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German Pages 1440 [4875] Year 2020
Praxis der Urologie Dieter Jocham, Kurt Miller, Maximilian Burger, Mark Schrader Andreas Al Ghazal, Thomas Bschleipfer, F.E.B.U., Matthias Trottmann, Daniel Vergho, Frank vom Dorp, Florian Martin Erich Wagenlehner, Wolfgang Weidner, Manfred Wirth, Wolf-Ingo Worret, Bernd Wullich, Klemens Budde, Stefan Denzinger, Thorsten Diemer, Johannes Dlugosch, Christian Doehn, Kurt Dreikorn, Thomas Enzmann, Martin Fassnacht, Marcel Fiedler, Peter Albers, Margit Fisch, Paolo Fornara, Uwe Frank, Hans-Martin Fritsche, Michael Fröhner, Günter Gerig, Markus Giessing, Bernt Göckel-Beining, Mark Goepel, Francesco Greco, MD, Bruno Allolio †, Hans G. Schiefer †, Bernhard Grubmüller, Jürgen Erich Gschwend, Alfons Gunnemann, Peter Gutjahr, Bernhard Haid, F.E.A.P.U., F.E.B.U., Oliver Hakenberg, Dirk Hellwig, Jochen Heß, Hans Heynemann, Martha Holtfreter, Meinrad Beer, Rolf Hubmann †, Klaus Kapelari, Felix Kawan, Gusztav Kiss, Tobias Klatte, Jan-Thorsten Klein, F.E.B.U., Klaus Kleinschmidt, Sabine Kliesch, Astrid Klinger, Helmut Heinz Knispel, Ekkehardt Bismarck, Thomas Knoll, Arkadius Kocot, Jens W. Köllermann, Walter Krause †, Katharina Kuhlencord, Frank Kunath, Steffen Lebentrau, Herbert Leyh, Bernhard Liedl, Anja Lingnau, Alexander Sascha Brandt, Achim Lusch, Giuseppe Magistro, Matthias May, Nasreldin Mohammed, René Müller-Wille, Matthias Oelke, Falk Ohl, Josef Oswald, Wolfgang Otto, Walter Pauer, Kai Alexander Probst, Chris Protzel, Jens Jochen Rassweiler, Joachim Richter, Silke Riechardt, Hubertus Riedmiller, Stephan Roth, Wolfgang H. Rösch, Herbert Rübben, Iris
Rübben, Peter W. Brühl †, Sebastian C. Schmid, Bernd J. Schmitz-Dräger, Marco J. Schnabel, Martin Schostak, Andreas G. Schreyer, Stefan Schumacher, J. Ullrich Schwarzer, Shahrokh F. Shariat, Armin Soave, ChristophHans Sparwasser, Johannes Bründl, Herbert Sperling, Raimund Stein, Carsten Stephan, Jens-Uwe Stolzenburg, Christa Strasser, Michael Straub, Christian Stroszczynski , Dogu Teber, Joachim Wilhelm Thüroff 4., vollständig überarbeitete Auflage 1340 Abbildungen
Vorwort Die 4. Auflage des Lehrbuchs „Praxis der Urologie“ erscheint 2020 - ein Vierteljahrhundert nach der Erstauflage im Jahr 1993, auf die in 2003 und 2007 zwei weitere Auflagen folgten. Die „Praxis der Urologie“ ist somit bereits seit 25 Jahren der Begleiter der Urologen als deutschsprachiges Standardlehrbuch. Die Verkürzung der Halbwertszeit medizinischen Wissens schreitet auch in der Urologie kontinuierlich fort. Vor diesem Hintergrund steht die Rolle eines klassischen Standardwerks aktuell noch stärker auf dem Prüfstand als in der Vergangenheit. Interessanterweise bejahen die wissenschaftlich-medizinische Community und die Praxis des Tagesgeschäfts die fortbestehende Wertigkeit des klassischen Lehrbuchs als Rahmen überdauernden Fachwissens, in den sich elektronisch abrufbare „Late News“ einfügen lassen. Die 4. Ausgabe unterstützt dieses Zusammenwirken durch einfachen elektronischen Zugriff auf die Inhalte einschließlich der Tabellen und Abbildungen – online in der Wissensplattform eRef und offline in der eRef-App. Die Freischaltung erfolgt über den Zugangscode im vorderen Buchdeckel. Die Zahl der Herausgeber hat sich unter Hinzuziehung zweier jüngerer Kollegen, Maximilian Burger, Regensburg, und Mark Schrader, Berlin, verdoppelt, um den Generationenwechsel einzuleiten. Die beiden bisherigen Herausgeber begrüßen die hinzugekommenen Kollegen auf das Herzlichste und danken für die vielen zukunftsorientierten Anregungen und den enormen persönlichen Einsatz.
Nahezu alle Kapitel wurden komplett überarbeitet, überwiegend durch neue, spezialisierte Autorenteams. Dabei fanden die zahlreichen wegweisenden und z.T. kritisch-konstruktiven Anregungen aus der Leserschaft erneut breite Beachtung. Hierfür sprechen die Herausgeber allen diesbezüglich Aktiven ihren besonderen Dank aus. Der Dank gilt auch allen Autoren – sowohl denen, die ihren Platz altersbedingt zur Verfügung gestellt und dabei doch den Übergang unterstützend begleitet haben, als auch den bisherigen und neuen Experten. Wir danken für die von ihnen geleistete Arbeit, aber auch für ihre überwiegende Termintreue. Als Herausgeber schätzen wir sehr die hervorragende Zusammenarbeit mit dem kompetenten, engagierten, innovativen, konstruktiven und bei Bedarf auch geduldigen Team des Thieme Verlags, das ganz entscheidend zum Erfolg unseres gemeinsamen Projekts, aktuell und bei langer Verlagszugehörigkeit bereits seit vielen Jahren, beigetragen hat. Aus dem Kreis des großen Thieme Teams gilt unser besonderer Dank der Programmplanerin, der Herstellerin und den Projektmanagerinnen, die das Werk betreut haben. Unseren Lesern wünschen wir viel Freude und Erfolg mit der aktuellen „Praxis der Urologie“. Lübeck, Berlin, Regensburg, im Sommer 2020 Dieter Jocham, Kurt Miller, Maximilian Burger, Mark Schrader
Vorwort zur 1. Auflage „Der Arzt, der einen Patienten behandelt, wird seine Therapie nach der Art seiner Ausbildung, seiner persönlichen Erfahrung, den Wünschen des Patienten und seiner eigenen Interpretation der maßgeblichen medizinischen Literatur ausrichten. Den Meinungsverschiedenheiten über den Wert einer Behandlung liegt dabei häufig die Tatsache zugrunde, dass der eigenen Erfahrung mehr vertraut wird als den Ergebnissen klinischer Studien.“ Diese Sätze aus dem Kapitel „Bewertungskriterien der Tumortherapie“ charakterisieren treffend die weitverbreitete Basis ärztlichen Handelns. Die Flut an Fachliteratur und die immer kürzere Halbwertszeit medizinischen Wissens machen einen rationalen Zugang zu den diagnostischen und therapeutischen Problemen in der täglichen Routine immer aufwendiger und schwieriger. Es ist unser Anliegen, den Kollegen in der Weiterbildung ebenso wie den Urologen in der Praxis mit diesem Lehrbuch eine Übersicht über den aktuellen Stand „urologischen Wissens“ zu vermitteln. Dabei wurde versucht, sowohl gesicherte Erkenntnisse als auch offene Fragen und kontroverse Meinungen gleichermaßen darzustellen. Im allgemeinen Teil wurde angestrebt, die Grundlagen urologischer Diagnostik und Therapie unter besonderer Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse von Kollegen in der Weiterbildung zu zeigen. Ziel war es, häufige und bewährte Methoden so praxisnah zu schildern, dass sie direkt in den klinischen Alltag umgesetzt werden können. Die Kapitel „Urologische Implantate“, „Medizintechnik“,
„Allgemeine onkologische Chemotherapie“, „Urologische Rehabilitation“ wurden aufgenommen, weil ihre Kenntnis für die praktische Arbeit des Urologen von Wichtigkeit ist, diese Themen jedoch in den meisten urologischen Lehrbüchern fehlt. Die Urologie hat sich in den letzten Jahren auch „operativ“ immer mehr von ihrem Mutterfach Chirurgie unabhängig gemacht. Dieser Tatsache wurde durch eine breite Darstellung allgemeiner Prinzipien der operativen Medizin Rechnung getragen, wie sie bisher oft nur in chirurgischen Lehrbüchern zu finden war. Im speziellen Teil werden die einzelnen Krankheitsbilder unter den Gesichtspunkten Ätiogenese, Klinik, Diagnostik, Differenzialdiagnose und therapeutische Möglichkeiten diskutiert. Die operativen Verfahren werden im Zusammenhang mit der „zugehörigen“ Erkrankung dargestellt, häufige und wichtige Techniken sind anhand von Schemazeichnungen detailliert erklärt. Diese krankheitsbezogene Interpretation der Operationsverfahren soll eine rasche, synoptische Information vom Symptom bis zur Aufklärung über die Therapie erleichtern. Historische Fakten, seltene und spezielle Verfahren wurden nur in den Grundzügen erwähnt oder so weit berücksichtigt, wie es für das Verständnis der Zusamm4nhänge erforderlich ist. Ob die Zielsetzung des Buches den Erfordernissen der Urologen in Praxis und Klinik entspricht, wird schließlich die hoffentlich angeregte Diskussion mit den Lesern zeigen, zu der wir alle herzlich einladen möchten. Wir bedanken uns bei den Autoren, die mit großem Aufwand ihr Wissen eingebracht haben, stets diskussionsbereit waren und damit die angestrebte praxisnahe Form des Buches ermöglicht haben.
Ganz besonders danken wir dem Thieme Verlag, an seiner Spitze Herrn Dr. h.c. Günther Hauff, für die Anregung zur Herausgabe dieses Buches und insbesondere Frau Dr. Gertrud Volkert für die gute und angenehme Zusammenarbeit sowie die großzügige Ausstattung des Buches. Lübeck/Berlin, im Herbst 1993 Dieter Jocham, Kurt Miller
Inhaltsverzeichnis Titelei Vorwort Vorwort zur 1. Auflage
Teil I Allgemeine UrologieI Urologische Diagnostik 1 Klinische Untersuchung 1.1 Einleitung 1.2 Anamnese 1.2.1 Schmerz 1.2.2 Miktionsstörung 1.2.3 Urin- oder Ejakulatveränderungen 1.2.4 Schmerzlose Veränderungen oder Funktionsstörungen des Genitales 1.3 Körperliche Untersuchung 1.3.1 Nieren 1.3.2 Harnblase 1.3.3 Penis 1.3.4 Skrotum
1.3.5 Digital-rektale Untersuchung (DRU) 1.3.6 Äußeres weibliches Genitale 1.3.7 Urogenitaler Neurostatus 1.4 Weiterführende Literatur
2 Labordiagnostik 2.1 Einleitung 2.2 Präanalytik 2.2.1 Indikationsstellung/Laboranforderung 2.2.2 Probengewinnung 2.3 Urologische Laborroutine 2.3.1 Entzündungsparameter 2.3.2 Nierenwerte 2.3.3 Urinlabor 2.4 Tumormarker in der Urologie 2.4.1 Hodenkarzinom/Hodenseminom 2.4.2 Prostatakarzinom 2.5 Literatur
3 Urinzytologie 3.1 Einleitung 3.2 Warum Urinzytologie? 3.3 Literatur
4 Ultraschall 4.1 Einleitung
4.2 Vorbereitung 4.3 Untersuchungsablauf 4.4 Technische Ausstattung 4.4.1 Schallkopf 4.4.2 Schnittebenen 4.4.3 Ultraschallkontaktgel 4.5 Befunddokumentation 4.6 Niere 4.6.1 Untersuchungstechnik 4.6.2 Sonografisches Erscheinungsbild 4.6.3 Form- und Lageanomalien 4.6.4 Raumforderungen der Niere 4.6.5 Diffuse Parenchymerkrankungen der Niere 4.6.6 Nierentransplantation 4.6.7 Nierenabszesse 4.6.8 Nierentrauma 4.6.9 Harnstauung 4.6.10 Nierensteine 4.7 Ureter 4.8 Harnblase 4.8.1 Restharn 4.8.2 Intravesikale Raumforderungen 4.8.3 Blasentumoren 4.8.4 Blasentamponade
4.8.5 Blasensteine 4.8.6 Intravesikale Fremdkörper 4.8.7 Blasendivertikel 4.8.8 Ureterozele 4.9 Prostata 4.10 Skrotalinhalt und Hoden 4.10.1 Untersuchungstechnik 4.10.2 Normalbefund 4.10.3 Pathologische Befunde 4.10.4 Akutes Skrotum 4.10.5 Entzündliche Veränderungen 4.10.6 Skrotaltrauma 4.10.7 Raumforderungen des Hodens 4.11 Penis 4.12 Beckenboden, Introitussonografie 4.13 Retroperitoneum 4.13.1 Untersuchungstechnik 4.13.2 Retroperitoneale Raumforderungen 4.13.3 Abszesse 4.14 Sonografiegezielte Punktion 4.15 Neuere Entwicklungen 4.16 Literatur
5 Transrektaler Ultraschall
5.1 Einleitung 5.2 Ultraschallebenen 5.3 Schallartefakte im TRUS 5.4 Zonale Anatomie der Prostata 5.5 Prostata im TRUS (im B-Bild Modus) 5.5.1 Normalbefund einer Prostata 5.5.2 Gutartige Veränderungen der Prostata und Samenblasen 5.5.3 Bösartige Veränderungen der Prostata 5.6 Prostatabiopsie 5.7 TRUS-Derivate 5.7.1 Kontrastmittelultraschall 5.7.2 Elastografie 5.7.3 Computergestützten Ultraschalldiagnostik/artifizielle neuronale Netzwerkanalyse 5.7.4 HistoScanning 5.8 Weitere bildgebende Zusatzdiagnostik der Prostata 5.8.1 MRT und multiparametrische Magnetresonanztomografie (mpMRT) 5.8.2 MRT-Ultraschall-Fusionsbiopsie 5.9 Literatur
6 Doppler-/Duplexsonografie 6.1 Physikalische Grundlagen
6.2 Niere 6.2.1 Transplantatniere 6.3 Harnblase 6.4 Prostata 6.5 Skrotum 6.5.1 Varikozele 6.5.2 Akutes Skrotum 6.6 Penis 6.6.1 Priapismus 6.6.2 Erektile Dysfunktion 6.7 Kontrastmittelultraschall 6.7.1 Niere 6.7.2 Refluxdiagnostik 6.7.3 Prostatakarzinom 6.7.4 Skrotum 6.8 Literatur
7 Strahlenschutz, interventionelle radiologische Methoden 7.1 Strahlenschutz 7.1.1 Effektive Dosis 7.1.2 Gesetzliche Grundlagen des Strahlenschutzes 7.1.3 Praktische Aspekte des Strahlenschutzes für das Personal
7.2 Allgemeine Aspekte der radiologischen Intervention 7.2.1 Einleitung 7.2.2 Patientenvorbereitung 7.2.3 Materialien in der interventionellen Radiologie 7.3 Spezielle radiologische Interventionen 7.3.1 Niere 7.3.2 Varikosis der Vena spermatica 7.3.3 High-Flow-Priapismus 7.3.4 Benigne Prostatahypertrophie 7.4 Literatur
8 Urologische Röntgendiagnostik 8.1 Allgemeines 8.2 Vorbereitung des Patienten 8.3 Röntgenleeraufnahme des Abdomens 8.3.1 Definition 8.3.2 Einstelltechnik 8.3.3 Gonadenschutz 8.3.4 Qualitätskriterien 8.3.5 Befundung 8.3.6 Diagnostische Wertigkeit 8.4 Verwendung von Kontrastmittel 8.4.1 Physiologie
8.4.2 Vorbereitung 8.4.3 Kontrastmittelgabe 8.4.4 Risiken und Kontraindikationen 8.5 Ausscheidungsurografie, intravenöse Urografie, intravenöses Pyelogramm 8.5.1 Definition 8.5.2 Technik und Bildfolge 8.5.3 Bildqualität 8.5.4 Befundung 8.5.5 Diagnostische Wertigkeit 8.5.6 Anwendungshinweise 8.6 Stein-Computertomografie (Stein-CT) 8.6.1 Definition 8.6.2 Befundung 8.6.3 Diagnostische Wertigkeit 8.7 Zystogramm 8.7.1 Definition 8.7.2 Technik 8.7.3 Befundung 8.7.4 Pathologie 8.8 Refluxzystogramm 8.8.1 Definition 8.8.2 Technik 8.8.3 Befundung
8.8.4 Definition 8.8.5 Technik 8.8.6 Befundung 8.8.7 Pathologie 8.9 Retrogrades Urethrogramm, Zysturethrogramm 8.9.1 Definition 8.9.2 Technik 8.9.3 Morphologie der Harnröhre 8.9.4 Befundung 8.9.5 Pathologie 8.10 Retrograde Ureteropyelografie 8.10.1 Definition 8.10.2 Anwendungshinweise 8.10.3 Technik 8.10.4 Befundung 8.10.5 Qualitätskriterien 8.10.6 Pathologie 8.11 Nephrostomogramm 8.11.1 Definition 8.11.2 Technik 8.11.3 Befundung 8.11.4 Anwendungshinweis 8.12 Literatur
9 Computertomografie 9.1 Einleitung 9.2 Historischer Rückblick und zukünftige Entwicklungen 9.3 Strahlenexposition und Nebenwirkungen 9.4 Niere 9.4.1 Protokolle bei Nierenraumforderungen 9.4.2 Benigne Nierentumoren 9.4.3 Maligne Nierentumoren 9.4.4 Perirenale Raumforderungen 9.5 Oberer Harntrakt, Ureter 9.5.1 Benigne Veränderungen 9.5.2 Konkremente 9.5.3 Maligne Veränderungen 9.6 Harnblase 9.6.1 Bildgebung und Stellenwert der CT 9.6.2 Benigne Veränderungen 9.6.3 Maligne Veränderungen 9.7 Prostata, Samenblasen, Urethra 9.8 Nebennieren 9.8.1 Benigne Veränderungen 9.8.2 Maligne Veränderungen 9.9 Weiterführende Literatur
10 Magnetresonanztomografie 10.1 Einleitung 10.2 Technische Grundlagen 10.3 Patientenvorbereitung 10.4 Niere 10.4.1 MRT-Protokolle bei Nierenraumforderungen 10.4.2 Benigne Nierentumoren 10.4.3 Maligne Nierentumoren 10.4.4 Perirenale Raumforderungen 10.5 Oberer Harntrakt, Ureter 10.6 Harnblase 10.7 Prostata, Samenblasen, Urethra 10.7.1 Grundlagen-MR mit MR-Anatomie 10.7.2 Benigne Veränderungen 10.7.3 Maligne Veränderungen 10.8 Nebennieren 10.8.1 Benigne Veränderungen 10.8.2 Maligne Veränderungen 10.9 Weiterführende Literatur
11 Nuklearmedizin 11.1 Einleitung 11.2 Physikalische und messtechnische Grundlagen der Nuklearmedizin
11.2.1 Radioaktivität 11.2.2 Strahlenschutzaspekte 11.2.3 Statistische Effekte bei Radioaktivitätsmessungen 11.2.4 Nachweis von Radioaktivität 11.2.5 In-vitro-Messungen von Radioaktivität 11.2.6 Sondenmessungen 11.2.7 Planare Szintigrafie 11.2.8 Sequenzszintigrafie und ROI-Technik 11.2.9 SPECT-Technik 11.2.10 SPECT-CT 11.3 Nierengängige Radiopharmaka 11.3.1 Klassische nierengängige Substanzen 11.3.2 Tc-99m-DTPA für die Messung der glomerulären Filtrationsrate 11.3.3 Tc-99m-MAG3 für die Nierenfunktionsszintigrafie 11.3.4 Tc-99m-DSMA für die statische Nierenszintigrafie 11.4 Nuklearmedizinische Diagnostik der Nieren und ableitenden Harnwege 11.4.1 Messung der Nieren-Clearance 11.4.2 Nierenfunktionsszintigrafie 11.4.3 Statische Nierenszintigrafie
11.4.4 Funktionsdiagnostik bei nephrotoxischen Therapien 11.5 Nuklearmedizinische Diagnostik außerhalb des Urogenitaltraktes 11.5.1 Skelettszintigrafie 11.5.2 Schilddrüse 11.5.3 Nebennieren 11.5.4 Wächterlymphknoten (SentinelDiagnostik) 11.5.5 Lokalisation eines Infektfokus 11.5.6 Notfalluntersuchungen außerhalb des Urogenitaltraktes 11.6 Radionuklidtherapie 11.6.1 Therapeutische Radionuklide 11.6.2 Palliative Schmerztherapie 11.6.3 PSMA-gerichtete Radionuklidtherapie 11.7 Strahlenschutzaspekte 11.7.1 Kontraindikationen 11.7.2 Strahlenexposition durch nuklearmedizinische Untersuchungen 11.8 Literatur
12 PET und PET/CT bei urologischen Tumoren 12.1 Einleitung 12.2 Überblick über die PET/CT-Technologie
12.2.1 Messtechnik 12.2.2 Klinische Anwendung 12.3 Radiopharmaka 12.3.1 F-18-Fluorodesoxyglukose 12.3.2 F-18-Natriumfluorid 12.3.3 Acetat- und Cholinderivate 12.3.4 PSMA-Liganden 12.3.5 Strahlenschutzaspekte 12.4 PET/CT bei verschiedenen Tumorentitäten 12.4.1 Prostatakarzinom 12.4.2 Hodentumoren 12.4.3 Nierenzellkarzinom 12.4.4 Urothelkarzinom 12.4.5 Harnblasenkarzinom 12.4.6 Peniskarzinom 12.5 Sozialmedizinische Aspekte und Kostenerstattung der PET 12.6 Literatur
13 Endoskopische Diagnostik 13.1 Einleitung 13.2 Urethrozystoskopie 13.2.1 Instrumentenkunde 13.2.2 Indikationen
13.2.3 Kontraindikationen 13.2.4 Praktische Durchführung 13.2.5 Mögliche Komplikationen 13.3 Ureterorenoskopie 13.3.1 Instrumentenkunde 13.3.2 Indikationen 13.3.3 Praktische Durchführung 13.3.4 Komplikationen 13.4 Perkutane endoskopische Diagnostik 13.4.1 Instrumentenkunde 13.4.2 Indikationen für die perkutane Nephroskopie 13.4.3 Kontraindikationen 13.4.4 Technik der perkutanen Endoskopie im Nierenhohlsystem 13.4.5 Komplikationen 13.5 Bildübertragung und Videoendoskopie 13.6 Virtuelle Endoskopie 13.7 Literatur
14 Urodynamik 14.1 Anatomie, Neuroanatomie und Physiologie 14.1.1 Harnblase 14.1.2 Urethra
14.1.3 Steuerung von Harnspeicherung und Miktion 14.1.4 Physiologie von Harnspeicherung und entleerung 14.2 Anamnese und Basisuntersuchungen 14.2.1 Anamnese 14.2.2 Laboruntersuchungen 14.2.3 Körperliche Untersuchung 14.3 Uroflowmetrie (Harnstrahlmessung, Free-Flow), Flow-EMG und Restharnbestimmung 14.3.1 Untersuchungsziel 14.3.2 Indikation 14.3.3 Untersuchungsvoraussetzungen 14.3.4 Methodik und Messtechnik 14.3.5 Messparameter 14.3.6 Norm- und Grenzwerte 14.3.7 Messgenauigkeit und Artefakte 14.3.8 Flow-EMG 14.3.9 Restharnbestimmung 14.3.10 Schlussfolgerungen 14.4 Blasendruckmessung (Zystomanometrie) 14.4.1 Untersuchungsziel 14.4.2 Indikation 14.4.3 Patientenvorbereitung
14.4.4 Voraussetzungen der Untersuchung 14.4.5 Durchführung der Zystomanometrie 14.4.6 Normwerte der Zystomanometrie 14.4.7 Beckenboden-EMG 14.4.8 Provokationstests 14.4.9 Simultane Video-Urodynamik 14.4.10 Stellenwert der Urodynamik 14.5 Urethradruckprofil 14.5.1 Untersuchungsziel und Indikation 14.5.2 Methodik und Messtechnik 14.5.3 Norm- und Grenzwerte 14.5.4 Stellenwert des Urethradruckprofils 14.6 Langzeiturodynamik (ambulante Urodynamik) 14.6.1 Untersuchungsziel und Indikation 14.6.2 Methodik und Messtechnik 14.6.3 Artefakte, Limitationen und Stellenwert der Langzeiturodynamik 14.7 Literatur
Teil II Allgemeine operative Urologie 15 Perioperatives Management 15.1 Einleitung
15.2 Stratifizierung des perioperativen Risikos 15.2.1 Operationsrisiko 15.2.2 Anästhesierisiko 15.2.3 Klinische Risikoscores 15.2.4 Kardiopulmonale Belastungstests und Biomarker zur Einschätzung des perioperativen Risikos 15.3 Perioperative Antibiotikaprophylaxe in der Urologie 15.3.1 Durchführung 15.3.2 Indikationen der Antibiotikaprophylaxe 15.3.3 Dosierung der Antibiotikaprophylaxe bei speziellen urologischen Indikationen 15.4 Perioperativer Umgang mit Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern in der Urologie 15.4.1 Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmer 15.4.2 Zusammenfassende Risikobewertung thromboembolischer Ereignisse und Darstellung eines adaptierten perioperativen Managements anhand der Blutungsrisiken urologischer Eingriffe 15.5 Verschiedene Aspekte eines progressiven perioperativen Patientenmanagements
15.5.1 Perioperatives Transfusionsmanagement 15.5.2 Perioperatives Schmerzmanagement in der Urologie 15.5.3 Prinzipien der Fast-Track-Surgery in der Urologie 15.6 Literatur
16 Operative Anatomie, Operationsvorbereitung, Zugangswege und postoperative Komplikationen 16.1 Einleitung 16.2 Operative Anatomie 16.2.1 Bauchwand 16.2.2 Bauchhöhle 16.2.3 Retroperitonealraum 16.2.4 Becken 16.2.5 Harnröhre 16.2.6 Äußeres männliches Genitale 16.3 Operationsvorbereitung 16.3.1 Operationsaufklärung 16.3.2 Prophylaxe postoperativer Infektionen 16.3.3 Lagerung 16.4 Zugangswege 16.4.1 Extraperitoneale Zugangswege zu Retroperitoneum und Becken
16.4.2 Transperitoneale Zugangswege zu Bauchhöhle, Retroperitoneum und Becken 16.4.3 Transvaginaler Zugang (weibliche Harnröhre) 16.4.4 Perinealer Zugang zu Prostata und Harnröhre 16.4.5 Zugänge zum äußeren männlichen Genitale 16.4.6 Zugangswege für laparoskopische und retroperitoneoskopische Operationen 16.4.7 Perkutaner Zugang zum harnableitenden System 16.4.8 Transurethraler Zugang 16.5 Darmchirurgie in der Urologie 16.5.1 Auswahl des Darmsegmentes 16.5.2 Operationstechnische Aspekte 16.6 Gefäßchirurgie in der Urologie 16.6.1 Instrumentarium, Nahtmaterial und Grundtechniken 16.6.2 Venöse Tumorthrombose 16.7 Postoperative Komplikationen 16.7.1 Klassifikation von Komplikationen 16.7.2 Thrombembolische Komplikationen 16.7.3 Wundinfektion 16.7.4 Blutung und Hämatom 16.7.5 Urinextravasation
16.7.6 Lymphozele und Chylaszites 16.7.7 Komplikationen nach Darmeingriffen in der Urologie 16.8 Literatur
17 Laparoskopie 17.1 Einleitung 17.2 Klinische Bedeutung 17.3 Medizinische und technische Voraussetzungen 17.3.1 Vorbereitungen des Patienten 17.3.2 Anästhesie und Lagerung 17.3.3 Geräte und Instrumentarium 17.4 Laparoskopische Eingriffe in der Urologie 17.4.1 Eingriffe an Niere, Nebenniere und harnableitenden System 17.4.2 Eingriffe im kleinen Becken und am inneren Leistenring 17.5 Onkologisches Outcome 17.5.1 Eingriffe im Retroperitonealraum 17.5.2 Zystektomie 17.6 Laparoskopie und das Abrechnungssystem nach Diagnosis Related Groups (DRG-System) 17.7 Forensische Aspekte, Problematik der Aus- und Weiterbildung für laparoskopische
Eingriffe 17.8 Ausblick 17.9 Literatur
18 Robotisch assistierte Chirurgie 18.1 Einleitung 18.2 Historische Entwicklung der robotischen Chirurgie 18.3 Grundsätzlicher Aufbau des Systems 18.4 Ausbildung 18.4.1 Ausbildungskomponenten 18.4.2 Ausbildungsschritte 18.5 Einsatzmöglichkeiten der robotischen Chirurgie 18.6 Klinischer Stellenwert der robotischen Chirurgie in der Urologie 18.7 Medizinische und technische Voraussetzungen 18.7.1 Vorbereitung des Patienten 18.7.2 Anästhesie 18.7.3 Geräte und Instrumentarium 18.7.4 Trokarpositionierungen und Docking 18.7.5 Absolute und relative Kontraindikationen 18.8 Häufige robotisch assistierte Eingriffe in der Urologie 18.8.1 Robotisch assistierte Nephrektomie
18.8.2 Robotisch assistierte partielle Nephrektomie 18.8.3 Minimalinvasive Pyeloplastik (robotisch assistiert) 18.8.4 Robotisch assistierte radikale Prostatektomie (RARP) 18.8.5 Radikale Zystektomie (robotisch assistiert) 18.9 Robotisch assistierte Chirurgie im DRGZeitalter 18.10 Ausblick 18.11 Literatur
19 Urologische Wundbehandlung und Verband 19.1 Einleitung 19.2 Wundversorgung und Wunddrainage 19.2.1 Grundzüge der Wundheilung 19.2.2 Typen der Wundheilung 19.2.3 Störfaktoren der Wundheilung 19.2.4 Postoperative Wunddrainage 19.2.5 Nahttechnik und Nahtmaterialien 19.3 Verbandstechniken 19.3.1 Aufgaben des Verbands 19.3.2 Verbandmaterialien 19.4 Literatur
20 Stomaversorgung 20.1 Einleitung 20.2 Präoperative Phase 20.2.1 Vorbereitung des Patienten 20.2.2 Stomamarkierung 20.3 Postoperative Phase 20.3.1 Stomaversorgungsmethoden 20.3.2 Stomaversorgungsmaterialien 20.3.3 Weitere Hilfsmittel 20.4 Ambulante Phase 20.5 Komplikationen 20.5.1 Hautreaktionen 20.5.2 Pseudoepitheliale Hyperplasie 20.5.3 Hernienbildung 20.6 Adressen der Ausbildungsstätten 20.7 Weiterführende Literatur
Teil III Drainagen 21 Drainage des Harntraktes 21.1 Einleitung 21.2 Pathogenese katheterassoziierter Harnwegsinfektionen 21.2.1 Keimeinschleppung bei der Katheterisierung
21.2.2 Dynamik der Keimaszension 21.2.3 Biofilme an Katheteroberflächen 21.2.4 Katheterinkrustation und -obstruktion 21.3 Drainage des unteren Harntraktes 21.3.1 Harnröhrenkatheterismus 21.3.2 Externe Harnableitungsverfahren bei Harninkontinenz 21.3.3 Intermittierender Katheterismus 21.3.4 Suprapubischer Katheter 21.4 Drainage des oberen Harntraktes 21.4.1 Innere Harnleiterschienung 21.4.2 Subkutaner pyelovesikaler Bypass 21.4.3 Permanente endoluminale Stents 21.4.4 Perkutane Nierenfistel 21.5 Literatur
Teil IV Antibiotikatherapie und Krankenhaushygiene 22 Antibiotikatherapie und Krankenhaushygiene 22.1 Einleitung 22.2 Antibiotikatherapie 22.2.1 Indikationen für eine Antibiotikatherapie 22.2.2 Erregerisolierung vor Antibiotikatherapie
22.2.3 Blutkulturen 22.2.4 Falsche Diagnose 22.2.5 Implantate 22.2.6 Gesundheitlicher Zustand des Patienten 22.2.7 Lokalantibiotika 22.2.8 Empirische versus gezielte Antibiotikatherapie 22.2.9 Kontrolle des Therapieverlaufs 22.2.10 Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Antibiotika 22.2.11 Perioperative Antibiotikaprophylaxe 22.2.12 Multiresistente Erreger 22.3 Krankenhaushygiene 22.3.1 Allgemeine Hygienemaßnahmen 22.3.2 Prävention katheterassoziierter Harnwegsinfektionen 22.3.3 Postoperative Wundinfektionen 22.4 Literatur
Teil V Allgemeine Chemotherapie 23 Allgemeine onkologische Chemotherapie 23.1 Einleitung 23.2 Grundlagen der Chemotherapie
23.2.1 Wie funktioniert Chemotherapie? 23.2.2 Wie entsteht Zytostatikaresistenz? 23.2.3 Anforderungen an eine wirksame systemische Tumortherapie 23.2.4 Wie funktionieren targeted Therapy und Immuntherapie? 23.3 Zytostatika und ihre Toxizitäten 23.3.1 Alkylanzien 23.3.2 Antimetabolite 23.3.3 Topoisomerase beeinflussende Substanzen 23.3.4 Platinhaltige Substanzen 23.3.5 Spindelgifte 23.3.6 Antibiotika 23.3.7 Targeted Therapy und Immuntherapie 23.4 Durchführung einer systemischen Tumortherapie 23.4.1 Medizinische Voraussetzungen 23.4.2 Organisatorische Voraussetzungen 23.4.3 Applikation einer Chemotherapie 23.4.4 Paravasate 23.4.5 Unfälle 23.4.6 Entsorgung von Zytostatika und Zytostatikaabfällen 23.4.7 Targeted Therapy und Immuntherapie
23.5 Prävention und Therapie von Frühkomplikationen einer systemischen Tumortherapie 23.5.1 Chemotherapie 23.5.2 Targeted Therapy und Immuntherapie 23.6 Literatur
Teil VI Spezielle UrologieVI Fehlbildungen des Urogenitaltrakts 24 Nierenanomalien 24.1 Einleitung 24.2 Pränatale Diagnostik und postnatales Management 24.2.1 Pränatale Diagnostik 24.2.2 Prinzipien des postnatalen Managements pränatal diagnostizierter Nierenanomalien 24.3 Nierenagenesie (unilateral, bilateral) 24.4 Hypoplastische/multizystische Nierendysplasie 24.5 Zystische Nierenerkrankungen 24.5.1 Zystennieren 24.5.2 Markschwammniere 24.5.3 Multilokuläres Zystadenom der Niere
24.6 Anzahl-, Lage- und Rotationsanomalien 24.6.1 Doppelniere 24.6.2 Tiefe Nierendystopie 24.6.3 Nephroptose (syn. Ren mobilis, Senkoder Wanderniere) 24.6.4 Inkomplette Rotation, Hyperrotation, verkehrte Rotation 24.7 Fusionsanomalien 24.7.1 Gekreuzte Dystopie 24.7.2 Hufeisenniere und andere symmetrische Fusionsanomalien 24.7.3 Asymmetrische Fusionsanomalien 24.8 „Anomalien“ des Nierenhohlsystems 24.8.1 Kelchdivertikel 24.8.2 Megakaliose 24.9 Anomalien der Gefäße 24.9.1 Retrokavaler Ureter 24.9.2 Fraley-Syndrom (Obstruktion des oberen Kelchhalses) 24.9.3 Aberrierende Arterien 24.9.4 Intrarenale Gefäßmissbildungen 24.9.5 Fibromuskuläre Hyperplasie der A. renalis 24.10 Literatur
25 Ureteropelvine Stenosen – Nierenbeckenabgangsenge 25.1 Einleitung 25.2 Epidemiologie 25.3 Ätiologie und Pathogenese 25.3.1 Ureteropelvine Stenose in abnormalen Nieren 25.3.2 Urodynamik der ureteropelvinen Stenose 25.3.3 Auswirkung auf das Nierenparenchym 25.4 Symptome 25.5 Diagnostik 25.5.1 Sonografische Diagnostik 25.5.2 Funktionsdiagnostik – Diureseszintigrafie 25.5.3 Magnetresonanztomografie 25.5.4 Miktionszysturethrogramm 25.6 Therapie 25.6.1 Grundlagen der Therapieentscheidung 25.6.2 Operative Therapie 25.6.3 Hitch-Prozedur 25.6.4 Postoperative Harnableitung nach Nierenbeckenplastik 25.6.5 Nephrektomie 25.7 Postoperative Nachsorge 25.8 Literatur
26 Harnleiteranomalien 26.1 Einleitung 26.2 Doppelniere, Harnleiterduplikatur 26.2.1 Definition 26.2.2 Epidemiologie 26.2.3 Ätiologie und Pathogenese 26.2.4 Symptomatik 26.2.5 Diagnostik 26.2.6 Differenzialdiagnosen 26.2.7 Therapie 26.3 Megaureter 26.3.1 Definition 26.3.2 Epidemiologie 26.3.3 Ätiologie und Pathogenese 26.3.4 Symptomatik 26.3.5 Diagnostik 26.3.6 Differenzialdiagnosen 26.3.7 Therapie 26.3.8 Nachsorge 26.4 Literatur
27 Vesikoureteraler und vesikorenaler Reflux 27.1 Einleitung
27.2 Klassifikation und Terminologie 27.2.1 Einteilung 27.3 Epidemiologie 27.4 Pathogenese 27.4.1 Primärer vesikoureteraler Reflux 27.4.2 Sekundärer vesikoureteraler und vesikorenaler Reflux 27.4.3 Refluxfolgen und Refluxnephropathie 27.5 Symptomatik 27.6 Diagnostik 27.6.1 Basisdiagnostik 27.6.2 Bildgebende Verfahren 27.6.3 Spezielle Diagnostik 27.6.4 Grundlegende Aspekte zur Indikationsstellung und Strukturierung der Diagnostik 27.7 Therapie 27.7.1 Konservatives Therapiemanagement 27.7.2 Endoskopische Refluxtherapie 27.7.3 Operative Refluxkorrektur 27.8 Nachsorge 27.8.1 Nachsorge nach operativer Refluxkorrektur 27.8.2 Nachsorge bei konservativer Therapie 27.9 Literatur
28 Ureterozele 28.1 Einleitung 28.2 Definition und Terminologie 28.2.1 Klassifikation nach Ericsson 28.2.2 Einteilung nach Stephens 28.2.3 Klassifikation nach Schulman 28.3 Embryologie 28.4 Epidemiologie 28.5 Anamnese und körperliche Untersuchung 28.6 Bildgebende Diagnostik 28.6.1 Sonografie 28.6.2 Miktionszystourethrogramm 28.6.3 Ausscheidungsurogramm 28.6.4 Szintigrafie 28.6.5 Zystoskopie 28.7 Therapieverfahren 28.7.1 Intravesikale Ureterozelen 28.7.2 Ektope Ureterozelen 28.8 Schlussbemerkung 28.9 Literatur
29 Unterer Harntrakt 29.1 Einleitung 29.2 Hypospadie
29.2.1 Definition und Klassifikation 29.2.2 Inzidenz 29.2.3 Embryologie 29.2.4 Ätiologie 29.2.5 Diagnostik 29.2.6 Therapie 29.3 Epispadie-Ekstrophie-Komplex 29.3.1 Inzidenz 29.3.2 Embryologie 29.3.3 Blasenekstrophie 29.3.4 Epispadie 29.4 Seltene Harnröhrenanomalien 29.4.1 Atresie, Striktur 29.4.2 Harnröhrendivertikel 29.4.3 Megalourethra 29.4.4 Überzählige Harnröhre 29.5 Blasendivertikel 29.5.1 Ätiologie 29.5.2 Diagnostik 29.5.3 Symptomatik 29.5.4 Therapie 29.6 Literatur
30 Sexuelle Differenzierung
30.1 Einleitung 30.2 Morphologische Entwicklung des Genitales 30.2.1 Chromosomale und gonadale Geschlechtsentwicklung 30.2.2 Gemeinsame Genitalentwicklung – indifferente Geschlechtsentwicklung 30.2.3 Männliche Genitalentwicklung 30.2.4 Weibliche Genitalentwicklung 30.3 Entwicklungsstörungen der Genitalgänge und des äußeren Genitale 30.3.1 Genetisch männliche Individuen 30.3.2 Genetisch weibliche Individuen 30.4 Literatur
31 Äußeres männliches Genitale 31.1 Maldescensus testis, Hodenhochstand 31.1.1 Begriffsbestimmung 31.1.2 Epidemiologie 31.1.3 Embryologie, Ätiologie 31.1.4 Fertilität, Tumorrisiko 31.1.5 Diagnostik 31.1.6 Therapie 31.1.7 Prune-Belly-Syndrom 31.2 Phimose
31.2.1 Epidemiologie, Bedeutung 31.2.2 Embryologie und Ätiologie 31.2.3 Diagnostik 31.2.4 Therapie 31.3 Hydrozele 31.3.1 Epidemiologie und Ätiologie 31.3.2 Diagnostik 31.3.3 Therapie 31.4 Spermatozele 31.4.1 Epidemiologie 31.4.2 Definition 31.4.3 Ätiologie 31.4.4 Symptomatik 31.4.5 Diagnostik 31.4.6 Therapie 31.5 Ductus-deferens-Agenesie 31.5.1 Epidemiologie 31.5.2 Ätiologie 31.5.3 Symptomatik 31.5.4 Diagnostik 31.5.5 Therapie 31.6 Literatur
32 Äußeres weibliches Genitale
32.1 Urogynäkologische Probleme im Kindesalter 32.1.1 Labiensynechie 32.1.2 Hymen imperforatum 32.2 Blasenekstrophie-Epispadie-Komplex beim Mädchen 32.2.1 Weibliche Epispadie 32.2.2 „Klassische“ weibliche Blasenekstrophie 32.3 Disorders of Sex Development – Störungen der sexuellen Differenzierung 32.3.1 Diagnostisches und therapeutisches Management 32.3.2 46,XX DSD – adrenogenitales Syndrom 32.4 Literatur
Teil VII Entzündungen 33 Unspezifische urogenitale Entzündungen 33.1 Einleitung 33.2 Infektiologische Grundlagen 33.2.1 Pathogenese 33.2.2 Bakterien-Wirt-Wechselbeziehung 33.2.3 Bakterielle Virulenzfaktoren 33.2.4 Abwehrmechanismen des Wirts
33.2.5 Infektionsbegünstigende Faktoren (prädisponierende Faktoren, Risikofaktoren) 33.3 Grundlagen der mikrobiologischen Diagnostik und Therapie 33.3.1 Diagnostik 33.3.2 Therapie 33.4 Krankheitsbilder 33.4.1 Akute Pyelonephritis 33.4.2 Nierenabszess 33.4.3 Perinephritischer Abszess 33.4.4 Chronische Pyelonephritis (chronische interstitielle Nephritis) 33.4.5 Nekrotisierende Papillitis 33.4.6 Xanthogranulomatöse Pyelonephritis 33.4.7 Ureteritis 33.4.8 Zystitis 33.4.9 Prostatitis 33.4.10 Granulomatöse Prostatitis 33.4.11 Prostatovesikulitis 33.4.12 Epididymitis 33.4.13 Orchitis 33.4.14 Urethritis 33.4.15 Urethralsyndrom 33.4.16 Balanitis 33.4.17 Kavernitis und Morbus Fournier
33.4.18 Urosepsis und septischer Schock 33.5 Literatur
34 Harnwegsinfektionen bei Kindern 34.1 Epidemiologie von Harnwegsinfekten 34.2 Diagnostik 34.2.1 Anamnese 34.2.2 Symptome 34.2.3 Physikalischer Status 34.2.4 Harngewinnung 34.2.5 Streifentest 34.2.6 Typische Erreger einer Harnwegsinfektion 34.2.7 Erreger-Wirt-Interaktion 34.2.8 Laboruntersuchung 34.2.9 Bildgebende Diagnostik 34.3 Therapie 34.3.1 Antibiotikatherapie 34.4 Rezidivierende afebrile Harnwegsinfekte 34.4.1 Prophylaxe von rezidivierenden Harnwegsinfekten 34.5 Obstipation 34.6 Literatur
35 Sexuell übertragbare Krankheiten 35.1 Einleitung
35.2 Syphilis (Lues) 35.2.1 Inzidenz 35.2.2 Ätiologie 35.2.3 Symptomatik 35.2.4 Diagnostik 35.2.5 Therapie (S2k-Leitlinie: Diagnostik und Therapie der Syphilis; Stand 07/2014) 35.3 Gonorrhöe 35.3.1 Inzidenz 35.3.2 Ätiologie 35.3.3 Symptomatik 35.3.4 Diagnostik 35.3.5 Therapie 35.4 Ulcus molle 35.4.1 Ätiologie 35.4.2 Symptomatik 35.4.3 Diagnostik 35.4.4 Therapie 35.5 Lymphogranuloma inguinale 35.5.1 Inzidenz und Ätiologie 35.5.2 Symptomatik 35.5.3 Diagnostik 35.5.4 Therapie
35.6 Infektionen mit Chlamydia trachomatis beim Mann 35.6.1 Labordiagnostik der ChlamydienUrethritis 35.6.2 Therapie 35.7 HIV-Infektion, Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome) 35.7.1 Inzidenz 35.7.2 Ätiologie 35.7.3 Definitionen 35.7.4 Krankheitsverlauf und Symptomatik 35.7.5 Diagnostik 35.7.6 Therapie 35.8 Literatur
36 Parasitäre Erkrankungen 36.1 Einleitung 36.2 Bilharziose 36.2.1 Epidemiologie und Ätiologie 36.2.2 Lebenszyklus und Biologie von Schistosoma haematobium 36.2.3 Pathologie der urogenitalen Bilharziose 36.2.4 Krankheitsbild und Symptomatik 36.2.5 Diagnostik 36.2.6 Komplikationen
36.2.7 Abklärung eines Genitalbefalls 36.2.8 Therapie 36.2.9 Prognose 36.3 Filariosen 36.3.1 Lebenszyklus und Biologie 36.3.2 Diagnostik 36.3.3 Therapie 36.4 Echinokokkose 36.4.1 Epidemiologie 36.4.2 Biologie und Lebenszyklus des Hundebandwurms 36.4.3 Symptomatik 36.4.4 Diagnostik 36.4.5 Therapie 36.4.6 Andere Wurmerkrankungen 36.5 Ektoparasitosen 36.5.1 Skabies 36.5.2 Läuse 36.5.3 Myiasis 36.5.4 Tungiasis 36.6 Literatur
37 Dermatosen des äußeren Genitale 37.1 Einleitung 37.2 Dermatosen im Inguinalbereich
37.2.1 Intertrigo 37.2.2 Erythrasma 37.2.3 Tinea inguinalis 37.2.4 Acne conglobata 37.2.5 Psoriasis vulgaris 37.2.6 Akantholytische Dermatosen 37.3 Dermatosen am Penis 37.3.1 Morbus Reiter 37.3.2 Morbus Zoon 37.3.3 Balanitis xerotica obliterans 37.3.4 Balanitis gangraenosa 37.3.5 Kranzfurchenlymphangitis 37.4 Dermatosen an Vulva und Vagina 37.4.1 Vaginitis 37.4.2 Miliaria rubra 37.4.3 Plasmazellvulvitis 37.4.4 Ulcus vulvae acutum 37.5 Bei beiden Geschlechtern auftretende Dermatosen 37.5.1 Erregerbedingte Erkrankungen 37.5.2 Dyschromien 37.5.3 Dermatologisch relevante Tumoren 37.5.4 Präkanzerosen 37.5.5 Maligne Tumoren
37.6 Literatur
Teil VIII Steinerkrankungen 38 Pathogenese und konservative Therapie 38.1 Einleitung 38.2 Allgemeine Aspekte 38.2.1 Epidemiologie 38.2.2 Klassifikation 38.2.3 Ätiologie 38.2.4 Risikofaktoren 38.2.5 Symptomatik 38.2.6 Diagnostik 38.2.7 Konservative Steintherapie 38.3 Steinartspezifische Konzepte 38.3.1 Kalziumoxalatsteine 38.3.2 Kalziumphosphatsteine 38.3.3 Stoffwechselstörungen mit assoziierter Kalziumsteinbildung 38.3.4 Infektsteine (Struvit) 38.3.5 Harnsäure- und Uratsteine 38.3.6 Zystinsteine 38.3.7 2,8-Dihydroxyadeninsteine 38.3.8 Xanthinsteine
38.3.9 Sonstige Harnsteine – Raritäten 38.4 Literatur
39 Interventionelle Steintherapie 39.1 Einleitung 39.2 Indikation zur aktiven Therapie 39.2.1 Harnleitersteine 39.2.2 Nierensteine 39.2.3 Infizierte Harnstauungsniere 39.2.4 Steinzusammensetzung 39.2.5 Steinstraße 39.3 Wahl des interventionellen Verfahrens 39.3.1 Nierensteine 39.3.2 Harnleitersteine 39.4 Präoperative Vorbereitung und spezielle Situationen 39.4.1 Diagnostik 39.4.2 Aufklärung 39.4.3 Antikoagulation 39.5 Extrakorporale Stoßwellentherapie 39.5.1 Indikationen und Kontraindikationen 39.5.2 Durchführung 39.5.3 Nachsorge 39.5.4 Komplikationen 39.6 Ureterorenoskopie
39.6.1 Indikationen und Kontraindikationen 39.6.2 Operativer Ablauf einer semirigiden Ureterorenoskopie 39.6.3 Vorgehen bei flexibler Ureterorenoskopie 39.6.4 Harnleiterschiene (Doppel-J-Katheter) 39.6.5 Nachsorge 39.6.6 Komplikationen 39.7 Perkutane Nephrolithotripsie 39.7.1 Indikationen und Kontraindikationen 39.7.2 Durchführung 39.7.3 Nachsorge 39.7.4 Komplikationen 39.8 Intrakorporale Lithotripsie 39.8.1 Pneumatische Lithotripsie 39.8.2 Ultraschallbasierte Lithotripsie 39.8.3 Holiumlaser-Lithotripsie (2100 nm) 39.9 Literatur
Teil IX Tumoren 40 Pathologie der wichtigsten Tumorarten 40.1 Nierentumoren 40.1.1 Allgemeine Vorbemerkungen 40.1.2 Histologische Tumortypisierung
40.1.3 Häufige benigne Tumoren 40.1.4 Häufigste maligne Tumoren 40.1.5 Tumorgrading 40.1.6 Seltene hereditäre und nicht hereditäre Tumore 40.2 Tumore der ableitenden Harnwege 40.2.1 Allgemeine Vorbemerkungen 40.2.2 Tumortypisierung 40.2.3 Grading 40.2.4 Staging 40.2.5 Urinzytologie 40.3 Prostatakarzinom 40.3.1 Anatomie und Histologie der normalen Prostata 40.3.2 Klassifikation des Prostatakarzinoms 40.3.3 Morphogenese des gewöhnlichen Prostatakarzinoms 40.3.4 Grading des Prostatakarzinoms 40.3.5 Staging des Prostatakarzinoms 40.3.6 Allgemeines zur Gewebeaufarbeitung 40.3.7 Histopathologische Befundung von Prostatastanzbiopsien 40.3.8 Histopathologische Befundung des Prostatatektomiepräparates 40.3.9 Aussichten
40.4 Hodentumoren 40.4.1 Seminome 40.4.2 Nichtseminomatöse Keimzelltumoren (NKZT) 40.4.3 Verschiedene sonstige seltene Hodentumoren 40.5 Peniskarzinom 40.5.1 Vorstufen 40.5.2 Karzinom 40.6 Literatur
41 Nierentumoren 41.1 Einleitung 41.2 Benigne Nierentumoren 41.2.1 Nierenzyste 41.2.2 Onkozytom 41.2.3 Angiomyolipom 41.2.4 Andere benigne Nierentumoren 41.3 Nierenzellkarzinom 41.3.1 Inzidenz 41.3.2 Ätiologie 41.3.3 Symptomatik des Nierenzellkarzinoms 41.3.4 Diagnostik des Nierenzellkarzinoms 41.3.5 Nichtmetastasierte Nierenzellkarzinome
41.3.6 Therapie des nichtmetastasierten Nierenzellkarzinoms 41.3.7 Metastasiertes Nierenzellkarzinom 41.4 Literatur
42 Nebennierentumoren 42.1 Einleitung 42.2 Inzidenz und Ätiologie 42.3 Symptomatik 42.4 Diagnostik 42.4.1 Hypercortisolismus (Cushing-Syndrom) 42.4.2 Primärer Hyperaldosteronismus 42.4.3 Phäochromozytom 42.4.4 Nebennierenrindenkarzinom 42.4.5 Bildgebung 42.5 Therapie 42.5.1 Minimalinvasive Operation 42.5.2 Konventionelle, „offene“ Operation 42.5.3 Therapiebesonderheiten 42.6 Literatur
43 Urotheltumoren des oberen Harntraktes 43.1 Epidemiologie 43.2 Risikofaktoren
43.3 Histologie, Stadieneinteilung 43.3.1 Stadieneinteilung 43.3.2 Differenzierungsgrad 43.4 Symptomatik 43.5 Diagnostik 43.5.1 Klinische Untersuchung 43.5.2 Labordiagnostik 43.5.3 Endoskopie 43.5.4 Bildgebung 43.6 Therapie 43.6.1 Organerhaltendes Vorgehen 43.6.2 Adjuvante topische Therapie nach organerhaltender Therapie 43.6.3 Organablatives Vorgehen 43.6.4 Lymphknotendissektion 43.6.5 Topische Chemotherapie 43.6.6 Fortgeschrittene Erkrankung 43.6.7 Systemische Chemotherapie 43.6.8 Radiotherapie 43.7 Prognose 43.7.1 Molekulare Marker 43.8 Nachsorge 43.9 Literatur
44 Retroperitoneale Tumoren und Morbus Ormond 44.1 Einleitung 44.2 Retroperitoneale Tumoren 44.2.1 Epidemiologie 44.2.2 Pathologie und Klassifikation 44.2.3 Symptomatik 44.2.4 Diagnostik 44.2.5 Therapie 44.2.6 Prognose 44.2.7 Nachsorge 44.3 Morbus Ormond (retroperitoneale Fibrose) 44.3.1 Epidemiologie 44.3.2 Klassifikation, Ätiologie, Pathogenese und Pathologie 44.3.3 Symptomatik 44.3.4 Diagnostik 44.3.5 Therapie 44.3.6 Prognose und Nachsorge 44.4 Literatur
45 Maligne Tumoren der Harnblase 45.1 Einleitung 45.2 Epidemiologie
45.2.1 Inzidenz 45.2.2 Neuerkrankungen 45.2.3 Erkrankungsalter 45.2.4 Überlebensrate 45.2.5 Geschlecht 45.2.6 Familiäre Häufung 45.2.7 Ethnische Zugehörigkeit 45.3 Ätiologie und Risikofaktoren 45.3.1 Industrielle Noxen 45.3.2 Harnblasentumoren bei Rauchern 45.3.3 Harnblasentumoren anderer Ätiologie 45.3.4 Molekularbiologische Hintergründe der Blasenkrebsentstehung 45.4 Klassifikation 45.4.1 Primäre Blasentumoren 45.4.2 Sekundäre Blasentumoren 45.4.3 Klinisch-pathologische Klassifikation der malignen Blasentumoren (TNM-Klassifikation) 45.4.4 Histopathologische Einteilung der Blasentumoren 45.4.5 Seltene (nicht urothelial) differenzierte Blasentumoren 45.5 Klinische Symptomatik 45.5.1 Frühsymptome 45.5.2 Spätsymptome
45.6 Diagnostik 45.6.1 Früherkennung und Screening 45.6.2 Körperliche Untersuchung 45.6.3 Laboruntersuchungen 45.6.4 Urintests beim Blasenkarzinom 45.6.5 Vorgehen bei isolierter, asymptomatischer Mikrohämaturie als Zufallsbefund 45.6.6 Bildgebende Untersuchungsverfahren 45.6.7 Zystoskopie 45.6.8 Diagnostische transurethrale Elektroresektion (TUR) 45.6.9 Photodynamische Diagnose (PDD) des Blasenkarzinoms 45.7 Therapie des Blasenkarzinoms nach Stadien und Risikogruppen 45.7.1 Risikogruppen bei nicht muskelinvasiven Blasentumoren 45.8 Therapie des nicht muskelinvasiven Blasenkarzinoms 45.8.1 Therapie und Rezidivprophylaxe mit topischer Anwendung von Zytostatika und/oder Immunmodulatoren 45.8.2 Intravesikale Chemotherapie 45.8.3 Therapeutische Effizienz der topischen Chemotherapie
45.8.4 Intravesikale Immuntherapie 45.8.5 Weitere Ansätze in der intravesikalen Therapie 45.8.6 Zusammenfassung der Therapie nicht muskelinvasiver Blasentumoren 45.9 Therapie des muskelinvasiven Blasenkarzinoms 45.9.1 Perioperative Chemotherapie 45.9.2 Radikale Zystektomie 45.9.3 Blasenteilresektion 45.9.4 Multimodale, primär organerhaltende Therapie (TURB + Radiochemotherapie ± Salvage-Zystektomie) 45.10 Therapie des metastasierten Blasenkarzinoms 45.10.1 Erstlinientherapie bei Cisplatingeeigneten Patienten mit metastasiertem Urothelkarzinom 45.10.2 Erstlinientherapie bei Cisplatinungeeigneten Patienten mit metastasiertem Urothelkarzinom 45.10.3 Zweitlinientherapie des metastasierten Blasenkarzinoms 45.10.4 Neue Substanzen: Immunmodulatorische Therapeutika 45.11 Palliative Maßnahmen beim fortgeschrittenen Blasenkarzinom
45.11.1 Blutende Tumorblase 45.12 Nachsorge 45.13 Rehabilitation 45.14 Literatur
46 Urethratumoren 46.1 Einleitung 46.2 Epidemiologie 46.3 Anatomische Grundlagen 46.3.1 Männliche Harnröhre 46.3.2 Weibliche Harnröhre 46.3.3 Lymphabflussverhältnisse 46.4 Histologie und Stadieneinteilung 46.4.1 Gutartige Tumoren 46.4.2 Bösartige Tumoren 46.5 Symptomatik 46.6 Diagnostik 46.6.1 Urethrozystoskopie 46.6.2 Biopsie 46.6.3 Lymphknotendiagnostik 46.7 Therapie und Prognose 46.7.1 Gutartige Tumoren 46.7.2 Bösartige Tumoren 46.8 Literatur
47 Prostatatumoren 47.1 Prostatakarzinom 47.1.1 Epidemiologie 47.1.2 Ätiologie 47.1.3 Screening und Früherkennung 47.1.4 Diagnostik 47.1.5 Therapie des lokal begrenzten und lokal fortgeschrittenen Prostatakarzinoms 47.1.6 PSA-Anstieg nach kurativer Therapie 47.1.7 Therapie des metastasierten hormonsensitiven Prostatakarzinoms 47.1.8 Therapie des kastrationsresistenten Prostatakarzinoms 47.1.9 Nachsorge 47.1.10 Komplikationsmanagement 47.2 Sonstige Prostatatumoren 47.2.1 Prostatasarkom 47.2.2 Transitionalzellkarzinome 47.2.3 Samenblasentumoren 47.2.4 Lymphome in der Prostata 47.2.5 Sonstige Tumoren 47.3 Literatur
48 Hodentumoren 48.1 Einleitung
48.2 Inzidenz und Epidemiologie 48.3 Ätiologie 48.4 Risikofaktoren 48.5 Molekulare Pathogenese 48.6 Symptomatik 48.7 Diagnostik 48.7.1 Klinische Diagnostik 48.7.2 Operative Diagnostik 48.8 Klassifikation 48.8.1 Pathohistologische Klassifikation 48.8.2 Metastasierung 48.8.3 Klinische Klassifikation 48.9 Prognose 48.9.1 Klinisches Stadium I 48.9.2 Fortgeschrittene Stadien 48.10 Therapie 48.10.1 Seminome 48.10.2 Nichtseminome 48.10.3 Salvage-Chemotherapie bei therapierefraktären und rezidivierenden Hodentumoren 48.10.4 Residualtumorresektion 48.11 Komplikationen 48.11.1 Radiotherapie
48.11.2 Lymphadenektomie 48.11.3 Chemotherapie 48.11.4 Rolle der Chemotherapie bei Induktion von soliden Zweitmalignomen 48.11.5 Rolle der Radiotherapie bei der Entstehung von Zweitmalignomen 48.11.6 Hämatologische Zweitneoplasien 48.12 Nachsorge 48.13 Literatur
49 Peniskarzinom 49.1 Einleitung 49.2 Inzidenz, Pathogenese und Prävention 49.2.1 Risikofaktoren 49.2.2 Pathologie 49.2.3 Einteilung 49.2.4 Genetische Alterationen und Molekularpathologie 49.3 Symptomatik 49.4 Diagnostik 49.4.1 Primärtumor 49.4.2 Lymphknotendiagnostik 49.4.3 Fernmetastasen 49.5 Prognose 49.6 Therapie
49.6.1 Stadienadaptierte Therapie 49.6.2 Lymphadenektomie 49.6.3 Chemotherapie 49.7 Nachsorge 49.8 Literatur
50 Maligne Tumoren im Kindesalter 50.1 Einleitung 50.2 Wilms-Tumoren (Nephroblastome) 50.2.1 Inzidenz 50.2.2 Klassifizierung (Pathologie und Stadieneinteilung) 50.2.3 Symptomatik und Diagnostik 50.2.4 Therapie 50.2.5 Prognose 50.3 Neuroblastome 50.3.1 Inzidenz 50.3.2 Klassifizierung (Pathologie und Stadieneinteilung) 50.3.3 Symptomatik und Diagnostik 50.3.4 Therapie 50.3.5 Prognose 50.4 Rhabdomyosarkome 50.4.1 Inzidenz
50.4.2 Klassifizierung (Pathologie und Stadieneinteilung) 50.4.3 Symptomatik und Diagnostik 50.4.4 Therapie 50.4.5 Prognose 50.5 Hodentumoren 50.5.1 Inzidenz 50.5.2 Klassifizierung (Pathologie und Stadieneinteilung) 50.5.3 Symptomatik und Diagnostik 50.5.4 Therapie 50.5.5 Prognose 50.6 Behandlungstrends 50.7 Spätfolgen 50.7.1 Nachsorge 50.8 Literatur
Teil X Blasenentleerungsstörungen im Erwachsenenalter 51 Benignes Prostatasyndrom 51.1 Definitionen und Pathophysiologie 51.1.1 Benigne Prostatahyperplasie 51.2 Epidemiologie
51.2.1 Benigne Prostatavergrößerung 51.2.2 Blasenauslassobstruktion und benigne Prostataobstruktion 51.2.3 Symptome des unteren Harntraktes 51.2.4 Benignes Prostatasyndrom 51.3 Diagnostik 51.3.1 Obligate Diagnostik 51.3.2 Fakultative Diagnostik 51.4 Therapie 51.4.1 Kontrolliertes Zuwarten (Watchful Waiting) 51.4.2 Medikamentöse Therapien 51.4.3 Operative Therapien 51.5 Literatur
52 Harnröhrenstriktur 52.1 Einleitung 52.2 Ätiologie 52.2.1 Kongenitale Striktur 52.2.2 Entzündlich bedingte Harnröhrenstriktur 52.2.3 Iatrogene Harnröhrenstrikturen 52.2.4 Posttraumatische Harnröhrenstriktur 52.3 Diagnostik 52.3.1 Retrogrades Urethrogramm und Miktionsurethrogramm
52.3.2 Uroflowmetrie (Harnflussmessung) 52.3.3 Harnröhrensonografie 52.3.4 Magnetresonanztomografie 52.3.5 Urethroskopie 52.4 Klassifikation 52.5 Therapie 52.5.1 Endoskopische Verfahren 52.5.2 Lasertherapie 52.5.3 Harnröhrenstent 52.5.4 Chirurgische Therapie 52.5.5 Operationsergebnisse 52.5.6 Therapieziele und Wahl des Therapieverfahrens 52.6 Zusammenfassung 52.7 Literatur
53 Neurogene Blasenfunktionsstörungen 53.1 Einleitung 53.2 Anatomie des unteren Harntraktes 53.3 Innervation des unteren Harntraktes 53.3.1 Periphere Innervation 53.3.2 Zentrale Innervation 53.4 Ätiologie und Klassifikation 53.4.1 Suprapontine Schädigung
53.4.2 Schädigung des Rückenmarks 53.4.3 Zentralnervöse Schädigung 53.5 Diagnostik 53.5.1 Anamnese 53.5.2 Neurourologische Untersuchung 53.5.3 Urodynamik 53.5.4 Elektrophysiologische Untersuchungen in der Neurourologie 53.6 Therapie 53.6.1 Konservative Maßnahmen 53.6.2 Operative Maßnahmen 53.7 Literatur
54 Harninkontinenz 54.1 Einleitung 54.2 Epidemiologie 54.3 Anatomie 54.3.1 Anatomie und Physiologie der Frau 54.3.2 Anatomie und Physiologie des Mannes 54.4 Ätiopathogenese 54.5 Klassifikation 54.5.1 Belastungsinkontinenz 54.5.2 Dranginkontinenz 54.5.3 Mischharninkontinenz
54.5.4 Inkontinenz bei neurogener Detrusorhyperaktivität 54.5.5 Inkontinenz bei chronischer Harnretention 54.5.6 Extraurethrale Inkontinenz 54.5.7 Enuresis 54.5.8 Weitere Formen 54.6 Diagnostik 54.6.1 Anamnese 54.6.2 Fragebögen 54.6.3 Miktionsprotokoll 54.6.4 Klinische Untersuchungen 54.6.5 Apparative Diagnostik 54.7 Therapie 54.7.1 Behandlungsalgorithmus 54.7.2 Konservative Basismaßnahmen 54.7.3 Medikamentöse Therapie 54.7.4 Operative Therapie 54.8 Literatur
55 Beckenbodendysfunktionen der Frau 55.1 Einleitung 55.2 Anatomie des Beckenbodens 55.2.1 Muskulatur
55.2.2 Bindegewebige Stützstrukturen des Beckenbodens 55.3 Funktionen des Beckenbodens 55.3.1 Belastungskontinenz 55.3.2 Miktion 55.3.3 Stabilität an der Blasenbasis und Zone der kritischen Elastizität 55.4 Dysfunktionen des Beckenbodens 55.4.1 Belastungsharninkontinenz 55.4.2 Blasenentleerungsstörungen bei vaginalem Prolaps 55.4.3 Überaktive Blase als Folge von vaginalem Prolaps 55.4.4 Nykturie als Folge von apikalem vaginalem Prolaps 55.4.5 Tethered Vagina Syndrome 55.4.6 Beckenschmerzen als Folge von apikalem Prolaps 55.4.7 Posteriores Fornixsyndrom 55.5 Diagnostischer Algorithmus und simulierte Operationen 55.6 Literatur
Teil XI Blasenentleerungsstörungen
im Kindesalter 56 Obstruktive Blasenentleerungsstörungen 56.1 Einleitung 56.2 Hintere Harnröhre 56.2.1 Harnröhrenklappen 56.2.2 Harnröhrenstenosen 56.3 Vordere Harnröhre 56.3.1 Anteriore Harnröhrenklappe, Harnröhrendivertikel 56.3.2 Meatusstenose 56.3.3 Seltene Obstruktionen der Harnröhre 56.4 Literatur
57 Funktionelle Blasenentleerungsstörungen 57.1 Einleitung 57.2 Differenzialdiagnose Harninkontinenz im Kindesalter 57.3 Entwicklung der Blasenkontrolle 57.4 Terminologie 57.5 Symptomatik 57.5.1 Überaktive Blase (OAB) mit Dranginkontinenz 57.5.2 Dysfunktionelle Entleerung
57.5.3 Miktionsaufschub und die schwache, unteraktive Blase 57.5.4 Giggle- oder Lachinkontinenz 57.6 Komorbiditäten 57.7 Diagnostik 57.7.1 Anamnese und körperliche Untersuchung 57.7.2 Uroflowmetrie 57.8 Therapie 57.9 Literatur
58 Enuresis 58.1 Miktionsentwicklung 58.2 Terminologie 58.2.1 Suptypen der Enuresis 58.3 Inzidenz 58.4 Ätiologie und Pathophysiologie 58.5 Diagnostik 58.5.1 Nächtliche Polyurie 58.6 Therapie 58.6.1 Medikamentöse Therapie 58.6.2 Blasenkonditionierung durch Weckapparate – apparative Verhaltenstherapie 58.6.3 Urotherapie 58.6.4 Was tun bei Versagen der Ersttherapie?
58.7 Literatur
Teil XII Harnableitung 59 Harnableitung 59.1 Definition und Nomenklatur 59.2 Pathophysiologische Grundlagen 59.2.1 Oberer Harntrakt 59.2.2 Stoffwechselstörungen 59.2.3 Malabsorptionssyndrome 59.2.4 Karzinomrisiko 59.2.5 Lebensqualität des Patienten 59.2.6 Konstruktionsprinzipien kontinenter intestinaler Harnreservoire 59.2.7 Kontinenzmechanismen 59.3 Formen der Harnableitung 59.3.1 Zystostomie und Nephrostomie 59.3.2 Ureterokutaneostomie 59.3.3 Ileumconduit 59.3.4 Kolonconduit 59.3.5 Neoblasen 59.3.6 Harnableitung in den Dickdarm 59.3.7 Mainz-Pouch II 59.3.8 Ersatzblasen mit kontinentem Stoma 59.4 Blasenaugmentation
59.4.1 Operationstechniken 59.5 Undiversion 59.6 Harnleiterersatz 59.7 Tissue Engineering 59.8 Literatur
Teil XIII Gynäkologische Urologie 60 Gynäkologische Urologie 60.1 Einleitung 60.2 Reizblase (Overactive Bladder) 60.2.1 Ätiologie und Symptomatik 60.2.2 Diagnostik 60.2.3 Innervation 60.2.4 Pathophysiologie und Klassifikation 60.2.5 Therapie 60.2.6 Meatusstenose und distale Urethrastenose 60.2.7 Urethralkarunkel, Polypen und Prolaps 60.2.8 Urethradivertikel 60.2.9 Interstitielle Zystitis 60.3 Blasenentleerungsstörungen 60.3.1 Ätiologie 60.3.2 Symptomatik 60.3.3 Diagnostik
60.3.4 Pathophysiologie und Klassifikation 60.3.5 Therapie 60.4 Urologische Schwangerschaftskomplikationen 60.4.1 Physiologie der Harnwege in der Schwangerschaft 60.4.2 Diagnostik 60.4.3 Schwangerschaftspyelonephritis 60.4.4 Urolithiasis 60.4.5 Differenzialdiagnose der Nephropathien in der Schwangerschaft 60.4.6 Präexistente Harntraktanomalien 60.4.7 Nierentransplantation 60.5 Urologische Komplikationen gynäkologischer Erkrankungen 60.5.1 Endometriose 60.5.2 Radiozystitis 60.5.3 Iatrogene Läsionen der ableitenden Harnwege 60.5.4 Extrinsische Ureterobstruktionen 60.5.5 Vordere Exenteration bei gynäkologischen Malignomen 60.6 Literatur
Teil XIV Andrologie
61 Erektile Dysfunktion und andere penile Erkrankungen 61.1 Erektile Dysfunktion 61.1.1 Definition und Epidemiologie 61.1.2 Anatomie 61.1.3 Physiologie 61.1.4 Pathophysiologie der Erektion 61.1.5 Diagnostik 61.1.6 Therapie 61.2 Penisdeviationen 61.2.1 Kongenitale Penisdeviation 61.2.2 Erworbene Penisdeviation 61.2.3 Induratio penis plastica 61.3 Priapismus 61.3.1 Definition und Epidemiologie 61.3.2 Einteilung und Symptomatik 61.3.3 Ätiologie 61.3.4 Diagnostik 61.3.5 Therapie 61.4 Penisfraktur 61.4.1 Ätiologie und Symptomatik 61.4.2 Diagnostik 61.4.3 Therapie 61.5 Literatur
62 Infertilität des Mannes und andrologische Mikrochirurgie 62.1 Einleitung 62.2 Begriffsbestimmung und Epidemiologie 62.2.1 Definition 62.2.2 Epidemiologie 62.3 Ätiologie 62.3.1 Anatomische Faktoren 62.3.2 Endokrine Faktoren 62.3.3 Genetische Faktoren 62.3.4 Entzündungsbedingte Faktoren 62.3.5 Immunologische Faktoren 62.3.6 Reaktive Sauerstoffspezies bei männlicher Fertilität 62.3.7 Andere Umweltfaktoren 62.3.8 latrogene Faktoren 62.3.9 Noxen 62.3.10 Genitalveränderungen 62.3.11 Idiopathische Störungen 62.4 Pathogenese 62.5 Diagnostik 62.5.1 Anamnese 62.5.2 Klinische Untersuchungen 62.5.3 Labordiagnostik
62.5.4 Hodenbiopsie 62.5.5 Nichtobstruktive Azoospermie (NOA)(1) 62.6 Therapie 62.6.1 Kausale Therapie 62.6.2 Operative Therapie 62.7 Weitere Ursachen männlicher Infertilität 62.7.1 Spermatozele 62.7.2 Maldeszensus und Kryptorchismus 62.7.3 Varikozele(2) 62.8 Vasektomie 62.8.1 Definition, Epidemiologie 62.8.2 Indikationen 62.8.3 Operative Techniken 62.8.4 Prognose, Komplikationen 62.9 Moderne reproduktionsmedizinische Verfahren (ART) 62.9.1 Homologe Insemination bei männlichem Sterilitätsfaktor 62.9.2 In-vitro-Fertilisation (IVF) 62.9.3 Intrazytoplasmatische Spermatozoeninjektion (ICSI) 62.9.4 Mikrochirurgische epididymale Gewinnung von Spermatozoen (MESA) 62.10 Literatur
Teil XV Nierentransplantation 63 Nierentransplantation 63.1 Einleitung 63.2 Terminales Nierenversagen 63.2.1 Inzidenz und Ätiologie 63.2.2 Klinik, Symptomatik 63.3 Nierenersatztherapie 63.3.1 Hämodialyse 63.3.2 Peritonealdialyse 63.3.3 Nierentransplantation 63.4 Geschichte der Nierentransplantation 63.5 Gesetzesgrundlage und Organisation der NTX in Deutschland 63.6 Organmangel: Ursachen und Lösungsansätze 63.6.1 Erweiterung der Spendekriterien 63.6.2 Lebendnierenspenden steigern 63.7 Organisation der Nierentransplantation in Deutschland 63.7.1 Organisation der Nierentransplantation von Nieren verstorbener Spender 63.7.2 Organisation der Nierentransplantation von Nieren lebender Spender 63.8 Evaluation und Vorbereitung des Empfängers
63.8.1 Allgemeine Vorbereitung 63.8.2 Urologische Aspekte der Vorbereitung 63.9 Operative Techniken der Nierenentnahme zur Transplantation 63.9.1 Nierenentnahme bei verstorbenen Spendern 63.9.2 Nierenentnahme bei lebenden Spendern 63.10 Operative Techniken der Nierentransplantation 63.10.1 Präparation der Spenderniere 63.10.2 Implantation 63.10.3 Operative Besonderheiten der Transplantation 63.11 Immunsuppression bei der Nierentransplantation 63.11.1 Wirkweise der Immunsuppression 63.11.2 Nebenwirkungen der Immunsuppression 63.11.3 Wirkstoffe 63.11.4 Behandlung einer Abstoßungsreaktion (Rejektion) 63.11.5 Behandlung der chronischen AllograftDysfunktion 63.12 Frühe Nachsorge und Frühkomplikationen
63.12.1 Nicht operationsbedingte Frühkomplikationen 63.12.2 Operationsbedingte Frühkomplikationen 63.13 Langzeitnachsorge und Spätkomplikationen 63.13.1 Operationsbedingte Spätkomplikationen 63.13.2 Nicht operationsbedingte Spätkomplikationen 63.13.3 Langfristige Nachsorge 63.14 Langzeitergebnisse der Nierentransplantation 63.15 Ausblick und Zukunft 63.16 Literatur
Teil XVI Notfälle 64 Urologische Traumatologie 64.1 Einleitung 64.2 Allgemeines 64.2.1 Inzidenz 64.2.2 Pathomechanismus 64.3 Verletzungen des Urogenitaltraktes 64.3.1 Nierentrauma 64.3.2 Harnleiterverletzung 64.3.3 Blasenruptur
64.3.4 Harnröhrenverletzung 64.3.5 Penisverletzung 64.3.6 Hodentrauma 64.3.7 Verletzungen des Urogenitaltraktes bei sexuellem Missbrauch 64.4 Harnableitung beim polytraumatisierten Patienten 64.5 Literatur
65 Urologische Notfälle 65.1 Einleitung 65.2 Anurie 65.2.1 Postrenale Anurie 65.2.2 Renale Anurie 65.2.3 Prärenale Anurie 65.3 Harnverhalt (Ischurie) 65.3.1 Ätiologie und Pathogenese 65.3.2 Symptomatik 65.3.3 Diagnostik 65.3.4 Therapie 65.4 Harnsteinkolik 65.4.1 Ätiologie und Pathogenese 65.4.2 Symptomatik 65.4.3 Diagnostik 65.4.4 Therapie
65.5 Urosepsis 65.5.1 Ätiologie und Pathogenese 65.5.2 Symptomatik 65.5.3 Diagnostik 65.5.4 Therapie 65.6 Makrohämaturie 65.6.1 Schmerzhafte Makrohämaturie 65.6.2 Schmerzlose Makrohämaturie 65.6.3 Blasentamponade 65.7 Akutes Skrotum 65.7.1 Hodentorsion 65.7.2 Hydatidentorsion 65.7.3 Epididymitis 65.7.4 Orchitis 65.7.5 Mumpsorchitis 65.7.6 Akute Hydrozele 65.7.7 Hodentumor 65.7.8 Hodenruptur 65.7.9 Inkarzerierte Leistenhernie 65.8 Priapismus 65.8.1 Ätiologie und Pathogenese 65.8.2 Symptomatik und Diagnostik 65.8.3 Therapie 65.9 Paraphimose
65.9.1 Ätiologie und Pathogenese 65.9.2 Diagnose 65.9.3 Therapie 65.10 Literatur
Teil XVII Genderdysphorie 66 Genderdysphorie 66.1 Einleitung 66.2 Epidemiologie 66.3 Ätiologie 66.4 Begriffsklärung 66.5 Diagnose als Zugang zum medizinischen System 66.5.1 Variation oder Pathologie 66.5.2 Geschlechtsinkongruenz und Minderheitenstress 66.5.3 Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie 66.6 Behandlung der Genderdysphorie 66.6.1 Psychotherapie 66.6.2 Hormonelle Therapie 66.6.3 Chirurgische Therapie 66.7 Transsexualität und Diskriminierung 66.8 Literatur
Teil XVIII Urologie im Alter 67 Urologie im Alter 67.1 Einleitung 67.1.1 Demografischer Wandel 67.1.2 Sozioökonomische Aspekte des demografischen Wandels 67.2 Altersbedingte Veränderungen 67.2.1 Krankheit im Alter 67.2.2 Funktionale Gesundheit 67.2.3 Alter, Altern und Älterwerden 67.3 Therapieplanung bei älteren und alten Menschen 67.3.1 Geriatrisches Assessment 67.3.2 Praktisches Vorgehen beim geriatrischen Assessment 67.4 Geriatrische Syndrome 67.4.1 Delirantes Syndrom 67.4.2 Multimorbidität und Polypharmazie 67.5 Praktische Tipps bei der Arzneimittelverordnung geriatrischer Patienten 67.6 Literatur
Anschriften Sachverzeichnis
Impressum/Access Code
Teil I Allgemeine Urologie
I Urologische Diagnostik 1 Klinische Untersuchung 2 Labordiagnostik 3 Urinzytologie 4 Ultraschall 5 Transrektaler Ultraschall 6 Doppler-/Duplexsonografie 7 Strahlenschutz, interventionelle radiologische Methoden 8 Urologische Röntgendiagnostik 9 Computertomografie 10 Magnetresonanztomografie 11 Nuklearmedizin 12 PET und PET/CT bei urologischen Tumoren 13 Endoskopische Diagnostik 14 Urodynamik
1 Klinische Untersuchung C.-H. Sparwasser
1.1 Einleitung Das Fachgebiet der Urologie umfasst alle Erkrankungen des weiblichen Harntraktes sowie des männlichen Harn- und Geschlechtsapparates, wobei sich aufgrund der pathophysiologischen Zusammenhänge und auch der anatomischen Nachbarschaft zu den Organen des kleinen Beckens, des Retroperitoneums und des Abdomens eine enge Verzahnung mit den verschiedensten Fachdisziplinen, wie Abdominal-, Gefäß- und Unfallchirurgie, Gynäkologie, Pädiatrie, innere Medizin mit Onkologie, Nephrologie und Endokrinologie sowie der Neurologie, ergibt. Etwa 15% aller in der allgemeinärztlichen Praxis anfallenden Beschwerden oder Abnormalitäten betreffen das urologische Fachgebiet. Bei onkologischen Fragestellungen nimmt die Urologie eine zentrale Rolle ein, in Deutschland sind fast 40% aller bösartigen Neubildungen beim Mann im Urogenitalbereich lokalisiert.
1.2 Anamnese Anamneseerhebung und primäre körperliche Untersuchung bilden die Grundlage für einen rationellen und sinnvollen Einsatz aller weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.
Die Anamneseerhebung wird untergliedert in: aktuelle Beschwerden, Vorgeschichte mit Familienanamnese und Sozialanamnese. Die Krankheitsvorgeschichte beinhaltet die Erfragung relevanter Begleit- oder Vorerkrankungen, bei Frauen eine gynäkologische Anamnese, die Frage nach einer allergischen Diathese (Kontrastmittel- oder Antibiotikaallergie) sowie die Erhebung der Medikamentenanamnese (z.B. Antikoagulanzien?) und des Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsums. Zur Klärung einer familiären Disposition sollte auf die Erhebung einer Familienanamnese nicht verzichtet werden. Fragen nach Beruf und sozialem Umfeld vervollständigen die Anamneseerhebung. Die aktuellen Beschwerden werden in der Regel vom Patienten konkret und oft detailliert geschildert und als urologisch relevante Symptome unterteilt in: Schmerz, Miktionsstörung, Urin- oder Ejakulatveränderung, schmerzlose Veränderungen oder Funktionsstörungen des Genitale, unspezifische Allgemeinsymptome.
1.2.1 Schmerz Akuter Schmerz entsteht meist monokausal durch mechanische, thermische oder chemische bzw. entzündliche Einwirkung, der Ursprung chronischer Schmerzen ist
dagegen oft schwer zu erkennen und häufig multifaktoriell bedingt. Bei chronischen Schmerzzuständen kommt Persönlichkeitsfaktoren und sozialen Einflüssen eine ungleich größere Bedeutung zu als bei dem auf eine drohende oder bereits eingetretene Gewebeschädigung hinweisenden akuten Schmerz. Das Erscheinungsbild von Schmerzsyndromen allein erlaubt keine verlässlichen Rückschlüsse auf deren Genese. Vielmehr können ähnliche Symptome auf einer völlig unterschiedlichen Ätiopathogenese beruhen und damit zu Fehldeutungen oder Fehlbehandlungen verleiten. Im Urogenitaltrakt wird Schmerz in der Regel als Folge einer Organüberdehnung bei Obstruktion oder einer Entzündungsreaktion empfunden. Der Schmerz kann direkt im erkrankten Organ erfahren oder auf andere Organsysteme projiziert werden. Typische Schmerzformen sind in der Übersucht zusammengestellt.
Übersicht Typische Schmerzformen der gleichbleibende Organschmerz die wellenförmig verlaufende Kolik der durch den Untersucher auslösbare Tast- und Druckschmerz
1.2.1.1 Nierenschmerzen Nierenorganschmerz Die Volumenzunahme des Nierengewebes durch ein entzündliches Ödem, eine chronische Obstruktion oder einen expansiven Tumor bewirkt eine schmerzhafte Kapseldehnung, die als ein dumpfer Dauerschmerz in die Kostovertebralregion mit Ausstrahlung in den Oberbauch
und die Nabelgegend projiziert wird. Das prärenale Peritoneum parietale kann dabei gereizt werden, woraus eine abdominelle Abwehrspannung resultiert, die eine differenzialdiagnostische Abgrenzung intraabdomineller Krankheitsbilder wie z.B. Appendizitis, Divertikulitis, Cholezystitis oder Adnexitis erfordert ( ▶ Abb. 1.1). Der Nierenorganschmerz ist typisch für eine akute Pyelonephritis oder einen paranephritischen Abszess. Hierbei ist das Nierenlager druck- und klopfempfindlich, die Symptomatik kann durch die entzündliche Psoasreizung mit Schonbeugung der Hüfte verstärkt werden. Abb. 1.1 Schmerzausstrahlung bei verschiedenen intra- und retroperitonealen Erkrankungen.
Abb. 1.1a Gallenkolik.
Abb. 1.1b Cholezystitis
Abb. 1.1c Appendizitis.
Abb. 1.1d Pankreatitis.
Abb. 1.1e Nierenkolik.
Merke Abzugrenzen hiervon sind immer die von den Patienten häufig in die Nierenregion projizierten „chronischen Kreuzschmerzen“, die meist durch statische oder degenerative Wirbelsäulenprobleme mit muskulären Verspannungen bedingt sind, aber dennoch zum Ausschluss eines urologischen Krankheitsbildes zwingen.
Nieren- und Harnleiterkolik Die Kolik ist charakterisiert durch einen anfallsweise auftretenden, sich zu einer oft unerträglichen Intensität steigernden und dann plötzlich abklingenden Schmerz. Der typische Kolikpatient ist rastlos und unruhig. Häufigste Ursachen sind Konkremente, aber auch obstruierende Blutkoagel oder Tumorpartikel sowie abgestoßene Nierenpapillen, die zu einem Spasmus des Nierenbeckenkelchsystems oder des Ureters führen können. Aufgrund der teilweise gemeinsamen sensiblen Versorgung der Urogenitalorgane ist der Schmerzcharakter von der Lokalisation der Obstruktion abhängig. Bei Nierenkelchoder -beckensteinen bleibt der Schmerz auf die Niere begrenzt, bei hohen Uretersteinen kann die Kolik in den Samenstrang und den Hoden ausstrahlen. Lumbale Uretersteine zeigen eine Hyperästhesie des ipsilateralen Skrotums bzw. der Labia majora. Beim prävesikalen Stein wird der Schmerz mehr im Bereich der Urethra und der Glans penis bzw. Klitoris mit gleichzeitiger Pollakisurie empfunden. Häufig finden sich bei Kolikschmerzen vegetative Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen, Darmatonie bis hin zu einem Kreislaufkollaps mit Blutdruckabfall und Pulsbeschleunigung. Ähnliche Symptome sind auch bei
verschiedenen Erkrankungen des Abdomens sowie des kleinen Beckens möglich, diese müssen daher in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden ( ▶ Abb. 1.1).
1.2.1.2 Harnblasenschmerz Blasenschmerzen entstehen aufgrund einer Harnretention bei infravesikaler Obstruktion oder sind entzündlicher Genese. Die akut überdehnte Blase (Harnverhalt) führt zu heftigsten suprapubischen Schmerzen, während Patienten mit chronischer Überdehnung der Blase, z.B. bei neurogenen Störungen, oft keine oder nur geringe Beschwerden schildern. Akute Entzündungen zeigen einen suprapubischen Spontan- und Druckschmerz, permanente Blasenschmerzen können Ausdruck einer Schrumpfblase (nach Strahlentherapie, interstitieller Zystitis, Tuberkulose) sein. Die Blasenschmerzen treten in der Regel in Kombination mit dysurischen Miktionsbeschwerden auf.
1.2.1.3 Prostataschmerz Lokale Prostatabeschwerden werden als perineales Druckoder Spannungsgefühl geschildert. Defäkations- und Ejakulationsschmerzen in Verbindung mit dysurischen Beschwerden kennzeichnen die akute Entzündung oder den Prostataabszess. Die rektale Palpation ist dabei hochgradig schmerzhaft, der Analsphinkter oft spastisch kontrahiert. Die Symptomatik der chronischen Prostatitis ist uncharakteristisch mit teils typischen Entzündungszeichen (Dysurie, Ausfluss, Pyo- oder Hämospermie), aber auch häufig durch unspezifische, diffuse Schmerzen im Genitalund Analbereich charakterisiert. Die beiden häufigsten Erkrankungen der Prostata, das Prostatakarzinom und die Prostatahyperplasie, sind üblicherweise nicht mit charakteristischen Prostataschmerzen verbunden.
1.2.1.4 Peniler Schmerz
Penile und urethrale Schmerzen weisen in der Regel direkt auf den Ort der Erkrankung hin. Erektionsabhängige Schmerzen werden häufig bei der Induratio penis plastica angegeben. Bei tiefen Uretersteinen oder auch bei einer akuten Zystitis können die Schmerzen in die vordere Harnröhre oder die Glans penis projiziert werden.
1.2.1.5 Skrotalschmerz Rasch einsetzenden Schmerzen im Skrotum liegt entweder ein Trauma, eine Hoden- oder Hydatidentorsion, eine akute Orchitis bzw. Epididymitis oder seltener eine inkarzerierte Skrotalhernie zugrunde. In allen Fällen ist der Hoden hochgradig druckempfindlich; das Hochlagern des Hodens wird bei der akuten Epididymitis – nicht aber bei einer Torsion – als schmerzlindernd empfunden (positives PrehnZeichen). Der Schmerz kann bei der Torsion urplötzlich („aus dem Schlaf heraus“) einsetzen, ist äußerst heftig und oft mit vasovagalen Reaktionen (Übelkeit, Erbrechen, Kollaps) verbunden. Bei der Epididymitis verläuft die Schmerzentwicklung im Allgemeinen protrahierter (innerhalb von Stunden), gleichzeitige dysurische Beschwerden sind charakteristisch. Hydrozelen, Spermatozelen, Varikozelen und auch die Hodentumoren führen selten zu ausgeprägten lokalen Schmerzen, typischerweise berichten die Patienten über ein Schwere- oder Spannungsgefühl im Skrotum.
1.2.2 Miktionsstörung Merke Unter normalen Bedingungen liegt die Blasenkapazität beim Erwachsenen zwischen 350–450 ml. Das Miktionsintervall
beträgt bei einer mittleren Diurese von 70–100 ml/h tagsüber damit bei 4–6 Stunden. Eine nächtliche Blasenentleerung ist nicht die Regel. Die gesunde Miktion erfolgt schmerz- und weitgehend restharnfrei mit einer Flussrate von 20–30 ml/s.
Praxis Viele urologische Erkrankungen bedingen Änderungen des Miktionsverhaltens, die gezielt erfragt werden müssen und entscheidende Hinweise auf die ursächliche Störung geben können. Die Anwendung von validierten Fragebögen (z.B. International Prostate Symptom Score, IPSS) kann dabei hilfreich sein. Miktionsstörungen können in erheblichem Maße die Lebensqualität der betroffenen Patienten einschränken.
1.2.2.1 Anurie und Oligurie Bei der Anurie liegt eine Urinausscheidung von weniger als 100 ml/24 h, bei der Oligurie von weniger als 500 ml/24 h vor. Ursache ist ein akutes oder chronisches Nierenversagen renaler, prärenaler oder postrenaler (urologischer) Genese. Als Differenzialdiagnosen kommen der akute Harnverhalt oder die Überlaufblase bei infravesikaler Obstruktion in Betracht.
1.2.2.2 Polyurie Bei einer Urinausscheidung von über 2,8 l/24 h spricht man von Polyurie. Ursachen können sein: vermehrte Flüssigkeitszufuhr, Diuretika, Diabetes mellitus,
Diabetes insipidus, Entlastungspolyurie nach Nierenversagen.
1.2.2.3 Dysurie Der Begriff der Dysurie beinhaltet alle Symptome der erschwerten und schmerzhaften Miktion.
Algurie Hiermit bezeichnet man das schmerzhafte Wasserlassen, wie es insbesondere bei Entzündungen des unteren Harntraktes, aber auch bei Fremdkörpern oder Tumoren vorkommen kann. Die terminale Algurie bei der Entleerung der letzten Urinportion ist typisch für Läsionen des Blasenhalsbereiches.
Pollakisurie Eine erhöhte Miktionsfrequenz wird als Pollakisurie bezeichnet (tagsüber: Diurie, nachts: Nykturie). Zugrunde liegen kann eine Polyurie, die sich z.B. bei dekompensierter Herzinsuffizienz mit nächtlicher Flüssigkeitsausschwemmung als Nykturie äußert. In der urologischen Praxis wird die Pollakisurie meist durch Entzündungen oder Obstruktionen des unteren Harntraktes (benignes Prostatasyndrom) verursacht. Die Miktionsintervalle können auf Minuten verkürzt sein und die Patienten entleeren nur wenige Tropfen Urin.
Imperativer Harndrang Hierunter versteht man einen nicht unterdrückbaren Harndrang bei geringer Blasenfüllung. Ursächlich sind Entzündungen, Fremdkörper und Tumoren des unteren Harntraktes, aber auch neurogene Blasenentleerungsstörungen (z.B. autonome Blase), die alle letztlich auch zu einer Dranginkontinenz führen können.
1.2.2.4 Harnstrahlveränderungen
Bedingt durch eine meist obstruktive infravesikale Störung kommt es zu Veränderungen des normalen Miktionsablaufes. Typische Symptome sind verzögerter Miktionsbeginn, Harnstrahlabschwächung, verlängerte Miktionszeit oder Restharngefühl. Über Nachträufeln nach dem Urinieren wird häufig bei der Prostatahyperplasie geklagt, ursächlich kann aber auch ein Harnröhrendivertikel vorliegen. Eine stotternde Harnstrahlunterbrechung entsteht durch einen ventilartigen Verschluss des Blasenhalses unter der Miktion, z.B. bei Blasensteinen, kann aber auch Ausdruck einer neurogenen Störung (Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie) sein. Eine zweizeitige Miktion kann in der Folge eines vesikorenalen Refluxes oder eines Blasendivertikels entstehen. Die Palmurie bezeichnet eine fächerförmige Aufspreizung des Harnstrahles, bedingt durch Veränderungen der distalen Urethra oder des Meatus urethrae (z.B. Strikturen, Kondylomata).
1.2.2.5 Harninkontinenz Inkontinenz bedeutet das Unvermögen, den Urin willkürlich zurückzuhalten, wobei verschiedene Formen unterschieden werden müssen.
Totale Inkontinenz Hierunter wird der ständige Urinverlust verstanden, der auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen ist: kongenital, z.B. Blasenekstrophie, ektope Uretermündung, traumatische, iatrogene oder neurogene Läsion des Sphinkterapparates,
Fistelbildung, z.B. vesikovaginale Fistel.
Überlaufinkontinenz Der Begriff Überlaufinkontinenz bezeichnet den Urinverlust bei chronischer Harnretention und einer Überlaufblase. Ursache ist eine infravesikale Obstruktion.
Drang-/Urgeinkontinenz Hierbei handelt es sich um den Urinabgang bei imperativem Harndrang infolge von neurogen oder idiopathisch bedingten unwillkürlichen Detrusorkontraktionen (Detrusorhyperaktivität) oder Sensibilitätsstörungen (hypersensitive Blase), verursacht durch akute und chronische Zystitiden, chronische infravesikale Obstruktion oder neurogene Störungen.
Belastungsinkontinenz Typisch hierbei ist der unwillkürliche Urinverlust bei intraabdomineller Druckerhöhung durch Husten, Niesen, Lachen, Heben etc. Ursachen können eine Beckenbodeninsuffizienz oder eine partielle Sphinkterschädigung sein.
1.2.3 Urin- oder Ejakulatveränderungen 1.2.3.1 Makrohämaturie Vorsicht Die schmerzlose Makrohämaturie ist das Kardinalsymptom einer urogenitalen Neoplasie. Bei einer Makrohämaturie muss immer ein Karzinom im Urogenitaltrakt ausgeschlossen werden.
Die Makrohämaturie stellt ein für den Patienten alarmierendes Leitsymptom dar. Die initiale Form weist auf eine urethrale Blutungsquelle hin, terminale Blutbeimengungen des Urins entstehen infolge von Blutungen im Blasenhalsbereich. Die totale Makrohämaturie zeigt eine intra- oder supravesikale Blutungsquelle an; eine schmerzhafte Makrohämaturie kann steinbedingt mit Koliken oder entzündlich (hämorrhagische Zystitis) mit dysurischen Beschwerden einhergehen. Auch bei dieser Form muss letztlich ein Malignom ausgeschlossen werden.
1.2.3.2 Pseudohämaturie Eine Hämaturie kann durch eine Vielzahl von Nahrungsmitteln und Medikamenten, aber auch durch Stoffwechselerkrankungen (Porphyrie, Alkaptonurie) vorgetäuscht werden.
1.2.3.3 Urintrübung Eine trübe bis milchige Verfärbung des Urins bei sonst asymptomatischen Patienten ist oft harmlosen Ursprungs und die Folge der Ausfällung von Phosphaten im alkalischen Urin (Phosphaturie). Im Rahmen von Harnwegsinfekten kann es ebenfalls zur Urintrübung durch reichliche Ausscheidung von Leukozyten kommen (Leukozyturie, Pyurie).
1.2.3.4 Pneumaturie und Fäkalurie Luft- oder Stuhlbeimengungen des Urins werden als Pneumaturie, bzw. Fäkalurie bezeichnet und sind praktisch immer Ausdruck einer vesikointestinalen Fistel.
1.2.3.5 Hämospermie Das Auftreten von Blut im Sperma ist in der Mehrzahl der Fälle idiopathisch bedingt (vegetatives Urogenitalsyndrom), kann aber auch als Folge einer Prostatitis, eines Traumas,
einer Prostatahyperplasie und selten eines Prostatakarzinoms auftreten.
1.2.3.6 Urethraler Ausfluss Typisch ist der rahmig-eitrige Fluor der Gonokokkenurethritis (Bonjour-Tropfen), nichtgonorrhoische Urethritiden zeigen eher ein wässrig-glasiges Sekret. Die weitere Abklärung erfordert spezielle mikroskopische und bakteriologische Untersuchungen.
1.2.4 Schmerzlose Veränderungen oder Funktionsstörungen des Genitales Die im nachfolgenden genannten Erkrankungen des Genitales werden in späteren Abschnitten detailliert abgehandelt und daher hier nur tabellarisch aufgeführt: kongenitale Veränderungen (Hypo-, Epispadie, Phimose), Hauterkrankungen von Penis oder Skrotum, Penistumoren, Infertilität, erektile Dysfunktion, Hodenvergrößerung: Hydrozele, Spermatozele, Varikozele, Skrotalhernie, Skrotalödem, Hodentumor.
1.2.4.1 Unspezifische Allgemeinsymptome
Appetitlosigkeit, Widerwillen gegen bestimmte Speisen, vermehrtes Durstgefühl, Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit, Müdigkeit oder Fieber können neben zahlreichen anderen anamnestischen Angaben auch auf ein urologisches Grundleiden hinweisen und zu einer weiteren speziellen urologischen Diagnostik veranlassen.
1.3 Körperliche Untersuchung Generell erfolgt auch die urologische Untersuchung nach dem allgemein gültigen Schema Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation. Selbstverständlich ist die spezielle urologische Untersuchung durch eine adäquate Gesamtuntersuchung des Patienten zu ergänzen. Symptome und Befunde wie periphere Ödeme, Lymphknotenschwellungen, Gynäkomastie, Behaarungsoder Wachstumsanomalien können auch durch ein primär urologisches Krankheitsbild erklärt sein und bedürfen meist einer weiteren Abklärung.
1.3.1 Nieren Die Inspektion der Flankenregion wird am günstigsten beim stehenden oder sitzenden Patienten vorgenommen. Eine Schonhaltung mit konvexer Skoliose zur gesunden Seite kann einen entzündlichen Nierenprozess mit Psoasreizung anzeigen. Bei sehr schlanken Patienten kann eine große Raumforderung als sichtbare Vorbuckelung imponieren. Eine lokale Rötung oder ein Ödem weisen auf eine renale oder pararenale Entzündung hin. Die Nierenpalpation erfolgt bimanuell am liegenden Patienten, wobei mit der einen Hand von dorsal die Flanke
angehoben wird, während die andere Hand von ventral unter dem Rippenbogen gegenpalpiert. Normalerweise sind die Nieren allerdings aufgrund ihrer geschützten Lage beim Erwachsenen nicht tastbar, große Raumforderungen oder auch eine Senkniere sind mitunter aber palpatorisch zu erfassen. Die Perkussion der Nieren wird von dorsal durchgeführt, ein klopf- oder druckdolentes Nierenlager weist auf eine akute Obstruktion oder einen entzündlichen Prozess hin. In der Abklärung einer möglichen renalen Hypertonie können auskultatorisch Gefäßgeräusche bei einer Nierenarterienstenose, einem Aneurysma oder einer arteriovenösen Fistel festgestellt werden.
1.3.2 Harnblase Die Untersuchung der Harnblase wird am besten an dem auf dem Rücken liegenden Patienten durchgeführt; eine hoch stehende, prallgefüllte Harnblase ist so mitunter durch die Inspektion allein erkennbar. Generell lässt sich die Harnblase beim Erwachsenen ab einer Füllung von etwa 150 ml suprasymphysär tasten, bei Kindern ist dies auch bei sehr viel geringeren Volumina möglich. Ein Druckschmerz über der Blasenregion ist beim Harnverhalt sowie bei Zystitiden auszulösen. Bei adipösen Patienten kann die Perkussion des Unterbauches eine bessere Information über die Blasenfüllung bieten als die Palpation (Dämpfung des Klopfschalls über der gefüllten Blase). Durch eine bimanuelle Untersuchung der Harnblase kann zwischen den von abdominell und rektovaginal tastenden Händen die Beweglichkeit der Blase eingeschätzt, ein größerer Tumor getastet und dessen Beziehung zur
Beckenwand beurteilt werden. Die Untersuchung sollte bei optimaler Relaxation unter Narkose und vor der transurethralen Tumorresektion erfolgen. Eine Fixierung an der Beckenwand spricht für einen tief infiltrierenden, organüberschreitenden Tumor.
1.3.3 Penis Die Inspektion des Penis klärt direkt einige Erkrankungen wie Phimose, Parafimose oder Priapismus. Das Zurückstreifen des Präputiums ist obligatorisch, um glanduläre entzündliche Veränderungen, z.B. Balanitiden, Condylomata accuminata oder einen Herpes genitalis, zu diagnostizieren, aber auch, um ein Peniskarzinom oder präkanzeröse Veränderungen nicht zu übersehen. Die Lage und Größe des Meatus externus urethrae ist zu beachten und hypospade oder epispade Fehlmündungen festzuhalten. Durch das Ausstreichen der Harnröhre nach distal kann urethraler Ausfluss exprimiert und zur weiteren Diagnostik gesammelt werden. Verhärtungen in der Tunika der Corpora cavernosa bei Induratio penis plastica sind palpatorisch gut fassbar und sollten in Größe und Lage beschrieben werden. Indurationen im urethralen Corpus spongiosum können bei Harnröhrenstrikturen palpabel sein.
1.3.4 Skrotum Die Inspektion des Skrotums lässt oft sofort Größenzunahme, Seitendifferenzen, Ödem oder Rötung erkennen. Hoden, Nebenhoden und Samenstrang sind in der Regel gut palpatorisch beurteilbar und voneinander abzugrenzen. Die Hodengröße ist altersabhängig sowie individuell unterschiedlich und kann im Vergleich mit einem standardisierten Orchidometer objektiviert werden.
Vorsicht Indurationen im Hoden sind immer tumorverdächtig und bedürfen somit einer weiteren – zunächst sonografischen – Abklärung. Kleine, auf der Tunica albuginea gelegene Verhärtungen können einer fibrotischen Hydatide testis entsprechen. Bei einer ausgeprägten Hydrozele ist die palpatorische Beurteilung des Hodens evtl. nicht möglich und eine alleinige Diaphanoskopie des Skrotums nie ausreichend, da sonst ein mit einer Begleithydrozele einhergehender Hodentumor übersehen werden könnte. Lageanomalien des Hodens sind oft erst in Verbindung mit der Anamnese zu klassifizieren. Der Pendelhoden ist meist skrotal gelegen und kann beim gelegentlichen Dislozieren nach inguinal wieder leicht reponiert werden. Gleithoden liegen häufig inguinal, können aber nach skrotal luxiert werden. Leistenhoden sind mitunter inguinal palpabel, verschwinden aber möglicherweise im inneren Leistenring – insbesondere in Verbindung mit einem offenen Processus vaginalis – und sind dann nicht mehr beurteilbar. Ein am oberen Skrotalpol hoch stehender Hoden kann in Verbindung mit einem akuten Schmerzereignis auf eine Hodentorsion hinweisen. Der Nebenhoden verläuft entlang der posterolateralen Hodenkonvexität und kann palpatorisch in Nebenhodenkopf, -körper und -schwanz differenziert werden. Durch eine Hodentorsion kann es zu einer medialen Verlagerung der Nebenhodenstrukturen kommen.
Merke
Generell ist bei der Beurteilung des Nebenhodens besonders auf Druckschmerz und Indurationen als Zeichen einer Epididymitis zu achten. Nebenhodentumoren sind selten. Die klinisch bedeutsame Differenzialdiagnose zwischen akuter Epididymitis und Hodentorsion ist aufgrund des starken Druckschmerzes und der ungenügenden Abgrenzbarkeit der skrotalen Strukturen palpatorisch oft nicht möglich und kann vielfach nur durch die operative Freilegung geklärt werden. Kugelige, prallelastische Raumforderungen – meist am oberen Hodenpol – stellen häufig Spermatozelen dar. Bei der Palpation des Samenstranges erfolgt die Beurteilung des Ductus deferens, der typischerweise eine „stricknadelartige“ Konsistenz aufweist. Die Feststellung einer kongenitalen Duktusaplasie ist für die weitere Diagnostik einer Azoospermie wegweisend. Durch ein Valsalva-Manöver oder eine Untersuchung im Stehen kann eine Varikozele entdeckt werden. Der Anprall des zurückfließenden venösen Blutes und der typische „wurmartige“ Tastbefund sind charakteristisch. Die idiopathische Varikozele läuft im Liegen aus, bei symptomatischen Varikozelen (z.B. retroperitonealen Tumoren) persistiert der Befund auch bei Lageänderung. Zum Abschluss der skrotalen Untersuchung erfolgt die Palpation der inguinalen Lymphknoten und des Leistenkanals, die intraabdominale Druckerhöhung mittels Valsalva-Manöver ermöglicht dabei die Entdeckung manifester oder inzipienter Leistenhernien.
1.3.5 Digital-rektale Untersuchung (DRU) Merke
Indikation zur DRU besteht bei allen Miktionsstörungen, außerdem sollte sie bei allen Früherkennungsuntersuchungen von Männern über dem 45. Lebensjahr angeboten werden. Generell ist eine Beurteilung von Anus, Rektum, Prostata, Samenblasen und Douglas-Raum möglich. Zunächst erfolgt die Inspektion der Analgegend auf Marisken, Fissuren, Hämorrhoiden oder Analfisteln. Die DRU kann in verschiedenen Positionen vorgenommen werden; meistens wird die Untersuchung in Seitenlage des Patienten mit stark in der Hüfte abgewinkelten Beinen oder im Stehen mit gebeugter Hüfte und auf der Untersuchungsliege aufgestützten Ellenbogen durchgeführt ( ▶ Abb. 1.2). Die Untersuchung sollte behutsam (langsames Einführen des Fingers, ausreichend Gleitmittel) erfolgen. Abb. 1.2 Patientenpositionierung für die Prostatapalpation.
Abb. 1.2a In Seitenlage.
Abb. 1.2b Im Stehen.
Beim vorsichtigen Einführen des tastenden Fingers kann zunächst der anale Sphinktertonus geprüft werden; ein zu schlaffer wie auch ein spastischer Sphinktertonus weisen evtl. auf eine neurogene Blasenentleerungsstörung hin. Danach erfolgt die Palpation der Prostata, wobei generell nur die dorsalen Anteile der Drüse beurteilt werden können. Allerdings entwickeln sich hier etwa 70% der Prostatakarzinome. Die normale Prostata tastet sich walnussgroß, flach, angedeutet herzförmig und ist seitlich abgrenzbar. In der Mittellinie ist als Trennung der beiden
Seitenlappen in Längsrichtung ein Sulkus palpabel. Ihre Konsistenz kann als „gummiartig“ beschrieben werden und entspricht der der angespannten Thenarmuskeln unterhalb des Daumengrundgelenks. Ein Druckschmerz der Prostata weist auf einen entzündlichen Prozess (Prostatitis, Prostataabszess) hin. Bei der benignen Prostatahyperplasie findet sich eine prallelastische nach lateral abgrenzbare Drüse. Bei einem ausgeprägten Befund kann der kraniale Anteil mitunter nicht mehr digital beurteilt werden. Der mediane Sulkus kann verstrichen sein. Generell ist durch den Tastbefund keine Einschätzung des Ausmaßes der infravesikalen Obstruktion möglich, auch kleine Prostatae können obstruktiv wirken. Verhärtungen oder Knoten in der Prostata sind immer karzinomverdächtig und somit weiter abzuklären; karzinomtypisch ist der holzharte Tastbefund. Fortgeschrittenere Karzinome palpieren sich höckrig in einem oder beiden Seitenlappen, die Prostata kann nach lateral nicht mehr abgrenzbar und die Verschieblichkeit der Rektumwand über der Prostata aufgehoben sein. Bei der Differenzialdiagnose eines „Prostataknotens“ ist neben dem Karzinom auch an eine granulomatöse Prostatitis, Prostatasteine, -kavernen oder eine -zyste zu denken. Die Sensitivität der DRU zur Erkennung eines Prostatakarzinoms wird unter 40% angegeben, tastbar können Karzinome ab einem Volumen >0,2 ml sein, allerdings sind über 50% der durch die DRU entdeckten Prostatakarzinome bereits lokal fortgeschritten. Die oberhalb der Prostata nach lateral ziehenden Samenblasen sind im Normalfall nicht palpabel; erst bei einer Vergrößerung durch eine Entzündung oder Obstruktion können sie getastet werden. Eine Prostatamassage im Rahmen einer Vier-Gläser-Probe kann die Untersuchung vervollständigen.
Beim Ausführen des Fingers sollte auch die Rektumhinterwand palpiert werden, damit ein eventuell dort gelegenes Karzinom nicht unbemerkt bleibt; auch Blutauflagerungen am Handschuh können auf ein Rektumneoplasma hinweisen und sollten weiter rektoskopisch abgeklärt werden.
1.3.6 Äußeres weibliches Genitale Die Untersuchung wird in Steinschnittlage durchgeführt. Entzündliche Veränderungen der Vulva und die Lage des Meatus externus urethrae sind zu beachten. Aus der Harnröhre prolabierende erythematöse Tumoren können einem Karunkel oder Urethrakarzinom entsprechen. Beim Pressen wird eine Senkung der Vaginalvorderwand bei Zystozele, aber auch eine Rektozele oder ein Prolaps erkennbar, ein dabei auftretender Urinabgang spricht für eine Belastungsinkontinenz. Durch eine vaginale Palpation können Harnröhre und Blasenboden gut beurteilt werden. So ist ein Harnröhrendivertikel mitunter als eine kugelige Vorwölbung an der Scheidenvorderwand zu tasten.
1.3.7 Urogenitaler Neurostatus Da eine Vielzahl von neurologischen Erkrankungen Blasenentleerungsstörungen oder auch Erektionsprobleme verursachen können, ist bei entsprechenden anamnestischen Hinweisen eine orientierende neurologische Untersuchung angezeigt. Diese Untersuchung umfasst die Prüfung des Analsphinktertonus, des Analreflexes und
des Bulbokavernosusreflexes sowie die Sensibilitätsprüfung der sakralen Hautsegmente. Beim Bulbokavernosusreflex kommt es nach Kneifen der Glans oder der Klitoris bei intaktem N. pudendus zu einer Beckenbodenkontraktion, die am analen Sphinkter sichtbar wird. Die Sensibilitätsprüfung differenziert zwischen Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindung. Die zur Blasen-, Schließmuskel- und Penisinnervation korrespondierenden Hautsegmente sind in ▶ Abb. 1.3 dargestellt. Abb. 1.3 Korrespondierende Hautsegmente zur Innervation urologischer Organe.
Quintessenz Klinische Diagnostik Anamnese
Schmerz Ursachen akuter Schmerzen oft monokausal Chronische Schmerzen häufig multifaktoriell bedingt, auch abhängig von Persönlichkeitsfaktoren und sozialen Einflüssen Nierenschmerzen Einteilung in Nierenorganschmerz und Nieren- bzw. Harnleiterkolik Immer Abgrenzung zu anderen intraabdominellen Erkrankungen notwendig Schmerzausstrahlung hinweisend für Lokalisation der Obstruktion Harnblasenschmerz Oft bedingt durch Harnretention bei infravesikaler Obstruktion oder durch Entzündung Prostataschmerz Typischerweise keine organspezifischen Schmerzen bei Prostatakarzinom und Prostatahyperplasie Peniler Schmerz In der Regel direkter Hinweis auf Ort der Erkrankung Skrotalschmerz Ohne Zeitverzug abklären, um rechtzeitige Therapie einer Hodentorsion nicht zu versäumen Miktionsstörung Anurie (100/min
1,5
Immobilisation oder Operation in den vergangenen 4 Wochen
1,5
vorangegangene tiefe Beinvenenthrombose oder LAE
1,5
Hämoptyse
1
Malignom (unter Therapie, nach Therapie innerhalb der letzten 6 Monate oder Palliativtherapie)
1
Wahrscheinlichkeit einer LAE gering
6 Punkte
LAE: Lungenarterienembolie
Bei fortbestehendem Verdacht auf eine LAE erfolgt deren Nachweis bzw. Ausschluss dringlich (jedoch nicht zwingend umgehend) mittels Bestimmung der D-Dimere und Computertomografie des Thorax mit intravenöser Kontrastmittelgabe. Die Therapie der LAE besteht dann in einer Antikoagulation, im stationären Setting also einer therapeutischen Heparinisierung und Behandlung einer ggf. zugrunde liegenden Thrombose.
16.7.3 Wundinfektion Postoperative Wundinfektionen werden neben perioperativer Kontamination durch Gewebetraumatisierung, ausgedehnte Koagulation, schlechte Durchblutung, Serome und Hämatome begünstigt. Oberflächliche (epifasziale) Infektionen machen sich durch Rötung oder Fluktuationen im Wundbereich bemerkbar. Die Therapie durch Spreizen der Wunde und tägliche Wundtoilette führt in der Regel zur Abheilung, eine systemische antibiotische Therapie ist nicht erforderlich. Tiefer gelegene Abszesse oder Phlegmonen können je nach Lokalisation von unspezifischen Veränderungen (Fieber, Schmerzen) über peritonitische Zeichen bis hin zur Sepsis die unterschiedlichsten Symptome verursachen. In jedem Fall sollte bei Verdacht auf eine Abszedierung eine suffiziente Bildgebung mittels Sonografie und ggf. Computertomografie eingeleitet werden. Neben einer kalkulierten und im weiteren Verlauf gezielten antibiotischen Therapie gilt:
Merke „Ubi pus, ibi evacua!“ (Hippokrates) – umschriebene Abszesse werden perkutan oder offen operativ drainiert. Bei intraperitonealen Infektionen ist nicht selten die Revision des Abdomens zur Beurteilung möglicher Ursachen (Darmverletzung, Anastomoseninsuffizienz) erforderlich.
16.7.4 Blutung und Hämatom Akute oder protrahierte postoperative Blutungen machen durch Blutdruckabfall und Tachykardie auf sich aufmerksam. Ein massiver Blutverlust über liegende Drainagen zeigt ebenfalls eine Blutung an, sein Fehlen schließt eine Blutung jedoch keinesfalls aus! Sollte mittels Volumensubstitution, Transfusion und ggf. Substitution von Gerinnungsfaktoren (Plasma, Prothrombinkomplex, Tranexamsäure) keine Stabilisierung des Allgemeinzustandes erreicht werden, ist die sofortige operative Revision erforderlich.
Vorsicht Größere Hämatome neigen zur Infektion und sollten daher eher drainiert werden.
16.7.5 Urinextravasation Nach Operationen am Harntrakt kann es infolge von Perforationen oder Anastomoseninsuffizienzen zur Urinextravasation kommen. Darüber hinaus können auch Eingriffe in der Nachbarschaft des harnableitenden Systems, zumeist durch (unbemerkte) Läsionen von Harnleiter oder Harnblase, zur Urinextravasation führen. Solche Läsionen, insbesondere Koagulationsschäden, machen sich oft erst nach Tagen bemerkbar. Auffällig sind folgende Symptome: der vermehrte Austrag klarer Flüssigkeit über liegende Drainagen, eine rückläufige Diurese, ein Anstieg der Retentionswerte (peritoneale Rückresorption harnpflichtiger Substanzen), aber auch unspezifische Symptome wie Schmerzen und Fieber.
Merke Liegt der Kreatininwert der Drainageflüssigkeit deutlich über dem des Serums, ist die Urinextravasation bereits bewiesen. Zur Lokalisation des Lecks sind Computertomografie, Urogramm oder Zystoskopie und retrograde Ureteropyelografie dienlich. Die Primärversorgung besteht in einer suffizienten Drainage des harnableitenden Systems (Harnblasenkatheter, Harnleiterschiene, perkutane Nephrostomie) und ggf. in der perkutanen oder offen-operativen Drainage des Urinoms. Sollte es hierunter nicht zum Sistieren der Urinextravasation kommen oder von vornherein in Anbetracht der Größe der Leckage keine Aussicht auf ein Ausheilen unter oben skizziertem Vorgehen bestehen, besteht die Indikation zur operativen Revision. Eine Urinextravasation ist immer mit einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden, bedarf also einer antibiotischen Behandlung.
16.7.6 Lymphozele und Chylaszites Praxis
Zur Vermeidung einer Lymphozele sollten Lymphgefäße nicht koaguliert, sondern ligiert oder mit Clips versorgt werden. Lymphozelen sind meist klein und asymptomatisch, sie haben dann keinen Krankheitswert. Dennoch können Lymphozelen je nach Lage und Größe durch Kompression benachbarter Strukturen Schmerzen, aber auch Venenthrombosen begünstigen. Die perkutane Drainage von symptomatischen Lymphozelen ist möglich, jedoch häufig langwierig und zudem mit teils erheblichen Eiweißverlusten verbunden. Nicht zuletzt besteht bei längerfristiger Drainage auch immer ein Infektionsrisiko. Die Instillation (vermeintlich) „verödender“ Substanzen liegt immer außerhalb von deren Zulassung. Insofern bietet die – nach Möglichkeit laparoskopische – Lymphozelenfensterung eine wenig invasive und effiziente Therapieoption. Bei Kompression insbesondere der Beckenvenen ist eine längerfristige Thromboseprophylaxe zu erwägen. Deutlich problematischer ist die persistierende Lymphorrhöe bzw. die Entwicklung eines Chylaszites nach Verletzung der zentralen Lymphstämme. Das Management kann wiederholte Aszitespunktionen, eine Diät mit niederkettigen Fettsäuren bis hin zur parenteralen Ernährung, die Gabe von Somatostatin sowie die operative Revision mit Verschluss der Lymphfistel oder Anlage eines peritoneovenösen Shunts umfassen ▶ [464].
16.7.7 Komplikationen nach Darmeingriffen in der Urologie 16.7.7.1 Anastomoseninsuffizienz Anastomoseninsuffizienzen kommen unter elektiven Bedingungen bei Dünn- und Dickdarmanastomosen in 1–3% der Fälle vor ▶ [481].
Dünndarmanastomose Austritt von Dünndarminhalt über die Wunde oder liegende Drainagen, erhöhter Amylaseoder Bilirubingehalt der Drainageflüssigkeit im Vergleich zur Serumkonzentration oder eine Peritonitis zeigen eine Anastomoseninsuffizienz an. Eine Magen-Darm-Passage oder eine Computertomografie mit oraler Gabe eines wasserlöslischen Kontrastmittels sind sinnvolle diagnostische Maßnahmen, können aber eine Leckage bei Dünndarmanastomose nicht zuverlässig nachweisen ▶ [463]. Der klinische oder bildgebende Verdacht auf die Insuffizienz einer Dünndarmanastomose gibt Anlass zur alsbaldigen Revision. In sehr seltenen Fällen kann eine Dünndarmleckage als enterokutane Fistel ausheilen und später revidiert werden – verlassen sollte man sich hierauf nicht.
Dickdarmanastomose Nahtinsuffizienzen von Dickdarmanastomosen manifestieren sich häufig erst im späteren postoperativen Verlauf. Oft treten zunächst unspezifische Symptome wie Schmerzen und Fieber oder isoliert erhöhte Infektwerte auf. Dringender Verdacht besteht bei Entwicklung einer Peritonitis. Bei Stuhlaustritt aus der Wunde oder der Drainage ist die Nahtinsuffizient sicher. Eine Computertomografie mit rektaler Kontrastmittelfüllung ist die aussagekräftigste diagnostische Maßnahme ▶ [458].
Das therapeutische Spektrum reicht je nach klinischer Präsentation von der Drainage bis zur Anlage eines protektiven Stomas oder Diskontinuitätsresektion ▶ [483].
16.7.7.2 Ileus Vorsicht Ein Ileus ist ungeachtet der zugrunde liegenden Ursache immer ein lebensbedrohliches Krankheitsbild. Unabhängig von der Ursache nimmt das Resorptionsvermögen der proximalen Darmabschnitte ab, sodass zunächst vor allem Natrium und Wasser schlechter aus dem Darm in das Blut abtransportiert werden. Schließlich folgt die Flüssigkeit dem osmotischen Druck in den Darm. So kommt es zu einem zunehmenden Flüssigkeitsverlust in das Darmlumen (den „dritten Raum“), der schnell zu Hypovolämie und Hypotonie führen kann. Hierdurch sowie durch die Druckerhöhung auf die geblähte Darmwand verschlechtert sich die Darmperfusion mit konsekutiver Verschlechterung von Motilität und Resorption – es entsteht ein Circulus vitiosus. Im weiteren Verlauf kann es zur Durchwanderungsperitonitis kommen. Zur Differenzierung zwischen mechanischem und paralytischem Ileus empfiehlt sich die Durchführung einer Magen-Darm-Passage oder einer Computertomografie mit Darmkontrastierung durch ein wässriges Kontrastmittel. Bei suffizienter Passage hat das Kontrastmittel eine zusätzliche abführende Wirkung.
Paralytischer Ileus Sowohl nach transperitonealen als auch retroperitonealen Eingriffen, aber auch bei entzündlichen oder raumfordernden Prozessen im Retroperitoneum (z.B. Hämatome) kommt es durch die peritoneale Reizung zur einer Einschränkung oder gar Aufhebung der Darmmotilität. Salzsäure, Darminhalt, Pankreasenzyme, Blut und Urin sind typische Noxen, die eine peritoneale Reizung auslösen können. Typische Symptome des paralytischen Ileus sind ein ausgeprägter Meteorismus sowie die sog. Totenstille, also das Fehlen jeglicher Darmgeräusche. Der Patient klagt über ein Spannungsgefühl im Abdomen, und es besteht eine meist generalisierte Abwehrspannung. Die Therapie erfolgt zunächst konservativ mit Einlage einer Magensonde, Nahrungskarenz, parenteraler Ernährung, Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution sowie medikamentöser und physikalischer Darmstimulation (Propulsiva, feuchte Wärme, Mobilisation). Nur selten ist eine operative Intervention mit Entlastung und ggf. temporärem Enterostoma erforderlich.
Mechanischer Ileus Das Darmlumen ist verlegt, u.a. durch innere Herniation und Adhäsionen. Klassische Zeichen des mechanischen Ileus sind klingende, spritzende Darmgeräusche und schwallartiges Erbrechen. Der Verdacht auf einen mechanischen Ileus erfordert dringlich eine Relaparotomie, um dem o.g. Circulus vitiosus zuvorzukommen. Häufig ist die temporäre Anlage eines protektiven Enterostomas unumgänglich.
