Geriatrische Urologie: für die Praxis [1. Aufl.] 9783662614938, 9783662614945

Tipps für eine abgestimmte Behandlung von geriatrisch urologischen Patienten Das Praxisbuch zur Urogeriatrie. Als erste

260 13 9MB

German Pages XV, 237 [244] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Einleitung (Andreas Wiedemann)....Pages 1-2
Demographie und Berufspolitik (Andreas Wiedemann)....Pages 3-13
Besonderheiten des geriatrischen Patienten (Andreas Wiedemann)....Pages 15-25
Assessments für den Urologen (Andreas Wiedemann)....Pages 27-56
Urogeriatrisches Syndrom: Harninkontinenz (Andreas Wiedemann)....Pages 57-76
Urogeriatrisches Syndrom: Blasenentleerungsstörung (Andreas Wiedemann)....Pages 77-94
Katheterableitung beim geriatrischen Patienten (Andreas Wiedemann)....Pages 95-106
Urogeriatrisches Syndrom: Makrohämaturie (Andreas Wiedemann)....Pages 107-113
Urogeriatrisches Syndrom: Sturz (Andreas Wiedemann)....Pages 115-124
Urothelkarzinom der Harnblase beim geriatrischen Patienten (Andreas Wiedemann)....Pages 125-140
Prostatakarzinom beim geriatrischen Patienten (Andreas Wiedemann)....Pages 141-172
Erkrankungen des äußeren Genitales (Andreas Wiedemann)....Pages 173-185
Harnwegsinfekte beim geriatrischen Patienten (Andreas Wiedemann)....Pages 187-197
Delir und urologische Operationen (Andreas Wiedemann)....Pages 199-204
Nierenzellkarzinom beim geriatrischen Patienten (Andreas Wiedemann)....Pages 205-218
Nächtliches Polyuriesyndrom (Andreas Wiedemann)....Pages 219-222
Testosteronmangel (Andreas Wiedemann)....Pages 223-226
Perioperatives Management, Entlassung, Rehabilitation (Andreas Wiedemann)....Pages 227-231
Back Matter ....Pages 233-237
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Geriatrische Urologie: für die Praxis [1. Aufl.]
 9783662614938, 9783662614945

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Andreas Wiedemann

Geriatrische Urologie für die Praxis

Geriatrische Urologie

Andreas Wiedemann

Geriatrische Urologie für die Praxis

Andreas Wiedemann Urologische Klinik Ev. Krankenhaus Witten gGmbH Witten, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

ISBN 978-3-662-61493-8 ISBN 978-3-662-61494-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61494-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung: deblik Berlin Planung/Lektorat: Susanne Sobich Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Dieses Buch ist Prof. Dr. Ingo Füsgen gewidmet, der mich zunächst als Förderer und wissenschaftlicher Mentor und schließlich als väterlicher Freund begleitet hat.

Geleitwort

Urogeriatrie – noch eine neue Entität in der Versorgungslandschaft? Ist doch die Geriatrie in Deutschland an sich noch ein junges medizinisches Fach in der Wahrnehmung, sowohl im Fächerkanon als auch in der Bevölkerung, gewinnt sie zunehmend an Bedeutung in der Patientenversorgung. Die demographische Chance macht es möglich, geriatrische Expertise in andere medizinische Fächer zu bringen. Die Urologie bietet sich hierfür selbstverständlich an, denn die Gemeinsamkeiten in der Versorgung der älteren Patienten sind groß. Die demographische Entwicklung, sowie der Anstieg chronischer Erkrankungen und der Fortschritt in der Medizin bewirken, dass der Anteil alter und hochbetagter Patienten in allen Versorgungsstufen stetig ansteigt. Dies stellt besondere Herausforderungen an die medizinische Versorgung und das Management von geriatrischen Patienten im ambulanten wie auch im stationären Bereich in Bezug auf Organalterung, Multimorbidität und Funktionseinschränkungen. Aspekte der Lebensqualität und Patientenautonomie stellen zusätzlich eine relevante Herausforderung in der Behandlung älterer und multimorbider Patienten dar. Hierbei müssen die speziellen Bedürfnisse älterer Patienten berücksichtigt werden. Diese Zunahme älterer Patienten betrifft viele Bereiche des Gesundheitssystems, dem medizinischen Bereich kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Kontinenz und Inkontinenz, eines der großen und bedeutsamen Syndrome in der Geriatrie, rückt immer mehr in den Vordergrund und wird zunehmend aus der Tabuzone geholt. Daher müssen in der Versorgung die Risikopatienten identifiziert werden, Strukturen und Voraussetzungen geschaffen werden um die älteren Patienten nach deren Bedürfnissen optimal zu behandeln. Hierbei spielen Kontinenz und Inkontinenz eine sehr bedeutende Rolle und die Inkontinenz ist eines der führenden Leiden im höheren Lebensalter. Um dieser Konstellation gerecht zu werden bedarf es zielgerichteter Diagnostik und Therapie, sowie Evidenz für geriatrische Behandlungs- und Präventionsmodelle. Die Urogeriatrie bewegt sich dabei im Grenzbereich von Urologie und Geriatrie und kümmert sich im Hinblick auf die demographische Entwicklung auf urologischem Sektor um eine fachübergreifende Herangehensweise. Sie importiert geriatrische Methoden in die Urologie und exportiert urologischen Know-how bei Erkrankungen des VII

VIII

Geleitwort

Harntraktes in die Geriatrie. Gemeinsam ist beiden Fächern die Behandlung von alten Menschen. Rund 40 % der stationär behandelten Patienten einer urologischen Hauptabteilung sind 70 Jahre und älter; häufig liegen eine Multimorbidität und Multimedikation vor. Damit ergeben sich besondere Anforderungen für die Behandlung dieser Patientengruppe. Dies bedeutet auch eine Neuausrichtung der Urologie mit der Beschäftigung mit relevanten, demographisch wichtigen Themen, wie auch die Adaptation fachspezifischer Methoden an die besonderen Anforderungen des geriatrischen Patienten. Daher ist eine weitere Entwicklung des Faches unumgänglich. Dazu gehört auch, alterstypische Beschwerden richtig einzuschätzen, die Krankheiten korrekt zu diagnostizieren, aber auch in der (operativen) Urologie den geriatrischen Patienten ganzheitlich zu betrachten und zu behandeln. Aufgrund des hohen Anteils der geriatrischen Patienten mit urologischen Behandlungsbedarf und umgekehrt, war es dringend erforderlich, dass die beiden Fächer aufeinander zuzugehen. So können wir gemeinsam unseren Behandlung-und Diagnosehorizont erweitern und dieses Buch als ersten Impuls für die zukünftige und noch engere Zusammenarbeit sehen. Mit Schaffung der eingeordneten Professur für Urogeriatrie am Lehrstuhl für Geriatrie hat die Universität Witten/Herdecke ein bisher einmaliges Zeichen in der deutschen medizinischen Versorgungslandschaft und der akademischen Geriatrie gesetzt. Dem Autor, Prof. Dr. Andreas Wiedemann, ist sehr daran gelegen, deutlich zu machen, dass die Geriatrie ein medizinisches Fachgebiet ist, dass hohe personelle und inhaltliche fachliche Anforderungen an die Patientenversorgung stellt und dieses in die Urologie transferiert werden muss. Ihm ist es gelungen, die Fokuspunkte aus beiden Fachbereichen zu thematisieren und den Grundstein für eine weitere interdisziplinäre Versorgung unserer geriatrischen Patienten zu legen. Dieses Lehrbuch, in neuem Ansatz und Format, gibt den interessierten Leser die Möglichkeit, sich der Geriatrie in der Urologie von einem einer ganz neuen Seite zu nähern. Gut lesbar geschrieben, am klinisch-praktischen Alltag orientiert ist die „Urogeriatrie“ ein kompakter Wegbegleiter, sowohl für die Ausbildung, den interessierten Geriater als auch den erfahrenen Urologen. Daher danke ich dem Autor, diesen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Geriatrie in der Urologie zu leisten. Allen Lesern wünsche ich, dass dieses Buch praktische Unterstützung und Hilfestellung leistet und dazu beiträgt, die Versorgung geriatrischer Patienten qualitativ noch besser zu machen. Chefarzt Geriatrische Klinik und Tagesklinik am HELIOS Klinikum Schwelm Lehrstuhl für Geriatrie an der Universität Witten/Herdecke Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie e. V. Dr.-Moeller-Straße 15 58332 Schwelm Schwelm/Witten im März 2020

