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German Pages [291] Year 2010
Martin Lengwiler
Praxisbuch Geschichte Einführung in die historischen Methoden
orell füssli Verlag AG I
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Martin Lengwiler (1965) ist Professor nir Neuere allgerneine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel und forscht zu Aspekten der Europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
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© 2011 Orell Füssli Verlag AG, Zürich
www.ofv.ch Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabel,len, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervidfältigung :~üf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen: bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfaltigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig. Umschlaggestaltung: Atelier Rückert, Stuttgart Umschlagillustration: Bau der mittleren neuen Rheinbrücke, Basel (1903), Signatur AL 45, 1-45-2, Staatsarchiv Basel Druck: fgb • freiburger graphische betriebe, Freiburg ISBN 978-3-8252-3393-8
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/I dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt Vorwort ......................................... 7 Einleitung: Weshalb eine Einführung in die historischen Methoden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.
Konzeptphase 1. Jenseits des Archivkults: Suchstrategien im Archiv. . 28 2. Fallstudie oder Stichprobe? Regeln der historischen Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
II. Recherchen und Analyse 3. Im Schatten des Historismus: Die Quellenkritik und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4. Stimmen der Vergangenheit: Oral History als Zugang zu münrllichen Quellen . . . . . . . . . . . . . . 102 5. Ein Bild sagt mehr ... : Visual History und historische Bildanalyse ...................... 130 6. Zahlen als Argument: Quantifizierende Methoden in der historischen Forschung ................ 153 7. Typisieren und vergleichen: Ansätze der historischen Komparatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 8. Streit um Jahreszahlen: Sinn und Unsinn historischer Periodisierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 205
lll. Schreiben und Präsentieren 9. Der Weg zum Text: Schreiben, Präsentieren, Publizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 10. E-History: Historische Methoden im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
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PraxisbuCh Gesc~ichte
Anhang Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie (nach Kapiteln) . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis ...................... Register ................................
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Vorwort Die Geschichtswissenschaften sind ein methodisch und theoretisch ziemlich undiszipliniertes Fach. Sie frönen einem ungezügelten Methoden- und Theorienpluralismus, bedienen diesen mit ausgiebigen Streifzügen durch die sozial- und geisteswissenschaftlichen NachbarÜicher und besitzen zudem einen Hang zum going native, indem sie konzeptuelle Fragen gerne von den Begebenheiten der Empirie abhängig machen. Dies sind keine guten Vorzeichen für eine EinfUhrung in die historische Methodenlehre. Trotzdem schien mir der Versuch, ein Lehrbuch ausschließlich methodologischen Fragen zu widmen, lohnenswert. Denn die historische Methodenlehre hat sich in den !erzten Jahren sehr dynamisch entwickelt. Die Geschichte ist heute nicht mehr nur das Fach der Quellenkritik und der I sucht man in der Fachliteratur vergeblich. Auch die vielzitierten «Lehren aus der Geschichte>> ziehen Historikerinnen und Historiker meist nur mit Vorbehalt. Nicht mal einen einigermaßen verbindlichen Methodenkanon kann die Historie anbieten. Vielmehr gilt die Regel, dass das Fach zu komplexen Erklärungsansätzen neigt und einem ausgeprägten Methodenpluralismus frönt- dies im Gegensatz zu stärker fmmalisierten Sozialwissenschaften wie den Politikwissenschaften oder der Soziologie. Immerhin steht die Geschichte mit diesem diffusen methodisch-theoretischen Profil nicht alleine. Vergleichbares lässt sich auch über andere Geistes- und Kulturwissenschaften wie die Ethnologie oder die Kulturanthropologie sagen. Oieses wenig verbindliche methodologische Profil hängt mit den Eigenheiten des historischen Untersuchungsgegenstandes den Phänomenen der Vergangenheit - und den erkenntnistheoretischen Besonderheiten der Geschichtswissenschaften zusammen. Der deutsche Historiker Thomas Welskopp (*1961) hat darauf hingewiesen, dass die Geschichte sich erkenntnistheoretisch in verschiedener Hinsicht von anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet. 2 Erstens ist der Untersuchungsgegenstand der Geschichte einzigartig- und zwar im wörtlichen Sinne. Vergaugene Ereignisse lassen sich nicht wiederholen oder replizieren, wie dies beim naturwissenschaftlichen
Im Folgenden nach: Welskopp, Thomas, Erklären, begründen, theoretisch begreifen, in: Goertz, Hans-Jürgen (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek: Rowohlt 2007,5.137-177, hier$.141-145.
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Praxisbuch Geschichte
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Fragmentierte Überlieferung, nur indirekte Anschauung
Experiment oder beim soziologischen Interview üblich ist. Historische Ereignisse und Prozesse sind singuläre Phänomene. Die Geschichte wiederholt sich nicht, auch wenn dies im 19. Jahrhundert in philosophischen Schrili:en bisweilen postuliert wurde. Daraus folgt die zweite erkenntnistheoretische Eigenheit der Geschichtswissenschaft. Historische Ereignisse und Prozesse lassen sich nur indirekt, über die Interpretation von Quellen und Überlieferungen, vergegenwärtigen und untersuchen. Eine direkte empirische Anschauung ist der Geschichte - im Unterschied zu den meisten anderen Sozial- und Geisteswissenschaften -verwehrt. Kommt hinzu, dass die historische Überlieferung oft lückenhaft und fragmentarisch ist. Die medizinische Forschung beispielsweise hat sich in den letzt> - einem Standardwerk zum Verständnis geschichtswissenschaftlicher Schlüsselbegriffe - sucht man vergeblich nach dem Begriff > ln derselben Vorrede grenzte sich Ranke auch von der politisierten Geschichtsschreibung der Aufklärung ab: «Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blas zeigen, wie es ei-
~
~
gentlieh gewesen.» 18 Rankes Kredo, dass sich abstrakte Erkenntnisse nur aus der Anschauung konkreter historischer Begebenheiten ableiten las-
Ranke, Leopold von, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 3. Auflage, Leipzig: Duncker & Humblot, 1885, Vorrede zur Erst-
ausgabe, S. Vllf.
2. fallstudieoder Stichprobe? Regeln
der·histOris~hen
Kasuistik
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sen, hatte Konsequenzen auf sein eigenes theoretisches Schaffen. Er verzichtete darauf, seine theoretischen Ausführungen in einem selbstständigen Werk zusammenzuführen. Sie finden sich vielmehr zerstreut in seinen empirischen Studien, meist als Teil der Vorreden. Erst mit Droysens «Historik» (1868) erhielt das Fach eine erste konsistente theoretische Begründung, die auf dem Ansatz der Quellenkritik besteht. Unter dem Einfluss des Deutschen Idealismus galten im Historismus Ideen als die zentra· len Triebkräfte der historischen Entwicklung und die Politik als die wichtigste Plattform für die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen. Der Historismus privile· gierte deshalb die Ansätze der Ideen- und der Politikgeschichte, insbesondere der Diplomatiegeschichte (vgl. weiterführend Ka· pitel 3.
L
Im Schatten des Historismus: Die Quellenkritik und ihre
Grenzen).
Eine neue Antwort auf die Frage nach der Exemplarität eines Fallstudien-Ansätze Fallbeispiels boten erst die quantifizierenden, statistischen An- in Kliometrie und Mikrogeschichte sätze, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst in der französischen, später auch der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft auszubreiten begannen. Diese frühen kliometrischen Studien versuchten, einen statistischen Gesamtüberblick - eine . 19 Zwar hat sich die Mikrohistorie intensiv um eine Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene bemüht, im Un-
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Zitiert nach: Schlumbohm, Jürgen, Mikrogeschichte- Makrogeschichte. Zur Eröffnung einer Debatte, in: ders. (Hg.). Mikrogeschichte- Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen: Wallstein-Verlag, 1998, S. 7-32, hier 5. 28.
2.. Fa-llstudie_ oder Stichprobe? Regeln der historis(;hen 1\.asu:istf~
terschied etwa zur Alltagsgeschichte (vgl. Mikrohistorie). Doch geschah dies vor allem in qualitativer Weise. Oie Grundannahme war, dass die Eigenheiten einer Gesellschaft oder einer Zivilisation sich am besten im ldeinräumigen Kontext einer Lokalität,
einer Familie oder einer lebensweltlich-individualistischen Perspektive rekonstruieren lassen - ganz nach dem Grundsatz, dass
die Mikrohistorie nicht Dörfer, sondern in Dörfern untersuche. Oie örtliche Mikro- und die allgemeinhistorische Makroebene wurden gleichsam kurzgeschlossen. Regionale oder nationale Besonderheiten, wie sie etwa in Vergleichsuntersuchungen zum
Vorschein treten, wurden in mikrohistorischer Perspektive eher unterbewertet. Mikrohistorie
Die Mikrohistorie entstand in den 1980er-Jahren in Abwendung von der sozialhistorischen Strukturgeschichte, die sich vornehmlich für makrohistorische Prozesse Interessierte. Im Gegensatz
dazu favorisierte die Mikrohistorie die Analyse historischer Mikrokontexte, etwa von dörflichen Milieus oder biografischen Einzelstudien. Die Mikrogeschichte sieht sich selbst nicht in einem Gegensatz zur Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte, sondern verfolgt den Anspruch, die empirischen Detailaufnahmen mit größeren historischen Zusammenhängen und Prozessen zu verbinden. Mi-
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krohistorische Studien haben sich im deutschsprachigen Raum
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unter anderem 1n der Forschung zum Nationalsozialismus, 1n der
Geschichte der Frühen Neuzeit und jener der frühen Industrialisierung (Protoindustrialisierung) einen Namen gemacht. '"
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Halten wir als Zwischenbilanz fest: Die Geschichtswissenschaften haben sich in ihren eigenen methodisch-theoretischen Debatten bis in die 1980er-Jahre kaum mit dem Instrumentarium der Fallstudienanalyse auseinandergesetzt. Danach behalf sich die historische Forschung heute für Fragen der Fallstudienauswahl
'63,
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1. Konzeptp_hase
mit Anleihen aus den Sozialwissenschaften. Dort blickt die Fallstudienanalysebereits auf eine lange Geschichte zurück. Sie reicht zurück in die Zwischenkriegszeit, als die Soziologie ethnografischaften sche Ansätze zu verwenden begann und dafür den Begriff der case study verwendete. Zu den ersten, wegweisenden Fallstudien gehören die 1932 erschienene Österreichische Studie zu den «Arbeitslosen von Marienthah von Marie Jahoda (1907-2001), Paul Lazarsfeld (1901-1976) und Hans Zeisel (1905-1992) oder die 1943 publizierte amerikanische Untersuchung «Street Corner Society>> von William Foote Wbyre (1914-2000)- beide Studien beruhten auf der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Diese frühen sozialwissenschaftliehen Fallstudienanalysen waren noch ganz qualitativen Ansätzen verpflichtet. Weil sie jeweils Einzelfalle untersuchten, kümmerten sie sich kaum darum, deren Repräsentativität zu begründen. . Die ersten statistischen Stichprobenverfahren, sogenannte Samplingrechniken, verbreiteten sich ebenfalls in der Zwischenkriegszeit, zunächst in der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung. Diese Verfahren erlaubten, eine Vielzahl von Fallstudien, gewichtet nach vorgegebenen Gesichtspunkten, zu untersuchen. Obwohl methodologisch innovativ, war die Marktund Meinungsforschung wegen ihrer Praxisnähe in den akademischen Sozialwissenschaften wenig angesehen und wurde deshalb kaum beachtet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Stichprobenverfahren in der empirischen Sozialforschung zunehmende Verwendung. 20 Vermittelt durch die empirischen Sozialwissenschaften fanden Samplingtechniken seit den 1980er-Jahren den Weg in die Geschichtswissenschaften. Dies ging einher mit dem Aufstieg statistischer Ansätze in verschiedenen Feldern der historischen
Fa llstudienana Iysen in den Sozialwissen~
Herbst, Susan, Polling in Politics and lndustry, in: Porter, Theodore M., Ross,
Dorothy (Hg.), The Modern Social Sciences, The Cambridge History of Sciences, volume 7, Cambridge: University of Cambridge Press, S. 577-590
2. -rall.51:udie oder StichprObe? Regeln :der'historisChe_rl K~suisi:ik
Forschung, vor allem im angelsächsischen Raum. Beispiele dafür sind die quantitative Sozialgeschichte, die historische Demografie oder die Neue Wirtschaftsgeschichte (New Economic History). In diesen Bereichen haben die Geschichtswissenschafteil zum ersten Mal statistische Stichprobenverfallren verwendet. Seither haben sich diese Ansätze auch in anderen Forschungsfeldern ausgebreitet, etwa in der medizin- oder psychiatriehistorischen Forschung, aber auch in kollektivbiografischen Studien. In jüngster Zeit hat sich in den Geschichtswissenschafteil gar eine Debatte um die Fallstudienanalyse konstituiert - ein untrügliches Zeichen, dass sich die Methode endgültig in der historischen Forschung etabliert hat (vgl. Literaturhinweise am Schluss des Kapitels). Exemplarische Strategien zur Auswahl von Fallstudien: die Einzelfallstudie
Die folgendenAbschnitte präsentieren wie angekündigt drei Formen der Fallstudienanalyse, die für die aktuelle historische Forschung exemplarisch sind: die Einzelfallstudie, die analytische Stichprobe und die statistische, zufallsbasierte Stichprobe. Zunächst zur Einzelfallstudie. Sie ist bis heute die meistverbreitete Form der Fallstudienanalyse und besitzt deshalb eine Sonderstellung. Ob es sich nun um eine biografische oder eine gruppenspezifische Studie handelt, ob sie sich um die Geschichte einer Lokalität, einer Region oder eines Staates dreht, ob nun ein Netzwerk, eine Vereinigung oder eine Behörde im Mittelpunkt steht- in der Regel untersuchen historische Forschungsvorhaben meist ein singuläres FallbeispieL Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Strategien zur Auswahl der Fallstudie unterscheiden. An erster Stelle steht die exemplarische Analyse. Hier wird die Fallstudie als Exempel eines generalisierten Ganzen oder einer abstralcten Norm untersucht. In besonders zugespitzter Form trifft dies auf die erwähnte Mikrohistorie zu (vgl. Mikrohistorie, S. 63).
