Praktische Psychiatrie 9783111473079, 9783111106212


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German Pages 119 [120] Year 1957

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Table of contents :
Vorwort
INHALTSÜBERSICHT
Einleitung Und Historische Überschau
Aufnahme - Situation
Visiten - Situation
Moralische Therapie
Somatische Therapie
Arbeits -Therapie
Beschäftigungs -Therapie
Milieu -Therapie
Hospitalisation — Anstaltsdemenz
Familienpflege — Außenfürsorge
Juristische Einweisungsformalitäten
Pflegschaft Und Vormundschaft
Wahlrecht
Verminderte Zurechnungsfähigkeit
Schlußwort
Literatur
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Praktische Psychiatrie
 9783111473079, 9783111106212

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PRAKTISCHE

PSYCHIATRIE

PRAKTISCHE PSYCHIATRIE von

Manfred in der Beeck Dr. med. Dr. phil. Landesmedizinalrat

W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit &: Comp.

BERLIN

1957

©

1957 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung, J . Guttentag» Verlagsbuchhandlung» Georg Reimer, Karl J . Trübner, Veic & Co., Berlin W35. — Alle Rechte, audi die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Übersetzung, vorbehalten. — Ardiiv-Nr. 51 78 57. — Printed in Germany. — Satz und Drude: Franz Spiller, Berlin SO 36

„Die Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und besteht nidit nur in dem Fehlen von Krankheit und Invalidität. Der Besitz der besterreichbaren Gesundheit stellt ein Grundrecht f ü r jedes menschliche Wesen dar, unabhängig von Rasse, Religion, politischer Überzeugung und wirtschaftlicher und sozialer Stellung. Die von einem Staate erzielten Verbesserungen in der gesundheitlichen Lebenshaltung sind f ü r alle wertvoll. Die Vermittlung der von den medizinischen, psychologischen und verwandten Wissenschaften erzielten Erkenntnisse an alle Völker ist zur Erreichung des besten Gesundheitszustandes unerläßlich." Aus dem Text der Verfassung der

Weltgesundheitsorganisation

Vorwort Die „praktische Psychiatrie" ist als Zusammenschau psydiagogisdier und psychotherapeutischer Maßnahmen gedacht, die heute bei psychisch Kranken durchgeführt werden können. Ergänzend sind juristische Probleme angefügt, die jeden Psychiater bewegen. Die Arbeit wendet sich an alle Ärzte und deren Hilfskräfte bei der Behandlung und Pflege psychiatrischer Patienten in Anstalten und Kliniken. Sie ist ebenso für die verantwortlich Tätigen in Landesverwaltungen,

Kuratorien,

Fürsorgeverbänden,

öffentlichen

Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen gedacht. Schließlich ist sie besonders für Juristen bestimmt, die als Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Richter oder in gesetzgeberischer Funktion Fragen geistig-seelischer Kranker angehen. Mehr als 50 Kliniken und Anstalten in Deutschland und im Ausland konnten im Laufe der Jahre nach dem letzten Kriege durch das Entgegenkommen der Chefärzte und Direktoren besucht werden, zum Teil zu längeren Studienaufenthalten. Hierfür Dank zu sagen, ist mir ein Bedürfnis. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professeur agrégé Henri Baruk, Médecin Chef de la Maison Nationale de Charenton-Paris, Herrn Professor Dr. Jacob

Klaesi,

ehemaligem

Direktor der Psychiatrischen Universitäts-Klinik und Heil- und Pflegeanstalt WaldauBern, Herrn Professor Dr. Friedrich Mauz, Direktor der Psychiatrischen- und NervenKlinik der Universität Münster i. W., seinerzeit Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Langenhorn, Herrn Dr. Walter Längle, Landes- Heil- und Pflegeanstalt Solbad Hall in Tirol, Herrn Dr. C. Liekens-van

den Bosch, Geel, Rijkskolonie, Herrn

Charles M. Ross, M. D., Medicai Superintendant, Hollymoor Hospital, Birmingham, und Frau Dr. Anna Maria Tarantini, Ospedale Mentale Santa Maria della Pietà, Rom. Ohne meine Lehrer, die meine wissenschaftliche "Welt bauten, wäre es mir nicht möglich gewesen, die Arbeit zu unternehmen. Ihnen bin ich Dank schuldig und hoffe, ihn mit dieser Schrift zum Teil abstatten zu können. Sie ist ihnen gewidmet: Herrn Landesobermedizinalrat Professor Dr. Heinrich Korbsch, Leitender Arzt des Westfälischen Neurologischen Krankenhauses in Gütersloh i. Westf., Herrn Professor Dr. Karl Mierke, Direktor des Psychologischen Institutes der Universität und der Pädagogischen Akademie in Kiel, Herrn Professor Dr. Gerhard Schmidt, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik des Städtischen Krankenhauses in Lübeck, Herrn Landesobermedizinalrat Dr. Rudolf

Fabry,

Direktor der Landesheilanstalt Marsberg/Westf., Herrn Landesober-

medizinalrat Dr. Hans Merguet, Direktor der Landesheilanstalt Lengerich/Westf., Herrn Landes- und Obermedizinalrat a. D. Dr. Dr .Wilhelm Schneider, ehemaliger Direktor der

Landesheil- und Krankenanstalt Gütersloh i. Westf. und meinem verehrten Direktor, Herrn Landesobermedizinalrat Dr. Paul Engelmann, der mich besonders in forensischer Hinsicht mit wichtigen Hinweisen unterstützt hat. Viele Vorschläge, die sich in der Zusammenfassung finden, aber auch manch kritisdie Einwände, haben ihren Ansatz in gemeinsamen Gesprächen mit Fachkollegen, Verwaltungsbeamten und Juristen; vieles hat sich in Unterhaltungen entwickelt, manches in Diskussionen herausgebildet, oft läßt sidi der originäre Gedanke gar nicht mehr bis zu seinem Ursprung verfolgen. Allen gemeinschaftlichen Problemstellungen und den sich daraus ergebenden Anregungen haben aber den einen Zweck, unseren, uns alle verbindenden, psychiatrischen Zielen zu dienen. Dem Ausdruck zu geben, ist der Sinn dieser Arbeit, die das Bewährte bewahren, das Gute in seiner Vielfalt der Möglichkeiten fördern und einige "Wege und Aufgaben zeigen will. Winter 1956/57 Landesheilanstalt Marienthal, Münster/Westfalen

Manfred in der Beeck

I N H A L T S Ü B E R S I C H T Einleitung und historische Uberschau

11

Aufnahmesituation

17

Visitensituation

27

Moralische Therapie

32

Somatische Therapie

43

Arbeitstherapie

48

Beschäftigungstherapie

54

Milieutherapie

61

Hospitalisation — Anstaltsdemenz

67

Familienpflege — Außenfürsorge

77

Juristisdie Einweisungsformalitäten

82

Pflegschaft und Vormundschaft

90

Wahlrecht

96

Verminderte Zuredinungsfähigkeit

101

Schlußwort

109

Literatur

112

Einleitung und historische Überschau Im 20. Jahrhundert sind die stärksten Impulse zur Aktivierung der psychiatrischen Therapie von Hermann Simon, dem Direktor der Landesheilanstalt in Gütersloh i. Westf. ausgegangen, wenn wir von den somatischen Behandlungsmethoden absehen wollen. Als Simon in den Jahren nach 1920 begann, sein Vorgehen zu schildern und in Vorträgen im In- und Ausland über das von ihm Erreichte berichtete, wollte man ihm nicht glauben. Es erging ihm, wie so vielen bahnbrechenden Streitern der Wissenschaft, und nur langsam setzten sich seine Gedankengänge durch. 1929 faßte Simon seine Arbeiten in der monographischen Schrift „Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt" zusammen und machte sein Ideengut dadurch weiteren Kreisen von Psychiatern zugänglich. Seither ist, bis auf das Buch von Carl Schneider keine Zusammenfassung der von Simon aufgeworfenen Fragen und angeschnittenen Probleme entsprechend der Weiterentwicklung der Psychiatrie erschienen. Dies hat zum großen Teil äußere Gründe. Nach 1933 wurden die psychisch Kranken, der ,Umwertung aller Werte' jener Jahre entsprechend, immer mehr vernachlässigt. Schließlich folgte die staatlich angeordnete ,planwirtschaftliche Erfassung' mit ihren traurigen ,Euthanasie'-Folgen. Während der letzten Kriegsjahre und in den Zeiten des Nachkriegsstadiums bis zur Währungsreform im Sommer 1948 konnte für die Kranken wegen Mangels an allem nicht viel getan werden, fehlte es doch nicht nur an Nahrung und Kleidung, sondern auch an Medikamenten sowie an Personal und Ärzten. Mit dem Wiederaufbau der isolierten Anstaltspsychiatrie ist der Name Wilhelm Schneider verknüpft, der 1946 zusammen mit Merguet die ,Re-aktivierung' der Therapie in der Psychiatrie im Sinne Simons betrieben hat. Dankenswerterweise beließ er es nicht nur bei der Intensivierung der Behandlungsmethoden für die Kranken, sondern er begann mit der regelmäßigen Schulung der jungen Generation der Psychiater. Es ist im wesentlichen heute noch so, daß der Name von Simon, seine Ideen und sein Programm überall in der psychiatrischen Welt bekannt sind; er wird immer wieder mit seinen Arbeiten zitiert und seine Methode ist in jedem Lehrbuch erwähnt — nur wird bis heute seine Arbeitsweise an den wenigsten Stätten, wo psychiatrisch gearbeitet wird, konsequent durchgeführt. Bleuler wirft in seinem Überblick über die Ergebnisse der Psychiatrie der letzten 10 Jahre erneut die Frage auf, wie es zu ergründen sei, daß die Simonsdie Arbeitstherapie sich nur in einem verschwindend kleinen Teil der Anstalten und Kliniken der Welt habe Eingang verschaffen können. Er meint, daß diese Form vielleicht nur als e i n e der möglichen Therapieformen angesehen werde und daß man andernorts hoffe, mit eigenen, aber eben eigenen Wegen, noch bessere Ergebnisse zu erzielen, als dies mit der .aktiveren Behandlung' der Fall ist. Alles, was Simon gesagt hat, war, inhaltlich gesehen, nicht neu, in allen Dingen finden wir in der Geschichte der Psychiatrie Vorgänger, ja manchmal haben diese nicht nur dasselbe gemeint, sondern sogar gesagt.

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Einleitung und historische Überschau

Dem Einfluß arabischer Ärzte ist es zu verdanken, wenn die Verhältnisse in der Anstalt von Saragossa bereits im 15. Jahrhundert so vorbildlich human waren, daß die Kranken in der Landwirtschaft und in Werkstätten regelmäßig beschäftigt wurden. Philippe Pinel wird zugesprochen, daß er während der franzöischen Revolution 1798 etwa 50 Kranken der Anstalt Bicetre die Ketten abgenommen habe. „Er zerbrach die Ketten und Kerker der Irren, behandelte sie menschlich, väterlich, und durch ihn kam es so weit, daß man sich in ganz Europa der unmenschlichen Behandlung der Irren sdiämte, und so wurde er nicht nur Retter derer, die in dem Institute sich befanden, welchem er vorstand, sondern zugleich auch aller anderen." (Friedreich zit. n. Engelmeier). Eine solche Tat hätte keinen Sinn gehabt, wenn nicht die entsprechenden Konsequenzen daraus gezogen worden wären. Und so können wir verstehen, wenn Pinel formulierte: „Die wenigsten Wahnsinnigen, nicht einmal im Zustande der Raserei, sollten von aller Beschäftigung entfernt werden, wie ich mich hiervon ganz besonders überzeugt habe. Eine anhaltende Arbeit ändert die irrige Verknüpfung ihrer Ideen, fixiert ihre Verstandesfähigkeiten, indem sie dieselben beschäftigt, erhält die Ordnung in jedem Sammelplatz der Wahnsinnigen und macht eine Menge kleinlicher und oft unnützer Regeln entbehrlich, die auf die innere Polizei abzwecken." In Deutschland gehen die ersten Versuche einer durchgreifenden Reform der Therapie der psychisch Kranken auf Johann Christian Reil zurück, der 1803 seine „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethoden auf Geisteszerrüttungen" veröffentlichte, die als grundlegende Darstellung einer wissenschaftlichen Psychotherapie angesehen werden können. Als ordnende, seelische Kräfte bezeichnet er das Selbstbewußtsein, die Besonnenheit und die Aufmerksamkeit und er sagt, daß ihr harmonisches Zusammenwirken die zweckvolle Abgestimmtheit des Gedankenablaufs und des Gefühls- und Willenlebens auf innere und äußere Erlebnisse und die wachsame Zuwendung zur Wirklichkeit sicherstelle. An ihren Leistungsfehlern zeige sich die geistige Zerrüttung zuerst und hauptsächlich. In seinen therapeutischen Ratschlägen sagt Reil: „Wir entfernen Reize, die krank machen oder lassen solche zu, durch welche das Spiel der Kräfte in der Art erregt wird, daß dadurch die Heilung einer Krankheit zustande kommen kann. Dies kann man die positive, jene die negative Heilmethode nennen. Der direkte Erfolg der positiven ist Erregung, der der negativen Beruhigung. Dieser dienen Bettruhe, Bäder, Isolierung, Zuspruch und Zerstreuung, jener die geordnete, nützliche Beschäftigung, die Aufrüttelung durch wirksame Situationsgestaltung und Reizmittel aller Art, auch sehr gewaltsamer, wie endlich die Zerstreuung und Erziehung durch moralische Einwirkungen." Von der Zerstreuung sagt Reil, daß sie nicht größer sein dürfe als der Zweck es fordere; denn aus einem Übermaß und einer zü schnellen Folge sinnlicher Eindrücke, bei der wir keinen Gegenstand festhalten können, entstehe ein Gefühl der Ohnmacht, das niederdrücke. Das scheinbar zufällige Zerstreuungsmittel sei willkommen, das für den Kranken erfundene diesem meistens widrig. Von der Krankenbeschäftigung wird gesagt, daß jeder Kranke von der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit einer Verrichtung unbedingt überzeugt sein muß — von der Erziehung, daß Vorstellung und Vorsatz über den Körper eine entscheidende Macht hätten.

Einleitung und historische Überschau

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Unschwer sind die Parallelen zu heutigen Anschauungen über die »aktivere Behandlung', die ,moralische Therapie', die Spieltherapie, das Bemühen um zweckmäßige Gestaltung des Milieus usw. zu erkennen. Die Verwandtschaft dieser Hypothesen mit Theorien neuzeitlicher Autoren wird besonders von Klaesi hervorgehoben, der ebenfalls vermerkt, daß auch die Folgerungen für die Therapie einleitenden Gesichtspunkten zum großen Teil die gleichen sind und teilweise auch gleiche Namen haben, wie Ruhekur, Isolierkur, Aufrüttelung, Erziehung, Wiedererziehung. Es wird bedauert, daß es Reil versagt geblieben ist, eine wissenschaftliche Psychotherapie zu begründen. Carl Schneider meint, weil die pathopsychologischen und pathophysiologischen Grundlagen jener Zeit zu schmal waren, um den Plan zu verwirklichen, die krankhaften Erscheinungen unmittelbar, d. h. biologisch zu regulieren, während Klaesi dafür die Unzulänglichkeit der grundlegenden Hypothesen, den Mangel an tiefergreifenden klinischen Beobachtungen und Erfahrungen und die Unklarheit und Verschwommenheit der abgrenzenden Indikationen für das Versagen verantwortlich macht. Als weiteren Grund fügt Klaesi an, warum die Gedankengänge von Reil sich nicht durchsetzen konnten, und dieser Satz kann nur mit aller Eindringlichkeit unterstrichen werden, daß „die offenbar schon immer und auch damals bestanden habende ,Neurose' der Psychotherapeuten und Psychiater, die aus quälender Befürchtung, ihre Behandlungsmethoden seien in den Augen der Öffentlichkeit denen der Internisten oder gar Chirurgen nicht gleichwenig, jede Gelegenheit zu körperlichen Anwendungen und Prozeduren gierig aufgreifen, verallgemeinern und zu Tode reiten, ganz besonders, wenn dazu Instrumente nötig sind, und die Kur an Eindrücklichkeit einem chirurgischen Eingriff nicht nachsteht." Dieser Satz erfaßt nicht nur die Verhaltensweise der Therapeuten in der Vergangenheit und Gegenwart, sondern er wird auch in der Zukunft Gültigkeit haben, da er einen immer vorhandenen sthenischen menschlichen Grundzug widerspiegelt. Als Vorbereitung einer psychischen Kur empfiehlt selbst Reil, „daß der Kranke durch diese und jene Körperreize — Peitschen mit Brennesseln, unschädliche Tortur, Züchtigungen u. a. — unterjocht, zum unbedingten Gehorsam genötigt und zur Kur vorbereitet werde", wodurch sich Auswüchse gar nicht vermeiden ließen. Nachdem Versuche von Charlesworth, Gardiner und Hill fehlgeschlagen waren, entfernte am 21. 9. 1839 in der englischen Anstalt Hamwell John Conolly alle mechanischen Zwangsmittel. Diese Tatsache wurde auf dem Kontinent zunächst nicht ernst genommen und als unglaubwürdig zurückgewiesen, obwohl die neuen Verhältnisse in Fachkreisen genügend bekannt gemacht wurden. Es dauerte Jahrzehnte bis sich das, was Wahrheit war, daß eine Behandlung der psychisch Kranken auch ohne Zwangsmaßnahmen (No — Restraint) möglich ist, durchsetzte. Indessen waren die Auffassungen, was als Zwang bzw. Beschränkung (Restraint) aufzufassen war, sehr unterschiedlich. Während in Frankreich und England Pinel und dessen Schüler Esquirol sowie Conolly ohne Nachahmer blieben und mit ihnen die verheißungsvolle, richtungweisende Auffassung der Behandlung psychisch Kranker nicht weiter betrieben wurde, setzte sich in Deutschland nach langen Diskussionen die gemäßigte Restraint-Therapie durch. Hierfür setzten sich besonders Ludwig Meyer in Hamburg und Griesinger ein.

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Einleitung und historische Überschau

Statt der bis dahin üblichen Fesseln verwandte man den Entzug der Freiheit in Einzelzellen. Um die Jahrhundertwende setzte sich dann Wattenberg für die Benutzung des Dauerbades ein, und Clemens Neißer verfocht die These, daß psychisch Leidende vor allem als Kranke anzusehen seien, und jeder der krank sei, gehöre in ein Bett. In der 1876 gegründeten sächsischen Anstalt Alt-Scherbitz ist dann durch Koeppe und Paetz erstmalig eine gezielte Arbeitstherapie durchgeführt worden. Zu einer systematischen Therapie in dieser Weise ist es aber erst durch Simon gekommen, dessen Organisationstalent Gütersloh zum Vorbild für diese Arbeitsweise werden ließ. Die Einführung von Beruhigungsmitteln — 1869 wurde zuerst Chloralhydrat als Schlafmittel empfohlen — führte zu dem Begriff der ,chemischen Zwangsjacke', mit der die Kranken ruhig gestellt werden können. Die organischen Behandlungsmethoden, wie die Insulin-, Cardiazol- und Elektroschocktherapie, ließen eine erhebliche Auflockerung des klinisch-psychiatrischen Betriebes zu, so daß das Ziel das System der ,off enen Türen' ist. Trotz dieser Fortschritte mit medikamentösen Behandlungen und intensiver Beschäftigungstherapie sind die Verhältnisse auch heute noch an vielen Kliniken und Anstalten als rückständig anzusehen. So ist man verwundert zu lesen, wenn von Baeyer von seinem Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten 1950 schreibt: „Hier (in den staatlichen Irrenanstalten) besteht vielfach noch ein mit schlechter Bezahlung zusammenhängender Ärztemangel, so daß auf Hunderte von Kranken jeweils ein Arzt kommt, der zudem nicht immer ein fachlich vorgebildeter Psychiater ist. Die modernen therapeutischen Möglichkeiten werden nicht ausgenutzt, mechanischer Zwang ist noch nicht durch zweckmäßige Behandlung ersetzt, ruhige Kranke läßt man den ganzen Tag stumpfsinnig auf Schaukelstühlen sitzen, die im Korridor in langen Reihen aufgestellt sind." 1946 erließ die Regierung auf Grund der Anrufe publizistischer Organe das ,Gesetz für seelische Gesundheit', das ein Jahr später in Kraft trat und große Geldmittel für die Nervenkliniken und Heilanstalten, für die psychiatrischen Forschungs- und Ausbildungsstätten zur Verfügung stellte. Allein 15 000 Fachärzte wurden zur Erreichung der Reformziele — Angleichung der Anstaltsverhältnisse an den allgemeinen Lebensstandard und das herrschende Humanitätsideal — für notwendig erachtet, während man bis dahin mit 5000 bis 6000 hatte geglaubt auskommen zu können. In ähnlicher Weise sollten die mangelhaften Personalbestände des ärztlichen Hilfspersonal aufgebessert werden. Das ist in der Zwischenzeit geschehen — und abgesehen von der von Freeman und Watts im großen Stile durchgeführten Leukotomie, die inzwischen auch schon wieder mit erheblicher Reserve beurteilt wird —, kam aus den USA der neue Begriff der ,Occupational Therapy'. Auf dem ersten, nach dem zweiten Weltkriege stattfindenden internationalen PsychiaterKongreß in Paris 1950 erschien die angloamerikanische wissenschaftliche psychiatrische Welt mit einem großen Aufgebot an Referenten, die über diese neue Therapieform berichteten. Während die Angloamerikaner ihre neuen Thesen nur wenig zu ihren Vorgängern in Bezug setzen, tun dies die Franzosen, die seit 1948 im ,aktiveren' Sinne arbeiten, sehr genau. Neu im Sinne des geschriebenen, vorgetragenen oder gesprochenen Wortes ist eigentlich nichts von dem, was in den Behandlungsstätten einer modernen Therapie für psychisch Kranke getan wird! Neu sind auch die Gedankengänge nicht, die hier als individuelle Formen der psychiatrischen Therapie vorgebracht werden sollen!

Einleitung und historische Überschau

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Es sind "Wege der Behandlung, die überall bekannt sind. Es sind Wege, die überall beschritten werden. Es sind Wege, die überall beschritten werden sollten! Es sind Wege, es ist nicht ein Weg oder ein System! Es soll aufgezeigt werden, wie wir die Therapie in der Psychiatrie individualisieren können. Es soll keine neue Schule gegründet werden; denn die Anwendung eines Systems oder die Methoden nur einer Schule müssen in der Psychiatrie am ehesten zu Monstrositäten führen, da der Mensch — das Individuum — sidi nicht in ein Schema pressen läßt, wie es schließlich bei allen Schulen sein muß. Diese Wege, diese therapeutischen Möglichkeiten, sollen in ihrer Vielfalt dargestellt werden, wobei die somatischen Methoden nur am Rande ihre Erwähnung finden können, da sie nicht Gegenstand der Erörterung sein sollen. Die organischen Therapieformen finden immer schneller Anklang und deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn auf diesem Sektor im Schrifttum an eingehenden Veröffentlichungen kein Mangel ist. Über die durchführbaren psychotherapeutischen und psychagogischen Wege in Kliniken und Anstalten ist in zusammenfassender Form im deutschen Schrifttum in der letzten Zeit nur eine Monographie von Müller-Hegemann erschienen, der sich aber in seinen Ausführungen auf die Schizophrenie beschränkt. Audi diese Schrift mit ihren Anregungen ist das Ergebnis ihrer Zeit. Sie wendet sich gegen die Nivellierung des ärztlichen Handelns in der Psychiatrie, gegen den Vorgang der Einebnung und Vermassung der Ärzte und damit deren Personal und Patienten. Sie will die Richtungen, die unter den Namen Arbeitstherapie, Beschäftigungsbehandlung, Occupational Therapy, Spieltherapie,,Moralische Therapie', Milieutherapie, Kollektivbehandlung usw. schildern und näher bringen, aber nicht als Bedingung für den gewollten Erfolg, sondern als Möglichkeiten von Therapieformen, die vom Arzt beim dafür im Einzelfall geeigneten Patienten angewandt, die besten Erfolge zeitigt, also für ihn förderlichste, i n dividuelleTherapie. Das anspruchsvolle Wort aus der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation ist deshalb an den Anfang gestellt, weil in ihm die soziale Einordnung des Menschen als Voraussetzung der Gesundheit einbezogen ist. Die Familienfürsorge und die Außenfürsorge an den Gesundheitsämtern weist zwar große Ähnlichkeit mit der Arbeit der Psychiatric Social Worker in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten auf, aber auf diesem Gebiete sind doch neue Wege gegangen und erschlossen worden, die sich in Deutschland noch bei weitem nicht in dem nötigen Maße durchgesetzt haben. Audi diese soziale und fürsorgerische Arbeit soll unter dem Begriff einer individuellen Therapie verstanden sein, gilt es doch gerade hierbei mit dem psychisch Kranken Wege zu gehen, die dem einzelnen entsprechen. So einfach diese Dinge erscheinen mögen, wenn sie nun der Reihe nach in unserer Sicht aufgeführt werden, so ist es doch schwierig, sie in die Tat umzusetzen. Es ist nicht so, daß an allem die zunehmende Bürokratisierung schuld ist, daß nicht alles nur Mögliche für die psychisch Kranken getan wird, was die Wissenschaft bislang erarbeitet hat. Das wäre ein Schluß, der, wie alle Verallgemeinerungen, falsch ist, sondern zum großen Teil ist die Trägheit des eigenen Herzens Schuld daran, daß viele Wege nicht begangen werden. Ist der psychiatrisch tätige Therapeut auch seelisch verbeamtet, so erlahmt die Initiative

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Einleitung und historische Überschau

und macht einer unerwünschten Gleichgültigkeit, wenn nicht Pessimismus Platz. Nichts als das ist aber verderblicher, gerade im Umgang mit psychisch Kranken, nur Optimismus ist hier möglich! Alle Vorbilder aus der Geschichte unseres Faches weisen diesen Grundzug ihrer Persönlichkeit auf. So ist es weder die Methode oder die Technik, die bei den Kranken angewandt wird, die den entscheidenden Einfluß für eine Besserung bewirken, sondern die Persönlichkeit des Therapeuten, die den Ausschlag gibt. Es ist nicht nur die Arbeit oder das Spiel, sondern auch die Arbeit, die Beschäftigung, das Spiel; entscheidend ist die .Atmosphäre', die zwischen Patienten und Therapeuten und im ganzen Krankenhause herrscht, wichtig ist die .Psychologie des Psychologen'. In „Wilhelm Meisters Lehrjahre" schreibt Goethe, daß Wilhelm einen psychisch erkrankten alten Harfner einem Geistlichen in Pflege gegeben habe. Er berichtet hierüber: „Ihr Gespräch fiel natürlich auf die Methode, Wahnsinnige zu kurieren. Außer dem Physischen, sagte der Geistliche, das uns oft unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg legt und worüber ich einen denkenden Arzt zu Rate ziehe, finde ich die Mittel, vom Wahnsinne zu heilen, sehr einfach. Es sind eben dieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind — so wird sich kein Wahnsinn einschleichen und, wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingeteilt, er unterrichtet einige Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und ist schon viel heiterer. Er wünscht von dem Kohle zu genießen, den er pflanzt, und wünscht meinen Sohn, dem er die H a r f e auf den Todesfall geschenkt hat, redit emsig zu unterrichten, damit sie der Knabe ja auch brauchen könne. Als Geistlicher suche ich ihm über seine wunderbaren Skrupel nur wenig zu sagen, aber ein tätiges Leben führt so viele Ereignisse herbei, daß er bald fühlen muß, daß jede Art von Zweifel nur durch Wirksamkeit behoben werden kann. Ich gehe sachte zu Werke; wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte wegnehmen kann, so habe ich viel gewonnen: denn es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor anderen auszeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben. Wie vieles ist leider nicht in unserer Erziehung und in unseren bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns und unsere Kinder zur Tollheit v o r b e r e i t e n . . . Dreifach belebt aber ward die Unterhaltung, als der Medikus eintrat, der den Geistlichen, seinen Freund, öfters zu besuchen und ihm bei seinen menschenfreundlichen Bemühungen beizustehen p f l e g t e . . . Für den Menschen, sagte er, sei nur das eine ein Unglück, wenn sich irgendeine Idee bei ihm festsetze, die keinen Einfluß ins tätige Leben habe oder ihn wohl gar vom tätigen Leben abziehe." Dieses Bild, das Goethe für uns in schlichter Erzählung zeichnet, gibt uns mit seinen Details einen Modellfall für das, was unter Psychotherapie und Psychagogik eines psychisch Leidenden noch heute verstanden wird. Die geistige Verwandtschaft seiner Gedankengänge mit unseren therapeutischen Bestrebungen beweist uns aufs neue das immerwährende Ideal der Humanität.

Aufnahme-Situation

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Aufnahme - Situation Die Bezeichnung der Heilanstalten gibt ebenfalls einen Uberblick der Entwicklung der Psychiatrie. Zuerst sprach man von Tollhäusern, später von Blödenanstalten, seit der Jahrhundertwende von Heil- und Pflegeanstalten. Jetzt sprechen wir von Landesheilanstalt (Westfalen). In einigen Ländern wird Landesnervenklinik (Rheinland-Pfalz) gesagt, in anderen nur noch Landeskrankenhaus (Schleswig-Holstein), um die Entwicklung von der Bewahr- bzw. der Verwahranstalt zum psychiatrischen Krankenhaus äußerlich zu dokumentieren. In England spricht zum Beispiel niemand mehr von einem ,Lunatic Asylum'; dort heißen sowohl die psychiatrischen Kliniken als auch die Heilanstalten Hospital (Maudsley, Hospital, Universität und Forschungsinstitut in London oder Netherne Hospital, Heilanstalt bei London). Für Frankreich gelten ähnliche Bezeichnungen wie in Deutschland. Erwähnenswert ist jedoch die Änderung des Namens der Anstalt Ville-Evrard bei Paris, die jetzt heißt: „Centre de Traitement et de Readaptation Sociale." Diese Zusammenstellung wird an den Anfang gestellt, weil die Einweisung eines psychisch Kranken in das für ihn zuständige psychiatrische Krankenhaus mit der Nennung des Namens der Anstalt oder der Klinik beginnt. Es heißt nicht, daß der Kranke in ein Krankenhaus muß, sondern es ist ihm aus gesunden Tagen, ja, seit der Schulzeit, wo sich die Kinder das gegenseitig zugerufen haben, bekannt: Du sollst jetzt nach Dalldorf bzw. Wittenau (in Berlin), Winnenden (in Stuttgart), Langenhorn (in Hamburg), Grafenberg (in Düsseldorf) usw.! Lieder darüber werden auf den Straßen gesungen und in Versen wird damit geneckt. Schon immer ist die Überweisung eines psychisch Kranken in eine Anstalt als eine besonders schwierige ärztliche Handlung angesehen worden und wird deshalb in den Gebührenordnungen auch mit Recht als eine Extraleistung hervorgehoben. Daß die Einweisung in den wenigsten Fällen in einer dem Zustand der Patienten angepaßten Form geschieht, ist bedauerlich, wird jedoch nur schwierig zu ändern sein. Die meisten unserer Patienten, also die an einer Psychose erkrankten, gehen ja nicht durch die H a n d eines niedergelassenen Nervenarztes. Bricht das krankhafte Geschehen akut auf, so wird der Hausarzt oder der nächste erreichbare Arzt bzw. Amtsarzt bemüht. Die in besonderen Kapiteln abzuhandelnden Einweisungsformalitäten und sonstigen juristischen Vorschriften machen dem einweisenden Arzt die Situation schwierig. Für den beamteten Kreis- oder Stadtarzt kommen psychiatrische Einweisungen heute wesentlich häufiger in Betracht, da sich viele praktische Ärzte den drohenden juristischen Fußangeln zu entziehen versuchen, die gegebenenfalls Prozesse wegen Freiheitsberaubung nach sich ziehen. Der Praktiker ist über die verschiedenen als notwendig erachteten oder vorgeschriebenen Formalitäten nur ungenügend unterrichtet. Er kann es audi gar nicht sein, da diese Fälle für ihn ja recht selten sind. Wegen der großen Bedeutung sollte auf den Fortbildungskursen für praktische bzw. niedergelassene Ärzte auch hierüber einmal gesprochen werden. Und nidit nur über die Gesetze und Vorschriften, sondern besonders über die psychologische Situation der Einweisung eines psychisch Kranken, denn hier werden die ärztlich schwerwiegenden Fehler, unabsichtlich, sogar in guter Absicht gemacht. 2 Praktische Psydiiatrie

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Aufnahme-Situation

Um den Kranken zu schonen, wird ihm gesagt, er müsse in ein Erholungsheim, in ein Sanatorium. Patienten, die unbedingt einer Betreuung auf einer geschlossenen Abteilung bedürftig sind, macht man klar, daß sie eine Luftveränderung brauchten usw. Das sind noch die Fälle, bei denen sich die Einweisenden in persönlicher Weise um den Kranken bemühen, wo versucht wird, ihn auf das neue, ungewohnte Milieu einzustellen. Wird der Kranke jedoch als .gemeingefährlich' vom Arzt, den Angehörigen oder Nachbarn angesehen, so kommt es zu den unerfreulichen Auftritten in den Wohnungen oder gar Arbeitsstätten der Kranken. Mit einem Aufgebot von Hilfskräften, womöglich mit Unterstützung eines Polizeiwachtmeisters mit Tschako, wird versucht, dem Patienten eine Injektion zu machen, um ihn anschließend auf einer Krankentrage anzubinden bzw. zu fesseln. Am weitesten kommt man, wenn dem Kranken die Wahrheit gesagt wird darüber, wie man sich seinen Krankheitsverlauf vorzustellen hat und daß die Notwendigkeit einer Behandlung besteht, die am ehesten in einem dafür speziell eingerichteten Krankenhause vorgenommen werden müßte. Die Entgegnungen des Patienten selbst oder seiner Angehörigen, daß nach Marienthal (oder einem anderen Ort, in dem eine Anstalt oder Klinik ist) doch nur die ,ganz schlimmen' Fälle kämen, ist fast immer mit ruhigen Argumenten und entsprechenden Erklärungen beizukommen. Ausnahmen hiervon sind eigentlich nur epileptische Dämmerzustände. Befindet sich ein Kranker in psychomotorischer Unruhe oder wird er seiner Umgebung gegenüber aggressiv, so sollte man ihn auch dann nicht belügen, d. h. zu der Notlüge greifen, er würde nur zur Erholung weggeschickt. Auch wenn die dringende Notwendigkeit besteht, dem Patienten eine Injektion zur Beruhigung zu machen, damit der Transport mit einem Krankenwagen vorgenommen werden kann, soll in jedem Falle die Wahrheit gesagt werden. Dies läßt sich gut in die Form einer Entschuldigung kleiden, indem man etwa sagt, daß es einem Leid täte, aber daß im gegenwärtigen Zeitpunkt keine andere Möglichkeit vorhanden sei, als eine Einweisung in eine Nervenklinik zu veranlassen. So aufgeregt und angriffslustig seien nur Menschen, die unter Nervenerkrankungen zu leiden hätten, und wenn sie dies selbst nicht einsehen könnten, so wäre dies ein besonders schwerwiegendes Moment. Selbst, wenn sich eine Injektion nicht umgehen läßt, soll dem Betroffenen das, seinen intellektuellen Verhältnissen entsprechend, am besten auch unter Berufung auf eine Entschuldigung, erklärt werden. Und wenn nur gesagt wird, das sei ,wegen der Nerven'. Man ist immer wieder erstaunt, für einen wie großen Prozentsatz der Bevölkerung, einschließlich der gebildeten Laien, diese wenigen Worte als genügende Erklärung aufgenommen werden — für alle inneren, Nerven- oder Gemütskrankheiten. In den Sprechstunden der Außenfürsorge sind wir immer wieder überrascht, wieviele Rat suchende Kranke auf Grund unseres Bescheides von sich aus in unsere klinische Behandlung kommen, d. h. nach der Sprechstunde mit einer Bitte um Überweisung zu ihrem behandelnden praktischen oder Nerven-Arzt gehen. Abzulehnen sind Einweisungen in allgemeine Krankenhäuser oder solche mit kleinen neurologischen Stationen mit der Möglichkeit, einige psychiatrische Patienten unterzubringen. In der Praxis heißt das, daß Suicidale auf der offenen Abteilung liegen oder Unruhige im Keller in Einzelzellen untergebracht werden. U m eine Anstaltseinweisung zu umgehen, werden die Kranken dann mit Elektrokonvulsionen unbehandelt'. Sie

Aufnahme-Situation

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bleiben den ganzen T a g und auch nachts allein in ihrer Zelle und sind sich und ihren krankhaften Ideen überlassen. Das Essen wird ihnen durch eine Luke hereingereicht und nur gelegentlich können sie von innen spähende Augen erkennen. Wenn der Patient sich abgetobt hat, vor allem wegen zu geringer Flüssigkeitszuführung ausgetrocknet ist und sich die Unruhe noch nidit gebessert hat, ist die Einweisung .dringend erforderlich'. Die Wirkung auf die einzelnen Kranken, die unruhig sind oder als solche angesehen, es dann erst werden, wenn man sie zusammen einsperrt, nur um mehrere Patienten für einen gemeinsamen Transport aus Gründen der billigeren Beförderung zu sammeln, braucht nicht näher beschrieben zu werden. Diese Menschen mit einer Einzelzellen-Vorbehandlung braucht man dann gar nicht mehr mit Notlügen zu bedenken. Sie sind sicher in einem psychischen Ausnahmezustand, daß es auf einen mit List durchgeführten überfallartigen Transport in die Anstalt kaum noch ankommt. Diese Verhaltensweise von Ärzten, Pflegepersonal, Fürsorgern und Polizisten entspringt nicht böser Absicht, sondern ist lediglich auf Unkenntnis zurückzuführen. Es handelt sich hier jedoch nicht um Unkenntnis, die entschuldigt werden kann. Die stunden- und tagelangen Isolierungen von psychisch Kranken in Kellerzellen, die Anbehandlungen mit Elektroschocks ohne gleichzeitige psychische Führung bei mangelnder Nahrungs- und vor allem Flüssigkeitszufuhr, sind ärztliche Kunstfehler! Wie lange Zeit ist notwendig, wenn der Kranke in der Aufnahme-Abteilung der Anstalt ist, um diese .Hypothek des Mißtrauens', die durch die Notlügen, Halbwahrheiten und Mißbehandlungen entstanden ist, wieder abzutragen. Bei den psychisch Kranken haben wir als Therapeuten sowieso die schwere Aufgabe mit Gegenströmungen bei dem Patienten zu rechnen, die krankhaft bedingt sind. U n d wie oft sind Wochen nötig, um erst auf das Niveau zu kommen, auf dem eine positive Ausrichtung des Kranken beginnen kann. Will man es in den eben geschilderten Beispielen zu gründlich machen und verdirbt man dadurch viele wichtige Ansatzpunkte für die geeignete seelische Führung des Patienten, so ist es andererseits ebenso falsch mit psychisch Kranken zu sorglos umzugehen. Hierzu Beispiele: 1. Ein Mann im mittleren Alter, der an einer endogenen Depression leidet, der schon zweimal deswegen in stationäre Behandlung mußte, bedarf erneut klinischer Behandlung. Er steht unter dem Einfluß von Gedanken, daß er seine Familie umbringen müsse. Damit ihm dies nicht passieren kann, versucht er, sich die Pulsader aufzuschneiden. Dieser Mann, ein Postbeamter, wird zu seinem Hausarzt gebracht, der ihm ein Attest schreibt und darauf die Notwendigkeit der sofortigen Anstaltsaufnahme bescheinigt. Spät am Abend kommt der K r a n k e an, meldet sich an der Pforte und weist dem Aufnahmearzt seinen Schein vor, daß er wegen Suicidversuches dringend aufnahmebedürftig sei. Der Hausarzt hatte nicht für Begleitung gesorgt, die Ehefrau hatte es abgelehnt, ihren Mann zu bringen, da er selbst an seiner Krankheit Schuld sei. U n d so wurde der Mann von seinem etwa 16 Jahre alten Sohn in seiner Heimatstadt lediglich zum Bahnhof an den Zug gebracht. Er hatte eine Stunde mit der Bahn, dann mit einem Omnibus zu fahren und noch zehn Minuten zu laufen. 2. Eine paranoide schizophrene Frau, die eine Fülle von blühenden wahnhaften Gedankengängen bietet, die andere Mieter in ihrem Hause so sehr bedroht hat, daß sich diese zum Teil in Polizeischutz begeben hatten, wird mit einem Krankenwagen in die Anstalt transportiert. Die begleitende Fürsorgerin sitzt neben dem Fahrer des Wagens. Während des Transportes springt die Patientin bei voller Fahrt aus dem Wagen, ohne daß es sofort von Fahrer und Fürsorgerin bemerkt wird. Die Kranke hatte weder eine Hautabschürfung noch eine Schramme davongetragen. 2*

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3. Ein älterer schizophrener Mann hat in seinem Zimmer den Fußboden herausgerissen und die Holzdielen zu einem Stapel aufgeschiditet. An einer Sdinur hat er etwa fünfzig grüne Heringe aufgezogen und diese quer durdi das Zimmer gespannt. N u n läuft er durch die Nachbarschaft und erzählt, daß er bald etwas sehr Schönes beginnen werde und dabei reich werden könne; denn er wolle ein Feuer anzünden und die grünen Heringe solange räuchern, bis sie zu Goldfischen geworden seien, die er dann verkaufen wolle. — Der zuständige Kreisarzt hat eine Einweisung von sich aus nicht für notwendig befunden, da noch nichts passiert sei.