Univ.- Prof. Dr. med. Hans Jürgen Heppner

Vorwort

Mit der Errichtung einer Professur für geriatrische Urologie am Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Witten/Herdecke 2017 wurde erstmals in Deutschland ein ebenso neuer wie wichtiger Schwerpunkt in der Urologie mit einer festen Struktur versehen und mit als Forschungsschwerpunkt verortet. Dass die Urologie die ältesten Patienten neben der Geriatrie behandelt, ist hinlänglich bekannt, es bedeutet aber auch, dass ein spezielles Know-how über die Besonderheiten dieser häufig geriatrischen Patienten erworben werden muss, damit diese sicher, nachhaltig und erfolgreich behandelt werden können. Das vorliegende erste Lehrbuch für Urogeriatrie möchte hier einerseits Wissen vermitteln, andererseits auch den Blick für den geriatrischen Patienten in der Urologie erweitern und sämtliche relevanten Erkrankungen mit ihren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen aus dem Blickwinkel auf den vulnerablen und von Chronifizierung und Autonomieverlust bedrohten, in der Regel über 75 Jahre alten Patienten betrachten. Besondere Berücksichtigung finden geriatrische Syndrome, die mit ihren Folgen in die Urologie und die hier etablierten Therapien hereinreichen. Als Beispiel mag das geriatrische Syndrom „Sturz“ gelten, das nicht nur durch eine Harninkontinenz oder ein Prostatakarzinom selbst, sondern auch durch ZNS-gängige Anticholinergika, durch eine Sarkopenie unter Androgenentzug oder eine Polyneuropathie unter einer Antikörperoder Chemotherapie urologische Relevanz erhält. So soll das vorliegende Lehrbuch Nichturologen über dieses neue Segment der Urologie informieren, den Horizont des Urologen erweitern helfen und damit auch berufspolitisch gesehen einer sachlichen Notwendigkeit im Zuge des demographischen Wandels Rechnung tragen. Witten im Februar 2020

Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann

IX

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2

Demographie und Berufspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1 Situation stationär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.2 Situation ambulant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2.3 Die Fachdisziplin Urologie hat es nicht leicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.4 Komorbiditäten haben großen Einfluss auf Therapieerfolg. . . . . . . . . . 10 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

3

Besonderheiten des geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.1 Definition des geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.2 Multimorbidität und Multimedikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.3 Die geriatrischen I’s. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

4

Assessments für den Urologen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.1 Assessments allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.2 Geriatrische Assessments. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4.2.1 Geriatrisches Eingangsscreening (Stufe 1 des geriatrischen Assessments nach AGAST). . . . . 29 4.2.2 Geriatrische Basisassessments (Stufe 2 des geriatrischen Screenings nach AGAST) . . . . . . 33 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

5

Urogeriatrisches Syndrom: Harninkontinenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.1.1 Multimorbidität, Multimedikation und Inkontinenz . . . . . . . 58 5.1.2 Ultrastrukturelle Altersveränderungen der Harnblase. . . . . . 59 5.1.3 Alterserkrankungen mit Einfluss auf die Harnblase . . . . . . . 60 5.2 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

XI

XII

Inhaltsverzeichnis

5.3 Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.3.1 Therapie der Belastungsinkontinenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.3.2 Therapie der überaktiven Blase bei älteren Patienten . . . . . . 64 5.3.3 Therapie der Überlaufinkontinenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.4 Besondere Formen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.4.1 Neurogene Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.4.2 Extraurethrale Inkontinenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 6

Urogeriatrisches Syndrom: Blasenentleerungsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.1 Subvesikale Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 6.1.1 Benignes Prostatasyndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 6.1.2 Prostatakarzinom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.1.3 Harnröhrenenge, Meatusenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.1.4 Blasenhalsenge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6.1.5 Deszensus genitalis/Prolaps. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6.1.6 Obstipation/Skybala. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6.1.7 Funktionelle subvesikale Obstruktion durch eine fehlende Sphinkterrelaxation (z. B. Detrusor-SphinkterDysfunktion bei Multipler Sklerose). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6.2 Detrusoratonie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

7

Katheterableitung beim geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 7.1 Katheterableitung bei Blasenentleerungsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 7.2 Katheterableitung bei Inkontinenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 7.3 Komplikationen der Harnblasenlangzeitdrainage. . . . . . . . . . . . . . . . . 98 7.4 Suprapubisch oder transurethral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 7.5 Vor- und Nachteile der Katheterarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

8

Urogeriatrisches Syndrom: Makrohämaturie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 8.1 Strukturiertes Vorgehen bei Makrohämaturie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

9

Urogeriatrisches Syndrom: Sturz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 9.1 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 9.2 Harninkontinenz und Sturzneigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 9.2.1 Inkontinenzart und Stürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 9.2.2 Schweregrad einer Harninkontinenz und Stürze. . . . . . . . . . 118 9.3 Anticholinergika und Stürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9.4 Antidementiva, überaktive Blase und Stürze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 9.5 Anticholinergika und Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Inhaltsverzeichnis

XIII

10 Urothelkarzinom der Harnblase beim geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . 125 10.1 Das oberflächliche Harnblasenkarzinom (NMIBC). . . . . . . . . . . . . . . . 125 10.2 Das muskelinvasive Harnblasenkarzinom (MIBC). . . . . . . . . . . . . . . . 130 10.3 Therapie des fortgeschrittenen oder metastasierten Urothelkarzinoms der Harnblase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 11 Prostatakarzinom beim geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 11.1 Natürlicher Verlauf, Screening, Behandlungsindikationen. . . . . . . . . . 145 11.2 Behandlungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 11.2.1 Active Surveillance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 11.2.2 Watchful Waiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 11.2.3 Kurative Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 11.2.4 Therapie des PSA-Rezidivs nach kurativ intendierter Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 11.2.5 Palliative Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 12 Erkrankungen des äußeren Genitales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 12.1 Mann mit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 12.1.1 Phimose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 12.1.2 Paraphimose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 12.1.3 Balanitis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 12.1.4 Hydrozele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 12.1.5 Epididymitis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 12.1.6 Atherome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 12.1.7 Peniskarzinom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 12.1.8 Meatusstenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 12.1.9 Mykosen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 12.2 Frau mit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 12.2.1 Kraurosis vulvae. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 12.2.2 Meatusstenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 12.2.3 Harnröhrenkarunkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 13 Harnwegsinfekte beim geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 13.1 Unkomplizierte Harnwegsinfektionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 13.2 Xanthogranulomatäse Pyelonephritis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 13.3 Obstruktive Pyelonephritis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 13.4 Akute Prostatitis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 13.5 Akute Epididymitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 14 Delir und urologische Operationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

XIV

Inhaltsverzeichnis

15 Nierenzellkarzinom beim geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 15.1 Epidemiologie, Risikofaktoren, Stadieneinteilung, Scores. . . . . . . . . . 205 15.2 Chirurgische Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 15.3 Systemtherapie des metastasierten Nierenzellkarzinoms . . . . . . . . . . . 212 15.3.1 Tyrosinkinase-Inhibitoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 15.3.2 Kombinationstherapien/Checkpoint-Inhibitoren. . . . . . . . . . 214 15.3.3 VEGF-Inhibitoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 15.3.4 mTOR-Inhibitoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 16 Nächtliches Polyuriesyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 17 Testosteronmangel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 18 Perioperatives Management, Entlassung, Rehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . 227 18.1 Perioperatives Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 18.2 Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 18.3 Rehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Über den Autor

Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann  studierte an der Universität in Essen Medizin und promovierte über Enteritiden, die durch Campylobacter jejuni hervorgerufen werden. Bereits seit 2006, als Chefarzt der Urologie in Witten, engagiert sich Prof. Dr. med. Wiedemann für den geriatrischen Bereich. Neben vielen Zusatzspezifikationen (spezielle urologische Chirurgie, Andrologie, Medika­mentöse Tumortherapie etc.) hat Herr Prof. Dr. med. Wiedemann zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Seit 2017 ist Prof. Wiedemann als Professor der Uro-Geriatrie in Witten/ Herdecke tätig und Herausgeber (Geriatic Urology) sowie Mit-Herausgeber (Geriatrics-Report) zahlreicher Paper.

