winfried Münch 2010, S. 72–93. 103 Gerhard Besier: Protestantisches Nationalgefühl und Reichsgründung, in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 2. Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850–1918), hg. v. Joachim Rogge und Gerhard Ruhbach, Leipzig 1994, S. 171–181, 176. Ähnlich auch Frank-Michael Kuhlemann: Pastorennationalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert – Befunde und Perspektiven der Forschung, in: Nation und Religion in der deutschen Geschichte, hg. v. Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche, Frankfurt am Main / New York 2001, S. 548–586, bes. 561–563. 104 Zu den Predigten anlässlich der im Juli und August 1870 abgehaltenen Bußtage und den unterschiedlichen Themen und Motiven, die diese Predigten durchziehen, vgl. Piechowski: Kriegspredigt, S. 10–23. – Leipzig war Garnisonsstadt, allerdings gab es keine Garnisonskirche. Die Soldaten besuchten (monatlich) die Gottesdienste in städtischen Kirchen, der Nordkirche, der Kirche Gohlis, der Thomaskirche und die römisch-katholische Messe in der Turnhalle Gohlis. Am 26.07. und 27.07. 1870 marschierten von Leipzig zwei InfanterieRegimente in den Krieg (vgl. Dieter Kürschner: Leipzig als Garnisonsstadt 1866–1945/49. Aus dem Nachlass hg. v. Ulrich von Hehl und Sebastian Schaar [Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 10], Leipzig 2015, S. 539). Die Friedensfeier fand am 18. 03. 1871 statt. Der Anteil der Armeeangehörigen an der Gesamtbevölkerung betrug in Leipzig in der hier interessierenden Zeit ca. 1,38 % (vgl. a. a. O., S. 63). Für den hier interessierenden Zeitraum siehe auch Sebastian Schaar: Die Garnison Leipzig zwischen 1866– 1914, in: Stadt und Krieg. Leipzig in militärischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 8), hg. v. Ul-
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Pastor an der Nikolaikirche, predigte unter dem Veröffentlichungstitel »Wie wird ein gefährdetes Volk vor dem Untergang bewahrt« zu Dan 9, 4–19;105 (2.) Gustav Adolph Ludwig Baur (1816–1889), Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität zu Leipzig sowie erster Universitätsprediger hielt unter der Überschrift »Wie hat ein christliches Volk sich zu verhalten in einem heiligen Kriege« in der Universitätskirche eine Predigt zu Ex 7,8–14.106 Die dritte abgedruckte Predigt steht unter der Überschrift »Uns ist bange, aber wir verzagen nicht« und wurde von Clemens Brockhaus (1837–1877) in der St. Johanneskirche gehalten.107 Textgrundlage war 2 Kor 4,8. Die vierte Predigt stammt von Gustav Adolf Fricke (1822–1908), seit 1867 Professor für neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Leipzig und Oberkatechet in der St. Peterskirche, der unter der Überschrift »Sollen wir eines Andern warten« zu Mt 11,2–6 predigte.108 Gotthard Victor Lechler (1811–1888), Professor für Kirchengeschichte, Superintendent und Mitglied der I. Kammer des Sächsischen Landtags predigte in der Thomaskirche über Ps 46, 2–12. Veröffentlicht wurde die Predigt unter dem Titel »Die Gemeinde in banger Zeit, wie sie stille ist vor ihrem Gott«.109 Unter dem Titel »Mit welchen Gesinnungen wollen wir eintreten in den bevorstehenden Kampf um die Sicherheit und Ehre unseres Vaterlandes?« hielt der Oberdiakon J. B. Merbach in der Neuen Kirche eine Predigt zu Jer 18,1–11.110 Eine umfängliche Analyse aller sechs Predigten würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Im Blick auf das Verhältnis von Religion und Politik, wie es sich in den Predigten an diesem speziellen Anlass darstellt, sollen daher exemplarisch drei Motive in den Fokus gerückt werden: das Motiv der Buße, das des aufgetragenen ›heiligen‹ Krieges und das der Befreiung. Denn jedes dieser Motive rückt die Rede von ›Nation‹, ›Volk‹ oder ›Vaterland‹ in ein anderes Licht und ruft zugleich biblische Text- und Metaphernwelten auf, um die jeweils vorgetragene Deutung zu stützen. Friedrich Ahlfeld legt in seiner Predigt über Dan 9,4–19 – ausgehend von der Gattung des Textes – den Schwerpunkt auf den Gedanken der Buße. Buße rette
105
106 107 108 109 110
rich von Hehl, Leipzig 2014, S. 199–217. Predigten aus der Garnison finden sich in: Lazarettpredigten im Oktober und November 1870 in der Turnhalle und in der Pleißenburg zu Leipzig, gehalten von D. Gustav Adolf Fricke, hg. v. Georg Buchwald, Leipzig 1914. Sechs Predigten gehalten zu Leipzig am außerordentlichen Buß- und Bettage den 3. August 1870 in den Stadtkirchen und in der Universitätskirche von D. Fr. Ahlfeld, D. G. A. L. Baur, D. Ph. Cl. Brockhaus, D. G. A. Fricke, D. G. V. Lechler und D. Ph. J G. Merbach, Leipzig 1870, S. 3–16. A.a.O., S. 17–24. Die Paginierung des Bandes ist fehlerhaft: Erstens sind die Seitenziffern 14– 17 doppelt vergeben, daher springt in der Predigt von Baur die Zählung nach S. 17 zurück auf S. 14. Zweitens fehlen die Seitennummern S. 26–29. A.a.O., S. 25–40. A.a.O., S. 41–60. A.a.O., S. 61–71. A.a.O., S. 73–90.
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Völker.111 Auch ein Volk, das – wie gegenwärtig das preußisch-deutsche Volk – dastehe »in ungebrochener Kraft und in Siegeszuversicht«,112 könne untergehen, wenn es sich nicht von seiner Sünde bekehre. »Will man sich nicht bekehren, so hat er [d.i. Gott] sein Schwert gewetzt und seinen Bogen gespannt und zielt.«113 Daher seien Siege »in Wahrheit nur Siege, wenn man zuvor sich selbst besiegt hat«.114 Die Buße werde vom eigenen Volk gefordert und so baut die gesamte Argumentation Ahlfelds darauf auf, den Anlass des Gottesdienstes – Buße – mit entsprechenden Situationen des Volkes Israels zu parallelisieren. Denn alle Helden Israels – Jakob, Mose etc. – hätten vor großen Entscheidungen und Kämpfen Bußtage abgehalten. Im biblischen Text findet die eigene Zeit ihre Parallele und damit ihre Deutung. Das eigene Volk wird dem Volk Israel parallelisiert und so in ein besonders enges, durch Erwählung gekennzeichnetes Verhältnis zu Gott gesetzt: »Unser Text paßt in seiner innersten Tiefe ganz für unser Volk und für unsere Zeit«.115 Wie Daniel vor Gott um Buße bitte, »so treten wir heute all ein in dies Bußgebet«.116 Die Idee des Vaterlandes, für dessen Einigung und Rettung die anwesenden Soldaten in den Krieg ziehen, wird eingebettet in die Frage nach der Bußbereitschaft des Volkes. Soldaten und die Menschen zu Hause werden durch die Buße zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengestellt. Denn nur ein »Volk, das wahrhaftig lebt in dem lebendigen Gott und seine natürlichen Gaben vom heil. Geist heiligen läßt, das kann nicht untergehen«.117 Mit anderem Akzent argumentiert dagegen die Predigt von Gustav Adolf Ludwig Baur, der unter dem Thema »Wie hat ein christliches Volk sich zu verhalten in einem heiligen Kriege« anhand von Exodus 17,8–14 (Mose und Amalekiter) zwar ebenfalls die Situation des eigenen Volkes mit der Situation des Volkes Israels parallelisiert, freilich unter dem Gedanken des »heiligen Krieges«. »Israel weiß, daß ein Krieg um seine Selbständigkeit, auch ein Krieg um den wahren Glauben und um die heiligsten Rechte, daß es ein heiliger Krieg ist. […] Und ist nun nicht, mein liebes deutsches Volk, diese Erzählung das wunderbarste Vorbild dessen, was du selbst erfahren und erduldet hast«.118 Der Krieg sei einerseits Auftrag Gottes, andererseits »eine verdiente Züchtigung«.119 Wie schon in den napoleonischen Befreiungskriegen gehe es auch jetzt um die politische 111 112 113 114 115 116 117 118 119
A.a.O., S. 15. A.a.O., S. 5. A.a.O., S. 10. Ebd. A.a.O., S. 5. A.a.O., S. 12. A.a.O., S. 7. A.a.O., S. 16f. (Hervorh. im Orig.). A.a.O., S. 19.
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Eigenständigkeit und Einigkeit des Volkes. Damit gerät eine politische Zielsetzung in den Fokus der Predigt. Der »alte deutsche Rhein« sei – in Analogie zur biblischen Metaphorik – das »große Haderwasser«.120 Indem Frankreich zum »alten Erbfeind« stilisiert wird, werden im Medium der Predigt und in Korrespondenz zur biblischen Metaphernwelt geschichtliche Kontinuitäten und konfessionelle wie nationale Gegensätze konstruiert. Auch hier werden die in den Krieg ziehenden Soldaten mit den zu Hause bleibenden Menschen zu einer Schicksals- und Volksgemeinschaft zusammengebunden. Die soziale und politische Identität wird homiletisch durch Abgrenzung nach außen, im Rekurs auf biblische Metaphorik konstruiert. Die Einheit und Bestimmung des Volkes liegen hier weniger in der gemeinsamen Buße als in der gemeinsamen Aufgabe des »heiligen Krieges«. Zieht schon Baur eine historische Verbindungslinie zu den Befreiungskriegen des Jahres 1813 und auch zu den damaligen Predigten Friedrich D. E. Schleiermachers, so wird diese in der Predigt von Gustav Adolf Fricke zu Mt 11,2–6 noch expliziter, denn Fricke begründet seine Textwahl als eine ausdrückliche Referenz an Schleiermacher. Dieser hatte, so Fricke, mit eben diesem Text im März 1813 in der Berliner Dreifaltigkeitskirche »die jungen Freiheitskämpfer […] eingesegnet zum Kampfe gegen denselben Feind, der jetzt wieder in unsere Gauen bricht«.121 Die geschichtstheologische Rekonstruktion läuft über die Geschichte Israels, die Reformation, 1813 bis zur eigenen Gegenwart. Die Einbindung der eigenen Situation in eine biblisch-nationale Heilsgeschichte erfolgt über die Metapher des Gefängnisses, in dem – wie seinerzeit der Täufer – auch das deutsche Volk schon über Jahrzehnte sitze und aus dem es jetzt endlich ausziehe. »Wie in einem Gefängnisse haben wir bis dahin gelegen, mögen wir unsere nächste Vergangenheit oder unsere Gegenwart betrachten«.122 Die Metapher des Gefängnisses wird mehrfach konnotiert. Zum ersten politisch und in Bezug auf den Verlauf des 19. Jahrhunderts. Seit den Zeiten von Heinrich Friedrich Karl von und zum Stein, über Schleiermacher, Johann Gottlob Fichte und Ernst Moritz Arndt sei immer wieder um die Einigung Deutschlands, gerade gegen und in Auseinandersetzung 120 A.a.O., S. 20. 121 A.a.O., S. 46. Zu Schleiermachers Predigten während der sog. Befreiungskriege vgl. Johannes Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers, Giessen 1908 und dann auch Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Schleiermacher Studien Bd. 1 (AKG 85/1), Berlin / New York 2004, S. 324–373 sowie Christian Nottmeier: Zwischen Preußen und Deutschland. Nation und Nationalstaat bei Schleiermacher, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg. v. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb, Berlin / New York 2008, S. 337–354. 122 Sechs Predigten gehalten zu Leipzig, S. 48.
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mit Frankreich gerungen und gekämpft worden. Diese Männer hätten Deutschland aus dem »Gefängnis« herauszurufen gesucht. »Sind diese geweihten Männer nicht wie Bußprediger aus dem Gefängnisse gewesen, wie Johannes der Täufer […]?«, fragt der Prediger.123 Zweitens aber wird die Rede vom »Gefängnis« kirchlich-religiös konnotiert. Einerseits wolle auch der Kirche keine Einigung gelingen – sie sei vielfach »zersplittert und entkräftet durch kleinliche Kämpfe um Phrasen und Formeln«124 – und andererseits zeigen sich gesellschaftlich deutliche Säkularisierungsphänomene, die die Kirche gleichsam in ein Gefängnis zurückdrängen. Vor dem Hintergrund dieses mehrfach verschlossenen Gefängnisses wird der Krieg als ein nationales und religiöses Befreiungs-, Heilungsund Auferstehungsgeschehen gedeutet. Die Zusammenschau dreier Predigten von drei unterschiedlichen Predigern zum freilich gleichen Anlass, am gleichen Tag, in der gleichen Stadt zeigt: Die homiletische Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik ist sowohl anlassbezogen und damit situationsspezifisch wie auch hochgradig individuell, abhängig vom jeweiligen Prediger, dessen theologischer und politischer Gesinnung, der daraus resultierenden Textwahl und der zugrunde gelegten Hermeneutik. Im Blick auf die Beschreibung von ›Nation‹, ›Volk‹ und ›Heimat‹ liefern die biblische Texte verschiedene Metaphern, die unterschiedliche Akzentsetzungen und Deutungen ermöglichen und die es den jeweiligen Predigern erlauben, ihre eigene politische Gesinnung als mit dem biblischen Text in Übereinstimmung zu präsentieren. Doch auch wenn seit dem Januar 1871 der Krieg zunehmend als Vollendung der Reformation interpretiert wurde125 und auch wenn in der Folgezeit der Protestantismus die Führung im deutschen Kaiserreich übernahm, führte dies nicht zu einer inneren Einigung der evangelischen Kirche. Damit aber bleibt auch das Verhältnis von Religion und Politik im Blick auf die Beschreibung von ›Volk‹ und ›Nation‹ polyvalent und homiletisch ebenso plural wie jeweils konkret aushandlungsbedürftig. Dieser Befund soll abschließend noch präzisiert werden, indem auf eine Predigt aus der Zeit deutlich nach dem Krieg 1870/71 und der Reichsgründung geblickt wird.
123 A.a.O., S. 49. 124 A.a.O., S. 51. 125 So formulierte bspw. Adolf Stoecker: »Das heilige evangelische Reich deutscher Nation vollendet sich […] in dem Sinn erkennen wir die Spur Gottes von 1517 bis 1871« (zit. nach Besier: Protestantisches Nationalgefühl, S. 178).
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3.2
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Die homiletische Relevanz der Predigtperson für die Beschreibung von ›Volk‹ und ›Nation‹
Am 26. Februar 1902 predigte der Praktische Theologe Otto Baumgarten in Kiel unter der Überschrift »Jesu Patriotismus« zu Mt 15,21–28, die Erzählung von der kanaanäischen Frau. Diese Predigt veranschaulicht aufs Deutlichste die skizzierte Pluralität wie Ambivalenz in der Beschreibung des Nationalen und damit die Tatsache, dass die homiletische Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik je und je der individuellen wie situativen Aushandlung unterliegt. Die Predigt nimmt Bezug auf den kaiserlichen Geburtstag (27. Januar) und die damit verbundenen Feierlichkeiten. Baumgarten betont zunächst die notwendige, freilich auch gut begründbare Loyalität gegenüber dem Kaiser, um sogleich dazu überzugehen, vor übersteigertem Patriotismus – möglicherweise gar veranlasst durch »die Weltpolitik unseres Kaisers«126 – zu warnen und einen solchen durch Rekurs auf die Figur Jesu kritisch einzuhegen: »Der Chauvinismus droht, so scheint es vielen, zu nationaler Selbstüberschätzung und zu feindseliger Unterschätzung anderer Art und Kraft zu führen. Der nationale Egoismus, der Machttrieb, das Sichselbstachten als Mittelpunkt des Trachtens, darum sich alles dreht – wie verträgt das sich mit der Weltreligion des Heilandes, von der der Apostel sagt: ›Hier ist nicht Jude noch Heide, sondern eine neue Kreatur‹?«127 Das eigene Volk wird also nicht in die biblische Heilsgeschichte eingezeichnet und das Politische der eigenen Zeit damit biblisch-religiös legitimiert. Vielmehr werden aus dem biblischen Text und der Figur Jesu kritische Anfragen an bestimmte zeitgenössische Konfigurationen des Religiös-Politischen abgeleitet. »Um nun den Patriotismus bei den einen zu stärken, bei den anderen zu reinigen, um sein christliches Recht und seine christlichen Schranken zu bedenken, wollen wir den Patriotismus Jesu ins Aug fassen«.128 Der biblische Text dient der Wahrnehmungsschärfung im Blick auf Ambivalenzen im Verhältnis von Religion und Politik, von Nationalismus und christlich-religiöser Gesinnung. Die biblische Erzählung zeige einerseits Jesu starke wie einseitige Liebe zu seinem Volk. »Jesu Patriotismus war also verwandt mit dem tiefgehenden Deutschgefühl derer, die nicht bloß das ihnen Nächste und Vertrauteste bevor126 Baumgarten: Predigten aus der Gegenwart gehalten in der Kieler Universitätsaula, Tübingen / Leipzig 1903, 81. Die Predigt findet sich auf den Seiten 80–87. – Zu Baumgarten als Prediger siehe Hasko von Bassi: Otto Baumgarten. Ein »moderner Theologe« im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (EHS XXIII/345), Frankfurt am Main / Bern / New York /Paris 1988, S. 361–371. Ausführliche Analysen zum Verhältnis von Religion und Politik bei Baumgarten finden sich in Günter Brakelmann: Krieg und Gewissen. Otto Baumgarten als Politiker und Theologe im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1991, S. 100–128. 127 Baumgarten: Predigten, S. 81f. 128 A.a.O., S. 82.
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zugen, sondern gerade deutsche Art und deutsches Innenleben, die davon träumen, daß die Welt noch einmal genesen soll am deutschen Wesen.«129 Und gerade darin liege seine Kraft. »Wolltet ihr lieber einen plan- und schrankenlos ausgreifenden Allerweltsbeglücker? Einen Kosmopoliten, der ohne Rücksicht auf nächsten Lebenskreis, auf Kraft und Zeit, Millionen umarmt und der ganzen Welt seinen Friedenskuß verschenkt? Nein, in der Beschränkung zeigt sich der Meister; in festen Grenzen«.130 Andererseits aber vergesse Jesus laut Baumgarten trotz seines Patriotismus und seiner Beschränkung auf das eigene Volk nicht die allgemeine Menschenliebe, das Prinzip einer unaufhebbaren und unaufgebbaren Humanität. Daran freilich, so konstatiert Baumgarten, »leiden wir allmählich Not: der Nationalismus wird bei vielen Fremdenhaß und Brutalität. Da lasset uns auf Jesus sehen!«131 Baumgarten sucht also in der Person Jesu den Gedanken des Nationalen und Christlichen, das Gebot der Religion und das Gebot der Nation, das christliche und das nationale Gewissen zu verbinden. Er plädiert für ein »Zugleich des christlichen und nationalen Gewissens«132 und gelangt auf diesem Weg zu einer Unterscheidung von individueller Persönlichkeitsethik und nationaler Ethik. Genau in dieser doppelten Konfiguration wird ihm die Figur des Jesus zum ethisch-sittlichen Vorbild. In solchen Ausführungen dürfte sich Baumgarten als »Gegenbild zum national-konservativen Mehrheitsprotestantismus seiner Zeit«133 erweisen. Für diese Positionierung lassen sich biographische Gründe finden. Hier ist vor allem an Baumgartens intensive Verbindung zur englischen Kultur und Theologie zu erinnern, unter anderem bedingt und befördert durch seine Frau Emily, geborene von Fallenstein, die durch ihre englische Mutter und dank ihrer Kindheit in Australien einen »sehr starken englischen Einschlag erhalten«134 habr. Gerade die von ihr empfangenen Impulse hatten, wie Baumgarten selbst schreibt, zur »Entschränkung meiner nationalen Begrenztheit wesentlich beigetragen […] Man las sich so ein in Puschkin und Turgenjew, in George Sand und Laratine, vor allem in Walter Scott, Charles Dickens, George Eliot, in Kinsley und Robertson, die unsere Andachten füllten. Das gemeinsame Leben in diesen großen Geistern schlug am wirksamsten Brücken zu den anderen Volksindividualitäten. Es war mir von da ab nicht mehr möglich, über fremde Volksseelen en bloc abzuurteilen.«135
129 130 131 132 133 134 135
A.a.O., S. 82.84. A.a.O., S. 84. A.a.O., S. 85. Brakelmann: Krieg und Gewissen, S. 103. A.a.O., S. 5. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, S. 8. A.a.O., S. 17f.
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Dies zeigt noch einmal: Auch die persönliche Biographie der Predigtperson bildet sich stets in der homiletischen Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik ab. Fassen wir auch hier kurz zusammen: Die Behandlung der nationalen Frage in der Predigt, die Zuschreibungen an die Begriffe ›Volk‹ und ›Nation‹ und deren Kontextualisierung in den jeweiligen biblischen Texten und ihren Metaphernwelten, die Konfigurationen und Repräsentationen des Verhältnisses von Religion und Politik erweisen sich als situationsbedingt, individuell gesteuert und sind einzuzeichnen in umfassende situations- wie texthermeneutische Prozesse. Die Bedeutungszuschreibung an den biblischen Text für die eigene politische Situation ist polyvalent und abhängig von heterogenen, teilweise auch widersprüchlichen Faktoren. In diesem Sinne sollen die Befunde zur Behandlung der sozialen wie nationalen Frage in der Predigt abschließend auf drei Beobachtungen zugespitzt werden.
4.
Heterogenität, Medialisierung und das Problem der Quellen – drei abschließende Beobachtungen im Blick auf eine Kulturgeschichte der Predigt
Zum ersten ist festzuhalten: Das Verhältnis von Religion und Politik, wie die Predigten es konfigurieren und repräsentieren, ist so plural und polyvalent wie Predigten grundsätzlich vielfältig sind. Die jeweilige Konfiguration erweist sich als abhängig von Anlass und Ort der Predigt, vom jeweils historischen und situativen Kontext, vom gewählten oder verordneten Text.136 Nicht zuletzt aber ist die Konfiguration von Religion und Politik abhängig von der Individualität der Gemeinde, sprich der jeweiligen Hörergruppe wie von der Individualität des Predigers. Seine politische Gesinnung, seine theologische Positionalität, seine soziale, aber auch kirchenpolitische Stellung wie auch seine persönliche wie intellektuelle Biographie sind entscheidend im Blick darauf, wie sich das Verhältnis von Religion und Politik in den Predigten darstellt. Um diese pluralen Konstitutionsbedingungen der homiletischen Präsentation des Verhältnisses von Religion und Politik herausarbeiten zu können, wurden im vorliegenden Beitrag unterschiedliche Zugänge miteinander verbunden – über Einzelpersonen, über Sammelbände, über Anlässe etc. Darin aber bringen die vorgestellten Predigtbeispiele eine Einsicht zur Darstellung, die das seinerzeit breit diskutierte Reformprogramm der sogenannten modernen Predigt orientiert und motiviert 136 Im Jahr 1896 bemühte sich die Eisenacher Kirchenkonferenz um eine stärkere Vereinheitlichung der zahlreichen Perikopenordnungen.
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hat: »Die Zeit der allgemeinen Predigtweise und der allgemein gültigen Predigttheorie ist vorbei«137, so Friedrich Niebergall. Was hier normativ im Blick auf die Weiterentwicklung der Predigttheorie konstatiert wird, kann vor dem Hintergrund des Dargestellten empirisch als bestätigt gelten. Die Einsicht, »daß alle Gegenstände unseres Erkennens durch das erkennende Subjekt konstruiert sind«,138 gilt auch für die Predigt und ihre Bedingungen wie Kontexte. Dies nötigt m. E. zu einer Korrektur im Verfahren der Predigtgeschichtsschreibung. Diese kann aufgrund der beschriebenen Pluralität eben nicht in linearen, kausalen Mustern erfolgen. Sie wäre m. E. vielmehr in Modellen wie dem des Rhizoms zu denken.139 Die Suche nach einer ›Hauptwurzel‹ und nach einem möglichst linearen Wuchs zwischen ›Wurzel‹ und ›Blatt‹ rückt dann in den Hintergrund gegenüber der Wahrnehmung ›(unterirdischen) Querwuches‹ und ›vertikaler Sprossachsenebenen‹. Mit einem solchen Modell könnte die Erforschung der Predigtgeschichte als Kulturgeschichte und eine kulturtheoretische Beschrreibung der Predigt in die Mitte zwischen historiografischem Konstruktivismus und Dekonstruktivismus eingestellt werden. Es wäre möglich, Vielfalt und Differenzen sehr viel grundsätzlicher zu berücksichtigen und auf erstaunliche Konstanz der Predigt als Form zu beziehen. Einlinige Urteile und in der Tendenz essentialistische Zuschreibungen würden deutlich erschwert.140 Auch könnte sehr viel pointierter entwickelt werden, welchen heterogenen Motiven sich die Konfiguration und Repräsentation des Verhältnisses von Religion und Politik in den Predigten verdankt. Eine zweite Überlegung für künftige Predigtforschung ergibt sich, wenn man – stärker als bisher üblich – berücksichtigt, dass die Predigten durch das Aufkommen der Massenmedien in umfassende Prozesse der Medialisierung und Kommerzialisierung eingestellt wurden. Die Predigt verliert in der hier ins Zentrum gerückten Zeitepoche zunehmend ihre leitende Stellung als öffentliches Kommunikationsmedium, ohne damit grundsätzlich einer öffentlichen Bedeutung und Relevanz verlustig zu gehen. Freilich ändert sich die Form der Öffentlichkeit, in der das Verhältnis von Religion und Politik homiletisch ausgehandelt und dargestellt wird. Dies erfolgt zunehmend im Horizont pluraler 137 Friedrich Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Zweiter Teil. Eine Untersuchung über den Weg zum Willen, Tübingen 31917, S. 80. 138 Friedrich Wilhelm Graf: Die Nation – von Gott »erfunden«? Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 162), Göttingen 2000, S. 285–317, 286. 139 Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari: Rhizom, Berlin 1977. 140 Eine solche liegt m. E. vor, wenn Brakelmann bezüglich der Behandlung der nationalen Frage in den Predigten der hier interessierenden Epoche schreibt: »Es fehlt schon 1870/17 nichts, was 1914 formuliert worden ist« (Brakelmann: Der Krieg, S. 311).
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medialer Öffentlichkeiten. Für eine kulturgeschichtliche Erforschung der Predigt sind deshalb neben den Predigten immer auch Andachtsbücher, kirchliche Zeitschriften, säkulare Presse etc. zu berücksichtigen. D. h. auch ist die Verflechtung mit Medien außerhalb des Kirchlichen in den Blick zu nehmen. Damit würden Buch-, Verlags- und Mediengeschichte zu Gesprächspartnern einer praktisch-theologischen Predigtforschung. Freilich muss drittens grundsätzlich gefragt werden, was es methodisch bedeutet, wenn sich die Forschung überwiegend auf gedruckte Predigten bezieht. Das eigentliche »preaching event«141, die mündliche Predigt und ihre Wirkung lässt sich auf diesem Weg oft nur unzureichend, meist kaum erfasst. Verschriftlichung und Drucklegung haben eine veränderte Funktionszuschreibung und eine neue Zielgruppe. Die gedruckte Predigt ist ein neuer Text. Sie ist eine Predigt ohne Ritual, die Mündlichkeit inszeniert und auf ein neues Ritual, das des Lesens, zielt.142 Dieses Problem wird verschärft, wenn wir beachten, welche Predigten im Druck vorliegen: Sie stammen oft aus den Zentren und von kirchlichen Eliten.143 Zudem sind sie oft stark anlassbezogen. Diese Einschränkungen können zu einseitigen Urteilen verleiten, gerade was die homiletische Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik betrifft. Über die sonntägliche ›Normalpredigt‹ in Geschichte und Gegenwart ist das Wissen bislang nur unzureichend. Das Verhältnis von Religion und Politik aber berührt die alltägliche Lebenswirklichkeit der Hörer – erinnert sei an die Thematisierung der Wohnungsfrage. Für die Predigtforschung wäre es daher hilfreich, auch sonntägliche Gemeindepredigten, abseits der Zentren und kirchlichen Eliten, auszuwerten bzw. für künftige Forschungen entsprechende Textcorpora allererst zu generieren. Auf diesem Weg würde die Geschichte der Praxis der Predigt einerseits zu einem wesentlichen Impuls für die Theorie der Predigt, gerade im Blick auf kulturtheoretisch grundierte Theoriebildung. Andererseits böte die 141 Vgl. die Unterscheidung von »written text« und »preaching event« bei Beverly Mayne Kienzle: The Typology of the Medieval Sermon and its Development in the Middle Ages. Report on Work in Progress, in: Histoire de la predication médievale. Actes du Colloque international de Louvain-la-Neuve 1992, hg. v. Jacqueline Hamesse und Xavier Hermand, Louvain-la-Neuve 1993, S. 83–101, 84. 142 Vgl. hierzu die zwar im Blick auf das Mittelalter formulierten, aber grundsätzlichen Überlegungen zu dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit der Predigt bei René Wetzel / Fabrice Flückiger: Einleitung. Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit, in: Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit. La prédication au Moyen Age entre oralité, visualité et écriture. (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 13), unter Mitarbeit von Robert Schulz hg. v. dens., Zürich 2010, S. 13–23. 143 Diese Forschungsproblematik betont auch Frank-Michael Kuhlemann: Pastorennationalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert – Befunde und Perspektiven der Forschung, in: Nation und Religion in der deutschen Geschichte, hg. v. Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche, Frankfurt am Main / New York 2001, S. 548–586, 549f.
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Erforschung der Geschichte und Gegenwart der Praxis auch Impulse zu einem differenzierten Verständnis der jeweiligen Gesellschaft, welche Werte diese orientieren und was als wesentlich erachtet wird für die Erhaltung und Erneuerung der sozialen Kohäsion und Identität einer Gesellschaft – weil nämlich Predigten gerade in der Konfiguration des Verhältnisses von Religion und Politik zeigen, was Menschen bewegt und was ihnen wichtig ist für ihr persönliches Leben wie für die Gesellschaft. In diesem Sinn lassen sich Predigten als Ressource begreifen.144 Die Rekonstruktion der unterschiedlichen homiletischen Konfigurationen von Religion und Politik in Geschichte und Gegenwart erweisen sich als hilfreich, diese soziale Dimension und soziale Wirksamkeit der Predigt im Blick zu behalten und die Bedeutung der Predigten für Gesellschaften nicht unterzubewerten.
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144 Vgl. oben Anm. 8.
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Ruth Conrad
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Rolf Schieder
1914–1945: Metamorphosen eines Predigers
Ereignis- und politikgeschichtlich, aber auch kulturgeschichtlich macht die Epocheneinteilung 1914–1945 keinen Sinn: zu verschieden waren die politischen Systeme, zu verschieden die Akteure: Kaiserreich, Revolution, Republik, Faschismus. Theologie- und kirchengeschichtlich gilt Ähnliches: bis 1919 gab es eine Staatskirche, dann eine religionsfreundliche Trennung von Kirche und Staat und schließlich den Kirchenkampf; aber auch theologiegeschichtlich gilt, dass Kulturprotestantismus, dialektische und völkische Theologien, Bekennende Kirche und Deutsche Christen schwer auf einen Begriff zu bringen sind.
1.
Mentalitätengeschichtlicher Zugang
Mentalitätengeschichtlich freilich ist die Zuordnung plausibel und inspirierend. Mentalitäten sind kollektive Phänomene langer Dauer. Mentalitäten sind Lesarten und Deutungsmuster einer der Deutung bedürftigen Wirklichkeit zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort. Mentalitäten reduzieren Komplexität. Mentalitäten sind zustimmungsfähige Selbstverständlichkeiten, auf die Prediger gerne rekurrieren. Die Forschungsfrage dieser kleinen Untersuchung lautet deshalb: An welche Plausibilitäten ihrer Zeit appellierten Prediger zwischen 1914 und 1945? Was hielt sich durch, was änderte sich? Vor einem Vierteljahrhundert vertiefte ich mich in Hunderte von Predigten, die im Rundfunk zwischen 1928 und 1938 gehalten wurden.1 Überwiegend waren es Ansprachen protestantischer Pfarrer, aber auch sozialistische und nationalsozialistische Ansprachen untersuchte ich – nicht auf ihre theologische oder weltanschauliche Spezifik hin, vielmehr interessierte ich mich dafür, wie die religiösen Redner dem Geist ihrer Zeit Resonanzraum verschafften. Predigten, so meine Hypothese, sind immer auch Zeitgeistverstärker. 1 Rolf Schieder: Religion im Radio. Protestantische Rundfunkarbeit in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Stuttgart 1995.