Der Hinweis erscheint wichtig, daß in beiden Fällen, d. h. bei Handlungen infolge Unkenntnis oder nicht genügender Kenntnis der Umstände, wie sie bei Einweisungen von psychisch Kranken in klinische Behandlung auftreten, sowohl bei Anwendung zu großer Härten als auch bei Unachtsamkeit oder Sorglosigkeit für die Beteiligten strafrechtliche Folgen entstehen können. In den ersten Beispielen können die Beteiligten in ein Verfahren wegen Freiheitsberaubung, zumindest wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung, verwickelt werden. Wenn aus Unbedaditheit für die Erkrankten Nachteile entstehen und eine Anzeige erfolgt, so kann sidi diese auf die strafrechtlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit der Aussetzung hilfsbedürftiger Personen beziehen. § 223 b StGB lautet: „Wer . . . wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit Wehrlose, die seiner Fürsorge oder Obhut unterstehen oder seinem Hausstand angehören oder die von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder durdi ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis von ihm abhängig sind, quält oder roh mißhandelt oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft." Ist der Patient in der Anstalt, so gilt es für den diensthabenden Aufnahmearzt, nach Möglichkeit die psychologische Situation zu erfassen. Häufig wird er von der Begleitung sofort beiseite genommen, daß er ja nicht sagen soll, daß hier die Anstalt X Y sei. Hier gilt es, in jedem Falle schnell und sicher, den Verhältnissen des Patienten entsprechend, zu reagieren. Hier hilft keine Maschine und kein Laborbefund. In dieser Situation entscheidet der gesdiulte klinische Blick und häufiger noch das intuitive Erfassen des Geschehens, um das richtige Wort zu finden. Auf der Aufnahmeabteilung, also der Wachstation, die ständig geschlossene Türen hat, gilt es, den Moment, in dem sich die Türen hinter dem Patienten schließen, zu überwinden. Vielfach ist es das Neue der Umgebung, das den Kranken für einige Augenblicke beschäftigt. Aber schnell werden die Patienten unsicher, zumal diejenigen, die sowieso ängstlich erregt sind oder unter heftigen krankhaften Inhalten zu leiden haben. Das Gefühl, hinter verschlossenen Türen sein zu müssen, bringt eine gewisse Unheimlichkeit mit sich. Diese ist sicher für viele Kranke nicht zu fassen, weshalb die Abgeschlossenheit als das Schlimmste angesehen wird. Es ist so, als kämen sich die Patienten verloren, verstoßen, verlassen, weggestoßen und hilflos vor und das Geräusdi des sich drehenden, schließenden Schlüssels ist für sie einem körperlichen Schmerz gleichzusetzen. Es ist vielen das Bewußtsein schlimmer, in einer Anstalt, d. h. einer geschlossenen Abteilung zu sein, als in ein Gefängnis zu kommen. Die Tatsache des Abgeschlossenseins ist in beiden Fällen die gleiche, nur ist im einen Falle ein Grund für die Trennung vom öffentlichen Leben da, der im Urteil bereits mit einem endgültigen Datum versehen ist, wann die Freiheit wiedererlangt werden kann und im Falle des Kranken ist es das nicht. Das Gefühl, des dem

Aufnahme-Situation

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Arzte Ausgeliefertseins, ist zu unterstellen, die Gedanken, daß der abgeschlossene Zustand unbestimmt lange dauern könnte, macht unsicher. Aus der Zeit der Gefangenschaft nach dem Kriege sind uns ähnliche Überlegungen von vielen Seiten berichtet. Wenn die Situation selbstverständlich eine andere ist, so sind die äußeren Gegebenheiten in vielem ähnlich und geben alleine deshalb Anlaß zu Parallelen. Deshalb werden die Probleme von juristischer Seite wohl meist so einseitig gesehen. Für den Psychiater ist es auf jeden Fall wichtig, sich diese Umstände immer wieder neu vor Augen zu führen. Man gewöhnt sich so schnell daran, daß alle Türen verschlossen sind, daß man wochenlang versucht, zu schließen, wenn aus einer geschlossenen Abteilung inzwischen eine offene geworden ist. Wir werden bei dem gegenwärtigen Stande der psychiatrischen Therapie vorerst noch geschlossene Abteilungen benötigen, so daß die Notwendigkeit, Türen auf- und zuzuschließen, bestehen bleiben wird. Es sollte aber nicht vorkommen, daß ein Psychiater seinen Schlüssel, weil er ihn immer braucht, verliert; desgleichen darf er ihn nicht aus der H a n d legen bei Unterhaltungen mit Kranken, nicht mit dem Schlüssel wichtige Erklärungen in die Luft zeichnen, irgendwohin deuten oder spielerische Bewegungen machen. Diese unachtsamen Handlungen oder Spielereien müssen in den Kranken Minderwertigkeitsgefühle erwecken und sind geeignet, Antipathien entstehen zu lassen, die dem gegenseitigen Verständnis nidit förderlich sein können. Die Handhabungen, Zeichengebungen oder Jonglierereien mit Schlüsseln müssen von den Patienten als Beleidigungen, Demonstration der Macht des Mannes im weißen Kittel oder gar als Herausforderungen angesehen werden. Auch hier sind Vergleiche mit dem Kriegsgefangenen und seinen Wächtern durchaus am Platze; jedenfalls können uns Überlegungen dieser Art, aus einem Erleben, das wir zum großen Teil selbst mitgemacht haben, den besten Anschauungsunterricht geben, wie unser Handeln in der Optik des anderen aussehen mag. Wenn der Patient gekommen ist, so ist es zweckmäßig — nicht nur aus hygienischen Gründen, audi aus psychologischen —, ihn zunächst zu badein; es beruhigt und lenkt ab. D a nach ist es am besten, wenn der Kranke ins Bett kommt. Das Gefühl des Geborgenseins und die Möglichkeit, sich in Ruhe mit der neuen Umgebung auseinanderzusetzen, muß gegeben sein. Eine intensive Therapie, die sofort nach der Aufnahme mit einer Beschäftigung bzw. Arbeit anfängt, ist wohl als Übertreibung anzusehen. Der Kranke bleibt im Bett, bis er vom Abteilungsarzt körperlich untersucht ist, um organische Schäden festzustellen. Während dieser ersten Zeit im Bett wird ihm ein kleines Heftchen überreicht, das den verschiedenen Verhältnissen an den einzelnen Kliniken oder Anstalten entsprechend gestaltet werden kann. Wir folgen einem Vorschlag, wie er sich in der Anstalt Ville-Evrard mit gutem Erfolg bewährt hat: Name des Krankenhauses. Besonders gedruckt für

( N a m e des Patienten, selbst einzutragen) von Ihren Kameraden im

Krankenhause, die Ihnen wünschen: Herzlich Willkommen! Guten Mut! Baldige Gesundheit! *

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22 Ihr behandelnder Abteilungsarzt ist: Sie werden von Fürsorgerin

betreut.

Die Heilanstalt oder -Klinik widmet sidi der Behandlung von Nervenkranken. Sie sorgt dafür, daß alle Kranken nach erfolgreicher Behandlung wieder ihren Platz im Leben finden (Resozialisierung). Die Heilanstalt oder Mission o. ä.). Die

Heilanstalt oder

-Klinik ist eine Einrichtung des Landes (Universität, Innere -Klinik arbeitet mit folgenden Kliniken und Instituten zusammen:

Neurologische Abteilung des

Krankenhauses.

Neurochirurgische Abteilung der

-Klinik.

Elektroencephalographisdie Abteilung des

-Institutes.

Jugendpsychiatrisdie Abteilung der

-Krankenanstalt.

Spezialabteilung für Süditige in der

-Anstalt.

Spezialabteilung für Lungenkranke in der

-Anstalt

usw., jeweils mit den Namen der leitenden Ärzte und der Ortsangabe dahinter. Die Adresse unserer Anstalt, in der Sie aufgenommen worden sind, lautet: *

Der Leiter der Verwaltungsangelegenheiten der Anstalt ist H e r r : Der Leiter der Wirtschaftsangelegenheiten der Anstalt ist H e r r : Die Heilanstalt oder -Klinik ist Entwicklung in drei bis vier Sätzen.)

gegründet (Es folgt ein kurzer Überblick über die

D a sie eine Einrichtung des Landes (Universität, Caritas) ist, können Versicherte aus den folgenden Stadt- und Landkreisen (Aufnahmebezirke): X . , Y., Z. usw aufgenommen werden. Die Heilanstalt oder -Klinik ist so eingerichtet, daß seelische Störungen jeder Art unter den besten möglichen Bedingungen behandelt werden können. U n d das nicht nur bezüglich der ärztlichen Mitarbeiter, des Pflege- und sonstigen Hilfspersonals, sondern auch hinsichtlich der technischen Einrichtungen. Unser Krankenhaus ist ein Ort, in dem die modernsten Behandlungsmethoden f ü r Krankheiten seelischer Art angewandt werden, mit dem Ziele, eine baldige soziale Wiedereingliederung für den Kranken zu erreichen. Unser Krankenhaus soll nicht werden: — ein Heim für Invalide — ein H a u s für Erholungsbedürftige und Genesende — eine .Herberge zur Heimat' — ein Sammelpunkt von Menschen, die andernorts ohne Erfolg behandelt worden sind. *

Die Sorgen des neuen Patienten Weshalb bin ich hier? Sie sind hier aus einem der folgenden Gründe: 1. Entweder haben Sie es selbst gewünscht, behandelt zu werden oder Sie haben freiwillig angenommen, daß eine Behandlung notwendig ist. 2. Oder ein Arzt, ein Mitglied ihrer Umgebung — Ihre Eltern, Freunde oder Kollegen — haben Sie überzeugt, daß Sie behandelt werden sollten, weil das in Ihrem eigenen Interesse liegt. 3. Oder ein Sorgeberechtigter — die Eltern, wenn Sie noch nicht volljährig sind oder der Vormund — hat es für nötig gehalten, daß Sie hier eingewiesen worden sind und eine Behandlung erforderlich ist.

Aufnahme-Situation

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4. Oder aber Sie sind zu uns gekommen auf Grund einer Anordnung einer Behörde (Gesundheitsamt, Ordnungsamt), die es für notwendig erachtete, daß Sie in Ihrem eigenen Interesse und auch im Interesse der Öffentlichkeit hier sind und bleiben bis es Ihnen wieder besser geht. *

In allen Fällen ist die Behandlung für unsere Kranken die gleiche. Sie richtet sich nur nach dem vorliegenden seelischen Leiden und hat nur ein Ziel: Ihre Heilung zu erreichen — und zwar so vollständig und auch so schnell wie möglich, damit Sie Ihren Platz im öffentlichen Leben, in Ihrem Beruf und in Ihrer Familie wieder einnehmen können! *

Ich will so schnell wie möglich entlassen werden! Wir wissen, daß Sie so schnell wie möglich wieder entlassen werden wollen — Ihre Zeit ist kostbar und im übrigen gefällt es Ihnen hier nicht. Die Ärzte wünsdien, daß Sie so schnell wie möglich wieder gesund werden. Ihren Gesundheitszustand zu bessern und wenn möglich, eine Heilung herbeizuführen, ist den Ärzten Verpflichtung und Aufgabe. Die Krankenkassen und Versicherungen hoffen, daß die Zeit Ihres Aufenthaltes nicht lange dauert; denn Ihre Krankheit kostet viel Geld. Die Verwaltung wartet darauf, daß Ihr Bett wieder frei wird; denn die Anstalten und Kliniken sind überbelegt. Alle haben das gleiche Interesse: Sie selbst, die Ärzte, die Kasse und die Verwaltung: daß Sie schnell geheilt werden und schnell h e r a u s k o m m e n ! Die Ärzte werden ihr bestes versuchen, um Ihren Gesundheitszustand festzustellen und die entsprechende spezielle Behandlung für Sie einzuleiten. Denken Sie nicht, daß die Ärzte Zauberer wären, denen keine Fehler unterlaufen können. Die Ärzte können Ihnen nur helfen gesund zu werden, wenn Sie es selber wollen. Sie müssen mithelfen! Die Ärzte wissen viel und arbeiten gewissenhaft — aber sie können nichts tun, ohne Ihr Vertrauen und Ihre Mitarbeit! *

Wer entscheidet über meine Entlassung? 1. Wenn Sie Ihre Behandlung selbst gewünscht haben oder deren Notwendigkeit freiwillig anerkannt haben, so steht Ihrer Entlassung zu jeder von Ihnen geforderten Zeit während der Dienststunden nichts im Wege. Verlassen Sie unter diesen Umständen die Behandlung gegen ärztlichen Rat, so werden Sie mit einer erneuten freiwilligen Aufnahme nicht mehr rechnen können. Im allgemeinen wird ein Entlassungswunsch, der in der ersten Woche des Aufenthaltes bei uns geäußert wird, nicht als günstiges Zeichen für die Genesung gewertet werden können. Sie werden vom Arzt in der Regel gebeten werden, sich unvermutete Entlassungswünsche nochmals zwei bis drei Tage zu überlegen. Wir machen es uns zur Gewohnheit, mit jedem Patienten den Behandlungsplan zu besprechen, so daß jeder, der auf eigenen Wunsch hier aufgenommen wird, über alles genau unterrichtet ist. 2. Sind Sie von einem Arzt zu uns überwiesen worden, von Ihren Angehörigen, Nachbarn oder Freunden bei der Aufnahme begleitet worden — wie es bei den meisten unserer Patienten der Fall ist — so können Sie ebenfalls auf Ihren Wunsch hin jederzeit entlassen werden. Wir tun dies jedoch nur im Einvernehmen mit den Angehörigen oder denen, die sich freundlicherweise Ihrer angenommen haben. Wir legen in jedem Falle Wert darauf, daß Sie auch wieder hier abgeholt werden. 3. Wenn Sie noch keine 21 Jahre alt sind, also noch nicht volljährig sind, werden wir uns in jedem Falle mit Ihren Eltern oder Ihrem Sorgeberechtigten vor einer Entlassung in Verbindung setzen. Das gleiche gilt für den Fall, daß Sie einen Vormund haben. Eine Entlassung kann nur im Einvernehmen mit Ihren Eltern oder dem Vormund durchgeführt werden. Entscheidend für

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Ihre Entlassung ist jedoch das Urteil des Arztes. Sollten von Ihren Sorgeberechtigten Wünsche vorgetragen werden, die Ihre Entlassung ungerechtfertigt hinausschieben könnten, so seien Sie gewiß, daß I h r behandelnder A r z t mit dem Chefarzt einen Weg finden wird, Ihnen zu helfen. 4. Sind Sie jedodi durdi eine Behörde zu uns in die Heilanstalt oder - K l i n i k gekommen, so können Sie entlassen werden, wenn die Verfügung, die zu Ihrer Einweisung geführt hat, wieder aufgehoben worden ist. Die Entscheidung, ob die behördliche Einweisung notwendig war und ob sie weiter aufrecht erhalten bleiben muß, wird von dem behandelnden A r z t und dem Chefarzt unseres Hauses in V e r bindung mit einem dafür besonders beauftragten Richter auf Grund Ihres Gesundheitszustandes und dem Verlauf Ihrer Krankheit getroffen und gutachtlich festgelegt. Das ärztliche Urteil wird dann nicht nur in Ihrem Interesse festgestellt, sondern darin sind auch die Interessen der Öffentlichkeit zu berücksichtigen. H i e r wird es manchmal Unstimmigkeiten zwischen Ihrer Meinung und der Ansicht der Ärzte geben können. Bedenken Sie, daß Sie keinen besseren Verteidiger Ihrer wahren Interessen haben können als Ihren A r z t . Denken Sie daran, daß jeder Arzt in allen ärztlichen Angelegenheiten nur sich selbst und seinem ärztlichen Gewissen gegenüber verantwortlich ist und von niemandem in seinem Handeln bestimmt werden kann noch abhängig ist! Wenn Sie jedodi meinen, daß Ihnen kein Recht geschieht und Sie zu Unrecht hier behalten werden, so haben Sie folgende Gelegenheiten, Ihre Meinung zu den Fragen zu äußern: Betrifft es die Entscheidungen und Maßnahmen der Ärzte, so schreiben Sie an: Wollen Sie gegen die behördliche Einweisung protestieren, so wenden Sie sich a n : Sind Sie mit den Anordnungen Ihres Vormundes (Pflegers) nicht einverstanden, so teilen Sie dies dem Amtsgericht mit, das für Ihren Wohnort zuständig ist. Diese Briefe werden sofort mit der Post weitergeleitet. *

Was ist aus meinen persönlichen Sachen geworden ? W o sind mein Geld und meine Wertgegenstände geblieben? I h r häusliches H a b und Gut ist durch die für Ihren Wohnort zuständige Fürsorgerin registriert und in Sicherheit. Es ist dafür gesorgt, daß in Ihrer Wohnung nichts verderben kann. Sie werden nach Ihrer Rückkehr alles wieder vorfinden und brauchen sich nicht zu beunruhigen, daß man sich nicht darum kümmern könne. Die Miete und die laufenden Rechnungen für Licht, Gas und Telefon werden bezahlt. Falls Sie hierzu noch Fragen haben, wenden Sie sich an unsere Sozialfürsorgerin. Ihr Geld und Ihre Wertgegenstände haben wir zunächst in Verwahrung genommen. Es ist alles genau registriert. W i r denken, daß wir Ihnen die Sachen schon in einigen Tagen wieder zu Verfügung stellen können, wenn sich Ihr Zustand wieder gebessert hat. *

Die Arbeit in der Heilanstalt oder . . . -Klinik Die Ä r z t e Die Heilanstalt oder - K l i n i k wird vom Chefarzt ärztlich geleitet, der zugleich als Direktor für alle Angelegenheiten verantwortlich ist. Ihm steht ein stellvertretender Direktor in allen B e langen zur Seite, der ärztlich als Oberarzt wirkt. Die Behandlungen werden auf den einzelnen Abteilungen durch die Stationsärzte durchgeführt. D e r N a m e Ihres Stationsarztes ist Seite . . . verzeichnet. Wenden Sie sich bitte mit allen Fragen, die Sie betreffen, insbesondere Ihre Behandlung, an ihn. E r wird für Sie Zeit haben. Wenn Sie ihn außerhalb der Visiten sprechen wollen, so sagen Sie es der Stationsschwester. Bedenken Sie, daß die Behandlung für Sie am besten ist, wenn sie nur durch Ihren Stationsarzt durchgeführt wird. E r kennt Sie am besten und hat mit den anderen Ärzten und dem C h e f a r z t eingehend über alle Fragen, die Sie und Ihren Gesundheitszustand angehen, gesprochen.

Die Arbeit in der Heilanstalt oder Klinik

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In jeder Wodie finden ärztliche Zusammenkünfte statt. Sie werden den Ärzten vorgestellt, damit gemeinsam beraten werden kann, was f ü r Sie das Beste ist. Vertrauen Sie Ihrem Stationsarzt und beaditen Sie seine Ratschläge. Fragen Sie nidit andere Ärzte um ihre Meinung über Ihren Gesundheitszustand; denn Ihr Stationsarzt wird alles für Sie Möglidie tun. Haben Sie jedoch Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Behandlung, die Ihr Stationsarzt für richtig hält, so wenden Sie sich an den Chefarzt oder seinen Stellvertreter. Schreiben Sie ihm Ihre Wünsche auf oder bitten Sie um eine Unterredung mit ihm; Sie werden Gelegenheit haben, ihn zu sprechen. *

Der

Psychologe

Wenden Sie sich an ihn mit allen Fragen, die die Kleinigkeit des Alltags betreffen. Eröffnen Sie ihm alle Schwierigkeiten, Besorgnisse und die Dinge, die Ihr Wohlbefinden stören. Er hat die Pflicht, sidi mit Ihnen vom psychologischen Standpunkt zu unterhalten und mit Ihnen einige Untersuchungen zu madien, die Ihnen sicher Freude bereiten werden, zumal sie sehr anregend sind. Kommen Sie auch ihm mit Vertrauen entgegen; denn auch der Psychologe will Ihnen helfen.

DieAnstaltsordung Immer, wenn Menschen zusammenleben, müssen gewisse Regeln eingehalten werden, wenn nidit alles drunter und drüber gehen soll. In der Anstalt ist auf den Stationen die Schwester Oberin f ü r diese Ordnung verantwortlich und auf Ihrer Station sorgt Ihre Stationsschwester dafür. Auf den Männerabteilungen ist es der I. Oberpfleger und auf der Station der Stationspfleger. An diese können Sie sich in allen Fragen wenden, die mit der Ordnung in der Anstalt zu tun haben. Haben Sie jedoch Klagen über eine Schwester oder einen Pfleger, so sagen Sie das Ihrem Stationsarzt. Vom ärztlichen Standpunkt wird Wert darauf gelegt, daß keine Unstimmigkeiten zwischen den Patienten und dem Pflegepersonal aufkommen.

Der

Sozial-Fürsorgedienst

Es arbeiten zwei Sozialfürsorger in der Anstalt. Sie finden den Namen des Fürsorgers, der sich Ihrer annimmt, auf Seite . . . vermerkt. Er hat die Aufgabe, Ihnen behilflich zu sein, wenn Sie mit Ihrem Arbeitgeber, der Sozialversicherung oder Behörden und Ämtern zu tun haben. Ebenso kümmert sich der Fürsorger um Sie, wenn es der Entlassung entgegen geht und f ü r Sie wieder eine Arbeitsstelle gefunden werden soll. Erwarten Sie keine Wunder von dem Fürsorger. Er hat nidit die Möglichkeit, alles, was Ihnen im Wege steht, wegzuräumen, er ist auch kein Stellenvermittlungsbüro. Aber der Fürsorger wird Ihnen in vielen Einzelheiten nützlich sein und Sie auf Erleichterungen hinweisen und auf Möglichkeiten aufmerksam madien, die Ihnen nicht bekannt sind. Er hat das Interesse und die Aufgabe, Sie wieder in eine Arbeit zu bringen, die für Sie am passendsten ist.

Die

Stationen

Wir haben mehrere Häuser mit Stationen, in denen entweder Frauen oder Männer untergebracht sind. Die Einrichtung der Stationen ist wahrscheinlich nicht in allen Fällen so, wie Sie es sich vorgestellt haben. Das liegt daran, daß wir besondere Rücksichten auf verschiedene Kranke nehmen müssen. Das ist auch der Grund, weshalb in einigen der Stationen die Türen geschlossen gehalten werden müssen. In anderen sind die Türen offen. Die Tatsache, in der einen oder anderen Station untergebracht zu sein, bedeutet nichts Nachteiliges für Sie. Sie können versichert sein, daß Ihr behandelnder Arzt alles daran setzen wird, Sie auf der Station unterzubringen, die Ihrem Gesundheitszustand entspricht.

Die

Behandlung

Kein Mensch ist dem anderen gleich und deshalb ist auch kein Krankheitszustand mit einem anderen zu vergleichen. Deshalb ist f ü r jeden ein Heilverfahren erforderlich, das seinen besonderen Verhältnissen entspricht. Ob es sidi um medizinische Behandlungen, Spiele, Spaziergänge

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Aufnahme-Situation

oder U r l a u b handelt, immer wird versucht, ihren individuellen Verhältnissen entgegenzukommen. Wundern Sie sich also nidit, daß das, was man Ihnen erlaubt oder verweigert, einem anderen Patienten gestattet oder nicht gewährt wird. D i e Möglichkeiten der Behandlung in unserem H a u s e sind: D i e medizinischen Behandlungen: durch Tabletten, vermittels Spritzen, durch zentrale elektrische Durchflutungen, Stoff Wechselumstellungen durch Insulinkuren, Schlafbehandlungen usw. Diese Kuren zielen daraufhin, Ihr Nervensystem zu beruhigen und zu kräftigen und Ihren Organismus umzustimmen. D i e Behandlungen werden durch Ihren A r z t mit den Schwestern und Pflegern Ihrer Station durchgeführt. D i e physikalische Behandlung: Massage, G y m n a s t i k , elektrische, insbesondere Kurzwellentherapie, Höhensonnenbestrahlungen sowie verschiedene Sportarten. Diese Behandlung wird ausgeführt von unserer Masseuse, einem Sport- und Gymnastiklehrer und manchmal einer Schwester oder einem Pfleger als Vorturner. *

Beschäftigungen u n d besondere Arbeiten Es sind zahlreiche Werkstätten vorhanden, wie z. B. eine Modelliererei, Malerei, Korbmacherei, Teppichknüpferei, Buchbinderei, Tischlerei usw. Sie können auch in der Landwirtschaft oder in unserer Gärtnerei eine Tätigkeit finden. H a u s f r a u l i c h e Arbeitsgruppen sind noch mehrere vorhanden. Alle diese Beschäftigungsmöglichkeiten haben z u m Ziel, Ihnen zu ermöglichen, sich wieder an eine Tätigkeit zu gewöhnen b z w . sie nicht aus der Ü b u n g kommen zu lassen. Ihr A r z t w i r d Ihnen raten, welche Beschäftigung er f ü r Sie am günstigsten hält. Wir halten die Arbeit, in der bei uns geübten F o r m f ü r eine besondere F o r m der aktiven Behandlung, die Ihnen helfen soll, möglichst bald wieder in Ihre gewohnten Verhältnisse zu kommen. N e h m e n Sie also Ihren K r ä f t e n gemäß daran teil! Auch wenn Sie sonst nicht gewohnt sein sollten, in irgendeiner F o r m handwerklich tätig zu sein, können Sie — ohne eine besondere Lehrzeit — in unseren Werkstätten eine interessante Beschäftigung finden.

Unterhaltungsmöglichkeiten Suchen Sie Zerstreuung in der Gemeinschaft mit den anderen? Wir haben verschiedene Vereine, denen Sie sich während Ihres Hierseins anschließen können. H i e r können Sie in gemeinschaftlichem Spiel mit den anderen Ihre Selbstverantwortlichkeit wieder stärken und wieder M u t z u m Leben finden. D i e Ä r z t e legen großen Wert d a r a u f , daß Sie sich bei der einen und anderen Vereinigung anschließen; denn diese Zerstreuungen sind f ü r Sie mindestens genau so wichtig wie die medizinischen Behandlungen und eine regelmäßige Beschäftigung. Es finden regelmäßig Spiele, Tanzveranstaltungen, K i n o , Theater, Musikveranstaltungen, V o r lesungen von Märchen oder sportliche Veranstaltungen statt, zu denen alle eingeladen sind.

Allgemeine

Mitteilungen

Briefe und K a r t e n werden im allgemeinen nur am Sonntag, können aber auch an jedem anderen T a g e geschrieben werden, wenn es dringend ist. In Ihrem Interesse können sie von Ihrem A r z t eingesehen werden. Wenn er eine Absendung nicht f ü r zweckmäßig hält, wird er Sie d a v o n unterrichten. Wegen des B r i e f p a p i e r s und der Marken wenden Sie sich an Ihre Stationsschwester. Sie braudien nicht als unbemittelt zu gelten, wenn Sie kein Geld f ü r das P o r t o haben; denn in unseren Werkstätten können Sie ein kleines Taschengeld f ü r Ihre Tätigkeit bekommen! Ihre hiesige Anschrift lautet: Besuche können Sie an folgenden Tagen e m p f a n g e n : D i e besten Fahrverbindungen sind: D i e Kleidung wird Ihnen bei längerem Aufenthalt gestellt. Eigene Sachen müssen gezeichnet werden. Toilettensachen werden Ihnen gestellt, wenn Sie keine mehr haben.

Visiten-Situation

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Der Chefarzt hat für Angehörige Sprechstunde: Die Stationsärzte sind für Ihre Angehörigen zu sprechen: Wenn Ihre Angehörigen sicher sein wollen, Ihren behandelnden Arzt anzutreffen — die Ärzte haben des öfteren Verpflichtungen außerhalb des Krankenhauses — so fragen Ihre Angehörigen (mit Porto für eine Rückantwort) an: Wegen der Bestimmungen über die ärztliche Schweigepflicht können telefonische Auskünfte nicht gegeben werden. Den Sozialfürsorger können Ihre Angehörigen sprechen: *

Taschengeld bekommen Sie, wenn Sie sich in unseren Werkstätten zum Nutzen Ihrer Gesundung betätigen. Sie haben dadurch etwas Geld für Ihre kleinen Wünsche. Ihr Geld kann bei der Kasse in der Verwaltung verwahrt werden. Wenden Sie sich deswegen an Ihre Stationsschwester bzw. -pfleger. Der Chefarzt (Direktor): Der Oberarzt (Stellvertretender Direktor): Die Stationsärzte: 1: (getrennt nach Frauen- und Männer-Stationen)

2 3: Der Der Die Die Der Der Die Die Der Die

usw. Psychologe: Sozialfürsorger: Sozialfürsorgerin: Schwester Oberin: I. Oberpfleger: Sport- und Gymnastiklehrer: Masseuse: Bildhauerin, der Maler usw Kassenbeamte: Chefsekretärin:

Visiten - Situation Wird dem neu aufgenommenen Kranken mit diesem Heftchen eine Einleitung gegeben, so weiß er um viele Dinge Bescheid und ein Teil seiner Unsicherheit ist von ihm genommen, die ihn sonst quälen würde. Die Wichtigkeit der guten Überwindung der Aufnahmesituation ist von v. Baeyer immer wieder deutlich hervorgehoben worden. Auch Mauz spricht davon, daß die gelungene Meisterung einer Neuaufnahme als eine wichtige therapeutische Handlung angesehen werden muß. Bei dem Bekanntwerden mit der neuen Umgebung, mit den ungewohnten Gesichtern gilt es, Vertrauen zu gewinnen und Mißtrauen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der neue Kranke darf nicht das Gefühl des Ausgeliefertseins bekommen. Die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung ist für den Kranken ein zusätzliches Trauma und es ist erforderlich, ihm dies in der geeigneten Weise klar zu machen. Das juristische Trauma', das ihm in vielen Fällen zugefügt wird, ist eine zusätzliche Komplikation für den seelisch Kranken oder Gestörten.

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Visiten-Situation

Ist der neue Patient durch die kleine Brosdiüre den Problemen gegenüber schon etwas aufgeschlossen, so hat er von sich aus die Möglichkeit, Fragen zu stellen und er braucht sich nicht hilflos vorzukommen. Es ist zweckmäßig, einmal in der Woche auf der Aufnahmeabteilung ein Gruppengespräch mit den Patienten zu arrangieren, die zuletzt gekommen sind. Sivadon veranstaltet dieses erste Gruppengespräch zusammen mit seiner Psychologin, die bei ihm noch eine besondere Rolle spielt. Er bezeichnet sie als ,h6tesse' und sie betätigt sich als Beraterin und Hausmutter der Aufnahmea'bteilung. Das Gruppengespräch kann in jeder Woche unter dem gleichen Thema angekündigt werden, etwa: „Sie sind seit einigen Tagen als Patient hier; wenn Sie an der Stelle des Chefarztes stehen würden, welches wären dann die Verbesserungen, die Sie vorschlagen könnten?" Man wird immer wieder überrasdit sein, wieviele Dinge von den Patienten atisgesetzt werden — und vor allem wieviele Mängel sich davon beheben lassen, ganz abgesehen davon, daß solche Stunden auf das Pflegepersonal viel erzieherischer wirken als alle Fortbildungskurse, zu denen sie mehr oder weniger freiwillig gehen. Wir haben gesehen, daß das gleiche Thema eigentlich für die Patienten immer aktuell bleibt, solange sie in der Heilanstalt bleiben. Wenn die Kranken als Versuch zum Ubergang in die Beurlaubung auf die offene Abteilung kommen, also von allen anderen Stationen der Anstalt — unruhige Wache, ruhige Wache, geschlossene Nichtwache — zusammenkommen, so ist gerade die Frage nach möglichen Verbesserungen und Erleichterungen des Lebens in der Anstalt ein unerschöpflicher Gesprächsstoff für alle. Und immer kann dieses Gruppengespräch mit Gewinn beendet werden. Es ist notwendig, sich auf die Dauer von etwa dreiviertel Stunde zu beschränken. Zu beachten ist, daß diese Gespräche nicht ein Forum werden, in dem sich die psychopathischen Persönlichkeiten produzieren. In dem wöchentlichen Gespräch auf den Aufnahmeabteilungen hat der Chefarzt die besten Möglichkeiten, sich über die neuen Patienten einen Eindruck zu verschaffen. Hier ergeben sich auch die Ansätze für die geeigneten Behandlungsmethoden für den einzelnen, die dann mit dem behandelnden Arzt anschließend besprochen werden können. Die Krankenvorstellungen in Gegenwart mehrerer oder gar aller Ärzte der Anstalt und die anschließenden oder davon getrennt stattfindenden großen Visiten sind für unsere Patienten nicht förderlich. Simon hat schon darauf hingewiesen und daran energische Kritik geübt, und Schulte hat sich eigens der ,Visitensituation' angenommen. Es ist sicher richtig, daß die Ärzte, die beginnen, mit dem psychiatrischen Krankengut bekannt zu werden oder Amtsarztanwärter, die nur einige Monate als Gäste in den Anstalten tätig sind, möglichst viele seelische Kranke kennenlernen sollen. Das ist aber bei Krankendemonstrationen durch den Arzt der Aufnahmeabteilung nicht möglich. Hier ergibt sich nur ein skizzenhaftes Querschnittsbild, das aufgezeichnet wird, um dem Erstuntersuchenden die Diagnose zu bestätigen und dazu da sein soll, den anderen Ärzten einen informatorischen Einblick zu gewähren. Dieser kursorische Überblick reicht jedoch nicht aus, um Anlaß zu differentialdiagnostischen Erwägungen zu geben, handelt es sich doch eben nur um erste Eindrücke. Sind diese zwar für den Erfahrenen aufschlußreich, so lassen sie dennoch keine bindenden Schlüsse zu. Und für den Lernenden verwischen sich die zusammenfassenden Eindrücke, in denen sich die Exploration nur so weit erstreckt, als sie Befunde für eine Diagnose ergeben soll.