16.8 Literatur [443] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. – AWMF. S3-Leitlinie Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE). AWMF; 2009 [444] Bassett J, Rajfer J. Diagnostic and therapeutic options for the management of ischemic and nonischemic priapism. Rev Urol 2010; 12: 56–63 [445] Berner B. Aufklärung durch Medizinstudenten. Dtsch Ärztebl Int 2014; 111: 616 [446] Bricker EM. Bladder substitution after pelvic evisceration. Surg Clin North Am 1950; 30: 1511–1521 [447] Cody JD, Nabi G, Dublin N et al. Urinary diversion and bladder reconstruction/replacement using intestinal segments for intractable incontinence or following cystectomy. Cochrane Database Syst Rev 2012; 2: CD003306 [448] Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin – DGAI, Berufsverband Deutscher Anästhesisten – BDA. Entschliessungen, Empfehlungen, Vereinbarungen: ein Beitrag zur Qualitätssicherung in der Anästhesiologie, 5. Aufl. Ebelsbach: Aktiv Druck & Verlag GmbH, 2011 [449] Dindo D, Demartines N, Clavien PA. Classification of surgical complications: a new proposal with evaluation in a cohort of 6336 patients and results of a survey. Ann Surg 2004; 240: 205–213 [450] Dittmar Y, Rauchfuss F, Ardelt M et al. [Approaches to the abdominal cavity and closure of the abdominal wall]. Chirurg 2011; 82: 1067–1074 [451] Dorschner W, Stolzenburg JU, Neuhaus J. Structure and function of the bladder neck. Adv Anat Embryol Cell Biol 2001; 159: III-XII, 1–109 [452] Gourley EJ, Gering SA. The meandering mesenteric artery: a historic review and surgical implications. Dis Colon Rectum 2005; 48: 996–1000 [453] Hach-Wunderle V, Präve F, Düx M et al. Therapie bei tiefer Bein- und Beckenvenenthrombose. Dtsch Ärztebl Int 2009; 1:12 [454] Hautmann RE. Urinary diversion: ileal conduit to neobladder. J Urol 2003; 169: 834– 842 [455] Hautmann RE, Egghart G, Frohneberg D et al. The ileal neobladder. J Urol 1988; 139: 39–42 [456] Hoffmann S, Maier K, Schnalke P et al. Aufklärung und Einwilligung. Medizin & Recht 2014 [457] Hoffmeister HM, Bode C, Darius H et al. Unterbrechung antithrombotischer Behandlung (Bridging) bei kardialen Erkrankungen – Positionspapier. Kardiologe 2010; 4: 365–374 [458] Hyman N, Manchester TL, Osler T et al. Anastomotic leaks after intestinal anastomosis: it's later than you think. Ann Surg 2007; 245: 254–258 [459] Ibarluzea G, Scoffone CM, Cracco CM et al. Supine Valdivia and modified lithotomy position for simultaneous anterograde and retrograde endourological access. BJU Int 2007; 100: 233–236 [460] Koch D, Nekruz S, Gröne J et al. Platzbauch – welches sind die patientenorientierten Risikofaktoren? Z Gastroenterol 2010; 48 [461] Kock NG, Nilson AE, Nilsson LO et al. Urinary diversion via a continent ileal reservoir: clinical results in 12 patients. J Urol 1982; 128: 469–475
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17 Laparoskopie F. Kawan, F. Greco, P. Fornara; frühere Bearbeitung: Fornara P, Zacharias M, Jurzcok A
17.1 Einleitung Minimalinvasive Operationsverfahren haben sich in der Urologie – im Gegensatz zu anderen operativen Disziplinen – von Anfang an synchron zur offenen Chirurgie entwickelt und stellen heutzutage bei vielen Operationen ein gleichwertiges oder sogar effizienteres Verfahren dar. Zunächst wurde Mitte der 90-er Jahre das Indikationsspektrum für die benignen Indikationen exakt definiert und konnte später auf maligne Erkrankungen ausgeweitet werden. Zu den Standardindikationen, die das offen-operative Vorgehen verdrängt haben, gehören die Nephrektomie bzw. Nephroureterektomie funktionsloser Nieren/Harnleiter, die plastische Korrektur bei Ureterabgangsenge, Nierenzystenmarsupialisation sowie die Nephropexie bei Ren mobilis. Die laparoskopische Tumornephrektomie ist seit 2006 in den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Urologie als Goldstandard zur Entfernung maligner Nierentumoren bis 10 cm Größe aufgeführt. Für die Behandlung urologischer Malignome sind laparoskopische Verfahren vielerorts für das gesamte
operative Spektrum (radikale Prostatektomie, radikale Zystektomie, Nierentumorexzision, Nephroureterektomie, retroperitoneale Lymphadenektomie) als Therapiestandard etabliert. Minilaparoskopie und LESS (Laparo-Endoscopic Single Site Surgery) sind als Weiterentwicklungen der konventionellen Laparoskopie anzusehen, die durch noch kleinere oder nur eine einzelne Hautinzision vor allem bessere kosmetische Ergebnisse liefern, aber auch eine geringere Traumatisierung bewirken sollen.
17.2 Klinische Bedeutung Grundsätzlich erfolgt die Anwendung minimalinvasiver laparoskopischer Techniken unter der Annahme, dass diese für den Patienten genauso sicher und effektiv, aber wesentlich weniger traumatisch als vergleichbare offenoperative Techniken sind. Zur Definition des geringeren Traumas und des größeren Komforts für den Patienten ist es üblich, klinische Parameter heranzuziehen wie Hospitalisation, Rekonvaleszenzdauer, Analgetikaverbrauch, Schmerzintensität, postoperative Abgeschlagenheit, körperliches und psychisches Befinden sowie soziale Integration. Diese Parameter unterliegen allerdings ausnahmslos großen individuellen Variationen und sind schwer reproduzierbar.
Merke
Die Datenlage bestätigt eindeutig die geringere Invasivität der Laparoskopie für mittlere und große Eingriffe bei benignen und malignen urologischen Eingriffen. Die Gewebetraumatisierung – auch die operationsbedingte – löst komplexe Reaktionen aus, die primär den Heilungsprozess unterstützen und das Überleben sichern sollen. Pathophysiologisch beruht diese komplexe Antwort, allgemein als Akute-Phase-Reaktion bekannt, auf einer koordinierten Antwort auf immunologischer, endokrinologischer und metabolischer Ebene. Ausgelöst und aufrechterhalten wird diese postoperative Stressreaktion durch eine Vielzahl von Mediatoren, wie Zytokinen und Proteinen der akuten Phase, in primis dem Interleukin 6 und dem C-reaktiven Protein (CRP). Tierexperimentell und klinisch konnte anhand der genannten Mediatoren eindeutig nachgewiesen werden, dass die postoperative Stressreaktion nach mittelgroßen und großen laparoskopischen Eingriffen deutlich geringer ist als bei hierzu ähnlichen offenen operativen Verfahren ( ▶ Abb. 17.1). Diese systemische Reaktion kommt bei kleineren Eingriffen mit geringerer Gewebetraumatisierung nicht zum Tragen, da eine entsprechende Sollgrenze, die eine systemische Reaktion auslöst, nicht erreicht wird. Das erklärt, warum für kleinere Eingriffe die Laparoskopie keine Vorteile bezüglich einer geringeren Invasivität besitzt, sondern diese vielmehr auf technischer Ebene zu suchen sind, wie z.B. die Möglichkeit, gleichzeitig bilateral oder aber diagnostisch und therapeutisch vorzugehen ▶ [524]. Vergleich der intra- und postoperativen Interleukin-6-Serumspiegel bei offener Nephrektomie und laparoskopischer Nephrektomie. Abb. 17.1 Es zeigen sich signifikant höhere Interleukin-6-Spiegel postoperativ. (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Praxis Vorteile der Laparoskopie Als gesicherte Vorteile der Laparoskopie für den Patienten gelten: Reduktion des Operationstraumas durch verminderten Postaggressionsstoffwechsel Kürzere Hospitalisation und Rekonvaleszenzdauer Geringerer Analgetikaverbrauch nach der Operation Verbesserung des kosmetischen Ergebnisses
17.3 Medizinische und technische Voraussetzungen 17.3.1 Vorbereitungen des Patienten Zunächst erfolgt eine standardmäßige präoperative Aufklärung des Patienten, wobei auf die Spezifika der Laparoskopie inklusive einer Konversionsmöglichkeit schwerpunktmäßig eingegangen wird. Die Vorbereitung des Patienten auf den Eingriff entspricht derjenigen bei transperitonealen offenen Operationen. Vor jedem laparoskopischen Eingriff empfiehlt sich das Legen eines Harnblasenkatheters.
Merke Eine perioperative antibiotische Prophylaxe hat sich bei transperitonealen und retroperitonealen laparoskopischen Operationen bewährt, eine Thrombembolieprophylaxe – ist obligat. Der Patient wird vor einem urologischen laparoskopischen Eingriff geduscht (oder gebadet), überflüssige Haare im Bereich der Trokarinsertionsstellen werden rasiert.
Praxis Um Wundheilungsstörungen im Nabelbereich durch Trokare vorzubeugen, hat sich ein spezieller desinfizierender Verband am Abend vor der Operation bewährt. Abführende Maßnahmen sind nicht notwendig, da die Wiederaufnahme der Darmperistaltik nach laparoskopischen Eingriffen sehr früh und unproblematisch erfolgt.
17.3.2 Anästhesie und Lagerung Die laparoskopischen Operationen in der Urologie erfolgen grundsätzlich unter allgemeinanästhesiologischen Bedingungen (Intubationsnarkose). Regionalanästhesiologische Methoden haben sich nicht bewährt. Die Lagerung des Patienten wird entsprechend dem vorgesehenen Eingriff vorgenommen. Bei Operationen im Bereich der Niere, des Harnleiters oder der Lymphknoten entlang retroperitonealer Gefäßstrukturen und Lymphbahnen (RLA) wird die thorakoabdominale Lagerung, seltener eine klassische Flankenlagerung verwendet. Bei Eingriffen im kleinen Becken findet die Rückenlagerung mit eventuell leicht angedeuteter Kopftieflagerung ihre Anwendung (Trendelenburg-Lagerung).
Merke Eine standardisierte Positionierung der Trokare erweist sich, immer in Abhängigkeit von der Lokalisation des zu operierenden Organs, als vorteilhaft ( ▶ Abb. 17.2, ▶ Abb. 17.3).
Schematische Darstellung der Trokarinsertionsstellen bei laparoskopischen Eingriffen im oberen Retroperitoneum. Abb. 17.2 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Schematische Darstellung der Trokarinsertionsstellen bei laparoskopischen Eingriffen in der Beckenregion. Abb. 17.3 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
17.3.3 Geräte und Instrumentarium In den nachfolgenden Übersichten sind die wichtigsten Geräte und Instrumente für laparoskopische Operationen aufgeführt.
Praxis Laparoskopische Geräte und Instrumente Elektronischer High-Flow-Insufflator Xenon-Kaltlichtquelle HF-Generator mit Fußschalter für mono- und bipolare Koagulation Drei-Chip-Videokamera Spül-Saug-Einheit Videowagen mit Monitor und Dokumentationssystem mit digitalem Speichermedium sowie angeschlossener Videoeinheit (möglichst zwei Bildschirme)
Praxis Laparoskopische Instrumente Skalpell Veress-Nadel mit Sicherheitseinfuhrschutz Trokare (Ports) mit und ohne Sicherheitseinfuhrschutz (5mm-, 10-mm-, 12-mm- und 15-mm-Trokare) Endodissektor Endoschere mit Koagulationsanschluss Endoretraktor Spül-Saug-Instrument Clipapplikatoren (5 und 10 mm) Stapler: (30-Klammer-Nahtgerät mit unterschiedlichen Klammereindringtiefen)
Organbergebeutel 0°- und 30°-Optik (5 und 10 mm) Nadelhalter Naht- und Fadenmaterial für intra- und extrakorporale Knotentechnik
17.3.3.1 Geräte Insufflator Allgemein wird für laparoskopische urologische Operationen ein CO₂-High-Flow-Insufflator (30 l/min) verwendet. Ein intraabdominaler Druck von 10–12 mmHg wird für die Einführung der Trokare sowie während des gesamten Eingriffes benötigt. Der eingestellte intraabdominale Druck wird automatisch gehalten und ausgeglichen.
Merke Höhere intraabdominale Drücke sind nicht erforderlich und darüber hinaus kontraindiziert, da sie den venösen Rückfluss (Kompression der V. cava) behindern.
Videoeinheit Zur Anwendung kommen hier ausnahmslos HDMikrochipkameras (HD=high Definition) mit automatischer Farbabstufung ( ▶ Abb. 17.4) und zwei Bildschirmen mit einem digitalen Speichermedium sowie eine LichtstrahlXenon-Kaltlichtquelle, die mit einer automatischen Helligkeitsregelung ausgestattet ist. Diese Videoeinheit ist im Operationssaal auf einem mobilen Videowagen oder auf einem Ampelsystem angeordnet. Am häufigsten werden 0°und 30°-Optiken verwendet. Ein Farbvideoprinter sollte standardmäßig im System integriert sein.
Die Videosequenzen können in digitalisierter Form auf einem PC simultan verfolgt und bearbeitet werden, sodass Liveübertragungen aus dem Operationssaal möglich sind ( ▶ Abb. 17.5). Um die Zweidimensionalität aufzuheben, stehen mittlerweile Systeme zur Verfügung, die mit speziellen optischen Hilfsmitteln das Operationsfeld dreidimensional darstellen können ( ▶ Abb. 17.6). Digitaler High-Definition-Kamerakopf für die Endoskopie mit Steuergerät. Abb. 17.4
Videowagen, Monitor, CO₂-Insufflation, High-Definition-Kamera mit Lichtquelle und digitalem Speichermedium. Abb. 17.5
Digitaler High-Definition-Kamerakopf mit Monitor und Videoeinheit für 3-DSystem. Abb. 17.6
Spül-Saug-Sonde und Elektrokoagulation Das Spül-Saug-System ist mit dem normalen Operationssauger verbunden. Die Spülung mit 37°C warmer physiologischer Kochsalzlösung kann nur unter Druck erfolgen, wobei verschiedene Rollpumpen, Druckmanschetten und Spülbeutel zum Einsatz kommen. Die Elektrokoagulation erfolgt über eine Verbindung des konventionellen HF-Generators mit Fußschalter zu den Instrumenten für laparoskopische Operationen. Neben der Nutzung des HF-Stroms (mono- und bipolare Diathermie)
stehen heute eine Reihe verschiedener zusätzlicher Geräte zur Verfügung ( ▶ Abb. 17.7) wie Hochfrequenzkoagulationsscheren, Ultraschalldissektoren, Argonbeamer, Diathermielaser u.a. Elektrokoagulation. Abb. 17.7
Abb. 17.7a Mit der HARMONIC ACE+7 werden Gefäße bis 7 mm versiegelt und durchtrennt. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Abb. 17.7b Das ENSEAL G2 durchtrennt mit bipolarer Koagulation. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Abb. 17.7c Generator G11 mit Touch-Screen für Harmonic und Enseal. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
17.3.3.2 Instrumente Veress-Nadel Die Etablierung des Pneumoperitoneums erfolgt mit einer Sicherheitstrokarnadel, um Läsionen der Abdominalorgane zu vermeiden. Sie enthält einen Sicherheitseinführungsschutz, dessen Aktivierung akustisch und visuell (Markierung) bei der Insertion verfolgt werden kann. Es handelt sich dabei um eine 1938 von dem Ungarn
Veress erfundene Sicherheitspunktionsnadel, die im Wesentlichen unverändert geblieben ist.
Merke Die Veress-Nadel ist das gebräuchlichste Instrument zur geschlossenen Anlage eines Pneumoperitoneums ( ▶ Abb. 17.8).
Veress-Nadel mit Sicherheitseinführungsschutz. Abb. 17.8 (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Ferner kann der Zugang zum Peritonealraum, beispielsweise bei Voroperationen, auch mit einer Minilaparotomie etabliert werden.
Trokare
Für das Einbringen der Trokare (inklusive des Kameraports) können Einmaltrokare mit Sicherheitsschutz genutzt werden (10–12 mm) oder auch Insertionshilfsinstrumente, welche die Portplatzierung unter direkter videooptischer Kontrolle ermöglichen. Alle weiteren Trokare werden unter Sicht eingeführt; sie verfügen meistens über ein integriertes Schraubengewinde zur Fixation in der Bauchwand. Angewendet werden 5-mm-, 10-mm-, 12-mm- und 15-mmPorts, die als resterilisierbare Instrumente ( ▶ Abb. 17.9) wie auch als Einmalgeräte ( ▶ Abb. 17.10) erhältlich sind, über einen seitlichen Zugang für die Insufflation verfügen und nicht elektrisch leitfähig sind. Weiterhin gibt es spezielle Sicherheitstrokare, um Gefäßverletzungen im Bereich der Trokarinsertionsstellen zu minimieren ( ▶ Abb. 17.11). Um ein Entweichen des Gases beim extraperitonealen Zugang (z.B. bei der extraperitonealen radikalen Prostatektomie) zu verhindern, stehen sog. Hasson-Trokare mit einem speziellen Verschlusskonus oder Doppelballontrokare ( ▶ Abb. 17.12) zur Verfügung. Resterilisierbare Trokare. Abb. 17.9 Resterilisierbare Trokare.
Abb. 17.9a 5 mm. (Quelle: Karl Storz Endoskopie, Tuttlingen)
Abb. 17.9b 5 mm mit Gewindeschaft. (Quelle: Karl Storz Endoskopie, Tuttlingen)
Abb. 17.9c 12 mm. (Quelle: Karl Storz Endoskopie, Tuttlingen)
Einmaltrokare mit verschiedenen Durchmessern. Abb. 17.10
Abb. 17.10a 12 mm. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Abb. 17.10b 5 mm. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Sicherheitstrokar (Step) mit Dilatationshülse. Abb. 17.11
Abb. 17.11a Schematische Darstellung. (Quelle: Medtronic GmbH, Meerbusch)
Abb. 17.11b Anwendung. (Quelle: Medtronic GmbH, Meerbusch)
Dilatationsballon und Doppelbalontrokar. Abb. 17.12
Abb. 17.12a Dilatationsballon zur Schaffung des extraperitonealen Raumes. (Quelle: Medtronic GmbH, Meerbusch)
Abb. 17.12b Doppelballontrokar zum gasdichten Verschluss bei extraperitonealem Zugang. (Quelle: Medtronic GmbH, Meerbusch)
Laparoskopische Scheren, Dissektoren, Klemmen und Retraktoren Zur Gewebepräparation werden verschiedene Endodissektoren und Endoscheren eingesetzt, wobei die Endoscheren mit einem HF-Generator gekoppelt sein sollten (Koagulation und Schneidestrom, ▶ Abb. 17.13, ▶ Abb. 17.14). Beide Instrumente können durch ein Drehrad am Instrumentengriff zur Einstellung eines idealen Winkels zum präparierenden Gewebe um ihre Längsachse rotiert werden. Endodissektor. Abb. 17.13 (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Arretierbare Klemme. Abb. 17.14 (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Für flexiblere Bewegungsabläufe bei der Präparation stehen abwinkelbare Geräte mit mehreren gelenkartigen beweglicheren Funktionsanteile zur Verfügung, um ähnlich den roboterassistierten Systemen, das für die Laparoskopie typische Handikap der feststehenden Winkel der Operationsinstrumente zum Gewebe weitestgehend zu beseitigen. Allerdings verhindern die komplizierte Handhabung und die aufwendige Lernkurve derartiger Instrumente die routinemäßige Anwendung.
Retraktoren in der Laparoskopie, die wie Wundhaken in der offenen Chirurgie das Operationsfeld frei halten, sind meistens fächerförmig und abwinkelbar oder aber dienen zur punktuellen Elevation, beispielsweise der Niere bei der Präparation des Hilus ( ▶ Abb. 17.15). 5-mm Endoretraktor. Abb. 17.15
Clipapplikatoren und Stapler Die sog. Endoclips bestehen aus Titan. Sie werden für die Versorgung von Gefäßen und dünnlumigen Hohlstrukturen (beispielsweise Ureter) verwendet ( ▶ Abb. 17.16). Heute kommen vor allem Titaniumclips, aber auch resorbierbare PDS-Clips zur Anwendung. Bewährt haben sich für die Ligaturen von Gefäßen sog. Mehrfach-Clipapplikatoren.
Zur Durchtrennung großlumiger Gefäße (Nierenvene) können Klammernahtinstrumente (Stapler) wie der Endocutter verwendet werden, die auch als abwinkelbare Geräte erhältlich sind ( ▶ Abb. 17.17). Der Nachteil von PDS-Clips (z.B. Hem-o-Lock-Clips) bei der Versiegelung großer Gefäße besteht darin, dass eine Replatzierung im Gegensatz zu Staplern nach dem Verschluss nicht mehr möglich ist. Die Kosten für derartige PDS-Clips liegen jedoch deutlich unter denen der Klammernahtinstrumente. Clippapplikator. Abb. 17.16 (Fotos: Johnson & Johnson Medical GmbH, Norderstedt).
Abb. 17.16a 5 mm. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Abb. 17.16b 10 mm. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Laparoskopisches Klammernahtgerät. Abb. 17.17 Endopath Endocutter ETS Flex 45 mm mit gegeneinander versetzten Klammernahtreihen und abwinkelbaren Branchen. (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Organbergebeutel Zur Bergung von Präparaten bei laparoskopischen ablativen Verfahren, wie der laparoskopischen Nephrektomie und
Nephroureterektomie, der laparoskopischen Tumornephrektomie bzw. der pelvinen Lymphadenektomie und der radikalen Prostatovesikulektomie haben sich Organbergebeutel in verschiedenen Größen bewährt. Wichtig sind eine problemlose intrakorporale Entfaltung des Bergebeutels unter Sicht sowie die Reißfestigkeit des Materials bei Entfernung des entsprechenden Organs oder Gewebes durch eine der Trokarinsertionsstellen unter visueller Kontrolle ( ▶ Abb. 17.18). Organbergebeutel. Abb. 17.18 (Quelle: Johnson & Johnson Medical GmbH - Ethicon Deutschland, Norderstedt)
Entscheidend ist weiterhin, dass der Bergebeutel vor der Bergung komplett verschlossen werden kann. Größere Bergebeutel werden eingesetzt, um beispielsweise das tumortragende Organ, onkologisch sicher, in toto nach einer laparoskopischen Tumornephrektomie zu evakuieren, ohne dafür ein Morcellement des tumortragenden Organs durchführen zu müssen.
Als Modifikation des Organbergebeutels kann bei handassistierten laparoskopischen Operationen ein sog. Handport verwendet werden, der es dem Operateur ermöglicht, intrakorporal zu arbeiten, ohne dass das Pneumoperitoneum entweicht. Bei der Lebendnierenspendenephrektomie stellt dieses Hilfsmittel eine Variante der Organbergung dar.
Merke Bergebeutel müssen prinzipiell undurchlässig und möglichst reißfest sein, um akzidentelle Gewebeverluste bzw. den direkten Kontakt tumortragender Organe an dem Extraktionsport zu vermeiden.
Nadelhalter Für rekonstruktive laparoskopische Verfahren, wie die laparoskopische Pyeloplastik oder die laparoskopische Prostatektomie, kommen verschiedene Nadelhalter zum Einsatz, die über arretierbare Griffe verfügen. Neuentwickelte Nadelhalter bieten durch ihre mehrgelenkigen Enden mehr Flexibilität bei der Nahttechnik sowie einen besseren Zugang zu bestimmten Strukturen (z.B. im kleinen Becken). Trotzdem ist der Stellenwert solcher Nadelhalter im täglichen Gebrauch durch die komplizierte Handhabung überschaubar geblieben. Bei laparoskopischen Eingriffen haben sich konventionelle Rundnadeln bewährt, wobei auch asymptotische Nadeln genutzt werden. Obwohl Instrumente zu vermeintlich einfacheren extrakorporalen Knotentechnik (sog. Knotenschieber) zur Verfügung stehen, wird in der urologischen Laparoskopie vorwiegend die intrakorporale Knotentechnik bevorzugt.
17.4 Laparoskopische Eingriffe in der Urologie 17.4.1 Eingriffe an Niere, Nebenniere und harnableitenden System 17.4.1.1 Adrenalektomie und partielle Adrenalektomie Die laparoskopische Adrenalektomie bei benignen symptomatischen Nebennierentumoren kann heute als Therapiestandard adrenaler Raumforderungen bis 10 cm angesehen werden und hat das offene Vorgehen aufgrund der geringeren Invasivität verdrängt. Die Indikationen für eine laparoskopische Adrenalektomie sind in der Übersicht zusammengefasst ▶ [555].
Praxis Indikationen der laparoskopischen Adrenalektomie aldosteronsezernierende Adenome, unilaterale kortikale Dysplasien (Conn-Syndrom), adrenale Cushing-Syndrome, Nebennierenhyperplasien und -zysten, Phäochromozytome, Inzidentalome >4 cm. (nach ▶ [555]) In Ausnahmefällen können beide Nebennieren über einen laparoskopischen Operationszugang entfernt werden ▶ [594], ▶ [649].
Das Vorliegen eines primären Nebennierenrindenkarzinoms galt lange Zeit als Kontraindikation für den Einsatz der Laparoskopie. Mittlerweile zeigen aktuelle Daten gleichwertige onkologische Ergebnisse vor allem für die minimalinvasive Entfernung lokal begrenzter Nebennierenkarzinome (ENSAT-Stadium I und II) ▶ [505], ▶ [515], ▶ [552], ▶ [590], ▶ [591], ▶ [609]. Handelt es sich um eine Nebennierenmetastase, kann eine sog. sekundäre laparoskopische Adrenalektomie unter der Voraussetzung durchgeführt werden, dass es sich um einen symptomatischen und solitären Befund handelt, bei dem die Dignität des Primärbefundes vorliegt. In bestimmten Fällen ist sogar eine partielle Adrenalektomie oder Metastasektomie indiziert.
Zugang Der Eingriff kann transperitoneal oder retroperitoneal realisiert werden. Beide Zugangswege eignen sich sowohl zur Entfernung benigner als auch maligner Nebennierentumoren ▶ [552]. Die transperitoneale Technik erleichtert durch ein größeres und übersichtlicheres Operationsgebiet die Orientierung und hat eine kürzere Lernkurve. Der retroperitoneale Zugang zur Nebenniere gelingt direkt ohne aufwendige Präparationsschritte und vermeidet Verletzungen intraperitonealer Organe.
Technik Wie bei allen transperitonalen Eingriffen des oberen Retroperitoneums erfolgt zu Beginn die Inzision entlang der Toldt-Linie zur Mobilisierung des Kolons und Eröffnen des Retroperitoneums ( ▶ Abb. 17.19). ▶ Abb. 17.20 zeigt die Präparation der linken Nebenniere vor der Durchtrennung der Nebennierenvene, abgehend aus der Nierenvene.
Inzision der Toldt-Linie zur Mobilisation des Colon descendens und Eröffnen des Retroperitoneums. Abb. 17.19
Präparation der Nebenniere und Darstellung der Gefäßversorgung. Abb. 17.20
17.4.1.2 Nephrektomie und radikale Tumornephrektomie Die Indikationen zur Nephrektomie stellen die symptomatische funktionslose Niere und das Nierenzellkarzinom (s. Übersicht; ▶ [487], ▶ [584]) dar.
Praxis Indikationen der laparoskopischen Nephrektomie Nierenzellkarzinom T1–T2, in Ausnahmefällen auch T3 ▶ [557] funktionslose Niere wegen chronischer Pyelonephritis Refluxnephropathie (Nephroureterektomie)
maligne renale arterielle Hypertonie maligne Nephrosklerose renale Dysplasie Nierenarterienembolie chronische Hydronephrose Nierenbeckenabgangsstenose Die laparoskopische Tumornephrektomie wird als Therapiestandard für maligne Nierentumoren im Stadium T1–2 in den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Urologie und den S3-Leitlinien empfohlen ▶ [584], ▶ [630]. Bei Tumoren im Stadium T1 sollte eine Nephrektomie jedoch nur zur Anwendung kommen, wenn Größe und Lokalisation des Tumors einen Organerhalt nicht zulassen. Der Eingriff kann trans- oder retroperitoneal gleichermaßen effektiv vorgenommen werden. Der transperitoneale Zugangsweg bietet optimale Sichtverhältnisse auf das Operationsfeld und ist daher technisch einfacher und schneller zu erlernen. Beim retroperitonealen Vorgehen sind Verletzungen intraabdominal gelegener Organe seltener. Hinsichtlich der Komplikationsraten bestehen keine Unterschiede zwischen beiden Verfahren. Kontraindikationen für ein laparoskopisches Vorgehen bei Malignomen sind sehr große Tumoren, komplexe Tumormassen oder Infiltration von V. renalis und V. cava durch Tumorthromben. Bei größeren Tumoren (≥10 cm) oder Infiltration von Nierengefäßen ist ein laparoskopisches Vorgehen technisch
machbar ▶ [561], ▶ [588], unterliegt aber der individuellen Entscheidung des erfahrenen Operateurs.
Technik Beim transperitonealen Zugang erfolgt die Etablierung des Pneumoperitoneums mittels einer Veress-Nadel in Rückenlagerung. Der Eingriff wird in thorakoabdominaler Lagerung durchgeführt. Normalerweise werden vier 12-mmArbeitstrokare inklusive Kameraport benötigt, wobei der erste Trokar für die Kamera supraumbilikal in der Medianlinie platziert wird ( ▶ Abb. 17.21). Etablierung des Pneumoperitoneums. Abb. 17.21
Abb. 17.21a Einrichten eines Pneumoperitoneums mit der Veress-Nadel.
Abb. 17.21b Kameraassistiertes Eingehen in das Pneumoperitoneum.
Zwei Trokare befinden sich auf der zu operierenden Seite, pararektal in Verlängerung der Medioklavikularlinie unterhalb des Rippenbogens, sodass ein gleichschenkliges Dreieck mit dem Bauchnabel entsteht. Ein Trokar befindet sich unmittelbar subxiphoidal, um mit Hilfe eines Retraktors, je nach Operationsseite, Leber oder Milz nach kranial zu halten oder Colon ascendens bzw. descendens nach medial zu verlagern. Zunächst erfolgt die Inzision des Peritoneums laterokolisch auf der zu operierenden Seite mit Inzision der avaskulären Toldt-Linie. Bei der Tumornephrektomie wird die Niere inklusive Fettkapsel präpariert, der proximale Ureter
entsprechend mobilisiert und zum Halten eleviert. Zur Präparation werden ein Endodissektor und eine an die Elektrokoagulation angeschlossene Endoschere genutzt. Der fächerförmige Retraktor hält Leber und Milz nach kranial aus dem Operationsfeld. Die hilären Gefäßstrukturen der Niere werden freipräpariert. Hierfür stehen eine Reihe von Hochfrequenzkoagulationsscheren oder Ultraschalldissektoren zur Verfügung, die diese subtilen Präparationsschritte vereinfachen können. Die Nierengefäße können sowohl mit Titan- oder PDS-Clips als auch mit einem Endostapler sicher unterbunden und durchtrennt werden. Die Nierenvene wird entweder in gleicher Weise oder nur mit dem Endostapler abgesetzt. Kleinere akzessorische oder aberrierende Gefäße werden mit Clips versorgt und durchtrennt. Am oberen Pol muss ggf. die Nebenniere mit der Niere mobilisiert werden. Nach Durchtrennung des Ureters erfolgt die Bergung des Organs in einem Organbergebeutel.
Praxis Zur Bergung des Organs in einem Organbergebeutel wird vorzugsweise der Kameratrokar verwendet, der zur Organbergung auf 30–50 mm erweitert wird. Dieser supraumbilikale Längsschnitt verursacht die geringste Traumatisierung, da hier kein weiteres Muskelgewebe verletzt werden muss. Ein Morcellement ist bei der Tumornephrektomie kontraindiziert und auch bei der Nephrektomie bei benignen Erkrankungen nicht notwendig ( ▶ Abb. 17.18, ▶ Abb. 17.22, ▶ Abb. 17.23, ▶ Abb. 17.24, ▶ Abb. 17.25, ▶ Abb. 17.26). Präparation der A. renalis rechts.
Abb. 17.22 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Versorgung der V. renalis mit einem Stapler. Abb. 17.23 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Entfernung des Nephrektomiepräparats im großen Organbergebeutel. Abb. 17.24 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Organpräparat nach laparoskopischer Nephrektomie. Abb. 17.25 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Wundverhältnisse postoperativ nach laparoskopischer Tumornephrektomie links. Abb. 17.26 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Alle Ports werden unter Sicht entfernt, anschließend schichtweiser Wundverschluss von extrakorporal. Bei stark entzündlich veränderten Organen kann ein lokal wirksames Antibiotikum nach Wundspülung in die Nierenloge eingebracht werden, ggf. werden auch lokale Hämostyptika verwendet. Eine Zieldrainage ist nicht erforderlich.
Ergebnisse Obwohl die Vorteile der minimalinvasiven Technik lange Zeit als erwiesen galten und bei der einfachen Nephrektomie bereits ähnliche Operationszeiten und Komplikationsraten wie bei den offenen Operationen realisiert werden konnten ▶ [525], blieb die Indikation zur laparoskopischen Nephrektomie aus onkologischen Bedenken zunächst auf das Spektrum benigner Erkrankungen beschränkt.
Merke Erst der Nachweis vergleichbarer onkologischer Ergebnisse beim Nierenzellkarzinom wie bei der offenen Technik führte dazu ▶ [525], ▶ [606], ▶ [614], dass die laparoskopische Tumornephrektomie, vor dem Hintergrund der evidenten Vorteile des minimalinvasiven Vorgehens, 2006 in die Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Urologie (EAU) übernommen wurde ▶ [584]. Als gesicherte Vorteile der Laparoskopie bei der Entfernung einer Niere ▶ [504], ▶ [513], ▶ [550], ▶ [561], ▶ [596], ▶ [631] resultieren, unabhängig davon ob trans- oder retroperitoneal, durch die geringere Invasivität (messbar am verminderten katabolen Stoffwechsel nach der Operation ▶ [524]): ein geringerer Analgetikaverbrauch, ein verkürzter stationärer Aufenthalt,
eine schnelle Rekonvaleszenz sowie ein geringerer Blutverlust. Somit sollten Patienten mit einem Nierenzellkarzinom im Stadium T1-2 oder einer funktionslosen Niere vor einer Nephrektomie, auch aus juristischen Gründen, über die Laparoskopie als zu bevorzugende Operationstechnik aufgeklärt werden.
17.4.1.3 Nierentumorexzision und -destruktion Es handelt sich um einen technisch anspruchsvollen laparoskopischen Eingriff, welcher der gleichen Indikationsstellung wie die offene Nierentumorexzision bei lokal begrenzten Nierentumoren unterliegt ▶ [584], ▶ [643]. In den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Urologie (EAU) wird die laparoskopische Nierentumorexzision an spezialisierten Zentren bei Tumoren bis 7 cm Größe (Stadium T1) als Alternative zur offenen Operation empfohlen.
Merke Bei der Exzision des Tumors hat sich ein minimaler Resektionsabstand von 1 mm zum gesunden Gewebe als onkologisch ausreichend erwiesen ▶ [584], ▶ [592]. Besonders kleine peripher-exophytische gelegene Tumoren im Stadium T1a gelten als optimale Voraussetzungen für die Anwendung der laparoskopischen Technik. Um die Tumorkomplexität und damit auch den Schwierigkeitsgrad der Operation abzuschätzen, können tumorspezifische Charakteristika wie Größe, anatomische Lage, Nähe zum Hohlraumsystem oder exophytische Erscheinung mit Hilfe der PADUA-Klassifikation oder dem
R.E.N.A.L. nephrometry-score ermittelt werden ▶ [520], ▶ [581].
Merke Die Indikationsstellung zur laparoskopischen Nierentumorexzision ist identisch zur offenen Operation bei lokal begrenzten Nierentumoren bis 7 cm Größe, setzt jedoch eine entsprechende laparoskopische Expertise voraus.
Technik Der Operationszugang zur Niere kann transperitoneal oder retroperitoneal gewählt werden. Die Komplikationsraten beider Zugangswege unterscheiden sich nicht ▶ [513], ▶ [596], trotzdem gilt der retroperitoneoskopische Zugang aufgrund des eingeschränkten Operationsfeldes als das technisch anspruchsvollere Verfahren ▶ [598]. Bis zur Präparation des Nierenhilus verläuft der Eingriff analog zur radikalen Nephrektomie. Sobald die A. und V. renalis vollständig separiert sind, wird das gesamte perirenale Fettgewebe zur exakten Darstellung des Tumors von der Niere abgelöst ( ▶ Abb. 17.27). Das unmittelbar auf dem Tumor gelegene Fettgewebe wird dabei zur histopathologischen Untersuchung ausgespart. Vollständig freipräparierter Nierenhilus mit einer Nierenarterie und zwei Nierenvenen. Abb. 17.27
Vor Beginn der Exzision des Tumors wird die Naht für den Parenchymverschluss in den Situs eingebracht und an der lateralen Bauchwand fixiert, um später keine unnötige Zeit zu verlieren. Der Tumorrand wird mit monopolarem Resektionsstrom markiert. Die Exzision des Tumors erfolgt nach Ausklemmen der Nierenarterie mit einer Bulldogklemme in Ischämie. Dadurch kann der Tumor möglichst blutungsarm und unter optimalen Sichtverhältnissen sicher entfernt werden. ( ▶ Abb. 17.28, ▶ Abb. 17.29, ▶ Abb. 17.30). Resektion eines exophytischen Tumors mit Sicherheitsabstand zum gesunden Nierenparenchym. Abb. 17.28
Darstellen eines intrarenal gelegenen Tumors. Abb. 17.29
Unterbinden der Nierenarterie mit einer Bulldog-Klemme. Abb. 17.30
Zur Dokumentation der vollständigen Tumorentfernung wird der Tumor und eine separate Tumorgrundbiopsie zur histologischen Schnellschnittuntersuchung übergeben. Das Parenchym wird mit einer speziellen fortlaufenden Naht verschlossen, die am Ende einen PDS- oder Hem-o-Lok-Clip als Widerlager besitzt ( ▶ Abb. 17.31). Nach jedem Stich durch das Parenchym kann die Naht straffgezogen und der zeitaufwendige Knoten an der Ausstichstelle durch einen Clip ersetzt werden. Am Ende wird mit einer Nadel etwa 1–2 ml Fibrinkleber zur Unterstützung der Hämostase in die Parenchymnaht eingebracht. Verschluss des Nierenparenchyms. Abb. 17.31 Fortlaufende Naht zum Verschluss des Nierenparenchyms; dabei ersetzen PDS-Clips die Knoten.
Der Tumor mit dem anliegenden Fettgewebe wird mit Hilfe eines speziellen Bergebeutels aus dem Situs entfernt, um Abtropf- oder Portmetastasen zu verhindern. Bei einer Läsion des Nierenbeckenkelchsystems (zur vollständigen Tumorentfernung) werden nach der Operation endoskopisch ein DJ-Endo-Ureterkatheter eingelegt. Eine Zieldrainage ist nur in Ausnahmefällen notwendig. Im Falle einer positiven Tumorgrundbiopsie in der Schnellschnittuntersuchung muss individuell über eine nochmalige Tumornachresektion mit oder ohne Ischämie bzw. eine Tumornephrektomie oder auch eine offenchirurgische Konversion entschieden werden.
Merke Die Herausforderung der laparoskopischen Nierentumorexzision besteht darin, Tumorentfernung, Blutstillung und Rekonstruktion des Nierenparenchyms unter Zeitdruck zu realisieren. Denn neben der größtmöglichen onkologischen und technischen Sicherheit ist das Ziel, so viel funktionsfähiges Nierengewebe wie möglich zu erhalten.
Warme Ischämiezeit Die warme Ischämiezeit beschreibt den Zeitraum vom Unterbinden der Nierenarterie bis zur Freigabe nach dem Parenchymverschluss. Für den Erhalt der Nierenfunktion wird eine warme Ischämiezeit zwischen 20–25 Minuten toleriert. Darüber hinaus wird eine irreversible Schädigung der betroffenen Niere angenommen ▶ [497], ▶ [533], ▶ [640]. Durch technische Weiterentwicklungen und die Routine im Umgang mit der Technik konnte die warne Ischämiezeit schrittweise verkürzt werden und erreicht mittlerweile das
Niveau der offenen Operation. ▶ [599], ▶ [632]. Zunächst wurde eine spezielle fortlaufende Parenchymnaht eingeführt, die zeitaufwendiges intrakorporales Knüpfen vermeidet und Knoten durch Clips ersetzt; Später wurde die EarlyUnclamping-Technik eingeführt ▶ [485], ▶ [495], ▶ [500]. Bei dieser Technik wird mit einer fortlaufenden Naht des interstitiellen Gewebes Blutstillung und Verschluss des Hohlsystems in einem Schritt bewerkstelligt. Sie bietet so besonders bei hilusnahen oder größeren Tumoren eine Zeitersparnis, da die warme Ischämie noch vor der Parenchymnaht beendet werden kann. Auch die Kälteischämie zum Schutz der Nierenfunktion hat in der Laparoskopie Einzug erhalten, gleichwohl derzeit kein standardisiertes Vorgehen existiert. Die Niere wird dabei durch lokal appliziertes Gel-Eis, eine arterielle Perfusion oder über einen Katheter im Nierenhohlsystem gekühlt. Die Hypothermie kann bei sorgfältiger Anwendung eine Therapiealternative bei imperativen Indikationen oder komplexen Tumoren zum offenen Vorgehen darstellen, wobei sich die Kühlung über eine arterielle Perfusion als am effektivsten erwiesen hat ▶ [564]. Die laparoskopische Nierentumorexzision ohne Ischämie (sog. Zero-Ischemia-Technik) ist derzeit noch als experimentelles Verfahren zu bewerten, welches sich in Einzelfällen bewährt hat ▶ [611]. Vor allem die Kombination mit einer kontrollierten Hypotension oder selektiven Unterbindung der unmittelbar zum Tumor führenden Segmentarterien am Hilus gewinnt zunehmend an Bedeutung ▶ [542], ▶ [604].
Praxis Eine ausreichende Hydratation des Patienten verbessert die Perfusionsverhältnisse der Niere und vermindert den Ischämieschaden während der Operation.
Das Schleifendiuretikum Furosemid und das Osmodiuretikum Mannitol beschleunigen die Ausscheidung toxischer Metabolite.
Nierentumordestruktion Zur laparoskopischen Destruktion von Nierentumoren stehen die Kryo- und die Radiofrequenzablation zur Verfügung. Die Komplikationsraten beider Verfahren sind mit denen des perkutanen Vorgehens vergleichbar ▶ [577], ▶ [629]. Da die vorhandenen Studiendaten häufig aus kleinen Patientenkollektiven mit kurzem Follow-up erhoben werden, kann keine valide Aussage zur onkologischen Langzeitprognose abgegeben werden. Beide Verfahren gelten daher als Therapieoption für Risikopatienten.
Ergebnisse Vor allem die technischen Hilfsmittel zur Blutstillung (Hiluskontrolle, Hämostyptika, Argonbeamer, Nahttechniken) und die wachsende Routine haben dazu geführt, dass Operationszeit und Komplikationen mit den Ergebnissen der offenen Operationen vergleichbar sind. Die bisherigen Ergebnisse zeigen anhand einer validen Datenlage ein kumulatives tumorfreies 5-Jahres-Überleben von 97–100% und sind damit identisch mit den Ergebnissen der offenen Chirurgie ▶ [496], ▶ [541], ▶ [548], ▶ [582], ▶ [587]. Gleiches gilt für positive Resektionsränder, die in bis zu 2,4% der Fälle beobachtet werden ▶ [503]. Über die therapeutische Konsequenz einer unvollständigen Tumorentfernung nach einer Nierentumorexzision besteht derzeit kein Konsens. Über eine offen-chirurgische Nachresektion oder eine Nephrektomie sollte individuell entscheiden werden, da einige Autoren trotz positiver Schnittränder oder Lokalrezidive keinen Einfluss auf das onkologische Outcome nachweisen konnten und bei
nachoperierten Patienten nur in etwa 40% der Fälle residuales Tumorgewebe gefunden wird ▶ [498], ▶ [514]. Alternative Verfahren, wie die laserunterstützte Exzision von Nierentumoren, meistens ohne Ischämie, werden an kleinen ausgewählten Patientenkollektiven mit guten Ergebnissen angewendet, müssen ihre onkologische Sicherheit im Langzeitverlauf jedoch erst noch unter Beweis stellen ▶ [576], ▶ [585].
17.4.1.4 Transperitoneale laparoskopische bilaterale Nephrektomie Nach einem von der Deutschen Hochdruckliga zur Behandlung der Hypertonie validierten Score ▶ [532] wird die Indikation für diesen Eingriff nach Ausschluss verschiedener Faktoren gestellt, die für die Entwicklung eines therapierefraktären arteriellen Hypertonus nach Nierentransplantation verantwortlich sein können (z.B. toxische Spiegel der immunsuppressiven Medikamente, eine Nierenarterienstenose). Für diese spezielle Indikation konnte die Effektivität des minimalinvasiven Verfahrens in ausgewählten Fällen nachgewiesen werden ▶ [645]. In Ausnahmefällen kann eine bilaterale laparoskopische Nephrektomie auch bei dialysepflichtigen Patienten mit einem malignen, medikamentös nicht einstellbaren Hypertonus vor einer geplanten Nierentransplantation durchgeführt werden ▶ [532]. In der Literatur sind nur wenige Daten zur laparoskopischen Binephrektomie verfügbar. Es überwiegen Einzelfallberichte mit uneinheitlicher Indikationsstellung, oftmals erfolgt der Eingriff auch laparoskopisch-handassistiert.
Technik Der Patient wird im Gegensatz zur einseitigen Nephrektomie oder Nephroureterektomie in Rückenlagerung operiert, sodass nur die entsprechende Rotation des
Operationstisches für die Verbesserung des Operationsfeldes genutzt werden kann und lagerungsbedingt ungünstige Winkel im Gegensatz zur unilateralen Nephrektomie den Eingriff erschweren ▶ [528]. Die Operation wird wie in den vorangegangenen Absätzen beschrieben durchgeführt.
Ergebnisse Für das entsprechende Patientenkollektiv zeigt sich eine hohe Ansprechrate (ca. 75%) mit signifikanter Senkung des systolischen, diastolischen und mittleren arteriellen Blutdrucks bzw. einer Reduzierung der einzunehmenden Antihypertensiva ▶ [528], ▶ [532], ▶ [645].
17.4.1.5 Nephroureterektomie Die Hauptindikation für diesen Eingriff ist eine Refluxnephropathie mit Funktionsverlust der Niere, aber auch das lokal begrenzte Urothelkarzinom des Nierenbeckens bzw. des Harnleiters. Dennoch ist die Datenlage nicht abschließend gesichert. Hinsichtlich des funktionellen Outcomes zeigt sich die Laparoskopie der offenen Chirurgie überlegen ▶ [509], ▶ [519]. Bei onkologischen Indikationen besteht eine Tendenz hin zu vergleichbaren Ergebnissen, obwohl bei größeren Tumoren vereinzelt frühe retroperitoneale Metastasen und auch Portmetastasen beschrieben werden ▶ [491], ▶ [622], ▶ [646]. Für nichtinvasive Urothelkarzinome des oberen Harntraktes konnte in einer prospektiven Studie die Gleichwertigkeit der Laparoskopie mit der offenen Operation nachgewiesen werden ▶ [628].
Merke Wichtige technische Voraussetzungen für ein laparoskopisches Vorgehen sind, Manipulationen am Tumor während der OP zu vermeiden und das Präparat en-bloc mit einer
Blasenmanschette und verschlossenem Hohlraumsystem in einem Organsack zu bergen. Lokal fortgeschrittene Tumoren, Lymphknoten- oder Fernmetastasen sind Kontraindikationen für ein minimalinvasives Vorgehen. Eine simultane regionäre Lymphadenektomie ist ab dem Stadium T2 indiziert, da hier im Gegensatz zu Ta oder T1-Tumoren (etwa 2%) in bis zu 16% der Fälle Metastasen gefunden werden. Das Ausmaß der Lymphadenektomie orientiert sich an den Lymphabflusswegen der jeweiligen Tumorlokalisation ▶ [586], ▶ [620]. Eine entsprechende Expertise auf dem Gebiet der Laparoskopie vorausgesetzt, stellt die minimalinvasive Nephroureterektomie beim Urothelkarzinom des oberen Harntraktes im Stadium T1–2/N0 eine effiziente Therapiealternative zum offenen Vorgehen dar ▶ [621].
Technik Den ersten Schritt dieser Operation bildet die Nephrektomie, welche oben ausführlich beschrieben wurde. Anschließend wird der Ureter bis ins kleine Becken verfolgt. Die Vasa ureterica werden mit dem Ultraschallskalpell durchtrennt oder mit Miniclips versorgt, um dann nach Freipräparieren der Waldeyer-Scheide von extravesikal den Ureter mit einem 10-mm-Clip oder einem Stapler unter Mitnahme des gesamten intramuralen Anteils zu durchtrennen oder durch erweiterte Exzision mit einer Blasenmanschette unter zystoskopischer Kontrolle zu exzidieren.
17.4.1.6 Laparoskopische Donornephrektomie Die laparoskopische Lebendspendenephrektomie ist etwa 15 Jahre nach der Erstbeschreibung an vielen spezialisierten Zentren als gleichwertige Alternative zur offenen
Lebendspendenephrektomie akzeptziert oder hat diese sogar ersetzt. Aktuelle Studien belegen anhand großer Patientenzahlen (n>1000) und ausreichendem Follow-up, dass hinsichtlich Transplantatfunktion, Rejektionen, urologischen Komplikationen, Patienten- und Transplantatüberleben kein Unterschied zur Schnittoperation besteht ▶ [551], ▶ [560], ▶ [595]. Mit Hilfe dieser Ergebnisse und den Vorteilen der minimalinvasiven Technik (schnellere Rekonvaleszenz mit kürzerem Krankenhausaufenthalt, weniger postoperative Schmerzen und bessere kosmetische Resultate) konnten durch die Akzeptanz der laparoskopischen Donornephrektomie potenzielle Organspender für die Lebendspende besonders in den USA, aber auch in Europa hinzugewonnen werden ▶ [530], ▶ [538], ▶ [578]. Darüber hinaus wird dem allgemeinen Konsens Rechnung getragen, die Belastung einer Operation für den gesunden Spender so gering wie nur möglich zu halten. Durch die handassistierte Bergung der Niere bei der Donornephrektomie konnte die im Gegensatz zur Schnittoperation längere warme Ischämiezeit der laparoskopischen Donornephrektomie (ca. 2–7 Minuten) auf 1–3 Minuten verkürzt werden und liegt damit auf dem Niveau der offenen Operation ▶ [530], ▶ [559], ▶ [583]. Die lange Zeit gebräuchlichen Gelports zur Minimierung des Gasverlustes während der intrakorporalen handassistierten Manipulation werden nicht mehr standardisiert verwendet ( ▶ Abb. 17.32, ▶ Abb. 17.33). Eingehen mit der Hand in den Situs zur handassistierten Bergung der Spenderniere. Abb. 17.32
Vollständige Darstellung des Nierenhilus zur Durchtrennung der Nierengefäße mit dem Endostapler. Abb. 17.33
Abb. 17.33a Palpation von A. renalis (NA) und V. renalis (NV).
Abb. 17.33b Absetzen der Nierenarterie (NA).
Abb. 17.33c Absetzen der Nierenvene (NV).
Zwischen links- und rechtsseitiger laparoskopischer Donornephrektomie finden sich keine Unterschiede bei Komplikationsraten und Transplantatüberleben ▶ [562], ▶ [593]. In erfahrenen Händen sind anatomische Anomalien (Nierenzysten, ureteropelvine Obstruktion, solitäre Nierenbeckensteine >1 cm, Ureter duplex oder mehrstämmiger Gefäße), die relative Kontraindikationen für ein laparoskopisches Vorgehen darstellen, nicht mit einem erhöhten Komplikationsrisiko verbunden ▶ [566].
Merke Die laparoskopische Donornephrektomie stellt nach der gegenwärtigen Datenlage ein gleichwertiges Verfahren dar bezüglich Komplikationsraten, Transplantatfunktion und Transplantatüberlebens zum offenen Vorgehen. Sie führt durch die evidenten Vorteile der Laparoskopie zu einer erhöhten Akzeptanz der Lebendspende und damit zu einer Zunahme der Spendebereitschaft.
17.4.1.7 Nierenzystenmarsupialisation Die laparoskopische Resektion und Entfernung von größeren symptomatischen Nierenzysten (Flankenschmerz, Harnabflussstörung, arterielle Hypertonie) hat heute die offen-operative Versorgung und die perkutane Nierenzystenpunktion und -verödung weitgehend abgelöst. Die Vorteile des Eingriffs liegen auch hier in der minimalen Invasivität. Grundsätzlich sollte die Indikation symptomatischen Fällen vorbehalten bleiben ▶ [613].
17.4.1.8 Pyeloplastik Die laparoskopische Pyeloplastik hat sich als effiziente Alternative zur offenen Operation etabliert und diese vor allem an minimalinvasiven Zentren weitestgehend als
Standardverfahren abgelöst. Die meisten Daten existieren zur laparoskopischen Anderson-Hynes-Plastik, welche transperitoneal, aber auch zunehmend retroperitoneal vorgenommen wird ▶ [517] ( ▶ Abb. 17.34). Die Erfolgsraten über 90% sind identisch zum offenen Vorgehen. Bevorzugt werden sollte jedoch die minimalinvasive Operationstechnik ▶ [545], ▶ [638]. Laparoskopische Nierenbeckenplastik nach Anderson-Hynes. Abb. 17.34 Darstellung des eröffneten Nierenbeckens (NB) vor Resektion mit einliegendem Pigtail-Katheter.
Bei geringer Dilatation des Nierenbeckens wird in Einzelfällen die laparoskopische Fenger-Plastik favorisiert, die ohne Durchtrennung des pyeloureteralen Übergangs (Non-dismembered-Technik) gute Langzeitergebnisse aufweist ▶ [570], wobei die Erfolgsraten überwiegend für die Dismembered-Technik sprechen ▶ [545].
Bis heute gelten eine zeitaufwendige Lernkurve und fortgeschrittene laparoskopische Fertigkeiten als Grundvoraussetzung, um mit der minimal-invasiven Technik die Ergebnisse offener Operation zu erreichen ▶ [517].
17.4.1.9 Nephropexie Die laparoskopische Nephropexie ist bei entsprechend strenger Indikationsstellung als Therapieoption einer symptomatischen Nephroptose indiziert.
Praxis Das Vorhandensein einer Schmerzsymptomatik, eines urografischen Korrelates und insbesondere einer in Orthostase nachweisbaren Perfusionsstörung der Niere sind zur Sicherung der Diagnose unabdingbar. Hierzu ist die Durchführung einer szintigrafischen Perfusionsstudie im Sitzen und im Liegen erforderlich. Durch den minimalinvasiven Zugang und die geringe Traumatisierung des Gewebes sind die Patienten nach der Operation nahezu ohne Beschwerden. Aus diesem Grund wurde die offene Technik wegen der erheblichen Traumatisierung verlassen ▶ [529] ( ▶ Abb. 17.35). Pexienaht der lateralen Kurvatur der Niere (N) mit der Bauchwand (BW). Abb. 17.35
In der Langzeitbeobachtung weist das minimalinvasive Vorgehen unabhängig vom Zugangsweg (trans- oder retroperitoneal) neben guten funktionellen Erfolgsraten auch eine bessere Lebensqualität auf ▶ [549], sodass die laparoskopische Nephropexie als Standardverfahren zur Behandlung der symptomatischen Nephroptose angesehen werden kann.
17.4.1.10 Retroperitoneale Lymphadenektomie beim nichtseminomatösen Hodentumor Die laparoskopische retroperitoneale Lymphadenektomie wird nicht nur in der Primärtherapie beim nichtseminomatösen Keimzelltumor im Stadium I und II, sondern an Zentren auch zur Sekundärtherapie bei markernegativen Residualtumoren nach einer Chemotherapie als Alternative zur offenen Operation angeboten ▶ [492], ▶ [507], ▶ [512], ▶ [618], ▶ [634]. Obwohl in den aktuellen Leitlinien die offene Chirurgie stadienumfassend als Standard definiert ist, belegen Studien
für das minimalinvasive Vorgehen im Stadium II–III, in Ausnahmefällen sogar mit Gefäßbeteiligung, keine Nachteile bezüglich Patientensicherheit und onkologischer Effizienz ▶ [486], ▶ [493]. Die Operationszeiten liegen zwischen 2–4 Stunden bei einer perioperativen Morbidität von 7–40%. Der Krankenhausaufenthalt beträgt zwischen 2 und 6 Tagen. Die onkologische Wertigkeit ist anhand der vorwiegend retrospektiven Datengrundlage mit dem offenen Vorgehen vergleichbar, wobei klinisch durch die minimale Invasivität ein deutlicher Vorteil für den Patienten besteht ▶ [489], ▶ [518], ▶ [634]. Um neben der größtmöglichen onkologischen Sicherheit die antegrade Ejakulation zu erhalten, wird die TemplateStrategie verfolgt, bei der postganglionäre Nervenfasern oder kontralaterale Ganglien unterhalb der A. mesenterica inferior ausgespart werden ▶ [516], ▶ [573], ▶ [647], ▶ Abb. 17.36). Komplikationen treten in etwa 15% der laparoskopischen und 30% der offenen Fälle auf, wobei die Wertung von Minor- und Majorkomplikationen uneinheitlich ist ▶ [618]. Daher hat sich die Methode, wenn auch technisch sehr anspruchsvoll, an minimalinvasiven Zentren vor allem im Stadium I–II etabliert ( ▶ Abb. 17.37). Resektionsfelder zur laparoskopischen retroperitonealen Lymphadenektomie. Abb. 17.36 a Methode modifiziert nach Weissbach. b Methode modifiziert nach Boedefeld. c Methode modifiziert nach Donohue.
Laparoskopische Entfernung eines interaortokavalen Lymphknotenkonglomerats während einer laparoskopischen modifizierten retroperitonealen Lymphadenektomie rechts. Abb. 17.37 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
17.4.2 Eingriffe im kleinen Becken und am inneren Leistenring 17.4.2.1 Radikale Prostatektomie Die laparoskopische radikale Prostatektomie mit und ohne Erhalt des neurovaskulären Bündels ist ein fester Bestandteil des operativen Therapiespektrums für das lokal begrenzte Prostatakarzinom. Die Indikationsstellung für diesen Eingriff ist identisch mit der offenen (retropubischen oder perinealen) Operation bei einem klinisch lokal begrenzten Prostatakarzinom.
Technik Der Zugang erfolgt in der Regel über 5 Trokare im Unterbauch ( ▶ Abb. 17.38). Bei der extraperitonealen Technik werden nach Inzision der endopelvinen Faszie und Umstechen des dorsalen Venenplexus („Santorini-Plexus“) in deszendierender Weise vom Blasenhals her Samenblasen und Ductus deferens präpariert und nach Durchtrennung der Denovillier-Faszie die Prostata dorsal mobilisiert ( ▶ Abb. 17.39, ▶ Abb. 17.40). Die lateralen Pfeiler werden in der Regel mit dem Ultraschallskalpell durchtrennt, auftretende
Blutungen ggf. mit bipolarer Koagulation gestillt. Danach wird der Apex präpariert und zur vollständigen Mobilisation der Prostata die Harnröhre durchtrennt. Trokarplatzierung im Unterbauch bei der extraperitonealen Prostatektomie. Abb. 17.38
Durchtrennen des Blasenhals nach Abpräparation der Basis der Prostata von der Harnblase.
Abb. 17.39
Blick auf die Fläche zwischen Rektum und Hinterfläche der Prostata bei extraperitonealer laparoskopischer Prostatektomie. Abb. 17.40 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Bei der potenzerhaltenden Technik wird ab der Präparation der Ductus deferentes auf Koagulationsstrom verzichtet. Blutungen und Gefäße werden mit Clips versorgt, um thermischen Schädigungen des neurovaskulären Bündels vorzubeugen. Die dorsale Fläche der Prostata wird zwischen Denovillier- und periprostatischer Faszie stumpf präpariert. Anschließend werden die Prostatapfeiler und die vom neurovaskulärem Bündel zur Prostata ziehenden Gefäße bis zum Apex dargestellt und mit Clips abgesetzt ( ▶ Abb. 17.41). Erhaltenes neurovaskuläres Bündel links unmittelbar nach Entfernung der Prostata. Abb. 17.41
Bei beiden Vorgehensweisen wird der Apex präpariert und zur vollständigen Mobilisation der Prostata die Harnröhre durchtrennt. Die Anastomose zwischen Blasenhals und Urethra wird entweder in Einzelknopftechnik oder fortlaufend genäht ( ▶ Abb. 17.42). Anastomosennaht zwischen Blasenhals und Harnröhre nach extraperitonealer laparoskopischer Prostatektomie. Abb. 17.42 (Quelle: Fornara P, Zacharias M, Jurczok A. Laparoskopie. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Die obturatorischen und ggf. auch die iliakalen Lymphknoten können in der gleichen Sitzung entfernt werden. Beim extraperitonealen Zugangsweg wird im Falle einer Lymphadenektomie am Ende der Operation das Peritoneum inzidiert (sog. „Peritonealfenster“), um eine Lymphozelenbildung zu vermeiden. Die laparoskopische Prostatektomie kann sowohl transperitoneal als auch vollständig extraperitoneal (ohne Manipulation des Peritoneums) vorgenommen werden, wobei der extraperitoneale Zugang häufig bevorzugt wird.
Ergebnisse Etwa 25 Jahre nach der Erstanwendung ist die laparoskopische radikale Prostatektomie als gleichwertig zur offenen Operation anzusehen. Die Komplikationsrate des
Eingriffs liegt bei 2,2%. Der Harnröhrenkatheter verbleibt etwa 5–7 Tage. Onkologische und funktionelle Ergebnisse sind längst mit denen der offenen Chirurgie und roboterassistierten Verfahren vergleichbar, genauso wie die funktionellen Ergebnisse für Kontinenz und Potenz. Ein Jahr nach der Operation werden Kontinenzraten um 90% und Potenzraten von etwa 50–90% erreicht ▶ [553], ▶ [617], ▶ [637]. Positive Schnittränder finden sich etwa in 10–30% der Fälle und zeigen deutliche Unterschiede zwischen lokal begrenzten und organüberschreitenden Tumoren (pT2: 8–15% vs. pT3: 30–45%). Nach 10 Jahren beträgt das PSA-rezidivfreie Überleben für alle Stadien etwa 80% und das karzinomspezifische Überleben bei lokal begrenzten Tumoren sogar 100% ▶ [506], ▶ [511], ▶ [565]. Trotz dieser Ergebnisse darf die aufwendige Lernkurve als Voraussetzung für diese komplexe Operation nicht unbeachtet bleiben ▶ [625]. Daher wird die laparoskopische radikale Prostatektomie als Goldstandard vorwiegend an spezialisierten Zentren angesehen. Zukünftig scheint der Stellenwert trotz wirtschaftlicher Vorteile gegenüber der roboterassistierten Technik fraglich, da nicht nur vielversprechende Ergebnisse der roboterassistierten Operationstechnik, sondern auch eine kürzere Lernkurve und der Ausblick einer günstigen Kostenentwicklung die Existenz anderer Verfahren zunehmend in Frage stellen ▶ [511], ▶ [521], ▶ [522], ▶ [601], ▶ [602].
17.4.2.2 Radikale Zystektomie mit Anlage verschiedener Urinderivationen (Mainz-Pouch II, Ileumconduit) Es handelt sich um einen komplexen laparoskopischen Eingriff, der mittlerweile in den europäischen Leitlinien neben der offenen Chirurgie als Therapieoption für das
muskelinvasive Harnblasenkarzinom aufgeführt ist ▶ [635]. Obwohl kontinente und inkontinente Urinumleitungen laparoskopisch technisch machbar sind, hat sich die laparoskopisch-assistierte Variante durchgesetzt, bei der über den Bergeschnitt der rekonstruktive Schritt offenchirurgisch durchgeführt wird ▶ [540], ▶ [556], ▶ [615], ▶ [633], ▶ [642].
Vorsicht Das Problem der Tumorzellverschleppung und Portmetastasierung hat beim Urothelkarzinom aufgrund seiner aggressiven Biologie eine besondere Bedeutung.
Technik Der Zugangsweg erfolgt transperitoneal über 5 Trokare im Unterbauch. Zu Beginn werden die Harnleiter mit Clips abgesetzt und der Absetzungsrand zur Schnellschnittuntersuchung asserviert. Anschließend wird in deszendierender Weise vorgegangen und das Peritoneum in der rektovesikalen Umschlagfalte zur Präparation der Samenblasen inzidiert. Um in das Cavum Retzii zu gelangen, werden die Harnblasenpfeiler dargestellt und entweder mit dem Ultraschallskalpell oder einem Endostapler durchtrennt. Die Mobilisation der Prostata erfolgt analog zur laparoskopischen radikalen Prostatektomie, indem die puboprostatischen Bänder durchtrennt und die endopelvine Faszie inzidiert wird. Bevor die Harnröhre abgesetzt wird, ist der Verschluss mit Clips erforderlich, um eine Tumorzellaussaat zu verhindern. Im Falle einer orthotopen Neoblase bleiben zur Unterstützung der Kontinenz endopelvine Faszie und puboprostatische Bänder intakt.
Die Prostata wird im Apexbereich großzügig mit einem langen Harnröhrenstumpf abgelöst.
Merke Eine negative Schnellschnittuntersuchung des Harnröhrenstumpfes ist Voraussetzung für eine Erhaltung der Kontinenz. Zur vollständigen Mobilisation werden nur noch die Prostatapfeiler mit einem Stapler oder Ultraschallskalpell durchtrennt. Die Bergung des Präparates erfolgt mit einem speziellen Beutel über eine kleine Unterbauchlaparotomie, die je nach Vorgehen vor oder nach der Anastomosennaht vorgenommen wird. Sowohl Ileumconduit als auch orthotope Neoblase werden bei der laparoskopisch-assistierten Technik analog zur offenen Operation konstruiert. Bei Ureterokutaneostomien kann die Hautinzision des rechts pararektal gelegenen Trokars, so denn vor der Operation markiert, zur Ausleitung verwendet werden. Die Lymphadenektomie umfasst obturatorische, iliakale und präsakrale Lymphknoten und kann vor oder nach Entfernen der Harnblase vorgenommen werden.
Praxis Anhand eines frühzeitig diagnostizierten Lymphknotenbefalls zu Beginn der Operation kann die Auswahl der Harnumleitung noch beeinflusst werden ▶ [544].
Ergebnisse Die aktuellen Studien belegen Vorteile der laparoskopischen Technik bezüglich Blutverlust, Transfusionen und
Analgetikaverbrauch, jedoch längere Operationszeiten als beim offenen Vorgehen. Hinsichtlich Mortalität, intraoperativer Komplikationen und Anzahl entfernter Lymphknoten bestehen keine Unterschiede. Nach 4 Jahren liegen das Gesamtüberleben bei etwa 75% und das rezidivfreie Überleben um 70% ▶ [510], ▶ [557], ▶ [567], ▶ [636]. Der konsequente Einsatz von Bergebeuteln für Lymphknoten und Präparat, das Vermeiden von direktem Tumorkontakt und der Verschluss von Harnröhre und Ureteren mit Clips vor dem Absetzen haben die onkologischen Ergebnisse offener Serien bestätigt. Über Portmetastasen nach laparoskopischem Vorgehen existieren mittlerweile nur noch wenige Berichte ▶ [563], ▶ [639]. Trotz der technischen Machbarkeit dieser komplexen Operation muss die zeitaufwendige Lernkurve selbst bei erfahrenen Operateuren berücksichtigt werden. Die zu Beginn langen Operationszeiten bergen hohe Risiken für Lagerungsschäden oder zerebrale Komplikationen infolge der Trendelenburg-Lagerung ▶ [536]. Eine höhere Rate an Spätkomplikationen könnte auf technische Probleme der Laparoskopie bei komplexen rekonstruktiven Operationsschritten hindeuten (Harnröhrenanastomose bei kurzem Mesenterium, Verlagerung der Ureteranastomose ins Retroperitoneum) ▶ [616]. Vor diesem Hintergrund könnte eine Selektion bei der Indikationsstellung hilfreich sein, hin zu früheren Stadien (pT2) mit einem niedrigeren onkologischen Risiko, oder bei älteren Patienten in palliativer Therapiesituation, die vom geringeren Blutverlust und weniger Transfusionen profitieren.
17.4.2.3 Pelvine Lymphadenektomie Im Einzelfall kann ein zweizeitiges Vorgehen beim Borderline-Prostatakarzinom indiziert sein, sodass eine
eigenständige pelvine Lymphadenektomie erforderlich wird, z.B. bei einem jungen Patienten mit Radikalitätswunsch und relativ hohem PSA-Wert oder vor konformaler Bestrahlung oder Brachytherapie. Insgesamt nimmt jedoch die Bedeutung der pelvinen Lymphadenektomie als eigenständiger Eingriff ab und besitzt häufig diagnostischen Charakter. Im Rahmen der radikalen Prostatektomie korreliert die erweiterte Lymphadenektomie bei einigen Autoren mit einem verlängerten rezidivfreien Überleben ▶ [571], ▶ [574], ▶ [624] ( ▶ Abb. 17.43). Präparation der Fossa obturatoria mit Darstellung der V. obturatoria, des N. obturatorius und der Lymphkoten. Abb. 17.43
17.4.2.4 Laparoskopische Eingriffe beim Kryptorchismus Die Datenlage zeigt, dass die diagnostische Laparoskopie bei V.a. Bauchhoden den bildgebenden Verfahren wie CT oder
MRT eindeutig überlegen ist und eventuell ein gleichzeitiges therapeutisches Vorgehen ermöglicht. Die Erfolgsrate der laparoskopischen Hodensuche liegt zwischen 92% und 100% ▶ [547].
Praxis Laparoskopische Verfahren bieten die Möglichkeit, neben der sicheren Diagnosestellung in gleicher Sitzung therapeutisch aktiv zu werden. Bei ausreichender Länge der testikulären Gefäßstrukturen kann eine laparoskopische Funikulolyse mit anschließender Orchidopexie vorgenommen werden. Alternativ ist bei kurzen Vasa testicularia und dementsprechend hoher Lokalisation der erste Schritt einer Fowler-StephensOperation laparoskopisch realisierbar, wobei zunächst die testikulären Gefäße ligiert werden. Hat sich eine ausreichende Versorgung des Hodens über kollaterale Gefäße des Samenstranges etabliert (A. pudenda interna, A. ductus deferentis, A. cremasterica), wird sekundär nach zwischenzeitlicher hormoneller Stimulation der Hoden in das Skrotalfach verlagert ▶ [580], ▶ [589].
17.4.2.5 Lymphozelenfensterung Eine weitere Indikation stellt die laparoskopische Lymphozelenfensterung als Folge einer Nierentransplantation oder einer pelvinen Lymphadenektomie dar, wobei es sich um Lymphozelen mit einer entsprechenden Symptomatik wie Schmerzen, Harnabflussbehinderungen oder Gefäßkompression handelt. In der Literatur werden Erfolgsraten zwischen 92% und 100% beschrieben, die demzufolge im Vergleich zur offenen Operationstechnik höher liegen.
Der Eingriff sollte prinzipiell nur dann durchgeführt werden, wenn andere nichtoperative Behandlungsoptionen, wie die perkutane Punktion der Lymphozele mit konsekutiver Sklerosierung, ohne Erfolg bleiben ▶ [527].
Technik Die Lymphozele wird für diesen Eingriff zunächst präoperativ perkutan sonografisch gesteuert punktiert und drainiert (z.B. Schüller-Set). Während des laparoskopischen Eingriffs wird sie dann mit einem Gemisch aus physiologischer Kochsalzlösung und Methylenblau aufgefüllt, um eine bessere Identifikation der Lymphozele und eine Differenzierung benachbarter Strukturen zu ermöglichen. Dann erfolgt die gezielte Lymphozelenfensterung, wahlweise mit Säumung der Lymphozelenränder ▶ [558] ( ▶ Abb. 17.44, ▶ Abb. 17.45). Durch eine Lymphozele nach Nierentransplantation verursachte Harntransportstörung. Abb. 17.44
Lymphozele nach Nierentransplantation rechts.
Abb. 17.45
Abb. 17.45a Medial des Nierentransplantats (NTx) gelegene Lymphozele (LZ).
Abb. 17.45b Nach Auffüllen mit Methylenblau-Kochsalz-Lösung. (LZ: Lymphozele; NTx: Transplantatniere)
Abb. 17.45c Nach Inzision mit Blick auf die zuvor eingelegte Lymphozelendrainage. (LD: Lymphozelendrainage; NTx: Transplantatniere)
17.4.2.6 Varikozelenligatur Die transperitoneale laparoskopische Varikozelenligatur gehört zu den sog. Einsteigeroperationen der urologischen Laparoskopie. Indiziert ist sie nur für die sekundäre Varikozele (Varikozelenrezidiv, persistierende Varikozele) nach erfolglosen ante- oder retrograden Sklerosierungsverfahren sowie als primäre Therapie der bilateralen Varicocele testis.
Ergebnisse Die Erfolgsrate liegt zwischen 87 und 95%, wobei postoperativ keine größeren Komplikationen zu erwarten sind und der Patient in der Regel bereits am 1., selten am 2. postoperativen Tag entlassen werden kann ▶ [569], ▶ [579], ▶ [589]. Die laparoskopische Varikozelenligatur erfordert eine Allgemeinnarkose, was als Nachteil im Vergleich zu den sklerosierenden Verfahren zu werten ist. Die Datenlage weist eine höhere Erfolgsrate der Laparoskopie im Vergleich
zur antegraden Sklerosierung aus. Diese Tatsache muss gegen die etwas höhere Invasivität der Laparoskopie abgewogen werden.
17.4.2.7 Sakrokolpopexie Vor etwa 15 Jahren wurde die Sakrokolpopexie als erster minimalinvasiver urogynäkologischer Eingriff beschrieben ▶ [597]. Das Indikationsspektrum umfasst alle höhergradigen vaginalen Prolapse der Beckenorgane, unabhängig davon, welches Kompartiment betroffen ist (vorderes, mittleres und hinteres). Das Prinzip der Operation beruht darauf, die insuffiziente Funktion des sakrouterinen Ligaments durch die Interposition eines Polypropylennetzes zwischen Scheidengewölbe und 2. Sakralwirbelkörper wiederherzustellen ▶ [490] ( ▶ Abb. 17.46). Für die Beckenbodenchirurgie hat sich die minimalinvasive Technik als besonders vorteilhaft erwiesen, da ein Zugangstrauma unmittelbar im Genitalbereich vermieden werden kann. Darüber hinaus zeigen sich im Vergleich zur offenen Operation ein geringerer Blutverlust und Schmerzmittelbedarf sowie ein kürzerer Krankenhausaufenthalt ▶ [535]. Die funktionellen Langzeitergebnisse sind unabhängig von der Technik (offen, laparoskopisch oder roboterassistiert) als gleichwertig anzusehen ▶ [531], ▶ [603], ▶ [605], ▶ [623]. Laparoskopische Sakrokolpopexie. Abb. 17.46
Abb. 17.46a Elevation der Scheidenstumpfhinterwand.
Abb. 17.46b Fixation am Promotorium mit einem Polypropylennetz.
Abb. 17.46c Endergebnis.
17.4.2.8 Minilaparoskopie, Laparo-Endoscopic Single Site Surgery (LESS) und Natural Orifice Transluminal Endoscopic Surgery (NOTES) Diese Verfahren sind Weiterentwicklungen der konventionellen Multiportlaparoskopie auf der Grundlage technischer Innovationen und folgen dem Anspruch immer schonenderer Operationsmethoden. Die Ziele sind, die Gewebstraumatisierung weiter zu minimieren und das kosmetische Ergebnis durch noch kleinere Hautinzisionen, den Gebrauch eines einzelnen Multiports oder natürlicher Körperöffnungen als Operationszugang zu verbessern. Die Machbarkeit sowohl der Single-Port-Chirurgie (LaparoEndoscopic Single Site Surgery, LESS) als auch minimalinvasiver Eingriffe durch natürliche Körperöffnungen (Natural Orifice Transluminal Endoscopic Surgery, NOTES) ohne sichtbare äußere Narben konnten trotz hoher technischer Anforderungen unter Beweis gestellt werden, besitzen in der klinischen Realität jedoch experimentellen Charakter. Nomenklatur und technische Voraussetzungen dieser Verfahren wurden von der NOTES/LESS-
Arbeitsgruppe der Europäischen Gesellschaft für Urotechnologie definiert ▶ [501], ▶ [539].
Minilaparoskopie Im Gegensatz zur konventionellen Laparoskopie werden bei der Minilaparoskopie Trokare mit einem geringen Durchmesser und spezielle Instrumente genutzt, wodurch kaum sichtbare Narben zurückbleiben. Das Indikationsspektrum und die technische Vorgehensweise sind mit der Laparoskopie identisch. Dennoch sind abgesehen von besseren kosmetischen Ergebnissen keine Vorteile hinsichtlich einer geringeren Invasivität nachweisbar ▶ [523]. Die Grundlage für diese Technik und den Umgang mit dem Instrumentarium bilden Erfahrungen von Eingriffen aus der Kinderurologie wie der Pyeloplastik oder Antirefluxoperationen. Die Minilaparoskopie besitzt ihren Stellenwert vor allem bei diagnostischen und rekonstruktiven Eingriffen, gleichwohl kleinere Studien die technische Machbarkeit einer Vielzahl von Indikationen der konventionellen Laparoskopie unter Beweis gestellt haben ▶ [543], ▶ [608], ▶ [610]. Trotzdem ist das Anwendungsspektrum durch die eingeschränkte Handhabung der Instrumente oftmals limitiert, da besonders bei aufwendiger Präparation, Adhäsionen oder Tumorinfiltration durch den dünnen Instrumentenschaft die nötigen Retraktionsmöglichkeiten fehlen. ▶ Tab. 17.1 fasst die technische Voraussetzungen und die Nomenklatur der Minilaparoskopie zusammen. Tab. 17.1 Technische Voraussetzungen und Nomenklatur der Minilaparoskopie (Datenquelle: ▶ [610]). Art des Eingriffs
Instrumentarium
Diagnostische Probeexzision und rekonstruktive Eingriffe
ausschließlich 3-mm-Instrumente
Ablative Eingriffe
jeweils ein 10–12-mm- und 5-mm-Trokar, ansonsten nur 3,5-mm-Trokare
Art des Eingriffs
Instrumentarium
Retroperitoneoskopische Eingriffe
ein 10- oder 12-mm-Trokar möglich
Single-Port-Laparoskopie (Laparo-Endoscopic Single Site Surgery, LESS) Die gesamte Operation erfolgt über eine einzelne Hautinzision (ca. 2–4 cm) im Nabelbereich mit Hilfe eines speziellen Multiports für Kamera und Instrumente ( ▶ Abb. 17.47, ▶ Abb. 17.48, ▶ Abb. 17.49). In Ausnahmefällen ist ein zusätzlicher 5-mm-Trokar gestattet ▶ [501], ▶ [539]. Transumbilikal eingebrachter Single-Port (hier im Bild: Endocone, Fa. Karl Storz Endoskopie, Tuttlingen). Abb. 17.47
Blick auf den Operateur während einer Single-Port-Operation. Abb. 17.48
Instrumententrokare für den Single-Port. Abb. 17.49
Ein limitierender Faktor dieser Technik ist die aufgehobene Triangulation der Arbeitsinstrumente, welche die wesentliche Grundlage des laparoskopischen Operierens darstellt. Um diesen Nachteil auszugleichen und Kollisionen oder Überkreuzungen der Instrumente zu vermeiden, existieren spezielle Instrumente mit einem längeren unterschiedlich gewinkelten Schaft ( ▶ Abb. 17.50, ▶ Abb. 17.51) und eine starre extralange 5-mm-30°-Kamera. Eröffnen des Toldt-Linie mit einer gebogenen Endoschere. Abb. 17.50
Darstellung der Instrumente während einer Single-Port-Operation. Abb. 17.51 Durch den gebogenen Schaft der Instrumente wird bei der Dissektion (rote Pfeile) eine Kollision der Instrumente und der Kamera verhindert (grüne Pfeile).
Dadurch ist der Schwierigkeitsgrad besonders bei rekonstruktiven Eingriffen gegenüber der konventionellen Laparoskopie erhöht und mit einer wesentlich längeren Lernkurve verbunden ▶ [534]. Vor dem Hintergrund derart hoher technischer Anforderungen empfiehlt die NOTES/LESS-Arbeitsgruppe der Europäischen Gesellschaft für Urotechnologie Kriterien für Patientenselektion und operatives Vorgehen, um die Patientensicherheit und die Effizienz dieses Verfahrens zu gewährleisten (s. Übersicht) ▶ [494], ▶ [537].
Praxis Kriterien für Patientenselektion und operatives Vorgehen bei Single-Port-Laparoskopie (LESS) Body-Mass-Index (BMI) 95. Perzentile Kelche nicht dilatiert
Gradeinteilung
Befund
Grad II
Parenchym normal breit Pyelon deutlich erweitert Kelchhälse Ieicht erweitert und Kelche aufgeweitet erhaltene Papillenspitzen Fornixwinkel spitz
Grad III
Parenchym verschmälert deutliche Nierenbecken-Kelch-Erweiterung Kelche verplumpt, d.h. Papillen abgeflacht und Fornixwinkel stumpf
Grad IV
erhebliche Parenchymverschmälerung; extreme Nierenbecken-Kelch-Erweiterung Kelche breit ausgewalzt Grenzen zwischen Pyelon und Kelchsystem teilweise bis vollständig aufgehoben
Ureteropelvine Stenose. Abb. 25.2
Abb. 25.2a Sonografischer Befund im Längsschnitt.
Abb. 25.2b Messparameter ARRPD („anterior-posterior renal pelvis diameter“) intrarenale Nierenbeckenweite in Hilusebene im Querschnitt
Praxis Als pathologisch gewertet werden sollte ein APRPD (anteriorposterior renal Pelvis Diameter) von ≥4 mm in der 16.–27. Gestationswoche ≥7 mm ab der 28. Gestationswoche >10 mm postnatal (älter als 48 Stunden).
Vorsicht Zu beachten ist das in den ersten Lebenstagen eine physiologische Oligurie besteht und somit die Gefahr, eine
Harnabflussstörung zu übersehen. Außerdem hat der Trend der Nierenbeckendilatation in den Verlaufsbeobachtungen einen hohen prognostischen Aussagewert ▶ [1067].
25.5.2 Funktionsdiagnostik – Diureseszintigrafie Merke Die MAG3-Szintigrafie ist derzeit der Goldstandard und eine nichtinvasive Methode, die seitengetrennte Nierenfunktion und die Abflussverhältnisse zu evaluieren. Tracer ist 99mTechnetium-Mercaptoacetyltriglycerin (99mTcMAG). Dies ist ein tubuläres Agens mit hoher Proteinbindung, hoher tubulärer Extraktionsrate, geringer Verteilung im extravaskulären Raum und somit geringer Hintergrundaktivität. Es ergibt sich eine Strahlenexposition von ca. 0,2–0,4 mSv pro Untersuchung. Eine Alternative ist das 99m-Technetium-DTPA. Diese Substanz ist preiswerter, aber weniger akkurat in der Bestimmung der seitengetrennten Funktion, und aufgrund der geringeren Auswaschrate hat DTPA eine unvorteilhafte Signal-Hintergrund-Ratio, was insbesondere bei Kindern unter 6 Monaten und bei einer eingeschränkten Gesamtfunktion problematisch sein kann. Die europäischen Leitlinien der Nuklearmedizin betonen, dass der früher als obligat angesehene Harnblasenkatheter unkompliziert durch die Akquisition und Verarbeitung von
Spätaufnahmen nach Miktion/Aufrichtung ersetzt werden kann. Ebenso ist bei einem im Allgemeinen gesunden Patientenkollektiv eine orale Hydrierung ausreichend ▶ [1065]. In der klassischen Weise nach O’Reilly wird eine visuelle Einteilung der Abflusskurven in 4 Typen (I, II, IIIa und IIIb) ( ▶ Abb. 25.3) ▶ [1077]. O'Reilly-Einteilung der Abflusskurven. Abb. 25.3
Abb. 25.3a Typ I: Prompte Elimination des Isotops innerhalb 20 Minuten nach Applikation.
Abb. 25.3b Typ II: Anstieg der Nuklidaktivität unbeeinflusst von der FurosemidApplikation.
Abb. 25.3c Typ IIIa: Prompte, weitgehende Elimination des Isotops unmittelbar nach der Furosemid-Applikation.
Abb. 25.3d Typ IIIb: Mäßiggradiger Nuklidabfluss nach Furosemid-Applikation.
Des Weiteren gibt es quantitative Parameter zur Bestimmung der Abflussverhältnisse. t1/2 ist der traditionell am häufigsten verwandte quantitative Parameter zur Bestimmung der Abflussverhältnisse, jedoch nicht die ideale Methode zur Bestimmung des Wash-out, da t1/2 sowohl von
den Endpunkten der Kurve als auch von den Anfangspunkten abhängig ist. Parameter, die das Wash-out einer Niere unabhängig vom Zeitpunkt der Furosemid-Injektion und der Partialfunktion abbilden, sind die gegenläufig miteinander korrelierten Parameter OE (Renal Output Efficiency) und NORA (Normalized Residual Activity). OE bildet das Verhältnis von dem, was aus der Niere ausgewaschen, zu dem, was von der Niere aufgenommen wurde und ist sehr unabhängig von der Gesamtfunktion. NORA bildet die Restaktivität zu einem bestimmten Zeitpunkt ab (z.B. nach Miktion). Beide Parameter sind nicht von der Nierenpartialfunktion abhängig, nachteilig ist hier jedoch ein Mangel an Standardisierung der Daten ▶ [1061].
Merke Nur der ungestörte Harnabfluss ist eindeutig zu definieren. ▶ Abb. 25.4 zeigt das Beispiel einer 3.2.2.: MAG3Szintigrafie eines 7 Jahre alten Mädchens mit UPS links. MAG3-Szintigrafie eines 7 Jahre alten Mädchens mit uretopelviner Stenose links. Abb. 25.4
25.5.3 Magnetresonanztomografie Die Magnetresonanztomografie (MRT) zeichnet sich in der urologischen Bildgebung durch eine exzellente Darstellung wasser- bzw. urinhaltiger Strukturen aus ( ▶ Abb. 25.5). MRT-Bildgebung. Abb. 25.5
Abb. 25.5a MRT-Abbildung des dilatierten Nierenbeckens.
Abb. 25.5b Angiografie.
Abb. 25.5c Koregistrierte Angiografie und Urografie mit Darstellung des für die Dilatation ursächlichen Polgefäßes in engem Kontakt mit dem Nierenbecken. (Quelle: PD Dr. med. Timm Dennecke, Charité Berlin)
Unter Verwendung von Gadolinium-DTPA ermöglicht das MRT neben der anatomischen Darstellung eine Beurteilung der renalen Perfusion und der seitengetrennten glomerulären Filtrationsrate und eine anatomische Darstellung ▶ [1080]. Bei eingeschränkter Nierenfunktion kann die GadoliniumKontrastmittelgabe eine nephrogene systemische Fibrose (NSF) verursachen und sollte hier vermieden werden. Die großen Erwartungen bezüglich der MRT-Bildgebung (Ersatz von Ultraschall und Szintigrafie) haben sich in der Praxis bisher nicht erfüllt, da als problematisch die Kosten des
MRTs und die eventuelle Notwendigkeit einer Sedierung/Narkose bei Kindern zu sehen sind. Die MR-Urografie kann jedoch hilfreich sein bei der Bewertung einer vermuteten Obstruktion und der exakten Darstellung der Anatomie und Gefäßsituation (aberrante/akzessorische Polgefäße; ▶ Abb. 25.5c), Unterscheidung einer Polymegakalikosis oder multizystischen Nieren von einer UPS oder Darstellung einer Doppelnierenanlage und ist somit insbesondere bei pädiatrischen Patienten oder Schwangeren vorteilhaft. Ältere Techniken wie das intravenöse Urogramm oder ein antegrades Pyelogramm sind eher selten in der Anwendung geworden, können jedoch im Einzelfall hilfreich sein, z.B. in der Differenzialdiagnose der Urolithiasis. Der Druck-FlussStudie (Whitaker-Test) kommt lediglich historische Bedeutung zu.
25.5.4 Miktionszysturethrogramm Diskutiert wird, ob ein Miktionszysturethrogramm (MCU) zum Ausschluss eines begleitenden vesikoureteralen Refluxes erforderlich ist. Hubertus et al. konnten zeigen, dass die niedrige Inzidenz eines begleitenden/assoziierten VUR von 14–18% das MCU nicht rechtfertigt, da hier keine Korrelation mit dem Ausmaß der Hydronephrose bewiesen werden konnte ▶ [1069]. In Fällen von beidseitiger Hydronephrose, insbesondere in Kombination mit sonografisch prävesikal darstellbaren dilatierten Ureteren ist das MCU zum Ausschluss eines VUR/Megaureters oder des Vorliegens von Harnröhrenklappen jedoch indiziert.
25.6 Therapie
25.6.1 Grundlagen der Therapieentscheidung Während bei später im Leben symptomatisch gewordenen Nierenbeckenabgangsengen die Indikationsstellung zur operativen Therapie einfach erscheint, ist das Vorgehen bei bereits intrauterin erkannten Hydronephrosen deutlich differenzierter. Das Vorliegen klinischer Symptome (z.B. Bauch- bzw. Flankenschmerzen) oder das Auftreten von Komplikationen der UPS (z.B. Pyelonephritis oder Urolithiasis) wird im Allgemeinen als Operationsindikation akzeptiert. Bei den häufig bereits pränatal diagnostizierten Säuglingen und Kleinkindern fehlen Symptome jedoch oft ganz, somit gilt es, die Frage zu beantworten, welche partiell obstruierte Niere ein Risiko für einen Funktionsverlust im Verlauf hat, oder im Umkehrschluss: welche Niere von einer operativen Therapie profitieren oder sogar eine Verbesserung der Partialfunktion zeigen wird. Eine Reihe von Parametern können zur Entscheidungsfindung herangezogen werden (s. Übersicht).
Praxis Entscheidungsfindung für oder gegen eine operative Therapie der ureteropelvine Stenose Alter des Kindes Ein- oder beidseitige Nierenbeteiligung Gesamtnierenfunktion Ausmaß der Hydronephrose und insbesondere der Nierenkelchdilatation in der Sonografie und Dynamik in der Entwicklung
Abfluss des Radionuklides in der Szintigrafie seitengetrennte Nierenfunktion und Dynamik in der Entwicklung Compliance von Eltern und Kind Seit den Pionierarbeiten von O’Reilly werden die Diuresekurven der Szintigrafie herangezogen, um obstruierte Systeme von nicht obstruierten zu unterscheiden. Ein differenzierteres Verständnis der Urodynamik der UPS hat jedoch zu einer zunehmend veränderten Haltung geführt. Letztlich ist nur der ungestörte Harnabfluss eindeutig zu definieren ▶ [1065]. Ein sehr weites Nierenbecken ohne Einschränkung des Urinabflusses erscheint in der Szintigrafie häufig als in der Drainage eingeschränkt, in den meisten Fällen hat hier jedoch ein konservativer Therapieansatz gezeigt, dass es zu einer Besserung des szintigrafischen Abflusses im Verlauf kommt. Einigkeit besteht darüber, dass eine sich im Verlauf verschlechternde Partialfunktion eine operative Therapie erfordert. Es konnte gezeigt werden, dass die meisten der spät operierten Nieren eine Verbesserung der Partialfunktion im Verlauf zeigten. Eine gute Nierenpartialfunktion in den Erstuntersuchungen hat ein relativ geringes Risiko für die Notwendigkeit einer operativen Therapie im Verlauf ▶ [1070]. Im Umkehrschluss fehlt jedoch der Beweis, dass eine Niere mit initial schlechter Partialfunktion ein höheres Risiko für eine weitere Verschlechterung ohne operative Therapie hat als eine Niere mit guter Partialfunktion Den wegweisenden Erfahrungen der Great Ormond Street zufolge lässt sich schlussfolgern, dass je ausgeprägter die
Hydronephrose im Ultraschall ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Niere einer operativen Therapie bedarf ▶ [1059]. Hier wurde der Schweregrad der Hydronephrose am APRPD in der Transversalebene definiert, die Funktionsuntersuchung über eine DTPASzintigrafie 4–6 Wochen postnatal durchgeführt. In einer ersten retrospektiven Serie wurden Nieren mit deutlich eingeschränkter Partialfunktion einer operativen Therapie zugeführt, ebenso Nieren mit einer moderaten Nierenfunktion, die auch in einer Kontrolle 3 Monate postnatal unverändert waren. Die interessante Gruppe stellten Nieren dar, die eine gute Partialfunktion zeigten. Diese wurden zunächst konservativ behandelt. In der retrospektiven Untersuchung zeigte sich, dass Nieren mit einem APRPD von weniger als 12 mm gar nicht operativ behandelt werden mussten, während alle im Verlauf operativ therapierten Nieren aus der Gruppe derjenigen Nieren mit einem initial höheren Dilatationsgrad als 12 mm APRPD kamen. In einer weiteren prospektiv randomisierten Serie, in der Nieren mit einer Dilatation von initial mehr als 15 mm APRPD eingeschlossen wurden, konnte gezeigt werden, dass die im Verlauf operationsbedürftigen Befunde alle initial mehr als 20 mm APRPD aufwiesen. Dennoch bleibt die Gruppe der Nieren mit einer Dilatation APRPD 20–50 mm und einer guten Partialfunktion (>40%) problematisch, da hier der Verlauf ebenso stabil oder sogar befundgebessert oder eben auch operationsbedürftig sein kann. Im Allgemeinen besteht Konsens, dass Nieren mit einer stark eingeschränkten Partialfunktion oder einer massiven Dilatation (>50 mm APRPD) einer operativen Therapie bedürfen. Es gibt jedoch auch die Meinung, dass eine massive Hydronephrose eine Schutzfunktion darstellt ▶ [1073].
▶ Abb. 25.6 stellt den Handlungsalgorithmus bei pränatal diagnostizierter Hydronephrose dar. Workflow bei pränatal diagnostizierter Hydronephrose. Abb. 25.6 (APRPD: „anterior-posterior renal pelvis diameter“).
25.6.1.1 Prädiktive Parameter Schlotmann et al. konnten auf der Basis einer großen retrospektiven Studie zeigen, dass eine verzögerte Transportzeit des Tracers (Tissue Transit Time), ausgewertet auf einer rein visuellen Basis, in der Lage sein könnte, eine
Funktionsverbesserung nach Pyeloplastik bzw. im Umkehrschluss das Risiko für eine Funktionsverschlechterung bei konservativer Therapie vorherzusagen ▶ [1081]. Inzwischen gibt es weitere Studien, die dies bestätigen ▶ [1060].
25.6.2 Operative Therapie 25.6.2.1 Notfalltherapie – perkutane Nephrostomie Im Falle einer Pyonephrose bzw. einer Urosepsis kann die perkutane Nephrostomie als Notfalleingriff durchgeführt werden. Im weiteren Verlauf kann dann eine weitere Diagnostik und Therapie erfolgen. Grundsätzlich ist einer zügigen definitiven operativen Therapie gegenüber einer passageren Harnableitung Vorzug zu geben, da insbesondere durch die Einlage des Fremdmaterials der operative Eingriff durch sekundäre Gewebeveränderungen erschwert sein kann.
25.6.2.2 Nierenbeckenplastik Die erste plastische Operation zur Korrektur der Ureterabgangsstenose wurde 1886 von Trendelenburg durchgeführt. Im weiteren Verlauf wurden mehrere operative Verfahren beschrieben, die im Einzelfall für z.B. anatomisch besondere Situationen durchaus noch Anwendung finden können.
Praxis Historischer Abriss der operativen Therapie der Ureterabgangsstenose 1891 Küster: kontinuitätsdurchtrennende Pyeloplastik – Problem: Strikturen
1892 Fenger: Heinecke-Mikulicz Prinzip – Problem: Schwellung und Obstruktion 1896 Israel: Nierenbeckenplikation 1906 Kelly: Modifikation Nierenbeckenplikation 1921 Lichtenberg: Pyeloplastik nach Pyloroplastikprinzip nach Finney 1923 Schwyzer: Y-V-Plastik nach Pyloroplastikprinzip nach Durante 1937 Foley: Modifikation der Y-V-Plastik 1949 Nesbit: Modifikation der Pyeloplastik nach Küster 1949 Anderson und Hynes: kontinuitätsdurchtrennende Pyeloplastik 1951 Culp und de Weerd: Spirallappenplastik 1953 Scardino und Prince: Vertikallappen 1982 Patel: Extralang-Spirallappentechnik
25.6.2.3 Offene Nierenbeckenplastik Merke Als Goldstandard der operativen Therapie der Nierenbeckenabgangsenge gilt die kontinuitätsdurchtrennende offene Nierenbeckenplastik nach Anderson-Heynes ( ▶ Abb. 25.7) ▶ [1053]. Für die offene Nierenbeckenplastik gibt es aus technischer Sicht keinerlei Altersbeschränkungen. Nierenbeckenplastik nach Anderson-Hynes. Abb. 25.7
Abb. 25.7a Einsetzen von Lidhaken. (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7b Punktion des erweiterten Hohlsystems (bei Bedarf Bakteriologie).
(Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7c Haltefaden kranial zur Längseröffnung von Nierenbecken und Harnleiter bis an den tiefsten Punkt. (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7d Korrespondierende 45-Grad-Inzisionen zur Lappenbildung aus dem Nierenbecken, Haltefäden kranial und kaudal. (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7e Spatulierung des Harnleiters. Eine Resektion des überschüssigen Nierenbeckens ist nur selten erforderlich. (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7f Einlegen eines mehrfach gelochten Splints (Charr. 5–6) und einer Pyelostomie (Charr. 8–9) und getrennte Fixation mit Vicryl rapid. (Sicherung einer optimalen Drainage, auch wenn einer der Drainageschläuche durch Koagel verlegt sein sollte). (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7g Beginn der Hinterwandanastomose mit Monocryl 7/0–5/0 (alters- und gewebeabhängig). „3×3-Regel“ bei Stichführung außen–innen–außen (Knopf außen): erster Stich in 3 mm Abstand vom tiefsten Punkt, Abstand 3 mm vom Schnittrand, Abstand 3 mm von Stichkanal zu Stichkanal (3 Knöpfe).
(Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7h Beendigung der Hinterwandanastomose am tiefsten Punkt. (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Abb. 25.7i Anastomose der Vorderwand. Einzel- oder nunmehr auch fortlaufende Naht. (Quelle: Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Nierenbeckenplastik. In: Stein R, Beetz R, Thüroff J [Hrsg]. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)
Oberhalb der 12. Rippe erfolgt die Hautinzision über ca. 4–5 cm. Aufgrund der hohen Erfolgsrate der Operation (ca. 95%) sind Rezidiveingriffe sehr selten. Die Reoperationsrate liegt bei ca. 4%. Als endourologische Verfahren wurden die folgenden Eingriffe beschrieben: Ballondilatation, antegrade oder retrograde Endopyelotomie, laparoskopische Pyeloplastik oder 1903 das Albarran-Konzept der kompletten Inzision mit prolongiertem Stenting. Letztlich konnte sich lediglich die laparoskopische Nierenbeckenplastik als der offenen OP gleichwertig durchsetzen.
25.6.2.4 Laparoskopische Nierenbeckenplastik Die transperitoneale laparoskopische Nierenbeckenplastik wurde 1993 von Schuessler beschrieben ▶ [1082]. Unterschieden wird hier noch zwischen einem transperitonealen Vorgehen und einer retroperitonealen laparoskopischen Technik. Die transperitoneale laparoskopische Nierenbeckenplastik hat deutlich kürzere OP-Zeiten im Vergleich zur retroperitonealen laparoskopischen Pyeloplastik, jedoch auch eine etwas höhere Rate an Komplikationen (z.B. postoperativer Ileus). Die Erfolgsaussichten sind bei beiden Verfahren gleichwertig ▶ [1083]. Auch die roboterassistierte Nierenbeckenplastik hat sich als gleichwertig erwiesen ▶ [1058]. Bei Kindern sind die laparoskopischen Verfahren technisch anspruchsvoll ( ▶ Abb. 25.8). Eine Altersbegrenzung gibt es
durch die Entwicklung kleinlumiger Instrumente und Harnleiterschienen kaum, lediglich die roboterassistierte Nierenbeckenplastik hat durch die Größe der Instrumente derzeit noch Limitationen. Laparoskopische Nierenbeckenplastik. Abb. 25.8
Abb. 25.8a Beispiel Trokarpositionen mit 3-mm-Instrumenten und 5-mm-Kamera bei einem 2 Jahre alten Jungen.
Abb. 25.8b Intraoperativer Befund einer extrinsischen Stenose durch Polgefäße.
25.6.3 Hitch-Prozedur Im Jahr 1949 wurde von Hellström 1949 ein Verfahren zur Verlagerung eines kreuzenden Gefäßes und somit Behebung einer extrinsischen Stenose beschrieben. Laparoskopisch konnte für Kinder ein gutes Outcome gezeigt werden ▶ [1068], ▶ [1064]. Problematisch ist hier jedoch die Selektion der Patienten, da ein rein extrinsisches Problem ohne Vorliegen einer intrinsischen Stenose gesichert sein muss. Theoretisch geeignete Kandidaten sind ältere Kinder und Erwachsene mit intermittierenden Koliken ohne bekannte pränatale Dilatation.
25.6.4 Postoperative Harnableitung nach Nierenbeckenplastik Seit der initialen Beschreibung der Anderson-Hynes-Technik gibt es eine fortbestehende Debatte über das Für und Wider einer postoperativen Harnableitung. Als Harnableitung komm in Betracht ▶ [1056], ▶ [1062], ▶ [1085], ▶ [1086]: eine Nephrostomie, eine Nephrostomie mit Anastomosenschienung oder eine Harnleiterschiene.
Merke Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine intraoperative Einlage einer Harnableitung die unmittelbaren operativen Komplikationen wie z.B. eine Urinleckage oder Obstruktion reduziert und auch zu einer schnelleren Abnahme der Dilatation und ggf. zu kürzeren Liegezeiten führt. Jedoch kann es zu Komplikationen kommen, die durch die Harnableitung bedingt sind, wie z.B. Infektionen, Dislokationen oder Steinbildung ▶ [1056], ▶ [1062], ▶ [1085], ▶ [1086].
25.6.5 Nephrektomie Traditionell wurde eine Nephrektomie in Fällen mit einer Seitenfunktion von unter 10% empfohlen. Dies ist nicht notwendigerweise der richtige Therapieansatz, da auch Fälle von deutlicher Funktionsverbesserung bei früher Pyeloplastik beschrieben worden sind ▶ [1087].
25.7 Postoperative Nachsorge Für erwachsene Patienten konnte gezeigt werden, dass die klinische Beschwerdefreiheit ein verlässlicher Parameter für die suffiziente Beseitigung der Obstruktion und somit ein postoperatives Routine-MAG3-Szintigramm verzichtbar ist. Falls eine Objektivierung des Operationserfolges notwendig ist, wird hier eine Szintigrafie 3 Monate postoperativ empfohlen ▶ [1074]. Bei Kindern wird eher eine Verlaufsszintigrafie ab 6 Monaten postoperativ empfohlen. Eine deutliche Abnahme der Dilatation in den sonografischen Kontrollen kann jedoch den Erfolg der operativen Therapie sehr sicher zeigen. Lediglich bei sonografisch unverändertem Befund postoperativ konnte in der Diuresezintigrafie eine Obstruktion gezeigt werden ▶ [1052]. Im weiteren Verlauf werden weitere sonografische Kontrollen über mehrere Jahre durchgeführt.
Quintessenz Ureteropelvine Stenosen – Nierenbeckenabgangsenge Pathophysiologie Unterscheidung zwischen extrinsischen und intrinsischen Ursachen Unterscheidung zwischen kongenitalen und sekundären Ureterabgangsengen Urodynamik der ureteropelvinen Stenose (UPS): partielle Obstruktion Symptomatik Säuglinge und Kleinkinder meist asymptomatisch Ältere Kinder und Erwachsene mit kolikartigen Schmerzen
Sekundäre Probleme Harnwegsinfektion Steinbildung Diagnostik Pränatal Sonografie nach Kriterien der Society for Fetal Urology (SFU-Kriterien) Postnatal Sonografie APRPD (=anterior-posterior renal Pelvis Diameter) Kelchdilatation Parenchymdicke MAG3-Szintigrafie – Goldstandard MR-Angio-/Urografie für weiterführende Fragestellungen zur Klärung der Anatomie Abklärung von Differenzialdiagnosen Therapie Goldstandard: kontinuitätsdurchtrennende AndersonHynes-Nierenbeckenplastik Komplikationsarmer Eingriff mit ausgezeichneten Langzeitergebnissen Offene, laparoskopische und roboterassistierte Operation gleichwertig Notfalltherapie: perkutane Nephrostomie
25.8 Literatur [1052] Almodhen F, Jednak R, Capolicchio JP et al. Is routine renography required after pyeloplasty? J Urol 2010; 184: 1128–1133 [1053] Anderson JC, Hynes W. Retrocaval ureter; a case diagnosed pre-operatively and treated successfully by a plastic operation. Br J Urol 1949; 21: 209–214 [1054] Beck AD. The effect of intra-uterine urinary obstruction upon the development of the fetal kidney. J Urol 1971; 105: 784–789 [1055] Benfield MR, McDonald RA, Bartosh S et al. Changing trends in pediatric transplantation: 2001 Annual Report of the North American Pediatric Renal Transplant Cooperative Study. Pediatr Transplant 2003; 7: 321–335 [1056] Bilen CY, Bayazit Y, Gudeloglu A et al. Laparoscopic pyeloplasty in adults: stented versus stentless. J Endourol 2011; 25: 645–650 [1057] Chang CP, McDill BW, Neilson JR et al. Calcineurin is required in urinary tract mesenchyme for the development of the pyeloureteral peristaltic machinery. J Clin Invest 2004; 113: 1051–1058 [1058] Cundy TP, Harling L, Hughes-Hallett A et al. Metaanalysis of robot-assisted vs conventional laparoscopic and open pyeloplasty in children. BJU Int 2014; 114: 582–594 [1059] Dhillon HK. Prenatally diagnosed hydronephrosis: the Great Ormond Street experience. Br J Urol 1998; 81 Suppl 2: 39–44 [1060] Duong HP, Piepsz A, Collier F et al. Predicting the clinical outcome of antenatally detected unilateral pelviureteric junction stenosis. Urology 2013; 82: 691–696
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26 Harnleiteranomalien W.H. Rösch
26.1 Einleitung Harnleiteranomalien werden heute oft bereits pränatal diagnostiziert. Zu ihnen zählen zum einen die Ureterduplikationen, denen eine Ureterknospenanomalie zugrunde liegt. Zum anderen die unterschiedlichen Formen der Megaureteren, deren Genese in einer primären oder sekundären Veränderung des ureterovesikalen Übergangs zu sehen ist. Während der erfahrene Untersucher eine Harnleiterduplikation heute allein mit der Sonografie weitgehend oder vollständig klassifizieren kann, ist die korrekte Diagnostik und Wertung des Megaureters oft schwierig. Genaue Kenntnisse der Anatomie und eine exakte Klassifizierung sind jedoch bei beiden Entitäten Voraussetzung für eine erfolgreiche und schonende Therapie.
26.2 Doppelniere, Harnleiterduplikatur 26.2.1 Definition Die Duplikationen des oberen Harntraktes werden in inkomplette und komplette Doppelbildungen unterteilt.
26.2.1.1 Ureter duplex Komplette Doppelbildungen sind durch die komplette unilaterale Doppelbildung des Nierenbeckenkelchsystems und der Harnleiter gekennzeichnet. In diesem Fall spricht man von einem Ureter duplex. Nach der Meyer-WeigertRegel liegt die Mündung des zum oberen Kelchsystem gehörenden Harnleiters weiter kaudal intra- oder extravesikal, die des zum unteren Anteil gehörenden Harnleiters kranial ( ▶ Abb. 26.1). Bedingt durch den kürzeren intratrigonalen Verlauf ist deshalb der untere Anteil häufiger mit einem Reflux vergesellschaftet. Entstehung der Harnleiterduplikatur im Rahmen der Harnleiterentwicklung. Abb. 26.1 Vereinfachte Darstellung.
Abb. 26.1a Position der Ureterknospen am Wolff-Gang. E: ektop N: normal R: refluxiv 1: Sinus urogenitalis 2: Wolff-Gang 3: Ductus deferens (Quelle: Kröpfl D., Verweyen A. Harnleiteranomalien. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie, 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Abb. 26.1b Entwicklung einer Ureterduplikatur mit Rotation der distalen Harnleiterenden in entgegengesetzter Richtung. E: ektop R: refluxiv (Quelle: Kröpfl D., Verweyen A. Harnleiteranomalien. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie, 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Abb. 26.1c Ureterduplikatur mit ektoper und refluxiver Lage der Harnleitermündung. E: ektop R: refluxiv (Quelle: Kröpfl D., Verweyen A. Harnleiteranomalien. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie, 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
26.2.1.2 Ureter fissus
Bei den inkompletten Doppelbildungen vereinigen sich beide Ureteren auf dem Weg von der Niere zur Blase und bilden den sog. Ureter fissus oder Ureter bifidus, der mit einem Monoostium trigonal mündet.
26.2.1.3 Inverted-Y-Ureter Seltenere Formen der Duplikationen sind der sog. inverted-YUreter, der von einem singulären Nierenbeckenkelchsystem ausgeht und sich auf dem Weg zur Blase in zwei Ureteren aufteilt und in getrennten Ostien mündet, von denen meist eines ektop liegt.
26.2.1.4 Blind endender Ureter Der blind endende Ureter („blind-ending Duplication“) beschreibt einen Ureter fissus, bei dem das proximale Ende des einen Schenkels das Nierenhohlsystem nicht erreicht.
26.2.1.5 Ureter triplex Extrem selten ist der Ureter triplex mit drei getrennten Nierenbeckenkelchsystemen und einer dazugehörigen kompletten Harnleitertriplizität oder Fusionen der Ureteren auf dem Weg zur Blase, sodass sie in nur einem oder zwei Ostien münden (Typ 1–3) ▶ [1116].
26.2.1.6 Ureterektopie Mündet der Harnleiter außerhalb der Blase, so spricht man von einer Ureterektopie. Beim Mädchen kann die ektope Mündung am Blasenhals oder in der Urethra, parameatal (vestibulär), in der Vagina oder im Uterus liegen. Seltener sind ektope Mündungen in Derivate des Gartner-Gangs oder in das Rektum ( ▶ Abb. 26.2). Bei Jungen mündet der ektope Harnleiter in Derivate des Wolff-Gangs (prostatische Harnröhre, Samenblasen, Ductus deferens). Lokalisation der ektopen Harnleitermündung. Abb. 26.2
Abb. 26.2a Beim Mann. (Quelle: Kröpfl D Verweyen A. Harnleiteranomalien. In: Jocham D, Miller K [Hrsg] Praxis der Urologie, 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Abb. 26.2b Bei der Frau. (Quelle: Kröpfl D Verweyen A. Harnleiteranomalien. In: Jocham D, Miller K [Hrsg] Praxis der Urologie, 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
26.2.1.7 Ureterozele Als Ureterozele bezeichnet man eine zystische Erweiterung des intravesikalen submukösen Harnleitersegmentes (Kap. ▶ 28).
Praxis Eine Doppelniere per se bedarf keiner weiteren Behandlung.
Nur bei assoziierter Harnleiterpathologie kommt ihr ein Krankheitswert zu. Dazu zählen neben der ektopen Mündung und der Ureterozele häufig in Assoziation mit einer unterschiedlich stark ausgeprägten Nierendysplasie der dazugehörigen Anlage auch der vesikorenale Reflux, insbesondere beim Ureter duplex in die untere Nierenanlage.
26.2.2 Epidemiologie Die Inzidenz der Harnleiterduplikation beträgt 0,8–4% und stellt damit die häufigste Harnleiterfehlbildung dar. Rechte und linke Niere sind dabei gleich häufig betroffen. Bilaterale Duplikationen treten in etwa 20–40% auf. Mädchen sind etwa doppelt so häufig wie Jungen betroffen. Ektope Ureteren sind bei Mädchen wesentlich häufiger und treten nur in etwa 15% bei Jungen auf. In 80% aller Ureterektopien geht der Harnleiter vom Oberpol einer Doppelniere aus. Bei Mädchen ist die Assoziation mit einer Doppelniere sogar noch höher, während bei Jungen die Ureterektopie meistens von einer Monoanlage ausgeht. Etwa 10% der ektopen Ureteren sind bilateral. Wenn die Ureterektopie von einem Doppelsystem ausgeht, so findet sich in etwa 80% der Fälle auch eine Doppelniere der Gegenseite, und in etwa 21% weisen diese Patienten auch auf der Gegenseite eine Harnleiterektopie auf. Subpelvinstenosen bei Doppelnieren machen nur ca. 2% dieser häufigsten kongenitalen Harntransportstörung aus. Sie betreffen meist den unteren Nierenanteil. Vorwiegend handelt es sich bei den Betroffenen um Jungen ▶ [1101], ▶ [1102], ▶ [1117].
Ä
26.2.3 Ätiologie und Pathogenese Ureter- und Nierenentwicklung verlaufen gleichzeitig, aber zunächst unabhängig voneinander, in der 4.–8. Gestationswoche. Die Ureterknospe entwickelt sich in der 4. Gestationswoche aus dem Wolff-Gang (Mesonephros) und wächst nach kranial gegen die Nachnierenanlage (metanephrogenes Blastem), um dort Anschluss an die Nephrone zu finden. Aus der Ureterknospe entstehen Ureter, Nierenbecken, Nierenkelche, Ductus papillares, Sammelrohre und die Verbindungsstücke. Die von Mackie et al. bereits 1975 erstmals beschriebene Abhängigkeit des Schweregrades einer renalen Dysplasie von der trigonalen Fehlmündung des Ureters ▶ [1111] konnte mittlerweile molekularbiologisch gestützt werden. Die ostiale Normotopie innerhalb des Trigonums vermittelt die normale Entwicklung des Metanephros. Eine weiter kaudale oder kraniale Lokalisation des Ostiums dagegen dirigiert eine randständige Vereinigung von Ureter und Metanephros und damit zwangsläufig eine mangelhafte metanephronale Induktion ▶ [1111]. Das Renin-Angiotensin-System spielt dabei eine entscheidende Rolle in der Nierenentwicklung. Mutationen des Rezeptorgens für humanes Angiotensin II, aber auch eine pharmakologische Hemmung des Systems können zu einem weiten Spektrum an kongenitalen Anomalien der Nieren und des Harntraktes (congenital Anomalies of the Kidney and urinary Tract, CAKUT) führen. Dazu gehören auch die Doppelniere sowie die Ureterektopie ▶ [1130].
Das gleichzeitige Entstehen einer zusätzlichen Ureterknospe wird als Ursache einer kompletten Harnleiterduplikation angenommen, ein Auftreten von 3 Ureterknospen zeigt die sehr seltene komplette Triplizität der Ureteren. Kommt es zu einer frühen Teilung einer einzelnen Ureterknospe, so entsteht eine inkomplette Duplizität der Harnleiter ▶ [1126]. Bei der Duplikatur verschmilzt erst die kaudale Ureterknospe mit dem Sinus urogenitalis. Es entwickelt sich daraus der zum unteren Nierenpol gehörende Harnleiter. Durch die frühe Verschmelzung wandert das Ostium dieses Harnleiters weiter nach kranial und außen auf dem Trigonum. Analog entspringt aus der kranialen Knospe der Oberpolharnleiter. Die Mündung des Oberpolharnleiters befindet sich somit stets näher am Blasenhals als die des Unterpolharnleiters ( ▶ Abb. 26.1). Dieses Phänomen wird als Meyer-Weigert-Regel bezeichnet. Liegt die Knospe des späteren Oberpolharnleiters sehr weit kranial auf dem Wolff-Gang, resultiert daraus die Bildung einer ektopen Harnleitermündung, die sich unmittelbar am Blasenhals oder kaudal davon findet. Im Extremfall der fehlenden Trennung des Harnleiters vom Wolff-Gang resultiert bei beiden Geschlechtern daraus eine ektope Mündung des Ureters im Bereich der genitalen Strukturen. Beim Jungen kann der Ureter in die Samenblasen, Ductus deferens oder Ductus ejaculatorius münden ( ▶ Abb. 26.2a). Beim Mädchen degeneriert der Wolff-Gang, kann aber in Form des Gartner-Gangs persistieren. Daraus erklärt sich die Mündung im Bereich der distalen Vagina ( ▶ Abb. 26.2b) ▶ [1101]. Die frühe Trennung der Ureterknospe vom Wolff-Gang dagegen führt, wie bereits angedeutet, zu einer längeren Migration und damit zu einer kranialeren Position des Ostiums in der Blase mit einem daraus resultierenden kürzeren submukösen Tunnel. Der im Vergleich zur
Normalposition schwächere trigonale Verbund begünstigt den vesikoureterorenalen Reflux in die untere Nierenanlage. Eine weitere Differenzierungsstörung der Ureterknospe stellt die Ureterozele dar (s. Kap. ▶ 28).
26.2.4 Symptomatik Bei der Mehrzahl der Patienten ist die Doppelniere symptomlos. Klinische Beschwerden entstehen auf dem Boden der Harnleiterpathologie.
Merke Häufigstes Symptom ist die Harnwegsinfektion. Fieberhafte Harninfekte können bei Reflux, aber auch auf dem Boden einer Obstruktion meist der oberen Anlage (z.B. bei Ureterozele oder ektoper Mündung) auftreten. In diesen Fällen kann sich abhängig vom Alter rasch eine schwere Sepsis entwickeln. Allgemeine Symptome im Säuglings- und Kleinkindesalter sind: Gedeihstörungen, Entwicklungsverzögerungen, rezidivierende Bauchschmerzen. Erschwerte Miktion und Restharnbildung sind vor allem Symptome einer Ureterozele. Durch gegenläufige, unkoordinierte Peristaltik kann es bei einem Ureter fissus zu einem sog. Jo-Jo-Reflux-Phänomen kommen. Durch Rückfluss des Urins des einen Ureters in den Harnleiter der anderen Anlage kann es zu einer meist urodynamisch wenig wirksamen Abflussstörung kommen.
Neben einer leichten bis mäßigen Dilatation der beiden Harnleiteranteile proximal der Vereinigung können in seltenen Fällen, in erster Linie durch Konkrementbildung, Symptome wie Koliken, Hämaturie oder Harnwegsinfektionen auf dieses Phänomen hinweisen.
Merke Das Leitsymptom der ektopen Uretermündung beim Mädchen ist die primäre Harninkontinenz (veraltete Bezeichnung: „Enuresis ureterica“). Die Eltern beschreiben, das Kind sei weder tagsüber noch nachts jemals trocken gewesen. Typischerweise handelt es sich dabei aber um vergleichsweise geringe, aber kontinuierliche Urinverlustmengen ( ▶ Abb. 26.3). Die Miktion selbst sei jedoch unauffällig. Vestibuläre Harnleiterektopie Abb. 26.3 Klinischer Befund einer 5-Jährigen mit vestibulärer Harnleiterektopie des nicht dilatierten Ureters der oberen Anlage einer Doppelniere. Das ektope Ureterostium ist so klein, dass eine Sondierung nicht möglich war. Bei sorgfältiger Inspektion konnte beobachtet werden, wie sich von Zeit zu Zeit ein kleiner Tropfen an der winzigen Öffnung bildete.
Bei Jungen verursacht die Ureterektopie aufgrund ihrer stets proximal des Sphincter externus gelegenen Mündung keine Harninkontinenz ( ▶ Abb. 26.2a). Rezidivierende
Harnwegsinfektionen, Drangsymptomatik und Pollakisurie können jedoch daraus resultieren. Daneben werden Schmerzen im Genitalbereich, Pyurie oder rezidivierende Epididymitiden beschrieben.
26.2.5 Diagnostik Aufgrund der zunehmend besseren Pränataldiagnostik wird heute bei 0,1–2% bereits pränatal eine Dilatation der oberen Harnwege diagnostiziert. Bei 66–75% der Patienten persistiert die pränatal diagnostizierte Harnstauungsniere postnatal. In etwa 5% dieser Harntraktdilatationen handelt es sich um eine Pathologie in Zusammenhang mit einer Doppelniere ▶ [1127].
26.2.5.1 Sonografie Praxis Auch postnatal ist die Sonografie die wichtigste Untersuchung zur Diagnostik von Harnleiteranomalien ( ▶ Abb. 26.4, ▶ Abb. 26.5). Abhängig von der apparativen Ausstattung und der Erfahrung des Untersuchers ist heute in den weitaus meisten Fällen eine zuverlässige Diagnose der vorliegenden Uretermündungspathologie und der dazugehörigen Fehlbildungen an der Niere möglich und hilft so, unnötige invasive Untersuchungen (MRT in Narkose, retrograde Pyelografie etc.) in vielen Fällen zu vermeiden. Doppelniere mit dilatierendem Reflux in die untere Anlage, deren Parenchym bereits verschmälert ist. Abb. 26.4 Sonografiebefund.
Doppelniere mit Ureteropyelektasie der oberen Nierenanlage, die in einer Ureterozele mündet und gleichzeitig dilatierendem Reflux in die untere Anlage. Abb. 26.5 Sonografiebefund.
Im Hinblick auf die passagere „physiologische“ Oligurie in den ersten beiden Lebenstagen ist die Sonografie am 3.–7. Lebenstag nicht nur in der Übersicht mit dem Sektorschallkopf, sondern insbesondere bei der Darstellung der Nieren von dorsal mit einem Linearschallkopf von mindestens 7 MHz zielführend. Neben der Parenchymqualität und dem Dilatationsgrad des intra- und extrarenalen Nierenhohlsystems beider Anlagen werden dabei folgende Strukturen beurteilt: der Ureterverlauf, die Ureterperistaltik, die Region der Uretermündung. Bei Vorliegen einer Harnleiterektopie oder einer Ureterozele imponiert der häufig dysplastische obere Nierenpol als
zystische Raumforderung unterschiedlicher Größe, mit fehlendem oder verschmälertem Parenchymsaum unterschiedlicher Echodichte. Die multizystische Dysplasie der oberen Nierenanlage ist dagegen durch die unregelmäßig angeordneten Zysten unterschiedlicher Größe und ohne Parenchym gekennzeichnet. Die isolierte Pyelokaliektasie der unteren Anlage ist dagegen Hinweis auf das Vorliegen einer Ureterabgangsstenose der unteren Anlage, während die meist weniger ausgeprägte Ureteropyelokaliektasie mit Darstellung des dazugehörigen Harnleiters bis zur Blase als Hinweis für einen dilatierenden Reflux in den Unterpol gewertet werden muss. Sehr hilfreich ist die Sonografie auch in der Diagnostik einer Ureterozele, wobei stets bedacht werden muss, dass ein stark dilatierter ektoper Harnleiter in Einzelfällen eine Ureterozele vortäuschen kann ▶ [1119].
26.2.5.2 Miktionszysturethrogramm Das Miktionszysturethrogramm (MCU) ist heute keineswegs mehr obligat nach sonografischer Diagnose einer Doppelniere, sondern nur bei Verdacht auf Reflux und entsprechender Klinik (fieberhafte Harnwegsinfektionen). Bei Ureter duplex mit Reflux in die untere Anlage zeigt sich das typische Bild der „welkenden Blume“ ( ▶ Abb. 26.6). Miktionszysturethrogramm bei dilatierendem Reflux in die untere Anlage einer Doppelniere. Abb. 26.6 Neben dem typischen Bild der „welkenden Blume“ (durch das Fehlen der oberen Kelchgruppe) weist die fortbestehende Kontrastierung des Hohlsystems auch nach der Miktion auf eine zusätzlich obstruktive Komponente am ureterovesikalen Übergangs hin.
Kommen im MCU beide Nierenanlagen zur Darstellung, so liegt in den weitaus meisten Fällen ein Ureter fissus vor ( ▶ Abb. 26.7). Nur in Einzelfällen liegen tatsächlich beide Ostien parallel nebeneinander in einer kranial ektopen Position auf dem Trigonum. Doppelnieren beidseits mit Reflux in beide Anlagen bei Ureter fissus rechts sowie in die untere Anlage bei Ureter duplex links. Abb. 26.7 Miktionszysturethrogramm.
Bei blasenhalsektoper Harnleitermündung der oberen Anlage sieht man gelegentlich einen partiell dargestellten dilatierten Harnleiter. Hier kommt es während der Miktion zu einer Relaxation des Blasenhalses und damit Öffnung des ektop mündenden Ureters, der zu diesem Kontrastmittelinflux führt ( ▶ Abb. 26.8). Reflux während der Miktionsphase in das Hohlsystem einer dysplastischen Monoanlage bei Harnleitermündungsektopie in die prostatischen Harnröhre Abb. 26.8 Miktionszysturethrogramm.
26.2.5.3 Sonstige Verfahren MAG3-Szintigrafie Die Funktionsanteiligkeit der oberen Nierenanlage spielt für die Therapieentscheidung heute kaum noch eine Rolle, weshalb die nuklearmedizinischen Untersuchungen zur Abklärung der Doppelniere an Bedeutung verloren haben. Insbesondere bei Verdacht auf eine isolierte Ureterabgangsstenose der unteren Anlage gibt die dynamische Diureserenografie (MAG3-Szintigrafie) Aufschluss über Funktionsanteiligkeit und vor allem die urodynamische Wirksamkeit der Obstruktion und entscheidet damit über eine eventuelle OP-Indikation.
DMSA-Szintigrafie Beim Reflux in die untere Anlage ergänzt die statische DMSA-Szintigrafie (DMSA=Dimercaptobernsteinsäure, von Dimercaptosuccinic Acid) das Miktionszysturethrogramm, um über die exakte Funktionsanteiligkeit und den Dysplasiegrad zu entscheiden ▶ [1098].
Sonstige bildgebende Verfahren Ausscheidungsurografie, MR-Urografie Die Ausscheidungsurografie (i.v. Urogramm) hatte lange Zeit einen hohen Stellenwert in der Diagnostik der Doppelniere und deren assoziierte Fehlbindungen. Aufgrund der Strahlenbelastung und der fehlenden Darstellung des Hohlsystems funktionsarmer bzw. -loser Nierenanteile hat diese Untersuchung ihre Bedeutung zugunsten der MRUrografie verloren ( ▶ Abb. 26.9). Da die Magnetresonanztomografie vor allem im Säuglings- und Kleinkindesalter meist eine Narkose zur Untersuchung erforderlich macht, sollte die Untersuchung auf wenige
spezielle Fragestellungen, die mit der Kombination aus Sonografie und MCU nicht zu klären sind, beschränkt bleiben. MR-Urografie bei Doppelnieren beidseits. Abb. 26.9 Die untere Anlage der rechten Niere weist refluxassoziiert eine Dilatation des Hohlsystems und eine Verschmälerung des Parenchymsaums auf.
Tatsächlich gibt es aber keine evidenzbasierten Daten darüber, ob die MR-Urografie im Nachweis von kleinen oberen Anlagen, von nicht dilatierten Doppelureteren oder
zur Lokalisation ektoper Mündungen des Ureters außerhalb der Blase eine höhere Sensitivität und Spezifität als eine professionell durchgeführte Sonografie aufweist.