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~ Könzeptphase
Allerdings ist nicht jede Monografie gleich auch eine Fallstudie. Um diesem Anspruch zu genügen, muss eine Studie explizit und differenziert begründen, weshalb der untersuchte Fall exemplarisch und repräsentativ für ein bestimmtes übergeordnetes historisches Phänomen sein soll. Bei einem historischenVergleich drängt es sich auf, einen gemeinsamen, abstrakten Vergleichshorizont zu benennen. Bei einer Einzelfallstudie ist dies nicht zwingend der Fall: Man kann ein Dorf untersuchen, ohne sich über die allgemeine Bedeutung des Gegenstands Gedanken zu machen- dann handelt es sich um einen Beitrag zu einer isolierten Lokalgeschichte und nicht um eine Fallstudienana!yse. Nicht umsonst gilt die Einzelfallstudie in den Sozialwissenschaften als analytisch unbefriedigend beziehungsweise als bloße Vorstudie einer wissenschaftlichen Arbeit. Diese kritische Position ist allerdings auch in den qualitativen Sdzialwissenschaften heftig umstritten.
Die zweite Form der Einzelfallstudie verfolgt ein entgegengesetztes analytisches Anliegen. Hier wird im Sinne einer Ex-negativa-Analyse ein besonders atypisches oder anormales Fallbeispiel ausgewählt, um damit die Normalitätsannahmen der Forschung aus einer Devianzperspektive zu beleuchten und sie dadurch kritisch auf ihre Tragfahigkeit zu überprüfen. Ein Großteil der historischen Kriminalitätsforschung oder der Psychiatriegeschichte ist nach diesem Muster gestrickt. Analytische Stichproben zur Fallstudienauswahl
Im Unterschied zur Einzelfallstudie geht es bei den anderen Ansätzen nicht um ein einzelnes, sondern um mehrere Fallbeispiele. Dabei lassen sich je nach der Art und Weise, wie die Fallbeispiele ausgewählt werden, zwei unterschieclliche Typen von Fallstudien unterscheiden. Beim ersten Ansatz beruht die Auswalhl auf qualitativen Kriterien; man kann von einer analytischen Stichprobe sprechen. Der zweite Ansatz nutzt statistische Verfahren, insbesondere die Zufallsstichprobe, um die untersuchten Fälle auszuwählen.
:2. Fallstudie oder Stichprobe? Regeln der historisct)en ~asuistil{:
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Das bekannteste Beispiel einer analytischen Fallauswahl ist Idealtypische Falldie Idealtypenanalyse von Max Weber (1864-1920). Hier wird auswahl nach Max Weber ein empirisches Untersuchungsfeld in verschiedene Idealtypen unterteilt. Dabei werden die Idealtypen aus zwei Perspektiven definiert. Sie gründen einerseits auf dem empirischen Untersuchungsfeld, dessen Gegenstände gleichsam bottom-up zu Idealtypen zugespitzt werden. Andererseits werden Idealtypen zugleich aus verwendeten theoretischen Annahmen oder Modellen abgeleitet. Weber bezeichnet in diesem Sinne etwa Begriffe wie «>, ,,Merkantilismus» oder "Kapitalismus'' als Idealtypen. Grundsätzlich kann sich eine Untersuchung auch nur auf einen einzelnen Idealtypus beziehen -in diesem Sinne eignet sich der Webersehe Ansatz auch für die Einzelfallstudie. Sein volles Potenzial entfaltet er aber bei mehreren Fallbeispielen. Ein illustratives Beispiel ist die vergleichende Sozialstaatsgeschichte. Nach einem einflussreichen Modell des dänischen Politikwissenschaftlers G0sta Esping-Andersen (*1947) werden auch in der historischen Forschung die Sozialstaaten in unterschiedliche Kategorien eingeteilt: in liberale, konservative und sozialdemokratische Sozialstaaten. Diese Kategorisierung hat idealtypi· sehen Charakter. Sie beruht einerseits auf theoretischen Annahmen zur sozialen Reichweite und dem Leistungsniveau sozialer Sicherungssysteme, andererseits auf den empirisch bedeutsamen Unterschieden zwischen verschiedenen nationalen Sozialstaatsmodellen.21 Eine solche Idealtypenanalyse dient zwei Erkenntniszielen. Sie schärft einerseits den Blick auf die Empirie und kann zu einem besseren Verständnis des Untersuchungsfeldes beitragen. Andererseits kann die Definition der Idealtypen kritisch mit dem empirischen Gegenstand verglichen und je nach Widersprüchen weiterentwickelt werden (vgl. weiterfUhrend
Vgl. zur Debatte um Esping-Andersens Modell: Lessenich, Stephan, Ostner, llona (Hg.), Weiten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt am Main: Campus, 1998.
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I. KonzeptPhase
zur Idealtypenanalyse: Der Idealtypus als klassische Typologie und Vorform des Vergleichs, S. 178). Analytische VerfahDie Typenbildung ist nur ein Beispiel unter vielen für die ren zur Fallstudienanalytischen Verfahren zur Auswahl von Fallstudien. Es gibt eine auswahl Reihe von analytischen Ordnungskriterien, die nicht einer typisierenden Logik gehorchen und die ebenfalls zur Auswahl repräsentativer Stichproben genutzt werden können. Dazu gehören etwa soziale, kulturelle, geografische, generationeUe oder geschlechtsspezifische Kriterien, aber auch eine Auswahl nach relevanten zeitgenössischen Akteuren, historisch bedeutsamen Stichjahren oder exemplarischen Quellen beständen. Im Grunde bildet jeder historische Vergleich, zumindest wenn die Vergleichsanordnung von einem übergeordneten Erkenntnisinteresse ausgeht, eine Form der analytischen FallstudieJpnalyse. Da der historische Vergleich jedoch methodisch als eigenständiger Ansatz gilt und nicht als Teilbereich der Fallstudienanalyse, wird er in einem eigenen Kapitel besprochen (vgl. Kapitel 7. Typisieren und verglei-
chen: Ansätze der historischen Komparatistik). Analytische Stichprobenverfahren besitzen auch pralcrische Vorteile. Die Methode ist recht flexibel anwendbar, indem die analytischen Kriterien je nach empirischem Zugang und Unrersuchungsgegenstand unterschiedlich definiert werden können. Dies ist gerade in der historischen Forschung von großem Vorteil. So können analytische Auswahlkriterien die Selektions- und Ordnungspral> sei (vgl. «Wie es eigentlich gewesen", S. 60). Noch in einem weiteren Punkt hat Ranke die Weichen ftir die Ideen als Triebkräfte · kl ung d er G eschich tswissensc h aft en geste 11 t. der Geschichte th eoretisch e E ntwtc Als Anhät;ger des deutschen Idealismus räumte er Ideen eine besondere Bedeutung für die historische Enrwicldung ein. Ideen und ideale bildeten nach Ranke jene Faktoren, die die Geschichte zu einem einheitlichen Gefüge zusammenbringen. Die einzelnen Ereignisse mochten noch so disparat sein - die Ideen bilden bei Ranke den alles verbindenden Kitt der Weltgeschichte. Im Anschluss an Ranke hat diese Position dazu geführt, dass Ideen in der Geschichtswissenschaft lange für zentrale Triebkräfte der gesellschaftlichen Enrwicldnng gehalten wurden und andere Faktoren, etwa ökonomische oder soziale Einflüsse, nebensächlich schienen. Die ideengeschichtliche Orientierung verstärkte auch die Privilegierung der politischen Sphäre, die als große Bühne der weltanschaulichen Auseinandersetzungen galt. Ranke begründete mit anderen Worten den zumindest im 19. Jahrhundert dominierenden Primat der Ideen- und der Politikgeschichte gegenüber anderen Ansätzen wie erwa der Sozial-, der Winschafts- oder der Kulturgeschichte.