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»Romantische Entgrenzungssehnsucht« – dieser Begriff schien mir den Geist der meisten Ansprachen angemessen auf den Begriff zu bringen. Die Sehnsucht nach Selbstextension war mit Händen zu greifen. Eintöniger Alltäglichkeit zu entkommen und sich selbst in einem größeren Ganzen auflösen und gerade so zu sich selbst zu kommen, war typisch für diesen sich als Selbsttranszendenz verkleidenden Narzissmus, der sich selbst in der Natur, im Volk, im Kampf, im Heldentum, in jugendlicher Leidenschaft sehnsüchtig spiegelte, den Alltag als unerträglich und das Außeralltägliche als Befreiung erlebte. Mit der Intuition, dass politische Romantik der Deutschen Schicksal war, stehe ich nicht allein. Ein Zeitzeuge, der den Mentalitätenwandel sensibel und präzise beschrieben hat, war Ernst Troeltsch. Seine Analyse soll die Perspektive eröffnen, von der aus die Predigtbeispiele in den Blick genommen werden.
2.
Die Romantik als deutsche Revolution
Im Jahr 1911 stellt Ernst Troeltsch im Blick auf die kirchliche und religionskulturelle Lage fest: »So wie es ist, kann das religiöse Chaos und das religiöse Elend nicht dauern.«2 Zuvor hatte er eine niederschmetternde Zeitdiagnose erstellt. Die »religiösen Lieblingsstimmungen der Zeit« könnten mit »Gemeinschaft, Kirche, Kult und Predigt nichts anfangen«3. Der gegenwärtige »Individualismus« werde die »Kräfte der Religion zersplittern, verdampfen und ermatten«4. Zugleich wachse das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Kult. Kirche und Theologie hätten freilich den kultischen und gemeinschaftsbildenden, mithin den zutiefst praktischen Sinn von Dogmatik aus den Augen verloren: »Diese Gemeinschaft- und Kultlosigkeit ist die eigentliche Krankheit des modernen Christentums und der modernen Religiosität überhaupt.«5 Stattdessen habe sich eine Mischung aus Romantik und Brutalität in Deutschland breit gemacht, wie Troeltsch elf Jahr später konstatiert: »Das deutsche politische Denken ist […] von einer seltsamen Zwiespältigkeit, die jedem Draußenstehenden auffällt: einerseits erfüllt von den Resten der Romantik und von sublimer Geistigkeit, andererseits realistisch bis zum Zynismus und zur vollen Gleichgültigkeit gegen allen Geist und alle Moral, vor allem aber geneigt, beides merkwürdig zu mischen, die Romantik zu brutalisieren und den Zynismus zu romantisieren. Als ein besonders gefährliches Mittel für solche Mi-
2 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben (1911), in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. v. Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. 61–92, hier 90. 3 A.a.O., S. 89. 4 A.a.O., S. 90. 5 A.a.O., S. 76.
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schungen boten sich insbesondere die späten Lehren Nietzsches dar.«6 Die deutsche Perversion der romantischen Idee beschreibt Troeltsch so: »Aber aus der individuellen Fülle der Volksgeister wurde die Verachtung der allgemeinen Menschheitsidee, aus der pantheistischen Staatsvergötterung die ideenlose Achtung des Erfolgs und der Gewalt, aus der romantischen Revolution ein sattes Behagen am Gegebenen, aus dem jeweiligen individuellen Recht eine rein positive Setzung des Staates, aus der hochgeistigen überbürgerlichen Moral die Moralskepsis überhaupt, aus dem Drang des deutschen Geistes zu einem staatlichen Leibe derselbe Imperialismus wie überall sonst auf der Welt.«7 Wichtig an Troeltschs Argument ist die Einsicht, dass das, was in der westlichen Welt als »deutscher Geist« wahrgenommen wird, seine Wurzeln in der Epoche der Romantik hat: »Das Eigentümliche der heute draußen und drinnen so stark betonten deutschen Ideenwelt stammt erst aus der Romantik, die ihrerseits nur ein Unendlich- und Progressiv-Werden der Klassik ist. Auch sie ist eine volle wirkliche Revolution, eine Revolution gegen respektablen Bürgergeist und gegen allgemeine gleichheitliche Moral, vor allem aber gegen den ganzen westeuropäischen mathematisch-mechanistischen Wissenschaftsgeist, den Utilitarismus und Moral verschmelzenden Begriff des Naturrechts und gegen die kahle Abstraktion einer allgemeinen und gleichen Menschheit. […] Gegenüber der Explosion des westeuropäischen Naturrechts und seinen Revolutionsstürmen entwickelte sie sich immer bewußter zum Gegenstück einer konservativen Revolution, die kontemplativ und mystisch aus der reichen Fülle des Gegebenen die inneren Treibkräfte herausschaut und sie in Richtung auf einen reichen Kosmos individueller menschlicher Geistesbildungen fortentwickeln möchte.«8 Die Wertschätzung Troeltschs für die deutsche Romantik zeigt sich an folgender Einschätzung und Zuspitzung der romantischen Idee: »Ihr Sinn geht auf das Individuelle, Positive, Immer-Neu-Produktive, Schöpferische, Geistig-Organische, auf überpersönliche plastische Bildkräfte, die aus dem Material der Individuen jeweils ein geistiges Ganzes aufbauen und erst von diesem aus die jeweils besondere politisch-sozialen Ordnungen als Verleiblichung des Gehaltes schaffen. Entscheidend ist dabei die Individualitätsidee in ihrem mystisch-metaphysischen Sinne als jeweils besondere Konkretion des göttlichen Geistes in Einzelpersonen und überpersönlichen Gemeinschaftsorganisationen.«9 Diese Betonung des Individuellen hat auch politische Konsequenzen. »Es ergibt aber auch eine ganz andere Gemeinschaftsidee: nicht Vertrag oder zweckrationale Konstruktion schaffen von den Individuen her den Staat und die Gesellschaft, son6 Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (1922), in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. v. Friedemann Voigt, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 294–314, hier 307. 7 A.a.O., S. 306. 8 A.a.O., S. 303. 9 A.a.O., S. 304.
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dern die von grundlegenden Individuen ausstrahlenden überpersönlichen geistigen Kräfte, der Volksgeist oder die religiös-ästhetische Idee.«10
3.
Mentalitäten im Wandel am Beispiel der Metamorphose eines Predigers
Auszüge aus Predigten von Otto Dibelius sollen im Folgenden einen Mentalitätenwandel zwischen 1914 und 1945, genau genommen: 1947, dokumentieren. Dabei geht es nicht um die individuelle Person und das spezifische theologische Profil von Otto Dibelius. Vielmehr interessiert hier, welchen Wandlungen sein Predigen unterworfen war. Um das Typische, nicht um das Individuelle geht es. Man sollte sich Mentalitäten wie Viren vorstellen, die Menschen dann anfallen und von ihnen Besitz ergreifen, wenn deren Immunsystem geschwächt ist. Hält man sich Troeltschs Diagnose eines »religiösen Elends« in den Vorkriegsjahren vor Augen, dann versteht man die Kriegsbegeisterung vieler Prediger im Jahr 1914. Auch Dibelius erschien es wie ein Wunder, dass sich plötzlich die Kirchen wieder füllten. Mit der gleichen Wachsamkeit für den Wandel der Zeiten konnte Dibelius aber auch 1947 konstatieren, dass das Evangelium zugunsten völkischen Denkens verraten worden sei. In der Biologie wird unter eine Metamorphose die Anpassung eines Organismus an geänderte Umweltbedingungen verstanden. Otto Dibelius besaß zweifellos die Fähigkeit, den aktuell herrschenden Zeitgeist zu verstehen und auf der Kanzel zur Sprache zu bringen.
3.1
»Gott will den Einzelnen!« – eine Nachkriegspredigt aus dem Jahre 1947
Damit wir nicht vorschnell die Kriegspredigten aus dem Jahr 1914 verurteilen, sei aus einer selbstkritischen Predigt aus dem Jahr 1947 als erster zitiert. Die Predigt trägt den Titel: »Gott will den Einzelnen!«, als Predigttext liegt ihr Johannnes 11, 47–53 zugrunde11: »Es ist damals Karl Liebknecht umgebracht worden. Rosa Luxemburg ist ermordet worden. Walther Rathenau ist ermordet worden; […] Und alles dies ist geschehen unter der Losung: Es ist besser, dass ein Einzelner zugrunde geht, als dass ein ganzes Volk an diesem Einzelnen verdirbt. Und dann hat man den Kreis weiter gezogen. Man hat die Geisteskranken vergast; man hat 10 Ebd. 11 Otto Dibelius: Gott will den Einzelnen! Predigt am 2. März 1947 über Joh 11,47–53 in der Marienkirche in Berlin, Berlin-Dahlem 1947. Die Predigt wurde veröffentlicht von der Volksmissionarischen Abteilung beim Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin-Dahlem veröffentlicht.
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die Juden umgebracht, man hat Gutsbesitzer in den Elendstod geschickt – immer unter der Losung: Es ist besser, dass eine einzelne Gruppe stirbt, als dass das ganze Volk zugrunde geht. […] Zu diesem ganzen Denken, zu dieser ganzen Staatsraison, wie wir das nennen, sagt das Evangelium Jesu Christi sein entschlossenes und unbedingtes Nein! […] Gott will überhaupt nicht das Volk, sondern Gott will den Einzelnen!«12 Es folgt dann eine verstörende Passage über den jüdisch-alttestamentlichen Kollektivgeist, dem die Konzentration des Neuen Testamentes auf den Einzelnen gegenüberstehe. Die Differenz zwischen völkischem Altem Testament und dem das Individuelle betonenden Neuen Testament müsse man gerade heute deutlich herausarbeiten. So wie der Hohepriester Kaiphas sich im Predigttext verhalten habe, so hätten sich auch die Nationalsozialisten verhalten. Haben die Juden also das Drehbuch für ihre eigene Vernichtung selbst geschrieben? Otto Dibelius kam diese Rückfrage an seine Argumentation nicht in den Sinn. Antijudaistisches Denken war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Noch in den sechziger Jahren hat er öffentlich bekannt, dass ihm das Judentum immer fremd geblieben sei – ein theologisches Erbe, das er von seinen theologischen Lehrern Adolf von Harnack und Adolf Stöcker gerne übernahm und auf seine Weise weiterführte. Nach dieser Passage kommt der Prediger auf sein Kernanliegen, nämlich dass Gott den Einzelnen will, zurück: »Er will dich. Er will mich. […] Das ist ein ganz anderes Denken als wir es jetzt jahrzehntelang gewohnt gewesen sind. Wenn wir dem völkischen Denken zuliebe versucht haben, aus der Heiligen Schrift herauszuholen, was da von Völkern darinstand, so war das kein getreues Haushalten über Gottes Wort, sondern es war Anpassung an den Geist der Zeit. Es war gottwidriges Denken, […].Gott will den Einzelnen, damit der Einzelne sein Leben zum Opfer bringe für die Anderen.«13 Was unterscheidet diese Opfertheologie von der völkischen? Wer sich selbst in der Nachfolge Jesu opfere, tue dies nicht mit dem Ziel der Macht über andere, sondern als »Dienst an der großen Gemeinschaft der Völker.«14 Wie anders sah Dibelius doch seine Welt im Herbst 1914! Ohne einen »veil of ignorance«, ohne dass wir uns selbst einen Schleier des Nichtwissens umlegen, können wir diesen Ansprachen nicht gerecht werden. Wir müssen Sie so lesen, als wüssten wir ebenso wenig wie der Prediger, was sich später zutragen sollte. Eine besserwisserische Attitüde moralischer Überlegenheit jedenfalls ist unmoralisch und unwissenschaftlich. Man muss sich schon die Mühe machen, sich in die Mentalitäten jener Zeit einzufühlen, wenn man ein Urteil über die Predigttätigkeit dieser Jahre fällen will. 12 A.a.O., S. 6. 13 A.a.O., S. 8f. 14 A.a.O., S. 12.
282 3.2
Rolf Schieder
Krieg als Hoch-Zeit – kirchliche Kriegsbegeisterung im Jahre 1914
Am Bußtag 1914 – der Krieg war gerade erst einige Monate alt – deutet Dibelius auf der Grundlage von Matthäus 22, dem Gleichnis vom hochzeitlichen Mahl, die politischen Ereignisse so: »Hochzeit heißt hohe Zeit, große Zeit im Leben. Dann rüstet Gott ein hochzeitliches Mahl, wenn er uns Menschen eine große Zeit schickt, in der es große Dinge zu erleben, hohe Güter zu ergreifen gibt, nach denen wir in alltäglicher Zeit uns vergeblich sehnen. Ist solche Zeit nicht da? […] Nicht als ob der Krieg, der unsere Gegenwart beherrscht, an und für sich etwas herrliches wäre!«15 Nicht, dass er den Krieg als solchen verherrlichen möchte. »Nein, es sind die inneren Gaben, von denen Gott, der Herr, in dem ehernen Tempel des Krieges, den niemand gern betritt, unserm Volk ein hochzeitliches Mahl gerüstet hat.«16 Der Krieg weite den Horizont. »Jetzt stürmt gegenwärtiges Heldentum von allen Seiten auf uns ein. Wir trugen Gottesbeweise mühselig zusammen, um Verstand und Herz zu stillen. Jetzt klingen tausend und abertausend Erfahrungen von Gottes Fügung, von Gottes Beistand, von Gottes allmächtigem Walten jeden Tag zusammen in einem Choral, der uns gewaltig in die Ohren braust: Er ist bei uns, wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben. […] Unser Fühlen, Wollen und Glauben wird tiefer, ohne unser Zutun. […] Bisher lebte der eine für seine Gesundheit, der andere für seine Familie, der Dritte für sein Geschäft. Jetzt gibt es nur ein Ziel für jedes Leben: das ist Deutschlands Sieg und Deutschlands Zukunft! […] Wo ein solches Ziel täglich und stündlich vor jedem Auge steht – ist’s nicht große Zeit? Ist’s nicht ein hochzeitliches Mahl, das Gott, der Herr, uns rüstet?«17 Am Palmsonntag 1915 predigt Dibelius für die Konfirmandinnen und Konfirmanden seiner Berliner Gemeinde über einen Vers aus der Apokalypse des Johannes: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben« (Offb. 2,10). Seine Begeisterung für den Krieg als Erweckungsbewegung ist noch nicht geschwunden. Die Predigt trägt den Titel »Der Ruf an die Jugend«. »Nachfolge Jesu – um es noch genauer zu sagen: deutsche Nachfolge! Das Kreuz Jesu Christi leuchtet auf den Kuppeln von Moskau ebenso wie auf den ungezählten Kirchtürmen Englands. Ihm beugen sich die Knie ebenso im Dom von Notre Dame in Paris wie in den Missionskirchlein Japans. Er ruft die Menschen aller Zungen in seine Nachfolge. Aber er stellt seinen Jüngern in jedem Land eine besondere Aufgabe. Eure Wiege stand auf deutscher Erde. Eine deutsche Mutter hat den meisten von euch die Hände gefaltet zum ersten Gebet. Martin Luthers 15 Otto Dibelius: Gottes Ruf in Deutschlands Schicksalsstunde. Fünf Predigten (der Lauenburger Kirchengemeinde gewidmet), Berlin-Lichterfelde 1915, S. 5. 16 A.a.O., S. 6. 17 A.a.O., S. 7.
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deutscher Katechismus, mit dem euch ein Schatz deutschen Gemüts in die Seele geprägt ist, hat euch den christlichen Glauben erklärt. Und in deutscher Zunge soll heute das Treuegelöbnis emporsteigen vor Gottes Thron. Wohlan: so kann es eure Aufgabe nur sein, eurem Heiland nachzufolgen in deutscher Art; ihm als deutsche Jünger und Jüngerinnen die Treue zu halten bis in den Tod.«18 Hemmungslos appelliert er an jugendlichen Heldenmut und jugendliche Opferbereitschaft: »Ich weiß, dass ihr alle, Mädchen und Jungen – die Jungen am meisten! – mit heimlichem Neide auf die Glücklichen seht, die, ein paar Jahre älter als ihr, dem Vaterland ihre Kraft weihen dürfen im Dienst der Waffen oder im Dienst der Liebe. Denkt nicht, dass ihr für euer Vaterland nichts tun dürftet in dieser Zeit! Der Kampf, den unser Volk zu führen hat nach Gottes Willen, ist viel zu ernst, als daß nicht auch die Jugend eures Alters mit aufgerufen müsste zu verantwortlichem Handeln.«19
3.3
Die Differenz zwischen Heiligem Geist und Vaterlandsbegeisterung 1915
Je länger freilich der Krieg dauert, umso vorsichtiger wird Dibelius mit der Identifikation von Kriegsbegeisterung und göttlicher Inspiration. In seiner Pfingstpredigt aus dem Jahr 1915 heißt es: »Vaterlandsbegeisterung ist noch nicht heiliger Geist! Wohl aber kann der heilige Geist Gottes in sie hineinwehen zu einem heiligen Brausen! Ob das geschieht, das spürt ein jeder daran, ob diese Vaterlandsbegeisterung – wie wir neulich mit Dr. Martin Luther sagten – Christum treibt, ob sie Früchte zur Reife bringt, die in den heiligen Garten Gottes gehören. […] Und haben die zehn Monate, die hinter uns liegen, diesen Beweis nicht geliefert? […] Was ich erlebt habe von Beispielen bewußten Glaubens, dienender Liebe, freudig-stiller Ergebung, entschlossener Umkehr des ganzen Menschen, […] was ich an solchen Beispielen durchbrechenden Glaubens habe erleben dürfen, von der Erregung der ersten Mobilmachungstage an bis zum ruhigen Ernst der Gegenwart – es ist zehnmal mehr, hundertmal mehr als was ich erlebt habe in allen früheren Jahren des Amtes zusammen! […] In begeisterter Zeit haben wir die Kraft des göttlichen Geistes erfahren!«20 Nicht mehr Begeisterung herrscht vor, sondern Ernst. Dennoch lässt Dibelius keinen Zweifel an der religionspädagogischen Wirkung des Krieges, den Gott geschickt hat, um sein Volk zu erziehen. »Vor dem Krieg – darüber kann kein Zweifel sein – trug unser Glaubensleben allenthalben den Stempel der Schwäche. […] Da schickte Gott den Krieg! Alles Große, was der Krieg hervorbringt, trägt 18 A.a.O., S. 29f. 19 A.a.O., S. 33. 20 A.a.O., S. 53f.
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den Erdgeruch der Tat. […] Zum Wollen kam das Vollbringen. Furcht und Zweifel schwanden. Gewißheit und Glaubensfreudigkeit traten an ihre Stelle auch im Angesicht des Todes. Diese neue Kraft des Glaubens, von der auch wir in der Heimat alle etwas erfahren haben – dies größte Geschenk der großen Zeit, lasst uns festhalten, mit aller Inbrunst unseres Herzens!«21 Noch immer ist Dibelius davon überzeugt, dass aus diesem Krieg ein neues, ein besseres Deutschland hervorgehen wird. »Dunkel liegt die Zukunft vor uns. […] Aber fern am Horizont glüht es auf wie Morgenrot. Und wir glauben’s von ganzem Herzen: es ist das Morgenrot des neuen Deutschlands, das Gott uns schenken wird als dieses bitteren Krieges Frucht. Dies Morgenrot lasst uns grüßen in dieser Stunde, indem wir dem Deutschland der Zukunft den größten Dienst geloben, dessen es bedarf: daß es Zeugen, lebendige Zeugen in seiner Mitte sehen soll – wie sich sonst auch alles gestalten mag!«22 Nicht auf den politischen Gewinn kommt es Dibelius nun an, sondern auf das spirituelle Wachstum und die Besinnung auf Jesus Christus. »Ich […] bitte den lebendigen Gott nur um das eine: ob Deutschland mächtiger wird oder nicht durch diesen Krieg, reicher oder nicht an Land und Menschen, an Korn und Gold: dass es nur seinen Herrn Jesus Christus nicht verliert! Dass es nur in entschlossener Wendung zu ihm seine Zukunft baue, in der Kraft des Glaubens, in der Kraft der Heiligung und der Liebe.«23
3.4
Der Versailler Vertrag als schmachvolles Werk des Satans und als stärkendes Gericht Gottes
Am 28. Juni 1919 wurde der Versailler Vertrag unterzeichnet. Bereits sechs Wochen vor seiner Unterzeichnung, gleich nach Bekanntwerden der darin enthaltenen Vorschläge, predigte Dibelius eigens zu diesem Anlass in der Berliner Kirche zum Heilsbronnen. Die Veröffentlichung trägt den Titel »Kraft in der Not! Predigt am 11. Mai 1919 nach Veröffentlichung des Friedensvorschlages von Versailles gehalten in der Kirche zum Heilsbronnen von Lic. Dr. Otto Dibelius, Pfarrer in Schöneberg«. Herausgegeben wurde die Predigt von der Schriftenvertriebsanstalt GmbH Berlin. Textgrundlage ist Jesaja 40,31:«Die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.« Die Dramatik der Situation greift Dibelius sogleich in den ersten Sätzen seiner Ansprache auf: »Was wir sechs Monate hindurch in qualvoller Sorge erwartet haben – nun ist es da! Nun ist es so da, dass ein Schrei des Entsetzens durch Deutschland klingt – 21 A.a.O., S. 55f. 22 A.a.O., S. 59. 23 A.a.O., S. 62.
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nein, nicht durch Deutschland allein, sondern durch die gesamte zivilisierte Welt. Wir habe keinen anderen Frieden erwartet als einen Frieden der Macht.[…] Was uns aber nun angetan werden soll, das ist kein Friede der Macht wie ihn frühere Jahrhunderte kannten. Das ist, wie mir einer der Sachverständigen im deutschen Friedensausschusse sagte, ein ›satanisches Kunstwerk‹, wie es nur die Vereinigung von französischen Hass und raffinierter englischer Grausamkeit hat ersinnen können, um ein großes Volk für hundert Jahre jeder Existenzmöglichkeit zu berauben. […] Und das ist die Frucht von hochtönenden Reden von Völkerverständigung und neuer Gerechtigkeit, die deutsche Narren für bare Münze genommen haben. […] Was uns das Blut in Wallung bringt im Angesicht dieses schmachvollen Friedensvorschlages, das ist nicht der heiße Schmerz darüber, dass es nun zu Ende sein soll mit deutscher Macht und Größe, mit dem, was uns und unseren Vätern das Herz froh und stolz gemacht hat, das ist nicht die Sorge vor den Entbehrungen und Vergewaltigungen, denen wir entgegensehen, das ist nicht die Trauer um unser unglückliches Volk, das nun wieder – ach, zum wievielten Male! – den Weg des Leidens gehen soll. […] Nein, das ist die Empörung über den ungeheuren Verrat, dessen Opfer das deutsche Volk geworden ist, […] die Empörung unseres Gewissens über die schamlose Heuchelei, die einen solchen Frieden einen Frieden des Rechts und der Gerechtigkeit zu nennen wagt. Und wenn dieser Friede nicht dem deutschen Volke angesonnen wäre, sondern irgendeinem anderen Volk in irgendeinem anderen Winkel der Welt – unser Herz würde ebenso aufschreien vor Entsetzen und würde seinen Fluch rufen über die, die solchen Frieden haben ersinnen können und mit diesem Frieden eine Saat des Unheils auf die Erde säen.«24 Dibelius macht aus seinem Zorn keinen Hehl. Er sieht in diesem Vertrag die Saat zu neuem Unheil – und trägt mit dieser Predigt selbst dazu bei, dass im Lande auf Revanche gesonnen wird. »Die Lüge Englands hat das deutsche Volk zu einem kriegswütigen Volk stempeln wollen. Macht man uns zu Sklaven, dann zwingt man uns, zu werden, was wir nie gewesen sind, dann kann im Herzen deutscher Männer hinfort nichts anderes mehr wohnen als der Gedanke der Befreiung durch Blut und Eisen, dann können deutsche Väter ihren Söhnen kein anderes Lebensziel mehr weisen als das eine: der unerträglichen Schmach ein Ende zu machen und die Freiheit zurückzugewinnen mit dem Schwert. Es wäre nicht das erste Mal, dass an einem Frieden französischer Gewaltpolitik das deutsche Volk sich ermannte zu wehrhaftem Zorn. […] Aus dem Frieden von Versailles 1919 kann nichts anderes entstehen als eine Flamme heiligen Zornes in den Herzen von Millionen Deutschen.«25 24 Otto Dibelius: Kraft in der Not! Predigt (über Jes 40,31), gehalten am 11. Mai 1919 nach der Veröffentlichung des Friedensvorschlages von Versailles in der Kirche zum Heilsbronnen, o.O.u.J. (1919). Die Veröffentlichung enthält keine Seitenangaben. Zählt man das Titelblatt als Seite 1, so finden sich diese Passagen auf Seite 2. 25 A.a.O., S. 3.
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Auch an der Dolchstoßlegende beteiligt sich Dibelius: »Was werden wird – wir wissen es nicht. Wir tragen in dieser Stunde unsere große Not vor Gott. […] Wir wissen nur eines: der Weg des deutschen Volkes wird in jedem Fall ein Weg durch Nacht und Grauen sein. […] Oder wäre dieser Friedensvorschlag ein gerechtes Gericht über unser Volk? Freunde, wir bekennen uns auch in dieser Stunde frei und offen zu großer Schuld. Ein Volk, das seinem eigenen Heere den Dolch in den Rücken gestoßen hat, ein Volk, das seine Brüder und Schwestern preisgegeben hat, um den fremden in leichtsinnigem Vertrauen die Friedenshand hinzustrecken, ein Volk, das seine furchtbare Niederlage mit Streiks und Tanzvergnügen feiert, ein Volk, das den Geist der Wahrhaftigkeit, der Opferwilligkeit und der Bruderliebe tausendmal verleugnet hat in der schwersten Probe seiner Weltgeschichte – ein solches Volk hat ein hartes Gericht verdient von den Händen eines gerechten Gottes! Aber wenn dieser Gott die Schuld der Völker gegeneinander wägt, […] wessen Schale wird sinken?«26 Allerdings will Dibelius nicht im Ressentiment verharren. Christen müssten daran glauben, dass Gott auch das größte Leiden in Kraft umwandeln kann: »Ist es aber ein Gericht voll unerhörter, erbarmungsloser Ungerechtigkeit – ihr Christen, wo ist dann euer Gott? Die Frage geht von Mund zu Mund, von einem gequälten Herzen zu anderen. Die Frage darf nicht ohne Antwort bleiben! Und das ist die Antwort des Glaubens: Gottes Barmherzigkeit besteht nicht darin, dass er seine Kinder bewahrt vor Unglück und Ungerechtigkeit. […] Das ist die Wirkung dieser seiner Barmherzigkeit, dass er den Menschen das Schwerste, das sie betrifft, umwandelt in Kraft, […]. Mit einem Wort: dass er Leiden umschmilzt in Kraft – das ist Gottes Barmherzigkeit. […] ›Die auf den Herren harren‹ – dieses Warten lässt den Blick nicht kleben an den irdischen Dingen, die verloren sind, er richtet ihn empor auf die ewigen Dinge, die nicht verloren gehen können. Und dann wird das Kleine immer kleiner und das Große immer größer. […] War das nicht Kraft, als Martin Luther sagte: Nehmen sie denn Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben? […] Wird das nicht Kraft sein, wenn deutsche Herzen sich sagen: Unser Geld können sie nehmen, unser Wirtschaftsleben können sie zerstören, in den Hungertod können sie uns stoßen, die äußere Freiheit können sie uns rauben – aber dass wir uns durch all das Elend segnen lassen, dass wir das Haupt erheben als Kinder der göttlichen Barmherzigkeit und in königlicher innerer Freiheit unseren Bedrängern stolz ins Auge sehen, daran können sie uns nimmer hindern? […] Ja, saugt euch voll an dem Lebensblute unseres Volkes, die ihr diesen Frieden ersonnen habt, scharrt euch das Gold zusammen von allen vier Enden der Welt – wir wollen mit unserem Herrn Jesus Christus den Königsweg der Leiden gehen. Und wenn wir nur ihn haben, dann wollen wir mit keinem von euch tauschen, dann wollen wir auch als 26 A.a.O., S. 3f.
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Bettler frei und ungebeugt vor Gott und Menschen stehen, gesegnet im Leiden, gesegnet durch das Leid.«27 Und so schließt Dibelius seine Predigt mit einer Vision von neuer nationaler Größe. Es sei unvorstellbar, dass deutscher Geist aufhöre, das Evangelium auf seine besondere Weise zu verkündigen. »Ja, die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft. Kraft zu demütiger Geduld. Aber auch Kraft zu großer, tapferer Tat! […] Geht uns Staat und Vaterland in Trümmer, dann versinkt auch das Leben des deutschen Geistes. Und was wird dann aus der Welt? […] Ich kann an solche Zukunft nicht glauben. Ich kann nicht anders als glauben, dass auch Treue und Liebe, dass Gerechtigkeit und Friede noch eine Mission haben in dieser Welt. Und ich sehe nicht, wie diese Mission sich vollenden soll, wenn deutscher Geist aufhört, an dem großen Beruf der Christen teilzuhaben, ein Salz der Erde zu sein. Nicht an deutschem Wesen soll die Welt genesen. Aber deutscher Geist, geläutert durch Jesu Christi Geist getragen von starkem nationalen Leben hat eine unersetzliche Aufgabe an der Welt. […] Gott hat uns wertgeachtet, zu leiden, zu sühnen und uns emporzukämpfen zu neuer Kraft. […] Er will uns auffahren lassen mit Flügeln wie Adler, durch innere Erneuerung […] zu neuer nationaler Größe! So erhebt denn eure Häupter, ihr deutschen Männer und Frauen! Die Not ist groß! Aber größer als die Not ist Gottes Kraft! Ihr sollt nicht zuschanden werden! […] In ihr haben wir den Sieg, den Sieg der Freiheit über Verrat und Gewalt!«28 Man kann Dibelius zugutehalten, dass er in einer traumatisierenden Situation den Versuch unternimmt, den Zorn in Hoffnung umzuformen und die Lage als Möglichkeit der Besinnung und der Läuterung deutet. Man kann die Predigt aber auch als einen Aufruf zur Revanche deuten – als eine Unterstützung jener Kräfte, die auf Rache sannen und gerade so den Weg zum 2. Weltkrieg mental ebneten.
3.5
Ein Reich, ein Volk, ein Gott – Predigt am 21. März 1933
Otto Dibelius hatte Zeit seines Lebens eine besondere Begabung für zeitgemäße Predigten – vor allem bei besonderen zivilreligiösen Anlässen. So kommentierte er nicht nur den Kriegsbeginn 1914 und den Versailler Vertrag 1919, er predigte auch am 21. März 1933 als Superintendent der Kurmark zur Eröffnung des neuen Reichstages in der Nikolaikirche zu Potsdam. Er hielt aber auch am 9. September 1949 die Eröffnungspredigt zum Ersten Deutschen Bundestag für die evangelischen Bundestagsabgeordneten. Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen die dunkelsten und folgenreichsten Jahre deutscher Geschichte. Otto Dibelius hatte 1945 das Stuttgarter Schuldbekenntnis mitformuliert, das beklagt, dass die 27 A.a.O., S. 4f. 28 A.a.O., S. 5f.
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Christen in Deutschland nicht »treuer gebetet, mutiger bekannt, fröhlicher geglaubt und brennender geliebt« hätten. Ob es nur am Beten, Bekennen, Glauben und Lieben gefehlt hat, darf man bezweifeln. Zwischen dem 21. März 1933 und dem 9. September 1949 lag das Zerwürfnis zwischen den neuen Machthabern und Otto Dibelius. Bereits im Sommer 1933 wurde Dibelius zum Rücktritt gedrängt. Um die Gleichschaltung der Kirche zu verhindern, engagierte sich Dibelius in der Bekennenden Kirche. Am 21. März 1933 ahnten nur die Wenigsten, wohin die Reise gehen sollte. Es ist Frühlingsanfang. Katholische Abgeordnete besuchen einen katholischen Gottesdienst, die protestantischen den Gottesdienst in der Nikolaikirche. Die katholischen Christen Adolf Hitler und Josef Goebbels, der eine 35 Jahre und der andere 40 Jahre alt, können mit diesen bürgerlichen Ritualen nichts anfangen und ziehen es vor, in dieser Zeit lieber Kränze für getötete SA-Aktivisten in Berlin niederzulegen. Nicht umsonst wählt Dibelius für seine Ansprache die gleiche Textgrundlage wie der Prediger bei der Eröffnung des Deutsche Reichstages am 4. August 1914: »Ist Gott für uns, wer mag wieder uns sein?« (Röm 8,31) Was für ein Menetekel: Mit der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wird das Sinnen und Trachten des »Dritten Reiches« auf den Punkt gebracht. Der Krieg ist noch nicht vorbei. Die Vorbereitungen für seine Wiederaufnahme beginnen jetzt. 1933 und 1914 sind für den Prediger aber gleichermaßen Erweckungserlebnisse. Ausdrücklich stellt Dibelius 1933 fest: »Vielleicht, dass diese Sehnsucht, in anderthalb Jahrzehnten der Not in der Seele angesammelt und jetzt hervorgebrochen, mehr Verheißung hat als die Erfüllung von damals, die aus dem Gewitter des Krieges wie mit einem Schlag entsprang.«29 Die Predigt beginnt mit einer Beschreibung der neuen Stimmung im Land: »Durch Nord und Süd, durch Ost und West geht ein neuer Wille zum deutschen Staat, eine Sehnsucht, nicht länger, um mit Treitschke zu reden, ›eine der erhabensten Empfindungen im Leben eines Mannes‹ zu entbehren, nämlich den begeisterten Aufblick zum eigenen Staat. […] Noch sind wir nicht wieder ein einiges Volk. […] Aber das Verlangen ist doch da bei Ungezählten, sich aus Klassenhass und Parteizerklüftung in das zu retten, was uns alle eint: dass wir Deutsche sind! Noch ist der Glaube in deutschen Landen nicht wieder die große, bewegende Kraft, die er einstmals war. Aber eine Bereitschaft zu neuem Glauben ist bei Hunderttausenden da. […] Wollen Ulrich von Hutten und Martin Luther sich wieder die Hand reichen und das deutsche Volk in neuem Glauben vor Gottes Angesicht stellen? Ein Reich, ein Volk, ein Gott – ist es noch nicht wieder 29 Otto Dibelius: Mit Gott zu neuer Zukunft! Predigt zur Eröffnung des deutschen Reichstages am 21. März 1933 gehalten in St. Nikolai zu Potsdam, zuerst veröffentlicht im »Reichsboten« vom 22. 3. 1933, hier zitiert nach Günther van Norden: Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh 1979, S. 52–55, hier 52.