Computertomografie Die Computertomografie zur diagnostischen Abklärung der Doppelniere ist aufgrund ihrer Strahlenbelastung im Säuglings-, Kinder- und Jugendalter obsolet!
Klinische Untersuchung Merke Bei Verdacht auf eine ektope Harnleitermündung ist stets die eingehende klinische Untersuchung des äußeren Genitales im Vordergrund ( ▶ Abb. 26.3 und ▶ Abb. 26.10).
Paraurethralektope Harnleitermündung bei einer 10-Jährigen. Abb. 26.10
Zystoskopie und Vaginoskopie Zystoskopie und Vaginoskopie können zur Identifizierung der Harnleitermündung beitragen, setzen jedoch aber auch eine Narkose voraus ( ▶ Abb. 26.11). Blasenhalsektope Uretermündung der oberen Anlage einer Doppelniere rechts bei einem 8 Monate alten weiblichen Säugling. Abb. 26.11
Retrograde Ureterografie Nur noch in seltenen Fällen ist diese Untersuchung erforderlich, um die Anatomie letztendlich zu klären ▶ [1119].
Praxis
In jedem Fall sollten solche Untersuchungen heute stets in Therapiebereitschaft geplant werden, sodass in gleicher Narkose z.B. eine Ureterozeleninzision oder eine Ureteroureterostomie bei Vorliegen einer Harnleiterektopie durchgeführt werden kann.
Vorsicht Rein inspektorisch kann eine prolabierte Ureterozele (Caecocele, s.a. Kap. ▶ 28) nicht ohne Weiteres von einer Hymenalatresie oder vaginalektopen Harnleitermündung in eine Gartner-Gang-Zyste unterschieden werden ( ▶ Abb. 26.12). Die endgültige Diagnose wird durch die Sonografie und die Endoskopie verifiziert. Gartner-Gang-Zyste und prolabierte Caecocele. Abb. 26.12
Abb. 26.12a Vaginalektope Uretermündung mit Bildung einer großen Gartner-Gang-Zyste.
Abb. 26.12b Die sog. Caecocele kann allein klinisch zunächst meist nicht von einer Gartner-Gang-Zyste unterschieden werden.
26.2.6 Differenzialdiagnosen
Die segmentale multizystische Dysplasie ist eine Sonderform der multizystisch-dysplastischen Niere (MDN) und betrifft in den weitaus meisten Fällen den Oberpol einer Doppelniere. Die Diagnose erfolgt sonografisch. Wie bei der klassischen MDN ist die Anhäufung unterschiedlich großer, unregelmäßig angeordneter Zysten ohne Parenchym („strukturelle Anarchie“) charakterisierend und oft bereits pränatal zuverlässig diagnostizierbar. Der meist atretische oder hypoplastische Harnleiter ist sonografisch selten darstellbar. Bei fehlenden klinischen Beschwerden ist eine weiterführende Diagnostik oder Therapie nicht erforderlich. Eine gekreuzte Dystopie mit Fusion der beiden Nieren (LNiere) kann sonografisch wie eine Doppelniere imponieren. Wegweisend für die Diagnose ist das Fehlen der Niere auf der Gegenseite.
Vorsicht Intrarenal dichotome Hohlsysteme in Verbindung mit einer klassischen Subpelvinstenose oder einem stark dilatierten Megaureter können gelegentlich sonografisch den Eindruck einer kompletten Doppelniere vermitteln. Insbesondere aber kann ein dilatierter ektoper Harnleiter eine Ureterozele vortäuschen.
26.2.7 Therapie Der sonografische Zufallsbefund einer Doppelniere bedarf keiner invasiven Diagnostik oder Therapie. Assoziierte Pathologien im Ultraschall und vor allem klinische Symptomatik erfordern eine differenzierte Abklärung und eine den Gegebenheiten adäquate Therapie.
26.2.7.1 Reflux in die untere oder beide Doppelnierenanlagen Bei fehlendem Nachweis von Parenchymnarben und guter Nierenfunktion beider Anteile bestehen grundsätzlich alle Therapieoptionen, von konservativ über endoskopisch und operativ, wie beim primären Reflux.
Konservative Therapie Je jünger der Patient und je niedriger der Refluxgrad ist, umso gerechtfertigter ist ein konservativ abwartendes Verhalten. Zum Schutz vor Durchbruchsinfektionen benötigen vor allem Mädchen häufig eine Low-Dose-DauerChemoprophylaxe. Bei Jungen kann alternativ eine Zirkumzision die Chemoprophylaxe ersetzen. Die Maturationsrate hängt auch bei den Doppelnieren entscheidend vom Refluxgrad ab und wird zumindest im Säuglings- und frühen Kindesalter mit etwa 85% für die Refluxgrade I und II über einen Zeitraum von 40 Monaten angegeben ▶ [1109]. Bereits ab Grad III sinkt jedoch die Maturationsrate auf ca. 35%.
Endoskopische Therapie Die Ergebnisse der endoskopischen Therapie sind bei Doppelsystemen signifikant schlechter als in Einzelsystemen. Eine endoskopische Therapie wird daher bei Doppelnieren kritisch gesehen. Eine im Jahr 2006 veröffentlichte Metaanalyse bestätigt den hochsignifikanten Unterschied des Erfolgs bei Doppelnieren mit 50% versus 73% bei Einzelsystemen ▶ [1100].
Antirefluxplastik Dagegen sind die Ergebnisse der operativen Antirefluxplastiken bei Doppelnieren mit denen bei Einzelsystemen vergleichbar. Die Erfolgsraten liegen bei
über 90% sowohl für extravesikale als auch für transvesikale Verfahren ▶ [1092], ▶ [1101]. Das bevorzugte Verfahren des Autors ist in den weitaus meisten Fällen die Antirefluxplastik nach Lich-Gregoir. Bei dilatiertem oberem Harntrakt, insbesondere des betreffenden Ureters, erfolgt die Implantation mittels gemeinsamen Tunnels in der Psoas-Hitch-Technik (s.a. Kap. ▶ 27). Sehr selten ist zum Zeitpunkt der Diagnose der untere Nierenanteil bereits funktionslos, sodass sich in den weitaus meisten Fällen als wesentlich wenig invasiveres Vorgehen die alleinige Antirefluxoperation anbietet. Nur bei einem völlig funktionslosen unteren Anteil ist die Resektion indiziert. In diesem Fall sollte der dazugehörige Harnleiter komplett entfernt werden, da sonst der belassene Stumpf zu rezidivierenden Infektionen und damit Sekundäreingriffen führen kann ▶ [1101]. Die gemeinsame Waldeyer-Scheide, in der beide Harnleiter unmittelbar prävesikal verlaufen, bedingt allerdings, dass der zum oberen Anteil gehörige Harnleiter häufig neu implantiert werden muss, um eine Kompromittierung seiner Gefäßversorgung mit nachfolgender Stenosierung zu vermeiden.
26.2.7.2 Ektope Harnleitermündung Lange Zeit galt die obere Heminephrektomie mit tiefem Absetzen des Harnleiters als Therapie der Wahl („Upper Tract Approach“). Zunehmend wurde dieser Eingriff auch laparoskopisch, retroperitoneoskopisch bzw. roboterassistiert durchgeführt. Die initial vermeintlich geringere Invasivität wird aber möglicherweise durch eine höhere Komplikationsrate im Vergleich zu offenen Operationen, aber auch Langzeitfolgen der Heminephrektomie, wie Hypertonieentwicklung und Funktionseinschränkung des verbliebenen Nierenanteils, erkauft ▶ [1095], ▶ [1128], ▶ [1131].
Dabei gibt es keine evidenzbasierten Daten, die belegen, dass eine verbliebene Nierenanlage auch mit dysplastischen Anteilen ein Hypertonie- oder Malignitätspotenzial birgt. Vor diesem Hintergrund ist die sog. ipsilaterale Ureteroureterostomie eine deutlich weniger invasive und zuverlässige Alternative ▶ [1103]. Eine breite Anastomose (mindestens 1,5–2 cm) in mikrochirurgischer oder laparoskopischer Technik gewährleistet niedrige Komplikationen.
Vorsicht Unbedingt sollte der normotop mündende, nicht refluxive Harnleiter in gleicher Narkose geschient werden, um eine Verwechslung zwischen dem zu erhaltenden und dem endständig zu anastomosierenden Ureter zu vermeiden. Ist der Harnleiter der unteren Anlage z.B. beim Vorliegen eines Refluxes für die Ureteroureterostomie ungeeignet, so besteht die Indikation zur Neuimplantation der Doppelureteren in Psoas-Hitch-Technik (Kap. ▶ 28).
26.2.7.3 Ureterabgangsstenose In den weitaus meisten Fällen wird eine urodynamisch wirksame Ureterabgangsstenose in identischer Technik wie bei der Einzelniere offen-operativ oder laparoskopisch korrigiert. Nur in Einzelfällen (z.B. beide Hohlsysteme dilatiert, längerstreckig minderwertiges Harnleitersegment etc.) bietet sich als vergleichsweise einfache Alternative eine sog. interpyeläre Anastomose an, bei der beide Nierenbecken oder meist der Ureter der oberen Anlage mit dem Pyelon der unteren Anlage in Seit-zu-Seit-Anastomose verbunden werden. Zur Therapie der Harnleiterduplikation in Verbindung mit einer Ureterozele sei auf Kap. ▶ 28 verwiesen.
26.3 Megaureter 26.3.1 Definition Der zunächst unspezifische Begriff Megaureter beschreibt einen prävesikal oder in seinem Gesamtverlauf dilatierten Harnleiter, ohne dabei einen Hinweis auf seine Pathophysiologie zu geben. In der Literatur wird die Grenze zwischen „normaler Ureterweite“ und Megaureter mit einem Durchmesser von 5–6 mm angegeben ▶ [1104]. Ein höhergradig refluxiver Harnleiter, der bei der Blasenentleerung kollabiert, fällt nicht unter diese Definition. ▶ Primärer Megaureter. Beim primären Megaureter findet sich die Ursache der Dilatation im terminalen, juxtavesikal gelegenen Harnleitersegment. Diese primären Formen werden weiter unterschieden in refluxive und nicht refluxive Formen bzw. obstruktive und nicht obstruktive Formen. ▶ Sekundärer Megaureter. Dem sekundären Megaureter liegt in den meisten Fällen eine infravesikale Obstruktion unterschiedlicher Genese zugrunde. Eine Übersicht zeigt ▶ Abb. 26.13. Klassifikation des Megaureters. Abb. 26.13
26.3.2 Epidemiologie Der primäre Megaureter ist heute die zweithäufigste Ursache für eine im pränatalen Ultraschall detektierte Nierenbecken-Kelch-Dilatation, wobei allerdings in bis zu 70% der Fälle der dilatierte Harnleiter zunächst nicht zur Darstellung kommt ▶ [1121]. Die Inzidenz des primären Megaureters wird mit 0,36 Fällen auf 1000 Geburten angegeben ▶ [1124]. Er kommt bei Jungen 2–5× häufiger vor als bei Mädchen, wobei der linke Ureter vor allem bei Jungen viel häufiger betroffen ist als der rechte. Bei 26–40% bestehen assoziierte Fehlbildungen des Harntraktes wie eine kontralaterale Nierenagenesie oder ein kontralateraler vesikoureteraler Reflux ▶ [1127]. Ein assoziierter ipsilateraler vesikorenaler Reflux findet sich beim primären Megaureter in lediglich 10–15% der Fälle ▶ [1101]. Der sekundäre Megaureter dagegen ist in den meisten Fällen Folge von Harnröhrenklappen oder neurogenen Blasenentleerungsstörungen. Differenzialdiagnostisch muss aber auch an Konkremente, eine Ureterozele, einen ektop mündenden Harnleiter und an den Diabetes insipidus gedacht werden.
Ä
26.3.3 Ätiologie und Pathogenese Der primäre, nicht refluxive Megaureter ist durch ein vergleichsweise enges prävesikales Segment unterschiedlicher Länge gekennzeichnet, an das sich unmittelbar kranial der dilatierte und meist wandverdickte Ureter anschließt. Das Lumen des distalen Segmentes weist ebenso eine hohe Variabilität bis hin zu einer normalen Ureterweite auf wie die Ausprägung der unterschiedlichen histologischen Veränderungen in diesem Segment. Dabei wird der Harntransport in die Blase weniger durch eine morphologische mechanische Striktur, sondern vielmehr durch eine funktionelle Störung im Sinne eines „aperistaltischen Segmentes“ behindert. Die proximale Harnleiterdilatation ist die Folge dieser Harntransportstörung. Neben einer unterschiedlich stark ausgeprägten Kollagenvermehrung, insbesondere zwischen der Lamina propria und den Muskelbündeln des distalen Ureters, konnte in vielen Fällen eine segmentale Hypoplasie der lumennahen, längs gerichteten glatten Muskelfasern gefunden werden ▶ [1113]. Die ipsilaterale Nierenfunktion ist in den weitaus meisten Fällen beim primären, nicht refluxiven Megaureter nicht eingeschränkt. In sehr ausgeprägten Fällen kann jedoch der Megaureter mit einer Nierenfunktionsstörung einhergehen. Verschiedene Autoren diskutieren deshalb einen gemeinsamen genetischen Ursprung der gestörten Morphogenese von ureterovesikalem Übergang, Ureter und Nierenparenchym ▶ [1097], ▶ [1105]. Ätiologisch wird vor allem eine embryonale Entwicklungsstörung der distalen Uretermuskulatur ▶ [1125] sowie eine inkomplette Kanalisierung des Harnleiters um den 42. Gestationstag ▶ [1118] diskutiert. Neuere Untersuchungen weisen auf eine gestörte Entwicklung der Gefäßversorgung des betroffenen Uretersegmentes mit resultierender Apoptose von Myozyten und einer Reduktion
neuronaler und muskulärer Strukturen hin, die letztendlich zu einer Adynamie des betroffenen Ureterabschnittes führen ▶ [1114]. Immunhistochemische Untersuchungen konnten bei durchschnittlich 2-Jährigen noch Konzentrationen von Transforming Growth Factor-β (TGF-β) nachweisen, die physiologischerweise nur bis zur 20. Gestationswoche nachweisbar sind. Möglicherweise könnte die häufige spontane Rückbildung des primären Megaureters durch eine verspätete Abnahme der pathologisch erhöhten TGF-βProduktion und damit Maturation der Ureterwandstrukturen innerhalb des 1. Lebensjahres erklärt werden ▶ [1113]. Die frustrane Ureterperistaltik und Regurgitation des Urins führen zu einer Dilatation des gesamten proximalen Harnleiters. Mit zunehmender Ureterdilatation kommt es zu einer Abnahme des intraluminalen Druckes. Durch diesen Adaptationsvorgang lässt sich das geringe Risiko für Parenchymdestruktionen beim primären Megaureter gegenüber der ureteropelvinen Stenose erklären ▶ [1101], ▶ [1106].
26.3.3.1 Nicht obstruktiver Megaureter Für die Dilatation des nicht obstruktiven Megaureters werden unterschiedliche Faktoren unabhängig vom Uretermündungssegment verantwortlich gemacht. Neben einer verzögerten Entwicklung der normalen Ureterperistaltik ▶ [1120] wird die hohe Compliance des fetalen Ureters aufgrund der noch unreifen Zusammensetzung extrazellulärer Matrixproteine für die drucklose Weitstellung verantwortlich gemacht. Weiterhin ist bekannt, dass die Urinproduktion in einzelnen Phasen der fetalen Entwicklung um das 4- bis 6-Fache höher als postnatal ist, sodass die damit verbundene Flüssigkeitsbelastung des Ureters zur Dilatation führen kann. Die pathohistologische Untersuchung der
Harnleiterwand zeigt bei diesen Formen einen weitgehend normalen Befund ▶ [1093], ▶ [1120]. Klinisch ist der Übergang zwischen einem obstruktiven zu einem nicht obstruktiven Megaureter oft fließend und eine eindeutige Differenzierung erweist sich trotz umfangreicher Diagnostik nicht selten als ausgesprochen schwierig.
26.3.3.2 Primärer obstruktiv-refluxiver Megaureter Bei der Entstehung des primären obstruktiv-refluxiven Megaureters treffen pathologische Ostiumlage bzw. konfiguration und ineffektive Peristaltik zusammen. Diese Kombination ist als primäre Form eher selten und wird in der Literatur mit etwa 2% der primär refluxiven Megaureteren angegeben ▶ [1128].
26.3.3.3 Sekundärer Megaureter Wesentlich häufiger ist diese Kombination – pathologische Ostiumlage/-konfiguration und ineffektive Peristaltik – jedoch bei den sekundären Megaureteren zu finden, die Folge einer anatomischen oder funktionellen infravesikalen Obstruktion sind. Bei den Mädchen sind hier an erster Stelle der Sinus urogenitalis und die Kloakenbildung, bei den Jungen die Urethralklappen zu nennen. Weitere Ursachen sind die neurogenen Blasenentleerungsstörungen (z.B. bei Meningomyelozele). In allen Fällen entsteht in der Folge eine Detrusorhypertrophie, die ihrerseits zur terminalen Ureterstenose führt ( ▶ Abb. 26.14). Im Gegensatz zum primären Megaureter resultiert daraus rasch eine erhebliche Drucksteigerung im Harntrakt, die zu einem kompensatorischen Wachstum des Ureters führt, der sowohl bei den rein obstruktiven als auch bei den kombiniert obstruktiv-refluxiven Formen zu einer erheblichen Hypertrophie der Ureterwand und einer ausgeprägten Schlingenbildung des Harnleiters führt ▶ [1099].
Sekundär obstruktiv-refluxiver Megaureter links bei einem 2 Wochen altem männlichem Säugling. Die sekundäre Obstruktion durch die enorme Detrusorhypertrophie ist deutlich zu erkennen. Abb. 26.14 Miktionszysturethrogramm.
26.3.4 Symptomatik Mit der Etablierung des pränatalen Ultraschalls ist die Zahl der asymptomatisch diagnostizierten Megaureteren während der vergangenen 20 Jahre dramatisch angestiegen. Mit etwa 23% sind die primären Megaureteren die zweithäufigste Ursache einer pränatal detektierten Hydronephrose. Vor der Einführung des pränatalen Ultraschalls fielen die Kinder in erster Linie durch fieberhafte Harnwegsinfektionen auf. Alten Statistiken zufolge hatten die primären Megaureteren einen Anteil von 8% der Fälle mit Hydronephrose in Assoziation mit einer hochfieberhaften Harnwegsinfektion/Sepsis. Umso erstaunlicher ist es, das trotz Verbreitung des pränatalen Screenings auch heute noch 20% der Megaureteren erst in Zusammenhang mit symptomatischen Harnwegsinfektionen auffallen ▶ [1094]. Weitere Symptome, insbesondere bei den seltenen Fällen im Schulkind- und Jugendalter, sind neben der Harnwegsinfektion Abdominal- oder Flankenschmerzen, Hämaturie und Urolithiasis.
26.3.5 Diagnostik 26.3.5.1 Sonografie Merke Unbestritten ist die Sonografie mehr denn je auch postnatal die diagnostische Methode der Wahl zur morphologischen und zum Teil auch funktionellen Beurteilung des Megaureters ( ▶ Abb. 26.15). Megaureter links eines 4-monatigen Säuglings.
Abb. 26.15 Sonografiebefund.
Abb. 26.15a Niere links im Längs- und Querschnitt.
Abb. 26.15b Dilatierter proximaler Ureter mit deutlichem Kinking.
Wie bereits ausführlich erläutert, erfolgt bei pränatal diagnostizierter Harntrakterweiterung die erste aussagekräftige Sonografie des Harntraktes am dritten bis siebten Lebenstag. Bei negativem Befund ist eine Kontrolle der Untersuchung nach ein bis zwei Wochen erneut indiziert. Die Dokumentation der Hydronephrose erfolgt entsprechend der Dokumentationsempfehlungen der DEGUM (s.a. Kap. ▶ 4 u. Kap. ▶ 25). Eine Vermehrung der Kelche im Sinne einer Polykalikosis und sog. Langnieren (Grauhan-Prinzip) finden sich auch bei primären Megaureteren und gelten als Zeichen eines Wachstumsreizes durch die frühembryonale Obstruktion ▶ [1093], ▶ [1122].
Prävesikal ist der Harnleiter meist besonders stark dilatiert dargestellt. Bei Längsdarstellung kann in der M-ModeTechnik die meist kräftig erhaltene, durchgreifende Peristaltik sonografisch dargestellt werden ( ▶ Abb. 26.16). Im Rahmen einer Harnwegsinfektion kann die Peristaltik durch eine endotoxinbedingte Harnleiterparalyse jedoch deutlich vermindert oder vollständig aufgehoben sein. Häufig weist der Urin im Megaureter dann auch vermehrt Binnenechos als Zeichen der Infektion auf ▶ [1119]. Distaler Abschnitt des Magaureters bei einem 6 Monate alten Säugling. Abb. 26.16
26.3.5.2 Miktionszysturethrogramm Praxis
Das Miktionszysturethrogramm (MCU) dient u.a. zum Ausschluss eines vesikoureteralen Refluxes und einer infravesikalen Obstruktion. Eine saubere Darstellung der Urethra in der Miktionsphase ist deshalb ebenso essenziell wie eine Spätaufnahme nach (restharnfreier) Blasenentleerung, um anhand des verbliebenen Kontrastmittels im oberen Harntrakt den Obstruktionsgrad besser beurteilen zu können ( ▶ Abb. 26.17).
Miktionszysturethrogramm eines 4 Wochen alten männlichen Säuglings mit einem primär obstruktiv-refluxiven Megaureter links. Der Verbleib des Kontrastmittels nach Miktion im oberen Hohlsystem weist auf die obstruktive Komponente hin. Abb. 26.17
Bei neugeborenen Jungen stellen Harnröhrenklappen die häufigste Ursache sekundärer Megaureteren dar. Zusammen
mit der Blasenwandverdickung, Pseudodivertikeln und postmiktionellem Restharn in der Sonografie bringt hier das MCU mit exakter Darstellung der Harnröhren-, Blasenhalsund Blasenmorphologie die endgültige Diagnose.
26.3.5.3 MAG3-Szintigrafie Merke Die Diureserenografie mit 99mTc-mercaptoacetyltriglyzerin (MAG3-Szintigrafie) gilt heute als ideale Methode zur Beurteilung von Nierenfunktion einerseits und Abflusssituation andererseits. Dabei kann aber die Diureserenografie allein niemals die Indikation für eine operative Intervention geben, denn stets müssen die Ergebnisse im Kontext mit klinischen, sonografischen und radiologischen Befunden beurteilt werden! Aufgrund der Tatsache, dass sich die Nierenfunktion beim reifen Neugeborenen in den ersten beiden Lebenswochen verdoppelt und bis zur 4. Lebenswoche vervierfacht, ist die dynamische Furosemid-Szintigrafie frühestens ab der 4. Lebenswoche aussagekräftig. Erst zu diesem Zeitpunkt ist zum einen eine sinnvolle seitenvergleichende Funktionsabschätzung möglich, zum anderen eine ausreichende Reaktion auf Furosemid zur Beurteilung des Wash-outs möglich.
Merke Eine Diureserenografie (MAG3) vor der 4. Lebenswoche hat im Hinblick auf die Funktionsbeurteilung und die Abflusssituation nur eine sehr eingeschränkte Aussagekraft und darf deshalb nicht als Kriterium für eine Operationsindikation angewendet werden.
Die Beurteilung des Nuklidabflusses ist beim Megaureter prinzipiell schwierig. Leider besteht bis heute kein einheitlicher Standard bezüglich der „Region of Interest“ (ROI), über welcher die Radioaktivität im Zeitverlauf gemessen werden soll. Die Durchmischung des Nuklids mit dem im dilatierten Ureter befindlichen Urin kann einen ausreichenden Nuklidabfluss vortäuschen, wenn die Aktivität lediglich über der Niere bestimmt wird. Aus diesem Grunde sollte entweder der gesamte Ureter in die ROI mit einbezogen werden, oder es sollte eine getrennte Wertung der Abflusskurve sowohl von der Nierenregion als auch vom prävesikalen Harnleiter erfolgen. In die Beurteilung sollte zudem nicht nur die Ausscheidungskurve, sondern auch die nuklearmedizinischen Abbildungen mit einbezogen werden. So kann ein dilatierter Harnleiter mit einer relevanten obstruktiven Komponente in der Frühphase der Untersuchung nicht dargestellt werden, da er sich mit dem Urin im distalen Ureter noch nicht vermischen konnte, er kommt erst postmiktionell bzw. nach Entleerung der Blase zur Darstellung.
Merke Spätaufnahmen nach aufrechter Position und nach Blasenentleerung sind deshalb bei der Beurteilung des Megaureters Standard. Weiterhin gibt es leider keine letztendlichen Empfehlungen, ob die Untersuchung vor allem im Säuglingsalter unter kontinuierlicher Harnableitung über eine transurethrale Sonde erfolgen soll. Während möglicherweise die Beurteilung des distalen Harnleiters bei einer stets leeren Blase leichter möglich ist und gleichzeitig die
Strahlenbelastung durch die kontinuierliche Ableitung in einen Urinbeutel besser kontrolliert und dadurch reduziert werden kann, birgt die Blasenkatheterisierung ein erhöhtes Infektionsrisiko. Eine grundsätzlich nichtinvasive Diagnostik wird dadurch zu einer invasiven Maßnahme ▶ [1091], ▶ [1093].
26.3.5.4 MR-Urografie In ausgewählten Fällen kann die MR-Urografie zusätzliche Informationen liefern, falls sonografisch die morphologische Diagnose letztendlich nicht eindeutig möglich ist. Grundsätzlich ließe sich durch kontrastmittelgestützte, kombiniert statisch-dynamische Techniken die MR-Urografie auch zur Bestimmung der seitengetrennten Nierenfunktion und der Abflussverhältnisse wie im Szintigramm nutzen. Derzeit limitierende Faktoren sind jedoch die Verfügbarkeit, die Notwendigkeit einer tiefen Sedierung bzw. Narkose für die Untersuchung und vor allem das Risiko der Nierenschädigung durch die Gadolinium-Kontrastmittelgabe bei eingeschränkter Nierenfunktion. Ein weiteres Argument sind die vergleichsweise hohen Kosten. Deshalb ist die MR-Urografie zum jetzigen Zeitpunkt (noch nicht) als Standardverfahren in der Routinediagnostik des Megaureters zu sehen.
26.3.6 Differenzialdiagnosen Eine konsequente Stufendiagnostik erlaubt in aller Regel eine korrekte Klassifikation des Megaureters. Trotzdem gilt es bereits bei der Auswahl der diagnostischen Verfahren, einige wichtige Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen.
26.3.6.1 Blasenfunktionsstörung Während eine neurogene Blasenfunktionsstörung als Ursache für einen sekundären Megaureter meist rasch
erkannt wird, kann ein nicht refluxiver Megaureter aber auch erstes Zeichen einer nicht neurogenen Blasendysfunktion im Säuglings- und Kleinkindesalter sein.
26.3.6.2 Ektop mündender Megaureter Natürlich kann der Megaureter Teil eines Doppelsystems sein, wobei nicht immer der zweite, zarte Harnleiter in der Sonografie zur Darstellung kommt. Während die Doppelniere bei dem meist refluxiven Megaureter der unteren Anlage meist eindeutig identifizierbar ist, kann es jedoch schwierig sein, den ektop mündenden Megaureter einer winzigen oberen Doppelnierenanlage von einem primär obstruktiven Megaureter einer Monoanlage zu unterscheiden.
26.3.6.3 Ureterkonkrement Bereits winzige Ureterkonkremente, die im intravesikalen Verlauf des terminalen Harnleiters stecken, können zu einer Dilatation des Harnleiters im Säuglingsalter führen. Oft sind diese Kinder jedoch symptomatisch. Es sind aber auch asymptomatische Verläufe beschrieben. Der Nachweis mit dem Ultraschall ist oft schwierig, hier kann die Dopplersonografie („twinkling sign“) hilfreich sein.
26.3.6.4 Harnleiterklappen Fibroepitheliale Polypen des Ureters (Harnleiterklappen) treten meist unilateral und fast immer in Höhe des pyeloureteralen Übergangs auf. Häufig verursachen sie Flankenschmerzen und Hämaturie. Weiter distal liegende Polypen sind selten. Bei Symptomatik und/oder relevanter Obstruktion gilt die ureteroskopische Abtragung als kausale Therapie ▶ [1116].
26.3.6.5 Prune-Belly-Syndrom Beim Prune-Belly-Syndrom sind die refluxiven Megaureteren oft Teil der Uropathie und gehen gewöhnlich mit einer
renalen Dysplasie einher (s. Kap. ▶ 29). Sie stellen funktionell und auch histologisch eine eigenständige Entität dar.
26.3.6.6 Megazystis-Megaureter-Syndrom Auch das sog. Megazystis-Megaureter-Syndrom erfüllt entgegen seiner Bezeichnung nicht die Kriterien des Megaureters. Nicht selten täuscht der hochgradige primäre bilaterale vesikorenale Reflux eine infravesikale Obstruktion vor. Im Falle einer assoziierten renalen Dysplasie, die bei hochgradigen Refluxen nicht selten ist, führt die resultierende Polyurie zu einem großen Pendelurinvolumen zwischen Blase und oberem Harntrakt. Während der Miktion strömt reichlich Urin in die massiv dilatierten Ureteren zurück, um nach der Blasenentleerung wieder als Pseudorestharn in die großkapazitäre Blase zu gelangen. Dagegen zeigt das nach Entlastung der Blase durch einen transurethralen Katheter oder suprapubische Harnableitung angefertigte Sonogramm gewöhnlich nicht oder kaum dilatierte obere Harnwege.
26.3.7 Therapie Die korrekte Klassifikation des Megaureters ist die Grundlage einer schonenden und angemessenen Therapie.
Merke Bei allen Formen des sekundären Megaureters steht die Behandlung der kausalen Ursache (Urethralklappe, neurogene Blasenfunktionsstörung, etc.) im Vordergrund. In diesen Fällen sollte stets „von unten nach oben“ behandelt werden. Jegliche Manipulationen am oberen Harntrakt sollten, wenn möglich, vermieden werden (Ausnahme: rezidivierende
Infektionen/Urosepsis).
Vorsicht Übereilte operative Rekonstruktionsversuche vor einer konsequenten kausalen Behandlung auf vesikaler Ebene bergen ein höheres Komplikationsrisiko und gehen mit einer weiteren Gefährdung der Nierenfunktion einher.
26.3.7.1 Primärer, refluxiver Megaureter Prinzipiell gelten hier die derzeit gültigen Behandlungsstrategien des vesikoureteralen Refluxes (s. Kap. ▶ 27). Während beim klassischen persistierenden VUR Grad IV und V die operative Therapie weiterhin im Vordergrund steht, ist die operative Korrektur bei den Sonderformen des Prune-Belly-Syndroms und des Megazystis-Megaureter-Syndroms kontraindiziert. Jegliche Widerstandserhöhung am ureterovesikalen Übergang würde zu einer Progredienz der bereits bestehenden Nierenfunktionseinschränkung beitragen. Auch in diesen Fällen gilt es, bereits im Säuglings- bzw. Kleinkindesalter ein Therapiekonzept zu finden, das eine effektive und regelmäßige Niederdruckentleerung der Blase gewährleistet (z.B. Einmalkatheterismus oder Vesikostoma).
26.3.7.2 Primärer, nicht refluxiver Megaureter Die Differenzierung zwischen einem nicht obstruktiven und einem obstruktiv-wirksamen Megaureter ist oft schwierig, und die Entscheidung zwischen einem konservativen und einem operativen Konzept stellt manchmal auch für den kinderurologisch Erfahrenen einen komplexen Balanceakt dar. Beim primären Megaureter mit normaler ipsilateraler Nierenfunktion kann im Neugeborenen- und Säuglingsalter
von einer operativen Korrektur abgesehen werden, so lange bei sonografischen Kontrollen keine Zunahme der Dilatation erkennbar ist und keine klinischen Symptome auftreten. Die initial oft eindrucksvolle Dilatation im frühen Säuglingsalter bildet sich häufig im Zuge des stärksten Längenwachstums bereits innerhalb des 1. Lebensjahres deutlich zurück. Langfristig kann der primäre Megaureter eine Umwandlung in eine lediglich distale segmentale Dilatation erfahren. Dabei korreliert die Rückbildungsdauer mit der Weite des primären Megaureters und dem Grad der NierenbeckenKelch-Dilatation ▶ [1096]. Eine zuverlässige Vorhersage des Spontanverlaufs ist bei Diagnosestellung nicht möglich. In zahlreichen Publikationen seit den 1990-er Jahren liegt der Anteil der erfolgreich konservativ behandelten Megaureteren zwischen 60 und 89%, wobei die meisten Studien Serienanteile über 80% beschreiben ▶ [1093], ▶ [1116]. Obwohl bislang noch prospektive, randomisierte Studien fehlen, weisen viele Daten der letzten Jahre darauf hin, dass Säuglinge mit Harntraktdilatationen ein eher erhöhtes Risiko für Pyelonephritiden haben ▶ [1108].
Praxis Nach dem heutigen Kenntnisstand ist deshalb beim asymptomatischen obstruktiven Megaureter zumindest im 1. Lebenshalbjahr eine antibakterielle Infektionsprophylaxe angemessen ▶ [1090]. Die infektionsprophylaktische Wirkung der Zirkumzision ist inzwischen belegt ▶ [1089], ▶ [1123]. Aus diesem Grunde kann bei Knaben alternativ zur medikamentösen Infektionsprophylaxe die Zirkumzision angeboten werden
Bis heute existieren jedoch keine Untersuchungsmethoden, die selbst in der Kombination zwischen Morphologie und Funktionsbeurteilung eine prognostisch verwertbare Aussage über den Grad und die Auswirkung der Harnabflussbehinderung zulassen. Vor diesem Hintergrund werden die Indikationsstellung und insbesondere der ideale Zeitpunkt für eine operative Intervention nach wie vor kontrovers diskutiert. Während in den 1970-er und 80-er Jahren trotz zunehmender Etablierung der pränatalen Diagnostik auch die asymptomatischen obstruktiven Megaureteren schon im Säuglingsalter operativ behandelt wurden ▶ [1112], ▶ [1115], kam es in den 1990-er Jahren zu einer Trendwende hin zum zunächst abwartend konservativen Konzepten ▶ [1090], ▶ [1094], ▶ [1106], ▶ [1107], ▶ [1121].
Praxis Bei szintigrafisch nachgewiesener uneingeschränkter Nierenfunktion sind engmaschige sonografische Verlaufskontrollen ausreichend, um bei persistierender Weitstellung nach einer zweiten MAG-3-Furosemid-Szintigrafie im Abstand von 3–6 Monaten erneut über die Notwendigkeit einer operativen Behandlung zu entscheiden ▶ [1094], ▶ [1107]. Die wenigsten Kinder mit primärem Megaureter benötigen jedoch letztendlich eine Harnleiterneueinpflanzung im Verlauf. Die Indikation zur Operation beim asymptomatischen Kind ist die Zunahme der Dilatation in der Sonografie und gleichzeitige Abnahme der Nierenfunktion der betroffenen Seite in der Diureserenografie. Nur bei massiver Aufweitung des Nierenbeckenkelchsystems und Parenchymverschmälerung bzw. ipsilateraler
Nierenfunktionseinschränkung ist eine passagere Harnableitung z.B. mittels Pyelokutaneostomie oder eine tiefe Ureterokutaneostomie sinnvoll ▶ [1093], ▶ [1116].
26.3.7.3 Schlitzureterokutaneostomie Der Autor bevorzugt die tiefe Schlitzureterokutaneostomie, da es sich um einen wenig belastenden Eingriff handelt und die postoperative Versorgung völlig unproblematisch ist ( ▶ Abb. 26.18). Über das Stoma kann der Urin ohne zusätzliche Beutelversorgung direkt in die Windel ausgeleitet werden. Eine antibiotische Infektionsprophylaxe ist nicht erforderlich. Unter dieser Niederdruckableitung kann sich die Peristaltik erholen und der Harnleiter strecken. Eine Harnleiterneuimplantation nach Vollendung des 1. Lebensjahres ist damit in der Regel ohne Harnleitermodellage mit vergleichsweise weniger Komplikationsrisiko möglich. Tiefe Ureterokutaneostomie. Abb. 26.18
26.3.7.4 Ureterokutaneostomie Eine weitere Alternative, die häufig beschrieben wird, ist die hohe Ureterokutaneostomie nach Sober. Deren Hauptnachteil ist jedoch die mögliche Schädigung der Uretervaskularisation, die im weiteren Verlauf das Stenosierungsrisiko und vor allem das Risiko einer fehlenden oder ungenügenden Peristaltik nach einer Harnleiterneuimplantation erhöhen kann.
26.3.7.5 Harnleiterverschmälerung und Harnleiterneueinpflanzung in Psoas-Hitch-Technik Ist die Dilatation nicht so stark ausgeprägt und die Peristaltik gut erhalten, oder handelt es sich um bereits ältere Kinder, bei denen der Megaureter symptomatisch wurde, besteht die Indikation zur definitiven operativen
Korrektur. In den meisten Kliniken erfolgt dies in der PsoasHitch-Technik (s.a. Kap. ▶ 27). Je nach Ausgangssituation kann diese Technik problemlos mit einer der gängigen Harnleitermodellagetechniken („Tailoring“) kombiniert werden. Die Erfolgsraten der Tapering-Methoden sind nahezu identisch zu den Methoden, bei denen ein keilförmiges Segment zur Harnleiterverjüngung reseziert wird ▶ [1093], ▶ [1116].
26.3.8 Nachsorge Insbesondere bei konservativem Therapiekonzept ist eine langfristige Nachsorge möglichst bis zum Abschluss der Pubertät empfehlenswert. Je nach Verlauf sind meist sonografische Kontrollen in jährlichen Abständen ausreichend, bei noch erheblicher Weitstellung ist ggf. eine Kontroll-Diureserenografie angezeigt. Nach der Harnleiterneuimplantation sind ebenfalls sonografische Kontrollen in 6- bis 12-monatlichen Abständen sinnvoll. Nicht selten persistiert eine ehemals extreme Dilatation auch nach erfolgreicher Operation über Jahre weiter, da sich das ehemals überdehnte Hohlsystem in seiner ganzen Weite, wenngleich drucklos, morphologisch darstellt ▶ [1110]. Auch in diesen Fällen kann meist nur mit einer Diureserenografie letztendlich Klarheit erzielt werden.
Quintessenz Harnleiteranomalie Doppelniere, Harnleiterduplikatur Definitionen Ureter duplex: Komplette unilaterale Doppelbildung des Nierenhohlsystems und der dazugehörigen Harnleiter
Ureter fissus: Beide Ureter vereinigen sich auf dem Weg zur Blase, um in einem Ostium zu münden Ureterektopie: Mündung des Harnleiters außerhalb der Blase Zu 80% vom Oberpol einer Doppelniere ausgehend Embryologie Die frühe Teilung einer einzelnen Ureterknospe führt zur inkompletten Duplikatur des Harnleiters, eine zusätzliche Ureterknospe zur kompletten Doppelbildung Die Meyer-Weigert-Regel legt fest, dass das Ostium des Unterpols stets kranial und lateral des Oberpolostiums mündet Liegt die Knospe des späteren Oberpolharnleiters sehr weit kranial auf dem Wolff-Gang, resultiert daraus eine ektope Uretermündung Symptome Meist symptomlos! Nur bei assoziierten Fehlbildungen Infektionen durch Reflux oder Obstruktion Kontinuierlicher geringer Urinverlust tags und nachts ist bei Mädchen ein Leitsymptom für die Ureterektopie Bei Jungen ist aufgrund der stets proximal des Sphincter externus gelegenen Mündung keine Inkontinenz zu erwarten, während Schmerzen im Genitalbereich oft erste Symptome darstellen Diagnostik Sonografie wegweisend!
Miktionszysturethrogramm (MCU) nur bei V.a. Reflux oder entsprechende Klinik MRT und statische oder dynamische Szintigrafie sind keine Routineuntersuchungen und sollten gezielten Fragestellungen vorbehalten bleiben Therapie Nur bei assoziierter Pathologie! Reflux: Je nach Klinik und Befund konservativ, endoskopisch oder offen-operativ Maturationschancen und Ergebnisse der endoskopischen Therapie aufgrund der Ostienpathologie beim Ureter duplex deutlich schlechter als bei Monoostien Die extravesikale Antirefluxplastik (Lich-Gregoir) oder die transvesikale Psoas-Hitch-Technik (insbesondere bei stärkerer Dilatation von einem der beiden Harnleiter) sind dagegen sichere und langfristig zuverlässige Therapieoptionen Ureterektopie: Ureteroureterostomie oder Harnleiterneuimplantation in Psoas-Hitch-Technik Nur noch extrem selten besteht Indikation zur oberen Heminephrektomie Megaureter Definition Megaureter ist zunächst eine unspezifische Bezeichnung für einen dilatierten Harnleiter
Die Unterscheidung erfolgt in primäre und sekundäre Formen, die in unterschiedlicher Ausprägung obstruktiv und/oder relfuxiv sein können Für den Therapieerfolg und die Prognose ist die korrekte Klassifikation des Megaureters entscheidend. Ätiologie Der primäre Megaureter beruht auf einer embryologischen Entwicklungsstörung der distalen Uretermuskulatur (adynamisches Segment) Der sekundäre Megaureter ist meist Folge einer anatomischen oder funktionellen infravesikalen Obstruktion Diagnostik Basisdiagnostik: Sonografie und Miktionszysturethrogramm (MCU) Die Diureserenografie dient in erster Linie zur seitengetrennten Nierenfunktionsbeurteilung Interpretation der Nuklidexkretionskurven aufgrund des oft sehr voluminösen Hohlsystems im Einzelfall schwierig Zu besonderen Fragestellungen kann die MR-Urografie zusätzliche Informationen liefern Therapie Der primäre, nicht refluxive Megaureter ist in der Regel nicht korrekturbedürftig Eine bakterielle Infektionsprophylaxe ist zumindest im ersten Lebenshalbjahr wegen des erhöhten Pyelonephritisrisikos angemessen, alternativ bei männlichen Säuglingen Zirkumzision
Der primär obstruktiv-refluxive Megaureter ist dagegen stets operationsbedürftig Bei den sekundären Megaureterformen steht selbstverständlich die kausale Therapie auf vesikaler und urethraler Ebene im Vordergrund
26.4 Literatur [1089] Alsaywid BS, Saleh A, Deshpande A et al. High grade primary vesicoureteral reflux in boys: long-term results of a prospective cohort study. J Urol 2010; 184: 1598–1603 [1090] Arena F, Baldari S, Proietto F et al. Conservative treatment in primary neonatal megaureter. Eur J Pediatr Surg 1998; 8 (6): 347–351 [1091] AWMF Leitlinie Nierenfunktionsszintigraphie mit und ohne Furosemidbelastung bei Kindern und Erwachsenen (Gültigkeit: 01.04.2013 bis 01.04.2018) http://www.awmf.org/leitlinien/detail/031–042.html [1092] Barrieras D, Lapointe S, Houle H. Is common sheath extravesical reimplantation an effective technique to correct reflux in duplicated collecting systems? J Urol 2003; 170: 1545–1547 [1093] Beetz R, Fisch M, Hohenfellner R. Primäre und sekundäre Megaureteren. In: Stein R, Beetz R, Thüroff JW (Hrsg). Kinderurologie in Klinik und Praxis, 3. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme; 2012: 332–346 [1094] Beetz R, Mees A, Mannhardt W et al. Primärer, nicht refluxiver Megaureter im Kindesalter. Akt Urol 1994; 25: 282–290 [1095] Cabezali D, Maruszewski P, Lopez F et al. Complications and late outcome in transperitoneal
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27 Vesikoureteraler und vesikorenaler Reflux H. Riedmiller, D. Vergho
27.1 Einleitung Merke Unter einem vesikoureteralen oder vesikorenalen Reflux (VUR) versteht man ein unphysiologisches Zurückfließen von Urin aus der Harnblase in den Harnleiter oder in das Nierenbeckenkelchsystem. Die Bedeutung des VUR als ernstes kinderurologisches Problem ist seit Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Reflux und röntgenologisch nachweisbarer Vernarbung durch Hodson und Edwards im Jahre 1960 bekannt ▶ [1176]. Der Reflux stellt eine häufige pädiatrisch klinische Entität mit einer großen Varianz an unterschiedlichen Ausprägungsformen dar, von asymptomatischen Verläufen bis hin zur Ausbildung einer Refluxnephropathie mit renaler Narbenbildung, Hypertension und Nierenfunktions- bzw. Gedeihstörungen.
27.2 Klassifikation und Terminologie
▶ Primärer Reflux. Der angeborene, primäre vesikoureterale bzw. vesikorenale Reflux ist Folge eines fehlerhaften Aufbaus des terminalen Ureters und einer mangelhaften Verankerung des Ureterostiums im Trigonum der Blase. Bei dieser Form des Refluxes besteht eine Funktionsstörung in Form einer kombinierten Form- und Lageanomalie des Harnleiterostiums auf genetischer Basis ▶ [1210]. ▶ Sekundärer Reflux. Der erworbene, sekundäre Reflux ist Folge einer anatomischen infravesikalen Obstruktion (z.B. Harnröhrenklappen) oder einer funktionellen subvesikalen Obstruktion (z.B. Blasenfunktionsstörungen wie DetrusorSphinkter-Dyskoordination) ▶ [1174].
27.2.1 Einteilung Zur exakten klinischen Beurteilung eines Refluxes und seiner stadiengerechten Therapie ist dessen Ausprägung zu klassifizieren. Die 1962 von Hinman et al. eingeführte Einteilung in einen Niederdruckreflux (Reflux in der Füllungsphase der Harnblase) und einen Hochdruckreflux (Reflux unter Miktion) ▶ [1175] ist heute wegen fehlender Relevanz für das therapeutische Vorgehen verlassen und wurde durch eine graduelle Beschreibung ersetzt. Mehrere Klassifikationssysteme wurden erarbeitet, wobei für den europäischen Sprachraum ▶ [1173] und für den angloamerikanischen Sprachraum ▶ [1157] entscheidende Arbeiten zur Gradierung der Refluxkrankheit beigetragen haben. Um eine Vereinheitlichung der Nomenklatur zu erreichen, wurde 1985 ein Klassifikationssystem durch das International Reflux Study Committee ▶ [1190] ( ▶ Tab. 27.1 , ▶ Abb. 27.1) erarbeitet sowie eine standardisierte Durchführung des Miktionszysturethrogramms festgelegt ▶ [1190]. Allen Klassifikationen zugrunde liegen die im
Refluxzystogramm nachweisbaren morphologischen Veränderungen an der betroffenen renoureteralen Einheit, wobei jedoch Folgendes berücksichtigt werden muss: Auch unter standardisierten Bedingungen bei wiederholten radiologischen Prüfungen am selben Patienten kann der Schweregrad eines Refluxes durchaus variieren. Tab. 27.1 Refluxklassifikation der International Reflux Study Group (1985) ▶ [1190]. Einteilung Kennzeichen Grad I
Reflux erreicht das Nierenbecken nicht unterschiedliche Dilatation des Ureters
Grad II
Reflux erreicht das Nierenbecken keine Dilatation des Hohlraumsystems Fornices normal geformt
Grad III
leichte oder mäßige Erweiterung des Ureters mit oder ohne Kinking und/oder leichte oder mäßige Erweiterung des Hohlraumsystems Fornices normal oder nur leicht verplumpt
Grad IV
mäßige Erweiterung des Ureters mit oder ohne Kinking mäßige Erweiterung des Hohlraumsystems Fornices verplumpt Impressionen der Papillen noch sichtbar
Grad V
starke Erweiterung des Ureters mit Kinking starke Erweiterung des Hohlraumsystems papilläre Impressionen in der Mehrzahl der Kelche nicht mehr sichtbar
Refluxklassifikation gemäß den Richtlinien der International Reflux Study Group (1985). Abb. 27.1
Abb. 27.1a Darstellung im Rahmen eines Miktionszysturethrogramms.
Abb. 27.1b Schematisierte Darstellung.
27.3 Epidemiologie ▶ Prävalenz. Angesichts häufig asymptomatischer Verläufe existieren keine genauen Daten zur Prävalenz eines VUR. Schätzungen zufolge liegt diese bei gesunden Säuglingen und Kleinkindern zwischen 0,4 und 1,8% ▶ [1235]. Bei Neugeborenen mit einer bereits intrauterin sonografisch
festgestellten Erweiterung des Nierenbeckenkelchsystems, die postpartal auf einen VUR gescreent wurden, zeigt sich eine Inzidenz zwischen 7 und 35% ▶ [1190], ▶ [1218], ▶ [1242]. Bei Geschwistern von Kindern mit VUR bzw. Kindern von Eltern mit VUR liegt die Nachweisrate eines VUR bei 27,4 bzw. 35,7% ▶ [1242], ▶ [1253]. ▶ Altersabhängigkeit. Bei Kindern mit Harnwegsinfektionen lässt sich altersabhängig in 30–70% der Fälle ein VUR nachweisen ▶ [1138], ▶ [1171] ▶ [1235], ▶ [1253]. So wurde bei Säuglingen mit Harnwegsinfektionen in 70%, bei 1- bis 4-jährigen Kindern in 25%, bei 5- bis 12Jährigen in 15% und bei Erwachsenen in 5,2% der Fälle ein VUR verifiziert ▶ [1138]. ▶ Geschlechtsabhängigkeit. In der Praxis wird die Diagnose eines Refluxes häufiger bei Mädchen gestellt, was in erster Linie auf das häufigere Auftreten von Harnwegsinfektionen zurückzuführen ist, die zur Veranlassung einer Refluxdiagnostik (z.B. Miktionszysturethrogramm) führen. Jedoch zeigt sich im Falle von rezidivierenden fieberhaften Harnwegsinfektionen häufiger bei Jungen als bei Mädchen (29 versus 14%) ein VUR ▶ [1253]. Die Diagnose eines höhergradigen VUR wird bei Jungen früher gestellt, wobei diese eine höhere spontane Rückbildungstendenz aufweisen ▶ [1134], ▶ [1171], ▶ [1249]. ▶ Familiäre Häufung. Das gehäufte Auftreten eines Refluxes bei Geschwistern und Zwillingsgeschwistern refluxkranker Kinder sowie Kindern von Eltern mit nachgewiesenem VUR zeigt offenkundig eine genetische Disposition. Bisher konnte kein exakter Vererbungsmechanismus identifiziert werden, sodass derzeit die These einer multifaktoriellen und polygenen Vererbung favorisiert wird ▶ [1210], ▶ [1211].
Merke Die Eltern von Kindern mit vesikoureteralem Reflux sollten über das erhöhte Erkrankungsrisiko bei Geschwisterkindern sowie bei den Nachkommen informiert werden. Geschwisterkinder sollten in Form einer Sonografie des Harntraktes gescreent werden. Eine Refluxprüfung sollte nur bei Zeichen einer Nierenbeteiligung oder bei Harnwegsinfektion erfolgen (EAU Guidelines ▶ [1226]).
27.4 Pathogenese 27.4.1 Primärer vesikoureteraler Reflux Einem primären VUR ( ▶ Abb. 27.2) liegt ursächlich ein insuffizienter Verschlussmechanismus an der ureterovesikalen Verbindungsstelle zugrunde. Substrat des Verschlussmechanismus sind der schräge Durchtritt des Ureters durch die Blasenmuskulatur, der submuköse Verlauf des Harnleiters, der strukturelle Aufbau des terminalen Ureters sowie dessen Verankerung im trigonalen Anteil der Harnblase ▶ [1250]. Miktionszysturethrogramm (MCU) eines 6 Tage alten Säuglings mit primärem vesikoureteralem Reflux Grad IV–V beidseitig und Megaureteren beidseitig. Abb. 27.2
Abb. 27.2a Blase und obere Harntrakte beidseitig. (Quelle: Universitätsklinikum Würzburg, Kinderradiologie)
Abb. 27.2b Blase und unauffällige Harnröhre. (Quelle: Universitätsklinikum Würzburg, Kinderradiologie)
Die tiefe trigonale Muskulatur bildet das Widerlager, gegen das der Harnleiter bei intravesikaler Drucksteigerung (Blasenfüllung, Miktion) gepresst wird (passiver Refluxschutz). Die den prävesikalen Harnleiter scherengitterartig umgebenden muskulären, kollagenen und elastischen Fasern der Waldeyer-Faszie, die in das oberflächliche Trigonum übergehen, verankern den Harnleiter am Blasenhals. Bei zunehmender Blasenfüllung und Dehnung der Blasenwand werden die Fasern des Trigonums und der Waldeyer-Scheide gestreckt und somit das Harnleiterostium sowie der distale
Harnleiter im Querschnitt reduziert (aktiver Refluxschutz, ▶ Abb. 27.3). Defizite der trigonalen Muskulatur können zu paraureteralen Divertikeln der Harnblase führen (Hutch-Divertikel). Anatomie der ureterovesikalen Verbindungsstelle und des Trigonums. Abb. 27.3
Ein weiterer entscheidender Faktor für die Effektivität des vesikoureteralen Verschlussmechanismus ist das Verhältnis zwischen Ureterdurchmesser und submuköser Tunnellänge. Paquin konnte 1959 zeigen, dass das Verhältnis von Länge des Harnleitertunnels zu Harnleiterdurchmesser von 5:1 bei normalen, nicht refluxiven Kindern auf durchschnittlich 1,4:1 bei refluxiven Kindern verkürzt ist ▶ [1214].
Merke Allgemein wird ein Verhältnis von 3:1 (Tunnellänge: Harnleiterdurchmesser) bei nicht dilatierten Ureteren als Minimum eines sicheren Refluxschutzes angesehen. Eine zu tiefe Entwicklung der Ureterknospe am Wolff-Gang bedingt eine hohe bzw. laterale Einmündung des Harnleiters in die Harnblase. Folge dieser Lateralisationsanomalie des Harnleiterostiums ist eine Verkürzung des intramuralen Harnleiteranteils mit einem erhöhten Refluxrisiko. Typischerweise zeigt sich daher meist ein VUR in den unteren Anteil von Doppelnieren, bei der gemäß der MeyerWeigert-Regel der zu diesem Anteil gehörige Harnleiter zu weit kranial bzw. lateral in die Blase mündet ( ▶ Abb. 27.4). Reflux bei 2½-jährigem Mädchens mit beidseitigen Doppelnieren. Abb. 27.4
Abb. 27.4a Ausscheidungsurogramm.
Abb. 27.4b Miktionszystourethrogramm mit Reflux Grad IV in die unteren Anteile der Doppelnieren beidseits.
Praxis Die Chance auf ein spontanes Sistieren eines Refluxes im Kindesalter beruht auf Wachstumsvorgängen des Ureters sowie zunehmender Kapazität und Maturation der Harnblase bis zum 5.–6. Lebensjahr. Das Verhältnis von Blasenkapazität zu ureteralem Widerstand verschiebt sich mit dem Längenwachstum des Kindes, sodass ein primärer Reflux in seiner Ausprägung gemindert wird oder gar spontan sistiert. Eine solche Spontanausheilung erfolgt schneller bzw. früher bei geringergradigen Refluxen (Grad I–III), bei asymptomatischen Kindern, bei Säuglingen und bei einem unilateralen Reflux ▶ [1162]. Starke negative prädiktive Faktoren für ein spontanes Sistieren ▶ [1241], ▶ [1253] sind: renale Veränderungen, Blasenfunktionsstörungen, febrile Durchbruchsinfekte. Klinisch betrachtet ist bei gleichzeitigem Vorliegen einer höhergradigen Anomalie der Ostienmorphologie oder -lage die Aussicht auf eine Spontanremission des Refluxes nicht gegeben ▶ [1153], ▶ [1179], ▶ [1227].
27.4.2 Sekundärer vesikoureteraler und vesikorenaler Reflux
Ein sekundärer vesikoureteraler bzw. vesikorenaler Reflux ist meist Folge einer subvesikalen Obstruktion mit Erhöhung des Blaseninnendruckes bei Miktion. Ursächlich hierfür können morphologische Veränderungen (z.B. Urethralklappen, ausgeprägte Meatusstenose) oder funktionelle Veränderungen (z.B. Detrusor-SphinkterDyskoordination) sein ( ▶ Abb. 27.5). Miktionszystourethrogramm eines männlichen Säuglings mit sekundärem Reflux infolge subvesikaler Obstruktion (posteriore Harnröhrenklappe). Abb. 27.5
Sekundäre Refluxe aufgrund einer direkten iatrogenen Schädigung der vesikoureteralen Verbindung sind im Kindesalter extrem selten. Sie treten als Folge einer Ostiumschlitzung im Rahmen endourologischer Manipulationen am oberen Harntrakt oder nach transurethralen Resektionen über ein Ureterostium auf. Bei mechanischer oder funktioneller subvesikaler Obstruktion hypertrophieren der M. detrusor und die trigonale Muskulatur, was während der sog. Anpassungsphase zu einem verlängerten intramuralen Harnleiter mit Ausbildung einer Obstruktion, im Extremfall zur Entwicklung eines obstruktiven, nicht refluxiven Megaureters führt. Bei Fortbestehen der subvesikalen Obstruktion kommt es nachfolgend zu Dekompensationsvorgängen, bei denen der Harnleiter mehr und mehr seine Verankerung im Trigonum verliert. Das Harnleiterostium verlagert sich mehr und mehr nach lateral, was durch Verkürzung des submukösen Uretersegments letztendlich zu einem VUR, im Extremfall zu einem refluxiven Megaureter, führt ( ▶ Abb. 27.6). Eine Refluxnephropathie mit irreversiblen renalen Schäden ist beim sekundären VUR auf dem Boden einer subvesikalen Obstruktion sehr viel häufiger als beim primären VUR ▶ [1227]. Pathomechanismus der Entwicklung eines sekundären Refluxes. Abb. 27.6
Abb. 27.6a Normalbefund.
Abb. 27.6b Anpassungsphase mit obstruktivem Megaureter.
Abb. 27.6c Dekompensationsphase mit sekundärem Reflux.
Zudem können Harnwegsinfektionen eine temporäre Störung der funktionellen Integrität des Refluxschutzes zur Folge haben. Bei Vorliegen einer Zystitis führen entzündliche Infiltrationen der trigonalen Fasern des intramuralen Uretersegmentes zu Gefügeänderungen der Harnblasenwand mit zunehmender Unbeweglichkeit des periureteralen Maschenwerks aus kollagenen, muskulären und elastischen Fasern (Gewebeödem), wodurch primär nicht refluxive renoureterale Einheiten refluxiv werden können bzw. sich ein vorbestehender Reflux verschlechtern kann ▶ [1227].
27.4.3 Refluxfolgen und Refluxnephropathie Ein VUR prädisponiert für persistierende bzw. rezidivierende Harnwegsinfekte sowie Pyelonephritiden.
Vorsicht Die gefürchtetste Folge des vesikorenalen Refluxes ist die daraus resultierende progressive renale Insuffizienz. Bis zu 40% der Kinder weisen bei Diagnosestellung eines VUR bereits Parenchymdefekte der betroffenen Niere auf ▶ [1217], ▶ [1253]. Pathogenetisch zugrunde liegend ist eine Keimaszension von der Blase zu den Nieren durch Pendelurin in den refluxiven renoureteralen Einheiten. Eine daraus resultierende renale Schädigung mit morphologischen und funktionellen Veränderungen der Niere wird unter der Diagnose Refluxnephropathie zusammengefasst ( ▶ Abb. 27.7). Pyelonephitisch veränderte Schrumpfniere eines 5 Monate alten Säuglings (EndStage Refluxnephropathie).
Abb. 27.7
Merke Von klinischer Relevanz und entscheidend für die Therapiestrategie ist der refluxbedingte renale Schaden. Bis zu 40% der Kinder mit einem symptomatischen VUR weisen evidente Parenchymdestruktionen bzw. Narbenbildungen der Niere auf. Neben der in der Regel mit dem Auftreten einer Pyelonephritis verbundenen Entstehung neuer Parenchymnarben (acquired pyelonephritic Scars) kommt es zu einem intrarenalen Reflux, der in 5–15% der von einem
Reflux betroffenen Nieren beobachtet wird ( ▶ Abb. 27.8). Dadurch wird eine weitere vor allem polwärts gerichtete Narbenbildung begünstigt. ▶ [1227], ▶ [1229], ▶ [1230], ▶ [1231]. Miktionszystourethrogramm mit Nachweis eines beidseitigen intrarenalen Refluxes. Abb. 27.8
Einer Metanalyse von Faust et al. zufolge führt eine Pyelonephritis bei über 40% der Patienten zu persistierenden Nierenparenchymschäden, wobei das Vorliegen eines VUR das Risiko zur Ausbildung permanenter Nierennarben um das 3,7-Fache erhöht ▶ [1163]. Andererseits entstehen erworbene Nierennarben auch unabhängig vom Vorhandensein eines VUR. So ergab eine systematische Literaturrecherche ▶ [1164] keinen signifikant unterschiedlichen Anteil an postpyelonephritischer Narbenbildung bei Säuglingen und Kindern mit und ohne VUR ▶ [1164], ▶ [1227]. Diese Daten deuten letztendlich darauf hin, dass die Pyelonephritis selbst und weniger der VUR den entscheidenden Schädigungsmechanismus für das Parenchym darstellt ▶ [1166], ▶ [1209].
Praxis Somit ist die Vermeidung infektbedingter Narbenbildung im Säuglings- und Kindesalter durch frühzeitige bzw. prophylaktische antibiotische Therapie von entscheidender Bedeutung. In Abwesenheit von Harnwegsinfektionen sind refluxbedingte Nierenparenchymschädigungen lediglich als Folge massiver intravesikaler Druckerhöhungen bei Vorliegen eines sekundären Refluxes zu erklären (sog. Wasserhammereffekt). Unter physiologischen Blasendruckverhältnissen führt ein steriler VUR dagegen nicht zur Nierenschädigung. Die Inzidenz der Refluxnephropathie korreliert mit dem Grad des ipsilateralen VUR ▶ [1251]. Während bei Mädchen in erster Linie rezidivierende Pyelonephritiden ursächlich für eine Refluxnephropathie sind, steht bei Jungen die konnatale Refluxnephropathie als Ursache für eine
Nierenparenchymschädigung im Vordergrund ▶ [1204], ▶ [1227], ▶ [1261]. Die konnatale Refluxnephropathie ist in vielen Fällen Teil einer komplexen angeborenen Entwicklungsstörung und wird unter dem Begriff „CAKUT“ (congenital Anomalies of Kidneys and urinary Tract“) subsumiert ▶ [1180], ▶ [1212], ▶ [1227]. Diese von der erworbenen Refluxnephropathie abzugrenzende Form beruht auf der „Bud-Theorie“, gemäß der sich eine dystop entspringende Ureterknospe mit weniger differenzierten Arealen des metanephrogenen Blastems (der sog. Nachniere) verbindet. Folge ist neben der späteren Dystopie der Uretermündung auch die Entwicklung von dysplastischem Nierengewebe ▶ [1199], ▶ [1227], ▶ [1249]. Unterstützt wird diese Theorie durch den bereits vor über 60 Jahren gezeigten Zusammenhang zwischen primitiven Tubuli und metaplastischem Knorpelgewebe im Zusammenhang mit einer Refluxnephropathie ▶ [1205], ▶ [1249]. Des Weiteren zeigen Untersuchungen an Neugeborenen und Säuglingen mit dilatierendem vesikoureteralem Reflux bereits dysplastische Nierenveränderungen ▶ [1249], ▶ [1256], ▶ [1261]. Persistiert ein Reflux bis ins Erwachsenenalter, finden sich bei einer erheblichen Anzahl dieser Patienten pyelonephritische Endstadien ▶ [1137], wobei Thüroff et al. eine deutliche Zunahme mit dem Alter der Patienten zeigten. So wurden refluxbedingte pyelonephritische Schrumpfnieren bei 21% der 15- bis 30-Jährigen und bei 56% der über 30Jährigen nachgewiesen ▶ [1255]. Ein Renin-abhängiger Hypertonus als Folge von Nierenparenchymnarben tritt bei 10–20% der Refluxpatienten auf ▶ [1140], ▶ [1143], ▶ [1244].
Merke
Die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Hypertonus korreliert mit dem Ausmaß und der Anzahl der Parenchymnarben.
27.5 Symptomatik In vielen Fällen bleibt ein VUR völlig asymptomatisch und kann im Verlauf spontan sistieren. Die Diagnose eines VUR wird in den meisten Fällen im Rahmen der Abklärung von symptomatischen Harnwegsinfektionen oder im Rahmen von Screeninguntersuchungen gestellt. Neben unspezifischen Symptomen im Kindesalter, wie Gedeih- und Entwicklungsstörungen, unklare abdominelle Beschwerden oder Erbrechen, sind Mikrohämaturie und rezidivierende Flankenschmerzen als Symptome zu nennen, die jedoch selten isoliert auftreten. Das simultane Vorliegen von Fieber und Flankenschmerzen spricht für eine Beteiligung des Nierenparenchyms i.S. einer refluxbedingten Pyelonephritis. Über 80% aller kindlichen arteriellen Hypertonien sind renal bedingt, sodass innerhalb dieses Patientenkollektivs an das Vorliegen einer Refluxnephropathie als häufige Ursache zu denken ist ▶ [1142], ▶ [1194]. Spätfolgen einer ausgeprägten bilateralen Nierenschädigung können Symptome einer fortgeschrittenen Niereninsuffizienz sein, wie renaler Kleinwuchst, Anämie, klinische Zeichen der Urämie, Polyurie/Polydypsie.
27.6 Diagnostik 27.6.1 Basisdiagnostik
Die Basisdiagnostik beinhaltet die in der Infobox zusammengefassten Untersuchungen.
Praxis Basisdiagnostik Anamnese, insbesondere auch die Familienanamnese körperliche Untersuchung inkl. Inspektion des äußeren Genitales Blutdruckmessung Urinstatus und -kultur Routinelabor Im Rahmen der körperlichen Untersuchung, insbesondere des äußeren Genitales, können ggf. Pathologien wie Phimosen, Labiensynechien sowie Form- oder Lageanomalien der Harnröhre als Ursache einer subvesikalen Obstruktion mit konsekutivem sekundärem Reflux festgestellt werden.
27.6.2 Bildgebende Verfahren 27.6.2.1 Sonografie Die Sonografie von Nieren und Harnblase stellt einen weiteren Bestandteil der Primärdiagnostik dar. Sie kann ohne Strahlenbelastung Aufschluss über die Größe und Form der Nieren, möglicherweise über das Vorliegen von Risikofaktoren (beispielsweise Doppelbildungen) sowie über die Morphologie und ggf. bestehende Dilatation des Nierenhohlsystems geben. Ebenso erlaubt sie die Beurteilung des Nierenparenchyms mit möglichem Nachweis von Narben
Merke Die Sonografie stellt somit eine ideale Screeninguntersuchung dar, um Risikopatienten zu identifizieren, die einer weiterführenden Diagnostik und Therapie bedürfen. Nachweis von Restharn und Blasenwandveränderungen (Detrusorhypertrophie, Trabekulierung) sowie Blasendivertikeln kann sonografischer Hinweis für das Vorliegen einer Blasenfunktionsstörung bzw. einer infravesikalen Obstruktion sein. ▶ Stellenwert. Nicht zuletzt aufgrund ihrer in der Regel schnellen Verfügbarkeit ist die Sonografie eine ideale Screening- und Follow-up-Untersuchung.
27.6.2.2 Radiologisches Miktionszysturethrogramm Merke Das radiologische Miktionszysturethrogramm (MCU) stellt den Goldstandard in der Refluxdiagnostik dar. Neben der exakten Einschätzung des Ausmaßes und der Klassifizierung erlaubt das MCU zusätzlich die Beurteilung der Blasenkonfiguration und den Nachweis bzw. Ausschluss einer infravesikalen Obstruktion (beispielsweise Harnröhrenklappen bei Jungen). Zur Darstellung anatomischer Auffälligkeiten und Fehlbildungen ist es somit den anderen Methoden der Refluxdiagnostik überlegen.
Praxis Der radiologische Nachweis oder Ausschluss eines Refluxes mittels MCU sollte im infektfreien Intervall durchgeführt
werden, um falsch-positive Befunde zu vermeiden, wobei ein längerer Abstand zur zurückliegenden Harnwegsinfektion nicht erforderlich zu sein scheint. So zeigen einige Studien keine erhöhte Inzidenz eines vesikoureteralen Refluxes, wenn das MCU innerhalb der ersten Woche nach Diagnosestellung einer Harnwegsinfektion oder verzögert durchgeführt wurde ▶ [1184], ▶ [1200], ▶ [1248]. Die Instillation des angewärmten Kontrastmediums sollte über eine suprapubische Punktion, alternativ transurethral durch einen dünnen ungeblockten Katheter unter Vermeidung von Instillationsdrücken ≥70 cm H2O erfolgen, um Artefakte und falsch-positive Befunde zu vermeiden ▶ [1227]. Bei Jungen wird an unserer Klinik die suprapubische Kontrastmittelapplikation bevorzugt eingesetzt, da hiermit eine exakte Beurteilung der Harnröhrenmorphologie möglich ist und eine Harnröhrenklappe bzw. eine infravesikale Obstruktion oder andere Urethralfehlbildungen ausgeschlossen werden können.
Vorsicht Auch unter standardisierten Bedingungen bei wiederholten radiologischen Prüfungen am selben Patienten kann der Schweregrad eines Refluxes durchaus variieren ▶ [1227].
27.6.2.3 Radionuklidzystografie Bei der Radionuklidzystografie wird ein Isotop (z.B. 99MTcMAG3) über einen transurethralen Katheter oder durch suprapubische Punktion in die Harnblase eingebracht, die Nuklidaktivität wird anschließend mittels Gamma-Kamera in sitzender oder liegender Stellung während der Füllungs- und
Miktionsphase über den Ureteren bzw. den Nieren gemessen. ▶ Stellenwert. Insgesamt ist die Strahlenbelastung verglichen mit dem konventionellen radiologischen MCU geringer, jedoch besteht eine deutlich eingeschränkte Aussagekraft hinsichtlich der Anatomie und Morphologie des Harntraktes ▶ [1247], ▶ [1253].
27.6.2.4 Miktionsurosonografie (MUS) Die Miktionsurosonografie (MUS), bei der ein sonografisch nachweisbares Kontrastmittel (z.B. Levovist) in die Harnblase eingebracht wird, ist in der Hand eines geübten Untersuchers eine nicht strahlenbelastende, dem radiologischen MCU nahezu gleichwertige alternative Methode zur Refluxdiagnostik ( ▶ Abb. 27.9, ▶ Abb. 27.10) ▶ [1154], ▶ [1215]. Aufgrund der fehlenden Strahlenbelastung eignet sich dieses Verfahren insbesondere zur Verlaufsbeurteilung bzw. Therapiekontrolle. Refluxdiagnostik mittels Miktionsurosonografie. Abb. 27.9
Abb. 27.9a Der Reflux in den rechten Harnleiter (Pfeil) und in das rechte Nierenbecken ist dargestellt im B-Bild
Abb. 27.9b B-Bild und Kontrast.
Abb. 27.9c Nur Kontrast mit Subtraktion des B-Bildes.
Reflux in beide Anteile einer Doppelniere. Abb. 27.10 Der obere Anteil (Pfeil) ist deutlich dilatiert, der Reflux in den unteren Anteil (Pfeilkopf) ist niedriggradig.
Abb. 27.10a B-Bild
Abb. 27.10b B-Bild und Kontrast
Abb. 27.10c Nur Kontrast mit Subtraktion des B-Bildes
Abb. 27.10d Miktionszysturethrogramm.
27.6.2.5 Magnetresonanztomografie Die Magnetresonanztomografie (MRT) stellt ein weiteres alternatives bildgebendes Verfahren zur Refluxdetektion dar, besitzt bisher jedoch experimentellen Charakter und hat sich noch nicht im klinischen Alltag etabliert ▶ [1181], ▶ [1252].
27.6.2.6 DMSA-Szintigrafie Die DMSA-Szintigrafie (statische Nierenszintigrafie mit Dimercaptobernsteinsäure) ist ein statisches nuklearmedizinisches Untersuchungsverfahren, mit dem Perfusion und Funktionsausfälle im Nierenparenchym diagnostiziert werden können. Einziehung der Außenkontur und lokale disseminierte hypoaktive Areale sind Hinweise für Parenchymdefekte. Hinsichtlich der Sensitivität und Spezifität ist die DMSASzintigrafie allen anderen Verfahren bei der Erfassung von akuten und persistierenden Parenchymläsionen überlegen ▶ [1236], ▶ [1249], ▶ [1252]. Sofern ein kurzer Abstand zu einer pyelonephritischen Episode besteht, kann nicht zwischen reversiblen passageren Veränderungen und bleibenden Parenchymdefekten unterschieden werden. Erst mehrere Monate nach einer Pyelonephritis ist eine sichere Aussage über das Vorhandensein irreversibler Defekte mittels DMSA-Szintigrafie möglich.
Merke Die Untersuchung sollte bei gezielter Fragestellung daher frühestens 6 Monate nach der entzündlichen Affektion erfolgen ▶ [1227]. ▶ Stellenwert. Zunehmend wird von einigen Arbeitsgruppen empfohlen, im Sinne einer Top-Down-
Strategie, die Indikation zu einer Refluxprüfung (beispielsweise mittels radiologischem MCU/MUS) nach einem fieberhaften Harnwegsinfekt vom Nachweis pyelonephritischer Parenchymdefekte oder Nierennarben in der DMSA-Szintigrafie abhängig zu machen. Bei Fehlen solcher Defekte ist ein höhergradiger VUR nahezu auszuschließen, sodass Kindern mit entsprechend geringerem Risiko für eine erworbene Refluxnepropathie die Refluxdiagnostik erspart werden könnte ▶ [1191], ▶ [1220], ▶ [1249], ▶ [1307]. In den europäischen und auch in den aktuellen Leitlinien der „American Academy of Pediatrics“ (AAP-Leitlinien) hat sich diese diagnostische Strategie jedoch bisher nicht durchgesetzt ▶ [1132], ▶ [1253].
27.6.2.7 Ausscheidungsurogramm Bei gut dargestellter nephrografischer Phase können mittels Ausscheidungsurogramm Parenchymnarben und vor allen Dingen Kelchobstruktionen dokumentiert sowie anatomische Varianten aufgezeigt werden ( ▶ Abb. 27.11). Das Ausmaß der pyelonephritischen Veränderungen wird nach Smellie klassifiziert ▶ [1244], ▶ [1245] ( ▶ Abb. 27.12). ▶ Stellenwert. Das Ausscheidungsurogramm ist heute jedoch weitgehend durch die DMSA-Szintigrafie als dem Goldstandard für die Detektion von Parenchymnarben ersetzt. Parenchymnarbe (Pfeil) im Ausscheidungsurogramm (nephrografische Phase). Abb. 27.11
Einteilung der pyelonephritischen Schäden nach Smellie et al. Abb. 27.12
Abb. 27.12a Geringe radiomorphologische Vernarbung
Abb. 27.12b Ausgeprägte Vernarbung
Abb. 27.12c Stauungsniere
Abb. 27.12d Schrumpfniere
27.6.3 Spezielle Diagnostik 27.6.3.1 Urethrozystoskopie Die Urethrozystoskopie wurde in der Vergangenheit als wesentlicher Bestandteil der Refluxdiagnostik und Therapieplanung angesehen. Die endoskopisch beurteilbaren morphologischen und topografischen Varianten der Ureterostien wurden nach Lyon und Mackie/Stephens klassifiziert und mit dem Refluxgrad und der Prognose korreliert ▶ [1198], ▶ [1199]. Morphologisch unterscheidet man zwischen normalen schlitzförmigen Harnleiterostien, Stadion- Hufeisen- und Golflochostien ( ▶ Abb. 27.13). Endoskopische Ostienkonfiguration Abb. 27.13
Abb. 27.13a Normal schlitzförmig.
Abb. 27.13b Stadionförmig.
Abb. 27.13c Hufeisenförmig.
Abb. 27.13d Golflochförmig.
Hinsichtlich der Lageanomalien, die embryologisch betrachtet Folge einer dystop entspringenden Ureterknospe sind, wird zwischen einer normalen trigonalen und weiter kranial-lateral liegenden Zone unterschieden, die durch die Buchstaben A (trigonal) bis D (stark lateralisiert) subklassifiziert werden ( ▶ Abb. 27.14).
Lageeinteilung des Ureterostiums von A (trigonal) bis D (stark lateralisiert). Abb. 27.14
Bei höhergradiger Ostienpathologie (Golflochostien) sind die Aussichten einer konservativen Therapie sehr gering ▶ [1258]. ▶ Stellenwert. Endoskopische Befunde tragen jedoch in der Regel nicht entscheidend zum therapeutischen Management beim primären VUR bei und sind heute nicht mehr Bestandteil der Routinediagnostik. Die Urethrozystoskopie hat jedoch Relevanz in der Beurteilung einer eventuellen infravesikalen Obstruktion sowie im Nachweis bzw. Ausschluss von Harnleiteranomalien (beispielsweise ektope
Harnleitermündung oder Ureter duplex) ▶ [1253] und kann – der operativen Refluxkorrektur in gleicher Narkose vorgeschaltet – durchaus hilfreich sein.
27.6.3.2 Positioning-Instillation-of-ContrastUreterografie Beim PIC-Zystureterogramm (PIC=Positioning Instillation of Contrast) wird das Endoskop direkt vor dem Ostium positioniert, antegrad Kontrastmittel appliziert und radiologisch ein fraglicher Reflux des Kontrastmittels in den oberen Harntrakt überprüft. ▶ Stellenwert. Die PIC-Ureterografie stellt eine kombinierte Diagnostik aus Endoskopie und Durchleuchtung dar und hat insbesondere in der Detektion eines der Standardrefluxprüfung entgangenen, „verborgenen“ VUR Bedeutung ▶ [1170], ▶ [1233].
27.6.3.3 Uroflowmetrie/urodynamische Untersuchung Eine urodynamische Untersuchung muss bei Vorliegen einer Inkontinenz oder bei relevantem Restharn ohne Anhalt für ein infravesikales Miktionshindernis, insbesondere bei neurogenen Erkrankungen mit Ausbildung eines sekundären Refluxes, in Betracht gezogen werden (beispielsweise Kinder mit Spina bifida). In diesen Fällen sollte neben einer Abklärung mittels urodynamischer Untersuchung auch eine neurologische Evaluation erfolgen. ▶ Stellenwert. Der Uroflowmetrie kommt insbesondere bei V.a. sekundären Reflux Bedeutung zu und kann in Kombination mit einem Beckenbodenelektromyogramm (sog. Free-Flow-EMG) Aufschluss darüber geben, ob eine anatomische oder funktionelle Ursache einer infravesikalen Obstruktion vorliegt. In den meisten Fällen einer nicht neurogenen Entleerungsstörung können Diagnostik und Follow-up auf nichtinvasive Verfahren (Sonografie,
Uroflowmetrie, Free-Flow-Beckenboden-EMG) limitiert werden ▶ [1187], ▶ [1253].
27.6.4 Grundlegende Aspekte zur Indikationsstellung und Strukturierung der Diagnostik Inwieweit die Refluxprüfung Teil der Basisdiagnostik bei Harnweginfektionen sein sollte, wird kontrovers diskutiert. Selbst hinsichtlich einer weiteren Abklärung beim ersten febrilen Harnwegsinfekt bzw. der ersten Pyelonephritis besteht kein allgemeiner Konsens. Während in den aktuellen Leitlinien der European Association of Urology (EAU) ein radiologischer Ausschluss eines VUR nach einer fieberhaften Harnwegsinfektion bei Säuglingen und Kindern im Alter von 0–2 Jahren gefordert wird ▶ [1253], sehen die aktuellen AAP-Leitlinien ein MCU nicht routinemäßig vor. Sie empfehlen eine Refluxprüfung dann, wenn weitere sonografische Auffälligkeiten (beispielsweise Nierenbeckenkelchsystemdilatation, narbige Parenchymveränderungen) einen höhergradigen VUR nahelegen bzw. beim ersten Rezidiv einer fieberhaften Harnwegsinfektion ▶ [1132]. Grundsätzlich sollte vor dem Hintergrund eines erhöhten Risikos für die Entstehung neuer Parenchymnarben in Anwesenheit eines VUR insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter die Indikation zur Refluxprüfung nach dem ersten fieberhaften Harnwegsinfekt großzügig gestellt werden ▶ [1227]. Die bereits erwähnte „Top-Down“Strategie mit primärer Durchführung einer DMSASzintigrafie stellt eine von einigen Autoren propagierte Alternative zum klassischen Bottom-up-Prinzip (primäre Refluxprüfung) dar ▶ [1172], ▶ [1220], ▶ [1222].
Merke Bei Jungen sollte beim ersten, bei Mädchen spätestens beim zweiten fieberhaften Harnwegsinfekt eine Refluxdiagnostik erfolgen. Neugeborgene und Säuglinge mit sonografischem Nachweis einer pränatalen Dilatation des Nierenbeckenkelchsystems sollten einem engmaschigen sonografischen Monitoring unterzogen werden, um wertvolle Informationen zu akquirieren hinsichtlich Nierenmorphologie, Nierengröße, Parenchymdicke und Ausmaß der Nierenbecken-Kelch-Dilatation. Hierbei sollte die unmittelbar nach Geburt bestehende Oligurie des Neugeborenen während der ersten 24–48 Stunden berücksichtigt werden. Essenziell ist sowohl eine Beurteilung der Blase als auch der Nieren. Das Ausmaß der Nierenbecken-Kelch-Dilatation bei unterschiedlichen Füllungszuständen der Blase kann ein wertvoller Hinweis im Hinblick auf das Vorliegen eines VUR sein. Blasenwanddicke und -konfiguration können indirekte Zeichen einer infravesikalen Obstruktion sein. Bei asymptomatischen Säuglingen sollten die ersten beiden Ultraschalluntersuchungen innerhalb der ersten 1 – 2 Lebensmonate erfolgen ▶ [1132], ▶ [1152], ▶ [1169], ▶ [1253]. Eine Refluxprüfung sollte erfolgen bei Säuglingen mit sonografischem Befund einer beidseitigen hochgradigen Dilatation, Doppelnieren mit Dilatation,
dem sonografischen Nachweis einer Ureterozele, einer ureteralen Dilatation sowie morphologischen Auffälligkeiten der Blase. In diesen genannten Fällen ist sehr häufig ein zugrunde liegender VUR nachweisbar. Ansonsten ist eine weiterführenden Refluxprüfung lediglich als optional anzusehen ▶ [1132], ▶ [1243], ▶ [1253]. Ein Screening von asymptomatischen Geschwistern und Kindern von Refluxpatienten wird kontrovers diskutiert. Einerseits eröffnet die frühzeitige Refluxdiagnose die Möglichkeit einer antibiotischen Prophylaxe, bevor ein fieberhafter Harnwegsinfekt bzw. eine Pyelonephritis auftritt ▶ [1178], andererseits werden überwiegend niedrige Refluxgrade ohne klinische Relevanz erfasst und in vielen Fällen eine unnötige Übertherapie eingeleitet ▶ [1132], ▶ [1177], ▶ [1253]. Bisher konnte nicht belegt werden, dass ein „Screening“ und eine prophylaktische Behandlung asymptomatischer Geschwisterkinder das Risiko einer pyelonephritisch bedingten renalen Narbenbildung reduziert.
Praxis Anzuraten ist in jedem Falle die Information der Eltern und eine großzügige Indikationsstellung beim Auftreten einer symptomatischen Harnwegsinfektion ▶ [1243], ▶ [1227], ▶ [1253]. Entscheidende Bedeutung in der Behandlung von Kindern mit VUR kommt der frühzeitigen Erkennung von Störungen des unteren Harntraktes (beispielsweise Blasenfunktionsstörungen/infravesikale Obstruktion) zu. Zum einen kommt es in diesen Fällen nach Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung zu einem schnelleren
Ausheilen des VUR, und zum anderen besteht bei Kindern mit zugrunde liegender Störung des unteren Harntraktes ein höheres Risiko für die Entstehung von Harnwegsinfekten und renaler Narbenbildung ▶ [1150], ▶ [1253]. Eine schwedische Studie zeigte, dass Kinder mit VUR und einer Pathologie des unteren Harntraktes letztendlich ein schlechteres Outcome nach Therapie mit dem erhöhten Risiko einer Nierenschädigung aufweisen. Daher sollte im Rahmen der Anamneseerhebung besonderes Augenmerk auf den unteren Harntrakt betreffende Symptome gelegt werden und frühzeitig eine weitere Diagnostik mittels Miktionstagebuch, Free-Flow-Beckenboden-EMG und ggf. einer urodynamischen Untersuchung eingeleitet werden ▶ [1240]. Die beschriebenen unterschiedlichen Zielgruppen im Hinblick auf die Durchführung einer Refluxprüfung bedürfen einer entsprechenden Stufendiagnostik. Ein diagnostischer Algorithmus zur Abklärung des primären Refluxes ist in ▶ Abb. 27.15 dargestellt. Diagnostischer Algorithmus zur Abklärung des primären Refluxes. Abb. 27.15
27.7 Therapie Merke Ziel jeglicher Therapiemaßnahmen des VUR ist die Verhinderung einer renalen Schädigung bzw. die Verhinderung einer Progredienz eines bereits eingetretenen renalen Schadens. Das Spektrum der Therapieoptionen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erweitert. Die adäquate Therapie ist von verschiedenen Parametern wie beispielsweise Alter der Kinder, Ausmaß des Refluxes sowie Ausmaß einer bereits eingetretenen Nierenschädigung sowie vom klinischen Verlauf abhängig. Die aktuellen Behandlungsoptionen ermöglichen eine individuelle risikoorientierte Therapie. Konservative Therapiestrategien („Surveillance“ mit oder ohne antibakterielle Langzeitprophylaxe) konkurrieren mit endoskopischen und operativen Behandlungskonzepten (offen, laparoskopisch oder roboterassistiert) ▶ [1253]. Eine Übersicht über die derzeitigen Empfehlungen der European Association of Urology (EAU) für ein risikoadaptiertes Therapiemanagement zeigt ▶ Tab. 27.2 . Tab. 27.2 Risikoadaptiertes Therapiemanagement und Nachsorge (Empfehlungen basierend auf den EAU-Leitlinien ▶ [1253]). Risikogruppe
Klinik
Behandlungsempfehlung Follow-up
Risikogruppe
Klinik
Behandlungsempfehlung Follow-up
High Risk
symptomatische Kinder mit Blasenkontrolle, höhergradigem VUR (Grad IV–V), Parenchymveränderungen der Nieren, mit Pathologie des UHT
initial: Therapie der Pathologie des UHT Intervention bei rezidivierenden HWI oder persistierendem VUR bessere Ergebnisse bei früher Intervention
kurzfristige Kontrolle hinsichtlich HWI und der Pathologie des UHT komplette ReEvaluation nach 6 Monaten
High Risk
symptomatische Kinder mit Blasenkontrolle, höhergradigem Reflux (Grad IV–V), Nierenauffälligkeiten, ohne Pathologie des UHT
Intervention sollte erwogen werden operative Refluxkorrektur zeigt bessere Ergebnisse als endoskopische Verfahren
postoperative Refluxprüfung lediglich bei Indikation Nachsorge bis nach abgeschlossener Adoleszenz
Moderate Risk
symptomatische Kinder ohne Blasenkontrolle, mit höhergradigem VUR (Grad IV–V) und Nierenauffälligkeiten
DAB Intervention bei Durchbruchsinfekten oder persistierendem VUR spontane Remissionsrate höher bei Jungen
Kontrollen hinsichtlich HWI und Erweiterung des NBKS komplette ReEvaluation nach 12–24 Monaten
Moderate Risk
asymptomatische Kinder (pränatal diagnostizierte Erweiterung des NBKS oder Geschwisterkinder) mit höhergradigem VUR (Grad IV–V) und Nierenauffälligkeiten
DAB Intervention bei Durchbruchsinfekten oder persistierendem VUR
Kontrollen hinsichtlich HWI und Erweiterung des NBKS komplette ReEvaluation nach 12–24 Monaten
Moderate Risk
symptomatische Kinder mit Blasenkontrolle, mit höhergradigem VUR (Grad IV–V), unauffälligen Nieren, mit Pathologie des UHT
initial: Therapie der Pathologie des UHT Intervention bei Durchbruchsinfekten oder persistierendem VUR
Kontrolle hinsichtlich HWI, Pathologie des UHT und des Nierenstatus komplette ReEvaluation nach Therapie der Pathologie des UHT
Risikogruppe
Klinik
Behandlungsempfehlung Follow-up
Moderate Risk
symptomatische Kinder mit Blasenkontrolle, mit niedergradigem VUR (Grad I–III), mit Nierenauffälligkeiten, mit oder ohne Pathologie des UHT
sofern vorliegend Therapie der Pathologie des UHT keine generelle Standardtherapie (evtl. endoskopische Refluxkorrektur)
Nachsorge hinsichtlich HWI, Pathologie des UHT und des Nierenstatus bis nach abgeschlossener Adoleszenz
Moderate Risk
alle symptomatischen Kinder mit niedergradigem VUR (Grad I–III), unauffälligen Nieren, mit Pathologie des UHT
initial: Therapie der Pathologie des UHT
Kontrolle hinsichtlich HWI und der Pathologie des UHT
Low Risk
alle symptomatischen Kinder mit niedergradigem VUR (Grad I–III), unauffälligen Nieren, ohne Pathologie des UHT
Surveillance oder DAB Kontrolle hinsichtlich HWI im Falle Surveillance: Information der Eltern hinsichtlich Infektionsrisikos
Low Risk
alle asymptomatischen Kinder mit niedergradigem VUR (Grad I–III) und unauffälligen Nieren
Surveillance oder DAB Kontrolle hinsichtlich HWI im Falle Surveillance: Information der Eltern hinsichtlich Infektionsrisikos
DAB: dauerhafte Antibiotikaprophylaxe; HWI: Harnwegsinfektion; NBKS: NierenbeckenKelch-System; UHT: unterer Harntrakt; VUR: vesikoureteraler Reflux
Die individuelle Therapieentscheidung hängt von verschiedenen Faktoren ab (EAU Guidelines ▶ [1226]): Vorliegen von Nierenparenchymschäden, klinischer Verlauf, Refluxgrad, ipsilaterale Nierenfunktion, Blasenfunktion, Vorliegen von Bilateralität,
assoziierte Anomalien des Harntraktes, Alter, Compliance, elterliche Präferenz.
27.7.1 Konservatives Therapiemanagement Grundlage eines konservativen Therapiemanagements ist die Möglichkeit des spontanen Sistierens des VUR.
Praxis Die Rückbildungsrate liegt innerhalb von 4–5 Jahren Follow-up bei fast 80% bei einem geringergradigem Reflux (Grad I–II) und bei ca. 30–50% bei Vorliegen eines höhergradigen Refluxes Grad III–IV ▶ [1159], ▶ [1253]. Die Rückbildungstendenz ist allerdings nicht nur vom Ausmaß des Refluxes, sondern auch vom Vorliegen einer assoziierten Blasenfunktionsstörung, vom Alter des Kindes, der Ein- oder Beidseitigkeit des VUR sowie vorbestehenden Nierenparenchymschäden abhängig ▶ [1159], ▶ [1162], ▶ [1187], ▶ [1249]. Dies rechtfertigt ein konservatives Vorgehen bei Säuglingen und Kleinkindern, insbesondere im 1. Lebensjahr mit geringbis mittelgradigem Reflux. Mit zunehmendem Lebensalter sinkt die Wahrscheinlichkeit einer spontanen Rückbildung des Refluxes ▶ [1241]. Nomogramme können Hilfestellungen für ein risikoadaptiertes, konservatives Therapiemanagement geben ▶ [1162], ▶ [1242], ▶ [1239].
27.7.1.1 Antibiotikaprophylaxe Die konservative Therapie kann aus der alleinigen Verlaufsbeobachtung (Surveillance) oder einer intermittierenden oder dauerhaften Antibiotikaprophylaxe bestehen ▶ [1253].
Merke Wichtig für die Wahl des zur antimikrobiellen Prophylaxe verwendeten Substanz ist die Kenntnis der regionalen Resistenzlage. Generell werden Nitrofurantoin, TrimethoprimSulfamethoxazol oder Amoxicillin in täglich einmaliger niedriger Dosierung verwandt, wobei sich für Trimethoprim in manchen Regionen bereits Resistenzraten von >30% gezeigt haben ▶ [1141], ▶ [1253]. Zwar stellt der VUR heutzutage eine Hauptindikation für die antibakterielle Infektionsprophylaxe dar, doch scheinen nicht alle Patienten eine dauerhafte Therapie zu benötigen. In mehreren prospektiven, randomisierten, kontrollierten Studien ließ sich für den niedriggradigen VUR im Hinblick auf Harnwegsinfekte, Pyelonephritiden bzw. Nierenparenchymnarben kein Benefit durch eine antibakterielle Prophylaxe erkennen ▶ [1165], ▶ [1208], ▶ [1216], ▶ [1232]. Daten aus der schwedischen Refluxstudie zeigen jedoch einen eindeutigen Vorteil der antibakteriellen Infektionsprophylaxe für Mädchen im Alter von 1–2 Jahren mit einem dilatierenden Reflux ▶ [1144], ▶ [1145], ▶ [1146]. Eine kürzlich veröffentlichte randomisierte und plazebokontrollierte Studie, in die 607 Kinder mit vesikoureteralem Reflux inkludiert wurden, zeigte bei Antibiotikaprophylaxe eine signifikante Reduktion von rezidivierenden Harnwegsinfektionen, nicht jedoch im Hinblick auf eine renale Narbenbildung im Vergleich zur Plazebogruppe ▶ [1228].
Praxis Vor dem Hintergrund der aktuellen Datenlage und der potenziellen Induktion einer Keimresistenz sollte die antibakterielle Infektionsprophylaxe risikoadaptiert erfolgen ▶ [1253]. Risikofaktoren sind: Säuglinge/Kleinkinder, dilatierender VUR, Mädchen, Blasenentleerungsstörung Bei Kindern nach einer ersten fieberhaften Harnwegsinfektion mit geringgradigem VUR (Grad I–II) kann auf eine antibakterielle Prophylaxe verzichtet werden.
27.7.1.2 Behandlung von Blasenfunktionsstörungen Zum konservativen Therapiekonzept gehört unabdingbar die Abklärung und Behandlung von Blasenfunktionsstörungen als wesentliche Voraussetzung für die Verringerung des Rezidivrisikos. Ebenso sollten stuhlregulierende Maßnahmen bei Obstipationsneigung, insbesondere bei Mädchen, ergriffen werden ▶ [1187].
27.7.1.3 Limitierungen der konservativen Therapie Nach primär konservativem Therapiekonzept ist eine operative Refluxkorrektur anzustreben bei Persistenz eines höhergradigen Refluxes bei Mädchen, beim Auftreten von Durchbruchsinfektionen oder beim erneuten Auftreten von Pyelonephritiden nach Absetzen einer antibakteriellen Prophylaxe.
Kein allgemeiner Konsens besteht hinsichtlich der Dauer einer kontinuierlichen oder intermittierenden Antibiotikaprophylaxe. Die Beendigung ist eine individuelle Entscheidung und sollte von verschiedenen Parametern (Dauer des infektfreien Intervalls, verbliebener Refluxgrad, Ausmaß der Parenchymdefekte, Vorliegen von prädisponierenden Faktoren wie Blasenfunktionsstörungen) abhängig gemacht werden ▶ [1249]. Sofern eine Störung des unteren Harntraktes ausgeschlossen ist, erscheint die Fortführung der Prophylaxe bis zum Einstellen der Kontinenz des Kindes sinnvoll ▶ [1253].
Merke Voraussetzung für das Fortführen der konservativen Therapie ist das Ausbleiben von Durchbruchsinfekten. Wichtig ist eine umfassende Aufklärung und Motivation von Eltern und Kind zur engmaschigen Betreuung bzw. konsequenten antibakteriellen Prophylaxe. Bei rezidivierenden Durchbruchsinfekten besteht die Indikation zur definitiven endoskopischen oder operativen Sanierung (EAU-Guidelines ▶ [1226]).
27.7.2 Endoskopische Refluxtherapie Anfang der 1980-er Jahre wurde neben dem rein konservativen und dem operativen Therapiekonzept die endoskopische Refluxkorrektur durch Unterspritzung des Ureterostiums eingeführt und popularisiert ▶ [1206], ▶ [1221] ( ▶ Abb. 27.16). Endoskopische subureterale Injektion von Fremdmaterial zur Refluxkorrektur. Abb. 27.16
Nachdem die initial verwendete Teflonpaste aufgrund einer Migrationstendenz mit Ausbildung von Fremdkörpergranulomen in verschiedenen Organsystemen wieder aufgegeben wurde ▶ [1133], ▶ [1135], ▶ [1201], ▶ [1257], kamen in der Folge verschiedene andere „Bulking Agents“ zur Anwendung. Die Injektion von Kollagen wurde aufgrund mäßiger mittelfristiger Erfolgsraten wieder verlassen ▶ [1156]. Derzeit haben sich neuere Substanzen etabliert wie Dextraanomer-Hyaloronsäure (Deflux), Polydimethylsiloxane (Makroplastique), Polyacrylat/ Polyalkohol-Copolymer (Vantris). ▶ STING-Technik . Die ursprünglich von Puri et al. ▶ [1221] beschriebene STING-Technik (subureteric Teflon Injection) mit Platzieren des „Bulking Agent“ in die Submukosa unter der Harnleitermündung wurde im Weiteren modifiziert. ▶ HIT-Technik, Double-HIT-Technik . Bei der Hydrodistension-Implantationstechnik (HIT-Verfahren) erfolgt die Injektion der Substanz nach Aufspülen des
Ostiums durch die Uretermündung in die Submukosa des distalen Harnleiters ▶ [1186]. Eine weitere Optimierung der endoskopischen Refluxkorrektur erfolgte durch die 2008 publizierte DoubleHIT-Technik mit einer simultanen Unterspritzung bei 6 Uhr im distalen Harnleiter und 6 Uhr im Bereich des Harnleiterostiums ▶ [1148].
27.7.2.1 Ergebnisse Die Erfolgsraten einer endoskopischen Therapie sind abhängig vom Grad des Refluxes. In einer von Elder et al. veröffentlichten Metaanalyse von 2006 lagen sie für den Reflux Grad I und II bei 78,5%, für den Reflux Grad III bei 72%, für den Reflux Grad IV bei 63% und für den Reflux Grad V bei 51% ▶ [1160]. Eine Problematik des endoskopischen Verfahrens liegt in der nicht unerheblichen Rate an Refluxrezidiven im Langzeitverlauf nach initial erfolgreicher Therapie (21–26%) ▶ [1145], ▶ [1192]. Selten kann es auch zu einer späten Obstruktion kommen, worüber die Eltern informiert werden müssen ▶ [1234], ▶ [1262]. Letztendlich weisen die endoskopischen Unterspritzungsverfahren gegenüber den offen-operativen Korrekturverfahren geringere primäre Erfolgs- und höhere Rezidivquoten auf.
27.7.3 Operative Refluxkorrektur Von zahlreichen technischen Varianten haben sich weltweit 4 Methoden durchgesetzt.
Merke Das Grundprinzip aller Verfahren zur Refluxkorrektur ist die Verlängerung des intramuralen Harnleiteranteils durch
submuköse Einbettung des Harnleiters und damit Stärkung des passiven Refluxschutzmechanismus. Die hohe Erfolgsquote aller offen-operativen Verfahren von 92–98% bei gleichzeitig minimaler Komplikationsrate rechtfertig die operative Intervention ▶ [1158], ▶ [1225], ▶ [1253]. Je nach Zugang zu Ureter und Blase lassen sich extravesikale, intravesikale und kombinierte Verfahren unterscheiden.
27.7.3.1 Verfahren nach Lich und Gregoir Ein rein intravesikales Verfahren zur Beseitigung des unkomplizierten Refluxes im Kindesalter ist die von Gregoir u. Van Regemorter ▶ [1168] sowie von Lich et al. ▶ [1196] beschriebene Technik. Beim Verfahren nach Lich-Gregoir werden über einen bogenförmigen suprainguinalen Zugang die Blase und die ureterovesikale Verbindung dargestellt. Durch Spalten des Detrusors lotrecht zur Uretermündungsstelle wird ein submuköser Tunnel gebildet, in den der Harnleiter eingelegt und der Detrusor über dem Ureter wieder verschlossen wird ▶ [1167], ▶ [1195] ( ▶ Abb. 27.17). Antirefluxplastik nach Lich-Gregoir. Abb. 27.17
Abb. 27.17a Durchtrennung des Detrusors lotrecht zur Uretermündung.
Abb. 27.17b Bildung eines ausreichend breiten submukösen Tunnels.
Abb. 27.17c Der Harnleiter wird in den submukösen Tunnel eingelegt.
Abb. 27.17d Verschluss des Detrusors über dem in den submukösen Tunnel eingelegten Harnleiter.
Merke Dieses nach Lich und Gregoir benannte Verfahren hat sich mit einer Erfolgsquote von 95–98% als äußerst zuverlässig zur Beseitigung eines vesikorenalen Refluxes bei Kindern ohne gleichzeitige zusätzliche Pathologie/Dilatation des distalen Harnleiters erwiesen ▶ [1147], ▶ [1197], ▶ [1224], ▶ [1260].
27.7.3.2 Verfahren nach Politano und Leadbetter Das von Politano u. Leadbetter ▶ [1219] beschriebene kombiniert intra- und extravesikale Verfahren zur Ureterozystoneostomie hat weltweite Verbreitung gefunden und weist ebenfalls sehr gute Erfolgsraten auf ▶ [1219]. Aufgrund einer Größenzunahme der Blase und des Längenwachstums des Harnleiters kann es im Wachstumsverlauf zu siphonartigen Abknickungen des Harnleiters an der Eintrittsstelle in die Blasenwand kommen ( ▶ Abb. 27.18), sodass im Langzeitverlauf eine steigende Komplikationsquote zu konstatieren ist. Harntransportstörung links nach Antirefluxplastik gemäß Politano-Leadbetter. Abb. 27.18
Abb. 27.18a Die Harntransportstörung war bedingt durch eine siphonartige Abknickung des distalen Harnleiters.
Abb. 27.18b Freie Abflussverhältnisse nach Rezidivimplantation links in Psoas-HitchTechnik.
27.7.3.3 Verfahren nach Cohen Auch die rein intravesikale, von Cohen 1975 ▶ [1149] beschriebene Technik weist sehr gute Erfolgsraten auf ▶ [1225], ▶ [1259], jedoch sind aufgrund der Neupositionierung der Harnleiterostien spätere retrograde endoureterale Manipulationen kaum möglich ▶ [1188]. Ein Vorteil dieser Technik ist die Möglichkeit einer risikoarmen simultanen Operation beider Harnleiter.
27.7.3.4 Harnleiterneoimplantation in Psoas-HitchTechnik Bei einer distalen Ureterpathologie, kompliziertem kindlichem Reflux und postpubertären Kindern sowie Erwachsenen ist die Harnleiterneoimplantation in PsoasHitch-Technik mit einer Erfolgsrate von >97% zu empfehlen ▶ [1223]. Bei diesem kombiniert intra- und extravesikalen Verfahren wird die Blase auf der refluxiven Seite mobilisiert und oberhalb der Iliakalgefäße am M. psoas pexiert. Nach Blaseneröffnung wird von der Spitze des pexierten Blasenzipfels ausgehend im Bereich der Hinterwand ein ausreichend langer submuköser Tunnel gebildet, durch den anschließend der Harnleiter zum Refluxschutz geführt und mit der Blasenschleimhaut anastomosiert wird ( ▶ Abb. 27.19). Psoas-Hitch-Ureterozystoneostomie. Abb. 27.19
Abb. 27.19a Pexie der mobilisierten Blase oberhalb der Iliakalgefäße am M. psoas.
Abb. 27.19b Eröffnen des pexierten Blasenzipfels, Durchzug des Harnleiters durch den submukösen Tunnel.
Abb. 27.19c Zweischichtiger Blasenverschluss.
Praxis Abgesehen von der Operation nach Cohen sollte bei beidseitigen vesikoureteralem bzw. vesikorenalem Reflux zur Minimierung der Gefahr einer postoperativen neurogenen Blasenentleerungsstörung ein zweizeitiges operatives
Vorgehen im Abstand von 3 Monaten gewählt werden ▶ [1193]. Sämtliche offen-operativen Techniken lassen sich auch laparoskopisch oder roboterassistiert durchführen. Allerdings besitzen diese Techniken derzeit noch experimentellen Charakter ▶ [1203], ▶ [1253], ▶ [1254], ▶ [1263]. Bei höheren Refluxgraden sind die Ergebnisse der offenoperativen Therapie besser als die einer endoskopischen Refluxkorrektur (EAU Guidelines ▶ [1226]).
27.8 Nachsorge 27.8.1 Nachsorge nach operativer Refluxkorrektur Nach operativer Refluxkorrektur ist eine Refluxprüfung optional ▶ [1139], nach endoskopischer Refluxkorrektur jedoch empfehlenswert. Kinder, die nach erfolgter endoskopischer Unterspritzung trotz initial unauffälliger postoperativer Refluxprüfung erneut symptomatisch werden, bedürfen einer erneuten Refluxdiagnostik (MCU/MUS), da es bei bis zu 25% zu einem Refluxrezidiv im mittelfristigen Verlauf nach initialem Erfolg kommt. Die Verlaufskontrolle der oberen Harnwege und des Nierenparenchyms erfolgt sonografisch. Auf diese Weise lassen sich postoperative Harntransportstörungen ausschließen, progrediente Narbenbildung erkennen und das Nierenwachstum verfolgen. Regelmäßige Blutdruckkontrollen bis in Adoleszentenalter zur rechtzeitigen Erkennung eines renalen Hypertonus sind
ebenfalls Bestandteil der Nachsorge, insbesondere bei bekannter Refluxnephropathie mit Nierenparenchymnarbenbildung.
27.8.2 Nachsorge bei konservativer Therapie Die Nachsorge bei konservativer Therapie des Refluxes ist naturgemäß aufwendiger und erfordert eine gute Kooperation des Kindes und seiner Eltern. Zur Häufigkeit der Refluxkontrolle existieren keine validierten Richtlinien oder verbindlichen Empfehlungen. Bei unauffälligem Verlauf sollten zumindest halbjährliche Urinkontrollen sowie sonografische Kontrollen durchgeführt und lediglich in Abhängigkeit davon eine Refluxprüfung bzw. eine DMSASzintigrafie geplant werden. Bei niedrigen Refluxgraden kann bei asymptomatischen Verläufen möglicherweise auf eine neuerliche Refluxprüfung verzichtet werden ▶ [1249]. Ein erhöhtes Risiko stellt bei Frauen mit in der Kindheit konservativ behandeltem Reflux der Zeitpunkt der ersten sexuellen Kontakte sowie die Schwangerschaft dar. Das Risiko eines Aborts erscheint bei sorgfältiger Überwachung und konsequenter Therapieeinleitung nicht erhöht zu sein ▶ [1136], ▶ [1182] ▶ [1202] ▶ [1207]. Liegt jedoch bereits eine refluxbedingte Nephropathie mit Einschränkung der Nierenfunktion vor, ist in der Schwangerschaft mit einer erhöhten Komplikationsrate zu rechnen. Sowohl die mütterliche renale Hypertonie als auch die reduzierte Nierenfunktion können durch die Schwangerschaft dauerhaft aggraviert werden ▶ [1151], ▶ [1182], ▶ [1185]. Des Weiteren ist das Risiko für fetale Komplikationen um das 4- bis 5-Fache erhöht, sofern eine arterielle Hypertonie bereits bei Konzeption vorliegt ▶ [1183]. Eine Langzeitbetreuung nach erfolgreicher Antirefluxplastik bzw. nach spontanem Sistieren des Refluxes
unter konservativer Therapie sollte gewährleistet werden bei Patientinnen mit fortbestehender Neigung zu Harnwegsinfektionen ebenso wie bei Patienten mit Nierenparenchymschäden. So können eine konsekutive arterielle Hypertonie sowie eine chronische Niereninsuffizienz frühzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.
Quintessenz Vesikoureteraler und vesikorenaler Reflux Klassifikation und Terminologie Angeborener primärer vesikoureteraler/vesikorenaler Reflux (VUR) Folge des fehlerhaften Aufbaus des terminalen Ureters Mangelhafte Verankerung des Ureterostiums Erworbener sekundärer VUR Folge subvesikaler Obstruktion Anatomisch oder funktionell bedingt Grundlage der Klassifikationen: im Refluxzystogramm nachweisbare morphologische Veränderungen der betroffenen renoureteralen Einheit Epidemiologie Inzidenz Mädchen häufiger betroffen als Jungen Abhängigkeit vom Lebensalter Ätiologie
Gehäuftes Auftreten bei Geschwistern und Zwillingsgeschwistern sowie bei Eltern mit Reflux Pathogenese Primärer VUR Inadäquater Verschlussmechanismus an ureterovesikaler Verbindungsstelle Passiver Refluxschutz: Harnleiter wird bei intravesikaler Drucksteigerung gegen tiefe trigonale Muskulatur gepresst Aktiver Refluxschutz: Fasern des Trigonums und der Waldeyer-Scheide werden gestreckt, somit Harnleiterostium und distaler Harnleiter im Querschnitt reduziert Sekundärer VUR Subvesikale Obstruktion mit Erhöhung des Blaseninnendrucks bei Miktion, z.B. funktionelle und neurogene Blasenentleerungsstörung anatomisch (Harnröhrenklappe) Entzündliche Blasenerkrankungen Ödem der periureteralen kollagenen, muskulären und elastischen Fasern durch entzündliche Infiltration der ureterovesikalen Verbindung Verlust der Halteverankerung des Ureterostiums und Verkürzung des intramuralen Harnleiterabschnitts Refluxfolgen Intrarenaler Reflux mit konsekutiver Ausbildung von Parenchymvernarbungen
Progressive renale Insuffizienz Pyelonephritische Endstadien Reninabhängiger Hypertonus Symptomatik Unspezifische Symptome im Kindesalter Rezidivierende Harnwegsinfektionen Fieber und Flankensymptomatik: Beteiligung des Nierenparenchyms Diagnostik Sonografie: ideale Screening- und Follow-upUntersuchung Miktionszystourethrogramm (MCU) Direkter Refluxnachweis bzw. -ausschluss Alternativ: Miktionsurosonografie (MUS) Nuklearmedizinische Untersuchungen DMSA-Scan zum Nachweis von Parenchymnarben und zur Nierenfunktionsbestimmung Ausscheidungsurogramm: nur fakultativ Free-Flow-Beckenboden-EMG/Urodynamik: bei Vorliegen einer Inkontinenz oder relevantem Restharn zum Nachweis/Ausschluss einer neurogenen Blasenentleerungsstörung Zystoskopie (fakultativ) Nachweis einer pathologischen Ostienkonfiguration und -lage Ausschluss einer infravesikalen Obstruktion und einer Harnleiterektopie
in Kombination mit operativer Refluxkorrektur Therapie Konservative Therapiestrategie: antibiotische Langzeitprophylaxe (Grundlage: spontanes Sistieren des VUR) Sekundärer VUR Therapie der auslösenden Grunderkrankung Weiterführende Therapie nach Grundsätzen des primären vesikorenalen Refluxes Endoskopische Refluxtherapie Subureterale Injektion von bulking Agents Erfolgsquote niedriger im Vergleich zur offenoperativen Therapie Operative Refluxtherapie Verlängerung des intramuralen Harnleiteranteils durch submuköse Einbettung des Harnleiters Hohe Erfolgsquote von 92–98% Nachsorge Regelmäßige Urinuntersuchungen und sonografische Kontrollen Indikationsstellung für erneute Refluxprüfung/DMSA-Scan abhängig vom klinischen Verlauf Kein allgemeiner Konsens hinsichtlich der Dauer einer antibiotischen Prophylaxe Regelmäßige Blutdruckkontrollen zur rechtzeitigen Erkennung eines renalen Hypertonus
Bei Frauen erhöhtes Risiko bei ersten sexuellen Kontakten sowie in der Schwangerschaft
27.9 Literatur [1132] American Academy of Pediatrics – AAP. Urinary tract infection: Clinical practice guideline for the diagnosis and management of the initial UTI in febrile infants and children 2–24 months. 2011. Pediatrics 128, 3: 595 [1133] Aaronson IA, Rames RA, Greene WB et al. Endoscopic treatment of reflux: migration of Teflon to the lungs and brain. Eur Urol 1993; 23: 394–399 [1134] Alsaywid BS1, Saleh H, Deshpande A, Howman-Giles R, Smith GH. High grade primary vesicoureteral reflux in boys: long-term results of a prospective cohort study. J Urol 2010; 184 (4 Suppl): 1598–1603 [1135] Aragona F, D'Urso L, Scremin E et al. Polytetrafluoroethylene giant granuloma and adenopathy: long-term complications following subureteral polytetrafluoroethylene injection for the treatment of vesicoureteral reflux in children. J Urol 1997; 158: 1539– 1542 [1136] Austenfeld M S, Snow BW. Complications of pregnancy in women after reimplantation for vesicoureteral reflux. J Urol 1988; 140: 1103–1106 [1137] Bailey R R, Lynn K L, Robson RA. End-stage reflux nephropathy. Ren Fail 1994; 16: 27–35 [1138] Baker R, Maxted W, Maylath J. Relation of age, sex and infection to reflux: Data indicating high spontaneous cure rate in pediatric patients. J Urol 1966; 95: 27–34
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28 Ureterozele H. Riedmiller, A. Kocot
28.1 Einleitung Die Ureterozele stellt eine urologische Fehlbildung dar, die ein breites Spektrum unterschiedlicher klinischer Erscheinungsbilder aufweisen kann ▶ [1275]: asymptomatisch bis akut lebensbedrohlich; refluxiv, supravesikal-obstruktiv; mit/ohne Beteiligung der Gegenniere. Trotz der rasanten Entwicklung endoskopischer und minimalinvasiver Verfahren in Diagnostik und Therapie konnte bis heute kein einheitlicher Therapiekonsensus erreicht werden. Bei z.T. sehr kontrovers diskutierten Therapieoptionen – insbesondere beim Doppelsystem – besteht dennoch Einigkeit über die Notwendigkeit einer umfassenden Betrachtungsweise sämtlicher mit der Ureterozele zusammenhängenden Befunde, um eine individualisierte Behandlungsstrategie zu entwickeln ▶ [1265].
28.2 Definition und Terminologie Merke
Als Ureterozele bezeichnet man eine zystische Erweiterung des intravesikalen submukösen Harnleitersegments einer oder beider Nieren.
28.2.1 Klassifikation nach Ericsson Bei der frühen vereinfachten Klassifikation nach Ericsson ▶ [1281] wird die Lage des Ostiums nicht berücksichtigt: einfache (intravesikale, orthotope) Ureterozelen (Lokalisation vollständig im Blaseninneren) ektope Ureterozelen (teilweise benachbart zu Blasenhals oder Harnröhre) In Abhängigkeit vom Vorhandensein eines Einzelharnleiters oder einer kompletten Ureterduplikatur bei Doppelnieren unterscheidet man Single-System-Ureterozelen und Duplex-System-Ureterozelen. Im letztgenannten Fall gehört die Ureterozele fast immer zum oberen Teil der Doppelniere(bei 80% der betroffenen Kinder ▶ [1266]). Gemäß der Meyer-Weigert-Regel mündet dabei das Ostium des unteren Doppelnierenanteils kraniolateral oder auf der Zele ( ▶ Abb. 28.1).
Merke Nach Johnson u. Perlmutter ▶ [1289] werden ektope Ureterozelen in Verbindung mit Single-Systemen sehr selten beobachtet. Männer sind davon deutlich öfter betroffen als Frauen. Häufige Begleiterscheinungen dieser Form sind genitale oder kardiale Anomalien.
Ektope Ureterozele mit Mündung in unmittelbarer Nähe des Blasenhalses bei Doppelniere mit Ureter duplex, massiv dilatiertem Oberpolharnleiter mit Drainage in die Ureterozele. Abb. 28.1
28.2.2 Einteilung nach Stephens Die Komplexität der Ureterozelen wurde 1963 von Stephens in einer umfassenden Beschreibung niedergelegt ▶ [1309]. Hierbei erfolgt die Unterteilung in sphinkterische, sphinkterostenotische, stenotische und Zäkoureterozelen. Sphinkterische Ureterozelen (ca. 40%) Lage: ektop Ostium: im Bereich des Sphincter internus, reguläre Weite Entleerung: nur bei Miktion möglich, da Abfluss durch Kompression des inneren Sphincters kompromittiert
Besonderheiten: in ca. 9% der Fälle mit vesikoureteralem Reflux assoziiert ▶ [1305]. Sphinkterostenotische Ureterozelen Lage: ektop Ostium: im Bereich des Sphincter internus, eingeengt Entleerung: fehlende Entleerung bei Miktion Besonderheiten: großes Ausmaß und hohe Spannung aufgrund der Abflussbehinderung
Merke Durch die fehlende Entleerung während der Miktion kann eine derart gefüllte Ureterozele als Kugelventil zur Obstruktion der Harnröhre führen oder bei Frauen zu einem Prolaps durch die Urethra ▶ [1283]. Stenotische Ureterozelen (ca. 40%) Lage: vollständig im Blasenlumen Ostium: Größe variabel (Stecknadelkopfgröße im Falle einer Ureterozele mit konstanter Wandspannung bis hin zu einem Ausmaß, in dem die Ureterozele lediglich bei Ankunft einer peristaltischen Welle erkennbar ist) Besonderheiten: höherer muskulärer Wandanteil im Vergleich zu anderen Ureterozelen-Formen, Muskulatur überwiegend längsgrichtet Zäkoureterozelen Lage: teilweise im Blasenlumen mit Ausläufer in die Urethra Ostium: Mündung im Blasenlumen Besonderheiten: bei inkompletter Entfernung Gefahr einer Gewebestreifenbildung, die nach Art einer Klappe
die Urethra verschließen kann
28.2.3 Klassifikation nach Schulman Eine etwas vereinfachte, für die klinische Praxis eher geeignete Einteilung nach Schulman ▶ [1304] umfasst 4 Gruppen von Ureterozelen: einfacher Ureter mit intravesikaler Ureterozele einfacher Ureter mit extravesikaler Ureterozele doppelter Ureter mit intravesikaler Ureterozele doppelter Ureter mit extravesikaler Ureterozele
28.3 Embryologie Die Embryologie der Ureterozele ist komplex. Es existieren verschiedene Erklärungsansätze zur Entstehung der Anomalievarianten. Neben einer Persistenz der sog. ChwalleMembran zwischen Ureterknospe und dem Sinus urogenitalis ▶ [1313] mit insuffizienter muskulärer Unterstützung als Voraussetzung für das Aufballonieren des terminalen Harnleiters nimmt Stephens ▶ [1309] die Theorie einer simultanen Wachstumsstimulation von Harnblase und intravesikalem Ureterabschnitt an.
28.4 Epidemiologie In der Literatur wird eine Inzidenz von Ureterozelen bei Kindern zwischen 1:500 und 1:12000 beschrieben ▶ [1296], ▶ [1314]. Prädisponierende Faktoren scheinen zu sein: weiße Hautfarbe
weibliches Geschlecht (Frauen sind bis zu 7× häufiger betroffen als Männer ▶ [1279]) In den meisten Studien stellen ektope Ureterozelen mit bis zu 80% der Fälle die häufigste Form dar. ▶ [1281], ▶ [1309]. Intravesikale Singel-System-Ureterozelen können erworben sein und werden häufiger bei Erwachsenen gefunden als bei Kindern ▶ [1312]. Bei Kindern werden hingegen häufiger ektope Duplex-System-Ureterozelen diagnostiziert. Zudem ist bei ihnen die Obstruktion ( ▶ Abb. 28.2) zudem meist ausgeprägter als bei Erwachsenen ▶ [1301].
Merke Bei Kindern mit ektoper Duplex-System-Ureterozele wird die Diagnose häufig erst gestellt, wenn die obere Doppelniere schon fast funktionslos ist. Ursache für die Funktionsminderung sind dabei eine Dysplasie oder starke Pyelonephrose ▶ [1308].
Massiv dilatierte obere Doppelnierenanteile bei bilateraler Ureterozele eines 3 Monate alten Säuglings. Refluxbedingte Dilatation des unteren Doppelnierenanteils links. Abb. 28.2
28.5 Anamnese und körperliche Untersuchung Merke
Die häufigste klinische Manifestation einer Ureterozele im Kindesalter ist der rezidivierende Harnwegsinfekt bis hin zu einer gramnegativen Sepsis ▶ [1267], ▶ [1290]. Die Symptome der Ureterozele ähneln denen anderer obstruktiver Uropathien: Infektneigung durch die Urinstase in der Zele ▶ [1308] Entwicklungs- und Wachstumsstörungen im Kindesalter unspezifische gastrointestinale Symptome Bildung von Harnsteinen (in der Zele) ▶ [1308] Einengung/Verlegung von Ureter (ipsi-, seltener kontralateral) und Blasenhals Blasenentleerungsstörungen (insbesondere bei ektopen Urozelen) ▶ [1264] Prolaps der Ureterozele ▶ [1278] Inkontinenz (bei Kombination aus großer Ureterozele, Harnwegsinfekten und atonem Blasenhals/unzureichendem Sphinkterschluss) ▶ [1294]
Merke Bei weiblichen Patienten ist eine prolabierte Ureterozele die häufigste Ursache für eine Harnröhrenobstruktion. Bei männlichen Patienten wird dagegen eher die Symptomatik einer posterioren Urethralklappe imitiert ▶ [1282], ▶ [1293]. Die Inzidenz einer Refluxsymptomatik wird in der Literatur wie folgt angegeben: Ein Reflux in den zu der Zele gehörenden Harnleiter wurde in ca. 10–20% der Fälle beschrieben ▶ [1295], ▶ [1305].
50% der Kinder mit ektoper Ureterozele weisen ein Reflux in den ipsilateralen Unterpol oder in die gegenüberliegende Niere auf ▶ [1267]. Nach isolierter Heminephrektomie bleibt der Reflux bei 50% der Patienten bestehen. Als prädiktiver Faktor gelten hierbei pathologische Veränderungen des Hemitrigonums sowie eine lokale Detrusorschwäche: Sind diese vorhanden, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Reflux weiter persisitiert. Bei 20% der Patienten nach isolierter Heminephrektomie tritt ein Reflux neu auf ▶ [1267].
28.6 Bildgebende Diagnostik 28.6.1 Sonografie Bei der Diagnostik der Ureterozele hat sich in den letzten Jahrzehnten die konventionelle sowie farbkodierte Sonografie durchgesetzt. Zuvor war das Urogramm die aufschlussreichste Methode zur Diagnostik der Ureterozele ▶ [1317].
Merke Ureterozelen lassen sich sonografisch meist direkt darstellen. Ein Doppelsystem mit hydronephrotischem Anteil und der meist stark erweiterte Ureter des oberen Pols sind ebenfalls nachweisbar ( ▶ Abb. 28.3). Darüber hinaus können sonografisch sowohl die Wandbeschaffenheit als auch der Inhalt der Zele beurteilt werden. Sonografie. Abb. 28.3
Abb. 28.3a Ureterozele.
Abb. 28.3b : Zugehöriger dilatierter Harnleiter (Kreuz).
28.6.2 Miktionszystourethrogramm Mithilfe des Miktionszystourethrogramms kann eine infravesikale Obstruktion bzw. ein Reflux abgeklärt werden. Das Untersuchungsverfahren ist daher ein wesentlicher Bestandteil der Diagnostik.
Merke Ca. 50% der Patienten mit Duplex-System-Ureterozelen haben einen Reflux in den Doppelnieren-Unterpol ▶ [1267].
28.6.3 Ausscheidungsurogramm Im Falle einer ausreichenden Nierenfunktion auf der betroffenen Seite ist im Urogramm die sog. „KobrakopfDeformität erkennbar. Hierbei handelt es sich um eine typische, kolbenförmige Auftreibung des distalen Harnleiters. Die Ureterozelenwand ist im Vergleich zum stagnierenden Ureterozelenurin strahlendurchlässiger, daher lässt sich die Kobrakopf-Deformität gut abgrenzen. Größere Ureterozelen stellen sich dagegen oftmals als rundliche Kontrastmittelaussparungen in der Blasenregion dar. Der Doppelnieren-Oberpol ist dabei meist erweitert. ( ▶ Abb. 28.2). Bei ektopen Ureterozelen bei Doppelnieren ( ▶ Abb. 28.4) ist die Funktion des kranialen Nierenteils häufig eingeschränkt bis nicht mehr vorhanden ▶ [1305]. Das zeigt sich im Urogramm durch eine fehlende Darstellung des betroffenen Teils. Indirekte Zeichen für einen hydronephrotischen Oberpol sind: AchsenfehlsteIlung der betroffenen Niere Verdrängung des Unterpols nach unten-seitlich
Merke Bei gefüllter Blase ist der meist große Kontrastmittelfüllungsdefekt im Bereich der Ureterozele sichtbar. Differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden müssen Darmgasartefakte, Tumore, Blasensteine und Koagel.
Orthotope Ureterozele bei Duplexsystem mit dysfunktionellem oberem Doppelnierenanteil links. Abb. 28.4
Abb. 28.4a Ausscheidungsurogramm präoperativ.
Abb. 28.4b Postoperatives IVP (intravenöses Pyelogramm) 3 Monate nach simultaner Heminephroureterektomie links mit ipsilateraler Harnleiterneoimplantation in Psoas-HitchTechnik.
28.6.4 Szintigrafie Um die Abflussverhältnisse zu beurteilen und den noch verbliebenen Funktionsanteil des oberen Doppelnierensystems („region of interest“) zu bestimmen, hat sich die MAG3-Szintigrafie etabliert. Man muss hierbei jedoch kritisch anmerken, dass es bei obstruierten Doppelsystemen zu erheblichen Fehleinschätzung der einzelnen Doppelnierenanteile kommen kann ▶ [1272].