II. Retherchen und Analyse
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Kanonisierung der Quellenkritik nach 1850
Eine wichtige Erweiterung erfuhr die Quellenkritik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies war die Zeit, in der die Naturwissenschaften, etwa die Physik oder die Physiologie, zunehmend als Motor des medizinisch-technischen Fortschritts galten und ihr Renommee einen beispiellosen Aufstieg erlebte. Die experimentellen, quantifizierenden und analytischen Methoden der Naturwissenschaften galten auch in den Geisteswissenschaften als das Maß aller Dinge. Entweder man orientierte sich am naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff, oder man grenzte sich davon ab. Ein einflussreicher Exponent dieser Position war der franzö-
sische Philosoph und Begründer der Soziologie Auguste Comte (1798-1857). Er prägte in den 1830er-Jahren den Begriff des Positivismus, mit dem er ein nicht-sp,ekulatives, ausschließlich an empirischen, «positiven» Fakten oder beweisbaren Gesetzen orientiertes Erkenntnisinteresse bezeichnete. Dieser Ansatz, der sich am naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff orientierte, war als
Hermeneutik als identitätsstiftende
. Methode der Geschichtswissenschaften
disziplinenübergreifende Erkenntnistheorie formttliert und galt somit auch für sozial- und geisteswissenschaftliche Studien. Die deutschsprachigen Geschichtswissenschaften reagierten auf solche naturwissenschaftlich inspirierten Erkenntnistheorien mit großer Skepsis. Die Geschichte wurde nicht in naturwissenschaftlicher Nähe, sondern umgekehrt in Opposition zu analytischen oder positivistischen Ansätzen positioniert. Wie stark der methodologische und kulturelle Graben zwischen Geistesund Naturwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts war, lässt sich etwa an Wtlhelm Diltheys Wissenschaftsphilosophie ablesen. Seine Polarisierung in verstehende Geistes- und erklärende Naturwissenschaften machte aus der Hermeneutik eine identitätsstiftende Methode für die Geisteswissenschaften. Diese' methodologische Ausrichtung erwies sich als folgenschwere Weichenstellung. Denn nun blieb das Verhältnis zwischen hermeneutischer Geschichtswissenschaft und den analytisch ori-
3.Jm Schatten' des HistorismuS:' Die QUellenkritik 1,md, ihre Gr€nze;n
entierten Fächern, zu denen nicht nur die Natur-, sondern zu-
nehmend auch die Sozialwissenschaften zählten, auf absehbare Zeit angespannt (vgl. Kapitel2. Fallstudie oder Stichprobe! Regeln der historischen Kasuistik). Die Quellenkritik, die sich inzwischen als zentrale historische Methode etabliert hatte, konnte von der Polarisierung zwischen .Geisteswissenschaften auf der einen und Natur- oder Sozialwissenschaften auf der anderen Seite nur profitieren. Exemplarisch sind die Arbeiten von Johann Gustav Droysen (1808-1884). Droysen arbeitete in den 1850er-Jahren an einer umfassenden theoretischen Begründung der Geschichtswissenschaften, deren Ergebnisse er 1858 als «Grnndriss der Historik» veröffentlichte. Den Kern des knappen Textes bildete eine systematische Theorie Johann Gustav der Quellenkritik. Droysen bemängelte an Ranke, dass dieser die Droysen (7 808- J884) Quellenkritik zwar empirisch praktiziert, aber nie theoretisch auf den Punkt gebracht hätte. Außerdem warf er seinem Kollegen vor, die Quellenkritik auf eine Methode reduziert zu haben, die nur die Echtheit der Quellen verifizieren würde, dabei aber die Ebene der Quelleninterpretation sträflich vernachlässigte - ein polemischer und unzutreffender Vorwurf, der Rankes theoretische Erkenntnisse schlicht ausblendete. 25 Droysen entwarf dagegen ein dreistufiges Verfahren der Quellenkritik: Den ersten Schritt bezeichnete er als Heuristik, den zweiten als Kritik, der dritte bestand in der Interpretation (vgl. Quellenkritik nach Droysen, S. 84). 26 Droysen stand ähnlich wie Ranke in der Tradition idealistischer nnd ideenhistorischer Ansätze. Der Wirkungsmacht der Ideen standen die historischen Umstände entgegen, zu denen Müller, Philipp, Understanding History: Hermeneutics and Source-criticism in Historical Scholarship, in: Dobson, Miriam, Ziemann, Benjamin (Hg.), Reading Primary Sources: the Interpretation of Texts from Nineteenth- and Twentieth-century History, Milton Park: Routledge, 2009, s. 21-36, h'1er S. 21. FOr die folgenden Ausführungen: Droysen, Johann Gustav, Grundriss der Historik, Leipzig: Veit, 1868, S. 13-22.
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R~cherchen und Analyse
Droysen räumliche, zeitliche, aber auch technologische Gegebenheiten zählte, die alle den ideellen und individuellen Handlungsspielraum begrenzten. Die Vorgehensweise beim Interpretieren bestand nach Droysen darin, Hypothesen zu formulieren, diese am Quellenmaterial zu testen und durch Analogieschlüsse und vergleichende Ausführungen zn bewerten. Vor diesem Hintergrund war historische Forschung für Droysen auch eine ethische, staatsbürgerliche Handlung. Letztlich zielte sie darauf, die Freiheit des menschlichen Willens, die Verantwortlichkeit des Incüviduums, generell auch die Bedeutung der «sittlichen» Ideen und Werte für die historische Entwicklung hervorzuheben. Im Unterschied zu Ranke sah Droysen die Geschichte als Fortschrittsprozess, in dessen Folge sich individuelle Handlungsspielräume vermehrten untl sittlich-ethische Prinzipien sich ausbreiteten.27 Quellenkritik nach Droysen Droysens Modell der Quellenkritik basiert auf einem dreistufigen Verfahren und unterscheidet die Ebenen der Heuristik, der Kritik und der Interpretation. Was ist damit gemeint? Unter Heuristik verstand Droysen die Technik, jene Quellenmaterialien zu beschaffen, mit denen die gewählte Fragestellung am besten zu beantworten war - die «Arbeit unter der Erde>>, wie er sich in Anlehnung an Niebuhr ausdrückte." Dabei unterschied er verschiedene Quellentypen, je nach ihrem Dokumentencharakter (materielle oder textliche Quellen) und nach der Absicht, die hinter deren Entstehung stand (Dokumentation, Erinnerung an die Vergangenheit, historische Interpretation etc.). Die kunst der Heuristik bestand nach Droysen darin, Lücken in der Quellenüberlieferung durch Einbezug ergänzender Quellen oder durch Analo-
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Müller, Understanding History, 5. 26-29. Droysen, Historik, S. 13.
3. Im -$chatten des Historismu~: Die Quelfenki"itik und ihre GrenZen-:
gieschfosse zu schließen. Der zweite Schritt, die K~itik und damit der eigentliche Kern der Quellenkritik, diente nach Droysen dazu, die Aussagekraft der Quellen zu überprüfen. Urn den Authentizitätsgrad einer Quelle zu bestimmen, war zuerst einmal die Echt~
heil der Quellen sicherzustellen, dann der Entstehungszeitpunkt und die Überlieferung - mit etwaigen Tradierungsfehlern - zu rekonstruieren und schließlich die Nähe des Quellenautors zum dargestellten Gegenstand, auch seine Intentionen, zu klären. Als letzter und wichtigster Schritt folgte die Interpretation. Sie situiert die historischen Ereignisse, wie sie sich in den Quellen darbieten, im breiteren historischen Kontext und fragt beispielsweise nach dem Handlungsspielraum von Individuen oder Ideen in bestimmten Kontexten.
Relativierung der hermeneutischen Quellenkritik im 20. Jahrhundert
Um 1900 erlebte die Geschichtswissenschaft einen folgenreichen methodisch-theoretischen Umbruch, der auch die Bedeutung der hermeneutischen Quellenkritik fundamental in Frage stellte. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war, dass sich die Geschichte gegenüber den neuen analytischen Sozialwissenschaften öffnete und deren methodische und theoretische Instrumentarien für die historische Forschung zu nutzen begann (zum analytischen Zugang vgl. Die analytische Perspektive- eine praxisorientierte Definition, S. 94). Die Diltheysche Grenze zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften wurde dadurch überschritten und verwischt. Insbesondere ließ sich die historische Forschung von den Ansätzen der jungen Soziologie und der Nationalökonomie, aber auch der Psychologie, der Geografie oder der Archäologie inspirieren. Entsprechende Entwicldungen setzten bereits vor dem Ersten Weltkrieg unabhängig voneinander in verschiedenen Ländern ein. Im deutschsprachigen Raum wurden innovative Zugänge vor allem in der Agrargeschichte und
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II. Recherchen und Analyse
der Kulturgeschichte (etwa im Umfeld des Leipziger Historikers Karl Lamprecht, 1856-1915), in der Zwischenkriegszeit zudem in der Wirtschafts- ttnd Sozialgeschichte vorangetrieben. Im englischsprachigen Raum ging vor allem die amerikanische Geschichtsschreibung voran, etwa mit den soziologisch und geografisch inspirierten Arbeiten von Frederick Jadesou Turner (1861-1932). Die methodologischen Innovationen verdichteten sich in der Innovatives Quellenverständnis der Zwischenkriegszeit in der französischen Schule der Annales, beAnnales-Bewegung nannt nach ihrer 1929 begründeten Zeitschrift. Deren erste Generation, insbesondere Mare Bloch (1886-1944) und Luden Febvre (1878-1956), schlug bei der Quellenanalyse neue Wege ein und rückte eine Vielzahl neuer Quellengattungen ins Visier der historischen Forschung. Dies hatte mit dem theoretischen Vorhaben der Annales-Bewegung ztitun, einen breiten, synthetisierenden Ansatz zu verfolgen. Die sogenannte histoire totale beabsichtigte, die schnelllebigen Ereignisse der politischen Geschichte in dielängerfristigensozialen, kulturellen, demografischen und geografischen Veränderungen einzubetten. Damit gerieten materielle Quellen wie Siedlungsstrukturen und archäologische Befunde, quantitative Quellen wie Tauf- und Familienregister oder Volkszählungs- und andere demografische Daten bis hin zu Wirtschafts- und sozialhistorischen Quellen vermehrt ins Blickfeld. Was im 19. Jahrhundert noch unbeachtet geblieben war oder den historischen Hilfswissenschaften überl~ssen wurde, etablierte sich in der Annales-Bewegung als zentraler Gegenstand innovativer Forschung. Entsprechend erschloss die Bewegung auch neue Archivbestände, die weit über die zentralstaatlichen Behördenarchive hinausreichten, darunter insbesondere lokale oder kommunale Archive. 2 9
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Zur Annales-Schule und ihrer internationalen Rezeption: Middell, Matthias, Sammler, Steffen (Hg.), > oder «objektives>> Bild der Realität, sondern konstruieren selbst eine bestimmtes Bild der Realität, indem sie bestimmte Begebenheiten als glaubwürdig, andere als unglaubwürdig oder fiktiv darstellen. Dies geschieht in der Regel mit dem Instrument der Sprache, kann sich aber auch in anderen Medien, etwa bildhaften Ausdrucksformen, äußern. Abstrakt formuliert: Geschichte beruht auf Handlungen und Deutungen historischer Akteure, die sich dafür von sprachlich :: konstruierten und sprachlich vermittelten Wahrnehmungsmustern leiten lassen. Wer menschliches Handeln verstehen will, muss sich deshalb mit den Regeln und der Logik sprachli!;her Bedeu-
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3. Im Schatten des Historismus: Die Quel'lenkritik und ihre Grenzen
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tungssysteme auseinandersetzen. Dies bedeutet nicht, dass es keine historische Realität gibt oder dass die historische Forschung sich nicht um eine objektive Darstellung bemühen sollte. Es heißt einfach, dass die Geschichtswissenschaften -wie überhaupt die Geistes- und Sozialwissenschaften- über keinen direkten Zugang
zum Untersuchungsgegenstand verfügen. Sie können ihn nur in einer sprachlich vermittelten Form rekonstruieren. Diese theoretischen Erkenntnisse haben auch methodologische Folgen. in den letzten Jahren hat sich insbesondere die Diskursanalyse als privilegierte Methode etabliert, um sprachliche Bedeutungssysteme zu analysieren. Oft dreht sie sich um die Frage, weshalb bestimmte gesellschaftliche Wissensformen sich etablieren konnten, während andere ausgeblendet und margina-
lisiert wurden. Auch die historische Veränderung von Wissensbeständen ist Gegenstand der Diskursanalyse. Je nachdem, wie der Begriff des Diskurses definiert wird, sind die analytischen Akzente unterschiedlich gesetzt. Im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) wird der Diskursbegriff häufig herrschaftstheoretisch begründet, als ein System von Normen, das dem menschlichen Handeln innere und äußere Zwänge auferlegt. Der Diskursbegriff des deutschen Philosophen Jürgen Habermas (* 1929) dagegen betont stärker die kommunikationstheoretischen Aspekte, etwa die Möglichkeit. individuell am öffentlichen Diskurs mitzuwirken und damit die kollektive Meinungsbildung argumentativ zu beeinflussen (vgl. Literaturhinweise am Kapitelschluss). Die sprachanalytischen Ansätze haben viel gemein mit kulturhistorischen Ansätzen, die in den letzten Jahren einen ähnlichen Aufstieg erlebten. in der Geschichte haben sich kulturhistorische Ansätze vor allem in Abgrenzung von der Sozialgeschichte und ihren Vorstellungen gesellschaftlicher Strukturen (etwa der Bevölkerungs- oder der Klassenstruktur) definiert. Während die Sozialgeschichte soziales Handeln und gesellschaftliche Entwicklungen im Wesentlichen auf das interessengeleitete Verhalten sozialer Grup-
Michel Foucau/t {1926-1984)
II. Recherchen Und Analyse
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pen, Schichten oder Klassen zurückführte, hob die Kulturgeschichte stärker die Bedeutung subjektiver Wahrnehmungsperspektiven und alltäglicher Verhaltensmuster sowie den Einfluss gesellschaftlicher Normen- und Wertesysteme hervor.