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Erfüllung, so ist es doch Sehnsucht.«30 Kritisch grenzt der Prediger die neue deutsche Sehnsucht von westlichem Kapitalismus und östlichem Sozialismus ab: »Ja, mit Gott zu neuer Zukunft! Wir wollen wieder frei werden von dem Geist, der nur das Materielle kennt, der die Wirtschaft für das Schicksal hält, der den Menschen der Maschine unterordnet, der von den Wolkenkratzern Neuyorks bis zu den Kraftwerken Südrußlands nur noch diesen einen Typus des mechanisierten Menschen anerkennen will! Wir wollen wieder sein, wozu Gott uns geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein!«31 Die Predigt schließt mit der Hoffnung, dass sich der neue Nationalismus nicht in sich selbst abschließen möge: »Das ist heute unser Gebet: dass Gottes Gnadenhand über dem Bau des Deutschen Reiches die Kuppel wölbe, die einem deutschen, einem geheiligten, einem freien Volk den Blick für immer nach oben zieht. Deutschland wieder und für immer: ein Reich, ein Volk, ein Gott!«32 Man kann Dibelius’ Formel »Ein Reich, ein Volk, ein Gott« als Einspruch gegen Hitlers Parole »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« deuten. Nicht ein Mensch, sondern Gott soll im Lande herrschen. Was aber Dibelius für subtile Kritik am Führerkult gehalten haben mag, das mögen viele Hörer als letztlich zustimmende, auf jeden Fall aber als kompatible christliche Variation der Nazi-Parole empfunden haben – zumal dann, wenn vorher vom »heißen Glauben an Deutschland« die Rede gewesen ist. Auch ist Dibelius offenbar nicht gewillt, jene Bürgerinnen und Bürgern, die nicht an den protestantischen Gott glauben, in das neue Gemeinwesen zu integrieren. Innere Feinde der erhofften neuen deutschen Einheit sind Parteizerklüftung und Klassenhass. Deshalb sei »Rücksichtslosigkeit nach außen und nach innen« notwendig. Dibelius war kein Nazi. Er misstraute ihnen zutiefst. Gleichwohl muss er sich fragen lassen, warum für ihn die Hegemonie des Protestantismus eine Selbstverständlichkeit war, woher die Sehnsucht nach einer romantisierten Vergangenheit kommt und warum es zu einem völligen Ausfall des Rechtsstaatsgedankens im deutschen Protestantismus kommen konnte. Während Dibelius den Glauben an Deutschland feiert, erinnert zeitgleich Karl Barth daran, dass Glaube zuerst der Glaube Gottes, des Vaters des Juden Jesus, an uns ist. Alles andere sei Unglaube. Die Predigt von Potsdam ist ein Beispiel dafür, wie Nationalprotestanten willige Helfer des Faschismus waren – selbst wenn sie ihn expressis verbis für seine scheinbar nur vorübergehende Willkür kritisierten.
30 Ebd. 31 A.a.O., S. 53f. 32 A.a.O., S. 55.
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3.6
Christusmythus oder Jesus von Nazareth? Die Predigt vom 9. Mai 1937
Unter dem Titel »Wie Christen wählen« erschien eine Predigt von Dibelius über Apostelgeschichte 1,15–26 im Berliner Verlag »Der Freie« im Jahr 1937. Dies aus gegebenen Anlass: Es standen Kirchenwahlen bevor und Dibelius versuchte verzweifelt den Einfluss der Deutschen Christen einzudämmen. »Es muss unmöglich sein, dass Menschen von der Straße kommen, um einen Stimmzettel in die Urne zu werfen, ohne irgendeine Gemeinschaft mit dem Gottesdienst der Christenheit zu haben.«33 Doch neben seinem Versuch, auf die Wahlen selbst Einfluss zu nehmen, rechnet die Predigt mit den Deutschen Christen ab. Vom Text kommt er rasch zur Gegenwart: »Der Christusmythus spielte damals eine große Rolle – genau derselbe Mythus, den heute die sog. Thüringer Deutschen Christen verkündigen. Für diese Deutschen Christen ist nicht die geschichtliche Person des Jesus von Nazareth das Entscheidende, sondern die Christusidee, […]. Wir feiern Karfreitag, sagen die Thüringer. […] Jesus von Nazareth ist gekreuzigt worden; aber das ist lange her. Das Entscheidende für uns Menschen von heute ist, daß Deutschland gekreuzigt worden ist durch den Vertrag von Versailles. Warum feiern wir Ostern? Christus ist auferstanden. Der Jesus von damals – gewiß; aber tausendmal wichtiger für uns ist, dass Deutschland auferstanden ist im Nationalsozialismus. Pfingsten, Ausgießung des Heiligen Geistes. Damals vor 1900 Jahren – gewiß, aber das ist lange her. Ausgießung des Heiligen Geistes war am 21. März 1933 in der Garnisonkirche in Potsdam!«34 Neigte Dibelius in seinen früheren Predigten noch zu eben dieser Hermeneutik, so stehen ihm die Gefahren dieser scheinbaren Aktualisierung des Textes sehr deutlich vor Augen. »Das Ziel der Wahl ist es, dass Jesus von Nazareth als der Auferstandene verkündigt wird, nicht als Auferstehungsmythus, sondern als der geschichtliche Jesus von Nazareth, der zum Herrn der Welt geworden ist. Auf dies eine Ziel ist die ganze Wahl ausgerichtet.«35 Erstaunlicherweise vollzieht Dibelius aber nicht den Schritt, den Karl Barth getan hat: an Jesus von Nazareth als den Juden und Rabbi Jesus von Nazareth zu glauben. Wer den historischen Jesus ganz und gar ernst nimmt, der wird diesen Schritt notwendig tun müssen. Dies umso mehr, als sich Dibelius völlig unbefangen aus dem Alten Testament bedient, wenn er nach Trost in der Bedrängnis sucht: »Aber jetzt hat uns Gott in den Wettern der Zeit wieder auf sein Wort geworfen. In der Not und Schmach der Kirche haben wir sehen gelernt, was wir früher nicht sahen. Jetzt stehen wir unter 33 Otto Dibelius: Wie Christen wählen. Predigt (über Apg 1,15–26) am Sonntag Exaudi, Berlin o. J. (1937), S. 6. 34 A.a.O., S. 3f. 35 A.a.O., S. 5.
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dem Bekenntnis des 119. Psalms: ›Ehe ich gedemütigt ward, irrte ich; nun aber halte ich dein Wort!‹ Wir wollen es wirklich halten. […] Ja, du kannst noch ganz anders in Gottes Wort leben und Gottes Wort gehorsam sein als bisher! Du kannst es – auch in der Stunde einer schicksalsschweren Wahl!«36 Gewissermaßen am eigenen Leib spürte die evangelische Kirche nun die Folgen eines von ihr mehrheitlich begrüßten totalitären Regimes. Der Schweizer Karl Barth hatte im Jahr 1938 für die Zeitschrift »The Christian Century« in einem Essay mit dem Titel »How my mind has changed« im Blick auf das Jahr 1933 festgestellt: »There was given me a gigantic revelation of human lying and brutality on the one hand, and of human stupidity and fear on the other. »37 Und er stellt weiter fest, dass Lüge, Brutalität, Dummheit und Angst weiter angewachsen seien. Vergleicht man Barths sehr klare Sicht auf die politische Lage mit der nur allmählich sich einstellenden Klarheit des Urteils bei Dibelius, so wird man den Beitrag der Romantik zum getrübten Urteil des deutschen Kirchenführers nicht unterschätzen dürfen.
4.
Schlussbemerkungen
Wenn 1939 auch keine Kriegsbegeisterung ausbrach, so war doch für viele der Zweite Weltkrieg die Fortsetzung des Ersten. Und die anfänglichen Erfolge schienen eine Revanche zu ermöglichen. Der mentale Zustand der Deutschen zwischen 1914 und 1945 lässt sich wohl am besten als kollektive, auf Dauer gestellte Kriegsneurose begreifen. Junge Männer wollten sich heldenhaft in den Stahlgewittern der Fronterlebnisse bewähren und die als tief empfundene deutsche Kultur gegen die oberflächliche westliche Zivilisation verteidigen. Stattdessen kehrten sie traumatisiert zurück, enttäuscht und zornig darüber, dass ihre Väter, die ihnen die Überlegenheit des deutschen Geistes versprochen hatten, in den Jahren der Weimarer Republik sich eben jenen Mächten andienten, die sie immer verachtet hatten: Geld, Eigennutz, Alltäglichkeit, Mehrheitsregeln, Demokratie nach westlichem Vorbild. Während Dibelius als Mitglied der Bekennenden Kirche die Gefährlichkeit des Naziregimes schon früh und dann immer deutlicher vor Augen stand, blieb die Mentalität mancher Militärpfarrer ungebrochen nationalistisch. So predigte etwa Marineoberpfarrer Plantiko zum Heldengedenktag auf dem Ehrenfriedhof Drontheim im Jahr 1941 Folgendes: »Das sind die Toten dieses Krieges, das stolze, 36 A.a.O., S. 7. 37 Karl Barth: How my Mind has changed in this Decade, in: The Christian Century 56, Heft 37/38 (1939), S. 1097–1099; 1132–1134. Wieder abgedruckt in Karl Barth: How I Changed my Mind, hg. v. John D. Godsey, Richmond / USA 1966, hier 45.
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starke, befreiende Echo, auf das die Toten des Weltkrieges gewartet haben. 25 Jahre lang! […] Gott hat unser Volk erst 4 ½ Jahre siegen lassen, hat uns dann gedemütigt, hat uns eine Zeit der Schamlosigkeit auferlegt, hat uns nun nach einem langen Ringen zu ihrer Überwindung geholfen. Es ist ein Wunder, das sich am Deutschen vollzogen hat. […] Es zeigt, dass der Allmächtige unser Volk nicht verlassen hat, sondern in Gnade wieder angenommen hat. Dass es sich dieser Gnade würdig erweise, das soll unser Gelöbnis sein, solange wir leben und uns der Herr die Kraft gibt, den Kampf weiter zu führen.«38 Im Jahr 1945 war der Spuk vorüber – Millionen von Menschen hatten ihr Leben dafür gegeben, dass die Deutschen von dieser entgleisten, nihilistischen und brutalen politischen Romantik erlöst wurden. Man kann sich als ein in der Nachkriegszeit geborener deutscher Theologe zu dieser Predigtpraxis nur im Modus der Scham und der Ablehnung verhalten. Die Frage ist aber, ob man diese Geschichte verdrängt und sie als das Andere abspaltet, oder ob man sich die Frage erlaubt, ob sich nicht spezifisch deutsche Mentalitäten durch die Jahrhunderte durchhalten, die – so die These auch dieses Essays – ihre Wurzeln in der deutschen Romantik haben, in der auch die Nachkriegsgenerationen »mariniert« worden sind. Wenn es sich so verhält, dann käme es darauf an, sehr wachsam und vorsichtig mit den Traditionsbeständen der Romantik umzugehen, um weitere Entgleisungen zu vermeiden. Als besonders bedrückend erwies sich in den Predigten von Otto Dibelius und vielen anderen jener Zeit der ganz und gar selbstverständliche Antijudaismus, der sich gerade in Dibelius’ Predigt aus dem Jahr 1947 Bahn bricht. Während man einerseits erleichtert konstatiert, dass er sich vom völkischen Denken verabschiedet hat und das Judentum nicht mehr als Metapher für Kapitalismus, Sozialismus, Pluralismus und Internationalisierung – mithin für die Folgen der Moderne – herhalten muss, wird nun andererseits der Hohepriester Kaiphas zum Symbol für völkisches Denken stilisiert. Antijüdische Ressentiments durchziehen die deutsche Romantik – und gehören auch heute noch zu den erschreckenden Momenten protestantischer Predigten. Die Selbstverständlichkeit, mit der romantische Sehnsüchte auch heute noch auf den Kanzeln geäußert werden, ist verblüffend. Aufklärung deutscher Predigerinnen und Prediger über ihre oft unbewussten kulturellen Prägungen müsste Teil ihrer homiletischen Ausbildung werden.
38 Zit. bei Dieter Beese: Zur Predigtarbeit der evangelischen Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg, Online-Veröffentlichung (1996), S. 18, online unter: http://www.dieter-beese.de /media/ab4a22e930121509ffff80d1fffffff0.pdf (24. 01. 2019).
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Lucian Hölscher
1945–2001: Politische Predigt unter demokratischen Bedingungen
1.
Was ist eine politische Predigt? Historische Schlaglichter des 20. Jahrhunderts
Welchen Beitrag können Predigten zum politischen Meinungsbildungsprozess in einer demokratischen Gesellschaft leisten? Und wie legitimieren Prediger diesen Beitrag theologisch? Worin unterscheidet sich die Praxis politischer Predigten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von derjenigen früherer Zeiträume oder auch von gegenwärtigen Predigten in Deutschland? Dürfen sich Prediger überhaupt politisch äußern und was ist überhaupt eine ›politische Predigt‹? All diese Fragen sind nicht zeitübergreifend zu beantworten, die Antworten geben vielmehr ein Bild von der Bedeutung und der Stellung von Religion innerhalb von Gesellschaften.1 Kirchliche Stellungnahmen bezogen dabei im Laufe der Zeit immer wieder divergierende und sogar widersprüchliche Positionen: Im 19. Jahrhundert neigten staatskirchlich orientierte Kirchenbehörden meist dazu, den Predigern nach dem Vorbild der Beamten ein politisches Redeverbot aufzuerlegen. Ihren prägnanten Ausdruck fand diese Haltung etwa in dem Telegramm Kaiser Wilhelms II. vom 28. Februar 1896 an seinen vormaligen Erzieher, den Geheimrat Hinzpeter: »Politische Pastoren sind ein Unding […]. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.«2 Politik galt im
1 Vgl. Martin Honecker: Art. Politik und Christentum, in: TRE 27 (1996), S. 6–23; Friedrich Wintzer: Art. Predigt IX, in: TRE 27 (1996), S. 311–330; Albrecht Gro¨ zinger: Toleranz und ¨ ber das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gu¨ tersloh 2004; Martin Leidenschaft. U Hoffmann: Ethisch und politisch predigen. Grundlagen und Modelle, Leipzig 2011; Helmut Schwier (Hg.): Ethische und politische Predigt, Leipzig 2015. 2 Zit. nach Günther Brakelmann: Kirche, soziale Frage und Sozialismus. Kirchenleitungen und Synoden über soziale Frage und Sozialismus 1871–1914, Gütersloh 1977, S. 193. Zur Predigtkultur im 19. Jahrhundert vgl. auch Friedrich Wintzer: Evangelische Predigt seit
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Lucian Hölscher
Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs noch vielfach als ein Meinungsstreit zwischen Untertanen, die sich in Dinge einmischten, die sie angeblich nichts angingen. Doch hielten weder kirchliche noch weltliche Amtsträger im Falle der Unterstützung obrigkeitlicher Positionen diese Haltung dann auch durch. Wenn es um nationale Belange wie den Kampf gegen auswärtige Mächte, etwa die Franzosen zur Zeit Napoleons, Bismarcks oder im Ersten Weltkrieg,3 oder auch um den Kampf gegen innenpolitische Gegner wie die Sozialdemokratie, ging, mischten sich Geistliche immer wieder und mit Billigung staatlicher Behörden ganz selbstverständlich in die Belange des Staates ein. Nach dem Ersten Weltkrieg ließ sich allerdings selbst der Aufruf zur politischen Enthaltsamkeit immer weniger aufrechterhalten. Einerseits drohten neue Gefahren für die Kirche, wie die Vorherrschaft des ›gottlosen‹ Kommunismus oder die des ebenso ›gottlosen‹ Kapitalismus, die eine Stellungnahme der Kirchen erzwangen. Andererseits aber war die Bindung der Kirchen an den Monarchen als oberstem Bischof und weltlichem Oberhaupt des Staates weggefallen, dessen politische Haltung den Kirchen bislang eine Orientierung geboten hatte. Bischöfen, Superintendenten und Konsistorien fiel es in dieser Situation immer schwerer, politische Stellungnahmen ihrer Pfarrer zu erzwingen oder zu unterbinden, auch wenn sie dies vor allem gegenüber sozialistischen Pfarrern hin und wieder versuchten. Ebenso wie der Rest der Gesellschaft zerfiel so auch die Pfarrerschaft in unterschiedliche Meinungslager, wobei die weit überwiegende Mehrheit allerdings den konservativen, nur eine Minderheit den liberalen Parteien nahestand und nur ganz wenige religiöse Sozialisten sich den sozialpolitischen, pazifistischen und universalistischen Forderungen der Sozialdemokratie anschlossen. Typisch für die Einstellung konservativer Amtsträger war in der Zwischenkriegszeit die Anweisung des schlesischen Generalsuperintendent Martin Schian: Er empfahl jungen Pfarrern, sie sollten sich nicht in Dinge einmischen, die nicht ihres Amtes seien, begründete dies allerdings nicht mehr mit ihrer Unzuständigkeit für politische Urteile, sondern mit dem drohenden Streit, den sie in ihre Gemeinden trügen. Wo ihr sittliches Urteil gefordert sei, sollten sie es geben, aber nicht von der Kanzel. Lediglich zur Abwehr der Christentumsfeinde, also in den 1920er Jahren der atheistischen Sozialisten, in den 1930er Jahren der Deutschgläubigen, müssten sie ihre Stimme erheben, allerdings immer so, dass sie immer dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: Seelsorge und Diakonie in Berlin, hg. v. Kaspar Elm und Hans-Dietrich Loock, Berlin 1990, S. 293–306. 3 Zur deutschen Kriegspredigt vgl. Wilhelm Meyer (Hg.): Gottes Wort in Eiserner Zeit. Ein Gedenkbuch in Predigten und Kriegsbetstunden, Marburg 1915; Paul Wurster (Hg.): Kriegspredigten aus dem Jahr 1914 und 1915 von verschiedenen Verfassern, Stuttgart 1915; Wolf-Dieter Marsch: Politische Predigt zum Kriegsbeginn 1914/15, in: EvTh 24 (1964), S. 513–538.
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noch Pfarrer der ganzen Gemeinde blieben.4 Bei ihrem Nein zu ›politischen‹ Predigten beriefen sich Lutheraner gern auf Luthers Zweireichelehre, die dazu anhielt, »dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist«. Nur wenige verstanden diesen Satz damals so wie Martin Niemöller auszulegen, der für Gott den ganzen Menschen reklamierte und dem »Kaiser«, also dem politischen Regime Adolf Hitlers, nur die Steuerabgaben überlassen wollte.5 Die Bezeichnung ›politisch‹ richtete sich in der Zwischenkriegszeit in aller Regel in stark negativer Bedeutung gegen parteipolitische und in diesem Sinne politisch ›einseitige‹ Predigten, die angeblich den Ansprüchen göttlicher und kirchlicher Sorge für das Gesamtwohl des Volkes nicht gerecht wurden. Dem lag ein Verständnis von Gottesfürsorge zugrunde, das der Konzeption des monarchischen Gottesgnadentums noch sehr nahe stand und die Kirche aus dem Streit der politischen Lager heraushalten wollte – es aber nicht konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Lage: ›Politische‹ Predigten waren in Kirche und Bevölkerung zwar weiterhin meist verpönt. Doch erwarteten vor allem die politischen Parteien von den Kirchen, dass sie sich konstruktiv am politischen Meinungsbildungsprozess beteiligten. Und diese Herausforderung anzunehmen sahen sich die Kirchen auch aus Eigeninteresse genötigt, teils um sich vom Odium ihrer monarchistisch-autoritären Traditionen zu befreien, teils aber auch, um ihren politischen Relevanzverlust in der Zwischenkriegszeit zu kompensieren.6 Gleichwohl glich die Aufgabe, Predigt und Politik mit einander ins rechte Verhältnis zu bringen, weiterhin der Quadratur eines Zirkels: Bald wünschte sich die Mehrheit des Kirchenvolks, wie Meinungsumfragen bestätigten, dass sich die Kirche aus dem politischen Meinungsstreit heraushalte,7 bald forderte sie deren politische Stellungnahme.8 Mal verstand man unter ›politischer Stellungnahme‹ nur im engen Sinne das Eintreten für eine bestimmte politische Partei oder Gruppe, dann wieder sah man in jeder Predigt, die sich irgendwie auf gegenwärtig aktuelle Fragen bezog, eine ›politische Predigt‹.
4 Martin Schian: Der junge Pfarrer. Grundsätzliches und Praktisches zur Führung des Amtes, Dresden 1936, S. 41. 5 Martin Niemöller: Dahlemer Predigten, Gütersloh 2011, S. 24–29. 6 Lucian Hölscher: Kirche im Zeitalter der Säkularisierung, in: ZEE Sonderheft 52 (2007), S. 3–11. 7 Gerhard Schmidtchen: Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchung im Bereich der VELKD, Stuttgart 1973, S. 98. 8 Einer empirischen Studie von 2009 zufolge betrachteten 48 % der Pfarrer in Kurhessen-Waldeck die theologische Auseinandersetzung mit Zeitfragen in Predigten als eine ihrer Kernaufgaben. Vgl. Andreas Rohnke: Pfarrberufe heute – Typologien pastoraler Berufsgestaltung. Eine empirisch-theologische Studie zur Ausdifferenzierung des Pfarrberufs, Frankfurt 2009, S. 25.
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Erst in den 1960er Jahren setzte, getragen von linken Theologen wie Helmut Gollwitzer, Jürgen Moltmann und Dorothee Sölle,9 eine neue Politische Theologie der Kirche nicht nur neue politische Ziele, sondern unterwarf auch überhaupt das Verhältnis von Kirche und Politik einer neuen theologischen Reflexion.10 Predigen, so hieß es spätestens seit dem großen Kirchenstreit der späten 1960er Jahre um die Politisierung der Kirchen, könne gar nicht anders als politisch sein. Gerade der Versuch, sich einer politischen Stellungnahme zu enthalten, müsse selbst schon als eine solche Stellungnahme gewertet werden.11 Die politische Predigt erschöpfte sich nun auch nicht mehr nur in der Parteinahme für bestimmte, meist linke politischen Ziele, sondern sie arbeitete die politischen Implikationen des Christentums überhaupt heraus: ›Weltverantwortung der Kirche‹, ›Dialog‹ mit und ›Dienst an der Welt‹, ›Hinwendung zum Menschen‹ als Geschöpf Gottes, ›Arbeit für die Zukunft in dieser Welt‹ waren im Jahrzehnt einer neuen, positiv verstandenen Säkularisierung die neuen Stichworte. Nicht die Wiederbelebung einer ›politischen Religion‹, deren schädliche Auswüchse im Nationalsozialismus sichtbar geworden waren, sondern die ›Politisierung der Religion‹ selbst war das Ziel der von der Politischen Theologie getragenen politischen Predigt. In den 1960er und 1970er Jahren waren politische Predigten häufig inklusiv und integrativ angelegt, das heißt, sie versuchten ihre Gegner mehr in die neuen großen Aufgaben hineinzuziehen, als sie auszugrenzen. Das gelang besser, wenn sie, statt einseitig nur linke und liberale politische Thesen und Anliegen zu unterstützen, auf die Ambivalenz politischer Problemlagen abhoben und den ›anderen Blick‹ von Christen auf diejenigen Seiten lenkten, die vom politischen Mainstream vergessen wurden.12 Gleichwohl formierten sich, so stark die Impulse, die von den neuen Politisierungsschüben ausgingen, auch waren, auch jetzt wieder, wie in den 1920er und 1930er Jahren, Gegenbewegungen, die sich gegen die politische Dominanz linker Predigten richteten. In ihnen fanden sehr heterogene Bevölkerungsgruppen zusammen, etwa evangelikale Gruppen, die sich im Rheinland und Westfalen in der Bekenntnisbewegung ›Kein anderes Evangelium‹ sammelten, und liberalkonservative Gemeinden, als deren Sprecher in den 1960er Jahren Walter 9 Helmut Gollwitzer: Veränderungen im Diesseits. Politische Predigten, München 1973; Jürgen Moltmann: Die Sprache der Befreiung. Predigten und Besinnungen, München 1972; Dorothee Sölle: Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolph Bultmann, Stuttgart 1971. 10 Pascal Eitler: ›Gott ist tot – Gott ist rot‹. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt 2009, S. 239–309. 11 Vgl. etwa Dieter Rammler: Politische Kanzeln. Ein homiletischer Stadtrundgang, in: Ethische und politische Predigt, hg. v. Helmut Schwier, Leipzig 2015, S. 29–41. 12 Manfred Josuttis: Zum Problem der politischen Predigt, in: EvTh 29 (1969), S. 509–522; Horst Nitschke (Hg.): Worte zur Lage heute gesagt. Politische Predigten, Gütersloh 1972.
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Künneth, Helmut Thielicke und Klaus Motschmann auftraten. Sie sahen die protestantische Kirche wiederum feindlichen Angriffen von Seiten der Katholiken und Sozialisten ausgesetzt und schlossen sich 1965 in der ›Notgemeinschaft evangelischer Deutscher‹ zusammen. Allerdings konnten sich diese Gruppen bis in die 1980er Jahre politisch nicht gegen den breiten Schulterschluss säkularer Christen durchsetzen, die sich in den kirchlichen Akademien, den Kirchentagen und den Bürgerbewegungen auf mächtige Interessenvertreter stützten. Predigten waren für diese Agitation nicht mehr die einzigen, aber immer noch sehr wirkungsvolle Verbreitungsinstrumente. Erst seit den 1990er Jahren gewann die Kritik an der Ausgrenzungspraxis politischer Predigten, wie sie heute vor allem gegen Anhänger der AfD geübt wird, wieder an Kraft. Dabei haben sich die Merkmale politischer und religiöser Kommunikation kaum geändert, stark dagegen deren Rahmenbedingungen: Im Zuge ihrer Schrumpfung können kirchliche Gemeinden und Prediger ihren ehemaligen volkskirchlichen Anspruch, für die Bevölkerung insgesamt zu sprechen, nicht mehr aufrechterhalten. Die Pluralisierung und Säkularisierung der Gesellschaft hat die selbstverständliche Akzeptanz christlicher Deutungsmuster unterhöhlt. Christliche Prediger sehen sich daher in stärkerem Maße wieder zur persönlichen Beglaubigung ihrer Botschaften, zur religiösen Öffnung ihrer Symbole und Begriffe und zu deren Übersetzung in säkulare Erfahrungswelten genötigt.13 Es würde nicht weit führen, die unterschiedlichen Stellungnahmen zu diesem Thema hier breit zu entfalten, da sie nie eine grundsätzliche Reflexionsebene erreichten, sondern immer in die jeweiligen Positionen des politischen Meinungskampfes eingebunden blieben: Wer eine politische Stellungnahme der Kirchen forderte, sah sie auf seiner Seite, wer sich dagegen sträubte, befürchtete ihre Gegnerschaft. Einzig die Debatten selbst, in denen diese Frage ventiliert wurden, sind von historischer Bedeutung: so vor allem diejenige Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre zwischen Nationalkonservativen und religiösen Sozialisten bzw. später zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche, und dann wieder Ende der 1960er Jahre zwischen konservativen und liberalen bzw. neo-sozialistischen Geistlichen.
13 Vgl. unten Predigtbeispiel 2 von Hanns Lilje.
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2.
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Der Beitrag von Predigten zum politischen Meinungsbildungsprozess
Welchen Beitrag leisteten Predigten zum politischen Meinungsbildungsprozess, und wie konnten Prediger diesen Beitrag theologisch legitimieren? Angesichts der Tatsache, dass es in Deutschland im 20. Jahrhundert immer zwischen 17.000 und 19.000 Pfarrer gab, die wenigstens 52 Mal im Jahr predigten, die Zahl ihrer Predigten also bei jährlich etwa einer Million gelegen haben muss, ist kaum zu erwarten, dass sich auf diese Frage eine einheitliche Antwort geben lässt, selbst wenn uns ein repräsentativer Anteil dieser Predigten überliefert wäre. Natürlich wird es Beiträge aus allen politischen Lagern gegeben haben. Auch durch die Berufung auf Gottes Wort und Wille werden sie kaum auf eine Linie gebracht worden sein, um so etwas wie ›die Stimme der Kirche‹ zu konkreten politischen Fragen und Themen zu bilden. Umso interessanter ist jedoch zu beobachten, wie Prediger dieser Gefahr der Vielstimmigkeit begegneten. Denn ganz gleich, ob sie ihre politischen Meinungen im Kontext der Auslegung einer biblischen Perikope oder in freier Rede, aber mit Verweis auf Bibeltexte äußerten, nahmen sie doch immer die Autorität Gottes für ihre politische Meinung in Anspruch. Bei gegensätzlichen politischen Meinungen ergab sich so fast zwangsläufig die Frage, ob Gott mit mehreren Meinungen ins Weltgeschehen eingriff oder, wenn nicht, welche denn die richtige Auslegung seines Wortes war. Dieses Problem war im 20. Jahrhundert nicht neu, aber es stellte sich in verschärfter Form, seitdem nach 1918 die Bindung der Kirche an den Landesherrn weggefallen und damit die Fiktion einer einheitlichen kirchlichen Willensbindung in politischen Fragen gefährdet war. Die Kirche hatte wohl schon seit langem Strategien entwickelt, die darauf abzielten, die kirchliche Verkündigung aus dem Streit der kirchlichen Parteien herauszuhalten. Aber eben diese Strategien bereiteten mit der Zeit auch zunehmend Probleme, die vor allem die noch junge Wissenschaft der Homiletik herausforderten. So war es schon im 19. Jahrhundert ein gängiges Argumentationsmuster zu erklären, dass Gott zwar in die jeweils gegenwärtige Situation hineinspreche, aber nicht mit konkreten politischen Programmen und Anweisungen, sondern indem er die Gläubigen dazu anweise, ihre politischen Ansichten und Entscheidungen im Lichte seiner Botschaft zu reflektieren. Damit wurde zwischen dem kontroversen politischen Diskurs und dem Diskurs kirchlicher Verkündigung eine Differenzzone eingezogen, in der politische Meinungsverschiedenheiten nicht unmittelbar aufeinanderprallten und doch im Medium biblischer Erzählungen und Ermahnungen mit einander vermittelbar blieben.
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Je umstrittener die Botschaft Gottes für konkrete politische Entscheidungssituationen war, desto wichtiger wurde nun allerdings auch die theoretische und methodologische Frage, wie Prediger politisch verantwortungsvoll Gottes Wort auslegen konnten, ohne ihre Gemeinde oder sich selbst im politischen Meinungsstreit aus den Augen zu verlieren. Diese Frage soll im Folgenden auf zwei Ebenen angegangen werden: zum einen anhand von homiletischen Lehrbüchern, deren unterschiedliche Antworten und Anweisungen möglicherweise auch so etwas wie einen historischen Wandel in der theologischen Reflexion auf das Verhältnis von Predigt und Politik erkennen lassen; zum andern anhand von zwei ausgewählten Predigten, die in ihrem je eigenen Vorgehen eine mehr oder weniger überzeugende Antwort auf dieses Verhältnis zu geben versuchen.
3.