XV

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Einleitung

Grenzgebiete sind spannend – über diese allgemeingültige Aussage hinaus setzt sich seit etwa 2 Jahren in der Urologie die Erkenntnis durch, dass die demografische Entwicklung nicht nur allgemeine Anpassungen des Faches Urologie erfordert, sondern auch eine radikale Neuausrichtung. Immer häufiger beschleicht Urologen das ungute Gefühl, dass die bisherige Schwerpunktsetzung in ihrem Fach nicht immer ganz richtig und häufig auch Industrie-getriggert war. So ist – wenn man die Themenwahl der Jahrestagung der Dt. Gesellschaft für Urologie als Gradmesser akzeptiert – eine besondere Fokussierung auf das Prostatakarzinom zu beobachten. 2018 beschäftigten sich nicht weniger als 23 Sitzungen (ungefähr so viele wie der Rest der Sitzungsthemen zusammen) mit diesem häufigsten Karzinom des Mannes – besonders mit dem metastasierten Prostatakarzinom und robotischen Operationen. Hier muss die Frage erlaubt sein, ob diese Themenkonzentration wirklich ein wissenschaftliches Interesse widerspiegelt oder auch an den neuen Antiandrogenen und Antikörpern liegt. Wo solche Industrieinteressen vorliegen, gibt es natürlich auch Studien, Studiengelder, Studienergebnisse, Prüfärzte, Symposien… Eine ähnliche Entwicklung scheint nach Auffassung des Autors beim metastasierten Urothel-Karzinom vorzuliegen: Es kommt gerade jetzt wieder in die Schlagzeilen, wo hochpreisige Antikörper für metastasierte Stadien verfügbar sind, deren Jahrestherapiekosten bei 120.000 EUR liegen. Und – provokant formuliert – bei der Vielzahl an solchen Antikörpern, Tyrosin-Kinase-Inhibitoren und Checkpoint-Inhibitoren für das metastasierte Nierenzellkarzinom munkelt man bereits, dass alle Patienten in Deutschland in solchen zulassungsgerechten Stadien mittlerweile in Studien eingeschlossen und gar nicht mehr für eine „freie“ Therapie verfügbar sind. Auf der anderen Seite wird die demografische Entwicklung gerade uns Urologen zwingen, unsere Behandlungskonzepte zu erweitern bzw. anzupassen. Den „geriatrischen Patienten“ als vulnerabel zu begreifen, die Nebenwirkungen der urologischen Standardtherapieschemata mit diesem Fokus zu berücksichtigen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Wiedemann, Geriatrische Urologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61494-5_1

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1 Einleitung

und Funktionszustände bzw. -defizite genauso zu messen und in die urologische Kommunikation einzubinden, wird die Herausforderung der Zukunft sein. So müssten nach der festen Überzeugung des Autors viele Tumorkonferenzempfehlungen, Beckenbodenkonferenzbeschlüsse und -protokolle umgeschrieben werden. Nicht nur das TNM-Stadium des Tumors und die glomeruläre Filtrationsrate sind zu berücksichtigen, der PSA-Wert und seine Anstiegsgeschwindigkeit, sondern auch die Funktionalität des Patienten. Hier wären die Anwendung und Kommunikation von geriatrischen Assessments auch in der Urologie ein „Muss“. Vielfach finden sich bei Therapieempfehlungen in Tumor- oder Beckenbodenkonferenzen auch die Besonderheiten der Polypharmazie des geriatrischen Patienten und das spezifische Nebenwirkungsprofil der vorgesehenen Therapien nur ungenügend berücksichtigt. Stichworte sind hier die Förderung einer Sturzneigung etwa durch ZNS-gängige Anticholinergika, durch eine Anämie, kognitive Verschlechterung und Sarkopenie verursachenden Androgenentzug oder die Mobilitätreduzierende Therapie mit Antikörpern, die eine Polyneuropathie verursachen. Mittlerweile scheint das Thema „Uro-Geriatrie“ auch in den Köpfen von Mandatsträgern angekommen zu sein. Als Beispiele hierfür sei der Auftrag des Präsidiums der DGU an den Autor genannt, einen „Arbeitskreis geriatrische Urologie“ aus der Taufe zu heben. Das rege Interesse von Kollegen aus Klinik und Praxis belegt einerseits an dieser Stelle das Ringen um eine hochqualifizierte Betreuung des geriatrischen Patienten bzw. um einen Wissenstransfer zwischen Geriatrie und Urologie. Auch die Förderung einer neuen Leitlinie zu einem klassischen uro-geriatrischen Thema, der Hilfsmittelversorgung, beweist den Willen der Fachgesellschaft, hier ein Umdenken einzuleiten. All diese und andere Themen will das vorliegende Lehrbuch aufgreifen, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu stellen. Es will dem behandelnden Urologen, Geriater, Internisten und Allgemeinmediziner, schlicht allen an der Betreuung geriatrischer Patienten mit Erkrankungen auf urologischem Fachgebiet Beteiligten eine Handreichung bieten und vor allem auch zu einem Umdenken zugunsten dieser vulnerablen Patienten animieren. Die Idee zu diesem Buch entstand in Kooperation mit dem Springer-Verlag, der diesen Schwerpunkt mit der „uro-geriatrischen Arbeitsgruppe“ an der Universität/Witten Herdecke auch in der wissenschaftlichen Buchlandschaft sichtbar machen wollte. Für die bei der Entstehung des Buches gewährte Unterstützung sei an dieser Stelle gedankt.

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Demographie und Berufspolitik

Inhaltsverzeichnis 2.1 Situation stationär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.2 Situation ambulant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2.3 Die Fachdisziplin Urologie hat es nicht leicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.4 Komorbiditäten haben großen Einfluss auf Therapieerfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Das 20. und 21. Jahrhundert sind von einer bisher nie dagewesenen Umwälzung und Entwicklung der Demographie gekennzeichnet. Der Trend ist weltweit – in verschiedenen Geschwindigkeiten – gleich und gleichermaßen besorgniserregend. Während 1950 der Anteil der über 67-jährigen in der Bevölkerung 8 % betrug, lag er nur 50 Jahre später im Jahr 2000 schon bei 14 %, 2018 bei 19 % und wird 2050 27 % betragen. Spiegelbildlich sinkt der Anteil der unter 20-jährigen von 30 % (1950) über 21 % (2000) auf und 18 % (2018) auf 17 % (2050). Schon optisch leicht zu erkennen verändert sich die „Alterspyramide“ (Abb. 2.1) – die breite Basis der Jüngeren verändert sich hin zu einer „Alterssäule“: Während sich allgemein der „demographische Wandel“ durch Naturkatastrophen, Kriege, Veränderungen der Geburtenrate und eine verbesserte Gesundheitsvorsorge erklären lässt, scheinen die Veränderungen in den letzten 100 Jahren in Westeuropa vor allem in einer verbesserten Hygiene (Zugang zu sauberem Trinkwasser, Reduktion von Umweltgiften, Verbesserungen bei Lebensmittel- und persönlicher Hygiene), einer reduzierten Arbeitsbelastung sowohl in der Tages- als auch Lebensarbeitszeit, einem weitgehenden Verzicht auf körperliche, gefahrenträchtige Arbeit und den Einsatz von Maschinen sowie Fortschritten auf medizinischem Sektor (Perinatal-Medizin, Impfungen, Anästhesie, Chirurgie) begründet zu sein. Ergänzend fördern persönliche © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Wiedemann, Geriatrische Urologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61494-5_2

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2  Demographie und Berufspolitik

Abb. 2.1   Alterspyramide für Deutschland – Veränderungen von 1950 bis 2050. (Aus https:// service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/#!y=2001&v=2, Zugriff 10. 8. 2019)

Faktoren wie ein optimiertes Gesundheitsverhalten sowie eine verbesserte soziale und emotionale Intelligenz diese Entwicklung. Der Effekt der älter werdenden Bevölkerung ist in den hochentwickelten Industriestaaten am weitesten fortgeschritten, er läuft jedoch in den „Entwicklungsländern“ um einige Jahrzehnte zeitversetzt mit der gleichen Rasanz ab. Welche Dynamik diese Entwicklung genommen hat, ist auch an einer personalisierten Betrachtung festzumachen: In der Lebensspanne eines heute 60-jährigen hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. Oder anders formuliert: Heute leben mehr Menschen auf der Welt, als jemals insgesamt gestorben sind.