In methodologischer Hinsicht hat die kulturhistorische Wende und die Renaissance sprachanalytischer Ansätze zu einer Versöhnung zwischen hermeneutischen und analytischen Ansätzen geführt. Die neuere Forschung ist sich einig, dass die Geschichte nicht darum herumkommt, beides zu nutzen: hermeneutische wie analytische Ansä~ze. 30 Die Hermeneutik ist unverzichtbar, weil historische Akteure sich primär sprachlich äußerten und historische Quellen in der Regel verschriftlichte Inhalte besitzen, die man am besten hermeneutisch entschlüsselt. Gleichzeitig darf man das Potenzial analytischer Ansätze nicht unterschätzen. So hat etwa die Sozialgeschichte erfolgreich gezeigt, dass die Geschichte eine theoretisierbare Disziplin ist und die Theorieorientierung auch einen Erkenntnisgewinn verspricht. Auch wenn historische Phänomene nicht im naturwissenschaftlichen Sinn gesetzmäßig ablaufen, lassen sich gleichwohl Regelmäßigleeiren historischer Entwicklungen identifizieren und diese unter analytischen Gesichtspunkten erforschen. Deduktiv oder induktiv? Zum Verhältnis von Fragestellung und Quellenanalyse
In der sozialwissenschaftliehen Forschung sind die Einzelschritie einer Untersuchung klar gegliedert. Am Anfang steht eine Fragestellung, danach folgt die Datenerhebung, schließlich die Analyse · der Daten und die Diskussion der Ergebnisse. Das Verhältnis von Fragestellung und Datenanalyse ist klar: Zuerst wird die Frage30
Im Folgenden nach der exemplarischen Argumentation von Thornas Welskopp in: Welskopp, Erklären, begründen, theoretisch begreifen, S. 164ft"~
3.-!tn Schatten des Historismus: Die Quellenkritik und ihre Grenzen
stellung geklärt, davon abgeleitet erfolgt die Auswertung der Daten. Man spricht von einer deduktiven Vorgehensweise, bei der zuerst die abstrakte Fragestellung definiert und in einem zweiten Schritt die Empirie untersucht wird - dies im Unterschied zur induktiven Methode, die bei der Empirie ansetzt und durch Generalisierungen zu allgemeinen Schlussfolgerungen gelangt. In der Geschichtswissenschaft ist die Sache nicht so einfach. Weder eine rein deduktive noch eine rein induktive Vorgehensweise passt zu den Eigenheiten des historischen Quellenmaterials. Um es vorwegzunehmen: Fragestellung und Quellenanalyse müssen in der historischen Forschung nicht nacheinander, son-
dern parallel in gegenseitigem Dialog entwickelt und präzisiert werden. Hinter dieser Vorgehensweise verbirgt sich ein erkenntnistheoretisches Grundproblem der historischen Forschung. Anders als die Sozialwissenschaften können sich die Geschichtswissenschaften ihre Datengrundlage oder ihren Quellenbestand im Forschungsprozess nicht selbst kreieren. Eine Soziologin kann ihre Interviews nach Maßgabe ihrer Fragestellung gestalten; ein Ethnologe kann in sein Untersuchungsfeld eintreten und so lange darin verweilen, bis sein Blick das gesuchte Phänomen gefunden hat. Historikerinnen und Historiker dagegen sind mit einem gegebenen Quellenkorpus konfrontiert, den sie nicht einfach aus eigener Hand vermehren können. Weist die Überlieferung Lücken auf, dann bleibt der historischen Forschung nur, sich mit den erhaltenen Aktenbeständen abzufinden. Dass die historische Überlieferung endlich und oft lückenhaft ist, hat wichtige Folgen für das Verhältnis von Fragestellung und Quellenanalyse im Forschungsprozess. Deduktiv von einer vorgegebenen Fragestellung auszugehen und die Analyse davon abhängig zu machen kann in der historischen Forschung in einer Sackgasse enden. Denn weist die Überlieferung substanzielle Lücken auf, dann zielt die Fragestellung mitunter ins Leere. Mit diesem Problem sehen sich die Altertumsgeschichte und die Mediävistik, in denen die Quellen oft nur fragmentarisch überliefert
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Verbindung von induktiven und
deduktiven Ansätzen in der historischen Forschung
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II. Recherchen und Ana!ys~
sind, häufig konfrontiert. Aber auch Neuzeithistorikerinnen und -historiker kennen vergleichbare Sorgen, insbesondere wenn sie sich mit den vielzitierten «Verlierern)) beschäftigen, die oft keine Geschichte zu haben scheinen, weil ihre Überlieferung von den siegreichen Akteuren unterbunden oder marginalisiert· wurde.
Exemplarisch dafür ist etwa die Kolonialgeschichte, in der die Perspektive der Kolonialherren ungleich besser dokumentiert ist als jene der kolonialen Untertanen. Je nach firmenspezifischer Archivierungspraxis ist auch die Unternehmensgeschichte mit vergleichbaren Schwierigkeiten konfrontiert. In alldiesen Fällen muss die Fragestellung zunächst provisorisch formuliert und an einem Ausschnitt aus dem Quellenmaterial durchgespielt werden. Wenn sich dann zeigt, dass die Quellen kaum Antworten auf die Fragestellung bereithalten beziehungsweise dass die Fragen in eine Richtung zielen, in der kein Quellenmaterial vorhanden ist, dann bleibt nichts anderes, als die Fragestellung den Quellen anzupassen, das Untersuchungsfeld zu ändern oder- bei zeithistorischen Themen - auf mündliche Quellen auszuweichen (vgl. Kapitel 4. Stimmen der Vergangenheit: Oral History als Zugang zu mündlichen Quellen). Sollte man in dieser Situation vielleicht den Spieß umdrehen und die Fragestellung von der Quellenbasis aus formulieren beziehungsweise das Forschungsprojekt von der Datengrundlage Innovatives Potenzial her angehen? Auf den ersten Blick scheint einiges für diesen inneuer Quellen- duktiven Weg zu sprechen. Viele geschichtswissenschaftliehe gattungen Innovationen gingen in den letzten Jahrzehnten ,von neuen Quellengattungen aus. Dies trifft etwa für die Frauen- und Geschlechtergeschichte zu, die einer anfangs skeptischen Historikerzunft zeigen konnte, dass es durchaus große und aussagekräftige Quellenbestände zu weiblichen Lebensumständen und Wahrnehmungsperspektiven gibt. Anch die Alltags- und Mikrogeschichte hat sich durch bislang wenig untersuchte Dokumente profiliert. Hier gingen neue Erkenntnisse von lebensweltlichen oder biografischen Quellen («Ego-Quellen>> wie Tagebücher,
3. Im
S~hatten
des Historismus: Qie Quellenkritik und.ihre Grenzen
93
BriefWechsel etc.) aus. Gleiches gilt für die Osteuropa-Forschung zur Zeit des Kalten Krieges. Nachdem 1989 die osteuropäischen Archive neu zugänglich wurden, begann eine ganze Generation von Historikerinnen und Historikern, die Geschichte staatssozialistischer Diktaturen neu zu erforschen. Unbearbeitete Quellenbestände bieten also durchaus ein Notwendigkeit einer hohes Potenzial für neue Erkenntnisse. Trotzdem führt ein aus- analytischen Frage~ Stellung schließlich induktiver Forschungsansatz in die Irre. Neue Quellen liefern nämlich noch keine Garantie für innovative Forschungsergebnisse, auch wenn diese Erwartung manch quellenorientierte Studie motiviert haben mag. Das Bild der «Quelle» führt in diesem Punkt in die Irre. Historische Quellen sprudeln nichtvon alleine, sie sprechen nicht einfach für sich. 31 Man muss schon die richtigen Fragen an sie richten. Diese aber lassen sich nicht aus den Quellen alleine ableiten, sondern beruhen auf abstrakten, generalisierenden Hypothesen und Modellen. Solche analytischen Fragen erschließen sich beispielsweise aus dem Forschungsstand, aus aktuellen Begriffsdebatten oder aus theoretischen Ansätzen, mit denen sich das Quellenmaterial aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten lässt (vgl. auch Die analytische Perspektive - eine praxisorientierte Definition, S. 94). Die analytisch-theoretische Perspektivierung ist auch deshalb wichtig, weil die Forschung zu gut dokumentierten Gegenständen des 19. und 20. Jahrhunderts oft mit einem Übermaß an Quellen konfrontiert ist. Sich auf einen relevanten Quellenausschnitt zu beschränken, kann über Erfolg oder Misserfolg eines Forschungsprojekts entscheiden.
31
Budde, Gunilla, Quellen, Quellen, Quellen, in: dies. et al., Geschichte. StudiumWissenschaft- Beruf, S. 52-69, hier 5. 54.