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Wir sprechen gewöhnlich von Explorationen oder Nachexplorationen. Der Zeiger bei diesen Aussprachen zeigt lediglich in Richtung auf den Patienten, wenn nicht nur in Richtung der Differentialdiagnose, so daß man in Protokollen, in denen der Rapport nicht geglückt ist, finden kann, daß der Patient zu den angeschnittenen Fragen nicht mehr habe sagen wollen, daß er jede weitere Unterhaltung ablehne, ja, daß man aus ihm nicht mehr habe ,herauskriegen' können. Ein Gespräch zwisdien einem Psychiater und seinem Patienten muß immer diagnostisch und therapeutisch zugleich sein. Es kann nicht das Schema angewandt werden, wie es in den übrigen klinischen Disziplinen üblich und richtig ist, sich zuerst der Anamnese, dann der Untersuchung mit der anschließenden Diagnose und schließlich der Therapie zuzuwenden. In der Psychiatrie können wir nicht in den Kranken mit bohrenden Fragen eindringen. Es kann nur ärztliche Gespräche geben, die zwischenmenschliche Begegnungen eröffnen oder herstellen, Gespräche, die diagnostisch sind und zugleich eine Therapie bedeuten, weil wir immer versuchen müssen, auch dem Kranken etwas zu geben. Der Psychiater ist in einer Berufssituation, die ihn zu schnell verleitet, selbstherrlich zu reagieren. Er ist in einer ähnlichen Lage wie die Lehrer. Beide haben es in der Regel mit Abhängigen zu tun und können es sich gestatten, immer das letzte Wort zu haben. Daß dies so ist, geht schon daraus hervor, wie der Humor die Verhaltensweise dieser Berufsgruppen im Volke registriert. Die Vorstellungen der Kranken vor dem Chefarzt und dem Ärztekollegium müssen beim Kranken ein Gefühl der Unterlegenheit und Abhängigkeit hervorrufen. Sie können es nicht aussprechen oder meinen, sie würden Nachteile davon haben, wenn sie gegen die Vorstellung protestieren. Damit die Demonstration der Kranken auch schnell hintereinander erfolgen kann, wird sie von dem Pflegepersonal ,vorbereitet', d. h. die Patienten sitzen schon lange vorher in einem kleinen Warteraum, bis sie aufgerufen werden. Im günstigen Falle sind sie beiläufig über die Vorstellung unterrichtet worden, jedoch meist in bagatellisierender Form. Diese Art und Weise der Praxis zeigt, daß der Arzt meist ein schlechtes Gewissen hat, wenn er so handelt. Würde er nicht den Protest der Kranken erwarten, so könnte er es ihnen ja richtig erklären und um ihr Einverständnis bitten. U n d hier handelt es sich ja nicht um eine Maßnahme, die man mit dem Kranken vornehmen will, die man gegen seinen Willen zu seinen Gunsten durchführen zu müssen glaubt, sondern um eine Handlung, von der man schwerlich behaupten kann, daß sie im Interesse des Kranken geschehe. Zur Sicherung der Diagnose durch einen zweiten Arzt, durch den Oberarzt oder Chefarzt ist ja keine Vorstellung mit der Darlegung psychischer Inhalte und anschließender Befragung inmitten eines größeren, bis dahin unbekannten Personenkreises erforderlich, selbst wenn es sich nur um Ärzte dabei handelt. Diese Prüfungssituation ist für den Kranken nicht angemessen, sondern schädlich. Diese Art des Vorgehens mag aus der gesamten klinischen Erziehung erklärt werden können, die sich während des ganzen Studiums nur um die Diagnose und Differentialdiagnose drehte. Wann haben wir während der klinischen Semester einmal etwas von der Therapie gehört? Es hieß immer, die sei nicht so wichtig und ergäbe sich von selber. Inzwischen ist die Psychosomatik modern geworden und den Dingen wird mehr Gewicht beigelegt. Überlegt man sich die psychiatrische Situation, so gab es während der Ausbildungszeit der heutigen älteren Generation ja kaum andere Probleme als diagnostische, weil die

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eigentliche intensive Behandlung organischer Art erst mit dem Insulin während der dreißiger Jahre begonnen hat. Und auch danach und jetzt ist die Lage eine ähnliche geblieben. Wir haben zwar unser therapeutisches somatisches Rüstzeug erweitern können, wissen aber im Grunde genommen über die Ursache der seelischen Störungen immer noch nicht mehr. Nur werden wir den Problemen in Überblicks-Diagnosen bei großen Visiten nicht näher kommen; un.d auch der Lernende hat sicher mehr Gewinn, wenn er einem älteren Kollegen während ärztlicher Aussprachen diagnostisch-therapeutischer Art beiwohnen kann. Das wichtigste, demgegenüber sind die anderen Dinge nur Nebenergebnisse, ist jedoch, daß auf diese Weise der Kranke seiner Individualität entsprechend am schonendsten und somit im Ergebnis am ergiebigsten behandelt werden kann. In einem psychiatrischen Krankenhause, in dem dafür gesorgt werden soll, daß die Lebensumstände sich möglichst dem ,normalen Leben' angleichen, sind die Begleitumstände, die mit einer solchen großen Visite verbunden sind oder damit verbunden werden, ohne rechten Sinn; denn die meisten Dinge, die schon Stunden vorher, in Erwartung und während der Visite passieren, entziehen sich der Kenntnis -des Chefs und der Ärzte. Jedenfalls haben diese Ereignisse mit gewöhnlichem Tagesablauf wenig zu tun, sondern am ehesten mit einem Appell beim Militär. Da ist zunächst die sinnlose, übertriebene Putzerei, wie sie auf den Frauen-Stationen beobachtet werden kann. In jedem Krankenhause muß auf peinliche Sauberkeit geachtet werden, aber das ,Spiegel-Bohnern' vor Chefvisiten ist unsinnig. Man kann sagen, daß das alles sein Gutes hätte und seit Jahrzehnten so gemacht worden ist — das ist beim Militär auch immer gesagt worden, um Drill und Schikanen zu entschuldigen. Und ähnlich ist es hier. Da wir in der Anstalt — wenn sie nicht aus kleinen Pavillons besteht — meist in kasernen-ähnlichen Gebäuden unsere Kranken untergebracht haben, ist auch das Reglement auf den Abteilungen diesem Geiste ähnlich. Und drängt sich nicht bei der großen Visite der Vergleich mit einem Kommandeur und seinem Stabe auf, wenn der Chefarzt mit seinen Mitarbeitern, der an einem Vormittage Hunderte von Patienten im Vorbeigehen sieht, mit dem einen spricht, den anderen mustert und hier und da jemanden auf die Schulter faßt oder ihm ein Grußwort zukommen läßt. Muß sich hierbei nicht jeder Patient wie eine Nummer behandelt vorkommen? Hier sind seine eigensten Interessen nicht gewahrt, hier handelt es sich nur um die Erfüllung einer Dienstvorschrift aus alten Zeiten, daß der Leiter einer Anstalt oder Klinik verpflichtet ist, einmal in der Woche Rundgänge durch alle Abteilungen zu machen, so daß jedem Kranken Gelegenheit gegeben sei, ihn zu sprechen. Gewiß ist jedem Kranken die Gelegenheit gegeben. Zu leicht entsteht der Eindruck der Ordnung; denn wie schwer ist es, selbst wenn den einzelnen Patienten geraten worden ist, den Chefarzt anzusprechen, das dann auch zu tun. Die persönliche Intimität ist ja auch nicht gewahrt, alle anderen stehen dabei, die Ärzte hören alle zu, das Pflegepersonal sieht es selten gerne, denn man will nicht auffallen. Viele Kranke werden zurückgehalten, sie müssen artig am Tisch sitzen, damit die Visite, auf die man sich solange vorbereitet hat, schnell wieder vorbei und alles gut ist. Wird von dem Chefarzt ein Kranker angesprochen, so hat es meist informatorische Gründe. Durch einige gezielte Fragen soll möglichst viel an Inhalten eruiert werden. Der zuständige Abteilungsarzt versucht, den Chefarzt dabei nach Möglichkeit zu unterstützen. Weil er die Wahngedanken oder Sinnestäuschungen des Patienten besser kennt,

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ist er in der Lage, seine Fragestellung noch genauer zu fassen. Wieder kommt der Kranke sich vor, als sollte er demonstriert werden. Es ist ja auch gar nicht schlecht gemeint von allen Beteiligten, nur muß sich der Kranke überrumpelt und ausgefragt vorkommen. Ist er nämlich dabei, von sich zu erzählen und meint, eine Gegelenheit zu haben, um sich zu eröffnen — wenn er die dazu wenig geeignete Gesamtsituation überwinden sollte — so ist das diagnostische Interesse der Ärzte bald befriedigt und man wendet sich dem Nächsten zu unter beschwichtigenden Äußerungen dem gegenüber, der glaubte, sein Herz ausschütten zu können, der darauf wartet, einen positiven Hinweis für sich und seinen weiteren Weg zu erhalten. Die nicht angesprochenen Kranken fühlen sich nachher benachteiligt und machen den anderen Vorwürfe, sie würden bevorzugt. Geht man in sachlicher Weise über die sich zeigenden nuancierteren Rührungen des Kranken hinweg, so trägt dies sicher nicht zu seiner Beruhigung bei. Wenn ein Kranker, dessen gegenwärtiges Zustandsbild im Kreise der Ärzte mit flüsternder Stimme in dessen Beisein besprochen wird, anfängt zu weinen, so sind wir leicht geneigt, diesen Gefühlsausbruch als Affektambivalenz unseren übrigen entdeckten Symptomen der krankhaften Störungen hinzuzufügen. Oder wir sprechen in diesem Fall sogar von inadäquatem Verhalten. Selbst wenn sich die Ärzte für ihre Besprechungen im Krankensaale einer besonderen Kliniksprache bedienen und vom .Morbus Bleuler' oder von ,einer Vierzehn' sprechen, so machen diese Verklausulierungen die Situation nur noch schwieriger und sie sind sicher nicht dazu angetan, das Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient zu stärken. Mit dieser Art der Durchführung der Visiten und Explorationen leisten wir tatsächlich .psychotische Arbeit', wie es Mauz einmal gekennzeichnet hat. Die mustergültige Ordnung auf der Abteilung geht nach der Visite — insbesondere nach solchen skizzenhaften Kurz-Explorationen — in ein großes Rätselraten und gegenseitigen Meinungsaustausch über, was diese und jene Bemerkung zu bedeuten hatte. Da die Kranken auf ihre Art immer wieder findig sind, dauert es nicht lange, bis der spezielle J a r g o n ' der Klinik bald herausgekommen ist. Wir haben einmal innerhalb von Wochen unsere Abkürzungen mehrmals umgestellt von Wassermann — Wa.R. zu Kahn-(Reaktion) bis ,Queen Mary' als Übertragung für Kahn als dem größten Schiff der Welt. Der Arzt, der dem Chefarzt die Patienten auf seiner Station vorstellt, spricht leise, um den Kranken zu schonen. Infolgedessen können die anderen Ärzte nichts von den Erwägungen hören. Sie unterhalten sich dann untereinander oder machen interessierte Gesichter oder versuchen sich ebenfalls in Eindrucks-Diagnosen. Die anderen Ärzte lernen nicht die Patienten kennen, sondern sie werden im Endeffekt zur Oberflächlichkeit erzogen, weil man die Einzelheiten doch nicht auffassen kann. Es ergibt sich also, daß die Einrichtung der Krankendemonstrationen für das Ärztekollegium und die großen Visiten mit dem Chefarzt für keinen der Beteiligten von Nutzen ist. Für alle ergeben sich nur verwertbare Ergebnisse — für den Chefarzt, den Abteilungsarzt und für den Patienten — und um diesen geht es ja — im ärztlichen Gespräch, in dem eine echte zwischenmenschliche Begegnung möglich ist. Wird die Aussprache mit dem Chefarzt in geeigneter Weise durch den Stationsarzt vorbereitet, so kann sie mit ein Baustein in dem therapeutischen (diagnostischen) Gebäude sein, und für alle nützliche Ergebnisse bringen.

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Diese Situation für Patienten und Ärzte herzustellen, ist lediglich eine Frage der Organisation, die an H a n d der besonderen Umstände, wie sie für jede Anstalt oder Klinik gegeben sind, eingerichtet werden kann. Es ist nur notwendig, sich über diese Fragen klar zu werden und vor allem im kranken Gegenüber unserer Patienten das Individuum zu sehen, daß ein Recht hat, für sich selbst gewertet zu werden. Wir haben die Pflicht, dem entgegen zu kommen!

Moralische Therapie Während der Visiten, und besonders bei den großen Visiten, werden die Ärzte in allen Anstalten immer wieder angesprochen und um eine Unterredung gebeten. N u r zu leicht werden den Patienten dann Versprechungen abgegeben, die nicht gehalten werden, die schon, wenn sie ausgesprochen werden, nicht als echte Versprechungen angesehen werden von denen, die sie zusagen. Diese Versprechungen werden meist im wohlwollenden, mitfühlenden Ton vorgebracht, untermalt von Gebärden, die Vertrauen erwecken sollen. Die Kranken glauben auch daran, besonders, wenn sie die zusagenden Antworten zum ersten Male hören, und sie glauben um so mehr an die Erfüllung, je höher der Dienstgrad des betreffenden Arztes ist. Wie oft handelt es sich hierbei gar nicht um echtes Versprechen, sondern nur um Aussagen, die in die Form einer Zusage gekleidet sind, um den Patienten durch die Bewilligung seines Wunsches möglichst schnell wieder loszuwerden! Wie häufig werden die Zusagen in verschleierter Form gemacht, so daß sie dem Kranken als solche erscheinen müssen, sie in Wirklichkeit aber so formuliert waren, daß Variationsmöglichkeiten der Auslegung vorhanden sind! Und wie oft werden echten Wünschen und Bedürfnissen der Kranken gegenüber Vertröstungen geäußert, von denen man genau weiß, daß sie nicht eingehalten werden können, weil das gar nicht möglich ist! Wir müssen unseren Kranken ehrlich gegenübertreten. Wenn es sich auch nicht um Lügen bei diesen Versprechungen handelt, so gibt es doch viele Fälle, bei denen wir ganz genau wissen, daß wir das Versprechen, das wir gegeben haben, nicht halten können. Wenn wir die Zusage abgeben, so wissen wir, daß wir in den nächsten Tagen sicher nicht dazu kommen werden sie einzuhalten. Und wir beruhigen uns bei dem Gefühl, daß wir es dann im Laufe der Tage mit einem vollen Terminkalender ,vergessen' können, weil es eben wirklich nicht einzurichten geht. So kann es dann im Laufe der Zeit kommen, daß man als Arzt seinem Patienten gegenüber ein schlechtes Gewissen hat. Bei einer erneuten Nachfrage des Kranken, etwa eines paranoiden Schizophrenen, geben wir dann zu, daß wir die Zusage für eine Unterhaltung vergessen haben und machen eine neue, die wieder vergessen wird. Beim dritten Male wird dann gesagt, diesmal denke ich aber daran. Wenn es gut geht, handelt es sich dann, wenn eine feste Zeit verabredet ist, zwar um eine Aussprache, aber auch dann nur um eine, die getan wird, um das mehrmals vergessene Versprechen zu erfüllen und das eigene Gewissen zu besänftigen. Durch das Gehetztsein unserer täglichen Arbeit mit den vielen Terminen ist es verständlich, wenn vom Arzt vertröstende Versprechungen gegeben oder auch Notlügen ausgesprochen werden; nur wind seine Vertrauensbasis dadurch geschmälert. Es ist sicher richtig, um das zu vermeiden, sich folgende Verhaltensweise zur Regel zu machen:

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Kein Arzt gebe einem Kranken ein Versprechen, das er nicht halten kann. Wenn er einem Patienten etwas zugesagt hat, das nicht in der angekündigten Form eintreffen kann, weil sich z. B. die Umstände geändert haben, so versäume man nicht, sich bei dem Patienten deswegen zu entschuldigen. Praktisch kann man es so machen, daß jedem Kranken, der ernsthaft um eine Aussprache bittet, sofort ein Termin genannt wird, der eingehalten werden kann. Immer wieder ist man erstaunt, wie sehr sich die Kranken hierauf einstellen und zufrieden sind, wenn sie sehen, daß jeder zu seinem Recht kommt. Es spielt dann gar keine Rolle, wenn z. B. geantwortet wird, daß man vor Dienstag in der nächsten Woche keine Zeit zur Verfügung habe und dann auch erst am Nachmittag; wenn nur zu diesem Zeitpunkt die Unterredung stattfindet. Dann hat der Kranke das Bewußtsein, daß er zu seinem Recht kommt. Bewährt hat sich diese Methode bei ausklingenden Manien, denen alle 8 Tage ein Aussprachetermin zugesagt wurde. Den Kranken, die in diesen Stadien sehr um ihre Entlassung besorgt sind, wurde gesagt, daß es als Zeichen einer Verschlechterung ihres Zustandes gewertet werden müsse, wenn sie unbedingt vor Ablauf einer Woche auf einer erneuten Unterredung bestehen würden. Die Regedmäßigkeit der ärztlichen Gespräche ist für die Patienten von großer Wichtigkeit und schafft eine Atmosphäre der gegenseitigen Ubereinkünfte und somit des Vertrauens. Was Mauz für die akuten seelischen Störungen hier immer wieder betont, gilt in gleicher Weise für die Patienten mit einer längeren Krankheitsdauer, die schon monate- oder jahrelang in Anstaltsbehandlung sind. Was für die ersteren der regelmäßige tägliche nahe Kontakt mit dem Therapeuten ist, kann für die anderen in weiteren Abständen von Nutzen sein. Ein noch vielfach anzutreffender Anblick bei Visiten ist der, daß die Kranken im Tagesraum ihrer Abteilung, im Schlafsaal, in einem Hof oder Garten, auf den Arzt oder auch dessen Besucher losstürmen, ihn etwas fragen, ihm Briefe zustecken und nidit von seiner Seite weichen. Daß dabei meistens durcheinandergeredet wird, braucht nidit besonders erwähnt zu werden. Diese Situation scheint vielfach als unabänderlich aufgenommen zu werden. Sie ist ganz einfach zu verhindern. Konsequent ist bei den morgendlichen Rundgängen des Arztes so lange nicht auf den Wunsdi eines Kranken einzugehen, bis sich alle wieder an ihren gewohnten Platz im Tagesraum, an ihre Arbeitsstelle in den Werkstätten und Betrieben oder auf ihre Bank im Park oder Garten begeben haben mit dem Vermerk „Warten Sie bitte, ich komme zu jedem von Ihnen!" Selbst wenn man durch andere — vielleicht wichtiger erscheinende — ärztliche Tätigkeiten angespannt ist, kann man bald die Erfahrung machen, daß sich der Mehraufwand an Zeit gelohnt hat; denn man benötigt letztlich weniger Zeit. Es hängt natürlich vom Charakter der Abteilung ab, bis alle Kranken sidi daran gewöhnt haben. Es geht auch nur, wenn man sich tatsächlich jedem Kranken zuwendet, auch denen, die an dem einen oder anderen Tage keine Wünsche oder Fragen haben. Es ist zudem erstaunlich, wie sehr diese Art des Vorgehens auf die Ruhe der Abteilungen einen guten Einfluß hat. Durch die größere Ordnung, die bei dem Nacheinander möglich ist, kommt jeder mehr zu seinem Recht, und jeder ist zufriedener. 3 Praktische Psychiatrie

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Dem Kranken muß gerecht und ehrlich begegnet werden. Seit den Zeiten von Pinel wird eine allgemein wohwollende menschliche Behandlung der seelisch Kranken als selbstverständlich angesehen. Diese Grundprinzipien, die Gerechtigkeit und die Ehrlichkeit dem Kranken gegenüber, sind von Simon herausgestellt worden und von Baruk zu einem therapeutischen System entwickelt worden; mit diesen beiden Begriffen und den sich daraus ergebenden Handlungsweisen ist die ,moralische Therapie' am bezeichnendsten umschrieben. Genauso wenig, wie man davon sprechen kann, daß in einer Anstalt die ,aktivere Behandlung* durchgeführt wird, wenn eine gewisse Anzahl von Kranken mehr oder weniger regelmäßig beschäftigt wird, so darf man meinen, die ,moralische Therapie' wäre mit Jovialität oder Sentimentalität des Therapeuten erschöpft, der im Sinne der .Schulterklopfpsychologie' seine Visite macht. Natürlich handelt es sich hier um eine Art der Begegnung mit dem Kranken, die zum System erhoben worden ist, was seine großen Nachteile in der Einseitigkeit hat. Auch dieses System wird sich nicht verpflanzen lassen, weil es zum Großteil an die vitale Persönlichkeit von Baruk geknüpft ist. Auch das Gütersloher System hat am besten funktioniert zu Zeiten, als Simon selbst dort wirkte. Als dritter ist hier Klaesi zu nennen, der zwar kein besonderes System entwickelte, in seinen Grundanschauungen jedoch viele Parallelen aufweist, die die entsprechenden gleichartigen therapeutischen Auswirkungen für den Patienten haben. Auch bei ihm ist es so, daß seine therapeutische Arbeitsweise an seine Arbeitsstätte gebunden ist. Trotzdem müssen wir uns bemühen, die Teile der Behandlungsformen, die den Gegebenheiten unserer Anstalt oder Klinik entsprechen, nach Möglichkeit in die Tat umzusetzen. Im Einzelfall kann das eine oder andere der Anschauungen vernachlässigt werden, manches kann man ablehnen, über viele Details wird man diskutieren können. So wird es mit allen Systemen sein. Trotzdem bleiben Anhaltspunkte und nicht nur Anhalte, sondern reale Auswirkungsmöglichkeiten übrig, die wir in unsere tägliche Arbeit übernehmen sollten. Wir müssen stetig versuchen, alles Realisierbare auch durchzusetzen. Dabei begegnen uns häufig Schwierigkeiten, vor allem auf materiellem Gebiet. Die Grundprinzipien von Simon, Klaesi und Baruk in die Praxis umzusetzen — und sie müssen auch die Grundlagen einer individuellen psychiatrischen Therapie sein — haben sicher den Vorteil: s i e k o s t e n p r a k t i s c h k e i n G e l d . Hier gilt es im wesentlichen, nur die jedem innewohnende Trägheit, den Hang zur Gewohnheit zu überwinden und unsere Umgebung im gleichen Sinne zu erziehen oder umzuformen. Beispiele ergeben sich bei genügender Selbstbeobachtung und Selbstkritik dauernd in der täglichen Arbeit mit unseren Patienten. Alle Psychiater, die sich bewußt um die persönliche Note' des seelisch Kranken bemühen, sagen — wenn auch mit verschiedenen Ausdrücken — daß wir uns um den Kern der Persönlichkeit bemühen, daß wir uns um den gesund gebliebenen Persönlichkeitsrest kümmern müssen. Baruk spricht von der ,personnalite profonde' und sagt, daß bei den meisten seelisch Kranken, sogar bei hochgradig dementen und scheinbar versandeten Schizophrenen ein Rest der Persönlichkeit mit Selbst- und Gerechtigkeitsgefühl, mit einem Sinn f ü r Gut und Böse, wider Erwarten gut erhalten bleibt, ja daß diese sogar oft — im Vergleich zum Abbau der übrigen Persönlichkeit — gesteigert sind. Und es be-

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steht fast immer eine Möglichkeit, mit diesem Persönlichkeitskern einen Kontakt aufzunehmen und somit einen günstigen Einfluß auf den Kranken auszuüben. Wenn Bleuler davon spricht, daß gegen eine ,gute Kinderstube' selbst die schwerste Katatonie nicht aufkommen kann, so meint er mit anderen Worten dasselbe. Und Klaesi fügt hinzu, daß sich bei einem seelisch Kranken auch die angeborene Güte und Demut des Herzens nicht beseitigen lassen. Die positiven Seiten der Anlage und der Erziehung werden sich in der Tiefe der Struktur der Persönlichkeit immer wieder nachweisen lassen. In ihr liegen auch die Strebungen des Erkrankten, dem Krankheitsprozeß entgegenzuwirken, wenn sie auch meist dem Kranken nicht bewußt zu sein brauchen. Hier gilt es, therapeutisch einzusetzen, um die Selbstheilungstendenzen des seelisch Kranken aufzufinden und die daraus möglichen Selbstheilungsversuche zu bestärken, die gerade von Klaesi besonders im Anfangsstadium der schizophrenen Patienten beobachtet werden konnten. Entscheidend ist bei dem Vorgehen die Intuition, das Erfühlen des richtigen Wortes am richtigen Platze, das Einschienen auf das vom Kranken befahrene Gleis, die Einstellung auf die gleiche Welle oder wie Mauz es auszudrücken pflegt, der Kranke steht zwischen zwei Stockwerken, er ist im Lift eingeklemmt, der Paternoster ist auf der Hälfte zwischen zwei Etagen stehengeblieben, und nun müssen wir herausfinden, auf welcher Höhe der Fahrstuhl festgehalten und wodurch er angehalten wurde. Drehen wir beim Suchen nach der Störung an der falschen Stelle, so zerstören wir mehr, selbst wenn wir Gutes tun wollen. Für die Praxis besteht die Schwierigkeit der Lehr- und Lernbarkeit dieser diagnostischtherapeutisch wichtigen Ansichten. Ein vorwiegend rationalistisch arbeitender Arzt wird sich wohl bei einem anderen die Technik seiner Explorationen absehen können, er wird sich vielleicht aneignen können, wie man Suggestivfragen unter allen Umständen vermeidet, es sei denn, sie seien bewußt gezielt, um gerade dadurch im Einzelfalle das Gesunde im Kranken gegenüber zu erhellen. Aber er wird nicht lernen können, daß es nicht nur Suggestivfragen gibt, sondern daß auch der Hauch der Suggestion in der Nuance der Sprachmelodie liegen kann und vermieden werden muß, er wird nicht verstehen, daß jeder Anflug von suggestiv wirkender Gestik und Mimik zu unterbleiben hat, wenn nicht der Kranke davon beeinflußt oder beeindruckt werden soll. Es gehört ein großes Repertoire an mimischer Gestaltungskraft, an untermalender Gestik, an Differenzierung der Sprache, an Nuancierung des Tonfalles, die ganze Dynamik einer psychomotorisch agilen Kontaktbereitschaft dem Patienten gegenüber dazu, gerade die von jedem einzelnen Patienten bezogene Einstellung herauszufinden und die Einfühlung von dessen individueller Note zu erspüren. Diese Merkmale und Möglichkeiten machen die therapeutische psychiatrische Persönlichkeit zum entscheidenden Faktor im klinischen Betrieb. Sie sind es, die nicht nur die Kranken, sondern auch das Personal mitreißen und dadurch entscheidend zu den therapeutischen Erfolgen beitragen. So kann man verstehen, wenn Baruk diese Gesichtspunkte derart gravierend bewertet in der Durchführung seiner ,moralischen Therapie', daß er seiner Methode den Vorrang über sämtliche anderen somatischen oder psychologischen Behandlungsmethoden eingeräumt hat. Das ist eine Forderung, wo wir Baruk sicher nicht folgen können, lehnt er doch sogar die gezielte Arbeits- oder Beschäftigungstherapie ab, da sich dabei ein, wenn auch vielleicht nur indirekter Zwang dem Kranken gegenüber geltend machen könnte. 3*

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Die Patienten von Barak braudien nichts zu tun, sie lesen, ergehen sidi im Park usw. In den Betten dürfen sie allerdings nur bei körperlichen Erkrankungen liegen bleiben — genau wie bei Simon — oder wenn es vom behandelnden Arzt ausdrücklich gestattet worden ist. Auffallend ist dabei, daß sich dabei in Charenton keine ,Säulenheilige' oder ,Eckensteher' oder ähnliche Anstaltsartefakte finden. Ebenso ist überall Ruhe, und ein besonderes Merkmal verdient verzeichnet zu werden, da es in psychiatrischen Kliniken und Anstalten auch heute noch zur Regel gerechnet werden kann, daß die Kranken bei der Visite auf die Ärzte mit Fragen losstürmen. Kein Kranker drängt beim Betreten eines Saales, eines Zimmers, eines Hofes oder Gartens auf einen Arzt ein. Baruk sagt einmal, daß Pinel die Kranken von ihren Ketten aus Eisen befreit habe, daß die Kranken aber noch darauf warten müßten, bis sie überall auch von ihren moralischen Ketten befreit würden, unter denen sie noch aller Orten hartnäckig leiden müßten, wodurch ihre Konflikte festgehalten und oft die Heilung aufgehalten würde. Beim seelisch Kranken, besonders beim schizophrenen, besteht der Kern der Gesamtperson aus den gleichen Strebungen wie beim Gesunden: die Selbstwertgefühle mit ihren Möglichkeiten zu Kränkungen, das Gewissen mit seinen Kämpfen zwischen Gut und Böse, die Gefühle des Hasses und der Liebe sowie das Gefühl für Gerechtigkeit. Der Unterschied vom Gesunden zum Kranken besteht darin, daß diesem die Ausdrucksmöglichkeiten fehlen, die Fähigkeit, die Gefühle, die in seiner Persönlichkeit in der Tiefe verankert sind, zu äußern. Ein Mensch, der an einer aphasischen Störung leidet und sprechen will, kann dies nicht, da die Sprachmuskulatur nicht in der richtigen Weise funktionieren will. Bei einem seelisch Kranken versagen die differenzierteren Medianismen der gemütlichen Äußerungen, weshalb wir auch von einer Sperrung oder Hemmung sprechen. Liegt innerpsychisch eine solche Situation vor, wodurch alle Ausdrucksversuche des Patienten immer schwieriger verständlich gemacht werden können, so ändert dies nichts an dem Vorhandensein dieser in der Tiefe der Person verankerten Merkmale, nur ist der Zugang zu ihnen viel schwieriger. Im Gegenteil, man kann damit rechnen, daß seine Empfindungen in diesen Zuständen besonders fein ausgebildet werden, speziell für den Gerechtigkeitssinn. Es hat den Anschein, als würde der Mangel an Ausdrucksvermögen in dem einen Sektor durch ein differenzierteres Gespür in einem anderen Sektor der Persönlichkeit ausgeglichen. Allgemein bekannt ist die Beobachtung, daß Blinde mit der Zeit ein ausgeprägteres Gefühl bekommen und Schwerhörige besser beobachten und bei durchschnittlicher Intelligenz bald in der Lage sind, dem Gegenüber das gesprochene Wort von den Lippen abzulesen. Mit diesen Modellen ist wohl hinreichend folgende Beobachtung einer schwer endogenen depressiven Kranken erklärt, bei der ebenfalls das Gefühl für die Gerechtigkeit betont ausgebildet wurde in der Zeit, als sie durch die depressive Phase nicht in der Lage war, sich auf andere Weise zu äußern. Die Patientin, die in einer Phase vorher ein Enkelkind umgebracht hatte, lag wochenlang im Wadisaal und sprach nichts und gab nicht einmal ein kleines Anzeichen einer seelischen Regung, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Aus bestimmten Gründen mußte eine intensive organische Behandlung unterbleiben; sämtliche psychotherapeutischen oder psychagogischen Versuche scheiterten. Innerhalb von Tagen hellte sich schließlich ihr Zustandsbild auf, gewann die Kranke wieder zunehmend Kontakt mit ihrer Umgebung, war als praktisch unauffällig anzusehen und konnte bald entlassen

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werden. Als dies geschehen war, kam sie nach einigen Tagen zurück und brachte für alle Schwestern und Ärzte, die auf der Abteilung während ihres Krankseins zu tun gehabt hatten, Geschenke mit. Es war in der Zeit, als Zigaretten eine Mangelware waren, und die ehemalige Patientin hatte ihre Sympathien wertmäßig in Zigaretten ausgedrückt. Es konnte bei objektiver Beurteilung nur gesagt werden, daß die "Werteskala ihrer Geschenke den wirklichen Verhältnissen entsprach. Die Kranken, besonders die schizophrenen, schätzen sehr genau den persönlichen Wert der verschiedenen Ärzte, kennen die Eigenheiten der einzelnen Abteilungsschwestern und -pfleger und sie wissen, wie die psychologischen Beziehungen innerhalb der Anstalt zu beurteilen sind. Auch erhalten die Patienten ein Fingerspitzengefühl für psychische Imponderabilien, ein ,flair psychique', wie es Baruk nennt. Sie erraten, was man von ihnen denkt, ob Trostworte echt gemeint sind oder nicht. Besonders empfindlich sind sie in bezug auf Demütigungen, Taktlosigkeiten, nicht eingehaltene Versprechungen und vor allem, was Spötteleien und Täuschungen angeht. Diese Dinge klingen alle so selbstverständlich und sind in der Praxis doch immer wieder so schwierig in die Tat umzusetzen. Ein Brief einer 64 Jahre alten Dame mit erheblichen Wesensänderungen infolge einer Zerebralsklerose macht dies deutlich: „ Arztwürde! Heute früh um ungefähr K—J410 Uhr ging ich wie üblich in's Gelände. Am sogenannten rotsteinernen Männerhaus kam ich eben vorbei; ich pfiff lustig wie immer etwas vor mich hin. Da ich sehr musikalisch bin, aber Stimmbänderlähmung habe, lasse ich meine fröhliche Laune in dieser Weise aus. Künstlerblut verleugnet sich niemals. In einiger Entfernung sägten Männer Holz und hackten auch letzteres. Ich guckte ein wenig hin, da Gehör, Auge und Hirn instinktiv zusammenarbeiten. Ich lief gemütlich; plötzlich kam Dr. X aufgeregt und rief mir entgegen, mit bösem Gesidit: „Treiben Sie sich nicht hier h e r u m , das sind meine M ä n n e r ! ! ! " Darüber war ich sehr beleidigt! Nicht aus D u m m h e i t , sondern aus E h r g e f ü h l ! Dies besitze ich noch immer, da ich noch niemals psychopathische Neigungen gehabt habe: Ich bin 35 Jahre ungemein g l ü c k l i c h mit meinem 10 Jahre älteren Lebenskameraden (Reg.-Baumeister) verheiratet gewesen, bin 10 Jahre a b g e k l ä r t e W i t w e ; im Altersheim X habe ich ungefähr 1 Jahr zugebracht in Ruhe und Frieden. Ich ging f r e i w i l l i g hinein, da ich eine negative Gehirnlähmung schon einmal in Z. behandeln ließ. Nach sechswöchentlicher Behandlung wurde ich entlassen, wie ein Fisch im Wasser, so munter. — Ich war empört über solche niedrige und unlogische Verdächtigung. Ich machte mir etwas Luft, allerdings in begrenzter Weise. Man kann ja seine gute Kinderstube nicht ganz verleugnen, t r o t z d i e s e r U m g e b u n g . Ich bin aus s e h r g e b i l d e t e m Hause und immer anständig gewesen! Habe j u n g geheiratet, war wirklich u n s c h u l d i g . W ü r d e l o s e B e h a n d l u n g verabscheue ich, da ich meine Intelligenz noch immer v o l l besitze, trotz der beiden negativen Gehirnlähmungen! — Die k r i e c h e r i s c h e D e m u t fehlt mir, da ich noch niemals Gelegenheit hatte, beleidigt zu werden. — Außer den mehrfachen Mißhandlungen durch Kranke in dieser N e r v e n h e i l a n s t a l t . In meiner herrlichen, langen Ehe und im Elternhaus erlebte ich ein Paradies a n H a r m o n i e und B i l d u n g . Ich stamme aus alter Tradition und werde niemals ein sog. Prolet werden. Ein Nervenarzt muß guter M e n s c h e n k e n n e r sein. I c h bin es b e s t i m m t ! ! Ein Mensdi hat auch eine Seele! Audi Ärzte müssen Seele haben und keine R o b o t e r sein! — Ich bitte um meinen freien Ausgang bei Herrn Direktor, dessen Gattin schon unterrichtet ist! Kommt den Frauen zart ent ^g e n ! gez.: (Unterschrift) „Unser Stationsarzt Dr. A. ist ein Herr mit gutem Geist. Er hat sein Gemüt noch nicht verloren, trotz seines nervenzermürben den Berufes!" *

Die therapeutischen Bestrebungen des Arztes, die auf den Patienten gerichtet sind, beginnen mit der Arbeit an sich selbst. Die meisten psychotherapeutischen Methoden richten ihr Interesse zu ausschließlich auf den Kranken. U m nicht nur einen rein intellektuellen

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Kontakt herzustellen oder nur ein affektives Anklingen des Kontaktes bei dem Kranken zu erreichen, sondern um einen persönlichen Kontakt mit dem Kranken herzustellen, ist es wichtig, sich auf sich und die Möglichkeiten, die in der eigenen Persönlichkeit begründet liegen, zu besinnen. Jeder Arzt, jeder Therapeut hat seine ihm eigene Schwankungsbreite, jeder hat sein Klientel. In der Praxis mit der freien Arztwahl sucht sich jeder Patient die ärztliche Persönlichkeit, die seinen Wünschen am nächsten kommt. Der eine liebt jemanden, der ruhig und sicher wirkt und gar nicht oder kaum bei seinen ärztlichen Handlungen spricht, der andere braucht jemanden, der ihm jeden Handgriff erklärt, der dritte sucht sich einen Polterer, der alle Komplikationen mit urwüchsigem Humor überbrücken kann. In der Psychiatrie ist die Situation insofern eine besondere, als für fast alle seelisch Kranken kaum die Möglichkeit besteht, sich den Arzt ihrer Wahl zu suchen, wenn sie einer stationären Behandlung bedürftig werden. In einigen Anstalten versucht man, den Patienten insofern entgegenzukommen, daß jeder Arzt, der Aufnahmedienst hat, alle Kranken in seiner Behandlung behält, bis sie wieder zur Entlassung kommen können und das je nach ihrem Gesundheitszustande durch alle Stationen hindurch. Dieses System hat gewiß viele Vorteile, die für den Kranken und den Arzt auf der Hand liegen, ganz abgesehen davon, daß Verlegungen keine Schwierigkeiten machen können und eine „kleine Anstalt in der Anstalt" nicht entstehen kann, aber es ergeben sich in den meisten Häusern zu viele organisatorische Schwierigkeiten, als daß diese Verfahrensweise bisher mehr Anklang gefunden hätte. Deshalb muß der Psychiater, weil seine Arbeit in vielen Dingen von der üblidien ärztlichen Praxis abweicht, jede Spur von Überheblichkeit, Prestigebestrebungen oder Herablassungen sorgfältig vermeiden. Ebenso unangebracht sind übertriebene Gefühle des Wohlwollens, des Mitleides oder der Menschenfreundlichkeit. Es darf nicht die Auffassung aufkommen, daß der seelisch Kranke oder der geistig Schwache ein erniedrigtes, gefallenes oder bedauernswertes Wesen sei, daß wieder auf den richtigen Weg gebracht werden muß. Besteht für den Patienten aus irgendeinem Grunde das Gefühl, daß er sich gedemütigt, benachteiligt oder bevorzugt vorkommen muß, so ist der echte, tiefergehende Kontakt mit ihm nicht zu erreichen. Die Verwirklichung einer solchen inneren Einstellung gegenüber dem Kranken schafft erst die Voraussetzungen, das Gefühl für Gleichheit und Gerechtigkeit aufkommen zu lassen, das zur Herstellung einer Vertrauensbasis die Vorbedingung ist. Erst wenn sich Patient und Therapeut auf einer Ebene des Verstehens begegnen, ist die zwischenmenschliche Beziehung gewonnen, die fruchtbar werden kann. Es handelt sich nicht darum, daß man mit jedem Patienten viel Zeit verbringt — was bei unseren Bettenschlüsseln ein Arzt auf 100 bis 200 Patienten in den Anstalten ja sowieso nur in Ausnahmefällen möglich ist —, es geht zunächst nicht darum, daß mit den Kranken Aussprachen geführt werden, sondern darum, daß das innere Gefühl für eine wirkliche Begegnung mit dem Gegenüber des kranken Menschen hergestellt wird. Zu Anfang der Bemühungen in dieser Hinsicht kann sogar schon die Tatsache genügen, daß man den Patienten verstehen will und daß man versucht, den tieferen Sinn der Wahngedanken oder zerfahrenen Worte des Kranken zu erraten. Um den genügenden Kontakt mit dem Erkrankten zu bekommen, muß man Geduld aufbringen, viel Geduld, oft Wochen und Monate, man muß warten, und Baruk nennt dieses Warten das ,aktive Warten*.

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Wie mühsam es sein kann, den Erfolg eines solchen aktiven Vorgehens abzuwarten und wieviele individualisierende Momente dabei eine Rolle spielen, zeigt eine Kranke, deren Reaktionsweise auf die Art, wie sie von ihrem Arzt (Mauz) behandelt wurde, sehr eindrucksvoll ist: Es handelte sich um eine stupuröse Patientin, bei der schon mehrere Abteilungs- und Stationsärzte versucht hatten, mit ihr einen Kontakt zu bekommen, die seit Tagen im Bett lag, auch nicht freiwillig aus diesem herauszubekommen war. Sie verweigerte die Nahrung und mußte gefüttert werden. Sie hatte bereits einen Dreierblock von elektrisch ausgelösten Krämpfen hinter sich. Alles begütigende Zureden der Schwestern hatte nicht geholfen, sie war in ein automatisiertes Jammern verfallen, an dem alles Einfühlungsund Beruhigungsvermögen der Behandelnden nichts ändern konnte. Auch der Versuch der Strenge, der Versuch des Schulmeisterlichen, war an ihr abgeprallt. Das tagelange Bemühen aller ließ sie unbeeindruckt und ergab kein Echo. Selbst der Versuch, sie durch eine Narkoanalyse aufzulockern, war mißlungen. Wie konnte diese Kranke, auf die das therapeutische Register einer Klinik losgelassen worden war, ohne daß sich ein Erfolg einstellte, bei der ersten Begegnung erfaßt werden, so daß von einer wirklichen Begegnung gesprochen werden konnte. Wie konnte es dazu kommen, in dem psychotischen Gegenüber eine emotionelle Sensation hervorzurufen, zuerst ein noch zaghaftes Lächeln zu gewinnen und eigentlich war es noch gar kein Lächeln, vielleicht nur ein erstes Anklingen, das ferne Wetterleuchten eines Lächelns? Es ist immer ein schwieriges Unterfangen, die wesentlichen Momente der entscheidenden Augenblicke bei einer wirklichen Begegnung zwischen Arzt und Patient treiTend zu schildern, weil so viel Unwägbares in dieser Atmosphäre mitschwingt, das in der geeigneten Form nur schwerlich wiedergegeben werden kann. Um das Typische eines solchen Gespräches, das nicht auf Worte beschränkt ist, vermitteln zu können, müßte wenigstens ein Tonfilm zur Verfügung stehen, und bei diesem geht oft das menschlich Ansprechbare, das was die zwischenmenschlichen Beziehungen im besonderen Moment kennzeichnet, auch noch verloren. Es soll dennoch versucht werden, dieses ärztliche Gespräch zu vermitteln, denn es bleibt uns in der Psychiatrie nur der Weg, uns gegenseitig auf diesem Wege verständlich zu machen, ungeachtet dessen, daß immer Mißverständnisse möglich sind. Oft wird uns vorgeworfen, daß wir in unseren Schriftsätzen mit epischer Breite die mangelnde Exaktheit verbrämen wollten, w o gerade das Gegenteil der Fall ist: Die Kranke wurde im Zimmer des Arztes durch einen innig-vertraut wirkenden Handschlag, in dem dennoch eine gewisse Distanz verborgen lag, die jedoch nicht verletzend wirkte oder Kälte ausstrahlte, begrüßt. Es wurde ihr ,Guten T a g ' gesagt, sie wurde mit ihrem Namen genannt, der Arzt stellte sich ebenfalls vor und bat die Patientin, Platz zu nehmen. Die Kranke tat das nicht; sie blieb stehen. Darauf, nach einer kleinen Pause, die mit verstehendem Betrachten ausgefüllt w a r und nicht mit klinisch-diagnostischem Fixieren, wurde gefragt: „Wie geht es Ihnen im Archäologischen Institut?" Mehr nicht — es erfolgte von Seiten des Patienten keine Antwort; es passierte gar nichts, die Frau reagierte mit keinem Muskel, mit keinem Blick. Die Frage nach der Arbeit in dem Archäologischen Institut wurde deshalb gestellt, weil bekannt war, daß die Patientin dort eine sehr fleißige Kraft als Stenotypistin gewesen war und ihre Arbeit gerne ausgeführt hatte.