2.1  Situation stationär

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Wichtig Heute leben mehr Menschen auf der Welt, als jemals insgesamt gestorben sind. Die Folge sind tiefgreifende Veränderungen und Probleme. So wird der Anteil der allein Lebenden und Pflegebedürftigen in den nächsten Jahrzehnten dramatisch steigen – bei einem sinkenden Anteil an Erwerbstätigen, die die Versorgung bzw. Pflege und deren Finanzierung übernehmen könnten. Zusätzlich zu bedenken ist der Zerfall der klassischen Familie und damit auch die Bereitschaft von Angehörigen, ehrenamtlich, unbezahlt und selbstlos Pflege zu übernehmen. Das Szenario wird von einem Heer von alleinlebenden, überwiegend weiblichen Pflegebedürftigen beherrscht werden, die von professionellen Betreuern vermutlich eher nicht persönlich und empathisch „versorgt“ werden. Die daraus resultierenden ökonomischen und politischen Verwerfungen finden häufig in einer die Hilflosigkeit anzeigenden sprachlichen Diskriminierung Ausdruck. So ist von „Altenplage“, „silver tsunami“, „Rentnerschwemme“, „sozialverträglichem Frühableben“, der „demographischen Katastrophe“, einem „Krieg der Generationen“, einer „Altenschwemme“ oder „heaven´s waiting room“ die Rede. Und in dieser Gemengelage sind die „grauen Panther“ nur der schwache Versuch, politischen Einfluss zu nehmen. Die genannte Entwicklung wird mit Sicherheit zu gesellschaftlichen Verwerfungen und Konflikten führen – der von Jüngeren entvölkerte Osten gegen den Westen Deutschlands, die mit immer höheren Abgaben belasteten Jüngeren gegen die Älteren, unterfinanzierte Krankenhäuser gegen die Politik, unterfinanzierte Niedergelassene gegen Krankenhäuser, Entwicklungsländer gegen Industrieländer… In der Medizin sind die durch den demographischen Wandel entstehenden ökonomischen Belastungen schon heute spürbar (Abb. 2.2).

2.1 Situation stationär Die Anzahl der über 65-jährigen an Krankenhausfällen wird steigen, ihre Verweildauer aber nur begrenzt im Vergleich mit der von jüngeren Patienten sinken. Dies ist jedoch die einzige Stellschraube, die es Krankenhäusern ermöglicht, in einem pauschalierten System die Kosten pro Fall zu senken, denn andere Einsparquellen etwa durch ein outsourcing der Apotheke, des Röntgens oder das Zusammenlegen der Küche und Medizintechnik mit dem Nachbarkrankenhaus sind längst schon „ausgelutscht“. Daten aus der Urologie liegen bisher nur punktuell vor: Schon jetzt beträgt der Anteil der Älteren an denen der stationären Patienten nahezu die Hälfte aller stationär Behandelten (Abb. 2.3). Dabei liegt die Verweildauer (Abb. 2.4) aller über 75-jährigen Patienten rund 2 Tage über der der Gesamtheit aller urologischen Patienten in der gleichen Abteilung; die Verweildauer der über 75-jährigen, die laut einer gesetzlichen Vorgabe seit 2015 mit einem geriatrischen Eingangsscreening (ISAR-Screening, Identification of Seniors At Risk [1, 2]) als solche „mit geriatrischem Handlungsbedarf“ diskriminiert wurden, liegt rund einen Tag über dem der Gleichaltrigen „ohne geriatrischen Handlungsbedarf“ [3].

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2  Demographie und Berufspolitik

Abb. 2.2   Krankenhausverweildauer und Alter. (Aus https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitszustand-Relevantes-Verhalten/Publikationen/DownloadsGesundheitszustand/gesundheit-im-alter-0120006109004.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 10. 8. 2018)

2.2 Situation ambulant Im ambulanten Sektor wird die Bedeutung für das Fach Urologie besonders deutlich. Nach dem Chefstatistiker des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung, Dr. Dominik Graf von Stilfried, hat die Urologie den größten Anteil an über 65-jährigen Patienten in der Praxis – dieser Anteil wird in den nächsten Jahren um einen zweistelligen Betrag steigen (Abb. 2.5). Fazit Die genannten Faktoren bedingen die Notwendigkeit zur Hinwendung zum älteren Patienten – und hier insbesondere zum geriatrischen Patienten, seinen Besonderheiten und Herausforderungen. Dies kann aber nicht nur mit der Eröffnung von Pflegeheimen,

2.2  Situation ambulant

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Abb. 2.3   Altersverteilung der stationären Patienten in der Urologie des Ev. Krankenhauses Witten gGmbH im Jahr 2018. (© Wiedemann 2020, All Rights Reserved)

Abb. 2.4   Verweildauer in Tagen in der urologischen Klinik des Ev. Krankenhauses Witten gGmbH; Gesamtheit aller Patienten 4,2 Tage, aller über 75-jährigen 6 Tage, „ISAR-positive“ Patienten 6,8 Tage (s. Text) [3]. (© Wiedemann 2020, All Rights Reserved)

ambulanten Pflegediensten und der Erweiterung bestehender und Etablierung neuer geriatrischer Abteilungen erfolgen. Auch das ist zwar eine der Folgen des demographischen Wandels, dennoch wird der geriatrische Patient auch • wegen seiner Harnverhaltung, Makrohämaturie oder Harninkontinenz in der Urologie, • wegen seines Katarakts in der Augenheilkunde oder • wegen seiner Schenkelhalsfraktur in der Chirurgie behandelt werden müssen.

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2  Demographie und Berufspolitik Patientenstruktur in den Vertragsarztpraxen – Anteil der Patienten nach 3 Altersgruppen Gesamt

UROLOGEN Fachärztliche Internisten Augenärzte Nervenärzte Anästhesisten Radiologen Orthopäden HNO-Ärzte Chirurgen Hautärzte Hausärzte Frauenärzte Psychotherapeuten Kinderärzte 0%

10% Anteil bis 18

20%

30%

Anteil 19 bis 64

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Anteil ab 65

Entwicklung des Versorgungsbedarfs bis 2025 nach FachgruppenUrologen UROLOGEN Augenärzte Fachärztliche Internisten Hausärzte Orthopäden Nervenärzte Radiologen Hautärzte Anästhesisten

Annahme: Versorgungsbedarf je Patient / Alters- und Geschlechtsgruppe des Jahres 2009 bleibt je Fachgruppe unverändert

Chirurgen HNO-Ärzte Frauenärzte Psychotherapeuten Kinderärzte 15%

-10%

-5%

0%

5%

10%

15%

20%

25%

Abb. 2.5    Anteil der über 65-jährigen Patienten in der urologischen Praxis (1. Zeile) und deren Entwicklung. (Modifiziert nach D. Stilfried, aus https://www.zi.de/fileadmin/images/content/ PDFs_alle/Fallzahlentwicklung-Urologie_2012_09_29.pdf)

Hier ist die „geriatrische Mitbetreuung“ sicher nur das Feigenblatt für die primär Behandelnden; sie ist schon aus personellen Ressourcen der vorhandenen geriatrischen Abteilungen auch gar nicht gewünscht bzw. leistbar. Die politischen Bemühungen mit dem Auftrag, „Geriatrie-Verbünde“ zu gründen, zielt hier zwar in die richtige Richtung, erspart den primär behandelnden Urologen, Ophthalmologen, Unfallchirurgen oder anderen aber nicht den Erwerb eines spezifischen Know-hows über die Besonderheiten

2.3  Die Fachdisziplin Urologie hat es nicht leicht

9

ihrer geriatrischen Patienten und die Ausrichtung seiner fachspezifischen Therapieformen an die Besonderheiten. Wichtig: Geschieht hier zeitnah kein Umdenken, wird sich die medizinische Versorgung dieser Patienten nicht nur in der Urologie verschlechtern. Hier sollten Cochrane-Daten aus der Unfallchirurgie zum Nachdenken anregen, die für eine geriatrische Mitbetreuung nach Schenkelhalsfraktur einen positiven Effekt auf Mortalität, die postoperative Funktionalität, die Notwendigkeit einer späteren Heimversorgung und die Dauer des Krankenhausaufenthaltes belegen [4]. Ob und in wie weit eine „geriatrische“ Weiterbildung der primären Interventionalisten hier zu Effekten führt, ist unbekannt.