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II. Recherchen und Analyse
analyt_ische Perspektive -eine praxisorientierte
Definition Wer am Anfang eines Forschungsvorhabens steht, tut sich oft
schwer damit, die analytisch bedeutenden Dimensionen seines Untersuchungsgegenstandes zu benennen. Häufig steh\ beim · Projektbeginn das empirische Thema im Vordergrund und nicht die analytisch geleitete Fragestellung. ln dieser Situation den Schritt vom empirischen Gegenstand zu den passenden und bedeutsamen analytischen Themen zu machen fällt bisweilen nicht einfach. Der amerikanische Soziologe Howard Becker schlägt zur Lösung dieses Problems einen klugen und simplen Trick vor. Um vom Untersuchungsgegenstand zu abstrahieren und gleichzeitig die geeigneten analytischen Problem~iellungen zu definieren, soll man sich nach Becker die Aufgabe stellen, das Thema der eigenen Arbeit zu erzählen, ohne den empirischen Gegenstand konkret zu benennen. 32 Zur Illustration: Wer eine Arbeit über die Harnburger Punk-Szene in den 1980er-Jahren schreibt, sollte nach Becker sein Thema und seine Problemstellung so formulieren, dass er weder
die Begriffe «Hamburg», «Punb>, noch irgeFldwelche Namen von Auftrittslokalen oder Musikgruppen erwähnt Dieses Vorgehen zwingt einen automatisch, sein Forschungsprojekt in abstrakten, analytischen Begriffen zu erläutern. Im Fallbeispiel könnte die analytische Fragestellung des Projekts darin bestehen, das Verhältnis von Jugendkulturen und politischen Protestformen in einer städtischen Gesellschaft der 1980er-Jahre zu untersuchen.
Somit gilt beides: Keine Quellenanalyse ohne Fragestellung und keine Fragestellung ohne Kenntnis der Quellensituation. Fragestellung und Quellenanalyse müssen in der Geschichtswissenschaft in gegenseitiger Abstimmung entwickelt werden, beide Becker, Tricks of the Trade, 126f.
1. Im_ Schatten des Historismus: Die Quellenkritik Und ihre GrenZen--
95
sind voneinander abhängig. Konkret empfiehlt es sich, zunächst eine abstrakt-analytische Fragestellung probehalber zu formulieren und diese dann an einem exemplarischen Teil des Quellenbestandes auszutesten. Je nachdem, wie gut sich die Frage an den Quellen beantworten lässt, muss anschließend entweder an der Fragestellung gefeilt oder die Quellenauswahl angepasst werden. Dieser Abstimmungsprozess kann sich durchaus bis in die Phase der Niederschrift einer wissenschaftlichen Arbeit hinziehen. Meist läuft das Verfahren darauf hinaus, dass Fragestellung und Hypothesenbildung schrittweise eingeengt werden. Quellen haben also in der historischen Forschung einen völlig Historische For~ anderen Status als in den Sozialwissenschaften. Sie sind nicht ein- schung und «Veto~ recht der Quellen» fach passives Material, das nur darauf wartet, ausgewertet zu wer- (Rein hart Koselleck) den, sondern greifen kreativ in die Definition der Untersuchungsanordnung ein. In diesem Sinne sprach der deutsche Historiker Reinhart Kaselleck (1923-2006) vom «Vetorecht der Quellen>>. Damit meinte er, dass historische Argumentationen sich zwar von der empirischen Ebene der Quellenaussagen loslösen und sich mit abstrakten, analytischen Fragestellungen beschäftigen müssen. Trotzdem dürfe der Quellenbezug nicht verloren gehen. Er bildet für Kaselleck ein Korrektiv der analytischen Argumentation. «Strenggenommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir (Historikerinnen und Historiker, A.d.V) sagen sollen. Wohl aber hindert sie unsl Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.( ... ) Quellen schützen uns vor lrrtümern nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.>> 33 1
Koselleck, Rein hart, Standortbindung und Zeitlichkeit, Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Weit, in: Koselleck, Reinhart (Hg.), Vergangene Zukunft: Zur Ser:nantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 204f.~ vgl. auch: Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichten, Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 71
96
!!,-Recherchen und Analyse
Quellenkritik in Einzelschritten
Was ist überhaupt eine historische Quelle? Grundsätzlich können alle Dokumente und Objekte, die einen geschichtswissenschaftlieh bedeutenden Aussagewert haben, als Quellen genutzt werden. Gericl1tsakten im Archiv, Tagebücher und Fotoalben in Privatbesitz, Publikationen wie Tageszeitungen oder Sachbücher, aber auch materielle Objekte wie Straßenschilder, Wohnungseinrichtungen oder Nahrungsmittel- sie alle zählen zu den historischen Quellen. Diese Quellenvielfalt lässt sich nach materiellen und epochalen Kriterien ordn~n. Materiell unterscheidet man schriftliche und nicht-schriftliche Quellen wie etwa Münzen, Siegel, aber auch Siedlungsstrukturen oder Denkmalbauten. Bei den schriftlichen Quellen werden gewöhnlich die veröffentlichten von den unveröffentlichten Quellen auseinandergehalten, wobei zu beachten ist, dass Archivquellen nicht zwangsläufig unveröffentlicht sein müssen, sondern vielfach in gedruckten Quelleneditionen zugänglich sind (vgl. Quelleneditionen, S. 97). Quellen findet man heute an sehr unterschiedlichen Orten. Fundorte von Quellen Für viele Arbeiten ist der traditionelle Gang ins Archiv nach wie vor aktuell. Nur ein Bruchteil der Archivalien sind in gedruckter oder digitalisierter Form in Bibliotheken oder auf dem Internet zugänglich. Es lohnt sich, bei der archivalischen Quellensuche das Gespräch mit Archivarinnen und Archivaren zu suchen. Sie verfügen über den besten Überblick über den Archivbestand und können zudem auf neu hinzugekommene und noch unausgewertete
Akten hinweisen. Gedruckte Quellen findet man am besten in Bibliotheken oder Dokumentationsstellen. Auch das Internet bietet sich in steigendem Maße als Instrument der Quellensuche an; die Menge an digitalisierten Quellenbeständen nimmt zurzeit rasant zu (vgl. Kapitel 10. E-History: Historische Methoden im digitalen Zeitalter). Für eine fundierte historische Untersuchung empfiehlt es sich, nicht nur einen spezifischen Quellentypus zu nutzen, sondern auf möglichst verschiedene Quellengattungen zurückzugreifen. Dies eröffnet unterschiedliche Sichtweisen auf
3. Im Schatten des Historismus: Die Quellenkritik und ihre GrenZen
den Untersuchungsgegenstand und ergänzt damit die oft beschränkten Einzelperspektiven."' Quelleneditionen MON\1\H:NTA
Quelleneditionen gehörten zu den frühesten wissenschaftli-
CERMANlAJ~
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Geschichtswissenschaft im frü-
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hen 19. Jahrhundert. Eines der
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Histo~
rica (MGH). Begründet 1819 UIPI.OMA'l'Hl IMI'ERII T 0,11 \ H I
vom preußischen Reformer Karl Freiherr vom Stein war das Anliegen der MGH, bedeutende mittelalterliche Dokumente der
Deutschen Geschichte zu publizieren und der Forschung zugänglich zu machen. Die MGH werden bis heute weitergeführt und sind zu größten Teil in digitalisierter Form online einsehbar (www.mgh. de). Die MGH sind nach Quellentypen in fünf Abteilungen gegliedert. Die Trägerschaft der MGH gibt zudem die Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe heraus, in der Quellensammlungen nach zeitlichen und inhaltlichen.Gesichtspunkten zusammengestellt und in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Neben epochenorientierten Editionen existieren auch zahlrei~
ehe Sammlungen bestimmter Quellengattungen, insbesondere der Parlamentsdebatten und wichtiger Dokumente der Außenpolitik. Beispiele dafür sind etwa die Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen oder die Diplomatischen Dokumente der Schweiz, die zurzeit ebenfalls digitalisiert werden (www.dodis.ch). Daneben existieren zahllose thematische Editionsprojekte. Budde et al., Geschichte, S. 55f.