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N u n w u r d e die F r a g e sinngemäß mit anderen W o r t e n u n d unter U m s t e l l u n g der W o r t e , bei spielerischer N u a n c i e r u n g des T o n f a l l e s noch m e h r m a l s gestellt u n d d a n n jedesmal so, als sei es wieder d a s erste M a l , als h a b e sich der Untersucher bisher g a r nicht mit ihr beschäftigt u n d so selbstverständlich, als seien Untersucher u n d Patient nette L e u t e , denen nichts mehr a m H e r z e n läge, als sich an diesem V o r m i t t a g e mit V o r l i e b e über die A r b e i ten a m Archäologischen Institut z u unterhalten. Zwischen den einzelnen sich w i e d e r holenden F r a g e n w u r d e n l a n g e P a u s e n gemacht, die Patientin w u r d e verstehend u n d interessiert betrachtet, es w u r d e ihr gelegentlich eine H e i n e „ E s e l s b r ü c k e " g e b a u t , aber nur in A n d e u t u n g e n u n d plötzlich, e t w a nach der siebenten oder achten gleichen F r a g e w a r der K o n t a k t d a , w a r d i e S p e r r u n g durchbrochen. D a s Angesprochenwerden in der K r a n k e n h a t t e eingesetzt, m a n sah, „ w i e etwas in ihr z u h ö r t e u n d wie es in ihr a r b e i t e t e . " Meist k o m m t es in diesen M o m e n t e n der B e g e g n u n g , des Sichtreffens a u f einer E b e n e z u „beschwörenden o d e r a b w e h r e n d e n B e w e g u n g e n " , die gegen den, der dieses Angesprochensein auslöst, gerichtet sind. A l s nächstes zeigen sich d a n n , „ j e nach G e s t i m m t h e i t des hervorgeholten u n d angesprochenen Bildes o d e r der wiedererweckten S i t u a t i o n e n " , v e g e t a t i v e V o r b o t e n , die A u g e n f ü l l e n sich m i t T r ä n e n , eine leichte R ö t e überzieht d a s Gesicht u n d begleitet d a s angedeutete Lächeln.

Baruk

spricht f ü r dieses S t a d i u m v o n einer ,resonnance a f f e c t i v e ' . E s k o m m t Mauz

nicht

so sehr d a r a u f an, o b d a s angesprochene B i l d „ m i t einem f r e u d i g e n Ausbruch, einem wehm ü t i g e n oder schmerzlichen Lächeln oder mit einer weichen u n d erinnernden G e b ä r d e e m p f a n g e n w i r d . Wesentlich ist ihm allein, d a ß nunmehr in der menschlichen B e g e g n u n g mit dem A r z t ein g a n z persönliches frühes B i l d aus d e m Bereich der reinen lösenden G e f ü h l e wirklich u n d w i r k s a m g e w o r d e n i s t . " D i e B i l d e r , die Mauz

b e n u t z t , müssen

dem Vorstellungskreis des K r a n k e n entsprechen u n d in seinen Lebenskreis gehören. Sie sollen, wie Mauz

s a g t , „ z u d e m persönlichen Schatz jener unschuldigen F r e u d e n gehören,

die v o n einer gewissen eigenen S p h ä r e umgeben sind, w o b e i m a n a m besten a u f Bilder aus der ungetrübten K i n d h e i t zurückgreift." Dieser Rückgriff a u f die K i n d h e i t ist nicht irgendwie speziell im S i n n e des psychoanalytischen V o r g e h e n s nach den G r u n d s ä t z e n v o n

Freud

a u f z u f a s s e n , sondern als eine normalpsychologische M e t h o d e z u werten.

„ B e i m A u f b a u eines derartigen Bildes ist alles L a u t e , G r e l l e u n d A u f d r i n g l i c h e z u v e r meiden. D e r A r z t m u ß " — wir f o l g e n weiter den Ansichten v o n Mauz

— „sich selbst

in einen Z u s t a n d natürlicher Gelöstheit versetzen u n d gleichsam im Selbstgespräch mehr nach A r t des freien E i n f a l l e s in unmittelbarer Anschaulichkeit, jedes noch so leise u n d unscheinbare D i n g aus der S p h ä r e einer unschuldigen F r e u d e seines G e g e n ü b e r z u m B i l d werden lassen. D a b e i d a r f die eigene F r e u d e a m B i l d ruhig etwas a n k l i n g e n . D i e einzelnen Bilder brauchen zeitlich auch nicht datiert z u werden, d a ihre W i r k u n g w o h l nicht d a r a u f beruht, d a ß Vergessenes erinnert w i r d , sondern d a ß dabei eine Wirklichkeit erlebt w i r d , die aus nichts als V e r t r a u t h e i t , Geborgenheit u n d U n s c h u l d besteht u n d deshalb kein N e i n s a g e n z u m L e b e n auslösen k a n n . M a n k a n n sich in der W a h l der B i l d e r u n d W o r t e , wie ü b e r h a u p t b e i m Ansprechen des möglichen G e s u n d e n g a r nicht individuell genug einstellen." U n d mit dem möglich G e s u n d e n ist d a s ausgedrückt, w a s Baruk f o n d e ' bezeichnet u n d ansprechen will. Spricht Klaesi

als ,personnalite p r o -

v o n den Selbstheilungstendenzen,

so meint er ebenfalls den gesunden K e r n des seelisch K r a n k e n , in dem eine R e s o n a n z

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gefunden werden kann, auf der die Selbstheilungsversuche ins Schwingen kommen können. Ebenso ist es zu verstehen, wenn Simon auf dem Wege über einfache Arbeiten und Beschäftigung den gesunden Persönlichkeitsrest im Patienten angeht. Wenn der Patient sein „erstes neues Selbstbewußtsein wieder zu spüren beginnt," so sagt Mauz, „müssen wir das gleichsam Private überspringen und es in die Sphäre überpersönlicher Erkenntnisse und Wahrheiten entrücken, in die teils spontan, teils von uns gelenkt, Trieb- und Wunschphantasien einfließen, die in enger Verbindung mit den eben gewonnenen Bildern entstanden und geformt sind." Dieses Vorgehen setzt die Systematik der psychopathologischen Schule etwa von Jaspers und K. Schneider voraus, da sich die Symptomatologie der seelischen Krankheiten bei diesen Bildergesprächen, wie man dazu sagen kann, nur am Rande ergibt. Bei dem wissenschaftlich so widitigen Vorgehen auf der Suche nach den krankhaften Inhalten, werden diese jedoch bei den Kranken vertieft. Es ist ein Unding, nur des wissenschaftlichen Interesses wegen, einen Patienten krankhafte Inhalte produzieren zu lassen und nicht mit Abschluß der diagnostischen Erwägungen die geeignete Therapie anlaufen zu lassen; das kann höchstens für einzelne Ausnahmefälle einmal zutreffen. Bei Mauz gibt es eigentlich vom ersten Moment der Begegnung mit jedem Kranken nur ein Bestreben, das ist therapeutisch: „Eine so geartete psychotherapeutische Begegnung verlangt, daß wir dem Kranken niemals — auch nicht anfangs — nur beobachtend, beschreibend und analysierend gegenüberstehen, sondern uns gleichzeitig mit dem menschlichen Wert unseres psychotischen Gegenüber identifizieren. Dieses Wissen, daß auch der Psydiotiker ein Mensch ist wie Du und ich, bildet den unveränderlichen stabilen Hintergrund für unser diagnostisches und therapeutisches Handeln, das auf diese Weise immer ein Miteinander und nie ein Nacheinander ist. Praktisch wirkt sich das so aus, daß wir nicht nur das Krankhafte analysieren und in klaren und unmittelbaren Begriffen auszudrücken versuchen, wir bemühen uns gleichzeitig auch, das mögliche Gesunde zu erkennen, zu beschreiben und in irgendeiner Form anzusprechen. Dabei zeigt sich, nebenbei gesagt, wie wenig wir geübt sind, einen Befund in der Richtung auf das Gesunde hin zu erheben."

Mauz versucht, jeder Äußerung des Patienten und sei sie in Worten direkt oder indirekt ausgedrückt oder mag sie in der Mimik, Pantomimik und Gestik vorgebracht werden, die darin vorhandene gesunde Note abzugewinnen, so wie sie jedem Kranken als Individuum entspricht. Besonders wichtig ist es, bei den Kranken alle Anzeichen von Selbstwertgefühl zu beachten. Zu oft wird bei den Patienten das selbstverständliche Gefühl für die Würde ihrer Person mißachtet und ihrem Schamgefühl Gewalt angetan. Dabei müssen wir bestrebt sein, alles zu tun, solchen zarten Spuren der verletzten Eitelkeit einer kranken Frau nachzugehen, denn hier haben wir einen Schlüssel zum gesunden Kern der Persönlichkeit in der Hand, der nicht ungenutzt bleiben sollte. Der Arzt, der es nicht versteht, ihn mit einer natürlichen, herzlichen Selbstverständlichkeit seinen Patientinnen gegenüber zu benutzen oder seinem ,Aufschließ'-Versuch eine nur irgendwie persönlich erotisch oder sexuell aufzufassende Nuance beigibt, ist schlecht beraten; er wird den notwendigen zwischenmenschlichen Kontakt mit seinem Gegenüber nicht in dem möglichen Maße erreichen, er wird nur Möglichkeiten für Verbindungen verschütten. Und immer wieder ist man erstaunt, wie fein graduiert die Skala der seelisch kranken Frauen für alle

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spezifisch fraulichen Wägbarkeiten erhalten bleibt. Man wundert sich über die Wucht der effektiven Resonanz', die gelegentlich aufbrechen kann, wenn die persönlichsten weiblichen Belange angesprochen worden sind. Eine Patientin im Alter von 24 Jahren, die an einer Psychose des schizophrenen Formenkreises leidet, die vorwiegend hebephren-katatoniformes Gepräge zeigt, ist seit anderthalb Jahren in der Anstalt. Vorher war sie schon in einer Klinik behandelt worden. Alle therapeutischen Methoden waren bei ihr versucht worden. Inzwischen ist sie schon lange nicht mehr auf einer .klinischen Abteilung', sondern auf einer ,Randabteilung' und es wird versucht, sie arbeitstherapeutisch zu beeinflussen. Wenn es nach ihr ginge, läge sie am liebsten den ganzen Tag mit dem Kopf auf dem Tisch im Tagesraum. In einer solchen Situation wurde ihr von einer anderen defektschizophrenen Kranken der Haarzopf abgeschnitten. Am nächsten Tage, als sich der Arzt bei der Visite nach ihrer neuen Frisur erkundigte, antwortete die Kranke, mit der wochenlang kein Wort hatte gewechselt werden können, die lediglich zu kleinen mechanischen Arbeiten angehalten werden konnte, die sich in aller Ruhe und ohne jegliche Anzeichen von Gegenwehr die Haare hatte abschneiden lassen: „Lassen Sie mich in Ruhe! Brauchen Sie mich nicht auch noch zu flachsen!" Dabei war sie heftig erregt, sprang vom Stuhl auf, schlug auf den Tisch, nahm eine drohende Gebärde an und schimpfte noch lange, allerdings nicht verständlich weiter, und voller Erregung hatte sie Schaum vor dem Munde. Aber auch bei Männern bleiben die feineren Regungen für das, was sich gehört, viel langer erhalten als gewöhnlich angenommen wird. Bei den männlichen Kranken fallen viele Einzelheiten nicht so auf. Sie sind es gewöhnt bzw. sie gewöhnen sich an das ,Kasernenmäßige', das das Leben in allen Krankenhäusern und besonders in den Anstalten kennzeichnet, auf sich zu nehmen. Sie stehen zu der Frage der körperlichen Nacktheit anders als die Frauen, sie stören sich nicht so sehr daran. Und dennoch war es erstaunlich, als ein schizophrener Mann im Alter von einigen dreißig Jahren in einem unerwarteten Moment plötzlich Seiten seines Wesens erkennen ließ, die bei ihm längst als versandet angesehen worden waren. Es war ein Kranker, der nur mit aller größten Schwierigkeiten zu kleinen Handreichungen bewegt werden konnte. Wenn nicht ein geeigneter Pfleger auf der Station Dienst hatte, so verfiel er in eine Körperhaltung mit übereinandergekreuzten Armen und vornübergebeugtem Kopf. So stand er unbeweglich im Flur oder in einer Ecke des Tagesraumes bis alle Glieder rot und später blau angelaufen waren, bis die Nase tropfte und die Hose naß gemacht war. Er ließ sich zu nichts bewegen, verweigerte sogar manchmal das Essen und mußte gefüttert werden. Er wurde regelmäßig zur Toilette geführt. Als dies einmal während der Visite geschah, öffnete sich die Tür und der Kranke sprach in einem Tonfall und entsprechender begleitender Handbewegungen, der der Situation durchaus angemessen war: „Würden Sie bitte so freundlich sein und mir ein Stück ordentliches Papier bringen!" wobei er das vorhandene Zeitungspapier vorwies. Es ist wichtig, daß der Arzt diesen Bitten der Kranken nachkommt — sie sind ja fast immer so leicht zu erfüllen —, und meist handelt es sich nur um organisatorische Fragen, die geregelt werden müssen. Gerade auf dem Gebiet der Körperpflege finden sich viele Kleinigkeiten, die dem Arzt oft wenig bekannt sind und ihm nicht in genügender Weise zur Kenntnis gebracht wer-

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den. Es gehört in einer Anstalt auch zu den ärztlichen Aufgaben, sich um die körperliche Hygiene seiner Kranken zu kümmern. Das betrifft bei den Männern zum Beispiel das Rasieren, das regelmäßige Duschen und Waschen der Füße, aber auch die vorsintflutlichen wollenen Chemisettdien mit aufgenähtem Schlips und das Tragen desselben Hemdes bei Tage zur Arbeit und zur Nacht; und bei den Frauen wird sidi jeder, der den Dingen nachgeht, wundern über die mittelalterlichen Ausführungen von Klapphosen, Unterröcken, Binden und Vorlagen oder gar übergehängten Leintüchern zum Baden! Es gehört hierzu, daß man Beschwerden und Klagen über solche Dinge, die die Patienten vorbringen, nachgeht, daß man sich bemüht, eine unparteiische Lösung bei Schwierigkeiten unter den Patienten oder bei Beschuldigungen der Patienten gegenüber dem Personal zu finden, wobei immer berücksichtigt werden sollte, daß man sich darüber im klaren sein muß und daß man sich darüber immer wieder — jeden Tag neu — klar werden muß, daß man als Stationsarzt am längeren Hebelarm sitzt und daß es oftmals so einfach und bequem ist, eine Sache kategorisch, man möchte fast sagen militärisch knapp und einfach — aber eben ungerecht oder nicht ganz so gerecht wie es möglich wäre, zu entscheiden. Zunächst muß sich jeder Arzt daran gewöhnen, jede scheinbar noch so unbedeutende oder unsinnige Klage aufmerksam anzuhören. Dann ist zu bedenken, daß die meisten Ungerechtigkeiten gar nicht immer durch Böswilligkeit verursacht werden, denn häufig geschehen sie ohne Absicht, sie gehören zu den .unbewußten Gemeinheiten', wie Bleuler es einmal genannt hat. Das Personal muß jederzeit darauf gefaßt sein, daß sofort, d. h. augenblicklich, wenn eine Beschwerde eines Patienten vorgebracht wird, dieser Klage nachgegangen wird, daß sie vom Arzt mit aller erdenklichen Mühe geprüft wird. Dies muß soweit entwickelt sein, daß das Personal bei diesem Verfahren gar nichts mehr findet, daß es für selbstverständlich gehalten wird. Bei einem solchen Vorgehen ist die Voraussetzung die, daß die Pfleger und Schwestern weitgehend über den seelischen Zustand des Patienten und seine krankhaften Gedankengänge aufgeklärt werden, damit sie ihren Dienst mit der nötigen Einsicht ausführen können. Daß die Durchführung dieser Art von Gerechtigkeitspflege vom Psychiater — auch bei gutem Personal viel Takt erfordert, liegt auf der Hand. Sie ist ein wesentlicher Baustein der .moralischen Therapie' von Baruk; wenn man sich aber dieser Umgangsweise bedient, so trägt dies nur zum besseren Verständnis mit den Patienten und nach dem Durchstehen einer gewissen Anlaufzeit auch mit dem Personal bei. Die Atmosphäre in einer so geleiteten Abteilung beruhigt sich in sich selbst, da jeder einzelne das Bewußtsein haben kann, daß nach einem gerechten Weg gesucht werden wird, wenn Schwierigkeiten aufkommen, zumindest, daß eine Lösung gefunden wird, die annehmbar ist für die Betroffenen, also wenigstens ein lebensfähiger Kompromiß herauskommt.

Somatische Therapie In dem Überblick über die .Forschungen und Begriffswandlungen in der Schizophrenielehre 1941—1950' von Bleuler steht unter anderem, daß „die Flut von Arbeiten über die körperlichen Behandlungsmethoden die Tatsache aber nicht zu verbergen vermag, daß sich die Hoffnungen während der Berichtszeit von der körperlichen Behandlung zur Psychotherapie hin verschoben haben.

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Das geht schon aus der Übersicht der Anschauungen über die körperlichen Behandlungsmethoden selbst hervor. In negativer Hinsicht stößt man bei allen derselben auf die völlige Unmöglichkeit, sie als direkte Einwirkung auf einen der Schizophrenie zugrundeliegenden Körpervorgang befriedigend zu erklären; in positiver Hinsicht hat sich bei jeder einzelnen derselben die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Wirkung — oder doch Mit-Wirkung ergeben; die Erfolge und Mißerfolge der Schockbehandlungen differenzieren sich erstaunlich wenig danach, nach welchen körperlich völlig verschiedenen Methoden sie erfolgen, aber sie hängen u. a. davon ab, ob sie mit gespannten Erwartungen des Therapeuten oder als interesselose Routineverfahren durchgeführt werden und ob sie mit Psychotherapie verbunden sind; das physiologische Geschehen bei den somatischen Schockbehandlungen hat sidi als weitgehend identisch demjenigen bei rein emotionellen Schocks herausgestellt; die Psydiochirurgie führte zur Erfahrung, daß Hirnverletzungen bei Schizophrenen weitgehend unabhängig von ihrer Lokalisation wirken, wohl aber sehr abhängig von der Persönlichkeit des Kranken — um nur wenige Daten nochmals zu nennen, die auf die Bedeutung des Psychischen in der scheinbar somatischen Therapie der Schizophrenen hinweisen." Es soll auf die Techniken der Durchführungen der verschiedenen somatischen Behandlungsformen nicht eingegangen sein; ebenso werden die theoretischen Erwägungen über die eventuelle Art, wie die organischen Therapien im Körper wirken und an welcher Stelle sie angreifen, nicht um neue Vorstellungen vermehrt. Einige Punkte nur sollen hervorgehoben werden, die durch das Zitat, das wir an den Anfang stellten, schon ersichtlich sind. Die Beobachtung ist nicht neu, daß sich nach einer längeren fieberhaften Erkrankung eines psychiatrischen Patienten auch sein seelisches Zustandsbild besserte. Hieran haben sich die Versuche mit spezifischen und unspezifischen Fieberkurven bei psychisch Kranken angeschlossen. Es dauerte länger bis man sich sagte, daß bei einem Kranken, der sich in der Anstalt durch einen Sturz bei Glatteis einen Arm gebrochen hatte und wochenlang in Gips mußte, der gewechselt und verändert, der mehrfach geröntgt werden mußte, während der Behandlungszeit als chirurgischer Fall eine Besserung im psychischen Befinden zu konstatieren war. Und den Schluß, daß es sich hierbei nicht um eine zufällige Besserung gehandelt haben konnte, sondern daß hier durchaus ein kausaler Zusammenhang aufgezeigt werden konnte, der in der vermehrten Zuwendung zu diesem Kranken lag, daß man sich mehr um ihn kümmerte und er nicht auf einer geschlossenen Nichtwache verkümmerte, zog man erst ziemlich spät. In der Hinwendung zum Kranken, in der aktiven Beschäftigung mit dem Kranken liegt der therapeutische Wert der somatischen Behandlungsformen zum großen Teil begründet. Bei den durch Injektionsmittel auszulösenden Heilkrämpfen ist der Nachteil für die Patienten der, daß sie von den unangenehmen Empfindungssensationen und der Angst in den Sekunden vor dem Eintreten des Krampfes geplagt werden. Bei den elektrisch ausgelösten Krämpfen ist es die Maschine, der Kasten, in dem etwas Unbekanntes sitzt, der den Kranken Angst macht. Die Perfektion des technischen Vorganges ist es nun, die die Leichtigkeit der Durchführung des Elektroschocks dazu werden läßt, daß man nur noch sagen kann, daß hier .Vernunft zum Unsinn und Wohltat zur Plage' geworden sind, so

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daß Aussprüche von Kranken, wie die folgenden, keine Seltenheit sind, sondern in jeder Klinik oder Anstalt in in allen möglichen Variationen serienweise aufgeführt werden könnten: „Die meisten Psychologen (gemeint sind Psychiater) sind ja nicht dazu da, den Menschen zu helfen, die machen ja alles mit Elektroschock." „Es ist ja so bequem, nur einfach auf den Knopf zu drücken!" Es ist ja auch so bequem und deshalb wird soviel Mißbrauch damit getrieben, werden Sdiodss aus mehr oder weniger disziplinaren Gründen gemacht, vielleicht nur auf Betreiben einer Schwester oder eines Pflegers, etwa mit der Bemerkung, daß abends dieser oder jener zur Nachtwache käme und mit dem und jenem Kranken nidit fertig werden würde, deshalb wäre es doch besser usw. Wird unter solchen oder ähnlichen Umständen eine so schwerwiegende Methode angewandt, wie es der elektrisch ausgelöste Krampf ist — von dem wir ja immer noch nicht richtig wissen, was dabei eigentlich im Körper, besonders im Gehirn passiert —, dann ist das als Kunstfehler anzusehen. Ebenso sind die Schocks abzulehnen, die den Kranken vom Personal angedroht werden, wenn sie nicht ,artig' seien oder dies oder jenes nicht zur Zufriedenheit ausführten. Wir wollen nicht sagen, daß das nicht vorkäme oder nur auf Einzelfälle beschränkt bliebe; es liegt auch nicht ohne weiteres nur an der Qualität des betreffenden Arztes oder dem Chefarzt, sondern es liegt vielfach nur an unbewußter Bequemlichkeit, oft nur daran, daß man sich selbst u. U. etwas vormacht und sein Gewissen beruhigt, daß es dem krankhaften Zustande doch zugute kommen müsse. Vielfach handelt es sich auch um Gleichgültigkeit, daß der Arzt sich sagt, daß es doch gar nicht darauf ankomme, ob der Patient nun einmal mehr oder weniger geschockt würde. Auch das sind streng genommen Kunstfehler, wenn sie sich auch kaum als solche nachweisen lassen werden. Man kann denjenigen, der so .behandelt' werden soll, auch sofort niederboxen. Für diese Fälle ist ein Drehstuhl oder Kastenbett, über das wir heute versucht sind zu lächeln, eine viel humanere Einrichtung, als eine technisch durchdachte Betäubungsmaschine mit elektrischem Strom, weil wir es doch heute besser wissen oder doch besser wissen sollten. Diese negativen, zum großen Teil menschlich verständlichen Reaktionsmöglichkeiten, sind vielfach der Grund für die Schockangst auf den Stationen. Eine junge schizophrene Kranke wurde fast regelmäßig im Abstand von etwa drei bis vier Wochen geschockt, bald mußten die Intervalle gekürzt werden, weil es nicht mehr ging, sie stand zitternd, mit allen Gliedern stereotyp schüttelnd, auf der Abteilung, aß nichts mehr und fing an zu jammern und zu jaulen. Sie wurde elektrisch behandelt und ,psychisch aufgelockert'. Vor der Behandlung hatte sie Angst. Schließlich schlug sie Fensterscheiben ein, wenn der Schockapparat auf die Abteilung getragen wurde und zuletzt sprang sie in die Scheiben, wenn nur der weiße Mantel ihres Arztes zu sehen war. Dieser beantwortete die Erregungszustände mit neuerlichen Schocks, weil es sich mit der Kranken nicht besserte. Nach einem Arztwechsel ist die Kranke keiner derartigen Behandlung mehr bedürftig gewesen. Sie kam etwa noch ein halbes Jahr später, zitternd in einer Ecke stehend, flüsternd fragend, ob sie denn auch bestimmt nicht mehr geschockt würde. Es wurde ihr gesagt, daß so ein Apparat dafür gar nicht mehr im Hause vorhanden sei und für sie nicht in Frage käme. Die Kranke ist inzwischen längst auf einer

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offenen Abteilung, beteiligt sich regelmäßig bei Arbeiten und Beschäftigungen, geht in die Stadt spazieren, bringt aber gelegentlich immer wieder vor, daß man sie vielleicht doch noch mal schocken könne, wenn u. U. ein neuer Arzt käme, denn der jetzige sei „der einzige Arzt, der mit der Überzeugung arbeitete". Wenn Cardiazol-Injektionen zur Auslösung eines Krampfes gemacht werden oder die sogenannte kleine Cardiazol-Kur mit subkonvulsiven Dosen durchgeführt wird, ist es zweckmäßig, gleich nach dem Krampfstadium den Patienten Luminal intramuskulär zu geben. Sie kommen dann zum Schlafen und haben oftmals das ganze Krampfgeschehen einschließlich der Vorbereitung und vor allem der angstmachenden Aura mit ihren unangenehmen Sensationen verschlafen. Die Kranken wundern sich natürlich, wenn sie wieder aufwachen. Sagt man ihnen dann aber, daß mit ihnen eine ,kleine Narkose' durchgeführt worden sei, so sind sie fast immer damit zufrieden. Bei den Patienten, die mit elektrisch ausgelösten Krämpfen behandelt werden, kann man sich ebenso verhalten. Weit verbreitet findet sich auf den klinischen Abteilungen noch — aus durchaus verständlichen Gründen vom Kranken aus gesehen — ,die Angst vor dem Schocken'. Sie ist dadurch zu erklären, daß es nach wie vor in den meisten Kliniken und Anstalten üblich ist, im Wachsaal die Behandlung vorzunehmen. Es werden einige spanische Wände aufgestellt, mit denen der unmittelbare Anblick des Krampfgeschehens den Kranken in den anderen Betten zwar mehr oder weniger gut erspart bleibt, der Initialschrei beim Einsetzen des Krampfzustandes und das Stöhnen im Anschluß daran sowie die häufige große motorische Unruhe nicht abgeschirmt werden kann. Und wie oft wird selbst diese ungenügende Kulisse nicht um das Bett gestellt, in dem ein Patient behandelt werden soll, weil die übrigen Kranken für zu dement oder defekt gehalten werden, den Vorgang in sich aufzunehmen, zu registrieren und später wieder zu erinnern. Hier werden die Kranken, die Gelegenheit haben, diese Behandlungen zu sehen, auf jeden Fall unterschätzt! Und was soll zu den Abteilungen gesagt werden, auf denen die elektrischen Schocks in Serien ausgelöst werden oder wie muß es den Kranken zu Mute sein, die in einem extra eingerichteten ,Schocksaal' liegen, wo hinter jedem Bett ein besonderer Steckkontakt montiert worden ist. Der größte, den ich sehen konnte, hatte über zwanzig Betten. Hier liegen dann die Kranken in Erwartung des Arztes in Reih und Glied und erwarten ihre Behandlung. Je nach den Umständen werden zuerst die ruhigen oder die erregten Patienten geschockt, ungünstigenfalls müssen die ruhigeren Kranken bei den Ringkämpfen mit den unruhigen Kranken vorher helfen, um dann selbst an die Reihe zu kommen. Allen gemeinsam ist, daß sie meistens ein bis zwei Stunden auf die Schockbehandlung warten mußten; denn die Kranken wissen es ja, daß sie an dem oder jenem Tag dran kommen, da sie ihre Kleidung an diesem Morgen nicht erhalten, weil sie f ü r die Behandlung im Bett bleiben müssen. Noch schlimmer ist es, wenn es sogenannte ,Schocktage' gibt, also Montag und Donnerstag oder Dienstag und Freitag. Dann richtet sich unter Umständen die Stimmung der gesamten Abteilung nach diesem Rhythmus. Ist es verwunderlich, wenn sich die Patienten alles mögliche über diese Art der ,Behandlung' erzählen, daß die neu angekommenen Kranken sofort mit ausgeschmückten Ge-

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schichten versorgt werden. Daß in vielen Kliniken und Anstalten oder innerhalb einzelner Abteilungen eine solche Stimmung gegen die Behandlung besteht, spricht nicht für die psychologisch glückliche Hand des verantwortlichen Arztes. In vielen Stationen wird durch ein solches oder ähnliches therapeutisches Vorgehen eine ,Schockatmosphäre' induziert und das Vertrauen zum Arzt auf diese Weise gemindert. Unbedingte Individualisierung ist bei dieser Behandlung vonnöten, wenn sie angewandt wird. Das kann prinzipiell nur in einem besonderen Behandlungsraum geschehen, in dem der Kranke einzeln den Heilkrämpfen unterzogen wird mit allen medizinisch-technischen Möglichkeiten für eventuelle Zwischenfälle, mit dem notwendigen Hilfspersonal und vor allem der unbedingt erforderlichen individuellen psychologischen Vorbereitung und Nachsorge. Aber selbst diese Forderung wird nur unter Schwierigkeiten durchzuführen sein. Solange in den Anstalten so viele Kranke auf einen Arzt entfallen, werden sich besonders intensive körperliche Behandlungsmethoden nur anwenden lassen bei einer relativ geringen Anzahl von Patienten und man wird die schon bezeichnend benannten ,Randabteilungen' noch mehr am Rande liegen lassen müssen. Dennoch sind viele Einzelheiten, die bei der Durchführung der Elektro-Schock-Behandlung beachtet werden können, in die Tat umzusetzen. Hierzu gehört vor allem, daß man versucht, das Wort ,schocken' auszumerzen; denn dieses ist ein magisches Wort für die Kranken und Laien, die sich darunter gar nichts und alles vorstellen. Und es ist, wenn wir uns der Verhältnisse bewußt werden, nicht nur unseren Kranken bei dem Gedanken an den Schock unbehaglich, sondern uns selbst auch. Als ich das erste Mal in eine psychiatrische Klinik kam und Krämpfe mit Azoman erlebte, war ich ein Vierteljahr ,krank' und habe mir lange überlegt, ob ich bei diesem Fach, das einerseits so differenziert diagnostiziert und alle Feinheiten des Seelenlebens beachten will und andererseits eine so geringe und grobe therapeutische Variationsbreite aufwies, bleiben sollte, bei allem Interesse, das ich den Problemen entgegenbrachte. Und als man begann, mit dieser Methode auch leichtere Verstimmungen ,wegzuschocken', mußte ich mich mit Leibbrand fragen, was Pascal und Kierkegaard wohl dazu gesagt haben würden. Ich kam von der Vorstellung nicht los, eines Tages ,einen Hölderlin' zu Beginn seiner Krankheitserscheinungen in dieser Weise behandeln zu müssen und schauderte vor mir selbst. Und ich konnte jenen Psychiater verstehen, der in seiner EigentraumAnalyse Bilder fand, wie er während der Behandlungszeit ähnlich „einem Miniaturscharfrichter des elektrischen Stuhls, mit seinem Apparat von Bett zu Bett zieht", wie Leibbrand es ausdrückt: „Anlaß zu diesen Traumbildern des Arztes bietet unter anderem wohl der wenig erfreuliche Anblick des Geschehens, das in jeder Hinsicht für den Handelnden angsterfüllend sein muß. Vielen Ärzten ist in der Tat diese Therapie unsympathisch. Man wird unwillkürlich an die Erörterung der Schuldfrage in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles erinnert, es ist die Schuld des ersten Schrittes — den einmal geworfenen Stein (Druckknopf!) kannst Du nicht mehr zurückrufen! Es erhebt sich die Frage, ob dem Kranken dennoch dies zugemutet werden dürfe, und ob von dem Arzt eine solche .Tüchtigkeit' oder seelische Robustheit gefordert werden müsse? Von eben jenem Arzte, der mit seinen Kranken in existentieller Kommunikation stehen soll — so problematisch dies auch sein mag."

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Anders ist die Situation bei der Insulinkur. Diese erfordert von Therapeuten eine aktive Zuwendung zum Patienten, eine persönliche Sorge. Morgens die intramuskuläre Injektion, die Überwachung des Kreislaufgeschehens, die Beobachtung der Tiefe des hypoglykämi-t sehen Zustandes, die Kontrolle der Atmung, eventuelle Krampfauslösungen usw., das alles erfordert ein stundenlanges Bemühen um den Kranken von ärztlicher und pflegerischer Seite, das mit der Fütterung durch die Nasensonde seinen Abschluß hat. Wovon schon viel gesprochen worden ist, was aber in der Praxis immer wieder zu kurz kommt, ist die Beschäftigung mit dem Kranken, nachdem er aus dem Schlaf erwacht, gleich bei welcher Art von Schockbehandlung. In diesen Momenten ist das Tor zum Gegenüber und seinen kranken Inhalten weit auf, ja, die Kranken sind vielfach psychisch gelockerter, als dies bei einer Narkoanalyse der Fall ist. Eine Behandlung mit Cardiazol, Aneuxol o. ä. injizierbaren Mitteln, eine elektrische Durchflutung oder eine Insulinkur ist eine fast vergebliche Mühe, wenn sie nicht mit einer intensiven, auf die Persönlichkeit abgestuften Arbeits- oder Beschäftigungstherapie kombiniert wird. Das gleiche gilt für die Schlafkuren mit Somnifen bzw. die Halbschlafkuren mit Megaphen oder Largactil, Serpasil, Reserpin und Pacatal.

Arbeits -Therapie Jede körperliche Behandlungsmethode muß durch Arbeits- oder Beschäftigungstherapie ergänzt werden. Es ist eher möglich, einen seelisch Kranken ausschließlich im Sinne der Arbeitstherapie zu behandeln und zu bessern als nur somatisch vorzugehen, wenn wir die Depression hiervon ausnehmen. Es ist eine Unterscheidung zu treffen zwischen Arbeits- und Beschäftigungstherapie. Die •Swwowschen Gedankengänge und sein in Gütersloh durchgeführtes System der Arbeitstherapie haben vieles, was heute unter Beschäftigungstherapie verstanden wird, eingeschlossen. Von Simon ist die Bezeichnung Arbeitstherapie ausgegeben worden, er hat sich damit schließlich abgefunden, hatte er doch im weiteren Sinne von der ,aktiveren Behandlung' gesprochen. Und geht man seinen Schriften nach, so läßt sich unschwer vieles erkennen, was Simon bereits ausgeübt hat, das heute unter den Bezeichnungen ,Gruppentherapie', .Spieltherapie', ,Psychodrama', ,Milieutherapie', .moralische Therapie' usw. verstanden wird. Zweckmäßig ist es jedoch, wohl auch in Deutschland mehr zwischen Beschäftigungs- und Arbeitstherapie zu unterscheiden, wie es bereits in den amgloamerikanischen Ländern getan wird mit ,Occupational-Therapy' und .Industrial-Therapy' und in Frankreich ,Les thérapeutiques occupationnelles' und ,L'ergothérapie ou thérapeutique par le travail', weil mit diesen zwei verschiedenen Begriffen auch unterschiedliche therapeutische Ansatzpunkte gemeint sein sollen. Wir brauchen die Rücksichten nicht mehr zu nehmen, die Simon sich auferlegen mußte, als er sagte: „Es wurde bisher von , B e s c h ä f t i g u n g ' immer nur im Sinne von wirklicher nützlicher Arbeit gesprochen. Vielleicht wäre es an sich richtiger, hierfür grundsätzlich auch nur das Wort . A r b e i t ' zu benutzen. Lediglich aus taktischen Rücksichten, um unsere Bestrebungen auch bei Uneinsichtigen nicht zu diskreditieren, habe ich das ominöse Wort möglichst vermieden.

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Viele Mensdien nehmen an einer ,Beschäftigung' der Geisteskranken keinen Anstoß, die sich mit dem W o r t e ,Arbeit' nicht so leicht abfinden würden. Das Entscheidende — zum mindesten in der hauptsächlich f ü r die arbeitenden Volksklassen erstellten öffentlichen Anstalt — bleibt jedenfalls f ü r unsere Therapie der Anteil der ernsten Arbeit, schon wegen der Wichtigkeit, welche die Erhaltung und Kräftigung der Arbeitsfähigkeit für jeden hat, der auf selbständigen E r w e r b angewiesen ist." Eine treffende Bezeichnung dieser therapeutischen Richtung ist in Italien mit ,Reeducazione motori" gefunden worden. So ist die eigentliche Arbeitstherapie als eine soziale T h e r a p i e anzusehen. Sie ist geeignet, die dementen und defekten K r a n k e n sozial auf einer möglichst hohen Stufe a u f zufangen, sie wenn möglich auf diese Weise nicht innerhalb der Anstalt sozial einzuordnen, sondern zu r e s o z i a l i s i e r e n f ü r das Leben außerhalb der Anstalt. Sie ist geeignet, katatone und stuporöse Patienten körperlich und seelisch zu lockern. Die Arbeitstherapie ist die eigentliche Therapie in einer Anstalt, bei der dem A r z t die meisten Diff erenzierungsmöglichkeiten f ü r den einzelne^ K r a n k e n gegeben sind. H i e r kann f ü r jeden Patienten, seinen körperlichen, geistigen und seelischen Verhältnissen entsprechend individualisiert werden mit dem Ziel, den einzelnen Stufe um Stufe weiter v o r w ä r t s z u bringen und höhere Leistungen zu erzielen. Es widerspricht einer individuellen Therapie, wollte man eine schematische Stufenbehandlung in einer Anstalt einführen. Jeder A r z t und jeder Patient wird die arbeitstherapeutischen Möglichkeiten immer etwas anders sehen als der andere. D a s schadet auch nicht. Es ist oft sehr gut, wenn mit dem Kranken darüber gesprochen wird. V o n anderen weiß man aus der biographischen Anamnese, weldie ,Steckenpferde' der neu aufgenommene K r a n k e hat und kann ihm auf diese Weise eine unvorhergesehene Freude bereiten, indem man ihm die geliebte T ä t i g k e i t zusagen kann, der er sidi sonst nur nach dem Feierabend widmet. H i e r ist jede Regel und jedes Schema fehl am Platze. Beobachtet man die Patienten in den Betrieben und Arbeitsgruppen, wodurch der Ausdruck ,Kolonnen' besser abgelöst werden sollte, so kann man feststellen, daß in jeder Arbeitsgemeinschaft stillschweigend — dem K ö n n e n und den Fähigkeiten des einzelnen K r a n k e n entsprechend — eine eigene Arbeitsteilung vorgenommen wird, die einer verschiedenartigen Stufung gleichkommt. Es ergibt sich im Zusammenwirken automatisch, wie sich K i n d e r verschiedener Lebensjahre und Entwicklungsstufen auch unbewußt in ihren Beschäftigungen und Spielen aufeinander einstellen. U m jedoch Anhaltspunkte zu geben, w i e sich eine Stufenbehandlung im Sinne der Simonsdien Arbeitstherapie aufbauen kann, w i r d ein Uberblick gegeben, bei dem w i r dessen Angaben z u m großen T e i l heute immer noch als die grundlegenden ansehen können, die nur unwesentlich ergänzt zu werden brauchen. Als erste, unterste Stufe sind nur ganz einfache Betätigungen ohne besondere A n f o r d e rungen an die Selbständigkeit und Aufmerksamkeit des K r a n k e n anzusehen. Hierhin gehört die ,Karrengruppe'. D a s ist jene Arbeitsgruppe b z w . .Kolonne', durch die das Gütersloher System u. a. bekannt wurde. Ist es doch besonders eindrucksvoll, wenn eine G r u p p e v o n acht bis zehn Kranken, die einzeln infolge ihrer Krankheit als stumpf oder antriebs- und initiativearm zu bezeichnen sind, einen kleinen H a n d w a g e n ziehen, 4 Praktische Psychiatrie

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wobei die aktiveren der Patienten dabei die selbst für diese geringe, nichts beanspruchende Tätigkeit noch zu antriebsschwachen mit sich fortbewegen, so daß etwas geschieht, ja, überhaupt geschehen kann. Die Gegner der arbeitstherapeutischen Bestrebungen haben gerade hier, bei diesem Beispiel des Karrenziehens angesetzt, um den autoritäten Zwang dieser Methode, die durch Drill die Persönlichkeit, das Individuelle im Menschen vergewaltigt und gleichmacht, aufzuzeigen und zu verurteilen. Nun berichtete Sivadon, der erst seit 1948 diese therapeutischen Bestrebungen verfolgt, begeistert von den Erfolgen der Arbeitstherapie, von der Stufenbehandlung in einer „équipe de la terasse". Besonders stolz ist er auf die guten Ergebnisse mit der „équipe des brouttes", der Schiebkarrengruppe, womit eine Karren-schiebe-Gruppe gemeint ist, in der etwa zwölf Kranke, besonders katatone, zusammengefaßt sind. Und es werden genaue Schilderungen gegeben, warum in diesem Falle für Kranke dieser Art gerade diese Arbeit das nichtige ist: weil durch die enge Zusammenfassung zu einer Gemeinschaft und einer gemeinsamen Leistung das Individuum am meisten profitiert. N u r auf diesem Wege ist es möglich, die nächste, höhere Stufe zu erreichen und zu vermeiden, wieder zurückgehen zu müssen. Immer wieder ist man versucht, als Arzt einen falschen Maßstab anzulegen und ständig hat man Gelegenheit festzustellen, wie klein die Masse und wie fein die Graduierung sein muß und kann, damit man dem Kranken gerecht entgegen kommt. Weitere einfache Arbeiten sind das Beladen von Wagen mit Erde und Sand sowie Erdbewegungen wie Ausschachtungen usw. In der Mattenflechterei besteht die erste Tätigkeit bzw. die unterste Stufe noch nicht darin, kleine Stränge selbst zu flechten, sondern dort gibt es eine Fülle von kleinen Nebenaufgaben, von denen man gemeinhin gar nicht annimmt, daß sie eine ,Aufgabe' darstellen könnten. Es gibt dort diejenigen, die die Reste des Strohes oder Rohres oder Bastes aufsammeln, die diese einzelnen Fäden beschneiden oder bündeln können. Andere Kranke können die einzelnen Fasern oder kleinere Flechten den eigentlichen Flechtern zureichen und eine weitere Gruppe kann die vorgesehenen Flechtarbeiten üben. An diesem Beispiel erkennen wir die vielfältigen Möglichkeiten, die sich bei arbeits t h e r a p e u t i s c h e n ärztlichen Erwägungen ergeben. Es gibt eine Vielzahl solcher kleiner Handreichungen und es nimmt Wunder, wieviele Kranke in den Arbeitsbetrieben eingesetzt werden können, die vom Personal gerne zurückgeschickt werden, weil sie ,doch nichts leisten", weil man mit ihnen nichts anfangen kann. Für Männer ist eine gute Tätigkeit, die wenig eigene Initiative erfordert, der zweite Mann beim Sägen zu sein, wo der aktivere Kranke den anderen buchstäblich mitreißt. Frauen und Männer können auf den Abteilungen mie den einfachsten Hausarbeiten beschäftigt werden, wie das Staubwischen der Möbel und das Bohnern der Fußböden. In keiner Anstalt sollte man sich vornehmen, die Fußböden oder den Festsaal maschinell abziehen zu lassen. Es werden dadurdi die Arbeitsplätze für viele Kranken zerstört, und zwar die ständigen, was besonders bedauernswert ist. N u r durch Regelmäßigkeit bei der Arbeit kann etwas erreicht werden. Das gilt nicht nur für die einfachsten Arbeiten, sondern prinzipiell für alle Arten von Arbeiten und Beschäftigungen, ja, für die gesamte psychiatrische Therapie schlechthin.