2.3 Die Fachdisziplin Urologie hat es nicht leicht Die Hinwendung zum geriatrischen Patienten mit einer hochqualifizierten Betreuung wird aber nicht nur aus medizinischen und sozio-ökonomischen Gründen eine Notwendigkeit für die Urologie der nahen Zukunft darstellen – sie wird auch den Stellenwert und die Standfestigkeit der Urologie im Wettstreit der verschiedenen Fachdisziplinen sichern. Die Urologie ist traditionell ein Fach, dessen Hauptthemen häufig von Kollegen anderer Fachdisziplinen „mitbehandelt“ werden. Als Beispiele hierfür sind die Harnwegsinfekte, das benigne Prostatasyndrom und viele onkologische Entitäten zu nennen. Was historisch aus einer regionalen Unterversorgung von Gebieten mit Fachärzten für Urologie entstanden sein mag, ist heute im pekuniären Wettstreit der Disziplinen häufig ein Verlustgeschäft für die Urologie geworden: • Wegen der nicht mehr gegebenen finanziellen Refinanzierung des urologischen Röntgens wird flächendeckend nicht mehr fachspezifisch geröntgt mit der Folge, dass über kurz oder lang auch die urologische Weiterbildungsbefugnis auf diesem Sektor nicht mehr aufrecht zu halten sein wird. • Die urologische Mikrobiologie in der Praxis ist wegen der veränderten Ausbildungsvoraussetzungen für jüngere Kollegen häufig nicht mehr erreichbar. • Die Kinderurologie wird flächendeckend von Kinderchirurgen abgedeckt. • Ein „ambulantes Operieren“ ist durch unerfüllbare bauliche und instrumentelle Hygiene-Voraussetzungen kaum noch in der Praxis darstellbar und in der Klinik häufig ein Verlustgeschäft. • Die urologische ambulante (flexible) Zystoskopie steht im Moment wegen der nicht kostendeckenden Bezahlung zur Debatte. • Das benigne Prostatasyndrom und die gesetzliche Vorsorge wird durch Hausärzte häufig ohne ein PSA-gestütztes Screening „abgedeckt“. • „Uro-Gynäkologen“ beanspruchen die Harninkontinenz der Frau für sich.

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2  Demographie und Berufspolitik

• Onkologen vereinnahmen die konservative Behandlung der urologischen Karzinome… Hier ist diese Entwicklung einer „entblätterten Kernurologie“ noch nicht zu Ende: So könnte ein Szenario, in dem Radiologen die MRT-gestützte Prostatastanzbiopsie durchführen, vielleicht schon bald Realität werden. Wie weit diese Entwicklung gediehen ist, mag die Einsicht in die Homepage eines Röntgeninstituts zeigen, die ein „Prostatazentrum“ mit einer „ärztlichen Direktorin für Diagnostik“ bewirbt: der Urologe als (noch) notwendiger verlängerter Arm des Radiologen… (https://www. groenemeyerinstitut.de/standorte/bochum/leistungen/diganostisches-prostata-zentrum/). Betrachtet man parallel dazu die Entwicklung, dass der PSA-Wert nicht mehr automatisch zu einem Prostata-Karzinom-Screening gehört und an seinen Einsatz auch in den Leitlinien der Dt. Gesellschaft für Urologie Bedingungen geknüpft ist, werden diese Faktoren zu einer sinkenden Anzahl an urologischen Prostatabiopsien, vom Urologen gestellten Prostata-Karzinom-Diagnosen und -Therapien führen. Dies ist schon jetzt abzulesen an der Entwicklung der Prostatastanzbiopsien in Ländern, in denen der PSA-Wert nicht mehr generell im Prostata-Karzinom-Screening empfohlen wird. Die Anzahl der Stanzbiopsien sinkt in 5 Jahren um die Hälfte, der Anteil der signifikanten ­ Prostata-Karzinome mit einem Gleason-Score von ≥ 8 steigt von 18 % auf 32 % (Abb. 2.6). Sollte sich hier etwa der Vorwurf an die urologische Gemeinde beweisen, dass das bisherige Prostata-Karzinom-Screening nur insignifikante, nicht lebensbedrohliche Karzinome zu Tage fördert, die dann mit einer Übertherapie, die zu Komplikationen und irreparablen Folgeerscheinungen führt, überzogen werden? Dass dabei diese Hinweise von Kritikern des PSA-gestützten Screenings des Prostatakarzinoms in Zukunft nicht so leicht wegzuwischen sein werden, machen Cochrane-Analysen wie die von Dragan Ilic deutlich, die allenfalls einen schmalen ­ Benefit des PSA-Screenings für das krebsspezifische Überleben, aber nicht für das Gesamtüberleben auf Kosten einer nicht unerheblichen Morbidität der Diagnostik und Therapie (Sepsis, Inkontinenz und Impotenz) attestieren [6]. Dies führt zu Publikationen wie der von Niklas Keller im Ärzteblatt, in der vom Schaden des PSA-Screenings die Rede ist (https://www.aerzteblatt.de/archiv/197100/PSA-Screening-Moeglicher-Nutzenund-Schaden). Wie immer fällt die Aufmerksamkeit für den Artikel weit größer aus als für den Antwortbrief der Deutschen Gesellschaft für Urologie.

2.4 Komorbiditäten haben großen Einfluss auf Therapieerfolg Dass unabhängig von berufspolitischen Aspekten in dieser Diskussion nicht so sehr das urologische Denken in TNM-, PSA- und „Anteil-an-positiven-Stanzen“Denken entscheidend ist, sondern viel mehr die Komorbiditäten und damit die Besonderheiten des geriatrischen Patienten, lehren uns dabei Untersuchungen wie die von Peter Albertsen, der durch die Subgruppenbildung von Männern nach dem Charlson-Komorbiditäten-Index sehr plastisch verdeutlichte, dass das gesamte ­

2.4  Komorbiditäten haben großen Einfluss auf Therapieerfolg

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Abb. 2.6   Anzahl der Prostatastanzbiopsien und Anteil der Gleason 8–10-Karzinome nach Wegfall der PSA-Empfehlung für das Prostata-Karzinom-Screening in Kanada, Region Montreal (Modifiziert nach Zakaria 2018 [5])

und krebsspezifische Überleben viel mehr durch diese Komorbiditäten als durch Tumorcharakteristika bestimmt wird [7]. Dies macht die Beschäftigung mit den besonderen Eigenschaften des geriatrischen Patienten unumgänglich. Wichtig: Bei geriatrischen Patienten sind neben den Tumorcharakteristika viel mehr die Komorbiditäten entscheidend für die Prognose, als die Entscheidung zu einer Diagnostik und die Auswahl einer Therapie. In anderen Fachbereichen ist die berufspolitische Entwicklung – so scheint es – schon weiter gediehen. Der Fachbereich der „Alterstraumatologie“ reflektiert die steigende Anzahl von Älteren in der Bevölkerung, die hohe Anzahl an sturzbedingten Frakturen auch durch ein verändertes, ebenfalls im hohen Alter „sportliches“ Freizeitverhalten vor dem Hintergrund der besonderen Anforderungen an eine Implantat-Chirurgie bei der hier oft vorhandenen Osteopenie. Alterstraumatologen berichten über Verletzungsmuster bei über 80-jährigen E-Bike-Fahrern, die sonst ausschließlich bei 30-jährigen Motorradfahrern vorkamen. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass neben einer hochqualitativen fachspezifischen Versorgung auch die Berücksichtigung der „geriatrischen“ Aspekte des vulnerablen Hochbetagten geboten ist. Nicht die Beweglichkeit eines

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2  Demographie und Berufspolitik

Gelenkes in 3 Ebenen, sondern der Erhalt der Selbstständigkeit wird als Ziel ausgelobt. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Traumatologen und Geriatern führt hier zu messbaren Verbesserungen: der Anteil an Patienten über 75 mit Frakturen, die im Verlauf intensivmedizinisch betreut werden mussten, lag vor der Gründung eines alterstraumatologischen Zentrums bei 20,7 %, danach bei 13,4 %; der Prozentsatz von Patienten, die während des primären Aufenthaltes starben, sank von 9,5 auf 6,5 % [8]. Es bleibt zu hoffen, dass sich parallel zu dieser Entwicklung diese Erkenntnisse auch für die in der Urologie betreuten geriatrischen Patienten durchsetzen. Entscheidend wird eine Wichtung der Erkrankungen, die Betrachtung der Auswirkungen auf Selbsthilfefähigkeit und Autonomie schon in der Frage, ob und welche Diagnostik notwendig ist und erst recht bei der Auswahl eines Therapieverfahrens sein. Diese Denkweise wird heute leider nicht in der Refinanzierung im stationären oder ambulanten Sektor berücksichtigt – im Gegenteil bleibt zu befürchten, dass die finanziellen Zwänge in einem pauschalierten System eher dazu führen, dass bestimmte Operationen oder Prozeduren trotz und unter Missachtung dieses Gedankens immer häufiger vorgenommen werden. Das Heraufsetzen der „Altersgrenze“ eines Patienten zur radikalen Prostatektomie mag hier als Beispiel gelten, die manche operativ tätigen Urologen zu der Aussage hinreißen lässt, dass es eine solche Altersgrenze wegen der ausgefeilten OP-Technik überhaupt nicht mehr gäbe. Fazit In diesem Spannungsfeld ist eine ausgewogene Betrachtung mit speziellem ­Know-how gefragt – sowohl, was die Besonderheiten des geriatrischen Patienten, als auch die Auswirkungen diverser Therapieformen betrifft.

