Historische Geographie: Redaktion: Haas, Hans-Dieter; Schmude, Jürgen; Cyffka, Bernd 9783534720033

Die Historische Geographie ist eine Kerndisziplin, die mit ihrem übergeordneten Anspruch auf raumzeitliche Differenzieru

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German Pages 143 Year 2012

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1 Historische Geographie in der Binnensicht und im disziplinären Umfeld
1.1 Arbeitsfelder
1.2 Erkenntnisgehalte
1.3 Einordnung in die Geographie vor dem Hintergrund der Disziplingeschichte
1.4 Historische Geographie außerhalb Deutschlands
1.5 Historische Geographie im Verhältnis zu Nachbardisziplinen
1.6 Kulturlandschaft als Schlüsselkonzept
2 Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden - vor allem der Grundlagenforschung
2.1 Interpretationen schriftlich-archivalischer Quellen
2.2 Auswertung bildlicher Darstellungen - Landschaftsgemälde und Fotos
2.3 Auswertung von Altkarten und Erstellung von Historischen Karten
2.4 Ortsnamenanalyse
2.5 Flurnamenanalyse
2.6 Kulturlandschaftselemente und -strukturen als Sachquellen
2.7 Einbezug von Befunden aus naturwissenschaftlichen Methoden
3 Historisch-geographische Analyse von Siedlungen
3.1 Genese und Struktur vorindustrieller ländlicher Siedlungen
3.1.1 Flur- und Dorfformen in Korrespondenz
3.1.2 Historische Bodennutzungsformen
3.1.3 Forschungen zu Bauernhaus und Gehöft
3.1.4 Der Wald als Element der Kulturlandschaft
3.1.5 Wüstungsforschung
3.1.6 Altstraßenforschung
3.2 Historische Geographie städtischer Siedlungen
3.2.1 Stadt im Raum - Stadt und Umland
3.2.2 Stadt als Raum - Stadtmorphologie und morphogenetische Stadttypen
4 Umwelt- und landschaftsgeschichtliche Phasen- und Stufenmodelle
4.1 Transformationen von Energiesystemen und Kulturlandschaftswandel
4.1.1 Periodisierung der Menschheits- und Landschaftsgeschichte aus energetischer Sicht
4.1.2 Agrarlandschaften unter verschiedenen Faktorenkombinationen
4.1.3 Beiträge zur historischen Klima- sowie Risiko- und Katastrophenforschung
4.2 Formen gesellschaftlicher Raumaneigung im Wandel
4.2.1 Stufenmodelle gesellschaftlicher Raumaneignung
4.2.2 Landschaftsgestaltung im Feudalismus
4.2.3 Industrielle Ressourcennutzung und Kulturlandschaftsumbau
4.2.4 Historische Geographie und Politische Geographie
5 Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum - Kontinuitäten und Brüche
5.1 Vor- und frühgeschichtliche Ausprägungen von Kulturlandschaft (ca. 5000 v. Chr. bis 500 n. Chr.)
5.1.1 Die ersten Bauern in Mitteleuropa (um 5000 v. Chr.)
5.1.2 Pflug und Kupfer als Innovationen (vor allem im 4. Jahrtausend v. Chr.)
5.1.3 Keltische Herrscher und Händler in der Bronze- und frühen Eisenzeit (ca. 2200 bis 15 v. Chr.)
5.1.4 Römerzeitliche Kulturlandschaftsentwicklung (15 v. Chr. bis etwa Mitte des 3. Jh.s n. Chr.)
5.1.5 Die Völkerwanderungszeit (ca
. Mitte 3. Jh. bis Mitte 6. Jh.) - eine „Blackbox“?
5.2 Kulturlandschaftsentwicklung vom frühen Mittelalter bis zur Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik
5.2.1 Frühmittelalterliche Landnahme und erster Landesausbau (ca. 600 bis Mitte 11. Jh.)
5.2.2 Hochmittelalterlicher Landesausbau (ca. Mitte 11. Jh. bis Mitte 13. Jh.)
5.2.2.1 Ausbau im Altsiedelland
5.2.2.2 Erschließung von Mittelgebirgen sowie Fluss- und Seemarschen
5.2.2.3 Deutsche Ostsiedlung
5.2.2.4 Aufstieg der Städte
5.2.3 Spätmittelalterliche Wüstungsperiode (ca. 1350 bis 1500)
5.2.4 Frühneuzeitlicher Landesausbau (ca. 1500 bis 1800)
5.3 Ausbildung von Stadtregionen im Industriezeitalter (19. Jh.)
6 Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege
6.1 Inventarisierungen und Regionalisierungen historischer Kulturlandschaften in Deutschland
6.1.1 Rechtliche Grundlagen in Deutschland
6.1.2 Planungsbezogene Inventarisierungen historischer Kulturlandschaften
6.1.3 Idealtypische Ansprüche an Kulturlandschaftsinventare
6.1.4 Regionalisierungen von historischen
Kulturlandschaften
6.1.5 Gliederung von historischen Kulturlandschaften nach Betrachtungs- und Planungsebenen
6.2 Kulturlandschaftspflege als diskursiver Weg zum planerischen Umgang mit historischen Kulturlandschaften
6.2.1 Tendenzen der Kulturlandschaftsentwicklung in Mitteleuropa und deren Wahrnehmung
6.2.2 Normativer Charakter von Kulturlandschaftsverständnissen (vor allem in der räumlichen Planung)
6.2.3 Das Konzept der Kulturlandschaftspflege
6.2.4 Praxisbeispiel der Kulturlandschaftspflege
6.3 Beiträge zur Umweltbildung
6.3.1 Historische Kulturlandschaft im Museum – historische Kulturlandschaft als Museum
6.3.2 Kulturlandschaftsführer und -rundwege
6.3.3 Schulungen von Multiplikatoren
7 Gedanken zur Zukunft der Historischen Geographie
Abkürzungen
Spezifische Zeitschriften
Literaturverzeichnis
Register
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Historische Geographie: Redaktion: Haas, Hans-Dieter; Schmude, Jürgen; Cyffka, Bernd
 9783534720033

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Geowissen kompakt Herausgegeben von Bernd Cyffka und Jürgen Schmude Begründet von Hans-Dieter Haas

Winfried Schenk

Historische Geographie

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Katrin Kurten Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-22847-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72003-3 eBook (epub): 978-3-534-72004-0

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Historische Geographie in der Binnensicht und im disziplinärenUmfeld . 1.1 Arbeitsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2

Erkenntnisgehalte . . . . . . . . . . . . . .

2

1.3 Einordnung in die Geographie vor dem Hintergrund

2

der Disziplingeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1.4 Historische Geographie außerhalb Deutschlands . .

8

1.5 Historische Geographie im Verhältnis zu Nachbardisziplinen

10

1.6 Kulturlandschaft als Schlüsselkonzept . . . . . . . . . . . . . .

11

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden-vor allem der Grundlagenforschung . . . . . . . . . . . . . . .

16

2.1

17

Interpretationen schriftlich-archivalischer Quellen .

2.2 Auswertung bildlicher DarstellungenLandschaftsgemälde und Fotos . . . . . . . . . . . .

18

2.3 Auswertung von Altkarten und Erstellung von Historischen Karten . . . . . . .

19

2.4 Ortsnamenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

2.5 Flurnamenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2.6 Kulturlandschaftselemente und -strukturen als Sachquellen .

25

2.7 Einbezug von Befunden aus naturwissenschaftlichen Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

30

Historisch-geographische Analyse von Siedlungen

32

3.1 Genese und Struktur vorindustrieller ländlicher Siedlungen .

32

3.1.1 Flur- und Dorfformen in Korrespondenz .

33

3.1.2 Historische Bodennutzungsformen . . . . .

34

3.1.3 Forschungen zu Bauernhaus und Gehöft . .

36

3.1.4 Der Wald als Element der Kulturlandschaft

37

3.1.5 Wüstungsforschung . . . . . . . . . . . .

39

3.1.6 Altstraßenforschung . . . . . . . . . . . .

41

3.2 Historische Geographie städtischer Siedlungen.

42

3.2.1 Stadt imRaum-Stadt undUmland . . .

42

3.2.2 Stadt alsRaum-Stadtmorphologie und morphogenetische Stadttypen . . . . . . .

42

4 Umwelt- und landschaftsgeschichtliche Phasen- und Stufenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

4.1 Transformationen von Energiesystemen und Kulturlandschaftswandel . . . . . . . . . . .

45

V

Inhalt 4.1.1 Periodisierung der Menschheits- und Landschaftsgeschichte aus energetischer Sicht . . . . 4.1.2 Agrarlandschaften unter verschiedenen Faktorenkombinationen . . . . . . . . . 4.1.3 Beiträge zur historischen Klima- sowie Risiko- und Katastrophenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Formen gesellschaftlicher Raumaneigung im Wandel. . . 4.2.1 Stufenmodelle gesellschaftlicher Raumaneignung . 4.2.2 Landschaftsgestaltung im Feudalismus 4.2.3 Industrielle Ressourcennutzung und Kulturlandschaftsumbau . . . . . . . . 4.2.4 Historische Geographie und Politische Geographie 5 Phasen der Kulturl andschaftsentwicklung seit dem Neolithikum - Kontinuitäten und Brüche . . . . . . 5.1 Vor- und frühgeschichtliche Ausprägungen von Kulturlandschaft (ca. 5000 v. Chr. bis 500 n. Chr.) . 5.1.1 Die ersten Bauern in Mitteleuropa (um 5000 v. Chr.) . . . . . . . . . . . 5.1.2 Pflug und Kupfer als Innovationen (vor allem im 4. jahrtausend v. Chr.). . . . . . . . 5.1.3 Keltische Herrscher und Händler in der Bronze- und frühen Eisenzeit (ca. 2200 bis 15 v. Chr.) . . . 5.1.4 Römerzeitl iche Kulturlandschaftsentwickl ung (15 v. Chr. bis etwa Mitte des 3. jh.s n. Chr.). . 5.1.5 Die Völkerwanderungszeit (ca. Mitte 3. jh. bis Mitte 6. jh .) - eine "Blackbox"? . . . . . . . . . 5.2 Kulturlandschaftsentwicklung vom frühen Mittelalter bis zur Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Frühmittelalterliche Landnahme und erster Landesausbau (ca. 600 bis Mitte 11. jh.). 5.2.2 Hochmittelalterlicher Landesausbau (ca. Mitte 11 . jh. bis Mitte 13 . jh .) . . . . 5.2.2.1 Ausbau im Altsiedeiland . . . . 5.2.2.2 Erschließung von Mittelgebirgen sowie Fluss- und Seemarschen . 5.2.2.3 Deutsche Ostsiedlung . . . . . 5.2.2.4 Aufstieg der Städte .. . . . . . 5.2.3 Spätmittelalterliche Wüstungsperiode (ca. 1350 bis 1500) . . . . .. . . 5.2.4 Frühneuzeitl icher Landesausbau (ca. 1500 bis 1800) . . . . .. . . 5.3 Ausbildung von Stadtregionen im Industriezeitalter (19. jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . 6 Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege . . . . . . . . .. .

VI

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Inhalt 6.1 Inventarisierungen und Regionalisierungen historischer Kulturlandschaften in Deutschland . . . . . . . . . . . .

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6.1.1 Rechtliche Grundlagen in Deutschland . . . . . .

98

6.1.2 Planungsbezogene Inventarisierungen historischer Kulturlandschaften . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.1.3 Idealtypische Ansprüche an Kulturlandschafts104

inventare . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Regionalisierungen von historischen Kulturlandschaften . . . . . . . . . . .

105

6.1.5 Gliederung von historischen Kulturlandschaften nach Betrachtungs- und Planungsebenen . . . . . . . . . 6.2

109

Kulturlandschaftspflege als diskursiver Weg zum planerischen Umgang mit historischen Kulturlandschaften

1 10

6.2.1 Tendenzen der Kulturlandschaftsentwicklung in Mitteleuropa und deren Wahrnehmung . . . . . . .

1 10

6.2.2 Normativer Charakter von Kulturlandschaftsverständnissen (vor allem in der räumlichen Planung) 6.2.3 Das Konzept der Kulturlandschaftspflege

.

111 115

6.2.4 Praxisbeispiel der Kulturlandschaftspflege .

116

6.3 Beiträge zur Umweltbi Idung . . . . . . . . . . . .

1 19

6.3.1 Historische Kulturlandschaft im Museum historische Kulturlandschaft als Museum

7

1 19

6.3.2 Kulturlandschaftsführer und -rundwege

120

6.3.3 Schulungen von Multiplikatoren . . . . .

121

Gedanken zur Zukunft der Historischen Geographie

123

Abkürzungen . . . . . . .

124

Spezifische Zeitschriften

124

Literaturverzeichnis .

125

Register . . . . . . . .

133

VII

Vorwort

Das letzte deutschsprachige Lehrbuch zur Historischen Geographie er­ schien 1969 und war von meinem Doktor- und "Habilitationsvater" Prof. Dr. Helmut Jäger verfasst worden. Ich stelle mich mit diesem Buch in sein Verständnis einer überwiegend objektorientierten, Geländearbeit mit der Auswertung von Archivalien kombinierenden Historischen Geographie. Dieser Ansatz macht sie besonders anschlussfähig an Siedlungs- und Land­ schaftsarchäologie sowie an Siedlungsgeschichte und war Basis für die Aus­ bildung der Angewandten Historischen Geographie und Kulturlandschafts­ pflege in enger Beziehung zur Denkmalpflege. Mit Blick auf die Geographie ist Ziel dieses Buches, Basiswissen zur His­ torischen Geographie vor allem Mitteleuropas an Studierende der Geogra­ phie in der Überzeugung zu vermitteln, dass der historische Ansatz elemen­ tar für diese Disziplin ist. Ich danke für zahlreiche Anregungen meinem Vorgänger auf der Profes­ sur für Historische Geographie in Bonn, Prof. Dr. Klaus Fehn, sowie mei­ nem Kollegen und Freund Dr. Klaus Kleefeld vom Büro für historische Stadt­ und Landschaftsforschung in Köln für die gemeinsame Durchführung vieler spannender Projekte zur Kulturlandschaftspflege. Dank ist auch meiner Mit­ arbeiterin Verena Twyrdy MA und Suzan Leblebici, studentische Hilfskraft, fürs KorrekturIesen sowie Herrn Stefan Zöldi, Kartograph am Geographi­ schen Institut der Universität Bonn, für seine Geduld und sein Können bei der kartographischen Ausgestaltung des Bandes zu sagen. Das Buch widme ich meiner Frau Eva und meinen Buben Christian und Frederik.

IX

Historische Geographie in der Binnensicht und im disziplinären Umfeld

1

Zeit und Raum sind Grundkategorien des Lebens. Menschliche Existenz, ge­

sellschaftliche und staat I iche Strukturen lassen sich daher durch zeitliche Einordnung und räumliche Verortung bestimmen. Geographisches For­

schen hat damit immer auch eine zeitliche Dimension UÄGER 1987; DENECKE & FEHN 1989; Dlx & SCHENK 2011).

1.1 Arbeitsfelder Innerhalb der Humangeographie haben sich drei Arbeitsfelder ausgebildet, die explizit programmatisch auf die Verbindung der zeitlichen mit der räum­

I ichen Dimension abzielen (SCHENK 2005):



Historische Geographie als Raumwissenschaft

Die Historische Geographie im engeren Sinne versteht sich als Raumwis­ senschaft, die sich mit raumrelevanten Prozessen menschlicher Aktivitä­ ten und den sich daraus ergebenden räumlichen Strukturen zu einer be­ liebigen Zeit der Vergangenheit beschäftigt. Das setzt die Erfassung, Be­ schreibung und Erklärung der Qualität, namentlich von Expansion,

Stagnation, Regression oder Innovation (vgl. Abb. 1.1), und Quantität re­ levanter wirtschaftlicher, sozialer, politischer, demographischer und na­ türlicher Prozesse in der raumzeitlichen Differenzierung voraus, schließt die Rekonstruktion von vergangenen Landschaftszuständen ein und zielt letztlich auf die Formul ierung von Regelhaftigkeiten raumzeitlicher Diffe­ renzierung.

I

Biotische, materielle, ideelle, formale, strukturelle, funktionale Substanz ,"m " "" � '

1 I

.

oe��; r" \ �

Expansion:

Stagnation:

Regression:

Mutation:

Renovation:

Substanzvermehrung durch Entfaltung oder Ausdehnung

Substanzerhaltung (Stillstand)

Substanzverminderung (Rückbildung, Verkümmerung, Verringerung)

Substanzveränderung bei konstanter Masse, Verlagerung

Substanzerneue neuerung mit Substanz Qualitätsverbesserung, oft auch mit Innovation

fr�::� \ oria/Slrttr.letn lJr)

Abb.

I

total

perpetuell

I X

partiell

Innovation:

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temporär

I

S

1.1: Qualität historisch-geographischer Prozesse (nach SCHENK 2005: 216). 1

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1



Die Genetische Kulturlandschaftsforschung hat die Erklärung gegenwär­ tiger räumlicher Strukturen und Prozesse aus der Vergangenheit heraus zum Ziel. Sie geht dabei nur so weit in der Geschichte zurück, als noch Bezüge zur Gegenwart bestehen. Der Mensch als Gestalter von Land­ schaft steht im Mittelpunkt ihres Interesses, am deutlichsten zu fassen in

den Siedlungen und ihrem Umfeld. Die Genetische Siedlungsforschung ist daher vor allem im landeskundlichen Kontext immer ein wichtiger Be­ reich dieser Forschungsrichtung gewesen (FEHN et al. 1988). •

Die Angewandte Historische Geographie bemüht sich um Umsetzung der Befunde, wobei Anwender der beiden genannten Forschungsansätze

vornehmlich in räumlicher Planung, Regionalentwicklung und Umwelt­ bildung tätig sind. Steht die erhaltende Weiterentwicklung des histori­

schen Erbes in unseren Landschaften im Mittelpunkt, spricht man von Kul­ turlandschaftspflege (SCHENK, FEHN & DENECKE 1997).

Die aufgeführten Zugänge werden in diesem Buch unter Historischer Geo­ graphie zusammengefasst, da das der Name ist, unter dem diese Arbeitsrich­ tungen an deutschen Universitäten institutionell verankert sind.

1.2 Erkenntnisgehalte Zentrale

Geht man allein vom Begriff aus, so ist die Historische Geographie eine Sub­

Aufgabe

disziplin der Geographie, deren spezifischer Zugang und Leistungsbereich

durch "historisch" näher erläutert wird. Zentrale Aufgabe der Historischen Geographie ist demnach, den historisch-geographischen Betrachtungsan­ satz durch entsprechende Forschungsbeiträge und in der Lehre in der Geo­

graphie als zentral zu vermitteln, da er von gleicher wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz ist und ebenso hohe Erkenntnisgehalte in sich trägt wie andere analytische Zugänge dieser Disziplin: Sie liegen vor allem •

in der Grundlagenforschung, denn Erkenntnisse historisch-geographi­ scher Forschung dienen als Hintergrund und Ursachenerklärung für wirt­ schaftliche, soziale, demographische, mentale und ökologische Prozesse und Zustände in Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlicher Quali­ tät (vgl. wiederum Abb. 1.1); dahinter steht letztlich die Suche nach den geographischen Grundlagen der Geschichte;



in der Verlängerung des Beobachtungszeitraums empirischer Forschung in die Vergangenheit und damit in einer Erweiterung des Merkmals- und Erkenntnisraums, welcher die mögliche Spannbreite natürlicher und menschlicher Entwicklungen verdeutlicht; die Vergangenheit ist in die­ sem Sinne ein Modellraum, der aktuelle und vergangene Strukturen und Prozesse durch wechselseitige Erhellung interpretieren hilft;



in Beiträgen zur Umweltbildung mit dem Ziel der Vermittlung der grund­ legenden Einsicht, dass unsere Kulturlandschaft als Umwelt eine Ge­ schichte hat und mithin ständigen Veränderungen unterlag und unter­

liegt. Daraus lassen sich allgemeine Bildungsziele der Historischen Geo-

2

Einordnung in die Geographie

1

graphie ableiten (s. nachfolgenden Exkurs). Wie jeder Auseinanderset­ zung mit der Vergangenheit wohnt auch historisch-geographischer For­ schung die Hoffnung inne, man könne aus historischer Analyse Fehler und Fehlentwicklungen erkennen und diese zukünftig vermeiden; •

in anwendungsbezogenen Arbeiten, vor allem in der aktiven Mitarbeit in Planungsprozessen zum Erhalt und zur zukunftsorientierten Nutzung des historischen, kulturellen Erbes in unseren Landschaften, womit Werte

wie Biodiversität, regionale Identität, Geschichtsbezogenheit, Vielfalt und Ästhetik verbunden sind. Den Ansatz dafür bilden gesetzliche Rege­ lungen und daraus abgeleitete

Entwicklungs- und Schutzkonzepte

(SCHENK, FEHN & DENECKE 1997). Bildungsziele der Historischen Geographie: "Der Lernende soll 1. wissen, dass geschichtliche Prozesse sich in Räumen ab­ spielen,

2.

erfahren, dass jeder Raum geschichtlich geworden ist, 3. einsehen,

dass Räume in verschiedenen Zeiten anders bewertet worden sind, 4. beurteilen, welche Bedingungen dann und wann zur Inwertsetzung oder Umwertung eines Raumes geführt haben, 5. zur Überzeugung gelangen, dass der Raum den Er­ schließungsprozess nicht determiniert, sondern dass geistige Kräfte, wirtschaftli­ che Bewegungen und technisch-ökonomische Rahmenbedingungen gleiche Räu­ me sehr differenziert gestalten können."

(SPERLING 1982: 81).

1.3 Einordnung in die Geographie vor dem Hintergrund

der Disziplingeschichte Die Erkenntnisziele und Arbeitsschwerpunkte derjenigen, die sich als His­

Komplexe

torische Geographen bezeichneten, haben sich wiederholt gewandelt. Das

Disziplingeschichte

beeinflusste auch deren disziplinäre Einordnung und Stellung innerhalb der Geographie. Den Beginn der Beschäftigung mit der Historischen Geographie Deutsch­ lands kann man etwa

1885 ansetzen, als die auf dem Deutschen Geogra­

phentag in Halle eingesetzte "Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland" ihre Tätigkeit aufnahm

(FEHN 2004). Die

Historische Geographie vor 1885 stellte sich im Wesentlichen als eine His­ torische Topographie dar, die aufs Engste mit der Geschichte, vor allem der

Klassischen Philologie, verbunden war und dem Historiker den Schauplatz des Geschehens verdeutlichen sollte. Das Auffinden und die Rekonstruktion

historischer Schlachtfelder waren z. B. Themen. In der Historischen Geographie der Alten Welt (OLSHAUSEN 1991; SONN­ ABEND 1999) lebt dies unter Aufnahme umweltgeschichtlicher Themen in den Tagungen und Veröffentlichungen der Ernst-Kirsten-Gesellschaft fort.

Historische Geographie der Alten Welt

Obgleich der erste Inhaber der Professur für Historische Geographie in Bonn Ernst Kirsten war und der Verfasser dieses Buches sein übernächster Nachfolger ist, sind die Beziehungen zwischen der Historischen Geogra­ phie der Alten Welt und der in diesem Buch beschriebenen Historischen Geographie heute nur marginal. Da sie vor allem schriftliche Quellen des

3

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1

Altertums auswertet und Bezüge zur Gegenwart wegen des großen zeitli­ chen Abstands der damaligen zu den heutigen Umweltverhältnissen meist nicht gesucht werden, verstehen sich die Vertreter der Historischen Geogra­ phie der Alten Welt eindeutig den Geschichtswissenschaften zugehörig, welche "sowohl für die Geographie als auch für die Geschichtswissenschaft eine Zweigdisziplin" sei (SONNABEND 1999: 219). Abgrenzungs­

In den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg erschienen zahlreiche Veröf­

schwierigkeit zur

fentlichungen zur Historischen Geographie sowohl von Geographen als

Landesgeschichte

auch von Historikern, was von einer heftigen Diskussion über den Standort und die Aufgaben der Historischen Geographie begleitet war. Wegweisend war ein Beitrag des Altmeisters der Landesgeschichte, RUDOLF KÖTZSC H KE, von 1906 mit dem Titel "Quellen und Grundbegriffe der Historischen Geo­ graphie Deutschlands und seiner Nachbarländer". Seine älteren Bemühun­ gen, eine eigene Disziplin "Historische Geographie" zu etablieren und ein historisch-geographisches Institut in Leipzig zu gründen, mündeten im sel­ ben Jahr in der Einrichtung eines Seminars für Landesgeschichte und Sied­ lungskunde, womit er sich von der Historischen Geographie entfernte, ohne sie vor allem in der Lehre gänzlich aufzugeben.

Eine historische

Führende Vertreter der Geographie und der Geschichtswissenschaften

Hilfswissenschaft?

vertraten vor 1945 Vorstellungen von der Selbstständigkeit des Faches der Historischen Geographie. Faktisch war sie jedoch zu einer Hilfswissenschaft der Gegenwartsgeographie und der Geschichtswissenschaften geworden. Auf der einen Seite wurde sie zu einer Betrachtungsweise der Kulturgeogra­ phie und ging damit in der Kulturlandschafts- und genetischen Siedlungsfor­ schung auf, auf der anderen Seite wurde sie wiederholt mit historischer Kar­ tographie gleichgesetzt (FEHN 2004). Hans Overbeck beschreibt das Di­ lemma 1954 treffend (zit. nach ebd.: 8): "Die Historische Geographie, die um die Jahrhundertwende von angesehenen Geographen und Historikern eifrig gepflegt wurde, hatte die Notwendigkeit einer Synthese zwischen Geographie und Geschichte an sich schon richtig erkannt. Aber sie hatte noch nicht den Weg zu selbständiger AufgabensteIlung gefunden und war in ihren Forschungsmöglichkeiten infolge der Unterentwickeltheit ihrer Wissenschaftsmethoden - das gilt ebenso für ihre geographische wie auch für ihre historische Richtung - beschränkt. So blieb die Historische Geogra­ phie nur eine Hilfswissenschaft von Geographie und Geschichte." Um nicht als Angehörige eines Zweiges der Geschichtswissenschaften missverstan­ den zu werden, mochten daher viele historisch arbeitende Geographen bis weit in die 1950er-Jahre hinein nicht von Historischer Geographie sprechen

(JÄGER 1997: 345). Eine Teildisziplin

Wohl erstmals mit dem in der Reihe "Das Geographische Seminar" 1969

der Geographie

(zweite Auflage schon 1973) erschienenen Band "Historische Geographie" von HELMUT JÄGER wurde eine deutschsprachige, allgemeiner konzipierte Historische Geographie als wesentlicher Bestandteil der Geographie mar­ kiert. Sie ist seinem Verständnis nach Geographie im umfassenden Sinne, wobei sie auf eine beliebige geschichtliche Periode bezogen ist. Bezeichnend für die differenzierte Sozialisation dieser älteren Genera­ tion von historisch arbeitenden Geographen ist jedoch die Tatsache, dass Helmut Jäger einen Lehrstuhl für Kulturgeographie in Würzburg innehatte und den Terminus "Historische Geographie" vor allem dann verwendete,

4

Einordnung in die Geographie ------

wenn betont werden sollte, dass er vor allem historisch-genetische Sied­ lungs- und (Kultur-)Landschaftsforschung betrieb. Nicht nur in Würzburg war Historische Geographie bis in die 1970er-Jahre hinein damit lediglich ein anderer Name für eine Kulturgeographie in der Tradition der Arbeiten vor

allem

von

Otto

Schlüter

(1872-1959)

und

Robert

Gradmann

(1865-1950), die sich im Übrigen vor allem als Landeskundler verstanden (DENEcKE2005: 20). In diesem kulturgeographischen Kontext war über Jahrzehnte hinweg die Rekonstruktion der Siedlungslandschaft für historische Epochen sowie der Prozess der Kulturlandschaftsentwicklung verfolgt worden, vornehmlich in

Kultur­ geographischer Kontext

regionalen Fallstudien. Spezifische Phasen, namentlich der gelenkten Be­ siedlung (Kolonisation) und des Siedlungsrückgangs (Wüstungen), standen dabei oftmals im Mittelpunkt der Forschung. Dieser Ansatz war dem tradi­ tionellen Kulturlandschaftskonzept verpflichtet, also eher auf ländliche Räume ausgerichtet und obj ektbeschreibend (morphographisch) sowie

Formtypen bildend, um historisch-genetische Aussagen auch aus der Form von Objekten abzuleiten (morphogenetisch). Als Arbeitsmethode und Da­ tengrundlage wurde die kombinierende Auswertung von Archivalien mit landschaftsbefunden entwickelt, in jüngerer Zeit vermehrt auch die Be­ funde landschaftsgeschichtlicher Methoden von Naturwissenschaften inte­ grierend. Geländeaufnahmen bis hin zu systematischen Bestandsaufnahmen (In­ ventarisierungen) von landschaftlichen Objekten hatten folglich immer eine große Bedeutung. Aus der Verbindung mit dem Ansatz der Kulturland­ schaftsgenese erwuchsen Typologien zur Beschreibung und Erklärung der

Vorläufer historisch-genetische Kultur- und Siedlungsgeographie

Ursachen und Entwicklungsprozesse von Erscheinungen wie etwa Flur- und Siedlungsformen, oftmals umgesetzt in Verbreitungskarten. Bildete diese Art von historisch-genetischer Kulturgeographie bis Ende der 1960er-Jahre einen Kernbereich der Geographie, so wurden nach der szientistischen Wende der Geographie ab den 1970er-Jahren manche ihrer Fragestellungen als zu wenig problemorientiert und bisweilen sogar als ge­ sellschaftlich irrelevant angesehen; in Deutschland wird das Ende einer tra­ ditionellen, historisch-geographisch ausgerichteten Kulturgeographie für gewöhnlich mit den Debatten auf dem Deutschen Geographentag in Kiel im Jahr 1969 in Zusammenhang gebracht. Dieser Prozess war für den historischen Ansatz in der Geographie durch­ aus existenziell, denn das bedeutete die loslösung der allgemeinen Sied­ lungs- und Kulturgeographie vom genetischen Forschungs- und Erklä­ rungsansatz, was sich in der Umwidmung von Professuren der Kulturgeo­