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JL Recherchen und AnalySe
Zusammenstellungen bedeutender Editions- und Digitalisierungsprojekte finden sich auf den verschiedenen historischen Fachportalen (für Deutschland z.B. www.historicurn.net oder www.clio-online.de; für die Schweiz www.infoclio.ch). Weiterführende Hinweise zu digitalisierten, übers Internet einsehbaren Quellen- und Literaturbeständen finden sich im Kapitel 10. E-
History: Historische Methoden im digitalen Zeitalter. Praktisches Vorge- Wie ist bei der Quellenkritik konkret vorzugehen? Zunächst gilt, hen bei der Quellen- dass es kein allgemein gültiges Standardverfahren gibt. Je nach kritik
Quellengattung drängen sich unterschiedliche quellenkritische Techniken auf. Für die Altertumsgeschichte, teilweise auch für die Mediävistik, existieren quellen bezogene Hilfswissenschaften wie etwa die Epigrafik (lnschriftenkuqde), die Numismatik (Münzkunde) oder die Sphragistik (Siegelkunde). Spezifisch mediävistisch orientiert ist die Heraldik (Wappenkunde). Von epochenübergreifender Bedeutung sind die Diplomatik (Urkundenlehre), die sich vor allem mit formalen Schrift- und Textvergleichen auseinandersetzt, oder die Paläografie, die sich mit der Entzifferung alter Handschriften beschäftigt- eine Aufgabe, die bei einer wackligen Kurrentschrift des 19. Jahrhunderts (die sich heute nur noch geübten Augen erschließt) durchaus schwieriger ausfallen kann als bei der mittelalterlichen Frakturschrift eines kalligrafisch gebildeten Mönchs. Hinzu kommen hilfswissenschafrliche Datierungsmethoden, die unter dem Sammelbegriff der Chronologie zusammengefasst werden und ebenfalls vor allem fiir die Geschichte des Altertums und des Mittelalters von Bedeutung sind. Äußere QuellenBei der Inhaltsanalyse unterscheidet man gewöhnlich zwikritik sehen der äußeren Quellehkritik, bei der die Umstände der Quellenentstehung untersucht werden, und der inneren Quellenkritik, die sich auf die Bedeutung der Quellenaussage bezieht. Die äußere Quellenkritik prüft die Echtheit und Vollständigkeit der Quelle, klärt Indizien Hir inhaltliche Fälschungen, falsche Autorangaben und Überlieferungsvarianten ab und erhel)J den Entste-
3. Im Schatten d,es Klstcirismus: Die QUeJienkritik und ihre Gretizen
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hungskcntext der Quelle und deren Überlieferungsgeschichte. Dieser Entstehungskontext kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen angelegt sein. Man kanri sich mit dem raum-zeitlichen Kontext, das heißt mit Ort und Zeit einer Quellenaussage, beschäftigen. Oder man fragt nach dem medialen Kontext: ob eine Aussage im Rahmen einer journalistischen Publikation, eines aleademischen Diskurses oder einer privaten Email-Korrespondenz getätigt wurde. Weiter lässt sich nach dem institutionellen Umfeld fragen: nach der Organisation, der sozialen Gruppe oder dem gesellschaftlichen Milieu, in dem eine Quelle zu situieren ist. Schließlich gilt es auch den historischen Kontext zu berücksichtigen: die wirtschafts-, sozial- oder kulturhistorische Umstände, die einer Quellenaussage zugrunde liegen. Die innere Quellenkritik beurteilt den Inhalt und den Aussa- Innere Quellenkritik gewert der Quelle - sie bildet den Kern der Quellenanalyse. Sie kann entweder die Quelle als Element eines Kommunikationsprozesses verstehen und nach dem Autor oder der Autotin beziehungsweise dem adressierten Publikum fragen. Wer spricht in der Quelle und mit welchen Motiven und Wertungen? Dieselbe historische Figur kann sich zu demselben Gegenstand unverblümt im vertrauten Kreis äußern, als Behördenmitglied eine offizielle Verlautbarung treffen oder seine Sicht der Dinge in einer Autobiografie zuhanden der Nachwelt niederschreiben. Je nach Intention und Publikum werden die Aussagen unterschiedlich ausfallen und auch jeweils anders zu analysieren sein. Man kann eine Quelle aber auch jenseits der Kommunikationsbeziehung als Teil eines umfassenderen sprachlichen oder diskursiven Bedeutungssystems interpretieren, und dabei etwa auf diskursanalytische Ansätze zurückgreifen (vgl. Cultural turn, linguistic turn, Diskursanalyse, S. 88). In diesem Falle zielt die innere Quellenkritik eher auf die semantische Struktur und die inhaltliche Logik, die einer Aussage einen bestimmten Sinn verleiht. Eine solche sprach- oder diskurstheoretische Perspektive fragt beispielsweise nach den Schlüsselbegriffen der Quelle und deren Bedeutung, nach Metaphern, inhalt-
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11. Recherchen-und Analyse
liehen Polarisierungen, Konstruktionen einer Erzählerfigur, gegebenenfalls nach Objektivierungsstrategien eines Textes (wie etwa quantifizierende Elemente einer Argumentation) und insgesamt nach dem narrativen Bedeutungssystem, in dessen Kontext eine Quellenaussage situiert ist. 35
literaturhinweise Dobson, Miriam, Ziemann, Benjamin (Hg.), Reading Primary Sources: tbe Interpretation of Texts from Nineteenth- and Twentieth-century History, Milton Park: Routledge, 2009 (The Routledge Guides to Using Historical SoUl·ces). Eine der besten aktuellen Einfiihrungen in die Quellenkritik. Umfasst mehrere gute Übersichtsbeiträge und ein knappes Dutzend Spezialartikel zur Quellenkritik von Brieftn, Polizeiakten, Gerichtsakten, Tagebüchern, Tageszeitungen und anderem mehr. Karen Harvey (Hg.), History and Material Culture: a Student's Guide to Approaching Alternative Sources, Milton Park: Routledge, 2009 (The Routledge Guides to Using Historical Sources). Unoerziehtbar für alljene Historikerinnen und Historiker, die sich mit materiellen Quellen (Kleidungsstücke, Gebäude, Konsumprodukte etc.) auseinandersetzen. Das Buch beinhaltet zwei Überblicksartikel und zehn sachbezogene Beiträge. Es ist in derselben Reihe wie der oben zitierte Sammelband von Dobson & Ziemann erschienen. Welskopp, Thomas, Erklären, begründen, theoretisch begreifen, in: Goertz, Hans-Jürgen (Hg.). Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek: Rowohlt, 2007, S. 137-177. Lesenswertes Plädoyer fiir eine Verbindung hermeneutischer und analytischer Ansätze zur Quelleninterpretation. Nach: Ziemann, Benjamin, Dobson, Miriam, tntroduction, in: dies., Reading PrimarySources,S.1-18,hierS.6-14.
?·Im Schatten des Historismus: Die Quellenkriük und if;lre Grenzen
Landwehr, Achim, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main: Campus, 2008. Theoretisch reflektierte und zugleich praxisorientierte EinJühtung in die Diskursanalyse. Sarasin, Philipp, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Aufsatzsammlung mit theoretischen Reflexionen zur Diskursanalyse und illustrativen diskursanalytischen Studien vor allem zur Entwicklung biomedizinischen Wissens. Jaeger, Friedrich, Rüsen, Jörn, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München: Beck, 1992. Das Buch bietet mehr als sein Titel verspricht. Beleuchtet werden nicht nur Genese, Aufitieg und Kritik des Historismus, sondern insgesamt die methodologische Entwicklung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Beck, Ft·iedrich, Henning, Eckart (Hg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einftihrung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln: Böhlau, 2004. Traditionell ver:fosste Einführung in die historischen Hilftwissenschaften und den Umgang mit Archivquellen Mit vielen archivwissenschaftlichen Hinweisen; vor allem auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen ausgerichtet.
101
102
II. Recherchen und Analyse
4. Stimmen der Vergangenheit: Oral History als Zugang zu mündlichen Quellen Die klassischen geschichtswissenschaftliehen Methoden wie die Quellenkritik sind entwickelt worden, um schriftliche Quellen zu analysieren. Für die Interpretation nicht-schriftlicher Quellen eines mündlichen Zeitzeugenberichts, einer Fotoreportage, eines
Pop-Songs oder der gesammelten Artefakte eines Museums-helfen die überlieferten Ansätze der 0eschichtswissenschaften auf den ersten Blick nicht weiter. In d•n letzten Jahrzehnten hat sich die historische Methodenlehre deshalb verstärkt mit der Erschließung und Interpretation nicht-schriftlicher Quellen beschäftigt. Zwei nicht-schriftliche Quellentypen standen dabei im Vordergrund: mündliche Quellen, mit denen sich die Oral History beschäftigt, und Bildquellen, deren sich die Visual History annimmt. Aus diesen innovativen Methoden scheint sich im Moment gar eine neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaften zu entwickeln: eine Mediengeschichte, die sich mit dem Wandel historischer Kommunikationsmedien und der Medialität vergangeuer Epochen beschäftigt. Ihre Gestalt ist allerdings erst in Umrissen zu erkennen. Auch methodologisch sind noch viele Fragen offen. Zu akustischen oder materiellen Quellen verfügen wir noch über keinen historisch differenzierten Zugang. Eine Grundeinsicht zeiChnet sich bereits in der Auseinandersetzung mit mündlichen und bildliehen Quellen ab. Die gute alte Quellenkritik hat auch bei nicht-schriftlichen Quellengattungen keineswegs ausgedient, sondern erweist sich als höchst anpassungsfahiges Instrument. Sie lässt sich sowohl bei mündlichen wie bildliehen Quellen weiterhin verwenden - dies soll in den
4. Stimmen der Vergangenheit: Oral HistOry als Zugang zu mUndliehen Quellen
103
beiden folgenden Kapiteln aufgezeigt werden. Bei mündlichen Quellen, indem diese zunächst verschriftlicht und dann wie normale Textdokumente quellenkritisch analysiert werden. Bei bildliehen Quellen, indem sich die Quellenkritik in eine Bildkritik verwandelt und die Traditionen und Darstellungsmechanismen visueller Botschaften untersucht. Historische Entwicklung und aktuelle Bedeutung der Oral History
Als eigenständige geschichtswissenschaftliehe Methode hat sich die Oral History (sinngemäß ftir: mündliche Überlieferung) seit den !960er-Jahren etabliert. Das bedeutet nicht, dass mündliche Quellen in der früheren historischen Forschung keine Rolle gespielt hätten. Im Gegenteil: Im Alterturn bildete die mündliche Überlieferung geradezu den Grundstein der Geschichtsschreibung. Wegweisende Werke früher antiker Geschichtsschreiber wie etwa Herodors Historien oder Thukydides' Peloponnesischer Krieg beruhten auf mündlichen Quellen. In der außereuropäischen Welt, insbesondere unter den indigenen Bevölkerungen Subsahara-Mrikas, wurde die historische Überlieferung bis ins 20. Jahrhundert mündlich tradiert. Es ist kein Zufall, dass heute die Oral History in der außereuropäischen Geschichte ausgesprochen populär ist, etwa in der Afrikanischen Geschichte, der Geschichte Indiens, ebenso in der Migrationsgeschichte-'6 Auch ip der westlichen Welt galten mündliche Quellen in verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftliehen Disziplinen als einschlägige Forschungsgrundlage, etwa der Ethnologie, der Volkskunde und der Kulturanthropologie. Selbst in der Geschichte nutzten bedeutende Fachvertreter im frühen 19. Jahrhundert das Potenzial mündlicher Quellen. Beispielhaft dafür ist Jules Micheier (1798-1874), der zu den Begründern der franzö36
VgL etwa die Beiträge in: Perks, Robert, Thomson, Alistair (Hg.), The Oral History Reader, Milton Park: Routledge, 2006.
Mündliche Quellen in der historischen Forschung des 19. Jahrhunderts
------------------------------------------------11. Recherchen und Analyse
104
Oral History in der amerikanischen
Geschichtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts
sischen Geschichtswissenschaften zählt und seine siebenbändige Geschichte der französischen Revolution (erschienen 18471853) aufgrund zahlreicher Gespräche mit überlebenden Zeitzeugen der Revolutionsjahre schrieb. Die deutschsprachige Historiografie hat dagegen mit dem Historismus die rnüt1dliche Überlieferung aus dem disziplinären Quellenvorrat weitgehend verbannt. Im Stile einer disziplinären Arbeitsteilung wurden mündliche Quellen an Fächer wie die Volkskunde oder die Ethnologie abgetreten. Die neuere Geschichte der Oral History setzt in den USA während der Großen Depression der 1930er-Jahre einY Zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des New Deals, unter der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts, gehörte ein Beschäftigungsprogramm für arbeitslose Akade~ikerinnen und Akademiker. Teil des Programms war das Federal Writers' Project, ein Forschungs- und Dokumentationsvor haben, das die amerikanische Gesellschaft in ihrer kulturellen Vielfalt abzubilden versuchte Und dafür innovative Forschungsansätze verwendete. Insbesondere wurden eine große Zahl biografisch orientierter Interviews durchgeführt, ein Ansatz, der damals erstmals als Oral History bezeichnet wurde (vgl. Oral History im Federal Writers' Project). Seit den 1930er-Jahren wurden in den USA verschiedene dokumentarische Großprojekte unter Verwendung der Oral History durchgeführt. So beschäftigte etwa die amerikanische Armeeführung während des Zweiten Weltkriegs eine Reihe von Historikern mit der Aufgabe, den Kriegsalltag durch Gespräche mit beteiligten Soldaten - teilweise nur Stunden nach einem Gefechtseinsatz- umfassend zu dokumentieren. In diesem Rahmen wurden mehrere Tausend Gespräche aufi;ezeichnet. In den 1950er-Jahren kamen unternehmenshistorische und regional-
37
Vgl. für die Ausführungen zur Geschichte der Oral History: Sharpless, Rebecca, Histoty of Oral History, in: Charlton, Thomas L. et al. (Hg.), Handbook of Oral
History, Lanham: AltaMira Press, 2006, s. 19-42.
4. Stimm~n derVergahgenheit: Ofal i-listory als Zugang zu mündlichen QUellEin
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oral History im Federal Writers' Project (1935-1943) •
II I
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Mündliche Kulturen: Strassenszene an ei~ nem Sonntagnachmit- · tag in Frank/in (Georgia, USA), aufgenommen im Rahmen des Federal Writers' Project (1941 ).