Homiletisches Selbstverständnis im Wandel
Zunächst zur homiletischen Literatur.14 Wie die in ihnen neuerdings häufig anzutreffenden historischen Abrisse belegen, gehen die meisten neueren homiletischen Lehrbücher davon aus, dass sich Form und Ziel des Predigens im Laufe der Zeit stark gewandelt haben. Dafür nur drei Beispiele: Der Berliner Praktische Theologe Leonhardt Fendt gliederte in seiner erstmals 1948 veröffentlichten ›Homiletik‹ deren Geschichte in vier Abschnitte, deren vierter der gegenwärtigen Kirche im 20. Jahrhundert gewidmet war.15 In ihm hob er vor allem auf die Vermehrung der Predigtformen und die Befreiung der Homiletik vom Prokrustesbett der Rhetorik ab, die nur noch Hilfsdienste beim Predigen leisten würden, während im Zentrum die Verkündigung des Wortes Gottes stehen solle. »Es kommt alles auf den Inhalt an«, fasste er seine eigene Herangehensweise zusammen,sprach dann allerdings doch hauptsächlich über die richtige Form der Vermittlung des Gottesworts in der Predigt. Gleichwohl: Für Fendt hing die Überzeugungskraft der Predigt im 20. Jahrhundert in erster Linie an der Befreiung von traditionellen rhetorischen Zwängen und an der Vielfalt der Herangehensweise. Dabei hatte sich das Verständnis von ›Rhetorik‹, einstmals als Instrument zur Überzeugung von Zuhörern einer Rede gedacht, offenbar mittlerweile in dessen Gegenteil verkehrt. Auch Karl Barths historischer Abriss zur richtigen Predigtweise in seiner 1966 veröffentlichten ›Homiletik‹ lief letztlich auf seine eigene homiletische Lehre
14 Einen Überblick über die wichtigsten Lehrbücher bietet Hans Martin Müller: Art. Homiletik, in: TRE 15 (1986), S. 563–565; eine kleine Auswahl bieten auch jeweils die folgenden homiletischen Lehrbücher. 15 Leonhardt Fendt: Homiletik, Berlin (1948) 21970. Das folgende Zitat findet sich auf S. 139.
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hinaus.16 Doch verstand er es, die moderne Problemlage des Predigens schärfer zu umreißen. Barth zufolge ließ sich von Schleiermachers Ansatz beim religiösen Gefühl des Predigers und seiner Gemeinde über den Ansatz des Vermittlungstheologen Nitzsch bei der Fähigkeit des Predigers, »kraft seines Seins als gereinigte, gläubige, wiedergeborene Persönlichkeit« den Predigttext richtig zu »explizieren«, bis hin zur persönlichkeitszentrierten Predigtlehre von Johannes Bauer in der 1. Auflage des Lexikons ›Die Religion in Geschichte und Gegenwart‹ von 1910 eine zunehmende Betonung der Subjektivität des Predigers beobachten: Mit der »Aufgabe, die Predigt zu tätigen ›mit lebendiger Beziehung auf gegenwärtige Gegenstände‹«, falle dem Prediger schon bei Nitzsch die ganze Last der Überzeugung des Hörers von der Wahrheit des Gotteswortes zu. Aber, fragte Barth, besitze denn der Prediger tatsächlich die Fähigkeit, »mit wirklicher Menschenkenntnis die der sozialen, wirtschaftlichen, politischen Verhältnisse zu verbinden«? »Kann sich der Mensch (wirklich) zutrauen, in aller Mittelbarkeit eben doch unmittelbar Gottes Wort zu erkennen, sich Kongenialität mit dem Schriftzeugen zuzuschreiben?« Und ganz ebenso zu Bauer gewandt: »Mit erstaunlicher Zuversicht wird da dem Pfarrer die konkrete Vollmacht zugesprochen, aus seinem Glaubensleben heraus auszumachen, was seinen Hörern heilsam sei, was sie empfinden, sich vorstellen und wollen sollen, und es herbeizuführen.« Barth war immer gut in der schonungslosen Aufdeckung von theologischen Schwächen seiner Gegner, aber schwach oder zumindest weniger klar bei der Konstruktion eines eigenen Gegenentwurfs. Immerhin konnte er das Problem modernen Predigens so klar formulieren wie kaum ein anderer: In seiner Kritik an der liberalen, statt auf den Bibeltext mehr auf den Prediger und die Predigtsituation gerichteten Predigtweise zeigte sich zunächst deutlich die Verunsicherung der Prediger nach dem Ersten Weltkrieg, die sich angesichts der neuen politischen Lage der Kirche der Angemessenheit ihres subjektiven Verständnisses von Gottes Wort nicht mehr sicher waren und deshalb auf die Überzeugungskraft dieses Gottesworts selbst setzten. Dafür fand Barth Formeln wie »Gott ist das Subjekt«, er »schenkt« sich den Menschen in seinem Wort, der Prediger »assistiert« ihm nur in seiner Predigt.17 Was aber hieß dies angesichts der Tatsache, dass Gottes Wort ja nur in Form der biblischen Schriften vorlag, deren Bedeutung für jede gegenwärtige Situation der menschlichen Übersetzung bedurfte? Barth konnte für die Gewinnung des rechten Verständnisses von Gottes Wort keine eigenen Übersetzungen, sondern auch nur eine Reihe von Randbedingungen anbieten, die er unter den Stich16 Karl Barth: Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich 1966. Die folgenden Zitate finden sich auf S. 18, 23. 17 A.a.O., S. 25.
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worten Offenbarungsmäßigkeit, Kirchlichkeit, Bekenntnismäßigkeit, Amtsmäßigkeit, Vorläufigkeit, Biblizität, Originalität, Gemeindemäßigkeit und Geistlichkeit erörterte. Sie alle liefen darauf hinaus, dass in der Predigt Gott, nicht der Prediger rede, der Gottes Wirklichkeit weder beweisen noch darstellen könne. Doch wie dies geschieht, konnte auch Barth nicht sagen. Die Angabe von Rahmenbedingungen für Gottes Reden lief bei ihm, bei aller Nachvollziehbarkeit, doch nur auf die Beschwörung einer konkreten Situation hinaus, in der sich Gottes Wort in seiner Bedeutung für die Gegenwart gewissermaßen selbst offenbare.18 Im Zentrum seiner Homiletik stand das Konzept einer mystischen Leere, deren Offenhaltung ihm politisch wie theologisch wesentlich schien. Als Barth Mitte der 1960er Jahre seine Homiletik herausgab, hatte schon längst eine neue Wende zum Prediger als subjektivem Vermittler – sei es als Garant, als Zeuge oder als Berichterstatter (›Briefträger‹) des Gotteswortes – eingesetzt. Man kann diese neue Würdigung der Subjektivität an dem homiletischen Lehrbuch von Wilfried Engemann ›Einführung in die Homiletik‹ studieren,19 der in seiner Problemgeschichte des Predigens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Karl Barths Darstellung geradezu ins Gegenteil verdrehte, wenn er vier Phasen des Predigens unterschied: 1. Die Person des Predigers wird als Chance für das Textverständnis begriffen (Mitte des 19. Jahrhunderts im Anschluss an Schleiermacher). 2. Der bewusste Einbezug des Predigers wird als Aufgabe verstanden, dessen Persönlichkeit ins Spiel zu bringen (um 1900). 3. In der Dialektischen Theologie wird der Prediger ausgeblendet (Zwischenkriegszeit). 4. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt, im Anschluss an Otto Haendlers tiefenpsychologische Studie ›Die Predigt‹ von 1941, die Person des Predigers wieder als Interpret und Garant des Gotteswortes. Seither wurde die objektivistische Position Karl Barths von vielen, vor allem von psychoanalytisch und pastoralpsychologisch orientierten Homiletikern, kritisiert und abgelehnt. So lehrte etwa der Göttinger Praktische Theologe Manfred Josuttis in den 1970er Jahren: »Demokratisch wird eine Predigt, die auf objektivierte Deus-dixit-Sätze verzichtet, weil erst auf dieser Basis ihre Aussagen diskussionsfähig werden. Und dialogisch wird sie deswegen, weil nicht das verallgemeinernde Wir, sondern erst das Ich zur Antwort mit einer eigenen IchAussage einlädt.« Alles hing dem zufolge wieder an der Glaubwürdigkeit und Authentizität der Prediger, pastoralpsychologisch formuliert: »ob und wie jemand Ich sagen kann, also in welchem Maße es ihnen gelingt, den Auftrag als persönliche Aufgabe mit eigenen, subjektiven Akzenten zu formulieren«.20 18 Vgl. hierzu auch Helmut Gollwitzer: Und lobten Gott. Predigten – gehalten in der Gemeinde Berlin-Dahlem 1938–1940, Berlin 1962, Vorwort. 19 Wilfried Engemann: Einführung in die Homiletik, Tübingen / Basel 22011; vgl. dazu auch Michael Klessmann: Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2004, S. 390ff. 20 Manfred Josuttis: Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, München 1974, S. 83.
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Mittlerweile scheint allerdings auch dieses Bedürfnis nach Authentizität und Glaubwürdigkeit wieder zurückgegangen zu sein. Was bleibt, ist der kommunikationstheoretische Ansatz der Homiletik,21 der sich alles von der geglückten Kommunikation zwischen Gott und Mensch verspricht. Dazu später. Im Rückblick kann man sich allerdings fragen, ob sich in solchen Konjunkturen der Subjektivität tatsächlich ein geschichtlicher Wandel abzeichnet oder nicht nur der Ausschlag eines Pendels bald nach der subjektiven, bald nach der objektiven Seite des Predigens. Die homiletische Theoriedebatte spiegelt gewiss mehr als bloß die jeweilige Ansicht ihrer prominenten Teilnehmer, und doch ist fraglich, ob in den homiletischen Positionen wirklich die Predigtpraxis einer Epoche gefasst wird. Ja mehr noch: ob es darin überhaupt einen Wandel gibt. Möglicherweise schlug sich in den homiletischen Lehrbüchern überhaupt nur eine Theoriediskussion nieder, die sich vom zeitweisen Überdruss an Predigtstilen und Predigtanweisungen nährte, die die zeitgenössische Generation leid war, weil sie ihre Wirkung auf die Gemeinde verfehlten. Da spielte dann sicher auch die abnehmende Zuhörerzahl und die rückläufige Kirchenmitgliedschaft eine gewichtige Rolle, welche den Druck auf die Pfarrerschaft, persönlich überzeugend zu predigen, im selben Maß erhöhte, in dem die Kirche als Institution gesellschaftspolitisches Gewicht verlor.22 Wenn man dem besonderen Charakter politischer Predigten seit dem Zweiten Weltkrieg auf die Spur kommen will, ist es daher notwendig, den äußeren Umständen, unter denen Predigten entstanden, das heißt den Rahmenbedingungen des Predigens und den gesellschaftlichen Problemen, die in den Predigten angegangen wurden, ein größeres Gewicht zu geben. Ich will dies im Folgenden anhand zweier Predigten versuchen, die jeweils in eine bestimmte gesellschaftspolitische Situation hineingehalten worden sind.
4.
Die Zeitgebundenheit des Gottesworts
Vorab allerdings noch eine Vorverständigung: Alle Predigt geht von der Voraussetzung aus, dass Gottes Wort, obwohl in eine bestimmte historische Situation hineingesprochen, doch für alle Zeiten gilt, das heißt in alle historischen Zeiten hineinspricht. Mit den Worten von Karl Barth: »Die Mannigfaltigkeit der Schrift hat auch die andere Seite, dass jede Stelle zu jeder Zeit, zu jedem Menschen in einer je notwendigen Weise sprechen wird.«23 Man kann darin gerade das Wesen göttlicher Rede sehen, dass sie für alle Zeiten und Situationen gilt. 21 Klessmann: Pastoralpsychologie, S. 390ff. 22 Vgl. Dietrich Rössler: Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin 1994, S. 387. 23 Barth: Homiletik, S. 60.
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Doch liegt darin zunächst gar keine besondere Qualität des Gotteswortes, denn auch in der klassischen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts galt immer, dass, was immer Menschen je gesprochen und getan haben, von allen Menschen zu allen Zeiten verstanden werden kann. Und dasselbe gilt auch für alle Literatur, Philosophie und Kunst, die, wenn auch zu einer bestimmten Zeit entstanden, in der sie ihre Plausibilität fanden, doch auch zu anderen Zeiten verstanden werden und Evidenzen bereithalten. Doch für Gottes Wort gilt darüber hinaus die Überzeugung der Gläubigen, dass sich an Gottes Wort zu orientieren auch jeweils für die Gegenwart und Zukunft heilsam und zielführend sei. Man kann sich dies als säkularer Mensch dadurch plausibel machen, dass ›Gott‹ für den Gesamtzusammenhang des Lebens, von Geschichte und Gesellschaft steht, sein Wort daher den Weg weist, wie heilsames Leben möglich ist. Aber wie machten es Prediger glaubhaft, dass Gottes Wort in konkreten Situationen tatsächlich diese Kraft entfalten konnte? Dafür zwei Beispiele:
5.
Helmut Thielickes Predigt über die deutsche Schuld 1946 (Lukas 6, 17–21)
Unmittelbar nach Ende des Krieges hielt der prominente Stuttgarter Theologe Helmut Thielicke in der Stuttgarter Markuskirche vor großem Publikum eine Reihe von Predigten über die Bergpredigt, die er zehn Jahre später unter dem immer noch sprechenden Titel »Das Leben kann noch einmal beginnen« veröffentlichte.24 Thielicke war zeit seines Lebens ein wortgewaltiger Prediger, der sein Publikum mächtig ansprach und dessen Schriften meist viele Auflagen erlebten. Als Gegner der Nazis und Gefolgsmann des württembergischen Bischofs Wurm hatte er nach dem Krieg einen guten politischen Leumund, den er tatkräftig für den Wiederaufbau der Kirche einsetzte.25 Die erste seiner Predigten über die Bergpredigt, von der hier die Rede sein soll, ließ schon im Titel »Die Reise ohne Gepäck« erkennen, wie er den Weg der christlichen Gemeinde nach dem verlorenen Krieg deutete. Der behandelte Text Lukas 6, 17–21 eignete sich für Thielicke schon deshalb als Ausgangspunkt dieser Deutung, weil die hier geschilderte Situation, in der Jesus die Bergpredigt hielt, deutliche Parallelen zur Nachkriegssituation der christlichen Gemeinde in 24 Helmut Thielicke: Das Leben kann noch einmal beginnen. Ein Gang durch die Bergpredigt (1956), Stuttgart 71962, S. 11–21. 25 Vgl. Friedrich Langsam: Helmut Thielicke. Konkretion in Predigt und Theologie, Stuttgart 1996; Helmut Thielicke: Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen aus meinem Leben, Gießen / Basel 2007.
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Deutschland aufwies: »Eine Mischung aus Hoffnung und Furcht, aus Bangigkeit und heimlicher Erwartung«, nannte er sie. Das stand zwar so nicht bei Lukas, dort wurde nur erzählt, dass »eine große Menge […] gekommen war, Jesus zu hören und dass sie geheilt würden von ihren Seuchen«. Aber Auslegen bedeutete für den Prediger Thielicke zu allererst immer: plastisch, anschaulich machen, was im Bibeltext stand, und dann: die biblische Situation auf die gegenwärtige Lage der Gemeinde hin erzählen: »Da war zunächst das Heer der Elenden, der Schuldbeladenen, der Vereinsamten, der unheilbar Kranken, der Zersorgten und der von Lebensangst Umgetriebenen.« Das ließ sich in der Nachkriegszeit auch von den Zuhörern Thielickes vermuten. So sorgte der Prediger gleich eingangs dafür, dass der Text über die historische Versammlung der jüdischen Menge zur Zeit Jesu hinaus zugleich auch von der gegenwärtigen deutschen, seiner Stuttgarter Gemeinde handelte. »Gewöhnlich sieht man die Elenden ja nicht in dieser Weise versammelt. Das Leid und die Trauer pflegen sich zu verkriechen.« Das qualifizierte, auf die gegenwärtige Gemeinde angewandt, diese Versammlung weiter als ungewöhnliche, keineswegs nur säkulare Versammlung: Jesus wendet sich, so lautete die tröstliche Botschaft, nicht an die Glücklichen, die ›oberen Zehntausend‹, sondern an die Unglücklichen, an die Elenden. Ihnen will er Hoffnung geben, sie trösten und aufrichten. »So wissen es die Menschen dem Heilande Dank, dass er in ihre Elendsquartiere kommt« – heute wie damals, die Zeiten verschwammen nun bei Thielicke zusehends. Die Gewissheit über den heutigen Zustand verbürgte bei den Zuhörern, dass es auch damals so war. So konnte auch umgekehrt die Verheißung von damals für heute Geltung beanspruchen. Normalerweise, so fuhr Thielicke fort, bieten Prediger denen, die Schuld auf sich geladen haben, nichts weiter als Anklagen und Schuldzuweisungen. So war es oft genug im Krieg gewesen, als christliche Prediger die Sünden des Volkes für die Strafen Gottes verantwortlich gemacht hatten. »In diesem Geleise fahren die Prediger ja gerne. Man kennt das«, appellierte der Prediger an das Vorwissen seiner Zuhörer. Ganz anders nun aber Jesus in der Bergpredigt, bei ihm geschieht das gänzlich Unerwartete: Statt die Schuldigen zu verwerfen, preist er die Menschen selig: »Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr hier weinet, denn ihr werdet lachen.« Das treibt, fuhr Thielicke fort, »die Menschen zu einer an Entsetzen grenzenden Verwunderung, hält sie auch nach vollendeter Rede noch lange im Banne und lässt sie nicht zur Ruhe kommen«. So wünschte es sich Thielicke auch 1946, denn »so geht es ja immer wieder, wo Gott seine große Güte enthüllt. Sie ist gleichsam so übergroß und alle menschlichen Dimensionen und Vorstellungen überbietend und durchbrechend, dass man sie nicht zu fassen weiß«.
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Doch das ging nicht ohne Einsicht in die Schuld, die Thielickes gegenwärtige Gemeinde, ebenso wie Jerusalem zur Zeit Jesu, auf sich geladen hatte: Gefordert war Erkenntnis des Abgrunds, dem sie sich näherte, Einsicht in die »Macht der Verführung« des Teufels, »der auch die moralisch Intakten, die Braven und Anständigen beim Kragen nimmt, und zwar in einer Weise und mit einer Art des Zugriffs, dass die Betroffenen selbst (wenn sie nicht die Gabe der Geisterscheidung besitzen) zunächst keine Ahnung haben von der schiefen Ebene, auf die sie da mit allen Ränken und Künsten getrieben werden.« Und damit ja auch kein Zweifel an der Parallelität von damals und heute blieb, fuhr Thielicke fort: »Das ist doch das schreckliche Geheimnis der schrecklichen zwölf Jahre, dass wir es mit dieser dunklen Macht zu tun hatten, in welcher der Teufel sich als ein Lehrmeister der Listen und Tarnungen erwies. Er hat ja auch in den hinter uns liegenden Jahren nicht an die niedrigen Instinkte unseres Volkes appelliert, sondern er hat den Opfermut und die ›Einsatzbereitschaft‹ aufgerufen. Er hat die Jugend bei ihrem Idealismus und ihrer Vaterlandsliebe gefasst und hat wirklich als ein Engel des Lichts und in diabolischem Spiel mit den besten Eigenschaften des Volkes seine dunklen Geschäfte getrieben.« Kein Zweifel, dass hier mehr als eine reine Beschreibung der gegenwärtigen Lage vorlag. Vielmehr handelte es sich um eine politische Deutung der Lage nach dem Krieg, eine Deutung, die die Zuhörer, indem sie sie scheinbar schonungslos abkanzelte, zugleich entlastete. Denn in Thielickes Darstellung erschien die Gefolgschaft Hitlers als ein Werk der Verführung, für das deren Opfer nichts konnten, da ja doch nur wenige den politischen Durchblick, theologisch gesprochen die Fähigkeit zur Scheidung der Geister, besaßen und besitzen konnten. Der Verweis auf Christi Kreuzestod, der aller Menschen Schuld stellvertretend tilgt, musste so als Modell für die Entlastung der Deutschen von ihrer Schuld herhalten. »Ich habe es selbst verschuldet, was du getragen hast«: Der von Thielicke zitierte Vers aus dem Kirchenlied wurde zur billigen Formel für die Vergebung der gegenwärtigen politische Schuld, eine Vergebung, die Thielicke freigebig vornahm. Mit welchem Recht, welcher Vollmacht? Wenn Thielicke seine Gemeinde dazu aufrief, das »Gericht anzunehmen«, das über die Deutschen verhängt war, so geschah dies in der Nachfolge Christi, der ja auch unschuldig ans Kreuz genagelt worden war. »Und doch nehmen wir sein Gericht von dem Golgathakreuz her an. Einfach, weil wir spüren, dass einer für die stirbt, die er verklagen müsste«. Das Gericht, das Thielicke aufrief, stand bei ihm immer schon unter der Aussicht auf Erlösung und Versöhnung: Denn »Gott bleibt nie bei unserer Vergangenheit stehen, obwohl er uns nichts durchgehen lässt und den schmerzenden Finger auf unsere ärgsten Wunden legt. Er ist immer der Herr, dem es um unsere Zukunft geht und der uns Rettungswege bahnt und zu seinen Zielen führen will.« So
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konnte die Predigt schließlich mit der fragwürdigen Ermutigung enden: »Denn Gott ist immer positiv und macht alles neu«. Man kann an dieser Predigt viel lernen: über die von Thielicke unterstellte Gefühls- und Bedürfnislage seiner Gemeinde; über die politische Aufgabe eines Predigers, der sich nach dem Krieg konstruktiv am Wiederaufbau der deutschen Gesellschaft beteiligen wollte, ohne doch deren Schuld und Vergehen zu leugnen; aber auch über die Mechanismen der exegetischen Gleichschaltung von biblischen Geschichten und gegenwärtigen Geschichtsdeutungen. Sie alle standen unter der Prämisse, dass das Wort Gottes, richtig verstanden, unmittelbar der Bewältigung gegenwärtiger Problemlagen dienen könne. Darin sah Thielicke seine Aufgabe als christlicher und zugleich politisch engagierter Prediger.
6.
Hanns Lilje vor dem Deutschen Bundestag über den richtigen Weg in der gegenwärtigen politischen Krise 1961 (2. Mose 33, 12–15)
Am 17. Oktober 1961 hielt der Hannoveraner Bischof Hanns Lilje in der Bonner Kreuzeskirche eine Predigt zur Eröffnung des Vierten Deutschen Bundestags über die Verse 12–15 im 33. Kapitel des 2. Buches Mose.26 Darin ging es um Moses Begegnung mit Gott auf dem Berg Sinai. Auch Lilje war ein gewaltiger Prediger, der mit der Vollmacht des Gottesmannes Lob und Tadel austeilen konnte. Von den Nazis eingesperrt, war er 1945 nur knapp dem Tod entronnen, hatte im Gefängnis aber auch gelernt, Brücken zu den dort inhaftierten Katholiken und kommunistischen Atheisten zu schlagen.27 Das sollte ihm jetzt helfen. »Was bedeutet es«, fragte er eingangs die vor ihm versammelten Parlamentarier, »dass wir uns in der Kirche, also vor Gottes Angesicht, versammeln. Man erlaube mir eine sehr direkte Frage: Handelt es sich nur um Tradition? Das wäre das Leerste und Nutzloseste. Oder sollen die Recht haben, die nicht müde werden, unserem westlichen Staatswesen nachzusagen, dass es in seinem öffentlichen Leben fortgesetzt von Heuchelei bedroht sei, und dass die Kirche, die nach eben diesen Kriterien ja schon Waffen gesegnet habe, nun also auch ein Parlament segne?« Eine solche Frage in einer öffentlichen, staatstragenden Predigt zu stellen wäre ein halbes Jahrhundert zuvor, vor dem Ersten Weltkrieg, noch nicht denkbar gewesen. Sie artikulierte zwar die Anschuldigungen schon der damali26 Hanns Lilje: Predigt zur Eröffnung des Vierten Deutschen Bundestags am 17. Oktober 1961 in der Kreuzkirche zu Bonn, in: Ders.: Gloria Deo in desertis. Predigten zu besonderen Anlässen, Göttingen 1968, S. 87–92. 27 Ralph Ludwig: Hanns Lilje. Ein frommer Weltbürger, Berlin 2016; Hanns Lilje: Im finstern Tal, Nürnberg 1947.
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gen Sozialdemokratie, aber diese nun öffentlich, feierlich aufzugreifen, hieß sie wirklich ernst zu nehmen. Nach dem Missbrauch des Christentums im Dritten Reich und der Abkehr vieler Menschen vom Christentum war dies zeitgemäß, weil es auch diejenigen in die Predigterörterung mit einbezog, die erhebliche Vorbehalte gegenüber den christlichen Kirchen hatten. Was konnte der vorliegende Bericht von Moses Begegnung mit Gott auf dem Berg Sinai zur Beantwortung dieser Frage beitragen? Auch bei Lilje bot die Analogie der Situation, in der sich das Volk Israel damals und das deutsche Volk heute befand, den Ausgangspunkt: »Eben«, heißt es vom damaligen Volk Israel, das eben noch das goldene Kalb errichtet und angebet hatte, »eben ist dies Volk in schwere Schuld gefallen«. Es »wollte den Wohlstand und fremde, selbst gemachte Götter und fiel dadurch in Schuld […]. Nun liegt vor dem Volk die Wüstenwanderung […], eine Kette schwerster Krisen, denen das Volk entgegenging.« Das galt Lilje zufolge heute wie damals. Doch dann spitzte sich seine Frage zu: »Wer wird das Volk geleiten?«, fragte Moses den Herrn. Der habe ihn zwar aufgefordert, das Volk zu ihm »heraufzuführen«, aber er habe ihm nicht gesagt, wen er ihm dafür senden wolle. Darauf Gottes Antwort: »Mein Angesicht soll vorangehen; damit will ich dich leiten.« Hier lag die Botschaft, die Lilje auch für den Deutschen Bundestag bereithielt: Ebenso wie für Moses am Berg Sinai habe Gott auch für den Deutschen Bundestag einen klaren Führungsauftrag formuliert. Aber nicht in dem Sinne, in dem Hitler dies verstanden hatte, nämlich als umfassende Vollmacht an einen ›Führer‹, der schon wisse, welcher Weg zum Heil führe, sondern in der Bitte um einen göttlichen Begleiter. Anders als der selbst ernannte deutsche ›Führer‹ nahm Moses den Führungsauftrag Gottes nicht für sich selbst in Anspruch, sondern er bat Gott um Hilfe dabei. »Mir liegt sehr daran, in diesem Augenblick deutlich zu machen, dass sich die christliche Aussage über den politischen Bereich nicht darin erschöpft, dem Menschen uneingeschränkten Gehorsam zu empfehlen«, so wie das die Diktatoren aller Zeiten getan hätten. Vielmehr sage Mose, »er will (und kann) es nicht allein machen. Wenn einer alles allein machen zu können glaubt, ist er schon auf dem Weg zur Diktatur«. Hier nun bewies Lilje politische Sensibilität, wenn er fortfuhr: »An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich sagen, dass jetzt nicht etwa der Augenblick gekommen ist, wo fast automatisch die fromme Vokabel ›Gott‹ fällt,« mit der viele Abgeordnete ja nicht allzu viel hätten anfangen können. Vielmehr band Lilje den Gottesbegriff in die Frage nach dem Weg ein, den der Bundestag das deutsche, so wie Moses das jüdische Volk, führen sollte, und benutzte ihn damit zur Anzeige einer Problemstelle. Worin lag dieses Problem, für das der Gottesbegriff gewissermaßen als Platzhalter stand? Es bestand darin, dass es angesichts der scheinbaren Ausweglosigkeit, jedenfalls der Unerkennbarkeit des rechten Wegs aus der gegenwärtigen politischen Krise heraus die Zuversicht brauchte, dass es
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diesen Weg tatsächlich gebe. Der Gottesbegriff stand an dieser Stelle nicht einfach als mythologischer Glaubensgegenstand im Raum, er stand für diese Hoffnung, ja Verheißung, für den Mut, nach dem richtigen Weg zu suchen. Säkular gesprochen ging es darum, einen Weg aus der Krise zu finden, indem man dessen Existenz voraussetzt. Auf Gott zu vertrauen, hieß für Lilje so viel wie, gewissermaßen im Futur II, von einem Zeitpunkt, der noch in der Zukunft lag, auf den Weg zurückzuschauen, den man gegangen war. Von dort aus gesehen würde offenbar werden, dass es diesen Weg tatsächlich gab und wie er aussah. Nur am Rande sei hier angemerkt, dass wir diesen Standpunkt heute einnehmen, wodurch Liljes theologische Figur im Nachhinein eine zugleich erhellende und verstörende empirische Evidenz gewinnt. So viel von der allgemeinen Figur, für die der Gottesbegriff bei Lilje einstand. Sie besagte: Was später einmal klar vor Augen liegen wird, ist jetzt nur als Zuversicht zu haben. Aber die braucht es auch, damit sich die Zukunft auch tatsächlich erfüllt. Was aber war konkret mit der gegenwärtigen Krise gemeint, von der Lilje sprach? Als er seine Rede im Oktober 1961 hielt, lag der Beginn des Berliner Mauerbaus am 13. August 1961 gerade zwei Monate zurück und war noch in vollem Gang. Da war die Frage, wie darauf antworten? Und hier wurde Lilje nun ganz konkret, und zwar wiederum im Rückgriff auf den biblischen Text. Dort nämlich hieß es nach Liljes Zeugnis »in großer Deutlichkeit von Gott: Sein Name heißt ›Barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Güte und Treue‹.« Und er fuhr fort: »Mir scheint keine große Schwierigkeit zu bestehen, wenn wir uns dies göttliche Gesetz der Geschichte klarzumachen versuchen. Denn, wenn es zur Politik und zur geschichtlichen Tat kommt, wovon wollen wir uns leiten lassen? Etwa vom Hass? Ist einer in dieser Kirche, der nicht weiß, wie furchtbar es ist, wenn die Völker den Hass zum Mittel der Politik erheben? Oder eine ganz andere Gefahr, die Resignation! […] Die Resignation ist ein genauso schlimmer Feind wie der Hass. Es macht keine Mühe, den Unterschied zu begreifen zwischen diesen menschlichen Möglichkeiten und dem göttlichen Gesetz der Güte, der Barmherzigkeit, der Vergebung.« Und so endete Liljes Predigt mit einem großen Appell an den Bundestag, seine Führungsrolle klar wahrzunehmen, aber im Vertrauen auf Gott, das heißt auf die Zuversicht, dass es eine gute, nämlich friedliche politische Lösung für die gerade vollzogene deutsche Spaltung geben werde.
7.
Politisch predigen im späten 20. Jahrhundert
Was hier interessiert, ist weniger die Frage, wie überzeugend dieser politische Rat eines Geistlichen damals wirklich war oder heute ist, als vielmehr die Frage, wie er Gott in die Beschreibung der gegenwärtigen politischen Situation und in den
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Lösungsvorschlag einbezog, einen Weg aus der politischen Krise des Jahres 1961 zu finden. Vergleicht man dazu die beiden Reden von Thielicke und Lilje, so zeigt sich: Beide nutzten im Analogieschluss eine vergangene geschichtliche Konstellation zur Deutung der gegenwärtigen Lage. Beide beriefen sich auf Gottes Eingriff in diese Lage, der eine mit Verweis auf Jesu Kreuzestod, der andere auf Gottes Antwort auf Moses Frage nach dem rechten Weg. Bei Thielicke allerdings blieb dieser Eingriff ›Gottes‹ die Tat einer rein mythologischen Figur, deren Bedeutung in der Gegenwart zu einem leeren Versprechen der Vergebung und Erlösung wurde. Lilje dagegen verstand es, Gottes Eingriff in ein sachliches Problem gegenwärtiger Politik umzuformulieren. Was der Gottesbegriff tatsächlich bedeutete, blieb bei ihm offen, nur in der gegenwärtigen Situation beantwortbar: eine Problemstelle, die die Predigt, auch die politische Predigt, nicht ausfüllen, sondern nur offenhalten konnte. Darin liegt eine allgemeine Auskunft zur Frage nach dem Verhältnis von Predigt und Politik im späten 20. Jahrhundert: Christliche Predigt ist, wenn sie sich auf die konkreten Lebensbedingungen der Menschen einlässt, immer politisch. Sie kann allerdings Gottes Wort nicht mehr wie zu früheren Zeiten in einer Art religiösem Pseudorealismus allein in ihrer mythologisch-biblischen Form darbieten. Sie kann nur kenntlich machen, welche Problemstellen im säkularen Diskurs sie markieren muss, um die Aporien menschlichen Handelns offen zu halten. Sie offen zu halten aber ist nötig, damit die Leerstellen politischer Handlungskonzepte nicht vorschnell durch nur scheinbar oder nur zeitweise erfolgreiche Strategien ausgefüllt und so verschüttet werden. Dies gilt auch heute noch für politische Predigten, die sich etwa an kommunikationstheoretischen oder Konzepten der Befreiungs- und neuerdings der öffentlichen Theologie orientieren. Sie alle enthalten offene Problemstellen: etwa in der Hoffnung auf eine geglückte Kommunikation konkurrierender oder verfeindeter Gesprächspartner, die auch durch noch so gute Rahmenbedingungen nicht garantiert werden können. Politische Predigt, ja Predigen überhaupt bleibt daher letztlich immer eine beschwörende, magische Rede, die auf religiöse Konzepte angewiesen ist, um ihr Ziel zu erreichen.