Krise der Historischen Geographie um 1970

graphie hin zu Forschungsfeldern niederschlug, die als zukunftsfähiger angesehen wurden. Aus der Sicht der historisch-genetischen Forschung veränderte sich des Weiteren auch das disziplinäre Umfeld durch (DENEcKE 2001: 273): •

den Durchbruch der modernen Siedlungsarchäologie, vor allem bezogen auf eine Mittelalterforschung, die zunehmend Fragestellungen der geneti­ schen Siedlungsgeographie übernahm, wie z. B. die Erforschung von Wüstungen;



die Abwendung der Geschichtsforschung von einer landschaftsbezoge­ nen Territorial- und Siedlungsforschung wie auch zum Teil vom Mittelal-

5

1

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1

ter hin zu sozialgeschichtlichen Problemstellungen der Neuzeit ( GERuCH 1986), woraus sich in der langen Linie die Umweltgeschichte entwickelte

( WINIWARTER & KNülL 2007). Um den historisch-genetischen Ansatz zu erhalten, wurden zwei Strategien verfolgt - eine interdisziplinäre und eine in die Geographie hinein gerich­ tete. Strategie

Die interdisziplinäre Strategie bedeutete eine gewisse Verselbstständi­

der tei Iweisen

gung der weiterhin historisch-geographisch Arbeitenden gegenüber der Geo­

Verselbstständigung

graphie in Deutschland im Ansatz, im Arbeitsfeld und in der Forschungsor­ ganisation. Die Gründung des "Arbeitskreises für genetische Siedlungsfor­ schung in Mitteleuropa" 1974 steht in besonderer Weise dafür, denn diese Vereinigung führte unter seinem Vorsitzenden Klaus Fehn, der die Professur für Historische Geographie als eigenständiges Seminar in der philosophi­ schen Fakultät der Universität Bonn bis 2001 innehatte, einen Kreis von wei­ terhin historisch-genetisch arbeitenden Kulturgeographen mit raumbezo­ genen Siedlungsarchäologen und Siedlungs- sowie Landeshistorikern zu­

sammen (DENECKE 2001). "Arbeitskreis für

Der in den 1970er-Jahren stark hinterfragte Begriff der Landschaft eignete

genetische

sich dabei nicht als Klammer, weshalb im Namen des Arbeitskreises der

Siedlungsforschung in Mitteleuropa"

genetische Ansatz mit dem Fokus auf Siedlungen hervorgehoben wurde. In diesem interdisziplinären Verbund wurden zahlreiche innovative Themen­ felder entwickelt, in Jahrestagungen umgesetzt und deren Ergebnisse seit

1983 in der Zeitschrift "Siedlungsforschung - Archäologie - Geschichte Geographie" dokumentiert ( FEHN 2003). Diese Arbeit führt seit 2001 der "Arbeitskreis für historische Kulturlandschaftsforschung in Mitteleuropa"

(ARKUM e. v.) fort ( GRINGMUTH-DALLMER 2004). Das in den 1970er-Jahren entwickelte interdisziplinäre Konzept erwies sich vor allem in Richtung einer Siedlungsarchäologie des Mittelalters ( FEHRING 1992) als sehr an­ schlussfähig. Obwohl dabei immer auch das Ziel verfolgt wurde, in die Geo­ graphie hineinzuwirken, blieb dort die Rezeption dieser Ergebnisse verhal­ ten. Strategie der

Die in die Geographie gerichtete Strategie zielte und zielt darauf ab, vor

Integration in die

allem dem historisch-genetischen Ansatz innerhalb der Geographie einen

Geographie

Platz zu erhalten. Dabei wurde nicht - wie in der angloamerikanischen Geographie - der Weg hin zu einer sozialgeographisch geprägten Histori­ schen Geographie gegangen, sondern unter Beibehaltung eines an der ma­ teriellen Substanz ausgerichteten Verständnisses von Kulturlandschaft eher evolutionär an ältere Forschungsansätze angeknüpft ( FEHN 2007: 451; WAR­ DENGA 2006). Das war die Basis für die Ausbildung der Angewandten Histo­

rischen Geographie namentlich im Verbund mit der Denkmalpflege. Das

I ief weitgehend parallel zum Aufbau der Angewandten Geographie, als de­ ren Teil sich die Angewandte Historische Geographie versteht. Darüber hi­ naus wurden partiell Themen aus der aktualistischen Geographie aufge­ nommen und gleichsam "historisiert"; ein Beispiel dafür ist die Mitarbeit

Historischer Geographen in Projekten zur Risiko- und Katastrophenfor­ schung (vgl. Kap. 4.1.3). Der Gebrauch des Terminus "Historische Geographie" hat damit heute vor allem die Funktion einer Markierung der Relevanz des historisch-geo-

6

Einordnung in die Geographie ------

graphischen Betrachtungsansatzes innerhalb der Geographie. In diesem

Sinne versteht sich der Verfasser dieses Buches als Historischer Geograph. Er folgt damit dem Verständnis der führenden britischen Historischen Geo­ graphen ALAN BAKER (2003: 216) und ROBIN BUTLIN (1993), welche die Histo­ rische Geographie fest verankert in der Geographie sehen, denn sie "is es­ sentiallya geographical subject. Its excitements and intellectual possibilities and challenges largely derive from that fact, and it follows logically there­ fore that space, place, time and scale are critical components of the histori­ cal geographer's thinking and practice" (ebd. : 51). Vor dem skizzierten Hintergrund kann die Frage nach der wissenschafts­ theoretischen Standortbestimmung der Historischen Geographie mit FEHN (1975: 49) heute am ehesten unter einer "Wenn-dann-Bedingung" beant­ wortet werden: "Die Historische Geographie ist eine selbständige Wissen­ schaft, die sowohl für die Gegenwartsgeographie als auch für die Ge­ schichtswissenschaft eine wichtige Hilfswissenschaft darstellt. Falls der Geographie nicht nur die Aufgabe zugewiesen wird, die Verhältnisse der Gegenwart zu erforschen, kann die Historische Geographie auch als ein Tei I der Gesamtgeographie bezeichnet werden. Die Historische Geographie ist dementsprechend Geographie im umfassenden Sinne, die sich im Gegen­ satz zur Gegenwartsgeographie nur nicht mit der Gegenwart, sondern mit der Vergangenheit beschäftigt. " Und mit MÜCKE (1988: 20) ist die Frage nach der disziplinären Verankerung der Historischen Geographie für Deutschland mit Blick auf ihre Integrationsfähigkeit und ihre faktischen leistungen so zu beantworten: "Eine Historische Geographie als eigenstän­ dige Wissenschaft im Grenzbereich Geographie/Geschichtswissenschaft muss nicht nur beide wissenschaftstheoretischen Standorte verbinden, son­ dern auch einen produktiven Beitrag zur Forschung leisten, der darin liegt, Gegenstände und Fragestellungen von Geographie und Geschichtswissen­ schaft zu verbinden, in Beziehung zu setzen und drittens somit etwas zu leisten, zu dem Geographen und Historiker in der Regel nicht in der lage sind. " Dies ist die historische, natur- und kulturgeographische Erforschung der (Kultur-)landschaft verkürzt ausgedrückt beansprucht die Historische Geographie "historische Raumkompetenz" (FEHN 2004) und die Umset­ zung des erarbeiteten Wissens in der Anwendung. Das geschieht in Deutschland heute im institutionellen Rahmen der Geographie, nämlich mit je einer Professur in Bamberg und Bonn (KLEEFELD & BURGGRAAFF 1997). Schon deshalb wird hier dezidiert die Auffassung vertreten, dass die Histo­ rische Geographie heute faktisch eine Subdisziplin der Geographie ist. Viel grundlegender ist aber, Historische Geographie als einen Betrach­ tungsansatz zu verstehen, der sich auf alle Teildisziplinen der Geographie beziehen kann. Das heißt, jede geographische Fragestellung kann per se his­ torisch-geographisch gedacht werden. In diesem Sinne kann festgestellt werden, dass vor allem die historisch-genetische Betrachtungsweise in eini­ gen Teildisziplinen, etwa der Geomorphologie, und in der geographischen landeskunde durchaus noch gepflegt wird. Manchen Teildisziplinen ist da­ gegen der historische Zugang regelrecht abhanden gekommen oder er ist nur noch auf Lehrbuchniveau erkennbar. Da sich diese Disziplinen heute als gegenwartsbezogene Disziplinen verstehen, wird dort mit einer histori-

-

Wissenschafts­ theoretische Standorts­ bestimmung

Historische Raumkompetenz als Anspruch

Historische Geographie als Betrachtungsansatz

7

1

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1

schen Perspektive und entsprechenden Methoden nicht mehr geforscht. Auf die daraus sich ergebenden Defizite kann hier nur gelegentlich hingewiesen werden. Vielmehr gilt es, sich gemäß dem Auftrag eines Lehrbuchs für Geographie auf die Darlegung grundlegender Wissensbestände zu konzen­ trieren. Das schließt Ergebnisse der älteren allgemeinen Siedlungs- und (Kultur-)Landschaftsgeographie mitteleuropäischer Prägung ein, auch wenn über bestimmte Themen heute nicht mehr in der Geographie geforscht wird; denn davon zu wissen, hilft bei der Ansprache und Erklärung von Phänome­ nen im Gelände, ist zudem hilfreich, um zentrale Aspekte der Geschichte der Geographie zu verstehen, und weiterhin werden im Kontext der Ange­

wandten Historischen Geographie einige dieser älteren Themen wieder überraschend aktuell. Beiträge zur Allgemeinen Geographie

Versteht man Historische Geographie zusammenfassend auch als einen Betrachtungsansatz, dann kann historisch-geographisches Arbeiten Bei­ träge zu grundsätzlichen Fragestellungen der Geographie erbringen, na­

mentlich •

in der genetischen (retrogressiven/retrospektiven) Analyse des histori­ schen Werdegangs von räumlichen Strukturen im Längsschnitt bis zur Ge­

genwart, vor allem unter dem Einfluss des Menschen, was im Prinzip auf allen Maßstabsebenen geschehen kann, sich in der Praxis aber auf regi­ onale Dimensionen konzentriert - im Konzept der Kulturlandschaft sind

der historische und der regionale Ansatz gleichermaßen eingebunden; •

in der Analyse vornehmlich vom Menschen ausgelöster und getragener raumwirksamer und räumlicher Prozesse in der Vergangenheit mit Blick sowohl auf das regionale Spezifikum als auch auf regelhafte Abläufe;



in der Zusammenschau von Indikatoren und Einzelbefunden zum kom­ plexen Wirkungsgefüge von Gesellschaft und Umwelt.

1.4 Historische Geographie außerhalb Deutschlands Regionale Variationen

Wenn Historische Geographie allgemein die Geographie der Vergangen­

heit ist, kann sie für j eden Teilraum auf der Erde betrieben werden, was

auch geschieht. Je nach institutionellen Hintergründen und Fachtraditionen haben sich regionale Variationen von Historischer Geographie ausgebildet. Sie können auf der etwa alle drei Jahre stattfindenden "International Confe­ rence of Historical Geographers" und auf der von der Historischen Geogra­ phie gegründeten "Permanent European Conference for the Study of the Ru­ ral Landscape" (NITZ 1992) im Zweijahresrhythmus besonders gut studiert werden. Geprägt vom Verständnis Carl O. Sauers (1889-1975) in Berkeley, wonach "culture is the agent, the natural area is the medium, the cultural landscape is the result" (SOYEZ 2003, KEMPER 2003), war die Kulturgeogra­ phie in den USA lange Zeit auf die Morphologie der Kulturlandschaft aus­ gerichtet gewesen (vgl. Abb. Angloamerikanische Historische Geographie

8

1.2):

Sie stand damit in großer Nähe zur Kulturgeographie älterer Prägung in Mitteleuropa. Die Renaissance der Urban Morphology (vgl. Kap. 3.2.2) und der Erfolg von Stadtatlanten - z. B. in Irland - zeigen, dass auch in der an-

Historische Geographie außerhalb Deutschlands ------

glophonen Historischen Geographie solche Ansätze nicht vollkommen ver­ schwunden sind.

Faktor

For men

Medium

Bevölkerungsdichte, Mobilität, Wohnungen,

NaturKultur

--

Zeit

landschaft

Plan,

--

Struktur, Produktion,

Kultur--

landschaft

Kommunikation etc.

Abb. 1.2: Kulturlandschaft nach earl O. Sauer (nach SOYEz2003).

Ein Blick in das wichtigste Forum der englischsprachigen Historischen Geo­ graphie, das "Journal of Historical Geography", belegt jedoch eine starke Hinwendung der Historischen Geographie im angloamerikanischen Raum zu sozialhistorischen Themen (GRAHAM & NAsH 2000) bei Dominanz eines konstruktivistischen Wissenschaftsverständnisses. Im Sinne des cultural

turn der New Cultural Geography (KEMPER 2003) werden nun auch in der Historischen Geographie Landschaften vor allem als Texte verstanden und z. B. Landschaftsgemälde oder Denkmäler entsprechend als Repräsentatio­ nen von Macht oder Ohnmacht interpretiert. Namentlich in Großbritannien kommt in diesem Sinne zudem die kolo­

Konstruktivismus

niale Vergangenheit in der Themenwahl und der regionalen Schwerpunkt­

und postcolonial

setzung zum Tragen ( B UTLI N 2009). Den Gegenblick aus der sich aus kolo­

studies

nialer Abhängigkeit gelösten Republik Irland wagt z. B. YVONNE WHELAN

(2003) am Beispiel der mehrfachen Uminterpretation von Denkmälern in Dublin. Professuren für Historische Geographie finden sich an vielen Universitä­ ten Großbritanniens und der USA. Die Royal Geographical Society hat eine eigene "Historical Geography Research Group" und in den USA gibt es eine "Historical Geography Speciality Group". Wie in Deutschland ist auch in den Geographien dieser Länder der historische Betrachtungsansatz ein eher komplementärer und die Außenorientierung geht vor allem in den USA zur Anthropologie; Anwendungsbezüge werden kaum gesucht. Während Historische Geographen in Schweden sich vor einigen Jahr­ zehnten noch nach Deutschland orientierten (H ELM F RI D 1962), blicken sie

Umorientierung Schwedens

heute mit einem Lehr- und Schwerpunkt "Historical Geography and Land­ scape Studies" unter Ulf Sporrong und Mats Widgren in Stockholm ver­ mehrt in die angloamerikanische Welt, ohne die archivalienbasierte Alt­ landschaftsforschung komplett aufgegeben zu haben.

9

1

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1 Breite Historische

Ähnliches ist für die große Gruppe Historischer Geographen in Japan fest­

Geographie in Japan

zuhalten. Während vor allem ältere Kollegen aus dem Tokioter Umfeld bis­ weilen in Deutschland studierten oder Kontakt zu deutschen Universitäten pflegen und auch in der Angewandten Historischen Geographie aktiv sind (YOSHIDA & K U B OTA 2009), so suchen die Vertreter der Kyotoer Schule der

Historischen Geographie eher den Anschluss an die angloamerikanische Forschung. Frankreich und

In Frankreich bindet die Historikerschule der Annales historisch-geogra­

Tschechien

phische Aspekte in sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtliche Ab­ handlungen ein (z. B. BRAUDEL 1989; dazu KRONSTEINER 1989). Eine breite historisch-geographische Grundlagenforschung mit großer Nähe zur deutschen Tradition findet sich in T schechien (NOVACEK 2008); mit "Klaudyan" betreibt sie eine eigene Internetzeitschrift (http://web.natur.­ cuni.cz/-ksgrrseklklaudyan).

Schweiz und

Anregungen, die Historische Geographie auf der Basis intensiver Grund­

Niederlande als

lagenforschung auch anwendungsbezogen zu denken, kamen vor allem aus

Vorbi Ider für Anwendung

der Schweiz (EGLI 2006) mit den groß angelegten bundesweiten Inventaren zu Verkehrswegen und Altstadtkernen sowie aus den Niederlanden (SCHENK 2007a; BAAS 2009; BORGER & SC H MA L 2002), in dem es ein Netzwerk zur His­

torischen Kulturlandschaft gibt (http://www.historischegeografie.nll). Vor al­ lem das Belverdere-Proj ekt in den Niederlanden mit der Ausweisung natio­

naler Landschaften ist vorbildlich für den Umgang mit dem räumlichen Erbe auf der Ebene eines ganzen Staates. Netzwerk von

Der bereits erwähnte "Arbeitskreis für historische Kulturlandschaftsfor­

Archäologen,

schung in Mitteleuropa" (ARKUM e. V.) bildet vor allem für Mitteleuropa

Historikern und Geographen

ein Netzwerk für einschlägige Forschungen. Zur Dokumentation seiner Jah­ restagungen gibt er in der Nachfolge seiner Vorgängervereinigung weiterhin die Zeitschrift "Siedlungsforschung: Archäologie - Geschichte - Geogra­ phie" heraus, in der Reihe "Kulturlandschaft" werden heute vor allem The­ menbände zur Angewandten Historischen Geographie veröffentlicht und über seine Homepage http://www.kulturlandschaft.orgl ist eine Online-Bib­ liographie zur genetischen Siedlungsforschung zugänglich, welche vormals in den Bänden der Siedlungsforschung gedruckt vorgelegt wurde.

1.5 Historische Geographie im Verhältnis zu Nachbardisziplinen I nterdisziplinarität

In einem per se interdisziplinären Fach wie der Historischen Geographie

als Kennzeichen

sind die Beziehungen zu Disziplinen außerhalb der Geographie sehr inten­ siv, namentlich zu einigen historischen Teildisziplinen wie der Agrar-, Forst-, Technik- und Siedlungsgeschichte, dazu zur Landschaftsarchäologie.

Nähe zur

Soweit es um die Erforschung der langfristigen Entwicklung der mensch­

historischen

lichen Lebens- und Reproduktionsbedingungen geht, lässt sich die Histo­

Umweltforschung

rische Geographie in die historische Umweltforschung einordnen. Sie zeigt dabei Langzeitprozesse auf, die zur Erschließung von Räumen oder deren Aufgabe geführt haben (FEHN 2007: 452), und zwar durch Untersuchungen •

10

zur allmählichen Umwandlung von Natur- zu Kulturlandschaften,

Kulturlandschaft als Schlüsselkonzept ------





zum Einfluss der Geofaktoren auf die Geschichte und um dem Vorwurf des Geodeterminismus vorzubeugen, ist festzuhalten, dass die Histo­ rische Geographie dabei keine zeitlosen Gunst- und Ungunsträume kennt, sondern nur zeittypisch zu nutzende natürliche Potenziale, zur Umformung der Geofaktoren durch den Menschen, auch unter geo­ ökosystemaren Aspekten. -

Diese Fragen ergeben eine große Nähe der Historischen Geographie zu na­

Kooperation mit

turwissenschaftlich ausgerichteten Forschern im eigenen Fach, in deren Mit­

Geoarchäologie

telpunkt die Rekonstruktion historischer und prähistorischer Landschaften steht. Darüber hinaus bestehen Beziehungen zu weiteren, eher naturwissen­ schaftlich ausgerichteten Disziplinen wie der Quartärgeologie oder Boden­ kunde, die im Rekurs auf einen Arbeitskreis in der Deutschen Gesellschaft für Geographie als Geoarchäologen zu bezeichnen sind. Die Historische Geo­ graphie (VERBRUGGEN 2006) integriert deren Befunde an passender Stelle in ihre Forschungen oder arbeitet in deren Projekten mit (vgl. Kap. 2. 7). Aufgrund des gemeinsamen Rekurses auf schriftliche Quellen sind die Beziehungen der Historischen Geographie zur noch jungen geschichtswis­ senschaftlichen Teildisziplin Umweltgeschichte (WINIWARTER & K NülL 2007; JÄGER 1994; SCH ENK 2003a) noch enger. Ein Podium ist die von der Umwelt­ geschichte dominierte "European Society for Environmental History" (ESEH; http://eseh.orgl) mit ihren Tagungen. Wie die Publikationen des Graduiertenkollegs "Interdisziplinäre Umwelt­ geschichte. Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleu­ ropa" an der Universität Göttingen zeigen, wird in der Umweltgeschichte neben der Rekonstruktion der naturräumlichen Voraussetzungen und der historischen Nutzungsmuster in bestimmten Räumen gleichrangig der Wahrnehmung von Folgen und Nebenfolgen der Nutzung seit dem Mittel­ alter nachgegangen. Da die Historische Geographie in der geschichtlichen Landeskunde eine ihrer Wurzeln hat, sind viele historisch-geographisch Arbeitende intensiv in die historisch-Iandeskundliche Forschung ihrer jeweiligen Arbeitsregionen eingebunden (bspw. EGu1996 oder KRINGS & SCHENK 2005). Dabei ist festzu­ halten, dass der Begriff der geschichtlichen Landeskunde zuallererst den in­ terdisziplinären Verbund aller derjenigen Fächer (z. B. der Archäologie) bzw. Teilbereiche von Fächern (z. B. der Agrargeschichte, s. RÖSENER 1997) umschreiben sollte, die sich mit einer historischen Fragestellung einem be­ stimmten Raum zuwenden (FEHN 1998). Wenn Historische Geographen hier mitarbeiten, sollte das Ziel eine interdisziplinäre Kooperation auf der Basis der Raum-Zeit-Kompetenz der Historischen Geographen und der Zeit-Raum-Kompetenz der Landeshistoriker sein (FEHN 2004).

Enge Bezüge zur Umweltgeschichte

Mitarbeit in der Landeskunde

1.6 Kulturlandschaft als Schlüsselkonzept Die Bedeutung des Begriffs "Landschaft" für die Geographie stellt COONES (1992: 75) wie folgt heraus: Nach ihm sind nur wenige "subjects [ . . . ] so in-

11

1

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1 Offenheit des Terminus "Landschaft"

nately geographical in their content, significance and ramifications as the study of landscape, involving the physical and the human, the past and the present, the reality of the environment and the realm of ideas, and, not at least, in this period of concern with ,relevance', the pure and the applied." Während andere Teildisziplinen der Geographie landschaft ab den 1970er­ Jahren aus durchaus nachvollziehbaren Gründen als zentrales Forschungs­ objekt des Faches verwarfen, blieb Kulturlandschaft durchweg das Schlüs­ selkonzept der Historischen Geographie. Dem gingen längere Diskussionen verwandter Begriffe voraus, was sich auch aus der Offenheit des Grundwortes "landschaft" erklärt (s. nachfolgen­ den Exkurs), und folglich wandelte sich auch das Verständnis von Kultur­ landschaft in der Historischen Geographie immer wieder.

Begriffsfeld Landschaft

830: lantschaft: politisch definierter Landstrich (regio, territorium); Mittelalter: Landschaft (z. B. von Basel): Verfassungsorgan, Bewohner einer Region

ab 16. Jh.: "Bild, das eine Landschaft darstellt" = Terminus technicus der Malerei

Physiognomie

Regionalisierung

Verschmelzung um 1900 Denktraditionen

"naive Weitsicht des landschaftlichen Auges"

Denken in Erdräumen und Raumgliederungen

Deskription und Physiognomie

+

umgangsprachliche Aufladung durch antistädtisches und ästhetisierendes Bürgertum: Schöne, naturnahe, kleingekammerte, offene, ländliche Kulturlandschaft als Ideal

Fazit: "getönter" Begriff mit einer Vielzahl von Konnotationen

Abb. 1.3: Entwicklung des Begriffs "Landschaft" im Deutschen (nach SCHENK 2002:

7).

Im semantischen Hof des Wortes "Landschaft" verschmolzen im Laufe von mehr als 1200 Jahren (vgl. Abb. 1.3) im Wesentlichen drei Aspekte (verkürzt nach SCHENK 2001a und 2002a): •

Das um 830 erstmals nachgewiesene althochdeutsche "Iantschaft" beschreibt im Sinne von "territorium" und "regio" einen politisch definierten Landstrich.

12

Kulturlandschaft als Schlüsselkonzept

1

Im Mittelhochdeutschen meint Landschaft vor allem die Gesamtheit der poli­ tisch Handlungsfähigen eines Territoriums. •

Seit dem ausgehenden Mittelalter wird Landschaft zunehmend im Sinne eines "geschauten Naturausschnitts" als Terminus technicus in der Malerei verwen­ det.



Ab dem 18. Jh. wurde der Begriff fester Bestandteil der Allgemeinsprache. Vor allem während der Industrialisierung verband sich dies mit antistädtischen und das Landleben ästhetisierenden Weltsichten des Bildungsbürgertums sowie mit heute teilweise diskreditierten Vorstellungen des frühen 20. Jh.s (z. B. der Heimatschutzbewegung), in denen der Gedanke einer Einheit von "land und leuten" (Wilhelm Riehl) mitschwingt. Um 1900 sind damit zwei Denktraditionen von Landschaft im Gebrauch: zum einen die der "naiven Weitsicht" und des "landschaftlichen Auges" der Natur­ malerei mit Betonung von Deskription und "schöner, ländlicher Physiogno­ mie", zum anderen die "regionalistische Tradition" mit ihrem Denken in Erd­ räumen und -gliederungen. Die erste Denktradition führte dazu, dass in der Umgangssprache mit "Land­ schaft" in der Regel nicht-städtischer, "freier" Raum assoziiert wird. Die Geo­ graphie nahm vor allem den zweiten Aspekt auf, ohne den ersteren gänzlich zu eliminieren.

Um 1900 wurde das Konzept der Urlandschaft als rekonstruierende Be­

Urlandschaft

schreibung einer weitgehend vom Menschen unberührten Landschaft ent­ wickelt. Das erwies sich als nicht tragfähig, denn vorgeschichtliche For­ schungen haben solche Vorstellungen von menschlicher Unberührtheit sog. "Ur"-Landschaften relativiert; historisch arbeitende Tierökologen (GERKEN & MEYER 1996) diskutieren z. B. die landschaftsprägenden Wirkungen von Großsäugern und die Folgen deren Bejagung durch den Menschen. Danach hätten insbesondere große Pflanzenfresser (Elefanten, Nashörner, Wild­ pferde, Flusspferde, Riesenhirsche) eine "Savannisierung" (RACKHAM 1998) der europäischen Landschaft in den eiszeitlichen Interstadialen und im frü­ hen Holozän bewirkt, was bedeutete, dass die gängigen Bilder einer nahezu vollkommenen Bewaldung Mitteleuropas vor den Rodungen durch den Menschen zu hinterfragen sind. Weniger problematisch im Gebrauch zeigte sich der Begriff "Altland­

Altlandschaft

schaft", welcher nach Otto Schlüter (1872-1959) allgemein eine vom Men­ schen beeinflusste Landschaft der prähistorischen und historischen Vergan­ genheit zu einem beliebigen Zeitschnitt meint und sich im altlandschaftli­ chen Rekonstruktionsansatz der Historischen Geographie durchaus noch wiederfindetUÄGER 1973: 89ff.). Mehr als dieser Terminus befriedigte jedoch das etwa zeitgleich ausge­ bi Idete Begriffspaar "Naturlandschaft - Kulturlandschaft" (KONOLD 1996;

Natur- versus Kulturlandschaft

Letzteres maßgeblich befördert durch Friedrich Ratzel im Rahmen seiner be­ rühmten Grundlegung einer Anthropogeographie) vergangene und aktuelle Bedürfnisse innerfachlicher Abgrenzung und wurde daher in der Forschung sehr wirksam (SCHENK 2001a). Innerhalb der dualistischen Geographie mit ihren Hauptzweigen der Na­ tur- und Humangeographie etablierten sich nämlich mit der Ausbildung der

Naturgeographisches Forschungskonzept

Geographie als universitäres Fach zur Mitte des 19. Jh.s sukzessive For­ schungsrichtungen mit Betonung der natürlichen Phänomene des Natur­ haushalts. Daraus entstanden Teildisziplinen wie z. B. die Geomorphologie

13

Historische Geographie im disziplinären Umfeld

1

und letztlich die Landschaftsökologie. Stehen im Mittelpunkt naturgeogra­ phischer Forschung vornehmlich die Veränderung von Bewuchs und Nut­ zung, Klima und Relief, Bodenbildung und Bodenerosion über eine längere Zeit hinweg, so wird heute für gewöhnlich von Landschaftsentwicklung oder Landschaftsgeschichte gesprochen. Landschaft ist daher eher ein ana­ lytisches Konzept der naturwissenschaftlich ausgerichteten Geographie zur Erforschung vergangener Landschaftszustände und -prozesse (BORK et

al. 1998), in welcher der Mensch eine von vielen Steuerungsgrößen räum­

I icher Prozesse ist oder bisweilen sogar als "Störfaktor" angesehen wird. Strategischer

Da heute in Mitteleuropa jedes Gebiet kulturell überprägt ist und man

Pleonasmus

mithin einfach von "Landschaft" sprechen könnte, setzt die Historische Geographie den Terminus "Kulturlandschaft" als strategischen Pleonasmus - d. h. als eine überflüssige Häufung sinngleicher oder -ähnlicher Ausdrücke - ein, um damit die Raumwirksamkeit des Menschen in einer historischen Perspektive in den Mittelpunkt ihres Interesses zu markieren.

Kulturlandschaft als

Sie folgt damit einer positiv besetzten Tradition der Kulturgeographie,

Sch I üssel konzept

die ein "Gesamt von Menschen und natürlichen Voraussetzungen als ihren Gegenstand begriff, ohne völkische Ideologien auszurufen und ohne in diese Landschaft eingreifen zu wollen. Für sie ist die immer abgrenzbare, besondere Kulturlandschaft Gegenstand einer Lektüre, als ein lebendiges und sich weiterentwickelndes Archiv der politischen und physischen, der sozialen und technischen Entwicklung eines Gebietes - mit besonderer Ei­ genart und von ästhetischem Reiz" (HAUSER 2006: 6).