Das Federal Writers' Project war ein Arbeitsbeschaffungsprogramm der Roosevelt-Regierung, um arbeitslosen Intellektuellen (Historikern, Schriftstellerinnen, Geografen, Sozialanthropologinnen, Fotografen) während der Großen Depression eine Beschäftigung zu ermöglichen. Der Auftrag war, die erinnerte Geschichte der amerikanischen Gesellschaft zu.dokumentieren und damit einen Überblick über die vielfältigen Kulturen der US-Bundesstaaten zu vermitteln. Angestelltwurden insgesamt 6600 Arbeitslose. Sie führten zwischen 1935 und 1943 über 10000 biografische Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durch, unter anderem auch mit ehemaligen Sklaven. Darin wurde deren Lebensweit minutiös dokumentiert Der Vorteil der Interviewtechnik war, dass sie auch die Lebensumstände von Schichten ohne Lese- und Schreibkenntnisse abzubilden vermochte. Das Projekt bezeichnete diesen methodischen Zugang als Oral History und trug viel zur Verbreitung des innovativen Ansatzes bei.
historische Oral-History-Projekte hinzu. Auch das Nationalarchiv nutzte die neue Methode, insbesondere zur Dokumentation
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II. Recherchen und Analyse
des Regierungsallrags verschiedener Präsidenten, so etwa von HarryS. Truman, Dwight D.Eisenhower und Lyndon B.Johnson. Die Popularität der Oral History hatte auch praktische Gründe. Oral History und neue soziale Die Verbreitung kleiner Kassettenrekorder-Geräte machte die Bewegungen neue Methode zu einem preiswerten und handlichen Erhebungsinstrument. In dieser Pionierzeit war die Interviewtechnik meist
simpel und benötigte keine besondere Vorbildung. Die meisten Oral-Hisrory-Befragungen wurden von Laienforschern ohne akademischen Abschluss durchgeftihrt. Dies passte gut zum antielitärenGeist der l960er-Jahre. Die neuen sozialen Bewegungen nahmen die Methode dankbar auf, nicht zuletzt, um ihrer eigenen Geschichte eine Stimme zu verleihen. Oral-History-Projekte wurden erwa zur Erforschung der indigenen Bevölkerungen in den USA lanciert oder fanden in der a(rterikanischen Bürgerrechtsbewegung Verbreitung. Sowohl die Arbeiterbewegung als auch die Frauenbewegung -in den USA wie in Europa- nutzten die neue Methode zur Dokumentation ihrer bislang kaum beachteten Vergangenheit. Die mündliche Geschichtsschreibung wurde zu einem politischen Instrument, von dem sich marginalisierte Gruppen eine identitätsstiftende Wirkung erhofften. Auch politisch aktive al>
5. Ein Bild sagt mehr .. ,: Visuaf History und historische Bildanalyse
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Ge"''l'tn!M .> (1651)
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69
Der Staat als absolute Macht: Titelbild
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Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie, TObingen: Mohr, 1976, S. 834--837; vgl. auch Breuer, Stefan, Bürokratie und Charisma: zur politi;;chen Soziologie Max Webers, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994.
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II. -Recherchen urid Analyse
Die Idealtypenlehre Webers wurde in den Sozialwissenschaften interessanterweise schnell vergessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Soziologie und die Politikwissenschaften stärker mit quantitativen Methoden auseinandergesetzt und den qualitativen Pfad der verstehenden Soziologie verlassen. Erst die Renaissance qualitativer Methoden in den 1990er-Jahren hat dazu geführt, dass der Ansatz der Idealtypenanalyse vor allem in der Soziologie wieder stärker beachtet wurde.7° ldealtypenana Iysen In den Geschichtswissenschaften dagegen erfreute sich das in der historischen Konzept des Idealtypus schon seit den 1970er-Jahren zunehmenForschung der Beliebtheit. Dies gilt insbesondere Hir die deutschsprachige Historiografie. Die Rezeption Max Webers diente der westdeutschen Sozialgeschichte nicht zuletzt dazu, sich von den DDR-Geschichtswissenschaftel\ und ihren marxistischen Theorien abzugrenzen. Angelehnt ~n Max Webers Arbeiten wurden typisierende oder idealtypische Ansätze vor allem zur Analyse staatlicher Herrschafts- und Verwaltungstraditionen verwendet oder in der Zeitgeschichte, im Rahmen der vergleichenden Diktaturforschung, zur Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen moderner Diktaturen. In den letzten Jahren wurde auch der Charismabegriff wieder aufgegriffen, etwa um die Mechanismen des nationalsozialistischen Führerkults und des nationalsozialistischen Herrschaftssystems insgesamt zu erhellen.7 1 Bilanzierend lässt sich festhalten, dass typisierende Ansätze wie die Idealtypenanalyse ein äußerst gewinnbringendes methodisches Instrument sein können. Sie sind vergleichsweise einfach anzuwenden und verfUgen über eine doppelt produktive Wirkung. Einerseits helfen sie, theoretische Überlegungen mit der Empirie in Beziehung zu setzen und damit den UntersuchungsGerhardt.ldealtypus, S. 11-20. Exemplarisch: Wehler, Hans~Uirich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München: C.H. Beck, 2003, S. 675-684; und Kershaw, lan, Hitler 1889-1936, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1998.
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7. Typisieren u!"ld vergleichen: Ans~tzeder historist::hen Ko'mpara~istik
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e enstand in einer neuen Perspektive zu deuten. Andererseits
~i;ten sie die Chance, den theoretischen Ansatz an der Empirie kritisch zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Trotz diesem Potenzial darf man die Risiken und Grenzen Grenzen typisierender Ansätze typologischer Methoden nicht übersehen. Die historische Forschung nutzt die Chancen der Idealtypenanalyse oft nnr beschränkt aus. Ein Problem ist, dass Idealtypen meist nur im Singular untersucht werden. Vergleichende Analysen wie etwa Webers Herrschaftssoziologie sind selten. Damit bleibt ein wichtiges Potenzial ungenutzt. Denn ein einzelner Typus ist nur als Teil einer Typologie aussagekräftig, in Abgrenzung von anderen Typen. Ein Vergleichskontext wirft zwangsläufig Fragen nach den Gründen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vergleichseinheiten auf- ein intellektuell höchst ertragreiches Unternehmen. Konzentriert sich die Forschung nur auf einen Typus und setzt die. Vergleichseinheiten implizit voraus, dann bleibt auch der entsprechende Erkenntnisgewinn aus. Hinzu kommt die Gefahr, dass sich das Forschungsprojekt darauf konzentriert, die definierten Idealtypen auf den Untersuchungsgegenstand anzuwenden, wogegen die Rückspiegelung auf die theoretische Ebene zu kurz kommt. Dabei wird vergessen, dass die theoretische Arbeit zut Definition der Idealtypen nur ein erster Schritt ist, die Theoriearbeit jedoch in der Auseinandersetzung mit der Empirie fortgeführt werden mnss. Geschichte der historischen Komparatistik im 20. Jahrhundert
An sich steht der historische Vergleich dem idealtypischen Zugang methodisch nahe. Jede idealtypische Argumentation ist zumindest implizit vergleichend angelegt. Und viele historische Vergleiche arbeiten mit typisierenden Formulierungen und Begriffen. Trotzdem muss man die beiden Ansätze auseinanderhalten. Der historische Vergleich geht häufig induktiv, von der empirischen Untersuchungsanlage aus und entwickelt darauf
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' II. Rec;herchen un? Analyse
aufbauend ein analytisch-theoretisches Gerüst für die Fragestellung (vgl. Formen des historischen Vergleichs, S. 190). Bei der Idealtypenanalyse ist es gerrau umgekehrt. Hier ist die Vorgehensweise eherdeduktiv angelegt. Im Vordergrund steht die analytische Fragestellung; sie ist am empirischen Material zu überprüfen und zu revidieren. EntstehungsgeDie Entstehungsgeschichte des historischen Vergleichs geht schichte des historiauch nicht von Max Weber aus, obgleich die frühen methodoloschen Vergleichs gischen Reflexionen ebenfalls aus der Zwischenkriegszeit stammen. Mare Bloch, einer der Mitbegründer der französischen Annales-Bewegung, veröffentlichte 1928 einen kurzen Text unter dem Titel «Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften». Darin forderte Bloch, die historische Forschung über die nationalstaatliehen Grenzen hinaus auszudehnen und Ahnllchkeiten der europäischen Gesellschaften _ Bloch selber sprach von , hielt diesen für einen > oder allgemeine Probleme des westlichen Kapitalismus?, in: ders., Politik in der Geschichte: Essays, München: Beck, 1998, S. 78-92, hier S. 91; Wehler, Hans-Uirich, Einleitung, in: ders. (Hg.), Geschichte und Soziologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972, S. 24.
1. Typisieren und vergl~ich"en: Ansä-tze der histOrischen Komparatistik
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s Zitat illustriert die großen Hoffnungen, die iu den neuen . Da Ansatz gesetzt wurden. Der Vergleich sollte den Geschichtswissenschaften eine quasi-naturwissenschaftliche Methode verschaffen- eine gewagte Erwartung, die sich im Rückblick nicht einmal ansatzweise erfüllte. Parallel zum deutschsprachigen Raum etablierten sich kom- Komparatistische Ansätze in der Hisparatistische Ansätze auch in der angelsächsischen Forschung, torica/ Socio/ogy im Schnittfeld von Soziologie und Geschichtswissenschaften. Unter dem Titel der Historical Sociology formierte sich in den USA eine interdisziplinäre Schule, zu der Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaften, der Politikwissenschaften und der Soziologie wie Charles Tilly (1929-2008), Theda Skocpol (*1947) oder später George Steinmetz (*1957) gehören. Der vergleichende Ansatz zählte von Beginn an zum methodologischen Grundinventar der Hzstorical Sociology. Von Seymour Martin Lipset (1922-2006), einem amerikanischen Politikwissenschaftler, stammt der Satz: Wer nur ein Land kennt, kennt kein Land.73 Jenseits der Historical Sociology, die sich vor allem in den USA etablierte, kam die Vergleichsgeschichte in den 70er- und Süer-Jahren nur selten über programmatische Forderungen hinaus. Dies gilt zumindest für den deutschsprachigen Raum. Hier finden sich für diese Zeit nur wenige empirische Vergleichsstudien, darunter die breit angelegte, national vergleichende Studie von Jürgen Kocka (*1941) zur Geschichte des europäischen BürgertumsN Dies änderte sich grundlegend in den 1990er-Jahren. Die Vergleichsgeschichte ist seither nur in der deutschsprachigen, dazu auch in der französischen oder der britischen Historiografie angekommen. Entsprechend dieser nationalen Veranke73
((Those who only know one country, know no country.)) Vgl. etwa: Lipset, Sey-
mour Martin, American Exceptionalism, A double-edged sword, New York: Norton, 1996. 74
Exemplarisch: Kocka, Jürgen (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987.