Literatur 1. McCusker J, Bellavance F, Cardin S, Trepanier S, Verdon J, Ardman O (1999) Detection of older people at increased risk of adverse health outcomes after an emergency visit: the ISAR screening tool. J Am Geriatr Soc 47:1229–37 2. Warburton RN, Parke B, Church W, McCusker J (2004) Identification of seniors at risk: process evaluation of a screening and referral program for patients aged > or = 75 in a community hospital emergency department. Int J Health Care Qual Assur Inc Leadersh Health Serv 17:339–48 3. Wiedemann A, Puttmann J, Heppner H (2019) The ISAR-positive patient in urology. Aktuelle Urol 50:100–5 4. Lin SN, Su SF, Yeh WT. 2019. Meta-analysis: effectiveness of Comprehensive Geriatric Care for Elderly Following Hip Fracture Surgery. West J Nurs Res:193945919858715 5. Zakaria AS, Dragomir A, Brimo F, Kassouf W, Tanguay S, Aprikian A (2018) Changes in the outcome of prostate biopsies after preventive task force recommendation against ­prostate-specific antigen screening. BMC Urol 18:69

Literatur

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6. Ilic D, Djulbegovic M, Jung JH, Hwang EC, Zhou Q et al (2018) Prostate cancer screening with prostate-specific antigen (PSA) test: a systematic review and meta-analysis. BMJ 362:k3519 7. Albertsen PC, Hanley JA, Gleason DF, Barry MJ (1998) Competing risk analysis of men aged 55 to 74 years at diagnosis managed conservatively for clinically localized prostate cancer. JAMA 280:975–80 8. Grund S, Roos M, Duchene W, Schuler M (2015) Treatment in a center for geriatric traumatology. Dtsch Arztebl Int 112:113–9

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Besonderheiten des geriatrischen Patienten

Inhaltsverzeichnis 3.1 Definition des geriatrischen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.2 Multimorbidität und Multimedikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.3 Die geriatrischen I’s. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

3.1 Definition des geriatrischen Patienten Der geriatrische Patient ist nach der Definition der geriatrischen Fachgesellschaften in der Regel über 70 Jahre alt und weist eine geriatrietypische Multimorbidität auf. Dabei ist diese als Merkmal stärker zu bewerten als das numerische Alter. Ab einem Alter von über 80 Jahren ist ein Mensch in der Regel automatisch als „geriatrisch“ zu betrachten, weil er durch eine besondere Vulnerabilität, durch eine Chronifizierung und Autonomieverlust gekennzeichnet ist. Der Begriff der „Gebrechlichkeit“ oder „Frailty“ bezeichnet dabei den Umstand, dass der geriatrische Patient häufig in mehreren Organ- und Funktionsbereichen über nur minimale Funktionsreserven verfügt, sodass eine kleine Störung in seiner fragilen Homöostase schon eine Katastrophe auslösen kann. Hier ist das Bild des Kartenhauses hilfreich: Es mag scheinbar stabil mehrstöckig dastehen, aber der Verlust einer einzigen Karte an einer entscheidenden Stelle kann zum kompletten Zusammensturz des gesamten Gebäudes führen. Nach der Definition von Linda Fried liegt eine Gebrechlichkeit dann vor, wenn 3 von 5 Kriterien erfüllt sind, eine sog. „Prefrailty“ bei 1–2 von 5 zutreffenden Kriterien.. Dazu zählen das Empfinden von Energielosigkeit, Erschöpfung, ein ungewollter Gewichtsverlust von > 5 kg in einem Jahr, eine muskuläre Schwäche in der Handkraftmessung, eine langsame Gehgeschwindigkeit und ein niedriger physischer Aktivitätslevel [1]. Dadurch wird deutlich, dass das Messen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Wiedemann, Geriatrische Urologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61494-5_3

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3  Besonderheiten des geriatrischen Patienten

und Erfassen von Funktionszuständen und -defiziten in validierten Assessments (Kap. 4) unumgänglich in der Betreuung geriatrischer Patienten auch in der Urologie sind. Die im Rahmen dieser Assessments relevanten somatischen und sozialen Funktionen hat das DIMDI (Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information) in dem sog. ICF-Katalog festgelegt (https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icf/ icfhtml2005/). Hierzu gehören: • Lernen und Wissensanwendung • Allgemeine Aufgaben und Anforderungen • Kommunikation • Mobilität • Selbstversorgung • Häusliches Leben • Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen • Bedeutende Lebensbereiche • Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben Typisch für den geriatrischen Patienten ist das Vorhandensein von „geriatrischen Syndromen“. Gemeint ist, dass häufig nicht eine einzige isolierte Erkrankung mit einem singulären Symptom vorliegt, sondern eine Erkrankung Auswirkungen in verschiedenen Organsystemen und Funktionsbereichen besitzt. So kann ein Symptom häufig durch verschiedene Erkrankungen bedingt oder mitbedingt sein. Es kann ein Diabetes mellitus über die Polyneuropathie eine Sturzneigung und ein Mobilitätsdefizit bedingen, über die Mikroangiopathie mit Mikroinsulten zu kognitiven Defiziten führen, über die diabetische Zystopathie und Polyurie eine Inkontinenz auslösen oder verschlimmern, chronische Wunden verursachen, die zu Sturzneigung und Mobilitätsverlust führen, eine Sehstörung auslösen. Umgekehrt kann eine Nykturie durch eine latente Herzinsuffizienz, ein benignes Prostatasyndrom, eine Glucosurie, eine SGLT-2-Hemmer-Therapie, eine Diuretika-Therapie, ein nächtliches Polyuriesyndrom und andere verursacht sein. Urologische Denkweise Damit unterscheidet sich das „urologische Denken“ in einem Organfach diametral von dem „geriatrischen Denken (Abb. 3.1)“. In der Urologie ist von „Leitsymptomen“

Suspekter Tastbefund

PSA, TRUS

neg.

Kontrolle

pos.

Staging

MRT

Prostata-Biospie Therapie

Abb. 3.1   Das „urologische Denken“, unidirektional, eher monosymptomatisch, schlank. (© Wiedemann 2020, All Rights Reserved)

3.1  Definition des geriatrischen Patienten

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die Rede, die in der Diagnostik voneinander abgegrenzt werden wollen. So sind zur Abklärung eines suspekten Tastbefundes der PSA-Wert, ein transrektaler Ultraschall, ggf. eine Prostata-Biopsie nötig. Die S3-Leitlinie Prostata-Karzinom der Deutschen Gesellschaft für Urologie legt dabei den Personenkreis, der geeignet ist für eine solche Früherkennung, auf „über 45 Jahre alt und mit einer Lebenserwartung von über 10 Jahren ausgestattet“ fest (Leitlinienprogramm Onkologie [Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF]:Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms, Kurzversion 5.1,2019, AWMF Registernummer: 043/022OL, https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/prostatakarzinom/(abgerufen am 24. 8. 2019). Dabei bleibt offen, ob die numerische, die biologische oder individuelle Lebenserwartung gemeint ist. Aspekte, wie die bestehenden Komorbiditäten, werden überhaupt nicht berücksichtigt. Das urologische Denken ist also schlank, unidirektional und berücksichtigt eher wenige Querbezüge (Abb. 3.1). Geriatrische Denkweise Dahingegen stellt das „geriatrische Denken (Abb. 3.2)“ zwar ein Leitsymptom in den Mittelpunkt, berücksichtigt aber die vielen Einflussfaktoren auf medizinischer, psychischer und sozialer Ebene. So spielt bei einer Harninkontinenz auch die Mobilität, die Kognition, das Sehvermögen, ein Diabetes, eine Herzinsuffizienz, eine Sarkopenie,

Abb. 3.2   Das „geriatrische Denken“ – multidirektional, viele Risikofaktoren (RF) beeinflussen ein Leitsymptom. (© Wiedemann 2020, All Rights Reserved)