Definition von

In dieser Tradition stehend, definierte eine Arbeitsgruppe von Histori­

Kulturlandschaft

schen Geographen und Denkmalpflegern (VEREINIGUNG DER LANDESDENKMAL­

PFLEGER 2002) "Kulturlandschaft als den vom Menschen nach seinen existen­ tiellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturell-ästhetischen Be­ dürfnissen eingerichteten und angepassten Naturraum, der im Laufe der Zeit mit einer zunehmenden Dynamik entstanden ist und weiterhin in der Folge sozialer, wirtschaftlicher und geistig-kultureller Dynamik ständig verändert wird." Damit sind sowohl die Gesamtheit der vom Menschen überprägten Erdoberfläche als auch nach sinnlich wahrnehmbaren Aspekten ausgeglie­

derte - in der Regel regionalmaßstäbliche - Teilausschnitte davon gemeint, welche per se Nutzlandschaften sind. Kulturlandschaft kann also sowohl über die Substanz als materialisiertes Gedächtnis raumzeitlich differen­

zierte Formen gesellschaftlicher Raumaneignung als auch konstruktivistisch als ein hermeneutischer Leseansatz im Sinne der Neuen Kulturgeographie

oder als Handlungs- und Identitätsraum (GAILING & LEIBENATH 2010) verstan­ den werden. Das korrespondiert mit einer intensiven Rezeption vor allem der historischen Typologie von "landscape" von lohn B. lackson in raumbe­ zogenen Disziplinen in Deutschland, was derzeit zu zahlreichen Diskursen um "engere" und "weitere" Verständnisse von Kulturlandschaft (HOKEMA

2009) führt. Ständige Begriffs­

Dabei werden Fragen der kulturellen Kodierung von Räumen in der Ver­

erweiterung

gangenheit sowie der Steuerung von Prozessen in der Gegenwart, die räum­ liche Qualitäten stiften und somit Potenziale für eine nachhaltige Regional­ entwicklung aufzeigen, immer bedeutsamer, denn Kulturlandschaft ist zu einem intensiv diskutierten Begriff in der bundesdeutschen Raumplanung und Regionalentwicklung geworden (vgl. Kap. 6.2.2).

14

Kulturlandschaft als Schlüsselkonzept ------

Zusammenfassend lenkt der Begriff "Kulturlandschaft" aus der Sicht der Historischen Geographie den Blick auf die Raumwirksamkeit des Men­

schen, ummantelt die älteren objektbezogenen (matterscape) und die funk­ tional-planungsbezogenen Zugänge (powerscape) der Historischen Geo­ graphie und erlaubt den Anschluss an konstruktivistische Verständnisse (mindscape) von Kulturlandschaft. Damit wird deutlich, dass "Kulturland­ schaften" gedankliche Konstruktionen sind und keinesfalls Entitäten.

15

1

2 Betrachtungs- und Darstellungsweisen,

Quellen und Analysemethoden - vor allem der Grundlagenforschung Betrachtungsansätze

In der historisch-geographischen Grundlagenforschung haben sich als Aus­ druck davon, dass lange Zeit Interpretationen schriftlicher und kartogra­ phischer Quellen dominierten, die überwiegend auf einen bestimmten Zeitschnitt gerichtet sind, spezifische Betrachtungsansätze herausgebildet, die zugleich als Darstellungsweisen von Befunden zu verstehen sind (unter "Zeitschnitt" ist hier der methodische Begriff für die Rekonstruktion z. B. einer Landschaft zu einem bestimmten Jahr gemeint).

Quer- und längsschnittliche Betrachtungsweise

Die querschnittliche (synchrone) Betrachtungsweise ist stets auf die land­ schaftlichen Zustände einer bestimmten Vergangenheit gerichtet. Mit Otto Schlüter kann man das als "altlandschaftliche Betrachtungsweise" bezeich­ nen UÄGER 1973: 89). Das zeitliche Hintereinanderschalten von mehreren Zeitschnitten auf der Basis von schriftlich-kartographischen Quellen möglichst gleicher Qua­ lität erlaubt eine Oynamisierung der Betrachtung. Man spricht dann von längsschnittlicher (diachroner) Betrachtungsweise.

Diachrone Betrachtungweise

Verbindet man nun längsschnitt- und Querschnittmethoden miteinan­ der, lassen sich folgende idealtypische Betrachtungsweisen, die zugleich Darstellungsweisen sein können, ausgliedern (vgl. Abb. 2.1): •

Progressive Methode

Die progressive Methode besteht darin, dass die Forschung oder Darstellung von älteren zu den jüngeren Stadien räumlicher Gefüge und Funkti­ onszusammenhänge fortschreitet, um dadurch zu einer Erklärung der jeweils jüngeren Entwick­ lungsstufen zu gelangen.



V3

Die re(tro)gressive (bisweilen auch retrospektiv genannte) Methode geht davon aus, dass ein en­ ger Zusammenhang zwischen den landschaftli­

/

chen Verhältnissen zu einem bestimmten Zeit­

V1

punkt und vorangegangenen Entwicklungen be­ steht. Man beginnt also die Untersuchung nach Klärung der späteren Verhältnisse und schreitet

Regressive Methode I.

in die Vergangenheit zu den unbekannten zu­

111. "....-----.,.. r-------1....--,

kann man das als historisch-genetischen Ansatz

rück. Beginnt man damit in der Gegenwart, so verstehen, denn damit wird die Vergangenheit in der Gegenwart erschlossen. V3

/

/

16

G

V1 Abb. 2.1: Betrachtungs- und Darstellungsweisen in der historisch-geo­

graphischen Forschung (nach SCHENK2005: 220).

Interpretationen schriftlich-archivalischer Quellen ------

In theoretischen Diskussionen wird dies noch weiter ausdifferenziert. In der praktischen Forschung spielen die methodischen Unterscheidungen dage­ gen eine untergeordnete Rolle, denn letztlich bestimmt die Verfügbarkeit bestimmter Quellen die Aussagemöglichkeiten. Historisch-geographischen Forschungen ist die Quellenkombination ei­ gen. Die Historische Geographie gewinnt ihre Erkenntnisse nämlich aus der Interpretation schriftlicher, kartographischer und sprachgeschichtlicher

Kombination verschiedener Quellen

Quellen (vgl. Kap. 2.1 bis 2.5) sowie aus der Kulturlandschaft selbst (vgl. Kap. 2.6), dazu ergänzend aus naturwissenschaftlichen Methoden (vgl. Kap. 2.7).

2.1

Interpretationen schriftlich-archivalischer Quellen

Originäre historisch-geographische Aussagen lassen sich zuallererst aus der zielgerichteten Interpretation von historischen schriftlichen Dokumenten gewinnen. Da die wenigsten Schriftquellen in Form von gedruckten Urkun­ denbüchern, Quellensammlungen oder Einzeleditionen vorliegen, sondern als Unikate überwiegend in Staats-, Stadt- oder sonstigen Archiven (FRANZ

1 999) lagern, ist der Besuch von Archiven unerlässlich. Das gründliche Stu­ dium von Findbüchern (Repertorien) und Bestandskatalogen eröffnet den Zugang zu den oft riesigen Archivbeständen. Den Hauptbestand in diesen bilden in Mitteleuropa Archivalien ab dem Hochmittelalter mit wachsender Menge infolge der zunehmenden Bürokra-

Interpretation von Archivalien

tisierung ab der Frühen Neuzeit. Für die Historische Geographie wichtige Archivaliengruppen sind herr­ schaftliche Besitz- und Rechtsverzeichnisse (etwa Urbare, Lehn- und Salbü­ cher), Steuerbücher und vor allem in der Frühen Neuzeit Akten von Verwal­ tungen und Behörden (z. B. Geheimer Rat, Forstverwaltungen, Baubehör­ den). Allgemein sind Streitakten ein aussagestarker Quellenfundus, da es dabei oft um Fragen der Zugangsberechtigung zu räumlichen Ressourcen wie Boden, Wasser oder Wäldern und deren Nutzung geht; bisweilen fin­ den sich darin Risse und Pläne zur Erläuterung eines Sachverhaltes. Da wohl aber keine der uns heute noch zugänglichen schriftlichen Quel-

Quellenkritik

len mit der Absicht verfasst wurde, kulturlandschaftsgeschichtliche Informationen weiterzugeben, ist es Aufgabe des Forschers, die Archivalien gemäß den allgemeinen Grundsätzen der historischen Quellenkritik zu hinterfragen (GLASER 2008: 30). So ist vor einer Interpretation zu überprüfen, ob es sich um eine Quelle "aus erster Hand", womöglich eines Augenzeugen, handelt oder um eine Abschrift. Des Weiteren gilt es zu klären: Ist der Autor bekannt und welche spezifische Sicht der Dinge repräsentiert er? Was wissen wir über seine soziale und ökonomische Stellung, seine Motive zur Verfassung der Quelle, seine Ausbildung, sein Wahrnehmungsvermögen? Stimmen im Text enthaltene verifizierbare Angaben - etwa über politische Ereignisse oder Naturereignisse - mit bekannten Daten überein? Mit der Beantwortung solcher Fragen wird deutlich, dass die Mehrzahl der schriftlichen Quellen eher als deskriptiv (beschreibend), aber dennoch

17

2

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

Kenntnisse historischer Hilfswissenschaften

Aufbau Langer Reihen aus seriellen Quellen

normativ zu charakterisieren sind, da diese vorwiegend aus herrschaftlich­ staatlicher Perspektive verfasst und damit oftmals Verhaltensregeln vorgege­ ben wurden. Zudem sind sie meist querschnittlich angelegt, also einen Zeit­ schnitt abbildend. Des Weiteren lassen sich damit überwiegend lokal oder regional gültige Aussagen treffen, die in der Regel nur aus sehr spezifischen geschichtlich-Iandeskundlichen Hintergründen heraus zu verstehen sind. Durch ihre Fragestellungen und die Verwendung solcher Quellen konstru­ iert die Historische Geographie oftmals eigene Räume in einem landesge­ schichtlichen Kontext (SCHEN K 2007b). Generelle Voraussetzung zu einer kritischen Quellennutzung bzw. -inter­ pretation sind ausreichende Kenntnisse der historischen Hilfswissenschaf­ ten, vor allem Sicherheit beim Lesen älterer Schriften (LÖFFLER & M ILDE 1997), bei der Datierung sowie bei der Umrechnung historischer Maßein­ heiten ins Dezimalsystem. Um die erfassten Strukturen raumzeitlich zu dynamisieren, ist der Aufbau sog. "Langer Reihen" von homogenen und quantifizierbaren Datenreihen aus seriellen Archivalienbeständen, z. B. Forstrechnungen, wichtig (SCHENK 1999). Dazu ist es notwendig, Archivalien auch quantitative Informationen zu entnehmen, um dann mittels statistischer Verfahren zur Ausgliederung von Wertstufen, Rangfolgen, Gruppenbildungen und Periodisierungen zu gelangen. Hier bietet sich der Einsatz von EDV zum Aufbau umweltge­ schichtlicher Datenbanken an. So liefert etwa HISKLID als Historische Kli­ madatenbank (GLASER 2008: 53 f.) vielfältige Datensätze zur Rekonstruktion vergangener Witterungs- und Klimaverhältnisse (vgl. Kap. 4.1.3). Da jede Quellengattung spezifische BIindstellen und zugleich Stärken hat, giIt allge­ mein die Regel, eine möglichst große Zahl von einschlägigen Quellen un­ terschiedlicher Herkunft, Qualität, Maßstäblichkeit sowie zeitlicher Tiefe auszuwerten und die daraus abgeleiteten Befunde miteinander zu kombi­ nieren.

2.2

Auswertung bildlicher Darstellungen­ Landschaftsgemälde und Fotos

Landschaftsgemälde als problematische Quellen

"Der düstere Tag"

18

Landschaftsgemälde sind dem poetischen Geist des Malers entsprungen, das will heißen, dass hinter den in einem Gemälde abgebildeten landschaft­ lichen Elementen und Strukturen eine subjektive Wirklichkeit steht. Dem steht nicht entgegen, dass in der Landschaftsmalerei der Niederländer schon ab dem 16. Jh. die Tendenz zu erkennen ist, möglichst präzise das Lokalko­ lorit und die topographische Situation zu fassen (MAKOWSKI & B UDERATH 1983). Ein Beispiel dafür ist das Bild "Der düstere Tag" von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1565 (vgl. Abb. 2.2). Es zeigt im Stil der Monatsbilder für den März im Vordergrund sehr realis­ tisch die intensive Nutzung und den daher angegriffenen Zustand der dorf­ nahen Wälder in der Frühneuzeit. Männer sind dabei, von einer Kopfweide Stecken zu schneiden, die man z. B. beim Bau von Fachwerkwänden ("Wand" leitet sich ab von "windenlflechten") verwenden konnte. Hier wird

Auswertung von Altkarten und Erstellung von Historischen Karten ------

Abb. 2.2: "Der düstere Tag" von Pieter Bruegel dem Älteren,

BUDERATH

1983: 99).

1565 (aus MAKOWSKI

&

also landschaftliche Realität abgebildet. Doch im Hintergrund des Bildes tobt vor einer wi Iden Gebirgslandschaft das sturmgepeitschte Meer, welches das Menschenwerk bedroht. Der gleichnishafte Charakter der Bildkomposi­ tion ist offenkundig. Die Abbi Idung von Realität in historischen Landschafts­ gemälden ist also selten dem Anliegen des Malers um eine exakte Wieder­ gabe seiner Umwelt zu verdanken. Quellenkritisch ist zudem zu beachten, dass intellektuelle Kreise Deutschlands von einer "weitverbreiteten Attitüde der Distanzierung von ganz normalen, gewissermaßen unschuldigen Land­ schaftsbildern" geprägt sind, und zwar als Reaktion auf den latenten Vor­ wurf des Kitsches (EISEL 2001). Unter Beachtung solcher quellenkritischer Aspekte rekonstruierten ZUM­ BÜHL et al.

(1983) anhand von Landschaftsgemälden historische Gletscher­

stände in der Schweiz. Auch Fotos und Luftbi Ider (s. Abb.

4.4, Kap. 4.1.2) können Bausteine zur

Fotos und Luftbilder

Erforschung jüngst vergangener Landschaftszustände sein. Insbesondere der Vergleich älterer mit

j üngeren

Aufnahmen eines Landschaftsausschnitts

(LANDESMEDIENZENTRUM BADEN-WÜRTTEMBERG

2009; TANNER 1999) erlaubt an-

schauliche Einsichten in die Dynamik räumlicher Strukturen.

2.3

Auswertung von Altkarten und Erstellung von Historischen Karten

Karten repräsentieren in besonderer Form Weltsichten. Ihre Interpretation

Konstruktivistischer

erlaubt daher vorzügliche Einblicke in das Denken z. B. von Forschungsrei-

Charakter

19

2

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

senden (z. B. SCHELHAAS & WARDENGA 2007). Die Historische Geographie nutzt im Wissen um deren konstruktivistischen Charakter Karten zugleich als Wissensquellen und als Kommunikationsmittel. Daher sind grundsätz­

I ich zwei Kartentypen zu unterscheiden: Altkarten - das sind handgezeich­ nete Pläne oder Risse und meist archivalische Unikate, welche im Wesent­ lichen in der Zeit von der Mitte des 16. jh.s bis in die erste Hälfte des 19. jh.s entstanden sind (KRETSCHMER 1986) - und Historische Karten oder Ge­ schichtskarten zur kartographischen Darstellung von Sachverhalten und Er­ gebnissen der Forschung (SCHÖNFELDER 1999; ESELING 1999). Altkarten als

In der Forschung und Lehre stehen beide in enger Beziehung, denn Altkar­

Forschungsmedien

ten werden in der Historischen Geographie nicht vornehmlich unter karto­ graphiegeschichtlichen Aspekten bearbeitet, sondern als eine von mehreren Quellengattungen, welche die Rekonstruktion und Illustration vergangener landschaftszustände erlauben (AVMANS 1986). Karten aus der Frühen Neu­ zeit sind in der Regel allerdings nicht flächendeckend vorhanden und selbst bei größerer regionaler Abdeckung nicht im Sinne heutiger Karten zu ver­ wenden. Die Mehrzahl der in Archiven ruhenden Pläne und Risse entsprang Streitigkeiten und Prozessen; sie sind überwiegend keine autonome Über­

I ieferung, sondern Bestandteil der entsprechenden Akten, von denen sie aus konservatorischen Gründen bisweilen getrennt gelagert werden, was den inhaltl ichen Zusammenhang herzustellen bisweilen erschwert oder ver­ unmöglicht. Altkarten haben oftmals einen großen Maßstab und bieten wie Thematische Karten nur die für den jeweiligen Sachverhalt wichtigen räum­ lichen Elemente. Nebensachverhalte sind häufig unvollständig oder mit künstlerischer Freiheit dargestellt. Topographische

Genügen also die meisten Karten bis ins späte 18. jh. hinein kaum heuti­

Landesaufnahmen

gen Ansprüchen an Exaktheit, so ist für die Zeit um 1800 zu beobachten, dass damals fast alle deutschen Staaten begannen, topographische Landes­ aufnahmen ihrer Territorien nach definierten Standards durchzuführen. Das erfolgte meist aus militärischen Motiven, weshalb Kartenblätter, auf denen die Darstellung des Reliefs durch Schraffuren der Anzeige des Böschungs­ winkels diente, bisweilen überlastet wirken. Dennoch sind sie zusammen mit den oft zur gleichen Zeit und aus ähnlichen Motiven entstandenen topo­ graphisch-lexikalischen Landesaufnahmen wichtige Quellen etwa für die Rekonstruktion von landnutzungen; Landesvermessungsämter bieten sie in der Regel als Reproduktionen an. Das gilt bisweilen auch für die ältesten Ka­ tasterkarten (Urkataster), welche für gewöhnlich seit dem frühen 19. jh. in den deutschen Staaten zur Bestimmung der Grundsteuer aufgenommen wurden.

Katasterkarten

Sie sind eine wichtige Quelle für die Historische Geographie, weisen sie doch in großen Maßstäben (1 : 2500 bis 1 : 5000) Flurstücke samt Bodennut­ zung parzellenscharf aus und vermerken dazu die zugehörigen Eigentümer in einem Verzeichnis; in den heutigen Grundbüchern lebt dies in moderni­ sierter Form fort. Damit werden - bezogen auf die Siedlungen - sozialtopo­ graphische Rekonstruktionen möglich, etwa indem auskartiert wird, wo im Dorf die Reichen und die Armen lebten oder wo die Gewerbe lokalisiert wa­ ren. Mit Blick auf die Rekonstruktion von Fluren erlauben diese Karten die Anwendung der Methode der Rückschreibung nach ANNELlESE KRENZLIN

(1983): Anhand der kombinierenden Interpretation von Katasterkarten und 20

Ortsnamenanalyse

2

-büchern des 19. Jh.s und älteren herrschaftlichen Besitzverzeichnissen schreitet die Untersuchung zu älteren Verhältnissen zurück. Die Schnittstelle zwischen den herangezogenen Archivalien bilden darin festgehaltene Flur­ namen (vgl. Kap. 2.5) sowie Namen der Besitzer der Anwesen oder deren

Benamungen; im süddeutschen Raum trugen die Höfe über Jahrhunderte hin Hausnamen, die nicht mit dem Schreibnamen des aktuellen Bewohners iden­

tisch sein mussten. So können Karten entstehen, die vergangene Landnut­ zungszustände widerspiegeln. Gelingt es, solche Landnutzungskarten für ein Gebiet zu unterschiedlichen Zeitschnitten zu erstellen, werden damit Wand­ lungen der Nutzung sichtbar (vgl. Abb. 5.9, Kap. 5.3). Die Kulturlandschaftswandelkarte (vgl. Abb. 6.4, Kap. 6.2.4) versucht, das Nacheinander verschiedener Querschnitte in einer komplexen Zusammenschau

mehrerer

Phasen

in

einem

Kartenblatt

umzusetzen

Kulturlandschafts­ wandelkarte

(s.

Kap. 6.1.4). Im Übrigen enthalten auch moderne topographische Karten eine Vielzahl an historisch-geographischen Informationen (HAGEL 1998). Wertvolle Ergebnisse interdisziplinärer Zusammenarbeit und ideale Quellen für das vergleichende Arbeiten mittels Karten sind des Weiteren Territorial- und Regionalatlanten mit historisch-geographischen Inhalten (FEHN

1991).

2.4

Ortsnamenanalyse

Orts- bzw. Siedlungs- und Flurnamen (s. Kap. 2.5) sind sprachliche Gebilde und damit per se flüchtig. Wenn sie jedoch in Karten fixiert werden, bieten sie als Schnittstelle zwischen Sprache und Raum zahlreiche Ansatzpunkte für historisch-geographische Analysen. In diesem Sinne wurde die Ortsnamenforschung eine Art Leitdisziplin für die Erforschung historischer Siedlungsverhältnisse, als WILHELM ARNOLD sein Buch "Ansiedlungen und Wanderungen deutscher Stämme. Zumeist nach

Ortsnamenforschung als Siedlungs­ forschung

hessischen Ortsnamen" (1875) veröffentlichte, denn es traf den Geist einer durch den Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich bestimmten Zeit, was die Ortsnamenforschung politisch auflud (GERUCH 1986: 140ff.). Obgleich Arnolds Hypothese, die Suffixe (Endungen) von Ortsnamen seien stammestypisch (,, -ingen" etwa alemannisch oder ,,-heim" fränkisch),

Analyse von Ortsnamenendungen

sich als problematisch im Sinne der Konstruktion von "Stämmen" und den damit verbundenen politischen Interpretationen erwies, so wurde in diesen Forschungen deutlich, dass die Suffixe von Ortsnamen diese zu landschafts­ geschichtlichen Zeugnissen machen, und zwar aufgrund dreier Aspekte: hinsichtlich •

der räumlichen Gruppierung, z. B. von ,,-ingen" in Südwestdeutschland;



des Bedeutungsgehalts mit Blick z. B. auf die Lage (,, -bach"), den Besied­ lungsvorgang ("roth" für Rodung) oder den Träger (Müdesheim - "Heim

des Muotwin") einer Siedlung; •

der zeitlichen Schichtung, denn unter den jeweiligen namengebenden

Siedlungsträgern waren bestimmte Suffixe zu bestimmten Zeiten gleich­ sam "in Mode".

21

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

Tab. 2.1: Schema zur Ortsnamendatierung in Korrelation zu Dorf- und Flurformen sowie Stadttypen (u. a. nach HAGEL 1998). Periode

Ortsnamenendungen

Vorchristliche

Grabhügel, Hünengräber

ab ca. 100 v.Chr.

Zeit bis

Keltisch: Viereckschanzen, Ringwälle,

Wurten (Marsch)

ca. 300 n.Chr.

-ach, -agen;

(keltisch), Volks-

Römisch: -ich, -ch (-iacum), -wil (villa)

burgen (germ.),

durch Limes getrennt von Germanisch:

Römerstädte

Dorfformen

Flurformen

Stadttypen Stadt-"Vorläufer": oppida

Kurznamen Landnahmezeit

besonders im N: -ithi, -the, -da, -ethe,

a) germanisch

-stedt, (Holst.), -leben (Thür.), -stadt,

ca. 250/500-

-mar, -(I)ar; -ingen, -ungen, -by, -torp

750 n.Chr.

mit Einschränkung im 5 und SW: -ing,

Haufendörfer

-heim b) fränkische

-hausen, -heim, -hofen, -dorf, -stetten,

Weiler, Drubbel,

Gewannflur,

Wik-Orte

= Karolingische,

-au, -(b)ach, -brunn, -beuren, -feld,

Vorformen der

Blockflur

700-900 n.Chr.

frühmittel-

-büttel, -weil, -will;

Straßen- und

(meist SW-Dtl.),

alterliche=

wenige kirchliche Namen: -mönch,

Haufendörfer

"ältere

-münster, -kappei, -zell.

Ausbauzeit"

ab ca. 800: -wind(isch)

Langstreifenflur (meist W-Dtl.)

ca. 750-900 n.Chr. Salisch-

Burgnamen: -burg, -berg, -stein, -fels,

Weiler, Einzel-

staufische

-eck;

höfe, Haufendör- Einödflur,

900-1200

= hochmittel-

Rodenamen: -reuth, -rod, -ried, -richt,

fer, Reihendörfer

Hufenflur,

n.Chr.

alterliche

-lau, -brand, -schlag, -schwand,

Straßen- und An-

Gewannflur

Rodezeit=

-schweng, -loh, -loch, -sang, -scheid,

gerdörfer

Blockflur,

Markt-Orte

Gründungsstädte des Hochadels

"jüngere

-wald, -hardt, -buch, -eich, -thann,

(z. B. viele

Ausbauzeit"

-hain, -holz, -lag, -hau, -wang, -schwaig,

"Stauferstädte")

ca. 900-

-moor, -moos, -wies(en), -zwiesel, -tal,

1300 n.Chr.

-grün, -eisen, -erz, -hof, -kirchen, -mönch, -kappei, -zell; -seifen, -siepen, -siek; Genitivnamen (z. B. Dietrichsroth) Elbe-Saale-Ostfranken: -itz (slaw.), -n, -aue, -na, -no; Zwischen Ostsee und Erzgebirgel Sudeten: -dorf, -feld, -berg, -ende, -mark; Marschgebiete: -deich, -damm

-

Ortswüstungen

Flurwüstungen

periode

(total, partiell,

(total, partiell,

1300-

temporär)

temporär)

Wüstungs-

1430 n.Chr. Spätmit-

ungeregeltes Wiederansetzen von

bis 1500 n.Chr.

tela Iterlicherl

verlassenen Dörfern

Spätgründungen

frühneuzeitlicher "Nachsiedlungen": -dörfies, -hof, -haus;

des niederen

Geländenamen: -stein, -see, -grund,

Adels,

ca. 1450-

-brück, -leite;

"Bürgerstädte"

1620 n.Chr.

Waldgewerbe: Glashütte, Kohl-;

in NW-Deutsch-

-ungen, -dorf, -weide,

land

Ausbau

neuhochdeutsche Namen

Ortsnamenanalyse ------

Einschnitte im 30-jährigen Krieg (1618-48) regional unterschiedlich Merk-

neuhochdeutsche Namen,

Straßendörfer,

anti I istisch-

Ergebenheitsnamen (Fürsten,

Schloss- u. Park- Hufen anlagen

Gewannflur,

Plan- bzw. Residenzstädte

absolutistische

Herrscher),

Ausbauzeit

"Erschließungsnamen",

mus, Verwai-

ca.1720-1830

Moorkolonisation: -moor, -fehn

tungsstädte:

des Absolutis-

Anfang 19. Jh.

n.Chr.

infolge territorialer Neugliederung Einzelhöfe,

Flurblöcke

Industriestädte,

Siedlungsbau

Moderner

Aussiedlerhöfe

(Flurbereini-

Zusammen-

( bisweilen in

gung), oft mit

schlüsse durch

... bis heute

Gruppen),

Hofanschluss

Gebietsrefor-

neuhochdeutsche Namen

Dorf-

men

sanierungen, Industrie- u. Verkehrsflächen; Bahnanschluss ab ca.1860, nach 1950 erhebliche Erweiterungen

Damit lassen sich über die Analyse von Ortsnamensuffixen im Ideal Aussa­

Analyse­

gen zur Lage von Siedlungen im Naturraum und ihrer Stellung im Siedlungs­

Erschwernisse

gang, den Trägern der Besiedlung und dem Besiedlungsprozess treffen (BACH 1954). Das muss aber mit sehr großer Vorsicht geschehen, denn im Hinblick auf den Einzelbeleg sind Befunde der philologischen Forschungen dahingehend zu bedenken, •

dass partielle (z. B. um 1150 Immilinghem, ab dem Hochmittelalter Em­ melkamp) und totale Ortsnamenwandlungen eingetreten sein können (z. B. noch 1016 Mimigardeford, ab 1076 Monasterium, ab 1173 Munster, heute Münster in Westfalen),



dass Suffixverluste (z. B. wurde aus Dietershausen der Ortsname Dieters) sowie Verballhornungen von Namen vorkamen,



dass nicht jedes Suffix (z. B. ,, -hausen ") eindeutig einer Siedlungsphase zuzuordnen ist.

Da der einzelne Ortsname in seiner heutigen Form also sehr zufällig entstan­

Eingeschränkte

den sein kann, liefert die Ortsnamenanalyse lediglich eine erste Hypothese

Datierung

zum Alter und dem Träger der Besiedlung. Vor diesem Hintergrund ist das nachfolgende Schema zur Ortsnamendatierung (Tab. 2.1) mit großer Vor­ sicht zu nutzen, denn verlässliche Aussagen sind nur dort möglich, wo Orts­ namenendungen zahlreich und konzentriert auftreten

-

und die in der Ta­

belle eingefügten Rubriken "Dorf-li und "Flurformen" geben nur sehr grobe Hinweise zu möglichen Korrelationen dazu. Außerdem sind die ausgewie­ senen Perioden nicht ohne Weiteres mit den Hauptphasen der Kulturland-

23

2

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

schaftsentwicklung zu parallelisieren. Die philologisch-historische Ortsna­ menforschung hilft aber durch die Ableitung des einzelnen Ortsnamens auf den ältesten archivalischen Nachweis, dokumentiert z. B. in Ortsnamenbü­ chern, die Befunde abzusichern.

2.5 Flurnamenanalyse Suche nach dem Grund der Benennung

Ausgehend von der heutigen Bezeichnungsfunktion steht "Flurname" hier als eingeführter Sammelbegriff (andere Bezeichnungen wie Geoname, La­

VOGEL­ FÄNGER 201 0) für das gesamte geographische Namengut, das nicht Siedlun­

gebezeichnung oder Mikrotoponym haben sich nicht durchgesetzt;

gen im Sinne von Ortsnamen oder Landschafts- oder Ländernamen bezeich­ net, also auch Namen von Gewässern, Gebirgen und verschiedenen Einrichtungen des Verkehrs, des Rechtswesens und dergleichen

(SCHEUER­

MANN 1980). Damit ergibt sich eine große Palette von möglichen Gründen für die Be­

Vielfältige Bennungsmotive

namung, z. B.: •

nach der Agrarstruktur - so für Nutzungsrechte (Allmende, Mark, Bann, Anwand), Sondernutzungen (Wingert,

Hopfen), Weideland (Wasen,

Trieb, Hute) - sowie nach Größe (Stück, Beet, Flecken), Abmaßen (Mor­ gen, Joch), Form (Dreispitz, Sackpfeife), Grenzen (Scheidbach) und Funk­ tion (Warte, Anspann); •

nach natürlichen Eigenschaften wie Bodenform (Horn, Knüll, Klinge, Gleichen), Bodenart und -farbe (Gries, Letten, Roter Hang), Wasserstand (Lache, Pfuhl, Galle), Flora (Binse, Ried), Fauna (Kuckuck);



nach im weiteren Sinne kulturellen Aspekten wie Gerichtsorten (Grautal, Galgenberg, Toter Mann), Herrschaftsverhältnissen (Zehntacker, Geld­ wiese, Betacker), Ereignissen (Wolfsfraß, Mordloch), Personenwürdigun­ gen (Theolindenplatz), Berufsbezeichnungen (Bäckerhölzlein), Besitzer­ und Familiennamen (Froschau, Hartmannsgraben).