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1.
Einleitung: Umstrittene Weihnachtspredigt
Wie auch immer man die Bedeutung der Predigt in der kulturellen und politischen Öffentlichkeit der Gegenwart einschätzen mag – allzumal vor dem Hintergrund der eintausenddreihundertjährigen Predigtgeschichte dieses Bandes: Mindestens einmal im Jahr wird die Predigt auch heute noch zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Dann nämlich, wenn ohnehin ein guter Teil der Bevölkerung die Gottesdienste der beiden großen christlichen Kirchen besucht, an den Weihnachtsfeiertagen.1 Alle Jahre wieder machen dann Auszüge aus bischöflichen Weihnachtspredigten die Runde, und die Feuilletons der überregionalen Zeitungen warten nicht bloß mit Essays zur religiösen Lage der Gegenwart, sondern auch mit ausführlichen Besprechungen der weihnachtlichen Predigtkultur auf. Nicht selten spielt dabei die Frage nach Sinn und Unsinn des Politischen in der Predigt eine prominente Rolle.2 Das jüngste Beispiel hierfür nimmt seinen Ausgang allerdings nicht in den klassischen Print-, Fernseh- oder Rundfunkmedien, sondern in den sozialen Netzwerken: Um 0:48 Uhr in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 2017 drückt Ulf Poschardt, seines Zeichens Chefredakteur von WELTN24 und offenbar gerade aus einem nächtlichen Berliner Weihnachtsgottesdienst gekommen, auf 1 Den weihnachtlichen Gottesdienstbesuch gibt die EKD mit rund 8,4 Mio. gegenüber 770.000 an ›gewöhnlichen‹ Sonntagen an. Zum Gesamtphänomen vgl. Matthias Morgenroth: Das Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002. 2 Vgl. als besonders interessanten Fall Marc Baumann: Himmelherrgottnochmal. Zu Weihnachten sind die Kirchen voll – zur Abwechslung. Und die Predigten langweilig – wie leider so oft, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 52 (2015) (online unter: https://sz-magazin.suedde utsche.de/religion/himmelherrgottnochmal-82068, 29. 01. 2019), und dann vor allem Redaktion: Oh, du Fröhliche. Letztes Jahr haben wir dazu aufgerufen, uns gelungene Weihnachtspredigten zuzusenden. Daraufhin erreichten uns mehr als 200 E-Mails mit Predigten. Über die Feiertage zeigen wir hier eine kleine Auswahl unserer liebsten, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 52 (2016) (online unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/religion/oh-du-froeh liche-83162, 29. 01. 2019).
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»Senden«. Per Twitter schickt er die folgende Frage in die Heilige Nacht: »Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?«3 Was in den nächsten Tagen folgt, ist eine jener Empörungswellen, wie man sie von Twitter und anderen Plattformen kennt. Unzählige Kommentatoren melden sich zu Wort, zunächst meist kritisch, dann auch zustimmend oder beschwichtigend. Bald schon schafft es die Debatte um die vermeintlich zu politische und zu erwartbar linke Weihnachtspredigt in die Berichterstattung der großen Zeitungen. Der Pfarrer, der die Predigt gehalten hat, wird interviewt – übrigens ein ehemaliger SPD-Bildungsminister in Brandenburg –, kirchenleitende Personen werden nach ihrer Meinung gefragt, schließlich wird auch die fragliche Predigt im Wortlaut veröffentlicht, sodass sich jeder und jede selbst ein Bild machen kann. Das alles hat gewiss mit dem Nachrichtenloch der Feiertage zu tun, aber es mag doch auch ein Indiz sein für die gegenwärtige Debatten- oder zumindest Empörungsfähigkeit der Themen Religion und Politik, Kirche und Politik und – als ein Teil davon – auch Predigt und Politik. Schaut man sich an, welche Personen des öffentlichen und politischen Lebens auf Poschardts Tweet reagieren, so kommen sie zumeist von SPD und Grünen, die ja auch direkt angesprochen wurden. Interessant ist aber vor allem der Inhalt ihrer Reaktion, denn sie nehmen nicht etwa ihre Parteien, sondern die Kirchen in Schutz. Bei SPD-Vize Ralf Stegner klingt das wie folgt: »Wer nichts zu Krieg und Frieden, Not und Gerechtigkeitsfragen, Hunger und Flüchtlingen hören will, sollte die Weihnachtsgottesdienste der christlichen Kirchen wohl besser meiden.«4 Noch spitzer formuliert die ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen, Simone Peter: »Dann sollte ich tatsächlich mal wieder in eine Christmette gehen. Hört sich gut an. Und Einmischung brauchen wir mehr denn je bei #Ungleichheit, #Abschottung, #Klimakrise.«5 Jürgen Trittin schließlich wittert in Poschardts Predigtkritik offenbar nicht nur eine inhumane oder unsoziale, sondern auch eine rechte, ausländerfeindliche, vielleicht sogar antisemitische Gesinnung: So empfiehlt er Poschardt als Weihnachtsgeschenk eine sogenannte »AfDKrippe«. Es handelt sich dabei um das Bild einer leerfegten Weihnachtskrippe mit dem sarkastischen Untertitel: »Die AfD-Krippe: ohne Juden, ohne Araber, ohne Afrikaner, ohne Flüchtlinge! Sensationell!«6 In diesen durchaus exemplarischen Reaktionen kommen zwei Aspekte zum Tragen, die für den Kontext der politischen Predigt in der Gegenwart charakteristisch sind: Erstens eine gewisse Polarisierung und Polemisierung des öffent3 4 5 6
https://twitter.com/ulfposh/status/945078664445792256 (29. 01. 2019). https://twitter.com/Ralf_Stegner/status/945290949965557760 (29. 01. 2019). https://twitter.com/peter_simone/status/945213388975681537 (29. 01. 2019). https://twitter.com/JTrittin/status/945678767636312064 (29. 01. 2019).
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lich-politischen Diskurses, spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Dabei findet man populistische Muster der Vereinfachung, der Stigmatisierung und der Übertreibung nicht mehr nur am rechten oder linken Rand, vielmehr haben sie, wie das Beispiel Trittins zeigt, größere Teile der politischen Kultur erfasst. Und da ist zweitens der – historisch ja keineswegs selbstverständliche – Sachverhalt, dass ein Wohlwollen gegenüber der politischen Predigt und einer politischen Kirche derzeit vor allem aus einem eher linken politischen Spektrum heraus geäußert wird. Demgegenüber sind es mehrheitlich UnionsPolitiker, wie etwa Wolfgang Schäuble, Julia Klöckner, Markus Söder u. a., die sich in jüngerer Zeit öffentlich über die Politisierung der beiden großen Kirchen beklagt haben.7 So aufschlussreich diese kurze Anekdote für die politische Predigt der Gegenwart auch ist, auf sie wird erst am Ende dieses Aufsatzes noch einmal zurückzukommen sein: Denn zuvor gilt es, ihren größeren gesellschaftlichen Kontext etwas ausführlicher, d. h. jenseits des Anekdotischen und auch nicht nur im Bann der Zuspitzung seit 2015, zu beleuchten (2). In einem zweiten Schritt wird sich der Blick dann auf die empirische Predigtpraxis richten: Die Analyse einiger ausgewählter Predigten soll zumindest einen ausschnitthaften Einblick in die gegenwärtige Predigtkultur und ihr Verhältnis zum Politischen gewähren (3). Von da aus wird sich zuletzt auch ein Ausblick auf die Herausforderungen und Chancen politischer Predigt ergeben, wie sie sich vor dem Hintergrund der ›umstrittenen Weihnachtspredigt‹ dieser Einleitung darstellen (4).
2.
Zum Kontext: Die Neujustierung des religionspolitischen Feldes
Wer nach dem größeren gesellschaftlichen Kontext der politischen Predigt in der Gegenwart fragt, ruft nicht nur ein vielschichtiges Thema auf, sondern zudem eines, dessen Deutung schon allein aus Mangel an historischem Abstand umstritten ist. Umso mehr mag es daher angebracht sein, die folgende Skizze in Thesenform anzulegen. Die Thesen, die hier zunächst vorangestellt und an-
7 Vgl. besonders die Essays von Wolfgang Schäuble: Das Reformationsjubiläum 2017 und die Politik in Deutschland und Europa, in: PTh 105 (2016), S. 44–53; Ders.: Protestantismus und Politik, München 2017. – Zu einem vollständigen Bild gehört allerdings auch, dass Markus Söder, der die Politisierung der Kirchen, insbesondere in Migrations- und Umweltfragen, zuvor scharf kritisiert hatte, wenig später mit seinem sogenannten »Kreuzerlass« dafür gesorgt hat, dass im Eingangsbereich jedes bayrischen Amtsgebäudes ein Kreuz gut sichtbar aufgehängt wird. Siehe dazu Friedrich Wilhelm Graf: Ein Kreuz. Zum aktuellen Religionsdiskurs in Deutschland, in: APuZ 28/29 (2018), S. 4–8.
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schließend erläutert werden, führen vom Themenfeld Religion und Politik über die Situation der Kirchen schließlich zur Predigt hin. 1. These: Das Verhältnis von Religion und Politik ist seit 2001 von besonderem öffentlichen Interesse, weil zur Debatte steht, ob die eingespielten Muster ihres Verhältnisses noch tragen. Das zeigt sich in deskriptiv-beschreibender Hinsicht (z. B. Revision des Säkularisierungstheorems), in normativ-theoretischer Hinsicht (z. B. Habermas’ Forderung nach wechselseitiger ›Übersetzung‹ religiöser und säkularer Vorstellungen) und nicht zuletzt in politisch-praktischer Hinsicht (z. B. islamischer Religionsunterricht u. v. m.). 2. These: Die beiden großen Kirchen geraten bei dieser Neujustierung insbesondere in die Spannung zwischen zwei gewichtigen Selbstansprüchen: Einerseits will man, nicht zuletzt unter dem Signum ›öffentlicher Theologie‹, ein politisch profilierter Akteur der Zivilgesellschaft sein, der mit ›einer Stimme‹ spricht und ›klare Position‹ bezieht. Andererseits will man als ›Volkskirche‹ die institutionelle Verkörperung einer Vielfalt von Glaubens- und Lebensweisen sein, die alle mit gleichem Recht als christliche gelten können sollen. Letzteres schließt aber notwendigerweise auch eine Vielfalt an politischen Positionen der Mitglieder mit ein, was mitunter in Spannung zur ›klaren Positionierung‹ der Kirche gerät. 3. These: Die Predigt ist einer der herausgehobenen Orte, an denen diese Spannung ausgetragen wird und an dem sie theologisch und politisch reflektiert auszutragen ist. Zur ersten These: Dass das Themenfeld ›Religion und Politik‹ seit 2001 von besonderem Interesse ist, zeigt schon die schiere Fülle an Literatur, die seitdem unter diesem und ähnlichen Titeln erschienen ist.8 Bisweilen ist dabei gar von 8 So findet man seit 2001 in beinahe jedem Jahr mindestens eine Monographie, häufig Tagungsund Sammelbände, die das Thema ›Religion und Politik‹ in allgemeiner bzw. übergreifender Perspektive behandeln; Einzelstudien und Aufsätze sind dabei also noch nicht eingerechnet: Bernhard Vogel (Hg.): Religion und Politik. Ergebnisse und Analysen einer Umfrage, Freiburg i. Brsg. 2003; Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker / Hartmut Behr (Hg.): Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik, Wiesbaden 2003; Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Manfred Walther (Hg.): Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004; Georg Pfleiderer / Ekkehard W. Stegemann (Hg.): Politische Religion. Geschichte und Gegenwart eines Problemfeldes, Zürich 2004; Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hg.): Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005; Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker (Hg.): Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen, Wiesbaden 2005; Tobias Hörschel (Hg.): Macht Glaube Politik? Religion und Politik in Europa und Amerika, Göttingen 2006; Matthias Mahlmann / Hubert Rottleuthner (Hg.): Ein neuer Kampf der Religionen? Staat, Recht und religiöse Toleranz, Berlin 2006; Hartmut Behr / Mathias Hildebrandt (Hg.): Politik und Religion in der Europäischen Union. Zwischen nationalen Traditionen und Europäisierung, Wiesbaden 2006; Friedrich Schweitzer (Hg.): Religion, Politik und Gewalt,
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einer ›Wiederkehr der Religion‹ die Rede, was in vielerlei Hinsicht unzutreffend ist, aber in der Hinsicht wohl stimmt, dass Religion als prominentes Thema auf die Bühne bestimmter sozial- und politikwissenschaftlicher, aber auch allgemeingesellschaftlicher Diskurse zurückgekehrt ist. Hierfür kann man 2001 als ein Gütersloh 2006; Krzysztof Michalski (Hg.): Woran glaubt Europa? Religion und politische Kultur im neuen Europa, Wien 2007; Thomas M. Schmidt / Michael G. Parker (Hg.): Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit, Würzburg 2008; Matthias Koenig / JeanPaul Willaime (Hg.): Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2008; Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?, Berlin 2009; Béatrice Acklin Zimmermann / Ulrich Siegrist / Hanspeter Uster (Hg.): Ist mit Religion ein Staat zu machen? Zu den Wechselbeziehungen von Religion und Politik, Zürich 2009; Ines Jacqueline Werkner / Antonius Liedhegener / Mathias Hildebrandt (Hg.): Religionen und Demokratie. Beiträge zu Genese, Geltung und Wirkung eines aktuellen politischen Spannungsfeldes, Wiesbaden 2009; Karsten Fischer: Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat, Berlin 2009; Bernd Schröder / Wolfgang Kraus (Hg.): Religion im öffentlichen Raum. Deutsche und französische Perspektiven = La religion dans l’espace public, Bielefeld 2009; Elke Ariëns / Helmut König / Manfred Sicking (Hg.): Glaubensfragen in Europa. Religion und Politik im Konflikt, Bielefeld 2011; Antonius Liedhegener / Ines-Jacqueline Werkner (Hg.): Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven, Wiesbaden 2011; Irene Dingel / Christiane Tietz (Hg.): Die politische Aufgabe von Religion. Perspektiven der drei monotheistischen Religionen, Göttingen 2011; Georg Pfleiderer / Alexander Heit (Hg.): Religions-Politik, 2 Bde., Zürich 2012; Eduardo Mendieta / Jonathan VanAntwerpen (Hg.): Religion und Öffentlichkeit, Berlin 2012; Gert Pickel / Oliver Hidalgo (Hg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen?, Wiesbaden 2013; Friedrich Wilhelm Graf / Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München 2013; Ulrich Willems / Detlef Pollack / Helene Basu / Thomas Gutmann / Ulrike Spohn (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013; Johannes Varwick / Stefan Schieren (Hg.): Religion in Politik und Gesellschaft. Eine Einführung, Schwalbach i. Ts. 2013; Ines-Jacqueline Werkner / Antonius Liedhegener (Hg.): Europäische Religionspolitik. Religiöse Identitätsbezüge, rechtliche Regelungen und politische Ausgestaltung, Wiesbaden 2013; Jürgen Hartmann: Religion in der Politik. Judentum, Christentum, Islam, Wiesbaden 2014; Libero Gerosa / Ludger Müller (Hg.): Politik ohne Religion? Laizität des Staates, Religionszugehörigkeit und Rechtsordnung, Paderborn 2014; Doron Kiesel / Ronald Lutz (Hg.): Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Frankfurt a. M. 2015; Roland Herpich / Patrick R. Schnabel / Andreas Goetze (Hg.): Religion Macht Politik. Wie viel Religion verträgt der Staat?, Berlin 2015; Klaus von Beyme: Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaft und Staat. Zum Verhältnis von Politik und Religion in Deutschland, Wiesbaden 2015; Jörg Dierken / Dirk Evers (Hg.): Religion und Politik. Historische und aktuelle Konstellationen eines spannungsvollen Geflechts, Frankfurt a. M. 2016; Rochus Leonhardt: Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden 2017; Oliver Hidalgo / Christian Polke (Hg.): Staat und Religion. Zentrale Positionen zu einer Schlüsselfrage des politischen Denkens, Wiesbaden 2017; Michael Kühnlein: Wer hat Angst vor Gott? Über Religion und Politik im postfaktischen Zeitalter, Stuttgart 2017; Holger Zapf / Oliver Hidalgo / Philipp W. Hildmann (Hg.): Das Narrativ von der Wiederkehr der Religion, Wiesbaden 2018; Klaus Stüwe (Hg.): Religion und Politik in der freiheitlichen Demokratie, Berlin 2018; Andreas Anter / Verena Frick (Hg.): Politik, Recht, Religion, Tübingen 2019.
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Schlüsseldatum namhaft machen, auch wenn die Grenzen, wie bei jeder Epochenzäsur, fließend sind. Es sind denn auch nicht nur der religiöse Terrorismus oder die Frage nach Toleranz und Gewaltverzicht, die die Debatten über Religion und Politik seitdem beschäftigen. Vielmehr dürfte ihr gemeinsamer Nenner und zugleich der Grund ihrer weithin empfundenen Relevanz viel grundsätzlicher darin bestehen, dass in verschiedenen Hinsichten eingespielte religionspolitische Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden – und zwar solche Selbstverständlichkeiten, die sich ursprünglich aus der wechselvollen deutschen und europäischen Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche entwickelt haben. Im Kern der Debatten um Religion und Politik steht demnach die Frage, ob und wie sich die an der Geschichte des Staat-Kirche-Verhältnisses gewonnenen religionspolitischen Grundoptionen auch auf die Situation einer gewandelten, zunehmend vielgestaltigen Religionskultur übertragen lassen.9 Will man die Diskussionsstränge unter diesem Gesichtspunkt grob ordnen, dann lassen sich drei Hinsichten ausmachen, in denen diese Frage besonders intensiv verhandelt wird: Da ist erstens eine deskriptive Hinsicht, also die Frage, wie Religion an sich und dann auch in ihrem Verhältnis zu Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit angemessen zu beschreiben ist. Hierbei haben vornehmlich der Diskurs um die Grenzen eines vermeintlich zu europäisch-protestantisch gefärbten Religionsbegriffs10 sowie – vermutlich noch prominenter – die Revision der klassischen Säkularisierungsthese, vor allem durch Soziologen wie etwa David Martin, José Casanova oder Hans Joas, größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen.11 Letztere weisen gegen den Anschein geschichtsphilosophischer Not9 Dies lässt sich naturgemäß am Beispiel des Staatskirchen- bzw. Religionsverfassungsrechts am deutlichsten ablesen, vgl. in dieser Hinsicht besonders Hans-Michael Heinig: Prekäre Ordnungen. Historische Prägungen des Religionsrechts in Deutschland, Tübingen 2018; Ders.: Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart, Hamburg 2018; Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 22006. 10 Vgl. dazu besonders Hans-Michael Haussig: Der Religionsbegriff der Religionen, Berlin 1999; Talal Asad: Formations of the Secular. Christianity, Islam and Modernity, Stanford 2003; Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007; Michael Stausberg (Hg.): Contemporary Theories of Religion. A Critical Companion, Abingdon / New York 2009; Tobias Müller / Thomas M. Schmidt (Hg.): Was ist Religion? Beiträge zur aktuellen Debatte um den Religionsbegriff, Paderborn 2012; Detlef Pollack: Probleme der Definition von Religion, in: Handbuch Religionssoziologie, hg. v. Ders. / Volkhard Krech / Olaf Müller / Markus Hero, Wiesbaden 2018, S. 17–50. 11 Vgl. David Martin: On Secularization. Towards a Revised General Theory, Aldershot 2005; Ders.: Secularization and the Future of Christianity, in: Journal of Contemporary Religion 20 (2005), S. 145–160; José Casanova: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; Ders.: Der Ort der Religion im säkularen Europa, in: Transit 27 (2004), S. 86–106; Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009; Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Brsg. 2012; Ders.: Die Macht des Heiligen.
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wendigkeit besonders auf die divergierenden nationalen Entwicklungspfade hin, die das religiöse Leben allein innerhalb der westlichen Moderne genommen hat. Zu deren Erklärung betonen sie nicht zuletzt die Bedeutung von Akteuren, wie beispielsweise Kirchen, sozialen Bewegungen oder auch charismatischen Einzelpersonen (mithin jeweils samt ihrer Verkündigung), die in bestimmten historischen Konstellationen der religiösen Entwicklung allererst ihre Richtung geben. Eine zweite Hinsicht, in der über eine Neujustierung eingespielter Muster von Religion und Politik diskutiert wird, ist eher normativer Natur. Das prominenteste Beispiel hierfür dürfte Jürgen Habermas sein, dessen Friedenspreis-Rede aus dem Jahr 2001 rasch zu einem der wichtigsten Bezugspunkte jenes fachübergreifenden Diskurses über Religion und Politik wurde.12 Aufsehen erregten seine Äußerungen nicht zuletzt deshalb, weil Habermas darin auch eigene Positionen revidiert. Entgegen früheren religionskritischen Einlassungen spricht er nunmehr von einer »Dialektik der Säkularisierung«, wonach man sich angesichts der Folgeprobleme einer säkularisierten Welt bewusst um die moralischen Ressourcen bemühen müsse, die gerade in religiösen Vorstellungen, wie etwa der Gottebenbildlichkeit des Menschen, verborgen liegen. Im Sinne einer ›postsäkularen‹ Diskursethik sei darum die Mühe der Übersetzung von religiösen Vorstellungen in moralische oder politische Gründe nicht allein den Gläubigen, sondern auch den Nichtgläubigen aufzuerlegen. Mit diesem Hinweis auf die normativ-politischen Potentiale des Religiösen, den man durchaus auch als eine Offerte an die Kirchen und Religionsgemeinschaften – und letztlich auch an ihre politische Predigt – lesen kann, hat Habermas so etwas wie den Grundton angegeben, auf den auch zahlreiche andere normativ ausgerichtete TheoriebilEine Alternative zur Geschichte der Entzauberung, Berlin 2017; Ders. / Klaus Wiegandt (Hg.): Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007; Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2014; Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. / New York 2015. 12 Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. ferner Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005; Ders. / Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg u. a. 2005; Ders.: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012. Aus der inzwischen sehr umfangsreichen Sekundärliteratur vgl. Rudolf Langthaler / Herta Nagl-Docekal (Hg.): Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas, Wien 2007; Michael Reder / Josef Schmidt (Hg.): Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 2008; Thomas M. Schmidt / Knut Wenzel (Hg.): Moderne Religion? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg i. Brsg. 2009; Craig Calhoun / Eduardo Mendieta / Jonathan VanAntwerpen (Hg.): Habermas and Religion, New York, NY 2016; Klaus Viertbauer / Franz Gruber (Hg.): Habermas und die Religion, Darmstadt 22019.
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dungen seit 2001 gestimmt sind. Dabei ist es bemerkenswert, dass es – wie schon in der Einleitung angeklungen – auch hier ein tendenziell eher linkes politisches Spektrum ist, aus dem heraus man sich in moralisch-politischer Hinsicht etwas von der Religion erhofft. Die philosophischen Pauluslektüren eines Slavoj Zizek, Alain Badiou oder Giorgio Agamben können ebenso für diese Tendenz stehen, wie die postmodernen Religionsphilosophien eines Gianni Vattimo, Jean-Luc Nancy oder Jacques Derrida.13 Dagegen trifft man derzeit nur noch vergleichsweise selten auf die einstmals so populäre Allianz zwischen linken und religionskritischen Denkmustern. Ähnliches gilt aber auch für die politische Hochschätzung des Religiösen aus einer liberal-konservativen Perspektive, wie sie einst etwa im vielzitierten Böckenförde-Diktum oder unter dem Stichwort der Zivilreligion Gestalt gewonnen hatte.14 Sowohl die deskriptive als auch die normative Hinsicht, in der über eine Neujustierung des religionspolitischen Feldes debattiert wird, verweisen schließlich auf die dritte, politisch-praktische Hinsicht, für die neben vielem anderen das Beispiel des islamischen Religionsunterrichts stehen kann. Selbst in dieses relativ eng umgrenzte Vorhaben spielen unwillkürlich sämtliche religionspolitischen Grundsatzthemen wieder hinein, die eben bereits angedeutet wurden. Und auch ihr Zusammenhang mit den einspielten Mustern des StaatKirche-Verhältnisses ließe sich an diesem Beispiel leicht illustrieren, wie die wiederkehrenden Fragen nach der Zuständigkeit, nach der Rechtsform von Religionsgemeinschaften, nach der Ausbildung der Lehrkräfte und nicht zuletzt nach den Unterrichtsinhalten zeigen.15 13 Vgl. Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002; Slavoj Zizek: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003; Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006; Jacques Derrida / Gianni Vattimo (Hg.): Die Religion, Frankfurt a. M. 2001; Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion des Christentums, Zürich / Berlin 2008. Siehe ferner die Rekonstruktion von Michael Reder: Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie, Freiburg / München 22014. 14 Vgl. dazu Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 22008, S. 245–256, der neben Böckenförde insbesondere auf die Arbeiten von Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Martin Kriele und Odo Marquard verweist. Vgl. ferner Heinz Kleger / Alois Müller (Hg.): Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Deutschland, München 1986, sowie Rolf Schieder: Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a. M. 2001. Überschneidungen dazu finden sich allerdings in Teilen der kommunitaristischen Religionsphilosophie, vgl. Michael Kühnlein (Hg.): Kommunitarismus und Religion, Berlin 2010; ferner könnte man die Religionsphilosophie Volker Gerhardts in diese Richtung interpretieren, vgl. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014; Ders.: Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart 2016. 15 Vgl. Daniel Gerster / Viola van Melis / Ulrich Willems (Hg.): Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland, Freiburg i. Brsg. 2018; Heinig: Säkularer
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Zur zweiten These: Die eben skizzierten Verschiebungen wirken sich auch auf die christlichen Kirchen aus. Der stetige Rückgang der Mitgliederzahlen und damit der schwindende Anteil an der Gesamtbevölkerung ist dabei nur der statistische Hintergrund für die drängendere Frage nach dem Selbstverständnis des kirchlichen Bezugs zum Politischen. Denn hier geraten evangelischerseits vor allem zwei gewichtige Selbstansprüche miteinander in Konflikt: Auf der einen Seite steht der Anspruch der Kirche, als zivilgesellschaftlicher Akteur von politischer Relevanz aufzutreten, wie dies in besonderer Weise die sogenannte »Öffentliche Theologie«, nicht zuletzt in Gestalt der EKD-Ratsvorsitzenden Huber und Bedford-Strohm, einfordert. Bei allen Differenzierungen im Einzelnen ist hier doch die Vorstellung leitend, dass es relativ einheitliche und konkrete christlich-politische Positionen gibt, für die darum die Kirche öffentlich einzustehen habe.16 Auf der anderen Seite steht der nicht weniger tief verankerte Gedanke der Volkskirchlichkeit. Damit ist bekanntlich nicht der Anspruch gemeint, zahlmäßig nahezu alle Bürger eines Staates zu inkludieren, sondern sich für ein möglichst breites Spektrum von in der Gesellschaft vorhandenen Glaubens- und Lebensweisen zu öffnen und insofern – mit Trutz Rendtorff gesprochen – eine ›Institutionalisierung religiöser Freiheit‹ darzustellen.17 Dies aber Staat; Antonius Liedhegener / Gerd Pickel: Religionspolitik und Politik der Religionen in Deutschland. Fallstudien und Vergleiche, Wiesbaden 2016. 16 Vgl. Florian Höhne: Öffentliche Theologie. Begriffsgeschichte und Grundlagen, Leipzig 2015; Florian Höhne / Frederike von Oorschot (Hg.): Grundtexte öffentliche Theologie, Leipzig 2015 sowie die entsprechende Buchreihe in der Ev. Verlagsanstalt Leipzig. Für die jüngste Debatte vgl. bes. Johannes Fischer: Gefahr der Unduldsamkeit. Die »Öffentliche Theologie« der EKD ist problematisch, in: Zeitzeichen, Heft 17/5 (2016), S. 43–45; Heinrich Bedford-Strohm: Fromm und politisch. Warum die evangelische Kirche die Öffentliche Theologie braucht, in: Zeitzeichen, Heft 17/7 (2016), S. 8–11; Günter Thomas: Wiederkehr des Tragischen. Zur Reichweite von Verantwortung und Macht angesichts der Flüchtlingskrise, in: Zeitzeichen 17/8 (2016), S. 12–15; ferner Christian Albrecht / Reiner Anselm: Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums, Zürich 2017. 17 Trutz Rendtorff: Theologische Probleme der Volkskirche, in: Volkskirche – Kirche der Zukunft? Leitlinien der Augsburgisches Konfession für das Kirchenverständnis heute, hg. v. Wenzel Lohff / Lutz Mohaupt, Hamburg 1977, S. 104–131. Vgl. dazu Martin Laube: Die Kirche als Institution der Freiheit, in: Kirche, hg. v. Christian Albrecht, Tübingen 2011, S. 131–170, sowie zur praktisch-theologischen Diskussion Kristian Fechtner: Volkskirche, in: Handbuch Kirchen- und Gemeindeentwicklung, hg. v. Ralph Kunz / Thomas Schlag, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 161–168. Es zeichnet das theologische Werk Wolfgang Hubers als Protagonist der sog. Öffentlichen Theologie aus, auf eine Vermittlung beider Aspekte – zivilgesellschaftliche Positionalität und volkskirchliche Pluralität – zu zielen. Vgl. Wolfgang Huber: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, sowie zum Thema der Volkskirche insb. Ders.: Welche Volkskirche meinen wir? Ein Schlüsselbegriff gegenwärtigen Kirchenverständnisses im Licht der Barmer Theologischen Erklärung, in: Ders.: Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 131– 145.
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schließt dann notwendigerweise auch ein gewisses Spektrum von politischen Auffassungen ein, was dann in Spannung zur beanspruchten Positionalität der Kirche geraten kann. Als ein Indiz für die Virulenz dieser Spannung kann man nehmen, dass ein Gutteil der qualifizierteren Kritik, die zuletzt an der politischen Ausrichtung insbesondere der Evangelischen Kirchen laut geworden ist, sich jenem Grundmotiv volkskirchlicher Pluralitätsoffenheit zuordnen lässt – etwa in Christian Albrechts und Reiner Anselms Programmschrift »Öffentlicher Protestantismus« oder Hans Joas’ Essay »Kirche als Moralagentur«.18 Letzterer plädiert dafür, dass die Kirche ihren Beitrag zur politischen Kultur nicht so sehr in der Eindeutigkeit ihrer inhaltlichen Position suchen sollte, etwa in der Klima- oder Migrationspolitik, sondern vielmehr in einem besonderen Umgang mit der Vielfalt und Differenz politischer Positionen innerhalb der Kirche. Einen zusätzlichen empirischen Anhalt hat diese Kritik zuletzt durch die Untersuchung der Politikwissenschaftler Daniel Thieme und Antonius Liedhegener erfahren: Sie haben die Denkschriften der EKD von 1990 bis 2010 untersucht und dabei in praktisch allen relevanten Politikfeldern eine bis in die Formulierungen hinein greifbare Nähe zur parteipolitischen Programmatik von SPD und Grünen festgestellt.19 Zur dritten These: Wenn es zutrifft, dass seit 2001 verstärkt nach einer Neujustierung des religionspolitischen Feldes und mithin nach den politischen Potentialen und Gefahren von Religion gefragt wird (These 1), und wenn es stimmt, dass den Kirchen in dieser sich neu sortierenden Gemengelage die Spannung zwischen volkskirchlicher Pluralität und politisch-theologischer Parteilichkeit erwächst (These 2), dann ist die Predigt zwar nicht der einzige, aber doch ein herausgehobener Ort, an dem diese Spannungen ausgetragen werden. Sie gehören gleichsam zu den konstitutiven Elementen der heutigen ›homiletischen Situation‹ (Ernst Lange)20, also zu den persönlichen, gesellschaftlichen und po-
18 Albrecht / Anselm: Öffentlicher Protestantismus; Hans Joas: Kirche als Moralagentur?, München 2016. 19 Daniel Thieme / Antonius Liedhegener: »Linksaußen«, politische Mitte oder doch ganz anders? Die Positionierung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im parteipolitischen Spektrum der postsäkularen Gesellschaft, in: Politische Vierteljahresschrift 56 (2015), S. 240–277. Vgl. auch Claudia Lepp: Hat die Kirche einen Öffentlichkeitsauftrag? Evangelische Kirche und Politik seit 1945, in: Kirche und Gesellschaft. Kommunikation – Institution – Organisation, hg. v. Christof Landmesser / Enno Edzard Popkes, Leipzig 2016, S. 107– 130, sowie Judith Könemann / Christiane Frantz / Anna-Maria Meuth / Max Schulte (Hg.): Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik, Paderborn 2015. 20 Vgl. Ernst Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ders.: Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgik und Pfarramt, hg. v. Rüdiger Schloz, München 1982, S. 9– 51; Jan Hermelink: Die homiletische Situation. Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems, Göttingen 1992.