28.6.5 Zystoskopie Bei der Zystoskopie im Rahmen der Ureterozelen-Diagnostik müssen zwei Einschränkungen bedacht werden: Zum einen können die makroskopischen ZystoskopieBefunde von Ureterozelen extrem variieren. So können kleine Ureterozelen übersehen werden, da sie durch die Blasenfüllung vollständig komprimiert werden. Sie sind dann lediglich im Rahmen einer peristaltischen Welle erkennbar. Durch sehr große Ureterozelen können dagegen häufig die ispilateralen Ostien nicht identifiziert werden. Zum anderen kann es vorkommen, dass Ureterozelen im Bereich des Blasenhalses oder prolabierte Ureterozelen das Einführen des Zystoskops massiv behindern. Ähnlich wie bei der Katheterisierung besteht hierbei besteht das Risiko Perforation.
28.7 Therapieverfahren 28.7.1 Intravesikale Ureterozelen
Merke Der Grad der Obstruktion ist der ausschlaggebende Faktor für die Indikationsstellung und Wahl des Therapieverfahrens bei orthotopen, intravesikalen Ureterozelen. Die Indikationsstellung lässt sich daher wie folgt ableiten: kleine Single-System-Ureterozelen ohne oder mit nicht relevanten Obstruktion: keine Therapie notwendig Single-System-Ureterozele mit relevanter Obstruktion: Exzision und Harnleiter-Reimplantation in antirefluxiver Technik, bei Bedarf Harnleitermodellage orthotope Duplex-System-Ureterozele mit Destruktion des Oberpolparenchyms: Therapie analog ektopen Ureterozelen (s.u.) Bei Komplikationen oder Begleiterscheinungen sind folgende Verfahren die Therapie der Wahl: Stein innerhalb der Urozele: extrakorporale Stoßwellenlithotrypsie oder endoskopische Schlitzung der Mündung und Steinexktraktion (je nach Steingröße und Ostienweite) Sepsis infolge eines Infekts der Oberpols: perkutane Nephrostomie Ein Großteil (70-80%) der pädiatrischen Patienten benötigt nach endoskopischer Schlitzung keine weitere Intervention ▶ [1272] . Damit es nicht zu einem sekundären vesikouretralen Reflux kommt, sollte das Gewebe nach der Dekompression nicht vollständig entfernt, sondern ein Segel belassen werden. Eine Dekompression des septisch gestauten Harntrakts durch endoskopische Fensterung ist heutzutage nur noch selten indiziert. Die früher angewendeten offenen Verfahren
zu bogenförmiger ▶ [1318] oder longitudinaler ▶ [1287]Inzision der Ureterozele wurden weitestgehend durch endourologische Verfahren abgelöst ▶ [1271], ▶ [1298].
28.7.2 Ektope Ureterozelen 28.7.2.1 Organerhaltendes Verfahren Merke Das Parenchym des oberen Doppelnierenpols hat in den meisten Fällen keine nennenswerte Funktion mehr. Ein organerhaltendes Vorgehen mit isolierter Ureterozelenexstirpation und Harnleiter-Reimplantation ist daher nur selten indiziert. Vates et al. haben gezeigt, dass die Entfernung des Doppelnieren-Oberpols nicht mit einer klinisch relevanten Verschlechterung der Parenchymfunktion einhergeht. So betrug der durchschnittliche Funktionsverlust bei partieller Nephrektomie lediglich 1,25%. Der Erhalt des Oberpols konnte darüber hinaus die Funktion nicht signifikant verbessern (durchschnittlicher Funktionszuwachs: 2,25%) ▶ [1315] . Für den extrem seltenen Fall eines erhaltungswürdigen oberen Doppelnierenanteils sind in der Literatur einzelne erfolgreiche Therapiestrategien beschrieben. Diese beinhalten entweder eine Ureteroureterostomie der beiden Doppelnierenanteile oder eine direkte Ureteropyelostomie des oberen Harnleiters mit dem Nierenbecken des unteren Doppelnierenanteils ▶ [1270], ▶ [1300], ▶ [1302].
28.7.2.2 Therapiekonzepte bei funktionslosem Operpol
Endoskopische Ureterozeleninzision Die endoskopische Behandlung ektoper Ureterozelen wurde in den letzten Jahren in zahlreichen Studien beschreiben ▶ [1268] ▶ [1271], ▶ [1275]. Dennoch gilt die Methode als umstritten, da nach dem Eingriff eine hohes Risiko für persistierende Beschwerden oder Folgeeingriffen besteht: Demnach leiden 50% der Patienten danach an einem ipsilateralen Reflux und bei 70% ist sekundär eine Resektion mit Harnleiter-Reimplantation nötig. Bei 20% ist eine zweiten Inzision im Falle des Nachweises eines Refluxes in den ipsilateralen Unterpolureter oder in die kontralaterale Niere notwendig ▶ [1288].
Merke Zum Zeitpunkt der Ureterozeleninzision ist mit einer nahezu 100%igen Wahrscheinlichkeit eines weiteren Eingriffes zu rechnen ▶ [1286]. Wird ein funktionsloser, nicht refluxiver und harntransportgestörter Doppelnierenanteil belassen, muss langfristig mit Steinbildung, Infektionen oder einer arteriellen Hypertonie gerechnet werden ▶ [1299].
Einzeitige komplette Rekonstruktion Bei der einzeitigen kompletten Rekonstruktion wird der Oberpol samt zugehörigem Harnleiter entfernt (Heminephroureterektomie) und die Ureterozele reseziert. Anschließend wird der Unterpol-Harnleiter in antirefluxiver Technik (Psoas-Hitch) reimplantiert ▶ [1284] . Die Erflogsquoten werden in der Literatur zwischen 85 und 100% angegeben ▶ [1273], ▶ [1306].
Vereinfachter Zugang („simplified approach“) Bei diesem Verfahren handelt es sich im Gegensatz zur kompletten Rekonstruktion lediglich um eine isolierte Heminephroureterektomie mit endoskopischer
Ureterozelendekompression ohne Harnleiter-Reimplantation: Der dilatierte Harnleiter bis in Höhe der Gefäßkreuzungsstelle freipräpariert und mitsamt des zugehörigen Doppelnieren-Oberpols reseziert. Der distale, nicht reflexive Harnleiterstumpf wird offen belassen. Dies gewährleistet eine Dekompression der Zele ▶ [1268]. Ein Vorteil des Verfahrens ist es, dass bestenfalls ein Eingriff auf Blasenebene vermieden wird oder zumindest bessere Voraussetzungen für einen sekundären Eingriff geschaffen werden, wenn das Kind älter ist ▶ [1272]. Ein solcher Zweiteingriff, bei dem die Ureterozele entfernt und der Unterpolharnleiter reimplantiert wird, ist bei 1062% der Patienten erforderlich ▶ [1285], ▶ [1286]. Indikationen hierfür sind: weiterhin bestehender Unterpolreflux neu aufgetretener Unterpolreflux insuffiziente Dekompression der Zele
Merke Je ausgeprägter der Reflux, desto höher ist das Risiko für einen sekundären Eingriff. Liegt kein Reflux vor, beträgt die Zweiteingriffs-Raten zwischen 0 und 18% . Bei niedriggradigem Reflux in einen Harnleiter ist in etwa 40–50% der Fälle ein Zweiteingriff erforderlich, bei höhergradigem Reflux in 100% der Fälle.
Totale Nephroureterektomie Im Falle einer hochgradigen Obstruktion des Operpols oder Reflux des Unterpolharnleiters mit konsekutiver Kompromittierung der Gesamtnierenfunktion ist in Einzelfällen die totale Nephroureterektomie indiziert ▶ [1272].
Laparoskopie In kleinen Serien werden in zunehmendem Maße erfolgreiche laparoskopische/retroperitoneoskopische Techniken bei Kindern beschrieben. Diese sind jedoch trotz der erfolgreichen Entwicklung der laparoskopischen und roboterassistierten Chirurgie in den letzten 10–15 Jahren nicht als Standardverfahren anzusehen ▶ [1276], ▶ [1280], ▶ [1316].
28.8 Schlussbemerkung Mit zunehmender Etablierung der sonografischen Pränataldiagnostik ▶ [1277], ▶ [1297] wird die Diagnose heutzutage häufig noch vor der Geburt gestellt. Vor diesem Hintergrund ist zukünftig mit einer frühzeitigen Beseitigung der Problematik vor Eintreten einer infektionsbedingten Organschädigung zu rechnen.
Quintessenz Ureterozele Definition, Terminologie und Embryologie zystische Dilatation des distalen intravesikalen submukösen Ureters einer oder beider Nieren gebräuchliche Unterscheidung in orthotope und ektope Formen sowie Single- und Duplex-Systeme Einteilung nach Stephens in stenotische, sphinkterische, sphinkterostenotische und Zäkoureterozelen unterschiedliche Theorien zu Embryologie Epidemiologie Kaukasiern häufiger bei Weißen und bei Frauen
leichte Bevorzugung der linken Körperhälfte Kinder: meist ektope Form Typ mit Doppelsystem selten: ektope Form mit Monosystemen Symptomatik Wiederkehrende Harnwegsinfekte Harnröhrenobstruktion bei Mädchen und Frauen Häufig Blasenentleerungsstörungen Diagnostik meist bereits vor der Geburt sonografisch diagnostiziert Sonografie: Darstellung von Ureterozele, hydronephrotischem Oberpol, Oberpolureter Miktionszystourethrogramm: Nachweis subvesikale Obstruktion, Reflux Urogramm: Kobrakopf-Deformität, runde Kontrastmittelaussparungen in der Blasenregion MAG3-Szintigrafie: Beurteilung Abflussverhältnisse, Funktionsanteil des Oberpols Zystoskopie: Cave: praktische und diagnostische Einschränkungen! Therapie intravesikale Ureterozele bei Steinbildung: extrakorporale Stoßwellenlithytrypsie, Schlitzung, Steinextraktion bei Obstruktion: Zelen-Exzision und HarnleiterReimplantation ektope Ureterozele
einfache Exzision und Harnleiter-Reimplantation: selten Endoskopie: hohes Risiko für Folgeeingriffe einzeitige komplette Rekonstruktion (Heminephroureterektomie + Ureterozelenexzision + antirefluxive Harnleiter-Reimplantation) vereinfachter Zugang („simplified approach“): Resektion von Operpol und dilatiertem Harnleiter + Ureterozelendekompression totale Nephroureterektomie: nur in schwerwiegenden Einzelfällen indiziert
28.9 Literatur [1264] Abrahamsson K, Hansson E, Sillen U et al. Bladder dysfunction: an integral part of the ureterocele complex. J Urol 1998; 160: 1468–1470 [1265] Bolduc S, Upadhyay J, Sherman C et al. Histology of upper pole is unaffected by prenatal diagnosis in duplex system ureteroceles. J Urol 2002; 168: 1123–1126 [1266] Brock WA, Kaplan WG. Ectopic ureteroceles in children. J Urol 1978; 119: 800–803 [1267] Caldamone AA, Snyder HM, Duckett JW. Ureteroceles in children: follow-up of management with upper tract approach. J Urol 1984; 131: 1130–1132 [1268] Cendron J, Bonhomme C. 31 cas d'uréter abondement écopique sons sphincterien chez l'enfant du sexe feminin. J Urol Nephrol 1968; 74: 1–30
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29 Unterer Harntrakt K. Kuhlencord, S. Riechardt, M. Fisch
29.1 Einleitung Die häufigste angeborene Anomalie des unteren Harntraktes beim Jungen ist die Hypospadie (1:300 männliche Neugeborene; ▶ [1352]). Sie ist oft mit Kryptorchismus und einem offenen Processus vaginalis assoziiert. Als angeborene Anomalien folgen bezüglich der Häufigkeit ▶ [1390]: die Blasenekstrophie (1:33000 Neugeborene) und die Epispadie (1:42000 Neugeborene). Weitere und seltenere mögliche Erkrankungen der Harnröhre sind: Klappen oder Strikturen, Doppelungen, Divertikel, Megalourethra. Im Bereich der Blase finden sich Divertikel und Urachusanomalien als kongenitale Veränderungen.
29.2 Hypospadie 29.2.1 Definition und Klassifikation
Eine Hypospadie ist ein angeborener Defekt des Penis mit unvollständiger Entwicklung der Harnröhre und des Corpus spongiosum. Es können folgende Pathologien resultieren: Fehlmündung der Harnröhre auf der Ventralseite des Penis, evtl. mit Meatusstenose, Penisschaftverkrümmungen und -torsionen, fehlentwickeltes Corpus spongiosum, dorsale Vorhautschürze mit fehlender Vorhaut ventral. Nach Lokalisation des Meatus wird die Hypospadie in 3 Formen eingeteilt ▶ [1327]: anteriore oder distale (glanduläre, koronare, subkoronare) Form, mittlere (penile) Form, posteriore oder proximale (penile, penoskrotale, skrotale und perineale) Form. Die anterioren Formen sind mit ca. 65–70% die häufigsten ( ▶ Abb. 29.1). Klassifikation der Hypospadie. Abb. 29.1 Hypospadie: anterior=distal, mittlere, posterior=proximal.
Der Schweregrad der Hypospadie wird aber nicht allein durch die Meatuslokalisation definiert. So kann bei
glandulärer Meatusposition durch ein fehlendes Corpus spongiosum und starke Verkrümmung (short Urethra, Hypospadia sine Hypospadia) eine aufwendig zu rekonstruierende Form vorliegen. Die Penisschaftverkrümmung ist häufig durch die fibrös veränderte Buck-Faszie und die Fascia dartos, die sog. Chorda, bedingt; es können aber auch kongenitale Schwellkörperdeformierungen ursächlich sein.
29.2.2 Inzidenz Hypospadien betreffen etwa 0,3–0,7% aller männlichen Neugeborenen ▶ [1364]. Es wurden ansteigende Inzidenzen in Schweden während der 60-er sowie in Norwegen, Dänemark, England und Ungarn während der 70-er Jahre berichtet. In Norwegen und Dänemark setzte sich dieser Trend bis in die 80-er Jahre fort. In den USA hingegen wurden steigende Inzidenzen von 1970 über die 90-er Jahre ▶ [1461] bis 2005 beobachtet ▶ [1412]. Dem stehen Publikationen aus den USA gegenüber, welche diesen Trend zwischen 1992 und 2005 nicht bestätigen konnten ▶ [1362]. Bezüglich der Inzidenz lässt sich in der Literatur auch nach 2005 kein eindeutiger Trend beobachten ▶ [1331].
29.2.3 Embryologie Das äußere Genitale entwickelt sich aus dem Sinus urogenitalis: dem Geschlechtshöcker, den Geschlechtsfalten und den Geschlechtswülsten ( ▶ Abb. 29.2). Der Phallus bildet sich aus dem Genitalhöcker. Mit dem Längenwachstum zieht er die Geschlechtsfalten nach vorne, die an der Spitze des Geschlechtshöckers fusionieren. Der hintere Anteil der Geschlechtswülste verdickt sich und formt die Skrotalwülste.
Sexuelle Differenzierung der äußeren Genitalien. Abb. 29.2
Die Urethra entsteht aus dem medianen Schluss der sekundären Urethralfalten, die sich von perineal nach glandulär schließen. Gleichzeitig bildet sich an der Glans eine Einziehung, die Anschluss an die urethralen Falten findet. Bei der Hypospadie kommt es zu einer Hemmung dieser Urethralfaltenverschmelzung. Ursächlich ist ein intrauteriner Androgenmangel vor der 14. SSW (=Schwangerschaftswoche), welcher später nicht mehr nachweisbar ist ▶ [1328]. Distal vom hypospaden Meatus unterbleibt die Umwandlung des Mesenchyms zum Harnröhrenschwellkörper. Stattdessen
entsteht hier die derbe fibröse Chorda, die zur volaren Penisdeviation führt. Ferner kommt es durch inkomplette ventrale Fusion der Penisschafthaut zur Ausbildung einer dorsalen Vorhautschürze. Die Differenzierung des indifferenten Urogenitaltraktes zum männlichen Phänotypus erfordert 3 Hormone ▶ [1328], ▶ [1440]: Testosteron, 5α-Dihydrotestosteron, die „Müllerian inhibiting Substance“. Die „Müllerian inhibiting Substance“ führt zur Regression der Müller-Gänge, Testosteron stimuliert die Ausbildung der Strukturen des Wolff-Gangs (Nebenhoden, Vas deferens, Samenblase), 5α-Dihydrotestosteron bewirkt die Ausdifferenzierung des Sinus urogenitalis. In all diesen mesodermalen Geweben ist das Enzym 5α-Reduktase nachweisbar. Es wandelt Testosteron in 5αDihydrotestosteron um, das, bei einem hohen endogenen Spiegel, zur physiologischen Ausbildung des äußeren Genitales notwendig ist.
Merke Der Androgenbedarf des äußeren Genitales ist höher als der des inneren Genitales, weshalb Hypospadien meist als isolierte Fehlbildung beobachtet werden.
29.2.4 Ätiologie Die Ätiologie der Hypospadie ist multifaktoriell, jedoch ist das vollständige Verständnis bezüglich der Genese zurzeit unvollkommen. Identifizierte endokrine Ursachen sind
Defekte der Testosteronbiosynthese, 5α-Reduktase-Typ-2Mutationen und Androgenrezeptormutationen ▶ [1436]. Die familiäre Häufung lässt auf polygene Vererbungsfaktoren schließen. Väter von Hypospadiepatienten weisen in 7%, Brüder und Zwillinge in bis zu 14% eine Hypospadie auf ▶ [1330]. Hypospadien können mit einer plazentaren Insuffizienz und einem niedrigen Geburtsgewicht assoziiert sein ▶ [1385]. Daneben spielen Umweltfaktoren und Substanzen, die mit den natürlichen Hormonen interferieren (Eisensupplemente, Rauchen der Mutter, Exposition des Vaters gegenüber Pestiziden) eine Rolle ▶ [1334]. Kinder von Paaren, die mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) und insbesondere mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) gezeugt wurden, weisen eine höhere Inzidenz von Hypospadien auf, jedoch ist die IVF selbst kein Risikofaktor ▶ [1326]. Vielmehr scheinen die ursächlichen Störungen der Infertilität eine Rolle zu spielen ▶ [1347].
29.2.5 Diagnostik Im Rahmen der klinischen Untersuchung können die in der Übersicht genannten Befunde die Position und Weite des Meatus, die Konfiguration der Glans und der Vorhaut, die Beschaffenheit der Urethralplatte, die Lage des Hodens und eine Penisdeviation und Rotation begutachtet werden.
Praxis Klinische Untersuchung bei Hypospadie Position und Weite des Meatus Konfiguration der Glans und der Vorhaut Beschaffenheit der Urethralplatte
Lage des Hodens Penisdeviation und Rotation Schwierig ist die Diagnose einer leichten Verkrümmung (gering ausgebildete Chorda), die nur während der Erektion zu einer ventralen Penisdeviation führt. Eine ausgeprägte Chorda fällt bei der Inspektion des Genitales sofort auf, da der Penis nach ventral gekrümmt ist.
Praxis Zur genauen Beurteilung des Ausmaßes der Gliedverkrümmung sollte bei allen Hypospadien intraoperativ in Narkose unmittelbar vor der Korrektur eine Erektionsprobe durchgeführt werden. Intraoperativ kann mit Hilfe einer Butterflynadel Kochsalz in eines der beiden Corpora cavernosa direkt oder durch die Glans injiziert werden, um eine artifizielle Erektion hervorzurufen. Das Punktieren der Glans verhindert eine Hämatombildung. Auf das Anlegen eines Tourniquets sollte nach Möglichkeit verzichtet werden, die Schwellkörper können manuell gegen das Os pubis komprimiert werden. Bei der skrotalen und perinealen Hypospadie nähert sich das Genitale immer mehr dem weiblichen Phänotypus. Man spricht daher von Pseudohermaphroditismus masculinus. Eine exakte präoperative Abklärung mit Familienanamnese, Hormonstatus und Karyogramm zum Ausschluss chromosomaler Aberrationen ist erforderlich. Die Diagnostik sowie die psychologische Begleitung der Familie und des Kindes sollte, laut der seit 2016 zu diesem Thema vorliegenden S2k-Leitlinie „Varianten der
Geschlechtsentwicklung“, in einem Kompetenzzentrum mit einem multidisziplinären Team erfolgen. Im Miktionszystourethrogramm (MCU) wird nach Resten des Müller-Gangs gesucht, ein kleiner Utriculus prostaticus stellt dabei einen Normalbefund dar. Dieser ist sowohl in der retrograden Urethrografie als auch in der Zystoskopie darstellbar. Bei Fehlen des Anti-Müller-Hormons oder einer entsprechenden Rezeptorenbindung kann es gleichzeitig zur Ausbildung weiblicher Strukturen kommen, wobei sich hier dann ein vergrößerter Utriculus zeigt und sich zusätzlich auch eine Vagina, eine Zervix, ein Uterus und Tuben finden können. Eine weitere invasive Diagnostik ist nur bei pathologischen Befunden indiziert, hierzu gehören: das Genitogramm ( ▶ Abb. 29.3), die Sonografie des Beckens, das MRT und die Laparoskopie. Genitografie bei perinealer Hypospadie. Abb. 29.3
Abb. 29.3a Aufnahme a.p.
Abb. 29.3b Aufnahme seitlich: retrograde Füllung der Harnröhre, dabei ausgehend vom Kollikulus Darstellung eines inneren weiblichen Genitales mit Vagina, Uterus und Tube rechts.
Eine Testosteronbiosynthesestörung (hypergonadotroper Hypogonadismus) kann mit Hilfe der Bestimmung des Hormonstatus und dem hCG-Stimulationstest erfasst werden. Ein 5α-Reduktase-Defekt wird in aus Genitalhautbiopsien gezüchteten Fibroblastenkulturen nachgewiesen ▶ [1384]. Solch ein 5α-Reduktasemangel führt zu einem familiären inkompletten Pseudohermaphroditismus Typ 11 (pseudovaginale
perineoskrotale Hypospadie) mit Mikrophallus, perinealer Hypospadie und beidseitigem Leistenhoden. Moderne molekularbiologische Methoden wie die Polymerasekettenreaktion und die Technik der DNASequenzierung ermöglichen die genaue Analyse des Androgenrezeptors.
29.2.6 Therapie Merke Die Umwandlung bei androgenresistenten männlichen Patienten mit einer hinteren Hypospadie und Mikropenis in ein weibliches Genitale wird derzeit sehr kontrovers diskutiert. Zur Korrektur der Hypospadie sollte zwischen kosmetischer und funktioneller Indikationsstellung unterschieden werden. Eine kosmetische Indikation liegt bei distalen Hypospadien mit ausreichend weitem Meatus ohne Gliedverkrümmung vor ( ▶ Abb. 29.4). Da diese kein funktionelles Defizit zur Folge haben ▶ [1360], ist eine ausführliche Aufklärung der Eltern unabdingbar und ggf. eine minimalinvasive Korrektur (Meatotomie und Zirkumzision/Meatusplastik) aufwendigeren Rekonstruktionen mit nicht zu vernachlässigenden Komplikationsraten vorzuziehen ▶ [1406]. Allerdings spielen kosmetische Aspekte heute eine zunehmend wichtigere Rolle. Koronare Hypospadie. Abb. 29.4 Koronare Hypospadie mit dorsaler Vorhautschürze ohne funktionelles Defizit.
Abb. 29.4a Beim Kind.
Abb. 29.4b Beim Erwachsenen.
Eine funktionelle Indikation besteht bei Meatusstenosen, funktionell wirksamer Gliedverkrümmung und proximalen Hypospadien ( ▶ Abb. 29.5). Die operative Korrektur hat die in der Übersicht zusammengefassten Ziele. Skrotale Hypospadie mit deutlicher Gliedverkrümmung. Abb. 29.5
Praxis Ziele der operativen Korrektur bei Hypospadie Gliedaufrichtung für eine normale Geschlechtsfunktion Harnröhrenrekonstruktion
Glansplastik mit Anlage eines ausreichend weiten Meatus Penisschafthaut- und ggf. Skrotalhautplastik Eine unbedingte Positionierung der Meatusmündung an die Glansspitze wird vor dem Hintergrund der bereits zitierten Arbeiten kontrovers diskutiert ▶ [1360], ▶ [1406]. Auf den steigenden hohen Stellenwert des kosmetischen Aspekts in unserer Gesellschaft wurde schon hingewiesen. Im Folgenden sollen nur die zurzeit am häufigsten eingesetzten Verfahren kurz erläutert werden. Bei über 300 beschriebenen operativen Techniken muss der Anspruch auf Vollständigkeit entfallen.
29.2.6.1 Grundlagen der operativen Technik Alter Während einige Autoren eine frühe Rekonstruktion zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat bevorzugen, propagieren andere eine Korrektur erst ab dem 2. Lebensjahr. Befürworter der frühen Korrektur führen das „psychologische Fenster“ als Argument an ▶ [1430]. Ein signifikanter Nachteil einer Korrektur im höheren Alter in Bezug auf die psychologische Entwicklung konnte in einer anderen Studie nicht gezeigt werden ▶ [1467]. Bei einer Korrektur vor der Pubertät scheint das Alter in Bezug auf mögliche Komplikationen keinen Einfluss zu haben. Entgegen der gängigen Meinung konnte gezeigt werden dass Korrekturen im Erwachsenenalter nicht mit einer höheren Komplikationsrate einhergehen. Snodgrass et al. beschrieben eine Komplikationsrate von 12,5 % bei Erwachsenen und 14% bei Kindern im Rahmen einer ersten Hypospadiekorrektur sowie Komplikationsraten von 26% und 35% im Rahmen einer Reoperation ▶ [1445].
Merke Für einen späteren Zeitpunkt einer Korrektur sprechen bessere anatomische Voraussetzungen bei einem größeren Glied.
Präoperative hormonelle Vorbereitung Eindeutige Empfehlungen können anhand der aktuellen Literatur nicht gegeben werden ▶ [1472], ▶ [1408]. Durch die lokale Applikation von Testosteron oder 5αDihydrotestosteron kann das Wachstum eines Mikropenis stimuliert werden. Dies kann eine Korrektur vereinfachen. Aber auch bei topischer Applikation können androgenspezifische systemische Nebenwirkungen auftreten. Eine lokale Vorbehandlung über 4–6 Wochen empfiehlt sich vor der Korrektur ausgeprägter Hypospadien oder wiederholter Operation.
Instrumentarium und Nahtmaterial Feines Instrumentarium sowie entsprechendes Nahtmaterial sind heute Standard. Die Verwendung von Lupenbrillen hat deutliche Vorteile gezeigt. Eine starke Vergrößerung (3,6– 6,5) hat den Vorteil einer besseren Detaildarstellung, dafür ein eingeschränktes Gesichtsfeld. Lupen mit einer Vergrößerung von 1,5-–2,5 sind ausreichend. Heute wird überwiegend resorbierbares monofiles Nahtmaterial in den Größen 6–0 und 7–0 verwendet und ist geflochtenen Materialien überlegen ▶ [1434].
Anästhesie Eine zusätzliche Kaudalanästhesie kann sowohl die Dosis der intraoperativ verabreichten Narkotika als auch den postoperativen Schmerz reduzieren.
Blutstillung
Tourniquets werden eingesetzt, sind aber nur eingeschränkt zu empfehlen. Auf keinen Fall sollte die Penisschafthaut mitgefasst werden, da es zur venösen Stase und hämorrhagischen Infarzierung der Hautlappen für die spätere Penisschaftdeckung kommen kann. Mit Epinephrin (1:100000) getränkte Tupfer können eingesetzt werden. Die Elektrokoagulation mit bipolaren Sonden vermeidet Gewebenekrosen.
Harnableitung und Verband Diverse Harnableitungen sind beschrieben. Duckett verwendet einen dünnen über die Harnröhre in die Blase platzierten Stent (Dripping Stent) ▶ [1352], andere Autoren nutzen einen transurethralen Blasenkatheter. Alternativ kann der Urin über eine Zystostomie abgeleitet und die rekonstruierte Harnröhre zusätzlich über eine dünne Schiene drainiert werden. Die meisten Autoren verwenden bevorzugt Druckverbände. Als direkte Wundauflage eignen sich nonadhäsive Materialien ( ▶ Abb. 29.6). Der Einfluss auf das postoperative Ergebnis ist nicht geklärt. Grobbelaar et al. ▶ [1372] beobachteten keine Veränderung des chirurgischen Ergebnisses durch die Form der Harnableitung, den Verband oder die verabreichten Schmerzmedikamente. Dagegen beeinflussten patientenbezogene Faktoren wie „Ziehen am Katheter“ und „Manipulationen am Verband“ das Ergebnis negativ. Kompressionsverband. Abb. 29.6 Direkte Wundauflage mit nonadhäsivem Melonin, darüber selbstklebende Binde. Fixation des Verbandes mit Nähten an drei Punkten. Harnröhrenschiene zur Sektretdrainage, Harnableitung über Zystostomie.
29.2.6.2 Korrektur distaler Hypospadien Distale Formen sind selten mit einer Gliedverkrümmung assoziiert. Wenn, handelt es sich dabei um subkoronare Hypospadien mit einer leichten Abknickung der Glans. Zur Korrektur ist eine distale Chordektomie bis auf die Schwellkörperkuppen in der Mehrzahl der Fälle ausreichend ( ▶ Abb. 29.7). Chordektomie bei distaler Hypospadie bis weit unter die Glansbäckchen auf die Schwellkörperkuppen. Abb. 29.7
Zur Korrektur einer glandulären Hypospadie bietet sich als einfachste und komplikationsarme Operationstechnik die
Meatotomie mit Längsinzision und querer Vernähung sowie nachfolgender Zirkumzision der dorsalen Vorhautschürze an. Eine früher häufig angewandte Technik für glanduläre bis subkoronare Hypospadien ist die MAGPI (Meatal Advancement and Glanuloplasty) ▶ [1352]. Vom hypospaden Meatus aus erfolgt eine mediane tiefe Inzision nach distal zur Glansspitze hin. Dadurch wird die Gewebsbrücke, die häufig den Strahl nach unten ablenkt, durchtrennt. Die Längsinzision wird durch Einzelknopfnähte quer verschlossen, wodurch der Meatus weiter nach distal gebracht wird. Die Vorhaut wird knapp unterhalb des Sulcus coronarius unter proximaler Umschneidung des Meatus inzidiert. Die Penishaut wird mobilisiert, der ventrale Anteil des Meatus nach distal zur Glansspitze gezogen. Dadurch gelingt es, den Rand des verbliebenen inneren Vorhautblattes zusammen mit Glansgewebe ventral der Harnröhre mit Matratzennähten zu fixieren. Der Hautverschluss erfolgt anschließend direkt oder, bei Vorliegen eines größeren ventralen Defektes, durch Rotationslappen ( ▶ Abb. 29.8). MAGPI (Meatal Advancement and Glanuloplasty). Abb. 29.8
Abb. 29.8a Tiefe lnzision der Glans vom hypospaden Meatus nach distal.
Abb. 29.8b Queres Vernähen der Längsinzision, dadurch Distalverlagerung des Meatus.
Abb. 29.8c Nach Zirkumzision Ziehen des Meatus nach distal, Vereinigung der ventralen seitlichen Anteile der Glans in der Mittellinie durch Einzelknopfnähte.
Abb. 29.8d Abschließend Verschluss der Zirkumzision; bei ventralem Defekt Hautverschluss durch Rotationslappen.
Duckett u. Snyder (1992) ▶ [1353] publizierten die größte Serie mit 1111 Fällen und exzellenten Ergebnissen mit einer Reoperationsrate von 1,2%. In anderen Serien liegen die Komplikationsraten mit 2,3–5,6% deutlich höher ▶ [1389], ▶ [1417]. Insbesondere im Langzeitverlauf scheint es bei initial koronarer oder subkoronarer Meatusposition zu Meatusretraktionen und damit unbefriedigenden kosmetischen Ergebnissen zu kommen ▶ [1462], weshalb dieses Verfahren allein kaum noch angewandt wird. Um eine Meatusretraktion zu vermeiden, wurden diverse Modifikationen entwickelt und publiziert ▶ [1458], ▶ [1446].
Mathieu-Technik (Flip-Flap-Verfahren) Die Mathieu-Technik ist geeignet für Hypospadien ohne Chorda und gut vaskularisierter ventraler Haut. Aus der ventralen Penishaut wird ein zum Meatus hin gestielter Hautlappen nach proximal umschnitten. Die Länge dieses Lappens ist abhängig von der Distanz des Meatus zur Spitze der Glans. Das gesamte subkutane Gewebe wird am Lappen belassen, um die Durchblutung sicherzustellen. Beiderseits vom Meatus nach distal folgt eine tiefe Inzision der Glans. Der gestielte Hautlappen wird nach distal geklappt. Die Harnröhre wird nun ventral von diesem Hautlappen und dorsal von dem medianen Glansstreifen gebildet. Der Verschluss der Harnröhre erfolgt beiderseits durch fortlaufende Naht, danach werden die seitlichen Glanslappen ventral vor der Harnröhre adaptiert. Der Hautverschluss erfolgt durch Rotationslappen ▶ [1399] ( ▶ Abb. 29.9). Mathieu-Technik (Flip-Flap-Verfahren). Abb. 29.9
Abb. 29.9a Ausschneiden eines gestielten Lappens ventral-proximal. Tiefe Inzision der Glans beidseits bis zum Neomeatus zur Ausbildung eines Harnröhrenstreifens, der den Boden der Neourethra bildet. Zirkumzision.
Abb. 29.9b Umklappen des nach proximal gebildeten Lappens, der jetzt das Dach der Neourethra bildet. Naht beidseits seitlich
Abb. 29.9c Verschluss der beiden seitlichen Glanslappen ventral vor der Neourethra.
Hakim et al. fanden in ihrem Kollektiv von 336 Patienten beim Vergleich von Operationen mit und ohne Harnröhrenschiene Komplikationen in 2,6% und 3,6%, somit keinen signifikanten Unterschied ▶ [1375]. Für eine Primäroperation liegen die Komplikationsraten zwischen 3,9% ▶ [1332] und 14% ▶ [1378]. Einige Autoren berichten über vergleichbare Ergebnisse auch bei sekundären Eingriffen andere über höhere Komplikationsraten bis zu 25,4% ▶ [1378], ▶ [1356]. Zählt man zu den Fisteln hautbezogene Komplikationen hinzu, steigt die Komplikationsrate auf bis zu 33,2% ▶ [1447].
Snodgrass-Technik Zunehmend wurde die Technik nach Mathieu durch die von Snodgrass 1994 beschriebene Technik verdrängt ▶ [1448]. Direkte Vergleichstudien zeigen ähnliche Komplikationsraten, teilweise auch niedrigere Komplikationsraten zugunsten der von Snodgrass entwickelten Technik. Die kosmetischen Ergebnisse werden bei der Snodgrass-Technik jedoch häufig als gleichwertig oder besser eingestuft ▶ [1469], ▶ [1376]. Bei der an der eigenen Klinik durchgeführten Glansplastik wird die Harnröhrenrinne im Bereich der Glans dreieckförmig umschnitten, die Glans bei 12 Uhr tief inzidiert und die Glansbäckchen mobilisiert. Durch Reanastomose der Urethralrinne an die Glanshaut kommt es zu einem Tieferverlagern der Harnröhre in die Glans. Auf eine Adaptation der Glansbäckchen vor der Urethra wird bewusst verzichtet, um Meatusstenosen zu vermeiden ( ▶ Abb. 29.10). Die Komplikationsrate beträgt 3,8%. Glansplastik. Abb. 29.10
Abb. 29.10a Dreieckförmiges Umschneiden der Urethralrinne.
Abb. 29.10b Tiefe Inzision der Glans bei 12 Uhr und Mobilisation der Glansbäckchen.
Abb. 29.10c Reanastomose der Harnröhre mit der Glanshaut, dadurch tiefer Verlagern in die Glans. Es resultiert ein schlitzförmiger, leicht hypospader glandulärer Meatus.
Die von Snodgrass (1994) beschriebene Technik ist eine Modifikation des Verfahrens nach Thiersch-Duplay ▶ [1354], ▶ [1460]. Sie wurde initial zur Korrektur distaler Hypospadien eingesetzt ▶ [1441]. Hierbei wird die Urethralplatte durch zwei parallele Längsinzisionen von der Glans separiert. In der Mittellinie dorsal erfolgt nun die Inzision der Urethralplatte vom hypospaden Meatus bis zur Glansspitze, anschließend wird die Urethralplatte über einen
Katheter tubularisiert. Subkutangewebe wird mobilisiert und gestielt zur Deckung der Harnröhrenrekonstruktion verwendet. Die Glansbäckchen werden vor der Neourethra verschlossen und der Penisschaft wird mit dorsaler Vorhaut gedeckt ( ▶ Abb. 29.11). Snodgrass-Technik. Abb. 29.11
Abb. 29.11a Parallele Längsinzision der Urethralplatte.
Abb. 29.11b Umschneidung der Urethralrinne mit zirkumzidierendem Zugang.
Abb. 29.11c Inzision der Urethralplatte in der Mittellinie dorsal erfolgt vom hypospaden Meatus bis zur Glansspitze.
Abb. 29.11d Tubularisierung der Urethralplatte über einen Katheter.
Abb. 29.11e Subkutangewebe wird mobilisiert und zum Decken der Harnröhrenrekonstruktion verwendet.
Abb. 29.11f Verschluss der Glansbäckchen vor der Neourethra und Decken des Penisschaftes mit dorsaler Vorhaut.
Die initial exzellenten Ergebnisse mit Komplikationsraten von bis maximal 7% ▶ [1444], ▶ [1449] bei entweder kurzem Follow-up oder kleiner Fallzahl stiegen bei den weiteren Publikationen bis auf 15% an ▶ [1382]. Arbeiten mit einem mittleren Follow-up von 2–3 Jahren berichten über Komplikationsraten bis 23% ▶ [1450]. Eine Publikation mit einem höheren Follow-up von 56 Monaten zeigt eine
Komplikationsrate von 7% ▶ [1324]. Am häufigsten tritt eine Meatusstenose auf. Das Risiko kann durch Modifikation der Technik (Inzision nicht bis an die Glansspitze oder eine postoperative Bougierung) gesenkt werden. Für Reeingriffe liegt die Komplikationsrate höher (21,8%) ▶ [1409].
Merke Mittlerweile ist dieses Verfahren die weltweit am häufigsten eingesetzte Technik zur Korrektur distaler Hypospadien ▶ [1448].
29.2.6.3 Korrektur mittlerer Hypospadien Mittlere Hypospadien sind häufiger mit Gliedverkrümmungen assoziiert als distale. Bei den meisten Formen ist zur Begradigung eine ausgedehnte Chordektomie ausreichend. Sollte danach eine Restverkrümmung bestehen, wird diese in Analogie zu den proximalen Hypospadien korrigiert (s.u.). Bei geringen Verkrümmungen kann eine bilaterale dorsale Yachia-Naht (Längsinzison, queres Vernähen der Schwellkörperfaszie) ausreichend sein ▶ [1473]. Zur Harnröhrenrekonstruktion werden gestielte Hautlappen in Onlay-Technik ( ▶ Abb. 29.12) oder das bereits beschriebene Verfahren nach Snodgrass (s.o.) eingesetzt. Gestielte Lappen können entweder aus dem inneren Vorhautblatt, dem äußeren Vorhautblatt oder der Penisschafthaut gewonnen werden. Insellappen-Onlay. Abb. 29.12
Abb. 29.12a Zirkumzision, Inzision der Glans und beidseits der Urethralrinne, die belassen wird.
Abb. 29.12b Bildung eines gestielten Hautlappens aus dem inneren Vorhautblatt, der ventral auf die Urethralrinne aufgenäht wird.
Die Komplikationsraten sind im Vergleich zu den distalen Hypospadiekorrekturen im Schnitt etwas höher und liegen bei bis zu 33% ▶ [1349]. Die häufigste Komplikation stellt
hierbei eine urethrokutane Fistel dar. Zu beachten ist, dass in den meisten Serien proximale Hypospadien, bei denen die Urethralrinne erhalten werden konnte, mit eingeschlossen sind. Alternativ zu den o.g. Verfahren kann ein freies Mundschleimhauttransplantat eingesetzt werden. Die Entnahme der Mundschleimhaut erfolgt von der Unter-/Oberlippe oder der Wangeninnenseite. Haltefäden markieren den Übergang zum Lippenrot. Das Unterspritzen der Mukosa mit einem Lokalanästhetikum und einem Adrenalinzusatz (1:100000) erleichtert die Präparation, minimiert Blutungen und dient der postoperativen Schmerzbekämpfung. Eine möglichst oberflächliche Präparation verhindert spätere Narben mit Funktionseinschränkung ( ▶ Abb. 29.13). Der Defektverschluss an der Wangeninnenseite kann mit resorbierbaren Fäden erfolgen, die Entnahmestelle an der Lippe wird nicht vernäht, da dies zu einer kosmetisch unschönen Einziehung führen kann. Entnahme eines Mundschleimhautlappens für ein freies Transplantat. Abb. 29.13
Abb. 29.13a Markierung der Entnahmestelle und Unterspritzen mit einem Loalanästhetikum plus Adrenalinzusatz.
Abb. 29.13b Möglichst oberflächliche Präparation des Lappens.
Der Mundschleimhautlappen wird bis zur Durchsichtigkeit ausgedünnt und in Onlay-Technik auf die umschnittene Harnröhrenrinne aufgebracht (zwei fortlaufende Nähte). Da es sich um ein freies Transplantat handelt, ist die Deckung der Harnröhrenrekonstruktion ( ▶ Abb. 29.14) mit gut vaskularisiertem Unterhautgewebe insbesondere distal von großer Bedeutung und für den Erfolg entscheidend. Die Komplikationsrate liegt im eigenen Krankengut (n=65) bei 20%, dies beinhaltet auch proximale Hypospadien ohne fehlgeschlagene Hypospadiekorrekturen. Aufbringen des freien Mundschleimhauttransplantates. Abb. 29.14
Abb. 29.14a Aufbringen des freien Mundschleimhauttransplantates auf die Hautrinne (Mukosa innen).
Abb. 29.14b Fortlaufende Anastomose.
Abb. 29.14c Decken der Harnröhrenrekonstruktion mit gut vaskularisiertem Subkutangewebe.
Alternativ nutzen einige Autoren ein Inlay aus Mundschleimhaut oder Vorhaut als sog. Snodgraft ▶ [1379], ▶ [1435].
29.2.6.4 Korrektur proximaler Hypospadien Ausgeprägte Hypospadien machen meistens eine Gliedaufrichtung und eine Harnröhrenrekonstruktion erforderlich. Eine Gliedaufrichtung wird durch Chordektomie, ggf. in Kombination mit einem dorsalen Plikationsverfahren der Schwellkörper erreicht. Zur Harnröhrenrekonstruktion konkurrieren einzeitige mit zweizeitigen Verfahren, d.h. Tubustechniken mit OnlayTechniken und gestielte Transplantate mit freien. OnlayTechniken scheinen eine vergleichbare bzw. niedrigere Komplikationsrate zu haben als „Tubes“ ▶ [1349], bedeuten aber bei Nichterhalt der Urethralrinne ein zweizeitiges Vorgehen. In einer von Markiewicz (2007) durchgeführten Metaanalyse zeigte sich ein signifikanter Unterschied der durchschnittlichen Erfolgsrate eines MundschleimhautInlays im Vergleich (52,7%) zu einem MundschleimhautOnlay (80,4%). Auch die von Snodgrass beschriebene Technik wird heute bei proximalen Formen eingesetzt. Einigkeit herrscht über die in der Übersicht zusammengefassten Prinzipien.
Praxis Prinzipien der OP-Technik zur Korrektur proximaler Hypospadien haartragende Hautanteile sollten zur Rekonstruktion nicht verwendet werden, die Urethralrinne sollte nach Möglichkeit erhalten werden, das freie Blasenschleimhauttransplantat sollte wegen hoher Komplikationsraten und seiner Invasivität nicht
mehr eingesetzt werden.
Gliedaufrichtung Bei einem Großteil der proximalen Hypospadien findet sich distal des hypospaden Meatus, dorsal und lateral der Urethralrinne eine Chorda, d.h. eine derbe bindegewebige Platte, die aus einer Fehlbildung des Corpus spongiosum, aber auch der Buck- und Colles-Faszie entsteht. Sie sollte komplett exzidiert werden, wobei die Chordektomie sich bis auf die Schwellkörperkuppen erstrecken kann. Die laterale Grenze ist meistens unscharf; die Präparation muss bis in das normale Gewebe erfolgen. Zugang ist eine zirkuläre Inzision knapp proximal des Sulcus coronarius unter Umschneidung der Urethralrinne und des hypospaden Meatus. Trägt die Harnröhrenrinne zur Gliedverkrümmung bei, wird sie durchtrennt. Zur Korrektur einer kongenitalen Schwellkörperverkrümmung stehen verschiedene Techniken zur Verfügung: eine einfache dorsale Plikatur mittels Nähten ▶ [1329], eine Rotation der Schwellkörper gegeneinander ▶ [1393] oder Modifikationen der von Nesbit (1965) beschriebenen Technik ▶ [1339]. Bei Letzterer werden nach Präparation sowie Anzügeln des dorsalen Nerven-Gefäß-Bündels zwei quere Ellipsen exzidiert und der Defekt durch Einzelknopfnähte mit resorbierbarem Nahtmaterial gerafft. Anstelle einer Exzision kann auch eine zweifache quere Inzision mit Versenken des dazwischen liegenden Schwellkörperanteiles erfolgen ( ▶ Abb. 29.15). Auch die ventrale Inzision mit Einnähen eines Korium-Patches wurde beschrieben. Damit wird zwar eine Verkürzung des Glieds vermieden, allerdings ist aus der
Erwachsenenurologie auch das Risiko einer Impotenz nach diesem Verfahren bekannt. Korrektur einer kongenitalen Penisverkrümmung. Abb. 29.15 Dorsale modifizierte Nähte zur Korrektur einer kongenitalen Penisverkrümmung.
Harnröhrenrekonstruktion Das bekannteste Verfahren zur einzeitigen Korrektur mittels Rohrbildung ist der gestielte Insellappen nach Duckett ▶ [1350]. Nach der Durchtrennung der
Harnröhrenrinne wird im Bereich des inneren Vorhautblattes ein Streifen eingezeichnet und die Haut oberflächlich inzidiert. Die Länge dieses Streifens entspricht dem Harnröhrendefekt, die Breite beträgt 12–15 mm. Die Ebene zwischen dem Gefäßstiel zu diesem Vorhautstreifen und der Penishaut wird vorsichtig präpariert, bis dieser Streifen an einem ausreichend langen Gefäßstiel frei beweglich ist und um den Penis herum an die Ventralseite gebracht werden kann ( ▶ Abb. 29.16). Duckett-Insellappen. Abb. 29.16
Abb. 29.16a Markierung eines Streifens aus dem inneren Vorhautblatt und Hautinzision.
Abb. 29.16b Das zum inneren Vorhautblatt gehörende Bindegewebsblatt wird von der Vorhaut und Penishaut abpräpariert (Gefäßversorgung des Flaps).
Abb. 29.16c Der Streifen wird zum Rohr umgeformt und nach ventral rotiert.
Abb. 29.16d Quere Anastomose mit dem Harnröhrenstumpf.
Alternativ zu dieser Rotation kann durch ein „Knopfloch“ im Gefäßstiel der Penis durchgezogen werden. Es resultiert eine ventrale Position des Vorhautstreifens. Dieser wird über einen 10- bis 12-Charr-Katheter zu einem Rohr verschlossen und an den proximalen Harnröhrenstumpf anastomosiert. Dabei wird die Harnröhre längs inzidiert, sodass eine ovaläre Anastomose resultiert. Wird der Insellappen gegen den Uhrzeigersinn um den Penis rotiert, kann die rechte Seite mit dem Stumpf vernäht werden. Das distale Harnröhrenende wird an der Glansspitze an die Haut anastomosiert. Dies geschieht entweder durch eine Glanstunnelung oder Glanslappentechnik. Die Komplikationsraten größerer Serien in der Literatur liegen zwischen 25% und 47% ▶ [1343], ▶ [1428]. Aufgrund guter Kurzzeitergebnisse wurde die Technik nach Snodgrass zunehmend auch für proximale Hypospadien und Reoperationen eingesetzt. Voraussetzung ist der Erhalt der urethralen Platte. Die Komplikationsraten liegen mit 17,5 % bis 27% deutlich höher als bei der Korrektur distaler Formen ▶ [1342], ▶ [1374]. Snodgrass selbst konnte durch Modifikation der Technik seine initiale Komplikationsrate von 53% auf 25% senken ▶ [1443]. Langzeitergebnisse stehen weiterhin aus. Einzeitige Harnröhrenrekonstruktionen mit Mundschleimhaut in Tubustechnik sind beschrieben, die Komplikationsrate ist aber deutlich höher als bei zweizeitigen Techniken, sodass letzterer der Vorzug gegeben werden sollte ▶ [1319], ▶ [1421]. Bei den zweizeitigen Verfahren erfolgt in einer ersten Sitzung die Penisschaftaufrichtung (Chordektomie, dorsale Plikatur) sowie das Austapezieren des ventralen Penisschaftes mit dorsaler Vorhaut ( ▶ Abb. 29.17). In einer zweiten Sitzung, frühestens 6 Monate später, wird dann die Harnröhrenrekonstruktion durchgeführt.
Zweizeitige Hypospadiekorrektur. Abb. 29.17 Erste Sitzung.
Abb. 29.17a Exzision der Chorda; nach Entfernung des inneren Vorhautblattes paramediane Inzision des äußeren Blattes.
Abb. 29.17b Hautinzision ventral neben dem Meatus.
Abb. 29.17c Rotation des kleineren Lappens, sodass dieser die gesamte Ventralfläche ohne Faltenbildung deckt. Der größere Lappen wird als Depot lateral belassen.
Abb. 29.17d Postoperativer Situs.
In der Vergangenheit wurden überwiegend Modifikationen der von Thiersch-Duplay beschriebenen Technik eingesetzt ▶ [1354], ▶ [1399], ▶ [1460]. Dabei wird die Penisschafthaut ventral vom hypospaden Meatus bis zur Glans umschnitten und über einem Katheter zu einem Rohr geformt ( ▶ Abb. 29.18). Die Meatusplastik kann nach der von Marberger beschriebenen Methode oder einer der anderen im Abschnitt „Korrektur distaler Hypospadien“ beschriebenen Techniken erfolgen ▶ [1399]. Die Komplikationsrate ist geringer als die einzeitiger Verfahren ▶ [1427]. Zweizeitige Hypospadiekorrektur. Abb. 29.18 Zweite Sitzung (modifizierter Thiersch-Duplay).
Abb. 29.18a Präparation eines Hautstreifens distal vom hypospaden Meatus; das seitliche Hautdepot dient der späteren Deckung des Penisschaftes.
Abb. 29.18b Meatusplastik nach Marberger: beidseitig lateral des Streifens wird ein dreieckiges Areal der Glans deepithelialisiert.
Abb. 29.18c Vernähen des Hautstreifens zum Rohr.
Abb. 29.18d Fixation des rotierten Vorhautlappens an der Spitze der beiden deepithelialisierten Dreiecke. Der distale Rand des Rotationslappens wird nach innen umgeschlagen und an die tubularisierte Neourethra fixiert.
Abb. 29.18e Durch diese trichterförmige Einstülpung des Rotationslappens gelangt der Meatus an die Glansspitze.
Die Harnröhrenrekonstruktion im Rahmen der zweiten Sitzung kann auch unter Verwendung von Mundschleimhaut in Onlay-Technik erfolgen. Dabei erfolgt die Umschneidung der aus geschwenkter Vorhaut bestehenden Urethralrinne in identischer Weise. Im Anschluss wird ein ausgedünnter Mundschleimhautlappen aufgebracht (Mukosaseite innen) und mit der Urethralrinne vernäht ( ▶ Abb. 29.19). Die Glansplastik wird in der bereits beschriebenen Weise durchgeführt. Zweizeitige Hypospadiekorrektur. Abb. 29.19 Zweite Sitzung unter Verwendung von Mundschleimhaut in Onlay-Technik.
Abb. 29.19a Umschneidung der aus geschwenkter Penisschafthaut bestehenden Urethralrinne.
Abb. 29.19b Fortlaufende Anastomose des Mundschleimhauttransplantates mit der Urethralrinne.
Merke International ist mit zunehmendem Schweregrad der Hypospadie eine Zunahme der zweizeitigen Verfahren zu verzeichnen ▶ [1448].
29.2.6.5 Fehlgeschlagene Hypospadiekorrekturen Von fehlgeschlagenen Hypospadiekorrekturen spricht man, wenn eine bis mehrere erfolglose Korrekturen zu ungünstigen Voraussetzungen für eine erneute Rekonstruktion geführt haben: deutliche Restverkrümmung/Torsion der Schwellkörper, ausgeprägte Narbenbildung, schlechte Hautverhältnisse.
Merke Die Korrektur ist schwierig und setzt große Erfahrung des Operateurs voraus. Das operative Vorgehen ist an die individuelle Situation angepasst und umfasst häufig mehrzeitige Verfahren. Gute Ergebnisse sind mit dem Einsatz der Mundschleimhaut zur Harnröhrenrekonstruktion beschrieben. Die Komplikationsraten lagen bei 16–36% ▶ [1401], ▶ [1425]. Im eigenen Krankengut liegt die Komplikationsrate bei 30,3% (n=38). Die guten Ergebnisse mit der Mundschleimhaut bestätigen sich auch im Langzeitverlauf. Hensle berichtet über Komplikationsraten von 32% (Follow-up >3 Jahre), Fichtner von 24% (Follow-up >5 Jahre). Die meisten Komplikationen traten innerhalb von 1 Jahr auf ▶ [1380], ▶ [1359].
Steht kein Subkutangewebe zum Decken der Harnröhre mit Mundschleimhaut zur Verfügung, kann man das Glied in Analogie der von Cecil (1952) beschriebenen Technik in das Skrotum eingraben ▶ [1340]. Alternativ kann die Mundschleimhaut nach der Bracka-Technik auch dorsal in einer 1. Sitzung aufgebracht werden und sekundär zu einem Rohr verschlossen werden ▶ [1442]. Die 2. Sitzung erfolgt nach Einheilen des Mundschleimhauttransplantates frühestens 3 Monate später. Als Ultima Ratio steht für Jugendliche und Erwachsene der Einsatz mehrzeitiger Verfahren mit Meshgraft-Techniken zur Verfügung ▶ [1414].
29.2.6.6 Penisschaftdeckung mit Haut Der durch Exzision der Chorda, Streckung und Verlängerung des Penis sowie Rekonstruktion der Harnröhre entstandene Defekt der Penishaut muss gedeckt werden. Das gelingt in der Regel durch Hautlappen aus der verbliebenen Vorhaut. Bewährt haben sich asymmetrische Rotationslappen, da mit dieser Technik vermieden wird, dass zwei Nahtreihen übereinander liegen ( ▶ Abb. 29.20). Zwei symmetrisch aus der Vorhaut geformte Hautlappen können zudem so rotiert werden, dass sie sich ventral in der Mittellinie treffen ▶ [1336] ( ▶ Abb. 29.21). Penisschaftdeckung mit asymmetrischen Hautlappen. Abb. 29.20
Abb. 29.20a Inzision des dorsalen Vorhautblattes paramedian links oder rechts, wobei auf die Gefäßversorgung unbedingt geachtet werden muss.
Abb. 29.20b Rotation des kleineren Lappens nach ventral-distal. Anschließend ventrale Rotation des größeren Lappens.
Abb. 29.20c Fixation der Hautlappen durch Einzelknopfnähte.
Penisschaftdeckung mit asymmetrischen Hautlappen. Abb. 29.21
Abb. 29.21a Inzision des dorsalen Vorhautblattes median.
Abb. 29.21b Rotation beidseits nach ventral, Exzision von überschüssiger Haut und Vereinigung ventral-median.
Abb. 29.21c Verschluss durch Einzelknopfnähte. Nahtreihe median.
Diese Technik führt zu guten kosmetischen Resultaten, hat aber den Nachteil, dass zwei Nahtreihen übereinander liegen, vor allem beim zweizeitigen Vorgehen nach ThierschDuplay. Da bei der Ausbildung des Insellappens aus dem inneren Vorhautblatt sowie den Techniken mit Mundschleimhaut keine zur Deckung benötigte Haut verbraucht wird, gelingt die Deckung unproblematisch. Wenn keine Vorhaut vorhanden ist, können Defekte der Penishaut durch die freie Transplantation von Spalthaut gedeckt werden. Die Einheilungstendenz ist gut, jedoch kann es zur Schrumpfung des Transplantats kommen. Zudem hat das Transplantat keine Oberflächensensibilität.
29.2.6.7 Vermeidung und Korrektur der Komplikationen Fistel Das Auftreten einer Harnröhrenhaut Fistel ist die „typische“ Komplikation der Harnröhrenrekonstruktion, wobei verschiedene Faktoren die Fistelbildung begünstigen. Häufig besteht distal der Fistel eine Harnröhrenstenose, welche in der gleichen Sitzung korrigiert werden sollte. Ein weiterer begünstigender Faktor sind Wundheilungsstörungen aufgrund einer Traumatisierung der Neourethra. Auch lokale Durchblutungsstörungen bei schlecht vaskularisierten Hautlappen können Ursache einer Fistel sein. Dagegen ist die genaue Adaptation und Invertierung des Epithels sekundär. Zur Reduzierung der Fistelrate wird die Naht der Neourethra und der Anastomose beim Insellappen zweischichtig durchgeführt. Nach Verwendung von freien Transplantaten ist die Deckung der Rekonstruktion mit gut vaskularisiertem Gewebe
entscheidend. Auf ein ggf. mehrzeitiges Vorgehen in Extremsituationen wurde bereits verwiesen.
Praxis Vor Miktionsfreigabe sollte nach komplexen Rekonstruktionen eine radiologische Kontrolle erfolgen, um Extravasationen auszuschließen. Bei Nachweis einer solchen verbleibt die suprapubische Zystostomie bis zur nächsten Kontrolle 2 Wochen später offen. Kleine Fisteln können sich durch Belassen der Harnableitung spontan schließen. Ein Komprimieren der Fistel bei Miktion mit dem Finger begünstigt den Verschluss. Eine operative Korrektur der Fistel sollte erst nach einem Intervall von 6 Monaten erfolgen. Hierbei wird die Fistel umschnitten, bis zur Harnröhre präpariert und exzidiert. Der Hautschnitt wird so gewählt, dass anschließend das gesamte Areal durch einen Verschiebelappen der Penishaut gedeckt werden kann. Der Harnröhrendefekt wird invertierend quer verschlossen. Bei größeren Fisteln hat sich ein Tunicavaginalis-Patch als Zwischenschicht bewährt.
Residualchorda Diese heute seltene Komplikation kann durch Narbenresektion ggf. mit einem der beschriebenen dorsalen Plikationsverfahren behoben werden.
Meatusstenose Meatusstenosen treten häufig nach Glanstunellierung oder kompletter Adaptation der Glansbäckchen vor der Neourethra auf. Durch minimal hypospade Meatuspositionierung, wie bei der Technik der Glansplastik beschrieben, lässt sich die Rate an Stenosen deutlich reduzieren. Zur Behebung aufgetretener Stenosen wird in
der Literatur oftmals eine Bougierung empfohlen. Nach eigener Erfahrung ist die Akzeptanz der kleinen Patienten schlecht. Zusätzlich kommt es im Langzeitverlauf häufig zu Rezidiven, sodass eine primäre operative Korrektur vorzuziehen ist; die Ausnahme bilden Meatusverklebungen. Meistens reicht zur operativen Korrektur der Meatusstenose die tiefe dorsale Inzision bei 12 Uhr mit querer Vernähung aus. Die Möglichkeit einer dorsalen Inzision mit Mundschleimhautinlay wurde von Hayes u. Malone (1999) beschrieben ▶ [1379]. Eine Inzision bei 6 Uhr, mit erneuter hypospader Verlagerung des Meatus, ist lediglich in Ausnahmefällen erforderlich.
Harnröhrenstrikturen Sie treten gehäuft an der proximalen Anastomose, besonders nach Tubusverfahren auf. Eine schräge Anastomose verringert das Risiko. Onlay-Techniken zeigen niedrigere Strikturraten. Bei kurzer segelartiger Striktur kann eine interne Urethrotomie erfolgreich sein. Narbige Strikturen bedürfen der operativen Korrektur mit Überbrückung der Stenose durch einen kurzen gestielten Hautlappen oder ein freies Mundschleimhauttransplantat in Onlay-Technik.
Urethraldivertikel Urethraldivertikel sind überwiegend nach Verwendung von Haut zur Harnröhrenrekonstruktion beschrieben, nach Anwenden von Mundschleimhaut wurden sie bisher seltener beobachtet. Verantwortlich ist das fehlende Corpus spongiosum. Ähnlich wie bei einer Fistel muss auch hier primär eine weiter distal gelegene Stenose ausgeschlossen bzw. gleichzeitig korrigiert werden. Größere Divertikel werden exzidiert, wobei Gewebe der Divertikelwand zur Erweiterung einer distal gelegenen Stenose verwendet werden kann.
Hautlappennekrose Nur in Ausnahmefällen kommt es zur totalen Nekrose eines rotierten Hautlappens. Öfter sieht man Nekrosen an den schlecht durchbluteten Spitzen eines solchen Lappens, während das übrige Gewebe unauffällig ist. Entscheidend ist die Qualität des venösen Abflusses; der arterielle Inflow ist immer ausreichend. Im Zweifelsfall ist es besser, schlecht durchblutete Ränder sofort intraoperativ zu exzidieren, da sonst durch die Nekrose solcher Areale auch der restliche Lappen geschädigt werden kann. Postoperativ aufgetretene Nekrosen werden abgetragen, um eine Schädigung der Umgebung zu vermeiden. Es kommt zur Abheilung des Defekts durch Einsprossen von Epithel von der gesunden Randzone aus. Die Deckung mit einem Spalthautlappen ist praktisch nie erforderlich.
29.3 Epispadie-Ekstrophie-Komplex Die Betreuung und operative Therapie dieser seltenen Fehlbildung sollte wenigen, besonders spezialisierten Zentren überlassen werden.
29.3.1 Inzidenz Die Epispadie und die Blasenekstrophie sind sehr seltene Fehlbildungen, die als verschiedene Schweregrade des gleichen embryologischen Defekts erklärt werden können. Relativ gesehen tritt die klassische Ekstrophie am häufigsten auf (Inzidenz 2,1–4,0:100000; ▶ [1355]). Jungen sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen ▶ [1391]. Die schwerste Form dieses Komplexes ist die kloakale Ekstrophie. Sie hat eine Inzidenz von 0,5–1:200000 ▶ [1355]. Die Epispadie tritt etwas häufiger bei Jungen auf (1:117000) und ist bei Mädchen selten (1:484000) ▶ [1348]. Möglicherweise gibt es
eine hohe Dunkelziffer aufgrund einer nicht korrekten Diagnose bei kontinenten Mädchen.
29.3.2 Embryologie Beim 4 mm großen Embryo (3. Woche) ist die Kloake nach ventral von einer zweischichtigen Membran aus Entoderm und Ektoderm begrenzt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Kloakenmembran groß und reicht nach kranial bis zum Nabel, seitlich ist sie vom Mesoderm begrenzt. Durch Einwachsen von Mesoderm von lateral und kranial kommt es in den folgenden 2 Wochen zu einer raschen Verkleinerung der Kloakenmembran, die beim 8 mm großen Embryo nach distal wandert und nach kranial vom Genitalhöcker, seitlich von den Genitalfalten begrenzt ist. Die vordere Bauchwand wird jetzt vom Mesoderm gebildet. Von der Allantois aus wächst das Septum urorectale vor, das den Harntrakt vom Intestinaltrakt trennt. Diese Trennung ist beim 12 mm großen Embryo weitgehend, beim 16 mm großen Embryo (7. Woche) vollständig abgeschlossen. Danach kommt es zum Einreißen der Urogenitalmembran. Die zur Ekstrophie führende Entwicklungsstörung beginnt in der 3. Woche. Es kommt zu keinem oder nur zu einem teilweisen Einwachsen von Mesoderm in die Kloakenmembran, sodass diese weiter den ventralen, infraumbilikären Anteil der Bauchwand bildet. Die seitlichen mesodermalen Genitalhöcker treffen sich also nicht kranial, sondern kaudal der Kloakenmembran in Höhe des Septum urorectale. Dadurch werden wesentliche Entwicklungsschritte behindert. Die Muskulatur des Unterbauchs sowie der vordere Beckenring werden auseinander gehalten, und die Harnröhrenanlage kommt nicht an der Ventral-, sondern an der Dorsalseite des Penis zu liegen. Nach der Trennung des Harntraktes durch das Septum urorectale kommt es zum Einreißen der atypisch
gelegenen Urogenitalmembran und dadurch zur Evertierung der gesamten Blase und Harnröhre ( ▶ Abb. 29.22). Entwicklung der klassischen Ekstrophie. Abb. 29.22 a Die Kloakenmembran kaudal vom Nabel wird nicht durch Mesoderm verstärkt. b Im weiteren Wachstum kommt es deshalb zum Einreißen der Membran, sodass die Blasenanlage eröffnet wird. c Die eröffnete Blasenanlage evertiert und bildet einen Teil der Bauchdecke im Unterbauch.
1. Kloakenmembran 2. Blasenanlage 3. urorektales Septum 4. Darmanlage 5. ekstrophierte Blase 6. Dickdarm
Die Sonderform der kloakalen Ekstrophie resultiert daraus, dass die Kloakenmembran einreißt, bevor es durch das Einwachsen des Septum urorectale zu einer Trennung zwischen Harn- und Intestinaltrakt gekommen ist ( ▶ Abb.
29.23). Die Epispadie entsteht ebenfalls dadurch, dass die beiden seitlichen Genitalhöcker kaudal und nicht kranial der Urogenitalmembran fusionieren. Die vor dem Einreißen verbliebene Urogenitalmembran ist jedoch deutlich kleiner, sodass dementsprechend der Defekt der vorderen Bauchwand geringer ist bzw. ein solcher Defekt überhaupt nicht besteht. Entwicklung der kloakalen Ekstrophie. Abb. 29.23 a Es kommt zum Einreißen der Kloakenmembran, bevor der Intestinaltrakt durch das urorektale Septum abgetrennt wurde. b Eingerissene Kloakenmembran. c Die gesamte Blasen-Darm-Anlage evertiert. Der Darm liegt median und ist beidseits von der Blasenanlage begrenzt.
1. Kloakenmembran 2. Blasenanlage 3. Darmanlage 4. Hemiblase 5. Zäkum
Die zur Ekstrophie führende Störung der Embryogenese konnte experimentell bei Hühnern nachvollzogen werden ▶ [1410]. In einer älteren Untersuchung wurden bei 26 Müttern mit einer Ekstrophie 33 unauffällige Kinder dokumentiert ▶
[1400]. Eine weitere Kohorte ergab 49 gesunde Kinder von 45 betroffenen Müttern ▶ [1344]. Im Gegensatz dazu finden sich in einer Serie von 225 Kindern betroffener Mütter 3 Kinder mit einer Ekstrophie ▶ [1366]. Das Wiederholungsrisiko für Kinder solcher Mütter wird mit 1:70 bis 1:100 angegeben und ist ca. 500-fach größer als in der Normalbevölkerung ▶ [1390], ▶ [1431]. Die intrauterine sonografische Feindiagnostik (fehlende Urinfüllung der Blase, tief inserierende Nabelschnur, Symphysendehiszenz) ermöglicht einen frühzeitigen Schwangerschaftsabbruch und führt z.B. in Ländern wie Frankreich zu einer deutlichen Senkung der Inzidenz.
29.3.3 Blasenekstrophie 29.3.3.1 Symptomatik Jungen Bei der klassischen Ekstrophie bildet die offene Blase als Blasenplatte den mittleren und unteren Anteil des Unterbauchs ( ▶ Abb. 29.24) und geht direkt in die Haut über. Die Ureteren münden mittels kurzem submukösem Tunnel in die Blasenplatte und sind dadurch refluxiv. Der Nabel liegt tief, oft findet sich eine Omphalozele und die Symphyse klafft. Das kaudale Ende des M. rectus abdominis inseriert an normaler Stelle am oberen Schambeinast; aufgrund der Diastase der Symphyse besteht ein muskulärer Defekt im Unterbauch. Häufig finden sich deshalb eine beidseitige Leistenhernie und ein Hodenhochstand. Kranial oberhalb des Nabels treffen sich die Mm. recti. Der Penis ist kurz, breit und nach dorsal gekrümmt. Die Penislänge ist indirekt proportional zur Dehiszenz der Symphyse. Die Vorhaut ist ventral ausgebildet. Zieht man den Penis nach unten, kommt auf der Dorsalseite eine Harnröhrenrinne sowie der Kollikulus zum Vorschein.
Klassische Ekstrophie. Abb. 29.24
Abb. 29.24a Schematische Darstellung.
1. Nabel 2. Blasenplatte 3. Harnleitermündung 4. Penis 5. Skrotum
Abb. 29.24b Klinischer Aspekt.
Mädchen Beim Mädchen findet sich ebenfalls die Blasenplatte. Die Klitoris ist gespalten, die kleinen Labien sind kurz. Der Introitus vaginae ist häufig weiter ventral als normal und eng, manchmal findet sich ein Uterus bicornis. Der obere Harntrakt ist primär unauffällig, und auch die Blasenschleimhaut erscheint normal. Durch den Kontakt mit der Luft, mechanische und chemische Irritationen kommt es aber sehr rasch zu massiven Schleimhautveränderungen bis hin zur Fibrose und Metaplasie. Begleitende zusätzliche Fehlbildungen sind selten.
Kloakale Ekstrophie Bei der schwersten Form, der kloakalen Ekstrophie, ist auch ein Teil des Darms evertiert, der in der Medianen zu liegen kommt und die Blasenplatte in zwei Hälften teilt ( ▶ Abb.
29.25). Im kranialen Anteil dieser evertierten Darmschleimhaut mündet das Ileum, das oft prolabiert. Kaudal ist ein Blindsack zu finden, der der Dickdarmanlage entspricht. Etwa in der Mitte zeigt sich beidseits eine kleine Öffnung, die der Appendix entspricht. Die zwei Blasenhälften können kranial oder kaudal durch eine Brücke aus Blasenschleimhaut verbunden sein; in diesem Anteil hat das Septum urorectale bereits zur partiellen Trennung zwischen Harn- und Intestinaltrakt geführt. Typischerweise findet sich eine große Omphalozele. Beim Jungen ist der Penis in zwei Anteile geteilt, da die Symphyse klafft weit. Auch das Skrotum kann gespalten sein. Bei dieser Form der Ekstrophie ist die Mortalität hoch. Kloakale Ekstrophie. Abb. 29.25
1. Nabelbruch 2. prolabiertes Ileum 3. Hemiblase 4. Appendix 5. Ileozäkum 6. Dickdarm 7. Ureterostium
29.3.3.2 Therapie Primärer Blasenverschluss mit späterer Blasenhalsrekonstruktion. Lange Zeit galt folgende Methode als Standardtherapie: Innerhalb von 24–42 Stunden postpartal erfolgt der primäre Blasenverschluss, mit oder ohne Osteotomie ▶ [1367]. Zu beachten ist, dass eine Osteotomie das Risiko für einen Uterusprolaps nicht zu verringern scheint, jedoch damit ein häufigeres Auftreten von Hüftschmerzen assoziiert ist ▶ [1323], ▶ [1456]. In Abhängigkeit von der Blasenkapazität wird in einer zweiten Sitzung im Alter von 2,5–5 Jahren die Blasenhalsrekonstruktion, bilaterale Harnleiterneueinpflanzung und Epispadiekorrektur durchgeführt ▶ [1366]. Nicht selten werden Folgeoperationen mit Blasenhalsrekonstruktion, Blasenaugmentation und/oder die
Anlage eines Mitrofanoff-Stomas erforderlich, um eine Kontinenz zu erreichen ( ▶ Tab. 29.1 ) ▶ [1365], ▶ [1383], ▶ [1392], ▶ [1402], ▶ [1433], ▶ [1432], ▶ [1457], ▶ [1471]. Tab. 29.1 Ergebnisse nach primärem Blasenverschluss. CIC: clean intermittent catheterisation Autor
Jahr
n
Kontinent CIC (%)
Folgeoperationen Umwandlung in Harnableitung (%)
Mesrobian2
1988
32
37,5
6
–
25
Hollowell1
1991
86
63,2
60,5
82,6
–
Jones
1993
47
49
49
57,5
–
Mollard3
1994
54
69
3,8
55,6
7,4
Woodhouse
1996
32
9,4
18,8
25
59,4
Surer3
2001
68
83
13
–
10,3
Shaw
2004
48
90
81,2
n=33 zusätzliche Augmentation
–
Gargollo
2008
32
n=7: 4 h
100% (davon 40% endoskopisch)
n=1
Shnorhavorian 2008
39
74 4
705
n=6
5
1
CIC/Miktionsintervall >3 h, gelegentliche nächtliche Inkontinenz; 2 3 oder mehr Stunden kontinent, gelegentliche Inkontinenz. 3
Kontinent mit Miktionsintervallen von 3 h.1
4
Kontinent mit Miktionsintervallen von 2 h, 23 Patienten alt genug, um evaluiert zu werden. 5
Kontinenzopertionen bei Patienten im Alter >4 Jahre.
Ein Vergleich der Ergebnisse wird dadurch erschwert, dass Kontinenz von den Autoren unterschiedlich definiert wird ( ▶ Tab. 29.1 ). Auch das subjektive Empfinden der Patienten beim Ausfüllen von Fragebögen spielt hierbei eine Rolle ▶ [1397]. Am häufigsten werden Kontinenzintervalle nach Blasenekstrophie von drei Stunden bereits als Erfolg
eingestuft, eine standardisierte Definition für Kontinenz gibt es jedoch bisher nicht ▶ [1397]. Nach fehlgeschlagenem primärem Verschluss wird der Reverschluss mit Osteotomie empfohlen ▶ [1368]. Die Ergebnisse sind jedoch schlecht, lediglich 60% der Patienten erreichen eine ausreichende Blasenkapazität, die eine Blasenhalsrekonstruktion ermöglicht. Hiervon werden wiederum 50% kontinent. Nach zwei fehlgeschlagenen Verschlüssen erreichen noch 4% eine ausreichende Blasenkapazität, 50% hiervon werden kontinent ▶ [1457]. Auch eine erneute Blasenhalsrekonstruktion nach bereits erfolgter Rekonstruktion erscheint nur bedingt sinnvoll ▶ [1407]. Aufgrund seiner schlechten Ergebnisse bei 30 Patienten fordert Ransley eine Blasenaugmentation in gleicher Sitzung oder anstelle einer erneuten Blasenhalsrekonstruktion einen direkten Blasenhalsverschluss mit katheterisierbarem Stoma ▶ [1335].
Einzeitiges Vorgehen Merke Die von Mitchell publizierte einzeitige Methode (Blasenverschluss und Genitalrekonstruktion in einer Sitzung) hat sich heute weitestgehend durchgesetzt ( ▶ Abb. 29.26), da eine bessere anatomische Korrektur möglich erscheint ▶ [1404]. Sie gehört in die Hand des Erfahrenen, da schwerwiegende Komplikationen wie Verlust der Glans oder der Schwellkörper beschrieben sind ▶ [1386]. Einzeitige Rekonstruktion der Blasenekstrophie nach Mitchell. Abb. 29.26
Abb. 29.26a Fortlaufender Verschluss der Urethralplatte und der Blase als eine Einheit.
Abb. 29.26b Ventralverlagerung der Harnröhre, Tieferverlagern der Blase und Adaptation der Symphysenhälften.
Eine endgültige Evaluation der Technik ist aktuell noch ausstehend. Erste Ergebnisse einer modifizierten Technik zeigen bei 95% der Patienten einen erfolgreichen primären Verschluss, davon mussten 11,5 % chirurgisch revidiert werden ▶ [1411]. Auch wenn Mitchell seine Technik für überlegen einstuft ▶ [1371], sehen andere Autoren zumindest bezogen auf das Wachstum der Blase und die Blasenkapazität keine Unterschiede ▶ [1333]. Für die Misserfolge des primären Verschlusses werden verschiedene Faktoren verantwortlich gemacht. Zum einen
gelingt es nicht, einen kompetenten „natürlichen“ Schließmuskel zu bilden und die Blasenhalsrekonstruktion stellt eine Gratwanderung zwischen Obstruktion und Inkontinenz dar. Zum anderen ist der Detrusor bei der Ekstrophie verändert. Hollowell et al. (1991) wiesen bei 67% der Kinder mit primärem Blasenverschluss autonome Detrusorkontraktionen nach ▶ [1383]. Urodynamische histopathologische Studien sowie pharmakologische Studien unterstützen die Theorie, dass es sich bei der ekstrophen Blase um Reste der Kloake und nicht um eine normale offen liegende Blase handelt ▶ [1396], ▶ [1465].
Primäre Harnableitung Die älteste Form der kontinenten Harnableitung ist die Ureterosigmoidostomie (beschrieben von Simon 1852), die in den 90-erJahren durch die analen Niederdruckreservoire abgelöst wurde ▶ [1363], ▶ [1437]( ▶ Abb. 29.27). Die primäre Harnableitung wird im Alter von 6 Monaten gemeinsam mit der Blasenplattenresektion durchgeführt. Sigma-Rektum-Pouch als primäre Harnableitung bei der Blasenekstrophie. Abb. 29.27 Antimesenteriale Eröffnung des Rektosigmoids und Seit-zu-Seit-Anastomose, dabei Implantation beider Ureteren mittels serös ausgekleidetem Tunnel.
Die Genitalrekonstruktion kann in gleicher Sitzung oder aber zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Während dilatierte Ureteren für die Ureterosigmoidostomie eine Kontraindikation darstellten, gilt dies nicht für anale Niederdruckreservoire, sodass auch nach fehlgeschlagenem primärem Verschluss ein Sigma-Rektum-Pouch angelegt werden kann. Sind die Ureteren deutlich verkürzt und fibrotisch, verbleibt der Ileozökalpouch mit kontinentem Nabelstoma als Harnableitung ▶ [1452]. Bei kleinen Kindern
mit eingeschränkter Nierenfunktion oder verändertem oberem Harntrakt bietet das Kolonconduit als intermediäre Harnableitung eine Option ▶ [1453]. Negative Folgen einer Harnableitung sind ▶ [1419]: metabolische Störungen wie die hyperchlorämische Azidose, die leicht prophylaktisch medikamentös behandelt werden kann, Sekundärmalignome. Aber auch bei unverschlossenen und verschlossenen Blasen sind Adenokarzinome beschrieben ▶ [1416].
29.3.4 Epispadie 29.3.4.1 Inzidenz und Klassifikation Mit einer Inzidenz von 1:42000 ist die inkontinente Epispadie selten ▶ [1390]. Der Übergang von kontinent zu inkontinent ist fließend, wobei nur ca. ein Drittel aller Kinder mit Epispadie eine Kontinenz entwickeln. Entsprechend der Lokalisation des Meatus beim Jungen werden drei Gruppen unterschieden: Epispadia glandis, Epispadia penis, Epispadia pubis. Bei der Epispadia glandis ist die Glans dorsal gespalten, der Meatus findet sich im Bereich des Sulcus coronarius. Es besteht Kontinenz und das Becken ist unauffällig. Bereits bei dieser milden Form ist meist eine dorsale Chorda zu finden, die zu einer Verkrümmung führt. Bei der Epispadia penis ist der Meatus zwischen dem Sulcus coronarius und der Symphyse lokalisiert. Das Präputium ist dorsal gespalten und liegt ventral, der Penis ist durch eine Chorda nach dorsal verkrümmt. Die
Urethralrinne reicht vom Meatus bis zur Glans. Es besteht eine unterschiedlich ausgeprägte Dehiszenz des Symphysenspalts. Die Kontinenz ist oft erhalten ( ▶ Abb. 29.28). Epispadia penis. Abb. 29.28 Kurzer, breiter nach dorsal verkrümmter Penis, ventrale Vorhautschürze, normal entwickeltes, vom Penis abgesetztes Skrotum.
Bei der Epispadia pubis liegt der Meatus im Winkel zwischen Penisschaft und Mons pubis. Es besteht
Inkontinenz und die Symphyse steht weit offen. Der Penis sieht ähnlich aus wie bei einer Blasenekstrophie. Die weibliche Epispadie ist sehr selten. Auch hier können verschiedene Schweregrade vorliegen; am häufigsten ist die Epispadia pubis, die mit totaler Inkontinenz einhergeht. Die Klitoris ist gespalten, und die Labien sind getrennt.
29.3.4.2 Therapie Bei der inkontinenten Epispadie stehen zum Erreichen einer Kontinenz zwei Optionen zur Verfügung: eine Blasenhalsrekonstruktion mit gegebenenfalls weiteren Eingriffen in Analogie zur Blasenekstrophie oder die primäre Harnableitung. Die Genitalrekonstruktion erfolgt bei Jungen und Mädchen je nach gewähltem Konzept entweder in einer Sitzung oder zu einem späteren Zeitpunkt. Bei der kontinenten Epispadie steht die Rekonstruktion des Genitale im Vordergrund.
Genitalrekonstruktion beim Jungen Die modernen Epispadiekorrekturverfahren erfolgen nach Modifikationen der Cantwell-Ransley- oder Mitchell-Technik ▶ [1325], ▶ [1404]. Die Cantwell-Ransley-Technik ermöglicht eine orthotope Lage des Meatus durch eine Inzision und dorsomediale Anastomose der Corpora cavernosa sowie zeitgleicher Verlagerung der distalen Urethralplatte nach ventral. Durch die vollständige Mobilisation der Urethralplatte kann eine Verlagerung der Harnröhre erfolgen, die eine Korrektur der dorsalen Krümmung ermöglicht. Die von Mitchell beschriebenen Technik nutzt das Konzept des „complete Disassembly“ ▶ [1338], ▶ [1404]. Die Urethralplatte wird von den Corpora cavernosa abpräpariert und die Schwellkörper mit den Glanshälften komplett voneinander separiert. Die nach ventral durchgezogene
Harnröhre wird zu einem Rohr vernäht ( ▶ Abb. 29.29) und die Schwellkörper gegeneinander aufgerichtet. Epispadiekorrektur. Abb. 29.29
Abb. 29.29a „Complete Disassembly“, Durchzug der Harnröhre nach ventral.
Abb. 29.29b Anatomisch korrekte Positionierung aller Bestandteile.
Ist die Harnröhre nicht ausreichend lang, kann die Rekonstruktion zweizeitig unter Verwendung von Mundschleimhaut in Analogie zur Technik bei der Hypospadie erfolgen. Die Komplikationsrate liegt bei 11– 30% ▶ [1337], ▶ [1418]. Es sind schwerwiegende Komplikationen mit partiellem oder vollständigem Verlust
der Schwellkörper und/oder der Glans dokumentiert ▶ [1341]. Die erzielten kosmetischen Ergebnisse sind ausgezeichnet und besser als die bisher üblichen Verfahren ▶ [1337], ▶ [1418], ▶ [1475]. Dabei ließen sich bereits mit den früher verwendeten Techniken gute Spätergebnisse erzielen. So berichten Stein et al. über 93% zufriedene Patienten ▶ [1451]. Alle Patienten wiesen Erektionen auf, u. 33 der 45 Erwachsenen gaben an sexuell aktiv zu sein. Nur 2 der 11 Patienten mit persistierender Penisdeviation beschreiben diese als störend, Ähnliches wurde auch von anderen Autoren berichtet ▶ [1403]. Im Rahmen einer Blasenhalsrekonstruktion kann es zu Verletzungen von Ductus deferens/Colliculus seminalis kommen, die häufig erst bei Eintritt in die Pubertät bemerkt werden ▶ [1377]. Zusätzlich können rezidivierende Epididymitiden als Folge von Urethralstrikturen den Hoden und Nebenhoden schädigen. Stein et al. ▶ [1451] berichten über retrograde Ejakulationen bei 85% der Patienten mit Genitalrekonstruktion, von denen keiner eine normale Ejakulation hatte. Dagegen hatten 5 nichtrekonstruierte Patienten normale Ejakulationen. Ähnliches wurde von weiteren Autoren publiziert ▶ [1377], ▶ [1403].
Genitalrekonstruktion beim Mädchen Die Rekonstruktion des äußeren Genitales erfolgt im Rahmen der ersten chirurgischen Intervention. Sie besteht in der Adaptation des Mons pubis und der gespaltenen Klitoris, der Verlängerung der zu kurzen kleinen Schamlippen und in einer minimalen Introitusplastik des Scheideneingangs ( ▶ Abb. 29.30). Diese dient dem besseren Abfluss des Menstrualblutes nach Einsetzen der Regel. Die definitive Introitusplastik erfolgt während oder nach der Pubertät, um einen schmerzfreien Geschlechtsverkehr zu ermöglichen.
Später besteht, bedingt durch die Dehiszenz der Schambeinäste, die Gefahr eines Uterusprolaps. Aus diesem Grund sollte zuvor oder zeitgleich eine Antefixatio uteri ( ▶ Abb. 29.31) durchgeführt werden. Rekonstruktion des äußeren Genitales beim Mädchen. Abb. 29.30
Abb. 29.30a Adaptation des Mons pubis und der Klitoris, Verlängerung der Labia minora nach Mobilisation.
Abb. 29.30b Introitusplastik: Präparation eines U-förmigen Hautlappens und Inzision des Introitus vaginae mit anschließender Fixation der Haut im Introitus.
Antefixatio uteri. Abb. 29.31 Durchzug der distal abgesetzten Ligamenta rotunda durch den M. rectus abdominis und Fixation am Uterus.
29.4 Seltene Harnröhrenanomalien 29.4.1 Atresie, Striktur Eine Atresie der Harnröhre ist mit dem Überleben des Kindes nicht vereinbar. Die Kombination mit einem persistierenden Urachus bildet hierzu theoretisch eine Ausnahme. Eine solche Missbildung ist extrem selten und am ehesten bei einem schweren Prune-Belly-Syndrom zu beobachten ▶ [1351].
Die embryologische Schwachstelle der Harnröhre liegt nach Einreißen der Kloakenmembran an der Verschmelzungsstelle der aus dem Ektoderm der Genitalfalten gebildete bulbären Harnröhre mit der aus dem Entoderm des Sinus urogenitalis gebildeten membranösen Harnröhre. Als Fusionsdefekt kann es an dieser Stelle zur Ausbildung von kongenitalen Harnröhrenstenosen kommen, wobei diese entsprechend der embryologischen Genese meist nur aus einer dünnen Membran bestehen ▶ [1345]. Kongenitale Harnröhrenstenosen sind selten, wesentlich häufiger treten durch iatrogene Läsionen, Entzündung oder Trauma hervorgerufene Stenosen auf. Ein verlässliches Unterscheidungskriterium zu kongenitalen Strikturen ist das Vorliegen von periurethralen Endzündungsreaktionen oder die Fibrose, die eine kongenitale Stenose praktisch ausschließt ▶ [1438].
Merke Von einer angeborenen Stenose ist auch ein angeborenes Divertikel abzugrenzen, das ebenfalls zur Obstruktion führen kann.
29.4.1.1 Symptomatik und Diagnostik Die Symptomatik der angeborenen Harnröhrenstenosen ähnelt der der Harnröhrenklappen. Häufig treten erst in der postpubertären Phase Miktionsbeschwerden, Harnwegsinfekte und Epididymitiden auf ▶ [1388], ▶ [1468]. Die Diagnose wird mittels Miktionszystourethrogramm (MCU) und ggf. mit einer Urethroskopie gesichert. Die distale Ausdehnung lässt sich auch mit einer retrograden Urethrografie erfassen ▶ [1346]. Bei vollständigen Verschlüssen gibt eine kombinierte MCU-/retrograde Untersuchung Informationen über die genaue Länge.
29.4.1.2 Therapie Bei kurzstreckiger Striktur ohne periurethrale Fibrose kann als Therapieversuch ein endoskopisches Verfahren durchgeführt werden. Bei heterogener und monozentrisch erhobener Studienlage zeigte sich jedoch, dass endoskopische Verfahren wie die Dilatation, die Urethrotomia interna oder die Laser-Urethrotomie im Langzeitverlauf meist ineffektiv sind ▶ [1463]. Zur Therapie ausgedehnter Strikturen oder Rezidive sind offene operative Verfahren Methode der Wahl. Kann die dorsale Urethralrinne erhalten werden, kann die Rekonstruktion mittels freiem Mundschleimhauttransplantat erfolgen ▶ [1361]. Bei kompletten, posttraumatischen Strikturen im membranösen Anteil der Harnröhre bietet bei Kindern ein transanaler eine Alternative zum perinealen Zugang, da er potenzerhaltend ist.
29.4.2 Harnröhrendivertikel Die häufigste Lokalisation von angeborenen Harnröhrendivertikeln ist der proximale Teil der penilen Harnröhre. Der Divertikeleingang ist weit. Infolge einer Entwicklungsstörung des ventralen Anteils des Corpus spongiosum wölbt sich das Divertikel in diese Richtung vor, wobei es nur noch von der Tunica albuginea begrenzt wird. Das dorsale Corpus spongiosum ist unauffällig. Die distale Lippe wirkt häufig wie eine Klappe ventilartig obstruktiv, weshalb es progredient zu einer Dilatation des Divertikels kommt. Die Unterscheidung zu echten vorderen Harnröhrenklappen ist schwierig, da die proximale Lippe des Divertikels mit zunehmender Dilatation verstreicht. Vermutlich sind die meisten sog. vorderen Harnröhrenklappen letztendlich als Divertikel anzusehen ▶ [1424]. Die Obstruktion ist meist nicht so ausgeprägt wie bei hinteren Harnröhrenklappen,
kann jedoch auch zu einer Stauung des oberen Harntraktes führen.
29.4.2.1 Kugelförmige Divertikel Kleine kugelförmige Divertikel mit engem Hals werden in der bulbären Harnröhre beobachtet. Diese Divertikel haben eine ähnliche Genese wie die vorher genannten, führen aber nicht zur Obstruktion. Die Urinstase im Divertikel ist Ursache von Infekten oder Steinbildung. Von solchen Divertikeln abzugrenzen sind dilatierte Ausführungsgänge der Cowper-Drüsen, die weiter proximal zu divertikelartigen Erweiterungen im Bereich der bulbären Harnröhre führen ▶ [1398]. Diese zystischen Erweiterungen verursachen keine wesentliche Obstruktion.
29.4.2.2 Angeborene Divertikel der hinteren Harnröhre Diese Divertikel sind eine absolute Rarität. Meistens handelt es sich um einen ausgeprägten Utriculus prostaticus im Rahmen einer hinteren Hypospadie oder eines Intersexes.
29.4.2.3 Anteriore Divertikel Anteriore Divertikel lassen sich im Ultraschall nachweisen ▶ [1370], die Diagnose wird mit dem MCU gesichert. Bei kleineren Divertikeln genügt eine transurethrale Inzision oder Resektion der distalen Lippe ▶ [1476], größere Divertikel werden komplett exzidiert und die Harnröhre rekonstruiert ▶ [1321], ▶ [1373]. In einzelnen Fällen kann es beim akuten Infekt notwendig werden, das Divertikel erst zu marsupialisieren und sekundär die Rekonstruktion vorzunehmen ▶ [1373]. Bei dilatierten Ausführgängen der Cowper-Drüsen genügt die transurethrale Inzision des Daches des erweiterten Drüsengangs, sodass eine operative Exzision vermieden werden kann. Die inkomplette Exzision von angeborenen rektourethralen Fisteln in Verbindung mit
einer hohen Rektumatresie kann zur Ausbildung eines Divertikels führen.
29.4.3 Megalourethra 29.4.3.1 Ätiologie Die Bezeichnung „Megalourethra“ wurde von Nesbit eingeführt ▶ [1413]. Diese Fehlbildung entsteht durch eine Entwicklungsstörung des Corpus spongiosum und der Corpora cavernosa in der 7. SSW. Bei der normalen embryologischen Entwicklung entsteht aus dem vorderen Anteil der Kloake die Harnröhrengrube, die sich zur Harnröhre schließt und sich mit der ektodermalen Einstülpung der glandulären Harnröhre verbindet. Bei der Megalourethra fehlt im Bereich der distalen Harnröhre das Corpus spongiosum, unter Umständen auch das Corpus cavernosum, teilweise oder ganz. Dadurch kommt es zu einer ballonartigen Erweiterung der distalen Harnröhre, ohne dass dafür eine mechanische Obstruktion vorliegen muss. Die fehlende Ausbildung der ventralen Strukturen kann zu einer dorsalen Penisdeviation führen ▶ [1454].
Merke Die Megalourethra muss vom Harnröhrendivertikel abgegrenzt werden, das typischerweise in der proximalen penilen Harnröhre zu finden ist und zu einer deutlichen Obstruktion führt. Entsprechend dem Grad der Ausbildung können zwei Typen unterschieden werden: Die kahnförmige Megalourethra ist häufiger. Dabei fehlt das Corpus spongiosum ganz oder teilweise,
wohingegen das Corpus cavernosum unauffällig ist. Harnröhrenschleimhaut, Penishaut und Buck-Faszie sind histologisch unauffällig. Bei der spindelförmigen Megalourethra besteht zusätzlich auch eine Entwicklungsstörung des Corpus cavernosum. Glans und Fossa navicularis sind normal.
29.4.3.2 Diagnostik Die Diagnose wird heute schon häufig intrauterin gestellt ▶ [1322]. Bei der postpartalen Abklärung sollten eine retrograde Urethrografie und eine Instrumentation der Harnröhre vermieden werden. Vorzuziehen ist hier ein MCU mittels suprapubischer Punktion. Ferner sind begleitende Anomalien des oberen Harntraktes oder syndromale Erkrankungen wie z.B. eine VACTERL-Assoziation oder ein Prune-Belly-Syndrom auszuschließen ▶ [1466].
29.4.3.3 Therapie Das operative Vorgehen erfolgt nach den Prinzipien der Hypospadiekorrektur, wobei die Fehlbildung in der Regel einzeitig korrigiert werden kann. Bei stärker ausgeprägten Formen kann auch ein zweizeitiges Vorgehen mit primärer Marsupialisation und sekundärer Rekonstruktion der Harnröhre notwendig werden ▶ [1423].
29.4.4 Überzählige Harnröhre Die überzählige Urethra ist eine seltene Fehlbildung, die in sehr unterschiedlichen Variationen vorkommen kann ▶ [1426]. Die Embryologie der Genese ist ungeklärt. Es wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt, die jedoch die verschiedenen Formen nicht befriedigend erklären können. Am häufigsten findet sich eine Verdoppelung, mehr als zwei Harnröhren sind Raritäten ▶ [1470].
Merke Die angebotenen Harnröhrenverdoppelungen müssen von iatrogen entstandenen epithelialisierten Fistelgängen bzw. rektourethralen Fisteln bei der Analatresie abgegrenzt werden. Es finden sich sagittale Verdoppelungen, wobei hier zusätzlich eine epispade oder hypospade Anlage beobachtet werden kann. Diese Formen kommen nur bei Jungen vor. Sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen, findet man laterale Verdoppelungen der Harnröhre, wobei das äußere Genitale und die Blase doppelt angelegt sein können.
29.4.4.1 Überzählige epispade Harnröhre Es findet sich fast immer eine normale Harnröhre mit normal gelegenem Meatus externus. Der zweite, epispade Meatus liegt dorsal im Bereich des Penisschaftes ( ▶ Abb. 29.32). Bei ausgeprägten Formen zeigt sich eine deutliche Chorda mit starker dorsaler Penisdeviation, die korrigiert werden muss. Die Symptome variieren entsprechend dem Grad der Ausbildung. Zusätzliche Fehlbildung werden üblicherweise nicht beobachtet. Die Abklärung erfolgt mit retrogradem Urethrozystogramm und Miktionszystourethrogramm. Die Endoskopie ist meist wenig hilfreich, ein MRT ist oft sinnvoller ▶ [1395].
Formen Komplette epispade Duplikatur Die epispade Harnröhre verläuft retrosymphysär und mündet vollständig getrennt in die Blase. Bei der Miktion entleert sich aus dieser Harnröhre ein zweiter Strahl. Eine Inkontinenz ist zu erwarten, eine Weitstellung der Symphyse häufig.
Inkomplette epispade Duplikatur Die epispade Harnröhre mündet vor dem Sphinkter in die normale Harnröhre. Die Miktion erfolgt deshalb mit doppeltem Strahl, es besteht Kontinenz.
Proximal blind endende Duplikatur Diese Form wird am meisten beobachtet. Die epispade Harnröhre endet nach retropubischem Verlauf blind im Bereich zwischen hinterer Harnröhre und Urachus ▶ [1405] ( ▶ Abb. 29.32). Abgesehen von urethralem Ausfluss ist diese Form asymptomatisch. Normale Harnröhre mit unauffälligem Meatus. Abb. 29.32
Abb. 29.32a Der Meatus der epispaden Harnröhre ist dorsal am Penisschaft (Sonde). Dorsal in der Glans kleine, blind endende Grube entsprechend einem angedeuteten epispaden Meatus.
Abb. 29.32b Retrogrades Urethrozystogramm. Die epispade sagittale Doppelung ist unvollständig und endet blind vor der Blase.
Operative Versorgung Der penile Anteil der epispaden Harnröhre liegt direkt subkutan und kann durch einen Längsschnitt oder nach Zirkumzision und Zurückziehen der Vorhaut exzidiert werden. Eine zusätzliche Chorda wird ebenfalls entfernt. Eine möglicherweise auch dann noch bestehende dorsale
Deviation wird durch ventrale Plikation des Corpus cavernosum behandelt. Ein transpubischer Zugang bietet sich an, wenn eine Diastase der Symphyse vorliegt, der suprapubische Zugang wird zur Exzision des supradiaphragmatischen Anteils im Cavum Retzii gewählt.
29.4.4.2 Überzählige hypospade Harnröhre Eine Abortivform dieser Fehlbildung findet sich häufig bei der Hypospadie und ist völlig asymptomatisch. Im Gegensatz zur epispaden Form findet sich hier nur ausnahmsweise eine Chorda, die dann aber eher der Hypospadie zuzuschreiben ist. Die ventral gelegene Harnröhre ist immer die funktionell bessere. Die radiologische Abklärung erfolgt wie bei der epispaden Form.
Formen Komplette hypospade Duplikatur Es handelt sich um eine ausgesprochen seltene Form, welche mit einer Inkontinenz einhergehen kann.
Inkomplette hypospade Duplikatur Die beiden Harnröhren vereinigen sich im Bereich zwischen prostatischer und peniler Harnröhre. Es besteht keine Inkontinenz. Stenosen an der Vereinigungsstelle sind beschrieben.
Y-förmige Duplikatur Die Y-förmige Duplikatur ist eine relativ häufige Sonderform der inkompletten Duplikatur. Der hypospade Meatus liegt perianal, selten auch intraanal. Die an physiologischer Stelle verlaufende Harnröhre ist meistens atretisch und nicht funktionell, sodass die Miktion über die hypospade Harnröhre erfolgt ▶ [1439].
Spindelförmige Duplikatur
Bei dieser sehr selten vorkommenden Sonderform verläuft parallel zu einem Teil der normalen Harnröhre bypassartig eine zweite Harnröhre. Diese Form kann asymptomatisch verlaufen, aber auch zu schwerer Obstruktion führen ▶ [1470].
Abortivform Relativ häufig findet man bei Hypospadien dorsal im Boden der hypospaden Harnröhre einen kurzen, blind endenden Harnröhrenstumpf, dessen Mündung proximal der hypospaden Harnröhre liegt.
Operative Versorgung Praxis Die ventral liegende hypospade Harnröhre ist häufig die funktionell bessere. Sie ist meist mit dem Sphinkter sowie den akzessorischen Drüsen assoziiert, daher sollte sie erhalten werden. Die komplette Exzision des vorderen Teils der dorsal liegenden Harnröhre, ohne die zweite zu beschädigen, kann schwer oder unmöglich sein. Dann ist eine Exzision des Septums zwischen den zwei Harnröhren nach Inzision der ventralen Harnröhre ausreichend. Bei der Versorgung der Y-förmigen Duplikatur sind einzeitige Verfahren mit guten Ergebnissen beschrieben worden ▶ [1422], in Ausnahmefällen muss jedoch eine Kolostomie angelegt werden. Die hypospade Harnröhre wird vom Anus getrennt und in den Bereich des Perineums bzw. Skrotums durchgezogen. Harnröhrendefekte werden nach den Prinzipien der Hypospadiekorrektur rekonstruiert. Mehrzeitige Verfahren sind zeitaufwendig, können aber gute Ergebnisse erzielen ▶ [1439].
Laterale Verdoppelung Laterale Verdoppelungen der Harnröhre sind meistens mit einer Verdoppelung des äußeren Genitales assoziiert. Bei Jungen besteht ein Diphallus ▶ [1464], bei Mädchen ist die Klitoris zweigeteilt; die Harnblase kann durch ein Septum getrennt sein ▶ [1420] oder aber doppelt vorliegen ▶ [1369]. Zusätzlich besteht häufig eine Diastase der Symphyse sowie eine Analatresie.
29.5 Blasendivertikel 29.5.1 Ätiologie Echte angeborene Blasendivertikel sind Ausstülpungen der Blasenwand, wobei der Wandaufbau dem der Harnblase entspricht, die Schichten, insbesondere die Detrusorschicht, aber erheblich dünner ausgebildet sind. Davon abzugrenzen sind die sog. Pseudodivertikel, die einer Vorwölbung der Blasenschleimhaut durch Lücken einer Balkenblase entsprechen. Diese Pseudodivertikel sind Folge einer Obstruktion oder einer neurogenen Blase, sind eher klein und treten multipel auf. Im Gegensatz dazu sind die angeborenen Blasendivertikel meist solitär und Zeichen einer Wandschwäche ohne infravesikale Obstruktion ▶ [1429]. Die genaue Ätiologie ist unklar. Nicht haltbar ist die These, dass Divertikel ausschließlich Folge einer infravesikalen Obstruktion sind ▶ [1381].
Merke Kongenitale Blasendivertikel werden gehäuft bei Syndromen beobachtet, welche mit einer Bindegewebsschwäche
einhergehen, wie z.B. das Ehlers-Danlos-Syndrom ▶ [1320].
29.5.2 Diagnostik Mittels Sonografie können die Lage, die Ausdehnung und der Divertikelhals dargestellt werden. Refluxzystogramm und Zystoskopie schließen sich an. Das MCU schließt eine infravesikale Obstruktion aus, welche zu einer raschen Größenzunahme des Divertikels und konsekutiv zur Verschlechterung der Symptome führen kann.
29.5.3 Symptomatik 29.5.3.1 Paraureterale Divertikel Die Durchtrittsstelle des Harnleiters durch die Blasenwand entspricht einem „Locus minoris resistentiae“, weshalb hier die meisten angeborenen Divertikel beobachtet werden ▶ [1455]. Die typische Lokalisation ist dorsal und lateral vom Ureterostium ▶ [1387]. Häufig ist ein vesikoureteraler Reflux assoziiert. Zystoskopisch sieht man, wie bei zunehmender Blasenfüllung das Divertikel an Größe zunimmt, wobei das Ureterostium in die Wand des Divertikels übergeht. Dies kann auch durch eine Ausstülpung des terminalen Ureters in das Divertikel erklärt werden. Von Uretermündungsdivertikeln spricht man dann, wenn der Ureter direkt in das Divertikel mündet. Die beobachteten Symptome sind vorwiegend Folge eines assoziierten Refluxes. Selten führt ein paraureterales Divertikel durch Kompression zu einer Obstruktion des Harnleiters. Im Extremfall können sehr große Divertikel durch die Verlagerung der hinteren Harnröhre zu einer Harnverhaltung führen ▶ [1477]. Bei bereits im Kleinkindesalter symptomatischen Divertikeln ist daher eher
eine zusätzliche Obstruktion zu erwarten als bei solchen, die auch noch spät asymptomatisch bleiben.
29.5.3.2 Idiopathische Divertikel Das Auftreten solcher Divertikel wird ausschließlich durch eine isolierte Wandschwäche erklärt, eine möglicherweise begleitende Obstruktion ist sekundär. Häufig sind sie sehr lange asymptomatisch. Die typischen Symptome sind Restharn und rezidivierende Infekte. Späte Folge kann ein Divertikelkarzinom sein, das aufgrund der dünnen Wand früh die Organgrenzen überschreitet und daher eine schlechte Prognose hat ▶ [1358]. Divertikel im Bereich des Blasendoms sind häufig Urachusdivertikel, diese können insbesondere auch im Rahmen eines Prune-Belly-Syndroms auftreten.
29.5.4 Therapie Bei Uretermündungsdivertikeln, die mit einem vesikoureteralen Reflux einhergehen, ist eine Antirefluxoperation indiziert, da ein spontanes Ausheilen des Refluxes nicht zu erwarten ist. Kleine paraureterale Divertikel oder Uretermündungsdivertikel können im Rahmen einer Refluxkorrektur nach Lich-Gregoir mitversorgt werden.
Vorsicht Kontraindiziert ist in dieser Situation die Behandlung des Refluxes durch die Injektion von Teflon oder Kollagen. Kontrovers diskutiert wird die Behandlung von idiopathischen Divertikeln. Von einigen Autoren wird grundsätzlich die Exzision gefordert ▶ [1394], während andere die Größe als Kriterium sehen ▶ [1459]. Das
Argument für eine Exzision auch beim asymptomatischen Patienten ist das sicher bestehende Karzinomrisiko ▶ [1358]. Die Exzision kleiner Divertikel ist rasch und einfach durch einen transvesikalen Zugang möglich. Große Divertikel werden extravesikal operiert. Das Ausstopfen des Divertikels oder das Einführen eines großen Ballonkatheters erleichtert die Präparation. Wenn der Harnleiter direkt neben der Divertikelwand verläuft, ist eine Harnleiterneuimplantation oft unvermeidbar. Eine Alternative ist die endoskopische Fulguration der Divertikelschleimhaut in Kombination mit der Resektion des Divertikelhalses ▶ [1415], ▶ [1474]. Liegt eine infravesikale Obstruktion vor, kann diese im Rahmen des endoskopischen Eingriffs mit beseitigt werden. Seit einiger Zeit werden laparoskopische Divertikulektomien durchgeführt, neu hinzugekommen sind robotterassistierte Verfahren ▶ [1357].
Quintessenz Fehlbildungen des unteren Harntraktes Hypospadie Angeborener Defekt mit unvollständiger Entwicklung der Harnröhre und des Corpus spongiosum Betroffen sind 0,3–0,7% aller männlichen Neugeborenen Ursache der Hypospadie: intrauteriner Androgenmangel während der kritischen Phase der Morphogenese der Urethra Ätiologie multifaktoriell, polygene Vererbungsfaktoren Diagnostik: Klinische Untersuchung Genaue Beurteilung durch Erektionsprobe
Bei Pseudohermaphroditismus masculinus: Präoperative Abklärung durch Familienanamnese, Hormonstatus und Karyogramm Operative Therapie: Unterscheidung zwischen kosmetischer und funktioneller Indikationsstellung Ziel der operativen Korrektur: Gliedaufrichtung und Harnröhrenrekonstruktion Operationstechniken Korrektur distaler Hypospadien: Technik nach MAGPI, Mathieu-Technik (Flip-Flap-Verfahren), Glansplastik, Technik nach Snodgrass Korrektur mittlerer Hypospadien: Harnröhrenrekonstruktion in Onlay-Technik, Technik nach Snodgrass, freies Mundschleimhauttransplantat Korrektur proximaler Hypospadien: Gliedaufrichtung und Harnröhrenrekonstruktion Korrektur von „Hypospadiekrüppeln“: Mundschleimhaut zur Harnröhrenrekonstruktion, häufig zweizeitig Penisschaftdeckung mit Haut Komplikationen Fisteln: typische Komplikation der Harnröhrenrekonstruktion Residualchorda Meatusstenose Harnröhrenstrikturen Urethraldivertikel
Hautlappennekrosen Epispadie-Ekstrophie-Komplex Seltene Fehlbildung, verschiedene Schweregrade des gleichen embryologischen Defekts Keinen sicheren Hinweis auf Vererbungsfaktoren Intrauterine Diagnosestellung mittels Ultraschall Blasenekstrophie: Offene Blase bildet als Blasenplatte den mittleren unteren Anteil des Unterbauchs, geht direkt in die Haut über Häufig beidseitige Leistenhernie und Hodenhochstand Schwerste Form: kloakale Ekstrophie (hohe Mortalität) Therapie Primärer Blasenverschluss mit späterer Blasenhalsrekonstruktion Blasenverschluss und Genitalrekonstruktion in einer Sitzung Primäre Harnableitung Epispadie: Fließender Übergang von Kontinenz zu Inkontinenz Unterscheidung nach Lokalisation des Meatus Epispadia glandis, penis, pubis Therapie Blasenhalsrekonstruktion Primäre Harnableitung Seltene Harnröhrenanomalien Atresie, Striktur:
Atresie der Harnröhre mit Leben nicht vereinbar Ausnahme: Kombination mit persistierendem Urachus Symptomatik ähnlich wie bei Harnröhrenklappen Diagnose mittels MCU und Urethroskopie Therapie durch Urethrotomia interna, bei ausgedehnten Strikturen operative Verfahren Harnröhrendivertikel: Häufigste Lokalisation: proximaler Teil der penilen Harnröhre Kleine kugelförmige Divertikel mit engem Hals in bulbärer Harnröhre Angeborene Divertikel der hinteren Harnröhre sind absolute Rarität Nachweis anteriorer Divertikel im Ultraschall Therapie Bei kleineren Divertikeln transurethrale Inzision oder Resektion der distalen Lippe Komplette Exzision größerer Divertikel, Rekonstruktion der Harnröhre Megalourethra: Durch Entwicklungsstörung des Corpus spongiosum und der Corpora cavernosa Unterscheidung in kahnförmige und spindelförmige Megalourethra Diagnose häufig schon intrauterin gestellt, postpartal MCU
Operatives Vorgehen nach Prinzipien der Hypospadiekorrektur Überzählige Harnröhre: Seltene Fehlbildung in sehr verschiedenen Variationen Überzählige epispade Harnröhre Komplette epispade Duplikatur Inkomplette epispade Duplikatur Proximal blind endende Duplikatur Überzählige hypospade Harnröhre Komplette hypospade Duplikatur Inkomplette hypospade Duplikatur Y-förmige Duplikatur Spindelförmige Duplikatur Abortivform Laterale Verdoppelung Blasendivertikel Ausstülpungen der Blasenwand Abgrenzen der Pseudodivertikel: Vorwölbung der Blasenschleimhaut durch Lücken einer Balkenblase Paraureterale Divertikel Typische Lokalisation dorsal und lateral vom Ureterostium Symptome vorwiegend Folge eines assoziierten Refluxes Idiopathische Divertikel Isolierte Wandschwäche
Lange asymptomatisch Therapie Bei Uretermündungsdivertikeln Antirefluxoperation Exzision kleiner Divertikel durch transvesikalen Zugang Große Divertikel: extravesikale Operation
29.6 Literatur [1319] Ahmed S, Gough DC. Buccal mucosal graft for secondary hypospadias repair and urethral replacement. Br J Urol 1997; 80 (2): 328–330 [1320] Alexander RE, Kum JB, Idrees M. Bladder diverticulum: clinicopathologic spectrum in pediatric patients. Pediatr Dev Pathol Off J Soc Pediatr Pathol Paediatr Pathol Soc 2012; 15 (4): 281–285 [1321] Alphs HH, Meeks JJ, Casey JT et al. Surgical reconstruction of the male urethral diverticulum. Urology 2010; 76 (2): 471–475 [1322] Amsalem H, Fitzgerald B, Keating S et al. Congenital megalourethra: prenatal diagnosis and postnatal/autopsy findings in 10 cases. Ultrasound Obstet Gynecol Off J Int Soc Ultrasound Obstet Gynecol 2011; 37 (6): 678–683 [1323] Anusionwu I, Baradaran N, Trock BJ et al. Is pelvic osteotomy associated with lower risk of pelvic organ prolapse in postpubertal females with classic bladder exstrophy? J Urol 2012; 188 (6): 2343–2346 [1324] Aslam R, Campbell K, Wharton S et al. Medium to long term results following single stage Snodgrass
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30 Sexuelle Differenzierung K. Kapelari; frühere Bearbeitung : M. Westenfelder
30.1 Einleitung Das Geschlecht eines Menschen wird durch genetische, hormonelle und psychosoziale Faktoren bestimmt. Auf biologischer Ebene kann man zwischen dem chromosomalen, dem gonadalen und dem phänotypischen Geschlecht unterscheiden. Das chromosomale Geschlecht wird zum Zeitpunkt der Befruchtung durch die Gonosomen (X- oder YChromosom) festgelegt. Ausgehend von einer indifferenten Gonadenanlage erfolgt basierend auf dem chromosomalen Geschlecht durch komplexe genetische Zusammenhänge die Differenzierung in männliche oder weibliche Gonaden, die ihrerseits durch verschiedene Hormone die Entwicklung des Phänotyps steuern ▶ [1496]. Vom Begriff der Geschlechtsdifferenzierung abzugrenzen sind die Begriffe der Geschlechtsrolle und der Geschlechtsidentität, die sowohl durch hormonelle und genetische Faktoren („Priming“) als auch durch soziale und psychische Einflüsse geprägt werden.
30.2 Morphologische Entwicklung des Genitales
30.2.1 Chromosomale und gonadale Geschlechtsentwicklung Das chromosomale oder genetische Geschlecht eines Embryos wird zum Zeitpunkt der Befruchtung durch das in die Eizelle eindringende Spermium festgelegt. Trägt das Spermium ein X-Chromosom, ist das Geschlecht weiblich, im Falle eines Y-Chromosoms männlich determiniert. Dennoch sind das männliche und das weibliche Geschlecht äußerlich und histologisch bis zur 7. SSW nicht zu unterscheiden. Die Anfangsphase der Geschlechtsentwicklung wird daher als sexuell indifferentes Stadium bezeichnet und ist eng mit der Entwicklung des Harntrakts verbunden. Die Zellen, aus denen die Gonaden gebildet werden, stammen aus dem Zölomepithel (Serosa und Mesothel) im Seitenplattenmesoderm und später der Urogenitalfalte, aus dem Mesenchym des intermediären Mesoderms (embryonales Bindegewebe) und den primordialen Keimzellen. Die beiden ersten bilden den somatischen Teil der Gonaden, die primordialen Keimzellen die sog. Keimbahn. Aus dem Zölomepithel entwickeln sich bei weiblichen Individuen die Granulosazellen, bei männlichen Individuen die Sertoli-Zellen ▶ [1489]. Die Entwicklung der indifferenten Gonaden beginnt in der 5. Woche an der medialen Seite der beiden Urnieren (Mesonephroi) mit der Ausformung der Genitalleisten. Mit dem Einwandern der primordialen Keimzellen Ende der 5. Woche lassen sich die primären Keimstränge abgrenzen. Die primordialen Keimzellen oder Urkeimzellen entstehen vermutlich bereits in der 2. Woche mit den Mesodermzellen im Primitivstreifen. Anfang der 4. Woche liegen die Urkeimzellen im Endoderm des Dottersacks und werden mit der Abfaltung des Embryos in den Embryonalkörper einbezogen, gelangen so in den Hinterdarm und wandern
von dort über das Mesoderm in die Genitalleisten ( ▶ Abb. 30.1). Lokalisation und Wanderungsrichtung der sich in der 3. Embryonalwoche an der Innenseite des Dottersackes bildenden Keimzellen. Abb. 30.1 (Quelle: Westenfelder M. Sexuelle Differenzierung. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Bei Vorliegen eines weiblichen Chromosomensatzes entwickelt sich ein Ovar auf zellulärer Ebene durch die Vergrößerung des oberflächlichen Blastemabschnitts zur mit
epitheloiden Keimsträngen gefüllten Rinde, während sich der Übergang zur Urniere zu einem mit Mesenchym gefüllten Mark zurückbildet. Im Gegensatz dazu führt bei männlichem Chromosomensatz die Proliferation der inneren Blastemabschnitte zu Keimsträngen, umgeben von lockerem mesenchymalem Mark, das sie von der rudimentären Rinde trennt. Die Zellen der Urniere differenzieren sich nach Untergang der Urniere selbst zu somatischen Gonadenzellen um. Auf genetischer Ebene sind einige Gene für Erhalt und Wachstum der bipotenten Gonaden verantwortlich, u.a. Empty Spiracles Homeobox 2 (EMX2), GATA-binding Protein 4 (GATA4), Wilms’ Tumor 1 (WT1), LIM homeobox 9 (LHX9), steroidogenic Factor 1 (SF1) ▶ [1497]. EMX2 reguliert direkt oder indirekt die Expression von SF1 und spielt eine Rolle bei der Transition von Epithel zu Mesenchym in den Genitalleisten. Im indifferenten Stadium der Geschlechtsentwicklung wird GATA4 in den undifferenzierten Genitalleisten sowohl von männlichen als auch weiblichen Embryos exprimiert, anschließend wird es in Ovarien downreguliert, während es in Testes von SertoliZellen exprimiert wird ▶ [1495]. GATA4 inhibiert initial die Expression des Wnt4-Gens, das für die weibliche Differenzierung der Gonade von entscheidender Bedeutung ist. WT1 spielt in mehreren Stadien der Geschlechtsentwicklung eine wesentliche Rolle. In den frühen Stadien reguliert es die Expression von SF1, während es später parallel und unabhängig von SRY (Sex determining Region of the Y-Chromosome) die Expression wichtiger Gene für die männliche Differenzierung (SOX8, SOX9) und die Bildung von Anti-Müller-Hormon (AMH) in Sertoli-Zellen
regelt. SF1 spielt sowohl bei der Entwicklung der Keimdrüsen als auch bei der Entwicklung der Nebennieren eine entscheidende Rolle ▶ [1488], ▶ [1491]. Beim sehr seltenen Hermaphroditismus verus entwickelt sich entweder in derselben Gonade ovarielles und testikuläres Gewebe (Ovotestes), oder es findet sich auf einer Seite ein Ovar und gegenüberliegend ein Testikel. Die Entwicklung der Genitalgänge folgt der ipsilateralen Gonade. 70% dieser Individuen weisen einen rein weiblichen Karyotyp auf, 20% ein Mosaik (46,XX/46,XY) und lediglich 10% einen männlichen Karyotyp.
Merke Das männliche und das weibliche Geschlecht sind äußerlich und histologisch bis zur 7. Schwangerschaftswoche (SSW) nicht zu unterscheiden. Die Geschlechtsentwicklung in diesem indifferenten Stadium ist eng mit der Entwicklung des Harntrakts verbunden.
30.2.2 Gemeinsame Genitalentwicklung – indifferente Geschlechtsentwicklung Die Geschlechtsentwicklung ist bei weiblichen und männlichen Embryonen eng mit der Entwicklung der ableitenden Harnwege verbunden. Die bei beiden Geschlechtern paarig angelegten Genitalgänge entwickeln sich aus dem intermediären Mesoderm lateral der Urnieren. Aus den Wolff-Gängen (Ductus mesonephrici, Urnierengänge) entwickeln sich die männlichen ableitenden Genitalwege, aus den Müller-Gängen (Ductus paramesonephrici) die weiblichen Genitalanteile ( ▶ Abb. 30.2). In der 5.–6. Schwangerschaftswoche, also im indifferenten Stadium der Geschlechtsentwicklung, sind
beide Gangsysteme angelegt. Die Ausbildung der MüllerGänge ist von der Existenz der Wolff-Gänge abhängig ▶ [1484]. Entwicklung der inneren Genitalorgane aus der Gonadenanlage, dem MüllerGang, dem Wolff-Gang und dem Sinus urogenitalis. Abb. 30.2 (Quelle: Westenfelder M. Sexuelle Differenzierung. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Aus den primitiven Glomeruli der beiden Urnieren leiten die Wolff-Gänge den Urin ab und münden nach ventromedial in
die laterale Wand des Sinus urogenitalis. Aus dem kaudalen Anteil des Wolff-Gangs, der auch als „Knie des Wolff-Gangs“ bezeichnet wird, entwickelt sich in der 5. Woche die Harnleiterknospe. Unter dem Einfluss von Testosteron entstehen ab der 8. Woche aus den proximalen Anteilen der Wolff-Gänge die Nebenhodengänge (Ductus epididymidis). Aus den weiter kaudal gelegenen Anteilen entwickeln sich Ductus deferens und Ductus ejaculatorius. Bei genetisch weiblichem Geschlecht bilden sich die Urnierengänge fast vollständig zurück, funktionslose Überreste bleiben als Gartner-Gänge erhalten. Neben der fehlenden Androgenstimulation scheint auch ein zwischen der 6. und 9. Woche post conceptionem in Ovarien exprimiertes Gen (R-spondin 1; RSPO1) für die Regression der Wolff-Gänge verantwortlich zu sein. So konnte bei 4 Patientinnen mit rezessivem 46,XX testikulärem DSD (DSD=Disorders of Sex Development) mit komplettem Female-to-Male Sex Reversal eine homozygte Mutationen in diesem Gen nachgewiesen werden ▶ [1492]. In der 7. Woche beginnen sich die Müller-Gänge als trichterförmige Einsenkung im kranialen Abschnitt der Urogenitalleiste durch eine Verdickung des Zölomepithels abzuzeichnen, die später den Ostia abdominalia der Tubae uterinae entsprechen. Die Spitzen der von kranial nach kaudal auswachsenden Müller-Gänge sind mit den WolffGängen von einer gemeinsamen Basalmembran umschlossen und werden erst allmählich durch einwachsendes Mesenchym voneinander getrennt. Gegen Ende der 7. Woche überkreuzen die Müller-Gänge in der späteren Beckenregion die Wolff-Gänge nach ventral und verschmelzen in der Medianebene Y-förmig zum Uterovaginalkanal. Die vereinten Müller-Gänge treffen von dorsal auf die Wand des Sinus urogenitalis (Müller-Hügel). Bei genetisch männlichen Individuen beginnen die SertoliZellen ab der 6.–7. Woche das sog. Anti-Müller-Hormon
(AMH oder Müllerian-inhibiting Substance=MIH) zu produzieren, das zu einer von kranial nach kaudal fortschreitenden apoptotischen Degeneration und epithelialmesenchymalen Umwandlung der Müller-Gänge führt. Genetisch sind SOX8, SOX9, SF1, und GATA4 für die Expression des AMH-Gens in Sertoli-Zellen von entscheidender Bedeutung. Ein weibliches Expressionsmuster von DAX1 hingegen inhibiert die AMHSekretion. In der 3. Woche post conceptionem ist die Kloakenmembran unterhalb des Nabelstranges ausgebildet. Der Genitalhöcker, der Vorläufer des Phallus bzw. der Klitoris, bildet sich oberhalb der Kloakenmembran aus Mesenchym zu Beginn der 4. Woche. Am Ende der 5. Woche bilden sich beidseits kloakale Wülste, die ventral durch den Genitalhöcker begrenzt werden. Im Verlauf der 7. Woche unterteilt das Septum urorectale die kloakale Membran in einen urogenitalen und einen analen Anteil, die etwa eine Woche später einreißen; dann entstehen Anus bzw. das Ostium urogenitale. Die kloakalen Wülste werden ab diesem Zeitpunkt im dorsalen Abschnitt als Analfalten, im ventralen Abschnitt als Urethralfalten bezeichnet. Mit der ventralen Verlängerung der Urethralfalten, zwischen denen sich der Sinus urogenitalis erstreckt, bildet sich die mit Endoderm ausgekleidete Urethralrinne. Lateral der Urethralfalten bilden sich die Genitalwülste aus, die labioskrotalen Vorläufer ( ▶ Abb. 30.3). Entwicklung der äußeren männlichen und weiblichen Genitalorgane aus der gemeinsamen Anlage. Abb. 30.3 Unterschiede sind erst ab der 7. Embryonalwoche erkennbar. (Quelle: Westenfelder M. Sexuelle Differenzierung. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
30.2.3 Männliche Genitalentwicklung Die Bedeutung des Y-Chromosoms für die Entwicklung der primär bipotenten Gonaden zu Testes wurde erstmals 1959 anhand der Beschreibungen von Patienten mit UllrichTurner-Syndrom (45,X0) und Klinefelter-Syndrom (47,XXY) erkannt ▶ [1482], ▶ [1485]. Die Suche nach der entscheidenden Genregion des sog. Testis-determining Factor (TDF) führte 1990 zur Identifikation einer 35-kb-Region am kurzen Arm des YChromosoms benachbart der pseudoautosomalen Region, dem SRY-Gen ▶ [1479], ▶ [1493]. Der Regulationsmechanismus der SRY-Expression in der bipotenten Gonade ist noch nicht restlos geklärt. Eine entscheidende Rolle scheinen hierbei WT1, GATA4 und sein Kofaktor FOG2 (Friend of GATA2) zu spielen, ohne die die SRY-Expression und die Differenzierung der Sertoli-Zellen gestört sind. Dies führt zu einer Gonadendysgenesie und somit zu einer gestörten Geschlechtsentwicklung. Der GATA4/FOG2-Komplex reguliert zudem die Expression von 3 Genen, die für die Androgenbiosynthese erforderlich sind (P450scc, 3β-HSD und P450c17), und spielt bei der Reifung der Leydig-Zellen neben SF1 und DAX1 eine Rolle. Unmittelbar im Anschluss an die Expression von SRY kommt es zu einer vermehrten Expression von SOX9 in SertoliZellen, die auch über die SRY-Expression hinaus erhalten bleibt. Deletäre Mutationen des SOX9-Gens führen zu einem Krankheitsbild mit der Bezeichnung kampomele Dysplasie, das durch ein Male-to-Female Sex Reversal und skelettale Fehlbildungen gekennzeichnet ist ▶ [1483]. Eine SOX9Duplikation in SRY-negativen Individuen führt hingegen zu einem Female-to-Male Sex Reversal. Dies unterstreicht die zentrale Rolle von SOX9 in der Differenzierung einer männlichen Gonade.