Um solche Namen richtig interpretieren zu können, müssen wir nach den landschaftlichen Zuständen zur Zeit der Namengebung fragen. Historisch­ geographisch interessant ist also das dem Flurnamen zugrunde liegende Bennungsmotiv sowohl im Einzelfall als auch in der regionalen Verteilung. Damit beschäftigt sich die Flurnamenforschung. Interpretatorische

Ausgehend von Anfängen in Hessen, entwickelte sich die systematische

Unschärfen

Flurnamenforschung im 19. Jh. zu einer Leitdisziplin der Siedlungsfor­ schung. Nach

1945 verlor dieser Arbeitsbereich an Reputation. Es wurde

nun argumentiert, Flurnamen seien als Erkenntnisquellen zu diffus und die Aussagen folglich zu unpräzise. Eine gewisse interpretatorische Unschärfe ist tatsächlich für den Einzelbeleg nicht aufzuheben, denn jeder Flurname bindet als sprachliches Zeichen nicht nur Sprachgeschichtliches, sondern auch Sachgeschichtliches. Das analytisch zu trennen, ist oft unmöglich. Be­ zeichnet etwa der Flurname "Roder Acker" ein gerodetes Stück Land oder kommt der Name von der Bodenfärbung? Doch bei Einbezug - ggf. auch

24

Kulturlandschaftselemente und -strukturen als Sachquellen

2

mittels einer Ortsbegehung - aller bekannten Umstände, die mit Namen und bezeichneter Örtlichkeit verbunden sind, und der genauen Verfolgung des Namens in der historischen Überlieferung lassen sich dennoch verlässli­ che Aussagen zum Motiv der Benennung und vor allem zur regionalen Ver­ teilung eines Flurnamens treffen.

Basis dafür sind Sammlungen von Flurnamen in Datenbanken und daraus

1997), die mittels aufwendiger kartographischer Verfahren ausgewertet werden können (VOGELFÄNGER 2010).

abgeleitete Flurnamenatlanten (RAMGE

Flurnamen­ sammlungen

Für deren Interpretation gilt das einfache Prinzip: Wo es den Flurnamen gibt, gab es aus der Sicht der Namengeber ein hinreichendes Benennungsmotiv, d. h. eine für die charakteristische Benennung geeignete Eigenart der

Örtlichkeit. Eine klare philologische Bestimmung eines jeden Begriffs vorausgesetzt, muss es z. B. dort Weinbau gegeben haben, wo Weinbaunamen auskartiert wurden, also auch dort, wo es heute keinen oder nur vereinzelten Weinbau gibt. Zusammenfassend I iefert die moderne Flurnamenforschung als der Quel­ lenkritik verpflichtete Disziplin zahlreiche Ansatzpunkte für eine histo­ rische Rekonstruktion sprachlicher und sachlicher Verhältnisse in der Kul­ turlandschaft.

2.6

Kulturlandschaftselemente und -strukturen als Sachquellen

Die Historische Geographie versteht die Kulturlandschaft als Archiv sozialer

Kulturlandschaft

und ökonomischer Aktivitäten des Menschen. Man kann sie damit wie

als Archiv

einen Text lesen. Die methodischen Probleme, die aktuelle Kulturlandschaft als Quelle der Kulturlandschaftsgeschichte auszuwerten, umreißt ein Zitat von HARD

(1989: 11-12) zum Formenschatz über lange Zeiträume gewach,,[ ...] oft minimale, sehr mittelbare, abgeleitete

sener Kulturlandschaften:

und entfernte Effekte vergangener Ereignisse; vieldeutige, lückige, deformierte, oft schon halbverwischte, wegerodierte oder auch (sei es zufällig, sei es absichtsvoll) wieder aufgedeckte Überreste; eine Ansammlung von meist unbeabsichtigten, ja unvorhergesehenen und sogar unbemerkt, zufällig und nebenher produzierten Handlungsfolgen, die dann fortlaufend in neuen Handlungen (mit oder ohne Absicht) um- und weggearbeitet, umund weggedeutet, genutzt, abgenutzt und umgenutzt werden. Kurz: Landschaft und Raum sind vor allem Fundgruben von ,Spuren' in eben

diesem

Sinn, aber keine Ansammlungen von regelhaft auftretenden Indikatoren und auch nur zu einem kleinen Teil Ansammlungen von intendierten Artefakten." In der Sprache der historischen Hilfswissenschaften kann man Kulturlandschaft als ein Palimpsest sehen - ähnlich einer antiken oder mittelalterli-

Kulturlandschaft als Palimpsest

chen Manuskriptseite , die beschrieben, durch Schaben oder Waschen ge-

reinigt und danach immer wieder neu beschrieben wurde. Mit Blick auf die historisch-geographische Forschung bedeutet das, dass Elemente und Strukturen aus verschiedenen Zeiten in der gegenwärtigen Kulturlandschaft nebeneinander und übereinander vergesellschaftet oder sogar ineinander ver-

25

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

woben vorkommen; das häufig verwendete Konzept von Kulturlandschafts­ schichten (Iayern) wird dem nur teilweise gerecht! Folglich sind sie nicht im­ mer einfach zu erkennen und auch ihre ursprüngliche Form und Funktion sind nicht immer eindeutig anzusprechen. Mehrdeutige

Sorgfältige Geländebegehungen unter Auswertung vor allem von Altkar­

Physiognomie

ten helfen, historische Relikte zu lokalisieren und zu identifizieren (RENES

2010). Eingedenk der prinzipiellen Einsicht, dass allein aus der Morphologie eines Elements oder einer Struktur nicht eindeutig auf dessen Genese und einstige Funktion geschlossen werden kann, lassen sich nur mit einer gewis­ sen Vorsicht auf der Basis von Analogieschlüssen aus Lage und Form von Elementen und Strukturen dazu Aussagen machen. Ideal wäre die Absiche­ rung von Aussagen durch das Studium einschlägiger Archivalien. Das ist aber aufgrund der Ubiquiät und Alltäglichkeit vieler Relikte in der Regel wenig erfolgversprechend. Abbildung 2.3 zeigt solche typischen Elemente des Kleinformenschatzes des Ackerlandes, während in Tabelle 2.2 danach kategorisiert eine Auswahl von solchen historischen Elementen und Struktu­ ren aus dem Funktionsbereich Landwirtschaft wiedergegeben wird (s. auch EWALD 1996) mit Blick auf die Erfassung in EDV-basierten Kulturlandschafts­

inventaren nach ihrer Punkt-, Linien- oder Flächenhaftigkeit.

1 Ackerland in Gewannflur

3 Slufenraine

(Schmalstreifenkomplexe)

(Hochraine)

2 Grenzen von Ackerparzellen

4 Terrassenäcker

(Raine)

(Ackerterrassen)

5 Waldrandstufe (Kulturwechsel Acker/Wald)

6 Kulturwechselstufe Grünland/Acker

(e\l11. zugleich Anwand: Wendefläche für Pflug)

7 Gewannslaß (ev!!. zugleich Anwand)

8 Weidgraben

Abb. 2.3: Typische Elemente des Kleinformenschatzes des Ackerlandes (nach EWALD Historische Relikte

1996: 79).

Wir bezeichnen sie dann als Relikte, wenn sie heute funktionslos sind, und der Zusatz "historisch" beschreibt, dass sie in dieser Weise heute nicht mehr errichtet werden.

Systematik nach

Andere denkbare Funktionsbereiche sind Siedlung, Gewerbe, Verkehr, Er­

Funktionsbereichen

holung oder Gemeinschaftsleben (Religion, Staat, Militär). Solche sektora­ len Schemata sind Hilfskonstruktionen, um die Vielfalt der sichtbaren Ele­ mente und Strukturen in Kulturlandschaften analytisch in den Griff zu be­ kommen. Sie sind damit nicht unproblematisch, denn Multifunktionalität war ein Kennzeichen der vorindustriellen Kulturlandschaft. So lässt sich z. B. der Niederwald (vgl. Exkurs "Forstbetriebsarten", Kap. 3.1.4) sowohl dem Bereich Landwirtschaft (mit Brennholznutzung und Waldweide) als

26

Kulturlandschaftselemente und -strukturen als Sachquellen ------

Tab. 2.2: Kategorisierung von historischen Elementen und Strukturen aus dem Funk­ tionsbereich Landwirtschaft (GUNZELMANN 2001: 23). Punkthaft

Linienhaft

Flächenhaft

Hof/Gehöft

Jagdschutzmauer

historische Flurform

Feldscheune

Lesesteinmauer, -wall und -riegel

Ackerterrasse

Schafstall

Stufenrain

Obst-, Gemüse-, Baumgarten

Forsthaus

Anwand

Baumfeld

Waldarbeiterhütte

Ackerberg

Nieder- und Mittelwald

Jagdhaus

Kulturwechselstufe

historischer Weinberg

Viehtränke

Haag

Wiesenbewässerungssystem

Flachsröste

Korbweidenkultur

Hutweide

Lesesteinhaufen

Feldweg

Hutewald

Einzelbaum

Wallhecke (norddt. Knick)

Schachten

Schattenbaum

Scheunengasse

Alm

Kopfweide

Tratte

Mergel-, Kalkgrube Wolfsgruben

Wacholderheide

auch dem Bereich Gewerbe (mit der Lohrindengewinnung) zuordnen. Da­ rüber hinaus ist die Bennennung dieser Elemente nicht immer eindeutig, wie der modifizierte Auszug aus einem Lexikonartikel beispielhaft zum Be­ griff "Rain" zeigt (s. nachfolgenden Exkurs), was allgemeine Unsicherheiten über die Genese und die historischen Funktionen von Strukturelementen der historischen Agrarlandschaft beispielhaft beleuchtet. Rain

In Abgrenzung zu anderen Kleinformen des Ackerlandes beschreibt "Rain" im allgemeinen Verständnis die oftmals grasbewachsene Ackergrenze zwischen zwei Feldern. Es wird jedoch auch die Meinung geäußert, sämtliche Grenzen in Ackerlandschaften unter dem Oberbegriff "Rain" zusammenzufassen. Begriffe wie "Steinwallraine" oder "Erdwallraine" für aus Lesesteinen oder auf­ geworfenen Erdwällen bestehende, lang gezogene Strukturen in der Flur haben sich wegen ihrer artifiziellen Begrifflichkeit nicht durchgesetzt. Das gilt auch für die Verwendung des Begriffs "Rain" für besonders breite und hohe Bereiche, die einst das Ackerland von Allmende oder Wald abgrenzten; dafür sollte man zur Unterscheidung von "Pflugrain" besser regionale Bezeichnungen wie "Oiwer" (für Nordwestdeutschland) oder "Grenzgräben" (in Süddeutschland) verwenden. Um Etymologie und Entstehungsursache eindeutig miteinander zu verbinden, empfiehlt es sich, im Rückgriff auf den allgemeinen Wortsinn vor allem die Längsgrenzen von Äckern gegeneinander, also "Acker-" oder "Pflugraine", gele­ gentlich auch ,,(Acker-)Ränder" genannt, als Raine zu bezeichnen (nach SCHENK 2003b).

27

2

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

Morphogenese als Methode

Die Morphogenese von Stufenrainen (vgl. Abb. 2.4) kann hier beispielhaft für den engen Zusammenhang zwischen anthropogener Gestaltung des Kleinreliefs, davon ausgelösten, aber weitgehend unbeabsichtigten natürli­ chen Prozessen und der Ausbildung eines "quasinatürlichen Formenschat­ zes" (vgl. RATHJENs 1979; in globaler Perspektive s. BORK 2006) in der Agrar­

landschaft angeführt werden. Voraussetzung zur Ausbildung eines Stufen­ rains ist zunächst eine zum Hang parallel verlaufende Bearbeitungsgrenze

zwischen zwei Ackerparzellen. Bleibt dort ein Streifen mit Bewuchs stehen, sinkt entsprechend die Schleppkraft des abfließenden Wassers und das mit­ geführte Material setzt sich ab. Mit der Zeit sammelt sich an dieser Stelle im­ mer mehr Bodenmaterial an und es bildet sich eine Aufhöhung, oft zusätz­

I ich erhöht und verfestigt durch Lesesteine; j e steiler und steinreicher der na­

türliche Hang war, desto höher konnten solche Rainstufen wachsen. Im

Gegensatz zur immer wieder umgepflügten Ackerfläche erfolgt hier bald keine Nutzung mehr, weshalb diese quer zum Hang liegende Struktur bei ausreichend Bewuchs das ablaufende Oberflächenwasser nahezu vollstän­ dig abfangen kann, was die Bodenerosion auf dem unteren Hangabschnitt erheblich verringert; ein einziger Stufenrain kann die Bodenerosion auf dem Gesamthang um rund 30 % reduzieren.

Terrassenkante (Stufen- oder Hoch

_ von oberhalb antransportiertes

Bodenmaterial (Aufschüttungsstufe)

c=J überdeckter Boden

� Ausgangsgestein der � Bodenbildung

(z.

B. Löss)

Abb. 2.4: Typisches Hangprofil eines Stufenrains (eigener Entwurf).

Persistenz

Zusammenfassend sind aus der Vergangenheit stammende Elemente und Strukturen in der aktuellen Kulturlandschaft wichtige Informationsträger über vergangene Produktions-, Lebens- und Denkweisen, die aber hinsicht­ lich Genese und Funktion nicht in jedem Fall eindeutig zu interpretieren sind. Sie sind Merkmalsträger früherer Nutzungen und Denkweisen; Wölb­ äcker (s. nachfolgenden Exkurs ) und Raine sind z. B. Zeugen der einstigen Verbreitung von Ackerland, weshalb sie in der Wüstungsforschung von gro­ ßer Bedeutung sind. Historische Elemente und Strukturen stellen zudem his­ torische Konstanten einer Kulturlandschaft dar und individualisieren sie

oftmals durch die Dominanz oder Eigenart einzelner Elemente - man denke etwa an die Knicks (Wallhecken) in Norddeutschland. Als feste, immanente Bestandteile einer Kulturlandschaft wirken sie auf individuelle und gesell­ schaftliche Entscheidungen kraft der Macht einmal getätigter Investitionen und aufgrund von Wertschätzungen als Gestaltelemente, als Identitätsanker

28

Kulturlandschaftselemente und -strukturen als Sachquellen ------

oder wegen ihrer ökologischen Bedeutung bis heute ein. Wenn das mate­ rielle und immaterielle Erbe vergangener Generationen das aktuelle Han­ deln beeinflusst, etwa durch Neu- oder Nachnutzungen, Umplanungen oder durch Unterschutzsteilungen, spricht man von Persistenz. Ideal ist der Erhalt durch eine sich selbst tragende Nutzung, was im Falle der Restaurie­ rung des Grabensystems des Oberharzer Wasserregals - seit 2010 WeIterbe­ landschaft der UNESCO - durch die mögliche Gewinnung von Strom realis­ tisch erscheint (WELKE 2007). Wölbäcker Ein Wölbacker, auch Hochacker genannt, ist eine etwa drei bis 30 m breite, meist lang gestreckte (bis 3800 m), eher rechteckige Besitz- oder Betriebsparzelle, die auf beiden Längsseiten durch Furchen oder seltener Gräben begrenzt wird und im Querschnitt eine deutliche Wölbung zeigt (vgl. Abb. 2.5). Die namengebende Wölbung erscheint in der Regel symmetrisch mit Scheitelhöhen von 0,3-1,0 m, welche sich im Zuge der Bearbeitung aber ständig ändern. Meist liegen mehrere solcher Äcker pa­ rallel zueinander in einem Ver­ band. Es gibt Auffassungen, die das Auftreten von Hochäckern an die

Benutzung des

binden.

Beetpfluges

Diese Auffassung kann

wegen ihrer Striktheit irreführend sein, können Wölbäcker doch al­ lein

schon

entstehen.

durch

8

6

'+

2

rrrrrrrll , ___ ,- __ , ___\.------.1___ ,___ , ___ ,

Aufschaufein

Obgleich also

3

5

7

7

5

3

9

Beet­

pflug und Wölbbau nicht zwin­ gend zusammengehören, ist das Wölbacker-

oder

Beetpflügen

eine dem Pflug mit feststehendem Streichbrett besonders angepasste welche die

Arbeitstechnik,

Be-

sitzzersplitterung in schmale und z. T.

lange

9

Parzellen wesentlich

beeinflusste,

da

so

Leerfahrten

vermieden wurden (vgl. wiede­ rum Abb. 2.5). Kulturlandschafts­ geschichtlich bäcker

sind

fossile

Zeugnisse

Wöl­

ehemaligen

Ackerbaus. Bisweilen sind Unter­ schiede in der Vegetation von bis zu 0,55 m auf nicht mehr genutz­ ten

Hochäckern

zu

2

'+

6

8

9

erkennen.

Dies legt nahe, Wölbäcker als

Scheitelfurche

Versuche kleinräumlicher Risiko­ minderung zu interpretieren, da sie sicherstellen sollten, dass je nach Feuchtigkeitsangebot eines

�------ Wölbacker

------+

Jahres wenigstens in bestimmten Bereichen des Wölbackers Getrei­ de wuchs (nach

SCHENK 2000b).

Abb. 2.5: Form und Entstehung von Wölbäckern (aus SCHENK 2002b: 5).

29

2

2

Betrachtungs- und Darstellungsweisen, Quellen und Analysemethoden ------

2.7

Einbezug von Befunden aus naturwissenschaftlichen Methoden Lokalisierung,

Befunde aus naturwissenschaftlichen Methoden zur Landschaftsgeschichte

Datierung,

(vgl. Tab. 2.3) erlauben wichtige Einsichten in den Kulturlandschaftswandel.

Rekonstruktion

Dabei lassen sich unter Ausblendung von Schnittmengen idealtypisch pa­ läoökologisch-rekonstruktive Methoden wie die Pollenanalyse, welche vor allem Rückschlüsse auf vergangene Vegetations- und Landnutzungsverhält­ nisse erlaubt (LANG 1994), absolute (Dendrochronologie) und relative (Ra­ diokarbondatierung und stratigraphische) Datierungsmethoden sowie Lo­ kalisierungsmethoden unterscheiden, zu denen neben der Feldbegehung z. B. mit Sonden und dem archäologischen Aufschluss die Phosphatme­ thode zählt, die über den Nachweis menschlicher und tierischer Fäkalien ehemalige Siedlungsstandorte aufzufinden hilft (im Überblick s. VON FREE­ DEN & VON SCHNURBEIN 2002). Tab. 2.3: Ausgewählte naturwissenschaftliche Methoden zur Landschaftsgeschichte (u. a. nach LANG

Lokalisierungsmethoden

1994).

Paläoökologisch-rekons-

Datierungsmethoden

truktive Methoden Feldbegehung, ggf. auch

Pollenanalyse

Radiokarbondatierung

mittels Sonden Phosphatmethode

Großrestanalysen organischen Materials

Befliegungen,

Tierrestanalysen,

Luftbildauswertung,

vor allem von Knochen

Airborne Laserscanning

(Osteoarchäologie) Dendroklimatologie

Dendrochronologie

Vegetationsgesch ichte (Zeigerpflanzen und Sukzessionsformen) Quartärgeologie

Bodenstratigraphie Tephrochronolgie (Vulkanasche)

historische Hydrographie

Sedimente in Seen (Warven)

Da manche dieser Methoden sehr aufwendig und teuer sind, werden sie in der Regel in der Historischen Geographie nicht selbst durchgeführt. Wohl aber werden die daraus abgeleiteten Befunde in deren Forschungen inte­ griert. Entscheidend ist damit die Befähigung zur Quellenkritik. Blindstellen

Die Leitfrage lautet: Was kann die jeweilige Methode zur Lösung einer historisch-geographischen BRANDT et al.

Fragestellung beitragen?

So gelingen

HILDE­

(2002) eine grundlegende Kritik pollenanalytischer Befunde

durch den Vergleich mit Holzkohlespektren aus Meilerplätzen im fränki­ schen Steigerwald. Die auffallend großen Diskrepanzen bei Laubholzarten

30

Einbezug naturwissenschaftlichen Methoden ------

in Pollendiagrammen und Kohlholzspektren zugunsten der letzteren indi­ zieren, dass die ehemalige Bestockung zu einem beträchtlichen Teil aus noch nicht blühfähigem Niederwald bestanden haben muss, was die Pollen­ analyse aber nicht wiedergeben kann. Tabelle 2.4 fasst diesen quellenkri­ tisch bedeutsamen Befund zusammen: Tab. 2.4: Vergleich der Befunde von Pollen- und Großrestanalysen bei der kultur­ landschaftsgeschichtlichen Auswertung von historischen Meilerplätzen (ei­ gener Entwurf, u. a. nach HILDEBRANDTet al. 2001).

Pollenanalyse

Großrestanalyse von Holzkohlestücken

Unter Luftabschluss (z. B. in Mooren) er-

In historischen Meilerplätzen bleiben ver-

halten sich mikroskopisch kleine, mit blo- kohlte pflanzliche Großreste (makroskoßem Auge nicht sichtbare Pollenkörner

pisch) wie Holz- und Rindenstücke dank

der Blüten- bzw. Samenpflanzen (Sper-

konservierender Teerschicht erhalten.

matophyten), Sporen der Farnpflanzen (Pteridophyten) und Moose (Bryophyten) über sehr lange Zeit. Relative Anteile bestimmter Pollentypen

Erfasst werden nur Gehölze, die aber auf

werden in Pollendiagrammen abgetra-

die einzelne Art hin zu bestimmen mög-

gen; insektenblütige Pflanzen (Blumen)

lich sind.

sind gegenüber windblütigen Pflanzen (vorwiegend Bäume) wegen unterschied-

I icher Haltbarkeit unterrepräsentiert; es werden damit vor allem Gehölze und Krautpflanzen erfasst. Für gewöhnlich geringe Beeinflussung

Starke Beeinflussung des Fundmaterials

des Fundortes durch den Menschen, aber

durch menschliche Selektion, da nur be-

in Pollendiagrammen (wichtig ist der An-

stimmte Holzarten verkohlt werden durf-

teil der Nicht-Baum-Pollen - NBP) wer-

ten oder bestimmte Holzqualitäten abzu-

den menschliche Nutzungen (Getrei-

setzen waren, was aus Archivalienstu-

deanbau, Rodung etc.) sichtbar.

dien deutlich wird.

Pollen können durch Fernflug vertragen

Großreste bleiben in der Regel am Ort,

werden, damit auch regionale Informa-

damit nur Informationen zu den lokalen

tionen zur Florenregion enthaltend.

Vegetationsverhältnissen enthaltend.

Datierung nur indirekt möglich (z. B. über C-14-Datierung direkt über ausreichend Stratigraphie anhand von ,Leitfossilien'),

große Holzstücke möglich.

da keine C-14-Analyse aus Pollen mög-

I ich ist.

31

2

3 Historisch-geographische Analyse von Siedlungen Siedlungsgenetische

Die Vielfalt der mit der historisch-geographischen Analyse von Siedlungen

Leitfragen

zusammenhängenden Aspekte lässt sich mittels der beiden analytischen Ka­ tegorien "Siedlung im Raum" und "Siedlung als Raum" strukturieren (vgl. Abb.3.1).

Siedlung im Raum

Siedlung als Raum

I

I

Gestalt I Struktur von Siedlungen

Siedlungsgruppe (Größe, Verteilung, Funktion)

zentralörtliche Stellung

spezielle Funktion (wirt­

Grundriss,

Flächennutzung

(Rang, Einflussgebiet)

schaftliche und außenwirt­

Aufriss,

(funktionale/strukturelle

schaftliche Basis, Rolle

Genese,

Gliederung)

der regionalen Wirtschaft)

Sanierung

I

I Wachstums- und Lokalisationseffekte

Siedlungsgefüge

Systeme aus städtischen und ländlichen Siedlungen

Vergangenheit

------+.

Prozess in Raum und Zeit

------

Zukunft (Planung)

Abb. 3.1: Kategorien der historisch-geographischen Analyse von Siedlungen (vereinfacht nach SCHENK2000a).

Ländliche Siedlungen dominierten in vorindustrieller Zeit das Siedlungssys­ tem, was sich in einem Übergewicht der einschlägigen Arbeiten in der His­ torischen Geographie niederschlägt und die Schwerpunktsetzung der nach­ folgenden Kapitel (Kap.3.1 zu ländlichen und Kap.3.2 zu städtischen Sied­ lungen) erklärt (SCHENK 2001b).

3.1 Genese und Struktur vorindustrieller ländlicher Siedlungen Elemente

Der dörfliche Lebens- und Wirtschaftsraum in vorindustrieller Zeit umfasste

der historischen

mehrere Kompartimente, die für sein Funktionieren grundlegend waren

Gemarkung

(BORN 1977; HENKEL 2004; LIENAU 2010). Im Mittelpunkt stand das Dorf mit seinen Bauten, dazu gehörten Hausgärten. Um den Dorf- und Siedlungsbe­ reich legte sich der Gürtel des Acker- und Grünlandes. Sofern dies in indivi­ duell genutzte Parzellen unterteilt war, wird es heute als Flur bezeichnet;

32

Genese und Struktur vorindustrieller ländlicher Siedlungen ------

dabei ist zwischen Besitz- und Nutzungsparzellen zu unterscheiden. Zur historischen Wirtschaftsfläche des Dorfes gehörten zudem Flächen in Ge­ meinschaftsbesitz, gewöhnlich mit "Allmende" oder "Gemeinheiten" be­

zeichnet. Sie bestanden meist aus Hutungen (Weideland), vielerorts zählten auch gemeinschaftlich genutzte Wälder ("Allmendwälder") dazu. Oft standen aber die Wälder unter herrschaftlichem Recht, wie überhaupt die Feudalherren in einzelnen Nutzungsbereichen, namentlich den Teichen

und Wasserläufen, Besitz- oder Nutzungsrechte beanspruchten. All die ge­ nannten Flächen bildeten die Gemarkung (mittelhochdeutsch "mark"

=

Grenze) eines Dorfes. Damit sind die kulturlandschaftlichen Erscheinungskreise aufgezählt, die in einer bäuerlichen Gesellschaft funktional nicht zu trennen waren, wes­ halb auch die Übergänge vom Offenland zum Wald in vorindustrieller Zeit oft fließend waren. Obgleich die Forschung das auch erkannte, entwi­ ckelten sich aus analytischen Gründen spezialisierte Forschungszweige zu den Teilbereichen der dörflichen Siedlungen.

3.1.1 Flur- und Dorfformen in Korrespondenz Die Deutung von Flurformen war immer eng verbunden mit der Erklärung bestimmter Ortsformen (s. Tab. 2.1, Kap. 2.4; nachfolgend nach NITZ 1974

Gekoppelte Forschungen

mit zentralen Aufsätzen der nachfolgend genannten Autoren, zur Arbeits­ weise der Flurformenforschung s. BORN 1970). Als Begründer dieser Ar­ beitsrichtung in Mitteleuropa gilt August Meitzen (1822-1910), der die Ent­

stehung der Gewannfluren mit dem Problem der Genese des Haufendorfs verband. Er vertrat die Auffassung von der Ursprünglichkeit und PIanmäßig­ keit germanischer Gewannfluren mit Hufenverfassung. Robert Gradmanns Arbeiten

(1865-1950) begründeten die süddeutsche Gewannflurfor­

schung. Für den Nachweis der räumlichen Koinzidenz von alemannisch­

fränkischer Besiedlung und großen Gewanndörfern kombinierte er erstma­ lig verschiedene historisch-geographische Forschungsmethoden und Indi­

katoren (Reihengräberverbreitung, Ortsnamenforschung, urkundliche Erst­ erwähnung von Siedlungen). Während Gradmann damit die Ergebnisse der Forschungen Meitzens insoweit bestätigte, als er die Wurzeln der heutigen Gewanndörfer als gemeingermanisch und zeitlich vor die Völkerwande­

rung zurückreichend datierte, ohne allerdings Meitzens Ansicht von der Konstanz der Hufenverfassung zu übernehmen, brach der Historiker Franz Steinbach (1895-1964) mit diesen Theorien.

Gestützt auf siedlungsgenetische Untersuchungen im Rheinland, entwarf er die These vom sekundären Charakter der Gewannflurdörfer, deren Ur­ sprungsform Blockflurweiler oder Einzelhöfe gewesen seien. In scharfer An­

Überwindung ethnischer Erklärungsansätze

tithese zu Meitzen formulierte schließlich Albert Hömberg (1905-1963) die Ansicht, Gewannfluren seien das Ergebnis allmählicher Entwicklung. Flur­ zwang und Feldgemeinschaft der Dreizeigenwirtschaft hätten die Verge­ wannung (Auflösung in Schmalstreifenkomplexe) einzelner Blockgemenge­ fluren gefördert. Die Forschungen von Anneliese Krenzlin (1903-1993) nach der Methode der Rückschreibung zeigten schließlich Blockgemenge-

33

3

3

Historisch-geographische Analyse von Siedlungen ------

fluren als spätmittelalterliche Vorform der kleingliedrigen Gewannfluren

im südwestdeutschen Realteilungsgebiet. Diskussionen

Wie gezeigt, war die deutsche Flurformenforschung vor allem in der

bis 1960er-Jahre

Frühphase geprägt von Vorstellungen einer "volksmäßigen Gewannflur"

vormittelalterlicher Zeitstellung mit dem Haufendorf als primärer Form kol­ lektiver Landnahme, was durch archivalische Methoden und Befunde schließlich widerlegt wurde. Solche Diskussionen bi Ideten bis in die

1960er-Jahre einen Kern siedlungsgenetischer Forschung in Mitteleuropa. Heute wird dazu innerhalb der Geographie nicht mehr gearbeitet. Heute formale

Zur Vermeidung von aus der Forschungsgeschichte rührenden terminolo­

Flurformentypologie

gischen Missverständnissen wurde von LIENAU und UHLIG (1972, 1978) ein

Schema zur Beschreibung von Flurparzellenstrukturen nach zwei Hauptty­ pen - Blöcke und Streifen - entwickelt (vgl. Abb. 3.2).

(I) I

(11) (111) (IV)

I

I

I

I

I

Block(-parzelle)

Großblock

regel­ mäßig

Parzelle

I

I

unregelmäßig

Streifen (-parzelle)

I

regel­ mäßig

I

I

I

I

I Langstreifen

Kurzstreifen

Kleinblock

I

unregel­ mäßig

I

breit

I

I

schmal

I

breit

I

I

schmal

Abb. 3.2: Haupttypen von Flurformen (nach liENAU & UHLIG 1972,1978).