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Die nächste Stufe ist durch mechanisches Arbeiten gekennzeichnet, bei dem vom Kranken schon eine gewisse Selbständigkeit vorausgesetzt werden kann und ein wenig eigener Antrieb vorhanden sein soll. Hierzu gehören Erdarbeiten von Gruppen, die auch weiter entfernt im Gelände ihre Arbeitsstelle haben können. Auch diese Arbeiten sollen wie jede Arbeits t h e r a p i e sinnvoll sein. Es hat keinen Sinn, hier ein Loch schaufeln und dort einen Berg anfahren zu lassen; das merken die Kranken sehr bald und verlieren die Lust am Werke. Zu jeder Arbeit gehört ein Impuls von innen heraus, der der Betätigung erst den nötigen Schwung gibt. Erst wenn eine Aufgabe gestellt ist, die es zu bemeistern gilt, können Selbstwertgefühle wie Ehrgeiz und Schaffensdrang geweckt und ausgebildet werden. Eine vorzügliche Arbeit, die sich ebenfalls über lange Zeit erstreckt und wegen ihrer Regelmäßigkeit für viele Kranke geeignet ist, insbesondere dadurch, daß Werte geschaffen und erhalten bleiben, ist das Putzen der Ziegelsteine, vor allem geeignet für Epileptiker. Auf diesem Wege konnten Anfallskranke, die jahrelang auf der ,chronischen Dauerwache* gewesen waren, bis in das ,offene Haus' gefördert werden. In den Anstalten, in denen keine Kriegsschäden entstanden sind oder gerade nicht gebaut oder eingerissen und umgebaut wird, bieten sich sicher noch genügend Mauern an, die einer besonderen Arbeitsgruppe für mehrere Sommerhalbjahre Arbeit geben können. Andere Männerkranke, die einen handwerklichen Beruf erlernt haben, können in den betreffenden Betrieben zunächst mit Handlangerdiensten helfen. Hilfe beim Kompostieren können Frauen und Männer geben, ebenso wie Unkraut jäten, später Runkeln hacken und während des ganzen Jahres die Sauberhaltung der Wege in den Parkanlagen von beiden Gruppen gemacht werden können. Für die Frauen sind zu nennen, die Vorarbeiten für Papparbeiten, wie die Herstellung von Apothekerdöschen für Pillen und Tabletten sowie die für Frauen gewöhnlichen Handarbeiten wie Stopfen, Stricken und Häkeln. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie lange diese von Jugend auf gewohnten Tätigkeiten auch bei alten Frauen, die schon weitgehend organisch abgebaut sind, erhalten bleiben. Diese Art der Beschäftigung, die für senile Frauen eben als Arbeit zu gelten hat, erhält die ,Fassade' und verlängert noch lange den Verfall und trägt somit auf den Siechenabteilungen weitgehend dazu bei, daß die kranken Frauen anstaltssozial bleiben. Das bedeutet, daß der Zeitpunkt des Unreinlichwerdens möglichst weit hinausgeschoben werden kann. Der Einsatz des Pflegepersonals, die alten Frauen auf solche Weise in Tätigkeit zu bringen, ist sehr mühsam und erfordert viel Geduld. Für den Arzt gilt es, die Schwestern darin zu ermutigen, in ihren Anstrengungen nicht müde zu werden. Nur muß man sich darüber im klaren sein, daß es im Einzelfall Wochen oder auch Monate dauern kann, bis es zu selbständiger Arbeit kommt. Der Einsatz lohnt, weil viele grobe, schmutzige Arbeit dem Personal erspart und diese Zeit zu weiterem Aufbau verwendet werden kann. Und nur ständige Bereitschaft und Aktivität garantiert den Fortschritt oder auch den Status quo. In der Arbeitstherapie gibt es keinen Zeitpunkt, in dem man sagen kann, jetzt ist es erreicht! Außerdem gehören hierhin die einfachen Arbeiten in der Wäscherei und die Hausarbeiten, die etwas gehobener sind: Bettenmadien, Einfetten der Fußböden, Fensterputzen. Sie sollen nicht nur unter Anleitung, sondern bei Mithilfe einer Sdiwester gemacht werden. 4*

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In der dritten Stufe werden Arbeiten gefordert, die schon einige intellektuelle Voraussetzungen verlangen und Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie sind je nach technischen Einrichtungen in den Lagerhäusern und der Ökonomie verschieden und richten sich nach dem Gelände und der Landschaft, in dem die Anstalt liegt. Hier werden es mehr Waldoder Feldarbeiten sein, dort ist der Wege- und Straßenbau bzw. die Anlage und Unterhaltung eines Friedhofes infolge des bergigen Grundstückes besonders wichtig. Die fraulichen Arbeiten dieser Stufe liegen in dem gleichen Niveau und erfassen praktisch alle Arbeiten, wie sie für eine Hausfrau üblich sind und von ihr verlangt werden, sei es in der Nähstube, der Bügel- oder Mangelstube oder in der Stube, in der das Gemüse geputzt wird oder die Kartoffeln geschält werden, oder auf der Abteilung als Küchenhilfe beim Spülen, beim Tischdecken und ähnlichen selbständigen Tätigkeiten, die nicht unbedingt ständiger pflegerischer Beaufsichtigung bedürfen. In der mittleren Stufe sind seit etwa 150 Jahren in allen Häusern, in denen seelisch Kranke untergebracht gewesen sind, die meisten Patienten beschäftigt worden, schon aus materiellen Gründen. Die für jede Anstalt notwendigen Wirtschaftsbetriebe ziehen die Arbeitskräfte an. Es zeigt sich das gleiche Spiel von Angebot und Nachfrage wie in der freien Wirtschaft. Das Material ist da und muß verarbeitet werden, die Häuser sind da und müssen sauber gehalten werden. Und hier setzt das Pflegepersonal seine Initiative zum Wohle der Kranken ein, ohne daß es ihm besonders bewußt wird. Die Ansätze sind zu fördern und das ist nur möglich, wenn der Arzt bei der täglichen Visite bei allen sich bietenden Gelegenheiten auf die Probleme eingeht und sie erklärt. N u r auf diese Weise läßt sich die Aktivität übertragen. Es ist nicht verwunderlich, wenn ein Pfleger, der sich einen .guten Küchenarbeiter' gesichert hat, auf seinen Arzt nicht gut zu sprechen ist, wenn er ihm den .fleißigen Kranken' wegnimmt. H a t man dem Pfleger aber erklärt, daß er ja Pfleger ist und nicht mehr ein Wärter sein will, also ein Mann, der nicht bloß aufpaßt, sondern pädagogische Fähigkeit haben soll und entwickeln darf, um die Kranken zu fördern, dann kann man damit rechnen, daß von einer solchen Station im Ablauf von einigen Monaten jeweils der Patient, der die Küche besorgt hat, auf eine qualitativ höhere, ruhigere, offenere Abteilung verlegt werden kann. Und schließlich wird es dem Pfleger Spaß machen, er wird mit Begeisterung dabei sein und Freude daran haben, wenn er erleben kann, wie er sich aktiv in die Therapie mit einschalten kann. Die für die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsbetriebe notwendige Zahl der arbeitenden Kranken beträgt etwa 50 °/o im Durchschnitt. Das war auch schon so, als man den Begriff der Arbeitstherapie noch nicht entwickelt hatte. Die eigentliche Therapie ist meist bei den Stufen unter der mittleren zu leisten, und die Förderung der Kranken kann nur in den beiden oberen Stufen geschehen. Es soll nicht unbedingt um Prozentzahlen gerungen werden, aber in einer gut geleiteten Anstalt müssen die Bemühungen darum kreisen, die Zahl der Kranken, die in die Arbeits- und Beschäftigungstherapie eingespannt sind, um 90 °/o zu halten. Und es ist offensichtlich leichter, von 60 °/o auf 70 °/o Arbeitende und Beschäftigte zu kommen, als von 85 °/o auf 90 %>. Spitzenwerte von etwa 90 %>, wie sie verschiedentlich errechnet worden sind, können nur schwerlich über längere Zeit durchgehalten werden. Darauf kommt es auch gar nicht an, sondern wichtig ist, daß das Prinzip als solches für richtig erkannt und vom leitenden Arzt bis zur jüngsten Schwester mit glühenden Herzen verfochten wird; denn Pessimisten sind für eine Therapie dieser

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Art als ärztliches oder pflegerisches Personal nicht geeignet. Sie können nur schaden, indem sie anderen den Enthusiasmus nehmen, der zu diesen Aufgaben nun einmal nötig ist. In die vierte Stufe ordnen wir alle Arbeiten, die Selbständigkeit erfordern. Es sind Tätigkeiten, die nicht mehr in fest umrissenen und eingeteilten Gruppen mit einem Pfleger oder einer Schwester gemacht zu werden brauchen. Die Beaufsichtigung ist lokkerer und beschränkt sich im wesentlichen darauf, den Kranken durch Ratschläge und Vorschläge zu weiterer eigener Initiative anzuregen und sein Selbstgefühl durch Übertragung von Eigenverantwortlichkeit zu steigern und zu festigen. Es handelt sich um Kranke, die zeitweilig allein eine Aufgabe übertragen bekommen können: im Treibhaus oder in den gärtnerischen Anlagen zum Pikieren und Pflanzen, in der Landwirtschaft als Gehilfen beim Melken, beim Füttern der Schweine oder beim Mähen und entsprechenden selbständigen Tätigkeiten in den Fachbetrieben ¡Klempner-, Schlosser-, Tischler-, Polster-, Schuhmacher-, Schneider, Anstreicherwerkstatt. Für die Frauen kommen Arbeiten an der Nähmaschine in Betracht, und daß sie zum Zuschneiden angelernt werden und feinere Handarbeiten aller Art machen. Es gibt eine ganze Reihe von Betrieben, in denen die Arbeiten sich nicht ändern, sondern immer die gleichen bleiben, wie in der KartofFelschälstube. Hier können die Kranken nur eingestuft, aber nur wenig in der Arbeitsqualität gefördert werden. In der Nähstube, in der Korbmacherei oder in einer Bürstenmacherei sind verschiedene Stufen in einem Betriebe vereinigt und damit die Förderungsmöglichkeiten, die sich im praktischen Arbeitsgang ergeben. Vielseitig ist die Arbeit in der Buchbinderei. Hier sind einfache Handreichungen, wie Sortieren, Falzen, Einnähen, Bespannen, Schineiden genauso notwendig wie handwerkliches Geschick und künstlerischer Geschmack. Die Einrichtung einer Steinefabrik ist wohl in jeder Anstalt möglich und stellt einen Betrieb dar, der das ganze Jahr unterhalten werden kann. In der Arbeitsgruppe für die Steinefabrikation können beliebig viele Patienten aller Art eingesetzt werden. Vor dem Beginn sind die verschiedenen Bedenken derjenigen zu zerstreuen, die immer sagen, daß es sich nicht lohne. Es ist notwendig, sich die Schlackenrückstände aus den Heizungskesseln zu sichern, dann sind von den Zimmerleuten hölzerne Formen für Hohlblocksteine anzufertigen und Zement muß gekauft werden. Die stumpfesten Kranken können mit dem Stampfen der Asche beschäftigt werden. Andere können die weiteren Materialien wie Sand, Kies, Split usw. durch Siebe schaufeln, wieder andere können die Grundstoffe an den Arbeitsplatz herankarren. Die nächsten werden damit beschäftigt, die richtige Zementmischung herzustellen. Neue Formen müssen konstruiert werden. Es ist wichtig, daß alle Arbeiten, auch das Stampfen der Misthungen in den Formen, mit der H a n d gemacht werden. Wenn eine solche Steinfabrik angelaufen ist, können auch differenziertere Kranke zu diesen Arbeiten herangezogen werden, denn das Mischen von Zement macht vielen Freude und das Ausknobeln von neuen Möglichkeiten, wie sie in einem improvisierten Betrieb notwendig sind. Es brauchen nicht nur große Hohlblocksteine zu sein. Wandplatten, Mauersteine, Zaunpfähle, Hydrantenanzeiger ,Bürgersteigplatten, Treppenstufen, die im einzelnen bis zu 6 bis 7 Zentner wiegen, sind hergestellt worden; in 2V2 Jahren wurden Steine für 6 Einfamilienhäuser gemacht.

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Beschäftigungs-Therapie

Die Arbeitsgruppe wurde mit 3 Kranken begonnen. Ein Pfleger, der ursprünglich Maurer von Beruf war, wurde der Leiter dieser Gruppe. Der nächste Patient wurde erst dann in diese für ihn neue Arbeit eingesetzt, als die bisherigen Kranken sich an den Arbeitsgang gewöhnt hatten. Schließlich war die Arbeitsgruppe 12 bis 15 Patienten stark und durch den Stufenaufbau in sich, durch die verschieden geartete Tätigkeit und den unterschiedlichen Fortschritt im Krankheitszustand bezüglich der zu verzeichnenden Besserungen, immer noch von einem Pfleger übersehbar. Bei Neueinrichtungen von Arbeitsgruppen ist sowieso immer darauf zu achten, daß auch die einzelnen Arbeitsgruppen systematisch mit wenigen Kranken aufgebaut werden. Wenn sofort mit etwa 10 Kranken für eine Arbeitsgruppe begonnen wird, darf man sich nicht wundern, wenn die Arbeit nicht klappt. N u r bei langsamem Aufbau kann dem einzelnen genützt werden und nur, wenn jeder individuell gefördert werden kann, geht der Weg vom stereotypen Aschestampfer bis zum Zementmischer und Formenbauer, von der ,chronischen Dauer-Wache' zur .offenen Abteilung'. In die letzte Stufe sind die Kranken einzureihen, die eine normale Leistungsfähigkeit aufweisen, so wie sie bei einem Gesunden aus dem gleichen Lebenskreise erwartet wird. Es sind die Patienten, die bald mit einer Entlassung rechnen können, z. B. Kranke mit einer abklingenden depressiven Phase bzw. einer leichten manischen Nachschwankung, bei denen das Entlassungsrisiko noch zu groß ist, da die Gefahr eines Suioides besteht oder Epileptiker, die mit Medikamenten und Diät eingestellt sind und noch einige Zeit der Betreuung benötigen, sowie viele parnoide Schizophrene, die ihr umschriebenes Wahnsystem haben, im übrigen aber geordnet sind. Sie können als Einzelarbeiter in Familien geschickt werden oder zu Besorgungen in die Stadt gehen. Daß diese Kranken wiederum kleine Arbeitsgruppen anderer Mitpatienten führen oder als ,Abteilungspfleger' in Stationen tätig sind, die im übrigen nicht durch Pfleger besorgt werden, ist heute wohl nicht mehr zu vertreten. Diese Verhältnisse können nicht zum Maßstab gemacht oder für einen erstrebenswerten Zustand angesehen werden. Eine Kontrolle über den Stationsablauf ist dann kaum noch möglich. Wenn es sich um ,Patienten' handelt, die seit Jahren entlassen sein müßten, da sie praktisch gesund sind, aber zu einer Gruppe von Menschen in der Anstalt gehören, die als ,gute Kranke' in der Arbeit .unentbehrlich' geworden sind, hat das nichts mehr mit Arbeitstherapie zu tun.

Beschäftigungs -Therapie Die individuelle Gabe 'des Arztes und des Pflegepersonals, für seine Kranken zu sorgen, zeigt sich in der Durchführung der Beschäftigungstherapie. Sie verteilt sich auf zwei verschiedene Bereiche. Einmal sind es die handwerklichen und kunsthandwerklichen Tätigkeiten, die als Ganz- oder Halbtagsbeschäftigung der Arbeitstherapie mindestens gleichzusetzen ist. Zum anderen ist es nötig, die Patienten nach der ,Arbeit' oder planmäßigen und gezielten Beschäftigung zu unterhalten, zu beschäftigen, wofür am besten und umfassendsten der Begriff Spieltherapie benutzt wird. Der Gebrauch des Wortes Therapie in allen diesen Fällen ist sicher berechtigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es in der Psychiatrie, insbesondere in der Anstaltspsychiatrie keinen Zeitpunkt geben sollte, in der therapeutischer Leerlauf herrscht. Jede Kleinigkeit, die mit den Kranken unternommen wird, ist wichtig und hat seine psychischen Auswirkungen zu verzeichnen.

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Franz Werfeis Wort, daß der Mensch, der das Nichtstun ertragen könne, ein Kapitalist an Innerlichkeit sein müsse, hat seinen Wahrheitsgehalt für die Gesunden schon erwiesen und wenn Simon anführt, daß der Mensch nie nichts tue, denn, wenn er nichts Nützliches tut, dann macht er etwas Unnützes — zum mindesten denkt er etwas Unnützes, haben wir vielfach erfahren. Viele der ganz- oder halbtägig zu übenden Beschäftigungen können in großen Tagesräumen durchgeführt werden. Zu empfehlen sind in jedem Falle — wenn nodi nicht vorhanden —Bastelstuben. An die Aufnahmeabteilungen sollte immer eine mehr handwerkliche Stube für die Männer und kunsthandwerkliche Stube für die Frauen angeschlossen sein. Unabhängig davon ist ein großer Bastelraum zu schaffen, in dem — die Versuche sind schon an verschiedenen Stellen mit Erfolg erprobt worden — Männer und Frauen zusammen arbeiten können. Fehlt es an Räumlichkeiten, so eignet sich vielfach ein Festsaal zur Einrichtung einer zentralen Beschäftigungstherapie. Sind die hierfür zur Verfügung stehenden Räume dennoch zu klein, um alle Kranken, die einer regelmäßigen Beschäftigung zugeführt werden sollen, zu fassen, sind viele Tätigkeiten so geartet, daß sie durchaus auch halbtags mit Gewinn gemacht werden können. Jede Monotie soll bei einer Stufenbehandlung vermieden werden. Nach Erreichen der mittleren Stufe ist für die genügende psychische Auflockerung auch eine Variation der Arbeit bzw. Beschäftigung vonnöten, damit sich nicht neue Automatismen einschleichen. Das Leben stellt an die zur Entlassung vorgesehenen Kranken ja auch wieder wechselnde Forderungen, deshalb muß jegliche Routine oder Drill vermieden werden. Werden die Kranken in einem größeren Bastelraum mit vielen Beschäftigungsmöglidikeiten zusammengezogen, so ergeben sich Möglichkeiten der gegenseitigen Anregungen und Hilfestellungen, die die Eigeninitiative stärken. Wenn eine aktive Beschäftigungstherapie betrieben werden soll, so ist es allerdings nur zu machen, wenn die ärztliche Leitung voll und ganz dahintersteht und mit dem Gewicht der ärztlichen Persönlichkeit und nicht zuletzt der Dienststellung die immer wieder von Verwaltungen und Organisationen vorgebrachten Bedenken zerstreut oder sogar entschieden bekämpft im Interesse der uns anvertrauten Kranken. Auf der einen Seite wird vorgebracht, daß die Beschäftigungstherapie eine Konkurrenz für den freien Arbeitsmarkt darstellt. Hierbei wird nicht beachtet, daß dann die Kartoffelschäler und Gemüseputzer auch durch Gesunde ersetzt werden müßten, bzw. der Anstaltsschreiner dem freiberuflichen Tischler auch die ,Arbeit wegnimmt'. Zudem wird nicht beachtet, daß es ein Grundrecht jedes Menschen ist, eine Arbeit oder Beschäftigung zu haben. Jedem wird dies zugestanden, insbesondere den Gruppen von Menschen, denen vom Schicksal durch eine Krankheit, durch einen Unfall oder eine Verwundung eine besondere Lebensaufgabe gestellt ist. Für Blinde, Gehörlose, Hirnverletzte haben wir besondere Förderungen von Seiten der gesetzgebenden Organe, um diesen Menschen den Glauben an die positiven Werte des Lebens nicht zu zerstören und sie gefühlsmäßig nicht zu zweitrangigen,,unwerteren' Menschen werden zu lassen. Das gleiche Recht haben unsere seelisch Kranken auch! Der andere Punkt, der gerne geltend gemacht wird, ist der, daß die Beschäftigungstherapie oder die Arbeit der Kranken nicht genug einbringt, daß die einzukaufenden Materialien zu teuer seien und in keinem Verhältnis stehen zu dem, was dabei heraus-

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kommt. Verwaltungsmäßig ist es natürlich am einfachsten, nicht nur die Anstaltsgebäude mit ihrem Inventar zu registrieren, sondern audi die Kranken, zumal die Fürsorgeverbände ja nur verpflichtet sind, die Kranken zu verwahren. D i e Möglichkeiten einer aktiven Beschäftigungstherapie sind mannigfaltig. Hier ein Überblick: K o r b f l e c h t e r e i : Untersätze für Blumenvasen, Blumenkörbdien, Papierkörbe, Einkaufskörbe, Wäschekörbe aus Weiden, Rohr oder Binsen. B u c h b i n d e r e i — Vorarbeiten: für neue Bücher und alte zum Wiedereinbinden, Herstellung von Foto-Alben als Bücher mit losen Blättern, Schreibtischmappen, Buchhüllen, kleine Wechselrahmen für Fotos. L a u b s ä g e a r b e i t e n : Kästchen, Kerzenhalter, Märchenfiguren, Puppenstuben und -figuren; biblische Szenen, die bespannt werden mit durchsichtigen Stoffen oder Papier für Weihnachten oder andere kirchliche Feste. M a l a r b e i t e n : Bemalen von Holz und Schnitzarbeiten, Lederarbeiten, Töpferarbeiten; Batiken.

Metallarbeiten,

N a d e l a r b e i t e n : Häkeln, Gabeln, Stricken, Musterstricken (Strickjacke), Stricken durchbrochener Muster (Trachtenstrümpfe), Ziersticken, Buntsticken, Tüllsticken, Kreuzstichstickerei; Spitzenarbeiten: Okki, Klöppeln. W e b e n : Flechtweben, Brettchenweben; mit dem Webekamm, Fachwechselrahmen, Hand weberahmen. Spinnen

und

Knüpfen.

L e d e r a r b e i t e n : Geldbörsen, Füllfedertaschen, Tabaksbeutel, Schlüsselbeutel, Nähzeugbehälter, Ausweistaschen, Schreibmappen. Arbeiten mit A l t m a t e r i a l : Zerschneiden von alten Wäschestücken, Strümpfen, die aneinandergenäht, aufgerollt und dann zu Bettvorlegern verwebt oder geknotet werden. Anfertigung von S p i e l z e u g : Tiere aus Holz, Holzklötze, Kasperle- und Puppentheater mit Figuren. Papierarbeiten: — Schönschrift. Netze

Lesezeichen, Tischkarten, Karnevalshüte, Masken, Laternen, Schultüten.

f l e c h t e n : Einkaufsnetze, Tennisballnetze.

Wenn irgend möglich, ist es wichtig, eine Bastelstube einzurichten, die als Atelier benutzt werden kann. In größeren Anstalten sind immer mehrere Kranke, die einen künstlerischen Beruf oder ein solches Handwerk haben. Diese Betätigung der Kranken lag Simon noch f e m . Er legte sogar Wert darauf, daß Beschäftigungen dieser Art unterbunden wurden, da sie von ihm als nicht nützlich angesehen wurden. D i e Bastelwerkstätten sollen auch nicht dazu da sein, ,Bildnereien v o n Geisteskranken' herzustellen, wenngleich sich solche Arbeiten als Nebenbefunde ergeben und dann ebenfalls auf Interesse stoßen werden. Hier soll keine ,schizophrene Kunst* kreiert werden. Aber seelisch Kranken soll auch Gelegenheit gegeben sein, sich künstlerisch zu betätigen. Hierzu ist es erforderlich, daß sie durch eine Fachkraft angeleitet werden. Es gibt Bildhauer, die vor ihrer Ausbildung für ihren Künstlerberuf eine Prüfung für den Fürsorgedienst gemacht haben, andere, die eine Ausbildung als Schwester durchgemacht haben, die somit genügend geeignet sind, mit unseren Kranken umzugehen. Es wird sich hier und da ein Maler finden, der die psychagogischen Fähigkeiten hat, in die .künstlerische

Künstlerische Therapie

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Therapie' aufgenommen zu werden. Das sind nur Organisationsfragen, die gelöst werden können, zumal diese Künstler nicht ganztägig angestellt zu werden brauchen, sondern in einem freien Vertragsverhältnis stehen können. In dem Atelier können größere Holzarbeiten gemacht werden; es ist Platz für Metallarbeken, z. B. Hämmern von Löffeln, Aschenbechern, Ohrringen, Ringen usw. Eine finanzielle Frage ist die Anschaffung eines Brennofens für Töpferarbeiten, denn auf diesem Gebiete können sich viele Kranke versuchen, und man wird besonders über die Ergebnisse erstaunt sein. Modellierarbeiten in Gips oder Ton geben den Kranken Gelegenheit, ihre speziell innewohnenden Gestaltungskräfte zu produzieren. Besonders widitig ist das Malen. Denn hier soll nicht von den Talentierten einfach darauflosgemalt werden, sondern hier ist eine fachliche Anleitung zu wünschen. Es beginnt mit dem Malen mit den Fingern, wie überhaupt der direkte Kontakt mit der Materie, die geformt werden soll, von grundlegender Bedeutung für das Gestalten ist. Von den psychoanalytisch arbeitenden Schulen wissen wir, wieviel Un- oder Unterbewußtes in dtem urtümlidien Gestalten mit der Auseinandersetzung des ursprünglichen Materials zum Ausdruck kommen kann. Insofern ist gerade die künstlerische Betätigung nicht nur aus Gründen der Beschäftigung notwendig, sondern auch aus rein ärztlichen Erwägungen zu diagnostischen Zwecken widitig. Auf diesem Wege werden uns Zugänge zu unseren Kranken eröffnet, wie sie sich sonst gar nicht zeigen. Es ergeben sich diagnostisch neue symptomatische Hinweise, die dann wiederum im weiteren Verlauf der Therapie, vor allem psychagogisch, ausgenutzt werden können. Die künstlerische Therapie' ist ein Feld, das vom Arzt besonders viel verlangt. Sie muß in der geeigneten Weise eingesetzt werden und als ein Mittel benutzt werden, das den Kranken fördern kann. In jedem Kreis von ärztlichen Kollegen findet sich aber jemand, der diese besondere Betreuung zu übernehmen vermag. Wird von diesem zugleich die Leitung der Spieltherapie, d. h. also der Unterhaltungen zur Freizeitgestaltung übernommen, so kann die Bastelwerkstatt viel hierzu beitragen, z. B. die Ausgestaltung des Festsaales, die Anfertigung der Kulissen für die eigenen Theaterstücke sowie der sonstigen dazu notwendigen Ausrüstungsgegenstände. Es ist zweckmäßig, die größeren Veranstaltungen unterhaltender Art ebenfalls in ärztliche Hände zu legen, damit solch ein Fest organisiert ist. Es ist nicht damit getan, daß die Musik bestellt und vielleicht ein Faß Bier angestochen wird. Die Stimmung stellt sich beim Tanzen nicht von allein ein, sie muß ,angekurbelt' werden — genau wie das sonst auch der Fall ist — und zwar von den Patienten selbst. Wenn ein Programm aufgestellt wird, so sind damit vorher schon wochenlang Proben verbunden. Das systematische Üben vorher ist im therapeutischen Sinn fast wichtiger als das Fest selber. Von dem Fest und für das Fest leben die Kranken oft wochenlang; in Gegenden, in denen Schützenfest gefeiert wird, freuen sich alle am Tage nach dem festlichen Ereignis schon auf das nächste Jahr — nicht nur die Patienten. Für die Abwicklung des einzelnen Festes ist es wichtig, daß möglichst viel Personal, besonders alle Ärzte erscheinen. Und das nicht nur, um die Kranken wiederum zu beobachten, sondern um aktiv mitzuwirken, insbesondere beim Tanze. Die Wirkung einer Aufforderung zum Tanz, besonders bei gehemmten Kranken, ist für die Herstellung der Situation der Gegenübertragung nicht zu unterschätzen und

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kann für das gesamte Patient—Arzt-Verhältnis entscheidend werden. Hier bietet sich eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die Frauen-Kranken einmal als ebenbürtig und gleichberechtigt angesehen werden können (müssen), hier haben sie die völlige Freiheit, als Dame erscheinen zu können, und man ist immer wieder erstaunt, wie groß gerade in solchen Tagen der gut erhaltene Teil der Persönlichkeit, der gesunde Rest, zum Vorschein kommt und angesprochen werden kann. Hiermit sind die seelisch Kranken gemeint. Den charakterlich Abartigen gegenüber, also den Psychopathen, ist bei allen festlichen Anlässen möglichst mit Reserve zu begegnen. Gerade wenn sie meinen, Eindruck zu erwecken, wenn sie ihren weiblichen Charme durch ihre Geltungsbedürftigkeit verzerren, sollte man ihnen ,einen Korb geben*. Zu Beginn des Jahres wird ein Kostümfest veranstaltet, das je nach landsmannschaftlichen Gebräuchen aufgezogen werden muß. Im Sommer wird ein Wiesenfest mit Kirmesbetrieb, wie Karussel, Würstchenbude, Scheibenschießen, Fahnenumzug u. ä., aufgezogen. In vielen Gegenden ist das Schützenfest mit morgendlichem Vogelschießen, Umzügen mit Musik, Abholen des Königspaares — des alten und später des neuen — mit Parade der Schützen und Tanz und Unterhaltungsspielen am Nachmittage und abends üblich. Hier und da wird das Fest des Jahres sogar auf zwei Tage verteilt. Weil während des Sommers die meisten Kranken mit Garten- und Feldarbeit beschäftigt waren, zumal während der Haupterntezeit, wird im Herbst das Erntedankfest gefeiert. Liegt der Gutshof im Bereiche oder in der Nähe der Anstalt, kann ein Erntedankzug mit Wagen, diie mit Früchten der Felder beladen sind, gemacht werden, an dem sich alle beteiligen können. Anschließend ist im Festsaal wieder Tanz und Unterhaltung. Ein Programm hierzu lautet zum Beispiel: 1. Prolog: Gedicht: Erntedankfest. 2. Einzug der Erntearbeiter, Überreichung der Erntekrone und des Erntekranzes mit Ansprache des Gartenmeisters. 3. Chorlied: Das Feld ist weiß. 4. Dank des Bauern, Dank des Direktors. 5. Chorlied: Erde singe. 6. Erntereigen: Wenn auf dem Felde die Ähren reifend stehn. 7. Zwei Singetänze: Tanz, Mädel, tanz; Wenn unsere Flöten und Geigen erklingen. 8. Allgemeiner Tanz: Abwechselnd mit Reigen: Schön glänzt des Mondes Lidit; Chorlieder: Wir haben 3 Katzen; Was braucht man auf einem Bauerndorf; So geht es in Sdinützelpützelhansel. 9. Theaterstück: Der Zylinder (Verwechslungsszenen). 10. Allgemeiner Tanz mit Abschlußlied Ade zur guten Nacht.

In der Weihnachtszeit wird ein Krippenspiel aufgeführt und vor Ostern ein Passionsspiel. Im Festsaal finden im übrigen regelmäßig, d. h. wenigstens einmal im Monat Filmvorführungen statt. Außerdem finden Tanznachmittage großen Anklang bei den Patienten, bei denen ein Conferencier seine Bonmots macht. Hier ist darauf zu achten, daß sich an diesen Tagen die psychopathischen Persönlichkeiten nicht zu sehr produzieren. Für

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sie soll die Erlaubnis, zum Tanzen zu gehen, nur gegeben werden, wenn sie in der Zwischenzeit ihren Möglichkeiten entsprechend gehandelt haben. Tanzstunden zu geben lohnt sich besonders für akut Kranke und introvertierte Persönlichkeiten. Einen gemischten Chor sollte es in jeder Anstalt geben, der regelmäßig, wenigstens jede Woche einmal übt: kirchliche Lieder, weltliche Lieder, Scherz-Kanons, Schlager mit harmlos spöttischen Versen aus dem .Anstaltsklatsch' zur Belustigung für alle auf den Festen. Die Gründung eines Fußballklubs für die Männer ist anzuraten. Zum Fußballspielen muß aber auch ein geeigneter Platz zur Verfügung stehen. Fußballschuhe und Jerseys und bunte Hosen müssen gekauft werden, damit die Sache zünftig ist und Parteien gebildet werden können. Der Schiedsrichter muß einen schwarzen Dreß haben und die Regeln kennen und danach pfeifen. Die anderen Kranken kommen als Zuschauer. Für die Frauen ist die Körpergymnastik der Ausgleich für die vielen sitzenden Arbeiten und Beschäftigungen, die ihnen nur geboten werden können. Nirgendwo sitzen die Frauen so viel wie in der Anstalt. Sie werden nicht nur dick von dem kohlehydratreichen Essen, sondern auch von der mangelnden Bewegung. Es gibt keine Tätigkeit außerhalb der Anstalt, in der die Frauen so an den Stuhl gebunden sind, wie das bisher üblich war. Eine Gymnastikerin als hauptamtliche Kraft hat zu jedem Personalstab einer Anstalt und Klinik zu gehören — bei letzteren ist dies schon oft der Fall. Die Gymnastik soll nicht nur der körperlichen, sondern besonders auch der seelischen Auflockerung dienen. Morgens kann Frühsport gemacht werden; am Spätnachmittag können mit den älteren Kranken Bewegungsübungen und Kreisspiele durchgeführt werden. Ist ein Fußballplatz vorhanden, so kann dieser allgemein als Sportplatz für Ballspiele aller Art auch von den Frauen in Anspruch genommen werden. Eine zentralbeheizte Turnhalle und ein offenes Schwimmbad dürften vorläufig kaum allgemein zu erfüllende Wünsche sein. Stellt man weh aber vor, daß die gesundheitspolizeilichen Vorschriften verlangen, daß für jeden Kranken eine qm-Fläche von etwa 8 qm vorhanden sein muß, d. h. daß das der Raum ist, in dem sich derjenige bei T a g e und Nacht bewegen darf, so ist das sehr wenig. Überlegungen, die Überfüllung der psychiatrischen Anstalten betreffend, sollten dahin gehen, mehr Nebengebäude zu schaffen, so daß die sogenannten Tagesräume sich bald erübrigen können. Dafür können die Kranken in neuzeitlichen Arbeitsräumen, Werkstätten für die Beschäftigung, Sport- und Spielplätzen sowie großen Sälen und Klubräumen für die Freizeitgestaltung den T a g und den Feierabend verbringen! Spiele auf kleinem Raum, wie Fang-Tennis, Ring-Tennis, Ping-Pong u. ä. bedürfen keines besonders großen Raumes und sind nicht teuer. Sie können als Weihnachtsgeschenke jedes J a h r ergänzt werden und Freude bereiten. Für die Männer ist Boccia ein geruhsames Spiel, das besonders in den Gärten der Stationen mit älteren Patienten angelegt werden sollte. Die Bekämpfung der aufkeimenden Unruhe an den Abenden, und besonders an den Festund Feiertagen ist eine besonders schwierige Aufgabe für das Pflegepersonal. Spaziergänge in die Umgebung, der Besuch von Museen und Zoologischen Gärten in großen Städten mit entsprechenden Möglichkeiten, tragen zur Zerstreuung und Anregung bei. Brettspiele, wie Dame, Mühle und neuerdings bei den Männern Schach und teilweise Go, auch Gartenspiele, sind immer wieder neu, und die meisten Menschen sind in dieser Beziehung genügsam.