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3  Besonderheiten des geriatrischen Patienten

eine Verstopfung, ein Östrogenmangel und die Co-Medikation von vielen anderen Erkrankungen mit Einfluss auf den Harntrakt eine Rolle; umgekehrt kann die Harninkontinenz auch die Mobilität beeinflussen, über die soziale Vereinsamung einen kognitiven Abbau beschleunigen und durch die Nykturie eine Sturzneigung fördern, die wiederum bei stattgehabten Stürzen über die Sturzangst die Immobilität fördert. Dies erklärt auch die in vielen Querbezügen untereinander verwobenen „geriatrischen Syndrome“ oder die „geriatrischen I´s“. Es handelt sich um Immobilität, Inkontinenz, Irritabilität (gemeint ist Verwirrtheit, Demenz), Instabilität (i. S. von Sturzneigung, Gangunsicherheit) und die iatrogene Schädigung. All diese „geriatric giants“ beeinflussen sich gegenseitig. So führt die Demenz nicht nur durch den Abbau von Gehirnleistung per se zu einer Harninkontinenz, auch die Therapie mit Antidementiva aus der Reihe der parasympathomimetisch wirkenden Acetylcholin-Esterase-Inhibitoren hat blasenstimulierende Effekte und verstärkt Harndrang und Symptome einer Überaktiven Blase [2, 3]. So nehmen statistisch signifikant mehr demente Patienten unter Acetylcholin-Esterase-Inhibitoren Antimuskarinika zur Dämpfung einer überaktiven Blase als Demente ohne solche Medikation [4]. Umgekehrt bewirkt die medikamentöse Dämpfung der Blase durch Antimuskarinika einen kognitiven Abbau, dieser fördert die Sturzneigung bzw. Instabilität, wenn ZNS-gängige Anticholinergika aus der Reihe der sog. tertiären Amine verwendet werden [5]. Zusätzlich führen Antimuskarinika zu parasympatholytischen Effekten an der Iris, die daraus resultierende Mydriasis führt zu unscharfem Sehen und einer verschlechterten Hell-Dunkel-Anpassung in der Dämmerung. Dies fördert wiederum die Sturzneigung oder Instabilität. Besonders der letzte „geriatric giant“, die iatrogene Schädigung, ist möglicherweise überraschend. Es handelt sich um Verordnungsfehler, Dosierungsfehler, Interaktionen auf dem Boden von pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Effekten und andere Phänomene, die sich häufig im Kontext von Multimorbidität und Multimedikation ergeben. Allein dieses geriatrische Syndrom, das vor dem Hintergrund der typischen Vulnerabilität und geringen Kompensationsbreite des geriatrischen Patienten besonders wichtig ist, hat zur Entwicklung einer eigenen Leitlinie geführt (https://www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/053-043l_S2e_Multimedikation_2014-05-abgelaufen. pdf).

3.2 Multimorbidität und Multimedikation Geriatrietypisch ist ebenfalls eine Multimorbidität. Als solche wird nach der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin das gleichzeitige Vorhandensein von drei oder mehr chronischen Erkrankungen gezählt (https://www.awmf.org/uploads/ tx_szleitlinien/053-047k_S3_Multimorbiditaet_2017-11.pdf). So weisen 59  % der 40–45-jährigen Deutschen keine oder höchstens eine Erkrankung auf, dieser Anteil

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3.2  Multimorbidität und Multimedikation Tab. 3.1  Häufigkeit der Medikamenteneinnahme, adaptiert nach Düsing [8] Anzahl

< 65 Jahre (%)

65–75Jahre (%)

75–84 Jahre (%)

4–6 Medikamente

10,2

33,2

40,7

38,2

≥ 6 Medikamente

2,6

13,1

17,0

16,2

> 85 Jahre (%)

sinkt auf 43 % bei den 55–69-jährigen und 22 % bei den 70–80-jährigen. Während keiner der 40–45-jährigen an 5 oder mehr Erkrankungen leidet, sind dies schon 8 % der 55–69-jährigen und 21 % der 70–85-jährigen (Quelle: https://www.dza.de/fileadmin/ dza/pdf/Altern_im_Wandel_2010.pdf) – dahinter folgen alterstypische Multimedikation oder Polypharmazie. Zwar liegt hierfür keine allgemeingültige Definition vor, die meisten Autoren definieren jedoch die Einnahme von mehr als 5 Einzelsubstanzen in diesem Sinne [6]. Freiverkäufliche „OTC“-Präparate und auch solche aus der Gruppe der inadäquaten Medikation müssen hinzugerechnet werden [7]. Gründe für die geriatrietypische Multimedikation sind naturgemäß das Vorhandensein mehrerer pharmakologisch zu behandelnden Erkrankungen, die vielfach geforderte leitlinienkonforme Therapie mit mehreren Substanzen und die häufig geübte prophylaktische Zusatzgabe von Substanzen zur Therapie von Nebenwirkungen (z. B. Protonenpumpenhemmergabe bei der Therapie mit nichtsteroidalen Analgetika). Nach Rainer Düsing nehmen 16 % der über 85-jährigen 6 oder mehr Substanzen ein (Tab. 3.1) [8]. In diesem Zusammenhang wird häufig von einer „Verordnungskaskade“ gesprochen (Abb. 3.3). Die Verordnung eines Medikamentes führt zu einer Nebenwirkung („unerwünschte Arzneimittelwirkung“, „UAW“), die zu der Gabe eines zweiten Medikamentes veranlasst. Dieses wiederum löst eine erneute UAW aus, die die Verordnung eines weiteren Medikamentes notwendig macht. Ein vielfach unbeachtetes Momentum in diesem Zusammenhang ist, dass der Hochbetagte häufig von vielen verschiedenen Ärzten behandelt wird. Die altersbedingten Erkrankungen

Abb. 3.3   Verordnungskaskade. (© Wiedemann 2020, All Rights Reserved)

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3  Besonderheiten des geriatrischen Patienten

in den verschiedensten Organprovenienzen machen die Vorstellung bei diversen Fachärzten notwendig. Für dieses Phänomen und die Probleme, die sich aus der mangelnden Kommunikation ergeben, könnte der Begriff „Multi-Iatrogenität“ Verwendung finden. Geriatrische Patienten gelangen zusätzlich häufig im Notfall unter Umgehung des Hausarztes oder eines hausärztlichen Notdienstes ins Krankenhaus, sodass die Abänderung, Ergänzung und Übertragung der Medikation auch noch zwischen verschiedenen Institutionen im Gesundheitswesen erfolgt. In einer eigenen Erhebung zu den Charakteristika des im geriatrischen Eingangsscreenings als „geriatrisch“ markierten Patienten war dies ein Anteil von 36 % notfallmäßigen Aufnahmen im Vergleich zu 20,3 % bei gleichalten, aber nicht als geriatrisch markierten Patienten (p = 0,0001) [9]. Durch die Übertragung von „Hausarztmedikamenten“ in „Hausmedikation“ (= Substanzen, die die Krankenhausapotheke vorhält) und dem Einsatz von ­„Blister-Automaten“, der eine Teilung von Tabletten und damit eine Titration unmöglich macht, entstehen weitere Fehlerquellen. So ergeben sich manchmal abstruse Verordnungszettel, die sich nur durch diese Phänomene erklären lassen und sich weit jenseits einer rationalen Pharmakotherapie bewegen (Abb. 3.4).

Abb. 3.4    Verordnungsbogen einer zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme 99 -jährigen Patientin. (© Wiedemann 2020, All Rights Reserved)