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litischen Kontexten, in denen sich eine Predigt bewegt und reflektiert zu bewegen hat. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass jene Spannungen nicht etwa zwischen einzelnen in sich geschlossenen Akteursgruppen bestehen, etwa der Kirchenleitung, der Predigtgemeinde, den Kirchenmitgliedern, den Predigenden oder der Öffentlichkeit. Vielmehr ist innerhalb jeder dieser Gruppen mit einem breit divergierenden politischen und theologischen Spektrum zu rechnen. Allzumal gilt das für die Kirchenmitglieder im Ganzen. Es wäre eine Fiktion, wollte man ihnen auf Grund ihrer religiösen Überzeugungen – oder auch nur auf Grund der Zugehörigkeit zu einem ›kirchlichen Milieu‹ – bestimmte messbare politische Präfenzen zuschreiben. Im Gegenteil hat die Nachwahlbefragung zur letzten Bundestagswahl 2017 gezeigt, dass sich das Wahlverhalten der evangelischen Kirchenmitglieder recht genau mit dem Gesamtwahlergebnis deckt. Oder anders formuliert: Innerhalb der Evangelischen Kirche findet man vom rechten bis zum linken Rand das komplette politische Spektrum wieder, das auch sonst die Gesellschaft prägt.21 Und auch die Predigenden selbst sollte man sich aufs Ganze gesehen wohl weniger als überzeugungsfeste Verkündiger christlich-politischer Positionen vorstellen, sondern eher, wie andere Menschen auch, als bisweilen schwankend zwischen verschiedenen politischen oder theologischen Positionen und insgesamt vor die schwierige Frage gestellt, wie man eine überaus »komplexe Wirklichkeit« in der Predigt angemessen zur Sprache bringt.22 Dies alles spricht nicht zwangsläufig für die ›Pluralität‹ und gegen die ›Parteilichkeit‹ als Grundmuster politischer Predigt – zumal sich beides auch nicht ausschließen muss. Gleichwohl dürfte kein redliches Plädoyer für eine wie auch immer geartete parteiliche Predigt zu halten sein, ohne der faktischen Pluralität von politischen Ansichten konstruktiv Rechnung zu tragen, die eben nicht nur in der ›Welt‹, sondern auch in der Kirche selbst vorherrscht. Das mit diesen drei Thesen skizzierte Feld lässt sich denn auch ohne allzu große Mühe in der homiletischen Literatur zur politischen Predigt seit 2001 wiedererkennen. So kann man zunächst grundsätzlich ein gestiegenes Interesse 21 Vgl. Antonius Liedhegener: Gesellschaftliche Verankerung im Wandel. Parteien, Religion und Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Interdisziplinarität der Christlichen Sozialethik, hg. v. Peter Schallenberg / Arnd Küppers, Paderborn 2013, S. 241–267; Thomas Großbölting: Die Beziehung von Protestantismus, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert als »Problemgeschichte der Gegenwart«, in: Reformation und Politik. Europäische Wege in der Vormoderne bis Heute, hg. v. Maik Reichel / Hermann Otto Solms / Stefan Zowislo, Halle 2015, S. 239–264, sowie zur kirchlichen Dimension: Tobias Braune-Krickau: Zwischen Utopie und Ideologie. Über die politische Dimension von Heimat angesichts rechtspopulistischer Strömungen, in: PrTh 53/4 (2018), S. 228–233. 22 Ulrike Wagner-Rau: Komplexe Wirklichkeit. Über die Kunst, sie in der Predigt zur Sprache zu bringen, in: Predigen im Plural. Homiletische Aspekte, hg. v. Uta Pohl-Patalong / Frank Muchlinsky, Hamburg 2001, S. 116–132.
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an der politischen Predigt beobachten.23 Dabei wird allerdings zumeist – und analog zur Neujustierung des religionspolitischen Feldes – die Notwendigkeit einer Neubesinnung auf Form und Aufgabe einer politischen Predigt betont.24 23 Vgl. in monographischer Form Andrea Bieler / Hans-Martin Gutmann: Rechtfertigung der »Überflüssigen«. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008; Sebastian Kuhlmann: Martin Niemöller. Zur prophetischen Dimension der Predigt, Leipzig 2008; Martin Hoffmann: Ethisch und politisch predigen. Grundlagen und Modelle, Leipzig 2011; Regina Fritz: Ethos und Predigt. Eine ethisch-homiletische Studie zu Konstitution und Kommunikation sittlichen Urteilens, Tübingen 2011; Peter Lippelt: Postulierter Pragmatismus. Studien zur Theorie und Praxis evangelischer Predigt in der DDR (1949–1989), Leipzig 2015; Charles Campbell / Johann Cilliers: Was die Welt zum Narren hält. Predigt als Torheit, Leipzig 2015; Birge-Dorothea Pelz: Revolution auf der Kanzel. Politischer Gehalt und theologische Geschichtsdeutung in evangelischen Predigten während der deutschen Vereinigung 1989/90, Göttingen 2019, sowie folgende Sammelwerke: Kristian Fechtner / Thomas Klie (Hg.): Riskante Liturgien. Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011; Katrin Kusmierz / David Plüss (Hg.): Politischer Gottesdienst?!, Zürich 2013; Helmut Schwier (Hg.): Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung, Leipzig 2015; Benedikt Kranemann / Brigitte Benz (Hg.): Trauerfeiern nach Großkatastrophen. Theologische und sozialwissenschaftliche Zugänge, Neukirchen-Vluyn / Würzburg 2016; Sonja Keller (Hg.): Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, Leipzig 2017. Siehe darüber hinaus folgende Aufsätze (sofern sie nicht in einem der Sammelbände veröffentlicht sind): Jürgen Ziemer: Art. Politische Predigt, in: RGG4, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1469–1470; Albrecht Grözinger: Tolerante Predigt, in: Ders.: Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004, S. 137–182; Ders.: Politische Predigt, in: Ders.: Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004, S. 183–214; Thomas Schlag: Der reformierte Gottesdienst in öffentlicher Verantwortung, in: Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung und Perspektiven, hg. v. David Plüss / Katrin Kusmierz / Matthias Zeindler / Ralph Kunz, Zürich 2017, S. 403–415; Gerald Kretzschmar: Politische Predigt. Das Beispiel eines südwestdeutschen Kirchenpräsidenten in der Nachkriegszeit. Lernen am Modell der Predigten Hans Stempels, in: PTh 96 (2007), S. 418–430; Margot Käßmann: Politisch predigen. Essay, in: Im Namen Gottes. Kanzelreden. Vierte Predigtreihe, hg. v. Christoph Dinkel, Stuttgart 2011, S. 13–17; Simone Mantei: »Nichts ist gut in Afghanistan«. Erwägungen zur politischen Bedeutung der Predigt anhand von Margot Käßmanns Neujahrspredigt 2010, in: PrTh 46 (2011), S. 89–93; Olaf Kramer: Politik durch das Wort. Über die Bedeutung der öffentlichen Rede im politischen Raum, in: Nicht durch Gewalt, sondern durch das Wort. Die Predigt und die Gestalt der Kirche, hg. v. Jochen Cornelius-Bundschuh / Jan Hermelink, Leipzig 2011, S. 102– 128; Charles Campbell: Der Prediger als lächerlicher Mensch – Nackte Straßenpredigt und homiletische Torheit, in: Evangelische Predigtkultur. Zur Erneuerung der Kanzelrede, hg. v. Alexander Deeg / Dietrich Sagert, Leipzig 2011, S. 49–68; Ders.: Predigt, die die Welt verändert!? Ein Ausrufezeichen und ein Fragezeichen, in: a.a.O., S. 69–88; Alexander Deeg: Das Politische und die Predigt. Eine Einführung zur Themenreihe »Politische Predigt«, in: GPM 72/18 (2017), S. 4–14; Isolde Karle: Herausforderungen politischer Predigt, in: ThLZ 142 (2017), Sp. 995–1006. Vgl. zudem Albrecht Grözinger: Homiletik (Lehrbuch Praktische Theologie 2), Gütersloh 2008, S. 320–326; Wilfried Engemann: Einführung in die Homiletik, Tübingen / Basel 22011, S. 295–303; Thomas Schlag: Aufmerksam predigen. Eine homiletische Grundperspektive, Zürich 2014, S. 87–93. 24 So besonders prägnant Albrecht Grözinger: Politische Predigt, der von der Notwendigkeit einer »Neuerfindung der politischen Predigt« (S. 206) angesichts des 20. Jahrhunderts als
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Vor allem aber spiegelt sich in den meisten Beiträgen jene spannungsvolle Situation wider, die hier mit den Stichworten Pluralität und Parteilichkeit gekennzeichnet wurde. Einige der Beiträge lassen sich dabei recht deutlich einem der beiden Pole zuordnen. Die meisten aber machen zunächst einmal die Komplexität bewusst, der sich jede Positionierung zwischen ihnen zu stellen hat – oder mit einer zugespitzten Wendung von Albrecht Grözinger gesprochen: »Pfarrerinnen und Pfarrer haben es nicht einfach mit der Politischen Predigt. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie es sich manchmal zu einfach machen mit der Politischen Predigt.«25
3.
Zur Analyse gegenwärtiger Predigtkultur
Wer nicht allein danach fragt, wie sich dieser größere gesellschaftliche Kontext in der Predigttheorie spiegelt, sondern darüber hinaus nach der gegenwärtigen Predigtpraxis fragt, der sieht sich – noch vor der Auswahl der eigentlichen Analysemethode – vor ein erhebliches forschungspraktisches Problem gestellt. Mag für frühere Jahrhunderte die Schwierigkeit vornehmlich in der recht spärlichen oder zumindest selektiven Auswahl von überlieferten Quellen liegen, so ist man spätestens seit dem 20. Jahrhundert und allzumal nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer schieren Überfülle an Quellen konfrontiert: So weist die EKD-Statistik für jedes Jahr rund 1,1 Mio. Gottesdienste aus, was für die siebzehn Jahre des hier vorliegenden Untersuchungszeitraums auf knapp 19 Mio. Predigten führt. Geht man davon aus, dass nur ungefähr die Hälfte von ihnen irgendeine Form von Manuskript zu Grunde gelegt hat und nimmt man ferner an, dass wiederum nur ungefähr die Hälfte dieser Manuskripte digital oder anderweitig aufbewahrt werden, so blieben immer noch rund viereinhalb Millionen Predigten, die prinzipiell in diesen Zeitraum analysierbar sein könnten. Angesichts dessen versteht es sich von selbst, dass jede Untersuchung, die nicht mit einem höchst ambivalenten »Jahrhundert der politischen Predigt« (S. 187) spricht: »Im Grunde ist die politische Predigt des zeitgenössischen Protestantismus in den zivilgesellschaftlichen Verhältnissen unserer politischen Gegenwart noch nicht angekommen.« (S. 200). 25 Grözinger: Homiletik, S. 322. In ähnlicher Weise spricht Thomas Schlag von den »erheblichen Herausforderungen homiletischer Rede in den gegenwärtigen komplexen Weltsituationen« (Thomas Schlag: Die Predigt als Herausforderung für eine Öffentliche Theologie und Kirche. Beispiele aktueller Bischofspredigten des Herbstes 2016, in: Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, hg. v. Sonja Keller, Leipzig 2017, S. 21–36, hier S. 33) und Kristin Merle erblickt diese Herausforderungen besonders in der reflexiven Verarbeitung von faktischer »Pluralität bzw. kultureller Differenz« (Kristin Merle: Pluralität gestalten. Das Politische als Dimension der Homiletik, in: Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, hg. v. Sonja Keller, Leipzig 2017, S. 37–51, hier 39).
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computergestützten, korpuslinguistischen Methoden umfangreiche Textmengen verarbeitet26, mit ihren Ansprüchen auf Verallgemeinerbarkeit äußerst bescheiden umgehen muss; allzumal, da die Erforschung der gegenwärtigen Predigtkultur, trotz einiger gewichtiger Studien,27 längst noch nicht so weit ist, dass man auch kleinere Forschungen problemlos in eine bereits weit ausdifferenzierte Forschungslandschaft einordnen könnte. Um dennoch zumindest einen punktuellen Einblick in die gegenwärtige Predigtkultur und ihr Verhältnis zum Politischen zu gewinnen, wird im Folgenden die Analyse von 32 Predigten aus dem Untersuchungszeitraum präsentiert. Nach einleitenden Überlegungen zur Auswahl der Predigten (3.1) sowie zum politisch-theologischen Analyseraster (3.2) wird zunächst eine statistische Auswertung hinsichtlich der Frage: »wie politisch sind diese Predigten?« vorgenommen (3.3), um von da aus die dominanten politischen Themen und theologischen Motive dieser Predigten herauszuarbeiten (3.4).
26 Vgl. dazu die Einführung von Rainer Perkuhn / Holger Keibel / Marc Kupietz: Korpuslinguistik, Paderborn 2012. 27 Vgl. dazu – neben der älteren, aber sehr ausführlichen Studie von Christine Burbach: Argumentation in der politischen Predigt. Untersuchungen zur Kommunikationskultur in theologischem Interesse, Frankfurt a. M. 1990, und den auf die Friedliche Revolution bezogenen Untersuchungen von Fritz: Ethos und Predigt, Lippelt: Postulierter Pragmatismus und Pelz: Revolution auf der Kanzel – Frank M. Lütze: Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homiletischen Pragmatik, Leipzig 2006; Gutmann / Bieler: Rechtfertigung; Helmut Schwier / Sieghard Gall: Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption, Berlin 2008 (insb. S. 169–188); Johannes Block: Die Rede von Sünde in der Predigt der Gegenwart. Eine Studie zur hamartologischen Homiletik am Beispiel von Predigten aus dem Internet, Zürich 2012; Antonia Lüdtke / Uta Pohl-Patalong: »Eine Predigt ist keine Fastfood-Veranstaltung…« Gottesdienst und Predigt erleben. Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie, in: Erlebnis Predigt, hg. v. Alexander Deeg, Leipzig 2014, S. 98–122; Peter Meyer: Predigt als Sprachgeschehen gelebt-religiöser Praxis. Empirisch-theologische Beiträge zur Sprach- und Religionsanalyse auf Basis komparativer Feldforschung in Deutschland und in den USA, Tübingen 2014; Susanne Platzhoff: An Ostern die Auferstehung predigen. Eine hermeneutische und qualitativ-empirische Studie zur Osterpredigt der Gegenwart anhand von Predigten zu Mk 16,18, Leipzig 2017; Bernhard Kirchmeier: Glaubensempfehlungen. Eine anthropologische Sichtung zeitgenössischer Predigtkultur, Leipzig 2017; Ruth Conrad: Parteiisch predigen?! Eine homiletische Analyse theologischer, ekklesiologischer und weltanschaulicher Grundlagen parteiischer Predigt, in: Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, hg. v. Sonja Keller, Leipzig 2017, S. 83–97; Jan Hermelink: Öffentliche Inszenierung des Individuellen. Praktisch-theologische Beobachtungen zu den politischen Implikationen der Praxis evangelischer Predigt in der Gegenwart, in: a.a.O., S. 105–124; sowie die predigtbezogenen Anteile aus Kranemann / Benz: Trauerfeiern und Fechtner / Klie: Riskante Liturgien.
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3.1
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Auswahl der Predigten
Die Auswahl der analysierten Predigten ist primär von dem Motiv bestimmt, solche Predigten heranzuziehen, von denen man annehmen kann, dass sie einer gewöhnlichen Predigtpraxis einigermaßen nahekommen. Entsprechend scheiden beispielsweise Bischofspredigten zu politischen Anlässen und dergleichen aus.28 Stattdessen wurde auf Predigten aus dem derzeit größten Online-Predigtarchiv zurückgegriffen, den sogenannten »Göttinger Predigten im Internet«. In diesem Archiv werden seit 1997 zu jedem Sonntag des Kirchenjahres mindestens eine, häufig auch mehrere Predigten veröffentlicht. Es handelt sich jeweils um ausformulierte Predigten, die so auch tatsächlich gehalten werden, vor allem von Pfarrinnen und Pfarrern, z. T. auch von kirchenleitenden Personen sowie hin und wieder auch von Theologieprofessorinnen und -professoren. Über die Rezeption dieser Predigten, zur persönlichen Erbauung oder – wahrscheinlicher – zur eigenen Predigtvorbereitung, ist wenig bekannt. Allerdings ist die Aufrufstatistik der »Göttinger Predigten« durchaus beachtlich: Monatlich besuchen nach Auskunft des Herausgebers, Thomas Schlag, rund 55.000 verschiedene Nutzer die Website, zählt man die Klicks auf einzelne Predigten unabhängig von der Anzahl der Nutzer, so kommt man gar auf rund 500.000 Klicks pro Monat.29 Aus diesem Archiv wurden nach folgendem Muster Predigten ausgewählt: Seit 2001 für jedes Jahr eine Weihnachtspredigt und eine Predigt vom 7. Sonntag nach Trinitatis. Weihnachten, weil hier die Klischees und Erwartungen gegenüber der Predigt, wie eingangs gezeigt, besonders verbreitet sind; den 7. Sonntag nach Trinitatis aus Gründen des Kontrasts, denn dieser Sonntag ist im Kirchenjahr eher unbestimmt und lässt auch von den vorgegebenen Predigttexten her (Ex 16,2–3.11–18; Joh 6,1–15; Apg 2,41a.42–47; Joh 6,30–35; Phil 2,1–4) eine Vielzahl von Interpretationswegen zu. So entsteht eine Stichprobe von 32 Predigten, deren genaue Zusammensetzung und Zitationsweise im angehängten Quellenverzeichnis aufgeschlüsselt ist.
28 Vgl. dazu wiederum Schlag: Die Predigt und Mantei: »Nichts ist gut«. 29 Die Bedeutung von Onlinepredigten für die Predigtvorbereitung sowie ihre Eignung als Gegenstand der Predigtanalyse diskutiert u. a. Kirchmeier: Glaubensempfehlungen, S. 128– 131.
332 3.2
Tobias Braune-Krickau
Politisch-theologisches Analyseraster
(a) Zur grundsätzlichen Anlage der Analyse. Im Spektrum gängiger Predigtanalysemethoden bewegt sich die folgende Untersuchung schwerpunktmäßig auf der inhaltlichen, semantischen Seite und zieht formale, etwa rhetorische Aspekte nur insofern heran, als sie für die Analyse der inhaltlichen Fragegesichtspunkte von Belang sind.30 Außerdem bewegt sich die Darstellung weniger auf der Mikroebene detaillierter Analysen zu einzelnen Predigten und mehr auf der Makroebene der Gesamtstichprobe: Sie hebt also vor allem wiederkehrende, typische Aspekte hervor und belegt diese mit längeren Zitaten aus unterschiedlichen Predigten. Auch wenn eine minutiöse Auslegung dieser Zitate schon aus Platzgründen unterbleiben muss, bietet die Darstellung so zumindest Stoff für solche Detailanalysen dar. Die inhaltlichen Fragegesichtspunkte der Predigtanalyse sind folgende: Erstens wird untersucht, wie viele der Predigten aus der vorliegenden Stichprobe als politische Predigten einzustufen sind und zweitens, welche politischen Themen und welche theologischen Motive dabei verwendet werden. Insbesondere die erste Fragestellung macht es erforderlich, zunächst darüber Auskunft zu geben, was im Folgenden als eine politische Predigt gelten soll. (b) Zum Begriff der politischen Predigt. Die erste Entscheidung, die dabei zu treffen und knapp zu begründen ist, ist die Wahl zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff des Politischen – und damit auch der politischen Predigt. Dafür lässt sich von dem Umstand Gebrauch machen, dass diese Alternative bereits Gegenstand der jüngeren homiletischen Diskussion zur politischen Predigt ist. So kann die weitläufige Frage nach einem angemessenen Begriff des Politischen, die hier ohnehin weniger in prinzipieller und mehr in methodischer Hinsicht gestellt wird, direkt im Medium der homiletischen Theorie und damit gegenstandsnah diskutiert werden. Beispielhaft für einen weiteren Politikbegriff im Kontext der jüngeren Homiletik ist folgendes Zitat: »Jede Predigt ist implizit politisch, weil jede Predigt öffentliche Rede ist. Eine Predigt will in einer widersprüchlichen Welt zum Nachdenken und zu Verhaltensänderungen anstiften. Doch nicht nur die Öffentlichkeit der Predigt weist auf ihre politische Dimension hin. ›Eine Predigt ist auch aufgrund ihrer faktischen Parteilichkeit politisch.‹ Gott nimmt Partei ›für das Leben des Menschen und gegen den Tod, für seine Freiheit und gegen die Unterdrückung, für sein Heil und gegen sein Verderben, für den Frieden und 30 Zu den Methoden der Predigtanalyse vgl. Stefanie Wöhrle: Predigtanalyse. Methodische Ansätze – homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen, Berlin u. a. 2006; Wilfried Engemann: Einführung, S. 363–402, sowie zur Literatur vor 1989 Jan Hermelink: Bibliographie zur Predigtanalyse seit 1945, in: Die Predigtanalyse als Weg zur Predigt, hg. v. Rudolf Bohren / Klaus-Peter Jörns, Tübingen 1989, S. 179–186.
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gegen die Gewalt.‹«31 Man kann die Frage nach der theologischen oder politischen Legitimität dieser Aussagen hier offen lassen und stößt dennoch sogleich auf das methodische Problem, das ein solch weiter Begriff von politischer Predigt für die hier zu untersuchende Fragestellung mit sich bringen würde. Die Auffassung, dass letztlich jede Predigt – zumindest implizit – politisch ist, macht es tendenziell unmöglich, zwischen mehr oder weniger politischen Predigten zu unterscheiden bzw. die Frage überhaupt zu stellen, wie politisch die Predigten innerhalb einer bestimmten Stichprobe sind. Für eine solche Frage bedarf es also zumindest eines insofern engeren Begriffs des Politischen, als er auch sein Gegenteil, einen relevanten Bereich des Nicht-Politischen, offenlässt. Für einen solchen engeren Begriff des Politischen hat in der homiletischen Diskussion wiederum Albrecht Grözinger besonders nachdrücklich plädiert. Er macht dafür auch nicht nur methodische, sondern vor allem politische und theologische Gründe geltend: »Für einen weiten Begriff des Politischen kann Aristoteles stehen. Für ihn gehört in den Bereich der Politik alles, was dem ›guten Leben‹ dient. Dies ist zunächst einmal einsichtig. Allerdings bringt dieser weite Begriff des Politischen auch eine Schwierigkeit mit sich. Wenn Politik all das ist, was dem guten Leben dient, wird dann letztlich alles zur Politik? Denn die Wissenschaft, die Religion, die Kunst – wollen und sollen sie nicht alle dem guten Leben dienen? Und es ist ja auch nicht falsch, dass alle diese menschlichen Tätigkeiten in den Bereich des Politischen hineinragen, dass der Wissenschaft, der Religion und der Kunst auch die Dimension des Politischen anhaftet. Nur – werden sie damit selbst zur Politik? Kunst als Politik? Wissenschaft als Politik? Religion als Politik? Unser durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geschärfter Instinkt sagt uns, dass dies nicht sein darf. Wir werden deshalb gut daran tun, nach einem engeren Begriff von Politik zu fragen, wenn uns unter der Hand nicht alles zur Politik werden soll. Gerade wer nicht leugnet, dass Wissenschaft, Religion und Kunst eine politische Dimension haben, tut gut daran, nicht alles zur Politik werden zu lassen. Denn nur wenn wir einen solchen engeren Begriff von Politik haben, können wir auch ein kritisches Differenzkriterium einführen, um einen politischen Missbrauch von Wissenschaft, Kunst und Religion von ihrer durchaus berechtigten politischen Funktion zu unterscheiden.«32 Grözinger selbst schließt dazu besonders an Max Webers, um den Begriff der Macht zentriertes Politikverständnis an und versieht es mit einem zivilgesellschaftlich-demokratischen Akzent, insbesondere im Anschluss an Ulrich Beck.33 31 Karle: Herausforderungen, Sp. 999. Das Zitat im Zitat stammt von Wilfried Engemann. 32 Grözinger: Politische Predigt, S. 185. 33 A.a.O., insb. S. 186, 201–203; Ders.: Homiletik, S. 320–324. Vgl. dazu auch die Rezeption bei Hermelink: Öffentliche Inszenierung, insb. S. 106–108, 121–124.
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Wichtiger noch als die Details in den Konzeptionen der von ihm herausgezogenen Autoren ist die Definition von politischer Predigt, zu der er dabei gelangt: Eine politische Predigt bestimmt er als eine solche Predigt, »die sich in den Diskurs um Legitimation und Ziele der in einer Gesellschaft sich immer schon vorfindlichen politischen Machtverhältnisse einschaltet.«34 Diese Definition hat nicht nur inhaltlich gute Gründe auf ihrer Seite, sie hat vor allem auch methodische Vorzüge: Sie ist sowohl hinreichend allgemein, setzt also nicht einen ganz bestimmten Politikbegriff, etwa den von Ulrich Beck, in allen Details voraus. Sie ist aber auch hinreichend konkret und spezifisch, um nicht doch wieder ›unter der Hand alles zur Politik‹ und damit jede Predigt zur politischen Predigt werden zu lassen. Dafür ist allerdings ein darin enthaltenes Kriterium noch einmal eigens zu akzentuieren: Als politische Predigten nach der eben zitierten Definition gelten nur solche Predigten, die sich ausdrücklich und nicht etwa nur implizit in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs einschalten. Zwar könnte man unter Umständen auch solche Predigten, die hier als nichtpolitisch eingestuft werden, noch einmal auf ihre impliziten, vielleicht sogar nicht einmal in der Predigt selbst enthaltenen, sondern ihr vorausliegenden politischen Annahmen untersuchen, doch liegt ein solches, methodisch ohnehin schwer zu kontrollierendes Interesse außerhalb des vorliegenden Untersuchungsziels. (c) Zur Kategorienbildung. Auf dieser Grundlage lässt sich ein Auswertungsraster entwickeln, das aus vier Kategorien besteht: In Kategorie A fallen alle gänzlich nichtpolitischen Predigten, das heißt solche, bei denen man auch keine Anspielungen oder Bezüge aufs Politische findet. In Kategorie D – am anderen Ende der Skala – fallen dezidiert politische Predigten, also solche, bei denen es klar, ausdrücklich und in der Hauptsache um Politisches geht. Die Kategorien B und C bilden zu diesen beiden jeweils abgeschwächten Varianten. Unter B fallen grundsätzlich nichtpolitische Predigten, in denen sich entweder sehr allgemeine oder aber sehr kurze politische Anspielungen finden, die über wenige Zeilen im Manuskript nicht hinausgehen. Unter C fallen schließlich solche Predigten, deren politischer Bezug deutlich darüber hinaus geht, auch wenn er nicht die ganze Predigt bestimmt. So ergibt sich letztlich ein zweigeteiltes Feld mit je zwei Unterkategorien: auf der einen Seite die eher nicht oder nicht politischen Predigten, auf der anderen Seite die eher oder gänzlich politischen Predigten. Zur Verdeutlichung dieser Kategorien sei jeweils ein Beispiel aus der Stichprobe kurz referiert.
34 Grözinger: Politische Predigt, S. 186.
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Vier Beispielpredigten
Als eine gänzlich nichtpolitische Predigt (Kategorie A) gilt nach diesem Analyseraster beispielsweise Predigt Nr. 7, eine Weihnachtspredigt über Joh 3,16. Im Mittelpunkt steht hier das Weihnachtsfest selbst, das als ein besonderes »Zeitfenster« interpretiert wird, das sich »jedes Jahr wieder« öffnet und »in dem uns Menschen der Glaube an Gottes Nähe und seine Liebe zu uns Menschen möglich wird, auch wenn wir Gott in der übrigen Zeit des Jahres eher wenig wahrnehmen und er uns weit weg erscheint.« Dieses Motiv wird auf verschiedene Weise variiert, vor allem aber anhand einer Parabel, wonach einem Menschen angekündigt wird, dass Gott ihn besuchen wolle. Er beginnt hektisch sein Haus zu putzen und Ordnung zu machen. Ein anderer kommt ihm zu Hilfe und bis zum Abend schuften sie, bis endlich der Besuch, bis endlich Gott kommen kann. Doch wo bleibt er? Fragend schaut der Hausbesitzer seinen Helfer an. »›Aber ich bin ja da‹, sagt der andere und setzte sich an den Tisch. ›Komm und iss mit mir.‹« Gott, so wird diese an die Emmausgeschichte nach Luk 24,13–35 erinnernde Parabel ausgelegt, ist immer schon da, auch wenn wir ihn bisweilen nicht bemerken. Manchmal aber und besonders an Weihnachten tut sich ein solches »Zeitfenster« auf, an dem die Gottesgegenwart zu Bewusstsein kommt: »Gott kommt nicht erst, wenn wir bereit sind, ihn zu empfangen. Er ist schon da. Uns zur Seite. In all dem, was wir lieber vor ihm und den Augen anderer verstecken. Er nimmt uns so, wie wir sind und packt nötigenfalls mit an.«35 – Legte man einen sehr weiten Begriff von politischer Predigt zu Grunde, wonach schon Themen wie »Leben«, »Freiheit«, »Heil« und »Frieden« eine politische Predigt ausmachen, könnte man gewiss auch hier fündig werden. Nach der engeren Definition allerdings finden sich keine expliziten politischen Bezüge, auch nicht in Form kleinerer Anspielungen, weshalb diese Predigt als Muster für die Kategorie A gelten kann. Ein Beispiel für die Kategorie B, eine nichtpolitische Predigt mit allgemeinen oder kurzen politischen Anspielungen ist Predigt 8 über Joh 6,30–35. Den inhaltlichen Kern dieser Predigt bildet die Aussage, dass bei Jesus noch heute das »Brot des Lebens« zu finden sei, eine »Stärkung und der Zuwachs an Lebensenergie«, wobei dies bisweilen anders zu uns kommt, als wir es erwarten. Für diese Aussage wird Moses und die Wüstenwanderung – über die gedankliche Brücke des ›Manna in der Wüste‹ – mit der Jesusgeschichte parallelisiert. Sowohl an Moses als auch an Jesus richten sich verschiedene Erwartungen seitens der Menschen: Sie suchen Heil, ein neues Leben, die Stillung ihrer Bedürfnisse, einen 35 Etwas diffiziler, aber dennoch in Kategorie A eingeordnet ist Predigt Nr. 10, die zwar mit Phil 2,1–4 einen hohen moralischen Ton anschlägt, aber dabei an keiner Stelle im Sinne des obigen Zitates politisch wird. Stattdessen geht es um Hilfs- und Vergebungsbereitschaft, um Trost, Mitgefühl und dergleichen, was aber auf den privaten oder allenfalls innergemeindlichen Kontext bezogen wird.