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Förderlich ist es, wenn Gruppengespräche vom Abteilungsarzt auf Sonntage gelegt werden, besonders, wenn die Witterung schlecht ist und damit der Tag für die Kranken in den relativ engen Räumen so lang wird. Das Vorlesen von Märchen, Legenden oder Sagen mit anschließenden Besprechungen oder Wiedererzählungen, je nach dem Niveau der Kranken, macht den Patienten viel Spaß. Ist eine Abteilung unruhig oder ist die Stimmung dort gereizt, schaffen manchmal Hausfrauen-Nachmittage eine Änderung 'der Atmosphäre. Die Frauen besorgen sich Puddingpulver, kochen sich Kompott, machen Krapfen in Fett gebacken oder Pfannekuchen, während die übrigen die Räume für dieses ,Fest' schmücken. — Und wann fände sich nicht ein Anlaß, wenn so viele Menschen zusammen sind, ein besonderes Fest zu begründen und in Gang zu bringen! Ein Reigen oder Stegreif-Theaterstück bringt alle in gute Laune. Am besten ist es auch hierbei, wenn der betreffende Abteilungsarzt dabei ist, zumindest muß er den Anstoß zu den Dingen geben und dabeibleiben, bis das Fest in Gang ist. Zu den kleinsten Spielen aus dem Stegreif kann er gut die Einsätze geben, werden doch hierbei meist die Plus- und speziell die charakterlichen Minusvarianten der Mitpatienten glossiert, kommen dabei zur Sprache und verlieren dadurch ihre Gefährlichkeit für das Zusammenleben auf der Station. Sie wirken erzieherisch, ganz abgesehen von den unbewußten Elementen, die dabei zum Vorschein kommen können. Zur Unterhaltung am Feierabend haben sich Zeitschriften für die Patienten vielerorts bewährt. Die Redaktion liegt in den Händen der Kranken, bei Federführung des Pastors oder eines Arztes; Anregungen und Briefe an den Herausgeber können von jedem — auch vom Personal — abgedruckt werden. In die Hospitalzeitung können Kurzgeschichten, Anekdoten, Rätsel, Liedertexte und ähnliches aufgenommen werden. Zudem ist dort das vorgesehene Wochen- oder Monatsprogramm der besonderen Veranstaltungen anzuzeigen, je nach Erscheinensweise. Überblicken wir die Vielgestaltigkeit dessen, was wir unter einer intensiven und aktiven Beschäftigungstherapie verstehen, so erscheint es uns nur natürlich, daß z. B. in England der .Beschäftigungstherapeut' (Occupational Therapist) in den Heilanstalten als besonderer staatlich anerkannter Berufszweig vertreten ist. Wir brauchen nicht unbedingt jede Tätigkeit durch einen Spezialberuf ausführen zu lassen. Unsere Form der Arbeitsund Beschäftigungstherapie ist insgesamt von einer großen Dichte, da sie nicht nach dem Stundenplan vor sich geht, wie das bei einem Spezialisten der Fall ist, der nur kurzfristig für die einzelnen Abteilungen zur Verfügung steht und bei dem sich die Pfleger und Schwestern dann nur auf ihn für diesen Betätigungszweig verlassen und selbst keine Initiative mehr entwickeln. Die gesamte Arbeits- und Beschäftigungstherapie sollte in jeder Anstalt und Klinik einem Arzt, der hierfür besonderes Interesse und organisatorische Fähigkeiten hat, unterstellt werden mit der Unterstützung der administrativen Autorität des Leiters der Anstalt. Solange keine besonders geschulten Kräfte, wie z. B. Gewerbelehrer, in den Haushaltsplan aufgenommen werden können, wie es eigentlich notwendig und immer wieder zu fordern ist, sollte man wenigstens Personen mit einer speziellen Vorbildung in den Pflegeberuf aufnehmen und sie entsprechend ihrer Ausbildung bezahlen. Eine individuelle Behandlung erfordert Persönlichkeiten, die in der Lage sind, den verschiedenen Krank-

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heitsbildern unserer Patienten ihrer Charakterstruktur gemäß individualisierend entgegenzukommen und entsprechend intensiv zu beeinflussen. Das gilt besonders für eine aktive Arbeits- und Beschäftigungsbehandlung.

Milieu -Therapie Viele Beschäftigungsmöglichkeiten, die in einer Anstalt oder Klinik durchgeführt werden können, scheitern an den geeigneten Räumlichkeiten. Die vorhandenen sind oft zu klein oder architektonisch unzweckmäßig, sie bieten nicht das richtige Milieu. Es liegt daran, daß die Bauten vor 50 und mehr Jahren errichtet wurden, als an eine derartige Ausweitung der Therapie noch nicht gedacht werden konnte. So finden wir fast überall Festsäle, die für die vorhandene Zahl von Kranken zu klein sind. Die Vorschläge für Umbauten, die fast immer als notwendig anerkannt werden, bleiben Vorschläge, weil ein Festsaal am Rande der verwaltungstedmischen und baulichen Erwägungen liegt. Sind die Säle jedoch zu klein, so können den Veranstaltungen nur ein Drittel oder die Hälfte der Patienten beiwohnen. Selbst wenn die Vorführungen wiederholt werden, z. B. Tanzveranstaltungen, wozu noch mehr Platz benötigt wird, können nicht alle Kranken, denen es dienlich wäre, teilnehmen. Es muß nicht so sein, daß der Festsaal allen Patienten Platz bietet, aber allen Kranken muß Gelegenheit geboten werden, an den besonderen Ereignissen, den Filmen oder Theaterstücken, die gezeigt werden, Anteil zu haben. Wenn nur ein Teil als Zuschauer in Frage kommt, so fühlen sich diejenigen, die auf der Station bleiben müssen — mit Recht — benachteiligt. Diejenigen Kranken, die nicht zu einem Fest gehen können weil der Platz nicht ausreicht, sind mit einer Flasche Bier oder einem Stüde Kuchen mit Kaffee nicht genügend entschädigt. Die Auswahl der Patienten, die zu den Sonderveranstaltungen mitgehen können, muß vom Arzt getroffen werden, da sich sonst zu schnell Ungerechtigkeiten bei der Einteilung durch das Personal einstellen. Für die psychopathischen Persönlichkeiten ergibt sich hierbei eine der wenigen Möglichkeiten, in der Anstalt mit Erfolg erzieherisch zu wirken. Sie sind es aber immer wieder, die sich bei den Veranstaltungen in den Vordergrund stellen und den Verlauf bestimmend beeinflussen wollen. Am besten wäre es, wenn ein großer Festsaal vorhanden ist, der praktisch alle Patienten aufnehmen kann für Gemeinschaftsveranstaltungen und gemeinsame Feiern und wenn außerdem mehrere kleine Räumlichkeiten, etwa als besondere Bungalows mit Klubcharakter da sind. Bei Um- oder Anbauten der Festsäle lassen sich solche Pläne leicht im gleichen Gebäude arrangieren. Die Gemeinschaftsräume dürfen keine Wartehallen sein, die Langeweile und Desinteresse von den Wänden ausstrahlen. Sie müssen innenarchitektonisch ein Gesicht haben, wozu sich meist landschaftlich gebundene Motive eignen, die jedoch so gehalten sein müssen, daß sie nicht allem Geschehen den Stempel aufdrücken. Die Kulissen, die zu den Theaterstücken angefertigt werden, müssen nicht als Fremdkörper wirken, ebenso die bunte Ausgestaltung zu den Kostümfesten muß sich harmonisch einfügen. Außerdem scheint es ein

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Privileg der Anstaltsfestsäle zu sein, eine wenig gute Akustik zu haben. Gerade die Beachtung dieser Gesichtspunkte ist wichtig, weil in den großen Sälen das richtige Fluidum eines Festes von Anfang an da sein muß. Es ist ein Unterschied, der von den Kranken sehr wohl empfunden wird, ob sie sich in einem großen Saal im Gedränge tanzend hin- und herschubsen, schwitzen, in schlechter Luft" sind, lautem Getöse in der Nähe des Orchesters ausgesetzt sind und am anderen Ende des Saales ohne Musik bleiben, womöglich wenn die .Pfleger-Wächter* offensichtlich an den Türen patroullieren — oder ob die gleiche Veranstaltung im harmonischen Milieu eines Klubraumes stattfindet, indem eine persönliche Begegnung möglich ist und das Personal ohne Tracht bei allem selbst mitmacht. Das Gefühl des Bewachtseins, das den Patienten in einer Anstalt unter den bisherigen Verhältnissen eigentlich nie verläßt und nicht nur zu Beginn seines Anstaltsaufenthaltes besonders beeindruckt und bei den festlichen Gelegenheiten, bei denen er sich möglichst ,frei' fühlen möchte und doch auch soll, dieses Empfinden verläßt die Kranken nie. J e mehr offenene Abteilungen, je weniger Wachabteilungen in der Anstalt oder Klinik vorhanden sind, um so gehobener wird das Milieu sein, denn die geschlossen gehaltenen Türen lockern es nicht auf, sondern mauern es ein, sie senken es. Die Einrichtung von offenen Stationen und Verminderung von Wachabteilungen ist nicht nur eine organisatorische Angelegenheit, sondern eine schwerwiegende ärztliche Aufgabe, die nur bei Zusammenwirken des gesamten Kollegiums gelöst werden kann. Es ist möglich, in einer Klinik mit je einer Wachabteilung für Männer und Frauen auszukommen. In Anstalten kommt man mit einer Wachabteilung für ruhige und unruhige sowie für chronisch Kranke auf jeder Seite aus. Sie machen etwa ein Fünftel der Patienten aus; ein weiteres Fünftel kann in geschlossenen Nichtwachen untergebracht sein und der Rest, jedoch mindestens die Hälfte der Patienten, kann in offenen Stationen sein, die nur zur Nacht geschlossen werden, wenn der nächtliche Bereitschaftsdienst abends seinen Dienst antritt. Die Lazarett- oder Siechenabteilungen können ebenfalls offen sein. Hier ist die Nachtwache notwendig wie in jedem anderen Krankenhaus auch. Die alten und siechen Kranken liegen meist zu Bett oder sind körperlich hinfällig; wo sollten sie hinlaufen und dennoch sind die Türen der Abteilungen — man möchte fast sagen gewohnheitsmäßig — geschlossen. Sind die Türen geöffnet, so ist der Reiz fortzulaufen zum großen Teil weggefallen. Es geht jedem Menschen so. Er fühlt sich nur frei, wenn er das Gefühl haben kann, dies oder jenes tun zu können ohne es unbedingt und in jedem Falle auszunutzen. Wieviel zerschlagene Fensterscheiben und Türfüllungen kommen bei unseren Kranken auf das Konto dieses ihnen in dem Moment des Zuschlages gar nicht bewußten Gefühls — aber es befreit sie. Mit dem Einschlagen oder der Androhung es zu tun, beginnt aber immer die unglückselige Kette der Verhütungs- oder ,Behandlungs'maßnahmen, die Raufereien mit dem Pflegepersonal, das Einsperren in einer Zelle, das zwangsweise Ausziehen, die Vornahme einer Injektion zur .Beruhigung' und womöglich ein neuer Dreierblock elektrischer Krämpfe am anderen T a g e mit der Verordnung neuer Einschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten für den Patienten, der sich nicht ,geordnet' verhielt. Bei der Einrichtung von Wachabteilungen zu Nichtwachen und von geschlossenen zu offenen Stationen sind große Schwierigkeiten zu überwinden. Der Übergang von der verschlossenen zur geöffneten T ü r ist zweckmäßig über die ,praktisch offene' Abteilung

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zu wählen, bei der nur eine Tür mit einem Schnappschloß Verwendung findet, die mit einem Vier- oder Dreikantdrücker geöffnet werden kann. Hierbei fällt für die Kranken das subjektive Gefühl des Abgeschlossenseins weg. Vom Pflegepersonal sind viele Widerstände zu erwarten; denn der Wachdienst, zumal eine Nachtwache, ist meist bequem. Bei Tage sind immer mehrere Pflegepersonen vorhanden und nachts ist es auch auf den unruhigen Wachen nur in Ausnahmefällen tatsächlich unruhig. Ist die Diensteinteilung nachts in zwei Schichten eingeteilt, mit einer Hälfte Wache und der anderen Bereitschaft, so ist es noch günstiger. Die Oberinnen und Oberpfleger sind dagegen, weil eine Neueinteilung des Dienstplanes, wobei Umschichtungen vorgenommen werden müssen, tatsächlich eine nicht unerhebliche Arbeit macht. Im übrigen ist es doch immer so gewesen und seit dreißig Jahren so gut gelaufen! Schließlich schaltet sich der Betriebsrat ein und am Ende wird bewiesen, daß nur unter größten Opfern vermieden worden ist, nicht noch eine neue Wache einzurichten. Es nützt nichts, zu sagen, was haben diese Fragen mit der Psychiatrie zu tun. Sie sind von größter praktischer Bedeutung und Auswirkung für das gesamte Anstaltsmilieu. Die Schließung von Wachabteilungen und Eröffnung von Nichtwachen machen Ärger und Verdruß, sie erfordern Energie und Durchstehvermögen. Man muß die Dinge erkennen und offen aussprechen und wird feststellen, wieviel täglich versäumt wird, was möglich wäre, in die Tat umzusetzen; es handelt sich um eine ärztliche Aufgabe und Verpflichtung. Geht man den Dingen nach, so sind alle Fragen personeller und organisatorischer Art meist bald erledigt. Das Personal, das auf den Wachen eingespart wird, besonders vom Nachtdienst, kommt dem Tagesdienst, also einer intensiven Beschäftigungs- und Arbeitstherapie mit den Kranken zugute. Für jede eingesparte Wache werden mindestens zwei volle Pflegekräfte für eine positive Arbeit frei. Sie haben dann nicht mehr nur eine bewachende, bewahrende Aufgabe, sondern sie können eine produktive, aufbauende Funktion in der Behandlung der Kranken übernehmen. Der .Charakter der Station' wird immer nur von einer geringen Anzahl von Patienten bestimmt. Bei einer Größenordnung der Abteilungen mit 50 Betten sind es meist nur 10 bis 12 Kranke, die für deren Eigenart bestimmend sind. Gibt man dem Stationspersonal die Aufgabe, festzustellen, wieviele der Kranken als unbedingt,fluchtverdächtig' anzusehen sind, so ist man über die relativ geringen Zahlen meistens überrascht, selbst, wenn man die Abteilungen seit langem gut zu kennen glaubt. Um keine Unruhe unter den Kranken entstehen zu lassen über Verlegungen großen Stiles innerhalb der Anstalt, die nur zu Gerüchten Anlaß geben und ungünstige Reaktionen bei den Kranken auslösen, wird die Überweisung von einer Station zur anderen schrittweise vorgenommen. Hierbei wird die eine Abteilung die zunächst schwierigere' werden und die andere die .leichtere', Im Abstand von drei bis vier Wochen jeweils ist die Verbesserung des Niveaus der ersten Nichtwachen durch Öffnung der Türen bei Tage möglich. Das Zahlenverhältnis ist ähnlich, d. h. etwa ein Dutzend Kranker sind wachbedürftig, wenn zwei Dauerwachen für chronische und noch anstaltsasoziale Kranke bestehen. Ebenso liegen die Verhältnisse meist, wenn für alte und sieche Kranke zwei Lazarettabteilungen unterhalten werden. Überprüft man, wieviele der Patienten nachts abgeführt

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werden, so ergibt sich hier ebenfalls die Möglichkeit, die bisher für notwendig gehaltenen zwei Wadiabtedlungen zu einer zusammenzulegen, ohne damit jemanden zu benachteiligen. Ein weiteres Moment, das auf das Anstaltsmilieu erheblichen Einfluß hat, ist die Tatsache, daß die Patienten allgemein zu früh ins Bett gehen müssen. Dies liegt an der Diensteinteilung des Pflegepersonals. In der Regel wird morgens um 7 Uhr angefangen und abends um 19 Uhr kommt die Nachtwache bzw. Nachtbereitschaft. Diese hat wohl in der Frühe die Aufgabe, die Kranken zu wecken, findet sie aber am Abend schon alle im Bett vor. Auf den Abteilungen mit etwas älteren Patienten wird manchmal schon bald nach dem Kaffeetrinken damit begonnen, die Kranken wieder hinzulegen. Auf den übrigen Abteilungen machen sich die Patienten gleich nach dem Abendessen zum zu Bett gehen fertig, d. h. zwischen 18 und 19 Uhr. Das ist eine Zeit, zu der selbst im Winter in ländlichen Gegenden kein Mensch daran denkt, sich schlafen zu legen. Um diese Zeit kann kaum jemand richtig müde sein. Hierin ist vielfach ein Grund für Unruhe auf den Stationen zu suchen. Es handelt sich also nicht um eine solche, für die der Patient verantwortlich gemacht werden kann, sondern um eine Unruhe, die sich aus den Umständen ergibt. Es ist auch nicht nur die unruhige Atmosphäre zu Beginn der Schlafenszeit damit erklärt, sondern manche Balgereien zwischen den Kranken bei Tage, mandi Übermut und Streit ist auf diese lange Zeit der Nachtruhe von fast zwölf Stunden zurückzuführen; denn wer kann über längere Zeit täglich solange schlafen. Hierüber ist schon oft gesprochen worden auf Tagungen und Konferenzen, aber es ist noch nicht zu einer unabdingbaren Forderung gemacht worden, hier für eine Änderung zu sorgen, diesen unphysiologischen Zustand zu ändern, der keinem .Normalen' auf die Dauer zugemutet werden könnte. Es ist eine Organisations- und Personalfrage. Wird sie gelöst, so erbringt sie erhöhte Anforderungen für die Beschäftigungstherapie, um den Feierabend für die Kränken zu gestalten, wenigstens so, daß generell um 21 Uhr das Licht ausgemacht werden kann, nicht nur auf den offenen, sondern gerade in den geschlossenen Abteilungen und auch auf den Wachstationen. Um innerhalb der Schlafräume die Kranken ihren Ansprüchen entsprechend differenzieren zu können, müssen die großen Säle nach Möglichkeit unterteilt werden. Es gibt Schlafsäle, die über 70 Betten aufweisen. Durch die Bauweise mit Schwemmstein und die Möglichkeit mit Kunstholz oder Preßstoffwänden zu arbeiten, ergeben sich hier genügend erschwingliche Aussichten. Nur notdürftige vom Schlafraum abgeteilte oder darin sogar eingelassene Toiletten mit vielleicht nur halbhohen Klapptüren und halben Wänden sollten der Vergangenweit angehören. Auf den dazugehörigen Waschräumen ist für genügend spanische Wände zu sorgen; auch hier ist eine Unterteilung des Raumes vonnöten, um die individuellen Belange zu wahren. Aber auch modern eingerichtete Wasserklosetts haben keinen Sinn, wenn die Benutzung nur zu bestimmten Stunden am Tage gestattet ist, wenn sie nur nach den Mahlzeiten geöffnet sind und während der übrigen Zeit abgeschlossen werden! In den Tagesräumen wird das Milieu ebenfalls besser, wenn sie unterteilt werden. Hierfür sind Glas- oder Schiebetüren, der Ausbau von Wintergärten oder Veranden geeignet. Das Mobiliar aus dem Plüschzeitalter gibt der Tisdilerei und Polsterei Gelegenheit, sich arbeitstherapeutisch zu betätigen. In der Korbflechterei können geschmackvolle Sessel gemacht werden. Kissenbezüge hierfür werden von den Kranken mit viel Freude gestickt.

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Man möchte meinen, daß der Bedarf bei soviel tätigen Händen und doch immerhin überschaubaren Möglichkeiten der Verwendung des hergestellten Materials in absehbarer Zeit befriedigt werden müßte. Das ist nicht der Fall. Der Konsum der Stationen ist nie befriedigt, insbesondere hinkt das äußere Bild der Männerabteilungen immer hinterher. Damit das Niveau der Stationen für Männer gehoben wird, ist es gut, wenn hier Schwestern tätig sind. Das trägt nicht nur dazu bei, daß mehr auf Sauberkeit geachtet wird, sondern wirkt sich in vielen, zum Teil gar nicht beschreibbaren Kleinigkeiten aus. Die Blumen der Abteilung, die sonst immer grau und staubig aussehen, sind wieder frisch grün und die Blumentöpfe werden nicht mehr nur als Aschenbecher betrachtet. Die Gardinen hängen nicht nur um die Fenster herum und sind da, sondern sie kleiden das Zimmer aus. Auf den unruhigen Abteilungen trägt die Anwesenheit einer Frau nur zur Beruhigung bei. Der Umgangston, der sonst oft gern zum Landserjargon abgleitet, ist besser. Und auf den Siedienabteilungen ist die Pflege durch eine weibliche, wärmere H a n d immer zu fühlen. In Frauenstationen ist die Einrichtung einer Handarbeitsecke mit einer Nähmaschine zweckmäßig und trägt zur richtigen Heimatmosphäre bei. Den Männern kann man in einer Veranda eine Rauch- und Leseecke einrichten. Für Ventilatoren und gute Lüftung muß gesorgt werden, ist doch der spezifische Geruch nach T a b a k mäßiger Qualität für diese Abteilungen schon typisch geworden. Wenn es sich baulich machen läßt, kann man einen Kamin oder offenes Herdfeuer, zumindest in den Abteilungen, wo die vorwiegend in der Landwirtschaft beschäftigten Kranken untergebracht sind, einrichten. Um ein offenes Feuer bildet sich ohne besonderes pflegerisches Zutun ein Kreis, eine Gruppe. Es ergeben sich Gespräche und Diskussionen und jeder ist — wenn das nicht dazu kommt — genügend damit beschäftigt, in die Flammen zu schauen. In englischen Anstalten sind auf diese Weise im Winter fast alle Patienten beschäftigt, eine Gruppentherapie, die sich aus den völkischen Gewohnheiten ergibt. Hier können Zeitschriften, Illustrierte und auch Tageszeitungen gelesen und gemeinsam Rätsel gelöst werden. Ein Rundfunkapparat gehört heute auf jede Station und bald wird es ein Fernsehapparat sein, wie es in den angloamerikanischen Ländern schon jetzt der Fall ist. Vom Abteilungsarzt sind an Hand des Radioprogrammes die Hörzeiten festzulegen. Sonst läuft das Rundfunkgerät den ganzen T a g und wirkt als ständige Geräuschkulisse in alles gleichmachender Folge. Hier ist eine gewisse Kontrolle erforderlich, wenn auch besondere Wünsche, wie zum Beispiel die Übertragung des Schulfunks oder eines Fußballspieles Berücksichtigung finden müssen. In Abteilungen für ältere Kranke oder sogar im Krankensaal der Siechenabteilung ist nicht immer ein Radio notwendig. Diese Patienten haben vielmehr Freude an einem Kanarienvogel, der fleißig singt. Auch auf den anderen Stationen sind Vogelbauer mit Singvögeln und Aquarien mit Goldfischen oder gar Warmwasserfischen mit Heiz- und Belüftungsanlagen gute Unterhalter. Die Wartung und Fütterung beteiligt einen großen Kreis von Patienten und das Schicksal und die Launen der kleinen Sänger sowie die Verhaltensweisen der Fische sind von allgemeinem Interesse. Noch nirgends ist ein Aquarium oder ein Vogelkäfig von einem Kranken beschädigt worden. 5 Praktische Psychiatrie

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Zubehörteile, Vogelfutter usw. kann von den Kranken in der Kantine gekauft werden. Diese ist täglich stundenweise für die einzelnen Abteilungen offen. Die Einführung eines eigenen Anstaltsgeldes, in dem die Verdienste, die für fleißiges Arbeiten jede Woche ausgezahlt werden, ist umstritten. Bei der Höhe, der von Seiten der Rentenanstalten gewährten Taschengelder, die die Kranken automatisch bekommen, sind die Beträge, die von der Anstalt als Anerkennungsgebühr ausgeworfen werden, im L a u f e der Zeit mehr oder weniger unterinteressant geworden. Trotzdem steckt in dem Faktum, daß es auch etwas für geleistete Arbeit bzw. für gezeigte Anstrengungen gibt, ein Anreiz, der p ä d agogisch zugunsten des einzelnen Kranken ausgewertet werden kann. Sparen sich die Frauen einige Wochen,Verdienste', so reicht es schon für eine Wasserwelle oder eine Kaltwelle. Die Männer legen ihr Geld zusammen, aber sie rechnen meist nur in Päckchen T a b a k . Für die weiblichen Kranken ist die Einrichtung einer modernen Frisierstube wichtig, in der auch Dauerwellen gemacht werden können. Es ist nicht einzusehen, warum die Frauen mit Metallklammern im H a a r oder Papierschnitzeln tagelang herumlaufen, um zum Sonntag schön zu sein und in der übrigen Zeit mit eintönigen Haarsträhnen oder einförmigen Haarknoten herumsitzen und Bilder aus der Anstalt abgeben, wie sie vor fünfzig Jahren in die Lehrbücher Eingang fanden. Bei den männlichen Patienten darf es einen .Kahlschnitt' nicht mehr geben, damit sieht ein Debiler imbezill aus und ein anderer einige Grade mehr defekt als er es in Wirklichkeit ist. Es ist auch für jeden Schwachsinnigen kein erhebendes Gefühl, sich nur von solchen K ö p f e n umgeben zu wissen und seine Reaktion: „Ich bin ja hier unter lauter Idioten, verlegen Sie mich doch bitte auf eine andere Abteilung!" ist nur zu berechtigt. Die Uniforrnität des Harschnittes bzw. der Haarpflege besteht hinsichtlich der Kleidung zum Teil auch noch. Nicht nur in den Revieren der Gefängnisse gibt es noch die gestreiften Krankenanzüge der ehemaligen Wehrmacht. J a , es finden sich auch noch Pfleger, die in einer Uniform geschniegelt und gebügelt mit blanken K n ö p f e n und Schirmmütze gerade in der Stirn ihren Außendienst machen, die auf diese Weise bei der Beaufsichtigung der Säuberung der Parkwege der Anstalt einen respektablen Eindruck erwecken. Entscheidend beeinflußt wird das Milieu der Klinik und der Anstalt schließlich durch das Vorhandensein von ,Isolierzellen'. Es ist durchaus möglich, auf den ganzen Männerabteilungen mit einem Einzelzimmer auszukommen, während man für die Frauenstationen zwei solcher Gelegenheiten vorsehen kann. Hierfür gilt nadi wie vor die Regel, daß kein Kranker ohne die ausdrückliche Genehmigung des betreffenden Abteilungsarztes oder nach Verständigung des diensthabenden Arztes isoliert werden darf. Weiterhin sind Isolierungen von längerer Dauer als einer halben Stunde ebenfalls verboten. Ausnahmen bilden hiervon nur gelegentlich vorkommende schwere Dämmerzustände von Epileptikern. Die Notwendigkeit, Isolierungen vorzunehmen, ist durch die Megaphenbehandlung bedeutend zurückgegangen. Ein Einzelzimmer braucht gar nicht immer leer und öde auszusehen. Allerdings haben feste und schwere Einrichtungsgegenstände, mögen sie auch festgeschraubt oder angenietet sein, keinen Zweck. Alles, was Widerstand bietet, reizt und fordert heraus. Der Versuch, eine solche Zelle zu einem Zimmer zu gestalten, sollte immer wieder gemacht werden. Werden zum Beispiel große, aber leichte Korbmöbel hineingestellt, so wirkt dies auf viele K r a n k e überraschend im Sinne einer Beruhigung. Andere Versuche sind mit einem federnden Punchingball gemacht worden, ähnlich wie ihn die Boxer zu ihrem

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Training benutzen, mit dem Gedanken, daß der Kranke seinen ,Bewegungssturm' an diesem pendelnden und federnden aber dennoch Widerstand bietenden, festen Ball auslassen möge. Hier ist ein Sektor in unserer bisherigen Therapie, in dem wir noch immer ziemlich hilflos dastehen, wo unsere Überlegungen intensiv ansetzen müssen; denn es gibt leider nach wie vor nicht nur Isolierungen in allgemeinen Krankenhäusern vor der Verlegung der Kranken in eine Nervenklinik, sondern Anstalten und Kliniken, die Dauerisolierungen vornehmen und die weit mehr Gelegenheiten zur Isolierung von seelisch Kranken vorgesehen haben, als es nötig ist. Es ist bedauerlich und ein Kunstfehler, wenn Kranke in Isolierzellen über längere Zeit liegen, sich in ihren kranken Gedankengängen einspinnen können, dabei allerdings interessante psychopathologische Inhalte bieten, während die Räume für Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten anderweitig benutzt werden oder leer stehen, da man mit dieser Behandlung vor dreißig und zwanzig Jahren ja auch nicht weiter gekommen sei, dagegen über die heutigen modernen somatischen Therapieformen verfüge. So geht es nicht! Der Schrecken in der Bevölkerung und somit bei unseren Patienten von der ,Gummizelle' ist zwar kaum berechtigt, aber wir dürfen als verantwortliche Psychiater diesen Vorstellungen in keinem Falle durch unnötige Anordnungen, also in allen Fällen, in denen sich ein anderer Weg zeigt, neue Nahrung geben. Vor jeder, wenn auch nur kurzfristigen Verordnung einer Isolierung eines Patienten muß man sich fragen, welche anderen therapeutischen Möglichkeiten in Frage kommen. Nur dann können wir unseren Kranken gerecht werden, denn jedes nicht ganz notwendige wehrlose Geworfenwerden in eine Isolierung muß den intakten Kern einer kranken Persönlichkeit aufs tiefste verletzen, ist für sie ein erneutes psychisches Trauma.

Hospitalisation — Anstaltsdemenz Ist die Isolierung eines akut Kranken über längere Stunden für den Patienten als nicht günstig anzusehen, so bedeutet die Tatsache der langdauernden Internierung in einer Anstalt ebenfalls eine Gefahr. Wenn der Kranke von der klinisch arbeitenden AufnahmeAbteilung auf eine geschlossene oder offene ,Rand'-Abteilung verlegt wind, so lebt er auch meistens am Rande, an der Peripherie der therapeutischen Aktivität. Man möchte fast sagen, er gilt nicht mehr so viel, da sich das Interesse der Ärzte mehr den frisch aufgenommenen Kranken zuwendet. Nicht umsonst ist der Ausdruck ,Rand'-Abteilung entstanden und gebräuchlich geworden. In dem immer gleichbleibenden Ablauf der Geschehnisse, der Regelmäßigkeit des Tagesablaufes liegen viele gute Seiten begründet. Für denjenigen, der Monate und Jahre diesem Rhythmus unterworfen wird, tritt eine Monotonie ein, die seiner Regsamkeit und seinem Eigenantrieb nur im Wege sein kann, die seine Selbstheilungsversuche im Keime ersticken müssen. Bedenke man doch nur, wie die Initiative des einzelnen — geistig-seelisch Gesunden — im heutigen Leben zum Gleichmut, zum Desinteresse, zur Interesselosigkeit und Inaktivdtät abgeschliffen wird, wenn er genötigt ist, mit den behäbig mahlenden Mühlsteinen der Bürokratie zu arbeiten. Wie soll ein Mensch, der nach einigen Wochen intensiver somatischer Behandlung nach Abschluß der Kur auf eine Abteilung ,am Rande' verlegt wird, wenn er sein seelisches Gleichgewicht noch nicht erreicht hat, wenn er vielleicht bereits einen gewissen Persönlichkeitsdefekt durch die Krankheit hat, seine 5»

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Selbstunsicherheit überwinden? Bei einer Zahl von 150 bis 200 Kranken auf einen Arzt hat der Patient ja nur wenig die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen; denn der Arzt kann sich ja gar nicht intensiv um jeden einzelnen Kranken bemühen. Er muß zufrieden sein, wenn seine Anliegen wenigstens nach ärztlichen Gesichtspunkten .verwaltet' werden und seine körperlichen Beschwerden Berücksichtigung finden. Nach etlichen Anläufen, die bald nach der Übernahme des Patienten auf die Abteilung für leichtere oder schwerere chronisch Kranke von seiner Seite erfolgen, manchmal aber auch wohlüberlegt im Abstand von Monaten wiederholt vorgebracht werden, wird der Kranke dessen müde und abgestumpft und ergibt sich in sein Schicksal. Es gibt wenig Fälle, die sich noch nach jahrelanger derartiger ,Behandlung* freimachen und zur Entlassung kommen. Es wird immer wieder bestritten, daß diese Hospitalisationsfaktoren eine erhebliche Rolle spielen, weil doch ,alles getan' wird. Dennoch ist die A n s t a l t s - D e m e n z das häufigste Erscheinungsbild, das sich aus dem psychomotorischen Allgemeinverhalten der Kranken mit allen Diagnosen auf den Nichtwach-Abteilungen feststellen läßt. Aber auch auf den Wach- und Aufnahmeabteilungen finden sich diese Erscheinungsformen, nur haben sie hier ein etwas anderes Gesicht, da es sich meist um psychopathische Persönlichkeiten handelt. Häufig sind es selbstunsichere, psychasthenische Menschen, die in ihrem Beruf ganz tüchtig waren, jedoch im Leben nicht fertig geworden sind, die anläßlich eines Selbstmordversuches oder in einem psychischen Ausnahmezustand, der vom einweisenden Arzt als Beginn einer schizophrenen Psychose oder einer Depression angesehen wurde, zur Aufnahme kamen. In der neuen Umgebung können sie sich behaupten. Sie wissen sich beliebt zu machen, weil sie es verstehen, der Schwester nach dem Munde zu reden oder in der Küche der Station freiwillig und fleißig zu helfen. Sie machen Berichte über andere Kranke und passen auf diese auf. Später übernehmen sie kleine Botengänge in die Stadt, sie kaufen für die anderen Patienten ein; Männer holen für die Pfleger Grünfutter für die Kaninchen, besorgen Kleinholz, tragen die Reste des Essens als Schweinefutter weg; kurz, sie werden Vertraute des Personals. Als Folge davon genießen sie gewisse Vorrechte, sie bekommen Diät, sie erhalten eine größere Puddingportion, sie dürfen zuerst in der Zeitung für die Station lesen und abends länger aufbleiben. Schließlich werden sie zu Hilfestellungen im Wachsaal herangezogen, springen hinzu, wenn ein akut Kranker erregt wird. Sind sie dem einen oder anderen vom Pflegepersonal zudem geistig überlegen, so werden sie es verstehen, dies in der Regelung der Abteilungsverhältnisse auszunutzen. Sind diese ,Oberkranken' körperlich kräftig, so verleitet sie ihre Stellung dazu, brachial-,erzieherisch' gegenüber ihren Mitkranken auf Anweisung des Pflegers oder auch aus eigener Initiative zu wirken. Wird diesen ,Stationskalfaktoren' gegenüber einmal von Entlassung gesprochen, was meistens nur passiert, wenn sie einmal zu weit gegangen sind und es offensichtlich ist, daß sie zuviel zu sagen haben, so haben sie während ihres Aufenthaltes in der Anstalt so viel gesehen und sie verfügen im Rahmen ihrer Persönlichkeit über eine so große Breite von Variationsmöglichkeiten, psychisch zu reagieren, daß sie auf Grund ihrer vorhandenen Intelligenz meist das machen, was die größte Wirkung hat. Sie haben dann einen .Anfall', demonstrieren einen Selbstmordversuch, bekommen eine ,Kolik', werden wieder .depressiv'. Sie gehen eine Zeitlang bewußt den unteren Weg, bauen sich dabei aber beständig wieder ihre Position aus, bis sie wieder der ,Kapo' der Abteilung sind.

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Von Baruk ist der Ausdruck „système de caporalisme' für diese Verhältnisse angewandt worden, in dem auf den Stationen ein oder einige Patienten den Ton angeben. Die anderen gehorchen und müssen sich unterdrücken lassen. Es sind die Menschen, von denen gesagt worden ist, daß wir sie in ruhigen Zeiten begutachten, während sie uns in unruhigen Zeiten beherrschen. Das kann für die Großen und Kleinen dieser Gruppe Menschen mit psychopathischen Eigenschaften gesagt werden. Wir kennen solche Zustände aus den Lagern und Lazaretten verschiedenster Art, vom Militär, aus der Gefangenschaft und brauchen sie nur im Niveau ein wenig zu verlagern, um uns die Situation für die Verhältnisse in der Anstalt zu vergegenwärtigen. Wie sehr diese Dinge der Wirklichkeit entsprechen, geht aus folgendem Beispiel hervor: Eine Stations-Psychopathin, die sich seit langen Jahren in der Anstalt .eingenistet' und sich ihr Gewohnheitsrecht ersessen hatte, deren Beziehungen zum Personal so gut waren, daß demgegenüber jede junge Pflegerin Unrecht bekommen mußte, wenn sie anderer Meinung gewesen wäre, kommt von einer Besorgung mit einem Korb an einem Gebäude vorbei, wo vier andere Patientinnen die Treppe putzen. Von weitem ruft sie schon: „Na, seid Ihr bald fertig und ist auch alles richtig sauber!?' Die vier anderen, die sich bereits im Stadium der Rekonvaleszenz befanden, brachten ein etwas unterdrücktes Lachen hervor, stellten sich in einer Reihe ausgerichtet auf, schulterten Schrubber und Besen und antworteten: „Jawohl, Herr General, Sie können gucken, ob es stimmt!" Sie hatten die Rolle der Oberkranken wohl erfaßt, wollten ihr nicht entgegnen, sondern reagierten sich in dieser ironisierenden Weise ab. Auf den Abteilungen, die am Rande liegen, finden sich ebenfalls Oberkranke. Sie brauchen nicht so intelligent zu sein. Deshalb eignen sich hier auch Defektschizophrene oder Epileptiker für die Küchen- und Kammerpositionen. In den Stationen für Rekonvaleszenten sind die Psychopathen, die zum Inventar der Anstalt gehören, meistens in der Rolle, daß sie sich durch die anderen bedienen lassen, da sie in den Betrieben eine führende Rolle spielen. Da sie am Tage verantwortungsvolle Arbeit leisten, haben sie das ,Recht', verwöhnt oder jedenfalls aus dem Kreise der Durchschnittskranken herausgehoben zu werden. Bei den Psychopathen handelt es sich um die aktiveren Persönlichkeiten. Der Grad der Hospitalisation ist immer nur erkenntlich, wenn das Gespräch auf die Entlassung kommt und die dementsprechenden Reaktionen ablaufen, die den zuständigen Arzt in seinen Entscheidungen beinflussen sollen. Schließlich können sie — nach Jahren — damit rechnen, daß die allgemeine Stimmung des Personals und auch des einen oder anderen Arztes für sie ist, wenn die Entlassung einer so .verdienstvollen' Patientin diskutiert wird, die in der Anstalt doch ihre Heimat gefunden hat. Schließlich wird ein Stadium erreicht, in dem auch für diese Menschen eine gewisse Demenz zu verzeichnen ist und es tatsächlich eine Härte wäre, sie für das Leben außerhalb der Anstalt resozialisieren zu wollen, weil die beständigen Einflüsse des Milieus so viele Schäden gesetzt haben, daß sie für den Lebenskampf nicht mehr geeignet erscheinen. Sie haben sich ihre Lebensrolle im Rahmen der Anstalt dann doch noch erkämpft; einerseits weil es den anderen zu lästig war, andererseits weil es bequem war. Hier können nicht alle Spielarten charakterlicher Abnormitäten aufgezeigt werden, die Skala ist bunt und vielgestaltig. Uberall bilden aber diese Gruppen von Patienten in allen Anstalten ein Problem, und die Frage wird nicht dadurch gelöst, daß diesen Men-

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sehen nachgegeben wird. Viel zu wenig wird beachtet, daß die wirksamste Behandlung der psychopathischen Persönlichkeiten in der Nichtbeachtung besteht. Es muß dies allerdings eine Nichtbeachtung sein, die therapeutisch gezielt ist, die konsequent durchgeführt werden muß. Man kann nidit nachgeben. Privilegien, wie kleine gemütliche Einzelzimmer für ,verdiente' Patienten dieser Art, dürfen nicht vorkommen. Die .Nestbildung' muß verhindert werden. Ein richtiger Oberkranker versteht es auf die Dauer, seine Einflüsse gegenüber seinem Arzt geltend zu machen. Durch die Kenntnisse der Anstaltschronik und das Wissen und Erahnen vieler interner Vorgänge wird er die Strömungen und Gegenströmungen geschickt auszunutzen wissen und zuletzt im stillen Triumph seine ,Rechte' bescheinigt bekommen. Gerade für Psychopathen hat die Arbeit, sie wieder in das normale Leben zurückzuführen und Möglichkeiten dafür ausfindig zu machen, am ersten Tage nach der Aufnahme zu beginnen. Sie sind in diesem Sinne Behandlungsfälle. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß sie Verwahrpatienten darstellen, so ist das nicht richtig. Gerade diese Menschen sind einer individuellen Psychagogik zu unterziehen und die Resozialisierung ist schnell zu betreiben; es ist nicht so sehr eine ärztlich-psychiatrische, aber um so mehr eine soziale Therapie und ein dankbares Feld für die psychiatrische Sozialfürsorge. Bei dem Gros der Patienten mit einer Anstalts-Demenz geht der Abbauprozeß langsamer vor sich. Er ist unauffälliger, es gibt kein Geschrei, höchstens ein leises Murren, es finden keine ,Szenen' statt, es bleibt still. Ein Kranker wird in eine Anstalt eingewiesen und kommt auf die Aufnahmeabteilung. Dort wird er behandelt; eine Kur wird mit ihm gemacht. Meist handelt es sich um eine somatische Therapie, auch in Grenzfällen, da für eine längere Psychotherapie bei dem wenigen Personal die Zeit fehlt. Ist der Zustand gebessert oder manchmal auch nur deshalb, weil der Andrang neuer Aufnahmen einige Wochen besonders groß ist, so wird der Kranke auf eine Rand-Abteilung verlegt. Wenn der Patient sich bereits nach kurzer Zeit gegen eine Verlegung von einer Station auf die andere wehrt, so beginnt der Prozeß der Hospitalisation. Der Patient kann nicht wissen, daß seine Behandlung auf der klinischen Abteilung eine relativ bessere ist, da hier mehr Schwestern und Ärzte zur Verfügung stehen, also eine individuellere Betreuung möglich ist. Das ist nicht der Grund seines Wehrens, sondern das Gefühl des Vertrautseins mit der Umgebung läßt ihn protestieren. Kommen Grenzfälle, bei denen differentialdiagnostisch eine Psychose oder eine Neurose in Frage kommt, zur Aufnahme, so kann man ihnen in der Regel nicht gerecht werden, da es bisher kaum entsprechende kleine Spezialabteilungen gibt. Der Bedarf ist vorhanden. Die seelisch Behandlungsbedürftigen kommen bei den gegenwärtig bestehenden Einrichtungen der öffentlichen H a n d zu kurz. Sie tragen mit dazu bei, daß die Durchschnittsaufenthalte der Kranken in den Anstalten unnötig lang bleiben, da man ihnen meist nicht die nötige Therapie angedeihen lassen kann. Es ist bisher nicht die Aufgabe der Kostenträger, die Behandlungskosten der der Psychotherapie bedürftigen Patienten zu übernehmen. N u r kommen diese Kranken mit der Diagnose „Schizophrenie" oder „endogene Depression" oder „Selbst- und Gemeingefährlichkeit" in die Anstalt zur Aufnahme, und die Fürsorge für Geisteskranke ist eine öffentliche Aufgabe. Die gesetzlichen Bestimmungen grundsätzlicher Art hierzu stammen aus einer Zeit, als das Unbewußte noch

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kein wissenschaftlicher Begriff war und die Psychiater sidi mit den Diagnosen „Einfache oder komplizierte Seelenstörung" begnügen mußten. Die Einrichtung von Neurotiker(psychosomatischen) Abteilungen ist notwendig, in denen Grenzfälle untersucht und behandelt werden können. Die Einwurzelung des durchschnittlichen Behandlungsfalles in der Anstalt, unabhängig von der Diagnose, geschieht meist so langsam, daß es erst bemerkt wird, wenn es schon zu spät ist. Hiervon können alle psychiatrischen Krankheitsbilder betroffen sein. Fast unmerklich zieht sich die Krankheit in die Länge. H a t sich der Zustand des Patienten gebessert und wird eine Entlassung oder Beurlaubung erwogen, so treten erneut Beschwerden auf und der Termin, an dem der Kranke nach Hause gehen sollte, wird aufgeschoben. Tritt dann im Ablauf der nächsten Wochen sogar noch eine Verschlimmerung auf, so wird die ungünstige Prognose als gewiß angesehen. Wenn der Kranke sich dann ,ruhig und geordnet' verhält, sich von sich aus nicht meldet, so geht er in der Masse der chronisch Kranken unter. Er wird registriert. Man weiß, daß er da ist. Aber er bleibt stillschweigend in der Anstalt, und von einer Entlassung ist nicht mehr die Rede. Wenn nicht zufällig von irgendeiner Dienststelle eine Anfrage kommt, die den Fall des betreffenden Patienten angeht, oder wenn sich unvermutet doch noch einmal ein Verwandter erkundigt, so passiert praktisch nichts mehr. Es wird viel darüber diskutiert, daß die Möglichkeit besteht, daß einem Bürger, der vielleicht nur kurze Zeit psychisch auffällig gewesen ist, in den Kliniken und Anstalten unnötig lange die Freiheit geraubt wird. Dafür müssen die Psychiater verantwortlich gemacht werden und hierfür besondere Kontrollinstanzen eingerichtet werden. Hierbei handelt es sich aber immer um die akut Erkrankten. Es wird davon noch zu berichten sein. Niemand spricht davon, wievielen Kranken zwar nicht die Freiheit geraubt wird, aber unnötigerweise die Freiheit vorenthalten wird. Es handelt sich bei allen Kranken, bei denen Züge einer Anstals-Demenz nachzuweisen sind, um Menschen, denen die Freiheit unberechtigt lange, zum Teil auf unabsehbare Zeit, zum Teil für immer, stillschweigend entzogen wird. Wenn sie den Wert der Freiheit nicht mehr in dem Maße zu schätzen wissen oder diese sogar fliehen, so ist es die Aufgabe der Psychiater, ihnen diesen wieder bewußt zu machen. Ein geistig-seelisch Gesunder der normalen Durchschnittsbevölkerung bekommt zum Beispiel einen Anfall von Migräne, wenn ihm Schwierigkeiten begegnen. Die Faktoren der Hospitalisation und die Anstalts-Demenz sind Wege der ,Flucht in die Krankheit', .die von dem psychiatrischen Patienten beschritten werden. Wir können auch sagen, daß diese Reaktions- und Verhaltensweisen iatrogen bedingt sind, zum kleineren Teil durch den Mangel an Aktivität und zum größeren Teil dadurch, daß diese Probleme noch nicht als genügend schwerwiegend erkannt sind, um daraus die personalpolitischen Folgerungen zu ziehen. Der Anteil der Kranken, denen die Freiheit vorenthalten wird, weil nicht genügend ärztliches und pflegerisches Personal eingestellt wird, ist in den einzelnen Anstalten verschieden hoch. Umfragen bei Psychiatern aus verschiedenen Anstalten im In- und Ausland haben ergeben, daß im Durchschnitt mit mindestens 20 bis 25 o/o Entlassungen in absehbarer Zeit gerechnet werden könnte, wenn die therapeutischen Möglichkeiten in allen Anwendungen zur Geltung kommen und der Personalschlüssel den Anforderungen gerecht werden würde. Die einzelnen Angaben differierten von 15 bis 50 °/o.