Bei Blockfluren liegt das Verhältnis von Breite zu Länge der Parzellen unter 1 : 2,5, bei Streifenfluren entsprechend über 1 : 2,5. Weiter kann noch un­ tergliedert werden, ob es sich um Lang- (450-1000 m Länge) oder Kurzstrei­ fen (150-250 m), um Breitstreifen (breiter als 40 m) oder Schmalstreifen (schmaler als 40 m) handelt. Je nach der Lage zur Wirtschaftseinheit unter­ scheidet man zwischen Einödlage mit arrondiertem Besitz und Gemenge­ lage, bei der die Parzellen eines Hofes in der Flur verteilt sind.

3.1.2 Historische Bodennutzungsformen

34

Rekonstruktions-

Eng verbunden mit der Erforschung der Flurformen waren Versuche der Re­

versuche

konstruktion und Systematisierung historischer Bodennutzungsformen (zu-

Genese und Struktur vorindustrieller ländlicher Siedlungen

3

sammenfassend s. BECKER 1998). Untersuchungen etwa zur Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft mit Zeigenbindung (HILDEBRANDT 1989) seit dem Früh­ mittelalter berühren Fragen des Übergangs von ungeregelten ("freien") zu geregelten Bodennutzungsweisen mit den entsprechenden Flur- und Sied­ lungsformen. So wurde lange die Eschkerntheorie diskutiert, nach der jede gewachsene Gewannflur einen Kern aus Langstreifen enthalte. Als typische Siedlungsform in Verbindung mit Eschen (s. nachfolgenden

Eschkerne

Exkurs) wird demzufolge der Drubbel gesehen - eine Kleinsiedlung aus wenigen Gehöften, die bisweilen den Kern einer Streusiedlung bildeten; in Münster (Westfalen) ist solch ein Drubbel nordwestlich der Lambertikirche inmitten des Roggenmarktes durch einen Pflasterring markiert.

Esch

Der Begriff "Esch" bezieht sich auf eine mindestens ins späte germanische Alter­ tum zurückreichende, heute aber im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr le­ bendige Bezeichnung für die mit Saat genutzte Fläche in Siedlungsnähe. Durch Erweiterungen der Flur seit dem Mittelalter sind die ältesten Ackerstücke in der Regel zum Kernbereich der Fluren geworden. Erst dadurch hat "Esch" allmählich die erweiterte Bedeutung von älterem, intensiv genutztem Ackerland im inne­ ren Bereich der Flur erhalten, besonders im und niederländisch-westfälisch-nie­

dersächsischen Raum, wo sie mit der Plaggenwirtschaft verbunden war.

Abb.

3.3: Struktur eines Esches (angelehnt an BEHRE 2008: 178).

Dabei wurden Gras- und Heidesoden abgestochen und nach einer Nährstoffan­ reichung im Viehstall durch Dung auf den Esch aufgebracht. Daraus entstand ein uhrglasförmig gewölbter Eschkern mit humosen Böden (vgl. Abb.

3.3), die sich

bis heute parzellenscharf von den umgebenden Sandböden absetzen. Die hu­ musreichen Böden der Esche ermöglichten den "Ewigen Roggenbau", ein Ein­ feldsystem von bisweilen zwanzig mehr Roggenjahren auf einer Fläche hinter­ einander

(BECKER 1998: 49).

THEO SPEK (2004) zeigt für die Niederlande neue Wege der Erforschung von

Neue Wege

Eschen. Neben der formal-genetischen Analyse der Flursysteme integriert

der Erforschung

er in seine Untersuchungen paläoklimatische Methoden und arbeitet aus der Interpretation von Landschaftsgemälden eine romantisierende Wahr­ nehmung dieses Kulturlandschaftstyps heraus, was den Tourismus bis heute beflügelt und Maßnahmen der Kulturlandschaftspflege beeinflusst.

35

Historisch-geographische Analyse von Siedlungen

3

3.1.3 Forschungen zu Bauernhaus und Gehöft Dominiert von

Der enge Zusammenhang zwischen Ortsform, Hofform und landschaftli­

der Volkskunde

chen Gegebenheiten macht das vorindustrielle bäuerliche Haus und Gehöft aus historisch-geographischer Sicht interessant. Die Beiträge von Geogra­ phen im Rahmen der Hausforschung schienen sich jedoch lange darin zu erschöpfen, die Verbreitungsgebiete von Typen und ihre Grenzen räumlich festzulegen und so bestimmte "Hausformenlandschaften" voneinander ab­ zugrenzen. Die Ursachen für räumliche Verbreitungen wurden mitunter in Boden oder Rasse gesehen. Heute dominiert die Volkskunde die Forschung zu bäuerlichem Haus und Gehöft, auch mit Blick auf deren Präsentation in Freilichtmuseen. Vor diesem Hintergrund stellen die umfangreichen Stu­ dien von HEINZ hLENBERG (1984, 1990) Solitäre dar.

Als Ergebnis eines

Er stellt das Bauernhaus in Mitteleuropa in den Mittelpunkt eines multi­

Wirkungsgefüges

faktoriellen Wirkungsgefüges aus natürlichen und kulturellen Einflussgrö­ ßen (vgl. Abb. 3.4). Aus der Ökologie und Geobotanik kommend, wandte er zur Erfassung der räumlichen Verbreitung von 80 Haus- und Hofmerkmalen für die Zeit

± NATURGEGEBE NE

± VON MENSCHEN GEPRÄGTE Bedingungen

�------- --- --------- --- -I

relativ stabil

Betriebsgröße

Klima -

- normaler Familienbetrieb (vorwiegend Selbstversorgung) - Großbetrieb (absatzorientiert) - Kleinbetrieb - Nebenerwerbslandwirtschaft

Dauer und Härte des Winters Dauer von Strahlungswetler tägliche Temperaturschwankung Dauer hoher Luftfeuchte Höhe u. Dauer der Schneedecke Häufigkeit von Starkregen Stärke und Dauer des Windes

Vorbilder und Vorschriften -

Baugrund -

Geologie Relief Festigkeit des Baugrunds Grundwasserstand

-

-

für tragende Innenkol1strukt. für die Dachhaut für evtl. Unterkellerung Sonstiges (z. B. Wandverkleidg.)

-

örtliche und regionale Traditionen städtische und andere Vorbilder persönlicher Stil des Baumeisters Vorschriften des Landeigners Baugesetze steuerliche Regelungen Forderungen der Brandkassen

---- - ------

-

------ - --

Versorgungs- und Marktlage -

Verkehrslage Stand der Technik allgemeine Wirtschaftslage Wohlhabenheit des Besitzers Wert des Baugrunds Platz in der Siedlung

schnell

veränderliche Bedingungen

Abb.3.4: Das vorindustrielle Bauernhaus als Ausdruck eines multifaktoriellen Wirkungsgefüges (nach ELLEN BERG 1984:3).

36

Genese und Struktur vorindustrieller ländlicher Siedlungen

3

etwa um 1950 Rasterkartierungen an. Daraus entwickelte er Verbreitungs­ karten und Übersichten von "Haustypen". Der Kritik, dass seine Vorge­ hens- und Darstellungsweise allzu stark die Einflussgrößen von Klima und Vegetation hervorhebe und andere vielfältige Faktoren - wie Erbfolge, Hof­ größe, landesherrliche Bauvorschriften und bäuerliche Bausitten - in den Hintergrund dränge, ist zuzustimmen.

3.1.4 Der Wald als Element der Kulturlandschaft Der Wald ist aufgrund seiner großen Verbreitung und der Langläufigkeit der forstlichen Produktion ein zentrales Forschungsobjekt der Historischen

Als zentraler Energieträger

Aschen­ kummer

............ �...........

,.......,:-:-:----,

Abb. 3.5: Historische Waldnutzungen als gewerb I ich-agrarisches Verbundsystem (aus SELTER 1995: 370). 37

3

Historisch-geographische Analyse von Siedlungen

------

Geographie (SCHENK 1996). Er war in vorindustrieller Zeit der zentrale Ener­

gieträger für das Gewerbe und zudem agrarischer Ergänzungsraum mit einer großen Vielfalt an Nutzungen (vgl. Abb.3.5), so dass die Grenzen zwischen

Wald und Offenland oft fließend waren (vgl. Abb.3.6). Hochwald: Kernwüchse

� 0>

o

1

I

.....

Grenzen Wald- Of/enland 1,5 _4Mio. >10-24Mio. .1 4 _10Mio. !.10-.6 _IOMio.� Abhängigkeit von Feudalherrschaft in unterschiedlichem Grad ' '''' ' " Ostmitteleuropa """" "" �hl 'co," �

Altsiedelland Auflösung d. Villikationen In Klein· dl ��g�/T�r�� .; verbreitet

24 _50Mio.



Jungsiedelland

"" G_""""� } ___ ""' . " "" ","",co,",,"", bei Realteilung .... Flurzersplitterung . n i z ä li Neu I ����� �n"d ��:;'� g���I�c ��"§��i�g;�� - ���;i��in���R, IndustrieUmbau Kolonisain Planformen (Straßen-, Angerdörfer-, Hufenfluren) tionsgebieten (Mittelgebirge, Moore; Ostdeutschland: Gutshöfe) gebieten meh�ährige Dreifelderwirtschaften in Gewannfluren, meist mit Zeigenbildung Anbau von Hackun geregelte früchten u. Futter und Schwarzbrache, ca. 1 : 6 � el dgrassysteme aU de he NW-Dtl.: Esche auf Plaggenböden ("Ewiger Roggenanbau") 6a ; �2� 1: 3 --marktorientierte Eigenversorgung mit Tausch - -- --- -- --Dominanz der Geldwirtschaft BOdennutzung - --- - - -Vergrünlandung, Getreide, Kartoffel Stallviehhaltung, Getreide Getreide hoher Fleischkonsum Wein-.Bier Getreide/Hack/r. • • • Ablösung durch Streuentnahme Waldweide moderne Forstw. • Waldgewerbe ab ca. 1850 1. Energiekrise 2. Energiekrise Regeneration industrielle Devastierung Devastierung Kohleförderung Niederwald- und Mittelwaldlandschaft HochwaldwirtLaubwälder dominant • • schaft: Nadelholz • Verdichtungsräume Aufstieg d. Städte Herrschaftshöfe, = zentralörtl. s steme herrschaftlich bestimmte Stadt-Umland-Beziehungen Marktsiedlungen Blüte d. Handwerks I Gewerbekonjunktur I Ackerbürgerkultur I "Industriedö J.er"

.

1 I

I

I . ...

I

- -

5.2: Entwicklungsphasen der Kulturlandschaft in Mitteleuropa zwischen Frühmittelalter und Hochindus­ trialisierung (nach SCHENK 2005: 249).

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------

riodisierung, nehmen in der Benennung aber vor allem Aspekte von Koloni­ sierung, also planmäßiger Erschließung von Land, auf (nachfolgend nach SCHENK

2005 und

2007, Letzteres mit zahlreichen Farbkarten; 1987 knapper bei DIX 2003; noch immer

GLASER et al.

anschaulich s. WIESE & ZILS

-

1989, aus einer vegetationsgeschichtlichen Perspekti­ ve für Mitteleuropa s. KÜSTER 1995, für Norddeutschland BE H RE 2008).

grundlegend s. B OR N

5.2.1 Frühmittelalterliche Landnahme und erster Landesausbau (ca. 600 bis Mitte 11 . Jh.) Zur Mitte des

1. jahrtausends n. ehr. ist für Mitteleuropa anzunehmen, dass

die höheren Mittelgebirgslagen siedlungsfrei und die Marschen- und Moor­

Frühmittelalterliche Landnahme

gebiete sowie regenreiche Mittelgebirge nur dünn besiedelt waren; im 5. jh. hatte zudem ein Wüstungsprozess das östliche und nordöstliche Mitteleu­ ropa erfasst. Den Schwerpunkt der verbliebenen Besiedlung bildeten die großen Flusstäler und fruchtbaren Beckenlandschaften im Westen und Sü­ den sowie die Lösszone im Norden der Mittelgebirgsschwelle bis an die Eibe, wo die Anfänge der heutigen Besiedlung durch die Landnahme germa­ nischer Stämme schon im

5. jh. festzustellen sind, während das in Nord­

und Mitteldeutschland erst im 7./8. jh. einsetzte. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Bevölkerung wurde der Ausgriff der Franken besonders raum­ greifend, welcher im 8. Jh. seinen Höhepunkt erreichte. Die Hauptstoßrichtung zielte entlang des Mains und blieb inselhaft im allemannischen, hessischen, thüringischen und sächsischen Stammesge­ biet. In der Karolingerzeit trug diese Expansion planmäßige Züge (Beispiele in NITZ

1994/98)

-

Fränkisch­ karolingische Kolonisation

zu fassen in einem herrschaftlichen Eigenbetrieb, beste­

hend aus einem Fronhof (Herrenhof) mit einem umfangreichen, selbst be­ wirtschafteten Landbesitz. Um diesen Fronhof gruppierten sich kleinere Bauernstellen, die vom

Vi11ikationen

Grundherren ausgegeben und von den Bauern selbst bewirtschaftet wurden. Dies wird als Villikation bezeichnet, und von der Unterteilung in Fronhof und abhängige Hufen (Iat.

mansus,

vgl. Exkurs "Hufe", Kap.

5.2.2.3) leitet

sich die Bezeichnung "zweigeteilte Grundherrschaft" ab. Die aus Quellen der Kap.

Karolingerzeit

erschließbare

Dreifelderwirtschaft

(s.

Exkurs

in

4. 1.2) scheint zunächst nur auf dem Herrenland ausgeübt worden zu

sein. Da Land noch immer in großer Fülle bereitstand, dürfte ein extensiver Wechsel (mit einer Zeitspanne von jahren) von Ackerbau und Graswirt­ schaft auf den bäuerlichen Parzellen und in den nur mit größerem Aufwand erreichbaren Randbereichen der Gemarkungen der Regelfall gewesen sein. Technisch gesehen verfügte man schon über den Streichbrettpflug und die Egge. In Nordwestdeutschland entwickelte sich die Plaggenwirtschaft mit einer Dominanz des Roggenanbaus (s. Exkurs "Esch", Kap.

3. 1.2).

Während der fränkischen Landnahme kam es allgemein zu einer Sied­ lungsverdichtung des Altsiedellands. Die Weiler der germanischen Land­ nahmezeit begannen sich in der Folge zu Haufendörfern zu verdichten; ein

Rentenbasiertes Grundherrschafts­ system

Prozess, der durch die sukzessive Auflösung der Villikationen mit dem schrittweisen Übergang zu rentenbasierten Grundherrschaftssystemen ver-

79

5

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum ------

stärkt wurde. Es kann noch nicht von einer zwingenden Kontinuität der Be­ siedlung einzelner Plätze gesprochen werden. Vielmehr unterlag die Sied­ lungsentwicklung vor allem im 9. und 10. Jh. einem Konzentrationsprozess: Ein Tei I der Dörfer verdichtete sich, andere fielen wüst. Minderung von

In der Gesamtschau minderte die Siedlungsentwicklung des frühen Mit­

Besiedlungs­

telalters den Gegensatz zwischen offenen Becken-, Tal- und Gäulandschaf­

gegensätzen

ten und waldbedeckten Höhengebieten. Das Bevölkerungswachstum beför­ derte noch keine größeren gezielten Rodungsaktionen in den Mittelgebir­ gen; vor allem die mit armen Böden ausgestatteten Buntsandsteingebiete waren bis dahin kaum erschlossen gewesen. Die Prozesse vor dem Beginn des grundlegenden Kulturlandschaftsumbaus im hochmittelalterlichen Landesausbau fasst der folgende Exkurs zusam­ men: Landnahme und Landesausbau in Mitteleuropa von der Latenezeit bis zu den Ottonen - eine Zusammenfassung (nach JANSSEN 1992) Späte Latenezeit (Kelten, bis 15 v. ehr.): •

starke Einflüsse der antiken Welt;



dichte Besiedlung in differenzierten Siedlungsformen;



soziale Gliederung: Fürsten, Oligarchie, ländliche Guts- und Hofbesitzer aller Größenordnungen,

Handwerker, Gewerbetreibende,

Priesterschaft,

Krieger,

Bauern, Abhängige; •

starke wirtschaftliche Aktivitäten im agrarischen und zugleich im handwerk­ lich-gewerblichen Bereich;



hoher Stand der technischen Kenntnisse und Verfahren, die auf frühe Verbindungen der Kelten mit dem Mittelmeerraum zurückgehen.

Römische Landnahme

(15. v. ehr. bis Mitte 3. Jh. n. ehr.):



gallo-römische(-germanische) Mischkulturen;



Siedlungsverdichtungen an Rhein, Main und südlich der Donau;



z. T. rigorose Ausbeutung der Ressourcen aus militärischen Überlegungen (Bau des Limes und von Lagern); selektive Holzeinschläge, intensiver Bergbau;



großflächiger Ackerbau: Weizen; römische Rindersorten;



Sonderkultur: Wein;



zahlreiche Relikte,

z. B. Straßendämme,

Wachtürme, Limesbefestigungen,

Steinbrüche, Stollen, Hauspodeste, Ackerterrassen, Flureinteilungen, Mühlen, Wasserleitungen, Brunnen; •

demgegenüber große Waldungen im nicht römischen (germanischen) Mitteleu­ ropa mit einem Wechselspiel von Bewaldung und Entwaldung mit Siedlungs­ schwerpunkten im Elbe-Saale-Gebiet und an Teilen der Nordseeküste.

Völkerwanderungszeit (ca. Mitte 3. bis Mitte 6. Jh. n. ehr.): •

sehr unsicherer Forschungsstand;



keine lange Verweildauer der Gruppen: starke Ausdünnung des Siedlungsbil­ des;



Kontinuitäten (demographisch, funktional, topographisch) nur über Ortsnamen angedeutet.

Frühmittelalterliche Landnahme und karolingischer Landesausbau (etwa ab Mitte des 5. bis Anfang 11. Jh.): •

Landnahme germanischer und slawischer Völkerschaften mit langfristiger An­ wesenheit;



80

Altsiedelland sind agrarische Gunstlagen (Löss);

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------



Siedlungen: Entwicklung vom Weiler zum Dorf (aber archäologisch kaum be­ wiesen);



im 8. Jh. erste Verknappungen von Ressourcen: Siedlungskammern wachsen zusammen;



systematischer Landesausbau als Wirtschafts- und Herrschaftsprogramm der Karolinger und Ottonen erreicht die Randzonen der Wälder, geht auf Hänge und Höhen über;



bäuerliche Einheiten in Hufen;



Bevölkerungswachstum fordert weitere Rodungen.

5.2.2 Hochmittelalterlicher Landesausbau (ca. Mitte 11. Jh. bis Mitte 13. Jh.) 1095 rief Papst Urban zur Rückeroberung jerusalems aus osmanischer Hand

Bodenknappheit

auf. Als zukünftige Kreuzritter hatte er vor allem zweit- oder drittgeborene Adelssöhne im Auge, weil der Boden allzu knapp geworden war und für

jene, die ihn bestellten, nicht genügend abwarf. Damit umschreibt der Papst eine massive Bevölkerungszunahme in Eu­ ropa, die je nach Schätzung der Einwohnerzahl von der jahrtausendwende

Massiver Bevölkerungsanstieg

bis zu den Pestepidemien zur Mitte des 14. jh.s um das Zwei- bis Dreifache ansteigen ließ. Im Gebiet des heutigen Deutschland lebten um

1000 schät­

zungsweise fünf Millionen Menschen. Mit acht Millionen wird man für den engeren deutschen Siedlungsraum an der Wende zum

13. jh. rechnen dür­

fen, während es nur einhundert jahre später bereits 12-14 Millionen waren. Das hatte Auswirkungen auf die Entwicklung der Produktionsverhält­

Agrarische

nisse im Hochmittelalter und damit auf die Transformation der Landschaft

Innovationen

in ganz Europa. Motor hierfür war wohl eine Effektivierung der Landwirt­

als Basis

schaft - mit vielfältigen und interdependenten Folgen (vgl. Abb.

5.3). Für

den mitteleuropäischen Siedlungsraum lassen sich vier ineinander verwo­ bene Hauptprozesse des hochmittelalterlichen Landesausbaus ausgliedern:

die Ausdehnung und Intensivierung der Landwirtschaft im Altsiedeiland

5.2.2.1), die Erschließung von Mittelgebirgen sowie Fluss- und See­ 5.2.2.2), die Ostsiedlung (Kap. 5.2.2.3) und der Aufstieg der Städte (Kap. 5.2.2.4). (Kap.

marschen (Kap.

5.2.2.1 Ausbau im Altsiedelland

Unter dem Druck der wachsenden Bevölkerung beschleunigte sich der Ein­

Endgültige

satz agrartechnischer und -organisatorischer Neuerungen. Man kann wie im

Durchsetzung der

Neolithikum von einer "Agrarrevolution" sprechen

(CERMAN et al. 2008).

Dreifelderwirtschaft

Zu den wesentlichen Innovationen gehörte die endgültige Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft, häufig in Zeigenbindung (s. Exkurs "Dreifelder­ wirtschaft", Kap. 4.1.2), und des schollenwendenden Pfluges mit Rädern, eiserner Schar und P flugmesser, die Rahmenegge und neuartige Grasmäh­ sensen und Sicheln für die Getreideernte und Grünlandnutzung, der Dreschflegel, die Wasser- und Windmühle, der vermehrte Einsatz von Pfer­ den mit Hufeisen, nun angeschirrt in einem ledergepolsterten Kummet, das

den Tieren nicht mehr die Luft abschnürte wie die voher verwendeten An­ spannriemen. Die Dreifelderwirtschaft bot zudem ein ausgewogenes Ver-

81

5

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum

------

Intensivierung der landwirtschaftlichen Bemühungen:

Ausdifferenzierung nicht landwirtschaftlicher Wirtschaftsbereiche:

Siedlungsvorgänge:

- Waldrodung und Trocken­ legung von Sümpfen - Dreifelderwirtschaft setzt sich durch - Gewannverfassung

---

- Ausbau der alten Siedlungen (Altsiedelland)

---

- Neugründungen von Siedlungen (Jungsiedelland) in Mittelgebirgen in Fluss- und Seemarschen • in Form der Ostsiedlung jenseits der Eibe (Germania Slavica)



Technische Neuerungen:



- Verbesserungen der Anspannung und Beschlagung der Zugtiere - Beetpflug - Egge, Sense, Sichel - Wasser- und Windmühlen

!

- wachsende Arbeitsteilung innerhalb der Grundherrschaften - Zunahme der Nah- und Regionalmärkte als Wochen- und Tagesmärkte mit grundherrschaftlichen und freien Kaufleuten sowie einem von der Grundherr­ schaft gelösten Handwerk - Ausbau von Marktsiedlungen durch Kaufleute und Handwerker

1

Bevölkerungswachstum zwischen dem 11. und 14. Jh. in Millionen: -

Frankreich/Niederlande: von 6 auf 19 Britische Inseln: von 2 auf 5 Deutschland/Skandinavien: von 4 auf >12 West- und Mitteleuropa insgesamt: von 12 auf 35,5

!

Ökonomisches Wachstum im landwirtschaftlichen Bereich

I

I

!

Ökonomisches Wachstum im nicht landwirtschaftlichen Bereich

Die europäische Stadtentfaltung:

Wandel in den ländlichen Ordnungen des Altsiedellandes: - relative Besserstellung der ländlichen Bevölkerung - Auflösung der Villikations­ verfassung zugunsten der Bauern - Entstehung unterbäuer­ licher Schichten - Abwanderung in Städte - Abwanderung nach Osten

neue Lebens-, Wirtschafts­ und Herrschaftsqualitäten

--

Verbund aus städtischen und ländlichen Siedlungen

--

Abb. 5.3: Interdependenzen zwischen Bevölkerungswachstum, Intensivierung der Landwirtschaft und Sied­ lungsentwicklung im hochmittelalterlichen Europa (eigener Entwurf; nach Anregungen u. a. von ER­ LEN

1992).

hältnis von Brot- und Futtergetreide. Das Ergebnis war insgesamt eine "Ver­ getreidung" mit einer Verdopplung der Erträge von Weizen auf 5-7 dt/ha. Die Menschen aßen nun mehr Brot und Brei als Fleisch (zusammenf. s. ER­ LEN

Siedlungs­

1992).

Diese Intensivierung des Anbaus verlief parallel mit einer Verdichtung

verdichtung irn

der Siedlungen in den altbesiedelten Regionen. Ein treffendes Beispiel ist

Altsiedelland

der Raum um das Zisterzienserkloster Maulbronn. Mitte des 12. Jh.s setzte dort ein umfangreicher Ausbau durch die um 1148 gegründete Abtei Maul-

82

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------

bronn und andere Siedlungsträger ein (RÜCKERT 2009). In der Summe lässt sich zwischen 1150 und 1300 eine Vermehrung der Siedlungen um 50 % errechnen, während nur drei Siedlungen in diesem Zeitraum wüst wurden. In den Altsiedelländern waren die Transformationsprozesse zudem vielfach mit einer durchgreifenden Umstrukturierung der Siedlungen verbunden. Eine Vielzahl von Kleinsiedlungen wurde zugunsten einiger großer Dörfer aufgegeben. Der Zerfall des Villikationssystems erlaubte den Bauern oftmals Neurodungen, so dass nun viele bäuerliche Betriebe so groß wurden, dass sich

Betriebs­ erweiterungen

eine Familie daraus ernähren konnte. Zu diesen vollbäuerlichen Betrieben traten in Süddeutschland wohl schon seit der Mitte des 12. Jh.s Kleinbetriebe mit sehr geringer Landausstattung. Sie stellten häufig auch die Arbeitskräfte für den vermehrt aufkommenden, arbeitsintensiven Weinbau in den Gunstlagen.

5.2.2.2 Erschließung von Mittelgebirgen sowie Fluss- und Seemarschen

Im hohen und späten Mittelalter wurden durch gelenkte Rodungsaktionen auch klimatisch und von den Bodenqualitäten benachteiligte Gebiete er­ schlossen. Selbst die Buntsandsteinberglandschaften wie Nordschwarz­

Gelenkte Erschließung von Mittelgebirgen

wald, Odenwald, Spessart, Kaufunger Wald oder der Weser-Diemel-Raum (s. nachfolgenden Exkurs) wurden besiedelt, dazu Basaltberglandschaften wie der Vogelsberg oder die Rhön.

Wald- und Siedlungsentwicklung im Weser-Diemel-Raum im Mittelalter (nach JÄGER 1951) Eine Karte (vgl. Abb. 5.4) zum Weser-Diemel-Raum beschreibt beispielhaft für viele Mittelgebirge die Ent­ wicklung von Wald und Siedlungen im Mittelalter:

ca. •

Herste

=

500

n.

ehr.

ca.

1290

älteste Orte mit ältester Namensform

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Ackerland

o

lichter Hutewald

_

dichterer Wald

• 9 km '-'--...._ ... ....'.



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Städte (aktuelle Namen) ländliche Siedlungen Wald wechselnder Dichte

9km

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83

5

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum ------

ca.



1950

1430

Städte (aktuelle Namen)



tändliche Siedlungen



_

Wald wechselnder Dichte

9km '--...._ ... '---'.



_

Städte (aktuelle Namen) Dörfer Wirtschaftswald

9km '--...._ .. '---'

Abb. 5.4: Wald- und Siedlungsentwicklung im Weser-Diemel-Raum im Mittelalter (nach JÄGER 1951 : Anhang). Zu Beginn des Mittelalters war fast das gesamte Gebiet zwischen Diemel und Weser bewaldet. Durch die weidewirtschaftliche Nutzung waren die Wälder in der Umgebung der Siedlungen allerdings stark aufgelichtet (Hutewald). Die dorffernen Waldbestände wurden zu dieser Zeit mit Ausnahme zu Jagd­ zwecken noch nicht genutzt. Im Hochmittelalter wurden durch die starke Ausdehnung des Siedlungsraumes die Waldbestände zu­ rückgedrängt. Der Reinhardswald wies zu diesem Zeitpunkt nur noch etwa 26 % seiner Ausdehnung auf. Die verbliebenen Waldbestände nutzte der Mensch mehr oder weniger durchgängig. Als Folge des Bevölkerungsrückgangs und der mittelalterlichen Agrarkrise konnten sich die Waldbestände im ausgehenden Mittelalter wieder erholen. Der Reinhardswald eroberte ca. 53 % seiner Fläche zurück.

Planformen als

Seit dem 12. Jh. nehmen die Rodungen auch auf den Keuperhöhen wie

Zeichen von

Steigerwald, Hassberge und Frankenhöhe sowie in den Grundgebirgen zu,

Kolonisation

so in Oberfranken und dem Vogtland. Typische Kolonisationsformen sind Straßen- oder Angerdörfer mit Breitstreifenfluren, nicht selten mit direktem Anschluss an den Wald (Beispiele in NITZ 1994/98). Die Siedler erhielten Privilegien wie abgabenfreie Jahre nach der Ansiedlung und erbliches Be­ sitzrecht gewährt. Die Bedeutung besonderer Rechte als Anreiz zur Rodung zeigt sich besonders deutlich für Nordwestdeutschland.