Neben SRY und SOX9 sind FGF9 (Fibroblast Growth Factor 9) und DMRT1 (Doublesex and Mab3-related Transcription Factor-1) für die Differenzierung einer männlichen Gonade bedeutend. Mutationen in den Genen dieser Transkriptionsfaktoren wurden bei Patienten mit Gonadendysgenesie und XY-Sex Reversal beschrieben. In etwa um die 6.–7. Woche beginnen die Sertoli-Zellen des fetalen Hodens, AMH zu produzieren, das zur Involution der Müller-Gänge führt. Ungefähr eine Woche später beginnen die Leydig-Zellen Testosteron zu produzieren, das die WolffGänge zur Bildung der männlichen Genitalgänge anregt. Aus jenen Tubuli der Urniere, die dem Hoden anliegen, bilden sich die Ductuli efferentes, die über die Rete testis mit den Tubuli seminiferi verbunden sind, während sich die übrige Urniere zurückbildet. Durch die Bildung einer breiten Bindegewebskapsel, der Tunica albuginea, geht die Verbindung der entstandenen Hodenstränge zum oberflächlichen Serosaepithel verloren. Die Wand der Tubuli seminiferi setzt sich neben den Spermatogonien aus Stützzellen (Sertoli-Zellen) zusammen, die ein Eintreten der Keimzellen in die Prophase der Meiose verhindern. Nach Ablösung des Hodens von dem sich zurückbildenden Mesonephros bildet sich um das Rete testis das Mesorchium. Die Ductuli efferentes münden in den proximalen Anteil des Wolff-Gangs, der zu den Ductus epididymidis differenziert. Die Appendix epididymitis bildet sich aus dem am weitesten kranial gelegenen Wolff-Gang. Jener Abschnitt des WolffGangs distal des Nebenhodens, der eine dicke Schicht glatter Muskulatur enthält, entwickelt sich zum Ductus deferens. Von den distalen Enden der Wolff-Gänge wachsen in der 13. Embryonalwoche die Glandulae vesiculosa (Bläschendrüsen) aus. Die Ductuli ejaculatorii entstehen aus jenen Anteilen der Wolff-Gänge, die zwischen den
Ausführungsgängen dieser Drüsen und der Urethra liegen ( ▶ Abb. 30.2). Die prostatische und membranöse Urethra formieren sich aus dem distalen Anteil des Sinus urogenitalis. In der 10. Embryonalwoche beginnt die Entwicklung der Prostata mit der Ausstülpung zahlreicher endodermaler Epithelknospen in das die Urethralanlage umgebende Mesenchym, verstärkt im Bereich der Ductuli ejaculatorii. Aus den endodermalen Zellen entsteht das Drüsenepithel der Prostata, aus dem Mesenchym das Stroma und die glatte Muskulatur. Aus den paarigen Epithelknospen, die aus der Pars membranacea der Urethra auswachsen, bilden sich die Glandulae bulbourethrales (Cowper-Drüsen). Nach der 10. Woche entstehen aus dem phallischen Anteil des Sinus urogenitalis die bulbäre und penile Urethra ( ▶ Abb. 30.4). Während der Phallus unter dem Einfluss von Testosteron aus den Gonaden wächst, verschmelzen die Urethralfalten, und die Urethralrinne schließt sich von proximal nach distal durch eine ventrale Vereinigung ihrer entodermalen Ränder, während sich das Ektoderm als Raphe verschließt und dazwischen Mesenchym einwächst. Es entsteht so die Pars spongiosa der Urethra. Männliche Genitalorgane (9. Woche). Abb. 30.4 a Der proximale Sinus urogenitalis wird zur Blase, der distale – hormonsensitive – zur proximalen Urethra umgeformt. Distal davon besteht ein weiterer phallischer Anteil, der ventral von der noch verschlossenen Urogenitalmembran abgetrennt ist. b Die Entwicklung der phallischen Strukturen in der angegebenen Schnittebene zeigt, wie aus der endodermalen Urethralplatte die penile Urethra entsteht.
1. Ektoderm 2. Mesoderm 3. Endoderm 4. Sinus urogenitalis
5. Müller-Gang 6. Ureter 7. Wolff-Gang (Quelle: Westenfelder M. Sexuelle Differenzierung. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Von der Glans penis wächst im 4. Monat ein ektodermaler Zellstrang nach proximal in Richtung der Peniswurzel ein (Pars glandularis urethrae) und trifft auf die Pars spongiosa der Urethra ( ▶ Abb. 30.5). Nach Kanalisierung dieses
Zellstrangs und Verschmelzung mit der Pars spongiosa ist Entwicklung der Urethra abgeschlossen, und das Ostium urethrae verlagert sich an die Spitze der Glans penis. Proliferation des Ektoderms. Abb. 30.5 (Quelle: Westenfelder M. Sexuelle Differenzierung. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Die Entwicklung der Corpora cavernosa und des Corpus spongiosum des Penis erfolgt aus dem Mesenchym des Genitalhöckers und der Urethralfalten ( ▶ Abb. 30.3). Von der Corona der Glans penis wächst schließlich in der 12. Woche zirkulär das Ektoderm aus und bildet das Präputium, das mit der Glans verklebt und diese vollständig bedeckt. Individuen mit einer Androgeninsensitivität (AIS, früher als testikuläre Feminisierung bezeichnet) weisen einen weiblichen Phänotyp bei normalem männlichem Karyotyp auf. Die Gonaden entwickeln sich rein männlich, die Virilisierung unterbleibt jedoch aufgrund der fehlenden Androgenwirkung. Die Vagina endet blind, Uterus und
Eileiter fehlen oder sind nur rudimentär angelegt ▶ [1480], ▶ [1481].
Merke Das Schlüsselgen für die männliche Geschlechtsdifferenzierung ist das SRY-Gen. AMH aus SertoliZellen einer männlich differenzierten Gonade unterdrückt die Ausreifung der Müller-Strukturen, während Testosteron aus den Leydig-Zellen die Ausbildung der männlichen Genitalstrukturen aus den Wolff-Gängen stimuliert.
30.2.3.1 Descensus testis Der physiologische Prozess der Verlagerung der männlichen Gonade von seiner ursprünglichen retroperitonealen Lage in das Skrotum ist abhängig von einer normalen, männlichen Differenzierung der Gonade, einer intakten HypothalamusHypophysen-Gonaden-Achse sowie von einer intakten Androgenproduktion und -wirkung. Nach heute gültiger Meinung wird zwischen einer transabdominellen und einer inguinoskrotalen Phase unterschieden. Bis zur 8. Woche sind die Testikel gemeinsam mit den Mesonephroi durch eine breite Mesenterialfalte am Retroperitoneum angeheftet, deren kaudaler Anteil als Lig. genitale caudale bestehen bleibt. In der Leistenregion geht dieses Band in einen mesenchymalen Strang über, der bis in die Genitalwülste zieht und aus dem sich das Gubernaculum testis bildet. Zwischen der 10. und 15. SSW bewirken Androgene eine Involution des kranialen Aufhängungsbandes, und es kommt unter Einfluss von Insulin-ähnlichem Faktor 3 (insl-3) aus Leydig-Zellen (GnRH-unabhängig) zu einer Verdickung des Gubernaculum testis. Dies führt dazu, dass die Gonade während des fetalen Abdominalwachstums am inneren
Leistenring fixiert wird. Die entscheidende Rolle in dieser Phase wird dem insl-3 und seinem Rezeptor LGR-8 (GREAT=G-Protein coupled Receptor affecting testicular Descent), weniger den Androgenen beigemessen ▶ [1487]. Um die 28. SSW beginnt die inguinoskrotale Phase des Deszensus, die hauptsächlich androgenabhängig erfolgt. Die weitere Vergrößerung des Gubernaculum testis führt primär zu einer Erweiterung des Inguinalringes. Gesteuert über Androgene und angetrieben durch den intraabdominellen Druck (Ausbildung des Processus vaginalis) und die einsetzende Involution des Gubernakulums tritt die männliche Gonade durch den Leistenkanal. Nachdem der Hoden den Boden des Skrotums erreicht hat, bildet der distale Teil des Processus vaginalis die Tunica vaginalis testis, während die proximale Verbindung zum Peritoneum involutiert. Unklar in diesem Zusammenhang ist die Rolle der androgenvermittelten Freisetzung von Calcitonin gene-related Peptide (CGRP) aus sensorischen Fasern des N. genitofemoralis. Sowohl ein direkter Einfluss auf das Gubernaculum als auch eine Wirkung über rhythmische Kontraktionen des M. cremaster werden diskutiert.
Merke Normalerweise ist der Descensus testis mit ca. 35 Schwangerschaftswochen abgeschlossen. Bei mehr als 97% der reifen Neugeborenen befindet sich der Hoden im Skrotum. In den ersten 3 Lebensmonaten kommt es häufig noch zu einem spontanen Deszensus bei angeborenem Hodenhochstand, nach dem 1. Lebensjahr nicht mehr. Beide Phasen des Descensus testis sind somit jedenfalls stark abhängig von einer intakten Leydig-Zell-Funktion. Während die transabdominelle Phase hauptsächlich über
insl-3 gesteuert wird, ist die inguinoskrotale Phase überwiegend androgenabhängig. Obliteriert der Processus vaginalis nicht vollständig, können indirekte Leistenhernien und eine Hydrocele funiculi (mittlerer Abschnitt des Prozessus) oder testis (abdominelles Ende des Prozessus) auftreten.
30.2.4 Weibliche Genitalentwicklung Lange Zeit ging man von der Annahme aus, dass die Entwicklung der primär bipotenten Gonade zu einem Ovar immer dann erfolgt, wenn das Y-Chromosom bzw. SRY fehlt. Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre widerlegen jedoch diese Theorie eines „Default-Pathway“ der weiblichen Differenzierung. Neben zahlreichen Genen am X-Chromosom spielen auch einige autosomale Gene eine Rolle bei der Entwicklung der Ovarien. Eine Schlüsselrolle bei der Differenzierung in eine weibliche Gonade kommt dem Wnt4-Gen auf Chromosom 1 zu ▶ [1478], ▶ [1494]. Wnt4 wird initial im Mesenchym im Bereich der Mesonephroi, später exklusiv in mesenchymalen Zellen, die das Epithel der Müller-Gänge umgeben, exprimiert. Es ist essenziell für die Ausbildung der MüllerGänge und die Entwicklung normaler Oozyten und inhibiert die Differenzierung von Vorläuferzellen zu Leydig-Zellen. Zudem antagonisiert die Wnt4-Signalkaskade die Testosteronsynthese in den Nebennieren und den LeydigZellen und somit die männliche Differenzierung. Zusätzlich zu Wnt4 antagonisieren Foxl2 und Rspo1 die Androgensekretion und die männliche Differenzierung der Gonaden. Auch in Abwesenheit von SRY führt ein Funktionsverlust von Wnt4 zur gesteigerten Expression von Sox9 und Fgf9, hinweisend auf eine antagonistische Wirkung der männlichen Differenzierung der Gonaden ▶ [1486].
Rspo1 wird in der frühen Phase der Sexualdifferenzierung, zwischen der 6. und 9. Woche, exprimiert. Mutationen in diesem Gen, die zu einem Funktionsverlust führen, haben ein autosomal-rezessives Female-to-Male Sex Reversal zur Folge. Dax1 (Chromosom Xp21) beeinflusst die Geschlechtsentwicklung beider Geschlechter in dosisabhängiger Weise (DSS=Dosage-sensitive Sex Reversal). Bei genetisch weiblichen Individuen führt ein Funktionsverlust von Dax1 zu einem XX Sex Reversal, bei genetisch männlichen Individuen zu einer angeborenen Nebennierenhypoplasie und einem hypogonadotropen Hypogonadismus vergesellschaftet mit einer Gonadendysgenesie. Duplikationen von Dax1 in genetisch männlichen Individuen führen zu einem XY Sex Reversal. Die Differenzierung der indifferenten Gonade zu Ovarien bei weiblichen Embryonen verläuft später und langsamer als die Differenzierung zu Testes. Erst nach der 10. Woche beginnen sich die Keimstränge zu formieren, nun ist somit auch histologisch ein Ovar von der indifferenten Gonade zu unterscheiden. Die Keimstränge reichen bis in die Markzone und bilden am Übergang zum Mesonephros die Rete ovarii, die sich im weiteren Verlauf wieder vollständig zurückbilden. Ab der 12. Woche proliferieren die Oogonien in den Keimsträngen, treten ab der 13. Woche in die Prophase der Meiose ein und werden damit als primäre Oozyten bezeichnet. Durch Zerfall der Keimstränge bilden sich in der 16. Woche sog. Eiballen und ab der 17. Woche aus diesen einzelne Primordialfollikel, die aus einer Oozyte und einer Hülle aus flachen Follikelepithelzellen bestehen. Diese Follikelepithelzellen sorgen vermutlich dafür, dass die primären Oozyten bis ins Erwachsenenalter in der Prophase der Meiose arretiert bleiben.
Vermehrung und Reifung von Keimzellen laufen in den Schichten der Rinde asynchron ab, und erst Ende des 7. Monats ist die gesamte Rinde homogen mit Primordialfollikeln durchsetzt. Postnatal bilden sich keine Oogonien oder Primordialfollikel mehr. Durch eine dünne Bindegewebskapsel (Tunica albuginea) werden Oberflächenepithel des Ovars und die in der Rinde gelegenen Follikel voneinander getrennt. Mit Rückbildung der Mesonephroi bildet sich eine mesenteriale Aufhängung des Ovars, das Mesovar. Die Entwicklung der weiblichen Genitalwege aus den MüllerGängen verläuft unabhängig von Ovarien und Hormonen, weil AMH fehlt. Die Wolff-Gänge involutieren aufgrund fehlender Androgenstimulation. Aus den nicht fusionierten kranialen Abschnitten der Müller-Gänge entwickeln sich die Eileiter (Tubae uterinae). Der Uterovaginalkanal (Uterus und obere Vagina) entsteht aus den fusionierten Anteilen der Müller-Gänge ( ▶ Abb. 30.6). Myometrium und Stroma des Endometriums entstammen dem Mesenchym der Splanchnopleura. Das Lig. latum, das der peritonealen Aufhängung der verschmolzenen Müller-Gänge entspricht, teilt die Excavatio rectouterina (Douglas-Raum) von der Excavatio vesicouterina. Zwischen den Blättern des Lig. latum proliferiert mesenchymales Gewebe und bildet das aus glatter Muskulatur und lockerem Bindegewebe bestehende Parametrium. Entwicklung von Uterus und Vagina. Abb. 30.6 In der 10. Embryonalwoche verschmelzen die paramesonephrischen (Müller-) Gänge an ihren kaudalen Enden, um einen gemeinsamen Kanal zu bilden, der mit dem verdickten Anteil des dorsalen Sinus urogenitalis (Bulbus sinovaginalis) in Kontakt tritt. Danach entwickelt sich die uterovaginale Platte, die sich zwischen dem 3. und 5. Embryonalmonat elongiert und kanalisiert, um so den unteren Anteil der Scheide zu bilden. (Quelle: Westenfelder M. Sexuelle Differenzierung. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Das Epithel des Sinus urogenitalis proliferiert im Bereich des Müller-Hügels (Einmündung des Uterovaginalkanals) und bildet die Sinuvaginalhöcker, die zusammen mit dem distalen Uterovaginalkanal die Vaginalplatte bilden ( ▶ Abb. 30.6). Erst durch einen Zelluntergang im Zentrum der Vaginalplatte bildet sich das Lumen aus. Das Epithel der Vagina stammt vom Endoderm des Sinus urogenitalis ab, während die fibromuskuläre Wand mesenchymalen Ursprungs ist. Eine Membran zwischen dem Lumen der Vagina und dem Sinus urogenitalis rupturiert normalerweise erst in der Perinatalzeit und bleibt als Schleimhautfalte an der Dorsalseite des Scheideneingangs bestehen (Hymen). Bei einem Hymen imperforatus oder wenn kein durchgehendes Lumen der Vagina entsteht,
kommt es als Komplikation zu einem Hydrokolpos bzw. Hydrometrokolpos. Die Glandulae urethrales und deren Ausführungsgänge (Ductuli paraurthrales oder Skene-Gänge) entsprechen der Prostata bei männlicher Differenzierung und entstehen aus epithelialen Knospen der Urethra, die in das umgebende Mesenchym einwachsen. Die Glandulae vestibulares majores oder Bartholin-Drüsen entsprechen den Cowper-Drüsen bei männlichen Individuen und sprossen aus dem Sinus urogenitalis aus. Die Feminisierung des äußeren Genitale scheint östrogenabhängig zu erfolgen. Aus dem Genitalhöcker entsteht die Klitoris analog zum Penis, jedoch verschmelzen die Urethralfalten nur im dorsalen Abschnitt und bilden das Frenulum labiorum pudendi. Aus den nicht fusionierten Urethralfalten entstehen die Labia minora. Aus den nur ventral und dorsal verschmolzenen Genitalwülsten (vordere und hintere Kommissur) formen sich die Labia majora und der Mons pubis ( ▶ Abb. 30.3).
Merke Entgegen der früheren Annahme handelt es sich bei der weiblichen Differenzierung der Gonade nicht um einen „Default-Pathway“, wenn SRY fehlt. Eine Schlüsselrolle bei der Differenzierung eines Ovars aus der primär indifferenten Gonade kommt dem Wnt4-Gen zu. Die Entwicklung der weiblichen Genitalwege aus den Müller-Gängen verläuft unabhängig von Ovarien und Hormonen, weil AMH fehlt. ▶ Tab. 30.1 fasst bekannte Gendefekte bei Patienten mit Störungen der Geschlechtsentwicklung und deren jeweiligen klinischen Phänotyp zusammen. Tab. 30.1 Beispiele bekannter Gendefekte bei Patienten mit Störungen der
Geschlechtsentwicklung (DSD, Disorders of Sex Development) und deren klinischer Phänotyp (Datenquelle: ▶ [1490]). Gen
Klinischer Phänotyp
Studie (Jahr)
Entwicklung der bipotenten Gonaden Gata4
intersexuelles äußeres Genitale und angeborener Herzfehler
Lourenço et al. (2011); Manuylov et al. (2011); Hu et al. (2013)
Wt1
Denys-Drash-Syndrom Frasier-Syndrom
Kreidberg et al. (1993); Hammes et al. (2001); Gao et al. (2006)
Sf1 (NR5A1)
embryonales testikuläres Regressionssyndrom Gonadendysgenesie
Park et al. (2005); Lin et al. (2007)
SRY-Expression während der initialen Differenzierung Cbx2
XY ovarielles DSD XY Sex Reversal
Biason-Lauber et al. (2009); Katoh-Fukui et al. (2012)
Differenzierung der männlichen Gonaden SRY
Ullrich-Turner-Syndrom Klinefelter-Syndrom XY Sex Reversal
Koopman et al. (1989); Gubbay et al. (1990)
Sox9
kampomele Dysplasie XY Sex Reversal
Foster et al. (1994); Huang et al. (1999); Vidal et al. (2001); Barrionuevo et al. (2006)
Amh
XY Sex Reversal
Belville et al. (1999)
Fgf9
XY Sex Reversal
Kim et al. (2006); Jameson et al. (2012)
Dmrt1
XY Gonadendysgenesie XY Sex Reversal
Matson et al. (2012)
Differenzierung der weiblichen Gonaden Wnt4
intersexuelles Genitale
Jordan et al. (2003); Yao et al. (2004)
Rspo1
palomoplantare Hyperkeratose Hautkarzinome XX Sex Reversal
Parma et al. (2006); Chassot et al. (2008)
Gen
Klinischer Phänotyp
Studie (Jahr)
Foxl2
Blepharophimose-PtoseUhlenhaut et al. (2006); Epikanthus-inversus-Syndrom Ottolenghi et al. (2007) (BPES) mit vorzeitiger Ovarialinsuffizienz
Dax1 (NR0B1)
XX Sex Reversal
Swain et al. (1998); Meeks et al. (2003)
30.3 Entwicklungsstörungen der Genitalgänge und des äußeren Genitale Reste der männlichen und weiblichen Genitalgänge können bestehen bleiben und werden häufig zufällig, oder wenn sie eine sekundäre Pathologie (z.B. Zysten, Infektionen) entwickeln, entdeckt.
30.3.1 Genetisch männliche Individuen Eine unzureichende Produktion von AMH, z.B. durch gonadale Dysgenesien bzw. Aplasie oder Mutationen im AMH-Gen, oder eine unzureichende AMH-Wirkung (z.B. Mutationen im AMH-Rezeptor), kann es bei genetisch männlichen Individuen zu eine partiellen (Hernia uteri inguinalis) oder kompletten Persistenz der Müller-Strukturen (Eileiter, Uterovaginalkanal) kommen (PMDS=Persistent Müllerian Duct Syndrome). Das kraniale Ende des Müller-Gangs bleibt häufig als ungestielte Hydatide oder Appendix testis am oberen Pol des Hodens bestehen. Das kaudale Ende der Müller-Gänge kann als Aussackung der Pars prostatica der Urethra persistieren (Utriculus prostaticus) und entspricht der Vagina. Eine kleine Erhebung an der dorsalen Wand der prostatischen Urethra entsprich dem Hymen und wird als Colliculus seminalis bezeichnet.
Bei unvollständiger Verschmelzung der Urethralfalten und gestörtem Wachstum des Penisschafts entstehen die verschiedenen Hypospadieformen. Wenn sich dabei zusätzlich ventral ein fester Bindegewebsstrang entwickelt (ventrale Chorda), ist der Penis nach ventral verkrümmt und zumeist unterentwickelt. Auch die Vorhaut bleibt ventral gespalten.
Merke Bei der Hypospadie werden die glandulären und penilen (ca. 80%) von den penoskrotalen und den perinealen Formen unterschieden. Ursache ist zumeist eine unzureichende Androgenproduktion oder -wirkung, die zu einer gestörten Kanalisation des ektodermalen Strangs in der Glans und/oder unvollständigen Verschmelzung der Urethralfalten führt. Bei der Epispadie mündet die Urethra dorsal am Penis. Sie kann isoliert oder gemeinsam mit einer Blasenekstrophie auftreten. Ursächlich dürfte eine fehlerhafte Interaktion zwischen Ektoderm und Mesoderm bei der Entwicklung des Genitalhöckers sein, wodurch dieser zu weit dorsal zu liegen kommt. Tritt diese Störung der Interaktion in der 7. Woche auf, bleibt die Entwicklung des Genitalhöckers vollständig aus. Folge ist eine Agenesie des Penis. Ein Kryptorchismus (ausbleibender/unvollständiger Descensus testis) kann einseitig oder beidseitig auftreten.
Merke Prinzipiell kann der Deszensus in jeder Phase gestört sein, am häufigsten treten jedoch Leistenhoden auf.
Bei der Hodenektopie verlässt der Hoden nach Durchqueren des Leistenkanals den physiologischen Weg des Deszensus und kann auf der Aponeurose des M. obliquus externus abdominalis (inguinal-epifasziale Ektopie), im Trigonum femorale (femorale Hodenektopie), auf der Dorsalseite des Penis (penile Ektopie) oder auf der Gegenseite (transverse Ektopie) zu liegen kommen. Ursächlich ist eine Fehlposition des Gubernakulums, dem der Hoden folgt.
30.3.2 Genetisch weibliche Individuen Bleibt bei weiblichen Individuen das kraniale Ende der WolffGänge bestehen, so wird dies als Appendix vesiculosa bezeichnet. Das Epoophoron im Mesovar zwischen Ovar und Tuba uterina entstammt einigen blind endenden Tubuli der Mesonephroi und Homologen der Ductuli efferentes bzw. Ductus epididymidis. Rudimente der Urnierentubuli in unmittelbarer Nachbarschaft zum Uterus können als Paroophoron persistieren. Gartner-Gänge sind entwicklungsgeschichtlich Reste des Ductus deferens und des Ductus ejaculatorius und verlaufen zwischen den Blättern des Lig. latum entlang dem Uterus und in der Wand der Vagina. Bei Ansammlung von Flüssigkeit in diesen Gängen entwickeln sich GartnerZysten. Das kraniale Ende der Müller-Gänge kann bei weiblichen Individuen im Bereich der Eileiter als MorgagniHydatiden bestehen bleiben. Duplikationsanomalien von Uterus und Vagina kommen durch Entwicklungsstörungen in der 8. Woche zustande. Wenn die Fusion der kaudalen Abschnitte der Müller-Gänge ausbleibt, entsteht ein doppelter Uterus (Uterus didelphis), die Vagina kann ebenfalls gedoppelt sein. Wird das Lumen des Uterus durch ein Septum unterteilt, wird dies als Uterus bicornis bezeichnet. Wenn einer der beide Müller-Gänge im Wachstum zurückbleiben, entwickelt sich entweder ein
Uterus mit einem rudimentären Horn bis hin zum Uterus unicormis. Wenn die Entwicklung der Sinuvaginalhöcker und der Vaginalplatte ausbleiben, resultiert daraus eine komplette Agenesie des Uterus und der kranialen Vagina. Diese Störung wird als Mayer-Rokitansky-Küster-HauserSyndrom bezeichnet. Sind Nieren- und Wirbelfehlbildungen assoziiert, spricht man vom MURCS-Syndrom (Müllerian-renal-cervicothoracic somite Abnormalities). Eine unvollständige oder fehlende Kanalisation der Vaginalplatte führt zu transversalen vaginalen Septen (meist Übergang mittleres zu kranialem Drittel) oder zur Vaginalatresie. Bei gestörter Kanalisierung im kaudalen Abschnitt kommt es zu den sehr häufigen Variationen des Hymens (imperforatus, septus, cribriformis, microperforatus oder imperforatus).
Quintessenz Sexuelle Differenzierung Chromosomale und gonadale Geschlechtsentwicklung Das chromosomale oder genetische Geschlecht eines Embryos wird zum Zeitpunkt der Befruchtung durch das in die Eizelle eindringende Spermium (X- oder YChromosom) festgelegt. Die Entwicklung der indifferenten Gonaden beginnt in der 5. Schwangerschaftswoche (SSW). Die Zellen entstammen dem Zölomepithel, dem Mesenchym und den primordialen Keimzellen. Aus dem Zölomepithel entwickeln sich bei weiblichen Individuen die Granulosazellen, bei männlichen Individuen die SertoliZellen. Auf genetischer Ebne sind einige Gene für Erhalt und Wachstum der bipotenten Gonaden verantwortlich, u.a.
EMX2, GATA4, WT1, LHX9, und SF1. Indifferente Geschlechtsentwicklung Das männliche und das weibliche Geschlecht sind äußerlich und histologisch bis zur 7. SSW nicht zu unterscheiden (sexuell indifferentes Stadium). Die Genitalentwicklung ist eng mit der Entwicklung des Harntrakts verbunden. Daraus erklärt sich auch die häufige Koinzidenz von angeborenen Entwicklungsstörungen des Harn- und des Genitaltrakts. In der 5.–6. Schwangerschaftswoche sind bei beiden Geschlechtern die paarigen Gangsysteme (Müller-Gänge und Wolff-Gänge) angelegt. Die Ausbildung der MüllerGänge ist streng von der Existenz der Wolff-Gänge abhängig. Bei genetisch weiblichem Geschlecht bilden sich die Wolff-Gänge fast vollständig zurück, funktionslose Überreste bleiben als Gartner-Gänge erhalten. Bei genetisch männlichen Individuen beginnen die SertoliZellen ab der 6.–7. Woche, Anti-Müller-Hormon (AMH oder Müllerian-inhibiting Substance=MIH) zu produzieren. Ein weibliches Expressionsmuster von DAX1 inhibiert die AMH-Sekretion und führt somit zur Persistenz von MüllerStrukturen. Der Genitalhöcker, der Vorläufer des Phallus bzw. der Klitoris, bildet sich oberhalb der Kloakenmembran aus Mesenchym zu Beginn der 4. Woche. Mit der ventralen Verlängerung der Urethralfalten, zwischen denen sich der Sinus urogenitalis erstreckt, bildet sich die mit Endoderm ausgekleidete Urethralrinne.
Lateral der Urethralfalten bilden sich die Genitalwülste aus, die labioskrotalen Vorläufer. Männliche Genitalentwicklung Eine 35-kb-Region am kurzen Arm des Y-Chromosoms, benachbart der pseudoautosomalen Region, das SRY-Gen, ist das Schlüsselgen für die Entwicklung einer männlichen Gonade. Um die 6.–7. Woche beginnen die Sertoli-Zellen des fetalen Hodens, AMH zu produzieren, das zur Involution der Müller-Gänge führt. Ungefähr eine Woche später beginnen die Leydig-Zellen, Testosteron zu produzieren, das die Wolff-Gänge zur Bildung der männlichen Genitalgänge anregt. Die prostatische und membranöse Urethra formieren sich aus dem distalen Anteil des Sinus urogenitalis. Nach der 10. Woche entstehen aus dem phallischen Anteil des Sinus urogenitalis die bulbäre und penile Urethra. Descensus testis Der physiologische Prozess der Verlagerung der männlichen Gonade von seiner ursprünglichen retroperitonealen Lage in das Skrotum ist abhängig von einer normalen, männlichen Differenzierung der Gonade, einer intakten Hypothalamus-Hypophysen-GonadenAchse sowie von einer intakten Androgenproduktion und wirkung. Der Descensus testis ist stark abhängig von einer intakten Leydig-Zell-Funktion. Während die transabdominelle Phase hauptsächlich über insl-3 gesteuert wird, ist die inguinoskrotale Phase überwiegend androgenabhängig.
Normalerweise ist der Descensus testis mit ca. 35 Schwangerschaftswochen abgeschlossen. Weibliche Genitalentwicklung Neben zahlreichen Genen am X-Chromosom spielen auch einige autosomale Gene eine Rolle bei der Entwicklung der Ovarien. Eine Schlüsselrolle bei der Differenzierung in eine weibliche Gonade kommt dem Wnt4-Gen auf Chromosom 1 zu. Die Differenzierung der indifferenten Gonade zu Ovarien bei weiblichen Embryonen verläuft später und langsamer als die Differenzierung zu Testes. Dax1 (Chromosom Xp21) beeinflusst die Geschlechtsentwicklung beider Geschlechter in dosisabhängiger Weise (DSS=Dosage-sensitive Sex Reversal). Postnatal bilden sich keine Oogonien oder Primordialfollikel mehr. Die Follikelepithelzellen sorgen vermutlich dafür, dass die primären Oozyten bis ins Erwachsenenalter in der Prophase der Meiose arretiert bleiben. Die Entwicklung der weiblichen Genitalwege aus den Müller-Gängen verläuft unabhängig von Ovarien und Hormonen, weil AMH fehlt. Die Wolff-Gänge involutieren aufgrund fehlender Androgenstimulation. Der Uterovaginalkanal (Uterus und obere Vagina) entsteht aus den fusionierten Anteilen der Müller-Gänge. Das Epithel der Vagina stammt vom Endoderm des Sinus urogenitalis. Die Feminisierung des äußeren Genitale scheint östrogenabhängig zu erfolgen.
30.4 Literatur [1478] Bernard P, Harley VR. Wnt4 action in gonadal development and sex determination. Int J Biochem Cell Biol 2007; 39: 31–43 [1479] Berta P, Hawkins JR, Sinclair AH et al. Genetic evidence equating SRY and the testis-determining factor. Nature 1990; 348: 448–450 [1480] Boehmer AL, Brinkmann AO, Nijman RM et al. Phenotypic variation in a familiy with partial androgen insensitivity syndrome explained by differences in 5alpha dihydrotestosterone availability. J Clin Endocrinol 2001; 86: 1240–1246 [1481] Brinkmann AO. Molecular basis of androgen insensitivity. Mol Cell Endocriniol 2001; 179: 105–109 [1482] Ford CE, Jones KW, Polani PE et al. A sex chromosome anomaly in a case of gonadal dysgenesis (Turner’s syndrome). Lancet 1959; i: 711–713 [1483] Foster JW, Dominguez-Steglich MA, Guioli S et al. Campomelic dyplasia and autosomal sex reversal caused by mutations in an SRY-related gene. Nature 1994; 372: 525– 530 [1484] Hashimoto R, Development of the human Müllerian duct in the sexually undifferentiated stage. Anat Rec A Discov Mol Cell Evol Biol 2003; 272: 514–519 [1485] Jacobs PA, Strong JA. A case of human intersexuality having a possible XXY sex-determining mechanism. Nature 1959; 183: 302–303 [1486] Jordan BK, Mohammed M, Ching ST et al. Upregulation of Wnt-4 signaling and dosage-sensitive sex reversal in humans. Am J Hum Gent 2001; 68: 1002–1009
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31 Äußeres männliches Genitale B. Haid, J. Oswald; frühere Bearbeitung: R.H. Ringert, G. Zöller
31.1 Maldescensus testis, Hodenhochstand 31.1.1 Begriffsbestimmung 31.1.1.1 Hodenhochstand Unter dem Begriff Hodenhochstand werden testikuläre Lageanomalien unterschiedlicher Entität zusammengefasst. Letztlich handelt es sich bei diesen testikulären Fehllagen um eine permanente oder intermittierende extraskrotale Lage der Hoden.
31.1.1.2 Physiologische Hodenposition Als „normale Hodenposition“ ist eine Lage der Hoden um oder unter der Mitte des Skrotums bei entspannten Untersuchungsbedingungen definiert ▶ [1554]. Sogenannte „hochskrotal“ gelegene Hoden werden häufig beschrieben, stellen aber an sich keine pathologische Entität dar.
31.1.1.3 Pendelhoden Der Pendelhoden liegt zeitweise skrotal und zeitweise inguinal. Er stellt eine physiologische Variante des deszendierten Hodens dar und bedarf bei überwiegend skrotaler Lage zunächst keiner weiteren Therapie. Eine regelmäßige Nachkontrolle ist aber erforderlich, da es bei bis zu 10% der Kinder im weiteren Verlauf zu einem echten Hodenhochstand kommen kann (Hodenaszension). Die
Ursachen für eine sekundäre Hodenaszension sind unklar ▶ [1501].
31.1.1.4 Gleithoden Der Gleithoden ist durch sanften Zug bei der Untersuchung bis in das Skrotum zu bringen, bleibt jedoch nicht dort liegen, sondern retrahiert nach dem Loslassen zurück in die Leistengegend. Dieser Befund stellt eine Indikation zur Therapie dar.
31.1.1.5 Leistenhoden Leistenhoden sind in vielen Fällen palpabel und finden sich zwischen dem inneren und äußeren Leistenring. Die Inzidenz beträgt bei Kindern mit einem Hodenhochstand ca. 70%. Bei vielen der sog. Leistenhoden handelt es sich um epifaszial am äußeren Leistenring umgeschlagene Hoden (im sog. Denis-Browne-Pouch) ▶ [1533] und somit im strengen Sinne um einen ektopen, weil außerhalb des normalen Deszensusweges gelegenen Hoden.
31.1.1.6 Kryptorchismus Bei etwa 10–20% der Kinder mit nicht skrotal gelegenem Hoden ist dieser nicht tastbar. In solchen Fällen spricht man von Kryptorchismus. Nur in 25–50% liegt dann der Hoden wirklich intraabdominal oder am inneren Leistenring („peeping testis“), in 10–30% der Fälle findet sich der Hoden im Bereich des Leistenkanals, in 15–50% besteht eine komplette („vanishing testis“) oder teilweise Hodenatrophie („testicular nubbin“) ▶ [1500], ▶ [1502].
31.1.1.7 Hodenektopie Bei einer Hodenektopie liegt der Hoden außerhalb des normalen Deszensusweges perineal, am Oberschenkel oder an der Peniswurzel ( ▶ Abb. 31.1). Hodenektopie. Abb. 31.1
Abb. 31.1a Klinischer Aspekt.
Abb. 31.1b Intraoperativer Situs.
31.1.1.8 Erworbener Hodenhochstand Der sekundär aszendierte Hoden kann nach chirurgischen Interventionen durch weiteres Wachstum des Patienten oder als Rezidiv nach Orchidopexie auftreten. Es scheint aber auch eine (bisher schlecht definierte) Gruppe von Patienten zu geben, die bei initial skrotal gelegenem Hoden einen Hodenhochstand entwickeln ▶ [1511]. Häufig wurde bei dieser Patientengruppe bereits früher die Diagnose eines Pendelhodens gestellt, was die Relevanz der Kontrolluntersuchungen unterstreicht. Bezüglich eines Infertilitätsrisikos scheinen diese Patienten ebenso betroffen zu sein ▶ [1539]!
31.1.2 Epidemiologie Deszensusstörungen der Hoden werden etwa bei 1–4% der termingerecht geborenen und bei bis zu 45% der frühgeborenen Jungen beobachtet ▶ [1544]. Sie sind Teil von mehr als 390 Fehlbildungssyndromen, dennoch handelt es sich bei den meisten Fällen um isolierte Fehlbildungen.
Merke 57–70% der Hoden deszendieren dann spontan, wie aus langfristigen Beobachtungsserien hervorgeht, wobei ein Deszensus nach dem 6. Lebensmonat unwahrscheinlich ist ▶ [1505], ▶ [1544]. Im Alter von 1 Jahr findet sich dann noch bei ca. 0,8–1% aller Jungen ein Hodenhochstand, in ca. 30% der Fälle bilateral.
31.1.3 Embryologie, Ätiologie Die ersten hodenspezifischen Marker werden innerhalb der Genitalleiste um den 42. Schwangerschaftstag exprimiert (SRY, Sex determining Region Y; SOX9, SRY box 9). Im Alter von 9 Schwangerschaftswochen (SSW) entstehen Sertoliund Leydig-Zellen sowie Hodenstränge. Die fetale Testosteronproduktion erreicht in der 13–14. SSW ein Maximum, von ihr hängt die männliche Differenzierung des äußeren Genitale und auch der Deszensus der Hoden ab ( ▶ Abb. 31.2). Deszensus des Hodens, ca. 14. Schwangerschaftswoche. Abb. 31.2
Der physiologische Deszensus verläuft in 5 Phasen ( ▶ Tab. 31.1 ) ▶ [1498]. Tab. 31.1 Physiologischer Descensus testis (Datenquelle: ▶ [1498]). Zeitraum
Kennzeichen
5. SSW
Kontakt der kaudalen Urnierenanteile mit dem zukünftigen Gubernakulum im Bereich des späteren inneren Leistenrings
7. SSW
Kontakt zwischen dem N. genitofemoralis und dem Gubernakulum Ausbildung des Processus vaginalis peritonei in Richtung Leistenkanal
Zeitraum
Kennzeichen
8.-12. SSW
Wachstum des Gubernakulums Regression von Müller-Gang-Strukturen
14.-20. SSW
Anschwellen des Gubernakulums Ausweitung des Leistenkanals
20.-28. SSW
transinguinale Passage des Hodens
35.-40. SSW
Bewegung des Hodens nach skrotal, begleitet von einer Regression des Gubernakulums
SSW: Schwangerschaftswoche
Für einen physiologischen Deszensus sind fetale Androgene, also eine funktionierende Hodenentwicklung, gesteuert durch SRY, sowie nach neueren Untersuchungen auch der Insulin like Factor 3 (INSL3) wesentlich. Auch eine normale embryologische Differenzierung des Gubernakulums und des N. genitofemoralis sind entscheidend.
Merke Die Ätiologie des Hodenhochstandes ist letztlich nicht geklärt. Genetische Suszeptibilität, vermutlich bei zugrunde liegender polygenetischer Veranlagung, sowie Umweltfaktoren (sog. endokrine Disruptoren) scheinen eine Rolle zu spielen. Bezüglich des Einflusses von Chemikalien mit antiandrogener Wirkung (z.B. Phtalate, Pestizide, Brandhemmer) gibt es hinweisende Daten, wohl auch aufgrund möglicher synergistischer und hemmender Gruppeneffekte liegen diesbezüglich aber keine konklusiven epidemiologischen oder experimentellen Daten vor.
31.1.4 Fertilität, Tumorrisiko Praxis
Prinzipien Der wesentliche Grund einer Therapie des Hodenhochstandes begründet sich in der Tatsache, dass nur bei skrotaler Hodenlage eine normale Fertilitätsentwicklung möglich zu sein scheint. Überdies ist bei extraskrotaler Hodenlage das Risiko für Keimzelltumoren deutlich erhöht. Bei Patienten, bei denen die Orchidopexie aufgrund eines angeborenen Hodenhochstandes vor dem 13. Lebensjahr erfolgt, besteht ein relatives Risiko von 2,23, einen malignen Keimzelltumor zu entwickeln. Bei einer Orchidopexie nach dem 13. Lebensjahr erhöht sich das Risiko auf 5,4 im Vergleich zur Normalbevölkerung ▶ [1534]. Das entscheidende Alter, ab dem sich dieses Risiko deutlich erhöht ist, dürfte um etwa 10 Jahre liegen (United Kingdom Testicular Cancer Study Group ▶ [1550]). Zusätzlich zu einem Hodenhochstand vorliegende testikuläre Mikrokalzifikationen werden als möglicher weiterer Risikofaktor bezüglich späterer Keimzelltumoren diskutiert. Eine Hodenbiopsie allein deswegen ist allerdings insbesondere im Kindesalter nicht indiziert, bezüglich eines sinnvollen Nachsorgeregimes sind aufgrund der aktuellen Datenlage keine Aussagen möglich.
Merke Wesentlich ist es jedenfalls, alle Kindern mit ehemaligem Hodenhochstand beim Eintritt in die Pubertät nochmals zu kontrollieren und zur regelmäßigen Selbstuntersuchung zu motivieren. Die Fertilität scheint durch einen Hodenhochstand schon sehr früh beeinträchtigt zu werden. Auf diesem Umstand
beruht auch die aktuelle Empfehlung zum frühen Abschluss einer eventuellen Therapie (um das 1. Lebensjahr!). Die Paternitätsraten bei Männern mit (behandeltem!) Hodenhochstand bewegen sich bei einem unilateralen Befund zwischen 80 und 90%, bei einem bilateralen Befund zwischen 48 und 65% ▶ [1510], ▶ [1520], ▶ [1524]. Die Schädigung der Keimzellen scheint bereits früh aufzutreten, ein Zusammenhang mit der erhöhten Temperatur in der Leiste im Vergleich zum Skrotum wird vermutet.
Merke Je früher die Orchidopexie erfolgt, umso geringer scheint der Schaden an den Keimzellen zu sein ▶ [1503], ▶ [1525]. Die entscheidenden Daten stammen aus Arbeiten, in denen im Rahmen von Orchidopexien Hodenbiopsien entnommen wurden. Dabei konnte allerdings auch gezeigt werden, dass die frühe Orchidopexie allein dieses Risiko nicht effizient senkt und dass zusätzliche hormonelle Faktoren („MiniPubertät“) entscheidend sind ▶ [1512], ▶ [1512].
31.1.5 Diagnostik 31.1.5.1 Klinische Untersuchung Der Hodenhochstand wird primär durch Inspektion und Palpation diagnostiziert. Die richtige Untersuchungstechnik ist von besonderer Bedeutung: Man untersucht mit warmen Händen im Liegen, wenn möglich und je nach Alter des Kindes auch im Schneidersitz, evtl. unter Zuhilfenahme von angewärmtem Ultraschallgel.
Praxis
Die Herausforderung besteht darin, für entspannte Untersuchungsbedingungen zu sorgen, da ein physiologischer Kremasterreflex im Falle von Unruhe des Kindes einen Hodenhochstand vortäuschen kann ( ▶ Abb. 31.3). Untersuchungstechnik bei V.a. Hodenhochstand. Abb. 31.3
Abb. 31.3a Untersuchung im Liegen.
Abb. 31.3b Untersuchung im Schneidersitz.
Beurteilt werden sollten nicht nur die Lage und der Palpationsbefund, sondern auch die Auslösbarkeit des Kremasterreflexes (wenn der Hoden danach wieder spontan tiefer tritt und skrotal liegt, ist ein Hodenhochstand mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen!). Zusätzlich ist gerade bei kontralateral nicht tastbarem Hoden die Hodengröße entscheidend. Beträgt der Hodenlängsdurchmesser ≥18–21 mm ▶ [1516], ▶ [1542], ist die Wahrscheinlichkeit für ein kontralaterales testicular Nubbin oder einen vanishing Testis >90%. Die Hodengröße wurde früher mittels Orchidometern bestimmt, heute ist dies eine Domäne der Sonografie. Bei Pendelhoden oder unklaren Situationen in Ambulanz oder Ordination kann es sinnvoll sein, die Eltern nach genauer Demonstration der Untersuchungstechnik zu bitten, ein Hodenlageprotokoll über mindestens 14 Tage bei 2–3× täglicher Untersuchung anzufertigen. Eine überwiegend skrotale Lage (>75%) des fraglichen Hodens in einem
solchen Protokoll kann zur Vermeidung unnötiger Indikationen beitragen.
31.1.5.2 Bildgebende Verfahren Sonografie Merke Die Sonografie ist die bildgebende Methode der Wahl bei nicht tastbaren Hoden oder zur Größenbestimmung bei klinischem Verdacht auf eine relevante Größendifferenz. Klinisch nicht tastbare Hoden können dadurch in einem Anteil der Fälle aufgefunden werden ▶ [1547]. Allerdings besteht in allen verfügbaren Guidelines (European Association of Urology – AUA, European Society for Pediatric Urology – ESPU) keine Empfehlung zur Sonografie bei nicht tastbarem Hoden.
MRT Die Kernspintomografie hat im Rahmen der Diagnostik beim Hodenhochstand keinen Stellenwert. Die diagnostische Genauigkeit der Kernspintomografie beträgt 64–94%, bedingt durch eine falsch-negative Rate von bis zu 30% ▶ [1543].
31.1.5.3 Laparoskopie In unklaren Situationen mit V.a. Bauchhoden ist die Laparoskopie die diagnostische Methode der Wahl. Damit kann der intraabdominelle Verlauf der Testikulargefäße und des Ductus deferens genau so wie eine Lageanomalie des Hodens beurteilt werden, ggf. ist in selber Sitzung eine therapeutische Intervention möglich ( ▶ Abb. 31.4):
laparoskopische Orchidopexie bei Bauch- oder Fusionshoden, inguinale Orchidopexie, Entfernung bei inguinalem Hoden oder testicular nubbin). Bauchhoden. Abb. 31.4 Laparoskopie.
31.1.5.4 hCG-Stimulationstest Bei bilateral kryptorchen Hoden sollte vor jeglicher weiteren Diagnostik mittels eines hCG-Stimulatiostests (hCG=humanes Choriongonadotropin) vorhandenes funktionelles Hodengewebe nachgewiesen werden. Dabei werden primär Basalwerte gemessen und dann 48 und/oder 72 Stunden nach der i.m. Applikation von 5000 Einheiten hCG kontrolliert. Es sollte bei vorhandenem Hodengewebe zu einem mindestens 1,5- bis 2,5-fachen Anstieg des Testosterons im Serum kommen. Im negativen Fall erübrigt sich weitere Diagnostik, und es ist von einer bilateralen Anorchie auszugehen.
31.1.5.5 Weiterführende Diagnostik Liegen neben einem Kryptorchismus zusätzliche Fehlbildungen des äußeren Genitales (z.B. ausgeprägte Hypospadie, intersexuelles Genitale) vor, sind weiterführende hormonelle und genetische Untersuchungen zum Ausschluss einer sexuellen Differenzierungsstörung (Disorder of Sex Development, DSD, s. Kap. ▶ 32) indiziert.
31.1.6 Therapie Aufgrund der oben diskutierten Risiken bezüglich der Fertilität wurden die Empfehlungen zum optimalen Zeitpunkt einer Behandlung in den letzten Jahren stetig nach unten korrigiert.
Praxis Die aktuelle Empfehlung lautet, dass die Therapie um den 1. Geburtstag abgeschlossen sein sollte. Dies beruht auch auf der geringen Chance eines spontanen Deszensus nach dem 6. Lebensmonat und dem niedrigen Risiko von Operation und Anästhesie zu diesem Zeitpunkt.
Somit besteht die Behandlung des primären Hodenhochstandes in der inguinalen Orchidopexie um den 1. Geburtstag, bei ektopen Hoden sollte ebenso verfahren werden. Bei sekundärem Aszensus ist eine baldmögliche operative Therapie anzustreben, da es auch in dieser heterogenen Patientengruppe deutlich Hinweise für eine verminderte Fertilität bei späterer Operation gibt. Um den 6. Lebensmonat kann eine hormonelle Therapie mit intranasalem GNRH/Gonadorelin (Handelsname: Kryptokur) empfohlen werden. Diese führt zwar nur bei weniger als 20% der Kinder zu einem dauerhaften Deszensus, es gibt allerdings Hinweise für eine fertilitätsprotektive Wirkung, die dadurch induziert werden kann. Konkret geht es dabei um das sog. Priming der Gonozyten, nämlich die Umwandlung von fetalen in adulte Ad-Spermatogonien ▶ [1513], ▶ [1541]. Die Datenlage diesbezüglich ist allerdings nicht eindeutig, insbesondere existieren noch keine Langzeitdaten bezüglich der späteren Fertilität, weswegen die Leitlinien die Hormontherapie nicht definitiv empfehlen. Definitiv kontraindiziert ist eine Therapie mit β-HCG, hier wurden vermehrt Keimzellapoptosen nachgewiesen.
31.1.6.1 Operative Behandlung des Hodenhochstands Praxis Das Standardverfahren der Orchidofunikulolyse und Orchidopexie ist die Freilegung des Samenstrangs durch eine kleine quere Inzision in der Unterbauchhautfalte der betroffenen Seite. Nach Durchtrennen von Haut- und Unterhautfettgewebe wird die Aponeurose des M. obliquus externus dargestellt
und im Verlauf der Faserrichtung eröffnet. Nach Mobilisation des M. obliquus internus mit Darstellen des Leistenbandes werden die Kremasterfasern vom Samenstrang abpräpariert. Bei offenem Processus vaginalis peritonei wird die Resektion analog einer Leistenbruchoperation im Kindesalter durchgeführt. Die Samenstranggebilde werden bis nach retroperitoneal freipräpariert ( ▶ Abb. 31.5). Orchidopexie. Abb. 31.5
Abb. 31.5a Samenstranggebilde am inneren Leistenring.
Abb. 31.5b Freipräparation des Samenstranggebildes.
Abb. 31.5c Präparation des skrotalen Sub-Dartos-Pouchs.
Abb. 31.5d Skrotale Fixierung des Hodens im Sub-Dartos-Pouch.
Praxis Die Standardmethode der skrotalen Fixierung des Hodens besteht darin, den Hoden in der Technik nach Shoemaker spannungsfrei in eine zuvor präparierte skrotale Sub-DartosTasche zu legen ( ▶ Abb. 31.5). Sollten die Samenstranggebilde zu kurz sein, um eine spannungsfreie skrotale Lage zu ermöglichen, empfiehlt es sich, den Hoden unter den tiefen epigastrischen Gefäßen durchzuführen (sog. Prentiss-Manöver, ▶ [1536]). Gerade bei
hohen Leistenhoden kann dies zu einem deutlichen Streckengewinn beitragen ▶ [1535]. Bei sehr hohen Leistenhoden ist eine Durchtrennung der Testikulargefäße im Sinne eines Fowler-Stephens-Manövers ▶ [1508], ggf. mit Modifikation nach Koff ▶ [1518] möglich ( ▶ Abb. 31.6). Dabei erfolgt die spätere Hodendurchblutung über die Vasa ductus deferentis, die in der Literatur angegebene Atrophierate bewegt sich zwischen 10 und 30%. (Abbildung 7 Fowler-Stephens-Verfahren in einem weiten Peritonealpatch Fowler-Stephens-Verfahren, modifiziert nach Koff. Abb. 31.6 Ductus deferens in einem breiten Peritonealpatch nach Durchtrennung des Testikulargefäßes.
Bei entsprechend optimaler Anästhesie und adäquater chirurgischer Technik handelt es sich bei unkomplizierten Orchidopexien um eine sichere und problemlos tagesklinisch durchführbare Intervention, die für das Kind kein großes Risiko und keine relevante Belastung darstellt. Die Erfolge der primären, einzeitigen Orchidopexie sind gut. Dies scheint deutlich von der Erfahrung des Operateurs abzuhängen, die publizierten Erfolgsraten variieren von 75– 98%, wobei letzteres gerade bei einem durchschnittlichen Patientenkollektiv das Ziel sein sollte. Die Fertilität nach einseitig operierten Leistenhoden ist im Vergleich zu einem Normalkollektiv kaum eingeschränkt (80–90% Paternitätsrate); nach bilateralem Maldescensus testis sinkt die Vaterschaftsrate auf bis zu 60% ▶ [1522], ▶ [1528].
31.1.6.2 Laparoskopie Die Laparoskopie ist Bestandteil der Diagnostik des Kryptorchismus und der Therapie des Bauchhodens. Durch die Laparoskopie kann mit hoher Sicherheit der Hoden intraabdominell nachgewiesen oder aber das Fehlen von Samenstranggefäßen oder Ductus deferens verifiziert werden. Gleichzeitig ist es möglich, eine laparoskopisch assistierte Orchidopexie, entweder mit Durchzug der Samenstranggebilde anatomisch (durch den Leistenkanal) oder extraanatomisch (medial des Lig. umbilicale mediale) durchzuführen. Damit kann in vielen Fällen die Durchtrennung der Testikulargefäße vermieden werden ▶ [1499]. Gerade in aktuellen Publikationen wird aber vermehrt die Notwendigkeit der Laparoskopie hinterfragt, klare Daten bezüglich eines eindeutigen Vorteils liegen gerade bei der häufigen Situation von „peeping Testis“ am inneren Leistenring nicht vor ▶ [1506], ▶ [1507], ▶ [1551].
Praxis
Bei kontralateral hypertrophiertem Hoden (Längsdurchmesser [LDM] ≥18–21 mm) oder dem direkten Nachweis eines inguinal oder skrotal gelegenen Nubbins sollte eine inguinale oder skrotale Exploration mit Entfernung des Nubbins und nachfolgender histopathologischer Diagnosesicherung durchgeführt werden. Sekundär, nach Eintritt in die Pubertät, sollte diesen Patienten die Implantation einer Hodenprothese angeboten werde.
31.1.6.3 Mikrochirurgische Freilegung von Samenstranggefäßen Die mikrochirurgische Freilegung der Samenstranggefäße und die Reanastomosierung der Vasa testiculares mit den Vasa epigastricae superficiales ist eine Alternativmethode bei Bauchhoden, die aber nach der Etablierung der laparoskopischen Techniken kaum noch zur Anwendung kommt.
31.1.7 Prune-Belly-Syndrom Das Prune-Belly-Syndrom ist ein Dysplasiesyndrom, in dem die Trias Bauchmuskelhypoplasie, schwerwiegende Dilation von Ureter und Harnblase und bilateraler Kryptorchismus vereint ist. Die Inzidenz dieser Fehlbildung liegt etwa 1:50000 Neugeborenen. Nur in Ausnahmefällen sind Mädchen betroffen. Die Mortalität beträgt in den ersten Lebensjahren bis zu 20%, der entscheidende Faktor hierbei ist die Niereninsuffizienz. In milderen Fällen kann der Verlauf benigne sein, insbesondere wenn es gelingt, die Harntransportstörung mit bilateralen Megaureteren und Megazystis zu behandeln, was die Prognose dieser Kinder in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert hat. Liegt ein Prune-Belly-Syndrom mit beidseitigem Kryptorchismus vor, ist eine frühzeitige operative Therapie
indiziert, da im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter die hoch retroperitoneal liegenden Hoden häufig ohne Durchtrennung der Vasa testiculares (Fowler-StephensVerfahren) verlagert werden können. Dieser operative Schritt darf bei geplanten Operationen, z.B. einer Gastroschisis oder bei Eingriffen an den Harnwegen, nicht vergessen werden. Bei erwachsenen Männer mit Prune-Belly-Syndrom sind häufig eine Azoospermie und ein Sertoli-Cell only-Syndrom in der Hodenbiopsie zu finden. Über eine mögliche Fertilität gibt es keine zuverlässigen Berichte.
31.2 Phimose 31.2.1 Epidemiologie, Bedeutung Die Phimose, definiert als nicht reponible Vorhaut, kann ab dem 2. Lebensjahr als solche definiert werden, in den ersten beiden Lebensjahren stellt die nicht reponible Vorhaut eine physiologische Situation dar („physiologische Phimose“). Unbehandelt haben etwa 8% der 6- bis 7-jährigen Jungen eine nicht reponible Vorhaut. Bei 16- bis 17-Jährigen besteht nur noch in 1% eine Vorhautenge ▶ [1509], ▶ [1531]. Diese Patienten sind meist beschwerdefrei, weder das „Ausmaß“ des Befundes im Kleinkindesalter noch das Vorhandensein einer Ballonierung bei der Miktion ist ein guter Parameter, um den weiteren Verlauf vorherzusagen und ggf. eine Intervention zu begründen. Davon zu unterscheiden sind sekundäre Phimosen, welche im Rahmen chronischer Entzündungsvorgänge entstehen. Häufig findet sich beispielsweise ein Lichen sclerosus, der als Ursache einer narbig erscheinenden Phimose altersunabhängig behandlungsbedürftig ist.
Therapiebedürftig sind ebenso alle Jungen, die aufgrund einer Phimose Beschwerden bei der Miktion oder im Rahmen von Erektionen haben. Auch rezidivierende Entzündungen sind eine eindeutige Indikation zur Therapie.
Merke Je nach klinischer Gesamtsituation kann die Indikation zur kompletten Zirkumzision ab einem Alter von 2 Jahren gestellt werden. Das Vorhandensein einer Phimose erhöht das Harnwegsinfektrisiko, insbesondere im Kindesalter deutlich (um den Faktor 8–10, ▶ [1529], ▶ [1546]), sodass eine Zirkumzision im Falle zusätzlicher Risikofaktoren (z.B. vesikoureteraler Reflux) zur Senkung des Harnwegsinfektrisikos indiziert sein kann. Die NNT (=Number needed to treat), um einen Harnwegsinfekt zu vermeiden, beläuft sich in solchen Situationen auf 4–11. Die Vorhaut an sich birgt ein erhöhtes Risiko für die Übertragung von humanen Papillomviren (HPV) und Humanenimmundefizienzviren (HIV). HPV bei unbeschnittenen Männern ist mit einer höheren Inzidenz von Peniskarzinomen und von Zervixkarzinomen bei ihren Geschlechtspartnerinnen assoziiert. Zudem gibt es Daten, die auf eine erhöhte Inzidenz von HPV-assoziierten Tumoren des Pharynx und des Larynx bei Partnerinnen von HPVpositiven Männern hindeuten ▶ [1504], ▶ [1548], ▶ [1549], ▶ [1553].
Merke Im Erwachsenenalter bedarf jede Phimose einer (chirurgischen) Therapie.
In den Vereinigten Staaten von Amerika sowie in weiten Teilen Kanadas wird verbreitet – aus „hygienischen“ Überlegungen und vor dem Hintergrund einer möglichen protektiven Rolle bezüglich HPV und HIV – eine flächendeckende Neugeborenenzirkumzision durchgeführt. Diese soll, genau so wie ethische und religiöse Überlegungen, die im Rahmen der chirurgischen Entfernung der Vorhaut in der Praxis eine große, kontrovers diskutierte Bedeutung haben, in dieser Abhandlung keine Rolle spielen.
Vorsicht Retraktionsversuche bei bestehender Phimose können zur Fixierung der Vorhaut proximal der Corona führen, diese Paraphimose gilt als urologischer Notfall und bedarf möglichst sofortiger Reposition, nötigenfalls (selten) durch eine chirurgische Inzision des Schnürrings ( ▶ Abb. 31.7).
Paraphimose. Abb. 31.7
31.2.2 Embryologie und Ätiologie In der 8.–16. Embryonalwoche entwickelt sich die Vorhaut des männlichen Embryos aus einem Ring verdickter Epidermis zu einer Haut, deren innere Epithelschicht fest mit dem Epithel der Glans penis verbunden ist. Bei der Geburt ist in vielen Fällen diese enge Verbindung zwischen Vorhaut und Glans penis noch nicht gelöst. Die Vorhaut bildet sich auch nach der Geburt weiter aus. Ire spontane Retrahierbarkeit hinter die Eichel ist bei 50% der Jungen nach Abschluss des 1. Lebensjahres und bei 90% nach dem 3.Lebensjahr möglich ▶ [1517], ▶ [1531]. Sekundäre Vorhautengen im Erwachsenenalter scheinen verursacht zu sein durch entzündliche Veränderungen (rezidivierende Balanoposthitis, Lichen sclerosus et atrophicans) und Verlust der elastischen Eigenschaften der
Haut im Alter. Daneben scheint dem Diabetes mellitus bedeutsam zu sein ▶ [1537].
31.2.3 Diagnostik Die Diagnose wird durch Inspektion und klinische Untersuchung sowie die Anamnese gestellt. Wesentlich ist es, narbige Veränderungen zu erkennen und diese von einer möglicherweise physiologischen Phimose zu differenzieren. Im Erwachsenenalter und bei Adoleszenten kann eine Vorhaut, die bei flaccidem Penis retrahierbar ist, bei Erektion zu relevanten Beschwerden führen und allein deswegen therapiebedürftig sein.
31.2.4 Therapie 31.2.4.1 Konservative Behandlung Praxis Die Behandlung mit einer Kortikosteroidcreme (z.B. 0,1% Betamethasoncreme), 2× täglich über 4 Wochen aufgetragen, kann in 70–90% der kindlichen Vorhautengen zu einer dauerhaften Retrahierbarkeit führen ▶ [1527], ▶ [1532], ▶ [1537]. Allerdings stellt dies mit größter Wahrscheinlichkeit einen Mechanismus dar, einer ohnehin natürlichen Entwicklung durch Agonismus der Steroide am Androgenrezeptor etwas Vorschub zu leisten. Patienten mit einer pathologischen Phimose profitieren mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht davon. Weiterhin existieren trotz der vielen Studien zur primären Wirksamkeit der Kortikoidsalbentherapie keine
zuverlässigen Langzeitdaten zur Rezidivfreiheit der so behandelten Patienten in und nach der Pubertät.
31.2.4.2 Operative Behandlung Bei der kompletten Zirkumzision, welche die Standardtherapie der Phimose darstellt, werden inneres und äußeres Vorhautblatt fast vollständig reseziert. Es verbleibt nur ein schmaler Saum des inneren Vorhautblatts am Sulcus coronarius, mit dem die Penisschafthaut vernäht wird ( ▶ Abb. 31.8). Zustand nach Zirkumzision. Abb. 31.8
Viele unterschiedliche Techniken zur Zirkumzision sind beschrieben ▶ [1521]. Im Kleinkindalter ist die komplette Zirkumzision alternativlos, Teilbeschneidungen führen zu hohen Rezidivraten und bringen häufig sekundäre Probleme mit sich. Bei Erwachsenen oder Adoleszenten mit relativer Phimose kann nach genauer Aufklärung die Teilbeschneidung bzw. die sog. Triple-Inzision einen gewissen Stellenwert haben. Mögliche Vorteile in Bezug auf HPV und HIV gehen jedoch dadurch höchstwahrscheinlich verloren. Schwerwiegende Komplikationen sind nach Zirkumzisionen, sofern diese unter sterilen Kautelen fachgerecht durchgeführt werden, selten. Glansverletzungen bis hin zum vollständigen Glansverlust wurden beschrieben (z.B. durch Stromverletzung) – es handelt sich um Einzelfälle. Nachblutungen treten bei 1 (–35)% der Patienten auf. Eine operative Revision ist aber nur selten erforderlich. Meatusengen nach Zirkumzision sind selten (30 kb) chromosomalen DNA-Stücken, sog. „Pathogenitätsinseln“, lokalisiert. Sie sind an definierten Stellen des Chromosoms integriert und mit Insertionssequenzen und/oder benachbarten transfer-RNA-(tRNA)spezifischen Genen (Selenocystein-tRNA und Leucin-tRNA) assoziiert, die als Regulatorgene die Expression weiterer virulenzassoziierter Gene beeinflussen. Pathogenitätsinseln sind mobil: Durch ihre Deletion verlieren E.coli ihre Fähigkeit zur Bildung von Virulenzfaktoren und werden apathogen; durch Reintegration wird die Pathogenität wiederhergestellt ▶ [1601], ▶ [1636].
33.2.3.12 Lipopolysaccharide Lipopolysaccharide (LPS) stellen wichtige Oberflächenstrukturen der gramnegativen Zellwand dar, welche u.a. mit den Toll-Like-Rezeptoren 4 und 11 der Schirmzellen des Harnblasenuroepithels reagieren und in einem NF-κB-abhängigen Signalweg die Produktion des proinflammatorischen Interleukin(IL)-8 in den Epithelzellen anstoßen ▶ [1583], ▶ [1646], ▶ [1647], ▶ [1672]. Dies lockt Neutrophile an und stößt somit die Entzündungsreaktion an, die durch weitere, ebenfalls von Uroepithelien gebildete
Interleukine, insbesondere IL-1, TNF, IL-6, stimuliert wird. Zytotoxine und zytotoxisch wirkende Stoffwechselprodukte der Erreger ermöglichen die bakterielle Invasion in die Schleimhaut.
33.2.4 Abwehrmechanismen des Wirts Pathophysiologisch resultieren Harnwegsentzündungen aus bakterieller Virulenz und den Abwehrmechanismen des Wirts ▶ [1593], ▶ [1642]. Die ableitenden Harnwege sind gegenüber Bakterien, die eher zufällig, so z.B. beim Katheterismus oder auch beim Geschlechtsverkehr, in geringer Zahl hineingelangen, weitgehend unempfindlich.
Praxis Die Verdünnung des Bakterieninokulums im Urin und eine regelmäßige Blasenentleerung verhindern die Anheftung der Bakterien. Urin ist wegen seiner Hyper- oder Hypoosmolarität, seiner hohen Harnstoffkonzentration, seines Gehalts an organischen Säuren und seines wechselnden, oft niedrigen pH-Wertes (pH 4,8–7,5) für viele Bakterien kein günstiges Milieu ▶ [1650]. Uromucoid (Tamm-Horsfall-Glycoprotein), das im aufsteigenden Teil der Henle-Schleife gebildet wird und entweder in Urin gelöst oder an Uroepithel gebunden vorliegt und die von Sekretoren ausgeschiedenen zuckerhaltigen Blutgruppensubstanzen (AB, B) binden uropathogene E.coli, die dann bei der Urinentleerung eliminiert werden ▶ [1650]. Antibakterielle Faktoren sind in der Blasenschleimhaut und im Prostatasekret (zinkgebunden) beschrieben worden ▶ [1661]. Humanes β-Defensin-1 (hBD-1) ist ein antimikrobiell wirksames Peptid, dessen Vorstufe mit 68 Aminosäuren in den Zellen der Henle-Schleife und den Sammelröhrchen gebildet und nach proteolytischer Spaltung in verschiedenen Isoformen mit 36–47 Aminosäuren im Urin (Konzentration 10–100 µg/l) sezerniert wird ▶ [1614], ▶ [1655]. Welche Rolle humorale, spezifisch gegen uropathogene Erreger gebildete Antikörper spielen, ist unbekannt ▶ [1593], ▶ [1650]. Infektionen der unteren Harnwege, meist Hohlrauminfektionen, induzieren nur eine geringe Antikörperantwort; im Urin findet man keine Antikörper gegen Pili (Fimbrien). Bei oberen Harnwegsinfektionen, meist Parenchyminfektionen, werden IgM, IgG und IgA gebildet. IgG und sekretorisches IgA werden im Urin nachgewiesen. Gegen Körper (O)- und Piliantigene gerichtete Antikörper hemmen die Adhärenz uropathogener E.coli. Die uroepitheliale Sekretion von Zytokinen ist mit dem Schweregrad der parenchymalen Reaktion assoziiert ▶ [1598]. Zellvermittelte Immunprozesse spielen nur bei der Urogenitaltuberkulose eine Rolle.
33.2.5 Infektionsbegünstigende Faktoren (prädisponierende Faktoren, Risikofaktoren) Merke Unspezifische Harnwegsinfektionen sind die häufigsten bakteriellen Infektionen des Menschen (s. Übersicht bei Sobel u. Kaye ▶ [1650]).
Ihre Häufigkeit wird wesentlich von Alter und Geschlecht beeinflusst ( ▶ Tab. 33.2 ). Die Häufung bei Mädchen und Frauen ist auf den urethralen Infektionsmechanismus zurückzuführen. Bei Frauen kommt es aus der Fäkalflora zur Kolonisation von Perineum und Vestibulovaginalbereich mit anschließender Infektion und Aszension über die kurze Harnröhre. Die Harnwegsinfektion kann beim Kind durch eine habituelle Harnretention, bei der geschlechtsreifen Frau durch den Koitus (Mikrotraumen der Urethra, Keimverschleppung) begünstigt werden. Tab. 33.2 Harnwegsinfektionen in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht. Alter
Häufigkeit (%) Verhältnis m:w
Säuglinge
1
1,5:1
Vorschulalter
2–3
1:10
Schulalter
1–2
1:30
20–50 Jahre
2,5
1:50
60–70 Jahre
20
1:10
>80 Jahre
30
1:2
Weitere Mechanismen, die eine bakterielle urogenitale Infektion und Entzündung fördern ▶ [1650], sind in der Übersicht zusammengefasst.
Merke Weitere eine bakterielle urogenitale Infektion und Entzündung fördernde Mechanismen mechanische Obstruktion Striktur Stenose Stein funktionelle Obstruktion neurogene Blasenlähmung Urolithiasis bakterielle Besiedlung der Steine Schwangerschaft vermindertes Uromukoid Weitstellung der Harnwege hohes Alter obstruktive Uropathie Verminderung des antibakteriellen Prostatafaktors Stuhlinkontinenz vermindertes Uromukoid Verwendung von Portiokappen, Scheidendiaphragmen und spermiziden Gelen zur Kontrazeption (Veränderung der vaginalen Standortflora
Veränderung der Zelloberflächen instrumentelle Manipulation Dauerkatheter Störung der Blasen-Muzin-Schicht erleichterte Keimaszension genetische Faktoren Frauen mit Blutgruppen B oder AB (Nichtsekretoren) Frauen mit Histokompatibilitätsantigen HLA A3 erhöhte Rezeptorendichte des Uroepithels mit erhöhter bakterieller Adhäsivität Diabetes mellitus eingeschränkte Granulozytenfunktion Defekte in der lokalen Urin-Zytokin-Sekretion; ▶ [1602] Hyperosmolarität des Urins Inaktivierung des Komplementsystems verminderte Chemotaxis der Granulozyten
33.3 Grundlagen der mikrobiologischen Diagnostik und Therapie 33.3.1 Diagnostik Die mikrobiologische Diagnostik umfasst die folgenden Untersuchungen ▶ [1624], ▶ [1650]: Erregernachweis und -differenzierung, Keimzahlbestimmung, Empfindlichkeitstestung (Resistenzbestimmung).
33.3.1.1 Erregernachweis und -differenzierung Zur orientierenden Untersuchung können Eintauchmedien (z.B. Uricult) eingesetzt werden. Bei nachgewiesenem Wachstum werden von diesem zur Keimdifferenzierung und Resistenzbestimmung Einzelkolonien auf Nährböden übertragen. Bei der Standarddiagnostik werden definierte Volumina urogenitaler Sekrete auf Optimal-, Selektiv- und Indikatornährböden, z.B. Blut-, MacConkey-, Sandys- und Sabouraud-Platten, ausgestrichen und für 24–48 h bei 37°C inkubiert. Die Keime werden differenziert, und aus der Zahl der gewachsenen Kolonien wird die Keimzahl im Untersuchungsmaterial errechnet ▶ [1624], ▶ [1645]. Schwer anzüchtbare Erreger, z.B. Chlamydia trachomatis und Mycoplasma genitalium, werden durch Amplifikation ihrer DNA mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) nachgewiesen ▶ [1624], ▶ [1645].
33.3.1.2 Keimzahlbestimmung
Alle Erreger von Harnwegsinfektionen werden quantitativ bestimmt. Abhängig von Krankheitsbild, Abnahmeart und -technik werden verschiedene Erregerzahlen als signifikant angesehen (Mittelstrahlurin: ≥105 Erreger/ml; Katheterurin: ≥104 Erreger/ml; Blasenpunktionsurin: Erregernachweis). Der Nachweis einer signifikanten Bakteriurie (≥105 Erreger/ml Mittelstrahlurin) bedeutet mit einer Wahrscheinlichkeit von 95%, dass eine Harnwegsinfektion vorliegt ▶ [1650]. Der Begriff „asymptomatische Bakteriurie“ beschreibt die gleiche Konstellation ohne klinische Symptome einer Harnwegsinfektion.
33.3.1.3 Empfindlichkeitstestung Bei signifikanter Vermehrung fakultativ pathogener Bakterien sollte die Erregerempfindlichkeit gegenüber antimikrobiellen Stoffen in vitro durch Reihenverdünnungs-, Agardilutions- oder Plättchendiffusionstests ermittelt werden.
Merke Begriffsbestimmung Bakterielle Resistenz/Unempfindlichkeit Eine bakterielle Resistenz (besser: Unempfindlichkeit) liegt vor, wenn die in vitro gemessene minimale Hemmstoffkonzentration (MHK) höher ist als die in vivo am Infektionsort erreichbare Konzentration. Die Gewebsspiegel eines antimikrobiellen Stoffes sollten deutlich (2- bis 5-mal) höher sein als die MHK-Werte ▶ [1624]. Auf der anderen Seite spielt bei der Therapie der Harnwegsinfektionen auch die Aktivität einer antibakteriellen Substanz im Urin eine wichtige Rolle, da sich ein signifikanter bakterieller Anteil im Harntraktlumen befindet.
Merke Das Medium Urin hat zudem aufgrund seiner spezifischen Zusammensetzung und tageszeitlicher Schwankungen bestimmter Ionen (z.B. H+, Mg2+) einen z.T. deutlichen hemmenden Effekt auf bestimmte Antibiotika (z.B. Chinolone), sodass antibiotische Substanzen für die Therapie von Harnwegsinfektionen auch immer in geeigneten pharmakologischen Studien für diese Indikation getestet werden müssen ▶ [1625].
33.3.2 Therapie Die Wahl des antimikrobiellen Stoffs wird durch die Substanz selbst sowie erreger- und patientenabhängige Faktoren bestimmt ( ▶ Tab. 33.3 ). Der Erreger muss gegenüber dem Antibiotikum empfindlich sein. Tab. 33.3 Kriterien zur Auswahl eines antimikrobiellen Stoffes. Medikamentenabhängig Erregerabhängig
Patientenabhängig
Wirkungsspektrum
Erregertyp
Infektionsort
Wirkungsmechanismus
Empfindlichkeit
renale Funktion
Pharmakokinetik
Keimzahl
Abwehrlage
Nebenwirkungen
Infektionsverlauf
Schwere des Krankheitsbilds
Kontraindikationen
Bezug zur Standortflora
Alter
Auch Infektionsort und -verlauf entscheiden über die Wahl des Therapeutikums.
Klinisch kann man zwischen oberer und unterer Etage des Urogenitaltraktes oder zwischen Parenchym- und Hohlrauminfektion unterscheiden ( ▶ Tab. 33.4 ; ▶ [1651]. Alle urogenitalen Infektionen des Mannes mit Ausnahme der Urethritis und der kindlichen Zystitis müssen als Parenchyminfektionen angesehen werden. Daraus folgt, dass auch bei Fehlen klinischer Zeichen einer oberen Harnwegsinfektion eine Parenchyminfektion, beispielsweise in den männlichen Adnexen (Prostata, Nebenhoden), ablaufen kann. Bei der Frau sind nach dieser Einteilung nur das akute Urethralsyndrom und die Zystitis Hohlrauminfektionen. Tab. 33.4 Hinweise für eine Mitbeteiligung der oberen Harnwege bzw. komplizierende Faktoren bei einer Harnwegsinfektion. Diagnostik
Faktoren rezidivierender Verlauf
Anamnese
komplizierende Faktoren in der Anamnese prädisponierende Faktoren: z.B. chronische Niereninsuffizienz Diabetes mellitus Immunschwäche Kathetereinlage Symptomatik
Fieberschübe Flankenschmerz
klinische Untersuchung
klopfschmerzhaftes Nierenlager
bildgebende Verfahren
obstruktive Uropathie Parenchymnarben Anomalien vesikoureteraler Reflux Urolithiasis
Urodynamik
chronische Restharnbildung
Urinsediment
Leukozytenzylinder
Urinbakteriologie
positiver ACB-Test (ACB=Antikörperbeladung von Bakterien) – mit Einschränkungen Erregernachweis im Nierenbeckenurin Verschiebung des Keimspektrums (in Richtung Hospitalkeime)
Nach den neuen Empfehlungen der Infectious Diseases Society of America und einer europäischen Arbeitsgruppe sollte therapieorientiert zwischen komplizierten sowie nichtkomplizierten Harnwegsinfektionen unterschieden werden ( ▶ Tab. 33.5 ; ▶ [1626]. Tab. 33.5 Therapieorientierte Einteilung der Harnwegsinfektionen. Kategorie
Geschlecht Kompliziert
akute HWI (Zystitis)
w
–
akute Pyelonephritis
w
–
komplizierte HWI (Mann und Frau)
w/m
+
asymptomatische Bakteriurie
w/m
±
rezidivierende HWI
w/m
±
Für die antibiotische Therapie gilt grundsätzlich, dass komplizierte Harnwegsinfektionen schlechter als unkomplizierte Harnwegsinfektionen auf eine antibiotische Therapie ansprechen, darüber hinaus bestimmt die Möglichkeit, den komplizierenden Faktor erfolgreich zu therapieren ▶ [1626], die Prognose.
Aufgrund der Heterogenität der HWI hat die Europäische Sektion für Infektionen in der Urologie (ESIU) der EAU eine phänotypisch geführte Klassifikation von HWI vorgeschlagen, bei der die HWI nach dem klinischen Erscheinungsbild als Zystitis (ZY), Pyelonephritis (PN) und Urosepsis (US) und dem Schweregrad der Infektion klassifiziert werden ▶ [1658]. Jedem klinischen Erscheinungsbild wird ein Schweregrad mit arabischen Nummern zugeteilt ( ▶ Tab. 33.6 ). Zusätzlich werden Risikofaktoren berücksichtigt, welche die Prognose modifizieren und Einfluss auf die Diagnose und Therapie nehmen können. Diese Risikofaktoren werden als ORENUK-System beschrieben und beinhalten 6 Hauptkategorien ( ▶ Tab. 33.7 ). Tab. 33.6 Klinische Präsentation von Zystitis, Pyelonephritis und Urosepsis und Einteilung des Schweregrads. Akronym
klinische Diagnose
klinische Symptome
ZY-1
Zystitis
Dysurie, Pollakisurie, Drangbeschwerden, suprapubische 1 Schmerzen; teilweise unspezifische Symptome
Schweregrad
PN-2
milde und mäßig ausgeprägte Pyelonephritis
Fieber, Flankenschmerzen, Flankenklopfschmerz mit oder ohne Symptome einer ZY
2
PN-3
schwere Pyelonephritis
wie PN-2 zusätzlich Übelkeit/Erbrechenmit oder ohne Symptome einer ZY
3
US-4
Urosepsis (einfach)*
Temperatur >38°C oder 90/ min Atemfrequenz >20/min oder paCO2 20 Leukozyten
Exprimat (Sediment)
400-fach
>10 Leukozyten
Sekret (mm3)
Zählkammer
>1000 Leukozyten
Ein vereinfachter Kurztest, der semiquantitativ Urinkulturen vor und nach Prostatamassage (2-Gläser-Probe) miteinander vergleicht, kann die Diagnostik erleichtern ▶ [1629]. Bei der „4-Gläser-Probe“ muss ein Harnwegsinfekt ausgeschlossen werden, um eine korrekte Diagnose ermöglichen zu können.
Weitere Diagnostik Bei der bakteriellen Prostatitis sind im Prostatasekret Zink-, Magnesium- und Calciumkonzentrationen und die antibakterielle Aktivität vermindert, der pH-Wert (>8,0) erhöht. Durch Mitbeteiligung der Bläschendrüsen sinkt der Fructosegehalt im Seminalplasma. Der rektale Tastbefund lässt nur bei akuter Prostatitis und Prostataabszess einen Hinweis auf die klinische Diagnose zu. Um zwischen chronisch bakterieller Prostatitis und einer Harnwegsinfektion unterscheiden zu können, hat sich die Gabe von Nitrofurantoin vor der Durchführung der Lokalisationsdiagnostik bewährt. Nitrofurantoin wirkt nur im Urin und diffundiert nicht in parenchymatöse Organe und das Prostatagewebe. Dadurch kann der Mittelstrahlurin von Erregern „gesäubert“ werden, während die Isolierung von Erregern aus dem Prostataexprimat ungestört bleibt. Ureaplasma urealyticum, Mycoplasma genitalium und Chlamydia trachomatis sind akzeptierte Urethritiserreger. Da ihre Rolle bei entzündlichen Formen des Prostatitissyndroms nicht eindeutig geklärt ist, muss eine Urethritis ausgeschlossen werden ▶ [1662].
Ejakulatanalyse Erhöhte Leukozytenzahlen im Ejakulat werden als weiteres Diagnosekriterium einer entzündlichen Prostatitis vorgeschlagen ( ▶ Tab. 33.12 ).
Merke Gemäß der Definition der WHO sind ≥106 peroxidasepositive Leukozyten (PPL)/ml Ejakulat Hinweis auf einen entzündlichen Adnexprozess. Da Prostata und Bläschendrüsen etwa 90% des Ejakulatvolumens bilden, ist zu erwarten, dass entzündliche Veränderungen der Prostata auch das Ejakulat beeinflussen. Bei Patienten mit entzündlichem Prostatitissyndrom sind daher erhöhte peroxidasepositive Leukozytenzahlen sowie im Seminalplasma erhöhte Granulozytenelastase und Komplement C2 nachzuweisen. Ob Patienten mit chronischer Prostatitis eine Beeinträchtigung des Fertilitätspotenzials aufweisen, ist umstritten ▶ [1667].
Transrektaler Ultraschall Die Bedeutung des transrektalen Ultraschalls (TRUS) beim Prostataabszess wurde bereits dargestellt. Welche sonografischen Zeichen bei der chronischen Prostatitis kennzeichnend sind, wird unterschiedlich beurteilt. Gesichert erscheint, dass bei der chronischen Prostatitis gehäuft Prostatasteine und unilaterale Bläschendrüsenveränderungen als Zeichen – aber nicht als Beweis – einer echten Entzündung gefunden werden ▶ [1618]. Somit ist eine Diagnosestellung mit sonografischen Kriterien nicht möglich.
Infravesikale Obstruktion Infolge von Veränderungen in der Urethra mit Verwirbelung des laminaren Urinstroms können „prostatitische Beschwerden“ auftreten. Da sich bei 30–40% der Patienten urodynamisch wirksame Veränderungen zeigen, ist die Abklärung der Blasenentleerung
obligat. Funktionelle Veränderungen dominieren mit 33% gegenüber echten Obstruktionen, die etwa 2% betragen sollen ▶ [1621]. Einzelne Arbeitsgruppen sehen in dem durch eine vermehrte adrenerge Stimulation des Beckenbodens verursachten Harnröhrenverschlussdruck mit konsekutivem Influx von Urin in die Prostatagänge einen wesentlichen Pathomechanismus der Schmerzgenese. Im Gegensatz zu diesen Ergebnissen zeigte eine komplette urodynamische Abklärung nur bei wenigen Patienten mit chronischer Prostatitis eine signifikante subvesikale Obstruktion (Übersicht bei ▶ [1662]). Um eine subvesikale Obstruktion funktioneller oder anatomischer Genese verifizieren zu können, sollte sowohl ein standardisierter Fragebogen (IPSS-Score) als auch eine Uroflowmetrie mit Restharnmessung erfolgen. Bei pathologischen Befunden werden weitere diagnostische Schritte (Miktionzystourethrogramm, Urethrozystoskopie, Zystomanometrie) notwendig.
Bestimmung des prostataspezifischen Antigens Allgemein akzeptiert ist, dass es infolge einer akuten Prostatitis zu einem erhöhten PSASpiegel im Serum kommen kann ▶ [1582]. Bei der chronischen Prostatitis (NIH II und IIIA) sollen bei Patienten unter 50 Jahren ohne Anhalt für benigne Prostatahyperplasie erhöhte PSA-Spiegel in 6–15% gefunden werden. Diese sollen durch eine antibiotische Therapie im Mittel um 25% reduziert werden. Dieser Ansatz wird jedoch kontrovers diskutiert. Sichere Parameter, diese Patientengruppen von jenen mit Prostatakarzinom differenzieren zu können, existieren zurzeit nicht.
33.4.9.5 Differenzialdiagnose Bei jedem Patienten mit unklarem Beckenschmerzsyndrom sollte eine proktologische Untersuchung erfolgen. Hämorrhoiden, Analfissuren und Proktitiden verursachen eine ähnliche Symptomatik (Anogenitalsyndrom). Interstitielle Zystitis und Blasentumor müssen ausgeschlossen werden. Bei Patienten im Alter über 60 Jahre sind Prostatahyperplasie oder Blasenhalssklerose mit prostatitischen Symptomen vergesellschaftet.
33.4.9.6 Therapie Akute und chronische bakterielle Prostatitis (NIH I, II) Unmittelbar nach Entnahme einer Mittelstrahlurinprobe erfolgt bei der akuten bakteriellen Prostatitis die antibiotische Therapie. Wichtig bei der Therapie der akuten bakteriellen Prostatitis ist die empirische parenterale Gabe hoher Dosen eines bakteriziden Antibiotikums. Hierzu können verwendet werden: Breitspektrum-Penicilline (in Verbindung mit β-Lactamase-Hemmer), Dritt-Generations-Cephalosporine oder Fluorochinolone
Vorsicht Aufgrund von Nachweisen zu gestiegenen Resistenzraten und dem vermehrten Auftreten von unerwünschten, teils schweren Arzneimittelwirkungen haben sich die Empfehlungen zum Einsatz von Fluorchinolonen in den vergangenen Jahren geändert und das Indikationsspektrum eingeschränkt. Vor der Gabe sollte der Anwender daher stets aktuelle Hinweise und Handlungsempfehlungen prüfen, z.B.
Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel (BfArM; https://www.bfarm.de/) Informationen von Fachgesellschaften, z.B. Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (https://www.dgfn.eu/nachrichtenleser-361/information-zur-anwendung-vonfluorchinolon-antibiotika.html) Interdisziplinäre S3 Leitlinie Harnwegsinfektionen (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043044k_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf) Es wird eine antibiotische Behandlung über 4 Wochen (nach Umstellung auf ein orales Präparat) empfohlen. Zusätzlich wird die Entlastung der Blase mittels suprapubischer Ableitung empfohlen. Beim Prostataabszess als einer Sonderform der akuten Prostatitis ist in Einzelfällen ein konservatives Vorgehen möglich: hochdosierte antibiotische Therapie, suprapubischer Katheter, Verlaufskontrolle mit TRUS. In den meistens Fällen wird eine Entlastung des Abszesses notwendig, wobei hier die transrektale Punktion unter TRUS-Kontrolle als Standardverfahren favorisiert wird ▶ [1619]. Bei der chronischen bakteriellen Prostatitis steht an erster Stelle die antimikrobielle Therapie, primär mit einem modernen Fluorochinolon für 2–4 Wochen, bei Versagen der Primärtherapie über einen längeren Zeitraum (Cave: Warnhinweise zur Anwendung von Fluorchinolonen beachten!). Mit dieser Therapie sind bei gramnegativen Infektionen mikrobiologische Heilungsraten von über 70% zu erwarten ▶ [1668]. Aufgrund der längeren Therapiedauer und der niedrigeren Erfolgsrate gilt Cotrimoxazol als Mittel der 2. Wahl ( ▶ Tab. 33.14 ). Tab. 33.14 Antibiotische Therapie der chronischen bakteriellen Prostatitis. * Cave: Warnhinweise zur Anwendung von Fluorchinolonen beachten! Therapie
Substanz
Dauer
Bemerkungen
Primärtherapie
Fluorochinolone (1. Wahl)*
2–4 Wochen
Heilungsrate ca. 70% Therapieversager durch Prostatasteine (?) fokale Erregerpersistenz (Biofilm)
Trimethoprim oder Cotrimoxazol
3 Monate
Heilungsrate 50% weniger gute Anreicherung im entzündlichen alkalischen Prostatamilieu
Langzeittherapie
Trimethoprim oder Nitrofurantoin 3–6 Monate
niedrige Dosierung zur Supprimierung exazerbierender Infekte
Praxis Die Kombination von antimikrobieller Therapie und Gabe eines α-Rezeptorenblockers soll den Therapieerfolg verbessern. Inwieweit eine Normalisierung der Symptome durch eine Eradikation des Erregers zu erzielen ist, ist bisher nicht evaluiert. Für die Behandlung einer durch grampositive Erreger (Enterokokken) verursachten chronisch bakteriellen Prostatitis bestehen keine einheitlichen Therapierichtlinien.
Bei Versagen der kurativ intendierten antibiotischen Therapie wird eine niedrigdosierte Langzeitantibiose mit Trimethoprim oder Nitrofurantoin eingeleitet. Bei therapierefraktären Patienten über 50 Jahre kann eine radikale transurethrale Resektion der Prostata diskutiert werden, wobei eine komplette Resektion des infizierten intrakapsulären Gewebes erzielt werden muss, um Infektionsfoci zu eliminieren.
Beckenschmerzsyndrom (NIH III A,B) Da die Ursache in den meisten Fällen unbekannt ist, gestaltet sich die Therapie schwierig und ist letztlich probatorischer Natur. Bei Urethritisanamnese oder gesicherter Ureaplasmen- oder Chlamydieninfektion wird mit einem oralen Tetracyclinpräparat für die Dauer von 14 Tagen behandelt. Bei rezidivierendem Verlauf muss auch die Partnerin einbezogen werden. Alternativ kann auch Erythromycin oder Azithromycin verordnet werden. Die Wirksamkeit einer derartigen Therapie ist unklar; eine sonstige kausale Behandlung existiert nicht. In diesem Fall muss sich die Therapie symptomorientiert auf Linderung der Entzündungssituation und Verbesserung der Sekretdrainage beschränken. In der Literatur wurde eine ganze Reihe von Therapiemaßnahmen beschrieben, deren Wirksamkeit allerdings nur in wenigen Fällen evaluiert wurde. Bei funktionellen Blasenentleerungsstörungen hat sich die Gabe eines selektiven α-Rezeptorenblockers bewährt, auch in Kombination mit einem Benzodiazepin. Eine Übersicht über die wichtigsten aktuellen Therapieansätze gibt ▶ Tab. 33.15 wieder ▶ [1617]. Tab. 33.15 Denkbare Therapiestrategien bei Kategorie-III-Prostatitis. Therapie
Positiver Effekt bei NIH IIIA Positiver Effekt bei NIH IIIB
Antibiotika
+
α-Blocker
+
α-Blocker und Antibiotika
+
+
wiederholte Prostatamassage nichtsteroidale Antiphlogistika
+
Analgetika/Antidepressiva
+
Biofeedback
+ +
Phytotherapie (z.B. Cernilton, Quercetin)
+
5-α-Reduktasehemmer
+
Muskelrelaxanzien
+
+ +
NIH: National Institutes of Health
Asymptomatische entzündliche Prostatitis (NIH IV). Bei einer asymptomatischen Prostatitis ist eine Therapie nicht indiziert, vorausgesetzt, es treten keine rezidivierenden Harnwegsinfekte auf. Wurde die asymptomatische Prostatitis als Zufallsbefund im Rahmen einer Fertilitätsabklärung diagnostiziert, ist die Gabe eines Antibiotikums in Betracht zu ziehen. Eine Entzündung wird häufig bei symptomfreien Patienten in Prostatabiopsien gefunden. Eine neue histologische Klassifikation, die mit einer klinischen Prostatitis assoziiert ist, wird derzeit vorbereitet. Bei einem Teil der Patienten mit erhöhtem PSA, aufgrund dessen erfolgter Biopsie und benigner Histologie mit begleitender Entzündung kann eine antimikrobielle Therapie mit PSA-Kontrolle nötig sein, bevor eine Re-Biopsie geplant wird.
33.4.9.7 Komplikationen und Prognose Die wichtigste Komplikation der akuten Prostatitis ist der Prostataabszess. Urogenitalinfektionen können bei genetisch disponierten Patienten, die HLA-B-27-positiv sind, eine abnorme immunologische Reaktion auslösen, die zu einer seronegativen
Arthritis, z.B. ankylosierender Spondylarthritis (Morbus Marie-Strümpell-Bechterew) und Morbus Reiter, führt ▶ [1608], ▶ [1644]. Die Abgrenzung psychosomatischer Probleme stellt für den mit der Prostatitis speziell befassten Urologen in Diagnostik und Therapie eine der größten Herausforderungen dar, insbesondere bei lange bestehenden sexuellen Problemen, Erwartungsängsten und Partnerproblemen.
33.4.10 Granulomatöse Prostatitis Hierbei handelt es sich um eine granulomatöse Entzündung, die in spezifische (z.B. tuberkulöse Infektion), unspezifische, allergische und nach TUR-Prostata auftretende Formen unterteilt wird. Das histologische Bild ist durch herdförmige Ansammlungen von Lymphozyten, Plasmazellen, Histiozyten, Epitheloid- und Riesenzellen gekennzeichnet ▶ [1652].
33.4.10.1 Ätiologie Granulomatöse Prostataentzündungen spezifischer Genese werden durch Mykobakterien (auch atypische Mykobakterien), Treponema pallidum, Brucella spp. und Pilze hervorgerufen. Allergische granulomatöse Prostatitiden sollen bei Patienten mit Asthma bronchiale oder einer systemischen Granulomatose auftreten. Als weitere Ursache wird eine vorausgegangene transurethrale Resektion diskutiert. Granulomatöse Reaktionen sollen auch nach BCG-Instillationstherapie der Blase auftreten ▶ [1652].
33.4.10.2 Symptomatik Die Symptomatik ist uncharakteristisch. Bei rektaler Untersuchung tastet man eine karzinomverdächtige, harte Prostata.
33.4.10.3 Diagnose Die Diagnosesicherung, auch zum Ausschluss eines Karzinoms, erfolgt durch Prostatabiopsie.
33.4.10.4 Therapie Die Therapie richtet sich nach der Ursache. Bei spezifischen Infektionen und systemischen Granulomatosen erfolgt eine entsprechende Behandlung. Eine transurethrale Resektion ist z.B. bei persistierenden Blasenentleerungsstörungen indiziert. Da die meisten Fälle einer granulomatösen Prostatitis spontan ausheilen, erfordert sie keine Therapie.
33.4.11 Prostatovesikulitis Die Entzündung der Bläschendrüsen (Vesikulitis) verläuft immer mit einer Prostataentzündung unter Beteiligung der hinteren Harnröhre als „Prostatourethrovesikulitis“. Ätiologie, Pathogenese, Diagnostik und Therapie der unspezifischen Vesikulitis sind mit dem Krankheitsbild der Prostatitis identisch. Selten, fast immer im Rahmen von kongenitalen Veränderungen, wie einer ektopen Mündung des Ureters in eine Bläschendrüse, tritt eine akute Prostatovesikulitis mit Abszedierung oder Ausbildung eines Bläschendrüsenempyems auf. Zur Sicherung und Drainage eines Empyems kann eine ultraschallgesteuerte perineale Punktion durchgeführt werden.
33.4.12 Epididymitis
33.4.12.1 Ätiologie Die Entzündung von Nebenhoden und Samenstrang (Epididymitis und Deferentitis) entsteht meist aszendierend nach Urethritis oder Harnwegsinfektion. Nichtinfektiöse Ursachen sind selten (s. Übersicht).
Praxis Einteilung der Epididymitis Nachweis sexuell übertragbarer Erreger Neisseria gonorrhoeae Chlamydia trachomatis andere Andere infektiöse Ursachen Uropathogene Erreger gramnegative Bakterien Enterokokken bei systemischer Infektion urinogen-chemisch traumatisch idiopathisch Generell findet sich ein breites Erregerspektrum in allen Altersklassen, wobei Neisseria gonorrhoeae, Chlamydia trachomatis und Enterobakterien die häufigsten Erreger der akuten Epididymitis bei jüngeren Männern sind. Bei älteren Patienten finden sich meist E.coli und Pseudomonas aeruginosa sowie andere Erreger von Harnwegsinfektionen ▶ [1578], ▶ [1631], ▶ [1662], ▶ [1664].
Merke Wenn Kinder an einer akuten Epididymitis erkranken, besteht fast immer eine Obstruktion mit Nachweis einer Harnwegsinfektion. Eine hämatogen entstandene Epididymitis wird selten infolge einer Sepsis, z.B. mit Streptococcus pneumoniae, Brucella spp. ▶ [1628] und Neisseria meningitidis, beobachtet. Die wichtigste nichtinfektiöse Form ist die „chemische“ Epididymitis als eine entzündliche epididymale Reaktion bei Reflux sterilen Urins bei insuffizientem Verschlussmechanismus im Bereich des Colliculus seminalis. Diese Veränderungen spielen beim Erwachsenen nach transurethraler Prostataresektion, Blasenhalsadenomenukleation oder manifester neurogener Blasenentleerungsstörung eine wichtige Rolle.
33.4.12.2 Pathomorphologie Die unspezifische Epididymitis geht mit einer massiven leukozytären Infiltration der Lumina, der Duktus und des interstitiellen Gewebes einher. Im Verlauf kommt es zur fibrotischen Ausheilung oder Abszedierung. Bei der komplizierten Epididymoorchitis kommt es häufig zu einer tubulär-interstitiellen Entzündung des Hodens (Begleitorchitis).
33.4.12.3 Symptomatik Leitsymptom der akuten Epididymitis ist die schmerzhafte Schwellung des Nebenhodens. In Einzelfällen kann dieser nicht vom Hoden abgegrenzt werden (Epididymoorchitis). Die Entzündung beginnt meist im Nebenhodenschwanz. Eine Begleithydrozele kann auftreten. Häufig haben die Patienten Fieber. Entsprechend der Ätiopathogenese findet man Symptome einer Harnwegsinfektion oder Urethritis mit Ausfluss. Fluktuation weist auf Abszedierung hin. Die klinische Diagnose erfolgt durch Inspektion, Palpation und Nachweis des geschwollenen, infiltrierten und druckschmerzhaften Nebenhodens. Die Haut über dem Nebenhoden ist gerötet. Leitsymptom der chronischen Epididymitis ist die anhaltende, schmerzhafte oder schmerzlose Nebenhodenschwellung. Vor allem tuberkulöse Entzündungen können schleichend verlaufen. Palpatorisch finden sich häufig voneinander abgrenzbare, knotig veränderte Bezirke. Auch der Ductus deferens kann perlschnurartig befallen sein.
33.4.12.4 Diagnostik Infektiologie Die infektiologische Diagnostik der Epididymitis sollte das Alter und die Anamnese (Blasenentleerungsstörung) des Patienten berücksichtigen. Bei vorhandenem Urethralfluor erfolgt sie als Urethritisabklärung mit Untersuchung auf Chlamydia trachomatis und Gonokokken ▶ [1670]. Bei fehlendem Urethralfluor wird eine Harnwegsinfektionsdiagnostik durchgeführt. Auch bei allen anderen Fällen, insbesondere bei Patienten über 40 Jahren und Patienten mit Blasenentleerungsstörungen, steht der Nachweis einer Harnwegsinfektion im Vordergrund. Wegweisend für die Diagnostik ist der Befund einer Urethritis mit Ausfluss; der Nachweis von N. gonorrhoeae oder C. trachomatis im Harnröhrenabstrich ist dann mit dem Nachweis des Erregers der Epididymitis gleichzusetzen. Bei Patienten ohne Ausfluss oder mit Blasenentleerungsstörung bei Nachweis einer bakteriellen Harnwegsinfektion gilt der Erreger der Harnwegsinfektion als Ursache der Epididymitis. Bei chronischer Epididymitis sollten eine Harnwegsinfektion ausgeschlossen und eine Tuberkelbakterienkultur angelegt werden.
Klinik Die klinische Diagnostik wird durch die transskrotale Sonografie, insbesondere zum Ausschluss einer Abszedierung oder zum Nachweis einer Hydrozele, ergänzt ( ▶ Abb. 33.10). Sonografie bei Epididymitis. Abb. 33.10 C: Nebenhodenkopf; H: Hoden; HY: Hydrozele
Ejakulatanalyse Sie ist bei akuter Epididymitis nicht indiziert ▶ [1665]. Die wichtigste Indikation zur Ejakulataufarbeitung liegt in der Beurteilung der Fertilität beim rezidivierenden Verlauf ▶ [1667].
33.4.12.5 Differenzialdiagnose Die wichtigste Differenzialdiagnose der akuten Epididymitis ist die Samenstrangtorsion ( ▶ Tab. 33.16 ). Die Diagnose wird durch Dopplerdiagnostik erhärtet, wobei der Nachweis des typischen fauchenden Geräuschs der A. testicularis innerhalb der 6-Stunden-Grenze eine komplette Samenstrangtorsion weitgehend ausschließt. Durch Fehlinterpretation von Dopplersignalen durch hyperämische Skrotalgefäße kann es jedoch in bis zu 10% zu falsch-positiven Befunden kommen, die nur durch den Einsatz der Duplexsonografie weiter reduziert werden können ▶ [1673]. Tab. 33.16 Differenzialdiagnose akute Epididymitis versus Samenstrangtorsion. Epididymitis
Torsion
Alter
nach Pubertät
Pubertät
Anamnese
einige Stunden
perakut
Allgemeinsymptome
(Fieber)
bis Schocksymptomatik
Hodenlage
normal
Hochstand
Prehn-Zeichen1
Schmerzlinderung verstärkte Schmerzen
Urinbefund (1. und MS-Urin) Leukozyturie
unauffällig
1
Schmerzänderung bei Anheben des Hodens/Nebenhodens. Abkürzung: MS=Mittelstrahl
Eventuell erleichtert die Bestimmung der Akutphasenproteine im Serum die Differenzialdiagnose zwischen Entzündung und Nichtentzündung ▶ [1590]. In allen Zweifelsfällen muss der Hoden operativ freigelegt werden. Weitere differenzialdiagnostisch wichtige Erkrankungen sind Hydatidentorsion, Orchitis, akute Hydrozele beim Kind, Begleitepididymitis bei Hoden- und Nebenhodentumoren
sowie Skrotalhernien. Die wichtigste Differenzialdiagnose der chronischen unspezifischen Epididymitis ist der seltene Nebenhodentumor.
33.4.12.6 Therapie Merke Die Therapie der akuten Epididymitis muss sofort nach Probenentnahme eingeleitet werden. Die Therapie der akuten Epididymitis erfolgt initial ohne Abwarten der Erregerdifferenzierung und Empfindlichkeitsbestimmung sofort nach Probenentnahme. Bei jüngeren Patienten, bei denen ätiologisch vor allem Gonokokken und Chlamydia trachomatis zu berücksichtigen sind, gelten die Regeln der Urethritisbehandlung, evtl. unter Verlängerung der Therapiedauer ( ▶ Tab. 33.17 u. ▶ Tab. 33.18 ). Tab. 33.17 Empfohlene Behandlung der gonorrhoischen Urethritis. * Cave: Warnhinweise zur Anwendung von Fluorchinolonen beachten! Präparat
Dosierung
Behandlungsdauer
Ceftriaxon
1 g i.m./i.v.
als Einmaldosis
plus Azithromycin
1,5 g p.o.
als Einmaldosis
Kalkulierte Therapie
Gezielte Therapie (bei vorliegendem Antibiogramm) Cefixim 400
mg p.o.
als Einmaldosis
oder Ciprofloxacin*
500 mg
als Einmaldosis
oder Ofloxacin*
400 mg
als Einmaldosis
oder Azithromycin
1,5 g p.o.
als Einmaldosis
Tab. 33.18 Empfohlene Behandlung der nichtgonorrhoischen Urethritis. * Cave: Warnhinweise zur Anwendung von Fluorchinolonen beachten! Präparat
Dosierung
Behandlungsdauer
Doxycyclin
2×100 mg p.o.
für 7 Tage
oder Azithromycin
1,5 g p.o.
als Einmaldosis
C. trachomatis
M. genitalium Azithromycin
0,5 g p.o.
gefolgt von Azithromycin
0,25 g p.o.
für 7 Tage
oder Moxifloxacin*
400 mg p.o.
für 10–14 Tage
Metronidazol
2 g p.o.
als Einmaldosis
oder Tinidazol
2 g p.o.
als Einmaldosis
oder Metronidazol
2×0,5 g p.o.
für 7 Tage
T. vaginalis
Die Therapie ist in Zentraleuropa in der Regel wirksam bei Gonokokken- und Chlamydieninfektionen. Unter Berücksichtigung der weltweit beobachteten Zunahme resistenter Gonokokkenstämme empfehlen die Centers for Disease Control and Prevention eine Kombinationstherapie mit Ceftriaxon (250 mg i.m.; Eindosistherapie) plus Doxycyclin (100 mg oral 2-mal täglich, über 7 Tage). Bei akuter Epididymitis älterer Patienten werden Cephalosporine und Aminoglycoside gegeben. Alternativ können Fluorochinolone eingesetzt werden ▶ [1665], ▶ [1670].
Vorsicht Aufgrund von Nachweisen zu gestiegenen Resistenzraten und dem vermehrten Auftreten von unerwünschten, teils schweren Arzneimittelwirkungen haben sich die Empfehlungen zum Einsatz von Fluorchinolonen in den vergangenen Jahren geändert und das Indikationsspektrum eingeschränkt. Vor der Gabe sollte der Anwender daher stets aktuelle Hinweise und Handlungsempfehlungen prüfen, z.B. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel (BfArM; https://www.bfarm.de/) Informationen von Fachgesellschaften, z.B. Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (https://www.dgfn.eu/nachrichtenleser-361/information-zur-anwendung-vonfluorchinolon-antibiotika.html) Interdisziplinäre S3 Leitlinie Harnwegsinfektionen (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043044k_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf) Infiltration des Samenstrangs mit einem Lokalanästhetikum, lokale Kühlung und Hochlagerung lindern die Schmerzen. Bei Verdacht auf urinogene Entzündung durch Reflux infizierten oder sterilen Urins in die Samenleiter, d.h. bei vorhandener signifikanter Bakteriurie oder neurogener Blasenentleerungsstörung, ist eine suprapubische Harnableitung indiziert. Indikationen zur Epididymektomie sind selten und ergeben sich bei chronischer Nebenhodenentzündung oder bei Versagen konservativer Maßnahmen sowie bei Verdacht auf ein Malignom des Nebenhodens. Beim älteren Mann bleibt die Semikastration eine therapeutische Option bei therapierefraktärem Verlauf.
33.4.12.7 Komplikationen und Prognose Im Verlauf kommt es auch bei erregergerechter Therapie zu einer nur langsamen Rückbildung der Schwellung, wobei in bis zu 20% eine Restinfiltration, Narbe oder Spermatozele verbleiben. Abszedierungen treten in etwa 5%, vaskulär-entzündlich bedingte Hodeninfarkte vereinzelt auf. Eine zeitweilige oder bleibende Infertilität kann nach einer Epididymitis auftreten. Reversible Oligoasthenoteratozoospermien treten zwangsläufig auf und werden durch die reaktive Begleitorchitis erklärt ▶ [1667]. Wichtigste Komplikation einer bilateralen Epididymitis ist eine Verschlussazoospermie. Therapie der Wahl ist hier die mikrochirurgische Epididymovasostomie (Kap. ▶ 62).
33.4.13 Orchitis Die Orchitis ist eine Entzündung des Hodens.
33.4.13.1 Ätiologie Eine Orchitis tritt bei vielen bakteriellen Allgemeininfektionen, z.B. mit Salmonella typhi, Brucella spp. ▶ [1628], Mycobacterium tuberculosis, Mycobacterium leprae und Coxiella burnetii, bei Infektionen mit Mumpsvirus und bei Malaria auf. Weitere Formen sind die granulomatöse Orchitis (allergisch, s.u.) und die Epididymoorchitis als sekundäre Mitbeteiligung bei Epididymitis ▶ [1667].
33.4.13.2 Pathomorphologie Bei der bakteriellen oder viralen Orchitis findet man ein granulozytär-rundzelliges Infiltrat. Die granulomatöse Orchitis entsteht als Reaktion auf phagozytierte Spermatozoenlipide. Die akute Epididymoorchitis verläuft eitrig. Als Sonderform ist eine
Mastzellinfiltration beschrieben worden. Die Ausheilung kann zur Zerstörung des Keimepithels und bindegewebigen Umwandlung (Hodenfibrose) führen.
33.4.13.3 Symptomatik Leitsymptom der Orchitis ist die schmerzhafte Hodenschwellung. Die klinischen Symptome der bakteriellen Allgemeininfektion sind für die Diagnostik wegweisend. Die Symptomatik der Mumpsorchitis beginnt 3–4 Tage nach der Parotitis. Sie tritt in 30% beiderseits und postpuberal auf. Oft resultiert eine Hodenatrophie mit Verlust der Spermatogenese (testikuläre Azoospermie). Der Nachweis spezifischer IgM-Antikörper im Serum sichert die Diagnose. Die granulomatöse Orchitis verläuft langsam und betrifft häufig Männer von 40–70 Jahren unter der Symptomatik einer Harnwegsinfektion. Es handelt sich fast immer um eine einseitige derbe Hodenvergrößerung mit echoarmem Schallbild ▶ [1574]. Die Diagnose wird durch Freilegung gesichert. Die Epididymoorchitis verläuft wie eine Epididymitis.
33.4.13.4 Differenzialdiagnose Bei akuter Epididymoorchitis muss eine Samenstrangtorsion ausgeschlossen werden. Die wichtigste Differenzialdiagnose der granulomatösen Orchitis ist der Hodentumor.
33.4.13.5 Therapie Die bakteriellen Allgemeininfektionen werden erregergerecht therapiert.
Merke Die prophylaktische Mumpsimpfung verhindert die Parotitis und komplizierende Orchitis. Sie wird für alle Kleinkinder nach dem 1. Lebensjahr empfohlen. Der Einsatz eines Mumpshyperimmunglobulins ist umstritten, der systemische Einsatz von α-Interferon wird dagegen empfohlen, wobei jedoch Langzeitergebnisse noch ausstehen ▶ [1667]. Die Gabe von steroidalen und nichtsteroidalen Antiphlogistika wird kontrovers diskutiert. Eine medikamentöse Therapie der granulomatösen Orchitis ist nicht bekannt, üblicherweise erfolgt die Semikastration. Die Therapie der Epididymoorchitis entspricht der Epididymitisbehandlung.
33.4.13.6 Komplikationen und Prognose Komplikationen der bilateralen Orchitis sind Hodenatrophie und Sterilität. Die Hodenatrophie entwickelt sich 2–3 Monate nach der Orchitis.
33.4.14 Urethritis Die Urethritis ist eine Entzündung der vorderen Harnröhre.
33.4.14.1 Ätiologie Sexuell übertragbare Infektionen (STI) sind die häufigste Ursache einer Harnröhrenentzündung ▶ [1609]. Häufigste Erreger einer infektiösen Urethritis des Mannes sind Neisseria gonorrhoeae, Chlamydia trachomatis, Mycoplasma genitalium und
Ureaplasma urealyticum. Mischinfektionen sexuell übertragbarer Erreger sind häufig. Andere Erreger (Enterobacteriaceae spp., Enterococcus spp., Streptokokken, koagulasepositive und negative Staphylokokken, Anaerobier [Bacteroides ureolyticus], Mycoplasma hominis, Candida spp., HSV 2, Trichomonas vaginalis) sind selten ▶ [1662]. Die Interaktion zwischen Urethritis mit sexuell übertragbaren Erregern und anderen STIs und der HIV-Erkrankung ist bidirektional und synergistisch.
Vorsicht Das Vorhandensein einer STI (z.B. Urethritis, Zervizitis, genitales Ulkus) bei einem ungeschützten Geschlechtsverkehr kann das Risiko des Erwerbens einer HIV-Infektion um das 5-Fache steigern. Auf der anderen Seite weisen HIV-erkrankte Personen mit einer gleichzeitigen unbehandelten STI eine gesteigerte Virusabgabe auf, welche die Transmissionseffizienz erhöht (Contraception Report 1996). Aus klinischer Sicht müssen eine mechanische und eine allergische Urethritis voneinander abgegrenzt werden. Manipulationen und fehlende sexuelle Beziehungen können auf eine mechanische Urethritis (Masturbation) hinweisen. Allergische Urethritiden werden bei Männern beschrieben, deren Sexualpartnerinnen vaginale Kontrazeptiva verwenden. Der Zusammenhang mit schweren Allgemeinkrankheiten ist meistens klar erkennbar. Einer Urethritis kann auch eine Pilzinfektion bei Immunschwäche zugrunde liegen.
33.4.14.2 Symptomatik Unabhängig von ihrer Genese bietet die Urethritis beim Mann folgende Symptomentrias: wechselnder Urethralfluor, Brennen in der Harnröhre, Schmerzen bei der Miktion. Wichtigster klinischer Befund ist der spontane (morgendliche), in der Menge wechselnde Urethralfluor, der glasig bis trüb, in vielen Fällen auch eitrig sein kann. Die makro- und mikroskopische Beurteilung des Sekrets erlaubt keine ätiologische Zuordnung.
33.4.14.3 Diagnostik Labordiagnostisch sollte eine zytologische und mikrobiologische Untersuchung des Urethralsekrets oder des Harnröhrenabstrichs und des ersten Urins durchgeführt werden. Das Sekret wird mit einer kalibrierten Plastiköse oder mit einem Wattetupfer auf einem Deckglas ausgestrichen. Bei Ersturin beurteilt man das Sediment.
Merke Der Nachweis von ≥4 Leukozyten bei 1000-facher Vergrößerung im Ausstrichpräparat des Sekrets bzw. von ≥15 Leukozyten bei 400-facher Vergrößerung im Sediment von 3 ml des ersten Urins spricht für eine Urethritis. Die mikrobiologische Diagnostik sollte nach einem standardisierten Schema durchgeführt werden, das die wesentlichen Erreger, wie Gonokokken, Chlamydien, Mykoplasmen und Trichomonas vaginalis, umfasst ▶ [1609], ▶ [1643]. Die bakteriellen Spezies können am besten durch Amplifikation ihrer DNA mittels Polymerasekettenreaktion nachgewiesen werden ▶ [1624]. Trichomonas vaginalis wird u.a. in der Nativmikroskopie nachgewiesen.
33.4.14.4 Differenzialdiagnose Prostatasekret kann bei Defäkation und bei sexueller Erregung (Prostatorrhö) austreten. Die zytologische Analyse zeigt blande Sekrettropfen ohne Leukozyten.
33.4.14.5 Therapie Die Therapie erfolgt erregerspezifisch. Unter Berücksichtigung der weltweit zu beobachtenden Zunahme β-lactamasefester Gonokokken und wegen der häufigen Mischinfektionen, z.B. Gonokokken und Chlamydia trachomatis, steht zu erwarten, dass die Therapieempfehlung sich zukünftig an den Richtlinien der Centers for Disease Control and Prevention orientieren wird, die eine Kombinationstherapie mit Ceftriaxon (250 mg i.m.; Eindosistherapie) plus Doxycyclin (2-mal 100 mg oral täglich über 7 Tage) empfiehlt. ▶ Tab. 33.17 u. ▶ Tab. 33.18 fassen die empfohlene Behandlung der gonorrhoischen und nichtgonorrhoischen Urethritis zusammen (s.o. sowie ▶ [1609]). Bei Therapieversagen sollte an eine Infektion mit Trichomonas vaginalis gedacht werden und eine Therapie mit Metronidazol (1-mal 2000 mg oral Einmaldosis) durchgeführt werden.
33.4.14.6 Komplikationen und Prognose Bei allen sexuell übertragbaren Infektionen sind Patient und Sexualpartner infiziert. Diagnostik und Therapie sind bei beiden erforderlich (Kap. ▶ 35). Beim Mann tritt eine aszendierende Infektion der hinteren Harnröhre (Urethritis posterior), der Prostata und des Nebenhodens in 25% der Fälle auf. Posturethritische Harnröhrenstrikturen nach Gonorrhö und Chlamydienurethritis sind lokale Komplikationen. Das Reiter-Syndrom (s. Infobox) wird als komplizierende urogenital getriggerte Allgemeinerkrankung bei genetisch disponierten Patienten angesehen ▶ [1608], ▶ [1610], ▶ [1644]. Diese Trias kommt jedoch nur bei jedem zweiten Patienten vor, in 27% der Fälle tritt eine Balanitis circinata auf.
Merke Begriffsbestimmung Reiter-Syndrom Trias aus Konjunktivitis Urethritis Arthritis Bei 50% aller Patienten wird eine venerische Ursache angenommen. Chlamydia trachomatis kann bei fast jeder Urethritis isoliert werden. Negative Rheumaserologie und der Nachweis des Histokompatibilitätsantigens HLA B27 komplettieren die Diagnostik ▶ [1644].
33.4.15 Urethralsyndrom Mit dem Begriff Urethralsyndrom der Frau wird ein Krankheitsbild bezeichnet, das durch die Symptome Dysurie, Pollakisurie und gehäufter Miktionsdrang gekennzeichnet ist ▶ [1610]. Der Urinbefund ist unauffällig. Ursächlich werden sowohl urethritisähnliche Befunde als auch nichtentzündliche Veränderungen beschrieben. Viele Autoren setzen die
Symptomatik auch mit dem Begriff „abakterielle Zystitis“ oder „Reizblase“ gleich (Kap. ▶ 60).
33.4.15.1 Diagnostik Die Diagnostik einer entzündlichen Genese wird durch den Nachweis von Leukozyten im Urethralabstrich gestellt. Dabei hat sich als Grenzwert der Nachweis von ≥5 Leukozyten im Urethralabstrich (1000-fache Vergrößerung) bewährt. Mikrobiologisch ist beim Nachweis einer Urethritis oft eine „Low-Count-Bakteriurie“ (102–104 Bakterien/ml), insbesondere E.coli, zu finden. Darüber hinaus sind bei vielen Patientinnen Chlamydieninfektionen nachweisbar. Staphylococcus saprophyticus und Herpesviren werden als weitere Erreger diskutiert. Die Häufigkeit dieser mikrobiologischen Ursachen variiert je nach Patientenkollektiv.
33.4.15.2 Differenzialdiagnose Die Differenzialdiagnose umfasst die Vaginitis, Vaginose und Zystitis.
33.4.15.3 Therapie Die Therapie des entzündlichen Urethralsyndroms erfolgt entsprechend dem Erregernachweis.
33.4.16 Balanitis Die Entzündung der Eichel ist meist mit einer Entzündung der Haut des inneren Vorhautblattes verbunden. Deshalb sollte man von einer Balanoposthitis sprechen.
33.4.16.1 Ätiologie Die Balanoposthitis kann durch Pilze, pyogene oder sexuell übertragbare Mikroorganismen ausgelöst werden, aber auch im Rahmen generalisierter entzündlicher Veränderungen auftreten. Die Balanoposthitis ist ein Risikofaktor für das Erwerben einer HIV-Erkrankung.
33.4.16.2 Diagnostik Wegen des breiten Erregerspektrums ist eine am klinischen Befund orientierte mikrobiologische Diagnostik erforderlich. Direktabnahme des Materials mit Ösen, Aspiration von Bläscheninhalt und Abklatschpräparate dienen der Diagnostik (Licht-, Dunkelfeld-, Phasenkontrast- und Elektronenmikroskopie, Immunfluoreszenzuntersuchung und Kultur). Peniskarzinom, Erythroplasie und Lichen sclerosus müssen abgegrenzt werden.
33.4.16.3 Therapie Die Therapie ist erregerspezifisch. Bei rezidivierender Balanoposthitis wird die radikale Zirkumzision empfohlen. Diese ist signifikant mit einer Reduktion der Inzidenz an HIV in Ländern mit vorwiegend heterosexueller Übertragung, aber nicht in Ländern mit vorwiegend homosexueller Übertragung assoziiert ▶ [1594].
33.4.17 Kavernitis und Morbus Fournier Bei Dauerkatheterträgern, Einblutungen nach schweren Beckentraumata und selten nach einer Schwellkörperautoinjektionstherapie (SKAT) kann sich eine Kavernitis per continuitatem oder hämatogen entwickeln. Geschwollene, stark schmerzhafte Schwellkörper und häufig phlegmonöser Verlauf sind typisch. Suprapubische Harnableitung und Antibiotikagabe gehören zur Basistherapie.
Die Fournier-Gangrän ▶ [1595] ist eine akut verlaufende, lebensbedrohliche nekrotisierende Infektion der Faszie und Kutis des Skrotums und des Penisschaftes. Sie beruht auf einer Mischinfektion mit anaeroben und aeroben Erregern (Streptokokken, Enterobakterien, Bacteroides fragilis). Pathologisch-histologisch findet man eine Endarteriitis mit ausgedehnten Nekrosen. Ausgangspunkte sind inadäquat behandelte, anale und urogenitale Infektionen. Die Klinik ähnelt der der Kavernitis ( ▶ Abb. 33.11). Geschwollene, schmerzhafte Schwellkörper, eine phlegmonöse Entzündung von Kutis und Subkutis mit Demarkierung erlauben oft die sofortige Diagnose ( ▶ Abb. 33.11a). Schwere Allgemeinsymptome bis zum septischen Schock komplizieren das Krankheitsbild. Die Therapie besteht in einer sofortigen großzügigen chirurgischen Exzision des nekrotischen Gewebes in Verbindung mit einer Antibiotikakombination aus Clindamycin und einem Breitspektrumantibiotikum (z.B. Piperacillin/Tazobactam, Carbapeneme o.Ä.). Die hyperbare Sauerstofftherapie ist weiterhin umstritten ( ▶ Abb. 33.11b). Morbus Fournier. Abb. 33.11
Abb. 33.11a Befall von Skrotum und Penis.
Abb. 33.11b Befund nach kompletter Exzision des befallenen Gewebes.
33.4.18 Urosepsis und septischer Schock Eine Urosepsis liegt dann vor, wenn von einem urogenitalen Herd ausgehend permanent oder intermittierend pathogene oder fakultativ pathogene Bakterien oder bakterielle Wandbausteine oder Toxine in den Körper eingeschwemmt werden, auf körpereigene Zielzellen einwirken und die Synthese endogener Mediatoren auslösen, die für die klinischen Erscheinungen verantwortlich sind ▶ [1656], ▶ [1588], ▶ [1639]. Erhöhte Lebensgefahr droht beim Übergang der Sepsis in schwere Sepsis und septischen Schock.
33.4.18.1 Inzidenz In den USA erkranken an Sepsis etwa 750000 Patienten/Jahr; ⅔ der Patienten sind älter als 65 Jahre. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen, beträgt die Inzidenz 3:1000, für ältere Menschen (>65 Jahre) 26,2:1000. An Sepsis sterben in den USA jährlich über 200000 Patienten.
Merke In etwa 50% der Fälle geht die Sepsis von den Harnwegen aus. Bei etwa 1% aller nosokomialen Harnwegsinfektionen entwickelt sich eine Urosepsis ▶ [1656], ▶ [1604], ▶ [1639].
33.4.18.2 Ätiologie Eine Urosepsis wird überwiegend durch gramnegative Bakterien (E.coli 52%, andere Enterobacteriaceae spp. 22%, Pseudomonas aeruginosa 4%), seltener durch grampositive Erreger (Enterococcus spp. 5%, Staph. aureus 10%) verursacht. Bei nosokomialen Infektionen sind oft polyresistente Bakterien, z.B. Pseudomonas aeruginosa, ätiologische Erreger. Intakte Bakterien, bakterielle Wandbausteine oder bakterielle Toxine binden an zelluläre Rezeptoren (CD14, TLR2, TLR4, Selektine) und Korezeptoren auf der Oberfläche von Monozyten/Makrophagen, Neutrophilen und Endothelzellen. Über intrazelluläre Botenstoffe (NF-κB, Proteinkinase C) aktivieren sie die Transkription von Mediatorgenen und induzieren die Synthese endogener Mediatoren: Zahlreiche Zytokine, wie Interleukin (IL)-1, IL-6, IL-8, Tumornekrosefaktor (TNF) und Plättchenaktivierungsfaktor (PAF), werden mit unterschiedlicher Kinetik gebildet und freigesetzt und wirken z.T. kooperativ, antagonistisch, proinflammatorisch oder antiinflammatorisch, meist über weitere Mediatoren (Chemokine, Prostaglandine, NO) auf die Zielorgane und sind als „Mediatorengewitter“ verantwortlich für lokale und komplexe systemische Effekte im Wirtsorganismus ▶ [1656], ▶ [1599], ▶ [1604], ▶ [1639], ▶ [1671]. Die komplexen pathophysiologischen Phänomene der Sepsis, der schweren Sepsis und des septischen Schocks sind in einer Übersicht zusammengestellt.