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Diese Zahlen sind vom menschlichen Standpunkt allein schon interessant genug. Vom ärztlichen Gesichtspunkt aus müssen sie als alarmierend bezeichnet werden. Sollen wir auf die Juristen in den Verwaltungen und Ministerien warten, die die Probleme mit Verfügungen regeln? Soll sich wieder die Presse der Dinge annehmen? Oder darf man hoifen, daß von Seiten der Finanzminister diese Fragen aufgerollt werden? Der Krieg brachte die Gelegenheit eines unfreiwilligen Experimentes, das sich in Frankreich ereignet hat: Am 16. Juli 1940 wurde der Direktor der Heilanstalt (le Guillant) Charité-sur-Loire von dem Präfekten des Departements Niévre informiert, daß eine Räumung der Anstalt nicht mehr möglich sei, da die deutschen Truppen innerhalb von 18 Stunden im Orte zu erwarten seien. Die leichter Kranken waren schon vorher entlassen worden. Als die Bedrohung des Hospitals offensichtlich war — in der Nähe war eine Brücke militärisch besetzt — wurden 103 Kranke (38 Männer und 65 Frauen) mit etwas Geld und Proviant zu ihren Angehörigen entlassen. Als die Anstalt von den deutschen Soldaten besetzt wurde, entstand eine Panik, in deren Verlauf 50 Patienten wegliefen. Von diesen Notentlassungen und Entweichungen, dnsgesamt 153 Patienten, waren 89 als unbedingt anstaltsbehandlungsbedürflig angesehen worden. Von den Kranken, die weggelaufen waren, kehrten nur wenige von sich aus zurück. Katamnesische Erhebungen ergaben, daß sich von den 89 Kranken, die auf jeden Fall als der Behandlung oder Verwahrung in einer Anstalt bedürftig bezeichnet worden waren, 33 in der Freiheit bewährt hatten. Sie waren sozial geheilt. Es waren mehr als ein Drittel. Insgesamt waren zwei Drittel aller (97 von 153) durch die ungewöhnlichen Umstände frühzeitig Entlassenen oder Entwichenen wieder in das Leben eingegliedert worden. 22 Patienten waren mehrere Jahre bereits in der Anstalt gewesen, einzelne mehr als 20 Jahre und als ohne Aussicht auf Entlassung betrachtet worden. Die Analyse der Ursachen der Irrtümer in der Beurteilung der Patienten läßt bei le Guillant folgende Schlüsse erkennen: Der Arzt berücksichtigt bei seinen Kranken zu viel die formalen Denkstörungen im psychopathologischen Bild und zieht zu wenig den Charakter der prämorbiden Persönlichkeit in Betracht, die für die soziale Heilung entscheidend wichtig ist. Die chronisch Kranken finden zu wenig Berücksichtigung. Das Arzt-Patient-Verhältnis ist zu stereotyp. Das Personal ist zu pessimistisch eingestellt. In Grenzfällen spricht der Pfleger oder die Schwester meistens gegen eine Entlassung. Eine differenziertere Ausbildung ist hier erforderlich. Die Wichtigkeit der positiven oder negativen Einstellung der Familie zum Kranken ist zwar bekannt, wird aber nicht genügend berücksichtigt. Der psychiatrische Sozialfürsorger hat in jedem Falle genaue Milieustudien zu machen. Früher bestand ein Vorurteil gegen die Unterbringung in einer Anstalt. Heute besteht häufig der Eindruck, daß von vielen Familien der Anstaltsaufenthalt als ein willkommenes Mittel angesehen wird, ein unangenehmes Familienmitglied loszuwerden. Ist ein schwierig zu behandelnder Angehöriger in der Anstalt, so sind die Wohnverhältnisse nicht beengt, oder kann man ein Zimmer vermieten, oder ein Verhältnis anfangen oder fortführen usw. Eine längere Anstaltsunterbringung, so berechtigt sie sein mag, ist in jedem Falle eine schwerwiegende Maßnahme. Die Notwendigkeit, daß die Unterbringung andauert, muß

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immer wieder bezweifelt werden. Eine geringe oder unbestimmte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung berechtigt nicht eine unabsehbare Fortdauer. Die Geschehnisse in Charité-sur-Loire wurden mit Aufmerksamkeit vermerkt. Die nachfolgenden Ergebnisse der Untersuchungen stellten die Häufigkeit der Anstalts-Demenz deutlich dar. Sie ist ein Erscheinungsbild, das nur in einem Kollektiv entstehen kann, und stellt ein aktuelles psychiatrisches Problem dar, zu dem in Zukunft noch vieles zu sagen sein wird. Dies ist aber nur möglich, wenn dabei auch eigene Fehler freimütig eingestanden werden. Die meisten Fehler sind unbeabsichtigt, weil die Fragestellung noch nicht aufgeworfen wurde oder sind Unterlassungssünden, da den Schwierigkeiten nicht mit der genügenden Intensität und Aktivität zu Leibe gerückt worden ist. In der Anstalt Fleury-les-Aubrais bei Orléans ist Daumézon den Fragen der ,Einwurzelung geheilter Kranker in der Anstalt' nachgegangen. Er untersuchte 24 Patienten unter den Gesichtspunkten, die mit denen der Anstalts-Demenz gleichzusetzen sind. N u r 6 Kranke waren verheiratet; die meisten hatten keinen richtigen Beruf, zumindest waren sie mit dem erlernten nicht zufrieden. Mit den Familien bestanden meist Konflikte. Das Intelligenzalter war niedriger als es dem Lebens- oder Entwicklungsalter entsprach. Es waren alle psychiatrischen Diagnosen vertreten. Sich in der Anstalt festzusetzen, neigten besonders Menschen, in deren prämorbider Persönlichkeit sich folgende Charaktereigenschaften fanden: Resignation, Unterwürfigkeit, Demut und Sinn für Ordnung, Sparsamkeit, Sicherheit und Ruhe. Es waren Menschen, die an Minderwertigkeitsgefühlen litten, auch Organminderwertigkeiten, die das Bedürfnis hatten, sich in ein geschlossenes Kollektiv einzugliedern. Acht von ihnen waren ausgesprochen extrovertiert und keiner als hypothym mit depressiven Neigungen anzusprechen. Die Mentalität dieser Krankengruppe ist vergleichbar mit Hans Castrop im ,Zauberberg' im internationalen Sanatorium ,Berghof' in den Schweizer Alpen: Vergleiche können gezogen werden mit den Soldaten der Fremdenlegion oder anderer kolonialer Truppen, besonders im Unteroffiziersrang, die sich in diese Organisation geflüchtet haben, hier ihren Halt finden und keine besonderen Wünsche oder Ehrgeize mehr entwickeln. Wenn diese Menschen ihre Verwurzelung mit dem Kollektiv vollzogen haben, werden sie zu kollektivhörigen Wesen umgeformt, sie werden gelebt, sie haben als Individuen aufgehört zu existieren, sie gehören zur amorphen Masse. Ähnlich geht es den Menschen, die vor den Schwierigkeiten des Lebens bei den religiösen Sekten Anschluß suchen und finden und von diesen in ihrem Kollektiv aufgesogen werden. Es sind dies nur Parallelen, die auf die Kranken in den Anstalten angewandt, nicht in jedem Falle zutreffen, die jedoch in manchem mit den Verhältnissen übereinstimmen. Immer handelt es sich um Patienten, für die es typisch ist, daß sie sich keine Rechenschaft darüber ablegen, daß sie unnötigerweise in der Anstalt verbleiben und die schließlich davon überzeugt sind, dort notgedrungen sein zu müssen. Diese Nest-Tendenzen im Patienten müssen bei ihm frühzeitig erkannt und entsprechend der einzelnen Charaktermerkmale psychagogisch beeinflußt werden. Alle Versuche der Kranken, Wurzel zu schlagen, müssen mit zweckentsprechenden Maßnahmen beantwortet werden, wenn die Entwicklung, aus den Heilanstalten psychiatrische Krankenhäuser zu machen, weitergehen soll und diese nicht wieder Heilanstalten mit angegliederten Pflegeabteilungen oder Altersheimen ,gesunder Kranker' werden sollen.

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Genau so intensiv, wie wir uns um die akut Kranken bemühen, müssen wir uns um die entlassungsfähigen Patienten kümmern. Eine Entlassung eines gebesserten oder geheilten Kranken, der keine Angehörigen mehr hat, dessen Familiensituation schwierig ist oder der aus seinem Beruf herausgerissen ist, vorzubereiten, macht mindestens soviel Arbeit wie eine Neuaufnahme klinisch zu untersuchen und zu behandeln. Es gilt als selbstverständlich, daß die Stationsärzte, die eine Aufnahmeabteilung zu versorgen haben, insgesamt weniger Patienten zu betreuen haben als die Ärzte, die ,nur' Rand-Abteilungen versorgen. Durch die Überlastung der Ärzte mit einer zu großen Zahl von Patienten ist es nicht möglich, deren Einwurzelung in die Anstalt zu verhindern. Hier haben wir einen der Gründe, weshalb heute überall von der Uberfüllung der Anstalten und dem Bettenmangel gesprochen werden muß. Für das Wohlergehen der Kranken ist es völlig unwichtig, wenn in den Krankengeschichten mehr oder weniger regelmäßig psychopathologisch wertlose Eintragungen gemacht werden, daß ,immer noch Wahngedanken geäußert' werden oder ,weiterhin Sinnestäuschungen' bestehen. Zu wissenschaftlich ergiebigen wörtlich fixierten ärztlichen Gesprächen kann es gar nicht kommen, da die schriftlichen Anfragen von Behörden, Gerichten, statistische Erhebungen usw., kurz der .Papierkrieg' für etwa 200 Kranke schon genügend Zeit in Anspruch nimmt. So muß sich die genauere Kenntnis der Kranken auf die beschränken, bei denen gelegentlich ein Gutachten erstattet wird. Entlassungen finden statt, wenn die Angehörigen sich danach erkundigen oder der bisherige Kostenträger zu der Übernahme der Zahlungen nicht mehr bereit ist. Vor gut zwanzig Jahren haben die Krankenkassen und Fürsorgeverbände ihre Vertrauensärzte in die Anstalten geschickt, um die weitere Notwendigkeit des Anstaltsaufenthaltes der Kranken zu überprüfen. Es waren Jahre des wirtschaftlichen Niederganges. Heute hat die öffentliche Hand Milliardenreserven, und diese Probleme liegen am Rande. Bei einer Minderung des Krankenbestandes aller westdeutschen Heilanstalten um 10 °/o brauchten die Krankenkassen und Fürsorgeverbände etwa 20 Millionen DM weniger im Jahre f ü r stationäre Behandlung von seelisch Kranken auszugeben. Es gab 1953 allein in Westdeutschland über 85 000 psychiatrische Betten. Ungeachtet der finanziellen Probleme besteht für uns die ärztliche Aufgabe, die gebesserten und sozial geheilten Patienten dem Leben wieder einzugliedern. Für die ,Rand'-Abteilungen muß ein Arzt eingeteilt werden, der jeweils — genau wie der Arzt der Aufnahme-Station — nur eine Station zu bearbeiten hat. Diesem ,Entlassungs-Arzt' muß eine psychiatrisch geschulte Fürsorgerin zugeteilt sein. Der ,EntlassungsArzt' widmet sich den Patienten dieser einen Station noch einmal so, als seien sie gestern neu aufgenommen worden, d. h. er untersucht körperlich und neurologisch und führt ärztliche Gespräche mit dem Kranken, um einen psychischen Befund festzulegen. Er ordnet Untersuchungen im Labor an, wiederholt die Prüfung der Intelligenzqualitäten und macht psychodiagnostische Tests, wenn kein Psychologe zum Kollegium gehört. Diese neue Untersuchung muß a l l e Patienten der Station betreffen. Dann werden die Untersuchten — genau wie bei der großen Visite, wenn man daran festhält — dem leitenden Arzt oder seinem Vertreter vorgestellt. Es wird ein Therapieplan entworfen, ob z. B. noch einmal eine große Insulin-Kur durchgeführt werden soll, ob der augenblick-

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liehe arbeits- oder beschäftigungstherapeutisdie Betrieb der geeignete für den Kranken ist und wann eine Entlassung oder Beurlaubung in Frage kommen kann und welche Wege beschritten werden müssen, um dies zu erreichen. Der Akzent des Interesses muß ein wenig von der Diagnostik und Therapie der akut Erkrankten auf die Wichtigkeit der Entlassung und die Ausnutzung aller Möglichkeiten, die Patienten zu resozialisieren, verschoben werden. Die Initiative zur Entlassung muß von uns Ärzten ausgehen. Die Uberfüllung der Anstalten ist nicht notwendig, wenn auch die Bevölkerung um durchschnittlich 20 °/o zugenommen hat durch die Flucht der Menschen aus dem Osten Deutschlands in den Jahren nach dem letzten Kriege. Es hat keinen Zweck, wenn wir auf der einen Seite die Dauer des Anstaltsaufenthaltes der Depressiven durch die somatischen Behandlungsweisen auf ein Drittel der früher notwendigen Zeit herabsetzen können, wenn wir auf der anderen Seite selbst unsicheren prämorbiden Persönlichkeiten oder gar asozialen Menschen, die eigentlich in ein Arbeitshaus gehören sowie Alten und Siechen eine geheizte Unterkunft und regelmäßige Kost bieten. Für diese .gesunden Kranken' ist selbst der vorhandene Pfleger- und Ärzteschlüssel zu hoch und die Unterbringungskosten zu teuer. N u r durch intensive Bemühungen, die jedem Kranken individuell angepaßt sein müssen, kann es dem Entlassungs-Arzt zusammen mit der Fürsorgerin gelingen, eine Resozialisierung zu erreichen, die auch von Dauer ist. Ein guter Kontakt mit dem Arbeitsamt, den caritativen und weltlichen Fürsorgevereinen, mit dem Entmündigungs- und Vormundschaftsrichter ist hierzu notwendig. J e nach Größe der Station werden zur Durcharbeitung jeweils 2 bis 3 Monate notwendig sein. Für die Durcharbeitung der Abteilungen mit chronischen Kranken der FrauenStationen wird mindestens 1 bis IV2 Jahre veranschlagt werden müssen. Es ist an eine Anstalt mit etwa 1000 Betten hierbei gedacht. Auf den Männer-Abteilungen liegen die Verhältnisse praktisch gleich, nur sind die Männer in den Anstalten meist in der Minderzahl, so daß von dem betreifenden Entlassungs-Arzt die eine oder andere Frauen-Abteilung mit übernommen werden kann. Die Aufgaben sind innerhalb des ärztlichen Kollegiums von den Entlassungsärzten nur mit Energie und noch mehr T a k t zu lösen, wenn der Leiter der Anstalt mit seiner ganzen Persönlichkeit dahintersteht. Die Bestrebungen der Anstaltspsychiater sind in allen Ländern gleich. Überall sind gleiche oder ähnliche Schwierigkeiten mit den Verwaltungen und gesetzgeberischen Körperschaften zu überwinden, die den rein ärztlichen Aufgaben entgegenstehen. In allen Ländern haben fortschrittlich eingestellte Ärzte gleichgerichtete Gedankengänge und stellen sich dieselben Zielrichtungen. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist durch das .Gesetz über die geistige Gesundheit* eine Reformbewegung in das Anstaltsleben gekommen. In Großbritannien ist die Nationalisierung des Gesundheitswesens durchgeführt worden. Hierdurch ist den Anstalten relativ mehr Geld zugeflossen, als das früher der Fall sein konnte. In modern eingerichteten psychiatrischen Hospitälern ist der Pfleger- und Ärzteschlüssel keine Frage, ebenso nicht die Anstellung eines klinischen Psychologen wie die genügende Anzahl von psychiatrischen Sozialfürsorgern, Arbeits-, Beschäftigungs- und künstlerischen Therapeuten und eines besonderen Lehrers zur Ausbildung der Schwestern, ganz abgesehen von den technischen Einrichtungen und Hilfsmitteln.

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Aber auch hier macht es nicht der materielle oder personelle quantitative Einsatz, sondern das Flui dum der Anstalt oder Klinik, die Persönlichkeit des von seiner Aufgabe begeisterten Psychiaters entscheidet. "Werden alle Behandlungsmethoden — organischpsychotherapeutisch-psychagogisch — eingesetzt, so löst sich das Problem, wegen der Überfüllung der Anstalten neue Häuser zu bauen, allein auf. Das hat Sivadon bewiesen. Er hatte, als er 1948 begann, keine staatliche Unterstützung. Seine ihm übergeordnete Verwaltung hatte nichts dagegen, daß er auf eigene Initiative bei den zuständigen Krankenkassen Geld aufnahm und damit Personal einstellte und Werkstätten und Betriebe einriditete. Bei 600 Betten, die er vorher mit 2 Ärzten v e r walten' mußte, hatte er nun 2 Oberärzte und 6 Assistenten zur Verfügung; außerdem eine Psychologin, zwei Sozialfürsorgerinnen, eine Arbeitsamtsberaterin, zwei Gymnastikund Sportlehrer, einen Masseur, neun Therapeuten für die Werkstätten und Gruppenarbeit sowie drei Sekretärinnen. 1951 hatte die Anstalt Ville-Evrard noch 250 Betten nötig bei 381 Neuzugängen. Die Kapazität seiner Hospital-Abteilung war: vorhandene Kranke (243) +

Neuzugänge (381)

_

vorhandene Betten (250) Der Absorptions-Index (100 Kranke X 1 [oder 2 oder 5 Jahre]) 100 Betten

war, da von den 381 Zugängen 42 zu Spezialbehandlungen wie Tbc, Typhusbazillenträger o. ä. weiterverlegt worden waren, nur (381 minus 42) gleich 339 für ein Jahr: 339 X 1 250 =

^

Die Vergleichszahlen können für die eigene Anstalt oder Klinik ausgerechnet werden. Für die überschaubaren westfälischen Verhältnisse in 7 Landesheilanstalten, wo die Arbeitsbedingungen und die Verteilung des Krankengutes praktisch gleich sind, ergibt sich folgendes Gefälle: Hospitalkapzität:

1,10—1,23—1,39—1,51—1,62—1,74—1,81

Absorbtions-Index: 0,26—0,39—0,40—0,44—0,59—0,75—0,80

Die Kosten der Modernisierung der Anstalt waren in Ville-Evrard in weniger als einem Jahre amortisiert. Jeder Patient kostete pro Tag 20 °/o mehr als in den Jahren vorher oder in anderen Anstalten. Es wurden alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, worüber Sivadon sagt: „Wie man sieht, sind die Techniken, die wir anwenden, keine anderen als die in der ganzen Welt bekannten." In den Jahren 1948 bis 1951 waren in Ville-Evrard: •/» durchschn. Aufenthalt in Tagen Entlassungsfälle (Besserungen und Heilungen) Verlegungen und Entweichung Chronische Fälle - Todesfälle

77 X 112 = 15 X 1140 = 8 X 1964 = Total

100 Kranke = 1 Kranker =

Tage total 8.624 17.100 15.712 41.436 415 Tage

Familienpflege — Außenfürsorge

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Eine Vergleichsstatistik aus 12 verschiedenen Anstalten aus ganz Frankreich sagt uns: °/o durchschn. Aufenthalt in Tagen Entlassungsfälle (Besserungen und Heilungen) Verlegungen und Entweichung Chronische Fälle - Todesfälle

47,7 X 393 = 34,7 X 1140 = 17,7 X 1964 = 100,1 Kranke = 1

Kranker =

Tage total 18.746 39.558 34.762 93.066 9 3 0 Tage

415 Tage ä 1 337 Franken = 554 855 Franken in Ville-Evrard, 930 Tage k 1 151 Franken = 1 070 430 Franken in den übrigen Heilanstalten in Frankreich. Das Sparen am falschen Platz ist unökonomisch und der Satz, daß Frankreich sich den Luxus nicht mehr leisten kann, daß Tausende von Menschen hinter Anstaltsmauern unter großen Kosten eingesperrt sind, während eine energische und gut durchgeführte Therapie sehr oft eine Heilung oder doch eine soziale Heilung bringen könnte, gilt nicht nur für dieses Land. Leider werden wir Psychiater immer wieder gezwungen, die Wirtschaftlichkeit unseres ärztlichen Handelns nachzuweisen. Hier sind die Beispiele, die den Kostenträgern beweisen sollten, daß eine Anstaltsreform ein gutes Geschäft sein kann; denn die moderne Psychiatrie ist rentabel. Wenn sich diese Ansichten in den Verwaltungen durchgesetzt haben, wollen wir in den Anstalten und Kliniken tätigen Ärzte zufrieden sein, auf diesem Umwege der Menschlichkeit und dem ärztlichen Fortschritt im Sinne unserer hippokratischen Aufgabe einen Schritt weiter geholfen zu haben.

Familienpflege — Außenfürsorge Zur Vermeidung einer unnötigen Hospitalisierung mit ihren zwangsläufigen Schädigungen ist die Einrichtung einer Familienpflege nach wie vor nützlich. Bei der Unterbringung in einer Familie außerhalb der Anstalt in einem städtischen oder bäuerlichen Haushalt ist für den Kranken ein möglichst großes Maß von Freiheit gegeben. Die I n d i k a t i o n , einen Patienten in eine Familienpflegestelle zu tun, kann verschiedene Gründe haben: 1. besteht die Möglichkeit, zu b e o b a c h t e n , wie der Kranke sich .draußen' bewährt, wenn die Möglichkeit einer versuchsweisen Frühentlassung in die eigene Familie nicht gegeben ist; 2. können Anstaltspatienten zur weiteren Förderung im Sinne der Arbeits t h e r a p i e zu einer geeigneten Familie gebracht werden; 3. finden chronisch Kranke, die einer gewissen regelmäßigen ärztlichen Betreuung bedürfen, in Familien als V e r w a h r u n g s - oder P f l e g e fälle ein Unterkommen.

Gute Arbeitsleistungen in der Anstalt sollen nicht ein Grund dafür sein, den Kranken nicht in Familienpflege zu geben, sondern eher dazu beitragen, wenigstens den Versuch zu machen, ob eine Förderung auf diese Stufe nicht möglich ist. Es ist hierbei genau wie mit dem stufenweisen Weiterbringen der Kranken von der geschlossenen Abteilung zum offenen Haus. Cramer schreibt in einem Brief an Konrad Alt, einen der Vorkämpfer der Einrichtung der Familienpflege, zu dieser Frage schon um die Jahrhundertwende: „Im großen und ganzen wird immer noch ein Nutzen der Familienpflege zu leicht übersehen, und zwar der, daß das Personal bei Fortnahme arbeitender Kranker gezwungen ist, selbst neuen arbeitsfähigen Nachwuchs heranzuziehen

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und das auch tut. Die Familienpflege entzieht den Anstalten de facto nicht die Arbeitskräfte, sondern trägt vielmehr dazu bei, die Zahl der arbeitenden Kranken durch H e r a n bildung neuen Nachwuchses zu vergrößern." (Zit. n. Bufe.) Die Bestrebungen, geistig oder seelisch K r a n k e in Familien unterzubringen, gehören zu den ältesten aktiven therapeutischen Versuchen in der Psychiatrie. Sie haben in Belgien die längste Tradition. D i e O r t e Geel und Lierneux sind für die vorbildliche Organisation der Familienpflege ein Begriff. D o r t sind Tausende von K r a n k e n auf verhältnismäßig kleinem R ä u m e in bäuerlichen und Handwerkerfamilien untergebracht. Jede Sektion des Familienpflegebezirkes hat einen Arzt. Eine zentral gelegene kleine Anstalt versorgt die „kranken K r a n k e n " klinisch stationär, wenn sie körperlicher Krankheiten oder psychischer Ausnahmezustände wegen nicht in den Familien sein können. Für diese A r t der Einrichtung hat man den Namen K o n z e n t r a t i o n s t y p geprägt. I m Gegensatz hierzu steht das Vorgehen, wie es in Schottland geübt wird. H i e r sind die Kranken weit über das ganze Land verteilt und die Verbindung mit der nächsten Anstalt ist gering. D i e ärztliche Betreuung erfolgt im wesentlichen durch die Amtsärzte. M a n nennt das System den D i s p e r s i o n s t y p . In Deutschland ist ein großer Prozentsatz von Patienten, die zwar nicht mehr als unbedingt anstaltsbehandlungsbedürftig angesehen werden müssen, die für eine Familienpflegestelle — auch nicht im Rahmen einer Kolonie, w o einer den anderen ergänzen könnte — nicht in Frage kommen, in Pflegeanstalten untergebracht. Es handelt sich bei den Personen nicht ausschließlich um Leute, die körperlich hilfsbedürftig oder geistigseelisch altersgebrechlich sind, sondern um eine Fülle von internistischen, psychiatrischneurologischen Krankheitsfällen, die in einem offenen Haus mit geringerem Ä r z t e - und Personalaufwand versorgt werden können. Vielfach sind dort auch Schwachsinnige untergebracht, bei denen Förderungsmöglichkeiten nicht mehr bestehen, die für eine Familienpflege ,zu dumm', f ü r eine Heilanstalt aber ,noch zu schlau' sind, um dort auf die D a u e r zufrieden zu sein. Es sind Grenzfälle, die jedoch einer, wenn auch geringen Kontrolle und einem gewissen Reglement bedürftig sind. Viele von diesen Betreuungsbedürftigen sind entmündigt. Einzelne Kreise und Städte sind im Begriff, Pflegeheime, insbesondere für alte Menschen, oder H e i m a t - und Familienentwurzelte mit ambulanter ärztlicher Überwachung schaffen; eine begrüßenswerte Initiative, die sich jedoch vorerst nur bei Steuer- und

zu

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kräftigen Gemeinden durchführen lassen wird. D i e eigentliche Familienpflege wird bei uns im Rahmen der Anstaltsarbeit betrieben — auch A d n e x t y p genannt. Die Pflegestellen sind in der N ä h e der Anstalt, etwa im Umkreise von 30 bis 4 0 km, so daß sie mit einem Kraftwagen durch einen Arzt und Pfleger bzw. Fürsorgerin besucht werden können. Über „die Familienpflege Kranksinniger", deren „Geschichte, Wesen, W e r t und T e c h n i k " hat in eingehender Form Bufe berichtet und dabei die Verhältnisse dieser psychiatrischen Einrichtung in 26 Ländern vergleichend dargestellt. V o n ihm sind 15 grundlegende Thesen ausgearbeitet worden, die auf dem I. Internationalen Kongreß für Psychische Hygiene in Washington 1 9 3 0 vorgetragen wurden und allgemeine Zustimmung und Billigung fanden. D a in ihnen alles Wesentliche, auch für heute Gültige, in konzentrierter Form enthalten ist, sollen sie hier aufgeführt sein:

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„Die Familienpflege ist die natürlichste und freieste Form der Unterbringung von Kranksinnigen und bewahrt die Kranken vor psychischen Schädlichkeiten einer längeren Hospitalisierung. Sie bewirkt eine schnelle und soziale Wiedereingliederung der Kranken und ist insofern ein wirksames Heilmittel. Die Familienpflege garantiert individuelle psychotherapeutische Behandlung, da sie zwangsläufig individualisiert; die Therapie in der Geschlossenen Anstalt ist vorwiegend Massentherapie. Die Familienpflege gestattet viel leichter als die Geschlossene Anstalt, den Kranken Abwechslung bezüglich der Umgebung, des Milieus zu verschaffen. Für viele Kranke bedeutet das Zusammenleben mit dem anderen Geschlecht, mit Kindern oder Haustieren große psychotherapeutische Vorteile. Die Familienpflege bietet den Kranken zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten, die an Natürlichkeit und Heilkraft unerreicht sind und ist die Brücke für Beurlaubung und Entlassung. Sie ist ein unentbehrliches Mittel für die ungehemmte Ausübung der ,Frühentlassung' und der ,Offenen Fürsorge'; alle Kranken, die aus irgendeinem Grunde in ihrer eigenen Familie nicht untergebracht werden können, müßten in fremde Familien gegeben werden. Die Familienpflege ist das natürliche Bindeglied zwischen Anstalt und ,Offener Fürsorge'; beide erleichtern sich gegenseitig Anbahnung und Ausbau. Die Familienpflege ist die billigste Verpflegungsform der Welt; für jeden Familienpflegling wird die Schaffung eines Anstaltsplatzes unnötig gemacht, ferner ist der Bedarf an Pflegepersonal gering. Außerdem ist die Familienpflege ein ausgezeichnetes Mittel, um psychiatrische Bestrebungen zu popularisieren und psychohygienische Aufklärung zu verbreiten. Die Familienpflege kann nach jedem der drei Typen in jedem Lande durchgeführt werden; auch in den großen Städten ist es möglich, sie zu betreiben. Sie ist für fast alle Arten von Kranken anwendbar." Ist die Familienpflege bei der Bevölkerung bekannt und wird sie von der Anstalt aktiv betrieben, so können erfahrungsgemäß bis zu 10 °/o der Patienten untergebracht und somit Anstaltsbetten freigemacht werden. Diese Prozentzahlen sind vorwiegend von Anstalten in Ostdeutschland erreicht worden, d. h. in Gebieten, in denen die Landwirtschaft vorherrscht. Hier sind die Kranken bäuerlicher Herkunft oder mit der Arbeit auf dem Lande vertraut und können deshalb um so eher in landwirtschaftlichen Betrieben in Familienpflegestellen untergebracht werden. Aber auch jetzt werden in Westdeutschland noch 5 bis 10 °/o der Patienten in solche Stellen vermittelt. Es wird jedoch immer schwieriger. Die Tendenz der Landflucht ist bei unseren Kranken ebenfalls festzustellen. Besonders die Frauen lehnen oft eine Unterbringung auf einem Bauernhof ab, obwohl sie vielfach selbst vom Lande stammen und — oder gerade weil ihnen die Arbeit bekannt ist, bitten sie, eine Stellung in einem städtischen Haushalt zu bekommen. Der Anteil der Kranken, die in Familienpflege sind, braucht nicht so hoch zu sein. Viele von ihnen können auch aus dieser gelockerten Form der Anstaltsbetreuung entlassen werden. Es ergeben sich hierbei aber soziale Probleme, die nicht ohne Schwierigkeiten zu überwinden sind, im Interesse der Patienten und der Erweiterung ihrer Freiheit jedoch in Angriff genommen werden sollten. Wenn ein Kranker u. U. jahrelang zur Zufriedenheit arbeitet und dabei psychisch praktisch unauffällig bleibt, so kann man ihn auch aus der Familienpflege entlassen. Seine

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Arbeitskraft wird in den meisten Fällen nicht mit 100 °/o zu veranschlagen sein und häufig im Vergleich mit der üblich zu fordernden Arbeitsleistung nur einen Bruchteil ausmachen. Wird ein Kranker dieser Art entlassen, so hat sein Arbeitgeber keine Möglichkeit, ihn seiner Leistung gemäß, also u n t e r den ortsüblichen Tarifen zu bezahlen, wenn er ihn behalten will. Außerdem kommen die sozialen Abgaben hinzu, Arbeitslosenversicherung, aber vor allem die Krankenkassenbeiträge. Die freie Heilfürsorge, die von der Anstalt gewährleistet wird, ist für viele Arbeitgeber heute ein Anreiz, auch unsere Patienten in eine Familienpflegestelle zu übernehmen, da das Risiko einer Erkrankung als größer angesehen werden muß und in einem freien Arbeitsverhältnis gescheut werden würde. Es ist sicher einfach, die Familienpfleglinge auf irgendeinem Wege zu Rentnern zu machen; damit ist nichts gewonnen. Um sie auf vernünftige Weise wieder in das normale Leben und seinen Arbeitsprozeß einzugliedern, müßten in vermehrtem Maße für die Kranken, die sich in einer Familienpflegestelle bewährt haben, Pflegschaften eingerichtet werden. Der Pfleger kann dann mit dem Arbeitgeber einen Vertrag abschließen, in dem das Arbeitsentgelt gemäß der Arbeitsleistung des Kranken unabhängig vom gültigen Tarif festgelegt wird. Er kann regulierend eingreifen, wenn sich Schwierigkeiten ergeben. Wo dies nicht ausreicht, müssen Entmündigungsverfahren eingeleitet werden. Auf diese Weise ist es möglich, daß ein weiterer Kreis von Patienten nicht mehr der Obhut der Anstalt bedarf. Sie können dann gelegentlich von der Offenen Fürsorge in ihrem Landkreis besucht werden. In den Sprechstunden der Psychiatrischen Außenfürsorge, die von den Heilanstalten in den Gesundheitsämtern und deren Nebenstellen in den Amtsbezirken regelmäßig monatlich mindestens einmal (in Westfalen) durch die Ärzte der Anstalten durchgeführt werden, ist gerade der Anteil der Betreuten groß, die sich etwa auf dem Niveau der Patienten bewegen, wie wir sie in der Familienpflege haben. Sie sind nicht krank und auffällig genug — z. B. ein Epileptiker mit seltenen Anfällen und mäßiger Wesensänderung — um in eine stationäre Behandlung zu müssen und nicht gesund genug, um eine bürgerliche Existenz zu finden oder zu behalten; aber sie sind nicht „arbeitsvermittlungsfähig". Auch für diese Menschen gilt es, einen Weg zu finden, sie zu resozialisieren. Hier ist ein weites Betätigungsfeld für eine sozial-psychiatrische Therapie in der Praxis. Sie ist eigentlich nur auf dem Wege über eine Pflegschaft oder Vormundschaft auf die Dauer befriedigend zu lösen, die rein juristisch und manchmal auch psychiatrisch sdiwierig zu begründen ist. Der Betroffene ist meist in der Lage „seine Angelegenheiten selbst zu besorgen", nur nicht so, daß er sie, auf sich allein gestellt, auch den Anforderungen des täglichen Lebens entsprechend, meistern kann. Er steht nicht über den Dingen, sondern daneben und sinkt deshalb sozial ab — im günstigen Falle auf ein Rentnerdasein, womit niemandem geholfen ist. Die Außenfürsorge ist ursprünglich als nachgehende Fürsorge für aus der Anstaltsbehandlung entlassene Patienten eingerichtet worden, um Wiedereinweisungen zu vermeiden. Sie hat sich heute zu einer Einrichtung entwickelt, mit der vorwiegend prophylaktische Psychiatrie geübt wird. Der Anteil an Untersuchungen durch die — in enger Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Nervenärzten — klinischen Beobachtungen oder stationären Aufenthalten vorgebeugt werden kann, nimmt immer mehr zu. Die Patienten, die