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mächtigen Anführer. Im Rahmen dieser Schilderung findet sich nun eine explizite politische Anspielung, die allerdings logisch dem Oberthema untergeordnet bleibt und quantitativ nicht über wenige Zeilen hinausgeht: »Und diese Sehnsucht ist auch etliche Generationen später unter unseren Zeitgenossen nicht versiegt. Es müsste doch einer kommen, der mehr zu bieten hat als das SabineChristiansen-Gerede am Sonntagabend. Es sollte doch am besten einen geben, dem jenseits seiner wohlfeilen Experten-Besserwisserei starke Zeichen zu Gebote stehen, unser Häuflein klein einigermaßen heil an Leib und Seele durch die Wüsten der Sparbeschlüsse und durch die wilden Strömungen der Globalisierung zu bringen.« Nicht nur, dass es mit dieser Anspielung auch schon sein Bewenden hat; Darüber hinaus wird Jesus dann auch explizit von diesen politischen Erwartungen abgehoben: Das, was Jesus zu bieten hat, »ist weniger, als die Umstehenden wohl mit ihrer Frage im Sinn gehabt hatten – jedenfalls kein starker Mann, der über Nacht Nahrung in der Wüste schafft, Wasser aus Steinen schlägt und – wenn’s Not tut – Meere sich teilen lässt. Und es ist zugleich mehr, als sie je hatten hoffen können – nämlich einer, der sich mit ihnen mitten in einer Gottesgeschichte weiß.« – Trotz der expliziten politischen Anspielung ist nach dem vorliegenden Analyseschema hier die Grenze zu einer politischen Predigt noch nicht überschritten. Einen solchen Überschritt findet man beispielsweise in Predigt Nr. 18, die hier der Kategorie C zugeordnet wird: Es gibt einen ausführlichen und ausdrücklichen politischen Bezug, der aber dennoch nicht das Hauptthema der Predigt ausmacht. Letzteres liegt bei dieser Predigt in der gleich zu Beginn aufgeworfenen Frage, welche Gründe es wohl geben könnte, der Kirche anzugehören, trotz all der Dinge, die man berechtigterweise gegen sie einwenden kann. Diese Frage bleibt unter Bezug auf Apg 2,41a.42–47 das bestimmende Thema. Beantwortet wird diese Frage allerdings über weite Strecken durch explizite politische Passagen. Der Prediger möchte nämlich keine »theoretische[n] Argumente« für die Kirche aufbringen, sondern »von Menschen […] erzählen«. Zum Beispiel von »Stefan«, der sich als »Kirchenvorsteher« »für Straßenkinder in Äthiopien« engagiert. »Seit Jahren steckt er viel Kraft und Zeit in dieses Projekt, sammelt Spenden für Kinder, deren Eltern so arm sind, dass sie ihnen weder Essen noch Kleidung geben können. Diese Kinder müssten sich auf der Straße durchschlagen. Aber durch das Projekt bekommen sie genug zu essen, ärztliche Betreuung, Kleidung; und vor allem: sie können zur Schule gehen. Bis zu zwölf Jahre lang werden diese Kinder gefördert, später erhalten manchen von ihnen sogar eine Berufsausbildung, und einige haben es geschafft, Rechtsanwälte, Ingenieure oder Ärzte zu werden. Seit über 35 Jahren gibt es jetzt diese partnerschaftliche Hilfe. Stefan gehört zum Projekt-Ausschuss der Synode und ist vor einiger Zeit selbst in Äthiopien gewesen. Da hat er das Elend vieler Kinder mit eigenen Augen gesehen, aber auch die Freude und den Dank der Menschen erlebt, die durch das Projekt
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seiner Kirchengemeinde gefördert werden. Für mich steht Stefan für viele Menschen in der Kirche, die sich sozial engagieren, ob in Partnerschaftsprojekten, in der Hausaufgabenhilfe oder den Besuchen von Einsamen und Kranken. Nächstenliebe und Solidarität sind ihnen wichtiger als der eigene Vorteil, und wenn sie mal müde sind und ratlos, dann hilft ihnen die Gemeinschaft der anderen durchzuhalten und weiterzumachen.« Der Prediger fährt fort und nennt »Inge« als Beispiel: »Sie kauft nicht nur fair gehandelten Kaffee oder Kakao für sich selbst, sondern bietet diese Produkte auch in der Kirchengemeinde an.« Des Weiteren geht es um Themen wie »Umweltschutz«, »Versöhnung« und »Verständigung zwischen Juden und Christen«, für die sich die Kirche einsetzt. Daneben kommen aber auch andere Aspekte zum Tragen: Gemeinschaft, Vergebung, Trost, Zuspruch, die nicht politisch ausgedeutet werden. Es folgt schließlich eine längere Auslegung des Predigttextes über die Jerusalemer Urgemeinde, die ebenfalls »in sozialer Hinsicht absolut vorbildlich« gewesen sei, aber eben auch in anderen, nicht politischen Dingen als »Leitbild« tauge. – In Kategorie C gehört diese Predigt, weil die politischen Bezüge sehr konkret und sehr ausführlich sind, auch deutlich über das letzte Beispiel hinausgehen, aber weder die ganze Predigt ausmachen, noch das ausdrückliche Hauptthema darstellen, das stattdessen im Sinn der Kirche besteht. Ein Beispiel für eine gänzlich politische Predigt wäre schließlich Predigt Nr. 5, eine Weihnachtspredigt über Tit 2,11–14. Darauf, dass es sich hier um eine politische Predigt handeln soll, macht schon der Titel aufmerksam, den der Prediger ihr gegeben hat: »Globalisierung und Moral«. Und in der Tat legt er den Predigttext, den er zu Beginn verliest, unmittelbar auf dieses Thema hin aus: »Ob Paulus, ob die Väter der Kirche geahnt haben, daß sie mit diesen drei Versen einmal den Nerv der Zeit in einem fernen Jahrzehnt treffen würden? Daß sie exakt das anrühren, was die Menschen im Jahre 2003 wohl am meisten beschäftigt? In diesen 8 x 8 Worten geht es um nichts anderes als um Globalisierung – und um die Moral der Globalisierung.« Dass »die heilsame Gnade Gottes allen Menschen« erschienen ist, wie es im Predigttext heißt, bedeutet daher zunächst: »Gott ist global.« Er ist nicht mehr nur der Gott eines Volkes, »er ist für alle Menschen da. Er läßt sich von allen anrufen. Er hört, er ist am Schicksal aller interessiert.« Der globale Gott also verbindet prinzipiell alle Menschen miteinander. Eben dies ist in der Globalisierung »technisch in die Tat umgesetzt« worden: »Frische Blumen aus Nordafrika, Obst aus Neuseeland, Elektroteile aus Korea – all das gelangt im Handumdrehen in das Regal, auf den Tisch, für den es bestimmt ist. Und wir gelangen per Düsenstrahl binnen 24 h an jeden beliebigen Ort auf dem Globus. Die Welt ist ein Dorf – und wir wohnen darin.« Auf diese Situation wird dann die Ermahnung des Predigttextes angewandt, »ein Volk« zu sein, »das fleißig wäre zu guten Werken«. »Und so sollen wir leben. Ein Volk. Fleißig einander Gutes zu tun. Nie nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Immer
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das Wohl des Ganzen, der großen Familie mit im Blick. Das ist die simple Moral, die Paulus der Globalisierung, die in der Weihnachtsnacht ihren Anfang nahm, mitgibt.« Sie bedeutet, den »unseligen Volkssport« der »Profitorientierung« aufzugeben und stattdessen: »teilen und verzichten um der Geschwister willen. Das hat zur Folge, daß ich aus meinem Geld nicht das Maximale heraushole. Es bedeutet, daß ich abwäge, wen und was ich unterstütze, wenn ich Geld ausgebe. Welche Initiative ich fördere. Wo ich helfe, Arbeitsplätze zu erhalten, und wessen. Welchen Lebensraum ich mitgestalte. Wieder im Fachgeschäft kaufen, wenn noch eines zu finden ist. Vielleicht wieder im Tante-Emma-Laden. Draufzahlen gegenüber dem Preis im Supermarkt. Sicherlich. Aber mit meinem Geld einen intakten Lebenszusammenhang mitgestalten und einen Arbeitsplatz mehr mitfinanzieren. Teilen und teilnehmen. Und das nicht nur im Kleinen. Vielleicht haben Sie vor dem Gottesdienst im Liedheft geblättert und sind auf die Seite gestoßen, die auf die Kollekte aufmerksam macht. Viele Gesichter sind drauf zu sehen. Sie erzählen viele Geschichten. Von Armut, von Ausbeutung, Resignation, von Hoffnung, von Glauben, von bescheidenem Glück. Viele Hautfarben haben die Gesichter, sie zeigen Menschen aus vielen Erdteilen. Unsere Geschwister.« – Bei diesem Thema und auch bei diesem Duktus bleibt die Predigt bis zum Schluss. Sie ist nicht nur über weiteste Strecken hin explizit, ausführlich und konkret politisch, sondern ist dies gerade auch in ihrem Oberthema, weshalb sie nach diesem Schema in Kategorie D einzuordnen ist.
3.4
Statistische Auswertung: Wie politisch ist die Predigt?
Legt man dieses Analyseraster zur Auswertung der 32 Predigten zu Grunde, dann fallen insgesamt 10 in die Kategorie A, nicht politisch; 7 in Kategorie B, grundsätzlich nicht politisch, aber mit allgemeinen oder kurzen Anspielungen; ebenfalls 7 in Kategorie C, deutliche politische Bezüge; und 8 in Kategorie D, gänzlich politische Predigten (vgl. Tab. 1). Das ergibt, wenn man das Feld in der Mitte aufteilt, eine fast hälftige Verteilung zwischen politischen und nichtpolitischen Predigten. Differenziert man das Ergebnis nach Sonntagen, dann zeigt sich in dieser Stichprobe, dass es tatsächlich an Weihnachten eine gewisse Tendenz dazu gibt, dem Politischen in der Predigt mehr Raum zu geben (53 % eher oder gänzlich politische Predigten), wohingegen am 7. Sonntag nach Trinitatis diese Tendenz etwas schwächer ausgeprägt ist. Gleichwohl könnte man auch die 40 % eher oder gänzlich politischen Predigten angesichts der prinzipiellen Fülle an möglichen Predigtthemen für ein relativ hohen Wert halten.
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Gesamtsample n=32
Christvesper n=17
7. S. n. Trinit. n=15
Verteilung der Predigten nach der Frage: Wie politisch ist die Predigt? C B A deutliche politische nicht politisch, nicht Bezüge mit Anspielungen politisch 10 7 7 (31 %) (22 %) (22 %) 17 (53 %) 4 (24 %)
4 (24 %)
15 (47 %) 4 (24 %)
8 (47 %) 6 (40 %)
3 (20 %) 9 (60 %)
D politische Predigten 8 (25 %)
5 (29 %) 9 (53 %)
3 (20 %)
3 (20 %) 6 (40 %)
Wie ist dieser Befund zu einzuordnen? Wie erwähnt, ist jede Verallgemeinerung angesichts der knapp 19 Mio. Predigten zwischen 2001 und 2017 nur unter äußerster Vorsicht möglich. Hinzu kommt, dass es keine vergleichbaren Daten gibt, da die meisten Untersuchungen zur politischen Predigt von vornherein politische Predigten analysieren, aber von der Frage, wie häufig politische Predigten in einer größeren Stichprobe vorkommen, absehen. Legt man dieses Ergebnis verschiedenen Personen vor, dann fällt auf, dass die Einschätzung, ob das Ergebnis repräsentativ ist oder nicht, besonders damit korreliert, wie die Personen selbst zur politischen Predigt stehen: Wer ihr etwas abgewinnen kann, hält den Wert für tendenziell zu hoch. Wer der politischen Predigt mit Skepsis gegenübersteht, sieht sich durch das Ergebnis eher bestätigt. Aufschlussreich könnte der Blick auf die Jahrgänge der Autorinnen und Autoren sein: 29 von ihnen ließen sich ermitteln und sie bewegen sich fast ausschließlich zwischen den Jahrgängen 55 und 65, der Mittelwert liegt bei knapp 59. Das bedeutet, dass die Autorinnen und Autoren in der Regel zwischen Mitte der Siebziger und Mitte der Achtziger Jahre ihr Theologiestudium aufgenommen haben, mithin zu einer Zeit, die zumindest auch durch eine bestimmte Form der »Politisierung« von Kirche und Theologie gekennzeichnet ist.36 Interessant wäre es jedenfalls zu wissen, ob eine andere Stichprobe mit jüngeren Jahrgängen zu einem anderen Ergebnis führte. 36 Vgl. Klaus Fitschen / Siegfried Hermle / Katharina Kunter / Claudia Lepp / Antje Roggenkamp (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre, Göttingen 2011.
340 3.5
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Inhaltliche Auswertung: Politische Themen, theologische Motive
(a) Fragt man über die statistische Verteilung hinaus nach den Inhalten, das heißt insbesondere nach den politischen Themen, die verhandelt, und nach den theologischen Motiven, mit denen sie verwoben werden, so fällt in beiden Hinsichten vor allem eines ins Auge, nämlich: die relativ geringe thematische Variationsbreite der Predigten in dieser Stichprobe – oder anders gesagt: die fast vollständige Konzentration auf einen politischen Themen- und einen theologischen Motivkomplex. Theoretisch könnte man sich unter dem Stichwort der politischen Predigt ja Vieles vorstellen: Eher konservative oder bürgerliche Themen wie Familie, Heimat oder Bewahrung einer christlichen Kultur; eher liberale Themen wie Freiheit, Eigeninitiative oder Toleranz; aber auch Themen, die nicht einer bestimmten politischen Richtung zuzuordnen sind, sondern eher in den Bereich ›vorpolitischer‹37 Einstellungen zur politischen Sphäre im Ganzen fallen: Orientierung am Gemeinwohl, Verständnis für andere Meinungen, Verantwortungsbereitschaft etc. Stattdessen geht es in den eher oder gänzlich politischen Predigten der Kategorien C und D, wie in den Beispielpredigten schon angeklungen, fast ausschließlich um das Thema globaler Gerechtigkeit, insbesondere im Hinblick auf die sogenannte ›Dritte Welt‹ bzw. den ›globalen Süden‹. Wollte man die politischen Themen auf Ministerien verteilen, so wären sie vor allem dem Entwicklungshilfeministerium und, mit deutlichen Abstrichen, dem Arbeits- und Sozial- sowie dem Umweltministerium zuzurechnen. Auch was die theologischen Motive angeht, ist das Spektrum nicht wesentlich breiter: Theologische Begründungen staatlicher Ordnung – oder überhaupt explizit positive Bezugnahmen auf Staat und Recht – finden sich in diesen politischen Predigten ebenso selten, wie Modelle einer stärkeren Differenz im Bezug aufs Politische, etwa auf der Linie der Zwei-Reiche-Lehre. Wenn sich ein übergreifendes theologisches Motiv ausmachen lässt, dann ist dies zuallermeist eine präsentisch-eschatologische Reich-Gottes-Idee, also die Vorstellung von einem weltverwandelnden Gottesreich, das mit Jesus angebrochen ist, sich in der Geschichte weiter ausbreitet und an dessen zwar nie ganz abschließbarer Verwirklichung doch die Christen mitzuwirken berufen sind. Die Spuren der »neuen Politischen Theologie«, z. T. auch der Befreiungstheologie, jedenfalls aber der großen eschatologischen Entwürfe der 70er und 80er Jahre, etwa eines Jürgen Moltmann, lassen sich hier deutlich wahrnehmen. Überhaupt steht das Christentum in diesen Predigten nicht auf Seiten einer zwar unvollkommenen, aber grundsätzlich bejahenswerten Ordnung, sondern ganz auf Seiten der Kritik an 37 Vgl. Michael Kühnlein (Hg.): Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, Baden-Baden 2014.
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einer immer schon problematischen Ordnung der Welt, die von Gier und Armut, Not und Krieg erfüllt ist. In der Welt gegen die Welt: so ließe sich das politischtheologische Grundschema vielleicht in Kürzestform auf den Punkt bringen. Wollte man es im politischen Spektrum lokalisieren, wäre es wohl eher links der Mitte anzusiedeln. Auch wenn es hier nicht darum gehen soll, die Ausrichtung der politischen Predigten zu bewerten, so ist die relativ geringe Streuung an politischen Themen und theologischen Motiven doch notierenswert. Hält man den Befund für einigermaßen repräsentativ, dann müsste man jedenfalls – gerade im historischen Vergleich dieses Bandes – festhalten, dass ›politische Predigt‹ derzeit nicht einfach allgemein eine Predigt mit politischen Bezügen, sondern de facto eine theologisch wie politisch sehr spezifische Predigtpraxis meint. (b) Betrachtet man zunächst die Behandlung des politischen Themas globaler Gerechtigkeit etwas genauer, so fällt darüber hinaus auf, dass in vielen der politischen Predigten die Rollen recht klar verteilt sind: Hier sind Wohlstand und Sicherheit, dort das himmelschreiende Elend: Armut, Hunger, Krieg, Bedürftigkeiten aller Art. In den milderen Fassungen wird dieser Kontrast direkt in einen Appell zur Anteilnahme und zur Solidarität – nicht selten auch explizit zum Spenden (P5/D, P6/C, P9/D, P18/C, P21/D) – umgemünzt. In den schärferen Varianten tritt die Anklage hinzu: Unser Leben, unser Wirtschaftssystem, unsere Ignoranz sind die Gründe für deren Armut und Leiden. Einige längere Zitate aus den Predigten können diese Behandlung des politischen Themas veranschaulichen. Zunächst ein typischer Abschnitt aus Predigt Nr. 21 (Kategorie D): »Aber – an Weihnachten – sollen wir da nicht für einen Moment die große Weltpolitik lassen, die uns meist nur während der Nachrichten berührt? Doch! Wir sollten sie im Blick behalten, denn sie betrifft uns – auch wenn wir uns nicht betroffen fühlen. Die Weltwirtschaft kann uns jederzeit wieder überrollen – so wie etwa der Schwarze Freitag, die Weltwirtschaftskrise. Es kann geschehen, dass der scheinbar unangreifbare Organismus übersatter Industrieländer eines Tages kollabiert und an Fettsucht zugrunde geht. Dabei lebt der Turbokapitalismus auf Kosten armer Arbeiter, die für einen Hungerlohn in großen Fabriken in den Metropolen Asiens, Lateinamerikas und Südamerikas wie auch Afrikas schuften oder sich auf Plantagen für den weißen Mann und die weiße Frau abrackern. Die Ausbeutung dieser Menschen erhält unseren Lebensstandard.« (P21/D) Eine andere Predigt formuliert einen ähnlichen Gedanken, diesmal im Anschluss an die ›Speisung der 5000‹ nach Luk 9,10–17: »Über das Teilen belehrt uns die Geschichte. Es ist so: Wir müssen umlernen. Denn jetzt leben wir oft auf Kosten anderer Menschen. Z. B. unser Fleischkonsum. Bedroht und oft vernichtet wird die Existenz von Bauern, deren Feld jetzt zum Sojaanbau gebraucht wird, damit unser Vieh für unser Fleisch genug Soja hat. Und z. B. die Textilfa-
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briken in Bangladesch. Sie brennen und stürzen ein, weil Menschen das billige Hemd wollen. Die Sicherheit hatte niemand der Auftrag gebenden Firmen tatsächlich geprüft, Hauptsache billig! Mit dem Teilen sieht es oft schlecht aus. Ein Zeichen sind auch die zigtausenden Selbstanzeigen wegen Steuerhinterziehung aus Angst vor Strafe. Unser Lebensstil ist also oft ein Schaden für Andere. Und unser Gewissen sagt uns: Das geht auf die Dauer nicht gut. Wir dürfen solche Verhältnisse nicht weiter so bestehen lassen.« (P24/D) Auch Predigt 20 (Kategoie D) arbeitet mit einem solchen Kontrast: »In Afrika sterben dagegen die Menschen, statt zu leben. Und wir wissen das – nicht erst seit der aktuellen Berichterstattung über die Hungerkatastrophe in Ostafrika. Aber nur selten treten die Gegensätze so klar und beunruhigend zutage, wie in diesen Sommerwochen: Da jammern wir Deutschen über den Sommer, der ins Wasser fällt, während in Somalia die Erde vertrocknet und Menschen verdursten. Da liegen an europäischen Stränden dicht an dicht wohlgenährte Touristen in der Sonne und genießen Kinder das sorglose Spiel in den Wellen, während sich in den staubtrockenen Dürregebieten Ostafrikas Menschen mit eingefallenen Augen und ausgemergelten Körpern in den Flüchtlings- und Hilfslagern drängen und Kinder in der Erde verscharrt werden, weil Brot und Wasser zum Leben fehlen, ihre Mütter keine Milch haben und weder Wunder noch Zeichen geschehen – keine Brotvermehrung, kein Manna, das vom Himmel fällt.« Während in dieser Predigt der Kontrast zwischen Arm und Reich eher bedacht in Richtung von Nachdenklichkeit und »Achtsamkeit für die Hilfsbedürftigkeit der Anderen« (P20/D) und weniger in Richtung eines Appells gewendet wird, scheuen sich die meisten anderen politischen Predigten auch nicht vor konkreten Handlungsanweisungen. Die schon bei den Beispielpredigten erwähnte Predigt 5 (Kategorie D), unter dem Titel »Globalisierung und Moral«, plädiert u. a. dafür, doch beim Einzel- und nicht beim Onlinehändler zu kaufen, lokal, auch wenn es teurer ist, auf Fair Trade und gute Produktionsbedingungen zu achten: »An diese Geschwister denke ich demnächst, wenn ich wieder Kaffee kaufe, und der Preis ist so verdächtig niedrig, daß ich mir ausrechnen kann, daß die Bauern in Lateinamerika dafür ihre Familien hungern lassen müssen. An diese Geschwister denke ich, wenn ich ein neues T-Shirt kaufe, Textilien überhaupt, Kleidung, einen Teppich. Das kann nichts mehr sein, wofür Kinder zur Sklavenarbeit gezwungen werden. An diese Geschwister denke ich, wenn ich Geld anlege, das ich übrig habe. Denke an die Brüder und Schwestern in den Fabriken und auf den Plantagen der Dritten Welt. Wichtiger als die Ertragsrate wird mir sein, daß für sie genug bleibt, um ein menschenwürdiges Leben in einem intakten Gemeinwesen zu führen. Dazu gehört auch, daß sie Freude an ihrer Arbeit haben, und nicht fremden Profit maximieren.« (P5/D)
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Ein anderer Prediger schildert ein Projekt aus Namibia, in dem ein »bedingungsloses Grundeinkommen« eingeführt wurde. Er zitiert einen afrikanischen Bischof, der dies mit der Speisung der Fünftausend in Verbindung bringt, die Jesus ja auch bedingungslos satt gemacht habe. Der Prediger nimmt diesen Gedanken auf und fährt fort: »Ein Einwohner von Otjivero würde vielleicht dieses Bild verwenden: Manchmal fühlen wir uns wie Asterix und Obelix in dem letzten Dorf im ganzen Römischen Reich, das nicht erobert worden ist und sich den Römern standhaft widersetzt. Wir widersetzen uns der vorherrschenden Wirtschaftsideologie und praktizieren in unserem kleinen namibischen Dorf Umverteilung.« Und das Projekt zeitigt »wunderbare Begleiterscheinungen«, wie eine Liste von Spiegelstrichen ausführt: die »Mangelernährung« geht zurück, mehr Kinder gehen zur Schule, die medizinische Versorgung verbessert sich, sogar die Verbrechensrate sei um 60 % gesunken. »Wenn ich mir die Geschichte aus dem Johannesevangelium anschaue, dann kann ich sie nicht anders auf den Punkt bringen als: Gott will mit der Logik des Teilens zusammengebracht werden. Seine Jünger teilen miteinander, was sie haben und sind. Sie können dies, weil sie Jesus, als das Wort Gottes und als das Brot des Lebens kennen gelernt haben.« Die Zielrichtung ist deutlich: Auch wir können, dem Vorbild Jesu folgend, ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen und mit dem »Teilen auch in großem Stil« anfangen, »wenn wir es denn nur wollen.« (P16/D) (c) Das genannte theologische Reich-Gottes-Motiv ist in diesen Zitaten schon verschiedentlich angeklungen. Sucht man nach expliziteren Ausschnitten, so findet sich in Predigt 9 (Kategorie D) ein prägnantes Beispiel: »Und doch ist das Licht nun in der Welt, seit 2000 Jahren schon, und will sich immer noch ausbreiten und größer werden und seinen Weg finden in die Dunkelheit unserer Zeit. Es will unsere Herzen erreichen und unser Denken erhellen, so wie in unserer Geschichte dem König ein Licht aufging. Und natürlich haben seine Gefährten Recht gehabt, daß er durch sein Handeln die bestehende Welt und ihre Ordnung auf den Kopf stellte: Genau damit aber entsprach er der Welt Gottes, dem Reich des Friedefürsten, das doch in Bethlehem ausgerufen worden war. Und auch der Diener [Bezugnehmend auf eine Anekdote in dieser Predigt, TBK] hat Recht, wenn er behauptet, daß die, die gemeinsam vor dem Kind gekniet haben, sich gemeinsam in die Dinge der Welt hineinknieen müssen: Wer die Bilder der Verheißung einmal vor Augen hatte, findet sich nicht mehr ab mit der Finsternis der Welt, der will, daß es licht und hell wird für sich und andere – man muß nur einen Anfang wagen, sich aufraffen und etwas dafür tun (und wenn es nur eine kleine Geste ist, ein gutes Wort zur rechten Zeit, ein wenig Geduld oder etwas Nachgiebigkeit).« (P9/D) Der Gedanke eines sich ausbreitenden Gottesreiches verbindet sich hier, wie öfter in dieser Stichprobe, mit dem verbreiteten Motiv einer Umwertung der weltlichen Werte. Letzteres begegnet mit einer bisweilen fast beiläufigen Selbst-
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verständlichkeit besonders in der Auslegung der Weihnachtsgeschichte, beispielsweise in Predigt 13, die ansonsten nicht weiter politisch und daher der Kategorie B zuzuordnen ist: »Und dieses Stück Himmel auf Erden, das ereignet sich ganz konkret auf der Erde und nicht in irgendwelchen hoheitsvollen Palästen oder irgendwelchen elitären Zirkeln. Nicht das Edelste der Welt ist für den Himmel gerade gut genug – nein umgekehrt! – der Himmel steigt so tief hinab in diese Welt, dass er dort bei den Ausgestoßenen, draußen vor den Toren der Stadt geboren wird. […] Statt einer goldenen Wiege eine Futterkrippe, statt Samt und Seide Heu und Stroh, statt Edelsteinen und Juwelen die bittere Armut. Das ist der Ort, an dem Gott wohnt: Das nackte, pure Elend, in das das Kind hineingeboren wird.« (P13/B) Ein letztes Beispiel, wiederum aus einer Weihnachtspredigt, formuliert diesen Gedanken wie folgt: »Allerdings, so richtig perfekt war es damals auch nicht. Jesus hat unser Leben geteilt, nicht nur mit aller menschlichen Nähe, sondern auch mit allen Abgründen, die das Leben so zu bieten hat. Menschen haben ihm nicht geglaubt, haben ihn bedroht, das Ende war sogar ein schmachvoller Tod. Nach menschlichen Maßstäben war er total gescheitert, aber dann hat Gott plötzlich alles auf den Kopf gestellt, hat ihn auferweckt von den Toten und so aller Welt gezeigt: Das, was er gesagt und getan hat, war richtig, es war Gottes Wille. Das Bibelwort aus dem Timotheusbrief sagt es knapp in drei Worten: ›gerechtfertigt im Geist‹. Das entscheidende hat Jesus nicht selbst getan, es ist an ihm geschehen. Genau genommen gilt es für alles, was das Bibelwort von ihm sagt, alles ist im Passiv geschrieben: Er ist offenbart, gerechtfertigt, erschienen, gepredigt, geglaubt, aufgenommen. Nichts, was er selbst getan hat. Alles ist Gottes Plan, Gottes Kraft. So wird es auch sein, dass Gottes Kraft dafür sorgt, dass Jesus Christus geglaubt wird in der Welt und dadurch alles verwandelt wird. Ich denke an eine Frau in Südamerika, die Ausverkauf in ihrem kleinen Laden machen muss, weil sie den Zahlungsforderungen nicht mehr nachkommen kann, die an sie gestellt werden. Traurig steht sie hinter ihrer halbleeren Kühltheke: ›Morgen wird die geholt. Und ohne Kühltheke brauche ich nicht mehr anfangen, Lebensmittel zu verkaufen. Aber Gott wird mir helfen, einen Ausweg zu finden.‹ Sie strahlt eine bewundernswerte Zuversicht aus und das, obwohl es in ihrem Land keine Arbeitslosenunterstützung gibt. Wenn sie keine neue Einkommensquelle findet, werden sie und ihre Kinder hungern müssen. Wenige Tage später sitzt sie an einem Tisch und klebt kleine Tütchen zusammen. Heimarbeit. Nicht besonders lukrativ, aber genug, um ihre Familie satt zu bekommen. Und immer noch ist sie zuversichtlich, dass sie sogar noch etwas Besseres bekommen wird. Mit Gottes Hilfe. Ihr Glaube hilft ihr, nicht aufzugeben.« (P25/C)
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4.
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Zum Schluss: Eine andere politische Weihnachtspredigt
Beim Blick auf dieses Predigtmaterial lässt sich noch einmal die Frage stellen, ob Ulf Poschardt mit seiner in der Einleitung erwähnten Predigtkritik bei aller Polemik nicht doch auch einen Punkt getroffen hat? Nicht, dass man den Themen, die in diesen Predigten angesprochen werden, irgend ihre Berechtigung oder Relevanz absprechen könnte – ganz im Gegenteil! Aber der Eindruck, dass das politisch und theologisch mögliche Spektrum kaum ausgeschöpft wird, dass mithin eine gewisse Erwartbarkeit die politischen Predigten durchzieht, drängt sich auch in der vorliegenden, wenngleich sehr begrenzten Stichprobe über weite Strecken auf. Es gibt allerdings eine politische Predigt, die nicht in dieses Schema passt und aus der daher am Schluss dieses Aufsatzes zitiert sei (P31/D). Gehalten wurde sie am Heiligabend 2016, noch unter dem Eindruck des Anschlags am Berliner Breitscheidplatz. Entsprechend düster beginnt die Predigt: Von Finsternis und Bösem ist die Rede, und vom Hass. »Lange nicht mehr ist in der Öffentlichkeit so viel von Hass die Rede gewesen. […] Es ist, als ob unsere Gesellschaft von einem großen Zerwürfnis befallen wäre. Nicht selten geht der Riss durch Freundschaften, durch Familien. Er geht auch durch die Kirche.« Es folgt ein Abschnitt zum Predigttext aus Johannes 3: »So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn für sie dahingab.« Doch liebenswert erscheint diese Welt nicht, eher könne man an ihr verzweifeln. Dass Gott ihr seinen Sohn schenkt, ist das Staunenswerte, von dem Weihnachten handelt. Dieser Gedanke wird nun mit einer interessanten Wendung versehen: »Wir stehen, wir staunen, wir sind dankbar und wir schauen uns um. Wie viele mit uns hier stehen! Es sind die dabei, die von den Geschehnissen der letzten Tage auf schmerzliche Weise betroffen sind. Es sind aber auch die dabei, deren Nächstenliebe wir in den Debatten der letzten Monate angezweifelt haben. Es sind die dabei, von welchen wir uns kürzlich noch meinten distanzieren zu müssen. Was haben wir uns gegenseitig nicht alles vorgeworfen? Angstgeleitet! Traumtänzer! Rechtslastig! Naive Gutmenschen! Vor allem aber: Keine Christen! Nein, ganz bestimmt kein Christ, wer so denkt, wie der oder wie die! Nun stehen sie alle da, stehen mit uns zusammen an der Krippe. […] Vielleicht trägt uns der Moment hier, diese Minute der empfundenen Gemeinsamkeit über den Gottesdienst hinaus. Ich wünsche es mir. Wenn wir in den kommenden Wochen und Monaten wieder gegensätzliche Standpunkte beziehen, denken wir an den Augenblick, in dem wir gemeinsam an der Krippe gestanden haben, gemeinsam im Licht. Wenn wir in eine Debatte geraten, was denn nun im Namen Jesu das Richtige zu tun sei, erinnern wir uns daran, dass wir Geschwister sind, die einander vertrauen dürfen. Die darauf vertrauen dürfen, dass auch der andere das Gute im Sinn hat.«
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Anstatt einer längeren Interpretation dieser Predigt soll Johann Hinrich Claussen, der gegenwärtige Kulturbeauftragte der EKD, das Schlusswort haben. In einem Essay zur Poschardt-Debatte hat er die folgende Faustregel für politische Predigten formuliert: »Wenn man als Prediger am Heiligen Abend etwas unbedingt loswerden möchte, was man immer schon vor einem großen Publikum sagen wollte – dann sollte man sich auf die Zunge beißen. […] Wenn man aber schon beim Predigtschreiben das Gefühl hat, für einen bestimmten Satz über ein konkretes Thema seinen Mut zusammennehmen zu müssen, dann sollte man es auch tun.«38 Vermutlich hat der Verfasser dieser letzten Predigt die Regel befolgt.
Literaturverzeichnis Quellen Erläuterung: Die Zitationsweise im Text (P1, …, P33) bezieht sich jeweils auf die Nummerierung in der nachfolgenden Tabelle, die anschließenden Buchstaben (P1/A, ….) auf die entsprechenden Kategorien. Auf Grund des Online-Formats ist es nicht möglich, Seiten- oder Zeilennummern anzugeben. Die Zitate sind aber qua Internet leicht nachzuvollziehen: Die dazugehörige Quellenangabe ist ab der zweiten Zeile so zu lesen, dass »http://www.theologie. uzh.ch/predigten/« bei Eingabe in den Browser jeweils davor zu setzen ist. Die Kategorien der letzten Spalte beziehen sich auf das Auswertungsschema aus den Abschnitten 3.2 bis 3.4. Zur Auswahl der Predigten vgl. Abschnitt 3.1. Gibt es zudem zu einem Sonntag mehrere Predigten im Archiv, wurde in alphabetischer Reihenfolge der Urheberinnen und Urheber die erste Predigt ausgewählt, es sei denn, die Predigtperson taucht in der bisherigen Auswahl bereits auf. In diesem seltenen Fall wurde im Sinne einer möglichst vielfältigen Stichprobe auf die alphabetisch nächste Predigt ausgewichen. »Göttinger Predigten im Internet« Nr. Jahr Kirchenjahr Text Autoren Quellenangabe Kategorie 1 2001 Christvesper 1 Tim Hinrich Buß http://www.theologie.uzh.c C 3,16 (Jg. 37) h/predigten/archiv-4/01122 4-2.html 2 2002 7. Sonntag Ex 16,2– Rainer Stahl archiv-4/020714-1.html C n. Trinitatis 3.11–18 (Jg. 51) 3
2002 Christvesper Lk 2, 1– 14 (15– 20)
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B
38 Johann Hinrich Claussen: Das politische Wort Gottes, in: Die Zeit 04 (2018), Beilage Christ und Welt, online unter: https://www.zeit.de/2018/04/predigten-politik-rede-mut (29. 01. 2019), wieder veröffentlicht unter Ders.: Ach, die ›politische Predigt‹! In: Predigtstudien 2018/2019, 2. Hbd., S. 11–14, hier S. 13.