Praxis Pathophysiologische Phänomene bei Sepsis, schwerer Sepsis und septischem Schock Fieber mangelhafte Haut-/Organdurchblutung mit verminderter arteriovenöser Sauerstoffdifferenz durch Umgehung der Kapillaren über multiple Shunts Anhäufung von Lactat (metabolische Azidose) Anoxie Aktivierung des Komplement- und Blutgerinnungssystems Aktivierung der B- und T-Lymphozyten Aktivierung der Neutrophilen mit Steigerung ihrer Chemotaxis und Adhäsivität endotheliale Schrankenstörung mit Flüssigkeits-, Ionen- und Proteinaustritt ins Interstitium Hämokonzentration, Abnahme des zirkulierenden Blutvolumens Ansammlung von Neutrophilen in der Lungenstrombahn, durch Freisetzung von Proteasen und Sauerstoffradikalen gesteigerte alveolar-kapilläre Durchlässigkeit und Transsudation von Flüssigkeit, Ionen und Proteinen in das Interstitium, final Entwicklung eines akuten Atemnotsyndroms (ARDS, Schocklunge) Myokarddepression, Hypotonie gesteigerte Apoptose von Lymphozyten und gastrointestinalen Epithelzellen
disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) Schädigung und schließlich Versagen der Leber-, Nieren- und Lungenfunktion Identische klinische Manifestationen werden auch ohne bakterielle Infektion bei Patienten mit Polytrauma, Ischämie, hämorrhagischem Schock und akuter Pankreatitis beobachtet, sodass 1992 vor allem von Intensivmedizinern eine erweiterte, inzwischen ergänzte Nomenklatur und Klassifikation vorgeschlagen wurde. Sie ist wichtig für die Beurteilung der Prognose eines septischen Patienten und für die Erfolgsbeurteilung neuer therapeutischer Ansätze ▶ [1580], ▶ [1635]. Die Klassifikation beruht auf den in ▶ Tab. 33.19 zusammengestellten Kriterien. Tab. 33.19 Kriterien für die Klassifikation einer Sepsis Kriterium
Definition
Kriterium I
Nachweis einer Bakteriämie (positive Blutkultur) oder klinischer Verdacht auf Sepsis. Die Bakteriämie kann geringgradig (10% („Linksverschiebung“)
Kriterium III Syndrom der multiplen Organdysfunktion (Multiple Organ Dysfunction Syndrome [MODS]) Herz-Kreislauf
Arterieller systolischer Blutdruck ≤90 mmHg oder >40 mm niedriger als früherer Blutdruck des Patienten oder mittlerer arterieller Blutdruck ≤70 mmHg während ≥1 Std trotz adäquater Flüssigkeitszufuhr und adäquatem intravaskulärem Volumenstatus oder Einsatz von Vasopressoren, um den systolischen Blutdruck ≥90 mmHg zu halten.
Niere
Urinproduktion 90 Schläge/min), Hyperthermie (>38°C) oder Hypothermie (50% bei schwerer Sepsis!) initialer Blutkulturen. Essenziell ist die Suche nach der Eintrittspforte (Drainagesekret, Harnwegsinfektion, Operationswunde, Abszesseiter), von der ebenfalls Material zur mikrobiologischen Untersuchung entnommen werden sollte.
Praxis Therapie der Urosepsis Therapieziele Stabilisierung der Hämodynamik Verbesserung der O2-Sättigung und O2-Nutzung Hinreichende Organperfusion Verbesserung der Organfunktion (Herz, Lunge, Leber, Niere) Antimikrobielle Behandlung der Sepsis Sanierung der Eintrittspforte Unterstützende Maßnahmen Therapiemaßnahmen
Die Patienten müssen sofort (innerhalb der ersten Stunde; bereits in der Aufnahmestation) intensiv therapiert werden. Volumensubstitution: Infusion von 1–2 l Elektrolytlösung binnen 1–2 Stunden Ziel: zentraler Venendruck (CVP) 8–12 mmHg mittlerer arterieller Blutdruck ≥65 mmHg, aber ≤90 mmHg Bluttransfusion: Bei Hämatokrit 30 ml/Stunde Kontrolle des Blutzuckers: Ziel: 1,5 mm zeigte sich eine schlechtere Prognose. Weitere potenzielle prognostische Marker beim T1-Karzinom sind vaskuläre Invasion und solides Wachstumsmuster.
T2-Tumoren Die Subklassifikation der pT2-Tumoren anhand der Tiefe der Muskelinfiltration beruht auf Arbeiten aus den 1950-er Jahren. Seitdem hat sich gezeigt, dass die Tiefe der Muskelinfiltration keine wesentlichen prognostischen Aussagen ermöglicht. Aufgrund des geringen Nutzens wurde vorgeschlagen, diesen Aspekt aus der TNM-Klassifikation zu entfernen und stattdessen durch andere prognostische Parameter beim T2Karzinom wie z.B. die Tumorgröße zu ersetzen ▶ [2439].
Praxis Im TUR-Präparat kann nicht zwischen pT2 oder höheren Stadien differenziert werden. Daher sollte der Pathologe beim Verdacht auf ausgedehnteres Wachstum eine Formulierung wie „mindestens pT2“ verwenden.
T3-Tumoren Das T3-Stadium wird durch Invasion des perivesikalen Fettgewebes definiert. Da auch intramurales Fettgewebe in der Blase vorkommt, können pT3-Tumoren nur im Zystektomiepräparat diagnostiziert werden und nicht im TUR-Präparat. Auch hier wurde die Invasionstiefe (>4 mm) als Surrogatparameter im TUR-Resektat vorgeschlagen. Ähnlich wie beim T2Karzinom ist der Wert der Subklassifizierung abhängig vom mikroskopischen bzw. makroskopischen Befall umstritten.
T4-Tumoren T4-Tumoren sind durch die Infiltration angrenzender Organe definiert. Ein CIS der prostatischen Harnröhre sollte hierbei nicht als T4-Stadium im Sinne einer Beteiligung des Prostatastromas gewertet werden. Ebenso ist eine Infiltration der Drüsengänge nicht als Stromainfiltration zu werten. Der Befall des Prostatastromas ist abhängig von der Art der Infiltration zu beurteilen: Kommt es zu einer direkten Infiltration durch die gesamte Blasenwand hindurch, ist die Prognose sehr schlecht. Bei einer Infiltration des Prostatastromas über die prostatische Harnröhre ist die Prognose wesentlich besser. Die direkte perivesikale Infiltration der Samenblasen ist prognostisch ausgesprochen ungünstig.
Regionäre Lymphknoten Regionäre Lymphknoten sind die Lymphknoten des kleinen Beckens. Seit der Auflage 2009 zählen zu den regionären Lymphknotenstationen auch die A. und V. iliaca communis. Während in der Auflage von 2002 noch die Größe die wesentliche Rolle spielte, werden jetzt nur noch Zahl und Lage der Lymphknoten beurteilt ▶ [2082]. Weitere potenzielle prognostische Marker sind die Lymphknotendichte (Lymph Node Density), also das Verhältnis von befallenen Lymphknoten zu entnommen Lymphknoten, sowie die extranodale Ausbreitung ▶ [2482].
45.4.3.3 G-Klassifikation, histopathologisches Grading Das Grading der Tumorzelle stellt einen Aspekt zur Einstufung des individuellen Tumors hinsichtlich seiner malignen Potenz (und daraus abzuleitender therapeutischer Strategien) dar. Bei heterogenem zellmorphologischem Bild (etwa 50%) wird typischerweise der Differenzierungsgrad an der am stärksten von der Norm abweichenden Tumorzellmorphologie orientiert. Das Tumorgrading wird sowohl histologisch als auch zytologisch vorgenommen.
Merke Je geringer die „Dedifferenzierung“ des Tumors ausgeprägt ist, umso schwieriger ist die exakte Zuordnung. Einschränkend muss festgestellt werden, dass die Reproduzierbarkeit des Gradings mit 60–70% schlecht ist. Nach der WHO-Klassifikation von 1973 wurden 3 Tumorgrade differenziert ( ▶ Tab. 45.2 ). In Konferenzen der WHO und der ISUP 1998 und 1999 wurden einige grundlegende Änderungen beschlossen, die durch Änderung der Klassifikation und insbesondere klare Festlegung histomorphologischer Kriterien die Unsicherheit bei der Beurteilung intermediärer Grade reduzieren und verbesserte Kriterien bei Dysplasien definieren sollen, um so letztlich die Überdiagnose (Ta, G1) sowie die Unterdiagnose (Cis) bestimmter Tumorstadien zu vermeiden. Nach diesen im Jahr 2004 publizierten Änderungen ▶ [2499] werden von den papillären Ta-Tumoren sog. papilläre urotheliale Neoplasien mit niedriger maligner Potenz abgegrenzt. Die papillären Ta-Tumoren werden zudem von den mikroinvasiven T1-Tumoren abgegrenzt und sollten aufgrund starker molekularer und biologischer Unterschiede nicht, wie früher üblich, gemeinsam als „oberflächlich“ bezeichnet werden ( ▶ Tab. 45.3 ). Die Änderungen bezüglich der papillären Tumoren sind in ▶ Tab. 45.4 dargestellt. Hinsichtlich der Differenzierungsgrade werden Urothelkarzinome nur noch in Low Grade und High Grade unterteilt. Diese
Änderungen wurden auch in der aktuellen WHO-Klassifikation 2016 beibehalten ▶ [2485]. Tab. 45.2 WHO-Klassifikation 1973 (urotheliales Papillom) Grad
Beschreibung
1
gut differenziert
2
moderat differenziert
3
schlecht differenziert
Gx
Differenzierungsgrad nicht bestimmbar
Tab. 45.3 WHO-Klassifikation 2004/2016 ▶ [2485]. Nichtinvasive Läsionen
urotheliale Dysplasie urotheliales Carcinoma in situ urotheliales Papillom urotheliale Proliferation mit unklarem malignem Potenzial (UPUMP) papilläre urotheliale Neoplasie mit niedriger maligner Potenz (PUNLMP) papilläres urotheliales Low-Grade-Karzinom papilläres urotheliales High-Grade-Karzinom
Invasive Tumoren
Invasion der Lamina propria (T1) Low Grade oder High Grade Invasion der Muskularis propria (≥T2) Low Grade oder High Grade
Tab. 45.4 Vergleich papilläre Tumoren WHO-Grading WHO 1973 WHO 2004/2016 ▶ [2485] Ta, G1
PUNLMP, papilläres Low-Grade-Urothelkarzinom
Ta, G2
Papilläres Low-Grade-Urothelkarzinom, papilläres High-GradeUrothelkarzinom
Ta, G3
Papilläres High-Grade-Urothelkarzinom
45.4.3.4 R-Klassifikation Die R-Klassifikation ist in ▶ Tab. 45.5 dargestellt. Tab. 45.5 R-Klassifikation Einteilung
Kennzeichen
RX
das Fehlen oder Vorhandensein von Residualtumoren kann nicht beurteilt werden
R0
kein Residualtumor
R1
mikroskopischer Residualtumor
R2
makroskopischer Residualtumor
45.4.3.5 Morphologie der Blasentumoren Der Großteil der Blasentumoren (70–80%) ist papillär strukturiert ( ▶ Abb. 45.3); solide wachsende Tumoren sind seltener und exulzerierende Tumoren stellen die Ausnahme dar (diese weisen meist hohe maligne
Potenz mit ungünstiger Prognose aus). Invasive Tumoren unterscheiden sich hinsichtlich der Form ihres Infiltrationsmusters ( ▶ Abb. 45.4). Typisches exophytisches Urothelkarzinom, das von der Blasenmukosa ausgeht und eine starke Verzweigung der Gefäß-Bindegewebs-Septen aufweist. Abb. 45.3 (Quelle: Kausch I, Jocham D. Maligne Tumoren der Harnblase. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Infiltrationstypen. Abb. 45.4
1. plumpe Invasionsfront 2. tentakelförmig (überwiegend G3; Lymphgefäßinvasion 70%) 3. oberflächlich spreizend und tentakelförmig wachsend (überwiegend schlechte Prognose) (Quelle: Kausch I, Jocham D. Maligne Tumoren der Harnblase. In: Jocham D, Miller K [Hrsg]. Praxis der Urologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
45.4.3.6 Lokalisation der Tumoren in der Blase Merke 60–70% aller Blasentumoren treten multifokal auf. Prädilektionsstellen sind die Seiten- und die Hinterwand sowie der Trigonumbereich. Tumoren am Blasendach und an der Vorderwand sind mit 90%). Hinweise auf eine Problematik des oberen Harntraktes gibt die Palpation des Nierenlagers (Druck-/Klopfschmerz), wobei Harnstauungsnieren mittels Sonografie heute sicher erkannt werden.
Merke Die klinische Untersuchung sollte beim Mann die rektale Palpation der Prostata und der Ampulla recti und bei der Frau die vaginale Untersuchung mit Palpation des inneren Genitales einschließen.
45.6.3 Laboruntersuchungen Zur Überprüfung der Nierenfunktion wird das Serumkreatinin bestimmt. Gleichzeitig sollte bereits ein Blutbild mit Gerinnungsprofil durchgeführt werden, da eine Blasentumordiagnostik ohne diagnostische transurethrale Elektroresektion (TUR) nicht möglich ist.
Merke Es gibt derzeit keinen blutgebundenen Tumormarker für das Blasenkarzinom.
45.6.4 Urintests beim Blasenkarzinom 45.6.4.1 Urinteststreifen Urinteststreifen gehören zur Standarddiagnostik beim Großteil der urologischen Patienten. Die Angaben zur Genauigkeit in Hinblick auf den Mikrohämaturienachweis sind ausgesprochen divergent in der veröffentlichten Literatur ▶ [2540]. Dabei ist die Sensitivität in den meisten Studien höher als die Spezifität. Die Werte für Sensitivität und Spezifität liegen je nach Studie zwischen 50 und 100%. Diese Ergebnisse demonstrieren den rein orientierenden Charakter dieser Schnelltestuntersuchung.
Merke Daher sollte bei positivem Ergebnis oder unklaren Situationen immer eine Mikroskopie des Urinsediments erfolgen.
45.6.4.2 Urinmikroskopie In der Urinmikroskopie wird das Sediment einer zentrifugierten Urinportion untersucht. Dazu werden 10 ml Urin 5 Minuten bei 500 g zentrifugiert und 9,5 ml des Überstandes abgenommen. Die restlichen 0,5 ml werden vermischt mit dem Sediment bei 400-facher Vergrößerung mikroskopisch analysiert und ausgezählt.
In der Mikroskopie kann das Ausmaß der Mikrohämaturie quantifiziert werden; zusätzlich gibt sie Hinweise auf eine nephrologische Ursache beim Vorliegen von dysmorphen Erythrozyten oder Erythrozytenzylindern.
45.6.4.3 Urinzytologie Praxis Die Zystoskopie sollte insbesondere bei unauffälligem makroskopischem Befund zur Gewinnung einer Urinzytologie aus der Blasenspülflüssigkeit genutzt werden. Vorteil der Urinzytologie ist die hohe Spezifität der Untersuchung. Die Sensitivität ist bei gut differenzierten, Low-Grade-Tumoren niedrig. Daher ist die Urinzytologie besonders zum Nachweis schlecht differenzierter (High-Grade-) Neoplasien wie dem Carcinoma in situ geeignet, das endoskopisch schwierig zu identifizieren sein kann. Weiterhin ist die Urinzytologie zum Nachweis von High-Grade-Läsionen des oberen Harntrakts geeignet. In den publizierten Metaanalysen liegt die Sensitivität bei etwa 50% (G1-, G2- und G3-Tumoren: 30, 60 und 90%), während die Spezifität bei etwa 95% liegt. Die Urinzytologie ist der Vergleichsstandard bei den meisten Urinmarkerstudien.
Merke Eine negative Zytologie schließt einen schlecht differenzierten (high grade) Tumor mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. Umgekehrt muss bei einer positiven Urinzytologie bei unauffälliger Zystoskopie eine intensive Tumorsuche begonnen werden (Abklärung oberer Harntrakt, ggf. photodynamische Diagnostik).
45.6.4.4 Weitere uringebundene Marker Die Zytologie (s.o.) stellt einen nichtinvasiven Standardmarker beim Blasenkarzinom dar. Die Zytologie ist bei High-Grade-Tumoren ein sehr geeignetes Detektionsinstrument. Problematisch bleibt die Detektion von Low-Grade-Tumoren im Urin. Überdies unterliegt die zytologische pathologische Befundung einer erheblichen Interobservervariabilität. Auf der anderen Seite bestehen das klinische Problem der Invasivität und der Aufwand der Zystoskopie. Deshalb wäre ein uringebundener Marker extrem wünschenswert, der optimalerweise mit hoher Sensitivität und Spezifität zur Identifikation bzw.
zum Ausschluss von Blasentumoren verwendet werden könnte, sodass Zystoskopien nur noch bei besonderem Verdacht durchgeführt werden müssten. Aus diesem Grund wurden in der Vergangenheit verschiedene uringebundene Marker untersucht und mit der Zytologie verglichen. Typischerweise zeigen die meisten untersuchten Marker eine höhere Sensitivität bei schlechterer Spezifität im Vergleich zur Zytologie. Des Weiteren wurden auch Markerkombinationen bzw. die Kombination mit der Zytologie zur Verbesserung der Genauigkeit untersucht. Diese Urinmarker spielen in der Primärdiagnostik bisher keine Rolle. Die europäischen Leitlinien zum NMIBC und MIBC (EAU Guideline 03/2015) empfehlen zu keinem Zeitpunkt den Einsatz von Urinmarkern abgesehen von der Urinzytologie. In der deutschen S3-Leitlinie Blasenkarzinom von 2016 ist die Möglichkeit erwähnt, in der Nachsorge von nichtinvasiven, papillären Blasentumoren der niedrigen Risikogruppe die Raten an Zystoskopien durch den Einsatz von Urinzytologie und Immunzytologie zu verringern. Bei Patienten mit intermediären Tumoren und hohem Risiko ist dieses Vorgehen dagegen nicht empfohlen. Im Folgenden werden einige ausgewählte Urinmarker kurz charakterisiert:
Immunocyt (uCyt) Dieser Test kombiniert die Zytologie mit einer Immunfluoreszenz. Dabei werden die tumorassoziierten Antigene M344, LDQ10 und 19A211 durch fluoreszenzmarkierte monoklonale Antikörper visualisiert. In einer aktuellen Übersichtsarbeit wurde eine Sensitivität von 81% und eine Spezifität von 75% ermittelt ▶ [2546]. Eine große Studie untersuchte den Einsatz der Kombination von Urinzytologie und Immunocyt bei 2217 Patienten; davon waren 70% in der Nachsorge nichtinvasiver Blasentumoren ▶ [2444]. Beim kombinierten Einsatz von Urinzytologie und Immunocyt ergaben sich folgende stadien- und gradingabhängige Sensitivitäten: pTa – 65% pTis – 93% ≥pT1 – 88% G1 – 59% G2 – 77% G3 – 90%. Die Gesamtsensitivität lag bei 34,5% (Urinzytologie),
68,1% (ImmunoCyt) und 72,8% (Kombination), Die Gesamtspezifität lag bei 97,9% (Urinzytologie), 72,3% (ImmunoCyt) und 71,9% (Kombination).
FISH (UroVysion) In zytogenetischen Studien des Harnblasenkarzinoms wurden in Abhängigkeit von Tumorstadium und -grad vielfältige chromosomale Aberrationen detektiert. Der UroVysion-Test ist ein Multitarget-MulticolorTest, bei dem mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) Aberrationen von Chromosom 3, 7, 17 und 9p21 detektiert werden. In einer aktuellen Übersichtsarbeit wurden eine Sensitivität von 72% und eine Spezifität von 80% ermittelt ▶ [2546]. In einigen Untersuchungen wurde ein primär falsch-positives Testergebnis mit dem späteren Auftretens eines Tumors korreliert.
Bladder-Tumor-Antigen-Test (BTA-Test) Der Bladder-Tumor-Antigen(BTA)-stat- und BTA-TRAK-Test detektieren das dem humanen Komplementfaktor H ähnliche Protein, welches bei Harnblasenkarzinompatienten vermehrt ausgeschieden wird, durch unterschiedliche monoklonale Antikörper im Urin. Der BTA-stat-Test ist ein Schnelltest (Immunassay), der ähnlich wie ein Schwangerschaftstest durchzuführen ist. Beim BTA-TRAK-Test handelt es sich um einen ELISATest. Die Sensitivität bei der Detektion von Harnblasenkarzinomen betrug beim BTA-stat-Test 58–71% und war insbesondere bei G1-Tumoren niedrig. Die Spezifität liegt bei 73–75%. Beim BTA-TRAK-Test wurden Sensitivitäten von 57–83% beschrieben. Die Spezifität war insbesondere bei anderen benignen urologischen Erkrankungen niedrig. Diese niedrige Spezifität liegt vermutlich darin begründet, dass auch der Komplementfaktor H selbst detektiert wird. Eine Hämaturie durch andere benigne Erkrankungen wie Steine oder Harnwegsinfekte kann so zu falsch-positiven Resultaten führen.
NMP22 Nukleäre Matrixproteine (NMPs) bilden das Gerüst für die räumliche Struktur der Zellkerne und sind u.a. an der dreidimensionalen Organisation der Chromosomen, DNA-Replikation und RNA-Synthese beteiligt. Das NMP22 ist insbesondere bei der koordinierten Verteilung des Chromatins auf die Tochterzellen im Rahmen der Zellreplikation involviert.
Studien haben belegt, dass NMP22 in Tumorzellen in mehr als 20-facher Konzentration gegenüber gesunden Zellen enthalten ist. Der Standard-NMP-22-Test ist ein ELISA-Verfahren, während der neuere BladderCheck-Test ein Schnelltest ist. Die meisten Studien beschreiben eine Sensitivität von ca. 65% und Spezifität von ca. 80%, wobei eine deutliche Abhängigkeit zum definierten Cut-off-Wert bestand ▶ [2546]. Hohe falsch-positive Raten waren insbesondere bei anderen benignen Erkrankungen gegeben, was zur Definition von Ausschlusskriterien (Hämaturie, Infektion etc.) durch den Hersteller führte.
Fazit Verschiedene Urintests haben eine höhere diagnostische Sensitivität als die klassische Urinzytologie, während die Spezifität meist niedriger ist. Grundsätzlich wird der Einsatz urinbasierter Marker außer der Urinzytologie weder in Primärdiagnostik noch in der Nachsorge empfohlen. Eine Ausnahme ist die Nachsorge nichtinvasiver, papillärer Blasentumoren der niedrigen Risikogruppe: Hier kann laut der S3-Leitlinie Blasenkarzinom eine Kombination von Urinzytologie und Immunzytologie zur Reduktion von zystoskopischen Untersuchungen eingesetzt werden ▶ [2452].
45.6.5 Vorgehen bei isolierter, asymptomatischer Mikrohämaturie als Zufallsbefund Die isolierte, asymptomatische Mikrohämaturie als Zufallsbefund ist in gewissem Maße ein diagnostisches Dilemma. In einer Screeningstudie in den 1990-er Jahren mit 2356 Männern über 60 Jahren fand sich im Rahmen einer 10-fach wiederholten Schnelltestung eine Mikrohämaturie bei 20% der Teilnehmer. Ein Blasenkarzinom ließ sich bei weniger als 1% der Männer feststellen ▶ [2436]. Dies verdeutlicht die Problematik der Überdiagnostik. Die amerikanische urologische Gesellschaft (AUA) empfiehlt in ihrer Leitlinie zur asymptomatischen Mikrohämaturie von 2012, Patienten mit (wiederholt) nachgewiesener Mikrohämaturie ohne benigne Ursache auf Tumoren des Harntrakts abzuklären. Eine Mikrohämaturie besteht dabei nur, wenn sie auch im Urinsediment nachgewiesen ist – ein Schnelltest ist nicht ausreichend. Benigne Ursachen sind beispielsweise Trauma, Harnwegsinfekt,
Menstruation, Sport, virale Infektionen, Nierenerkrankungen und Z.n. urologischer Intervention (Katheter, Zystoskopie etc.). Wenn eine der genannten benignen Ursachen vorliegt, ist keine weitere Abklärung notwendig; eine Urinkontrolle nach „Abklingen“ des benignen Zustands wird empfohlen. Ist eine Abklärung notwendig, werden – nach Ausschluss nephrologischer Ursachen – eine Zystoskopie bei älteren Patienten sowie eine CT-Urografie durchgeführt. Insofern ist bei diesen Patienten Augenmaß gefragt; ein 70-jähriger Kettenraucher ist sicher wesentlich schneller und aggressiver abzuklären als eine 25-jährige gesunde Frau.
45.6.6 Bildgebende Untersuchungsverfahren 45.6.6.1 Sonografie Die Sonografie erfolgt zur Beurteilung der Nieren und der Harnblase sowie der Leber. Dabei ist die Sonografie die wichtigste nichtinvasive Untersuchung. Durch die Sonografie können eine Harnstauung sowie Raumforderungen bzw. Zysten der Niere ausgeschlossen werden. Im Einzelfall ist die Sonografie auch geeignet, den Blasentumor darzustellen, sie ersetzt jedoch nicht die weitere endoskopische Abklärung. Falsch-positive Befunde werden bei einer Blasentrabekulierung bzw. bei Blutkoageln erhoben. Darüber hinaus können das kleine Becken und die Leber orientierend im Hinblick auf Metastasen evaluiert werden.
Merke Bei der Erstdiagnose eines nichtinvasiven, gut differenzierten Blasentumors (pTa Low Grade) ohne Lokalisation im Trigonum ist die Sonografie die einzige notwendige Bildgebung zur Abklärung des oberen Harntraktes.
45.6.6.2 Schnittbildverfahren (Computertomografie, CT-Urografie, MRT) Bei der Erstdiagnose eines singulären pTa-Low-Grade-Tumors außerhalb des Trigonums ist außer einer Sonografie keine Abklärung des oberen Harntrakts notwendig. Besteht die Indikation zur Abklärung des oberen Harntrakts (Lokalisation im Trigonum, multiple Tumoren, schlecht differenzierte/High-Grade-Tumoren), ist die CT-Urografie (Darstellung des
oberen Harntraktes mittels Ausscheidungsphase) die Untersuchung der 1. Wahl. Alternativ kann ein kontrastmittelunterstütztes MRT oder ein Ausscheidungsurogramm durchgeführt werden ( ▶ Abb. 45.12). Schnittbildverfahren. Abb. 45.12 In der Ausscheidungsphase der Schnittbilddiagnostik kann eine differenzierte Beurteilung des Hohlsystems erfolgen.
Abb. 45.12a CT-Urografie. (Quelle: Nolte-Ernsting C. Stand der radiologischen Bildgebung in der Diagnostik von Erkrankungen der Nieren und oberen Harnwege bei Erwachsenen. Radiologie up2date 2004; 4: 151–176)
Abb. 45.12b MRT-Urografie: Übersicht. (Quelle: Nolte-Ernsting C, Staatz G, Wildberger J et al. MR-Urographie und CT-Urographie: Prinzipien, Untersuchungstechniken, Anwendungsmöglichkeiten. RöFo 2003; 175 (02): 211--222)
Abb. 45.12c MRT-Urografie: Detail.
(Quelle: Nolte-Ernsting C, Staatz G, Wildberger J et al. MR-Urographie und CT-Urographie: Prinzipien, Untersuchungstechniken, Anwendungsmoglichkeiten. RoFo 2003; 175 (02): 211–222)
Merke Die Computertomografie ist der Goldstandard für das Staging des muskelinvasiven Blasenkarzinoms. Dazu gehören die kontrastmittelgestützte Untersuchung von Abdomen und Thorax sowie die CT-Urografie (Darstellung des oberen Harntraktes mittels Ausscheidungsphase). Die Diagnostik dient weniger der Einschätzung des Lokalbefundes, sondern vielmehr dem Ausschluss von Metastasen und Befall des oberen Harntraktes, obwohl es Hinweise gibt, dass die präoperative Computertomografie auch prognostische Aussagen machen könnte ▶ [2544]. Dabei werden Beckenlymphknoten nach EAU-Leitlinie ab 8 mm im kurzen Durchmesser als suspekt betrachtet, während sonstige Lymphknoten nach RECIST-Guideline ▶ [2457] ab 10 mm im kurzen Durchmesser als verdächtig gelten. Sonstige Metastasen werden durch Morphologie und KM-Verhalten definiert.
Beim Vorliegen von Kontraindikationen zur CT kann alternativ ein MRT des Beckens mit MRT-Urografie sowie eine CT des Thorax ohne Kontrastmittel durchgeführt werden. Ein kranielles CT (CCT) wird nur beim Vorliegen von entsprechenden Symptomen veranlasst.
Fazit Beim nichtinvasiven Blasenkarzinom ist die Sonografie die primäre Untersuchung zur Abklärung des oberen Harntraktes. Eine weitere Abklärung des oberen Harntrakts erfolgt nur beim Vorliegen bestimmter Risikofaktoren: Lokalisation im Trigonum, multiple Tumoren, schlecht differenzierte/High-Grade-Tumoren. Untersuchung der 1. Wahl ist die CTUrografie, alternativ MRT/AUG. Bei muskelinvasiven Tumoren muss immer ein Staging mittels ThoraxCT/Abdomen-CT und CT-Urografie (alternativ MRT) erfolgen.
45.6.6.3 Weitere bildgebende Diagnostik Ausscheidungsurogramm Aufgrund der geringeren Sensitivität ist das Ausscheidungsurogramm im Vergleich zur CT-Urografie in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten und wird in der S3-Leitlinie nur noch als Alternativverfahren in der Diagnostik nichtinvasiver Tumoren mit Risikofaktoren geführt ▶ [2452]. Vorteil des Ausscheidungsurogramms ist die geringere Strahlenbelastung im Vergleich zur CT.
Knochenszintigrafie Die Knochenszintigrafie wird beim Vorliegen von entsprechenden Symptomen veranlasst (z.B. erhöhte alkalische Phosphatase, Schmerzen, neurologische Symptomatik). Bei unklaren oder potenziell frakturgefährdeten Befunden in der Skelettszintigrafie sollte eine weitere Diagnostik der Lokalisation mit CT/MRT bzw. konventionellem Röntgen (an den Extremitäten) erfolgen.
Nuklearmedizinische Diagnostik Die nuklearmedizinische Diagnostik (PET-CT/-MRT) spielt beim nichtinvasiven Blasenkarzinom keine Rolle. Auch beim muskelinvasiven/metastasierten Blasenkarzinom ist die PET-Diagnostik keine Routinebildgebung, da es bisher weder überzeugende Daten noch prospektive Studien gibt, die einen Zusatznutzen belegen.
45.6.7 Zystoskopie Merke Die Weißlichtzystoskopie ist die Basis jeder Blasentumordiagnostik. Im Falle einer Hämaturie sollte sie spätestens dann erfolgen, wenn eine Entzündung als Ursache unwahrscheinlich ist (fehlende Symptomatik, sterile Urinkultur).
Praxis Bei jeder Hämaturie beim Mann und jeder rezidivierenden Hämaturie der Frau sowie bei persistierenden dysurischen Beschwerden oder suspekten sonografischen Arealen sollte eine Zystoskopie durchgeführt werden.
Fazit 60–70% aller Blasentumoren treten multifokal auf. Prädilektionsstellen sind die Seiten- und die Hinterwand sowie der Trigonumbereich. Tumoren am Blasendach und an der Vorderwand sind mit 100 Patienten), die eine photodynamische Diagnostik (PDD) mit ALA oder HAL im Vergleich zur alleinigen Weißlichtzystoskopie untersucht haben, war in der PDD-Gruppe die diagnostische Sensitivität um etwa 20% erhöht und Residualtumorraten in der Kontrollzystoskopie um etwa 20% erniedrigt, wobei die Daten besonders günstig beim Carcinoma in situ waren ▶ [2448], ▶ [2461], ▶ [2489], ▶ [2499], ▶ [2545]. Auch das rezidivfreie Überleben und die Rezidivrate waren signifikant verbessert ▶ [2446], ▶ [2461]. Eine jüngere randomisierte, multizentrische Phase-III-Studie hat gezeigt, dass 17% der Patienten mit PDD eine bessere Behandlung erhalten ▶ [2489]. Obwohl die fluoreszenzgestützte Zystoskopie zusätzliche Kosten verursacht, hat eine Analyse der Gesamtkosten pro Patient inklusive der Follow-up-Kosten ergeben, dass ein Kostenvorteil zugunsten der PDD im Vergleich zur alleinigen Weißlichtzystoskopie besteht ▶ [2448].
Vorsicht Eine Limitation der Fluoreszenzdiagnostik ist die variable Spezifität (33–71%) aufgrund falsch-positiver Befunde in benignem Urothel bei Harnwegsinfekten bzw. nach BCG- (=Bacillus Calmette-Guérin) oder Chemoinstillationen sowie kürzlich vorausgegangener TUR. Entsprechend sollte eine PDD bei Manipulationen erst nach einem bisher nicht fest definierten Konsolidierungsintervall (etwa 2 Wochen) durchgeführt werden. Der Farbstoff Hypericin ist bisher noch Gegenstand klinischer Studien.
45.7 Therapie des Blasenkarzinoms nach Stadien und Risikogruppen Praxis Therapie maligner Blasentumoren Das Blasenkarzinom erfordert eine am Einzelfall orientierte Therapie. Bestimmend dafür sind folgende Faktoren: Tumorstadium, Malignitätsgrad,
Vorhandensein von Metastasen, Rezidivrate und -intervalle, uni- oder multifokales Wachstum, Alter, Allgemeinzustand, Behandlungswunsch des Patienten. Die Therapie des Blasenkarzinoms ist fast immer multimodal. Im nicht muskelinvasiven Stadium folgt auf die transurethrale Resektion häufig eine intravesikale Chemotherapie oder eine immunmodulierende intravesikale Therapie mit BCG (Bacillus Calmette-Guérin). In fortgeschrittenen Stadien ist der Einsatz einer perioperativen Chemotherapie sinnvoll und wird von den Leitlinien der EAU, ESMO, NCCN und der deutschen S3-Leitlinie empfohlen. Im metastasierten Stadium können neben der Chemotherapie die Radio(chemo)therapie und Schmerztherapie zur Symptomkontrolle eine wichtige Rolle spielen. Ab dem muskelinvasiven Stadium fordert die aktuelle S3-Leitlinie zudem eine multidisziplinäre Abstimmung im Sinne einer interdisziplinären Tumorkonferenz ▶ [2452]. Daher sollten diese Fälle unter Führung der Urologie gemeinsam mit Radiologen, Onkologen und Strahlentherapeuten diskutiert werden. Insbesondere im metastasierten Stadium sollten bedarfsweise auch andere behandlungsrelevante Disziplinen einbezogen werden (Psychoonkologie, Orthopädie, Neurochirurgie etc.).
45.7.1 Risikogruppen bei nicht muskelinvasiven Blasentumoren 70–80% aller Blasenkarzinome sind bei Diagnosestellung nicht muskelinvasiv. Die Therapie dieser Tumoren unterscheidet sich wesentlich von den muskelinvasiven Tumoren. Gleichwohl unterscheiden sich auch Ta-, T1- und Cis-Tumoren in hohem Maße untereinander in Bezug auf Tumorrezidive und -progression sowie den molekularen Hintergrund.
Merke Blasentumoren werden somit in nichtinvasiv (20 cm) Sonografie
36
42
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48
54
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60
Kontrollen jährlich
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x (nur bei Rezidivverdacht)
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CT Thorax/Abdomen inkl. Urografie (x)
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Stomakontrolle
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Anamnese: Kontinenz, Sexualfunktion, psychoonkologischer Sozialstatus
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Abkürzung: BGA=Blutgasanalyse
45.13 Rehabilitation Eine Rehabilitationsmaßnahme sollte in Spezialeinrichtungen erfolgen, die mit den speziellen somatischen (Harnableitung, metabolische und infektiöse Komplikationen) und psychischen Problemen (u.a. Sexualstörungen) der Patienten vertraut sind. Als Ergebnis kann auch bei Patienten mit vorausgegangener Zystektomie und Harnableitung eine befriedigende berufliche und soziale Aktivität stehen. Zudem kann eine adäquate psychoonkologische Betreuung den Umgang mit der Erkrankung erleichtern.
Quintessenz Inzidenz und Epidemiologie Vierthäufigster Tumor beim Mann (4,5% aller Tumorerkrankungen) Vierzehnthäufigster Tumor bei der Frau (1,8% aller Krebsneuerkrankungen) Über 90% der Harnblasenkarzinome sind Urothelkarzinome 70–80% der Tumoren wachsen zunächst nicht muskelinvasiv Medianes Alter bei Erkrankung: 73–76 Jahre Neuerkrankungsrate in Deutschland etwa 29000/Jahr Ätiologie und Risikofaktoren Industrielle Noxen Aromatische Amine
Rauchen (ca. 1/3 der Tumoren mit Rauchen korreliert) Latenzzeit: 20–40 Jahre Anerkennung als Berufskrankheit gegeben Molekularbiologie 2 unterschiedliche molekularbiologische Tumorpfade Gut differenzierte papilläre Tumoren: genetisch stabil, oft Alterationen Chromosom 9 Schlecht differenzierte invasive Tumoren/Cis: genetisch instabil, oft p53-Mutationen Klassifikation TNM-(klinische) Klassifikation/pTNM-(pathologische) Klassifikation von 2017 G-histopathologisches Grading (WHO 2004 und 2016) WHO-Einteilung 2004 und 2016 Benigne/unklare Befunde: normales Blasenepithel urotheliale Proliferation mit unklarem malignem Potenzial (UPUMP) Papillom Nichtinvasive Karzinome: flache Läsionen Dysplasie Carcinoma in situ papilläre Läsionen papilläre urotheliale Neoplasie mit niedriger maligner Potenz (PUNLMP) Low-Grade-Karzinom High-Grade-Karzinom Invasive Tumoren (≥T1): Low Grade High Grade Prognosefaktoren
Bisher kein zuverlässiger Marker mit ausreichender Information für klinische Routine Klinische Symptomatik Meist schmerzlose Makrohämaturie über die gesamte Miktionsdauer: typisches Erstsymptom (75%) des Blasentumors Dysurie: Häufig fehlinterpretiert (in 30% Erstsymptom des Tumors) Kann im Fall eines Carcinoma in situ oder eines primär intramural wachsenden Blasentumors einziges Symptom sein Spätsymptome: Flankenschmerz Anämie Beinschwellung Gewichtsverlust u.a. Diagnostik Diagnose wird zystoskopisch gestellt Staging (T-Kategorie) und Grading durch transurethrale Resektion Mapping der Harnblase bei Verdacht auf Carcinoma in situ Ausbreitungsdiagnostik (N- und M-Kategorie) nur bei muskelinvasivem Karzinom Laboruntersuchungen Blutbild Gerinnung Kreatinin Elektrolyte Körperliche Untersuchung Palpation von Unterbauch und Nierenlager Rektale und vaginale Untersuchung nicht vergessen! Zystoskopie Basis jeder Blasentumordiagnostik Im Falle einer Hämaturie spätestens dann, wenn Entzündung als Ursache unwahrscheinlich ist (fehlende Symptomatik, sterile
Urinkultur) und die Hämaturie rezidivierend auftritt bzw. in allen Zweifelsfällen Urinzytologie Hohe Sensitivität bei niedrig differenzierten Tumoren (90%) Geringe Sensitivität bei hoch differenzierten Tumoren (7 ist die Durchführung einer Skelettszintigrafie Standard ▶ [2717].
Szintigrafisch auffällige Befunde bedürfen vor einer Therapieentscheidung einer weiteren Abklärung ( ▶ Abb. 47.8) ▶ [2717]. Falsch-positive Skelettszintigrafie mit Nachweis eines Enchondroms im MRT. Abb. 47.8 Bei diesem Patienten lag ein Prostatakarzinom des klinischen Stadiums T1c, ein PSA-Wert von 16 ng/ml und ein nach Entnahme von 12 Biopsiezylindern ermittelter Vor-Gleason-Score von 6 vor. Der PSA-Wert fiel nach der radikalen Prostatektomie unter die Nachweisgrenze.
Abb. 47.8a Skelettszintigrafie (falsch-positiv). (Quelle: Prof. Dr. med. Klaus Zöphel, Klinik für Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Dresden)
Abb. 47.8b MRT. (Quelle: Prof. Dr. med. Klaus Zöphel, Klinik für Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Dresden)
Beim lokal fortgeschrittenen Prostatakarzinom bzw. Tumoren mit einem Biopsie-GleasonScore von >7 nennt die S3-Leitlinie die Anfertigung eines CT oder MRT des Beckens als Option („Sollte“-Empfehlung) ▶ [2717]. Dabei sollte jedoch kritisch geprüft werden, welche Fragestellung im individuellen Fall vorliegt und welche therapierelevanten Zusatzinformationen durch diese Untersuchungen beantwortet werden sollen. Wenn eine Bildgebung durchgeführt wird, soll sie den aktuellen Qualitätskriterien entsprechen ▶ [2717]. Im Rahmen der primären Stagingdiagnostik spielt die Positronenemissionstomografie (PET) keine Rolle ▶ [2717]. Die transrektale Ultraschalluntersuchung ist eine weitere Option zur Prostatabildgebung, ihre Testgüteparameter sind jedoch nicht wesentlich von denen der rektalen Tastuntersuchung verschieden ▶ [2717]. Keinen gesicherten Stellenwert in der Primärdiagnostik haben gegenwärtig die kontrastverstärkte Ultraschalluntersuchung, die Ultraschall-Elastografie und der computergestützte Ultraschall (Histoscanning). Die Ursachen für die negativen Bewertungen der meisten bildgebenden Verfahren zur Prostatakarzinomdiagnostik in der S3-Leitlinie sind in der bisher unzureichenden Datenqualität zu sehen. Es ist vorstellbar, dass technische Verbesserungen und qualitativ bessere Studien hier in Zukunft neue Möglichkeiten eröffnen. Da die diagnostische Genauigkeit der konventionellen transrektalen Ultraschalluntersuchung nur begrenzt ist, dient sie in erster Linie der Führung der Biopsienadel bei der systematischen Prostatabiopsie. Werden anlässlich dieser Untersuchung jedoch verdächtige Areale gefunden (beispielsweise echoarme Läsionen), so kann eine zusätzliche Probeentnahme aus diesen Bezirken sinnvoll sein ▶ [2899]. Die Durchführung einer multiparametrischen MRT-Untersuchung ist bisher kein Standard in der Diagnostik des Prostatakarzinoms. Die S3-Leitlinie rät bisher vom Einsatz bildgebender Verfahren zur Früherkennung des Prostatakarzinoms ab. Die mittlerweile vorliegenden Daten lassen jedoch – eine entsprechende radiologische Expertise vorausgesetzt – diese Technik vor allem bei Patienten mit vorausgegangener negativer
Prostatabiopsie als vielversprechend erscheinen ▶ [2645]. ▶ Abb. 47.9 zeigt ein Beispiel dafür. T2-gewichtete Aufnahme im Rahmen eines multiparameterischen MRT mit Markierung einer suspekten Läsion (Prostate Imaging-Reporting and Data System (PIRADS) 4) in der zentralen Zone der Prostata nach vorangegangener negativer Sättigungsbiopsie bei einem 70-jährigen Patienten mit einem PSA-Wert von 5,5 ng/ml. Abb. 47.9 Von 22 Biopsiezylindern zeigten 2 aus dieser Läsion entnommene Zylinder ein Prostatakarzinom des Gleason-Scores 6. Der Patient wählte eine aktive Überwachung als Therapie. (Quelle: Prof. Dr. med. Klaus Zöphel, Klinik für Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Dresden)
47.1.5.4 Beurteilung der Komorbidität und Abschätzung der Lebenserwartung Bei der Therapieentscheidungsfindung beim Prostatakarzinom können Komorbiditätsklassifikationen zum Einsatz kommen. Die Leitlinie der EAU ▶ [2899] und die deutsche S3-Leitlinie nennen den Charlson-Score ▶ [2670] und die Klassifikation der ASA (American Association of Anesthesiologists) ▶ [2611] als mögliche Instrumente. In dem im ICHOM-Konsensuspapier entwickelten Standard-Set wird – neben der Erhebung des Body-Mass-Index – die Verwendung eines vom Patienten selbst auszufüllenden Fragebogens zur Erhebung eines modifizierten Charlson-Scores empfohlen ▶ [2885]. Sowohl Charlson-Score als auch ASA-Klassifikation liefern eigenständige prognostische Informationen über das Langzeitüberleben zusätzlich zum kalendarischen Alter ▶ [2747], ▶ [2856], ▶ [3071]. Beide Komorbiditätsklassifikationen sind relativ leicht anwendbar und messen zumindest teilweise unterschiedliche (und einander ergänzende) Aspekte des Gesundheitszustandes. Der Charlson-Score erfasst eine Liste von 19 Erkrankungen von unterschiedlichem prognostischem Gewicht ( ▶ Tab. 47.4 , ▶ [2670]). Die ASA-Klassifikation bewertet die Einschränkung des Allgemeinzustandes mit Schwerpunkt auf das perioperative kardiopulmonale Risiko ( ▶ Tab. 47.5 , ▶ [2611]). Tab. 47.4 Gewicht der 19 zum Charlson-Score beitragenden Krankheitsbilder. Zur Bestimmung des Scores werden die bei einem Patienten erreichten Punkte addiert.
Krankheitsbild
Gewicht (Punkte) bei Vorliegen des Krankheitsbildes
Herzinfarkt
1
kongestives Herzversagen
1
periphere arterielle Verschlusserkrankung
1
zerebrovaskuläre Erkrankung
1
Demenz
1
chronische Lungenerkrankung
1
Kollagenose
1
Ulkusleiden
1
milde Lebererkrankung
1
Diabetes mellitus
1
Hemiplegie
2
moderate bis schwere Nierenerkrankung
2
Diabetes mellitus mit Endorganschaden
2
Tumor
2
Leukämie
2
Lymphom
2
moderate bis schwere Lebererkrankung
3
metastasierender solider Tumor
6
Aids
6
Tab. 47.5 Definition der ASA-Klassifikation (American Society of Anesthesiologists). ASA-Klasse
Definition
1
normaler, gesunder Patient
2
Patient mit einer leichten systemischen Erkrankung
3
Patient mit einer schweren systemischen Erkrankung
4
Patient mit einer schweren, permanent lebensbedrohlichen systemischen Erkrankung
5
moribunder Patient, der voraussichtlich mit und ohne Operation nicht überleben wird
6
hirntoter Organspender
Der Einfluss einer Komorbiditätsklasse auf das Überleben variiert deutlich in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Stichprobe. So enthält eine unselektierte (populationsbasierte oder nicht nach Therapiemodalitäten stratifizierte) Stichprobe alle Risiken (gute und schlechte), während für eine radikale Prostatektomie ausgewählte Patienten vorwiegend gute Risiken enthalten. Strahlentherapiestichproben können dagegen viele ungünstige Risiken einschließen. Dies wird in den Überlebensunterschieden zwischen radikal prostatektomierten und bestrahlten Patienten in nominell identischen Risikoklassen eines Nomogramms von Walz und Mitarbeitern ▶ [3071] deutlich. Komorbiditätsklassen, die in unselektionierten Stichproben mit einer hohen konkurrierenden Sterblichkeit assoziiert sind, können in dieser Population ein eher zurückhaltendes Vorgehen („Watchful Waiting“, aktive Überwachung oder auch Strahlentherapieverfahren) nahelegen ▶ [2696]. Bei Patienten jedoch, die für eine radikale Prostatektomie geeignet erscheinen, beeinträchtigen sie das langfristige Überleben unter Umständen nur marginal und sind in dieser Konstellation nicht geeignet, Patienten von einer kurativen Therapie auszuschließen ▶ [2747]. Einige Autoren halten populationsbasierte Kohorten für das beste Modell für Entscheidungsprozesse beim frühen Prostatakarzinom ▶ [2697]. Patienten mit sehr kurzer
Lebenserwartung (bei denen nur im Ausnahmefall eine kurative Therapie erwogen wird) können jedoch die konkurrierende Sterblichkeit in solchen Kohorten stark beeinflussen. Im klinischen Alltag erfolgt die Therapieentscheidung (zumeist für eine konservativsymptomorientierte oder eventuell strahlentherapeutische Option) bei diesen stark beeinträchtigten Patienten durch klinischen Augenschein und erfordert in der Regel keine weitere Klassifikation der Komorbidität. Am ehesten für die klinische Praxis relevant erscheint daher das Szenario nach Ausschluss der schlechtesten Risiken, wobei allerdings bei den relativ gesunden Kandidaten für eine radikale Prostatektomie selbst bei älteren Patienten und in den höchsten vorkommenden Komorbiditätsklassen die 10-Jahres-konkurrierende Sterblichkeit nicht die 50%-Marke erreicht ▶ [2747], ▶ [2749].
47.1.5.5 Natürlicher Verlauf des Prostatakarzinoms Das lokal begrenzte gut oder mäßig differenzierte Prostatakarzinom verläuft unbehandelt in vielen Fällen nur langsam progredient und relativ gutartig. Da in der Vergangenheit in den skandinavischen Ländern Patienten mit solchen Tumoren eher zurückhaltend und oft rein symptomatisch behandelt wurden, sind vor allem aus diesem Raum Langzeitdaten über den (weitgehend) natürlichen Verlauf der Prostatakarzinomerkrankung verfügbar. Es gibt derartige Untersuchungen jedoch auch aus den USA. Durch Lead-Time-Bias (die Diagnosestellung erfolgt früher im Krankheitsverlauf, beispielsweise durch Bestimmung des PSA-Wertes und frühere Biopsie), Überdiagnose durch PSA-gestützte Früherkennung, Veränderungen in der Anwendung des Tumorgradings (Will-Rogers-Phänomen; s. Infobox) sowie verbesserte Therapiemöglichkeiten lagen die Überlebensraten von primär konservativ behandelten Patienten mit lokal begrenztem Prostatakarzinom in jüngerer Zeit höher als in den Jahrzehnten zuvor ▶ [2880].
Merke Begriffsbestimmung Will-Rogers-Phänomen Scheinbare Verbesserung der Überlebensraten durch Zuordnung zuvor niedriger klassifizierter Tumoren in höhere Klassen, beispielsweise durch häufigere Vergabe höherer Gleason-Scores in den letzten Jahren oder durch bessere Bildgebung. In einer Studie anhand der Surveillance-Epidemiology-and-End-Results-(SEER)-Datenbank wurden Patienten über 65 Jahre untersucht, die zwischen 1992 und 2002 innerhalb von 6 Monaten nach Diagnose keine kurative Therapie erhalten hatten. Nach 10 Jahren lag das tumorspezifische Überleben bei gut differenzierten Tumoren bei 92%, bei mäßig differenzierten bei 91% und bei gering differenzierten bei 74% ▶ [2880]. Bei sehr langer Nachbeobachtung steigt im Falle einer konservativen Therapie auch in der Gruppe der gut oder mäßig differenzierten Tumoren das Risiko, am Prostatakarzinom zu versterben. In einer schwedischen Studie wurden 223 Patienten mit überwiegend gut oder mäßig differenzierten klinisch organbegrenzten Tumoren ohne kurative Behandlung (eine Hormontherapie wurde erst bei Progression gegeben) beobachtet. Mittlerweile waren 99% der Patienten verstorben. Lediglich 36% der Patienten waren nach 20 Jahren noch ohne Tumorprogression. Das prostatakarzinomspezifische Überleben, welches nach 15 Jahren noch bei fast 80% lag, erreichte nach etwa 23 Jahren Nachbeobachtung ein Plateau von knapp 50% ▶ [2948]. Vergleichbar waren die Ergebnisse in der Scandinavian-Prostate-Cancer-Group-Study Number 4 (SPCG-4), in der eine radikale Prostatektomie mit einer primär konservativen
Therapie („Watchful Waiting“) verglichen wurde ▶ [2638]. Im Watchful-Waiting-Arm lag das prostatakarzinomspezifische Überleben in dieser Studie nach 15 Jahren bei etwa 80% und nach 18 Jahren bei etwa 70% ▶ [2638]. Daten aus älteren Langzeitstudien lassen sich jedoch nur eingeschränkt auf aktuellere mittels PSA-gestützter Früherkennung diagnostizierte Patientenstichproben übertragen. Hier wird das tumorspezifische 15-Jahres-Überleben bei konservativer Therapie und einem Gleason-Score von 6 auf 90% und höher geschätzt ▶ [2936]. Diesen höheren tumorspezifischen Überlebensraten steht dabei jedoch die zunehmende Lebenserwartung gegenüber, die die Zeit verlängert, in der ein konservativ behandelter Patient dem Risiko einer gefährlichen Tumorprogression ausgesetzt bleibt.
Fazit Der Zusammenhang zwischen Patientenalter und Biologie (Aggressivität) des Prostatakarzinoms ist nicht abschließend geklärt. Bei konservativer Therapie ist nach Stratifizierung nach Risikofaktoren kein Zusammenhang zwischen Alter und prostatakarzinombedingter Sterblichkeit erkennbar ▶ [2880].
47.1.5.6 Kurative Therapie Aktive Überwachung Praxis Begriffsbestimmung Active Surveillance – aktive Überwachung Unter einer aktiven Überwachung (oder „Active Surveillance“) versteht man eine strukturierte Überwachung des zunächst nicht definitiv behandelten frühen Prostatakarzinoms inklusive Kontrollbiopsien mit kurativer Intention. Eine definitive kurative Therapie wird bei Auftreten eines Tumorprogresses oder auf Wunsch des Patienten durchgeführt. Watchful Waiting Demgegenüber wird unter dem Begriff „Watchful Waiting“ eine palliative Strategie mit lediglich symptomatischer Behandlung im Falle einer Tumorprogression verstanden. Kandidaten sind Patienten mit einer Lebenserwartung von unter 10 Jahren. Die S3-Leitlinie empfiehlt, beide Begriffe (aktive Überwachung und „Watchful Waiting“; s. Infobox) streng voneinander zu trennen ▶ [2717].
Praxis Im klinischen Alltag ist eine strikte Abgrenzung dieser Therapieformen voneinander jedoch nicht immer konsequent durchzuhalten. Selbst im Rahmen von randomisierten Studien wird ein nicht zu vernachlässigender Teil der zunächst mit palliativer Intention beobachteten Patienten im weiteren Verlauf kurativ behandelt ▶ [2638], ▶ [3080]. Eine solche Herangehensweise (kurative Therapie, beispielsweise perkutane Strahlentherapie, bei initial abwartender, palliativer Intention) kann im Falle eines unerwartet raschen Fortschreitens eines initial lokal begrenzten Prostatakarzinoms auch bei Patienten mit einer voraussichtlichen Lebenserwartung von
unter 10 Jahren sinnvoll sein. Andererseits kann bei Patienten mit einem unter einer initialen aktiven Überwachung stabilen Prostatakarzinom (mit primär kurativer Intention) bei fortschreitendem Alter oder Auftreten signifikanter Begleiterkrankungen auch auf ein weniger intensives Management im Sinne eines „Watchful Waiting“ gewechselt werden. Die aktive Überwachung ist daher eher als eine intensivierte Form des „Watchful Waiting“ anzusehen. Die Hauptunterschiede liegen im Einsatz planmäßiger Kontrollbiopsien und klar definierter Einschlusskriterien.
S3-Leitlinie In der S3-Leitlinie sind als Voraussetzungen für aktive Überwachung 5 Parameter genannt, die alle erfüllt sein müssen (s. Übersicht).
Praxis In der S3-Leitlinie definierte Einschlusskriterien für eine aktive Überwachung ein PSA-Wert von maximal 10 ng/ml, ein Gleason-Score von 1 cm) und zur Vergrößerung des Winkels zwischen proximaler und distaler prostatischer Harnröhre (>35°) ▶ [3246]. Bei der Urethrozystoskopie nehmen daher bei Patienten mit vergrößerter Transitionalzone der Blasenhals-ColliculusAbstand und der Winkel von Colliculus seminalis zum
Blasenhals in Abhängigkeit des Schweregrades der BPH bzw. BPE entsprechend zu. Da die Transitionalzone nur proximal des Colliculus seminalis liegt und sich eine Vergrößerung des Transitionalzonenvolumens durch BPH nur zwischen Colliculus seminalis und Blasenhals entwickelt, bleibt die Länge der distalen prostatischen Harnröhre bis zum M. sphincter urethrae externus auch bei Patienten mit BPE mit ca. 1 cm gleich. Dieses Wissen über die Anatomie der Prostata bei Patienten mit BPH liefert wichtige Hinweise auf die Verwendung von speziellen transurethralen Blasenkathetern (z.B. Verwendung von Kathetern mit Tiemann-Spitze bei Patienten mit BPE) und auf die Vorgehensweise bei der operativen Behandlung der BPE (z.B. Entfernung von Prostatagewebe nur proximal des Colliculus seminalis und Möglichkeit der paracolliculären Resektion ohne Gefahr des Sphinkterschadens).
51.2.2 Blasenauslassobstruktion und benigne Prostataobstruktion 51.2.2.1 Blasenauslassobstruktion ▶ Abkürzung. Bladder Outlet Obstruction – BOO. Der Begriff Blasenauslassobstruktion wird urodynamisch definiert, erfordert eine Druck-Fluss Messung und ist durch einen erhöhten Detrusordruck bei gleichzeitig erniedrigter Harnflussrate charakterisiert ▶ [3202].
Merke Allgemein gilt für den gesamten Harntrakt, dass von der Veränderung der Morphologie (sichtbare Einengung) nicht
automatisch auf eine Veränderung der Funktion (BOO) geschlossen werden kann; alle Veränderungen der Morphologie und der Funktion müssen daher separat betrachtet und überprüft werden. So hat der subjektive Eindruck des Untersuchers z.B. bei der Beurteilung des Okklusionsgrades der prostatischen Harnröhre durch prominente Prostatalappen nichts mit der funktionellen Veränderung (BOO) zu tun ▶ [3223]. BOO ist die unspezifische Beschreibung eines erhöhten Blasenauslasswiderstandes, der durch Einengung des unteren Harntraktes irgendwo zwischen Blasenhals und Meatus urethrae externus entstehen kann, z.B. durch Blasenhalssklerose, BPE, Prostatakarzinom, Sphinktersklerose, Harnröhrenstriktur, urethrale Fremdkörper oder Urothelkarzinom der Harnröhre oder Meatusstenose. Da es viele Ursachen für eine BOO gibt, muss die weitere Diagnostik klären, wo und wodurch die BOO entstanden ist. Die Verwendung des Begriffes BOO impliziert, dass eine urodynamische Untersuchung (DruckFluss Analyse) durchgeführt und ein erhöhter Blasenauslasswiderstand gemessen wurde.
51.2.2.2 Benigne Prostataobstruktion ▶ Abkürzung. Benign Prostatic Obstruction – BPO. Der Begriff benigne Prostataobstruktion ist hingegen eine spezielle Form der BOO, bei der die Obstruktion durch eine gutartige Prostatavergrößerung hervorgerufen wird (BOO als Folge der BPE) ▶ [3202]. Die Verwendung des Begriffes BPO impliziert daher, dass eine urodynamische Untersuchung (Druck-Fluss Analyse) und Messung des Prostatavolumens erfolgte und sowohl eine BOO als auch eine BPE nachweisbar waren.
Obwohl die BPE die pathophysiologische Grundlage für eine BOO bzw. BPO darstellt, sind die Zusammenhänge zwischen Prostatagröße und BOO/BPO sowie dem Schweregrad der BOO/BPO nicht linear, sodass über die Messung des Prostatavolumens beim individuellen Mann nur unzureichende Informationen über das Vorliegen einer BOO/BPO gewonnen werden ( ▶ Abb. 51.6, ▶ [3275]). Relation zwischen dem Prostatavolumen (x-Achse, cm3) und der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Blasenauslassobstruktion (BOO) bzw. benignen Prostataobstruktion (BPO) (y-Achse). Abb. 51.6 Die schwarzen Balken repräsentieren die Patienten ohne BOO/BPO (Schäfer 0+1), die blauen Patienten mit einer geringen BOO/BPO (Schäfer 2 + 3) und die gelben Balken solche mit einer starken BOO/BPO (Schäfer 4–6). Mit dem Anstieg des Prostatavolumens nimmt zwar die Wahrscheinlichkeit für eine BOO/BPO zu, aber die Sicherheit für die Detektion einer BOO/BPO nur anhand des Prostatavolumens ist beim individuellen Patienten unzureichend (Datenquelle: Rosier PF, de la Rosette JJ. Is there a correlation between prostate size and bladder outlet obstruction? World J Urol 1995; 13: 9–13)
Nur die Einengung der prostatischen Harnröhre durch die vergrößerte Transitionalzone führt zur BOO/BPO, ein nach außen gerichtetes Prostatawachstum hingegen nicht. Auch wenn prinzipiell die Wahrscheinlichkeit für eine BOO/BPO mit zunehmender Prostatagröße steigt, können Männer mit großer Prostata keine BPO und andererseits Männer mit kleiner Prostata bereits eine starke BOO/BPO haben ▶ [3275]. Somit sollte das Vorhandensein oder die Abwesenheit einer BOO/BPO – unabhängig vom Prostatavolumen – beim individuellen Patienten immer überprüft werden. Die BOO/BPO hat spezifische morphologische, biochemische und funktionelle Auswirkungen in der Harnblase. Basale Erkenntnisse stammen aus tierexperimentellen
Untersuchungen, bei denen die Harnröhre artifiziell über eine partielle Harnröhrenligatur eingeengt wurde. Zeitabhängig kommt es zu den nachfolgend genannten Veränderungen der Harnblasenmorphologie und -funktion, die in 3 unterschiedliche Stadien eingeteilt werden können ▶ [3238] (s. Übersicht u. ▶ Abb. 51.7). Verdickung der Blasenwand (Blasenwandhypertrophie) aufgrund einer Verdickung der glattmuskulären Zellen des Detrusors 1 Tag (links) und 1 Woche (rechts) nach Anlegen einer artifiziellen Blasenauslassobstruktion (BOO) bei der Ratte. Abb. 51.7 Die kompensatorische Verdickung des Detrusors ermöglicht die Miktion gegen den erhöhten Blasenauslasswiderstand und korreliert mit einer Verstärkung der Detrusorkontraktilität (messbar bei der Druck-Fluss Analyse mittels bladder contractility index, BCI oder maximaler Watt-Faktor, Wmax). Die sonografische Detrusordickenmessung kann die Blasenwandhypertrophie (beim Tier und Mensch) visualisieren und wird zur noninvasiven Diagnostik der BOO verwendet. (Quelle: Prof. Dr. M. Oelke)
Übersicht Veränderungen der Harnblasenmorphologie und -funktion Initialstadium Es entsteht eine progressive Zunahme des Blasengewichtes durch Verdickung der Blasenwand innerhalb der ersten Wochen nach Anlage der artifiziellen BOO ( ▶ Abb. 51.7). Im Vergleich zu Tieren ohne BOO steigt das Blasengewicht 5- bis 6-fach bei Kaninchen an. Mit der BOO kommt es zur Zunahme der Miktionsfrequenz durch Detrusorüberaktivität.
Kompensationsstadium Das Blasengewicht bleibt konstant erhöht, die Detrusorkraft (Kontraktilität) steigt an und die Blasenentleerung ist ohne Restharnbildung möglich. Mikroskopische Veränderungen der Blasenwand von Tieren in diesem Stadium zeigten charakteristische Veränderungen im Detrusor, wo eine Hypertrophie der glatten Muskelzellen, Hyperplasie von Fibroblasten und Ablagerung von kollagenen Fasern zwischen Detrusorbündeln nachweisbar ist. Dekompensationsstadium Wochen bis 6 Monate (Kaninchen) nach Erzeugung der artifiziellen BOO kommt es zur weiteren Zunahme des Blasengewichtes durch zusätzliche Verdickung der Blasenwand, Abnahme der Detrusorkraft (Kontraktilität), progressiven Zunahme der Restharnmenge und Entwicklung eines Harnverhaltes mit Entstehung von Harnstauungsnieren beidseits. Das Tier verstirbt anschließend in einer Niereninsuffizienz. Mikroskopische Untersuchungen der Blasenwand in diesem Stadium zeigten stark vergrößerte Räume zwischen den Detrusorzellen mit Ablagerung von großen Mengen kollagener und elastischer Fasern. Je stärker die Ablagerungen von Bindegewebe zwischen den Muskelbündeln waren, desto stärker reduzierte sich die Blasencompliance. Im Vergleich zu Tieren entwickelt sich die BOO/BPO beim Mann langsam innerhalb vieler Jahre oder sogar Jahrzehnte, sodass Kompensationsmechanismen der Harnblase effektiver sein könnten. Nichtsdestotrotz wurden gleichartige morphologische, funktionelle und biochemische Veränderungen auch in der Blasenwand von Männern mit BPO nachgewiesen ▶ [3238]. So wurde bei Männern mit BPO auch eine Hypertrophie der glatten Muskelzellen des
Detrusors, Hyperplasie der Fibroblasten und Infiltrationen von kollagenen und elastischen Fasern zwischen Muskelzellbündel gefunden. Das Blasengewicht bei Männern mit BPO als Resultat einer Blasenwandhypertrophie steigt um das 2- bis 4-Fache im Vergleich zu Männern ohne BOO/BPO an ▶ [3237]. Das Ausmaß der Detrusorverdickung gibt Informationen über die Detrusorkontraktilität und BOO-/BPO-Grad ▶ [3257], weshalb die sonografische Messung der Detrusordicke zur noninvasiven Diagnostik des BPS indirekte Hinweise auf eine BOO/BPO liefert. Die Blasenwandhypertrophie durch Verdickung des Detrusors und Anstieg der Detrusorkontraktilität scheinen Kompensationsmechanismen der Blase zu sein, um die Miktion gegen einen erhöhten Blasenauslasswiderstand in Anwesenheit einer BOO/BPO zu gewährleisten ▶ [3257], ▶ [3256]. Urodynamische Untersuchungen bei Männern mit benignem Prostatasyndrom zeigten mit zunehmendem Obstruktionsgrad eine zunehmende Wahrscheinlichkeit für eine Detrusorüberaktivität ( ▶ Abb. 51.8) ▶ [3250] und Abnahme der Blasencompliance ▶ [3240]. Die erniedrigte Blasencompliance durch Blasenwandhypertrophie ist die Ursache für die bilaterale Dilatation des oberen Harntraktes mit konsekutiver Niereninsuffizienz bei Männern mit BPO ▶ [3221]. Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Detrusorüberaktivität (y-Achse) in Relation zum Grad der urodynamisch verifizierten Blasenauslassobstruktion (BOO [benigne Prostataobstruktion], x-Achse) bei 1418 Männern mit benignem Prostatasyndrom Abb. 51.8 Schäfer-Klassen 0 und 1 repräsentieren keine BOO, Schäfer-Klasse 2 eine grenzwertige BOO und Schäfer-Klassen 3–6 zunehmende BOO-Schweregrade. Mit zunehmendem BOO-Grad kommt es zur erhöhten Wahrscheinlich für das Auftreten einer Detrusorüberaktivität (Schäfer-Klasse 1: 51% bis hin zu Schäfer-Klasse 6: 83%). Mit zunehmendem BOO-Grad wurden auch ein früheres Auftreten und eine erhöhte Amplitude von unwillkürlichen Detrusorkontraktionen nachgewiesen.
(Datenquelle: Oelke M, Baard J, Wijkstra H et al. Age and bladder outlet obstruction are independently associated with detrusor overactivity in patients with benign prostatic hyperplasia. Eur Urol 2008; 54: 419–426)
Die BOO/BPO scheint bei Patienten mit benignem Prostatasyndrom auch der auslösende pathogene Faktor zu sein ▶ [3259] für Blasensteine, Blasendivertikel, Harnverhalt, vesikoureteralen Reflux, Dilatation des oberen Harntraktes, Niereninsuffizienz.
Merke
Aus diesem Grund ist die Abklärung und Behandlung der BOO/BPO bei Männern mit benignem Prostatasyndrom von zentraler Bedeutung, was sich in den Empfehlungen der Deutschen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des benignen Prostatasyndroms widerspiegelt ▶ [3209], ▶ [3214], ▶ [3232]. Prinzipiell sind alle morphologischen und funktionellen Veränderungen der Harnblase mit der Behandlung der BOO/BPO reversibel. Nach operativer Behandlung der BPO (z.B. durch TURP) kommt es zur raschen Verschmälerung der Blasenwand, die bereits 1 Woche nach der Prostataoperation sonografisch messbar reduziert und nach ca. 6 Wochen auf Dicken von nicht obstruktiven Männern zurückgegangen ist ▶ [3236]. Die Wahrscheinlichkeit einer Detrusorüberaktivität reduziert sich signifikant mit der Beseitigung der BOO/BPO ( ▶ Abb. 51.9) ▶ [3268]. Werden Patienten mit Detrusorüberaktivität und BOO/BPO operativ deobstruiert (z.B. durch TURP), sind bei ca. 75% der Patienten die unwillkürlichen Detrusorkontraktionen in der Blasenfüllphase nicht mehr nachweisbar. Wird jedoch bei einem Patienten Prostatagewebe abgetragen, ohne dass vorher eine BOO/BPO bestand, bleibt bei ca. 60% der Patienten die Detrusorüberaktivität und Symptomatik bestehen. Schicksal der Detrusorüberaktivität nach operativer Behandlung der Blasenauslassobstruktion (BOO)/benigne Prostataobstruktion (BPO) mittels transurethraler Resektion der Prostata (TURP) Abb. 51.9
Abb. 51.9a Besteht eine sichere BOO/BPO vor der Operation (linke Bildhälfte), sind bei 73% der Patienten die unwillkürlichen Detrusorkontraktionen nach der Beseitigung der BOO/BPO nicht mehr nachweisbar. (Datenquelle: Roehrborn CG, Andersen JT, Correa R et al. Initial diagnostic evaluation of men with lower urinary tract symptoms. In: Proceedings of the third international
consultation on benign prostatic hyperplasia (BPH). Christchurch: Scientific Communication International; 1996: 167–254)
Abb. 51.9b Liegt jedoch keine oder nur eine grenzwertige BOO/BPO vor der Operation vor (rechte Bildhälfte), verbleibt postoperativ die Detrusorüberaktivität bei 60% der Patienten. Diese Männer haben ein erhöhtes Risiko für eine de novo Dranginkontinenz. (Datenquelle: Roehrborn CG, Andersen JT, Correa R et al. Initial diagnostic evaluation of men with lower urinary tract symptoms. In: Proceedings of the third international consultation on benign prostatic hyperplasia (BPH). Christchurch: Scientific Communication International; 1996: 167–254)
Die Reversibilität der Blasenmorphologie und -funktion scheint jedoch Grenzen zu haben. Eine sofortige operative Therapie der BOO/BPO nach Diagnosestellung durch eine TURP führt zu signifikant besseren operativen Resultaten hinsichtlich Symptomreduktion, Harnstrahlstärke und Verminderung der Restharnmenge im Vergleich zu Männern mit BOO/BPO, die zunächst beobachtet (Watchful Waiting) und erst zeitverzögert (nach 12 Monaten) die Prostataoperation erhielten ▶ [3224]. Die erst später deobstruierten Patienten scheinen irreversible Blasenschäden entwickelt zu haben.
Merke Deshalb sollte mit der operativen Behandlung der Behandlung der Blasenauslassobstruktion (BOO)/benigne
Prostataobstruktion (BPO) nicht allzu lange gewartet werden.
51.2.3 Symptome des unteren Harntraktes ▶ Abkürzung. Lower urinary tract symptoms – LUTS. Symptome des unteren Harntraktes sind die subjektiven Indikatoren einer Erkrankung, die vom Patienten oder seinem Partner wahrgenommen werden und die die Hauptursache für Arztbesuche von Patienten mit benignem Prostatasyndrom sind ▶ [3202]. LUTS werden vom Mann qualitativ geäußert und können als Einzelsymptom oder Symptomkombination vorkommen. LUTS werden in 3 Kategorien eingeteilt, nämlich Blasenspeichersymptome, Blasenentleerungssymptome oder Symptome nach der Miktion (Übersicht in ▶ Tab. 51.1 ) ▶ [3202]. Tab. 51.1 Symptome des unteren Harntraktes („lower urinary tract symptoms“; LUTS) und deren 3 Untergruppen. Blasenspeichersymptome treten während der Blasenfüllung und Blasenentleerungssymptome während der Miktion auf. Die in der Vergangenheit häufig verwendeten Begriffe „irritative“ Symptome für Blasenspeichersymptome und „obstruktive“ Symptome für Blasenentleerungssymptome sollten nicht mehr verwendet werden ▶ [3202]. Blasenspeichersymptome Blasenentleerungssymptome Symptome nach der Miktion imperativer Harndrang
Startverzögerung
Nachträufeln**
häufige Miktion am Tag (Pollakisurie)*
abgeschwächter Harnstrahl
Gefühl der unvollständigen Blasenentleerung (Restharngefühl)
häufige Miktion während der Nacht (Nykturie)*
unterbrochene Miktion
Harninkontinenz mit Harndrang (Dranginkontinenz)
Pressen zur Miktion
Blasenspeichersymptome Blasenentleerungssymptome Symptome nach der Miktion gespaltener Harnstrahl (Palmurie) terminales Träufeln** * Pollakisurie ist definiert als die subjektiv zu häufig auftretende Miktionsfrequenz während des Tages. Demgegenüber ist die Nykturie definiert als jede Miktion während der Nacht. ** Beim terminalen Träufeln handelt es sich um eine Blasenentleerung mit Tröpfchen am Ende der Miktion. Demgegenüber handelt es ich beim Nachträufeln um einen tröpfchenartigen Urinabgang nach Beendigung der Miktion.
Merke Begriffsbestimmung Pollakisurie Pollakisurie ist definiert als die subjektiv zu häufig auftretende Miktionsfrequenz während des Tages, die aber nicht über eine bestimmte Frequenz charakterisiert wird ▶ [3202]. In der klinischen Routine wird eine Miktionsfrequenz ≥8× als Pollakisurie verstanden. Nykturie Demgegenüber ist die Nykturie definiert als jede Miktion während der Nacht (nächtliche Miktionsfrequenz ≥1×), wenn die Person vor und nach dem Toilettengang geschlafen hat ▶ [3280]. Die früher häufig verwendeten Begriffe „irritative“ oder „obstruktive“ Symptome sollten nicht mehr verwendet werden, da mit diesen suggeriert wird, dass eine Irritation oder (urodynamische) Obstruktion vorliegt. Differenzialdiagnostisch können Blasenspeichersymptome auch bei einer Detrusorunteraktivität (zu kurze oder zu schwache Detrusorkontraktion während der Miktion) vorkommen, ohne dass sich die LUTS bei BOO/BPO oder
Detrusorunteraktivität qualitativ oder quantitativ unterscheiden. LUTS sind unspezifisch für das Lebensalter, das Geschlecht und die zugrundeliegende Erkrankung. Frauen haben daher oft dieselben Symptome und denselben Symptomschweregrad wie gleichaltrige Männer, obwohl Frauen keine Prostata haben. Anhand der vorliegenden LUTS kann deshalb nicht die Diagnose BOO/BPO oder benignes Prostatasyndrom gestellt werden. Aus demselben Grund soll der in der Vergangenheit verwendete Begriff „Prostatismus“ auch nicht mehr verwendet werden. Die Qualität und der Schweregrad von LUTS lassen nicht nur keine Rückschlüsse auf die zugrundeliegende Erkrankung zu, sondern deuten noch nicht einmal sicher auf die urodynamischen Veränderungen hin. Lediglich die Symptomkombination von Harninkontinenz mit imperativem Harndrang weist mit ausreichender Sicherheit auf die zugrundeliegende Blasenfehlfunktion hin, nämlich auf eine Detrusorüberaktivitätsinkontinenz (Dranginkontinenz = Harninkontinenz durch unwillkürliche Detrusorkontraktionen). Neben der Prostata können LUTS auch durch viele Erkrankungen der Harnblase, der Harnröhre, des Beckenbodens, des zentralen oder peripheren Nervensystems oder sogar des Harnleiters im Fall von distalen Harnleitersteinen verursacht werden. Umgekehrt kann bei fehlenden LUTS auch keine BOO/BPO ausgeschlossen werden, wodurch Männer ohne LUTS, aber mit BOO/BPO häufig unentdeckt bleiben (stumme Obstruktion). Obwohl Blasenentleerungssymptome und Symptome nach der Miktion viel häufiger beim Mann auftreten, verursachen insbesondere die Blasenspeichersymptome einen Leidensdruck beim Betroffenen ▶ [3264]. So gehören vor allem der imperative Harndrang und die nächtliche Miktion
(Nykturie) zu den Symptomen, die die Lebensqualität des Mannes reduzieren und Trigger für Arztbesuche sind.
51.2.4 Benignes Prostatasyndrom ▶ Abkürzung. Benignes Prostatasyndrom – BPS. Der Begriff benignes Prostatasyndrom wird nur im deutschsprachigen Raum verwendet und beschreibt das variable Verhältnis von LUTS, BPE und BOO ▶ [3209]. Im englischsprachigen Raum wird dieses Krankheitsbild als „Clinical BPH“, „LUTS suggestive of BPH“, „LUTS/BPH“ oder „Male LUTS“ bezeichnet. Der Begriff BPS darf nur dann verwendet werden, wenn der Mann älter als 40 Jahre ist und andere Pathologien des unteren Harntraktes ausgeschlossen wurden, insbesondere Karzinome der Prostata oder Harnblase sowie neurologische Erkrankungen oder Infektionen ▶ [3209].
Merke Somit ist das benigne Prostatasyndrom (BPS) eine benigne Erkrankung und klinische Diagnose, die erst nach Ausschluss von anderen Erkrankungen gestellt werden darf. Die qualitativen Beziehungen zwischen den drei Komponenten des BPS (s. Übersicht) können anhand eines Diagramms illustriert werden, das unter dem Namen HaldDiagramm bekannt wurde ( ▶ Abb. 51.10) ▶ [3230]. Das Diagramm verdeutlicht, dass beim betroffenen Mann alle drei Komponenten nachweisbar sein können, aber nicht zwingend sein müssen. Dementsprechend kann ein Mann lediglich eine Komponente, aber auch zwei oder alle drei Komponenten aufweisen.
Übersicht Die Teilkomponenten des benignen Prostatasyndroms (BPS) LUTS (Symptome des unteren Harntraktes [„lower urinary tract symptoms“]) BPE (benigne Prostatavergrößerung [„benign prostate enlargement“]) BOO/BPO (Blasenauslassobstruktion [„bladder outlet obstruction“]/benigne Prostataobstruktion [„benign prostatic obstruction“])
Illustration der Zusammenhänge zwischen Symptomen des unteren Harntraktes, benigner Prostatavergrößerung und Blasenauslassobstruktion bzw. benigner Prostataobstruktion bei Patienten mit benignem Prostatasyndrom (BPS), sog. Hald-Ringe. Abb. 51.10 Es bestehen keine festen Korrelationen zwischen den Hauptkomponenten des BPS, sodass die An- oder Abwesenheit einer Komponente nicht auf die An- oder Abwesenheit einer anderen Komponente schließen lässt. Somit müssen alle drei Komponenten des BPS einzeln und unabhängig voneinander evaluiert und quantifiziert werden (s.a. ▶ Abb. 51.12).
LUTS: Symptome des unteren Harntraktes („lower urinary tract symptoms“) BPE: benigne Prostatavergrößerung („benign prostate enlargement“) BOO: Blasenauslassobstruktion („bladder outlet obstruction“) BPO: benigne Prostataobstruktion („benign prostatic obstruction“) (Datenquelle: Hald T. Urodynamics in benign prostatic hyperplasia: a survey. Prostate Suppl 1989; 2: 69–77)
Die quantitativen Verteilungen zwischen diesen drei Komponenten wurden für die Normalbevölkerung und für Patienten eines Krankenhauses untersucht: Normalbevölkerung Die Epidemiologie der Teilkomponenten des BPS ist in Deutschland in der Gemeinde Herne untersucht worden ▶ [3212]. Diese sog. Herner LUTS-Studie ergab, dass Männer ≥50 Jahre in 40,5% LUTS, in 26,9% eine BPE und in 17,3% eine BOO haben. Da es sich bei den Untersuchten um eine repräsentative Stichprobe deutscher Männer handelte, konnten mit den Ergebnissen dieser Studie die Prävalenzen für die gesamte deutsche männliche Bevölkerung älterer Männer errechnet werden. So haben in Deutschland ca. 5 Millionen Männer LUTS (IPSS >7),
ca. 3,2 Millionen Männer eine BPE (Prostatavolumen >25 ml) und ca. 2,1 Millionen Männer eine BOO (Harnstrahlstärke 7), die Prostatagröße mittels transrektaler Sonografie der Prostata (TRUS >25 ml) und die BOO mittels Urodynamik bestimmt (Bladder Outlet Obstruction Index >40 cm H2O).
LUTS: Symptome des unteren Harntraktes („lower urinary tract symptoms“) BPE: benigne Prostatavergrößerung („benign prostate enlargement“) BOO: Blasenauslassobsturktion („bladder outlet obstruction“) BPO: benigne Prostataobstruktion („benign prostatic obstruction“) (Datenquelle: Oelke M, Kirschner-Hermanns R, Höfner K. Spezielle Urodynamik des Mannes. In: Schulz-Lampel D, Goepel M, Haferkamp A [Hrsg]. Urodynamik, 3. Aufl. Berlin: Springer; 2012: 199–223)
Die überwiegende Mehrheit der deutschen Männer mit BPS sucht medizinische Hilfe aufgrund von LUTS; nur ein kleinerer Teil wird im Rahmen der Krebsvorsorge auch hinsichtlich BPS untersucht und behandelt ▶ [3233]. Signifikante Einzelfaktoren für Arztbesuche sind vor allem starke LUTS (erhöhte IPSS-Werte), Blasenspeichersymptome (insbesondere Nykturie ▶ [3249]) und ein Restharn >50 ml.
Merke Das benigne Prostatasyndrom (BPS) ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen westlichen Industrienationen die häufigste urologische Erkrankung und
die vierthäufigste sowie viertteuerste Erkrankung bei Männern ≥50 Jahren ▶ [3234]. Basierend auf der Demografie der deutschen Bevölkerung und Prävalenzdaten des BPS in Deutschland sind insgesamt etwa 2,5 Millionen deutsche Männer von einem BPS betroffen ▶ [3212]. Das BPS kann aufgrund der hohen Prävalenz daher zu Recht als Volkskrankheit bezeichnet werden. Bei durchschnittlichen Kosten zur Diagnostik und Therapie von Männern mit BPS von ca. € 900 pro Patient und Jahr ▶ [3279] ist im deutschen Gesundheitssystem ein jährlicher finanzieller Gesamtaufwand von ca. € 2,2 Milliarden für die Diagnostik und Therapie notwendig. Bei steigender Prävalenz der BPH bzw. BPS und steigendem Lebensalter der männlichen Bevölkerung Europas wird deutlich, dass die Anzahl der von BPS betroffenen und vermutlich auch hilfesuchenden Männer in Zukunft deutlich zunehmen wird. Dieser Patientenanstieg könnte das Gesundheitssystem vor ungeahnte finanzielle und logistische Herausforderungen stellen. Daher ist ein zielgerichteter Umgang der Männer mit BPS notwendig, um die steigende Patientenzahl schnell und zufriedenstellend abzuklären und zu behandeln und langfristig relevante Komplikationen im unteren oder oberen Harntrakt, die wiederum eine kostenintensive Diagnostik und Therapie nach sich ziehen würden, zu vermeiden.
51.2.4.1 Progression des benignen Prostatasyndroms Zwischen dem 50. und 80. Lebensjahr des Mannes kommt es zur signifikanten Zunahme des Prostatavolumens (im Mittel 24→3 8ml) und Abnahme der maximalen Harnflussrate (im Mittel 22,1→13,7ml/s) ▶ [3210]. Etwa 27% der deutschen Männer im Alter ≥50 Jahren erfahren innerhalb der nächsten 5 Jahre eine Verschlechterung der LUTS,
entwickeln einen akuten Harnverhalt oder müssen an der Prostata operiert werden ▶ [3211]. Das errechnete Progressionsrisiko des BPS und die Progressionsparameter in Deutschland sind sehr ähnlich zu Untersuchungen in anderen Ländern. Allerdings ist nach wie vor unbekannt, wie die Gewichtung der einzelnen Progressionsfaktoren sein muss und welche Kombination von Befunden eine Progression am besten voraussagt. Relevante Risikofaktoren für die BPS-Krankheitsprogression sind (Werte der MTOPS-Studie ▶ [3243]) in der Übersicht zusammengefasst.
Vorsicht Risikofaktoren für die Krankheitsprogression des benignen Prostatasyndroms höheres Lebensalter (>62 Jahre) moderate bis starke Symptomatik (Internationaler Prostata-Symptomenscore IPSS >17) benigne Prostatavergrößerung (>31 ml) erhöhte PSA-Konzentration im Serum (>1,6 µg/l) abgeschwächter Harnstrahl (Qmax 39 ml)
51.3 Diagnostik Da die Zusammenhänge zwischen den Teilkomponenten des BPS (LUTS, BPE, BOO/BPO; Übersicht s.o.) nur inkonsistent sind und das Vorhandensein und die Ausprägung einer Komponente keine Rückschlüsse auf das Vorhandensein oder
die Ausprägung einer anderen Komponente zulassen, müssen die drei Teilkomponenten des Hald-Diagramms einzeln untersucht und die Schnittmengen bzw. die quantitativen Verhältnisse bei jedem Mann separat ermittelt werden ( ▶ Abb. 51.12) ▶ [3225]. Testverfahren zur Diagnostik und Quantifizierung der 3 Hauptkomponenten des benignen Prostatasyndroms (BPS) Abb. 51.12
LUTS: Symptome des unteren Harntraktes („lower urinary tract symptoms“) BPE: benigne Prostatavergrößerung („benign prostate enlargement“) BOO: Blasenauslassobstruktion („bladder outlet obstruction“) BPO: benigne Prostataobstruktion („benign prostatic obstruction“) IPSS: internationaler Prostata-Symptomscore PSA: prostataspezifisches Antigen (Datenquelle: Gabuev A, Oelke M. Aktuelle Aspekte zur Epidemiologie, Diagnostik und Therapie des Benignen Prostatasyndroms. Akt Urol 2011; 42: 167–178)
Des Weiteren verfolgt die Diagnostik das Ziel, Parameter der Krankheitsprogression zu erfassen und Aussagen über die Wahrscheinlichkeiten für das Fortschreiten von LUTS, eines Harnverhalts oder die Notwendigkeit einer Prostataoperation zu treffen.
Praxis Praktischer Hinweis Gemäß den Leitlinien der Deutschen Urologen zur Diagnostik des BPS werden obligate von fakultativen Untersuchungen
unterschieden ▶ [3209]. Obligate Untersuchungen sollten bei jedem Mann mit BPS durchgeführt werden, während fakultative Untersuchungen nur zur Beantwortung spezieller Fragestellungen, die nicht mit den obligaten Untersuchungen zu klären waren, eingesetzt werden und daher eine spezielle Indikationsstellung benötigen.
51.3.1 Obligate Diagnostik 51.3.1.1 Anamnese Im Rahmen des Patientengespräches sollten nicht nur LUTS qualitativ und quantitativ erfragt, sondern auch relevante Vorerkrankungen (z.B. neurologische Erkrankungen, Diabetes mellitus, Traumata), Medikamente mit Auswirkungen auf Diurese oder Harnblasenfunktion (z.B. Diuretika, Anticholinergika oder Adrenozeptorenblocker) und Operationen sowie Bestrahlungen des Abdomens, Beckens, Kopfes oder der Wirbelsäule erhoben und dokumentiert werden. Das Patientengespräch dient somit der Beurteilung des LUTS-Schweregrades, des durch LUTS verursachten individuellen Leidensdruckes, der Ursachenermittlung und der Differenzialdiagnostik von LUTS.
51.3.1.2 Quantifizierung von LUTS mit Fragebögen Zur Objektivierung und Quantifizierung der in der Anamnese berichteten LUTS dienen validierte Fragebögen. Der Internationale Prostata-Symptomenscore (IPSS) hat die größte Verbreitung gefunden ( ▶ Abb. 51.13) ▶ [3207]. (Daten teilweise aus ▶ [3207].)
Abb. 51.13
Obwohl der Name des Fragebogens suggeriert, dass Symptome der Prostata evaluiert werden und (irrtümlicherweise) damit auch die Diagnose BPS gestellt werden kann, sind die Ergebnisse des Fragebogens – wie
auch die LUTS selbst – alters-, geschlechts- und krankheitsunabhängig. Der Fragebogen mit 8 Einzelfragen soll vom Patienten selbstständig ausgefüllt werden und erfragt mit 7 Symptomfragen das Vorhandensein sowie die Ausprägung der innerhalb von 24 Stunden aufgetretenen Blasenspeicherund Blasenentleerungssymptome retrospektiv für die letzten 4 Wochen sowie mit der 8. Frage die entstandene Lebensqualitätseinschränkung infolge der LUTS. Der IPSSFragebogen kann die Einzelsymptome, die Symptomkombinationen und den Schweregrad der Symptomatik klären und das Ergebnis bei der Erstuntersuchung, aber auch bei Wiederholungsuntersuchungen – mit/ohne Therapie – dokumentieren. Die Fragen Nr. 2 (Pollakisurie), Nr. 4 (imperativer Harndrang) und Nr. 7 (Nykturie) quantifizieren die Blasenspeichersymptome, und Fragen Nr. 1 (Restharngefühl), Nr. 3 (unterbrochene Miktion), Nr. 5 (Harnstrahlstärke) und Nr. 6 (Startverzögerung) quantifizieren die Blasenentleerungssymptome. Der Patient kann den Schweregrad für jedes Einzelsymptom mit 6 Möglichkeiten beantworten (0–5), sodass der Symptomenscore der 7 Einzelfragen eine Gesamtsumme zwischen 0 und 35 Punkten erreichen kann. Anhand der Symptomensumme wird unterschieden: keine Symptomatik bei IPSS 0 milde Symptomatik bei IPSS 1–7 moderate Symptomatik bei IPSS 8–19 schwere Symptomatik bei IPSS 20–35 Zusätzlich zu den 7 Symptomenfragen soll eine zusätzliche Frage die globale subjektive Lebensqualität beim Vorliegen von LUTS bestimmen (IPSS-Lebensqualitätsindex, IPSS;
Frage Nr. 8). Hierzu stehen dem Patienten 7 Antwortmöglichkeiten (0–6 Punkte) zur Verfügung. Die Symptomfragen und der Lebensqualitätsindex werden separat betrachtet. Die Summe der Symptomfragen (IPSS 1– 7) und die Höhe der Lebensqualitätsfrage (IPSS 8) korrelieren über einen weiten Bereich, sodass im Allgemeinen mit zunehmender Symptomatik auch eine kontinuierliche Lebensqualitätsverminderung eintritt (höhere Werte bei der 8. IPSS-Frage).
Praxis Eine Therapieindikation besteht prinzipiell dann, wenn der Patient die 8. IPSS-Frage mit ≥3 beantwortet. Umgekehrt muss bei guter Lebensqualität – unabhängig vom Schweregrad der Symptomatik – die Indikation für eine aktive Therapie (Medikamente oder Operation) kritisch gestellt werden. Eine schlechte Lebensqualität (IPSS-Lebensqualitätsindex ≥3) wird üblicherweise erst ab einer IPSSSymptomsumme >7 vorgefunden, kann aber vom individuellen Patienten auch anders empfunden werden. Behandlungseffekte verspürt der Patient im Allgemeinen erst dann, wenn sich der Symptomenscore um ≥3 Punkte reduziert ▶ [3208].
51.3.1.3 Körperliche Untersuchung Die allgemeine körperliche Untersuchung beinhaltet Inspektion und Palpation des Genitales zur Diagnostik von Lokalbefunden, die zur BOO führen können, z.B. Phimose, Meatusstenose,
Peniskarzinom. Eine orientierende neurologische Diagnostik zur Abschätzung einer neurogenen Blasenfunktionsstörung. Da die afferenten und efferenten Nerven der Harnblase über die Sakralnerven S2–S4 verlaufen, sollten bei der neurologischen Untersuchung speziell diese Nervenbahnen getestet werden. Es handelt sich bei der Überprüfung der Reflexbahnen um die folgenden Fremdreflexe: Bulbokavernosusreflex (S2–S3), bulboanaler Reflex (S3–S4), kutaner Analreflex/analer Sphinktertonus (S4–S5). Während der digitorektalen Untersuchung wird die Prostata hinsichtlich Größe, Konsistenz und Dolenz untersucht.
Vorsicht Je größer das Prostatavolumen ist, desto mehr weicht die Größenabschätzung des Untersuchers vom tatsächlichen Prostatavolumen ab; so wird ein Prostatavolumen >50 ml um bis zu 25% zu gering eingeschätzt. In der BPS-Population liegt ein Prostatakarzinom mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 5 und 15% vor. Eine prostatakarzinomsuspekte Resistenz kann durch einen zweiten (unabhängigen) Untersucher in ca. 90% bestätigt werden. Allerdings hat die digitorektale Untersuchung zur Diagnostik eines Prostatakarzinoms eine niedrige Sensitivität (ca. 33%) und Spezifität (ca. 50%), sodass zur Prostatakarzinomdiagnostik immer die digitorektale Untersuchung mit einer transrektalen Sonografie der Prostata und Bestimmung der Serumkonzentration des prostataspezifischen Antigens (PSA) kombiniert werden sollte.
51.3.1.4 Laboruntersuchungen Bei allen Männern sollte der Urin qualitativ und quantitativ mittels Urinteststreifen oder Mikroskopie untersucht sowie die Konzentrationen des Serum-Kreatinins und PSA-Wertes ermittelt werden.
Urin Die Urinuntersuchung mittels Urinteststreifen oder Sediment soll eine Harnwegsinfektion als Ursache der LUTS ausschließen und sollte bei Vorliegen einer Hämaturie Anlass zur weiteren Diagnostik geben (Ausschluss von Steinen oder Tumoren des Harntraktes). Somit ist die Urinuntersuchung für die Differenzialdiagnostik von LUTS wichtig.
Blut Da Funktionsstörungen der Harnblase sekundäre Folgen auf die Nierenfunktion haben können, dienen die Messung der Kreatinin-Konzentration im Serum und die Errechnung der glomerulären Filtrationsrate zur Abschätzung der Nierenfunktion. Allerdings kommt es erst zum Anstieg der Kreatinin-Konzentration im Serum, wenn mehr als 50% der Nephrone geschädigt sind. Bei nachgewiesener Nierenfunktionseinschränkung sollte die weitere Ultraschalldiagnostik klären, ob es sich um eine prä-/intrarenale oder postrenale Ursache handelt. Die Bestimmung des PSA-Wertes im Serum dient der Risikoabschätzung für das Vorliegen eines Prostatakarzinoms und einer BPS-Progression ▶ [3274]. Auch kann mit der PSA-Konzentration im Serum das Prostatavolumen abgeschätzt werden, wofür Tabellen und Diagramme zur Verfügung stehen ( ▶ Abb. 51.14) ▶ [3267]. Abschätzung des Prostatavolumens in Abhängigkeit von der PSA-Konzentration (PSA: prostataspezifisches Antigen) im Serum und dem Lebensalter des
Patienten Abb. 51.14 (Datenquelle: Roehrborn CB, Boyle P, Lawrence Gould A et al. Prostate specific antigen as a predictor of prostate volume in men with benign prostatic hyperplasia. Urology 1999; 53: 581–589)
Merke Eine PSA-Konzentration im Serum von >1,6 µg/l ist mit einer erhöhten BPS-Progressionswahrscheinlichkeit vergesellschaftet ▶ [3243].
51.3.1.5 Uroflowmetrie Anhand der Harnstrahlmessung (freie Uroflowmetrie) erfolgt die Beurteilung der Blasenentleerung.
Merke Ein abgeschwächter Harnstrahl liegt bei Männern ≥40 Jahren prinzipiell dann vor, wenn die maximale Harnflussrate (Qmax) 150 ml beträgt. Alternativ können altersbezogene Referenzwerte zur Abschätzung der Harnstrahlstärke verwendet werden. Allerdings kann beim Nachweis einer Harnstrahlabschwächung nicht sicher zwischen einer BOO/BPO und Detrusorunteraktivität unterschieden werden. Die Wahrscheinlichkeit für eine BOO/BPO bei Qmax 15 ml/s relativ sicher eine BOO/BPO ausgeschlossen werden (Wahrscheinlichkeit einer Non-Obstruktion ca. 96%) ▶ [3255]. Eine sog. High-Flow-Obstruktion äußert sich als normale maximale Harnstrahlstärke (Qmax >15 ml/s) trotz bestehender BOO/BPO und täuscht einen nichtobstruierten unteren Harntrakt vor. Die High-Flow-Obstruktion entsteht durch eine abnorm starke (kompensatorische) Kontraktilitätssteigerung des Detrusors infolge der BOO/BPO, aber wird bei Männern mit BPS insgesamt nur selten dokumentiert (ca. 1–2% des BPS-Kollektivs). Der Qmax-Wert ist auch volumenabhängig, und die Uroflowmetrie ist anfällig für Artefakte, weshalb ein Miktionsvolumen von >150 ml zur richtigen Interpretation und eine optische Kontrolle der Harnstrahlkurve hinsichtlich Artefakten notwendig ist. Artefakte müssen manuell korrigiert werden ( ▶ Abb. 51.15a). Bei erniedrigtem Qmax oder einem Miktionsvolumen 40 ml) stellt einen wichtigen Parameter zur Einschätzung der Krankheitsprogression dar und sollte auch zur Indikationsstellung beim Einsatz von 5αReduktase-Inhibitoren oder zur Auswahl einer geeigneten Prostataoperationen verwendet werden ▶ [3243].
51.3.2 Fakultative Diagnostik 51.3.2.1 Miktionsprotokoll Mit einem vom Patienten zu Hause auszufüllenden Protokoll über einen Zeitraum von mindestens 48 Stunden sollen die Zeiten der Toilettengänge zur Miktion und die jeweiligen Miktionsvolumina objektiviert und dokumentiert werden. Ein Miktionsprotokoll wird zur Differenzialdiagnostik von Blasenspeichersymptomen und insbesondere zur Ursachenermittlung der Nykturie empfohlen. Eine Nykturie (≥1 nächtliche Miktion) wird bei etwa 80% der Patienten mit BPS vorgefunden. Anhand des Miktionsprotokolls lässt sich die Pathophysiologie klären und groborientierend in die
folgenden Kategorien einteilen ( ▶ Abb. 51.16, ▶ [3249], ▶ [3280]): globale Polyurie (24 Stunden Miktionsvolumen >70 ml/kg Körpergewicht), nächtliche Polyurie (nächtliches Miktionsvolumen >33% des 24 Stunden-Miktionsvolumens) und erhöhte Miktionsfrequenz durch eine anatomisch oder funktionell reduzierte Blasenkapazität (geringe Miktionsvolumina) ▶ [3249]. In der BPS-Population haben etwa 20% der Männer eine reine nächtliche Polyurie und 60% eine Kombination von nächtlicher Polyurie und reduzierter Blasenkapazität ▶ [3217]. Mögliche Untersuchungsergebnisse im Blasentagebuch zur Ermittlung der Ursache(n) einer Nykturie. Abb. 51.16 Nach Identifikation der Pathophysiologie der Nykturie muss die zugrundeliegende, spezielle Erkrankung durch zusätzliche diagnostische Maßnahmen ermittelt werden. (Quelle: Prof. Dr. M. Oelke)
51.3.2.2 Urodynamische Untersuchung Die Messung des Detrusordrucks während der Blasenfüllung (Zystometrie) dient der Diagnostik einer Detrusorüberaktivität und Beurteilung der Blasencompliance. Die simultane Messung des Detrusordrucks und des Harnflusses während der Blasenentleerung (Druck-Fluss Messung) dient der Differenzierung zwischen BOO, Detrusorunteraktivität und Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination ▶ [3202]. Eine urodynamische Untersuchung wäre zwar bei allen Patienten mit BPS zur Abklärung der Blasenfunktion bzw. fehlfunktion wünschenswert, ist aber bei der großen Anzahl von BPS-Patienten wenig praktikabel und teuer. Eine Urodynamik bei Patienten mit BPS ist daher nur dann sinnvoll ist, wenn die obligate Diagnostik die genaue Ursache nicht klären konnte, wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden sollen oder forensische Aspekte zu beachten sind. Die Indikation zur Durchführung einer urodynamischen Untersuchung besteht bei Männern mit BPS bei Vorliegen der folgenden Kriterien ▶ [3228]: nach fehlgeschlagenen invasiven LUTS-Behandlungen, wenn das Miktionsvolumen bei der Uroflowmetrie auch bei Wiederholungsuntersuchungen 300 ml auch bei Wiederholungsuntersuchungen dokumentiert wurde, bei sehr jungen (80 Jahre) Patienten und bei Verdacht auf eine neurogene Ursache der Blasenfunktionsstörung.
51.3.2.3 Sonografische Messung der Detrusorwanddicke
Bei Männern mit BOO/BPO kommt es zur kompensatorischen Blasenwandhypertrophie mit Verdickung der Detrusorwand, die sich mit einem hochfrequenten Schallkopf (≥7,5 MHz) noninvasiv schnell darstellen und messen lässt ( ▶ Abb. 51.17) ▶ [3225], ▶ [3257]. Sonografische Messung der Detrusordicke bei ≥250 ml Blasenfüllung mit einem hochauflösenden Schallkopf zur Detektion einer BOO/BPO (Blasenauslassobstruktion [„bladder outlet obstruction“]/ benigne Prostataobstruktion [„benign prostate obstruction“]) bei Patienten mit benignem Prostatasyndrom (BPS). Abb. 51.17
Abb. 51.17a Auflegen des Ultraschallkopfes auf den Unterbauch des Patienten.
Abb. 51.17b Identifikation der Anatomie der vorderen Bauchwand und der Blasenvorderwand bei geringer Vergrößerung des Ultraschallbildes.
Abb. 51.17c Identifikation der 3 Schichten der Blasenvorderwand bei stärkerer Vergrößerung des Ultraschallbildes. Mukosa und Adventitia erscheinen als hyperechogene Linien und der Detrusor als dazwischenliegender hypoechogener Balken (Detrusordicke im Beispiel 0,9 mm).
Abb. 51.17d Die Verdickung des Detrusors ≥2 mm ist ein sicheres Zeichen für eine BOO/BPO (Detrusordicke im Beispiel 2,9 mm).
Merke Die Dicke des Detrusors korreliert mit dem BOO-Grad. Bei einer Dicke der vorderen Blasenwand ≥2mm bei einer Blasenfüllung ≥250 ml liegt eine BOO/BPO mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% vor.
Auch bei einer High-Flow-Obstruktion und sogar bei Harnretention kann die sonografische Detrusordickenmessung sicher die BOO/BPO detektieren. Die Uroflowmetrie, Restharnbestimmung und das Prostatavolumen haben sich als weniger sensible Marker zum Nachweis der BOO/BPO im Vergleich zur Detrusorwanddickenmessung erwiesen ▶ [3255].
51.3.2.4 Endoskopie, Urethrografie, Zystografie Diese Untersuchungen sind nur in Ausnahmefällen notwendig, z.B. wenn obligate Untersuchungen Hinweise auf eine Harnröhrenstriktur oder einen Harnblasentumor ergeben haben. Entgegen der allgemeinen urologischen Meinung besitzen der Okklusionsgrad der prostatischen Harnröhre durch einen Prostatamittellappen oder durch Prostataseitenlappen sowie der Trabekulierungsgrad der Harnblase nur einen unzureichenden Stellenwert bei der Beurteilung der BPE oder BOO/BPO ▶ [3223]. So kann bei einer visuellen Einengung der Harnröhre durch Prostataseitenlappen oder bei starker Blasentrabekulierung eine (urodynamische) BOO/BPO auch vollständig fehlen. Die Blasentrabekulierung wird nicht durch die BOO/BPO, sondern durch Detrusorüberaktivität verursacht. Bei der Blasentrabekulierung handelt es sich auch nicht um hypertrophierte Bündel glattmuskulärer Detrusoranteile, sondern um Ablagerungen von Fibrillen kollagener und elastischer Fasern in der Blasenschleimhaut.
51.4 Therapie Bei der Auswahl der geeigneten Therapie und Anpassung im weiteren Verlauf sollten die in der folgenden Übersicht zusammengestellten Grundsätze berücksichtigt werden ▶ [3251] (s.a. ▶ Abb. 51.18, ▶ Abb. 51.20).
Praxis Grundsätze der Therapie Ausprägung der LUTS (=Symptome des unteren Harntraktes) und deren Auswirkung auf die Einschränkung der Lebensqualität Lebensalter und persönliche Präferenzen des Patienten Vorhandensein oder Abwesenheit einer BPO (=benigne Prostataobstruktion) Nachweis von BPS-assoziierten (BPS=benignes Prostatasyndrom) Komplikationen, die eine Prostataoperation ohne vorhergehende konservative Therapieversuche notwendig macht (absolute Operationsindikationen): rezidivierender Harnverhalt rezidivierende Harnwegsinfektionen konservativ nicht beherrschbare Makrohämaturie Konkremente der Harnblase Dilatation des oberen Harntraktes Einschränkung der Nierenfunktion Einschätzung des individuellen Progressionsrisikos Wahl der Therapie im Indikationsbereich des individuellen Therapieverfahrens Fähigkeit der Therapie, die in der Diagnostik evaluierten Veränderungen beeinflussen zu können bei Medikamenten Verwendung der in der Produktinformation empfohlenen Dosierung
Wahl der Therapie nach einem in Leitlinien empfohlenen Algorithmus ▶ [3251] ( ▶ Abb. 51.18, ▶ Abb. 51.20) Dokumentation der Therapieeffekte mit geeigneten Testverfahren.
Konservative und/oder medikamentöse Therapie des benignen Prostatasyndroms gemäß Richtlinien der European Association of Urology (EAU). Abb. 51.18 Die Wahl der Medikamentengruppe orientiert sich primär an den vom Patienten berichteten Symptomen oder Symptomenkomplexen. 5ARI: 5α-ReduktaseInhibitor; PDE5-I: Phosphodiesterase-Typ-5-Inhibitoren (Datenquelle: Oelke M, Bachmann A, Descazeaud A et al. EAU Guidelines on the treatment and follow-up of non-neurogenic male lower urinary tract symptoms, including benign prostatic obstruction. Eur Urol 2013; 64: 118–140)
51.4.1 Kontrolliertes Zuwarten (Watchful Waiting)
Bei Patienten ohne absolute Operationsindikationen (s.o.) und nur geringen oder moderaten LUTS ohne Leidensdruck und ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität kann ein kontrolliertes Zuwarten (Watchful Waiting), ggf. mit adjuvanten Verhaltensmaßnahmen (s. Übersicht) erwogen werden. Beim Nachweis einer symptomatischen oder klinischen BPS-Progression sollte das primäre Therapiekonzept überdacht und geändert werden.
Praxis Verhaltensmaßnahmen bei Patienten mit benignem Prostatasyndrom (BPS) Diese Empfehlungen können allein oder in Kombination mit dem kontrollierten Zuwarten oder der medikamentösen Therapie erfolgen. Reduktion der Trinkmenge vor bestimmten Aktivitäten (z.B. vor dem Gang in die Öffentlichkeit) oder am Abend (z.B. 2 Stunden vor dem Schlafengehen) zur Reduktion der Miktionsfrequenz am Tag oder während der Nacht. Trinkmenge auf etwa 1500 ml pro 24 Stunden beschränken. Miktion vor dem Schlafengehen zur Reduktion der Nykturiefrequenz Vermeiden oder Reduktion des Koffein- und Alkoholkonsums aufgrund deren diuretischen und irritativen Wirkungen Anwendung von Entspannungstechniken und zweizeitiger Blasenentleerung Ausstreichen der Harnröhre zur Prävention des Nachträufelns
Ablenkungsmanöver beim Harndrang: Kompression der Urethra Druck auf das Perineum Atemübungen Ablenkungstricks Blasentraining: Kneifübungen Verlängerung der Zeit zwischen einzelnen Miktionen Evaluation und ggf. Umstellung der Medikation mit potenzieller Wirkung auf die Diurese oder auf den unteren Harntrakt Hilfeleistung bei der Blasenentleerung bei eingeschränkter Mobilität oder kognitiver Dysfunktion Behandlung der Obstipation (nach ▶ [3251])
51.4.2 Medikamentöse Therapien In Deutschland sind zur Behandlung des BPS bzw. von LUTS bei Männern die in einer weiteren Infobox zusammengestellten Wirkstoffgruppen zugelassen, die einzeln oder in Kombination verordnet werden können.
Übersicht Für männliche Patienten mit Symptomen des unteren Harntraktes zugelassene Wirkstoffgruppen
α1-Adrenozeptor-Antagonisten (α-Blocker) Phosphodiesterase-Typ-5-Inhibitoren (PDE5-I) 5α-Reduktase-Inhibitoren (5ARI) m-Cholinorezeptor-Antagonisten (Antimuskarinika) β3-Adrenozeptor-Agonisten (β 3-Agonisten) Phytopharmaka (Pflanzenextrakte) Die pharmakokinetischen Eigenschaften und Dosierungen der Medikamente aus diesen Substanzgruppen sind in ▶ Tab. 51.2 ▶ [3260], der Einfluss der Substanzgruppen auf die 3 Hauptkomponenten des BPS (Symptome, Prostatagröße und Obstruktion) sind in ▶ Tab. 51.3 zusammengefasst. Tab. 51.2 Wirkstoffklassen, zugelassene Medikamente, pharmakokinetische Profile und empfohlene Dosierungen zur Behandlung von Symptomen des unteren Harntraktes (LUTS) oder Blasenspeichersymptomen bei benignem Prostata-Syndrom (BPS) (Datenquelle: ▶ [3260]). Medikamentenklassen und Medikamente
tmax
t½
(Stunden)
(Stunden)
Empfohlene tägliche Dosierung
α1-Adrenozeptor-Antagonisten (α-Blocker) zur Behandlung von Zeichen oder Symptomen des BPS Alfuzosin IR
1,5
4–6
3×2,5 mg
Alfuzosin SR
3
8
2×5 mg
Alfuzosin XL
9
11
1×10 mg
Doxazosin IR
2–3
20
1×2–8 mg
Doxazosin GITS
8–12
20
1×4–8 mg
Silodosin
2,5
11–18
1×4–8 mg
Tamsulosin MR
6
10–13
1×0,4 mg
Tamsulosin OCAS
4–6
14–15
1×0,4 mg
Terazosin
1–2
8–14
1×5–10 mg
Phosphodiesterase-Typ-5-Inhibitor (PDE5-I) zur Behandlung von Zeichen oder Symptomen des BPS, mit oder ohne erektile Dysfunktion Tadalafil
2 (0,5–12)
17,5
1×5 mg
Medikamentenklassen und Medikamente
tmax
t½
(Stunden)
(Stunden)
Empfohlene tägliche Dosierung
5α-Reduktase-Inhibitoren (5ARI) zur Behandlung der Prostatavergrößerung bei BPS Dutasterid
1–3
3–5 Wochen
1×0,5 mg
Finasterid
2
6–8
1×5 mg
m-Cholinozeptor-Antagonisten (Antimuskarinika) zur symptomatischen Therapie von Blasenspeichersymptomen Darifenacin
7
12
1×7,5–15 mg
Fesoterodin
5
7
1×4–8 mg
Oxybutynin IR
0,5–1
2–4
3–4×2,5–5 mg
Oxybutynin ER
5
16
2–3×5 mg
Propiverin
2,5
13
2–3×15 mg
Propiverin ER
10
20
1×30 mg
Solifenacin
3–8
45–68
1×5–10 mg
Tolterodin IR
1–3
2–10
2×1–2 mg
Tolterodin ER
4
6–10
1×4 mg
Trospiumchlorid IR
5
18
2×20 mg
Trospiumchlorid ER
5
36
1×60 mg
β3-Adrenozeptor-Agonist (β3-Agonist) zur symptomatischen Therapie von Blasenspeichersymptomen Mirabegron
3–4
50
1×25–50 mg
BPS: benignes Prostata-Syndrom; ER: extended release; GITS: gastro-intestinal therapeutic system; IR: immediate release; LUTS: lower urinary tract symptoms; MR: modified Release; OCAS: oral controlled absorption system; SR: sustained release; t½: Eliminationshalbwertszeit; tmax: Zeit bis zur maximalen Plasmakonzentration Tab. 51.3 Einfluss der Medikamentengruppen auf die 3 Hauptkomponenten des benignen Prostatasyndroms (LUTS, BOO, BPE) und auf die BPS-Krankheitsprogression (Datenquelle: ▶ [3232] ▶ [3251] ) . Medikamente haben eine guten Effekt auf LUTS (gemessen mit dem Internationalen Prostata-Symptomenscore, IPSS), aber nur einen geringen Effekt auf die BOO (gemessen mit dem Detrusordruck beim maximalen Harnfluss, Pdet.Qmax). Nur 5αReduktase Inhibitoren haben einen Einfluss auf BPE (gemessen mit dem transrektalen Ultraschall der Prostata). Wirkstoffgruppe
Wirkung auf BPS-Komponenten LUTS (IPSS)
BOO (Pdet.Qmax)
BPE (TRUS)
Risikoreduktion für KrankheitsProgression
Wirkstoffgruppe
Wirkung auf BPS-Komponenten LUTS (IPSS)
BOO (Pdet.Qmax)
BPE (TRUS)
Risikoreduktion für KrankheitsProgression
Monotherapien α-Blocker
–40% –16,3% (Speicher- und Entleerungssymptome)
-
++ (Symptome)
PhosphodiesteraseTyp–5-Inhibitoren
–30% –3,7% (Speicher- und Entleerungssymptome)
-
unbekannt
5α-ReduktaseInhibitoren
–30% –7,1% (Speicher- und Entleerungssymptome)
–18 bis – 28%
++ (vor allem Retention, Notwendigkeit für Prostataoperation)
Antimuskarinika
–35 bis –45% (Speichersymptome)
–11,7%
-
unbekannt
β3-Agonist
–31% (Speichersymptome)
–5,5 bis – 13,9%
-
unbekannt
Phytopharmaka – pflanzliche Extrakte
+ –1,6% (Speicher- und Entleerungssymptome)
-
unbekannt
Kombinationstherapien α-Blocker + 5α-ReduktaseInhibitor
–40 bis –50% nicht untersucht (Speicher- und Entleerungssymptome)
–18 bis – 28%
+++ (Symptome + Retention)
α-Blocker + Antimuskarinikum
–50 bis –60% –9,9% (Speicher- und Entleerungssymptome)
-
unbekannt
–18 bis – 28%
unbekannt
Phosphodiesterase- –32% nicht Typ–5-Inhibitor + 5α- (Speicher- und untersucht Reduktase-Inhibitor Entleerungssymptome)
Wirkstoffgruppe
Wirkung auf BPS-Komponenten LUTS (IPSS)
BOO (Pdet.Qmax)
BPE (TRUS)
Risikoreduktion für KrankheitsProgression
Wirkung auf die BPS-Komponenten oder Krankheitsprogression: – keine Wirkung + geringe Wirkung ++ moderate Wirkung +++ starke Wirkung Abkürzungen: BOO: Blasenauslassobstruktion; BPE: Prostatavergrößerung; IPSS: Internationaler ProstataSymptomscore; LUTS: Symptome des unteren Harntraktes
51.4.2.1 Monotherapien α-Blocker Wirkmechanismus An der neuromuskulären Endplatte wird Noradrenalin freigesetzt, welches an der postsynaptischen Membran an α1-Adrenozeptoren bindet. Ein Großteil dieser Adrenozeptoren der menschlichen Prostata ist vom α1A-Typ. α-Blocker führen via kompetitiver Inhibition zur Relaxation der glatten Muskulatur in der Prostata, der Prostatakapsel und im Blasenhals, was den Blasenauslasswiderstand reduziert. Neben der Hemmung der α1-Adrenozeptoren in der Prostata wird für die Wirkung auf LUTS auch noch die Inhibition von α1D-Adrenozeptoren im Detrusor und im Rückenmark vermutet.
Medikamente In Deutschland sind zur Therapie von LUTS zugelassen: Alfuzosin, Doxazosin, Silodosin,
Tamsulosin und Terazosin. Die α-Blocker unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Selektivität für α1-Adrenozeptor-Subtypen und ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften. Bei adäquater Dosierung sind alle in Deutschland zugelassenen α-Blocker ähnlich wirksam. α-Blocker werden größtenteils hepatisch metabolisiert und biliär ausgeschieden. Die PSAKonzentration im Serum und das Prostatavolumen bleiben bei der Einnahme von α-Blockern unverändert.
Effektivität Die maximale Wirkung tritt innerhalb weniger Tage oder Wochen ein, was sich in einer Reduktion der LUTS (gemessen im IPSS) um durchschnittlich 35–40% gegenüber Plazebo und um ca. 50% gegenüber Baseline in offenen Studien äußert ▶ [3251]. Aufgrund des schnellen Wirkeintritts können α-Blocker bei fluktuierenden LUTS auch intermittierend eingenommen werden. Blasenspeicherund Blasenentleerungssymptome werden gleichermaßen reduziert.
Merke Die maximale Harnstrahlstärke (Qmax) beim freien Uroflow verbessert sich innerhalb von Stunden nach Einnahme von αBlockern um durchschnittlich 2–3 ml/s (20–25%) ▶ [3251], ▶ [3260], ▶ [3254]. Der Einfluss der α-Blocker auf die BOO ist gering (–16,3%) ▶ [3232]. Die Restharnmenge wird im Mittel nur gering vermindert. Die Prostatagröße bleibt während der α-BlockerTherapie unverändert, und die Prostatagröße zu Therapiebeginn hat auch keinen Einfluss auf die Effektivität
der α-Blocker. Die Symptomreduktion bleibt bei fortgesetzter Behandlung über mehrere Jahre bestehen, weshalb sich αBlocker zur symptomatischen Progressionshemmung eignen. Allerdings haben α-Blocker auf andere Progressionsparameter (z.B. Harnverhalt) langfristig keine Effekte, insbesondere bei initial stark vergrößerter Prostata (≥40 ml).
Nebenwirkungen Nebenwirkungen sind wie Wirkungen dosisabhängig und nach dem Absetzen des Medikamentes – bis auf das intraoperative Floppy Iris Syndrome (IFIS; s.u.) – reversibel. Zu den typischen Nebenwirkungen der α-Blocker zählen Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schwindel, Kopfschmerz, Diarrhöe, Schwellung der Nasenschleimhaut, grippale Symptome und abnormale Ejakulationen. Die orthostatische Hypotonie wird vor allem zu Therapiebeginn beobachtet und tritt mit unterschiedlicher Frequenz in Abhängigkeit von der verwendeten Substanz auf (Doxazosin ≈ Terazosin > Alfuzosin >Tamsulosin >Silodosin) ▶ [3251]. Silodosin führt wegen der selektiven Inhibition nur der α1A-Adrenozeptoren zu keinem Blutdruckabfall. Immediate-Release-Formulierungen von Doxazosin und Terazosin sollten wegen der Blutdrucksenkung zu Therapiebeginn einschleichend (innerhalb von 1–2 Wochen) bis zur empfohlenen Dosierung verwendet und vor Operationen wegen der Blutdrucksenkung während der Narkose nicht mehr eingenommen werden. Alle α-Blocker sind bei Patienten mit anamnestisch bekanntem
Orthostasesyndrom, gleichzeitiger Behandlung mit anderen α-Blockern oder pektanginösen Beschwerden kontraindiziert. Müdigkeit, Schwindelgefühl und orthostatische Hypotonie lassen sich durch Einnahme des α-Blockers nach dem Abendessen reduzieren. Eine (relative) Anejakulation (reduziertes Ejakulatvolumen oder fehlende Ejakulation) werden durch Inhibition von α1AAdrenozeptoren in den Samenleitern und Samenblasen verursacht. Entgegen der allgemeinen Meinung handelt es sich nicht um eine retrograde Ejakulation, da nach dem (trockenen) Samenerguss keine Samenzellen in der Harnblase gefunden werden. Die relative Anejakulation ist ein Klasseneffekt aller α-Blocker, wird häufiger bei jüngeren Patienten beobachtet, tritt insbesondere bei der Therapie mit Silodosin und Tamsulosin auf und wird als Indikator einer suffizienten α-Adrenozeptor-Inhibition angesehen, da Patienten mit dieser Nebenwirkung über eine stärkere LUTS-Reduktion berichten als Patienten ohne (relative) Anejakulation. Das sog. intraoperative Floppy Iris Syndrome (IFIS) scheint nach aktueller Einschätzung und im Gegensatz zu allen anderen Nebenwirkungen von α-Blockern irreversibel zu sein. IFIS kann selbst noch viele Jahre nach der Einnahme eines α-Blockers auftreten. IFIS wird während Kataraktoperationen beobachtet und ist durch die folgende Symptom-Trias charakterisiert: schlaffe, flatternde Iris, die sich wellenartig mit der normalen Flüssigkeitsbewegung während der Operation bewegt, Prolaps von Irisgewebe nach chirurgischer Inzision der Hornhaut, progressive intraoperative Miosis trotz iatrogener Pupillendilatation ▶ [3216].
IFIS wurde (in unterschiedlicher Häufigkeit) für alle αBlocker zur BPS-Therapie, aber auch für viele andere Medikamente mit α-Adrenozeptor-Antagonismus beschrieben. So trat IFIS bei Männern und Frauen auf bei der Therapie mit den Antihypertonika Prazosin, Indoramin oder Labetalol, beim Gebrauch der Antipsychotika Zuclopenthixol oder Risperidon, bei der Einnahme des Antidepressivums Mianserin, bei Benzodiazepinen und sogar bei Verwendung des Sägepalmenextraktes Serenoa repens zur Therapie des BPS ▶ [3252]. Viele Patienten entwickeln aber nur ein inkomplettes IFIS, und häufig werden diese Komplikationen während Kataraktoperationen nur an einem Auge und auch nur mit einer oder zwei Komponenten der Trias beobachtet.
Praxis Als Konsequenz sollte bei absehbarer Kataraktoperation die Initiierung der α-Blocker-Therapie durch den Urologen auf die Zeit nach der Operation verschoben werden und nur erfahrene Operateure die Kataraktoperation dieser Patienten ausführen.
Phosphodiesterase-5-Hemmer (PDE5-I) Wirkmechanismus Der Neurotransmitter Stickstoffmonoxid (NO) stimuliert die Synthese von cyclischen Guanosin-Monophosphaten (cGMP), die Proteinkinasen, Ionenkanäle und cGMP-gebundene Phosphodiesterasen (PDE) aktivieren und daraufhin glatte Muskelzellen relaxieren, z.B. im Bereich des unteren Harntraktes. Durch die Inhibierung der PDEs durch PDE5-I wird die intrazelluläre cGMP Konzentration erhöht und dessen Aktivität verlängert. Es existieren auch Hinweise, dass die Verminderung der Rho-Kinase Aktivität mit
Entzündungshemmung, Hemmung der autonomen Überaktivität und eine Durchblutungssteigerung der Beckenorgane für die Wirkung von PDE5-I verantwortlich sind.
Medikamente Nur Tadalafil ist zur Behandlung von LUTS bei Männern (mit oder ohne erektile Dysfunktion) zugelassen. Da Tadalafil eine Serum Halbwertszeit von 17,5 Stunden hat, eignet sich dieser PDE5-I für die einmal tägliche Einnahme. So wird im Steady-State (nach 5 Halbwertszeiten) mit Tadalafil in einer täglichen Dosierung von 1×5 mg eine effektive Serumkonzentration und kontinuierliche Inhibition von Phosphodiesterase vom Typ 5 über 24 Stunden erzielt. Auch wenn in randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien Sildenafil und Vardenafil ebenfalls LUTS signifikant reduzierten, sind diese PDE5-Is nur zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, nicht aber zur Behandlung von LUTS zugelassen.
Effektivität Tadalafil kann LUTS (IPSS) signifikant reduzieren und die Lebensqualität des Mannes signifikant verbessern. Tadalafil reduziert Blasenspeicher- und Blasenentleerungssymptome gleichermaßen. Tadalafil reduziert den initialen IPSS um 22– 37%, war in einer direkten Vergleichsstudie mit dem αBlocker Tamsulosin gleich wirksam und zeigt eine signifikante Symptomverbesserung bereits innerhalb einer Woche nach Behandlungsbeginn ▶ [3253]. Etwa 70% der mit Tadalafil behandelten Männer berichten über eine spürbare Verbesserung von LUTS (Reduktion von ≥3 IPSS-Punkten) nach 12-wöchiger Behandlung, von denen ca. 60% bereits nach 1 Woche und ca. 80% der Behandelten schon nach 4 Wochen diese Symptomverbesserung wahrnehmen. Die Reduktion von LUTS ist unabhängig vom Vorhandensein oder von der Abwesenheit einer erektilen Dysfunktion vor
der Tadalafil-Behandlung. Qmax erhöht sich dosisabhängig ▶ [3269]. PDE5-I haben keine Effekte auf die Prostatagröße, Restharnmenge ▶ [3253] oder den Obstruktionsgrad ▶ [3232]. Der Effekt von Tadalafil auf die Krankheitsprogression ist nicht zu beurteilen, da Studien nur mit einem Follow-up von max. 12 Monaten durchgeführt wurden. Eine Metaanalyse legte nahe, dass insbesondere jüngere Männer mit niedrigem Body-Mass Index und starker Symptomatik von der Behandlung mit PDE5-I profitieren ▶ [3226].
Nebenwirkungen Unter der Therapie mit PDE5-Inhibitoren (Tadalafil) kam es im Vergleich zu Placebo signifikant häufiger zu Kopfschmerzen (1,7–13%), Dyspepsie (0,9–7,4%) und Hitzewallungen (1,2–6,5%). Obwohl Rhinitis (2,2–4,0%), gastro-ösophagealer Reflux (2,4–5,9%) und Kreuzschmerzen (1,8–5,2%) häufiger in den Zulassungsstudien beobachtet wurden, waren jedoch diese Nebenwirkungen in der Metaanalyse nicht signifikant.
5α-Reduktase-Inhibitor (5ARI) Wirkmechanismus BPH und BPE entstehen nur bei Anwesenheit von Testosteron, aus welchem durch 5α-Reduktion Dihydrotestosteron (DHT) entsteht, das infolge höherer Affinität zum Androgenrezeptor eine 4- bis 5-fach stärkere androgene Potenz besitzt als Testosteron. DHT steuert im Zellkern die Synthese von Proteinen. Männer haben zwei Isoformen des Enzyms 5α-Reduktase. Nach Androgenentzug kommt es zur Apoptose von Prostatazellen. Die Verringerung des Prostatavolumens entspricht etwa dem Maximalwert jeder herkömmlichen Hormonablation (Kastration). Mit der Reduktion des Prostatavolumens kommt es innerhalb von 6–
12 Monaten zur Halbierung der PSA-Konzentration im Serum.
Merke Der prädiktive Wert für die Erkennung eines Prostatakarzinoms bleibt erhalten, wenn die PSAKonzentration mit 2 multipliziert wird.