3.3  Die geriatrischen I’s

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3.3 Die geriatrischen I’s Als geriatrische Hauptthemen oder „geriatrische I’s“ („geriatric giants“) werden – wie weiter oben schon beschrieben – die Immobilität, Inkontinenz, Irritabilität (Verwirrtheit, Demenz), Instabilität (Sturzneigung) und die iatrogene Schädigung gesehen. Letztere erklärt sich durch die alterstypischen Veränderungen des Organismus, die seine besondere Vulnerabilität bedeuten. Es sind dies: • Eine verschlechterte Nierenfunktion durch eine altersphysiologisch sinkende glomeruläre Filtrationsrate: Die Nierenfunktion wird gerade bei hochbetagten Patienten nur ungenügend durch den Kreatininwert im Serum abgebildet. Kreatinin – in der internationalen Schreibweise Creatinine – ist ein Abbauprodukt des die Skelettmuskeln mit Energie versorgenden Kreatins. 1,5–2 % werden täglich renal überwiegend durch glomeruläre Filtration eliminiert. So lässt sich die Nierenfunktion abhängig vom Muskelstoffwechsel und der Muskelmasse mit diesem Parameter abschätzen. Der Normwert für Männer liegt bei 0,8–1,25 mg/dl, für Frauen bei 0,7– 1,1 mg/dl. Bei der Einschätzung einer beginnenden Niereninsuffizienz ist die Erkenntnis wichtig, dass der Serum-Kreatinin-Wert erst bei einer Reduktion der glomerulären Filtrationsrate um über 50 % ansteigt. Zur genauen Beurteilung der Nierenfunktion im Grenzbereich ist daher die Bestimmung der endogenen Kreatinin-Clearance sinnvoller. Diese kann über einen 24-h-Sammelurin nach der Formel [Urin Kreatinin x Urinvolumen in 24 h]: [Serumkreatinin x 1440] bestimmt werden. Weil gerade bei geriatrischen Patienten durch eine vorhandene Inkontinenz, ­ Compliance-Probleme oder die vorhandene Immobilität diese Methode häufig fehlerbehaftet ist, wird im klinischen Alltag häufig die glomeruläre Filtrationsrate nach Cockroft-Gault geschätzt. Es kommt die Formel [186 x Plasmakreatinin−1,154] x [Alter−0,203] zur Anwendung. Bei Frauen wird zusätzlich ein Korrekturfaktor (x 0,742) eingebracht. Obwohl diese Bestimmungsmethode zur Schätzung der GFR nur für Patienten zwischen 18 und 70 Jahren validiert wurde, ist sie am weitesten verbreitet und wird von vielen Laboren anhand der in der EDV vorhandenen Informationen (Kreatinin i. S. und Alter) automatisch angezeigt. Sie ist die Grundlage der ICD-Kodierung der chronischen Niereninsuffizienz unter der Ziffer N18.1 (Tab. 3.2). • Eine sinkende Leberleistung mit reduziertem Abbau nicht renal zu eliminierenden Substanzen: Die altersbedingt nachlassende Leberleistung resultiert einerseits aus einer reduzierten Leberdurchblutung, andererseits aus einer verringerten enzymatischen Leistungsfähigkeit. Betroffen sind vor allem mikrosomale Prozesse, die für den Abbau von Pharmaka z. B. aus der Reihe der Antidiabetika oder Antikoagulantien verantwortlich sind. • Eine schlechtere Magen-Darm-Beweglichkeit und dadurch verlangsamte Resorptionsprozesse: Eine solche Passageverzögerung kann idiopathisch, im Rahmen einer intestinalen Polyneuropathie z. B. bei Diabetes mellitus oder durch

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3  Besonderheiten des geriatrischen Patienten

Tab. 3.2  ICD-Kodierung der chronischen Niereninsuffizienz N18.1

N18.2

Chronische Nierenkrankheit, Stadium 1 Inkl.: Chronische Nierenkrankheit, Stadium 2 Inkl.:

N18.3

Glomeruläre Filtrationsrate 30 bis unter 60 ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche

Chronische Nierenkrankheit, Stadium 4 Inkl.:

N18.5

Glomeruläre Filtrationsrate 60 bis unter 90 ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche

Chronische Nierenkrankheit, Stadium 3 Inkl.:

N18.4

Glomeruläre Filtrationsrate 90 ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche oder höher

Glomeruläre Filtrationsrate 15 bis unter 30 ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche Präterminale Niereninsuffizienz

Chronische Nierenkrankheit, Stadium 5 Inkl.:

Dialysepflichtige chronische Niereninsuffizienz Glomeruläre Filtrationsrate unter 15 ml/ min/1,73 m2 Körperoberfläche Terminale Niereninsuffizienz

eine Pharmakotherapie mit anticholinerg wirkenden Substanzen z. B. mit Opiaten entstehen. Es kann zu einer verzögerten Magenentleerung mit Völlegefühl, Übelkeit und Erbrechen kommen. Neben diätetischen Maßnahmen (kleine Breimahlzeiten) kann der Einsatz von Prokinetika notwendig werden. • Eine verminderte gastrale Säureproduktion mit veränderter Resorption verschiedener Pharmaka: Die tägliche Produktion von Magensaft enthält verdünnte Salzsäure aus den Belegzellen des Magens, Pepsinogen aus den Hauptzellen, das im sauren Milieu zu Pepsin aktiviert wird und Muzin aus den Nebenzellen. Belegzellen bilden zusätzlich den sog. intrinsic factor, der für die Resorption von Vitamin B12 im terminalen Ileum obligat ist. Durch Autoimmunvorgänge, bakterielle Infektionen (Helicobacter pylori) oder bestimmte Medikamente (z. B. NSAR) kann es zu einer kompletten oder segmentalen Entzündung der Magenschleimhaut kommen: Völlegefühl, Übelkeit, Erbrechen aber auch Störungen der Vitamin-B-12-Resorption mit perniziöser Anämie oder eine mangelnde Eisenresorption mit nachfolgender Eisenmangelanämie können die Folge sein. • Ein sinkender Albumin-Gehalt des Serums mit geringeren Bindungskapazitäten: Als wichtigstes Plasmaprotein ist Albumin für die Regulation des onkotischen Druckes im Blutgefäßsystem und für den gebundenen Transport von nichtwasserlöslichen Substanzen verantwortlich. Zu Albuminmangelzuständen kann es bei einem renalen Albuminverlust, bei einer Leberleistungsschwäche durch eine verringerte

3.3  Die geriatrischen I´s

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Produktion, durch Mangelernährung oder durch konsumierende Erkrankungen kommen. Ödeme und Pleuraergüsse sind die Folge; die Serumkonzentration vieler Hormone und Pharmaka ist verändert. • Ein verringerter Anteil an Körperwasser mit veränderten Verteilungsvolumina: Unter dem Begriff „Körperwasser“ wird die Gesamtheit des in allen Flüssigkeiten enthaltenen Wassers verstanden. Es macht bei Männern rund 40 L (55–60 % des Körpergewichts), bei Frauen rund 30 L (50–55 % des Körpergewichtes) aus. Schwankungen mit sinkenden Werten ergeben sich durch das Alter und einen erhöhten Fettanteil des Körpergewichts und somit durch eine Adipositas. Geriatrische Patienten sind durch ein nachlassendes Durstgefühl, habituelles Dursten z. B. zur Regulation einer Harninkontinenz, durch eine nachlassende Sekretion des Antidiuretischen Hormons und damit einer mangelnden Urinkonzentrierung sowie durch eine Laxantien- und Diuretika-Therapie eines Verlusts von Körperwasser bedroht. • Ein häufig sinkendes Körpergewicht: Drei Syndrome führen bei geriatrischen Patienten zu einem ungewollten Verlust an Körpermasse: Sarkopenie, Malnutrition und Kachexie. – Sarkopenie: Ein Verlust von 1–2 % der Muskelmasse pro Jahr ist ab dem 50. Lebensjahr physiologisch. Zusätzlich kommt es – abhängig von der körperlichen Aktivität – zu einem Rückgang der Muskelkraft um rund 3 % pro Jahr [10]. Es kommt zu einer verfrühten Erschöpfung, verlangsamten Bewegungsabläufen und einer Sturzgefährdung, Stürzen, Frakturen, Immobilität und Mortalität [11]. Gemessen werden kann die Sarkopenie durch die Handkraft oder die Ganggeschwindigkeit. – Malnutrition: Eine Reihe von Faktoren kann zu einer Unterversorgung geriatrischer Patienten mit Kalorien, Vitaminen und Elektrolyten führen. Hierzu gehören: ○ altersphysiologische Veränderungen (verminderter Appetit, nachlassendes Geschmacksempfinden, nachlassender Geruchssinn, verfrühtes Sättigungsgefühl z. B. bei einer Gastroparese, Schwierigkeiten beim Kau- oder Schluckvorgang), ○ soziale Faktoren (Vereinsamung nach dem Tod des Lebenspartners ohne die Einnahme von gemeinsamen Mahlzeiten) ○ Appetitmangel im Rahmen von anderen Erkrankungen (Depression, Demenz) und die Immobilität mit Schwierigkeiten beim Kochen oder Einkaufen – Kachexie: Unter dem Begriff Kachexie wird der fortschreitende massive Verlust an Körpermuskel- und Fettmasse durch eine konsumierende Erkrankung verstanden. Hierzu gehören Malignome aber auch die COPD, die chronische Herzinsuffizienz oder eine rheumatoide Arthritis. Es kommt zu einem erhöhten Anfall von inflammatorischen Zytokinen; Kriterien für eine Kachexie sind ein erhöhtes C-reaktives Protein, ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von > 5 % und ein BMI von