Privilegien für

Die von weltlichen Adeligen geförderten Erschließungen im Weserberg­

Erstrodung

land und in Schaumburg-Lippe führten von gereihten Höfen mit Kämpen zur Anlage von Hagenhufensiedlungen. Das Hagenrecht gewährte den Siedlern eine genossenschaftliche Stellung und war wohl auch Mittel zur Territorialbildung

-

"hagen" meint "einschlagen, roden". Der Umfang

hoch- und spätmittelalterlicher Rodung spiegelt sich oft in der Verbreitung

84

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------

von Ortsnamen wider, welche den Rodungsvorgang, die Lage des Ortes

oder den Träger der

Besiedlung anzeigen

(vgl.

wiederum

Tab. 2.1,

Kap. 2.4). Das ist die Zeit der höchsten Siedlungsdichte in Mitteleuropa. Zur gelenkten Erschließung von Land traten fast überall auch "wilde" Ro­ dungen. In der Folge schrumpfte der Wald in Mitteleuropa auf unter 20 % Flächenanteil am Ende des Hochmittelalters - das geringste Maß, welches

Stärkste Rückdrängung des Waldes

in historischer Zeit je erreicht wurde. Gleichzeitig war die Zahl der Siedlun­ gen in Mitteleuropa nie mehr so hoch wie damals. Parallel zu diesen Prozessen im Binnenland wurden einige Bereiche der Nord- und Ostseeküste (BEHRE2008) und einige Flussmarschen durch Deiche

erschlossen. Zu Letzteren zählen in Deutschland das Alte Land an der Eibe

Erschließung von Fluss- und Seemarschen

westlich von Hamburg und die Wesermarschen. Die Interpretation einer Ur­ kunde von 1113 betreffend, welche nach verbreiteter Auffassung den Beginn der deutschen Ostsiedlung markiert, kam es in der Zeitschrift "Siedlungs­ forschung" (s. FREUND et al. 2007) zwischen Dietrich Fliedner und Hendrik van der Linden zu einem Forschungsdisput zum Ablauf dieser von Hollän­ dern (Holler) ausgeführten Kolonisation und der Gestaltung der Kulturland­

schaft, besonders mit BI ick auf die Größe der Hufen entlang des Flusses. In Anlehnung an das Sprichwort "God created the world, but the Dutch

Holländer als

created their own country" kann damit darauf hingewiesen werden, dass

Wasserbauer

die "Holler" im Zuge solcher Prozesse nicht nur ihr eigenes Land nahezu komplett umbauten (einst waren um gut mehr als 50 % der heutigen Staats­

fläche der Niederlande Moore und Heiden; vgl. BARENDS 2010). Vielmehr exportierten sie nachweisbar seit dem 12. Jh. auch das dabei erworbene Wissen um die Regulierung von Wasser mittels Schöpfwerken, dem Bau

von Kanälen und Drainagen, der Gewinnung von Land durch Deichbau so­ wie der Trockenlegung von Mooren und Seen auch in andere europäische Länder. Sie beeinflussten damit als Wasserbautechniker und Siedler die Ge­ stalt weiter Landschaften Europas und deren Nutzbarkeit für Landwirt­

schaft und Siedlung nachdrücklich. Das reiche Erbe der Hollerkolonisation ist in England,

Dänemark,

Italien,

Frankreich,

Polen und eben auch

Deutschland noch gut zu erkennen (DANNER et al. 2006).

5.2.2.3 Deutsche Ostsiedlung

Ostsiedlung bezeichnet die mit der Einwanderung deutscher Siedler einher­

Im europäischen

gehenden Veränderungen der Siedlungs- und Rechtsstrukturen in den Ge­

Kontext zu sehen

bieten östlich von Saale und Eibe, in der Steiermark und in Kärnten sowie bis in den Karpatenbogen hinein. Grundregel ist dabei (vgl. Abb. 5.5) die

Wanderung der Bevölkerungsgruppen etwa auf dem j eweiligen Breiten­

grad, also eine flämisch-holländisch-dänische Wanderung entlang der Küs­

ten nach Osten (Mecklenburg, Vorpommmern bis in die baltischen Staaten), Franken und Thüringer zogen vor allem nach Böhmen, Schlesien und Öster­ reich sowie Bayern ins Donaubecken und in die Alpenländer bis nach Sie­ benbürgen. Ortsnamenübertragungen aus den Herkunftsgebieten in die neuen Siedlungsgebiete sind Anzeiger dafür. Die Vorbevölkerung wurde im

Laufe der Zeit bis auf wenige Enklaven assimiliert. Die deutsche Forschung nahm die auffallende Parallelität solcher Vor­ gänge in fast allen europäischen Ländern lange Zeit nicht wahr (ERLEN

85

5

co cn

Abb.

U1

5.5: Deutsche Ostsiedlung (SCHENK 2007: 135). 800-1100 um 1200 um 1300

------'

• • •

idealisierte Hauptsiedlungsströme Erzbistum Bistum

Bergbau

Grenze des Dt. Reiches um 973

Ostgrenze des Dt. Reiches um 1400

Grenze des Gebietes des 01. Ordens

um 1400

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100

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------

1992). Sie konzentrierte sich vielmehr lange auf die Frage, ob vor allem der "Zug nach Osten" gewaltsamen oder eher friedlichen Charakter hatte. Heute hat eine nüchterne und differenzierte Betrachtung die Oberhand

Deutsche

dank einer gemeinsamen Untersuchung von deutschen und polnischen For­

Ostsiedlung statt

schern gewonnen, die auch einige Topoi der älteren Forschung hinterfragt

Ostkolonisation

(grundlegend GRINGMUTH-DALLMER 2002). Man spricht nun von deutscher Ostsiedlung statt Ostkolonisation, neuerdings auch vom hochmittelalterli­ chen Landesausbau in der Germania Slavica, welchem sich vor allem das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig auch im Hinblick auf die Wandlungen der Kulturlandschaft widmet (HARDT 2008). Trotz unstrittiger Gewaltakte und der Eroberungspolitik des Deutschen Ordens wird die Ostsiedlung heute als ein überwiegend friedlicher Prozess

Lokatoren als Organisatoren

aus Anziehungs- und Abstoßungsfaktoren (Pull- und Push-Faktoren) gewer­ tet mit deutlichen Anzeichen herrschaftlicher Planung. So beauftragten die Territorialherren sog. "Lokatoren" ("Ortemacher" - Siedlungsleiter) mit der Anwerbung und Niederlassung von Siedlern. Die Siedler erhielten eine rechtliche Sonderstellung - in der älteren For­

schung jus

teutonicum, nun treffender "sächsisch-magdeburgisches Recht"

Privilegien für Siedler

genannt - und damit die Loslösung aus der Grundhörigkeit. Dazu waren sie privilegiert durch ein erweitertes Erb- und Verfügungsrecht über den eige­ nen Besitz, den Ersatz zahlreicher Dienstleistungen und Naturalabgaben durch festen Zins sowie dörfliche Selbstverwaltung. Vergleichsweise reich war auch die Landausstattung mit dem Grundmaß der Hufen (s. nachfol­ genden Exkurs). Eine Abgabefreiheit für die ersten fünf bzw. zehn Jahre in Rodegebieten erleichterte den Entschluss zur Abwanderung aus dem Altsie­ delland sicherlich. Das Siedlungsbild der Ostsiedlung erscheint in der Folge recht einheitlich

Planstädte als Märkte

und von großer PIanmäßigkeit, denn die Lokatoren legten die Siedlungen vornehmIich als Straßen- oder Angerdörfer an. Auch die Schachbrettgrund­ risse der ostelbischen Kolonialstadt mit einem zentralen Markt (Ring), auf dem häufig das Rathaus untergebracht ist, zeugen von PIanmäßigkeit. Um eine hohe Dichte von Städten zu schaffen, die einerseits die Entwicklung ih­ res Umlandes beschleunigen sollten und andererseits auch befestigte militä­ rische Stellungen bildeten, initiierten und begünstigten die Landesherren die Stadtentwicklung durch eine Reihe von Privilegien, welche überwie­ gend Modifizierungen der Stadtrechte von Lübeck (Ostseeküstenstädte), Magdeburg (Binnenstädte in Ostdeutschland, Polen und T schechien) und Nürnberg (Südosten) waren. In gewerblicher Hinsicht spielte insbesondere die Erschließung von Berg­

Erschließung von

bauregionen eine große Rolle. Charakteristisch war die Gründung von Berg­

Bergbauregionen

städten. In der Zips gründeten Zuwanderer aus Mitteldeutschland, Schle­ sien und Kleinpolen Bergbauorte wie Käsmark oder Leutschau auf der Süd­ seite der Hohen Tatra.

I

Hufe Die Hufe war für gewöhnlich Grundlage für eine geregelte Besitzverteilung von bäuerlichen Betriebsflächen und stellte zugleich eine Abgaben- und Rechtsord­ nung dar - so wurde damit der entsprechende Anteil an der Allmende und der Grad der Teilnahme der Bewohner an der Gemeindeverwaltung festgelegt (z. B.

87

5

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum ------

Hüfner, Vollspänner). Um eine bäuerliche Familie ernähren zu können, war sie je nach naturräumlichem Potenzial sowie den Bedürfnissen der Siedler und der Feu­ dalherren regional unterschiedlich groß (zwischen 7,5 und 15 ha, die fränkische Hufe betrug ca. 24 halo Sie musste nicht unbedingt als räumlich geschlossener Block angelegt sein, sondern konnte in die einzelnen Teile etwa einer Gewannflur als gereihte Streifen vermessen werden. In Kolonisationsgebieten wurde sie häufig Normmaß bei der Anlage von HofsteIlen in Plansiedlungen, bei denen sich die Be­ triebsfläche oft an die Hofsteile direkt anschloss, so in Wald-, Marsch-, Moor- und Hagenhufendörfern der Küsten-, Binnen- und Ostkolonisation (z. B. Nordseeküste, Frankenwald, Odenwald, Nordschwarzwald, Sudeten, Erzgebirge, Bayerischer Wald, Mühl- und Waldviertel).

5.2.2.4 Aufstieg der Städte Hochzeit der StädtebiIdung

Die Städte des Ostens entstanden etwa zur gleichen Zeit wie diejenigen Siedlungen im Westen, die sich nach 1100 zu dem entwickelten, was nun uneingeschränkt Stadt genannt werden kann, legt man rechtliche (Stadt­ recht), bauliche (Stadtmauer), ökonomische (Marktrecht und Münze) und soziale (ausdifferenzierte Sozialstruktur der Bevölkerung) Kriterien an

(DENEcKE 2005: 111 ff.). Der Prozess der Ausbildung von Städten in Mitteleu­ ropa in diesem Sinne setzte im Westen ein und ging wie eine Welle nach Osten (vgl. Abb. 5.6). Ältere Siedlungs­

Manche entstanden aus "wilder Wurzel", das bedeutet aus älteren Sied­

kerne und geplante

lungskernen, manche wurden planmäßig neu angelegt. In der Folge wurde

Städte

das Land mit einem mehr oder weniger gleichmäßigen Netz zumeist klei­ ner, in ihrem Charakter häufig noch weitgehend ländlich geprägter Städte überzogen. Allein im heutigen Brandenburg waren es etwa 120. Eine trei­ bende Kraft für die geschilderten Transformationsprozesse war die Umstel­ lung der landwirtschaftlichen Produktion von der Eigenversorgung auf Marktorientierung (HARoT 2008).

Ausbildung

Die enge Verbindung von ländlicher und gestufter städtischer Siedlung

zentralörtlicher

war der siedlungstechnische Ausdruck der verstärkten Ausrichtung der

Bereiche

agrarischen Produktion (vor allem von Getreide) auf den Markt, wobei durchaus nicht nur und nicht überall von einer Durchsetzung der Dreizel­ gen-Brachwirtschaft (vgl. Exkurs "Dreifelderwirtschaft", Kap. 4.2.1) auszu­ gehen ist.

Entstehung neuer

Die wachsende Produktivität der Landwirtschaft, die dem Bevölkerungs­

städtischer

wachstum anfangs wohl vorauseilte, ermöglichte also die Freistellung einer

Sozialgruppen

wachsenden Zahl von Menschen aus der agrarischen Produktion. Dazu ge­ hörten Kleriker und Mönche, zudem die neue Gruppe der Ministerialen (Verwaltungsbeamten). Auch wenn wohl zwei Drittel des Bevölkerungszu­ wachses auf dem Land blieben, so waren die aufstrebenden Städte die Ge­ winner der Zeit. Sie nahmen gut ein Viertel des Bevölkerungswachstums auf, so dass der Anteil der Stadtbevölkerung von etwa 1050 bis 1400 von unter zwei auf zwölf Prozent stieg.

Bürger als

Die Stadt wurde im Hochmittelalter eine gesamteuropäische Erschei­

Wehr- und

nung, welche die Herrschaften zwar noch nicht durchweg in die Stadt zog,

Wirtschafts­ gemeinschaft

die aber von ihnen gefördert und für eigene Interessen eingesetzt wurde: Denn Städte konzentrierten Menschen sowie deren Kapital und Wissen, und Städter waren bereit, ihre Stadt, ihre Privilegien und ihren Besitz wie

88

Städtebildung in Mitteleuropa bis 1250 t:. t:.

... vor 1150 ... 1150-1190 100

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1190-1220 1220-1250

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Abb. 5.6: Städtebildung in Mitteleuropa im Mittelalter (nach STOOB aus GLASER et al. 2007: 136). co U) U1

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum ------

eine Burg zu verteidigen - daher rührt der Name "Bürger"! Für die Stadtbe­ wohner ging es darum, sich Freiheiten im Vergleich zu der Stellung der Bau­ ern zu erhalten. Wenn Städte sozialen und ökonomischen Aufstieg ermög­ lichten, dehnten und füllten sie sich und es entwickelte sich ein städtisches Bewusstsein, und die Bauweise hob sich markant vom ländlichen Umland ab. Städte als

Zusammenfassend begründet sich die Entstehung von Siedlungen mit

Machtzentren

städtischem Recht in Mitteleuropa vornehmlich und zuallererst aus dem Wilien und Streben der politischen Mächte zur Machtabsicherung und wirt­ schaftlichen Konzentration im Hoch- und Spätmittelalter. Die Verteilung städtischer Siedlungen im Raum und deren Entwicklungschancen in der Konkurrenz untereinander sowie deren kleinräumige Lage im Einzelfall be­ stimmten neben territorialpolitischen Überlegungen jedoch auch die na­ turräumlichen Voraussetzungen in Verbindung mit ökonomischen Einfluss­

Stadt am Fluss als Regelfall

größen mit. Die größeren Flüsse, im Besonderen Donau, Rhein, Main, Weser und Eibe, erwiesen sich als alles überragende und konstante Anreger städtischen Lebens. Sie bilden bis heute die Leitlinien städtischer Dynamik. Im Spätmit­ telalter war der mitteleuropäische Raum mit Städten gefüllt. Spätere Stadt­ gründungen konnten sich nur selten erfolgreich entwickeln, denn die öko­ nomischen Potenziale waren schon an die frühen Städte gefallen. Diese älteren Städte bilden bis heute das Rückgrat des europäischen Städte­ systems. Auffällig ist der Befund, dass sich das zentralörtliche Gefüge Deutschlands im Wesentlichen auch in der Frühneuzeit nicht grundlegend verschoben hat. Hinzu kamen damals vor allem im Südwesten einige Plan­ städte der Renaissance wie Mannheim oder Freudenstadt, Festungsstädte wie Breisach, vor allem aber das im Geiste des Absolutismus erbaute Karls­ ruhe.

5.2.3 Spätmittelalterliche Wüstungsperiode (ca. 1350 bis 1500) Wüstungsquotient

Die Probleme der Definition von spätmittelalterlichen Wüstungen und de­ ren Erforschung wurden schon in Kapitel 3.1.5 behandelt. Hier geht es nun darum, eine Vorstellung von den Ausmaßen und der relativen Häufigkeit von Ortswüstungen für Mitteleuropa zu vermitteln. Dazu wurde der Wüs­ tungsquotient (WQ) entwickelt. Er errechnet sich aus dem Verhältnis von maximaler Wohnplatzzahl vor Beginn einer Wüstungsperiode und der dezi­ mierten Wohnplatzzahl am Ende der jeweiligen Periode. Aufgrund der un­ günstigen Quellenlage ist es nur in Ausnahmefällen möglich, auch die par­ tiellen und die temporären Wüstungen einzubeziehen. Selbst die tatsächli­ che Anzahl der permanenten W üstungen in einem Gebiet ist oft nicht exakt festzustellen. Der Wüstungsquotient ist daher nur ein Annäherungswert. Trotz dieser Unzulänglichkeiten hat der Wüstungsquotient in nahezu alle einschlägigen Studien Einlass gefunden, da er als gute Veranschaulichung des Wüstungsausmaßes gi It.

Regionale

AßEL(1976) hat in einer Karte (vgl. Abb. 5.7) 214 Wüstungsquotienten zu­

Konzentration von

sammengetragen, 171 bestimmte und 43 geschätzte. Danach finden wir in

Wüstungen

90

Hessen, im Weserbergland, im südlichen Niedersachsen, in Teilen Thürin-

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------

Abb. 5.7: Wüstungen in Deutschland im späten Mittelalter (nach ABEL 1976 aus GLASER et al. 2007: 137). gens, in Schlesien und einigen kleineren Gebieten Süddeutschlands ein ho­ hes Wüstungsvorkommen im späten Mittelalter. Ein mittleres Wüstungsvor­ kommen verzeichnen große Teile Norddeutschlands und Mitteldeutsch­ lands bis an die Donau und den Oberrhein. Ein geringes Wüstungsvorkom­ men weist das nordwestdeutsche Einzelhof- und Streusiedlungsgebiet auf.

Als Ursachen für das Wüstfallen werden vielfältige Gründe ("Theorien") an­ geführt: •

Allgemeine Gründe für das Wüstfallen

Grangienbildung: Ausbau von Eigenwirtschaften ("grangia" - Wirt­

schaftshof) durch "Bauernlegen" (s. u.) vor allem im Umfeld von Zister­ zienserklöstern; •

Kriegs- oder Fehdetheorie: Abwanderung von Bevölkerung in durch



Fehlsiedlungstheorie: Rücknahme von Siedlungen aus den Ungunstlagen

Kleinkriege und Landfehden weniger gefährdete Gebiete; des hochmittelalterlichen Landesausbaus; •

Bevölkerungsrückgangstheorie: Infolge von Hungersnöten (besonders

nach 1309) und Pestzügen (nach 1347/48) Verminderung der Bevölke­ rungszahl um etwa ein Drittel; da in den Städten wegen der schlechteren hygienischen Verhältnisse die Menschen vermutlich früher starben, rückte Landbevölkerung nach - damit eng verbunden ist die •

Agrarkrisetheorie: Durch den Bevölkerungsrückgang nach 1347/48 sank

trotz reichen Getreideangebots infolge der Intensivierung der Landwirt­ schaft (Dreifelderwirtschaft) die Zahl der Verbraucher von Nahrungsmit-

91

5

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum ------

tein, während die Löhne für Landarbeiter und auch Handwerker stiegen und sich damit die Preise für gewerbliche Güter verteuerten, was die Ab­ wanderung der Bauern in die Städte attraktiv machte; dieser Gedanken­ gang führt zur •

Ballungstheorie: Konzentration der Bevölkerung auf die ökonomisch und sozial attraktiven Städte ("Stadtluft macht frei").

Folgen der

Die Forschung hat gezeigt, dass die Ursachen für die vollständige oder teil­

spätmittela Iterlichen

weise Siedlungsaufgabe im Einzelfall sehr vielschichtig sein können. Aus

Wüstungsprozesse

geographischer Sicht bedeutsam sind die räumlichen Folgen der spätmittel­ alterlichen Wüstungsbewegungen (SCHREG 2009b), nämlich Folgendes: •

Der Wald gewann im Spätmittelalter zu Lasten des Siedlungslandes an Fläche und behielt seine Anteile dank verschärfter Kontrolle der Herr­ schaften in der Frühneuzeit und der Flächenstaaten ab dem 19. Jh. über­ wiegend - damit begann sich in den Grundzügen die heutige Wald-Of­ fenland-Verteilung auszubi Iden;



die Bildung großer Haufendörfer schritt voran, was die Orts- und Gemar­ kungsstruktur sowie die sozialen Verhältnisse veränderte, da sich in den verbliebenen Dörfern die Menschen konzentrierten - die Dreifelderwirt­ schaft wurde dort endgü Itig das agrarische Regelsystem;



im ostelbischen Deutschland erleichterte das Wüstliegen von Bauernland das Einziehen bäuerlicher Siedelstellen (Bauernlegen) durch die Herr­ schaften und den Aufbau von Gutshöfen, was mit einer Konzentration von Hoheitsrechten einherging.

5.2.4 Frühneuzeitlicher Landesausbau (ca. 1 500 bis 1800) Absolutismus und

Diese Periode war gekennzeichnet durch den sukzessiven Übergang zu ab­

Merkanti Iismus

solutistischen Staaten, verbunden mit der allmählichen Ausbildung des Mer­ kantilismus. Als Anpassung an die neuen Ansprüche des expandierenden Weltwirtschaftssystems, speziell entlang der Küsten und der Flüsse (NITZ 1993), begannen ab dem 16. Jh. vor allem Niederländer, Hochmoore im Fehnverfahren zu kultivieren. Hierbei entstanden Reihendörfer entlang von Kanälen, deren primäres Entstehungsmotiv der Torfabbau war.

Neurodungen

Westlich von Eibe und Saale war eine unmittelbare Reaktion auf das Be­ völkerungswachstum die Neurodung zuvor aufgelassener Nutzflächen, vor allem in den Randlagen von Gunsträumen. Zum Teil geschah dies in exten­ siver Weise durch eine Feld-Gras-Wechselwirtschaft oder indem man of­ fene Flächen der Allmende zuschlug und sie als Weideland u. a. für die Hal­ tung von Schafen nutzte, welche die Herrschaften vielerorts förderten, aber auch bisweilen monopolisierten. Parallel dazu begannen die Herrschaften, die bäuerlichen Rechte am Wald sukzessive einzuschränken, da sie ihn nun als Einkommensquelle entdeckten.

Siedlungs­

In den Altsiedellandschaften schritt die Verdichtung großer Haufendörfer

konzentration

voran (vgl. FEHN et al. 1999), da sich in den aus der Wüstungszeit verbliebe­ nen Dörfern nun die wachsende Zahl an Menschen konzentrierte. Der Grundbesitz gehörte hier zwar nominell den Herrschaften. Doch solange die Untertanen die geforderten Abgaben leisteten, konnten sie weitgehend

92

Frühes Mittelalter bis Industrialisierung als Variable der Bevölkerungsdynamik -------

ungehindert wirtschaften und ihren Besitz vererben, wenngleich sie in vie­ len Regionen durch die Zwänge der Dreifelderwirtschaft in Zeigenbindung in ihrem ökonomischen Handeln eingeschränkt waren und die Sitte der Realteilung vor allem im Südwesten und Westen Deutschlands die Betriebe beständig verkleinerte. In den Quellen erscheint nun auch in Norddeutschland vermehrt die so­ zial und rechtlich schlechter gestellte Gruppe der Kötter, denen in Süd­ deutschland die S(o)eldner (das sind gegen Lohn/Sold arbeitende Tagelöh­

Dörfliche Unterschichten wachsen

ner) entsprechen; BECKER (1998: 116) bringt eine Zusammenschau der regi­ onalen

Bezeichnungen

klein-

oder

unterbäuerlicher

Schichten

in

Deutschland. Sie verfügten über keinen bis nur geringfügigen Landbesitz und waren häufig in der Nutzung der Allmende eingeschränkt. Deshalb wa­ ren sie auf Nebenverdienste wie z. B. Holzschuhschnitzen oder Besenbin­ den angewiesen. Weitreichende Folgen zeitigte das Steigen der Getreidepreise im 16. Jh. für den Osten Deutschlands. Hier zogen die Herrschaften aufgegebene bäu­

Bildung von Gutsherrschaften

erliche Siedelstellen zu größeren Betrieben ein, um Getreide auf größeren Flächen produzieren zu können. Als nach 1550 der adelige Landbedarf nicht mehr aus Wüstungsland gedeckt werden konnte, gingen die Adeligen dazu über, Bauern systematisch zu vertreiben. Mit der Zerschlagung bäuer­ licher Betriebe ("Bauernlegen") in Gärtner- und Kossätensteilen begann die Bildung von Gutshöfen. In diesem Prozess entwickelte sich ein Herrschafts­ und Sozialsystem mit den ostelbischen Junkern als Richtern über einen Gutsbezirk und abhängigen "schollenpflichtigen Hörigen". Neben dem Getreidebau bildete vor allem auf den Gütern Schieswig-Hoisteins die Zucht von Ochsen und Pferden den wichtigsten Betriebszweig, um 1600 begann aber schon die Umstellung auf Milchwirtschaft. Dazu wurden die Fluren in Koppeln geteilt und eine Feld-Gras-Wechselwirtschaft betrieben, bei der die Zahl der Weidejahre diejenige der Saatjahre übertraf. Damals begann sich das bekannte landschaftsbild Norddeutschlands mit den Knicks als Grenzhecken auszubilden.

Der Dreißigj ährige Krieg (1618-48) hatte in vielen Regionen zu Ver­

ödungs- und Wüstungsprozessen geführt. Im Gegensatz zum Spätmittelalter

Peuplierung als Wirtschaftsförderung

bemühten sich die Feudalherren nun um eine Wiederbesiedlung entvölker­ ter Gebiete, verbunden mit weiteren Maßnahmen wie Rekultivierung und Neulandgewinnung. Man spricht von "Peuplierungspolitik". Wo die Bevöl­ kerung dazu fehlte, wurde die Bevölkerungszahl zum einen durch familien­ politische Maßnahmen, zum anderen durch Einwanderungserlaubnisse zu steigern versucht. So wurden vielerorts Glaubensflüchtlinge (z. B. Salzbur­ ger Exulanten, Hugenotten) aufgenommen, die spezialisiertes Wissen für den Aufbau von Industrien mitbrachten (z. B. Strumpfwirkerei in Erlangen). Führende Einwanderungsländer waren Preußen und Österreich, deren Herr­ scher einerseits die verödeten Gebiete wieder wirtschaftlich nutzbar ma­ chen, aber auch neue Grenzprovinzen erschließen wollten. Beispiele für die exakte Planung des absolutistischen landesausbaus sind die liniendör­ fer der preußischen Staatskolonisation in Polen und die Schachbrettdörfer der österreichischen Staatskolonisation in der Batschka und im Banat. Tiefgreifende Veränderungen setzten um 1760 ein. Ab dann ermöglichte z. B. die dänische Gesetzgebung in Schleswig Rodungen in Mooren und auf

93

5

5

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum ------

Beginnende Auflösung feudaler Strukturen

Flurneugliederungen

Grundlegende agra­ rische Innovationen

Grundlagenbi Idung im Feudalismus

Ödland sowie die Aufteilung von Herrschaftsgütern (Domänen) und Ver­ kopplungen (Flurumlegungen). 1769 bestimmte Preußen die allgemeine Aufhebung der Gemeinheiten (MEINERs & RÖSENER 2004) und führte groß an­ gelegte Entwässerungsprozesse bis zum Ende des 18. Jh.s im Oderbruch durch (BLACKBOURN 2008). Im Bereich der Reichsabtei Kempten im Allgäu schritt die Vereinödung, das ist die Auflösung von Dörfern in Einzelhöfe inmitten arrondierten Grundbesitzes, nach 1770 besonders schnell voran; in der Rhön erreichte auf fuldischer Seite die Einzelhofbesiedlung ihren Höhenpunkt, und in Süd­ deutschland begann die Moorkolonisation. In den Mittelgebirgslagen mit Anerbenrecht ging es vor allem um die Ein­ beziehung von Außenfeldern und Allmenden in die Dreifelderwirtschaft. In Realteilungsgebieten kam es durch erste Flurumlegungen zur Vergrößerung der Parzellen. Die Auflösung von Allmend- und Genossenschaftsbesitz er­ folgte dagegen oft erst Jahrzehnte später oder bisweilen bis heute gar nicht, wovon vor allem zahlreiche Gemeindewälder zeugen. In den Tiefländern Süd- und Nordwestdeutschlands konzentrierte sich der Ausbau auf die Erschließung von Heiden und Mooren, in Ostdeutschland auf die Neulandgewinnung in Flussniederungen (BEHRE 2008). In den begünstigten Börden, Beckenlandschaften und Tiefebenen blieben die mittelalterlich angelegten Siedlungsstrukturen lange weitgehend erhal­ ten. Umfangreich waren jedoch die Nutzungsintensivierungen, zu fassen in verbesserten Bearbeitungsmethoden und neuen Sonderkulturen anstelle des bisweilen schon im 18. Jh. niedergehenden Weinbaus. Besonders das aus­ gehende 18. Jh. war eine Zeit vielfältiger agrarischer Innovationen. So wur­ den neue Hackfrüchte wie die Kartoffel, die Zuckerrübe oder neue Metho­ den der Gründüngung mittels Klee eingeführt. Dadurch kam es zu deutli­ chen Ertragsteigerungen und nachhaltig veränderten Anbauverhältnissen etwa durch die Aufgabe der Schwarzbrache oder die Auflösung der ZeIgen­ bindung in der Dreifelderwirtschaft. Am Beispiel des Seidenbaus wird der enge Zusammenhang von planmäßiger Gewerbeförderung und agrarischer Innovation deutlich. So forderte der preußische König Friedrich 11. (auch der Große genannt) die Anpflanzung von Maulbeerbäumen für die Seidener­ zeugung. Zusammenfassend wurde in den etwa tausend Jahren des Feudalismus das Grundgerüst der heutigen Siedlungs- und Landschaftsstrukturen in Mit­ teleuropa gelegt, die wir trotz der Modifikationen unter den Bedingungen industrieller und postindustrieller Produktionsverhältnisse bis heute noch vor allem in der Struktur und der Verteilung ländlicher und städtischer Siedlungen sowie im Wald-Offenland-Verhältnis greifen können.

5.3 Ausbildung von Stadtregionen im Industriezeitalter (19. Jh.) Auflösung feudaler Strukturen

94

"Um 1800" waren neue Qualitäten der räumlichen Entwicklung in Mittel­ europa zu greifen, denn sukzessive wurden die feudalistischen Prinzipien abgelöst: Die Bauernbefreiung setzte Landarbeiter frei, Gewerbereformen

Ausbildung von Stadtregionen im Industriezeit

5

brachten einen neuen risikobereiten Unternehmertyp hervor und techni­ sche Fortschritte wie die Dampfmaschine erlaubten die systematische Nut­ zung der Kohlelager. Wir stehen damit am Beginn des Industriezeitalters, welches neuartige Kulturlandschaften hervorbringen sollte. War das Raummuster gewerblicher Verdichtungen in vorindustrieller Zeit vor allem von naturräumlichen Standortvoraussetzungen

-

Ausbildung industrieller

insbeson­

Verdichtungsräume

dere der Lage an den Wasserkräften (als Brauchwasser und Antriebsenergie) und zu Holzvorkommen und allfälligen Rohstoffen (Eisenerz etc.) - geprägt und zudem häufig von den Territorialherrschaften getragen (wir sprechen daher von protoindustrialisierten Gebieten), so entwickelten sich im Zuge des Industrialisierungsprozesses ab etwa 1850 neuartige städtische Verdich­ tungsräume unterschiedlicher Verursachung, die Abbildung 5.8 zusam­ menfasst. PLÖGER (1997) zeigt beispielhaft die Verquickung militärischer und schwerindustrieller Interessen für die städtische Entwicklung Kiels. In einem Kartenvergleich der Entwicklung des Kieler Hafens 1939 und 2005 im Verhältnis zur Altstadt von 1800 (vgl. Abb. 5.9) wird zudem deut­ I ich, dass die Kulturlandschaften des Industriezeitalters vielerorts selbst schon Geschichte sind, am deutlichsten im Ruhrgebiet zu erfahren (BOL or & GELHAR 2008).