Medikamente In Deutschland sind zur Behandlung des BPS zugelassen: Finasterid und Dutasterid. Finasterid inhibiert selektiv und irreversibel nur die 5αReduktase Typ 2, während Dutasterid beide Isoenzyme der 5α-Reduktase hemmt. Beide Substanzen werden hepatisch metabolisiert und überwiegend über den Darmtrakt ausgeschieden.
Effektivität Erst nach etwa 3–12 Monaten kontinuierlicher Einnahme reduziert Finasterid oder Dutasterid LUTS um ca. 30% und das Prostatavolumen um ca. 25%. Besonders Patienten mit BPE (>30–40 ml) profitieren von 5ARI. Je größer die Prostata zu Therapiebeginn ist, desto schneller kommt es auch zur mess- und spürbaren LUTS-Reduktion. Zwischen beiden 5ARI bestehen klinisch keine relevanten Unterschiede. In direkten Vergleichsstudien mit α-Blockern sind LUTS-Reduktion und Qmax-Verstärkung (1,5–2,0 ml/s, ca. 14%) innerhalb des ersten Behandlungsjahres mit Finasterid oder Dutasterid geringer. Allerdings kommt es mit 5ARI (Dutasterid) bei langjähriger Behandlung von Männern mit einer BPE (>30–40 ml) zur stärkeren LUTS-Reduktion als mit dem α-Blocker (Tamsulosin) ▶ [3273].
Der Einfluss von 5ARIs auf die BOO/BPO ist nur gering (– 7,1%) ▶ [3232]. 5ARI verhindern die Krankheitsprogression hinsichtlich des Auftretens von Harnverhalten und Notwendigkeit von Prostataoperationen ( ▶ Abb. 51.19) ▶ [3243]. Patienten müssen aber die einmal begonnene Therapie lebenslang fortführen, um die präventiven Effekte zu behalten. 5ARI können auch die Rezidivwahrscheinlichkeit einer mit BPH-assoziierten Makrohämaturie und Blutungen während Prostataoperationen (nach ca. 4-wöchiger Einnahme) reduzieren. 5,5-jähriger Behandlungsverlauf unter Plazebo, α-Blocker-Monotherapie (Doxazosin), 5α-Reduktase-Inhibitor Monotherapie (Finasterid) und Kombinationstherapie (Doxazosin + Finasterid). Abb. 51.19 Kumulative Gesamtinzidenz von Harnverhalten oder Notwendigkeit für eine Prostataoperation im 5,5-jährigen Behandlungsverlauf unter Plazebo, α-BlockerMonotherapie (Doxazosin), 5α-Reduktase-Inhibitor Monotherapie (Finasterid) und Kombinationstherapie (Doxazosin + Finasterid). Nur bei der Behandlung mit 5α-ReduktaseInhibitoren als Mono- oder Kombinationstherapie ist die Inzidenz von Harnverhalten (relative Risikoreduktion 64% mit Finasterid-Monotherapie und 81% mit Kombinationstherapie) oder die Notwendigkeit einer Prostataoperation (relative Risikoreduktion 648% mit Finasterid-Monotherapie und 67% mit Kombinationstherapie) im Vergleich zu Plazebo signifikant reduziert.
Abb. 51.19a Kumulative Gesamtinzidenz von Harnverhalten. (Datenquelle: McConnell JD, Roehrborn CG, Bautista O et al. Dixon CM, et al. The long-term effect of doxazosin, finasteride, and combination therapy on the clinical progression of benign prostatic hyperplasia. N Engl J Med 2003; 349: 2387–2398)
Abb. 51.19b Notwendigkeit für eine Prostataoperation. (Datenquelle: McConnell JD, Roehrborn CG, Bautista O et al. Dixon CM, et al. The long-term effect of doxazosin, finasteride, and combination therapy on the clinical progression of benign prostatic hyperplasia. N Engl J Med 2003; 349: 2387–2398)
Nebenwirkungen Nebenwirkungen treten insgesamt selten auf und bestehen vor allem aus einer Abnahme des Ejakulatvolumens, Libidoverlust, erektiler Dysfunktion und Gynäkomastie. Bei Untersuchungen länger als 1 Jahr war gegenüber Plazebo lediglich noch eine verminderte Ejakulatmenge signifikant häufiger nachweisbar, was aber für das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Behandelten unbedeutend ist.
Antimuskarinika Wirkmechanismus
Mittels Acetylcholin werden über postsynaptische M2- und M3-Rezeptoren Nervenimpulse auf den Detrusor übertragen. Auch afferente Nervenendigungen in der Blasenschleimhaut leiten Nervenimpulse mittels Acetylcholin weiter. Die pharmakologische Hemmung von Muskarinrezeptoren mittels Antimuskarinika führt zur Abnahme der Detrusorkontraktilität und Hemmung unwillkürlicher Detrusorkontraktionen. Urodynamisch werden mit Antimuskarinika die maximale Blasenkapazität und Blasencompliance erhöht sowie unwillkürliche Detrusorkontraktionen unterdrückt.
Medikamente In Deutschland sind zur Behandlung der Symptome der überaktiven Blase (Blasenspeichersymptome bei BPS) zugelassen: Darifenacin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin und Trospiumchlorid. Antimuskarinika sind bei Männern und Frauen gleich effektiv.
Effektivität Antimuskarinika werden nur zur Behandlung von Blasenspeichersymptomen verwendet. Die Wirksamkeit aller in Deutschland erhältlichen Antimuskarinika ist ähnlich. Die maximale Wirksamkeit tritt innerhalb weniger Behandlungswochen ein. Spezifische Studien bei Patienten mit BPS liegen bisher für die Monotherapie nur für einzelne
Antimuskarinika (z.B. Propiverin, Solifenacin und Tolterodin) mit einem maximalen Beobachtungszeitraum von 6 Monaten vor. Antimuskarinika reduzieren bei Männern mit BPS die Miktionsfrequenz (ca. 20%), Nykturie (ca. 30%), Dranginkontinenz (80–100%) und den IPSS (ca. 40%). Patienten mit kleiner Prostata (105 Bakterien pro ml; ▶ [3545]) findet, während die Inzidenz bei den an die Urethra anastomosierten Neoblasen deutlich geringer ist ▶ [3673]. Langzeiterfahrungen mit solchen Reservoiren ohne Refluxschutz sind nicht beschrieben.
Merke Für die orthotopen Neoblasen ist der Refluxschutz entbehrlich, Reservoire mit kontinentem Stoma sollten mit Refluxschutz angelegt werden. In der Praxis stellt sich, bei persistierender Obstruktion des oberen Harntraktes nach Harnableitung, oftmals die Frage nach der Notwendigkeit einer operativen Revision. Indikationen hierfür sind rezidivierende oder persistierende Symptomatik (Infektion, Schmerzen), Anstieg der Retentionswerte und Verschlechterung der Nierenfunktion (MAG3-Clearance). Unabhängig von der Art der Harnableitung und der Art der Uroenteroanastomose sollte vor einer offen-chirurgischen Reintervention auch an die Möglichkeit der endourologischen Behandlung gedacht werden.
59.2.1.2 Druckverhältnisse in Conduits und Darmreservoiren Druckveränderungen in Conduits haben Auswirkungen auf die Protektion des oberen Harntraktes, Druckveränderungen in kontinenten Reservoiren wirken sich darüber hinaus auf die Kontinenz aus.
Merke Das physiologische Ziel von Conduits ist die Ableitung des Urins bei einem niedrigen hydrostatischen Druck („Nulldruck“) aus dem oberen Harntrakt. Dieses Ideal ist oftmals nur unzureichend verwirklicht: Auch wenn keine messbare Stenose des Stomas vorliegt, fand Neal (1989) ▶ [3646] bei 22 von 32 Patienten mit Ileumconduit und pathologischen Veränderungen des oberen Harntraktes eine relative Abflussbehinderung (Kinking oder Torsion des Conduits), während eine solche bei lediglich 8 von 36 Patienten mit
Ileumconduit ohne pathologische Veränderung des oberen Harntraktes nachzuweisen war. Druckmessungen im Conduit zeigen bei Patienten mit relativer Obstruktion signifikant höhere und häufigere Druckwellen als beim freien Abfluss. Die Funktion von Conduits im Sinne der ursprünglichen Zielsetzung hängt also wesentlich von einer korrekten operativen Konstruktion ab, die einen geraden, knickfreien Verlauf von der Uroenteroanastomose zum Hautniveau gewährleisten muss. Zudem sind für einen effektiven Urintransport eine isoperistaltische Anlage (d.h. Anastomosieren der Harnleiter mit dem oralen Ende des Conduits) sowie ein ausreichend weiter Durchtritt durch das Peritoneum und die Muskelfaszie wesentlich.
Merke Ileumconduits sollten so kurz wie möglich und isoperistaltisch angelegt werden. Die negativen Auswirkungen auf den oberen Harntrakt von dauernd oder intermittierend hohen Drücken in der Blase sind aus dem Krankheitsbild der neurogenen Blasenentleerungsstörungen gut bekannt. Die Eigenschaft der normalen Harnblase, während der Füllungsphase über eine relativ lange Zeit einen konstant niedrigen intravesikalen Druck aufrecht zu erhalten, ist für die Protektion des oberen Harntraktes von entscheidender Bedeutung. Die Fähigkeit des Harnleiters, aktiv Urin in die Blase zu transportieren, wird ab einem Druck von 40 cm H2O kompromittiert ▶ [3636]. Für die Auswirkungen auf den oberen Harntrakt spielt jedoch nicht nur die absolute Druckhöhe, sondern auch die Dauer der Druckerhöhung eine Rolle. Ziel jeder kontinenten Harnableitung muss es also sein, während der Füllungsphase einen niedrigen Druck aufrecht zu erhalten (hohe Compliance) und autonome Kontraktionen der Reservoirwand, die zu einer intermittierenden Druckerhöhung führen, zu vermeiden (Kap. ▶ 59.2.5).
59.2.2 Stoffwechselstörungen Seine ubiquitäre Verfügbarkeit und die viskoelastischen Eigenschaften prädestinieren den Darm für die verschiedenen Formen der Harnableitung und des Blasenersatzes. Abgesehen von seinem unterschiedlichen Kontraktilitätsverhalten bei Volumenbelastung ist der zweite wesentliche Unterschied zur Harnblase seine Eigenschaft, Wasser und Substanzen zu resorbieren bzw. zu sezernieren. Das Verständnis der dabei entstehenden pathophysiologischen Vorgänge ist insbesondere für die Nachsorge der Patienten mit Harnableitung wichtig. Das pathophysiologische Korrelat der beschriebenen Resorptionsvorgänge ist die hyperchlorämische Azidose. Diese Stoffwechselstörung wurde vor allem in Verbindung mit der Ureterosigmoideostomie bekannt; bis zu 80% der
Patienten sind davon betroffen ▶ [3579]. Speziell bei der Harnleiterdickdarmimplantation kann diese Stoffwechselstörung schwere Ausmaße annehmen, die in Einzelfällen eine stationäre Behandlung mit intravenöser Alkalisierung erforderlich machen.
Merke Bei vielen Patienten sind eine dauerhafte Alkalisierung des Urins beispielsweise mit Zitronensäuregemisch (Uralyt U) sowie eine lebenslange (!) Kontrolle der Blutgase und Elektrolyte erforderlich. Wesentlicher pathogenetischer Faktor für die hyperchlorämische Azidose ist die Resorption von Chloridionen ▶ [3675], ▶ [3615], ▶ [3595], ▶ [3634]. Obwohl die genauen Resorptionsmechanismen nicht vollständig geklärt sind, geht man von den folgenden pathophysiologischen Vorgängen aus: Chloridionen können im Darm aktiv, also auch gegen einen Konzentrationsgradienten absorbiert werden ▶ [3575], ▶ [3604]; die Absorption erfolgt dabei im Überschuss zum Natrium ▶ [3589]. Um die Elektroneutralität aufrecht zu erhalten, werden je nach Verfügbarkeit andere Kationen (K+, NH4+, H+) absorbiert, oder es werden Chlorid- gegen Bikarbonationen ausgetauscht ▶ [3629]. Die Rolle des Chloridions als treibende Kraft für die Entstehung der hyperchlorämischen Azidose wird durch die klinische Beobachtung bestätigt, dass bei der kongenitalen Chloriddiarrhöe (Unfähigkeit des Darmes, Chloridionen gegen einen Konzentrationsgradienten zu resorbieren) eine schwere metabolische Alkalose auftritt ▶ [3555]. Das Ausmaß der Azidose wird durch verschiedene Faktoren bestimmt (s. Übersicht).
Übersicht Das Ausmaß der Azidose bestimmende Faktoren Größe der mit Urin benetzten Darmfläche Begrenzt man z.B. bei der Harnleiterdickdarmimplantation die urinbenetzte Kolonfläche durch eine isoperistaltische Invagination des Sigmas, so lässt sich damit tierexperimentell das Ausmaß der hyperchlorämischen Azidose signifikant reduzieren ▶ [3639]. Kontaktzeit des Urins mit der Darmmukosa Experimentelle Untersuchungen zeigen zwar, dass es auch in Conduits zu signifikanter Resorption von Urinbestandteilen kommt ▶ [3615]; die geringe Oberfläche sowie die kurze Kontaktzeit machen diese Resorptionsvorgänge jedoch klinisch bedeutungslos, sodass sich bei Patienten mit Conduits nur selten eine manifeste Azidose findet ( ▶ Tab. 59.1 ).
Zusammensetzung des Urins Mehrere Untersuchungen ▶ [3557], ▶ [3565] haben gezeigt, dass z.B. die Anwesenheit polyvalenter Anionen (Phosphat, Nitrat) die Absorption von Chlorid verstärkt. Für das Ausmaß der Azidose ist darüber hinaus wahrscheinlich das Angebot an Anionen maßgeblich: Bei der Resorption von Ammoniak und Wasserstoffionen (Fäzes enthält einen extrem hohen Anteil an Ammoniak) ist mit einer stärkeren Azidose zu rechnen als bei einer überwiegenden Resorption von beispielsweise Kaliumionen. Das erklärt, weshalb die hyperchlorämische Azidose bei Ureterosigmoideostomie (Vermischung von Fäzes und Urin!) stärker und auch häufiger auftritt als z.B. bei Ersatzblasen. Nierenfunktion Die Ausscheidung saurer Valenzen ist eng an die tubuläre Funktion der Niere gebunden. Tab. 59.1 Ergebnisse beim Ileumconduit (Literaturübersicht). Alle Zahlenangaben in Prozent, soweit nicht anders angegeben. Verschlechterung oberer Harntrakt nach Maßgabe des Urogramms. Zahl in der Mitte: präoperativer Status nicht spezifiziert. Autor (Jahr)
n
Follow- Mortalität Stenose up (Jahre)
Verschlechterung des oberen Harntraktes
Rezidiv. Azidose Steine Pyelonephritis
früh
spät Stoma Ureter normal (präop.) abnormal
Cordonnier 215 – (1960) E
–
–
7,8
6,3
13
–
8,5
–
–
Burnham (1962)
96 E
–
–
5,2
12,5
19,5
–
7,3
–
6,3
Butcher (1962)
307 >0,25 E
–
–
7,0
2,3
19,3
–
14,0
–
3,6
Murphy (1967)
54 –
4–14
–
–
20,3
–
22
–
–
1,8
11,1
Ray (1972) 66 K
3,5
–
–
54,5
12,1
32
37
–
7,5
7,5
Delgado (1973)
80 K
4
1,2
0
23,7
3,7
30
1,3
15,0
–
1,2
Schmidt (1973)
178 4,6 K/E
3,4
2,3 17,9
7,8
28
12
21,9
9,5
10,6
Ritchie (1974 a)
36 K
2,8
6,3 25,0
3,1
10
14
9,4
–
3,1
Rabinowitz 125 5 (1975) K
0
1,6 21,6
4,9
21,6
–
13,6
–
2,4
Shapiro (1975)
70 K
11,2
5,7
11,4 38,0
22,3
31
16,6
–
16,7
6,7
Schwarz (1975)
96 K
11,3
3,1
4,1 33,0
5,2
56
30,3
–
–
12,5
Stanley (1975)
87 E
–
–
–
33,0
20,6
–
–
–
4,1
>0,5
4,1
–
Autor (Jahr)
n
Follow- Mortalität Stenose up (Jahre)
Verschlechterung des oberen Harntraktes
Rezidiv. Azidose Steine Pyelonephritis
Middleton (1976)
90 K
5
Stevens (1977)
1
1
42,0
10,0
68
17,3
20,0
–
9,0
113 5 K
0,9
1,7 24,8
2,6
9
17
17,6
2,6
3,5
Roberts (1977)
186 2–16 K
–
–
34,9
16,1
–
–
10,7
Smith (1978)
120 2–15 K/E
0,6
5,7 4,1
2,4
–
3,3
0
Dunn (1979)
67 K
10,2
–
–
4,4
18,3
20,0
–
17,9
Philp (1980)
49 E
6
0
1,4 4,0
–
16
–
–
4,0
Orr (1981) 43 K
15
0
4,6 14,0
6,9
–
–
14,0
Graham (1982)
15
–
–
7,6
7,6
–
3,8
26 K
57,3
0
29,5 10
25
56
69 7,6
–: keine Angaben in der genannten Literaturstelle. E: Erwachsene K: Kinder
Für die klinische Praxis liegen zu der Frage, welche Einschränkungen der Nierenfunktion eine Kontraindikation für die Harnleiterdickdarmimplantation, den kontinenten Blasenersatz bzw. die Blasenaugmentation darstellen, auch weiterhin keine systematischen Untersuchungen vor. Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion werden in den berichteten Langzeitserien mit Neoblasen oder kontinenter supravesikaler Harnableitung nicht gesondert betrachtet. Einzelfälle mit niedriger Kreatinin-Clearance (23 ml/min), Ileumneoblase und stabiler postoperativer Nierenfunktion sind beschrieben ▶ [3650]. Da die Harnableitung per se die Nierenfunktion auch langfristig nicht verschlechtert ▶ [3613], ist eine eingeschränkte Nierenfunktion keine absolute Kontraindikation für eine kontinente Harnableitung. Die verringerte Fähigkeit der Nieren, H+-Ionen zu eliminieren, lässt sich in weitem Rahmen medikamentös kompensieren. Eine vermehrte Magensaftproduktion kann nach Anlage einer Ileumneoblase auftreten. Sie stellt einen Mechanismus dar die metabolische Azidose zu kompensieren. Eine Einschränkung der Magensaftproduktion durch Protonenpumpen Hemmer kann hierbei hinderlich sein und die Azidose verstärken. Nach ilealem Blasenersatz ist in der Mehrzahl der Patienten eine Natriumbikarbonat Substitution nicht länger als 3 Monate nötig ▶ [3687]. Alternativ kann Kalium- oder Natriumzitrat verabreicht werden, vor allem bei Kolonreservoirs.
Die Ureterosigmoideostomie sollte nur bei normaler Nierenfunktion durchgeführt werden, da hier die Säurebelastung des Organismus am höchsten ist (s.o.).
Merke Eine kompensierte Niereninsuffizienz ist keine Kontraindikation für ein kontinentes Darmreservoir. Neben den beschriebenen Resorptionsvorgängen in intestinalen Harnreservoiren kommt es im Rahmen des Osmolaritätsausgleichs auch zu Sekretionsvorgängen in das Reservoir. Der Darm kann gegen das Serum (Osmolarität 280 mOsm/l) keinen höheren Gradienten als 350 mOsm/l aufrechterhalten. Überschreitet die Flüssigkeit im Darmlumen diese Konzentration (z.B. bei konzentriertem Urin mit 1000 mOsm/l und mehr), sezerniert die Darmmukosa freies Wasser, um einen Konzentrationsausgleich herbeizuführen.
Praxis Klinischer Ausdruck für diesen pathophysiologischen Vorgang ist die vermehrte Flüssigkeitsausscheidung von Patienten mit kontinenten Harnreservoiren, die zwischen 2,4 und 3 Liter pro Tag liegt ▶ [3545], ▶ [3635]. Neben Überlegungen zur erforderlichen Kapazität für das Reservoir ist die praktische Konsequenz, bei diesen Patienten auf eine adäquate Flüssigkeitszufuhr zu achten.
Merke Bei Patienten mit Darmreservoiren ist ausreichende orale Flüssigkeitszufuhr besonders wichtig!
59.2.3 Malabsorptionssyndrome Bei der Resektion von Ileum wird als kritische Länge 100 cm angegeben: Die Inzidenz von malabsorptionsbedingten Erkrankungen wie einer vermehrten Gallen- oder Nierensteindiathese steigt bei Überschreiten dieser Länge signifikant an ▶ [3682]. Die Ausschaltung von Ileumabschnitten zwischen 50 und 70 cm Länge oder von 30 cm Ileum einschließlich der Bauhin-Klappe und 15 cm Zökum können – zumindest theoretisch – zu relevanten Veränderungen der intestinalen Absorptionsverhältnisse führen. Die im Folgendenden beschriebenen Störungen sind denkbar ▶ [3682].
59.2.3.1 Störungen der Gallensäurerückresorption Gallensäuren werden nur im terminalen Ileum rückresorbiert und dadurch dem enterohepatischen Kreislauf zugeführt. Sie sind besonders für die Fettresorption wesentlich. Kommt es zu einer Resorptionsstörung, tritt zunächst eine chologene Diarrhö auf, sekundär kann es durch die Fettresorptionsstörung zusätzlich zur Steatorrhö kommen. Damit verbunden kann tertiär eine erhöhte Gallensteindiathese durch Übersättigung der Galle mit lithogenen Substanzen zustande kommen. Auch eine vermehrte renale Oxalatsteinbildung ist pathogenetisch auf den durch den Gallensäuremangel bedingten Übertritt von Fettsäuren in das Kolon zurückzuführen: Durch die Fettsäuren werden dort Kalziumionen gebunden, was zu freiem Oxalat führt, das im Überschuss rückresorbiert wird. Die dadurch entstehende Hyperoxalurie kann zur Steinbildung führen. Schließlich sind die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K zu nennen, deren Resorption auch von den Gallensäuren abhängt.
Praxis Da die Fähigkeit des Ileums, Gallensäuren zu resorbieren, nach distal hin zunimmt ▶ [3682], ist es sinnvoll, bei Ausschalten eines Stückes für die Harnableitung die letzten 20–30 cm präzökal zu lassen. Von einigen Untersuchern ▶ [3569] wird auch der Wegfall der Bauhin-Klappe, wie sie bei den ileozökalen Reservoiren erforderlich ist, als begünstigend für einen vermehrten Übertritt von Gallensäuren aus dem Ileum in das Kolon gesehen.
59.2.3.2 Vitamin-B12-Resorption Vitamin B12 wird ausschließlich im terminalen Ileum resorbiert. Die körpereigenen Speicher reichen jedoch bei einer kompletten Unterbrechung der Zufuhr für 3–5 Jahre, sodass erst nach dieser Zeit mit Mangelsyndromen zu rechnen ist ▶ [3654].
59.2.3.3 Kalziumresorption Die quantitative Resorption von Kalzium ist eng mit der zur Verfügung stehenden Resorptionsfläche im Ileum verknüpft ▶ [3571]. Nachdem zusätzliche Störungen der Vitamin-D-Resorption (s.o.) denkbar sind, kann es im Zusammenhang mit einem intestinalen Wassermalabsorptionssyndrom zur sog. intestinalen Osteopathie, d.h. zur Demineralisation des Knochens bei Vitamin-D- und Kalziummangel kommen. Gezielte Nachuntersuchungen von Patienten mit kontinenter Harnableitung haben gezeigt, dass die praktischen Konsequenzen vor allem in den ersten Jahren nach einer Operation gering sind ▶ [3633]. Etwa 30% der Patienten entwickelen einen Vitamin-B12-Mangel ▶ [3689], ▶ [3654], sodass 3–5 Jahre
postoperativ eine Kontrolle der Vitamin-B12-Spiegel empfohlen wird. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bei kontinenter Harnableitung etwa 35% der Patienten vorübergehend zur Prävention einer Azidose Na+/K+-Citrate einnehmen müssen ▶ [3654], ▶ [3687].
Merke Vitamin-B 12-Spiegel sollten bei Patienten mit Darmreservoiren nach 2 Jahren kontrolliert werden darüber hinaus sind regelmäßige Blutgasanalysen und Elektrolytkontrollen durchzuführen.
59.2.4 Karzinomrisiko Das gehäufte Auftreten von Adenokarzinomen des Kolons nach Ureterosigmoideostomie hat in den 70er- und 80-er Jahren die Aufmerksamkeit auf das Problem „Harnableitungskarzinom“ gelenkt. Beschrieben sind mehr als 150 Fälle von Karzinomentstehung nach Ureterosigmoideostopie, je 5 Fälle von Karzinombildung nach Kolon- bzw. Ileumconduit sowie 14 Fälle nach Blasenaugmentation ▶ [3597], ▶ [3592]. Zwischenzeitlich liegen weitere Fallberichte über Tumoren in Conduits und Neoblasen vor, so beispielsweise zu Desmoidtumren in Ileumneoblasen ▶ [3614], aber auch Urothelkarzinomrezidiven in Ileumneoblasen ▶ [3697]. Trotz zahlreicher klinischer Mitteilungen und experimenteller Untersuchungen konnte bisher jedoch kein Modell etabliert werden, das alle Aspekte und Formen des Harnableitungskarzinoms zufriedenstellend erklärt. Die Inzidenz von Karzinomen ist bei der Ureterosigmoideostomie mit Abstand am höchsten. Nach aktuellen Zahlen muss bei 25% der Patienten nach einer Latenzzeit von mehr als 20 Jahren mit einer Karzinomentstehung gerechnet werden ▶ [3597]. Damit ist das Risiko im Vergleich zur normalen Bevölkerung um das Mehrhundertfache erhöht ▶ [3630]. Über die Gesamtheit der in den 50er- und 60-er Jahren durchgeführten Blasenaugmentationen liegen keine genauen Daten vor; eine genaue Abschätzung des Risikos ist aus diesem Grund schwierig. Anders ist die Situation beim Ileumconduit. Diese Form der Harnableitung wurde besonders in den 1960-er Jahren oft bei Kindern mit neurogener Blasenentleerungsstörung eingesetzt. Es liegen mehrere Berichte über die Spätergebnisse bei größeren Serien aus den 70-er Jahren vor ▶ [3661], ▶ [3573], ▶ [3667], ▶ [3664], ▶ [3660], ▶ [3669], ▶ [3668], ▶ [3674]; s. ▶ Tab. 59.1 ). Die mittleren Nachbeobachtungszeiten lagen bei diesen Berichten bereits bei über 15 Jahren, sodass in der Zwischenzeit bei einem Großteil der Patienten die 20-jährige minimale Latenzzeit deutlich überschritten ist. Die erwartete sprunghafte Zunahme von Harnableitungskarzinomen nach Ileumconduit ist jedoch nicht aufgetreten. Das Risiko einer Karzinomentwicklung beim
Ileumconduit muss nach den derzeit bekannten Daten als gering eingeschätzt werden. Kontinente Reservoire werden seit Mitte der 1980er-Jahre angewandt. Beobachtungen von „Harnableitungskarzinomen“ aus größeren Serien ▶ [3546] müssen mit der regional spezifischen Grunderkrankung Schistosomiasis in Verbindung gebracht werden. Sonstige Berichte über das gehäufte Auftreten von Tumoren in kontinenten Reservoiren liegen bislang nicht vor.
59.2.4.1 Praktische Konsequenzen Für die Nachsorge von Patienten mit Harnableitung ergeben sich die folgenden praktischen Konzequenzen: Patienten mit Ureterosigmoideostomie müssen vor allem bei länger zurückliegenden Operationen in regelmäßigen Abständen (halbjährlich bis jährlich) koloskopiert werden. Die Indikation zu einer konventionellen Ureterosigmoideostomie sollte bei Kindern und jungen Patienten mit benigner Grunderkrankung nicht mehr gestellt werden bzw nur in Einzelfällen umgesetzt werden ▶ [3659], ▶ [3685]. Die Notwendigkeit der regelmäßigen Nachuntersuchung gilt auch für Patienten mit modifizierten Formen der Harnableitung in den Dickdarm (funktionelle Rektumblase), solange nicht geklärt ist, inwieweit die Platzierung der ureterointestinalen Anastomose außerhalb des Reservoirs die Karzinomentstehung reduziert oder verhindert. Eine regelmäßige endoskopische Untersuchung von Ileum- oder Kolonconduits ist nicht erforderlich. Wichtig ist es jedoch, in der Nachsorge von Patienten mit Conduits bei entsprechender Symptomatik (Obstruktion, Hämaturie etc.) an die Möglichkeit eines Conduit-Tumors zu denken und entsprechende Untersuchungen zu veranlassen. Bei Patienten mit kontinenten Reservoiren ergibt sich aus der momentanen Datenlage – analog wie für die Conduits – keine Indikation für eine routinemäßige endoskopische Kontrolle.
Merke Bei Patienten mit kontinenten Darmreservoiren und Conduits besteht kein wesentlich erhöhtes Karzinomrisiko im Bereich der Harnableitung.
59.2.5 Lebensqualität des Patienten Das Ileumconduit, die Standardharnableitung in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, hatte aus ärztlicher Sicht initial den Charakter einer „verstümmelnden“ Operation mit der Notwendigkeit eines externen Stomas. Im Hinblick auf die Lebensqualität erschien eine hierdurch verbundene Einschränkung der Lebensqualität unumgänglich. Die später
entwickelten kontinenten Formen der Harnableitung suggerierten, dass sie, im Gegensatz zur vorgenannten, mit höherer Lebensqualität verbunden seien. Diese auf den ersten Blick naheliegende Hypothese erwies sich jedoch als zu undifferenziert. Filipas et al. (1997) ▶ [3580] demonstrierten, dass die Lebensqualität der Patienten mehr durch die Grunderkrankung (gutartig/bösartig), die Arbeitssituation und die Lebensumstände als durch die Art der Harnableitung beeinflusst wird. Geharz et al. ▶ [3587] zeigten in einer Metaanalyse zur Lebensqualität nach Harnableitung, dass die vorliegenden Studienergebnisse nicht geeignet sind die o.g. Hypothese zu untermauern.
Merke Es zeigte sich vielmehr, das die Lebensqualität, unabhängig von der Form der Harnableitung, nur geringfügig beeinträchtigt wird. Zu ähnlichen Resultaten kamen Allareddy et al. ▶ [3547] und Philip et al. ▶ [3655] bei einem Vergleich der Lebensqualität von zystektomierten Patienten mit unterschiedlichen Formen der Harnableitung versus Patienten mit Urothelkarzinom und harnblasenerhaltender Therapie.
Praxis Für die praktische Patientenberatung ist es von allergrößter Bedeutung, eine realistische Vorstellung von der Lebenssituation mit Harnableitung zu vermitteln ▶ [3631]. Das „Probetragen“ von Stomabeuteln, der Umgang mit dem Einmalkatheter sowie der Kochsalzeinlauf für das rektale Reservoir können dabei helfen.
Merke Die Form der Harnableitung sollte den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen des Patienten optimal angepasst werden.
59.2.6 Konstruktionsprinzipien kontinenter intestinaler Harnreservoire Während Conduits lediglich als „Verlängerung“ der Ureteren einen widerstandsfreien Abfluss des Urins nach außen gewährleisten sollen, kommt den kontinenten Reservoiren zusätzlich die Aufgabe zu, die Speicherfunktion der Blase zu imitieren (s.o.). Einige prinzipielle Überlegungen dazu wurden bereits in Kap. ▶ 59.2.1 angestellt. Der Darm ist der Blase hinsichtlich seiner viskoelastischen Eigenschaften ähnlich; unterschiedlich ist jedoch sein Verhalten auf Volumenbelastung: Hier
kommt es zu einer reflektorischen Kontraktion der Darmmuskulatur, die sich in einem geschlossenen System als Druckerhöhung bemerkbar macht. Druckmessungen an tubulären Neoblasen wie der Camey-Blase ▶ [3564] bestätigen dieses Phänomen ( ▶ Abb. 59.2; ▶ [3688]). Durch die hohen Drücke kommt es vor allem nachts, wenn der Tonus des Sphincter urethrae externus im Schlaf nicht reflektorisch angepasst wird, zum Urinverlust. Druckverhalten tubulärer Dünndarmblasen bei Volumenbelastung. Abb. 59.2 Ab einer Füllung von 100 ml kommt es durch Kontraktionen der Darmmuskulatur zu Druckwellen bis 100 cm H2O. (Datenquelle: Teigland CM, Röhrborn CG. Harnableitung mittels Ileumschlinge nach Camey – Ergebnisse urodynamischer Studien. Akt Urol 1987; 18: 11–17)
Kock (1969) ▶ [3616] hat durch seine experimentellen Arbeiten die wesentlichen Erkenntnisse geliefert, wie dieses pathophysiologische Prinzip zu durchbrechen ist: Durch Längsinzision (Detubularisierung) des Darms und Neuanordnung der Schlingen ( ▶ Abb. 59.3) werden die Darmkontraktionen so „desynchronisiert“, dass sie bei Volumenbelastung des Reservoirs nicht mehr zur Druckerhöhung führen. Koch-Pouch. Abb. 59.3 Konstruktionsprinzipien kontinenter Darmreservoire und „urodynamisches“ Verhalten.
Abb. 59.3a U-förmiges Reservoir, seitlicher Verschluss → unzureichende Druckdämpfung.
Abb. 59.3b Die Druckdämpfung bei U-förmigem Reservoir und seitlichem Verschluss ist unzureichend.
Abb. 59.3c Komplette Druckdämpfung bei Volumenbelastung durch kraniokaudalen Verschluss.
Abb. 59.3d Bei kraniokaudalem Verschluss suffiziente Druckdämpfung.
Kock hat ebenfalls gezeigt, dass die Art der Anordnung auch bedeutend ist: Die Konstruktion eines U-förmigen Reservoirs ( ▶ Abb. 59.3) mit seitlichem Längsverschluss führt nur zu einer unzureichenden Dämpfung der
Druckwellen, während der kraniokaudale Verschluss des U zu einem kompletten Verschwinden führt ▶ [3616]. Eine W-förmige Anordnung der Darmschlingen (2×U) mit seitlichem Längsverschluss ( ▶ Abb. 59.4) bringt analoge Ergebnisse wie der kraniokaudale Verschluss des U. Gezielte Nachuntersuchungen der Patienten zeigten jedoch, dass beim Kock-Pouch ▶ [3648] und auch bei der Ileumneoblase ▶ [3550] bei einem Teil der Patienten (Ileumneoblase: 30%) während der Füllung des Reservoirs Kontraktionswellen auftreten. Wesentlicher Unterschied zu anderen Reservoirformen ist jedoch, dass sie von der Amplitude (maximal 15 cm H2O; ▶ [3550] nicht zur funktionellen Beeinträchtigung der Kontinenz oder zur Kompromittierung des oberen Harntraktes führen. Die ersten zwei wesentlichen Konstruktionsprinzipien für kontinente Harnreservoire sind folglich das Verwenden von detubularisiertem Darm ▶ [3607] und eine Neuanordnung der detubularisierten Darmschlingen. Das dritte Prinzip ist, mit möglichst wenig Darm ein möglichst großes Fassungsvermögen des Reservoirs zu erzielen. Näherungsweise kann angenommen werden, dass es sich bei den Reservoiren um zylinderförmige Hohlräume handelt. Damit kann das Volumen nach der folgenden Formel berechnet werden: V=r²×h r=Radius h=Höhe des Zylinders Legt man für ein nicht detubularisiertes Ileumstück einen Radius von 1,2 cm zugrunde, ergeben sich für die verschiedenen Darmreservoire die in ▶ Abb. 59.4 gezeigten unterschiedlichen Volumina. Abb. 59.4 Auswirkungen der „Darmneuanordnung“ auf die Reservoirkapazität.
Das Erzielen einer ausreichend großen Kapazität des Reservoirs ist wichtig für das Vermeiden der nächtlichen Überlaufinkontinenz, wenn es durch die Flüssigkeitssekretion der Darmmukosa bei konzentriertem Urin zu einer zusätzlichen Volumenbelastung des Reservoirs kommt und eine unwillkürliche Tonuserhöhung des Sphincter urethra extrenus durch den fehlenden Reflexbogen unterbleibt (s.o.). Die angeführten Kapazitätsberechnungen gehen von einer „starren“ Wand des Zylinders aus. Sie repräsentieren damit lediglich die „Grundkapazität“ des Reservoirs, berücksichtigen aber noch nicht die durch Dehnung der Reservoirwand mögliche Volumenaufnahme. Das Prinzip der viskoelastischen gesunden Harnblase besteht darin, über einen größeren Füllungsbereich Volumina ohne wesentliche Druckerhöhung aufzunehmen. Ist die Grenze der Dehnungsfähigkeit erreicht, kommt es zu einer erneuten Zunahme des Drucks ( ▶ Abb. 59.5). Schematisierte Zystomanometriekurve. Abb. 59.5 Geringer initialer Druckanstieg, lange Plateauphase, erneuter Druckanstieg bei Erreichen der Kapazitätsgrenze.
Die Dehnungsfähigkeit wird auch als Compliance bezeichnet, die sich aus den Veränderungen des Volumens durch den dafür erforderlichen Druck (ΔV/Δp) ergibt. Zu fordern ist also für die Darmreservoire eine hohe Compliance, wie sie besonders bei ilealen Reservoiren, etwas weniger bei zökalen Reservoiren ▶ [3554], ▶ [3625] gegeben ist. Zusätzlich konnten Norlén u. Trasti (1978) ▶ [3648] für ileale Reservoire experimentell nachweisen, dass sie sich mit zunehmender Volumenbelastung an die vermehrte Kapazität anpassen.
Merke Die Detubularisierung von kontinenten Darmreservoiren dient der Reduktion von Druckwellen und der Kapazitätsvergrößerung.
59.2.7 Kontinenzmechanismen Als Verschlussmechanismen für kontinente Darmreservoire sind folgende Techniken eingesetzt worden: artifizielle Sphinkter (Scott-Sphinkter AMS 800, s. Kap. ▶ 54), autologe „Kontinenzventile“; Beispiele dafür sind: die Invagination (Kock-Prinzip; ▶ Abb. 59.6; ▶ [3616], die Plikation ( ▶ Abb. 59.7; ▶ [3665], die submuköse Einbettung tubulärer Darmanteile (Mitrofanoff-Prinzip; ▶ Abb. 59.8; ▶ [3663] oder
die seroseröse Einbettung (z.B. T-Pouch ▶ [3679], ▶ Abb. 59.9), die Verwendung des externen urethralen Sphinkters analog der bei der radikalen Prostatektomie angewandten Technik (s. dort) oder einem prostatasparenden Vorgehen ▶ [3568]; bei der Frau kann die Harnröhre und damit der Kontinenzmechanismus analog erhalten werden (s.u.: ▶ Abb. 59.14), die Verwendung des analen Sphinkters durch Ableiten des Harns in den nicht ausgeschalteten Dickdarm. Kock-Pouch. Abb. 59.6 Refluxschutz und kontinentes Stoma durch Darminvagination.
Indiana-Pouch. Abb. 59.7
Abb. 59.7a Resektion des terminalen Ileums und Colon ascendens.
Abb. 59.7b Anschließend wird das Kolon detubularisiert.
Abb. 59.7c Der Ileumanteil wird „getapered“ und als kontinentes Stoma zur Haut herausgeleitet.
Mainz-Pouch. Abb. 59.8 Mainz-Pouch mit unterschiedlichen Kontinenzmechanismen.
Abb. 59.8a Invagination eines tubulär belassenen Ileumsegments in die Bauhin-Klappe.
Abb. 59.8b Invagination eines tubular belassenen Ileumsegments in die Bauhin-Klappe.
Abb. 59.8c Mobilisation und subseröse Einbettung der Appendix.
T-Pouch. Abb. 59.9 Konstruktionsprinzip eines kontinenten Stomas durch subseröse Einbettung eines Ileumsegments.
Praxis Die Verwendung artifizieller Sphinkter bei kontinenten Darmreservoiren kann als Ultima ratio bei Stressharninkontinenz erfolgen. Der Kontinenzmechanismus ist der kritische Punkt bei der Konstruktion aller kontinenten supravesikalen Reservoire ▶ [3672], ▶ [3680]. Außer den o.g. Modifikationen wurden zahlreiche andere Konstruktionsprinzipien versucht, ohne dass eine dieser Techniken eine spezielle klinische Akzeptanz gefunden hätte. Zudem ist das Prinzip grundsätzlich im Vergleich zur Ileumneoblase und der Conduitanlage aufgrund der hohen Komplikationsrate ins Hintertreffen gekommen.
Das Prinzip der Kontinenz bei der Darminvagination beruht auf der Tatsache, dass es bei einer zunehmenden Füllung des Reservoirs zu einer Drucksteigerung im Bereich des Nippels kommt. Experimentell wurde gezeigt, dass die Länge der Invagination kritisch für die Kontinenz ist; werden 2,5 cm unterschritten, ist bei Druckerhöhung im Reservoir mit einer Leckage zu rechnen ▶ [3621]. Da auf der anderen Seite bei antiperistaltischer Invagination (wie sie beim Kock-Stoma durchgeführt wird) sowohl die Darmmotilität als auch die Volumenausdehnung die „Devagination“ des Nippels begünstigen, wurden für die Stabilisierung zahlreiche Modifikationen vorgeschlagen. Die Gruppe um Skinner, die über die größte Erfahrung mit dem Kock-Pouch verfügt (n > 600 Patienten) , berichtet für die Technik der Nippelfixation mit Staplerklammern, einem an der Außenseite befestigten Vicrylnetz ( ▶ Abb. 59.6) sowie einer zusätzlichen Fixation des Nippels innen am Pouch eine Insuffizienzrate von 19% ▶ [3624]. Inzwischen favorisieren die Autoren das Prinzip des seroserösen Tunnels (T-Pouch), sowohl für das afferente Segment (Refluxschutz) als auch für das efferente Segment (kontinentes Stoma; ▶ [3680]. Andere Operateure geben im Langzeitverlauf noch höhere Revisionsraten für das invaginierte Darmsegment als kontinentes Stoma an: Jonsson ▶ [3613] fand nach einer durchschnittlichen Nachbeobachtungszeit von mehr als 10 Jahren 49% der Patienten reoperiert. Bei Betrachtung der Patienten aus den letzten 5 Jahren dieser Serie sank die Reoperationsrate auf 36%. Das Prinzip der Plikation von tubulärem Darm, wie beim Indiana-Pouch eingesetzt ( ▶ Abb. 59.7), wird allgemein als technisch einfacher beurteilt. Auch hier werden jedoch im Langzeitverlauf Reoperationsraten von 52% berichtet. Die längsten Beobachtungen des Appendixstomas (medianes Follow-up 7,6 Jahre) zeigen Revisionraten von 23,5%. Dabei handelt es sich jedoch zumeist um „kleine“ Eingriffe wegen Stomastenosen. Appendixnekrosen werden selten beobachtet, aber Stenosen und erschwerter Katheterismus treten in ca. 20% der Fälle auf ▶ [3594]. Invaginierte Ileumnippel weisen im Langzeitverlauf deutlich niedrigere Raten an Stomastenosen auf (15% versus 23,5%) ▶ [3696].
Praxis Die Verwendung des externen urethralen Sphinkters zur Gewährleistung der Kontinenz stellt die für den Patienten attraktivste Alternative dar ▶ [3672]. Dieses Prinzip ist sowohl beim Mann als auch bei der Frau anwendbar. Die Technik beim Mann, den urethralen Schließmuskel zu erhalten, entspricht der Technik bei der radikalen Prostatektomie. Die individuell unterschiedliche Länge der Kontinenzzone und das Nachlassen der Schließmuskelfunktion im
Alter sind für die postoperative Stressinkontinenz wesentliche Faktoren.Bei der Frau hat sich – überraschenderweise – eher die Hyperkontinenz als Problem gezeigt, die sich bei bis zu 35% der Patientinnen findet ▶ [3600]. Sie ist damit häufiger als die Stressinkontinenz, die bei 16–20% der Patientinnen auftritt. Das Problem der nächtlichen Inkontinenz bei urethralen Ersatzblasen ist bedingt durch Druckerhöhung im Reservoir (Kontraktionswellen bei nicht ausreichend detubularisierten Reservoiren bzw. Erreichen der Kapazitätsgrenze) sowie einen vom üblichen Reflexbogen entkoppelten Sphincter urethra externus. Tagsüber sind die Patienten offensichtlich in der Lage, die abdominalen Sensationen, die bei Druckerhöhungen in den Darmreservoiren entstehen, in eine „willkürlich reflektorische“ Druckerhöhung des Sphinkters umzusetzen. Die im Schlaf fehlende Sphinkteradaptation führt zur Enuresis ▶ [3562]. Dasselbe pathophysiologische Prinzip gilt für den analen Sphinkter. Während es tagsüber bei Druckerhöhungen im Rektum zu einer reflektorischen Kontraktion des analen Sphinkters kommt, kann dieser Reflex nachts fehlen. Konsequenterweise hat man in neuerer Zeit versucht, das Problem der intestinalen Druckerhöhung im Rektum durch Durchtrennung der Ringmuskulatur und Augmentation (Kap. ▶ 59.3.6) zu lösen, da ansonsten der anale Sphinkter bei der Harnableitung in den Darm einen zuverlässigen kontinenten Schutz gewährt. Zu beachten ist dabei, dass entsprechende Untersuchungen aus der Gastroenterologie gezeigt haben, dass bei älteren Patienten (>70 Jahre) der Analsphinktertonus und damit die Kontinenz signifikant abnimmt ▶ [3551].
59.3 Formen der Harnableitung Je nach Zielsetzung und Prognose der Grunderkrankung wird zwischen temporären und permanenten Harnableitungen unterschieden. Die Zielsetzung ist dabei nicht unbedingt mit der technischen Form der Harnableitung verknüpft: Die perkutane Nephrostomie ist eine temporäre Harnableitung beim obstruktiven Harnleiterstein mit infizierter Harnstauungsniere und eine permanente Harnableitung beim ausbehandelten gynäkologischen Karzinom mit extrinsischer Ureterstenose. Darüber hinaus kann sich die Zielsetzung der Harnableitung mit der Zeit verändern: Ursprünglich als permanent geplante Ableitungen (z.B. bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen im Kindesalter) können aufgrund neuerer Erkenntnisse, neuer Operationstechniken oder neuer Indikationsstellungen wieder „rückgängig“ gemacht werden; diese Operationen werden als Undiversion bezeichnet (Kap. ▶ 59.5). Weiterhin wird zwischen „nassen“ Harnableitungsformen und kontinenter Harnableitung unterschieden (s.o.). Die Umwandlung von nassen Formen der Harnableitung in kontinente Formen wird ebenfalls als Undiversion oder
Konversion bezeichnet ▶ [3577], ▶ [3656]. Speziell im Zusammenhang mit malignen Grunderkrankungen des kleinen Beckens und des Retroperitoneums stellt sich für den Urologen immer wieder die Frage nach der Indikation zur „palliativen“ Harnableitung (z.B. per Nephrostomie) bei Patienten mit infauster Prognose. Die Indikationsstellung muss im Gespräch mit den die Grundkrankheit behandelnden Ärzten und mit dem Patienten erfolgen. Sie wird neben rationalen Überlegungen auch durch emotionale Gesichtspunkte und persönliche Einstellungen beeinflusst; allgemeine Richtlinien für die Handhabung dieser Situation können deswegen nicht gegeben werden. Es ist jedoch immer zu bedenken, welche Lebensqualität dem Patienten bleibt und welche Morbidität mit der Harnableitung selbst und mit dem weiteren Verlauf der Grunderkrankung verbunden ist.
59.3.1 Zystostomie und Nephrostomie Diese einfachsten Formen der Harnableitung sind unter minimalem operativen Aufwand und mit geringer Morbidität durchzuführen (Kap. ▶ 21); sie sind in der Regel bei temporärer Harnableitung indiziert. Bei inoperablen Patienten oder Patienten mit ausbehandelter maligner Grunderkrankung können sie jedoch auch zur permanenten Harnableitung eingesetzt werden (s.o.). Um die schwierige Handhabung von beidseitigen Nephrostomien über einen längeren Zeitraum zu vermeiden, kann man in einer solchen Situation einen Harnleiter mit dem kontralateralen Nierenbecken anastomosieren (Transureteropyelostomie) und nur diese Niere per Nephrostomie ableiten. Im Einzelfall muss der dafür erforderliche operative Eingriff gegen die Schwierigkeit der beidseitigen Nephrostomie abgewogen werden. Alternativ kann eine Niere bei ausreichender Gesamtfunktion in Einzelfällen auch aufgegeben werden. Die Zystostomie hat beim Mann im Vergleich zum transurethralen Katheter den Vorteil des fehlenden Urethritisrisikos. Da jedoch beim transurethralen wie auch beim suprapubischen Katheter der Harntrakt nach 24 Stunden kontaminiert ist, ist bei der Frau die Indikation für den suprapubischen Katheter praktisch nie gegeben, solange sich ein transurethraler Katheter einlegen lässt. Dies gilt insbesondere auch bei pflegebedürftigen älteren Patientinnen, bei denen aufgrund einer Harninkontinenz eine Dauerableitung des Urins indiziert ist. Je nach Urinbeschaffenheit und Kathetermaterial bzw. -lumen kommt es früher oder später zur Ablagerung von Urinbestandteilen im Katheterlumen, die ein regelmäßiges Wechseln erforderlich machen (Kap. ▶ 14). Die zeitlichen Intervalle liegen zwischen 2 und 6 Wochen.
Praxis
Verdünnen des Urins durch reichliche Flüssigkeitszufuhr sowie Ansäuern des Urins (z.B. mit Acimethin) bauen einer schnellen Inkrustation vor. Eine generelle Antibiotikaprophylaxe ist nicht gerechtfertigt (s.a. Kap. ▶ 22), nur symptomatische Harnwegsinfekte sollten gezielt behandelt werden.
59.3.2 Ureterokutaneostomie Die direkte Implantation eines oder beider Harnleiter in die Haut ist die operativ einfachste Form der suprapubischen Harnableitung ( ▶ Abb. 59.10). Das Problem der Stenosierung im Hautniveau hat sich jedoch trotz zahlreicher technischer Modifikationen nie zufriedenstellend lösen lassen, sodass bei praktisch allen Ureterhautfisteln eine Dauerintubation durch Ureterenkatheter erforderlich ist, die regelmäßig gewechselt werden müssen. Lediglich bei chronisch erweiterten Ureteren ist mit einem funktionell befriedigenden Ergebnis zu rechnen ▶ [3662]. Möglichkeiten der Ureterokutaneostomie. Abb. 59.10
Abb. 59.10a Implantation beider Harnleiter in die Haut.
Abb. 59.10b Implantation eines Harnleiters in die Haut und Verbindung der beiden Ureteren mittels End-zu-SeitAnastomose.
Indikationen für Ureterhautfisteln sind beispielsweiser bei hoher Komorbidität gegeben, da das Komplikationsrisiko hierbei deutlich geringer ist als bei Eingriffen mit Darmanastomosen. Nach Möglichkeit sollte dem Conduit der Vorzug gegeben werden.
59.3.3 Ileumconduit
Das Ileumconduit, in den 50er-Jahren von Bricker (1950) ▶ [3561] populär gemacht, war die „Antwort“ auf die Komplikationen der Ureterosigmoideostomie: Die hohe Inzidenz der hyperchlorämischen Azidose ▶ [3579] sowie die deletären Auswirkungen auf den oberen Harntrakt (renale Mortalität zwischen 16 und 20%; ▶ [3566], ▶ [3596] hatten zur allgemeinen Ablehnung der Harnleiterdickdarmimplantation geführt. Zurückzuführen waren die renalen Komplikationen insbesondere auf die Verbindung des Niederdrucksystems „oberer Harntrakt“ mit dem Hochdrucksystem „Kolon“ bei gleichzeitig nicht ausgereifter Technik der Implantation der Harnleiter in das Sigma. Mit der von Goodwin et al. (1952) ▶ [3593] und Hohenfellner (1977) ▶ [3608] gezeigten Implantationstechnik wurden später deutlich bessere Resultate erzielt (Kap. ▶ 59.3.6). Mit dem Ileumconduit, als praktisch widerstandsfreies „Nulldrucksystem“ konzipiert, sollte vor allem eine bessere Protektion des oberen Harntraktes gewährleistet sein.
59.3.3.1 Operationstechnik Aus dem distalen Ileum (aboraler Absetzungsrand etwa 20–30 cm proximal der Bauhin-Klappe) werden 10–15 cm Dünndarm aus der Kontinuität ausgeschaltet. Zu lange Conduits sind zu vermeiden, da sie zur Knickbildung und damit zur Obstruktion neigen. Die Gefäßversorgung im Bereich des distalen Ileums durch die Arteria ileocolica ist in der Regel unproblematisch, jedoch sollte man sich durch die Diaphanoskopie des Mesos versichern, dass eine ausreichende Versorgung des Conduits gewährleistet ist. Die Wiederherstellung der Darmkontinuität erfolgt durch ein- bzw. zweireihige Einzelknopfnaht oder durch Stapler. Für die Harnleiterdarmanastomose wurden neben der von Bricker ursprünglich vorgestellten getrennten Implantation der Ureteren in Seit-zuSeit-Technik ( ▶ Abb. 59.11) zahlreiche Modifikationen entwickelt. Weit verbreitet ist die Technik nach ▶ [3693], ▶ [3692], die je nach Lage des Conduitfußpunktes eine unterschiedliche Vereinigung der spatulierten Ureteren und eine Seit-zu-End-Anastomose mit dem oralen Conduitende vorsieht ( ▶ Abb. 59.10). Die gängigen Varianten der ureteroilealen Anastomose erlauben alle einen freien Reflux vom Darm in den Harnleiter. Um die (beim Conduit umstrittenen) pathophysiologischen Auswirkungen eines solchen Refluxes auf den oberen Harntrakt (s.o.) zu vermeiden, wurden mehrere antirefluxive Implantationstechniken vorgestellt ▶ [3632], ▶ [3652], ▶ [3677], die aber in der klinischen Praxis keine Verbreitung gefunden haben. Ileumconduit mit verschiedenen Ureteroenteroanastomosen. Abb. 59.11
Abb. 59.11a Bricker.
Abb. 59.11b Wallace I.
Abb. 59.11c Wallace II.
Abb. 59.11d Wallace III.
Die Ureteren und die ureteroileale Anastomose werden mit Harnleiterschienen (z.B. 7 Charr Mono-J) für 6–7 Tage geschient. Durch Annaht an das parietale Peritoneum wird der Fußpunkt des Ileumconduits fixiert (Vermeiden von Knickbildungen an der Anastomose) und die Anastomose retroperitonealisiert (Vermeiden einer eventuellen Urinleckage in den Peritonealraum). Vor Entfernung der Harnleiterschienen sollte eine Anastomoseninsuffizienz mittels Conduitogramm bzw. retrograder Kontrastmittelgabe über die Mono-J-Schienen ausgeschlossen werden. Bei Nachweis einer Leckage sollten die Harnleiterschienen zunächst in situ verbleiben. Die Lage des Stomas sollte durch präoperative Anlage eines Stomabeutels in unterschiedlichen Körperhaltungen festgelegt und angezeichnet werden. Die Haut wird zirkulär exzidiert und die Faszie kreuzförmig inzidiert. In der Regel sollte das Stoma im Bereich der Rektusmuskulatur durchgeleitet werden. Das Stoma wird an der Haut mit resorbierbaren Nähten fixiert, zur Vereinfachung der späteren Versorgung mit einem Stomabeutel sollte die Darmmukosa das Hautniveau mit einem ca. 5 mm hohen Nippel überragen (s. Kap. ▶ 20).
59.3.3.2 Ergebnisse und Komplikationen Die in den 70er-Jahren präsentierten Spätergebnisse (s. ▶ Tab. 59.1 ) waren größtenteils enttäuschend: Stomastenosen vor allem bei Kindern in bis zu
57% der Fälle ▶ [3576], Obstruktionen an der ureteroilealen Anastomose in bis zu 22% ▶ [3669] und eine Verschlechterung der Nierenfunktion bei über der Hälfte der Fälle ▶ [3668] machten deutlich, dass eine sichere Protektion der oberen Harnwege durch das Ileumconduit nicht im erwarteten Maße gewährleistet war. Aktuelle Studien bestätigen, dass die im Langzeit-Follow-up beobachtete Komplikationsrate hoch ist und sich nicht linear entwickelt. So kam es in einer Serie mit 415 Patienten innerhalb der ersten 5 Jahre bei 45% zu Komplikationen, jedoch zu 50%, 54% und 94% 10 Jahre, 15 Jahre und länger als 15 Jahre postoperativ ▶ [3628]. Im Vordergrund stand auch in dieser Serie eine Verschlechterung der Nierenfunktion, die bei >50% der Patienten in der letztgenannten Gruppe beobachtet wurde. In den 20 Jahre Nachsorge zeigen bis zu 60% der Patienten eine Verschlechterung der Nierenfunktion und bis zu 7% der Patienten eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz ▶ [3612]. Darüber hinaus ist mit einer durchschnittlichen Latenzzeit von 20 Jahren (4– 32 Jahre) mit dem Auftreten von Zweitmalignomen, in der Regel Adenokarzinomen, zu rechnen ▶ [3546].
59.3.3.3 Patientenselektion und Kontraindikationen Bei einer Reihe von Indikationen ist die Anlage eines Conduits gegenüber einer Ileumneoblase zu bevorzugen: Harnableitung bei unkooperativen oder manuell gehandicapten Patienten: Die kontinente Harnableitung verlangt Mitarbeit bzw. Geschicklichkeit des Patienten beim Erlernen und Handhaben der Entleerungsfunktion („Sphinktertraining“ bzw. Einmalkatheterismus). Einhalten regelmäßiger Nachsorgetermine (größere Gefahr metabolischer Störungen als beim Conduit). Harnableitung bei Patienten mit vorbestehender (je nach Ausmaß der radiogenen Schädigung des Dünndarms) oder bei geplanter Bestrahlung des kleinen Beckens. Harnableitung bei Patienten mit ausbehandelten Malignomen des kleinen Beckens oder Retroperitoneums als palliative Maßnahme. Kontraindikationen für das Ileumconduit sind: entzündliche Erkrankungen des Dünndarms wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn sowie radiogene Schäden des Ileums z.B. nach Großfeldbestrahlung des kleinen Beckens.
59.3.4 Kolonconduit Die Häufigkeit renaler Komplikationen als Spätfolge des Ileumconduits (s.o.) sowie der experimentelle Nachweis der refluxiven ureteroilealen Anastomose als eine der möglichen Ursachen ▶ [3664], waren die treibende Kraft für die
Entwicklung des Kolonconduits mit antirefluxiver ureterointestinaler Anastomose. Das erstmals von Mogg u. Syme (1969) ▶ [3643] vorgestellte Operationsprinzip mit einer Split-Cuff-Technik bei der Harnleiterimplantation erfüllte die Anforderung mit einer nahezu 50%igen Refluxrate nur unzulänglich. Die Modifikation der ureterokolischen Anastomose in der Technik, wie sie für die Ureterosigmoideostomie beschrieben ist ▶ [3593], ▶ [3608]; ▶ Abb. 59.12), ermöglicht einen zuverlässigeren Refluxschutz ▶ [3549], ▶ [3694]. Conduits aus Dickdarm. Abb. 59.12 Die Technik der Ureterimplantatation in das Kolon (analoge Verwendung bei der Harnleiterdickdarmimplantation) ist in ▶ Abb. 59.12b dargestellt: Der submuköse Durchzug der Harnleiter erfolgt je nach Lage gegen- oder gleichläufig.
Abb. 59.12a Sigmaconduit.
Abb. 59.12b Querkolonconduit.
Merke Allgemein wird unter dem Kolonconduit ein Sigmaconduit verstanden, das sich aufgrund seiner Lage und Gefäßversorgung als Alternative zum Ileumconduit anbietet. Bei bestimmten Indikationen ist es jedoch sinnvoll und möglich, das Querkolon für die Bildung des Conduits zu verwenden.
59.3.4.1 Operationstechnik Die operative Technik beim Sigmaconduit ist zunächst analog der des Ileumconduits. Unter Beachtung der Gefäßversorgung, die in der Regel über die A. sigmoidea gewährleistet ist, werden 10–15 cm Darm aus der Darmkontinuität ausgeschaltet ( ▶ Abb. 59.12). Die Reanastomosierung am Kolon erfolgt analog in ein- oder zweireihiger Nahttechnik. Das
ausgeschaltete Darmstück liegt laterokolisch, das orale Ende wird verschlossen und die Taenia libera für die Implantation der Ureteren eröffnet. Die Harnleiter können im Bereich des Mesosigmas durch getrennte Öffnungen in den Darm eingezogen werden, nach stumpfer Präparation eines 2–3 cm langen submukösen Tunnels ( ▶ Abb. 59.12) und Durchzug der Ureteren erfolgt die Mukosaadaptation des Neoostiums. Der weitere Operationsvorgang entspricht dem des Ileumconduits; das Stoma wird im linken Unterbauch platziert. Beim Querkolonconduit wird hinsichtlich der Ausschaltung des Darmes analog verfahren ( ▶ Abb. 59.12b). Die Anastomose des Harntraktes mit dem Conduit kann je nach Länge der Ureteren refluxiv oder antirefluxiv erfolgen; im Extremfall können die Nierenbecken direkt mit dem Conduit anastomosiert werden.
59.3.4.2 Ergebnisse und Komplikationen Die Rate chirurgischer Frühkomplikationen liegt zwischen 7 und 12% ▶ [3644], ▶ [3694], am häufigsten sind hierbei der mechanische Ileus (3–6%), die Insuffizienz der Kolonanastomose (4%) sowie der ureterointestinalen Anastomose (1%). Die Frühkomplikationsrate unterscheidet sich nicht von der des Ileumconduits. Die Spätergebnisse sind in ▶ Tab. 59.2 zusammengefasst. Sie weisen darauf hin, dass bei bestehendem Antirefluxschutz eine bessere Protektion des oberen Harntraktes erreicht werden kann. Dafür muss im Vergleich zum Ileumconduit eine höhere Inzidenz an Stenosen der ureterointestinalen Anastomose hingenommen werden. Tab. 59.2 Ergebnisse beim Kolonconduit (Literaturübersicht). Autor (Jahr)
n
Follow- Mortalität Stoma Ureter Reflux Verschlechterun up g des oberen (Jahre) Harntraktes früh spät
Mogg (1969)
40 >0,5 K/E
–
–
Rezidiv. Azidose Steine Pyelonephritis
normal abnormal (präop.) 22,5
–
54,11
13
–
35
22,5
5
Lindenauer 45 1,7 E (1974)2
2,2 –
0
2,3
–
8
6
20
–
6,6
Morales
46 3–4 K/E
15
–
–
13
–
13,6
13,4
17,3
–
4,3
(1975)3 Elder (1977)
41 13,2 K
12
24
61
22
58,1
48,3
86,6
30
11
16
Altwein (1977)
64 4,6 K
2
0
4,1
6,2
12
8,3
8,6
15,5
4,1
–
Althausen (1978)
70 2,7 K/E
0
0
2,8
4,6
7,3
4,6
–
4,6
1,4
4,3
Hill
47 11,5 K
–
–
34
–
48,2
17
–
12,7
–
2,1
(1983)4
Autor (Jahr)
n
Follow- Mortalität Stoma Ureter Reflux Verschlechterun up g des oberen (Jahre) Harntraktes
Walz (1984)
89 6,3 K
1,1 0
10,3
6,5
–
12,3
4,2
Rezidiv. Azidose Steine Pyelonephritis 8
1
Harnleiteranastomose mit Nippel, gewährleistet keinen langfristigen Refluxschutz (Hendren 1983).
2
Refluxive ureterointestinale Anastomose (Bricker-Technik).
3
Verschiedene refluxive (n=33) und antirefluxive (n=13) Harnleiterdarmanastomosentechniken.
–
8
4
Harnleiterimplantationstechnik nicht näher beschrieben. –: keine Angaben in der genannten Literaturstelle E: Erwachsene K: Kinder
Angesichts der zunehmenden Diskussion um den Stellenwert des Antirefluxschutzes – dieser wird sowohl bei der Ileumneoblase als auch bei kontinenten Reservoiren aufgrund schlechter Langzeitergebnisse in Frage gestellt – erscheint der Vorteil im Kontext des o.g. Verfahrens fraglich ▶ [3603], ▶ [3622], ▶ [3641]. Aktuelle Daten unterstreichen, dass die Inzidenz von Niereninsuffizienz vergleichbar derjenigen von Patieneten mit Ileumconduits ist ▶ [3567].
59.3.4.3 Patientenselektion und Kontraindikationen Trotz der Hinweise auf eine bessere Protektion des oberen Harntraktes konnte sich das Sigmaconduit als „Standardconduit“ nie durchsetzen. Dies ist möglicherweise auf den insgesamt technisch aufwendigeren chirurgischen Eingriff zurückzuführen. Zur Notwendigkeit des Refluxschutzes sei auf das Kap. ▶ Harnleiterersatz verwiesen. Abgesehen von diesen Einschränkungen gelten für das Kolonconduit die gleichen Indikationsprinzipien wie für das Ileumconduit. An Kontraindikationen sind entzündliche Erkrankungen des Intestinums sowie der Morbus Crohn zu nennen, beim Sigma kommen die Divertikulosis oder polypöse Erkrankungen hinzu. Spezielle Indikationen für das Querkolonconduit bestehen bei operativer Unzugänglichkeit des Unterbauches oder bei radiogener Schädigung des Ileums, des Sigmas und/oder der Ureteren.
59.3.5 Neoblasen Neoblasen kommen der natürlichen Harnblase hinsichtlich Speicher- und Entleerungsfunktion am nächsten: Das Harnreservoir liegt orthotop im kleinen Becken, die Entleerung erfolgt durch abdominelle Druckerhöhung (Bauchpresse), und der Sphincter urethrae externus gewährleistet die Kontinenz. Neoblasen wurden seit Mitte der 80er-Jahre zunächst nur bei Männern eingesetzt. Das Dogma, dass bei der Frau die Urethrektomie obligater Bestandteil der Zystektomie ist, wurde in den 90er-Jahren verlassen.
Untersuchungen von Stein et al. (1995) ▶ [3678] zeigten, dass bei tumorfreiem Blasenhals ein Tumorrezidiv in der Harnröhre nicht auftritt. Seither werden Neoblasen auch bei Frauen angewandt. Untersuchungen mit längeren Follow-up zeigen allerdings bei bis zu 2% der Patientinnen mit tumorfreiem Blasenhals ein Rezidiv im Bereich der Urethra. Dies muss bei der Nachsorge beachtet werden ▶ [3683]. Die „Urform“ der Neoblase, ein Uförmiger, tubulärer Ileumabschnitt, der mit der membranösen Harnröhre anastomosiert wird ( ▶ Abb. 59.13), wurde seit den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts von Camey (1979) ▶ [3563] klinisch angewandt. Tubuläre Camey-Ileumblase. Abb. 59.13 Die Urform der Darmersatzblase.
Die Probleme mit tubulären Reservoiren wurden oben beschrieben. Die Folge ist eine nächtliche Inkontinenz bei praktisch allen Patienten ▶ [3626]. Die spezifischen Nachteile der Camey-Blase konnten durch die Verwendung detubularisierter Darmsegmente signifikant verbessert werden. Bei der Ileumneoblase ▶ [3598] werden durch die komplette Detubularisierung des Darms und die spezielle Anordnung der Darmschlingen ( ▶ Abb. 59.14) die
durch Darmkontraktionen bedingten Druckerhöhungen sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihrer Amplitude reduziert. Detubularisierte Ileumneoblase. Abb. 59.14
Abb. 59.14a Für die Konstruktion werden 60 cm Ileum aus der Darmkontinuität ausgeschaltet.
Abb. 59.14b Konstruktion der detubularisierten Ileumneoblase.
Merke Trotzdem ergibt sich für 28% der Patienten die Notwendigkeit einer ein- bis dreimaligen nächtlichen Miktion, 5% sind nachts trotz aller „Sicherheitsmaßnahmen“ inkontinent ▶ [3601], ▶ [3603].
59.3.5.1 Operationstechnik
Beim Mann erfolgt die Erhaltung des Sphincter urethrae externus als Kontinenzorgan analog der Technik bei der radikalen Prostatektomie. Bei der Frau kann das proximale Urethradrittel mitreseziert werden. Die nerverhaltende Zystektomie verbessert nach Untersuchungen von Nagele et al. die spätere Entleerung der Neoblase und verringert das Risiko der Hyperkontinenz ( ▶ Abb. 59.15) ▶ [3645]. Abb. 59.15 Neoblase der Frau.
An den Harnröhrenstumpf werden für die spätere Entero-Urethro-Anastomose sechs oder mehr Nähte gelegt. Anschließend wird das gewünschte Darmsegment (60 cm Länge, distaler Absetzungsrand ca. 30 cm proximal der Bauhin-Klappe) aus der Darmkontinuität ausgeschaltet. Vor Festlegen des auszuschaltenden Darmstückes sollte der Punkt gekennzeichnet werden, der sich am einfachsten für die spätere Anastomose in das kleine Becken mobilisieren lässt ( ▶ Abb. 59.16). Nach W-förmiger Anordnung und Detubularisierung des Darms wird dieser mit den am Harnröhrenstumpf vorgelegten Nähten mit der Urethra anastomosiert ( ▶ Abb. 59.16). Die Uretero-Entero-Anastomose bleibt für 14 Tage mit Ureterenkathetern (z.B. 7 Charr Mono-J), die Darm-Harnröhren-Anastomose für 2–3 Wochen mit einem Dauerkatheter geschient (Spülkatheter Charr 20–22). Mainz-Pouch II. Abb. 59.16 S-förmige Faltung des Sigmas.
Als Alternative zum offen Vorgehen hat sich in den vergangenen Jahren die roboterassistierte radikale Zystektomie und vollständig intrakorporale Anlage einer Ileumneoblase etabliert. Hierbei werden die Prinzipien der offenen Chirurgie auf das laparoskopische Vorgehen übertragen. Nachdem diese Operationstechnik bereits 2003 durch Binder ▶ [3556] erstmalig publiziert wurde, gilt es mittlerweile als Alternative zum offenen Vorgehen. Problematisch ist allerdings, dass bisher Langzeitergebnisse größerer Serien fehlen. Die größten Serien umfassen gegenwärtig 143–155 Patienten, was unter der Annahme einer hochgradigen Patientenselektion und nicht abgeschlossener Lernkurve eine limitierte Vergleichbarkeit mit der offenen Chirurgie bedingt. Zudem sind die OP-Zeiten in der größten publizierten Serie von Wiklund et al. mit durchschnittlich 7,6 Stunden per se eine starke Belastung, um nicht zu sagen „Komplikation”, für die Patienten. Darüber hinaus fehlen gegenwärtig randomisierte Studien, die beide Techniken vergleichen ▶ [3552], ▶ [3574], ▶ [3584], ▶ [3588], ▶ [3590].
59.3.5.2 Postoperative Nachsorge Die postoperative Nachsorge entspricht im Wesentlichen der nach Ileumconduit. Die Schleimproduktion des Darms erfordert zum Vermeiden einer Tamponade ab dem 1. postoperativen Tag mehrmals täglich eine Spülung des Reservoirs. Nach Entfernen der Harnleiterschienen (10.–14. postoperativer Tag) und besonders des Harnröhrenkatheters (14.–21. postoperativer Tag) ist der Säure-Basen-Haushalt zu kontrollieren, um die
durch Rückresorption von Chlorid verursachte Azidose z.B. mit oraler Gabe von Zitronensäurepräparaten (beispielsweise Uralyt-U) korrigieren zu können. Vor Entfernung der Ureterenkatheter und des Harnröhrenkatheters sollte die Dichtigkeit der Anastomosen röntgenologisch (retrograde Kontrastmittelgabe über die Harnleiterschienen bzw. Neozystogramm) kontrolliert werden.
59.3.5.3 Ergebnisse Die Kontinenzergebnisse der verschiedenen Neoblasenserien sind schwer vergleichbar: Unterschiedliche Definitionen und Untersuchungstechniken, unterschiedliche Nomenklaturen und schwer quantifizierbare Angaben machen einen wirklichen Vergleich unmöglich. Hautmann und Studer (2006) ▶ [3602] beschreiben bei einer gemeinsamen Auswertung ihrer Patienten (n=1300; 58% Ileumneoblase), dass nach 12 Monaten 92% der Patienten tagsüber kontinent waren, während es nachts nur 80% waren. Bei 11–12% der Patienten fand sich eine Urinretention, die im Einzelfall eine Einmalkatheterisierung erforderlich machte. Im Detail zeigte sich bei einer vorhergehenden Auswertung ▶ [3599], dass tagsüber nur 74% und nachts nur 47% der Patienten komplett trocken waren. Bei den übrigen waren zeitweise oder dauernd Vorlagen erforderlich oder sie mussten nachts 1- bis 3-mal miktionieren. Beachtenswert ist der Zusammenhang mit der postoperativen Nachbeobachtungsdauer: Bis zu 5 Jahre nach der Operation kommt es zu einer Verbesserung der Tages- und Nachtkontinenz. Zur Neoblase der Frau sind die beschriebenen Serien kleiner und die Nachbebachtungszeiten kürzer. Deutlich häufiger als bei Männern (3–5%) tritt eine „subvesikale“ Obstruktion auf: 10–61% der Frauen müssen sich selbst katheterisieren ▶ [3600], ▶ [3645], ▶ [3684]. Die Kontinenzraten sind mit 82% Tages- und 72% Nachtkontinenz etwas geriner als bei Männern ▶ [3611], ▶ [3684]. Die Konstruktion einer Neoblase ist kein komplikationsarmer Eingriff. Neoblasenbedingte Komplikationen traten in der Serie von Hautman et al. (1999) ▶ [3599] in 15,4% früh und in 23,4% spät auf. Zu neoblasenunabhängigen Komplikationen kam es in 33,6% der Fälle früh und in 12,4% spät. Insgesamt waren bei 22% der Patienten offen-chirurgische Reinterventionen erforderlich. Rezidive im Bereich der Urethra traten bei 1,5– 5% der Patienten nach Anlage einer Ileumneoblase auf ▶ [3602]. Zweitmalignome treten in höherer Frequenz als beim Ileumconduit nach einer durchschnittlichen Latenzzeit von 10 Jahren auf ▶ [3546]. In der Serie von Skinner ▶ [3578] waren die neoblasenabhängigen Komplikationen mit 7,2% früh und 11,6% spät niedriger, ebenso die Reoperationsraten. Alle Serien mit Neoblasen weisen – auch im Langzeitverlauf – einheitlich auf eine gute Protektion des oberen Harntraktes hin. Zur Problematik von Reflux und Obstruktion sei auf Kap. ▶ 59.2.1 verwiesen.
59.3.5.4 Patientenselektion und Kontraindikationen Prinzipiell können Neoblasen bei allen Patienten angelegt werden, bei denen eine Zystektomie aus kurativer Zielsetzung durchgeführt wird. Kontraindikationen bzw. Einschränkungen der Indikation ergeben sich unter onkologischen, psychosozialen und altersbedingten Gesichtspunkten. Onkologische Kontraindikationen beziehen sich insbesondere auf die Gefahr eines urethralen Tumorrezidivs. Die Inzidenz urethraler Rezidive nach suprapubischen Harnableitungen wie dem Ileumconduit liegt bei ca. 5% ▶ [3559]. Hautmann und Studer ▶ [3602], ▶ [3687] fanden bei den Patienten mit orthotopem Blasenersatz urethrale Rezidive bei ca. 1,5–5% der Patienten. Im Gegensatz hierzu wurden sie bei Patienten mit supravesikaler Harnableitung in einer Studie von ▶ [3583] in 11,9% der Fälle detektiert. Die Gründe hierfür sind unklar. Die Notwendigkeit für eine simultane Urethrektomie (und damit das Ausschlusskriterium für eine Neoblase) wurde in den letzten Jahren weiter eingeengt: Lebret et al. (1998) ▶ [3619] und Iselin et al. (1997) ▶ [3610] kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der negative urethrale Absetzungsrand (Schnellschnitt) am Apex prostatae das wesentliche prognostische Kriterium für ein Harnröhrenrezidiv ist. Auch die Patienten, bei denen präoperativ ein Befall der prostatischen Harnröhre gefunden worden war, hatten im 10-jährigen Verlauf entweder kein ▶ [3619] oder nur in 1 von 14 Fällen ein urethrales Rezidiv ▶ [3610]. Weitere Studien von Nieder et al. bestätigten diese Ergebnisse (Lokalrezidivrate bei negativem Urethraabsetzungsrand 3,7%) ▶ [3647]. Eine weite Indikationsstellung für den Erhalt der Harnröhre und damit für den orthotopen Blasenersatz erscheint heute gerechtfertigt. Ob der Befall des Prostatastromas ein Ausschlusskriterium darstellt, bleibt kontrovers ▶ [3553], ▶ [3558].
Vorsicht Stoffwechselstörungen und Veränderungen des oberen Harntraktes im Zusammenhang mit Neoblasen können ohne spezifische Symptome auftreten und sind potenziell lebensbedrohlich. Eine regelmäßige Überwachung dieser Patienten ist deswegen unabdingbar, das Verständnis des Patienten („Compliance“) für diese Notwendigkeit und seine besondere Lage sind Voraussetzung für die Anlage eines kontinenten Blasenersatzes ▶ [3560]. Weitere Indikationseinschränkungen betreffen das Alter der Patienten: Stratifizierte Nachuntersuchungen haben gezeigt, dass bei Patienten über 70 Jahren die Inkontinenzrate deutlich höher ist ▶ [3640], ▶ [3578]. Zudem ist zu bedenken, dass diese Patienten im Einzelfall weniger von der stomalosen
Form der Harnableitung profitieren als jüngere, körperlich aktive Patienten (Kap. ▶ 59.2.5). Neoblasen haben seit mehr als 16 Jahren eine breite klinische Anwendung gefunden. Frühere Erfahrungen mit der Ureterosigmoideostomie und dem Ileumconduit haben allerdings gezeigt, dass sich vor allem Veränderungen des oberen Harntraktes und Verschlechterungen der Nierenfunktion oft erst nach Jahrzehnten zeigen. Die Langzeiterfahrungen mit mehr als 20-jährigem Follow-up zeigen eine gute Protektion des oberen Harntraktes.
Merke Neoblasen sind heute der Standard in der Harnableitung.
59.3.6 Harnableitung in den Dickdarm 59.3.6.1 Ureterosigmoideostomie Die Ureterosigmoideostomie oder Harnleiterdickdarmimplantation (HDI) ist die älteste Form der Harnableitung überhaupt: Eine Verbindung zwischen dem oberen Harntrakt und dem Rektum wurde 1851 erstmals von Simon durchgeführt. 1911 hat Coffey die experimentellen Grundlagen für die routinemäßige klinische Anwendung der HDI am Menschen geschaffen, die 1917 von Majo durchgeführt wurde. Aufgrund der hohen Komplikationsraten (s.o.) wurde die HDI in den 50-er Jahren vom Ileumconduit als Standardableitung abgelöst. Einige Autoren halten jedoch – bei verbesserter Operationstechnik und besseren Ergebnissen – eine stärkere Berücksichtigung der HDI bei der Wahl der Harnableitung für gerechtfertigt ▶ [3698], ▶ [3605], ▶ [3676], ▶ [3572]). Unabhängig davon bestehen die beschriebenen Indikationseinschränkungen aufgrund des erhöhten Karzinomrisikos bei jungen Patienten und Kindern (s.o.).
59.3.6.2 Operationstechnik Die Technik der Ureterimplantation in das Sigma entspricht der beim Kolonconduit ( ▶ Abb. 59.12). Der Zugang zum Sigma erfolgt über eine Längsinzision an der Taenia libera. Die Ureteren werden für 10 Tage geschient, die Harnleiterkatheter können transanal herausgeleitet werden. Rektum und Sigma werden für die gleiche Zeit mit einem Darmrohr drainiert.
59.3.6.3 Ergebnisse und Komplikationen Die Spätkomplikationen, insbesondere Funktionsbeeinträchtigungen des oberen Harntraktes stehen denen des Ileumconduits nicht wesentlich nach ( ▶ Tab. 59.3 ). Daniel (1968) ▶ [3570] hat darauf hingewiesen, dass die Basisdrücke im Sigma erheblichen interindividuellen Unterschieden unterliegen. Durch die entsprechenden Untersuchungen seiner Patienten
konnte er zeigen, dass bei niedrigeren Ruhedrücken im Sigma die Spätergebnisse hinsichtlich der Protektion des oberen Harntraktes deutlich besser waren als bei hohen Drücken. Tab. 59.3 Ergebnisse bei der Ureterosigmoideostomie (Literaturübersicht). Autor (Jahr)
n
Follow- Mortalität Stoma up Ureter (Jahre)
Reflux Verschlechterung des oberen Harntraktes
Rezidivierende Azidose Steine Pyelonephritis
früh
spät Stenose
Leadbetter 40 E 10
0
101
–
–
17
–
57
47
–
Spence (1975)
37 K 16,5
0
12,1 13,5
–
32,5
–
45
34,4
–
Zincke (1975)
173 >0,5 E
9,8 –
–
–
20
–
202
10,9
3,4
Marberger 25 K 5,6 (1977)
0
0
12
–
0
2
–
43
–
Marberger 78 E 2,5 (1977)
9
–
5
–
12,1
50
–
8,33
–
Aaronson (1979)
10
0
–
–
0
22
–
15,7
63
–
Marberger 16 K 9,7 (1982)3
0
0
6,25
0
6,25
–
0
31,2
6,25
32 K2
normal ab(präoperativ) normal
Berücksichtigt wurden Ergebnisse mit antirefluxiver Operationstechnik (Leadbetter, Goodwin, Hohenfellner). 1
Benigne Grunderkrankung.
2
Bei Kindern (38,7%) Umwandlung in Ileumconduit wegen rezidivierender Pyelonephritis, schwerer Azidose oder Inkontinenz. 3
Bei routinemäßiger postoperativer Alkalitherapie. –: keine Angaben in der genannten Literaturstelle E: Erwachsene K: Kinder
Sekundärmalignome stellen neben aszendierenden Infektionen und Azidosen ein gesondertes Problem dieser Form der Harnableitung dar. Integraler Bestandteil der Nachsorge ist aus diesem Grund die Koloskopie, die, unabhängig vom Fehlen evidenzbasierter Leitlinien für die Nachsorge, ab dem 8.–10. postoperativen Jahr erfolgen sollte.
59.3.6.4 Patientenselektion und Kontraindikation Da heute für Männer und Frauen gleichermaßen mit den orthotopen Neoblasen bzw. den supravesikalen Pouches ein ausgezeichneter Blasenersatz zur Verfügung steht, bleibt als Hauptindikation für die Ureterosigmoideostomie die Harnableitung bei Patienten, die eine kontinente Harnableitung möchten, bei denen ein orthotopes Reservoir kontraindiziert ist und/oder die sich nicht selbst katheterisieren können oder wollen.
Bei der Indikationsstellung ist zu beachten, dass die anale Kontinenz erheblichen Unterschieden unterliegt und vor allem im Alter nachlässt ▶ [3551]. Eine manometrische Beurteilung der Rektum-/Sigmadrücke und des Sphinktertonus hat sich jedoch in der klinischen Praxis nicht durchgesetzt; für die Beurteilung der HDI-Indikation ist die klinische Kontinenzprüfung mit einem Kochsalzeinlauf von 300–400 ml ausreichend. Die Menge an Flüssigkeit sollte unter normalen Bedingungen (liegen, sitzen, gehen, stehen) über 2 Stunden gehalten werden können. Ebenso wie bei den Conduits ist bei der Harnableitung in den Dickdarm eine Erkrankung des verwendeten Darmabschnitts (Divertikulose, Divertikulitis, Polypose) vorher auszuschließen (Kolonkontrasteinlauf!).
59.3.7 Mainz-Pouch II Der Mainz-Pouch II setzt die Prinzipien kontinenter Darmreservoire auf die Ureterosigmoideostomie um: Durch Detubularisierung des Rektumsigmas wird der Reservoirdruck gesenkt und damit versucht, Kontinenz und Protektion des oberen Harntraktes zu verbessern. Die Detubularisierung wird beim Mainz-Pouch II durch antimesenteriale Inzision und U-förmige Faltung des Sigmas erreicht ( ▶ Abb. 59.16). Die Ureteren werden wie bei der konventionellen Ureterosigmoideostomie implantiert. Ergebnisse mit Nachbeobachtungszeiten von 3–6 Jahren ▶ [3582] zeigen eine Tageskontinenzrate von 95% und eine Nachtkontinenzrate von 98%. Stenosen an der ureteroenteralen Anastomose traten in 7% der Fälle auf. Die Ergebnisse werden von anderen Autoren bestätigt ▶ [3586], ▶ [3591]Golbano et al. 2001) und jüngst für Kinder demonstriert (Tageskontinenzrate 100%, nächtliche Inkontinenz 8,6%) ▶ [3651]. Die Detubularisierung wirkt sich – im Vergleich zur konventionellen Ureterosigmoideostomie – vor allem günstig auf die Kontinenz aus.
Merke Wenn immer möglich, sollte dem Mainz-Pouch II heute der Vorzug gegenüber der Ureterosigmoideostomie gegeben werden.
59.3.8 Ersatzblasen mit kontinentem Stoma Kock (1969) ▶ [3616] hatte das kontinente Stoma ursprünglich für Patienten mit Ileostomie nach kompletter operativer Entfernung des Dickdarms entwickelt. Zunächst sekundär wurde dann eine analoge Konstruktion bei Patienten nach Zystektomie eingesetzt ▶ [3617], ▶ [3618]. In den 1980-er Jahren wurden dann verschiedene alternative Operationstechniken vorgestellt ▶ [3691], ▶ [3665], auf die – ebenso wie auf Ergebnisse und Komplikationen – bereits weiter oben eingegangen wurde ( ▶ Abb. 59.6, ▶ Abb. 59.7, ▶ Abb.
59.8). Die zwischenzeitlich vorliegenden Langzeitergebnisse bestätigen hohe Reoperationsraten bei guter Protektion des oberen Harntraktes ▶ [3613].
Übersicht Primäre Indikationen für die Ersatzblasen mit kontinenten Stomata Blasenersatz bei Frauen und Männern, bei denen wegen onkologischer Kontraindikationen der externe urethrale Sphinkter nicht erhalten werden kann bei Frauen, die den (einfacheren) Katherismus eines Nabelstomas dem bis zu 35%igen Risiko des urethralen Katheterismus bei orthotopem Ersatz vorziehen Harnableitung bei konservativ nicht beherrschbaren neurogenen Blasenentleerungsstörungen; besonders bei Rollstuhlfahrern ist ein abdominelles Stoma leichter zu katheterisieren als die Harnröhre Als Kontraindikationen sind wiederum Erkrankungen der für die Harnableitung vorgesehenen Darmabschnitte zu sehen. Hinzu kommen manuelle Unzulänglichkeiten oder fehlende Compliance des Patienten, die eine regelmäßige Katheterisierung des Stomas unmöglich machen.
59.4 Blasenaugmentation Der teilweise Ersatz der Harnblase durch ein Darmreservoir wird als Blasenaugmentation bezeichnet. Die Übergänge zum (kompletten) Blasenersatz sind fließend und werden hauptsächlich durch das Ausmaß der Zystektomie definiert: Wird beim Mann die Harnblase einschließlich der Prostata entfernt (radikale Zystektomie), spricht man vom Blasenersatz. Wird – z.B. bei tuberkulöser Schrumpfblase – die Blase unter Belassung der Prostata reseziert (subtotale Zystektomie), spricht man von Blasenaugmentation. Als „Clam-Cystoplasty“ wird eine Augmentation bezeichnet, bei der das Darmreservoir ohne Resektion der Blase mit dem eröffneten Blasenscheitel anastomosiert wird ( ▶ Abb. 59.17). Prinzip der Blasenaugmentation. Abb. 59.17 Bei der „Clam Cystoplasty“ wird der Darmteil mit dem eröffneten Blasenscheitel anastomosiert. Die Harnleiter können bei normaler ureterovesikaler Verbindung belassen werden. Nach subtotaler Blasenresektion
erfolgt die Anastomose des Blasenhalses mit der Darmplatte analog, die Ureteren werden in den Darmanteil implantiert.
Durch die Verbreitung der kontinenten Harnableitung und das bessere Verständnis der damit verbundenen pathophysiologischen Vorgänge hat auch die Blasenaugmentation, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal durchgeführt wurde, wieder breites Interesse gefunden.
59.4.1 Operationstechniken Das operative Vorgehen wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst: Die Wahl des zur Augmentation verwendeten Darmabschnittes sowie die Umformung dieses Abschnittes für die Augmentation hängen – wie beim kompletten Blasenersatz – oftmals mehr von persönlichen Präferenzen als von rationalen Gesichtspunkten ab. Einigkeit herrscht hinsichtlich der Tatsache, dass detubularisierte Darmsegmente verwendet werden sollen. Nach Angaben in der Literatur lassen sich sowohl mit Kolon, Zökum als auch mit Ileum gute Ergebnisse erzielen ▶ [3627], ▶ [3585], ▶ [3686], ▶ [3581], ▶ [3638]. Bei kompromittiertem Kontinenzmechanismus (Blasenhals/urethraler Sphinkter) wurde von einigen Autoren der artifizielle Sphinkter erfolgreich in
Kombination mit der Blasenaugmentation eingesetzt ▶ [3627], ▶ [3686]. Die Implantation der Harnleiter wird uneinheitlich gehandhabt: Von manchen Autoren wird die Reimplantation am verbleibenden Blasenrest bevorzugt ▶ [3585] oder sie passen die Implantationsstelle der jeweiligen Situation an ▶ [3627]. Andere ziehen die Implantation der Ureteren in das augmentierende Darmstück vor ▶ [3581], ▶ [3638]. Die Frage, ob die Blase subtotal reseziert oder der Darmabschnitt einfach mit dem Blasendom anastomosiert wird, hängt von der Indikationsstellung ab: Bei pathologischen Veränderungen der Blasenschleimhaut (interstitielle Zystitis, radiogene Zystitis etc.), die im Sinne einer sensorischen Urgeinkontinenz wirken, sollte subtotal (bis auf einen Blasenhalsrest von ca. 2–3 cm Durchmesser) reseziert werden. Bei rein morphologischen (beispielsweise Schrumpfblase) oder motorischen Veränderungen der Harnblase kann diese direkt mit dem Darmstück anastomosiert werden.
Praxis Blasenaugmentation Die prinzipiellen Ziele der Rekonstruktion des unteren Harntraktes – Erhalt der Nierenfunktion und Kontinenz bei akzeptabler Entleerungsfrequenz – lassen sich durch die Blasenaugmentation gut verwirklichen: Kontinenz wird in 80–90% der Fälle erzielt ▶ [3627], ▶ [3585], ▶ [3581], ▶ [3638], jedoch ist in einigen Fällen – je nach Indikationsstellung – für die Blasenentleerung ein intermittierender Einmalkatheterismus erforderlich ▶ [3681]. Speziell die Kurzzeitergebnisse hinsichtlich des oberen Harntraktes werden in der Literatur oftmals nur kursorisch oder gar nicht erwähnt ▶ [3627], ▶ [3585]. Abgesehen von den Unwägbarkeiten der verschiedenen Techniken der Harnleiterimplantation (s.o.) ist jedoch aufgrund des Druckverhaltens bei erfolgreicher Blasenaugmentation zunächst nicht mit einer Kompromittierung des oberen Harntraktes zu rechnen. Wie für alle anderen operativen Techniken dieser Art gilt jedoch, dass hier erst Langzeitergebnisse für eine definitive Beurteilung abgewartet werden müssen.
59.4.1.1 Patientenselektion und Kontraindikationen Die Indikationen für Blasenaugmentation beim Erwachsenen sind morphologischer oder funktioneller Verlust der Blasenkapazität bei tuberkulöser Schrumpfblase, interstitieller Zystitis, Zustand nach Radiatio und neurogene Blasenentleerungstörungen ▶ [3695]. Bei Kindern werden Blasenaugmentationen nach iatrogener Schädigung und/oder Verlust der Harnblase, bei neurogener Blasenentleerungsstörung, kompletter Inkontinenz nach vorausgegangener Operation oder Blasenekstrophie durchgeführt ▶ [3581]. Die Anzahl der durchgeführten Eingriffe, so zeigt die größte publizierte Studie von Lendvay et al., ist trotz zunehmender konservativer
Behandlungsoptionen in den vergangenen Jahren auf niedrigem Niveau konstant geblieben ▶ [3623]. Die Indikation, speziell bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen, sollte sekundär gestellt werden, das heißt, sämtliche konservativen Möglichkeiten sollten ausgeschöpft sein. Besonders bei der oberen motorischen Läsion mit aggressivem Detrusor, hohen Blasendrücken und Urgeinkontinenz muss als Alternative die Denervierung der Harnblase mit oder ohne Einsatz eines Stimulators (s. auch Kap. 55) in die Überlegungen mit einbezogen werden. Eine urodynamische Untersuchung, ggf. auch eine Urethroskopie zur Beurteilung des Kontinenzapparates, sollte der Indikationsstellung vorangehen. Von manchen Autoren wird betont, dass es schwierig ist, die definitive Funktion des Kontinenzapparates mit Hilfe präoperativer Untersuchungen abzuschätzen ▶ [3686]. Von denselben Autoren wurde bei erwarteter postoperativer Inkontinenz bereits intraoperativ der Cuff eines artifiziellen Sphinkters um den Blasenhals gelegt, der bei Bedarf in einer zweiten Operation technisch einfach mit dem Reservoir ergänzt werden kann. Ebenso wurde der artifizielle Sphinkter primär in der gleichen Sitzung komplett implantiert; dieses Verfahren ist wegen der damit verbundenen Infektionsgefahr jedoch umstritten ▶ [3653]. Die größte zu dieser Indikationsstellung publizierte Studie verweist auf eine nicht unerhebliche Komplikations- (z.B. mechanische Komplikationen in bis zu 30%) und Revisionsrate (in bis zu 16%), was für ein sequenzielles Vorgehen spricht ▶ [3606].
Merke Wesentlich bei der Indikationsstellung und Aufklärung der Patienten ist, dass diese postoperativ in der Lage sind, einen sauberen, intermittierenden Einmalkatheterismus durchzuführen. Ebenso wie beim kompletten Blasenersatz müssen als Kontraindikation eine Erkrankung der für die Augmentation verwendeten Darmabschnitte sowie eine eingeschränkte Nierenfunktion angesehen werden.
59.5 Undiversion Undiversion im engeren Sinne bedeutet die Rückverlagerung einer nassen Harnableitung unter Verwendung der eigenen Blase. Im weiteren Sinne wird heute als Undiversion auch die Umwandlung von einer nassen in eine kontinente Harnableitung oder umgekehrt bezeichnet. In den 1960-er Jahren wurde, mangels damals akzeptierter Alternativen, bei vielen Kindern mit neurogener Blasenentleerungsstörung ein Ileumconduit angelegt ( ▶ Tab. 59.1 ). Analoge Formen der Blasenentleerungsstörungen
können heute in der Mehrzahl medikamentös und/oder mit intermittierendem Einmalkatheterismus gut beherrscht werden. Bei der Indikationsstellung zur Rückverlagerung der Ureteren aus einem Conduit in die Blase sind folgende Fragen zu klären: Wie sind das Füllungsverhalten der Harnblase sowie die aktuelle Speicherfunktion (urodynamische Untersuchung!) zu bewerten? Bei einer niedrigen Kapazität und/oder autonomer Detrusorkontraktion kann die simultane Blasenaugmentation bei der Rückverlagerungen der Ureteren angezeigt sein. Eine Resektion der Harnblase ist nicht notwendig, wenn nicht Hinweise auf eine sensorische Urgekomponente bestehen (Kap. ▶ 59.4). Reicht der Kontinenzmechanismus (interner/externer Sphinkter) aus, um eine postperative Stressinkontinenz bei normalen Drücken auszuschließen? Hierfür ist ggf. zusätzlich zu der urodynamischen Untersuchung eine endoskopische Evaluierung angezeigt. Ist der Patient zum sauberen, intermittierenden Einmalkatheterismus in der Lage? Ähnlich wie bei der Blasenaugmentation ist präoperativ schwer vorherzusehen, ob und wie weit die Blase spontan entleert werden kann. Die Fähigkeit zum Einmalkatheterismus ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Indikationsstellung zur Undiversion. Analoges gilt für die Umwandlung der nassen Harnableitung in ein kontinentes Darmreservoir. Wird die Möglichkeit einer Neoblase in Betracht gezogen, muss vorher endoskopisch evaluiert werden, ob der Sphinktermechanismus der membranösen Harnröhre erhalten ist und für eine Kontinenz ausreicht. Über die mögliche Notwendigkeit der Verwendung eines artifiziellen Sphinkters sollte der Patient vorher aufgeklärt sein, ebenso über die Möglichkeit des Einmalkatheterismus. Bei richtiger Patientenselektion können diese Eingriffe bei entsprechender Erfahrung mit niedrigen Komplikationsraten und guten Ergebnissen durchgeführt werden ▶ [3656].
59.6 Harnleiterersatz In seltenen Fällen kann nach funktionellem (Radiatio, operativ), onkologischem (Urothelkarzinom) oder traumatischem Verlust des Harnleiters ein kompletter Ureterersatz erforderlich werden. Bei gleichzeitiger Zystektomie (panurotheliales Karzinom) kann die Harnableitung durch ein an beide Nierenbecken anastomosiertes Querkolonconduit erfolgen. Als Alternative ist die einseitige Nephrektomie und die Anastomosierung eines Ileumconduits mit der verbleibenden Restniere möglich. Muss die Strecke zwischen Nierenbecken und belassener Blase überbrückt werden, kann dies
auf beiden Seiten unter Ausschaltung eines ca. 20–25 cm langen Ileumsegments erfolgen. Die Notwendigkeit eines Refluxschutzes ist nicht geklärt, technisch kann der Refluxschutz durch eine Invagination des distalen Ileumendes realisiert werden. Die funktionellen Ergebnisse mit ilealem Harnleiterersatz sind gut, die Protektion der Nierenfunktion scheint – auch langfristig – nicht kompromittiert.
59.7 Tissue Engineering Seit den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts wird aufgrund der Unzulänglichkeiten, der o.g. Blasen- und Harnleiterersatzverfahren durch Darmsegmente nach Alternativen gesucht. Von Tanahgo et al. wurde ein Konzept des Harnblasenersatzes durch azelluläre Matrix, in welches in vivo Urothel aus Segmenten der belassenen Harnblase einsprosst, verfolgt. Trotz vielversprechender Studien beim Hund, die die klinische Einsetzbarkeit beim Menschen in Aussicht stellten, gelang es bisher nicht dieses Verfahren klinisch zu etablieren ▶ [3657], ▶ [3658], ▶ [3670]. Ein weiter Ansatz wurde von Atala et al. beim Menschen demonstriert ▶ [3548]. Bei 7 Patienten mit Low-Compliance oder Hochdruckharnblasen erfolgte erstmalig eine Blasenaugmentation mit homologem in vitro generiertem Gewebeersatz. Hierbei wurden autologe Urothel- und Detrusorzellen auf einem Kollagen-Polyglycol-Säureträger kultiviert und nach Blasenaugmentation mit Omentum majus ummantelt. Trotz dieses vielversprechenden Ansatzes ist gegenwärtig nicht zu erwarten, dass dieses Verfahren zeitnah bei den o.g. Indikationen eingesetzt werden kann. Aktuelle Studien bestätigen, dass Tissue-Engeneering gegenwärtig keinen klinischen Stellenwert hat ▶ [3609].
Quintessenz Harnableitung Pathophysiologie Oberer Harntrakt Funktion beeinflusst durch Harntransportstörungen, Reflux und Infektion Uroenteroanastomose Kritischster Punkt der Harnableitung Reflexschutz wichtig bei Reservoiren mit kontinentem Stoma Druckverhältnisse in Conduits und Darmreservoiren
Auswirkungen auf Protektion des oberen Harntraktes Negative Auswirkungen dauernder und intermittierend hoher Drücke Hyperchlorämische Azidose Hohe Inzidenz bei Ureterosigmoideostomie Pathogenetischer Faktor: Resorption von Chloridionen Ausmaß der Azidose durch verschiedene Faktoren bestimmt Größe der mit Urin benetzten Darmfläche Kontaktzeit Urin/Darmmukosa Zusammensetzung des Urins Nierenfunktion Malabsorptionssyndrome Resektion von >100 cm Ileum: vermehrte Gallen- und/oder Nierensteindiathese Relevante Veränderungen der intestinalen Absorptionsverhältnisse Störungen der Gallensäurerückresorption Vitamin-B 12-Resorption Kalziumresorption Karzinomrisiko Inzidenz bei Ureterosigmoideostomie am höchsten Geringe Karzinomentwicklung bei Ileumconduit Möglicherweise höheres Risiko bei Kolonconduit Harnableitungskarzinome bei kontinenten Reservoiren in Verbindung mit Grunderkrankung Schistosomiasis Lebensqualität des Patienten Veränderungen der Lebensqualität nach Harnableitung Sexuelle Störungen Einschränkungen im Beruf Abhängigkeit von anderen Harnableitung muss individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen des Patienten angepasst werden Formen der Harnableitung
Unterscheidung zwischen temporärer und permanenter sowie zwischen „nasser“ und kontinenter Harnableitung Zystostomie, Nephrostomie Durchführung unter minimalem operativem Aufwand und mit geringer Morbidität Meist als temporäre Harnableitung Ureterokutaneostomie Implantation eines oder beider Harnleiter in die Haut Dauerintubation durch Ureterenkatheter erforderlich Ileumconduit Operationstechnik Ausschaltung von 10–15 cm Dünndarm aus distalem Ileum Technik nach Wallace: unterschiedliche Vereinigung der spatulierten Ureteren und Anastomose mit oralem Conduitende Kontraindikationen entzündliche Erkrankungen des Dünndarms radiogene Schäden des Ileums Neoblasen „Urform“: U-förmiger, tubulärer Ileumabschnitt (Camey-Blase) Verwendung detubularisierter Darmsegmente Postoperative Nachsorge notwendig Komplikationen Gefahr des urethralen Tumorrezidivs Stoffwechselstörungen und Veränderungen des oberen Harntraktes Harnableitung in Dickdarm Mainz-Pouch II: Umsetzung der Prinzipien kontinenter Darmreservoire auf Ureterosigmoideostomie Ersatzblasen mit kontinentem Stoma Gute Protektion des oberen Harntraktes Kontraindikationen Erkrankungen der für Harnableitung vorgesehenen Darmabschnitte Manuelle Unzulänglichkeiten und fehlende Compliance des Patienten
Blasenaugmentation Teilweiser Ersatz der Harnblase Operationstechnik Verwendung detubularisierter Darmsegmente Frage nach subtotaler Resektion oder Anastomosierung des Darmabschnitts mit Blasendom ist abhängig von Indikationsstellung Patientenselektion: vorangehende urodynamische Untersuchung zur Beurteilung des Kontinenzapparats Undiversion Rückverlagerung einer nassen Harnableitung unter Verwendung der eigenen Blase Indikation abhängig von Aktueller Speicherfunktion und Füllungsverhalten der Harnblase Kontinenzmechanismus Möglichkeit des sauberen, intermittierenden Einmalkatheterismus durch Patienten Umwandlung nasser Formen der Harnableitung in eine kontinente Form
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Teil XIII Gynäkologische Urologie 60 Gynäkologische Urologie
60 Gynäkologische Urologie J.W. Thüroff
60.1 Einleitung „Gynäkologische Urologie“ bezeichnet eigentlich urologische Aspekte des Faches Gynäkologie, die für Gynäkologen relevant und in deren Weiterbildung verankert sind, wenngleich der umgangssprachliche Gebrauch den Begriff häufig umgekehrt versteht. Der für ein Lehrbuch der Urologie semantisch korrekte Titel wäre demnach „Urologische Gynäkologie“ oder „Urologie der Frau“. Dazu gehören neben den im folgenden Kapitel behandelten Blasenspeicherstörungen, Blasenentleerungsstörungen, urologischen Schwangerschaftskomplikationen und urologischen Komplikationen gynäkologischer Erkrankungen noch die wichtigen Bereiche der Harninkontinenz der Frau und des urogenitalen Deszensus, die allerdings in Kap. ▶ 54 behandelt werden.
60.2 Reizblase (Overactive Bladder) 60.2.1 Ätiologie und Symptomatik Die Symptome Pollakisurie (Frequency) und imperativer Harndrang (Urge, Urgency) deuten auf eine irritative Pathophysiologie der Harnblase mit Störung der Speicherfunktion, die sich im schwersten Falle als Dranginkontinenz (Urgencyinkontinenz) äußern kann. Die Prävalenz bei Frauen über 40 Jahren beträgt in Europa 17,4%, wobei Pollakisurie mit 85% am häufigsten genannt wird, gefolgt von imperativem Harndrang (54%) und Dranginkontinenz (36%) ▶ [3797]. Die Ätiologie ist in der Übersicht zusammengefasst
Übersicht Ätiologie Symptomatisch Unspezifischer Harnwegsinfekt Spezifische Zystitis (Tbc, Bilharzia) Interstitielle Zystitis Radiozystitis, Cyclophosphamidzystitis Östrogenmangel Infravesikale Obstruktion (mechanisch, funktionell) Anatomische Anomalien (Urethradivertikel, Urethralkarunkel, Urethralprolaps) Fremdkörper, Steine (intravesikal, intravaginal, intrauterin) Tumoren (Blase, Urethra)
Neurologische Läsionen (suprasakral) Psychogen Idiopathisch Reizblase Urethralsyndrom Frequency-Urgency-Syndrom Die Symptome Pollakisurie, imperativer Harndrang und Dranginkontinenz wurden von der International Continence Society (ICS) zu „Overactive Bladder“ (OAB) zusammengefasst. Das ehemalige Frequency-Urgency-Syndrom (Pollakisurie, imperativer Harndrang) wird nun als OAB-dry sowie die Dranginkontinenz als OAB-wet bezeichnet: Overactive Bladder (OAB)=Symptomenkomplex, OAB-dry=Frequency-Urgency-Syndrom, Reizblase, Urethralsyndrom, OAB-wet=Dranginkontinenz, Urgencyinkontinenz.
Praxis Da die symptomatische Antwort des unteren Harntraktes auf verschiedene Noxen recht uniform ist und pathognomonische Symptomkonstellationen nicht existieren („the bladder is a poor witness“), erlaubt sogar die sorgfältigste Anamnese keine zuverlässige Unterscheidung zwischen den häufigen idiopathischen Formen des Frequency-Urgency-Syndroms (Overactive Bladder, Reizblase, Urethralsyndrom) und sekundären (symptomatischen) Formen. Besonders bei jahrelangen quälenden Beschwerden ist die Unterscheidung zwischen einer primär psychogenen Form und einer idiopathischen Form mit sekundärer psychischer Überlagerung problematisch.
60.2.2 Diagnostik Die Diagnose einer idiopathischen Reizblase oder Overactive Bladder ist wegen der fehlenden Spezifität der Symptomatik eine Ausschlussdiagnose, d.h. sie erfordert durch geeignete diagnostische Maßnahmen den Ausschluss sämtlicher symptomatischer Formen, bei denen die Beschwerden Symptome einer Erkrankung oder Pathologie sind, die kausal behandelbar ist (s.o. Infobox Ätiologie). Insbesondere müssen als mögliche Ursachen der dargestellten Symptomatik ausgeschlossen werden: unspezifische und spezifische Infektionen, anatomische Anomalien, ein postmenopausaler Östrogenmangel, infravesikale Obstruktionen und Tumoren des unteren Harntraktes.
60.2.2.1 Laboruntersuchung Harnkultur und – bei steriler Leukozyturie – PCR (Polymerasekettenreaktion) auf Tbc schließen unspezifische und spezifische Harnwegsinfektionen aus. Bei anamnestischen Hinweisen auf eine Exposition mit Schistosoma in endemischen Gebieten erfolgt der Bilharziaausschluss serologisch und durch endoskopische Biopsie suspekter Blasenareale.
Ein postmenopausaler Östrogenmangel kann eine atrophische Vaginitis und atrophische Urethritis bedingen. Grundlage ist das Vorhandensein von Östrogenrezeptoren nicht nur im Vaginalepithel, sondern auch im Urethralepithel ▶ [3765]. Die Östrogenabhängigkeit der Proliferation des Urethralepithels lässt sich diagnostisch im karyopyknotischen Index (KPI) oder Oberflächenzellindex bewerten: Bei normaler Östrogenfunktion finden sich in der Papanicolaou-Färbung des Urethralabstrichs mehr als 70% Oberflächenzellen und entsprechend weniger als 30% Intermediär- und Basalzellen ▶ [3874].
Merke KPI-Werte unter 50% beweisen das Vorliegen eines Östrogenmangels, dessen Auswirkungen durch lokale oder systemische Östrogensubstitution reversibel sind.
60.2.2.2 Klinische Untersuchung Durch kombinierte Druck-Fluss-Messungen werden infravesikale Obstruktionen urodynamisch verifiziert. Mechanische Stenosen werden durch Kalibrierung mit dem Bougie à boule diagnostiziert und lokalisiert, funktionelle Obstruktionen (Sphincterexternus-Dyssynergie, Sphincter-internus-Dyssynergie) durch simultane EMGAufzeichnung oder videografische Aufzeichnung des Miktionszysturethrogramms während der Druck-/Flussmessung. Röntgenuntersuchungen (Urethrografie, Miktionszysturethrografie) und Endoskopie decken Steine, Urethradivertikel und Fremdkörper als Verursacher von lokalen Irritationen und entzündlichen Prozessen auf. Ein Carcinoma in situ der Harnblase kann ebenfalls durch Beschwerden symptomatisch werden, die als Reizblase fehlgedeutet werden können. Harnzytologie und endoskopische Biopsie suspekter Areale oder Quadrantenbiopsie liefern die Diagnose.
60.2.2.3 Neurologische Untersuchung Die orientierende neurologische Eingangsuntersuchung sollte die Sensibilitätstestung im Reithosenbereich (sakrale Dermatome S2–S5; ▶ Abb. 60.1) sowie den Anal- und Klitorisreflex als Fremdreflexe zur Überprüfung der Integrität sakraler Reflexbögen einschließen ( ▶ Abb. 60.2). Sakrale Dermatome zur Überprüfung der Hautsensibilität („Reithosenanästhesie“). Abb. 60.1
Fremdreflexe. Abb. 60.2
Abb. 60.2a Analreflex: Berühren der perianalen Haut führt zur Kontraktion des Analsphinkters.
Abb. 60.2b Klitorisreflex: Berühren der Klitoris führt zur Beckenbodenkontraktion
60.2.2.4 Urodynamische Untersuchung Die funktionelle Abklärung und Klassifikation der Pathophysiologie einer gestörten Speicherfunktion der Harnblase erfolgt durch eine urodynamische Untersuchung. Methode der Wahl ist die Zystomanometrie als kontinuierliche simultane intravesikale und intrarektale Druckregistrierung während kontrollierter Blasenauffüllung, mit der sich Provokationstests (Husten, Pressen, Aufstehen, Eiswassertest), Halteversuche (Beckenbodenkneifen) und pharmakologische Tests kombinieren lassen.
60.2.3 Innervation Harnblase und Sphinkterapparat werden in ihrer Speicher- und Entleerungsfunktion nerval gesteuert und koordiniert. Der Detrusor erhält seine motorische Innervation durch den Parasympathikus über die Nn. pelvici aus dem Nucleus intermediolateralis des sakralen Miktionszentrums (S2–S4). Der Sympathikus erreicht den Detrusor über die Nn. hypogastrici aus dem Nucleus intermediolateralis des thorakolumbalen Rückenmarks (Th10–L2) und bewirkt über β2- und β3-Rezeptoren eine motorische Inhibition ( ▶ Abb. 60.3). Zusätzlich moduliert der Sympathikus über Synapsen im Ganglion pelvicum die parasympathische Aktivität. Innervation des unteren Harntraktes.
Abb. 60.3 Der Sympathikus (N. hypogastricus, Th10–L2) ist während der Kontinenzphase aktiviert: Tonisierung der glattmuskulären Harnröhre über α1-Rezeptoren und Detrusorinhibition über β2 und β3-Rezeptoren. Der Parasympathikus (N. pelvicus, S2–S4) löst die Miktion über Muskarinrezeptoren des Detrusors aus. Gleichzeitig wird im sakralen Miktionszentrum (S2–S4) die über den N. pudendus gesteuerte Aktivität von Beckenboden und quergestreiftem externen Sphinkter blockiert.
Die glattmuskuläre Harnröhre und der Blasenhals werden vom Sympathikus über α1Rezeptoren innerviert, der quergestreifte Sphinkter und der Beckenboden über den somatomotorischen N. pudendus aus den Vorderhörnern des sakralen Miktionszentrums. Sensorische Afferenzen laufen sowohl in den Nn. pelvici als auch in den Nn. hypogastrici. Die Koordination zwischen motorischer Detrusoraktivität und quergestreiftem Sphinktermechanismus erfolgt im sakralen Miktionszentrum durch wechselseitige Hemmung des Pudendus- und Pelvikuskerns durch spinale Interneurone. Sympathikussowie Parasympathikusaktivität werden im pontinen Miktionszentrum koordiniert und stehen letztlich wie auch die Pudendusaktivität unter hierarchischer kortikaler Kontrolle.
60.2.4 Pathophysiologie und Klassifikation Die Pathophysiologie von Reizsymptomen der Harnblase lässt sich urodynamisch durch Blasendruckmessung während der Blasenfüllphase (Zystomanometrie) abklären und prinzipiell in drei Kategorien klassifizieren ▶ [3852]. hypersensitive Blase (sensorische Urgency), überaktiver Detrusor (motorische Urgency), hyperbarer Detrusor (Low-Compliance-Blase).
60.2.4.1 Hypersensitive Blase (sensorische Urgency) Die Pathophysiologie der sensorischen Urgency (hypersensitive Blase) basiert auf einer vermehrten Anflutung sensorischer Reize, die zu einem verfrühten und verstärkten
Harndrang und damit zu einer funktionell verringerten Blasenkapazität (Pollakisurie) führen. In der Zystomanometrie findet sich eben diese Angabe eines verfrühten ersten Harndrangs ohne Druckkorrelat im Sinne unwillkürlicher Detrusorkontraktionen. Während der gesamten Füllungsphase bleibt der Detrusor stabil (ohne unwillkürliche Kontraktionen), die Blasenentleerung erfolgt willkürlich, allerdings wegen des erhöhten Miktionsreizes verfrüht bei noch inadäquater Blasenfüllung ( ▶ Abb. 60.4). Eine rein sensorische Urgency findet sich typischerweise bei der interstitiellen Zystitis ▶ [3740], aber auch bei Radiozystitis und postmenopausalem Östrogenmangel. Urodynamik bei hypersensitiver Blase. Abb. 60.4 Verfrühter erster Harndrang (50 ml Blasenfüllung) ohne Detrusoraktivität, imperativer Harndrang bei 200 ml, imperative Miktion durch Sphinkterrelaxation.
60.2.4.2 Überaktiver Detrusor (motorische Urgency)
Bei der motorischen Urgency (überaktiver Detrusor) findet sich in der Zystomanometrie synchron zum Auftreten der Drangsymptomatik ein intravesikaler Druckanstieg aufgrund einer unwillkürlichen Detrusorkontraktion ( ▶ Abb. 60.5). Solche unwillkürlichen Detrusorkontraktionen können spontan oder auf Provokation (z.B. Husten) auftreten und sind im Prinzip messtechnisch nicht von ungehemmten Kontraktionen infolge neurogener Enthemmung des pontinen Reflexbogens (z.B. bei suprapontinen Läsionen) zu unterscheiden. Urodynamik bei überaktivem Detrusor. Abb. 60.5 Urodynamik bei überaktivem Detrusor: Verfrühter erster Harndrang (50 ml Blasenfüllung) bei Detrusorüberaktivität, imperativer Harndrang (bei 200 ml) bei verstärkter Detrusorüberaktivität, dabei imperative Miktion mit Beckenbodenrelaxation.
Der idiopathisch-überaktive Detrusor wird als instabiler Detrusor bezeichnet und geht mit einer durch den Harndrang ausgelösten willkürlichen Beckenbodenkontraktion zur Verhinderung eines unfreiwilligen Harnverlusts einher. Der neurogen-überaktive Detrusor
wird als hyperreflexiver Detrusor, Reflexblase oder Reflexinkontinenz bezeichnet. Bei kompletten spinalen Läsionen fehlt definitionsgemäß die Drangsymptomatik.
60.2.4.3 Hyperbarer Detrusor (Low-Compliance-Blase) Bei einem hyperbaren Detrusor (Low-Compliance-Blase) findet sich in der Zystomanometrie bei Zunahme der Blasenfüllung ein inadäquat hoher Druckanstieg ( ▶ Abb. 60.6). Dieser inadäquate Druckanstieg ist Ausdruck einer verminderten Akkommodationsfähigkeit der viskoelastischen Blasenwandelemente. Die Compliance (Blasendehnungsfähigkeit, ΔV/ΔP) ist dabei unter den Normwert von 25 ml/cm H2O erniedrigt. Typische Beispiele für eine solche Low-Compliance-Blase sind Radiozystitis, tuberkulöse Zystitis und Bilharziose. Urodynamik bei hyperbarem Detrusor (Low-Compliance-Blase). Abb. 60.6 Stetiger, mit verfrühtem ersten Harndrang verbundener Blasendruckanstieg bei inadäquaten Füllungsvolumina ohne rhythmische Detrusoraktivität, imperative Miktion bei 200 ml durch Sphinkterrelaxation.
60.2.5 Therapie Merke Die idiopathischen Formen der sensorischen und motorischen Urgency sind lediglich einer symptomatischen Therapie zugänglich, die auch bei den sekundären (symptomatischen) Formen adjuvant zur kausalen Therapie durchgeführt werden kann, beispielsweise in Kombination mit einer antibiotischen Therapie eines Harnwegsinfektes. Je nach Ätiologie, Dauer, Schweregrad und bereits erfolgten Vorbehandlungen empfiehlt sich das Prinzip einer Stufentherapie, beginnend mit den am wenigsten invasiven Behandlungsmaßnahmen und Übergang zu aggressiveren Therapiemaßnahmen in therapieresistenten Fällen (s. Übersicht).
Übersicht Stufentherapie bei Reizblase, Dranginkontinenz und Reflexinkontinenz Verhaltenstherapie, Biofeedback Pharmakotherapie Anticholinergika Myotrope Spasmolytika β-Adrenergika Resiniferatoxin (RTX) – Blaseninstillation Botulinum A – Detrusorinjektionen Elektrostimulation Vaginal Sakralforamenstimulation Hyperbare Hydrodistension der Harnblase (Helmstein) Sakralblockade (S3, S4) Harnblasendenervierung Peripher (transvaginal, retropubisch) Zentral (extradurale/intradurale Rhizotomien) Blasenaugmentation (Enterozystoplastik) Supravesikale Harnableitung Inkontinent Kontinent
60.2.5.1 Verhaltenstherapie, Biofeedback Merke Die Ziele aller konservativen Therapiemaßnahmen sind die Verlängerung der Miktionsintervalle, die Erhöhung der funktionellen Blasenkapazität und bei der motorischen Urgency die Dämpfung oder gänzliche Unterdrückung von unwillkürlichen, drangerzeugenden Detrusorkontraktionen. Die bei der motorischen Urgency insuffiziente zentrale Inhibition motorischer Detrusorreflexe wird als zerebrale Fehlfunktion verstanden, aus der sich – wie bei anderen psychosomatisch mitverursachten Erkrankungen – emotionale und psychische Wechselwirkungen mit den Funktionsstörungen erklären. Demnach ist es sinnvoll, zunächst eine Verhaltenstherapie im Sinne eines Blasentrainings ▶ [3737] zu etablieren, das entweder als Monotherapie oder in Kombination mit einer Pharmakotherapie oder Elektrostimulation durchgeführt werden kann. Die Verhaltenstherapie versucht durch Aufklärung, Training und Selbstkontrolle den u.g. Circulus vitiosus: Angst vor imperativen
Harndrang oder Inkontinenz → prophylaktische Blasenentleerung → reduzierte funktionelle Blasenkapazität → verfrühter Harndrang mit verschlimmerter Pollakisurie dadurch zu unterbrechen, dass eine sukzessive Ausdehnung der Miktionsintervalle trainiert wird.
Vorsicht Circulus vitiosus Angst vor imperativen Harndrang oder Inkontinenz → prophylaktische Blasenentleerung → reduzierte funktionelle Blasenkapazität → verfrühter Harndrang Die Selbstkontrolle des Therapieergebnisses erfolgt durch Führung eines Miktionstagebuchs mit Protokollierung der Miktionszeiten und -volumina und evtl. unwillkürlicher Harnverluste. Initial erfolgt für mindestens 2 Wochen eine adjuvante Pharmakotherapie (Anticholinergika); eine Stabilisierung von Erfolgen ist frühestens nach 12 Wochen zu erwarten. Ein Biofeedback zur Selbstkontrolle der Effektivität der therapeutischen Bemühungen kann durch Protokollierung der Miktionshäufigkeit (Miktionstagebuch) und bei der motorischen Urgency unter Zuhilfenahme urodynamischer Techniken durchgeführt werden. Dabei wird ein messbarer physiologischer Parameter (intravesikaler Druckanstieg bei Detrusorkontraktion) dem Patienten als audiovisuelles Signal dargeboten, dessen Beeinflussung Gegenstand des Lernprozesses sein soll. Erfolgsraten von maximal 50% ▶ [3718] mit diesem intuitiven, aber aufwendigen Konzept stehen einer weiteren Verbreitung im Wege.
60.2.5.2 Pharmakotherapie Merke In der Praxis stellt die Pharmakotherapie als Monotherapie oder adjuvant zu einem Miktionstraining die Behandlung der ersten Wahl zur Beeinflussung von Reizsymptomen der Harnblase dar. Vornehmlicher pharmakologischer Angriffspunkt ist die Beeinflussung der glattmuskulären Aktivität und Kontraktilität des Detrusors. Eine große Zahl neurotroper und myotroper Spasmolytika (s. Übersicht) illustriert den Mangel einer „idealen“ Substanz, die selektiv am unteren Harntrakt sensorische und motorische Symptome beeinflussen könnte. In der Praxis haben Antimuskarinika die größte Bedeutung ▶ [3860].
Übersicht Pharmaka mit spasmolytischer Wirkung am Harntrakt Neurotrope Spasmolytika Antimuskarinika tertiäre Amine quarternäre Amine
trizyklische Antidepressiva Adrenergika β2-Adrenergika β3-Adrenergika Myotrope Spasmolytika Antispasmodika (Typ: Papaverin) Kalziumantagonisten Prostaglandininhibitoren
Praxis Generell ist das Ansprechverhalten auf einzelne Pharmaka sehr individuell, sodass durchaus ein probatorisches Wechseln innerhalb einer Substanzgruppe bei Nichtansprechen der ersten Medikation wie auch eine Kombination von Präparaten unterschiedlicher Substanzgruppen (z.B. myotrope Spasmolytika mit Antimuskarinika) sinnvoll sein kann. Eine gute (>50%) bis exzellente (>75%) Unterdrückung der Symptome wird im Allgemeinen bei zwei Drittel der Patienten erreicht, wobei ein Plazeboeffekt in Doppelblindstudien bei bis zu einem Drittel der Patienten nachweisbar ist. Systemische Nebenwirkungen, insbesondere der Antimuskarinika, treten in bis zu 60% der Fälle auf; in kontrollierten Doppelblindstudien hat allerdings auch Plazebo eine Nebenwirkungsrate von bis zu 30%. Die Langzeit-Compliance der Patienten wird durch die meist harmlosen, aber dennoch unangenehmen Nebenwirkungen (z.B. Mundtrockenheit bei Antimuskarinika) oft nachteilig beeinflusst.
Anticholinergika Anticholinergika bewirken eine kompetitive Hemmung von Acetylcholin an postganglionären parasympathischen Muskarinrezeptoren (muskarinartige Wirkung) sowie an parasympathischen und sympathischen Ganglien und sympathischen Rezeptoren (nikotinartige Wirkung) ( ▶ Abb. 60.3). Bei einigen Präparaten sind weitere pharmakologische Wirkungskomponenten (myotrop-spasmolytisch, lokalanästhetisch, kalziumantagonistisch) nachweisbar, bei den in vivo erreichbaren Serumkonzentrationen steht jedoch jeweils deutlich die antimuskarinerge Wirkung im Vordergrund. Tertiäre Amine (Darifenacin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin) werden nach oraler Applikation fast vollständig vom Darm absorbiert; bei den quarternären Aminen (N-Butyl-Scopolamin, Trospium) liegt die intestinale Absorptionsrate bei nur 10–15%, wodurch die Notwendigkeit einer Dosistitrierung gegeben sein kann oder bei starrer Dosierung eine Unsicherheit des Wirkungseintrittes resultiert. Art und Verteilung von Muskarinrezeptoren und eine relative Rezeptorselektivität von Antimuskarinika bestimmen das jeweilige Wirkungs-/Nebenwirkungsprofil einer Pharmakotherapie. Im menschlichen Körper wurden bisher 5 unterschiedliche Muscarinrezeptoren (M1–M5) pharmakologisch und molekularbiologisch differenziert, deren Verteilung und Funktionen in ▶ Tab. 60.1 zusammengefasst sind. Tab. 60.1 Verteilung und Funktion der Muskarinrezeptorsubtypen im menschlichen Körper ▶ [3707].