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(Fortsetzung) »Göttinger Predigten im Internet« Nr. Jahr Kirchenjahr Text Autoren Quellenangabe 4 2003 7. S. n. Trin. Joh 6,1– Keine Predigt vorhanden 15 5 2003 Christvesper Tit 2,11– Ulrich Haag archiv-6/031224-1.html 14 (Jg. 61) 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
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Tom Kleffmann (Jg. 60) Claudia Bruweleit (Jg. 66)
Kategorie
D
archiv-6/040725-3.html
C
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A
2005 7. S. n. Trin. Joh 6,30– Ulrich Braun archiv-7/050710-6.html 35 (Jg. 56) 2005 Christvesper Jes 9,1–6 Gerlinde archiv-8/051224-7.html Feine (Jg. 67)
B
2006 7. S. n. Trin. Phil 2,1– 4 2006 Christvesper Joh 7,28– 29 (30)
A
Christiane archiv-8/060730-2.html Neukirch Rüdiger Lux archiv-9/061224-10.html (Jg. 65)
2007 7. S. n. Trin. Lk 9,10– Wolfgang 17 Vögele (Jg. 62) 2007 Christvesper 1 Tim Michael 3,16 Gese (Jg. 62)
D
A
predigt.php?id=364& kennung=20070722de
B
predigt.php?id=679& kennung=20071224de
B
2008 7. S. n. Trin. Ex 16,2– 3.11–18 2008 Christvesper Lk 2,1– 14 (15– 20)
Inke Raabe (Jg. 64) Dieter Koch (Jg. 59)
predigt.php?id=1055& kennung=20080706de predigt.php?id=1337& kennung=20081224de
A
2009 7. S. n. Trin. Joh 6,1– 15 2009 Christvesper Tit 2,11– 14
Ekkehard Lagoda Peter Huschke
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D
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C
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D
C
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23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Kategorie D
D
2012 7. S. n. Trin. Phil 2,1– Jochen Cor4 neliusBundschuh (Jg. 57) 2012 Christvesper Joh 7,28– Sven Evers 29 (Jg. 71)
predigt.php?id=3669& kennung=20120722de
A
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A
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D
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C
2014 7. S. n. Trin. Ex 16,2– Andreas 3.11–18 Dreyer (Jg. 62) 2014 Christvesper Lk 2, 1– Bernd Giehl 14 (15– (Jg. 53) 20)
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A
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B
2015 7. S. n. Trin. Joh 6,1– 15
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A
predigt.php?id=6164& kennung=20151224de
C
2016 7. S. n. Trin. Apg 2,41a.42– 47 2016 Christvesper Joh 3, 16–21
Jan Hermelink (Jg. 58) Ulrich Pohl (Jg. 57)
predigt.php?id=6588& kennung=20160710de
B
predigt.php?id=6875& kennung=20161224de
D
2017 7. S. n. Trin. Joh 6,30– Suse Gün35 ther (Jg. 63) 2017 Christvesper Jes 9,1–6 Jörg Coburger (Jg. 59)
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A
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B
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Tobias Braune-Krickau
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Tobias Braune-Krickau
Werkner, Ines-Jacqueline / Liedhegener, Antonius (Hg.): Europäische Religionspolitik. Religiöse Identitätsbezüge, rechtliche Regelungen und politische Ausgestaltung, Wiesbaden 2013. Willems, Ulrich / Pollack, Detlef / Basu, Helene / Gutmann, Thomas / Spohn, Ulrike (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013. Wöhrle, Stefanie: Predigtanalyse. Methodische Ansätze – homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen, Berlin u. a. 2006. Zapf, Holger / Hidalgo, Oliver / Hildmann, Philipp W. (Hg.): Das Narrativ von der Wiederkehr der Religion, Wiesbaden 2018. Ziemer, Jürgen: Art. Politische Predigt, in: RGG4, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1469–1470. Zimmermann, Béatrice Acklin / Siegrist, Ulrich / Uster, Hanspeter (Hg.): Ist mit Religion ein Staat zu machen? Zu den Wechselbeziehungen von Religion und Politik, Zürich 2009. Zizek, Slavoj: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003.
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Michael Basse, Prof. Dr. theol., geb. 1961, ist Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Dortmund. Tobias Braune-Krickau, Prof. Dr. theol., geb. 1983, ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald. Ruth Conrad, Prof. Dr. theol., geb. 1968, ist Professorin für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Maximilian Diesenberger, PD Mag. Dr. phil. MAS, geb. 1969, ist Leiter der Abteilung Historische Identitätsforschung, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien. Christoph Galle, Dr. phil., geb. 1983, ist Postdoc an der Professur für Kirchengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Lucian Hölscher, Prof. Dr. phil., geb. 1948, ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Martin Ohst, Prof. Dr. theol., geb. 1957, ist Professor für historische und systematische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal, Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften. Markus Wriedt, Prof. Dr. theol., geb. 1958, ist außerplanmäßiger Professor für Kirchengeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Rolf Schieder, Prof. Dr. theol., geb. 1953, ist emeritierter Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
358
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Regina D. Schiewer, Dr. phil., geb. 1968, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Georg Strack, Prof. Dr. phil., geb. 1977, ist Professor für mittelalterliche Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Christian Volkmar Witt, PD Dr. theol. habil., geb. 1980, ist HeisenbergStipendiat am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz und Privatdozent der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.
Personenregister
Abbo von Saint-Germain 39 Abraham 58 Achelis, Ernst Christian 11 Adelgorius von Magdeburg, Erzbischof 55 Adolf von Nassau, König 102f., 105 Agamben, Giorgio 324 Agobard von Lyon, Erzbischof 36 Ahlfeld, Friedrich 259–262 Alanus ab Insulis, Heiliger 130, 133 Alanus von Farfa 32 Albert, Felix Richard 11 Albrecht, Christian 325f. Albrecht I., König 102f., 105–110, 115, 118 Aldebert, Bischof 26, 28f. Alkuin von York 30–32, 34 Anselm, Reiner 325f. Aribo von Mainz, Erzbischof 57–60 Aristoteles 333 Arn von Salzburg, Erzbischof 30f., 34, 50, 64 Arndt, Ernst Moritz 263 Assmann, Aleida 127 Aurelius Augustinus, Kirchenvater 25, 38, 52, 129, 132, 134, 138–140, 144–147 Badiou, Alain 324 Baibars I., Sultan 85 Balthasar von Thüringen, Landgraf 141 Barth, Karl 51, 162, 218, 263, 289–291, 303– 306 Bauer, Johannes 10, 141f., 211, 263, 304, 341f. Baumgarten, Otto 20, 245, 257, 259f., 265f.
Baur, Gustav Adolph Ludwig 261–263 Beck, Ulrich 33, 127, 333f. Bedford-Strohm, Heinrich 213, 325 Benedikt XIII., Gegenpapst 139 Benesˇ Krabice von Weitmühl 112 Berard von Neapel 85 Bernhard von Clairvaux, Heiliger 67–70, 86, 129, 143, 158, 320, 330 Besier, Gerhard 260, 264, 320 Beste, Wilhelm 11, 190, 198, 202, 259 Biel, Gabriel 143, 328, 330 Bismarck, Otto von 298 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 322, 324 Bolesław Chrobry, König 55 Bonifatius, Heiliger 15, 25–29, 31f., 34, 38 Bonifaz VIII., Papst 17, 102–110, 112, 114f., 118 Brockhaus, Clemens 261 Brun Candidus 36 Caesarius von Heisterbach 64 Casanova, Josè 322 Chladenius, Johann Martin 128 Christiansen, Sabine 336 Christlieb, Theodor 11, 186f. Cicero, Marcus Tullius 25 Claussen, Johann Hinrich 346 Clemens, Bischof 26, 28f. Clemens IV., Papst 85, 88 Clemens VI., Papst 17, 100, 102, 110–117 Corbinian von Freising 29 Cruel, Rudolf 11, 54–56, 59, 62–66 Cyrill von Saloniki 38
360 Dahn, Felix 45f., 64 Daniel 163, 262 David 58 Derrida, Jacques 324 Dibelius, Otto 20, 280–292 Dilthey, Wilhelm 127, 211f. Dionysius von Paris, Heiliger 110 Drews, Paul 11, 241–243, 245, 252, 256 Eck, Johannes 18, 31, 50, 55, 171f. Engemann, Winfried 212, 239, 305, 328, 332f. Eremwulf 29 Erich von Friaul, Herzog 34 Ermoldus Nigellus 36 Ernst von Pardubitz, Erzbischof 111f. Esders, Stefan 26, 33 Eugen III., Papst 67 Ezechiel 113 Fallenstein, Emily von 266 Favaroni, Augustinus 139 Fendt, Leonhardt 303 Ferdinand I., Kaiser 172 Ferreto de’ Ferreti 104f., 118 Fichte, Johann Gottlob 211, 216, 218, 263 Folke Schuppert, Gunnar 26 Franz von Prag 116 Fricke, Gustav Adolf 261, 263 Friedrich Wilhelm I., König 190 Galfriedus Hardby 139 Geiler von Kaysersberg, Johann 18, 80f., 132, 141–144 Gerson, Jean 142f., 160 Goebbels, Josef 288 Gollwitzer, Helmut 300, 305 Gottsched, Johann Christoph 18, 189f., 192–194, 200, 202 Gregor II., Papst 26f. Grimmsmann, Damaris 164f. Grözinger, Albrecht 253, 328f., 333f. Grunow, Eleonore 220 Guillaume de Plaisians 109f. Gustav Adolf von Schweden, König 170
Personenregister
Habermas, Jürgen 126f., 185, 323 Haendler, Otto 238, 305 Hahn, Philipp 171 Haimo von Auxerre 37f., 50, 53 Harald Klak, König 36 Harnack, Adolf von 210, 281 Heinrich I., König 47 Heinrich II., Kaiser 57f., 63 Heinrich V., Kaiser 65 Heinrich VI., Kaiser 49 Heinrich von Herford 109f. Heiric von Auxerre 37 Hélinand von Froidmont 53 Herbord von Michelsberg 60, 62 Hering, Hermann 11 Hermann von Prag, Bischof 56 Hildegard von Bingen, Heilige 64, 71 Hitler, Adolf 288f., 299, 309, 311 Honorius Augustodunensis 16, 65f. Hrabanus Maurus 35, 37, 50–52, 124 Huber, Wolfgang 325 Hugeburc von Heidenheim 30 Hugolino von Orvieto 139 Hunt, Arnold 165 Hutten, Ulrich von 288 Imbricho, Bischof 60–62 Innozenz III., Papst 101, 118, 130 Isabella von Frankreich, Königin 90 Jesus Christus 45, 59f., 64f., 69, 87, 107, 146–148, 228f., 231, 244, 251, 253, 266, 284, 286, 289f., 307f., 335f., 340, 343f. Joas, Hans 322, 326 Johann Friedrich II., Herzog 168 Johann Georg von Sachsen, Kurfürst 170 Johann von Staupitz 18, 132, 134, 144–147 Johannes Latomus 137 Johannes von Dorsten 17, 140f. Johannes von Paltz 128 Johannes XXII., Papst 93 Josuttis, Manfred 300, 305 Julian von Vézelay 53 Kant, Immanuel 229f., 232
182, 184, 215, 219, 226,
361
Personenregister
Karl der Große, Kaiser 15f., 30–32, 34–39, 50, 57, 91, 116 Karl IV., Kaiser 108, 110–114, 116–118 Karl Martell, Hausmeier 27 Karl von Mähren, Markgraf 111 Karle, Isolde 212, 328 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 242 Klöckner, Julia 319 Kölmel, Wilhelm 99, 106, 117 Konrad I., König 16, 47 Konrad II., Kaiser 57–60 Konrad III., König 68f., 70 Konrad von Halberstadt 116 Konrad von Würzburg 90 Koselleck, Reinhart 18, 183–185, 201, 204f. Künneth, Walter 301 Kutter, Hermann 244, 248 Lantperhtus von Mondsee 50 Lechler, Gotthard Victor 261 Liebknecht, Karl 247, 280 Liedhegener, Antonius 321, 325–327 Lilje, Hanns 20, 301, 310–313 Linsenmeyer, Anton 11 Lothar I., Kaiser 37 Ludwig der Fromme, Kaiser 35f., 38 Ludwig II., König 38 Ludwig IV., Kaiser 93, 111, 115, 117 Ludwig IX., König 88–91, 94, 111 Ludwig X., Herzog 172 Luther, Martin 11, 18, 46, 54–56, 99, 124f., 131, 139, 144, 155–165, 167, 173f., 212, 229f., 282f., 286, 288, 299 Luxemburg, Rosa 247, 280 Marbach, Johannes 46, 54–56 Maria 56, 81, 172, 326 Martha 60 Martin, David 322 Martin V., Papst 139 Meinwerk von Paderborn, Bischof 54, 62f. Melanchthon, Philipp 124, 131, 162 Merbach, J. B. 261 Method von Saloniki 38 Michael, Heiliger 62 Migne, Jacques-Paul 10, 37f., 50, 65, 68
Moltmann, Jürgen 300, 340 Mose 262, 310f., 313, 335 Mosheim, Johann Lorenz von 11, 18, 192– 195, 200, 202 Motschmann, Klaus 301 Müller, Hans Martin 7, 9, 12, 99f., 157, 185, 238, 243, 303, 321f., 324 Müntzer, Thomas 163f. Nancy, Jean-Luc 39, 324 Napoleon I., Kaiser 262 Naumann, Friedrich 237, 241, 245, 247, 252–256 Nausea, Friedrich 172 Nebe, August 10, 18, 53, 68, 92, 127, 139, 143, 244, 251, 254 Nebukadnezar, König 114 Nicolai, Philipp 18, 168f. Nicolaus von Siegen 140 Niebergall, Friedrich 11, 185, 241f., 268 Niemöller, Martin 238, 299, 328 Nietzsche, Friedrich 279 Nipperdey, Thomas 240f., 243–245, 258 Notker von Sankt Gallen 35 Otto I., Kaiser 47, 54 Otto von Bamberg, Bischof
55, 60–62
Patze, Hans 112f., 115, 117 Paulus, Apostel 9, 50, 161, 223, 324, 337f. Paulus Diaconus 31, 50, 53 Peter, Simone 318 Petrus Martyr 89 Philipp IV., König 106–109 Pipino, Francesco 102–105, 118 Pippin, Hausmeier 29 Plantiko, (?) 291 Poschardt, Ulf 317f., 345f. Pseudo-Bonifatius 32 Ragaz, Leonhard 244, 254 Rathenau, Walther 280 Rendtorff, Trutz 325 Robert Grosseteste 139 Robert of Basevorn 132 Rothe, Richard 10
362 Rudolf I., König
Personenregister
108
Sack, Karl Heinrich 11 Salomon 112f., 116f. Sanguin Edessa, Fürst 67 Savonarola, Girolamo 132, 143 Schäuble, Wolfgang 319 Scheurl, Christoph 144 Schian, Martin 11, 248, 298 Schiewer, Hans-Jochen 64, 93 Schleiermacher, Friedrich D. E. 205, 209– 232, 259, 263, 304f. Schmidt, Clemens Gottlob 11, 118, 142, 321–323, 347 Schorn-Schütte, Luise 170 Schütz, Werner 11, 187f. Söder, Markus 319 Sölle, Dorothee 300 Spalding, Johann Joachim 18, 133, 185, 195–198, 200, 202f., 228 Spittler, Ludwig Timotheus 181f. Stegmann, Andreas 124 Stegner, Ralf 318 Stein, Heinrich Friedrich Karl von und zum 263 Stöcker/Stoecker, Adolf 214, 244, 247, 253, 264, 281 Striebitz, Ludwig 11 Stumm-Halberg, Carl Ferdinand von 243 Tassilo III., Herzog 30, 33 Tauler, Johannes 83f. Thielicke, Helmut 20, 301, 307–310, 313 Thieme, Daniel 326 Thomas von Aquin, Heiliger 110, 138, 143, 160
Thomas von Salisbury 132 Treitschke, Heinrich von 211, 288 Trittin, Jürgen 318f. Troeltsch, Ernst 278–280 Urban VI., Papst
139
Vattimo, Gianni 324 Vinzenz von Beauvais 83 Waley, Thomas 132 Walther, Paul 11, 219, 245–250, 320 Weber, Ludwig 244f., 251 Weber, Max 252, 333 Welf VI., Herzog 69 Wenzel I., König 117 Werner von Sankt Blasien 16, 65f. Wichern, Johann Hinrich 242 Wido von der Bretagne, Graf 34 Wild, Johann 18, 171 Wilhelm II., Kaiser 297 Wilhelm IV., Herzog 172 Wilhelm von Ockham 143 Willibald von Eichstätt, Bischof 29f. Windheim, Christian Ernst von 193 Wintzer, Friedrich 209, 243f., 251f., 297 Wipo 57 Witzel, Georg 18, 171 Wurm, Theophil, Bischof 307 Wycliff, John 138 Zachariae, Johannes 17, 138f., 141 Zacharias, Papst 28, 188, 209f. Zerbolt von Zutphen, Gerhart 135f. Zezschwitz, Gerhard von 11 Zizek, Slavoj 324
Sachregister
Andacht 254f., 266, 269 Anklage 80, 308, 341 Antijudaismus 82, 87, 281, 292 Antisemitismus 244, 318 Apostel 56, 60, 265 Armut 16, 93f., 242, 247f., 250–252, 338, 341, 344 Atheismus 214, 246, 298, 310 Ausbeutung 250, 338, 341 Auslegung 87, 123, 133, 142f., 146–148, 163, 167, 217, 238, 302f., 308, 332, 337, 344 Barmherzigkeit 58, 61f., 69, 143, 146f., 250, 286, 312 Befreiung 17, 94, 261, 264, 278, 285, 300, 303, 313 Bekenntnis 31, 137, 146, 194, 197, 213, 286–288, 291, 300, 305 Bildung 53–55, 61, 147, 196, 199–202, 214, 219, 231, 239, 242 Bürgertum 18f., 25, 84, 126, 134, 156, 161– 165, 182–189, 196–204, 210, 217f., 222f., 227, 232, 240–242, 279, 288f., 324f., 340 Buße 20, 71, 86, 132, 135, 143f., 148, 170, 222, 229f., 251f., 258, 260–264, 282 Calvinismus / Reformiertentum 164–166, 168f., 328 Demokratie 125, 291, 297, 305, 321, 333, 340 Dogmatik 132, 135, 145, 148, 251, 256, 278 Drei-Stände-Lehre 156, 168
Ehe 28, 162, 212, 227 Einheit 17, 27, 46, 99, 125, 168, 214, 216, 223, 249, 263, 289, 302, 325 Erbauung 10, 52f., 83, 125, 137, 140, 144, 190–195, 200–203, 213f., 254, 331 Erbsünde 140, 211 Erlösung 143, 146, 213, 230, 292, 298, 309, 311, 313 Eschatologie 21, 116, 145, 160, 226f., 250f., 253, 256, 319, 336, 340 Ethik 16, 25–28, 30–33, 38, 56, 66, 70, 82, 117, 137f., 143–148, 158–163, 167, 171– 173, 191, 194, 201, 213, 215–232, 239– 241, 245–252, 256, 266, 297f., 300, 325– 330, 336, 343 Evangelium 124, 138, 142f., 159, 162f., 167, 169, 174, 210, 213f., 241–243, 248, 253, 255, 280f., 287, 300, 305 Exegese 37, 133f., 310 Familie 30, 33, 54, 212, 220, 224, 227, 248, 282, 338, 340, 342, 344f. Feindschaft 31, 116, 169, 190, 214, 263, 265, 289, 301, 312f. Freiheit 131, 163, 195, 203f., 212, 214, 228, 285–287, 325, 332, 335, 340 Frieden 34, 37, 59, 69, 115, 162, 169f., 212, 219, 230, 244, 247, 250f., 285–287, 312, 318, 332, 335 Gebet 61, 63, 139, 161, 262, 282, 288f. Gehorsam 62, 112, 117, 160, 163, 172f., 201, 260, 291, 311
364 Gemeinschaft 9, 83, 126, 157, 201, 214, 219, 221, 223f., 227, 237, 249, 278f., 281, 290, 337 Gemeinwesen 19, 126, 217, 219f., 222, 224f., 227, 289, 342 Gemeinwohl 212, 218, 248f., 340 Gerechtigkeit 34, 59, 113–115, 163, 172, 199, 213, 248, 250, 285–287, 340f. Gericht 20, 35, 48, 59, 69, 71, 100, 156, 184, 204, 228, 284, 286, 309 Gewalt 99, 103–106, 118, 173, 190, 262, 283, 285, 310 Gewissen 60, 145f., 188, 213, 225, 251, 255, 265f., 285, 342 Gier 31, 341 Glaube 9, 26–28, 83, 87, 101, 133, 136, 145, 156, 160–165, 169, 189–192, 197f., 212– 214, 227, 251, 262, 282–290, 312, 335, 344 Gnade 27, 58, 69, 72, 86, 91, 107, 131, 140, 142–147, 160, 163, 172, 214, 292, 312, 337 Gottebenbildlichkeit 323 Gottesdienst 130, 135, 142, 158, 161, 164, 185, 222, 231, 240, 247, 253, 259–262, 278, 288–290, 299, 317, 328–330, 338, 345 Handschrift 32, 35, 50–52, 80–83, 88, 92f., 116, 129–131, 170 Heiden 25f., 28, 37, 55, 87 Hermeneutik 7, 127, 165, 221, 249, 255, 264, 267, 290, 307 Herz 70, 87, 143, 145, 192, 248, 250, 259, 282, 284–286, 343 Hierarchie 18f., 26, 32, 58, 141, 167, 182f., 187, 190, 199, 203f., 231f., 298 Hoffnung 86, 108, 136, 144, 287, 289, 308, 312f., 338 Homiletik 9–12, 20, 56, 92, 130, 133f., 157, 161–164, 173, 181–205, 209, 238–270, 292, 300–306, 326–330, 332f. Homiliar 28, 31, 35, 37, 50 Homilie 37, 39, 50, 65f., 140 Hunger 37, 286, 308, 318, 341–344 Institution 19, 38, 48, 54, 99, 131, 166, 188, 209, 214, 220, 232, 306, 320, 325f. Irrlehre / Ketzerei 29, 84, 139
Sachregister
Judentum 86f., 112f., 123, 214, 262f., 265, 281, 289f., 292, 311, 318, 321, 337 Katechese 53, 82, 135, 162, 193, 283 Katholizismus 10f., 15, 18, 28, 55, 155, 164f., 170–173, 205, 242, 260, 288, 301, 310, 358 Kirche 9, 16–20, 25, 27–31, 38f., 45–48, 57, 59–62, 72, 107f., 114f., 124, 139–141, 148, 169–173, 212–214, 222, 224f., 232, 241–246, 249–253, 256, 260f., 264, 277– 292, 298–312, 317–329, 336f., 339, 345 – Ekklesiologie 161, 230, 249, 256, 330 – Evangelische Kirche 7, 11, 213, 238, 240f., 258, 260, 264, 280, 291, 317, 325– 327, 329 – Kirchenjahr 56, 92, 172, 331, 346–348 – Kirchenlied 309 – Kirchlichkeit 187, 305 – Reichskirche 16, 47, 54, 62 – Staatskirche 277, 297, 322 – Volkskirche 301, 320, 325f. Kirchliche Ämter – Abt / Äbtissin 68, 70, 141f., 195, 227, 242 – Bischof / Bischöfin 16, 29–33, 36–38, 45, 48, 54–56, 60–63, 68, 71f., 91, 130, 242, 298, 307, 310, 317, 329, 331, 343 – Erzbischof 37f., 55, 57–59, 67 – Hofprediger 18, 166f., 172, 247 – Kapitular 30f., 33 – Papst 17, 26–29, 38, 48f., 61, 67, 79, 85f., 88, 94, 99–118, 129, 131, 141, 168, 172 – Pfarrer / Pfarrerin 18f., 135, 158, 161, 166–169, 241–244, 252, 256–259, 277, 284, 298f., 302–304, 318, 329–331 – Priester 28, 30, 32, 39, 65f., 108, 140 Kirchliche Strukturen – Bistum 30, 62 – Diözese 27, 29f., 32f. – Gemeinde 37f., 64f., 100, 126, 134, 141, 143, 148, 157f., 161f., 186, 191, 201–203, 210, 213, 231, 242–244, 257, 259, 261, 267, 282, 297–310, 337 – Kirchenprovinz 28, 30, 54
Sachregister
– Kloster 30, 37, 48, 53, 67, 71, 81, 141, 246 – Konsistorium 17, 99f., 102–104, 112, 117f., 243, 245 – Konzil 17, 99, 130, 132, 139, 160, 171, 173, 223 – Mönchtum, s. auch Ordensgemeinschaften 17, 27, 30f., 35–37, 48, 53, 67, 71, 79–86, 90–94, 131, 138–141, 246 – Parochie 63f., 66, 71 – Synode 35, 38, 297, 336 Kreuz 68–70, 86f., 282, 309, 313, 319 Krieg 18, 20, 103, 164–170, 173f., 209–211, 219, 227, 258–268, 280–284, 287f., 291, 307–310, 318, 341 Leid 12, 27, 58, 81, 84, 86f., 89f., 101, 106, 128–135, 142–146, 159, 166, 168, 171, 186, 205, 218, 248, 266, 286f., 306–308, 317, 341 Liebe 89, 136, 145f., 213, 218, 221, 225–227, 253, 255, 262, 265f., 283f., 287f., 335 Luthertum 9, 11, 18, 124, 157–159, 161, 164–168, 170, 181, 238, 299 Macht 17, 27, 33, 36–38, 54, 58–60, 63, 69, 84–86, 99, 103–118, 174, 181–185, 197, 226, 248, 253, 259, 265, 281, 284f., 309– 312, 333f., 336 Medien 14, 17, 19, 34, 54, 79, 82, 92, 174, 181, 187, 200f., 254, 257, 259, 263, 267– 269, 302, 332 Medizin 140, 343 Menschheit 219, 223, 279 Mission 15f., 25, 27f., 30, 33, 36, 38, 55, 72, 241, 244, 252f., 280, 287 Moral 16, 19, 25, 31–39, 101, 132f., 143, 163, 182–188, 192, 195, 198–204, 210, 213–217, 222, 226, 231f., 278f., 281, 309, 323f., 335, 337f., 342 Mystik 83, 142, 229, 279, 305 Nächstenliebe 250, 253, 297, 337, 345 Nation 20, 32, 59, 110, 129, 188, 209–211, 218–226, 230, 232, 237, 240f., 246, 257– 269, 283, 287, 289, 298, 301, 309, 320, 323
365 Natur 87, 142, 191, 197, 219, 225, 278, 323, 337, 340 Naturrecht 279 Not 250, 278, 280, 286, 308, 336, 341, 344 Offenbarung 146, 190f. Öffentlichkeit 13, 19, 67, 69, 126, 159, 161, 181–187, 202, 204f., 211–214, 239, 245, 250, 254, 263, 268f., 317, 321f., 325–330, 332f., 345 Ordensgemeinschaften – Benediktiner 53 – Cluniazenser 48, 53 – Dominikaner 80, 84f., 90, 94, 102, 104, 109, 147 – Franziskaner 17, 83–85, 90, 93f., 130, 147 – Zisterzienser 48f., 53, 64, 67 Pluralität 12, 49, 100, 127–133, 148, 187f., 257–259, 265, 268, 292, 301, 303, 317, 320, 325–329, 345f. Politische Ämter – Fürst 26, 54, 67f., 70, 87, 89, 93f., 107f., 116, 160, 167, 181 – Graf 34, 62, 68, 87, 144, 209f., 268, 319– 321 – Herzog 29, 68 – Kaiser 20, 31–34, 36f., 45, 47f., 54, 57– 59, 61–63, 91, 93, 101, 103–105, 107, 109– 118, 141, 243, 245, 252, 258–260, 264f., 277, 298f. – Kanzler 108, 193 – König 16f., 26, 30f., 33, 36–38, 45, 47f., 54–62, 68–70, 89–91, 94, 101–103, 105– 108, 110–118, 170, 184, 189f., 209, 259, 321, 343 – Kurfürst 102, 107, 158 – Minister 85, 181, 318 Politische Theologie 156, 300, 326, 330, 332, 340f. Prophet 37, 143, 212, 222, 238, 255, 328 Protestantismus 133, 135, 155–158, 162, 164f., 167–173, 187–189, 193, 200, 204f., 210f., 214, 218, 240–244, 257f., 260, 264,
366 277, 288f., 292, 301, 319, 322, 325–327, 329, 339 Recht 31, 33f., 38, 59, 93, 101, 108, 114f., 140, 171, 173f., 181, 183, 188–190, 197f., 209, 212, 214, 221, 227, 231, 242, 248, 262, 265, 279, 285, 289, 299, 304, 324, 340 Reich Gottes 213, 219, 227f., 231, 244, 308, 340, 343 Religionskritik 190, 323f. Revolution 19, 181, 184, 209, 228, 238, 247, 277–279, 328, 330 Rhetorik 35, 101, 103–105, 117f., 123–125, 131, 193f., 200, 202, 215, 247–250, 253, 255, 257, 303, 332 Säkularisierung 148, 299–301, 320–323 Satan 20, 87, 284f., 309 Schuld 20, 59, 69, 86, 139, 286f., 307–311 Seelsorge 17, 80, 93f., 130f., 138, 144, 146, 243, 298 Soteriologie 230, 251 Staat 16, 19, 25–27, 45, 47f., 80, 101, 126, 141, 158, 166, 170, 181–185, 196–199, 202–205, 209, 213f., 218f., 222, 224f.,
Sachregister
231f., 240f., 258, 263, 277, 279, 287f., 298, 320–322, 324f., 340 Tod 11, 28, 45, 60–62, 88, 140, 142, 146, 170, 184, 212, 282–284, 286, 310, 332, 344 Toleranz 9, 169, 297, 320, 322, 328, 340 Ungläubige
27, 87, 169, 251
Verantwortung 47, 57f., 169, 189, 194, 197, 200f., 218, 222, 251, 325, 328 Vergebung 20, 59, 146, 309, 312f., 337 Verheißung 288, 308, 312, 343 Versöhnung 146f., 309, 337 Wirtschaft 125, 181, 286, 289, 291f., 298, 338, 341f. Wissenschaft 11, 72, 111, 113, 127, 142, 181, 183, 190, 215f., 232, 261, 279, 302, 333, 357 Wohlstand 311, 341 Wunder 280, 292, 342 Zweifel 60, 69, 136, 196, 202, 283f., 309 Zwei-Reiche-Lehre 115, 173
Bibelstellenregister
a) Altes Testament Genesis 1,16 99, 106, 110, 114f. 14,18 114 Exodus 2,1–4 156 7,8–14 261 16,2–3 331 16,11–18 331 17,8–14 262 20,2–3 162 33,12–15 20, 310 1. Samuel 2,10 116 1. Könige 1,20 112, 116 1,35 113 1. Chronik 22,11 116 Psalmen 46,2–12 261 67,29–30 108 116,15 142 119 291 138,16 107
Kohelet 7,11 222 Jesaja 5,8 254f. 40,31 281, 285, 287 Jeremia 1,10 107f., 110, 115 18,1–11 261 Ezechiel 37,22 114 Daniel 2 163 2,32–33 113f. 2,41–42 113f. 9,4–19 261f. Hosea 8,4 114 Joel 2,12
143
Jesus Sirach 3,27 143 b) Neues Testament Matthäusevangelium 3,10 142
368 7,15 158 11,2–6 261, 263 15,21–28 265 22 282 Markusevangelium 6,30–44 343 12,17 61 Lukasevangelium 6,17–21 307 9,10–17 341 10,38–42 60 11,17 37 16,19–31 248 24,13–35 335 Johannesevangelium 2,1–12 228 3,16 335, 345 6,1–15 331 6,30–35 331, 335 6,68 228 7,28–29 347f. 11,47–53 280 14,6 228 15 225 21,1–14 159f. Apostelgeschichte 1,15–26 290 2,41a.42–47 331, 336f. Römerbrief 8,31 288
Bibelstellenregister
10,17 9 14,10–12 69 1. Korintherbrief 14,34f. 161 2. Korintherbrief 4,8 261 5,10 69 Galaterbrief 1,8–9 107, 109 3,28 265 Epheserbrief 2,19 223 4 161 Philipperbrief 2,1–4 331, 335 Titusbrief 2,11–14 337, 347f. Hebräerbrief 10,25 223 13,4 162 1. Petrusbrief 3 159 Offenbarung des Johannes 2,10 282 3,15 169