Phase der Industrialisierung ist schon Geschichte

Für die Historische Geographie bedeutet das, sich verstärkt der gegenwär­

Hinwendung zur

tigen Kulturlandschaft zuzuwenden (vgl. nachfolgend Kap. 6), die das sich

1

2

Gesellschaftliche Grundlagen

Wissenschaftlich­ technologischer Fortschritt

a) arbeitsleilige Spezialisierung (neue Erwerbs­ möglichkeiten) b) Agrargesellschaft verändert sich

/�

ökonom.

neue Erwerbs­ möglichkeit

rechtlich sozial Lösung aus tradition. Bindungen

Steigerung der Mobilitäts­ bereitschaft

neue Produkte

3

4 Stadtentwicklung: Urbanisierung, Suburbanisierung, Desurbanisierung AGGLOMERATION

..

a) URBANISIERUNG entspr. Agglomerationsvorteile

b) langfristige Investition in Produktions­ mitteln (Industrie)

neue "kernlOSe" Städte

c) Arbeitsteilung, räumlich und nach Produktions­ zweigen

. yerdlcht�n . g allerer ' tadl . Siedlungen

4.

• regional - sozial

.. zentralortliche Hierarchien u. CityEntwicklung

Verkehr- und Dienstleistungs­ zentralitäl, Fühlungsvor­ teiledurch Infrastruktur, Marklnähe

. militärische Funktionen

b) SUBURBANISIERUNG innerregionale Dekonzentration der Bevölk. u. Beschäftigg.:

neue räumliche Ordnung

Vorgang

Erweite�ng . aller Städte

c) neue betriebliche Organisations­ formen d) Dienstleistungs­ angebot und -nachfrage steigen - Kommunikation - Information - Bildung, berufliche Qualifikation - Administration

Kulurlandschaft

Okonomische Grundlagen

a) Mechanisierung u. a) Substitution von Maschinisierung _ Arbeit durch Kapital im primären und sekundären Sektor

b)

gegenwärtigen

T T

T

Kernstadt verdrängt

�����ionen zugunsten des cl1::;::cen::-----+- Central Business

Standorte und Flä im Umland ( = suburbaner Raum)

AGGLOMERAnON mit starker innerer gewerblicher u. sozialer Gliederung

District (CBD), Expansion

!

c) DESURBANISIERUNG Wanderung von Bevölke­ rung u. Arbeitsplätzen über d. Rand d. Verdich­ tungsräume in nahe ländliche Gemeinden

I

Kernstadt u. Umland verdrängen Funktionen nach außen

I

kembestim Städte . Bergbaustadte, monofunktional Industriestädte,

Zentralstadte mit Dienstleistung, . Verkehrsfunktion und Verwaltung Flotten- und Militärslützpunkte

Kernstadt plus Umland

t ;���ngs-

Verd

� erdicht�ngs. rau�e mit penpheren Nebenzentren, polyzentral

Abb. 5.8: Der Prozess der Industrialisierung und die Ausbildung von Stadtregionen in Deutschland (nach WAGNER 1998: 186f.).

95

Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung seit dem Neolithikum

5

vielfach überlagernde Erbe der Vergangenheit in sich trägt, um Konzepte zu entwickeln, wie damit zukünftig umzugehen ist. Bestandserfassungen des industriezeitlichen Erbes sind dabei die Basis (für Bergisch Gladbach bei­ s pielhaft s, KISTEMANN 2000),



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96

6 Angewandte Historische Geographie und

Kulturlandschaftspflege

Die Angewandte Historische Geographie ist die spezifische Antwort der

Teil der

Historischen Geographie auf den Paradigmenwechsel der Geographie hin

Angewandten

zu einer Wissenschaft mit Anwendungsorientierung ( DENECKE 1994). Sie

Geographie

verbindet Methoden und Befunde vor allem des historisch-genetischen An­ satzes mit den Anliegen der Anwendung, namentlich in der Denkmalpflege

( GuNzELMANN & SCHENK 1999), der räumlichen Planung und der Regional­ entwicklung ( SCHENK 2008). Wenn es dabei um die Sicherung und Weiter­ entwicklung des räumlichen kulturellen Erbes geht, wird von Kulturland­ schaftspflege gesprochen. Sich solchen Aufgaben zu stellen, bedeutet oft­ mals, Auftragsforschung zu betreiben. Damit verbundene Umstände (z. B. Termindruck, Budgetierungen, Adressatenorientierung) können bisweilen

sachliche Einschränkungen und eine geringere zeitliche Tiefe der Bearbei­ tung sowie spezifische Darstellungsformen (z. B. als Gutachten oder "Graue Literatur") zur Folge haben. Vor allem öffentliche Aufgaben und Aufträge setzen den Rahmen, sekundäre Aufbereitung von Befunden der Grundla­ genforschung und die ansprechende Präsentation von Ergebnissen - nicht selten verbunden mit der Moderation unterschiedlicher Interessen - werden bestimmend. Die Bewertungskriterien und Maßstäbe sind jeweils projekt­

bezogen zugeschnitten und können sich wegen Änderungen der Gesetzes­ lage unter Umständen schnell ändern. Die nachfolgend dargestellten Sach­ verhalte sind daher nicht so langlebig wie manches in den vorherigen Kapi­ teln Dargestellte. In einem dynamischen Feld aus Angebot und Nachfrage haben sich vor

Hauptaufgaben

allem drei, in der Praxis eng verwobene angewandte Arbeitsfelder entwi­ ckelt, in denen die Historische Geographie konzeptionell und in der prak­ tischen Arbeit seit Jahren tätig ist: planungsbezogene Inventarisierungen

und Regionalisierungen von historischen Kulturlandschaften (Kap. 6.1), Kulturlandschaftspflege als ein Beitrag zur räumlichen Planung und Re­ gionalentwicklung (Kap. 6.2) und Mitarbeit in der Umweltbildung (Kap. 6.3). Um den spezifischen Beitrag der Historischen Geographie im weiten Feld der angewandten Kulturlandschaftsforschung (BHU 2010) hier heraus­ zustellen, werden die nachfolgenden Ausführungen auf die Arbeiten zur

Definition Historische Kulturlandschaft

Historischen Kulturlandschaft konzentriert. Darunter wird gemäß einer Ab­ sprache der Historischen Geographie mit Denkmalpflegern 2003 in Bonn ( KLEEFELD 2004) Folgendes verstanden: "Die historische Kulturlandschaft ist ein Ausschnitt aus der aktuellen Kulturlandschaft, der durch historische, ar­ chäologische, kunsthistorische oder kulturhistorische Elemente und Struktu­ ren geprägt wird." Die Historische Kulturlandschaft ist damit ein gedankli­

ches Konstrukt, das vor allem einer analytischen Fokussierung auf die Erfas­ sung, Erklärung und Bewertung des historischen Erbes in Landschaften dient, worin die Angewandte Historische Geographie ihre Kernkompeten­ zen sieht.

97

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege ------

6.1

Inventarisierungen und Regionalisierungen historischer Kulturlandschaften in Deutschland In der Praxis als Gutachter werden aufgrund rechtlicher Grundlagen (vgl. Kap.

6.1.1) vor allem zwei Aufgaben an die Historische Geographie mit

Blick auf die Analyse von Historischen Kulturlandschaften in Deutschland gestellt, nämlich Inventarisierungen (vgl. Kap. nalisierungen (vgl. Kap.

6.1.4).

6.1.2 und 6.1.3) und Regio­

6.1.1 Rechtliche Grundlagen in Deutschland Deutsches Raumordnungs­ gesetz

Im deutschen Raumordnungsgesetz (ROG) von

1998 wurde im § 2 (2) der

Grundsätze der Raumordnung erstmals ein explizites Erhaltungsziel in Be­ zug auf die "gewachsene Kulturlandschaften" prägenden Merkmale sowie die Kultur- und Naturdenkmäler formuliert

Uos 1999). Auch wenn darin ein 2006:

zu "statisches Landschaftsverständnis" kritisiert wurde (MATIHlESEN

289), konnte damit der Raumordnung und Regionalplanung die Möglichkeit gegeben werden, kulturell-gestalterische Aspekte in Abwägungsprozessen gleichwertig zu sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekten zu be­

rücksichtigen (ebd.). Gesetzlicher Auftrag zur Pflege

Im novellierten ROG von

2008 wird in § 2 (5) nun der Gedanke der Ent­

wicklung von Kulturlandschaften hervorgehoben: "Historisch geprägte und

gewachsene Kulturlandschaften sind in ihren prägenden Merkmalen und mit ihren Kultur- und Naturdenkmälern zu erhalten. Die unterschiedlichen Landschaftstypen und Nutzungen der Teilräume sind mit den Zielen eines harmonischen Nebeneinanders, der Überwindung von Strukturproblemen und zur Schaffung neuer wirtschaftlicher und kultureller Konzeptionen zu gestalten und weiterzuentwickeln. Es sind die räumlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Land- und Forstwirtschaft ihren Beitrag dazu leis­ ten kann, die natürlichen Lebensgrundlagen in ländlichen Räumen zu schützen sowie Natur und Landschaft zu pflegen und zu gestalten." Im Kom­ mentar dazu stellt RUNKEL (2010) heraus, dass damit für die Regionalplanung der Aspekt der Kulturlandschaften die gleiche Bedeutung erhalten solle, wie für die kommunale Bauleitplanung die Baukultur. Dazu gehöre u. a. die Be­ achtung der regionalen Siedlungsgeschichte.

Europäischer

Die Verwendung von "prägenden Merkmalen" im ROG ist von Bedeu­

Kontext der Kultur­

tung, da es sich bei "Merkmalen" nicht zwangsläufig um denkmal- oder na­

landschaftspoliti k

turschutzrechtlich geschützte Elemente handeln muss; denn diese werden gleich anschließend als "Kultur- und Naturdenkmäler" aufgeführt, die es wie die erwähnten Merkmale zu erhalten gilt. Dieses Erhaltungsziel steht im europäischen Kontext (WEIZENEGGER & SCHENK

2006). So wird schon in den

"Grundlagen einer europäischen Raumordungspolitik" von 1995 die Erhal­

tung gerade landschaftlichen Erbes als ein wesentlicher Aktionsbereich für

die Strategie nachhaltiger Entwicklung angesehen, und im Europäischen Raumentwicklungskonzept (EUREK) von 1999 wird die Rolle von "gewach-

98

Inventarisierungen und Regionalisierungen ------

senen Kulturlandschaften" dann stärker auf deren Entwicklung zugespitzt. Dort heißt es sinngemäß im Passus 134, dass die Natur und das Kulturerbe ein wirtschaftlicher Faktor seien, der für die Regionalenwicklung zuneh­ mend wichtiger werde. Grundsätzlich herrscht Übereinstimmung, dass Kulturlandschaften eine historische Dimension haben, so dass sich namentlich zu Denkmalpflege

und Naturschutz inhaltliche und fachliche Bezüge herstellen lassen. Die Pluralform "Kulturlandschaften" zeigt zudem an, dass es in Deutschland ab­ grenzbare Raumeinheiten geben sollte, die durch originäre historische Merkmale ausgezeichnet sind.

Diese Sicht- und Vorgehensweise wird bestätigt durch § 2 (1) Nr. 14 in der Fassung des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) von 2002 (s. unter http://bundesrecht.juris.de/bnatsch8-2009/index.html): "Historische Kul­ turlandschaften und -landschaftsteile von besonderer Eigenart, einschließ­

Historische Kulturlandschaften im Bundesnatur­ schutzgesetz

I ich solcher von besonderer Bedeutung für die Eigenart oder Schönheit ge­ schützter oder schützenswerter Kultur-, Bau- und Bodendenkmäler, sind zu erhalten." Bezogen auf frühere Fassungen dieses Gesetzes mussten BRINK und WÖBSE jedoch schon 1993 im Rahmen einer Untersuchung bei den Unteren Natur- und Landschaftsschutzbehörden feststellen, dass dieser Passus inhaltlich mangelhaft umgesetzt wurde. Eine der Ursachen ist in Unsicherheiten bei der Erfassung und Bewertung der "prägenden Merk­

male" und der Benennung von "Kulturlandschaften" zu sehen, zumal flä­ chendeckende Daten diesbezüglich für Deutschland bis heute noch nicht vorliegen und daher für jedes Planverfahren gesondert zu erheben sind. Es bleibt abzuwarten, ob die Formulierung in der derzeitigen Fassung des Bundesnaturschutzgesetzes vom 1.3.2010, nach der gemäß § 1 (4) "zur dauerhaften Sicherung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie des Erho­ lungswertes von Natur und Landschaft [ ... ] insbesondere Naturlandschaf­ ten und historisch gewachsene Kulturlandschaften, auch mit ihren Kultur-, Bau- und Bodendenkmälern, vor Verunstaltung, Zersiedelung und sons­ tigen Beeinträchtigungen zu bewahren" seien, zu größerer Klarheit führen wird.

Ähnliche Unsicherheiten bestehen auch gemäß § 6 des Umweltverträ­

Umweltverträglich­

glichkeitsprüfungsgesetzes (UVPG). Danach ist der Träger eines Vorhabens

keitsprüfungsgesetz

verpflichtet, dessen Auswirkungen auf die Umwelt bzw. auf Natur und Landschaft zu ermitteln, zu beschreiben und zu bewerten. Hierzu gehören

auch Kulturgüter (§ 2 UVPG). In Deutschland haben intensive Diskussionen stattgefunden, was darunter zu verstehen ist (UVP-GESELLSCHAFf 2009). In­ zwischen herrscht Konsens, dass "Kulturgüter" und "Kulturlandschaft" aufs Engste korrespondieren, wie die Definition von "Kulturgut" des Arbeits­

kreises "Kulturelles Erbe in der UVP" zeigt, die in Standardwerken Eingang gefunden hat: "Kulturgüter im Sinne des UVPG sind Zeugnisse mensch­ lichen Handeins ideeller, geistiger und materieller Art, die als solche für die Geschichte des Menschen bedeutsam sind und die sich als Sachen, als Raumdispositionen oder als Orte in der Kulturlandschaft beschreiben und lokalisieren lassen." In Bezug auf die historische Kulturlandschaft formulieren deutsche Ge­ setze explizit und verschiedene europäische Dokumente implizit zwei ana­

Gesetzlicher Planungsauftrag

lytische Aufträge (zusammenf. s. BAYERISCHES LANDESAMT FÜR UMWELT 2011):

99

6

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege -----•

flächendeckende Erfassung, Auswertung und Bewertung von histori­ schen Kulturlandschaftselementen und -strukturen als "prägende Merk­ male";



Markierung von historischen Kulturlandschaften als eine Form der Regi­ onalisierung der gesamten Fläche der Bundesrepublik Deutschland.

Beide Ansätze sind dadurch miteinander verbunden, dass Regionalisierun­ gen als zweckbestimmte Ausgliederungen relativ homogener Räume erfol­ gen können, die durch eine spezifische Kombination "prägender Merk­ male" bestimmt sind. Die "prägenden Merkmale" sind analytisch fassbar als historische Landschaftselemente und -strukturen. Erst durch diesen Rekurs auf die Objektebene werden Wendungen wie "historische" oder "gewach­ sene Kulturlandschaft" in der Planung umsetzbar, denn an den Objekten entzünden sich Nutzungskonflikte im Spannungsfeld von Nutzung, Schutz, Pflege und Weiterentwicklung. Die nachfolgenden Beispiele aus der Praxis sollen spezifische Beiträge der Historischen Geographie in diesem Feld ver­ deutl ichen.

6.1.2 Planungsbezogene Inventarisierungen historischer Kulturlandschaften Kulturlandschafts­

Kulturlandschaftskataster oder -inventare (BHU 2008) müssen sich - wie ge­

kataster oder -inventare

zeigt - in enger Absprache mit dem Auftraggeber an den rechtlichen Vor­ gaben, vor allem der Bundesländer als Träger der Kulturhoheit in Deutsch­ land, orientieren. Die nachfolgenden Beispiele belegen das: •

Mit Bezug auf das Bayerische Flurbereinigungsgesetz wurde in Bayern der Denkmalpflegerische Erhebungsbogen (DEB) entwickelt ( GuNZEL­ MANN et al. 1999). Er basiert auf der Methode der "Rückschreibung" (s.

Kap. 2.3), indem heutige Dorfstrukturen mit den Katasteraufnahmen des

19. Jh.s verglichen werden und darauf fußend Teile des Dorfraumes als "ortsbildprägend" benannt werden - selbst wenn sie nicht denkmalwür­ dig im Sinne des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes sind. Die Ergeb­ nisse werden nachrichtlich in Dorferneuerungsverfahren in Bayern ein­ gebracht. •

Mit Bezug auf die rechtlichen Vorgaben vor allem der Landesplanung und des Denkmalschutzes des Landes Nordrhein-Westfalen bauen die beiden Landschaftsverbände LVR

(Landschaftverband

Rheinland) und LWL

(Landschaftsverband Westfalen-Lippe) mit erheb I ichem Aufwand ein digi­ tales Informationssystem zu den Kulturlandschaften in diesem Bundes­ land auf: KuLaDig (Kulturlandschaft Digital); gemeint ist mit "Kulturland­ schaft" das räumliche kulturelle Erbe insgesamt. In erster Linie ist dies ein Fachinformationssystem für Fachbehörden wie die Bau- und Bodendenk­ malpflege. Deren bisher überwiegend verstreut und vielfach nur analog vorliegende Inventarisierungen und sonstigen Daten zum kulturellen Erbe sollen sukzessive in dieser Datenbank zusammengeführt werden. Die Qualität der eingespeisten Daten wird durch eine Redaktion gesichert. Zu­ gleich sollen jene Inhalte, die nicht vertrau I ich sind, der Öffentlichkeit zur Information über das kulturelle Erbe per Internet mit einer einfachen Suche sowie Navigation zugänglich sein. Die Verbindung zwischen Fachinfor-

100

Inventarisierungen und Regionalisierungen ------

mationssystem und Informationsplattform für allgemein Interessierte wird durch unterschiedliche Zugangsrechte in diese Systemwelt gesteuert. Während andere Systeme eher nach dem Wikipedia-Prinzip arbeiten (etwa beim "KLEKs - KulturlandschaftsElementeKataster"; vgl. BHU

2008: 154ff.), liegen die Alleinstellungsmerkmale von KuLaDig in der Re­ daktion, der Möglichkeit, einzelne Objekte in raum-zeitliche Beziehun­ gen zueinander zu setzen, eine einheitliche Begrifflichkeit (Thesaurus) zu

verwenden und die europäischen Richtlinien zur Standardisierung von In­ formationssystemen zu berücksichtigen sowie Schnittstellen zu anderen Datenbanksystemen zur Verfügung zu haben; PLÖGER (2009) hat dazu als Basis gleichsam eine Grammatik der historischen Kulturlandschaft vorge­ legt, indem er ein hierarchisches System von Objekten und Raumeinhei­ ten für ein GIS entwickelte. Die Vernetzung von Informationen aus ver­ schiedenen Datenbanksystemen wie dem Rheinischen Geschichtsportal

wird der umfassenden Recherche gerecht. KuLaDig ist dementsprechend kein objektorientiertes Kulturlandschaftsinventar, sondern mit seinen Ar­ beitsspeichern ein Werkzeug für unterschiedliche Arbeitsebenen, die ku 1turlandschaftliche Beziehungen untereinander herstellen sollen.

Solche Erfassungsprojekte begründen sich daraus, dass hinsichtlich der For­ men, des Ausmaßes und des Wertes des räumlichen kulturellen Erbes große Unklarheiten bestehen. Zwei in der Praxis erprobte Konzepte der Inventa­ risierung werden nachfolgend beispielhaft vorgestellt. Inventarisierungsbeispiell : Der Inventarisationsansatz nach Gunzelmann - Analytische Zerlegung des Komplexes "historische Kulturlandschaft"

Der von T HoMAs GUNZELMANN entwickelte Inventarisationsansatz ist in der

Thematik

Schlussbetrachtung seiner wegweisenden Dissertation von 1987 zusam­ mengefasst: Die Inventarisation historischer Kulturlandschaftselemente erfolgt zunächst über eine physiognomische Erfassung der Einzelelemente, da davon ausgegangen wird, dass die historische Kulturlandschaft nicht deduktiv als Gesamtheit erfasst werden kann, sondern nur induktiv über ihre einzelnen Bestandteile. Um die Inventarisierung zu operationalisieren, werden

einige Einschränkungen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht getroffen. Alle Elemente aus vor- und frühgeschichtlicher Zeit werden von der Betrachtung ausgeschlossen, da sie Objekte der archäologischen Bodendenkmalpflege sind. Weiterhin wird die Bausubstanz städtischer und ländlicher Siedlungen als Objekt der Baudenkmalpflege nicht berücksichtigt. Somit ist ein wesentliches Ziel der Gunzelmann'schen Arbeit gewesen,

Ziel der Arbeit

eine spezifisch historisch-geographische Objektgruppe herauszustellen, für welche die Boden- und Baudenkmalpflege nicht zuständig ist. Im Umkehrschluss führt das in Kulturlandschaftsinventaren zu einer Nichtberücksichtigung der Vor- und Frühgeschichte und historischen Gebäuden, sofern diese

institutionell z. B. in Denkmallisten bereits berücksichtigt sind. Insgesamt geht es um das Ziel, alle noch vorhandenen oder ablesbaren historisch-geographisch relevanten Elemente und Strukturen zu erfassen, zu bewerten

und in einer Gesamtschau in Planungsprozesse einzubinden, gleich aus welcher Quelle die Informationen stammen.

101

6

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege ------

Arbeitsschritte und

Zusammenfassend baut sich nach GUNZELMANN eine qualitätsvolle Dar­

Methoden

stellung der Kulturlandschaft in den Schritten auf, wie sie in Tabelle 6.1 auf­

gelistet wird. Dabei kommen idealerweise die in Tabelle 6.2 aufgeführten Methoden zum Einsatz. Daran schließt sich eine Gesamtschau der "histori­ schen Kulturlandschaft" an, in der die Einzelelemente und ihre Wirkungszu­ sammenhänge wieder miteinander vernetzt werden (zu Details s. GUNZEL­ MANN 2001). Tab.

6.1: Aufbau der Kulturlandschaftsinventarisation (GUNzELMANN 2001: 27). Aufbau der Kulturlandschaftsinventarisation

Grundlagen der Kulturlandschaft: Naturraum- Kulturlandschaftsgeschichte- historische Dorfstruktur- historische Flurstruktur- historische Flächennutzung- historisches Verkehrsnetz

Elemente der historischen Kulturlandschaft: Denkmäler- Bereich Siedlung- Bereich Landwirtschaft- Bereich Gewerbe­ Bereich Verkehr- Bereich Freizeit- Bereich Religion, Staat, Militär­ assoziative Kulturlandschaft

Gesamtschau der historischen Kulturlandschaft: Vernetzungen der Einzelelemente untereinander- Wirkungszusammenhänge zwischen den naturräumlichen Faktoren und den historischen Einflusskräften

Tab.

6.2: Methoden der Kulturlandschaftsinventarisation (nach GUNZELMANN 2001: 29). Methoden der Kulturlandschaftsinventarisation

Archivarbeit: Auswertung des Grundsteuerkatasters und des Extraditionsplans; Ein­ sicht in einschlägige Findbücher sowie Karten- und Plansammlungen im Staats- und Ortsarchiv

Literaturarbeit: Auswertung der orts- und regionalkundlichen Literatur; Auswertung der fachbezogenen historischen, geographischen und naturkundlichen Literatur

Behördenabfrage: Erhebung einschlägiger Planungsdaten bei Denkmalbehörden (Denkmalliste), Naturschutzbehörden, Vermessungsamt, Geologischem Landesamt, Landwirtschaftsamt, Wasserwirtschaftsamt

Bürgerbefragung: Befragung ortskundiger Personen wie Lehrer, Pfarrer, Heimatfor­ scher; Befragung mit der Kulturlandschaft verbundener Personen wie Landwirte oder Förster

Geländebegehung: Kartieren, Fotografieren, Beschreiben historischer Kulturland­ schaftselemente; Zuordnen nach Elementekatalog, verbale Würdigung

Inventarisierungsbeispiel 2: "Kulturlandschaftliche Substanzanalyse" nach BURGGRAAFF und KLEEFELD Thematik

102

Innerhalb eines Forschungs- und Entwicklungsvorhabens "Historische Kul­ turlandschaft und Kulturlandschaftselemente" konnten BURGGRMFF und KLEEFELD (1998) im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz Vorschläge zur Umsetzung des Belanges "historische Kulturlandschaft" nach BNatSchG (damals noch § 2 (1) Grundsatz 13, heute Grundsatz 14) im Sinne einer Handreichung entwickeln.

Inventarisierungen und Regionalisierungen Aus dem Methodenkatalog des Leitfadens soll hier die "kulturlandschaft-

6 Methode

liche Substanzanalyse" herausgegriffen und erklärt werden, da sich daran grundsätzliche Probleme wie die Anwendung von Wertmaßstäben auf bzw. die Umsetzung von Inventarisationen in Anleitungen von Erhaltungsgrundsätzen erkennen lassen (ebd.: 209 ff.) . •

Der erste Schritt zielt auf die Darstellung der naturräumlichen Rahmen­ bedingungen, um den jeweiligen Untersuchungsraum zu charakterisie­ ren.



Der nächste Schritt hat die Darstellung der kulturlandschaftlichen Ent­ wicklung

auf

der

Basis

einer

Kulturlandschaftswandelkarte

(vgl.

Kap. 6.1.4) zum Ziel, um Areale geringer und hoher kulturlandschaftli­ cher Dynamik zu erfassen. •

Als dritter Schritt findet eine Inventarisation aller Elemente einer histori­ schen Kulturlandschaft in einem Erfassungsbogen sowie einer Über­ sichtskarte ("Karte der historischen Kulturlandschaftselemente") statt. Be­ vor dies durch eigene Geländearbeit erfolgt, werden bereits kartierte Ele­ mente und Strukturen bei den zuständigen Behörden (Denkmal- und Naturschutzbehörden) abgefragt und in die Vorlage eingetragen. Die Kar­ tierung selbst erfolgt im Maßstab 1 : 10.000 auf der Grundlage der verklei­ nerten deutschen Grundkarte (1 : 5000). Auf dieser Vorlage werden die Elemente nach ihrer Erscheinung als Punkt, Linie oder Fläche eingetra­ gen.



Nun muss eine Bewertung der Kulturlandschaft und ihrer Elemente vor­ genommen werden. Die Bewertung geschieht anhand der im jeweiligen Auftrag als zentral bestimmten Parameter. Entsprechend der Komplexität von "historischen Kulturlandschaften" sind das solche aus der Denkmal­ pflege, dem Naturschutz und der Kulturlandschaftspflege. In folgendem Exkurs sind mögliche Parameter ungewichtet zusammengestellt. Welche davon mit welcher Gewichtung zum Tragen kommen, ist durch den rechtlichen Rahmen bestimmt, in dem die Untersuchung stattfindet. Ungewichtete Zusammenstellung von Bewertungsparametern historischer Kul­ turlandschaftselemente und -strukturen aus verschiedenen Quellen: •

Der historische Wert bzw. Zeugniswert orientiert sich am Alter des Elements und seiner Aussagekraft während der Entstehungszeit.



Der künstlerische Wert dient dazu, den Wert einer kunstgeschichtlichen (ar­ chitektonischen) und/oder kunsthandwerklichen Qualität zu bestimmen.



Der Erhaltungswert wird durch den Grad seines formalen äußeren Erhaltungs­ zustands (ursprünglicher, veränderter, erweiterter, umgestalteter und sogar ver­ fremdeter sowie verfälschter Zustand) und nach dem Grad seiner Funktionalität (Funktionswandel oder -verlust) bestimmt.



Der Seltenheitswert: Bei der Bestimmung der Seltenheit eines Elements oder einer Struktur müssen sowohl die quantitativ fassbare Zahl als auch die qualita­ tive Bedeutung berücksichtigt werden.



Beim regionaltypischen Wert (Identität) geht es um die Frage, ob das Element typisch für eine Region ist und einen identitätsstiftenden Wert besitzt.



Der Wert der räumlichen Zusammenhänge und Beziehungen (landschaftliche und städtebauliche Bezüge) soll anzeigen, ob ein Element einen Teil eines größeren Ensembles oder Bereichs bildet oder aber für sich steht.



Der Wert der sensoriellen Dimensionen bezieht sich vor allem auf Eigenart, Vielfalt und Schönheit von Natur und Landschaft gemäß BNatSchG § 1,

103

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege -----Abs. 1, Satz 4, die in vielen Regionen maßgeblich durch historische Kultur­ landschaftselemente und -strukturen geprägt werden. •

Der Ausstrahlungswert oder -effekt bewertet die Wirkung eines Kulturland­ schaftselements z. B. in offenen, halboffenen oder geschlossenen Kulturland­ schaften.



Der Nutzungswert bestimmt die Bedeutung der historischen Kulturlandschafts­ elemente, -strukturen und -komplexe vor allem für ökonomische Zielsetzun­ gen.



Dem Schutzstatus nach können Kulturlandschaftselemente faktisch durch Denkmal-, Landschafts- und Baugesetze geschützt werden, also einen unter­ schiedlichen Wert haben.



Der historisch-geographische Wert bezieht sich nicht auf Einzelelemente, son­ dern insbesondere auf flächige Kulturlandschaftsbereiche und -bestandteile.

Bewertungsansätze

Wiederholt wurden solche Kriterien in einfache numerische Raster (entwe­ der Vergabe von Punkten oder Einteilung in Kategorien wie "sehr gut", "gut" oder "schlecht") umgesetzt (vgl. GUNZELMANN 1987). Der leichten Nachvoll­ ziehbarkeit halber ist das ein gangbarer Weg. Es wird damit aber eine Exakt­ heit vorgetäuscht, die nicht gegeben ist. BURGGRAAFF und KLEEFELD (1998) ziehen daher qualitative Bewertungsansätze in Form von Beschreibungen als angemessener vor.