Rezeptorsubtyp Vorkommen
Funktion
M1
Hirnrinde Hippocampus Speicheldrüse sympathische Ganglien
Gedächtnis und kognitive Funktion Speichel- und Magensäuresekretion
M2
glatte Muskulatur Stammhirn Herzmuskel
Magensphinktertonus Herzfrequenz
M3
glatte Muskulatur Speicheldrüsen Auge
Blasenkontraktion Darmperistaltik Speichel- und Tränensekretion Akkomodation des Auges
M4
basales Vorderhirn Striatum Speicheldrüsen
unbekannt
M5
Substantia nigra Auge (Ziliarmuskel)
unbekannt
Im Detrusor sind 80% M2-Rezeptoren und 20% M3-Rezeptoren, wobei allerdings nur die M3-Rezeptoren Detrusorkontraktionen unmittelbar auszulösen vermögen. M2-Rezeptoren wirken positiv modulierend durch Hemmung inhibitorischer β-adrenerger Signale, Kaliumkanalblockade und Aktivierung von unspezifischen Kationenkanälen. Von den typischen Nebenwirkungen der Antimuskarinika, die sich als systemische antimuskarinerge Effekte an M1- bis M5-Rezeptoren erklären, leiten sich die Kontraindikationen zur Antimuskarinikatherapie ab ( ▶ Tab. 60.2 ). Tab. 60.2 Nebenwirkungen und Kontraindikationen der Therapie mit Antimuskarinika. Organ
Nebenwirkungen
Kontraindikationen
Augen
Akkomodationsstörungen Mydriasis Augeninnendruckerhöhung
Engwinkelglaukom
Gastrointestinaltrakt
Mundtrockenheit Obstipation Übelkeit
gastrointestinale Obstruktion Megakolon Achalasie Colitis ulcerosa
Kardiovaskulärsystem Tachykardie
Tachyarrhythmie Herzinsuffizienz Lungenödem
ZNS
Unruhe Verwirrtheit
Zerebralsklerose Myasthenia gravis
Urogenitaltrakt
Blasenentleerungsstörungen infravesikale Obstruktion Detrusorhypokontraktilität Restharnbildung
Bei den Nebenwirkungen ist die zwar harmlose, aber in bis zu 60% auftretende Mundtrockenheit oftmals therapielimitierend, gefolgt von Obstipation, Akkomodationsstörungen und ZNS-Nebenwirkungen. Die relative Rezeptorselektivität für M3-Rezeptoren von Darifenacin und geringer auch Solifenacin ( ▶ Tab. 60.3 ), lässt sich klinisch allerdings nicht in die erwarteten günstigeren Nebenwirkungsraten übersetzen ▶ [3717]. Tab. 60.3 Relative Affinität verschiedener Antimuscarinika für M3-Rezeptoren im Vergleich zu den anderen Muscarinrezeptorsubtypen (je höher die Zahl, desto höher die Selektivität) ▶ [3747].
Substanz
M3 versus M1 M3 versus M2 M3 versus M4 M3 versus M5
Darifenacin
9,3
59,2
59,2
12,2
Oxybutynin
1,5
12,3
6,9
27,0
Tolterodin
0,6
3,6
7,3
6,3
Trospium
1,5
1,3
2,0
4,6
Propiverin
0,6
9,6
2,8
0,8
Solifenacin
2,5
12,6
–
–
Eine gleich gute Wirksamkeit bei weitgehend fehlenden Nebenwirkungen kann in der Therapie von Querschnittspatienten mit Reflexblase und Durchführung des intermittierenden Selbstkatheterismus erzielt werden, wenn anlässlich der Katheterisierung 5 mg Oxybutynin in 30 ml Aqua bidest. gelöst in die Blase instilliert werden ▶ [3793]. In der Praxis haben für die Therapie von Pollakisurie und imperativem Harndrang sowie Dranginkontinenz (overactive Bladder) die tertiären Amine Darifenacin ▶ [3745], Fesoterodine ▶ [3720], Oxybutynin ▶ [3859], Propiverin ▶ [3865], Solifenacin ▶ [3719] und Tolterodin ▶ [3768] sowie die quarternären Amine N-Butyl-Scopolamin (Buscopan) und Trospium ▶ [3842] die größte Bedeutung.
Trizyklische Antidepressiva Der Wirkmechanismus des Imipramin (Tofranil) besteht aus einer Kombination zentralnervöser, antimuskarinerger, direkt muskelrelaxierender und α-adrenerger Effekte. Die Dosierung erfolgt einschleichend, beginnend mit 25 mg/Tag und einer Steigerung um 25 mg nach jeweils 3 Tagen bis zur Gesamtdosis von 150 mg/Tag (bei älteren Patienten nur die Hälfte) oder bis zum Auftreten von Nebenwirkungen. Eine Wirkung auf den unteren Harntrakt kann nach 3–5 Tagen erwartet werden. Wegen der allerdings bereits in therapeutischer Dosierung auftretenden und zum Teil schwerwiegenden zentralnervösen und kardialen Nebenwirkungen muss die Indikation zur Verabreichung von Tofranil bei der dargestellten Symptomatik zurückhaltend gesehen werden.
β-Adrenergika β-Adrenergika besetzen statt Noradrenalin inhibitorische β-Rezeptoren im Bereich des Detrusors. Dabei wird die Kontraktilität der glatten Muskelzelle durch die Hemmung der elektromechanischen Kopplung herabgesetzt. Diese hängt von der intrazellulären Verfügbarkeit von Kalziumionen ab, deren Konzentration über Kalziumkanäle aus dem extrazellulären Milieu und über intrazelluläre Speicher geregelt wird ( ▶ Abb. 60.7). Herabsetzung der glattmuskulären Kontraktilität durch Verminderung der intrazellulär (an den kontraktilen Fibrillen Aktin und Myosin) frei verfügbaren Konzentration von Kalziumionen. Abb. 60.7 Durch Kalziumkanalblocker (Kalziumantagonisten) wird der Einstrom von extrazellulärem Kalzium durch die Kalziumkanäle der Zellmembran geblockt, β-Agonisten steigern die Synthese (Adenylatcyclase) von cAMP, das intrazelluläre Kalziumionen der Verfügbarkeit durch Abtransport in intrazelluläre Kalziumspeicher entzieht. Myotrope Spasmolytika steigern die intrazelluläre Konzentration von cAMP durch Hemmung des Abbaus (Phosphodiesterase).
Der Entzug von verfügbarem Kalzium in intrazelluläre Speicher ist abhängig von c-AMP, das durch die Adenylatcyclase aus ATP entsteht. β-Agonisten bewirken über die βRezeptoren der Zellmembran eine Aktivierung der Adenylatcyclase und so einen Entzug von Kalzium in die intrazellulären Speicher und eine Abnahme der Muskelkontraktilität. Das β2-Adrenergikum Clenbuterol liegt in seiner Wirksamkeit zwischen den myotropen Muskelrelaxanzien und Anticholinergika, ist in seiner therapeutischen Breite jedoch aufgrund kardiovaskulärer Nebenwirkungen (Tachykardie, ventrikuläre Herzrhythmusstörungen, pektanginöse Beschwerden) eingeschränkt ▶ [3744].
Praxis Für die Detrusorrelaxation haben allerdings β3-Rezeptoren die größere Bedeutung ▶ [3827]. Mit Mirabegron ist erstmals ein β3-Adrenergikum zur Therapie der überaktiven Blase zugelassen ▶ [3802]. Die Wirksamkeit von Mirabegron ist mit der des Antimuskarinikums Tolterodin vergleichbar, ohne die typischen anticholinergen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit auszulösen. Die am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen sind Bluthochdruck und Kopfschmerzen, Kontraindikation ist eine unkontrollierte Hypertonie ▶ [3721].
Antispasmodika (myotrope Spasmolytika) Die myotropen Spasmolytika vom Typ des Papaverins mindern die Kontraktilität der glatten Muskelzelle ebenfalls durch Entzug von Kalziumionen in intrazelluläre Speicher infolge erhöhter Konzentration von c-AMP. Im Falle der myotropen Spasmolytika geschieht dies durch Hemmung der Phosphodiesterase, die normalerweise c-AMP abbaut, das infolgedessen vermindert metabolisiert wird ( ▶ Abb. 60.7). Flavoxat ist in einer Dosierung von 3–4×200 mg ein nebenwirkungsarmes myotropes Spasmolytikum mit geringer antimuskarinerger und lokalanästhetischer Wirkung, das allerdings bezüglich seiner Effektivität deutlich unterhalb der Antimuskarinika anzusiedeln ist.
Kalziumantagonisten Kalziumantagonisten blockieren mit den Kalziumkanälen der Zellmembran den Einstrom von extrazellulären Kalziumionen in die Zelle und reduzieren damit die Kontraktilität glatter Muskelzellen ( ▶ Abb. 60.7). In vitro zeigen Kalziumantagonisten wie Nifedipin oder Verapamil eine Verminderung der Kontraktilität glatter Muskelzellen vornehmlich im kardiovaskulären System. Nifedipin hemmt auch die Kontraktion von cholinerg oder elektrisch stimulierten Blasenstreifen ▶ [3735], konnte in der klinischen Anwendung jedoch nicht den erwarteten Effekt erbringen.
60.2.5.3 Elektrostimulation Die elektrische Reizung von Sakralnerven oder Nerven des kleinen Beckens kann durch Aktivierung inhibitorischer Neurone des sympathischen N. hypogastricus oder durch Aktivierung des inhibitorischen Pudendus-an-Pelvicus-Reflexes die Harnblase motorisch ruhigstellen. Bei Stimulation eines gemischten Sakralnervs (S3) werden dabei die somatischen Aα- und Aβ-Neurone des N. pudendus erregt, während die vegetativen und noziozeptiven Anteile des stimulierten Spinalnervs als Aγ-, Aδ-, B- und C-Neurone nur unterschwellig gereizt werden.
Merke Resultat der Stimulation des gemischten Nervs ist die schmerzfreie Erregung afferenter und efferenter Neurone des quergestreiften Sphinktermechanismus und Beckenbodens mit resultierender Hemmung der Detrusoraktivität im Sinne einer „Neuromodulation“. Folgende Elektroden werden verwendet: Nadelelektroden (perineal, Sakralforamen), Oberflächenelektroden (vaginal, anal) oder Drahtelektroden (Sakralforamen). Eine Langzeitstimulation mit vaginalen oder analen Stöpselelektroden ist meist wegen Unannehmlichkeiten beim Tragen der Elektroden mit einer stark nachlassenden Patienten-Compliance und Abbruchraten bis hin zu 94% verbunden. Als Stimulationsmodus werden kontinuierliche sowie phasische Stimulation und einzelne Sitzungen maximaler Stimulation angewandt.
Vaginale Stimulation Bei der vaginalen Stimulation zur Ruhigstellung des Detrusors ist ein phasisches Stimulationsmuster mit einer Frequenz von 10 Hz vorteilhaft ▶ [3730]. Nach 3- bis 6monatiger Anwendung liegen die Erfolgsraten bei bis zu 90%, 6 Monate nach Beendigung der Stimulation noch bei 45%, und in 30% überdauerte der Erfolg mehrere Jahre ▶ [3732], ▶ [3835]. Mit der rektalen Elektrostimulation werden Erfolgsraten von 45% beschrieben ▶ [3729].
Sakrale Stimulation Die Sakralforamenstimulation ▶ [3833] greift am sakralen Spinalnerven an (meist S3), wobei in einer zweiphasigen perkutanen Teststimulation mit Nadel- und Drahtelektroden zunächst einmal akut (Nadelelektroden) und subchronisch (Drahtelektroden) das Ansprechen der Symptomatik und der geeignetste Sakralnerv evaluiert werden ( ▶ Abb. 60.8; ▶ [3759], ▶ [3848]).
Perkutane Teststimulation der Sakralnerven S3 und S4 beidseits zur Neuromodulation. Abb. 60.8
Bei Besserung der Symptome um mehr als 50% in der subchronischen Teststimulationsphase kann die operative Implantation eines permanenten Neurostimulators erwogen werden, wobei eine permanente Elektrode ohne Laminektomie in das Sakralforamen mit der günstigsten Testantwort in unmittelbare Nähe des Sakralnervs eingebracht wird. Die Langzeitstimulation erfolgt über einen subkutan im Bereich des Unterbauches implantierten Neurostimulator ( ▶ Abb. 60.9), der von der Patientin mittels eines Senders ein- oder abgeschaltet werden kann. Mittels Telemetrie lassen sich Stimulationsamplitude, Stimulationsfrequenz und die Pulsdauer variieren. Dabei ist die bilaterale Neuromodulation mit der Implantation von Elektroden an beide S3-Sakralnerven der unilateralen Stimulation überlegen ▶ [3724], ▶ [3761], ▶ [3772]. Implantierter Neuromodulator mit Elektroden in beiden S3-Sakralforamina zur Therapie der motorischen Urgencyinkontinenz. Abb. 60.9
Abb. 60.9a Implantierter Neuromodulator mit Elektroden in beiden S3-Sakralforamina (Ansicht a.–p.).
Abb. 60.9b Laterale Projektion des Os sacrum mit Darstellung der Elektrodenlage in S3.
Der Effekt der sakralen Neuromodulation kann dem der Pharmakotherapie deutlich überlegen sein, während gleichzeitig die Nebenwirkungen der Medikamente entfallen. Wegen der geringen Invasivität sollte dieses Verfahren bei der therapieresistenten Urgencyinkontinenz vor ablativen und ausgedehnteren rekonstruktiven chirurgischen Verfahren erwogen werden. Da es sich um eine neuronale Stimulation mit Auslösung oligosynaptischer und polysynaptischer inhibitorischer Reflexbögen handelt, müssen als Voraussetzung ein intaktes sakrales Miktionszentrum sowie ein – wenn überhaupt – nur geringer Grad der peripheren Denervierung gefordert werden.
Merke Aus diesen Gründen sind Teststimulationen zur Indikationsstellung einer Implantation permanenter Neurostimulatoren unumgänglich, um Patienten mit einem Ansprechen auf die Elektrostimulation (Responder) identifizieren zu können.
In einem Single Center Survey zur Patientenzufriedenheit nach implantiertem Neuromodulator (n=275, 83 % Frauen) lag die Zufriedenheit der Patientinnen bei 90 %, die Nebenwirkungsrate allerdings bei 56 % ▶ [3787]. Nach einem Cochrane Review steht die Effektivität der Neuromodulation außer Zweifel, allerdings bestehen offene Fragen zur Klärung bezüglich der Revisionsraten sowie einer Standardisierung von Patientenselektion und Implantationstechnik ▶ [3751]. Bei der neurogenen Reflexinkontinenz der Frau kann im Rahmen eines spinalen Eingriffs zur Denervierung der Afferenzen („Deafferenzierung“, s.u.) des unteren Harntraktes mittels selektiver Rhizotomien der dorsalen (afferenten, sensorischen) Sakralwurzeln S2– S5 eine hyperreflexive Hochdruckblase in ein areflexives Niederdruckreservoir umgewandelt werden. Die Entleerung erfolgt anschließend durch intermittierenden Katheterismus oder durch Elektrostimulation, wenn gleichzeitig Elektroden zur elektrischen Stimulation der intakt belassenen ventralen (efferenten, motorischen) Sakralwurzeln implantiert werden. Brindley platziert die Elektroden intradural ▶ [3712], ▶ [3724], bei Tanagho erfolgt die Elektrodenimplantation extradural ▶ [3846]. Die Entleerung der sensorisch paralysierten Reflexblase kann sodann mittels Kurzzeitstimulation durch den implantierten „Blasenschrittmacher“ erfolgen.
60.2.5.4 Harnblasendehnung Die hyperbare Harnblasendehnung war ursprünglich zur Therapie des Blasenkarzinoms eingeführt worden ▶ [3750] und wurde erst später zur Behandlung der Detrusorüberaktivität eingesetzt ▶ [3823]. Dabei wird die Harnblase in Epiduralanästhesie unter einem Druck, der dem systolischen Blutdruck entspricht, über 2 Stunden gedehnt. Hierzu wird ein Ballon zystoskopisch in die Blase eingebracht, der über eine hydrostatische Säule mit Kochsalz aufgefüllt wird, wobei eine Nachregulation alle 10–15 Minuten notwendig wird. Die initialen Erfolgsraten von 50–75% bei Reizblase werden durch eine mit der Überdehnung induzierte partielle Denervierung (Neuropraxie) und eine Alteration der myogenen Erregungsübertragung an den Gap Junctions erklärt. Wegen seltener Blasenrupturen und eines Langzeitbehandlungserfolges von weniger als 10% ▶ [3813] ist das Verfahren nur noch wenig verbreitet. Dennoch lässt sich klinisch nach Zystoskopie in Narkose (z.B. zur Blasenbiopsie bei interstitieller Zystitis) immer wieder eine vorübergehende Symptombesserung beobachten, die als Resultat einer Hydrodistension interpretiert werden muss. Dadurch wird unter Umständen die objektive Evaluierung therapeutischer Maßnahmen (z.B. Teststimulation) vorübergehend unmöglich gemacht.
60.2.5.5 Botulinum-A-Injektionen in den Detrusor Clostridium botulinum ist der Erreger, dessen Toxin den Botulismus (Lebensmittelvergiftung, lat. botulus=Wurst) verursacht. Botulinumtoxin ist ein Neurotoxin, das nach Injektion in einen Muskel eine Hemmung der Acetylcholinfreisetzung sowie eine irreversibele Schädigung von präsynaptischen cholinergen Nervenendigungen sowohl bei somatischen als auch bei autonomen Nerven bewirkt, wobei der Effekt allerdings nach etwa 6–9 Monaten durch Reinnervation infolge Neueinsprossung von Nervenendigungen klinisch reversibel ist. Die resultierende Muskelparalyse wird z.B. in der plastischen Chirurgie an der Gesichtsmuskulatur zur Behandlung von Gesichtsfalten genutzt. Erste Anwendungen in der Urologie seit 1988 bezogen sich auf Injektionen in den externen Harnröhrensphinkter zur Therapie der Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Schurch et al. ▶ [3837] beschrieben Injektionen von Botulinumtoxin in den Detrusor zur Therapie der neurogenen Detrusorüberaktivität und zeigten später gute 6-Monats-Ergebnisse in einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie ▶ [3837].
Praxis Die beschriebene Injektionstechnik umfasst 30 Injektionen à 10 Units in den Detrusor unter Aussparung des Trigonums zur Vermeidung des Auftretens eines vesikoureteralen Refluxes. Bei Patienten mit neurogener Detrusorüberaktivität ist allerdings insbesondere dann über das Risiko von Harnverhalt bzw. signifikanten Restharnmengen nach Botulinumtoxin-AInjektion mit anschließender Blasenentleerung durch intermittierenden Selbstkatheterismus aufzuklären, wenn vorher die Spontanmiktion noch möglich war, was bei multipler Sklerose und Morbus Parkinson und weniger häufig bei Querschnittslähmung der Fall ist. Bei nicht neurogener, idiopathischer Detrusorüberaktivität ist die Wirksamkeit ebenso durch randomisierte Studien belegt ▶ [3713], ▶ [3828]. Die Ansprechraten liegen zwischen 60 und 86% ▶ [3713], ▶ [3831]. Retention und Notwendigkeit des intermittierenden Selbstkatheterismus trat bei einem Fünftel bis einem Drittel der Patienten auf ▶ [3781], ▶ [3821].
Merke Nach einem Cochrane Review ist die Effektivität bezüglich der Parameter Inkontinenzepisoden, Blasenkapazität, maximaler Detrusordruck und Lebensqualität belegt, wobei höhere Dosen (300 U) bessere Resultate als niedrige Dosen (100–150 U) erzielen ▶ [3727]. In einem systematischen Review werden Onabotulinumtoxin A (Botox) und Abobotulinumtoxin A (Dysport) verglichen und bewertet ▶ [3794]. Demnach existiert für Dysport hochrangige Evidenz nur für die neurogene Detrusorüberaktivität bei Erwachsenen, während für Botox solche Evidenz für neurogene Detrusorüberaktivität bei Erwachsenen und Kindern vorliegt, weiterhin für idiopathische Detrusorüberaktivität, Blasenauslassobstruktion, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie und interstitielle Zystitis/Painful-Bladder-Syndrom ▶ [3794]. Derzeit fehlen allerdings für die Botulinumtoxin-A-Injektionen in den Detrusor noch eine Standardisierung von Dosis (100–300 U Botox in den meisten Studien, Dyspor etwa 3-fache Dosis), Zahl der Injektionen (10–30) und Lokalisation der Injektionen (Detrusor, Blasenbasis, suburothelial).
60.2.5.6 Sakralblockade Bei der Sakralblockade handelt es sich um perkutane, selektive Nervenblockaden der Sakralwurzeln, die u.a. die motorische Harnblaseninnervation führen (S2–S4, vornehmlich S3) und die in oben angegebener Technik auch elektrisch stimuliert werden können. In der Regel wird die bilaterale Blockade von S3 angestrebt, wobei die Lokalisation der Injektionsnadel im Sakralforamen entweder radiologisch oder aufgrund der Stimulationsantwort einer Elektrostimulation erfolgt. Durch Injektion von 2–10 ml eines Lokalanästhetikums unmittelbar perineural (0,5% Carbostesin oder 0,5% Bupivacain) wird eine temporäre Leitungsblockade erzielt, wobei nach Inaktivierung des Pharmakons der Effekt im Prinzip reversibel ist. Solche Injektionen sind beliebig oft wiederholbar, eine definitive Neurolyse erzielt man durch Injektion von 6%igem Phenol. Die Kurzzeiterfolge liegen zwischen 70 und 100%, in der Regel treten jedoch die Symptome nach 4–7 Wochen erneut auf, sodass die Langzeitergebnisse schlecht sind ▶ [3800]. Als Erklärung wird die Beobachtung angeführt, dass auch nach chirurgischer
Denervierung infolge von Reinnervation und Ausbildung alternativer Reflexbögen über andere Sakralsegmente Dauerheilungen nicht die Regel sind ▶ [3861]. Allerdings werden auch exzellente Langzeiterfolge der bilateralen S3-Blockade bei Patienten mit idiopathischer Detrusorhyperaktivität berichtet ▶ [3703]. Nach mehrfachen erfolglosen Sakralblockaden ist der oben beschriebene Therapieansatz der Sakralforamenstimulation meist nicht mehr möglich.
60.2.5.7 Operative Harnblasendenervierung Bei den schwersten therapieresistenten Formen der Harnblasenhypersensitivität, der motorischen Dranginkontinenz und der neurogenen Reflexinkontinenz kann nach Versagen der o.g. Therapiemaßnahmen die operative Harnblasendenervierung erwogen werden. Prinzipiell können Neurotomien peripher (transvesikal, transvaginal, präsakral, parasakral) oder zentral (extradural, intradural) durchgeführt werden. Aufgrund des Erfolges der Neurolyse mittels endoskopischer Botoxinjektionen in den Detrusor und der unbefriedigenden Langzeitergebnisse der peripheren Denervierungsoperationen sind letztere weitgehend verlassen worden. Lediglich bei neurogener Detrusorüberaktivität infolge von suprasakralen Rückenmarkläsionen, z.B. bei traumatischer Querschnittslähmung besteht weiterhin eine Indikation zu Denervierungsoperationen, hier allerdings intraspinal zur selektiven Durchtrennung der afferenten dorsalen Sakralwurzeln (Deafferenzierung). Hierzu erfolgen nach lumbaler dorsaler Laminektomie selektive dorsale Rhizotomien entweder extradural (S3, S4) ▶ [3854], ▶ [3846] oder intradural (S3–S5) ▶ [3830], ▶ [3757]. Durch diese Deafferenzierung wird bei neurogener Reflexblase in bis zu 93% eine vollständige Detrusorareflexie erreicht, die Blasenentleerung erfolgt anschließend durch intermittierenden Katheterismus oder durch Elektrostimulation mittels eines „Blasenschrittmachers“, wenn bei der Laminektomie zur Durchführung der dorsalen Rhizotomien gleichzeitig ein Elektrostimulator an die korrespondierenden efferenten sakralen Vorderwurzeln implantiert wird.
60.2.5.8 Harnblasenaugmentation/-substitution Bei einer kleinkapazitären und/oder hyperreflexiven Hochdruckblase kann die „Autoaugmentation“ mittels partieller Exzision der Detrusormuskulatur unter Intaktbelassung der Blasenschleimhaut (Detrusorektomie) ein iatrogenes Blasendivertikel erzeugen, das gleichzeitig der Kapazitätserweiterung und Drucksenkung dienen soll ▶ [3843]. Im Vergleich mit der Ileumaugmentation der Blase ist zwar die Kapazitätserweiterung durch Autoaugmentation ausreichend, nicht jedoch die Drucksenkung und Verbesserung der Compliance ▶ [3742]. Enterozystoplastiken werden zur Kapazitätserweiterung der Low-Compliance-Blase durchgeführt sowie zur zusätzlichen Drucksenkung und Dämpfung ungehemmter Detrusorkontraktionen bei neurogener Detrusorhyperreflexie und Reflexinkontinenz. Entscheidend ist die Verwendung detubularisierter Darmsegmente zur Blasenaugmentation ▶ [3743], wobei besonders bei der hyperreflexiven Blase und der hypersensitiven Blase (interstitielle Zystitis) eine subtrigonale Zystektomie mit Blasensubstitution und Reimplantation der Ureteren in die detubularisierte Enterozystoplastik (Pouch) erforderlich ist, um Kontraktionen hyperreflexiver Detrusoranteile oder Sensationen eines hypersensitiven Trigonums auszuschalten ▶ [3856]. Bei fälschlichem Belassen großer Blasenwandreste, z.B. bei interstitieller Zystitis, kann die mittels Enterozystoplastik neu geschaffene Blasenkapazität nicht genutzt werden ▶ [3801].
Praxis Im Prinzip können für eine Enterozystoplastik detubularisiertes Ileum, Zökum, Sigma oder Kombinationen dieser Darmsegmente verwandt werden. Bei der Blasensubstitution durch einen Mainz-Pouch werden 10–15 cm detubularisiertes Zökum und Colon ascendens und zwei ebenso lange Ileumsegmente zur Bildung eines sphärischen Reservoirs herangezogen ( ▶ Abb. 60.10). Die Ureterimplantation erfolgt in das terminale Ileum, sodass die Ileozökalklappe als Refluxschutz wirken kann ▶ [3728], ▶ [3849]. Mainz-Pouch-Blasensubstitution. Abb. 60.10
Abb. 60.10a Verwendung von 10–12 cm Zökum und Colon ascendens sowie 2 ebenso langen Segmenten des terminalen ileums.
Abb. 60.10b Antimesenteriale Eröffnung der Darmsegmente (punktierte Linie) und Translokation des proximalen Ileumsegments an Zökum und Colon ascendens.
Abb. 60.10c Nach Seit-zu-Seit-Anastomose der eröffneten Darmsegmente mittels fortlaufender Allschichtnähte 180°Drehung/Kippung des Pouches entgegen dem Uhrzeigersinn. Das terminale Ileum kommt anschließend hinter dem Mesenterium und kranial zu liegen.
Abb. 60.10d Ureterimplantation in das terminale Ileum. Die Ileozökalklappe dient als Refluxschutz. Anastomose des Pouches mit der Urethra oder dem Blasenhals nach subtotaler Zystektomie.
Abb. 60.10e Komplettierte Mainz-Pouch-Blasensubstitution mit transmuraler Ausleitung von Harnleiterschienen und Zystostomie.
Bei Blasenaugmentation bzw. -substitution bei neurogener Detrusorhyperreflexie muss normalerweise anschließend die Blasenentleerung durch intermittierenden Selbstkatheterismus erfolgen; lediglich bei den seltenen nichtneurogenen Indikationen (Radiozystitis, Tbc-Schrumpfblase, interstitielle Zystitis) ist in der Mehrzahl der Fälle die Entleerung der Ersatzblase mittels Bauchpresse oder Credé bei willkürlicher Beckenbodenrelaxation möglich. Die Inzidenz eines Sekundärkarzinoms in der Enterozystoplastik kann derzeit nur aufgrund der Beschreibung von Einzelfällen kalkuliert werden, die nach einer durchschnittlichen Latenz von 15 Jahren auftraten ▶ [3708]. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit jährlicher zystoskopischer Nachkontrollen von Enterozystoplastiken vor allem bei Patienten in jüngerem und mittlerem Lebensalter und bei benigner Grunderkrankung.
60.2.5.9 Supravesikale Harnableitung
Der therapeutisch nicht beherrschbare überaktive Detrusor (idiopathisch oder neurogen) mit Drang- oder Reflexinkontinenz, möglicherweise in Kombination mit einem insuffizienten oder defekten urethralen Verschlussmechanismus, stellt gerade bei der Frau eine der seltenen Indikationen zur supravesikalen Harnableitung auch bei benigner Grunderkrankung dar. Dabei werden die Komplikationen der Harninkontinenz wie Juckreiz, Hautekzeme, Intertrigo und Dekubitalulkus indikationsbestimmend, da für die Frau im Gegensatz zum Mann keine suffizienten externen Harnableitungsvorrichtungen (z.B. Kondomurinale) existieren. Prinzipiell kommen inkontinente Harnableitungen (Colonconduit, Ileumconduit) und kontinente Harnableitungen (Pouch mit kontinentem Stoma, Ureterosigmoidostomie, Sigma-Rektum-Pouch) in Betracht. Bei neurogenen Blasen- und Sphinkterdysfunktionen ist jedoch der anale Sphinktermechanismus häufig mitbetroffen, sodass aufgrund des Analdruckprofils Harnumleitungsverfahren, bei denen die Kontinenz auf der Kompetenz des Analsphinkters beruht (Sigma-Rektum-Pouch, Ureterosigmoidostomie), in der Regel ausscheiden. Das inkontinente abdominale Stoma mit externer Beutelversorgung findet aufgrund des Bodyimaging nur noch geringe Akzeptanz, kann jedoch beim Tetraplegiker, der den intermittierenden Katheterismus aufgrund der Bewegungseinschränkung der oberen Extremität nicht als Selbstkatheterismus durchführen kann, durchaus von Vorteil sein.
Merke In der Regel kommt die kontinente Harnableitung (z.B. Indiana-Pouch, Mainz-Pouch; s.u.: ▶ Abb. 60.42) mit unsichtbarem Nabelstoma zur Anwendung, die hervorragende kosmetische und funktionelle Resultate bietet ▶ [3858], ▶ [3824].
60.2.6 Meatusstenose und distale Urethrastenose Stenosen der Harnröhre oder des Meatus externus können zu Reizblasensymptomen führen. Bei der atrophischen Vaginitis/Urethritis und Leukoplakie des Introitus (Kraurosis vulvae) findet sich die Stenose im Bereich des Meatus externus. Angeborene Engen liegen wenige Millimeter proximal des Meatus externus als fibröser Ring aus kollagenem Gewebe ▶ [3789], der ein Residuum der embryonalen Kloakenmembram darstellt. Eine echte infravesikale Obstruktion, die sich urodynamisch durch Druck-Fluss-Messung verifizieren lässt, findet sich bei der Frau zu 90% im Bereich der distalen Urethra. Die irritativen Symptome entstehen entweder durch einen sekundär überaktiven Detrusor oder durch eine aszendierende bakterielle Zystitis infolge von urethrovesikalem Reflux mit Einschwemmung von Bakterien aus dem äußeren Harnröhrenbereich in die Blase bei erhöhter Harnflussgeschwindigkeit im Bereich der Enge mit Auslösung eines turbulenten Flusses ▶ [3754], ▶ [3723].
Praxis Praktischer Hinweis Bei der Kalibrierung mit dem Bougie à boule liegt die normale Harnröhrenweite bei 22 Charr (18–28 Charr; ▶ [3863], bei Mädchen unter 10 Jahren gilt für die Harnröhrenweite in Charriere die Faustregel: Alter plus 10. Die Behandlung erfolgt durch Meatusplastik mit der Durchtrennung des fibrösen Ringes bei 6 Uhr und Readaption der Wundränder.
Wenn auch die Meatotomie bei relativen Meatusengen bei unsicheren Definitionen von Normweiten und fehlendem Nachweis der pathophysiologischen Wirksamkeit solch relativer Engen umstritten ist, so bietet doch die fachgerecht durchgeführte Meatotomie ausschließlich Vorteile bei einer zu vernachlässigenden Komplikationsrate. Die blinde interne Urethrotomie nach Otis, bei der die Harnröhre longitudinal in der ganzen Länge bei 12 Uhr 2 mm tief inzidiert und gleichzeitig auf 30–45 Charr gedehnt wird ▶ [3798], ist bei der Meatusstenose und distalen Urethrastenose nicht indiziert und sollte aufgrund des Risikos der iatrogenen Inkontinenz ▶ [3773] nur noch in dem seltenen Fall einer Stenose der mittleren Harnröhre der Frau durchgeführt werden.
60.2.7 Urethralkarunkel, Polypen und Prolaps Urethralkarunkel, Polypen und der Urethralprolaps präsentieren sich mit einem ähnlichen Beschwerdebild mit Reizblasensymptomen sowie Blutung und sind bei der Inspektion des Meatus externus, insbesondere wenn es durch Entzündung oder hämorrhagische Infarzierung zur ausgeprägten Schwellung gekommen ist, bisweilen nur schwer zu differenzieren. ▶ Urethralkarunkel. Beim Urethralkarunkel handelt es sich um eine lokalisierte Epithelhyperplasie der Urethralschleimhaut auf dem Boden einer chronischen Entzündung der Skene-Drüsen. Hierbei kommt es zu einer Formation des gestielten Schleimhauttumors, der aus dem Meatus externus prolabiert ( ▶ Abb. 60.11). Die Therapie erfolgt durch Exzision und eventuell durch Punktkoagulation oder Schleimhautnaht. Urethralkarunkel. Abb. 60.11
▶ Urethralpolyp. Beim Urethralpolypen handelt es sich um einen gutartigen Schleimhauttumor, der meist im dorsalen Blasenhalsbereich gestielt ist und bis vor den Meatus externus prolabieren kann. Die Abtragung erfolgt endoskopisch durch Elektroresektion bzw. Elektrokoagulation.
▶ Urethralprolaps. Ursache des Urethralprolaps ist eine verminderte Elastizität des Bindegewebes der Lamina propria in der hormonalen Ruhephase, häufig in Verbindung mit einer Blasenentleerungsstörung und Einsatz der Bauchpresse zur Miktion. Dabei kommt es zur zirkulären Protrusion des Urethralepithels durch den Meatus externus mit anschließender venöser Stase und gegebenenfalls hämorrhagischer Infarzierung. Da die muskuläre Urethralwandung von der Protrusion nicht betroffen ist, kann die Behandlung durch zirkuläre Resektion der prolabierten und hämorrhagisch infarzierten Schleimhaut erfolgen, mit anschließenden Adaptionsnähten der Wundränder.
60.2.8 Urethradivertikel Harnröhrendivertikel breiten sich im Septum urethrovaginale aus, wobei die Verbindung mit der Urethra (Divertikelhals) häufiger in der distalen als in der proximalen Urethra liegt und häufiger dorsal als lateral zu finden ist.
60.2.8.1 Ätiologie Urethradivertikel entstehen aus dilatierten paraurethralen Drüsen, wobei es strittig ist, ob die sackartige Erweiterung einer Skene-Drüse präformiert (angeboren) ist oder durch Verlegung des Ausführungsgangs erworben wird. Weniger wahrscheinlich ist die Theorie der geburtstraumatischen Entstehung.
60.2.8.2 Symptomatik Die Symptomatik ist sehr variabel und hängt im Wesentlichen von der Breite der Verbindung zur Harnröhre und dem Eintreten von Sekundärpathologien (z.B. Abszessbildung, Steinformation, Divertikelkarzinom) ab. Das Urethradivertikel kann asymptomatisch bleiben oder die irritativen Symptome einer „Reizblase“ oder eines „Urethralsyndroms“ verursachen. Divertikel mit einem breiten Divertikelhals können sich während der Miktion auffüllen und dabei die Urethra komprimieren, wodurch einerseits eine obstruktive Symptomatik und andererseits ein Nachträufeln durch Entleerung nach Miktion im Sinne einer Pseudoinkontinenz resultieren kann. Divertikel dieser Art füllen sich im Miktionszysturethrogramm mit Kontrastmittel und sind dadurch diagnostizierbar.
60.2.8.3 Diagnostik Divertikel mit einem engen Divertikelhals oder einer entzündlichen Verlegung des Divertikelhalses können als tastbare Vorwölbung der vorderen Scheidenwand palpiert werden, die bei Abszessbildung hoch schmerzhaft ist. Die röntgenologische Darstellung gelingt dann häufig nicht im Miktionszysturethrogramm, sondern erfordert die Doppelballonurethrografie ( ▶ Abb. 60.12). Urethradivertikel. Abb. 60.12
Abb. 60.12a Radiologische Darstellung durch Urethrografie mittels Doppelballonkatheter.
Abb. 60.12b Schematische Darstellung.
Vorsicht Sekundär können sich im obstruierten Divertikel Steine und selten Tumoren bilden, bei denen es sich in 46% um Adenokarzinome, in 38% um Übergangszellkarzinome und in 12% um Plattenepithelkarzinome handelt ▶ [3731].
60.2.8.4 Therapie Die operative Therapie kann endoskopisch im Sinne eines „Unroofing“ mit Inzision des Divertikelhalses und breiter Vereinigung des Divertikels mit der Harnröhre oder aber durch offene Operation vorgenommen werden. Nach unserer Erfahrung mit 64 Harnröhrendivertikeln ▶ [3709] beseitigt die offene Operation die Symptomatik zuverlässiger. Dabei ist die Wahl der Operationstechnik von der Lage des Divertikelhalses in Relation zum urethralen Sphinktermechanismus abhängig. Bei Lage des Divertikeleingangs im distalen Drittel der Harnröhre kann eine einfache Inzision des Harnröhrenbodens und des Divertikels bis zum Divertikelhals mit anschließender Vereinigung der Schnittränder mit der vorderen Vaginalwand im Sinne einer Marsupialisation des Divertikels erfolgen ▶ [3840], ohne dass die Gefahr einer Inkontinenz besteht ( ▶ Abb. 60.13). Bei Divertikeleingängen in den proximalen zwei Dritteln der Harnröhre empfiehlt sich die vaginale Divertikelexzision. Operationstechnik beim Urethradivertikel nach Spence. Abb. 60.13
Abb. 60.13a Inzision des Harnröhrenbodens und Divertikels bis in den Divertikelhals.
Abb. 60.13b Marsupialisation des Urethradivertikels in die vordere Vaginalwand.
60.2.9 Interstitielle Zystitis 60.2.9.1 Inzidenz und Ätiologie Die Prävalenz der Erkrankung, die zu 90% Frauen betrifft, liegt bei 18:100000 Frauen, die jährliche Inzidenz bei 1,2:100000 ▶ [3807]. Bezüglich der Ätiologie und Pathogenese bestehen zahlreiche Theorien wie nichtbakterielle Infektion, toxische Harnsubstanzen, genetische oder endokrinologische Defekte, lymphatische oder venöse Abflussstörungen, neurogene Ursachen, allergische oder Autoimmunprozesse und letztlich ein defekter Mechanismus der Urothelprotektion ▶ [3763]. Für die urintoxische Genese sprechen Untersuchungen, bei denen Hauttests mit Fremdurin und eigenem Urin durchgeführt wurden ▶ [3722], und die Tatsache, dass in den meisten Fällen nach Harnableitung eine belassene Blase symptomfrei wird. Eine eventuelle Virusgenese (Epstein-Barr-Virus) konnte in einer Serie nachgewiesen werden ▶ [3741], eine neurogene Entzündungsgenese mit Nachweis einer Vermehrung sympathischer Neurone sowie vermehrtem vasoaktivem intestinalen Polypeptid (VIP) und Neuropeptid Y in einer weiteren Serie ▶ [3758]. Bemerkenswert ist dabei, dass die
dargestellten Charakteristika der neurogenen Entzündung sich auch bei anderen sog. Autoimmunerkrankungen finden, wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn und rheumatoide Arthritis. Die Theorie einer erhöhten Permeabilität des Urothels für Urin und toxische Substanzen aufgrund einer defekten urothelialen Schutzschicht mit Glycosaminoglycanen (GAG; ▶ [3809]) hat sich weder elektronenoptisch noch durch entsprechende Therapieversuche mit Glycosaminoglycananaloga wie Heparin und Pentosanpolysulfat bestätigt. Zur Theorie einer möglichen psychovegetativen oder psychosomatischen Genese konnte gezeigt werden, dass zwar 75% der Patientinnen mit interstitieller Zystitis psychische Anomalien aufwiesen, die aber den Befunden von Patienten mit chronischen organischen Schmerzen bei Krebserkrankungen entsprachen und entsprechend eher als Folge denn als Ursache der Erkrankung gedeutet wurden ▶ [3762].
60.2.9.2 Symptomatik Bei der interstitiellen Zystitis stehen neben den irritativen Reizsymptomen (Pollakisurie, imperativer Harndrang, Nykturie, Dysurie) Schmerzen im Vordergrund der Beschwerden, die sich nach Entleerung der Blase bessern. Meist werden die Schmerzen suprapubisch lokalisiert, doch sind auch pelvine, urethrale, vaginale oder perineale Schmerzprojektionen möglich.
Merke Das Besondere an der Erkrankung ist, dass einerseits die chronische Symptomatik dazu führt, dass die Lebensqualität von Frauen mit interstitieller Zystitis deutlich unter der von Frauen mit terminaler Niereninsuffizienz liegt ▶ [3740] und andererseits klinisch und histologisch kaum harte Befunde zur Erklärung dieser Symptomatik gefunden werden.
60.2.9.3 Diagnostik Vorsicht Eine präzise Definition der für die Diagnose erforderlichen Befunde existiert nicht. Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung sind unklar. Die Erkrankung wurde zuerst von Hunner ▶ [3764] beschrieben, das nach ihm bezeichnete Ulkus der Blasenschleimhaut gilt als pathognomonisch für das Endstadium der interstitiellen Zystitis, ist aber für die Diagnose des Frühstadiums nicht zu fordern. Typische Befunde sind petechiale Schleimhautblutungen nach zystoskopischer Auffüllung der Blase (Glomerulationen) und in der Blasenwandbiopsie entzündliche lymphozytäre und leukozytäre Infiltrate mit Eosinophilen, Plasmazellen und Mastzellen. Ein Gehalt von mehr als 28 Mastzellen/mm2 Detrusor wird als pathognomonisch angesehen ▶ [3769], während Mastzellen in der Lamina propria des Urothels allein für die Diagnose nicht ausreichend sind. In der Blasenwandung findet sich eine vermehrte Kollagendeposition zwischen den Muskelbündeln (interfaszikulär) und als Besonderheit auch innerhalb der Muskelbündel (intrafaszikulär; ▶ [3785]). Zystomanometrisch ist entweder eine sensorische Urgency (hypersensitive Blase) oder eine erniedrigte Compliance (hyperbarer Detrusor) nachzuweisen, wobei in der Regel unter Narkose die anatomische Blasenkapazität normal ist.
Merke
Der Nachweis einer motorischen Urgency (überaktiver Detrusor) schließt die Diagnose „interstitielle Zystitis“ aus. Wegen der Schwierigkeit einer exakten Definition der Erkrankung und der Möglichkeit einer Subsumierung verschiedener Krankheitsbilder unter der Diagnose „interstitielle Zystitis“ wurden 1987 in einer Konsensuskonferenz des „National Institute of Health“ Einund Ausschlusskriterien für die Verwendung der Diagnose interstitielle Zystitis im Rahmen von multinationalen Studien erstellt (s. Übersicht) ▶ [3740].
Praxis Diagnosekriterien der interstitiellen Zystitis (NIH-Konsensus-Konferenz) Automatischer Diagnoseausschluss 90% mit einer venösen bzw. kavernösen Insuffizienz. Im Gegensatz dazu schließt ein positives Testergebnis eine relevante venöse bzw. kavernöse Insuffizienz weitestgehend aus. Nimmt die Erektion langsam zu und bildet sich eine vollständige Erektion verzögert aus, liegt meist eine hämodynamisch relevante arterielle Perfusionsstörung vor. Dies kann durch die Duplexsonografie der penilen Gefäße objektiviert werden. Zeigt die SKAT-Testung bei niedriger Dosierung eine schnell eintretende und langanhaltende Erektion, ist eine arterielle Perfusionsstörung oder eine venöse/kavernöse Insuffizienz und damit eine vaskuläre Genese der ED mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.
Am häufigsten wird aktuell das Prostanoid Prostaglandin E1 (PGE1) als vasoaktive Substanz in der Routinediagnostik eingesetzt. Durch PGE1 wird eine Relaxation der Cc. cavernosa durch eine Erhöhung des intrazellulären cAMP über spezifische PGE1-Rezeptoren ausgelöst. In vitro führt PGE1 zusätzlich zu einer Inhibition der Noradrenalinfreisetzung aus sympathischen Nervenendigungen und damit zu einer Modulation des endogenen sympathischen Tonus. In vivo verursacht PGE1 eine Vasodilatation. Die Substanz wird schnell metabolisiert, der Abbau erfolgt hauptsächlich pulmonal. Prinzipiell ist eine SKAT-Testung auch mit anderen vasoaktiven Substanzen möglich, z.B. Papaverin als Monotherapeutikum, Papaverin in Kombination mit Phentolamin, oder als Kombinationspräparat von PGE1, Papaverin und Phentolamin (Triple-Drug-Lösung). Als Monotherapie ist PGE1 aber die potenteste Substanz. Zu beachten ist außerdem, dass prolongierte Erektionen und Priapismen unter Papaverin und der Kombination aus Papaverin und Phentolamin häufiger beobachtet werden als unter PGE1.
Praxis Da die Wirksamkeit und die Wirkdauer der vasoaktiven Substanzen individuell sehr variieren können, sollte im Rahmen der primären Testung die Injektion einer niedrigen Dosis erfolgen. Die Dosierungen von PGE1 betragen 5, 10 und 20 µg. Eine Dosissteigerung auf 40 µg führt maximal bei einem Fünftel der Patienten zu einer Wirkungssteigerung. Zwischen zwei Injektionen sollte ein zeitlicher Abstand von 24 Stunden eingehalten werden.
Kontraindikationen Dekompensierte und schwere kardiovaskuläre Insuffizienz oder eine instabile Angina pectoris stellen Kontraindikationen einer SKAT-Testung mit PGE1 dar. Eine relevante Leberfunktionsstörung, ein Glaukom und eine Prostatahyperplasie mit ausgeprägten Restharnmengen stellen darüber hinaus Kontraindikationen für eine SKATTestung mit Papaverin dar.
Nebenwirkungen und Komplikationen Zu den unerwünschten Nebenwirkungen der vasoaktiven Substanzen zählen bei 10–80% der Patienten Schmerzen und Spannungsgefühl, die meist von kurzer Dauer sind. Auch geringgradige Hämatome können auftreten; in der Regel ist hierbei jedoch keine spezifische Therapie notwendig. Cavernitiden treten sehr selten auf, sind aber bei möglichen septischen Verläufen sehr gefürchtet.
Vorsicht Zu den charakteristischen Komplikationen der SKAT-Testung werden prolongierte Erektionen (3–6 Stunden) und Priapismen (>6 Stunden) gezählt, wobei die Übergänge hier fließend sind. Bei einer prolongierten Erektion sind je nach verwendeter Substanz bis auf konservative Maßnahmen wie Treppensteigen, Duschen oder Geschlechtsverkehr evtl. keine weiteren therapeutischen Maßnahmen notwendig. Bei einem Priapismus können durch metabolische Veränderungen und Azidose Schäden der glatten Schwellkörpermuskulatur bis hin zu ihrer kompletten Zerstörung mit konsekutiver Fibrosierung resultieren. Deshalb ist eine Schwellkörperpunktion mit Ablassen von Staseblut notwendig, ggf. ist zudem die intrakavernöse
Injektion von α-sympathomimetischen Substanzen erforderlich (z.B. Effortil 10–30 mg). Dies sollte bei möglichen systemischen Begleiteffekten (z.B. hypertensive Krise) unter Kontrolle der Vitalparameter erfolgen.
Praxis Bei Blutdruckanstiegen sind Nitro-Präparate effektiv.
61.1.5.4 Bildgebende Diagnostik Duplexsonografie Im flacciden Zustand ist die A. profunda penis aufgrund ihres kleinen Kalibers von ca. 0,5 mm auch mit hochauflösenden Schallköpfen von 8–10 MHz sehr schwer darstellbar. Daher findet die Duplexsonografie in Kombination mit der intrakavernösen Injektion von vasoaktiven Substanzen im Rahmen einer SKAT-Testung statt. Dabei werden penile Gefäße mit einer Kombination aus Ultraschallschnittbild (B-Bild) und Continuous-Wave-Doppler (cw-Doppler) untersucht. Dabei kann der Messpunkt des gepulsten Dopplers exakt im Lumen des untersuchten Gefäßes positioniert werden, sodass eine detaillierte Pulskurvenaufzeichnung und Perfusionsmessung durchgeführt werden kann ( ▶ Abb. 61.2). Duplexsonografie der A. profunda penis nach intrakavernöser Injektion von 10 μg PGE1. Abb. 61.2 Der Messpunkt der Dopplersonde ist im Lumen der A. profunda penis positioniert (oberer Bildanteil). Simultan erfolgt die Darstellung der Pulskurve (unterer Bildanteil). Dabei ist ein erhöhter enddiastolischer Flow erkennbar, was auf eine venookklusive Insuffizienz hinweist (gelbes Kreuz, unterer Bildanteil). Der maximale systolische Flow beträgt 26,5 cm/s, was einer reduzierten arteriellen Perfusion der Cc. cavernosa entspricht. Der Resistance Index (RI) berechnet sich aus der Differenz des maximalen systolischen und diastolischen Flows, die wiederum durch den maximalen systolischen Flow dividiert wird.
Nach SKAT-Testung gilt ein Gefäßdurchmesser der A. profunda penis von 1 mm und eine Dilatation um mehr als 75% gegenüber dem Ausgangsbefund als Normalwert. Maximale systolische Flussgeschwindigkeiten von >30 cm/s und enddiastolische Flussgeschwindigkeiten von 65 Jahre), je länger die Wartezeit auf eine NTX ist und je mehr Komorbiditäten (Diabetes mellitus, Hypertension, vaskuläre Nephropathie) bestehen, umso höher ist das Risiko, auf der Warteliste zu versterben ▶ [4213].
63.2 Terminales Nierenversagen 63.2.1 Inzidenz und Ätiologie Die Inzidenz des terminalen Nierenversagens in Deutschland liegt bei ca. 175/1 Mio. Einwohner im Jahr und steigt mit dem Lebensalter. Zudem nimmt jährlich die Anzahl der von einer terminalen Niereninsuffizienz Betroffenen um 3–5% zu ▶ [4221].
Dabei unterscheiden sich die Ursachen des terminalen Nierenversagens im Erwachsenenalter von denen bei Kindern ▶ [4268]. ▶ Erwachsene. Bei den Erwachsenen steht der Diabetes mellitus (Typ 1 und 2) mit ca. 40% im Vordergrund, gefolgt von vaskulärer Nephropathie aufgrund eines arteriellen Hypertonus (ca. 20%) sowie Glomerulonephritiden (ca. 15%) und interstitieller Nephritis (ca. 10%). Die autosomal-dominant vererbte polyzystische Nierendegeneration (ADPKD) ist in 10% verantwortlich für eine terminale Niereninsuffizienz (TNI). ▶ Kinder. Im Gegensatz dazu sind bei Kindern kongenitale Anomalien häufigste Ursache der TNI. Dies kann eine Nierenagenesie oder Dysplasie ebenso sein wie obstruktive Uropathien (Harnröhrenklappen) oder eine Refluxnephropathie. Auch eine dysfunktionelle Blasenentleerung mit konsekutivem Reflux kann Ursache einer terminalen Niereninsuffizienz sein. Glomeruläre Erkrankungen sind mit ca. 25% Ursache einer terminalen Niereninsuffizienz im Kindesalter, zur Hälfte tritt dabei die FSGS (fokal segmentale Glomerulosklerose) als Grunderkrankung auf. Lupusnephritis und das hämolytisch urämische Syndrom (HUS) sind ebenfalls Ursachen des terminalen Nierenversagens bei Kindern ▶ [4221], ▶ [4223], ▶ [4231], ▶ [4268].
63.2.2 Klinik, Symptomatik Die klinischen Symptome der Niereninsuffizienz sind vielfältig. Dies ergibt sich aus den multiplen physiologischen Aufgaben der Niere. Hierzu zählen neben der Regulation des Flüssigkeitshaushalts u.a. die Regulation des Blutdrucks, der Blutbildung (Erythropoetin), der Knochendichte (Kalzium und Vitamin D-Haushalt), das Ausscheiden von Stoffwechselendprodukten (u.a. Kreatinin, Harnstoff), der Einfluss auf die Herztätigkeit (u.a. über den Kaliumhaushalt) und die Regulation des Säure-Basen-Haushaltes. Bei chronischer Niereninsuffizienz treten eine allgemeine Schwäche und Leistungsminderung sowie ein Gewichtsverlust
auf, es kommt zu Pruritus und grau-gelblicher Hautverfärbung. Veränderungen wie Apathie, Verwirrtheit, Krämpfe, Konzentrationsschwäche sind ebenso Folge einer Niereninsuffizienz wie pulmonale Affektion (Pleuritis, Lungenödem, Pneumonie), kardiale Morbidität (Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, Perikarditis), sowie gastroenterologische Affektionen (Appetitlosigkeit, Erbrechen, Übelkeit, Gastritis, Ulzera, Stomatitis). Die Blutbildung ist beeinträchtigt, Anämie, Thrombopenie und Thrombopathie, Hämorrhagien und Immundefizienz sind die Folge. Weiterhin bringt die fortschreitende Niereninsuffizienz vermehrte Wassereinlagerungen im Gewebe (Ödeme) mit sich. Im Kindesalter kommt zudem noch eine Wachstumsretardierung mit entsprechendem Minderwuchs hinzu ▶ [4227], ▶ [4231]. Die chronische Niereninsuffizienz wird in 5 verschiedene Schweregrade und Stadien eingeteilt, die sich an der glomerulären Filtrationsrate (GFR) orientieren ( ▶ Tab. 63.1 ). Das Stadium 5 kennzeichnet den vollständigen Funktionsausfall der Nieren, die terminale Niereninsuffizienz ▶ [4221]. Zusätzlich zu der Schweregradeinteilung ist heute die CGA-Klassifizierung nach Grunderkrankung (Causa), glomerulärer Filtrationsrate und Albuminurie gebräuchlich ( ▶ Tab. 63.2 ). Tab. 63.1 Schweregradeeinteilung der chronischen Niereninsuffizienz. Schweregrad
Glomeruläre Filtrationsrate
Stadium 1
Nierenschaden (d.h. Proteinurie) mit normaler GFR ≥ 90ml/min
Stadium 2
GFR 60–89 ml/min
Stadium 3
GFR 30–59 ml/min
Stadium 4
GFR 15–29 ml/min
Stadium 5
GFR 300 mg/g
Chronische Nierenkrankheit GFRKategorien (ml/min/1,73m2)
G1
normal oder hoch
G2
Albuminurie-Kategorien ≥ 90
55,6%1
1,9%2
0,4%3
mild eingeschränkt 60–89
32,9%1
2,2%2
0,3%3
G3a
mild bis moderat eingeschränkt
45–59
3,6%2
0,8%3
0,2%4
G3b
moderat bis schwer 30–44 eingeschränkt
1,0%3
0,4%4
0,2%4
G4
schwer eingeschränkt
15–29
0,2%4
0,1%4
0,1%4
G5
Nierenversagen
< 15
0,0%4
0,0%4
0,1%4
1
niedriges Risiko (wenn keine Pathologien der Struktur oder Funktion der Nieren vorliegen)
2
moderat erhöhtes Risiko
3
hohes Risiko
4
sehr hohes Risiko
Merke Die terminale Niereninsuffizienz, das Nierenversagen, erfordert ein Nierenersatzverfahren. Die Indikationen für ein Nierenersatzverfahren sind vielfältig, einige sind in ▶ Tab. 63.3 aufgelistet. Weitere Indikationen sind: eine glomeruläre Filtrationsrate 65 Jahre. Gegenüber den auf der Warteliste befindlichen, transplantablen Patienten beträgt er mehr als 5 Jahre ▶ [4233], ▶ [4251], ▶ [4269].
Praxis Indikation zur Nierentransplantation Jedes irreversible, terminale Nierenversagen ist eine Indikation zur Nierentransplantation, sofern keine gegen die Operation sprechenden Komorbiditäten vorliegen.
63.4 Geschichte der Nierentransplantation Es ist ein alter Menschheitstraum, kranke Körperteile und Organe durch gesunde zu ersetzen. Fra Angelico (eigentlich Fra Giovanni da Fiesole, 1376–1455) stellte z.B. in seinem Bild die Legende über die Heiligen Cosmas und Damian (Schutzpatronen der Apotheker und Ärzte) bei der „Transplantation“ eines Beines zur Heilung des Diakons Justinianus dar, dessen Bein von Krebs befallen war.
Von Seiten der Medizin wurden seit dem 19. Jahrhundert verschiedene Organ- und Nierentransplantationen versucht. E. Ullmann (Wien) übertrug 1902 Nieren zwischen Hunden sowie vom Schwein auf den Menschen. Unger (Berlin) versuchte 1910 die Übertragung einer Affenniere auf den Menschen, 1910 misslang M. Jaboulay (Paris) die Übertragung der Niere einer Ziege auf den Menschen. Jaboulay war der Lehrer von Alexis Carrel, der 1902 seine noch heute verwendete Technik der Gefäßnaht beschrieb, und nach seiner Auswanderung in die USA im Rahmen von zahlreichen experimentellen Transplantationen an Katzen und Hunden beobachtete, dass es im Gegensatz zu Autotransplantationen bei Allotransplantationen nach kurzer Funktionsaufnahme zum Verlust der Organfunktion kam. Eine erste Nierenübertragung von Mensch zu Mensch erfolgte 1933 durch Y. Voronoy (Kherson/Ukraine). Diese misslang jedoch ebenso wie weitere Nierentransplantationen 1945 in den USA und in Frankreich, bei denen als Implantationsstellen der Arm bzw. das Bein gewählt wurden. Die erste erfolgreiche Nierentransplantation führte ein Team aus Chirurgen, Urologen und Nephrologen unter der Leitung von J. Murray 1954 zwischen den eineiigen Zwillingen Ronald Herrick (Spender) und Richard Harrick (Empfänger) in Boston (Massachusetts/USA) durch. Dabei verwendete Murray die von dem Pariser Urologen René Küss entwickelte Technik der extraperitonealen Platzierung der Spenderniere mit Anastomosierung der Nierenarterie und -vene an die Iliakalgefäße. 1959 gelang ebenfalls J. Murray die erste Nierentransplantation zwischen genetisch nicht identischen Brüdern sowie 1962 die erste VerstorbenenNierentransplantation. Es folgte die erste Nierentransplantation 1963 in Deutschland durch die Urologen Wilhelm Brosig und Reinhard Nagel in Berlin ▶ [4224], ▶ [4225]. Die erste Nierentransplantation in der früheren DDR wurde 1966 in Halle von dem Urologen H. Rockstroh durchgeführt. Die erste erfolgreiche Nierentransplantation im Osten Deutschlands gelang 1967 in Berlin-Friedrichshain unter der Leitung des Urologen M. Mebel. Weitere Nierentransplantationsprogramme in Westdeutschland wurden rasch auch in München (W. Land),
Heidelberg (l. Röhl), Hannover (R. Pichlmayr), Essen (FW. Eigler) und anderen urologischen bzw. chirurgischen Universitätskliniken etabliert ▶ [4224], ▶ [4271]. Das Engagement und wachsende Interesse der Urologie an der Nierentransplantation wird nicht nur in der historischen Entwicklung der Nierentransplantation deutlich, sondern auch an der Einrichtung eines Arbeitskreises Nierentransplantation in der Deutschen Gesellschaft für Urologie. Hauptaufgabe und Tätigkeit dieses vor Jahrzehnten gegründeten Arbeitskreises innerhalb der Akademie der Deutschen Urologen ist der aktive Informationsaustausch unter den an der Nierentransplantation beteiligten urologischen Kliniken, die Motivierung jüngerer Kolleginnen und Kollegen, sich mit den wissenschaftlichen und klinischen Aspekten der Transplantation zu beschäftigen, sowie der Ausbau der interdisziplinären Kooperation mit allen an der Transplantation beteiligten Fachbereichen (https://www.nierentransplantation.com). Zunehmende Erkenntnisse in der Transplantationsimmunologie und die fortschreitende Entwicklung von immunsuppressiven Medikamenten führten dazu, dass heute, mehr als 60 Jahre nach der ersten erfolgreichen Nierentransplantation und nach mehr als 84000 in Deutschland durchgeführten Nierentransplantationen, die NTX ein Routineverfahren geworden ist.
63.5 Gesetzesgrundlage und Organisation der NTX in Deutschland Im Dezember 1997 trat das erste gesamtdeutsche Transplantationsgesetz in Kraft ▶ [4216]. Während in der ehemaligen DDR schon seit 1975 eine gesetzliche Verordnung zur Transplantation (Widerspruchslösung) existierte, galten für die BRD die erweiterte Zustimmungslösung und ein Transplantationskodex. 1994 hat die Bundesärztekammer (BÄK) als Teil des wissenschaftlichen Beirats eine Kommission („Ständige
Kommission Organtransplantation“) gegründet, in der Transplantationsmediziner, Gesundheitspolitiker, Juristen, Theologen und Betroffene Entscheidungshilfen und Kriterien zur Organspende, -vermittlung und -verteilung nach dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entwickeln und fortschreiben. Von besonderer Bedeutung sind auch die von der Kommission erstellten Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes als verpflichtende Entscheidungsgrundlage bei der postmortalen Organspende. Das 1997 in Kraft getretene Transplantationsgesetz regelt die Zuständigkeiten, Aufgaben und Verantwortlichkeiten im Rahmen der Nierentransplantation für die Organspende bei Verstorbenen („erweiterte Zustimmungslösung“) und bei einer Lebendspende, die Organvermittlung nach postmortaler Spende und die Nierentransplantation selbst. Der Organhandel ist in Deutschland gesetzlich unter Strafe gestellt. Der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) wurden die Koordination und Vorbereitung der Organentnahme bei verstorbenen Spendern übertragen. Die Allokation der Spenderorgane erfolgt über Eurotransplant (ET) entsprechend ständig aktualisierten Vergaberichtlinien, welche insbesondere die Dringlichkeit und den potenziellen Erfolg der Transplantation berücksichtigen. Die Evaluation von Organempfängern und Lebendspendern, die Betreuung der Patienten auf der Warteliste sowie die eigentliche Transplantation und die unmittelbare postoperative Versorgung sind Aufgabe der einzelnen Transplantationszentren. Um die strukturellen Voraussetzungen für die Transplantation zu verbessern und langfristig die Spenderzahlen zu steigern, verabschiedete der Bundestag am 01.04.2019 das „Zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO)“. Dieses regelt u.a. folgende Aspekte: verbindlich festgelegte Vorgaben für die Freistellung der/des Transplantationsbeauftragten auf der Grundlage der Anzahl an Intensivbetten im Entnahmekrankenhaus;
bessere (kostendeckende) Vergütung der Entnahmekrankenhäuser für den gesamten Ablauf der Organspende; Bereitstellung eines bundesweiten neurologischen/neurochirurgischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienstes, damit auch kleineren Entnahmekrankenhäusern jederzeit qualifizierte Ärzte bei der Feststellung des irreversiblen totalen Hirnfunktionsausfalles zur Verfügung stehen; klinikinterne Qualitätssicherungssysteme für Spendererkennung und Spendermeldung; Regelung der Angehörigenbetreuung, u.a. als rechtliche Grundlage für den Austausch von anonymisierten Schreiben zwischen Organempfängern und den nächsten Angehörigen der Organspender ▶ [4216].
Merke Alle Patienten mit einer terminalen Niereninsuffizienz müssen von den betreuenden Ärzten auf Transplantabilität überprüft werden. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen der Transplantation von Nieren lebender und verstorbener Spender.
63.6 Organmangel: Ursachen und Lösungsansätze In den Ländern Europas ist die Rate an Lebend- und Verstorbenennierenspenden sehr unterschiedlich. Während in Ländern wie Spanien und Portugal 45–50/Mio. Einwohner eine Niere spenden (Lebende und Verstorbene) liegt diese Rate z.B. bei 10–15/Mio. Einwohnern in Griechenland und Luxemburg. Es wird angenommen, dass eine Rate von ca. 40–50 Spendern/Mio. Einwohner erreicht werden könnte. Dies wäre vor allen Dingen bei der Überlegung notwendig, dass der Organmangel nicht nur
persistieren, sondern sogar zunehmen könnte. In der Folge würden sich die die Wartezeiten auf eine NTX verlängern und die Zahl der Todesfälle von Patienten auf der Warteliste ansteigen. Die Ursachen für die unterschiedlichen Spenderraten sind vielfältig. Einerseits beinhaltet die Organtransplantation ethische, kulturelle und religiöse Aspekte. Hier kann durch öffentliche Positionierung kultureller und religiöser Institutionen eine positive Einstellung gegenüber der Transplantation und auch der Organspende erreicht werden. Zudem liegt die Spenderrate in denjenigen Ländern höher, in denen eine weitverbreitete Intensivmedizin existiert und in deren medizinischen Systemen Transplantationsbeauftragte Teil der medizinischen Versorgung sind. Auch die Weiterbildung von Ärzten und medizinischem Personal kann langfristig die Sensibilität gegenüber der Notwendigkeit von Organspenden erhöhen. Das Spenderaufkommen von verstorbenen Donoren ist in den Regionen Deutschlands sehr unterschiedlich und liegt im Jahr 2018 in Gesamtdeutschland mit ca. 10/Mio. Einwohner deutlich hinter Ländern wie Spanien (46,9/Mio.) und Frankreich (26,8/Mio.) zurück ▶ [4216] ( ▶ Abb. 63.4). Die Ursachen sind vielfältig. In Deutschland gilt die erweiterte Zustimmungslösung des verstorbenen Spenders. Hier wird entsprechend des zu Lebzeiten geäußerten (bestenfalls im Spenderausweis dokumentierten) Willens des potenziellen Spenders gehandelt. Liegt keine Festlegung vor, so können die Angehörigen im Sinne des verstorbenen Spenders entscheiden. In anderen Ländern, z.B. in Spanien und Österreich, gilt die Widerspruchslösung: wird einer Organentnahme nicht ausdrücklich widersprochen, gilt der Verstorbene automatisch als Organspender, wenngleich nach Information der Angehörigen keine Organentnahme gegen deren Willen erfolgt. Realisierte postmortale Organspenden pro 1 Mio. Einwohner in Europa. Abb. 63.4 Zahlen aus dem Jahr 2017, Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). (Datenquelle: Bundesministerium für Gesundheit. [https://www.dso.de/uploads/tx_dsodl/JB_2018_Web_NEU.pdf. Stand: 07.06.2019])
Der Unterschied im Spenderaufkommen ist allerdings nicht allein davon abhängig, ob in dem jeweiligen Land eine erweiterte Zustimmungslösung oder Widerspruchlösung besteht. Welchen Einfluss die Art der Zustimmung für eine Organspende hat, bleibt unklar. Während in Deutschland die erweiterte Zustimmungslösung gilt, ist in anderen Ländern (z.B. Spanien,
Österreich) die Widerspruchsregelung gesetzlich festgeschrieben.
Merke Begriffsbestimmung Erweiterte Zustimmungslösung: Eine Organspende ist möglich, wenn dieses dem zu Lebzeiten geäußerten Willen des Verstorbenen entspricht; ggf. kann eine Einwilligung zur Organspende durch die Angehörigen erfolgen, wenn dies dem Willen des Verstorbenen entspricht. Widerspruchslösung: Der Verstorbene ist automatisch Organspender, außer wenn er zu Lebzeiten einer Organentnahme widersprochen hat; bei fehlender Meinungsdokumentation des potenziellen Spenders erfolgt keine Organentnahme gegen den Willen der Angehörigen. Um dem Organmangel zu begegnen, befasste sich der Bundestag Ende 2018 und Anfang 2019 ausführlich mit einer möglichen Neuregelung der Organspende in Deutschland. Diskutiert wurde, ob die existierende „erweiterte Zustimmungsregelung“ von einer „Widerspruchsregelung“ abgelöst werden solle“. Darüber hinaus wurde diskutiert die Entscheidung zur Organspende in einem Register zu erfassen. Eine bereits in vielen europäischen Ländern eingeführte Version der Widerspruchsregelung bei der postmortalen Organspende, die u.€a. von zahlreichen medizinischen Fachgesellschaften zur Erhöhung der Organspende vorgeschlagen worden war, wurde vom Gesetzgeber in Deutschland Anfang 2020 nicht akzeptiert. Das am gleichen Tag von Bundestag und Bundesrat beschlossene „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ beinhaltet die sog. „erweiterte Entscheidungslösung“, welche die ausdrückliche Zustimmung
des Spenders zu seinen Lebzeiten vorsieht: wer nach seinem Tod Organe spenden möchte, muss dem im Vorfeld aktiv zugestimmt haben. Basis des ab 2022 geltenden Gesetzes soll eine bessere Information der Bürger sein. Die Bürger sollen mindestens alle zehn Jahre direkt auf das Thema Organspende beim Bürgeramt angesprochen werden (beim Abholen oder Verlängern eines Personalausweises oder Passes), die Einstellung zur Organspende soll dann in Online-Register „eingetragen werden. Inhaltlich beraten sollen „jedoch nicht die Ämter, sondern die Hausärzte (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/zustimmungsloe sung-organspende.html).
63.6.1 Erweiterung der Spendekriterien Eine Erweiterung der Spenderkriterien, wie die Akzeptanz von verstorbenen Nierenspendern höheren Lebensalters oder mit Komorbiditäten, kann die Spenderzahlen erhöhen, ebenso die Akzeptanz von Spendernieren lebender Donoren mit höhergradigen anatomischen Abnormalitäten (mehrere Arterien, Harnleiterengen, Steine) oder die Blutgruppen (AB0)inkompatible NTX. Auch Nieren mit kleinen Nierentumoren können – bei im Vorfeld erlangtem Einverständnis des Empfängers und nach kompletter Tumorentfernung aus der Niere – unter bestimmten Voraussetzungen zur NTX akzeptiert werden.
63.6.2 Lebendnierenspenden steigern Von den jährlich in Deutschland durchgeführten Nierentransplantationen stammt ca. ein Drittel von Lebendspendern (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/gzso.html). Eine Möglichkeit hier vermehrt Transplantationen durchzuführen, wäre die vermehrte Durchführung einer Überkreuz-Lebendspende. Dabei spenden die gesunden Donoren eines jeweiligen Paares an die Empfänger des anderen Paares, die z.B. aus immunologischen Gründen nicht direkt an den Partner spenden könnten. Die weitere Möglichkeit einer
ungerichteten, altruistischen Lebendspende ist in einigen europäischen Ländern erlaubt, in Deutschland jedoch nicht. Eine Steigerung der NTX von Lebendspendernieren ist zudem dann zu erwarten, wenn die gesetzliche Grundlage die prä-, periund postoperative Versorgung der Spender, die Rehabilitation und die Langzeitnachsorge so regelt, dass dem Lebendspender keine Nachteile entstehen. Unabdingbare Grundlage einer Steigerung der Spenderzahlen ist aber ein gesetzlich geregeltes, transparentes System der Transplantationsmedizin, um das Vertrauen in die Transplantationsmedizin zu garantieren. Dass dieses Vertrauen erschüttert werden kann, hat der „Transplantationsskandal“ in Deutschland im Jahr 2012 gezeigt. Infolge von Unregelmäßigkeiten bzw. Regelverstößen bei der Allokation im Rahmen der Lebertransplantation in einigen deutschen Lebertransplantationszentren geriet auch die ursächlich nicht involvierte Nierentransplantation in den Sog des Misstrauens, mit der Folge eines massiven Rückgangs an Nierenspenden und Nierentransplantationen in den Folgejahren.
63.7 Organisation der Nierentransplantation in Deutschland Die Organisation der Nierentransplantation in Deutschland unterscheidet sich je nach Art der Organspende. Während bei der Lebendnierenspende nur das Transplantationszentrum (inkl. der Lebendspendekommissionen bei den Landesärztekammern) und Eurotransplant (ET) organisatorisch eingebunden sind, sind dies bei der NTX von Nieren verstorbener Spender zusätzlich das Spenderkrankenhaus und die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO).
Merke Etwa 70% der Transplantatnieren stammen von verstorbenen Spendern, 30% von Lebendspendern ( ▶ Abb. 63.5).
Anteil der Lebendnierenspenden an der Nierentransplantation. Abb. 63.5 Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). blau: Anteil der Nierenlebendspenden an Nierentransplantationen (%) rot: Anzahl der Nierenlebendspenden bei Nierentransplantationen (Datenquelle: DSO 2020)
63.7.1 Organisation der Nierentransplantation von Nieren verstorbener Spender Die Organisation der Transplantation von Nieren verstorbener Spender steht auf 4 Säulen ( ▶ Abb. 63.6). Spender und Spenderkrankenhaus, Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), Eurotransplant (ET), Nierentransplantationszentrum. Organisation der Nierentransplantation von Nieren verstorbener Spender. Abb. 63.6
63.7.1.1 Verstorbener Spender und Spenderkrankenhaus Im Spenderkrankenhaus erfolgen die Evaluation des potenziellen Organspenders und die Organentnahme. Voraussetzung ist der nachgewiesene Hirntod und ein Spenderausweis bzw. die Einwilligung durch die Angehörigen.
Praxis Transplantationsbeauftragter Nach aktueller Gesetzgebung muss es in jedem Krankenhaus einen Transplantationsbeauftragten geben, mit der Aufgabe, auf den jeweiligen Intensivstationen des Krankenhauses für strukturelle Maßnahmen im Vorfeld und für eine Optimierung der speziellen Aspekte einer Organspende Sorge zu tragen. Die Zuständigkeit des Transplantationsbeauftragten beinhaltet ebenso regelmäßige Fortbildungen für die Mitarbeiter sowie eine enge Kooperation mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO).
Einwilligung zur Organentnahme
Die Einwilligung zur Organentnahme bei verstorbenen Organspendern erfolgt in Deutschland entsprechend der gesetzlich geregelten erweiterten Zustimmungslösung nach den Richtlinien der Bundesärztekammer. Dies bedeutet, dass der Spender zu Lebzeiten seinen Spendewunsch dokumentiert hat oder aber die Angehörigen in seinem Sinne einer Organspende zustimmen. Jeder sollte den eigenen Willen auf einem Organspendeausweis dokumentieren ( ▶ Abb. 63.7). Dieser kann ebenso wie umfangreiches Informationsmaterial kostenfrei bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestellt werden, auch in größeren Mengen, um Mitarbeiter, Patienten und Angehörige für dieses so wichtige Thema zu sensibilisieren und mit Informationen und Spenderausweisen zu versorgen (https://www.bzga.de/infomaterialien/organspende/organspendea usweise/). Organspendeausweis. Abb. 63.7 Kostenfrei (auch in größerer Stückzahl) bestellbar in über 30 Sprachen bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [BZgA], Köln; www.organspende-info.de).
Hirntod des Spenders
Merke In Deutschland werden nur hirntote Spender mit bestehendem kardiovaskulärem Kreislauf akzeptiert, jedoch keine Spender nach Herzstillstand, wie dies in anderen Ländern möglich ist. Es ist in den Richtlinien der Bundesärztekammer festgelegt, wie der Hirntod diagnostiziert werden muss. Dies erfolgt durch 2 dafür qualifizierte Ärzte unabhängig voneinander, die weder an der Entnahme noch an der Übertragung der Organe des Organspenders beteiligt sind noch der Weisung eines beteiligten Arztes unterstehen, entsprechend einem 3-stufigen Diagnoseschema (§ 5 Transplantationsgesetz).
Praxis Hirntod Der Hirntod ist der Zustand irreversibler erloschener Funktionen des gesamten Gehirns, die Atmungs- und Kreislauffunktion des hirntoten Patienten werden nur durch die künstliche Beatmung und Medikamente/Infusionen aufrechterhalten. Häufigste Todesursache von Organspendern sind intrakranielle Blutungen (ca. 55%), ischämisch-hypoxischer Hirnschaden (ca. 15%) sowie das Schädel-Hirn-Trauma (ca. 15%) ( ▶ Tab. 63.4 ). Tab. 63.4 Todesursachen der Organspender in Deutschland 2013 (Datenquelle: Deutschen Stiftung Organtransplantation [DSO]). Todesursache
Häufigkeit
intrakranielle Blutungen
53,5%
ischämische Hirnschäden 23,2% Schädel-Hirn-Trauma
13,1%
Hirninfarkt
9,0%
andere
1,1%
Freigabe des Organs zur Organspende
Vor einer Organentnahme steht eine sorgfältige Spenderevaluation, um die Qualität des Spenderorgans zu untersuchen und die Übertagung von Erkrankungen sicher auszuschließen. Die Nierenfunktion (GFR) eines Spenders sollte in aller Regel über 50 ml/min liegen (Cockgroft Gault), sofern die Niere einzeln transplantiert wird. Eine akute, potenziell reversible Niereninsuffizienz des Spenders ist keine Kontraindikation zur Organspende und erfordert eine der individuellen Situation entsprechende Entscheidung. Hohes Spenderalter ist im Gegensatz zu früher heute keine Kontraindikation zur Nierenspende. Im Wissen um die Organknappheit und die Abhängigkeit der Nierenfunktion älterer Spendernieren von einer kurzen Organtransportzeit ist es vielmehr sinnvoll, das biologische Alter und die Komorbiditäten älterer Spender in die Entscheidung über eine Organakzeptanz einzubeziehen und ggf. Programme vorzuhalten, die eine kurze Organtransportzeit älterer Spendernieren ermöglichen. Im Eurotransplant Senior Programm (ESP) werden Spendernieren verstorbener Donoren im Alter ≥65 Jahre lokal in Empfänger im Alter ≥65 Jahre transplantiert unter Berücksichtigung lediglich der Blutgruppenkompatibilität, aber unabhängig von anderen Gewebemerkmalen (→ Histokompatibilität). Zur allgemeinen Evaluation der verstorbenen Spender gehört auch die Erhebung von renalen Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit (KHK), Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, kardiovaskuläre Ereignisse in der Vorgeschichte Myokardinfarkt periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK). Eine Histologie von Spendernieren mit Quantifizierung der glomerulären Sklerose sowie Diagnose struktureller renaler
Veränderungen ist in einigen Ländern Standard, hat sich in Deutschland allerdings nicht etablieren können und ist in der Literatur aktuell umstritten ▶ [4243], ▶ [4246]. Vor der Freigabe zur Organspende muss der Ausschluss von aktuellen Infektionen und nicht kurierten Malignomen erfolgen ( ▶ Tab. 63.5 ). Tab. 63.5 Untersuchungen von verstorbenen Spendern vor Organspende. Fragestellung
Untersuchung
Infektionen
HIV1 und 2 Hepatitis C HBs-Antigen, Anti-HBc, akute Hepatitis CMV EBV (bei kindlichen Empfängern) aktive Syphilis Tuberkulose Creutzfeld-Jakob-Erkrankung in der Familienanamnese akute Virusinfektionen/Sepsis
Malignome
aktueller Malignomausschluss Malignome in der Vorgeschichte?
Anti-HBc: Anti-Hepatitis-B-Core-Antikörper; CMV: Zytomegalievirus; EBV: Epstein-Barr-Virus; GFR: glomeruläre Filtrationsrate; HBs-Antigen: Hepatitis-B-Surface-Antigen; HIV: humanes Immundefizienzvirus
Spender mit aktuellen Infektionen sind in aller Regel von der Organentnahme ausgeschlossen, können aber in Ausnahmefällen als Donoren akzeptiert werden ( ▶ Tab. 63.6 ). Dazu zählen auch die Transplantation eines HCV-positiven Spenderorgans in einen HCV-positiven Empfänger, ebenso HBs-Antigen-positive Donoren für HBs-Antigen-positive Empfänger (wenn HDV-Antigen negativ ist) sowie in Empfänger mit hohem Anti-HBs-Antikörpertiter und HBc-Positivität. HBc-Antikörper-positive Donoren können an HBsAntigen-positive Empfänger eine Niere spenden oder an HBsAgnegative Empfänger mit anti-HBs-Antikörper-Titern ≥10 mIU/ml. Tab. 63.6 Ausnahmen zur Nierentransplantation (NTX) von infektiösen Spendern. Bei allen Transplantationen von Nieren mit potenziellem Übertragungsrisiko muss eine Einwilligung des Empfängers vorliegen. Potenzieller Spender
Ausnahmen zur NTX von infektiösen Spendern
Potenzieller Spender HCV-positiver Donor
Ausnahmen zur NTX von infektiösen Spendern für HCV-positive Empfänger für HCV-negative Empfänger in Notfallindikation
HBs-Antigen-positiver Spender
für HBs-Ag-positive Empfänger (wenn HDV-Antigen negativ) für HBs Ag-negative Empfänger mit hohem anti-HBs-Antikörper Titer und HBc Positivität für HBs Ag-negative Empfänger mit hohem/mittlerem anti-HBs-Antikörper Titer und HBc Negativität (erhöhtes Risiko) für HBs Ag-negative Empfänger mit niedrigem anti-HBs-Antikörper Titer und HBc Negativität (nur in Notfallindikation)
HBc-Antikörper-positiver Spender
für HBs-Ag-positive Empfänger/für HBsAg-negative Empfänger mit hohem antiHBs-Antikörper-Titer für HBs-Ag-negative Empfänger ohne anti-HBs AK nur bei lebensbedrohlicher Indikation
Anti-HBc: Anti-Hepatitis-B-Core-Antikörper; HBc: Hepatitis-B-Core-Antigen; HBs-Ag: Hepatitis-BSurface-Antigen; HCV: Hepatitis-C-Virus; NTX: Nierentransplantation
Merke In allen Fällen muss die entsprechende Einwilligung des Empfängers schon im Vorfeld erfolgt sein.
Vorsicht Zu beachten ist, dass potenzielle Spender mit einem i.v.Drogenabusus in der Anamnese ein hohes Risiko bergen, HIV- oder Hepatitis-positiv zu sein, so daß hier eine Organspende nur nach gründlicher Virusdiagnostik und Einbeziehung des Empfängers stattfinden sollte.
Ein kurativ behandeltes Malignom in der Anamnese des potenziellen Spenders ist kein prinzipielles Ausschlusskriterium. Die notwendige Wartezeit zwischen kurativer Behandlung eines Malignoms eines potenziellen Spenders und der Akzeptanz zur Nierenspende richtet sich nach Art, Aggressivität, Metastasierungs- und Rezidivrisiko des jeweiligen Malignoms. Unabhängig vom Zeitraum nach einer Behandlung eines malignen Tumors in der Vorgeschichte sind Spender aufgrund des auch nach Jahrzehnten noch vorhandenen Übertragungsrisikos mit folgenden Tumoren nicht akzeptabel: Mammakarzinom, Melanom, Leukämie/Lymphom, metastasierte Karzinome in der Vorgeschichte (Ausnahme: Hodentumor) ▶ [4214]. Hat der verstorbene Spender zum Zeitpunkt der geplanten Explantation ein bis dahin unentdecktes Malignom, ist eine Spende mit wenigen Ausnahmen kategorisch ausgeschlossen. Diese Ausnahmen sind: Basalzellkarzinom, nicht metastasiertes spinozelluläres Karzinom der Haut, Carcinoma in situ der Zervix sowie Carcinoma in situ der Stimmbänder. Auch kleine Tumoren der Niere (70 Jahre Alter 60–70 mit Diabetes mellitus arterielle Hypertonie inkl. Retinaschäden Proteinurie bis 1 g/d GFR 20% Glomerulosklerose in der Nierenbiopsie
Bei stark eingeschränkter Nierenfunktion ist auch die Transplantation beider Nieren eines Spenders in einen Empfänger eine Option, marginale Nieren für die Transplantation zu verwenden. Dies gilt auch für die Nieren sehr junger kindlicher Spender, die ebenfalls en bloc an die Empfänger transplantiert werden können (Technik s.u.) ▶ [4247], ▶ [4258].
Praxis Eurotransplant (ET) Eurotransplant (ET) wurde 1967 für die Koordination der Organspende und -transplantation gegründet. Heute hat Eurotransplant 8 Mitgliedsländer: Belgien, Deutschland, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Ungarn und Slowenien und versorgt eine Region mit über 130 Mio. Einwohnern ( ▶ Abb. 63.8). Ähnliche Organisationen existieren in anderen europäischen Regionen wie z.B. Skandinavien (Scandiatransplant), Frankreich (France-Transplant), der Schweiz (Swisstransplant), Großbritannien und Italien. Mitgliedsländer von Eurotransplant (ET). Abb. 63.8 Belgien, Deutschland, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Ungarn, Slowenien.
Praxis Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist die Koordinierungsstelle für die postmortale Organspende in Deutschland. Es wurden 7 Organspenderegionen der DSO gebildet, um flächendeckend eine dauerhaft strukturierte Organisation zu gewährleisten. Die DSO koordiniert die Organentnahme bei verstorbenen Spendern, berät und unterstützt die Krankenhäuser
bei der Organspende und entlastet das Krankenhauspersonal im Falle einer Organspende. Die DSO ist zuständig für eine optimale Organisation der Organentnahme als Grundlage einer langfristig guten Organfunktion beim Empfänger, unterstützt und begleitet aber auch Angehörige von Organspendern und leistet Öffentlichkeitsarbeit.
63.7.1.2 Zuteilung der Spenderorgane Über Eurotransplant werden die Spendernieren verstorbener Donoren den Empfängern anhand eines Punktesystems zugeteilt (Allokation). Potenzielle Nierenempfänger werden von den Transplantationszenten an Eurotransplant gemeldet und in einem zentralen Wartelistesystem geführt. Ein gemeinsames Spendermeldesystem der Mitgliedsländer übermittelt Spenderdaten an ET. Die Zuteilung eines Spenderorgans an den Empfänger erfolgt dann auf der Basis von Dringlichkeit (Urgency) und Erfolgsaussicht auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes und aktueller medizinischer Expertise. Die Zuteilungspraxis unterliegt ständigen Adaptationsprozessen. Die Zuteilung einer Niere über Eurotransplant geschieht nach einem Punktesystem, welches aktuell folgende Faktoren berücksichtigt: Wartezeit (zählt ab Dialysebeginn), Blutgruppen- und Gewebeverträglichkeit (HLA-System) (s.u.), Transportzeit, nationale Austauschbilanz. Zudem gibt es für spezielle medizinische Indikationen Sonderprogramme (hohe Dringlichkeit, Kinder). Im Eurotransplant Senior Programm (ESP) werden, unabhängig von
der Gewebemerkmalübereinstimmung, Spendernieren lediglich blutgruppenkompatibel von über 65-jährigen verstorbenen Spendern an über 65-jährige Transplantatempfänger lokal bzw. regional transplantiert, um die Transportzeit (Konservierungszeit, kalte Ischämiezeit) – gegenüber der Nieren älterer Spender sehr empfindlich sind – so gering wie möglich zu halten ▶ [4229].
63.7.1.3 Blutgruppen- und Gewebeverträglichkeit Für eine erfolgreiche Transplantation ist eine Verträglichkeit im AB0-Blutgruppensystem in der Regel unerlässlich, da Blutgruppenantigene auch auf Endothel und Tubuluszellen der Niere exprimiert werden. Unter besonderen Umständen können heute jedoch auch bei der Transplantation von Nieren lebender Spender mit einer AB0-Blutgruppeninkompatibilität zwischen Spender und Empfänger durch Entfernung der Blutgruppenantikörper beim Empfänger vor und nach der Transplantation und einer besonderen, intensivierten Immunsuppression gute Ergebnisse erzielt werden ▶ [4222], ▶ [4248]. Von Bedeutung für den Transplantationserfolg sind die Transplantationsantigene („Histokompatibitätsantigene“), die von immunkompetenten Zellen (z.B. T-Zellen) bzw. Antikörpern als fremd erkannt werden und das Ausmaß und die Intensität der Immunantwort des Empfängers gegenüber dem Spenderorgan bestimmen. Bei der Immunantwort handelt es sich um einen komplexen Vorgang mit Interaktionen und Kollaborationen einer Vielzahl verschiedener Zellpopulationen, die letztlich zur Abstoßung (Rejektion) führen können und durch die unterschiedlichen Immunsuppressiva reduziert und im günstigsten Fall verhindert werden soll. Die Transplantationsantigene sind Genprodukte des Histokompatibiltätkomplexes (Major Histocompatibilty Complex, MHC) auf dem kurzen Arm des 6. Chromosoms. Die Expression der Gene findet sich auf nahezu allen Körperzellen; auf den Leukozyten werden sie humane Leukozytenantigene (HLA) genannt. Die verschiedenen Antigene werden auf den Leukozyten im peripheren Blut bestimmt. Auf dem Chromosom 6 lassen sich
4 Genorte, sog. „Loci“, bestimmen, die jeweils eine Vielzahl (teilweise >20–60) verschiedener HLA-Antigene kodieren.
Merke Die für die Transplantation wichtigen Zellmembranmoleküle werden HLA-A, HLA-B, HLA-C (HLA-Moleküle der Klasse I) und HLA-DR, HLADQ sowie HLA-DP (HLA-Moleküle der Klasse II) genannt. Im Rahmen der Nierentransplantation werden vornehmlich die HLA-Antigene -A, -B DQ und -DR bei Spender und Empfänger bestimmt, wobei die beiden letzteren von größerer Bedeutung sind. Jeder Mensch besitzt 2 HLA-Merkmale (Allele) je Genort, ein mütterlich und ein väterlich ererbtes. Die HLA-Gene für die verschiedenen Genorte werden als festes Set (Haplotypen) vererbt. So erbt z.B. ein Kind von jedem Elternteil jeweils ein HLA-A, -B- und DR-Antigen, d.h. einen Haplotypen von der Mutter und einen vom Vater. Je ähnlicher sich die HLA-Merkmale von Spender und Empfänger sind, desto geringer ist die Gefahr von Abstoßungsreaktionen. Voll-identische HLA-Merkmale finden sich nur bei eineiigen Zwillingen.
Merke Die HLA-Antigene dienen der Bestimmung der Histokompatibilität (Gewebeverträglichkeit), die für den Erfolg von Transplantationen mitentscheidend ist. Je ähnlicher sich die HLA-Merkmale von Spender und Empfänger sind, desto geringer ist das Risiko von Abstoßungsreaktionen. Die Nichtübereinstimmung eines HLA-Antigens zwischen Spender und Empfänger wird als Mismatch bezeichnet. Mit steigender Anzahl von Mismatchen im HLA-System zwischen Spender und Empfänger sinkt die Transplantatüberlebensrate (s. Kap. ▶ 63.14 zu Langzeitergebnissen). Allerdings konnte zunehmend auch bei suboptimaler HLA-Übereinstimmung die Verlustrate nach der Transplantation postmortal gewonnener
Spendernieren durch Fortschritte bei der Immunsuppression verringert werden. Neben den Antigenen des HLA-Systems und den Blutgruppenantigenen spielen auch noch andere Antigensysteme für die Nierentransplantation eine Rolle, die jedoch derzeit in der klinischen Transplantation nicht berücksichtigt werden. Die Nierentransplantation erfolgt in einem der aktuell in Deutschland 38 Nierentransplantationszentren ( ▶ Abb. 63.1). Ein Drittel dieser Zentren steht unter urologischer Leitung bzw. wird mit urologischer Kooperation geführt. Hat ein Patient mit chronischer Niereninsuffizienz den Wunsch, transplantiert zu werden und ist nach ausführlicher Untersuchung transplantabel, so wird er in einem Transplantationszentrum angemeldet. Grundsätzlich hat der potenzielle Nierenempfänger das freie Wahlrecht, in welchem Transplantationszentrum er sich nierentransplantieren lassen möchte. Aus praktischen Gründen geschieht dies zumeist in einem wohnortnahen Transplantationszentrum, um u.a. einen möglichst schnellen Ablauf einer Transplantation nach Organangebot zu gewährleisten. Das Transplantationszentrum meldet den potenziellen Empfänger bei Eurotransplant an und kontaktiert im Falle eines Organangebots das behandelnde Dialysezentrum und den Empfänger. Bei der Einbestellung zur NTX wird der Patient dann wiederum gründlich auf potenzielle Kontraindikationen untersucht (aktuelle Infekte, aktuelle klinische Verschlechterung im Vergleich zu den Voruntersuchungen). Bestehen keine Kontraindikationen, kann nach entsprechender präoperativer Vorbereitung die NTX erfolgen.
63.7.2 Organisation der Nierentransplantation von Nieren lebender Spender Der Anteil der Lebendnierenspende in Deutschland liegt bei ca. 30% der durchgeführten Nierentransplantationen. Der überwiegende Anteil der Lebendnierenspender sind Familienmitglieder (und somit genetisch verwandt) und
Ehepartner (genetisch nicht verwandt), gelegentlich auch Freunde (genetisch nicht verwandt). Die Vorteile einer Lebendspende-NTX sind vielfach (s. Übersicht).
Praxis Vorteile der Lebendspende zur Nierentransplantation ausführliche und intensive Spenderevaluation Akzeptanz nur völlig gesunder Spender zeitliche Planbarkeit der Vorbereitung zur Transplantation und der Lebendspendennierenentnahme Vermeidung langer Wartezeiten an der Dialyse Optimierung der Immunsuppression Optimierung der Begleitmedikation des Empfängers Für den Empfänger münden diese Vorteile in einem längeren Transplantatüberleben im Vergleich zur postmortalen Nierentransplantation ▶ [4219], ▶ [4221]. Die Lebendnierenspende erfolgt in einem Nierentransplantationszentrum nach freier Wahl des Empfänger-/Spenderpaares und ohne organisatorische Einbindung der DSO. Aus rechtlichen Gründen muss vor einer Lebendnierenspende der Empfänger allerdings für eine Verstorbenennieren-TX bei Eurotransplant gelistet sein. Der Grund ist das sog. „Subsidiaritätsprinzip“. Um den Lebendspender zu schützen, gibt der Gesetzgeber vor, dass die NTX der Niere eines Verstorbenen Vorrang vor einer Lebendnierenspende hat. In besonderen Fällen kann die Transplantation der Niere eines Lebendspenders auch präemptiv, d.h. vor der Notwendigkeit des Dialysebeginns erfolgen. Für den Lebendnierenspender soll laut Gesetz keine über das operative Risiko hinausgehende Gefährdung bestehen. Richtlinien der Bundesärztekammer beschäftigen sich mit der
Identifikation und der Quantifizierung von Lebendspenderrisiken. Erwähnt werden müssen u.a. folgende Risiken: Entwicklung einer arteriellen Hypertonie, Entwicklung einer Reduktion der eigenen Nierenfunktion, Entwicklung eines Erschöpfungs- („Fatigue“-) Syndroms. Während bei der Verstorbenen-NTX nur blutgruppenkompatibel transplantiert wird, kann bei der Lebendspende-NTX eine Blutgruppen-/AB0-inkompatible Nierentransplantation durchgeführt werden. Dies erfordert eine spezielle Vorbereitung der Empfänger mit z.B. Plasmapherese und erweiterter Immunsuppression.
Merke Bei der Lebendnierenspende sind die Ergebnisse AB0-inkompatibler NTX mit denen AB0-kompatibler NTX vergleichbar ▶ [4222], ▶ [4248].
63.7.2.1 Auswahl des Lebendnierenspenders Die Evaluation des Lebendnierenspenders muss sehr sorgfältig und ausführlich sein, um Risiken der Lebendnierenspende so gering wie möglich zu halten und um klare Ausschlusskriterien zu identifizieren ( ▶ Tab. 63.7 ) ▶ [4220], ▶ [4214]. Neben der körperlichen Untersuchung, der Untersuchung von Urin (Proteinurie, Kultur, 24-Stunden-Urin, Kreatinin-Clearance), Serologie und Virologie müssen wichtige Ko-Morbiditäten ausgeschlossen werden. Die Nierengefäß- und Ureteranatomie kann meist mit dem CT oder einem MRT suffizient beurteilt werden. Die Nierenfunktion wird mit einer Nierenfunktionsszintigrafie bestimmt. Tab. 63.7 Ausschlusskriterien für Lebendnierenspender. Kontraindikationen
Ausschlusskriterien
Kontraindikationen
Ausschlusskriterien
absolute Kontraindikation
Alter 300 mg/24Stunden) GFR (glomeruläre Filtrationsrate) unterhalb der Altersnorm Mikrohämaturie hohes Thromboembolierisiko schwere Erkrankungen (wie Malignome, chronische Lungenerkrankungen, Herzerkrankungen) bilaterale Nierensteine HIV-Positivität fehlende Einwilligungsfähigkeit
relative Kontraindikation
Adipositas psychologische/psychiatrische Erkrankungen aktive chronische Infektionen (Tuberkulose, Hepatitis B/C, parasitäre Erkrankungen)
GFR: glomeruläre Filtrationsrate; HIV: humanes Immundefizienzvirus
Praxis Praktischer Hinweis Bei der Entscheidung, welche Niere als Spenderniere akzeptiert wird, gilt das Prinzip „die bessere der beiden Nieren verbleibt beim Spender“. In Deutschland sieht das Transplantationsgesetz vor, dass eine psychologische Evaluation von Lebendspender und Lebendspendeempfänger stattfindet. Zudem muss eine Lebendspendekommission, die meist bei der Landesärztekammer angesiedelt ist, deren Besetzung gesetzlich festgeschrieben ist und deren Aufgabe es nicht ist, medizinische Aspekte zu beurteilen, sich davon überzeugen, dass jegliche Form eines Organhandels ausgeschlossen ist und der Entschluss zur Lebendspende absolut freiwillig erfolgt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Nierenspender im Verlauf ihres Lebens selber terminal niereninsuffizient werden, ist gering,
dennoch wurden Einzelfälle beschrieben ▶ [4250]. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern oder den USA gibt es in Deutschland aktuell noch keinen „Bonus“ für Lebendnierenspender, die selber eine terminale Niereninsuffizienz entwickeln und auf die Warteliste für eine Nierentransplantation kommen.
Merke Gesetzlich geregelt ist mittlerweile in Deutschland, dass Spender im Falle einer gesundheitlichen oder beruflichen Konsequenz, die sich aus der Lebendspende ergibt, rechtlich und teilweise finanziell abgesichert sind. Die Bereitschaft zur lebenslangen Nachsorge nach Nierenspende ist Grundvoraussetzung für die Akzeptanz eines potenziellen Nierenspenders. In der Nachsorge der Lebendnierenspender ist die Kontrolle der Retentionsparameter wichtig, da bei einem Teil der Spender das Serumkreatinin leicht ansteigt, dann aber konstant bleibt. Ziel der Nachsorge ist es, den Spender und die Funktion der verbliebenen Niere zu schützen und renale Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie, Proteinurie und Diabetes mellitus zu erkennen und zu therapieren.
63.8 Evaluation und Vorbereitung des Empfängers 63.8.1 Allgemeine Vorbereitung Auch wenn die Nierentransplantation das Leben des Empfängers im Vergleich mit einer fortgesetzten Dialyse verlängert, die dialyseassoziierte Morbidität reduziert und die Lebensqualität verbessert, so stellt sie doch einen operativen Eingriff dar, zu dem neben den unmittelbar operativen Risiken auch die Risiken der langfristigen Immunsuppression hinzukommen. Deshalb muss
ein chronischer Dialysepatient vor der Aufnahme auf die Warteliste ausführlich evaluiert werden. Zur Empfängerevaluation gehört zum einen der Ausschluss eines aktuellen Malignoms, das sich unter der Immunsuppressionstherapie progredient entwickeln und metastasieren kann. Eine Transplantation bei einer aktiven Infektion ist ebenfalls kontraindiziert und erfordert den Ausschluss oder die Sanierung vor Aufnahme auf die Warteliste. Hierzu zählen insbesondere Hepatitis B/C, HIV, CMV, Tuberkulose sowie Infektionen mit Treponemen ( ▶ Tab. 63.8 ). Tab. 63.8 Untersuchungen von potenziellen Transplantatempfängern vor Freigabe zur Nierentransplantation. Ausschluss
Untersuchung
Malignomausschluss
körperliche Untersuchung dermatologische Untersuchung gynäkologische/urologische Untersuchung Test auf okkultes Blut im Stuhl
Ausschluss akute Infektion
CMV HBV HCV HIV EBV (bei Kindern) Tuberkulose Treponema
Diagnostik schwerwiegender Erkrankungen
kardial – EKG, Röntgen-Thorax, ggf. Herzechokardiografie, Belastungs-EKG, Koronarangiografie AVK – ggf. Duplex-Sonografie/CT Diabetes mellitus Adipositas Koagulopathien
CMV: Zytomegalievirus; HBV: Hepatitis-B-Virus; HCV: Hepatitis-C-Virus; HIV: humanes Immundefizienzvirus; EBV: Epstein-Barr-Virus; AVK: arterielle Verschlusskrankheit
Kardiale und vaskuläre Komorbiditäten müssen evaluiert werden, da diese die häufigste Todesursache nach einer Nierentransplantation darstellen, auch wenn das kardiale Überleben nach einer Nierentransplantation besser ist als an der Dialyse. Gegebenenfalls sollte vor Freigabe zur Transplantation eine kardiale Revaskularisierung erfolgen. Die arterielle
Durchblutung muss sichergestellt sein, eine arterielle Verschlusskrankheit – häufig assoziiert mit chronischer Niereninsuffizienz – muss ggf. durch Duplex-Sonografie/CT ausgeschlossen werden. Auch kann es notwendig sein, die Gefäße der Beckenachse für eine Transplantation operativ von einer ausgeprägten Arteriosklerose zu befreien. Diabetes mellitus, Koagulopathien sowie andere schwerwiegende internistische Erkrankungen müssen erkannt und im Vorfeld so gut wie möglich therapiert werden. Adipositas als Risikofaktor für die Operation sollte auf einen Body-Mass-Index von 70 Jahre) empfohlen, um spezifische Defizite und kognitive und funktionelle Teilleistungsstörungen als prognostische Parameter der (Krebs-) Erkrankung zu erkennen ▶ [477]. Ein umfassendes geriatrisches Assessment kann Veränderungen aufdecken, die ohne dieses Vorgehen unentdeckt geblieben wären. Im Rahmen einer prospektiven Studie mit knapp 2000 Krankenhauspatienten wurden im geriatrischen Assessment bei der Hälfte zuvor unbekannte Defizite detektiert, was in 25% der Fälle zu einer Änderung der Therapieentscheidung führte ▶ [478]. Die behandelnden Ärzte waren sich in nur 2/3 der Fälle über die Einschränkungen ihrer Patienten im Klaren. Defizite in diesen Bereichen können aber auch relevant für Therapieabbruch, Toxizität und Überleben sein ▶ [446], ▶ [472].
Das geriatrische Assessment sollte gemäß der Internationalen Gesellschaft für Geriatrische Onkologie (SIOG) die nachfolgenden Bereiche umfassen ▶ [472]: kognitive Funktion, funktioneller Status, mentaler Status/Demenz, Mobilitätsstatus, Ernährungsstatus, Komorbiditäten, soziale Situation und Unterstützung, geriatrische Syndrome. Zu ihrer Erfassung werden die in ▶ Tab. 67.1 zusammengestellten Instrumente von der Arbeitsgruppe Geriatrische Onkologie der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO), der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) empfohlen ▶ [447], ▶ [454] ( ▶ Tab. 67.1 ) Tab. 67.1 Geriatrische Assessment, empfohlen von der Arbeitsgruppe Geriatrische Onkologie der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO), der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG). Untersuchungsbereiche Testinstrument kognitive Funktion/Demenz Mini-Mental-Status-Examination (MMSE) Montreal-Confusion-Assessment (MoCA) Demenz-Detektionstest (Demtect) Uhr-Zeichen-Test (Clock-Test)
Untersuchungsbereiche Testinstrument funktioneller Status
Karnofsky-Performance-Status (KPS) Eastern-Cooperative-Oncology-Group-Status (ECOG) Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL)
Depression
Geriatric Depression Scale (GDS)
Mobilität
Tinetti-Test Timed Up & Go-Test
Ernährung
Mini-Nutritional-Assessment (MNA)
soziale Situation
Sozialassessment Fragebogen zur sozialen Unterstützung (F-Sozu)
Komorbiditäten
Charlson-Comorbidity-Scale (CCS) Cummulative Illness Rating Scale (CIRS) Hematopoietic cell transplantation comorbidity index
67.3.1.1 Kognitive Funktion/Demenz Mit zunehmendem Alter nimmt die Gehirnleistung sukzessive ab. Eine Altersvergesslichkeit (leichte Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen) ist dabei von einer Demenz abzugrenzen. Die kognitiven Einschränkungen schränken das Leben der Betroffenen häufig stark ein. Die Folge ist ein Rückzug aus dem sozialen Umfeld. Leichte bis mittelgradige kognitive Einschränkungen entgehen allerdings häufig der konventionellen Anamnese. Repetto et al. fanden, dass der Anteil der Patienten ohne kognitive Einschränkung mit zunehmendem Alter deutlich abnahm: Keine kognitiven Einschränkungen wiesen auf ▶ [454]: 81% der 65- bis 74-Jährigen, 60% der 75- bis 84-Jährigen und nur 32% der 85-jährigen und älteren Patienten. Daher sollte dieser Bereich konsequent abgefragt werden.
▶ Mini-Mental-Status-Examination (MMSE). Der MMSE wurde 1975 als ein für den klinischen Alltag geeignetes Screeninginstrument zur Erfassung kognitiver Defizite entwickelt ▶ [461]. In diesem Test werden verschiedene Bereiche der kognitiven Funktion getestet.
Merke Im deutschen Sprachraum ist der Mini-Mental-Test (MiniMental-Status-Examination; MMSE) als Screeninginstrument am weitesten verbreitet. Wenn bei diesem orientierenden Screeningtest Auffälligkeiten in einem der abgefragten Bereiche aufgedeckt werden, sollten weitergehende gezieltere Untersuchung angeschlossen werden. Erst aufgrund der Befunde dieser weitergehenden Tests kann die Diagnose einer Demenz gestellt werden. Für kognitiv nicht eingeschränkte Patienten kann die Untersuchung irritierend sein, da z.T. recht trivial erscheinende Items erfragt werden. ▶ Montreal Confusion Assessment Test (MoCA). Ein alternatives sensitiveres Instrument ist z.B. der Montreal Confusion Assessment Test (MoCA) ▶ [481]. ▶ DemTec. Der DemTec-Test ist ein zeitsparendes (ca. 10 Minuten), einfach zu handhabendes Tool zum alters- und bildungsunabhängigen Screening von älteren Patienten auf Demenz. Der Test hilft, zu unterscheiden zwischen Menschen mit altersbezogen adäquater kognitiver Funktion (13–18 Punkte), Menschen mit milder kognitiver Einschränkung (9–12 Punkte) und Menschen mit mutmaßlicher Demenz (65 Jahre) wurde in Screeninguntersuchungen eine Prävalenz von 30% festgestellt ▶ [454].
Merke Depressive Symptome tragen zu funktionalen Einschränkungen mit Teilhabestörung am sozialen Leben bei. Bei Älteren ist Depression mit zunehmendem Grad der depressiven Symptomatik auch mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert ▶ [458].
▶ Geriatric Depression Scale (GDS). Die Geriatric Depression Scale (GDS) ▶ [483] ist ein standardisiertes, validiertes und reliables Screeninginstrument mit 30 Fragen (bzw. 15 Fragen bei der Kurzversion GDS-SF), die vom Patienten mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden müssen. Dies erlaubt die Anwendung des Tests auch bei Patienten mit kognitiven Einschränkungen. Für jede Antwort werden entweder 0 oder 1 Punkt verteilt. Eine Summe bis 9 Punkte gilt als normal. Eine milde depressive Symptomatik wird bei 10–19 Punkten angenommen, bei 20 Punkten und mehr liegt eine schwere depressive Symptomatik vor.
Vorsicht Da es sich um ein Screeninginstrument handelt, sollte die Diagnose Depression nicht allein auf diesen Testresultaten basieren.
67.3.1.4 Mobilität Einschränkungen der Mobilität gehen u.a. mit einem erhöhten Sturzrisiko einher. Patienten mit Sturzneigung haben ein erhöhtes Risiko für eine sekundäre Morbidität und Mortalität. Bei rezidivieren Stürzen ist davon auszugehen, dass mittelfristig eine dauerhafte Immobilität droht ▶ [367]. Spezielle Daten über die Prävalenz von Veränderungen in Mobilitätsscores und deren prognostische Relevanz für die Verträglichkeit einer Therapie und das Überleben stehen bisher nicht zur Verfügung ▶ [368]. ▶ Timed-up-and-go-Test . Beim Timed-up-and-go-Test ▶ [369] wird der Patient gebeten, aus einem Stuhl aufzustehen, 3 Meter zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen und wieder hinzusetzen. Dieser einfache
Test ist sowohl inter- als auch intraobserverreliabel, korreliert sehr gut mit dem Barthel-Index (s.o.) und kann die Fähigkeit des Patienten abschätzen, sich ohne fremde Hilfe in seiner Umwelt zu bewegen. Zeiten über 19 Sekunden weisen auf relevante Defizite hin. Es stehen aber auch andere Instrumente wie der TinettiTest oder die Short-Physical-Performance-Battery zur Verfügung. Eine praktische Herangehensweise zur Handhabung von Patienten mit Sturzrisiko/Sturzneigung gibt Tinetti ▶ [370]. Patienten über 75 Jahren mit mehr als zwei Stürzen in der Vergangenheit oder Auffälligkeiten beim Timed-up-and-goTest sollten speziell auf Gangunsicherheiten, Sturzrisiko und eventuell bestehende „Risikomedikamente“ untersucht werden. Die anderen Patienten sollten prophylaktische Übungen zur Stärkung der Balance und Gangsicherheit absolvieren.
67.3.1.5 Ernährung Die Prävalenz einer Sarkopenie im geriatrischen Setting ist erheblich. Die Abnahme der Muskelmasse beim geriatrischen Patienten ist ebenso wie die Kachexie beim onkologischen Patienten ein zentraler Punkt, an dem oft eine gesundheitliche Verschlechterung und ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko festzumachen ist ▶ [371], ▶ [372]. Der Evaluation der Ernährungssituation kommt daher eine zentrale Rolle zu. ▶ Mini-Nutritional-Assessment (MNA). Das MiniNutritional-Assessment (MNA) ist ein validiertes ScreeningTool zur Bestimmung des Ernährungszustandes speziell älterer Menschen (3 kg Monate 1=unbekannt 2=Gewichtsverlust 1 – 3 kg 3=kein Gewichtsverlust
3
Mobilität
0=Pat. ist an das Bett/den Stuhl gebunden 1=Pat. kann selbstständig aus dem Bett/Stuhl aufstehen, geht aber nicht aus dem Haus 2=Pat. geht aus dem Haus
4
neuropsychologische Funktion
0=schwere Demenz oder Depression 1=milde Demenz oder Depression 2=keine Demenz oder Depression
5
Body-Mass-Index (BMI)
0=unter 19 kg/m2 1=19 – 21 kg/m2 2=21 – 23 kg/m2 3=über 23 kg/m2
6
Mehr als 3 (verschiedene) Wirkstoffe pro Tag
0=ja 1=nein
7
Wie schätzt der Patient seine eigene Gesundheit ein, im Vergleich zu anderen Menschen der gleichen Altersgruppe?
0=schlechter 0,5=weiß nicht 1=genauso gut 2=besser
8
Alter
0=über 85 Jahre 1=80–85 Jahre 2=unter 80 Jahre
Auswertung Punktewerte 0–17 möglich Punktwert ≤ 14 ~ > geriatrisches Risikoprofil
▶ Triage Risk Screening Tools (fTRST). Eine Alternative stellt die flämische Version des Triage Risk Screening Tools (fTRST) dar. Der fTRST unterscheidet die ältere Bevölkerung mit und ohne onkologische Erkrankung. Dieses Instrument selektiert anhand von 5 Fragen diejenigen Patienten, bei welchen ein Defizit in einem der o.g. Bereiche zu erwarten ist. Die Informationen der Screeninginstrumente sind innerhalb weniger Minuten zu erheben und lassen sich ohne zusätzlichen Aufwand in die reguläre Anamnese integrieren.
67.4 Geriatrische Syndrome Zu den geriatrischen Syndromen werden Symptom- und Befundkonstellationen gezählt, die altersassoziiert gehäuft auftreten und mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert sind. Welche Konditionen zu den geriatrischen Syndromen gezählt werden, variiert in der Literatur, genannt werden: Polypharmazie, Delir, Demenz, Depression, Sturzneigung, Neglect, Abusus, Inkontinenz, Osteoporose, Aktivitätsminderung). Hierfür bedarf es in Ergänzung zur Akutversorgung organdominierter Erkrankungen eines speziellen Betreuungskonzeptes.
67.4.1 Delirantes Syndrom Merke Begriffsbestimmung: Delir Das Delir ist definiert als eine akute Störung von Aufmerksamkeit und kognitiven Leistungen.
Delirium stellt eine weit verbreitete Kondition bei älteren und alten Menschen dar und kann in dieser Altersgruppe für bis zu 30% der Krankenhausaufenthalte verantwortlich gemacht werden ▶ [2918]. Diese Patienten weisen eine erhöhte Morbidität und Mortalität, höhere Krankenhauswiederaufnahmeraten und ein höheres Risiko für eine Langzeitpflege auf. Verwirrtheitszustände (auch akute kognitive Dysfunktion oder Durchgangssyndrom) können in einer hyperaktiven (ca. 21%), hypoaktiven (ca. 29%) und gemischten Form (43%) in Erscheinung treten. Ein besonders hohes Risiko besteht bei folgenden Konstellationen: höheres Alter, bestehenden kognitiven Defiziten, Infektionen, Störungen des Elektrolythaushalts, nach chirurgischen Eingriffen bzw. Narkosen, bei intensivmedizinischer Behandlung, als Zeichen eines Entzugs und besonders dann, wenn die kognitive Reservekapazität eingeschränkt ist ▶ [3062], ▶ [2763], ▶ [2918]. Zahlreiche Patienten zeigen darüber hinaus nach einem Delir dauerhafte kognitive Defizite und entwickeln im weiteren Verlauf eine Demenz ▶ [2861]. Demenzpatienten, die ein Delir entwickeln, haben ein deutlich schlechteres Outcome mit Beschleunigung des kognitiven Abbaus. Allerdings wird ein Delir von ärztlicher Seite häufig nicht adäquat erkannt und versorgt. Viele Fälle von Delir wären grundsätzlich vermeidbar.
Vorsicht
Zahlreiche Arzneimittel, allen voran Benzodiazepine und andere Sedativa, anticholinerge Wirkstoffe, Narkotika, Antikonvulsiva, bestimmte Antidepressiva und Neuroleptika können ein Delir auslösen oder zumindest dafür prädisponieren ▶ [3062]. Generell ist die Wahrscheinlichkeit für ein Delir mit der Anzahl der gleichzeitig verordneten Wirkstoffe korreliert.
67.4.2 Multimorbidität und Polypharmazie Merke Begriffsbestimmung Polypharmazie Polypharmazie liegt dann vor, wenn ein Patient 5 oder mehr Wirkstoffe pro Tag einnimmt. Im Alter nimmt häufig die Anzahl der Erkrankungen zu, sodass zunehmend Ärzte verschiedener Fachrichtungen aufgesucht werden. Das Polypharmazierisiko steigt auch mit der Anzahl der behandelnden Ärzte. Bei einer Auswertung der Daten der hkk-Versicherung waren Patienten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer Polypharmazie betroffen, wenn sie von 5 oder mehr Ärzten behandelt wurden ▶ [2892]. Dazu kommt oft ein ungenügender Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Behandlern einerseits sowie eine unvollständige Information über die bereits bestehende Medikation andererseits. Frei verfügbare Medikamente oder sog. Nahrungsergänzungsmittel (z.B. Selen) bzw.
„Naturheilmittel“ (z.B. Johanniskraut, o.Ä.) werden vom Patienten nicht immer angegeben. Die spezifischen Eigenschaften verordneter oder selbst beschaffter Arzneimittel können jedoch zu Neben- oder Wechselwirkungen führen. Interessanterweise glauben fast 3/4 der Polypharmaziepatienten, dass alle ihre Ärzte einen genauen Überblick über die von den jeweils anderen Ärzten verschriebenen Medikamente hätten ▶ [3098].
Praxis Es ist daher essenziell, dass sich Fachärzte und Hausärzte untereinander absprechen. Als hilfreiches Medium bietet sich hier ein Medikationsplan an, der möglichst ausgedruckt werden kann. Dieser Medikationsplan kann für den Patienten eine Erinnerungshilfe sein, ist aber auch Bestandteil der Kommunikation zwischen den Behandlern. Wichtig ist, dass auch der Patient genau weiß, wofür oder wogegen – in laienverständlichen Begriffen – das neue Medikament ist. Einige Software-Systeme bieten bereits die Möglichkeit, einen Medikationsplan für Patienten zu pflegen, auszudrucken sowie elektronisch an andere Arztpraxen bzw. Krankenhäuser weiterzuleiten ▶ [2634]. Je mehr verschiedene Arzneimittel ein Patient einnehmen soll, desto geringer ist aber auch die Therapietreue. In einem Review haben Claxton et al. geschätzt, dass die Therapietreue bei einer einzelnen täglichen Dosierung bei etwa 80% liegt und auf etwa 50% abfällt, wenn 4 tägliche Dosen verordnet werden ▶ [3038]. Eine unzureichende Einnahmetreue mindert jedoch die Effektivität evidenzbasierter Therapien ▶ [2667].
67.4.2.1 Wechselwirkungen Bei Einnahme mehrerer verschiedener Wirkstoffe können nicht nur Nebenwirkungen, sondern auch unerwünschte Wechselwirkungen entstehen. Nicht selten treten neue Beschwerden auf, die Folge von Wechselwirkungen sind – und häufig erneut mit einem zusätzlichen Medikament behandelt werden. Nach Schätzungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind Wechsel- und Nebenwirkungen aufgrund einer Polypharmazie jedes Jahr für bis zu 5% aller Krankenhausaufnahmen und bis zu 25000 Todesfälle verantwortlich ▶ [2816]. Der Arzneimittelverbrauch ist je nach Alter und Geschlecht unterschiedlich. Nach einer Schätzung des Sachverständigenrates des Deutschen Bundestages sind etwa 35% der Männer und 40% der Frauen über 65 Jahre von Polypharmazie betroffen ▶ [2605]. Von durchschnittlich 549 verordneten definierten Tagesdosen („defined daily doses“, DDD) im Jahr 2013 lag der durchschnittliche Verbrauch in der Gruppe der 80- bis 85-Jährigen durchschnittlich bei 1643 DDD (im Vergleich zu 77 DDD in der Gruppe der 20- bis 25-Jährigen). Frauen wurden im Schnitt 18% mehr Tagesdosen verordnet als Männern ▶ [2770]. Bei Frauen werden vor allem Arzneimittelgruppen wie Sexualhormone, Gynäkologika, Osteoporosemittel oder Schilddrüsentherapeutika verordnet. Ein deutlicher Unterschied zur Verordnung bei Männern betrifft die Verordnung von Psychopharmaka und Analgetika, welche zu 54% bzw. 56% häufiger bei Frauen als bei Männern verordnet werden, wohingegen Männern neben Urologika mehr antithrombotische Präparate (+30%) und Lipidsenker (+24%) verordnet werden ▶ [2770].
67.4.2.2 Multimorbidität
Bei älteren und alten Menschen ist Multimorbidität sehr häufig verbreitet ▶ [377]. Bei den über 65-Jährigen haben etwa 80% mindestens eine chronische Erkrankung; Menschen im Alter zwischen 70 und 90 Jahren haben meist 5–10 Dauerdiagnosen ▶ [3062]. Häufige Komorbiditäten in dieser Altersgruppe sind: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, Osteoporose, chronische Lungenerkrankungen, Nierenfunktionsstörungen, Schmerzen, Depressionen, Demenz. In der Urologie treten vor allem Harninkontinenz, Prostatahyperplasie und das Prostatakarzinom mit zunehmendem Alter häufig auf. Daraus resultiert die Verordnung zahlreicher Medikamente. Man kann also erwarten, dass viele Patienten Blutdrucksenker (an erster Stelle ACE-Hemmer und β-Blocker) einnehmen, Männer sehr häufig einen Cholesterinsenker und einen Thombozytenaggregationshemmer erhalten, wohingegen bei Frauen eher mit einer Medikation mit Schilddrüsenhormonen, Analgetika und Psychopharmaka zu rechnen ist. Diese Polypharmazie muss einerseits bei der Verordnung durch den Urologen beachtet werden.
67.4.2.3 Einfluss von Medikationen auf die eingeschränkte Nierenfunktion im Alter
Mit zunehmendem Alter nimmt die Nierenfunktion ab. Pro Jahr geht bei gesunden Nieren bis zu 1% der Nierenfunktionsleistung verloren, sodass bei über 80Jährigen in über 50% mit einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) zwischen 30 und 60 ml/min gerechnet werden muss ▶ [3034]. Dies ist bei der Auswahl und Dosierung von Medikamenten zu berücksichtigen.
Kreatinin-Clearance Die Kreatinin-Clearance wird in der Routine mit der GFR, welche anhand von Alter, Geschlecht und Serum-Kreatinin errechnet wird, abgeschätzt. Dazu stehen verschiedene Formeln zur Verfügung. Die Näherungsformeln sind validiert für ambulante, chronisch nierenkranke Patienten mit moderater bis schwerer Einschränkung der Nierenfunktion (Stadium 3 und 4). Insbesondere die MDRD-Formel (Modification of Diet in Renal Disease) unterschätzt die GFR bei Menschen mit einer GFR >60 ml/min diese um 10 ml/min ▶ [3038]. Ebenso wenig geeignet sind die Näherungsformeln zur Bestimmung der glomerulären Filtrationsrate bei Krankenhauspatienten mit akuter Nierenfunktionsverschlechterung bzw. bei Menschen mit schwerem Übergewicht oder stark verminderter Muskelmasse. Bei normaler oder nur gering eingeschränkter Nierenfunktion ist der Anteil des tubulär sezernierten Kreatinins gegenüber der glomerulär filtrierten Menge gering und kann vernachlässigt werden. Bei schwerer Nierenfunktionseinschränkung kann der tubulär sezernierte Anteil über 50% der ausgeschiedenen Kreatinin-Menge betragen, die glomeruläre Filtrationsrate wird dadurch unter Umständen erheblich überschätzt. Die inzwischen vielfach routinemäßig angewandte sog. „vereinfachte MDRD-Formel“ hat sich seit 1989 etabliert. Die MDRD-Formel ist nicht besonders präzise und neigt
gerade bei Hochbetagten bzw. bei erhöhten Werten dazu, die Nierenfunktion zu überschätzen. Die Cockcroft-GaultFormel berücksichtigt nicht tubuläre Sekretion und kann die glomeruläre Filtrationsrate dadurch bei älteren Menschen überschätzen. Eine Forschergruppe des National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Disease hat an einem großen Probandenkollektiv (8254 Teilnehmer) eine neue CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration) genannte Formel entwickelt und an einem weiteren Kollektiv von 3896 Teilnehmern validiert. Die neue Formel schätzt die GFR richtiger als die MDRD-Formel und könnte diese künftig ersetzen. Die meisten Medikamente werden überwiegend renal eliminiert – die wenigsten Medikamente werden jedoch in der Dosisfindung an alten Menschen getestet. Der Arzt muss daher den Ausscheidungsweg der verordneten Arzneimittel kennen, um ggf. eine Dosisanpassung vorzunehmen. Neben der renalen Ausscheidung spielt die hepatische Elimination eine (etwas geringere) Rolle.
Praxis Als Faustregel kann gelten: Lipophile Substanzen werden eher hepatisch, hydrophile Substanzen eher renal eliminiert. Die Berücksichtigung der Nierenfunktion spielt eine Rolle beispielsweise bei folgenden Substanzen (s.a. ▶ Tab. 67.5 ): Dosierung von niedermolekularem Heparin: Eine mangelnde Anpassung führt zu einem erhöhten Blutungsrisiko. Für alle Bisphosphonate gelten ebenfalls spezielle Dosierungshinweise bei eingeschränkter
Nierenfunktion. Zahlreiche Antibiotika müssen bei herabgesetzter Nierenfunktion niedriger dosiert werden. Nitrofurantoin ist wegen des erhöhten Toxizitätsrisikos bei jeder Form der Nierenfunktionseinschränkung kontraindiziert und darf bei älteren Menschen nur gegeben werden, wenn die Nierenfunktion noch im Normbereich liegt. Bei der Gabe von jodhaltigem Kontrastmittel ist vor allem bei älteren Menschen auf möglichst niedrige Kontrastmitteldosierung, eine ausreichende Hydrierung und ggf. prophylaktische Gabe von Mannitol, NAcetylcystein, Statinen oder Bikarbonat zu achten ▶ [2850], ▶ [2972]. Die Gabe von jodhaltigem Kontrastmittel kann z.B. zu einer Verlangsamung der Elimination und Kumulation von Metformin führen. Dies kann im ungünstigsten Fall eine Laktatazidose auslösen. Bei einer GFR >45 ml/min kann Metformin durchgehend genommen werden. Bei einer GFR von 30–45 ml/min sollte Metformin 48 Stunden vor und bis zu 48 Stunden nach Kontrastmittelgabe pausiert werden. Die Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz einiger häufig gebrauchter Medikamente zeigt ▶ Tab. 67.5 ▶ [2814]. Tab. 67.5 Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz einiger häufig gebrauchter Medikamente ▶ [2814]. Substanzklasse
Beispielpräparat renale Bemerkung Exkretion (%)
ACE-Hemmer
Captopril Enalapril Lisinopril
Bis >90% Prodrugs, aktive Metabolite renal eliminiert
Substanzklasse
Beispielpräparat renale Bemerkung Exkretion (%)
AminoglykosidAmikacin Antibiotika/Glykopeptide Gentamicin Tobramycin Vancomycin (V)
>90%
Nephrotoxisch und enger therapeutischer Bereich! Regelmäßige Spiegelbestimmung Dosisanpassung bei GFR