190
IL Recherchen und Analyse
Das bürgerliche 19. Jahrhundert:
Der Sonntagsspaziergang, gemalt von Carl Spitzweg (1808-1885)
rung standen in der Forschung auch deutsch-französische, deutsch-britische oder transatlantische Vergleichsszenarien im Vordergrund. Die Welle von empirischen Studien war begleitet von einem nachhaltigen Theoretisierungsschub. In theoretischer Perspektive wurden etwa die verschiedenen Formen des historischen Vergleichs oder die Beziehungen der historischen Komparatistik zu sozialwissenschaftliehen Vergleichsansätzen untersucht (vgl. Literaturhinweise am Schluss des Kapitels). Auf diesem Wissensstand beruht das Instrumentarium der heutigen historischen Vergleichsforschung. Formen des historischen Vergleich
Was ist ein historischer Vergleich? Diese Frage lässt sich auf zwei Arten beantworten. Man kann einerseits den historischen vom sozialwissenschaftliehen Vergleich unterscheiden und auf eine Reihe von Eigenheiten der geschichtswissenschaftliehen Korn-
7. Typisieren und vergleichen: Ansä'tz:e der historischen KbmparatJsti~
191
aratistik verweisen? 5 Sozialwissenschaftliche Vergleiche operie~en beispielsweise häufig auf großräumiger oder gar globaler Ebene und umfassen, wenn sie historisch angelegt sind, oft mehrere Epochen. Dagegen tendieren historische Untersuchungen eher zu kleinräumigeren Vergleichen, meist zwischen Staaten oder gar zwischen Regionen. Auch der Untersuchungszeitraum ist meist enger gesteckt und bewegt sich in der Regel innerhalb einer Epoche. Andererseits lassen sich historische Vergleiche nach ihren Unterteilung historiVergleiche Formen und Verfahrensweisen definieren, wobei die historische scher nach inhaltlichen Komparatistik eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze kennt. Kriterien zunächst lässt sich der historische Vergleich nach inhaltlichen Gesichtspunkten kategorisieren. Dies kann sich auf die Geografie des Vergleichsgegenstands beziehen. Die meisten Vergleiche operieren auf einer nationalstaatliehen Ebene. Seltener anzutreffen sind die bisweilen sehr innovativen Regional- oder Städtevergleiche. Ebenfalls selten sind Vergleiche von Staatengruppen, Zivilisationsräumen oder Kontinenten, die unter dem Problem leiden, dass die Binnendifferenzen so großer Räume meist sehr hoch sind, aber bei solchen Vergleichsanordnungen jeweils wenig beachtet werden. Macht es beispielsweise Sinn, Europa mit den USA zu vergleichen, wenn klar ist, dass für die meisten Vergleichsgegenstände die Binnendifferenzen innerhalb der beiden Großregionen deutlich größer sind als die Unterschiede zwischen ihnen? Häufig sind auch lnstiturionenvergleiche, etwa der Vergleich staatlicher Verwaltungsapparate oder sozialer Sicherungssysteme. Schließlich finden sich in der Literatur auch viele gruppenbezogene Vergleiche: Berufsvergleiche, Schichtenvergleiche oder Geschlechtervergleiche, in denen Männer- und Frauenperspektiven vergleichend analysiert werden. Meist sind diese Gruppenvergleiche verbunden
.
75
Für folgende Ausführungen vgl. Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M: Campus, 1999, S. 98-120.
II. Recherchen und Analyse
192
mit einem Nationalstaatsvergleich: etwa bei der vergleichenden Sozialstaatsforschung oder der vergleichenden Analyse sozialer Bewegungen 76
Einzigartig oder vergleichbar? Sklavenarbeit auf einer
britischen Zuckerplantage im karibischen Antigua (um 1823)
Zweitens unterscheiden sich Formen des historischen Vergleichs entlang ihrer Zeitstruktur. Bei einem synchronen Vergleich werden zeitgleiche Vergleichsobjekte untersucht, beim diachronen Vergleich sind die Objekte auf unterschiedliche Zeiträume oder Epochen verteilt. In der historischen Forschung überwiegen die synchronen Vergleiche. Sie fragen etwa danach, wie sich die europäischen Gesellschaften im Ersten Weltkrieg verändert haben oder wie im späten 19. Jahrhundert in verschiedenen Staaten die Sklaverei abgeschafft wurde. Diachrone Vergleiche sind dagegen selten. Diachrone Fragestellungen beschäftigen sich etwa damit, was die Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten 1865 mit jener der Rassensegregation in den Südstaaten in den 1960er-Jahren oder mit dem Ende der Apartheid in Südafrika verbindet und was sie
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Vgl. als exemplarische Studie der Sozialstaatsgeschichte: Lindner, Ulrike, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München: Oldenbourg, 2004.
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7_Typisieren und vergleichen: Ansät;;;e der historis:chen KOmparatistik
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77 Diachron ausgerichtet ist auch die Irnperiumsforschung, tren nt · die sich mit dem Vergleich historischer Reiche- von den rnesopotamischen Imperien der vorchristlichen Zeit bis zum amerikanischen Imperium des 21. Jahrhunderts- beschäftigen. 78 Vielleicht hat die Skepsis der Forschung gegenüber diachronen Vergleichen damit zu tun, dass diese oft auf impliziten Entwicklungsmodellen _Fortschritts- oder Dekadenzmodellen - beruhen. Drittens kann man den Vergleich auch nach seinen methodi- Verfahren des konschen Zielen unterscheiden und dabei drei Anliegen- ein kontex- textualisierenden Vergleichs ruaHsierendes, ein differenzierendes und ein analytisches Ziel auseinanderhalten. Der kontextualisierende Vergleich bettet ein spezifisches Phänomen in einen allgemeinen Zusammenhang ein. Ein solcher Blick auf das historische Umfeld schützt oft vor vorschnellen Verallgemeinerungen des untersuchten Einzelfalls, in dem er die Besonderheiten des Un tersnchnngsgegenstands in einem breiteren Rahmen zum Vorschein treten lässt. Stellt man sein Objekt in einen neuen Kontext, lassen sich etablierte und unhinterfragte Interpretationen bisweilen auf innovative Art revidieren. Ein exemplarischer Fall flir einen solchen Verfremdungseffekt bildet die Europäische Geschichte, die in den letzten Jahren sich von der traditionellen Binnenperspektive gelöst hat und heute meist in globalem Zusammenhang untersucht wird. Als Folge wurden eurozentrierte oder westlich orientierte Deutungs1nodelle vielfach relativiert. Dies gilt etwa für die Modelle der Industrialisierung und der Modernisierung, die früher vor allem im europäischen Kontext formuliert, in den letzten Jahren aber im globalen Rahmen kritisch revidiert wurden. Die eurozentrische Perspek-
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Exemplarisch: Fredrickson, George M., Black Liberation: a Comparative Historyof Black ldeologies in the United States and South Africa, New York: Oxford University Press, 1995. Exemplarisch: Maier, Charles S., Among empires: American Ascendancy and its predecessors, Cambridge MA, Harvard University Press, 2006; vgl. auch: Münkler, Herfried, Imperien: Die Logik der Weltherrschaft- vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin: Rowohlt, 2005
H. Recherchen und Analyse
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tive wurde dabei gleichsam dezentriert. Heute interpretiert die Forschung die Industrialisierung und Modernisierung nicht mehr als singuläre Prozesse der Europäischen Geschichte, sondern Verweist auf ähnliche Entwicklungen in anderen Weltteilen. Verfahren des Im Fall des diffirenzierenden Vergleichs dient der komparatistidifferenzierenden sche Ansatz dazu, das Verständnis des Untersuchung; bezeichnet, beschäftigt sich mit den schnelllebigen Phänomenen der politischen Geschichte und des Alltagslebens. Die längerfristig angelegte «histoire cyclique>> entspricht mehr oder we-
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nigerder Wirtschafts- und Sozialgeschichte; ihr Gegenstand sind die ökonomischen Konjunkturzyklen und die kollektiven EntwickIungen und Umbrüche des Soziallebens. Als dritte Zeitdimension führt Braudei die langfristigen Prozesse - die «Iangue dun2e>> an, zu denen er die klimatischen, geografischen, kulturellen oder auch die biologischen Transformationen der Zivilisationsgeschichte zählt. Im Vergleich zur Ereignisgeschichte oder zur zyklisehen Geschichte sind die Veränderungsprozesse der Iangue duree kaum wahrzunehmen, sie wirken fast schon statisch. Braudei spricht von einem Gefängnis der Iangue duree: «Der Mensch ist Gefangener des Klimas, der Vegetationen, der Tierpopulationen (und) der Kulturen.>> 94
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stellungen ausgeweitet, etwa in den Arbeiten des amerikanischen Historikers und Literaturwissenschaftlers Hayden White (*1928) (zum linguistic turn vgl. S. 88). White analysierte die klassischen
Argumentationsfiguren der Geschichtswissenschaften und ftihrte sie auf typische Erzählformen wie die Einzigartigkeit historischer Akteure, organizistische und teleologische Entwicklungsmodelle und mechanistische Auffassungen über die historischen Prozesse
Braudel, Fernand, Ecrits sur l'histoire, Paris: Flammarion, 1969, 5. 45f., ZitatS. 51: «L'homme est prisonnier de climats, cle vegetations, de populations animales, (et) de cultures (. .. ).>>
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zurück. Auch die Zeitmodelle der Geschichtswissenschaften entpuppten sich damit als gernachte und nicht als vorgegebene Zeitstrukturen. 95 Parallele Zeitlogiken als Grundprinzip von Periodisierungen
Die Periodisierungsmodelle der aktuellen Geschichtswissenschaften scheuen deshalb vor umfassenden oder universalhistorisch gültigen Epochengrenzen oder Zeitmodellen zurück. Sie betonen vielmehr die Komplexität und Vielschichtigkeit sowohl des historischen Wandels wie historischer Zeiterfahrungen und Zeitrechnungen, die sich je nach kulturellem und regionalem Umfeld in gänzlich unterschiedliche Richtungen entwickeln konnten. Nicht nur im Mittelalter, sondern bis ins 19. Jahrhundert hinein kannte die Weltgeschichte neben dem christlich-gregorianischen und dem alten julianischen Kalender auch eine jüdische, eine buddhistische und eine muslimische Zeitrechnung. 96 Exemplarisch für diese neueren··,'.Periodisierungsansätze ist der Versuch des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel (*1952), die Epoche des 19. Jahrhunderts globalhistorisch zu begründen. Osterhammel sieht die Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Kontinuum, sondern verleiht ihr eine nicht-lineare Struktm; die Übergänge und Transformationen statt Kontinuitäten betont und die Vielfalt von Zeitrechnungen hervorhebt, statt sie auf eine allgemeingültige Formel zu reduzieren. Er spricht von flexiblen und durchlässigen «Zeitschichten», die aufeinandergelegt ein heterogenes Gesamtbild ergeben. Jede Periodisierung müsse als Grundprinzip von unterschiedlichen parallelen Zeitlogileen ausgehen. Er strebt zwar weiterhin eine allgemeine Periodisierung des 19. Jahrhunderts an, lehnt aber eindeutige kalendarische Datierungen ab. In der politischen Geschichte Europas endete das 19. Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg, für die
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White, Hayden, Metahistory: die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main: Fischer, 1991 (engl. zuerst 1973). Osterhammel, JOrgen, Die Verwandlung der Weit Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck, 2009, S. 89ff.
B.:Streit um Jclhresz