Ableitung von

Schließlich sind auf der Basis der Inventarisierungen Erhaltungsgrund­

planerischen

sätze im Hinblick auf Schutz, Pflege und behutsame Weiterentwicklung der

Maßnahmen

Landschaftsstrukturen und Kulturlandschaftselemente zu diskutieren. Im Einzelnen sind das: •

Schutzmaßnahmen: Dabei werden die betroffenen Landschaftstei le aus der heutigen Nutzung herausgenommen, wozu es u. U. notwendig ist, historische Nutzungen wieder aufleben zu lassen;



Pflegemaßnahmen: Pflege bedeutet, Verbindungen zu heutigen Erforder­ nissen durch adäquate Bewirtschaftung und Nutzung herzustellen, wobei das Erhalten der historischen Substanz im Vordergrund steht;



Entwicklungsziele: Für den Gesamtraum der betreffenden historischen Kulturlandschaft werden "Zentralwerte" benannt und mit einem regiona­ len Leitbild verbunden; Veränderungen der Substanz des Elements oder der Struktur sind denkbar, wenn sie dem regionalen Gesamtziel dienen.

Welcher Weg eingeschlagen wird, hängt ab von der Zielsetzung der Erfas­ sungs- und Analysearbeiten.

6.1.3 Idealtypische Ansprüche an Kulturlandschaftsinventare Standards zum

Versucht man aus der Vielzahl von Ansätzen zum Aufbau von Kulturland­

Inventarisierungs­

schaftsinventaren allgemeine Schlüsse zu ziehen, so sind folgende Stan­

aufbau

dards zu definieren: •

Flächige und vollständige Erfassung der kulturlandschaftsprägenden Ele­ mente und Strukturen bei genauer Lokalisation derselben, was einen ent­ sprechend großen Maßstab verlangt (

=

1 : 25.000). Dabei heißt es zuerst

aus analytischen und praktischen Gründen, die Kulturlandschaft in ihre

104

Inventarisierungen und Regionalisierungen ------

Einzelbestandteile punktueller, linienhafter und flächiger Art zu zerlegen. Da die Kulturlandschaft aber ein Kontinuum ist, bedarf es anschließend der Bewertung der Einzelbefunde in ihrem kulturlandschaftlichen Kon­ text und der Integration zu größeren kulturlandschaftlichen Einheiten un­ terschiedlicher Dimension je nach Planungsbedarf (vgl. nachfolgend Kap. 6.1.5 sowie Kap. 6.2) . •

Vernetzung aller relevanten raumbezogenen Daten: Da schon eine Viel­ zahl von kulturlandschaftsbezogenen Daten z. B. aus dem Naturschutz und der Denkmalpflege vorliegt, müssen aus der Sicht der Kulturland­ schaftpflege nur diejenigen nachträglich aufgenommen werden, die bis­ her nicht systematisch erfasst wurden - das sind vor allem Elemente und Strukturen, die man als historische Kulturlandschaftsrelikte bezeichnen kann. Diese Daten sind dann mit anderen räumlichen Daten zu verknüp­ fen, soweit sachlich als sinnvoll ermessen.



Das Inventar sollte auf einem Geographischen Informationssystem (GIS) basieren, um den Import und Export von Daten aus schon vorhandenen Datenbanken und GIS und deren ständige Aktualisierung zu ermögli­ chen.

Insgesamt steht dahinter die Hoffung, dank eines Inventars bisher verstreute

Nutzen eines

und zudem häufig nur analog vorliegende Informationen zur historischen

Inventars

Kulturlandschaft zusammenzufassen, um planerische Entscheidungsprozesse zu verkürzen sowie Aussagen besser zu begründen und zu koordinieren. Die Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange werden dadurch aber nicht ersetzt.

6.1.4 Regionalisierungen von historischen Kulturlandschaften In der gutachterlichen Praxis nehmen in den letzten Jahren Forschungsauf­

Zwei Arten der

träge zu, welche die Markierung, Kennzeichnung, Gliederung und kurze

Regionalisierung

Charakterisierung von historischen Kulturlandschaften aus Expertensicht, also mittels eines Top-down-Ansatzes, zum Ziel haben (im Überblick s. HEI­ MANN

2003). Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Arten von Regionalisie­

rungen unterscheiden: •

Typisierungen: Ein Gebiet wird in historische Kulturlandschaften unter­ gliedert, indem anhand bestimmter Merkmale und Kriterien relativ homo­ gene Räume konstruiert werden, also z. B. Agrar- oder Stadtlandschaften in einem funktionalen, Altsiedelländer in einem historisch-genetischen, Heckenlandschaften in einem physiognomischen Sinne.



Individualisierungen: Es werden Gebiete herausgearbeitet, die sich durch ihre Eigenart von anderen abheben. Es werden also räumliche Individuen konstruiert und oftmals mit entsprechend individuellen Namen versehen, z. B. das "Alte Land".

Für beide Ansätze gilt: Regionalisierungen ohne eine Orientierung auf einen

Leitfragen für

konkreten Zweck hin sind akademische Spielereien. Daher ist je nach Be­

Regionalisierungen

trachtungsmaßstab die Hervorhebung der jeweiligen Aussageebenen ent­ scheidend und eine Offenlegung der zugrunde gelegten Kriterien zur Mar-

historischer Kulturlandschaften

105

6

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege ------

kierung von historischen Kulturlandschaften notwendig. Dabei ist insbeson­ dere zu fragen: •

Ist die Zielsetzung klar? Welcher konkrete Auftrag steht dahinter und auf welches Gesetz o. ä. bezieht sich die zugrunde gelegte Definition von historischer Kulturlandschaft?



Gewährleistet die gewählte Kulturlandschaftsgliederung hinsichtlich Maßstab und Größe der ausgewiesenen historischen Kulturlandschaften den angestrebten Zweck? Werden "Kulturlandschaften" lediglich mar­ kiert oder trennscharf (etwa durch Grenzlinien) ausgewiesen und ist die Darstellungsweise dem jeweils angemessen?



Wird typologisch vorgegangen oder versucht man, "Kulturlandschaftsin­



Konstruiert man historische Kulturlandschaften "von oben und außen"

dividuen" zu benennen? (gleichsam aus der Vogelperspektive) oder"von innen" her, z. B. über das Handeln von Akteuren? Welche Kriterien legt man der Bildung von rela­ tiv homogenen Räumen zugrunde? • •

Ist die Vorgehensweise insgesamt systematisch, transparent und logisch? Erfüllen die kartographischen Darstellungen Kriterien wie Übersichtlich­ keit und graphische Stimmigkeit?



Werden in der - unbedingt notwendigen - textlichen Beschreibung die abgegrenzten Einheiten treffend charakterisiert, wird das verwendete Ma­ terial offengelegt und werden schließlich Beschreibungen und Wertun­ gen deutlich voneinander getrennt dargestellt?

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen werden nachfol­ gend drei in der planerischen Praxis bewährte Methoden zur Ausweisung von historischen Kulturlandschaften vorgestellt. Regionalisierungsbeispiell : Kulturlandschaftswandelkarten für das Gebiet des ehemaligen Preußen Chronologische

Das Ziel dieser Methode ist die chronologische Darstellung des Entwick­

Darstellung des

lungsgangs der Kulturlandschaft aufgrund von Vergleichen der Topogra­

Entwicklungsgangs

phischen Karte 1 :25.000 (TK 25) in der ehemaligen preußischen Rhein­ provinz (nach BURGGRAAFF 1993). Die Karten liegen für Zeitschnitte von

1810/1840 bis 1950/1990 vor. Die Entwicklung der Kulturlandschaft wird auf dieser Basis jeweils auf die jüngste Situation bezogen chronologisch dargestellt. In diesem Prozess gehen diejenigen Elemente verloren, die ab­ gegangen oder zwischen den gewählten Zeitschnitten entstanden und wie­ der vergangen sind. Umso deutlicher treten aber die Areale ohne Ände­ rungen seit 1810/40 hervor, die damit auch die höchste Höffigkeit (d. h. er­ wartbares Vorkommen) zum Auffinden von historischen Elementen und Strukturen aufweisen. So werden historische Kulturlandschaften kontroll­ iert und nachvollziehbar konstruiert. Wenn die Quellenlage sehr gut ist, kann das Verfahren auch auf Zeiten vor 1810 angewandt werden (vgl. Abb. 6.1, Kap. 6.2.1). Ergänzende

Der Effekt des"Verschwindens" von Elementen kann durch die Anfertigung

Landschafts­

sog. Landschaftszustandskarten aufgefangen werden, die - ebenfalls auf

zustandskarten

106

Grundlage der TK 25 - spezielle Altnutzungen (Grünland, Nadelwald,

Inventarisierungen und Regionalisierungen ------

Heide etc.) oder auch Einzelelemente (Gräben, Wege etc.) darstellen. Es kann so z. B. die historische Ausdehnung von Heideflächen oder WaIdarea­ len erfasst werden, was im Zusammenhang mit Naturschutzmaßnahmen wünschenswert sein kann. Somit erscheint die Kulturlandschaftswandelkar­ tierung nicht nur als ein Mittel zur Ausgliederung von historischen Kultur­ landschaften, sondern beschreibt auch Areale mit einer hohen Wahrschein­ lichkeit, historische Elemente und Strukturen aufzufinden.

Regionalisierungsbeispiel 2: "Kulturlandschaftliche Steckbriefe" im Rahmen der Regionalplanung in Bayern

In einem Gemeinschaftsproj ekt der Bayerischen Landesämter für Umwelt­ schutz (LfU) und Denkmalpflege (BLfD) wurde die "Historische Kulturland­

schaft in der Region Oberfranken West" von 2002 bis 2003 untersucht (BÜD­ NER & LEICHT

Erhebungs- und Bewertungs­ methodik

2008). Dazu wurde eine auf die regionale Planungsebene

(Maßstab 1 : 100.000) bezogene Erhebungs- und Bewertungsmethodik ent­ wickelt. Die Region Oberfranken West mit den kreisfreien Städten Bamberg und

Vorgehensweise

Coburg sowie den Landkreisen Kronach, Coburg, Lichtenfels, Bamberg und Forchheim bot sich als Beispielregion an, da sie wegen ihrer naturräumli­ chen Vielgestaltigkeit und ihrer vielschichtigen territorialhistorischen Ent­ wicklung einen außerordentlichen Reichtum an historischen Kulturland­

schaftselementen und Kulturlandschaftsräumen aufweist. Die Vorgehens­ weise war folgende: •

Auf der Rahmenebene erfolgte die Ermittlung der naturräumlichen und kulturräumlichen Grundlagen, welche als Suchfenster für die historischen Kulturlandschaftselemente dienten.



Auf der Obj ektebene wurde die Erfassung und Bewertung historischer Kulturlandschaftselemente/-elementkomplexe vorgenommen. Die erho­ benen Daten wurden in eine Datenbank und in ein geographisches Infor­ mationssystem eingebunden .



Auf der Raumebene wurden über den methodischen Schritt der Gesamt­ schau (Zusammenschau von Naturvorgabe und Kulturleistung) flächen­ deckend Kulturlandschaftsräume beschrieben, abgegrenzt und bewertet.



Auf der planerischen Ebene konnten Vorschläge zur Sicherung und Ent­ wicklung des Schutzgutes über eine Schutzgutkarte "Historische Kultur­ landschaft" im regionalen Planungskontext gemacht werden.

Regionalisierungsbeispiel 3: "Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen"

2007 waren die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland vom

Fachbeitrag

für Raumordnung zuständigen Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und

zum Landes­

Energie Nordrhein-Westfalen beauftragt worden, einen kulturlandschaftli­

entwicklungsplan

chen Fachbeitrag zum Landesentwicklungsplan (LEP) vorzulegen (in der Druckfassung mit beiliegender CD zur Methodik der Gliederung und zur Kulturlandschaftsgeschichte von Nordrhein-Westfalen vgl. LANDSCHAFTSVER-

107

6

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege ------

BAND WESTFALEN-LIpPE 2007; zum Download http://www.lvr.de/kultur/kultur

landschaft/teiI1.pdf). Deren Bearbeiter folgten bei der inhaltlichen Bestim­ mung des Begriffs "historischer Kulturlandschaft" der oben genannten Defi­ nition aus dem Jahr 2003. Aufbau des

Der Fachbeitrag enthält drei wesentliche Teile: eine flächendeckende

Fachbeitrags

Gliederung in Kulturlandschaftsräume, landesweit und regional bedeut­ same Kulturlandschaftsbereiche sowie raumplanerische Leitbilder und Ziele. Der Ansatz der Bearbeiter des Fachbeitrags geht von einer kulturhis­ torischen Betrachtungsweise aus. Ziel für die kulturlandschaftliche Gliede­

rung des Fachbeitrags war eine flächendeckende Aussage in Raumeinhei­ ten auf einer regionalen Ebene, die sie für Landes- und Regionalplanung

sowie großflächige Fachplanungen anwendbar macht. Der jeweilige Raum sollte identifiziert, beschrieben, bewertet und markiert werden. Inhaltliche Kriterien orientierten sich an der besonderen Eigenart eines Raumes, die

durch naturräumliche Gegebenheiten und die kulturlandschaftliche Ent­ wicklung geprägt wird, welche sich unter siedlungsgeschichtlichen, histo­ risch-territorialen, kirchlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen und Ein­ flüssen in Raumnutzungsmustern, Siedlungsstrukturen, Zeugnissen regi­ onaler Baukultur und historischer Hauslandschaften, der Ausstattung mit Kulturdenkmälern und denkmalwerten Strukturen sowie dem Landschafts­ bild zeigt. Ausgliederung von

Neben der kartographischen Darstellung wurde zu jeder Raumeinheit

Kulturlandschafts­

eine charakterisierende Beschreibung mit den wesentlichen historisch ge­

räumen

prägten Orten und archäologischen Bereichen formuliert. Diese Gliederung des Landes gewährleistet für den Belang der "gewachsenen Kulturland­ schaft" in der Raumordnung eine flächendeckende Aussagekraft, eine wich­ tige Voraussetzung und Grundlage zur Berücksichtigung im Landesentwick­ lungsplan und in den nachfolgenden Raumordnungs- und Planungsebenen und ihren Instrumenten. Letztendlich konnten so 32 Kulturlandschaftsräume typisiert und im Maßstab 1 : 200.000 markiert werden. Die Bearbeiter des Fachbeitrags ent­ schieden sich für die Wiedergabe einer Linie, die in Abhängigkeit vom Maß­ stab von Planern als Saum gelesen wird.

Kulturlandschafts­

In einem weiteren Arbeitsschritt wurden regionale Kulturlandschaftsbe­

bereiche von

reiche von besonderer historischer Bedeutung im Sinne einer historischen

besonderer Bedeutung

Kulturlandschaft herausgearbeitet. Besonders beachtet wurden neben der Raumrelevanz des Bereichs der historische Zeugniswert, der Erhaltungszu­ stand und die Wahrnehmungsmöglichkeit, die Dichte der räumlichen Zu­ sammenhänge und Beziehungen, denn die Kulturlandschaftsbereiche sind

oft besonders typisch für eine Entwicklung oder von besonderer Eigenart, was sie unterscheidbar macht ihnen einen eigenen Charakter gibt. Ziel ist es, die 161 Kulturlandschaftsbereiche, davon 29 von landesweiter Bedeu­ tung, planerisch als Vorrang- oder Vorbehaltsgebiete im Landesentwick­ lungsplan darzustellen; so sollen unvereinbare Nutzungen ausgeschlossen

und die kulturlandschaftlichen Belange bei erforderlichen Abwägungen be­ sonders berücksichtigt werden. Regionalisierungen

Zusammenfassend sind alle hier aufgeführten historischen Kulturland­

durch Akteurs­

schaften Regionalisierungen durch Akteursübereinkunft - mithin gedankli­

übereinkunft

108

che Konstrukte -, deren Tauglichkeit sich im jeweiligen politisch-adminis-

Inventarisierungen und Regionalisierungen ------

trativen Bereich bewähren muss. Je nach Zweck und Maßstabsebene kom­ men dabei unterschiedliche Aspekte zum Tragen.

6.1.5 Gliederung von historischen Kulturlandschaften nach Betrachtungs- und Planungsebenen Wie der Zweck und die rechtlichen Grundlagen die Ausgliederung von his-

Hierarische Listung

torischen Kulturlandschaften bestimmen, zeigt nachfolgender Vorschlag einer hierarchischen Listung von historischen Kulturlandschaften nach Betrachtungs- und Planungsebenen für Deutschland (BuRGGRAAFF & KLEEFELD

1998) Großräumige Kulturlandschaften sind übergeordnete Kulturlandschaften über Landesgrenzen hinweg (z. B. die Eifel): •

allgemeine, den Gesamtraum betreffende, bewertende Aussagen;



auf diese Betrachtungsebene bezogene Leitbilder.

Kulturlandschaftseinheiten sind überregionale Landschaften der mittleren Ebene, in denen eine oder wenige, aber dann meistens miteinander zusam­ menhängende Nutzungen und funktionelle Aktivitäten - verbunden mit der naturräumlichen Beschaffenheit - dominieren und dadurch einen Raum prägen: •

Schutzebene



allgemeine flächenbezogene Bewertungen;



auf diese Betrachtungsebene bezogene Leitbilder.

=

Naturparke;

Kulturlandschaftsbereiche sind zusammengehörige sowie zusammenhän­ gende Bestandteile und Elemente: •

Schutzebene



flächen- und strukturbezogene Bewertungen;



Entwicklungsziele.

=

Landschafts- und größere Naturschutzgebiete;

Kulturlandschaftsbestandteile sind nach Nutzung und Funktionsbereichen zusammengehörige Kulturlandschaftselemente und als solche strukturen­ bildend: •

Schutzebene

=

Naturschutzgebiete, größere Denkmalbereiche (Kultur-

landschaftsschutz); •

konkrete Bewertungen;



konkrete Entwicklungsvorschläge.

Kulturlandschaftselemente werden als Punkte, Linien und Flächen erfasst, um sie für ein GIS passfähig zu machen, sowie nach persistenten Elemen­ ten und Relikten unterschieden (vgl. Kap. 2.6). Der Bearbeitungsmaßstab

I iegt bei 1 : 10.000 und größer, damit die Ergebnisse z. B. auf der Planungs­ ebene von Landschafts-, Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, auf der Schutzebene von Denkmälern, Denkmalensembles und kleinen Denkmal­ bereichen oder Naturwaldzellen im Sinne des Naturschutzes zu verwerten sind.

109

6

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege ------

6.2

Kulturlandschaftspflege als diskursiver Weg zum planerischen Umgang mit historischen Kulturlandschaften

Entwicklung aus

Das Konzept der Kulturlandschaftspflege wurde als ein offener und dynami­

Historischer

scher Ansatz zum bewussten Umgang mit vom Menschen gemachten

Geographie

landschaftlichen Potenzialen maßgeblich in der Historischen Geographie

entwickelt

(SCHENK et al. 1997). Es ist ein Reflex auf die Wahrnehmung eini­

ger Entwicklungen der Kulturlandschaft in Mitteleuropa (Kap. 6.2.1) sowie auf spezifische rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa (Kap. 6.2.2) und wurde des Weiteren schon mehrfach in Modellvorhaben erprobt und umgesetzt (Kap. 6.2.3 und 6.2.4).

6.2.1 Tendenzen der Kulturlandschaftsentwicklung in Mitteleuropa und deren Wahrnehmung Entwicklungs­ tendenzen

In Mitteleuropa lassen sich derzeit folgende Entwicklungstendenzen der Kulturlandschaften fassen und in die Zukunft fortschreiben: •

eine zunehmende Ausdifferenzierung in stark beanspruchte "Schmutzge­



eine beschleunigte Aufgabe landwirtschaftlicher Nutzflächen gerade in

biete" und kontrollierte "Schutzgebiete"; den landschaftlich reich gegliederten Mittelgebirgsregionen und den Al­ pen; •

eine weitere Ausdehnung von Siedlungsflächen - mit den Folgen einer zunehmenden Versiegelung des Bodens sowie der Zerschneidung und Verinselung von Biotopen - vor allem in den Verdichtungsräumen bei gleichzeitigem Rückgang der Bevölkerung und einer Rücknahme von In­

frastrukturen besonders in ländlich-peripheren und altindustrialisierten Regionen, was zu Substanzverlusten mangels Nutzung führen kann; •

damit einhergehend eine radikale Veränderung der bis heute erhaltenen Bilder von Kulturlandschaft mit Vereinheitlichung von Orts- und Land­ schaftsbildern.

Ausbildung glokaler

Dahinter stehen Prozesse, die sich nicht mehr primär aus regionalen oder

Kulturlandschaften

gar lokalen Bezügen, sondern aus Anforderungen bisweilen globaler wirt­ schaftlicher Zusammenhänge begründen. Das permanent sich wandelnde Ergebnis sind "glokale Kulturlandschaften" (SoYEz2003), die in ihrer Gestalt

wie in ihrem schnellem Wandel globalen Dynamiken unterliegen und im­ mer weniger lokale Eigenheiten in sich tragen. Bedrohungen historischer Kulturlandschaften

Viele sehen diese Entwicklung mit Unbehagen und formulieren Ängste

(AKADEMIE FÜR RAUMFORSCHUNG UND LANDESPLANUNG 2001; BUNDESAMT FÜR BAUWESEN 2008). Dabei wird weniger

um die "Zukunft der Kulturlandschaft"

der Wandel an sich beklagt, als vielmehr die Schnelligkeit und oftmalige Unumkehrbarkeit der die Kulturlandschaft verändernden Prozesse, denn

sie werden als Bedrohung der noch immer reichlich vorhandenen histori­ schen Substanz in unseren Landschaften gedeutet, nämlich durch:

110

Ein diskursiver Weg zum planerischen Umgang ------



Zerstörung von lebensräumen von Flora und Fauna, da sich eine große Zahl unserer heute in Mitteleuropa

U-fö rm iges Prof i l ei n es H o hl wegs mit Lössstellwänden

� � L-.J Sohlenerosion und witterungsbedingte Absprengung von Lössschollen

heimischen Pflanzen und Tiere auf die spezifischen Bedingungen historischer Ku Iturlandschaften eingestellt hat oder nur dort überleben kann - man kann somit von einem floristischen und fau­ nistischen Gedächtnis der Arten spre­ chen, das in historischen Umweltbe­ dingungen begründet ist; Abbildung

6.1 zeigt beispielhaft das biotische Po­

Hohlweg nach Ein­ tiefung und Bildung von Hangschutt

tenzial eines Hohlwegs; •

Verarmung von landschaften in ästhe­

wei t e r e Abspr engung von Lössschollen durch Pflanzenwurzeln u n d Verwitterung, Anhäufung von Hangschutt üb er die gesamte Wandhöhe

tischer und erlebnisorientierter Sicht, da nivellierte "Standardlandschaften" geringe Erlebnisgehalte bieten, womit sie auch touristisch, also ökonomisch,

wespenbussard

unattraktiv werden; •

Verlust des Quellenwertes von Land­ schaftselementen und -strukturen für die Biodiversitäts-, Umwelt- und Kli­ maforschung;



Verschwinden

von

8

e �

Hermelin

nZia

Identifikations­

möglichkeiten im Sinne der Veranke­ rung regionaler Identität und histori­ schen Bewusstseins an gewachsenen räumlichen Strukturen und Elementen, besonnt

was nicht nur für ländliche Räume, sondern sei bstverständ Iich auch für städtische Räume gi It; •

Verluste in den räumlichen Umgebun­ gen von Kultur- und Naturdenkmälern

"Lebens raum Hohlweg"

Abb. 6.1: Biotische Aspekte eines Hohlwegs (eigener Entwurf nach verschiedene Quellen).

und deren landschaftliche Beziehungen. Die skizzierten Prozesse und deren Wahrnehmung bilden die Basis für die seit Anfang der 1990er-Jahre erkennbare Konjunktur der Rede von Kultur­ landschaft in den Raumwissenschaften.

6.2.2 Normativer Charakter von Ku Iturlandschaftsverständnissen (vor allem in der räumlichen Planung) Der Gesetzgeber reagiert auf die skizzierten Diskurse in Form von Gesetzen, Verordnungen und Leitbildern auf nationaler und europäischer Ebene. Auf

Unbestimmter Rechtsbegriff

der Bundesebene sind die Passagen im schon erwähnten BNatSchG und ROG (vgl. Kap. 6.1.1) entscheidend. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Kulturlandschaft ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Daraus lässt sich zwar

111

6

6

Angewandte Historische Geographie und Kulturlandschaftspflege ------

ein grundsätzlicher Auftrag von Administrationen zur Beschäftigung damit ableiten, aber die inhaltliche Füllung erfolgt meist erst im konkreten Fall durch Abstimmungen unter den Beteiligten. Leitbild der

Mit Blick auf das ROG liegen aber Konkretisierungen von Kulturland­

Raumordnung

schaft vor, denn im Leitbild 2 "Ressourcen bewahren, Kulturlandschaften gestalten" der Leitbilder der Raumordnung von 2006 (MKRO 2006: 18) wer­ den Kulturlandschaften als "wichtige qualitative Ergänzung traditioneller Raumentwicklungspolitik" verstanden, namentlich "als eine Stärkung der Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit der Raumordnung zur überfachli­ chen und überörtlichen Abstimmung und Koordination verschiedener Pla­ nungen". Konzepte zur Gestaltung von Kulturlandschaften bedürften eines gesellschaftlichen Dialogs, in dem Kulturlandschaftsgestaltung als erleb­ bare Eigenart, der "Förderung der regionalen Identifikation der Bewohner mit ihrem Umfeld" diene. Daher sei eine "Integration der Kulturlandschafts­ gestaltung in regionale Entwicklungskonzepte" zu fordern und Formen "des Regionalmanagements und regionaler Marketingstrategien" müssten entwi­ ckelt werden (ebd.: 21). Damit verbindet sich ein Gestaltungsauftrag an die räumliche Planung, der Kulturlandschaften als Handlungsebene nicht ein­ zig auf historische Kulturlandschaften beschränkt, sondern als Qualitäts­ anspruch für alle Raumtypen versteht, mithin für die gesamte Fläche Deutschlands.

Europäische Land­

Die bundesdeutschen Initiativen stehen im europäischen Kontext ( WEI­

schafts konvention

ZENEGGER & S CH E NK 2006), in den auch die "European Landscape Conven­

tion" (ELC) des Europarates von 2000 einzuordnen ist. Das englische land­

scape lässt sich dabei am besten mit "Kulturlandschaft" ins Deutsche über­ setzen, denn "landscape means an area, as perceived by people, whose character is the result of the action and interaction of natural and/or human factors" (http://conventions.coe.intfTreaty/enfTreaties/Html/176.htm). (Kul­ tur-)Landschaft sollte demnach auch nicht allein den Experten überlassen werden. Zudem wird in diesem Passus verdeutlicht, dass in der ELC (Kul­ tur-)Landschaft als soziale Konstruktion aus Diskursen über Kulturland­ schaft zu verstehen ist, welche die Bürgergesellschaft zu dieser Thematik führen sollten (J ONES & STENSEKE 2010). WeIterbelandschaf­

Die Diskussion um den Wert und die Erhaltung von Kulturlandschaften

ten der UNESCO

wird auch auf globaler Ebene geführt, seit in die Liste des Welterbes der UNESCO auch Kulturlandschaften aufgenommen wurden ( DROSTE et al. 1995). Seit 1992 werden von der UNESCO Kulturlandschaften definiert als •

künstlerisch gestaltete Landschaften: Unter diese Kategorie fallen die vom Menschen geschaffenen Gärten und Parkanlagen. Solche Land­ schaften waren auch zuvor schon in die Welterbeliste integriert worden, so z. B. der Schlosspark von Versailies.



fossile Landschaften: Hierbei handelt es sich sowohl um vergangene als auch um sich weiterentwickelnde Landschaften, die ihren unverwechsel­ baren Charakter dem Umgang des Menschen mit der Natur verdanken. Diese können sowohl sozial, ökonomisch, administrativ als auch religiös beeinflusst sein. Ein Beispiel sind die Reisterrassen der philippinischen KordilIeren.



assoziative Landschaften: Zu dieser Kategorie gehören diejenigen Land­ schaften, deren Wert durch religiöse, spirituelle, künstlerische und ge-

112

Ein diskursiver Weg zum planerischen Umgang ------

schichtliche Assoziationen bestimmt wird. Der Nachweis von materieller Kultur tritt hierbei in den Hintergrund und kann sogar ganz fehlen. Ein Beispiel hierfür ist der Tongariro National Park in Neuseeland; das MitteI­ rheintal als Welterbelandschaft in Deutschland vereint die beiden letztge­ nannten Aspekte. Der jeweils aktuelle Bestand an Welterbelandschaften kann eingesehen werden auf http://www.unesco.de/welterbe.html. Fasst man die aktuellen Verständnisse von Kulturlandschaft in der räumli-

Verständnisebenen

chen P lanung Deutschlands zusammen, so ergibt sich eine Spannweite von eher essentialistisch-konservierenden bis hin zu tendenziell konstruktivistisch-reflexiven Kulturlandschaftsverständnissen, die weit über das Verständnis von Historischer Kulturlandschaft hinausgehen (für folgende Ausführungen s. SCHENK 2008). Da die Historische Geographie in diese Diskussionen eingebunden ist und sich folglich anderen Verständnissen stellen muss, sollen diese kurz umrissen werden. Gemeinsam ist den jeweiligen Kulturlandschaftverständnissen eine grup-

Normative Aspekte

penspezifische normative Aufladung bezüglich des kulturellen Wertes von Kulturlandschaften, was innerhalb der jeweiligen Gruppen identitätsstiftend wirkt. Diese spezifischen Kulturlandschaftsverständnisse unterscheiden sich aber oft grundlegend in ihrer institutionellen Rückbindung an Fachpolitiken und wissenschaftliche Disziplinen, aus denen rechtliche und fachliche Begründungen für den Wert von Kulturlandschaften und entsprechende planerisch-methodische Zugänge dazu abgeleitet werden (vgl. Abb.6.2).

Kulturlandschaft in Politik und Praxis

in der Wissenschaft

Verständnisse von Kulturlandschaft

Analytisch-methodische Zugänge

essentialistisch/holistisch: "Mehr als die Summe �n Einzelelementen un ' - trukturen"

tz)-

Bau- und Bodend I