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von sich aus oder durch eine Fürsorgerin zur Beratung die Sprechstunden aufsuchen, werden zur Behandlung ihren Hausärzten oder dem nächstwohnenden Spezialarzt mit Berichten überwiesen. U m so mehr muß der Außenfürsorgedienst als soziale Psychiatrie aufgefaßt werden. Alle Ämter und Behörden nehmen die psychiatrischen Sprechstunden an den Gesundheitsämtern in Anspruch. Meist handelt es sich bei den zu Beurteilenden um die Gruppe derjenigen Kranken, die nicht ohne weiteres in ein Arbeitsverhältnis vermittelt werden können oder bei denen sonstige soziale Notstände vorliegen. Zusammenarbeit ergibt sidi mit dem Arbeitsamt, Lastenausgleichsamt, Soforthilfeamt, Wohnungsamt, Wohlfahrtsamt, Jugendamt, Flüchtlingsamt, Versorgungsamt, Versicherungsamt, Straßenverkehrsamt, schließlich mit den Gerichten, besonders den Amts- und Sozialgerichten. Ein besonders guter Kontakt hat sich in vielen Stadt- und Landkreisen mit dem Schulamt entwickelt, wenn der Psychiater aufgefordert wird, die Hilfssdiul-, Schul- oder Berufsschulfähigkeit, zu beurteilen. Das ist eine dankenswerte Aufgabe, die jedoch nicht im Rahmen der üblichen monatlichen Sprechstunden, sondern in Terminen außer der Reihe gelöst werden muß, wovon immer mehr Gebrauch gemacht wird. Mit den Rektoren und Lehrern der Schulen ergeben sich viele Berührungspunkte insofern, als die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in den Beratungsstunden von den Eltern vorgestellt werden, ständig zunimmt, z. T . mehr als 30 Prozent der Fälle beträgt. Das Bedürfnis der Bevölkerung, sich in allen Fragen, die die Förderung und Erziehung der Jugend angehen, R a t zu holen, ist weiter im Wachsen begriffen. Zählt man die Männer und Frauen hinzu, die in die Sprechstunde kommen, um sich in Eheschwierigkeiten beraten zu lassen — viele gehen lieber zu einem Arzt, der mit den örtlichen Verhältnissen nicht so vertraut oder belastet ist —, nimmt man die Fragestellungen der freiwilligen Helfer aus den caritativen Fürsorgevereinen, die Gemeindeschwestern der Pastorate und schließlich die Probleme der Trinkerfürsorge sowie die Betreuung der Süchtigen hinzu, so ergibt sich das breite, bunte Spektrum des Lebens, das sich in der Außenfürsorge dem Untersucher und Berater bietet. Hier genügt nicht nur ein fundiertes psychiatrisches Wissen, sondern eine mitten aus dem praktischen Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten gewonnene Erkenntnis ist vonnöten, und die Bereitschaft, diese mit Initiative in die T a t umzusetzen, um den einzelnen Ratsuchenden seiner Individualität entsprechend gerecht zu werden. Die psychiatrische Außenfürsorge ist von einem möglichst großen Kreis von Fachärzten jeder Anstalt durchzuführen. Dann haben alle Gelegenheit, praktische Psychiatrie auszuüben und keiner kann sich isolieren. Es ist nicht richtig, wenn die Sprechstunden in allen Aufnahmekreisen einer Anstalt von einem Kollegen ausgeübt werden, da dieser dann in der Gefahr ist, den Kontakt mit der klinischen Arbeit zu verlieren. Bei den großen Gesundheitsämtern besteht die Neigung, für die psychiatrische Arbeit einen Nervenarzt gesondert einzustellen. Hierbei besteht die Möglichkeit, vielfach nur einen Medizinalbeamten am Schreibtisch mehr zu haben. Die Arbeit der ambulanten Sprechstunde mit Erfassung aller Amtsbezirke, mit Hausbesuchen in entlegenen Dörfern während des ganzen Jahres ist viel zu lebendig, als daß sich Raum für bürokratisches Arbeiten und Denken bietet. 6 Praktisdie Psychiatrie

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Begleitet wird der Außenfürsorgearzt von einer Fürsorgerin des Gesundheitsamtes, die sich für die psychiatrische Arbeit interessiert und eingearbeitet hat. N u r in wenigen Ausnahmen kann bisher auf eine speziell psychiatrisch geschulte Anstaltsfürsorgerin zurückgegriffen werden. Die Gestellung eines Personenkraftwagens mit Fahrer ist notwendig. Die psychiatrische Außenfürsorgetätigkeit ist in Westfalen, wo wir die Verhältnisse übersehen, nach dem Kriege von Jahr zu Jahr weiter ausgebaut worden. Zuletzt hat Merguet 1951 „Vorschläge für den Wiederaufbau der Offenen Fürsorge für Geisteskranke" gemacht. Die Außenfürsorge wird jetzt in allen 55 westfälischen Stadt- und Landkreisen durchgeführt, mindestens monatlich einmal, in großen Landkreisen, z. B. Herford, regelmäßig zweimal monatlich, in den Städten des Ruhrgebietes, z. B. Bochum, sogar einmal wöchentlich. Genaue statistische Unterlagen liegen noch nicht vor. Ein Oberblick über die Möglichkeiten außenfürsorgerischer Tätigkeit ist aber aus folgenden Zahlen ersichtlich: Bei etwa 750 Sprechtagen im Jahre 1953 wurden 11 000 Beratungen und mehr als 1500 Hausbesuche gemacht, nicht gerechnet die Hausbesuche, die vom Arzt veranlaßt, durch die Fürsorgerinnen besorgt wurden und ein mehrfaches dieser Zahl ausmachen. Hierdurch ist durchschnittlich mindestens bei jedem Sprechtage eine Aufnahme in eine Heilanstalt oder Klinik nicht mehr nötig geworden. Was das für eine Ersparnis für die Kostenträger, die Fürsorgeverbände und Krankenkassen darstellt, ist ersichtlich, wenn man erfährt, daß die entstandenen Kosten dieser gesamten außenfürsorgerischen Tätigkeit im Bereich des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe sich auf etwa 50 000 DM im Jahre belaufen. Der Nutzen, der dadurch erreicht worden ist, daß viele Kranke der klinischen Behandlung rechtzeitig zugeführt wurden, wodurch eine Chronifizierung der Krankheit mit all ihren negativen Folgen verhindert werden konnte, läßt sich schwerlich beredinen. Die gesamten sozial-psychiatrischen Aufgaben, die sich bei unserer staatlichen Struktur fortlaufend in weiterem Maße ergeben, sind im Rahmen der Außenfürsorgearbeit enthalten. Es wird heute niemand mehr an verantwortlicher Stelle auftreten und hier am falschen Platz sparen wollen. In Landesteilen, in denen eine Außenfürsorge noch nicht unterhalten oder nicht intensiv genug durchgeführt wird, sollte dies schnell nachgeholt werden. Wir wollen diese dankbare Tätigkeit als Psychiater weiter pflegen und ausbauen, haben wir doch hier ein Feld vor uns, in dem wir, im weitesten Sinne des Wortes, eine individuelle soziale psychiatrische Therapie betreiben können.

Juristische Einweisungsformalitäten Die Garantie der Freiheit der Person läßt die Aufnahme von Patienten in eine Heilanstalt immer wieder als ein schwieriges Problem erscheinen. Seit Jahrzehnten geht der Widerstreit der Ansichten hin und her. Immer wieder haben sich hervorragende Fachleute um eine allen Beteiligten gerecht werdende Lösung bemüht. In den allgemeinmedizinischen Wochenschriften, den Zeitschriften für standespolitische Fragen und dem psychiatrischen Fachschrifttum finden wir seit Jahren ständig neue Entwürfe und Vorschläge für ein geeignetes Gesetz. In den letzten Jahren haben sich hierfür Altenkämper, Behnsen, Grtthle, Kehrer, Wilhelm Schneider, Schorscb und H. Schulte eingesetzt. Besonders Kehrer wies in seinem grundlegenden Referat vor der Jahresversammlung der Nord-

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und Nord westdeutschen Neurologen und Psychiater in Bad Pyrmont 1951 auf die Notwendigkeit für ein ,Krankenschutzgesetz' hin. Nachdem sich die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie des Fragenkomplexes federführend angenommen hat, liegt die Vertretung der psychiatrischen Belange hauptsächlich in den Händen des Vorsitzenden der Gesellschaft Villinger und des Schriftführers Ehrhardt. Beide berichten laufend über den Stand der Dinge, sowohl der eingegangenen verwertbaren neuen Vorschläge als auch über die Lage der Verhandlungen mit den oberen Bundesbehörden. Nachdem die Legislaturperiode des jetzigen Bundestages bereits das dritte Jahr erreicht hat, muß man sich wiederum fragen, wielange der Zustand, daß das gesamte Geisteskrankenwesen „rechtlich in der Luft hängt", der „für einen Kulturstaat unerträglich" angesehen werden muß — wie es Mikorey einmal ausdrückte — noch andauern soll. Seit sechzig Jahren warten die deutschen Psychiater nunmehr auf das Gesetz, das die berechtigten Interessen der Öffentlichkeit berücksichtigen soll, das aber in erster Linie auch dafür Sorge trägt, daß dem behandlungsbedürftigen seelisch Kranken kein Schaden erwächst. Der umstrittene Artikel 104 des Grundgesetzes der Bundesrepublik lautet: „Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Berücksichtigung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgenommene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden. Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln." Die Aufnahmen in die öffentlichen Heilanstalten sind zur Zeit z. B. im Lande NordrheinWestfalen unter folgenden Bedingungen möglich: 1. Der Kranke wird auf eigenen Antrag aufgenommen. 2. Der Kranke erhebt gegen die Aufnahme keinen Einspruch. 3. Der Kranke wird auf Antrag der erziehungsberechtigten Eltern oder eines Vormundes eingewiesen. 4. Der Kranke wird zwangsweise eingewiesen durch das für seinen Wohnort zuständige Ordnungsamt oder durch ein Gericht. Hierzu im einzelnen einige Erläuterungen: 1. Daß der Kranke auf eigenen Wunsch in die Anstalt aufgenommen wird, war früher und ist heute selten. In früheren Jahren handelte es sich meistens um sogenannte f r e i willige Pensionäre', die fast immer als Privatpatienten in offenen Abteilungen untergebracht wurden. Gelegentlich kommen heute Depressive oder Epileptiker, die sich zur kurzfristigen Aufnahme melden, wenn sie ihre neue Phase oder eine Aura bemerken und wenn sie krankheitseinsichtig sind. Vorsicht ist geboten, wenn sich Psychopathen mit Versagenszuständen melden, die händeringend um „ein Schöckchen" bitten. Besondere Zurückhaltung ist am Platze, wenn sich Personen zur Aufnahme melden, um sich zu einer freiwilligen' Entziehungskur, sei es wegen eines chronischen Alkoholmißbrauches oder wegen Betäubungsmittelsucht, zu stellen. Oft handelt es sich bei ihnen nur um eine ,Flucht in die Mauern der Heilanstalt' bei drohender Strafverfolgung. Abge6*

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sehen davon ziehen diese haltschwachen Persönlichkeiten ihre Freiwilligkeitserklärung, die sie dem Aufnahmearzt bei ihrem Kommen freimütig für die als notwendig anzusehenden sechs Monate geben, ihrem Charaktergefüge entsprediend, oft schon nach Tagen zurück. 2. Der Kranke erhebt gegen seine Einweisung keinen Einspruch. Dies kann als der ,Normalfall' angesehen werden. Anders ausgedrückt kann man sagen, daß der Kranke praktisch' keinen Einspruch gegen seine Unterbringung erhebt. Bei diesen Patienten wird der Antrag auf Aufnahme meistens von den Angehörigen, den Nachbarn oder einer Fürsorgerin gestellt und der behandelnde Hausarzt stellt das Gutachten aus, in dem die Notwendigkeit einer Anstaltsbehandlung bescheinigt wird. Für diese Gruppe von Kranken liegt für die Leitung der Anstalt die Verpflichtung vor, sie an die zuständige Staatsanwaltschaft zu melden. Dies wird routinemäßig überall mit Terminkalender durchgeführt. Auf die Nichtbeachtung der ärztlichen Schweigepflicht soll hierbei nur verwiesen werden. Als in früheren Jahren die Unterbringung der Patienten in der Heilanstalt von Seiten der Staatsanwaltschaften ebenso routinemäßig bedenkenlos bestätigt wurde, war gegen dies Verfahren vom ärztlichen Standpunkt nicht viel einzuwenden — außer der allgemeinen Bemerkung, daß hier ein Büro der Anstalt eine Kanzlei der Staatsanwaltschaft mit Schriftverkehr versorgte und umgekehrt — da keiner einen Schaden davontrug. Seit jedoch — die Verfahrensweise der einzelnen Staatsanwaltschaften ist hier unterschiedlich — verschiedene Oberstaatsanwälte die Meldungen über erfolgte Aufnahmen in Heilanstalten zum Anlaß genommen haben, ein Ermittlungsverfahren daran zu knüpfen, hat sich die Sachlage grundsätzlich verändert und das Wohl unserer Kranken ist mittelbar betroffen. In der Praxis sieht das so aus, daß einige Zeit nach der Einweisung des Kranken bei den Angehörigen in der Wohnung ein uniformierter Polizist erscheint und Erhebungen anstellt. Die gestellten Fragen, etwa zwanzig, sind nicht verletzend für die Beteiligten. Nur ist es nicht schwer vorstellbar, daß sie von den beauftragten Polizeiwachtmeistern nicht immer in der geeigneten Form und von den richtigen Erklärungen vorbereitet vorgebracht werden. Wir haben zu oft von den Angehörigen Klagen darüber vernommen, wieso die Patienten der Polizei gemeldet worden seien, sie seien doch schließlich nur „mit den Nerven krank". Oder wir mußten feststellen, daß die Angehörigen überhaupt nicht über die Sinngebung der polizeilichen Nachfrage aufgeklärt worden waren und nun bei uns — womöglich anläßlich ihres ersten Besuches ihres Kranken in der Anstalt — voller Mißtrauen fragten, was sie denn mit der Polizei zu tun hätten. Diese staatsanwaltlichen Fragebogen haben den Sinn, für den krank gewordenen Menschen zu sorgen, d. h. ihn — wenn nötig — sobald als möglich unter den Schutz einer Vormundschaft zu stellen. Das Bestreben ist richtig, nur sollte der Weg anders gewählt werden. Die Fragen, die die Geschäftsfähigkeit des Kranken betreffen, sind ärztliche und können nur durch den behandelnden Arzt beantwortet werden. Die sozialen Verhältnisse sind dem Gesundheits-, Jugend- oder Wohlfahrtsamt bzw. deren Fürsorgerinnen bekannt und diese Dienststellen können für die Beantwortung dieser Punkte herangezogen werden. Wird die Praxis aber weiterhin bürokratisch betrieben, so ist immer der Keim zu einem Mißtrauen bei den Angehörigen gegenüber dein Arzt bzw. der Anstalt gelegt. Wieweit

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die .objektive Anamnese' unter solchen Umständen dann noch als objektiv angesehen werden kann, liegt auf der Hand. Wenn die Angehörigen ihren erkrankten Familienmitgliedern hiervon berichten, wird das Verhältnis vom Patienten zum Arzt notwendigerweise ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Wenn wir — auch nur aus Andeutungen — erfahren, daß durch die polizeilichen Erhebungen im Auftrage der Staatsanwaltschaft wieder einmal Mißtrauen gesetzt worden ist, so bemühen wir uns, den Gang der Dinge in möglichst verständlicher und einfühlender Form aufzuklären, wenngleich wir auch bei diesem methodischen Vorgehen nicht verhindern können, daß ein R i ß im Vertrauen bestehen bleiben kann bzw. es erschwert wird, ein solches herzustellen. Diese Verfahrensweise stützt sich auf das Reglement für die Verwaltung der Provinzialirrenanstalten . . . vom 14. Februar 1896, in dem es u. a. heißt: § 16: „Von der erfolgten Aufnahme eines Kranken hat der Direktor der Anstalt dem zuständigen Staatsanwalt sofort Nachricht zu geben, auf Erfordern auch über den Zustand desselben Mitteilung zu machen." § 2 1 : „Von der Entlassung und dem Absterben eines Kranken muß der Heimatbehörde und dem zuständigen Staatsanwalte sofort Anzeige gemacht werden. Von dem Tode eines Kranken ist audi dem Standesbeamten die gesetzlich vorgeschriebene Anzeige zu erstatten." § 2 8 : Uber Aufnahme, Entlassung und Todesfälle werden die Anstaltsdirektoren den betr. Behörden bzw. den Angehörigen der Kranken sofort von amtswegen Mitteilung machen." Berlin, den 28. März 1896 Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angel.

Der Minister des Innern

Der Reichminister des Innern in Berlin gibt am 2. Juli 1942 folgenden Bescheid: „Uber die Angelegenheit hat bereits vor einiger Zeit ein Schriftwechsel mit dem Herrn Reichsminister der Justiz stattgefunden, wobei entschieden worden ist, daß die Anzeigen der Heil- und Pflegeanstalten an die Oberstaatsanwälte über die Aufnahme nichtentmündigter Geisteskranker audi weiterhin erforderlich seien." Eine weitere Schwierigkeit bei den Aufnahmeformalitäten, die weittragende Folgerungen für die aufgenommenen Patienten haben können, die für die .Normalfälle' gelten, aber auch die anderen Krankengruppen betreffen, ist die Bestimmung, daß zur Zeit immer noch eine polizeiliche Abmeldung für den aufzunehmenden Kranken verlangt wird. Liegt diese am Tage der Aufnahme nicht schon vor, so wird sie von den Verwaltungen der Anstalten von den Behörden am Heimatorte des Kranken nachgefordert. Die Patienten werden bei der Meldebehörde, die für den Ort der Heilanstalt zuständig ist, angemeldet. Dieses Vorgehen wird mit den Bestimmungen der Verordnung über das Meldewesen (Reichsmeldeordnung) vom 6 . 1 . 1938, insbesondere deren §§ 23 und 24, begründet. Sie wurden zusätzlich verschärft am 6. 9. 1939. Die Meldepflicht im Gesetz über das Meldewesen im Lande Nordrhein-Westfalen (Meldegesetz) vom 28. 4. 1950 ist für „Anstaltsinsassen" gleichlautend wie in der Reichsmeldeordnung von 1938 bestimmt. Diese Ab- und Ummeldung bringt für den Kranken vielfach Nachteile, ganz abgesehen davon, daß es ja audi sonst nicht üblich ist, daß ein Kranker, der zur Behandlung in ein Krankenhaus gehen muß, sich deswegen polizeilich ummeldet. Besonders ergeben sich immer wieder Nachfragen durch die Wohnungsämter, wie lange die Behandlungsdauer der Patienten wohl dauern könne, da der freigewordene Wohn-

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räum anderweitig Verwendung finden solle. Ist der Kranke abgemeldet — diese Probleme treffen besonders ältere und alleinstehende Personen —, so ist er danach nicht mehr als Bürger der Gemeinde anzusehen. Wird ihm sein Zimmer weggenommen, d. h. es wird ihim wohoungsamtsmäßig bewirtschaftet, so ist es in jedem Falle schwierig, einen neuen Wohnraum zu erhalten. Daß die Resozialisierung für den Patienten schwieriger wird, wenn zunächst erst einmal eine neue Unterkunft besorgt werden muß, liegt auf der Hand. Wie oft wird hierdurch die beabsichtigte Entlassung um Wochen und Monate verzögert und gereicht dem Kranken nicht zum Vorteil. Dies nur als ein Beispiel, wie sich die vorgeschriebene polizeiliche Abmeldung nachteilig auswirken kann. Es ist anzustreben, daß die Kranken bei Aufnahme in die Heilanstalten dort zusätzlich zu ihrem Heimatort polizeilich angemeldet werden, d. h. sie erhalten einen zweiten Wohnsitz, während die polizeiliche Abmeldung von ihrem Heimatort zu unterbleiben hat. Damit bleibt ihnen ihr Heimatort als Wohnsitz, d. h. als ersten Wohnsitz, mit allen hiermit verbundenen Pflichten und Rechten erhalten. Im übrigen widerspricht die bisherige Handhabung dem BGB, dessen § 7 lautet: „I. Wer sich an einem Orte zuständig niederläßt, begründet an diesem Orte seinen Wohnsitz. II. Der Wohnsitz kann gleichzeitig an mehreren Orten bestehen. III. Der Wohnsitz wird aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird, sie aufzugeben."

Die Verlegung des Wohnsitzes erfolgt bei unseren Kranken gegen ihren Willen, einfach durch einen verwaltungsmäßigen Vorgang. Die polizeiliche Ab- und Ummeldung könnte nur bei Entmündigten im Einverständnis mit dem Vormund gem. § 8 BGB erfolgen, der besagt: „Wer geschäftsunfähig oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, kann ohne den Willen eines gesetzlichen Vertreters einen Wohnsitz weder begründen noch aufheben." Will also der Entmündigte seinen Wohnsitz ändern, so muß der gesetzliche Vertreter dem mindestens zustimmen. Der Vormund kann aber den Wohnsitz auch ohne Mitwirkung des nicht voll Geschäftsfähigen bestimmen. Ist der Kranke nicht entmündigt, so bedarf es zur Aufhebung des Wohnsitzes außer der tatsächlichen Aufhebung der Wohnung eines rechtsgeschäftlichen Willensaktes. Es muß vorausgesetzt werden können, daß der bisherige Wohnort nicht mehr als Lebens-Mittelpunkt angesehen werden soll. Die Aufgabe einer Wohnung ohne die Annahme einer neuen ist daher nicht als Wechsel des Wohnsitzes anzusehen, wenn die Rückkehr beabsichtigt ist und die Beziehungen zum bisherigen Wohnsitz erhalten bleiben. Selbst bei Antritt einer längerdauernden Strafhaft tritt keine Wohnungsaufgabe ein, da der freie Aufgabewille fehlt (nach Palandt). Für unsere seelisch Erkrankten besteht der Sinn der Aufnahme ja gerade darin, sie zu heilen oder wenigstens so zu bessern, daß sie in ihrem gewohnten Milieu wieder resozialisiert werden können. Und für die zwangsweise Eingewiesenen kann sinngemäß der Kommentar für die in Haft Befindlichen angewandt werden. Von den Bezirksfürsorgeverbänden und dem Landesfürsorgeverband wird die Erstellung eines ärztlichen Gutachtens zwecks Aufnahme eines Kranken in eine öffentliche Heilanstalt verlangt, da diese heute in den meisten Fällen, abgesehen von einem verschwindenden Prozentsatz von Selbstzahlern, die Kostenträger für den Anstaltsaufenthalt sind. Diese Gutachten müssen von dem einweisenden Hausarzt, praktizierenden Nervenfacharzt, Amtsarzt oder dem aufnehmenden Arzt ausgestellt werden und die sogenannte An-

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staltsbehandlungsbedürftigkeit erweisen. Sie werden in mindestens dreifacher Ausfertigung verlangt. In ihnen wird aber nicht etwa nur die Notwendigkeit der Aufnahme bescheinigt, sondern es werden ausführlich Angaben zur Vorgeschichte und dem Befund verlangt. Alle Anstaltsärzte sind dankbar, wenn die gestellten Fragen ausführlich beantwortet werden, da die Erhebung der Anamnese, insbesondere der objektiven, in unseren Fällen wegen der manchmal großen Entfernung des Wohn- und Erkrankungsortes zur Anstalt schwierig ist. Die Gutachten gehen jedoch im Laufe ihrer Bearbeitung durch eine große Zahl von Behörden, Dienststellen und eine Unzahl von Händen. Sie sind nur während der Ausstellung und bei der Aufnahme in der Anstalt in ärztlichem Gewahrsam und das auch nur in einem Exemplar, während die Durchschläge durch mehrere Büros gehen, die keinen ärztlichen Vorsteher haben. Wie steht es hier mit der Schweigepflicht? Bedenken wir besonders die Verhältnisse auf dem Lande und in kleinen Gemeinden! Hier kann man nicht mehr davon sprechen, daß jeder Bearbeiter von amtswegen zur Geheimhaltung aller dienstlich erworbenen Kenntnisse verpflichtet ist und sich daran halten muß! Im Interesse unserer Kranken muß hier Wandel geschaffen werden. In diesem Sinne haben wir vorgeschlagen, bei Einweisungen in Heilanstalten die verwaltungstechnischen Fragen von den medizinischen zu trennen. Wir haben ein Formblatt zur Bearbeitung für die beteiligten Dienststellen entworfen und unabhängig davon ein ärztliches Gutachten zur Begründung der erforderlichen Anstaltsaufnahme, das nur den einweisenden und aufnehmenden Ärzten zugänglich ist. 3. Der Kranke wird auf Antrag eines Sorgeberechtigten — Eltern oder Vormund — in die Anstalt eingewiesen. Der Anteil an Kranken dieser Art ist in den öffentlichen Heilanstalten gering. Hierbei ist jedoch mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, besonders wenn es sich um chronische Erkrankungsformen handelt, ob bei den Patienten tatsächlich eine Anstaltsbehandlungsbedürftigkeit vorliegt oder ob es sich nur um einen unbequemen Pflegefall handelt. Die juristischen Verhältnisse liegen für diese Patienten in geregelter Form fest. Die Probleme können auf allgemein menschlichem Versagen liegen oder in den sozialen, finanziellen und Milieuverhältnissen der Beteiligten, die den Kranken zu betreuen haben. Hier liegt dann eine ärztliche und sozialfürsorgerische Frage vor, die von Fall zu Fall zu regeln ist. 4. Der Kranke wird zwangsweise in die Anstalt eingewiesen. a) Die Einweisung erfolgt auf Grund einer Verfügung des für den Wohnort des Kranken zuständigen Ordnungsamtes. Sie wird unter Bezug auf §§ 14 und 15 des Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1.6. 1931, das für das Gebiet des damaligen Landes Preußen galt, ausgesprochen. Verschiedene Länder, darunter Nordrhein-Westfalen, haben nach dem Kriege zu diesem Gesetz Ausführungsbestimmungen erlassen. Hiernach muß der Patient als ein ,gemeingefährlicher Geisteskranker' angesehen werden und die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet sein. Die Einweisungsverfügung wird vierfach ausgestellt. Ein Exemplar geht an das zuständige Landesverwaltungsgericht, ein anderes bekommt die Anstalt, das dritte behält die erlassende Behörde und ein viertes der eingewiesene Kranke selbst. Dies soll dem Patienten, nachdem er gerade die Tür der Aufnahmeabteilung hinter sich gelassen hat, gegen einen Behändigungsschein gegeben werden. Viele Neuaufnahmen stehen unter der Einwirkung einer Injektion, sie schlafen infolgedessen oder sind bewußtseinsgetrübt, andere sind

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Juristische E i n w e i s u n g s f o r m a l i t ä t e n

psychomotorisch unruhig. Diese beiden Krankengruppen sind gelegentlich in der Lage, den Schein zu unterschreiben, wenn man sie weckt und in Ruhe daraufhin anspricht. Aber sie lesen sich den Schein bzw. die Verfügung nicht durch. Hätte man sie für den gleichen Zeitpunkt psychiatrisch wegen der Testierfähigkeit zu begutachten, so müßte man sie ihnen praktisch in den meisten Fällen absprechen. Die äußerlich ruhigen zur Aufnahme Kommenden, etwa intellektuell hochstehende paranoide Schizophrene, unterschreiben entweder in aller Ruhe und beginnen sofort, die Beschwerdeinstanzen in Bewegung zu setzen, oder sie geraten in einen Erregungs- und Unruhezustand, wenn sie lesen, daß man sie als ,gemein- und selbstgefährliche Geisteskranke* ansieht. In jedem Falle dürfte das psychische Trauma erheblich sein, gleich, welche Form der Überreichung der Empfangsbestätigung der Einweisungsverfügung gewählt wird. Eine Auslieferung des Behändigungsscheines zur Unterschrift an den Patienten unmittelbar nach seiner Aufnahme ist in jedem Falle abzulehnen. Wenn der Patient schon einige Tage da ist, läßt sich immer wieder eine geeignete Form im Rahmen eines ärztlichen Gespräches finden, um auch diese juristische Formalität zu erledigen. Und wenn auf der Empfangsbestätigung vom behandelnden Arzt vermerkt wird, daß der Behändigungsschein aus psychischen Gründen nicht hätte unterschrieben werden können, die Einweisungsverfügung dem Betroffenen sinngemäß erklärt und auf die Beschwerdemöglichkeit hingewiesen worden sei, so passiert von der verfügenden Behörde auch nichts. Der formaljuristische Vorgang ist geregelt, wenn die Empfangsbestätigung bei der erlassenden Dienststelle wieder angekommen ist. Der Vorgang ist erledigt und dem Kranken ein Trauma erspart; Art. 104 Abs. 1 G G besagt zudem, daß festgenommene Personen seelisch nicht mißhandelt werden dürfen. Bei der Abfassung des Art. 104 G G hat man wahrscheinlich nur an die Freiheitsentziehung von Kriminellen gedacht. Man hat nicht bedacht, daß die meisten, die in ihrer Freiheit zu ihrem eigenen Nutzen beschränkt werden müssen, d. h. auf einer geschlossenen Abteilung einer Heilanstalt untergebracht sein müssen, Personen sind, die an geistigen Störungen leiden, also Kranke. Es wird aber für diesen Personenkreis gemäß Art. 104 G G verfahren. Die Zuständigkeit der Überprüfung der Recht- und Unrechtmäßigkeit der verfügten Einweisung unterliegt im Lande Nordrhein-Westfalen den Landesverwaltungsgerichten. Der untersuchende Richter aus einer für diese Zwecke gesondert eingerichteten Kammer kommt zum Lokaltermin in die Heilanstalt, wenn die Kranken durchschnittlich bereits zwei Wochen beobachtet werden konnten. Oftmals sind die Einweisungsverfügungen von seiten der Anstalt bis zu diesem Zeitpunkt bereits zur Aufhebung beantragt. Findet der Termin statt, so hört der Richter zuerst den behandelnden Arzt und versucht danach, sich selbst einen Überblick über das Krankheitsgeschehen zu machen, indem er sich den Patienten ansieht und sich mit ihm unterhält. Viele Kranke protestieren und sagen, daß sie noch nie mit einem Gericht zu tun gehabt haben, sie seien doch Kranke und hier zur Behandlung und sie hätten nur mit einem Arzt zu tun, der Richter könne ihnen nichts sagen. Bei schwierigen paranoiden Systemen, wo es im ärztlichen Interesse liegt, daß die verfügte Einweisung aufrechterhalten bleibt, ist der Arzt in etwa gezwungen, die Symptomatik zu demonstrieren, d. h. er muß sich bemühen, die psychotischen Inhalte in Gegenwart des Richters aus dem Kranken herauszuholen. Der Richter als Laie, spricht dann gerne von ,fixen Ideen', läßt sich u. U. auch von dem Krankhaften dabei über-

Juristische Einweisungsformalitäten

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zeugen, aber manchmal nicht von der bestehenden ,Gemeingefährlichkeit' bei dem „so ruhigen und geordnet aussehenden Patienten, der so gut, wenn auch gelegentlich eigenartig formuliert". Ebenso kann der Arzt die Suicidgefahr von Depressionen mit euphorischer N.achschwankung im Stadium des Ausklingens der Phase kaum objektivieren, das muß ihm von juristischer Seite geglaubt werden. Den Beschluß des Verwaltungsgerichtes bekommt der Patient zugestellt, worin die Einweisungsverfügung bestätigt oder aufgehoben wird. Wenn man erleben mußte, daß eine depressive Frau, die den Erhalt des Beschlusses des Landesverwaltungsgerichtes auf einer Empfangsbescheinigung durch ihre Unterschrift bestätigen sollte, sagte: „Jetzt soll ich aber mein Todesurteil unterschreiben", dann im Laufe des Nachmittags auf die Toilette am Wachsaal der ruhigen Aufnahmeabteilung ging, sich dort mit ihrer Schürzenschnur am Fensterscharnier aufhing und gerade rechtzeitig abgeschnitten werden konnte, der schickt auch diese Behändigungsscheine lieber mit dem Vermerk zurück, daß eine Abgabe an den Patienten nicht möglich sei und läßt die formaljuristischen Folgen auf sich zukommen. Seit eine paranoide Schizophrene im Anschluß an den Termin mit dem vernehmenden Richter, mehr noch nach Erhalt des Gerichtsbeschlusses, der eine Bestätigung der Einweisungsverfügung brachte, in einen wochenlangen Erregungszustand kam, der kaum medikamentös beherrscht werden konnte, indem sie sich nun gegen die Ärzte und die Anstalt wandte und diese wahnhaft einbezog, wird in dem ärztlichen mündlichen Gutachten jeweils gesagt, daß die psychische Verfassung des Patienten nicht zu einer Auslieferung des Beschlusses des Gerichtes in der Lage sei. Dies läßt für das Verwaltungsgericht nur den Schluß zu, daß der Beschluß lediglich an einen zu ernennenden Vormund ausgeliefert werden darf. Daß die Kranken zu ihrem Arzt in eine paranoide Einstellung kommen müssen, liegt daran, daß das Gericht immer auf die Stellungnahme des behandelnden Arztes Bezug nimmt, wenngleich nicht immer der Name des Arztes zitiert wird. Es ist aber jeweils ersichtlich, daß der Schluß des Gerichtes sich im wesentlichen auf das Urteil des Arztes stützt und nicht auf den des vernehmenden Richters. Die Praxis des Einweisungsverfahrens in der zur Zeit laufenden Form, wenn durch die Übung und Gewöhnung der Gerichte auch in seiner Anwendung gemildert, ist nicht geeignet, das gerade für den Psychiater so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu stärken. Wie soll der Kranke in seinem behandelnden Arzt seinen Beschützer sehen, wenn er sich sagen muß, daß dieser alles, was ihm anvertraut wird, dem Gericht in die Hand gibt, nur um ihn nicht aus der Anstalt zu entlassen. Müssen die Patienten nicht in dem Gedanken bestärkt werden, daß sie von ärztlicher Seite hintergangen werden. Oft dauert es wochenlang, bis die Patienten wieder davon überzeugt sind, daß der Arzt doch das Beste für sie wolle, bis sie wieder glauben und vertrauen, bis die von juristischer Seite — wenn auch unabsichtlich — gesetzten Artefakte beseitigt sind und eine gegenseitige Begegnung wieder möglich ist. b) Die Einweisung kann durch Gerichtsbeschluß erfolgen entweder zur Beobachtung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens in einer Strafsache gem. § 81 StPO in einer öffentlichen Heilanstalt oder gem. § 656 ZPO, wenn ein zu Entmündigender in einer öffentlichen oder privaten Heilanstalt oder Nervenklinik begutachtet werden soll. In beiden Fällen ist die Einweisung auf die Höchstdauer von 6 Wochen beschränkt. Die unterschiedliche Behandlung des zu Begutachtenden gem. § 81 StPO ergibt sich daraus, ob er

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in Untersuchungshaft ist und für die Zeit der notwendigen Untersuchungen aus dein Gefängnis in die Anstalt überführt worden ist oder ot> derjenige sich von sich aus in der Anstalt meldet. Vorläufig werden Personen in einer Heilanstalt gemäß § 126 a StPO untergebracht, bei denen es dem erkennenden Richter bereits offensichtlich zu sein scheint, daß der Beschuldigte geisteskrank' oder geistesschwach' ist, also in den Genuß des Schutzes des § 51 Abs. 1 oder 2 StGB kommen wird und mit einer endgültigen Unterbringung durch Gerichtsbeschluß im Rahmen der Hauptverhandlung nach Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens gem. § 42 b StGB zu rechnen ist. Schließlich werden alle Personen aufgenommen, die gem. § 51 Abs. 1 oder 2 StGB verurteilt und gem. § 42 b StGB auf gerichtliche Anordnung in einer öffentlichen Heilanstalt untergebracht werden sollen. In der Provinz Westfalen ist im Einvernehmen mit der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft für diese Patienten eine Anstalt zur Aufnahme dieser Kranken verpflichtet; denn sie bedürfen besonderer Behandlungsmaßnahmen und Unterbringungsbedingungen, die für die verschiedenen Fälle speziell gestuft werden müssen. Bei der Vielzahl der gem. § 42 b StGB Untergebrachten (allein für Westfalen über 500 in der Landesheilanstalt Eickelborn) ergibt sich hier ein neuer Sektor psychiatrischer Tätigkeit, mit eigenen Erfahrungen in der Diagnostik und Therapie sowie in der Psychagogik.

Pflegschaft und Vormundschaft Die Notwendigkeit, für seelisch Kranke eine Pflegschaft einzurichten, ergibt sich in fast allen den Fällen, für die mit einem längeren Behandlungsaufenthalt in der Heilanstalt zu rechnen ist. Gemäß dem Wesen der Pflegschaft muß das Fürsorgebedürfnis für besondere Angelegenheiten der Patienten geregelt werden. Hier ist es die Pflicht des behandelnden Arztes, in vielen Fällen vorsorglich einzugreifen, damit dem Kranken keine Nachteile entstehen können. Dies wird immer dann notwendig sein, wenn es sich um die Erledigung einer Renten- oder Vermögensangelegenheit handelt. Wird z. B. für eine Landesversicherungsanstalt ein Gutachten zur Frage der Invalidisierung abgegeben, so ist die Einrichtung einer Pflegschaft in der Regel zu bejahen, zumindest für die Zeit der erforderlichen Anstaltsbehandlung. Bei Alleinstehenden sollte der Antrag zur Einrichtung einer Pflegschaft möglichst bald nach der Aufnahme der Kranken gestellt werden, wenn abzusehen ist, daß der Aufenthalt in der Anstalt mehr als Wochen betragen wird. § 1910 BGB Abs. II besagt: „Vermag ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, infolge geistiger .oder körperlicher Gebrechen einzelne seiner Angelegenheiten oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten nicht zu besorgen, so kann er für diese Angelegenheiten einen Pfleger erhalten." Hierbei ist bei einem Antrag auf Einrichtung einer Pflegschaft zu beachten, daß ein körperlich Gebrechlicher für alle seine Angelegenheiten einen Pfleger bekommen kann, während ein geistig Gebrechlicher einen Pfleger nur für einen bestimmten Aufgabenkreis erhalten kann, nicht aber zur Regelung aller Angelegenheiten. Ausgenommen ist bei der Pflegschaft insbesondere die Regelung einer Veränderung des Wohnsitzes, d. h. ein Pfleger kann den Aufenthaltsort seines Pfleglings in keinem Falle bestimmen (Reichsversorgungsgericht, Jurist. Wschr. Jhrg. 27, S. 2595, nach Palandt).

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§ 1910 BGB Abs. III heißt: „Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des Gebrechlichen angeordnet werden, es sei denn, daß eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist." Diese gesetzliche Bestimmung bereitet in der Praxis des psychiatrischen Alltags Schwierigkeiten, wenn man es mit der Einwilligungserklärung der ,geistig Gebrechlichen* nach den Vorschriften des Gesetzes genau nimmt. Eine Verständigung im Sinne des Gesetzgebers ist nicht möglich, wenn der Betreffende geschäftsunfähig ist gem. § 104 Abs. II BGB, in dem angegeben ist, daß, „wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist". Dies setzt voraus, daß der Kranke einem Kinde gleichzusetzen ist, das das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Schwierigkeiten bei der Verständigung genügen nicht, um zu sagen, daß eine Verständigung mit dem Patienten nicht möglich ist. Jedoch wird die Unmöglichkeit einer Verständigung angenommen bei Querulanten, deren Widerspruch nur als Ausdruck ihrer krankhaften Vorstellungen anzusehen ist (Reichsjustizamt, Entscheidungssammlung in Angelegenheiten freiwilliger Gerichtsbarkeit, Band 6, Seite 27; n. Palandt). Hier ist nach den vorliegenden Gesetzestexten und -kommentaren dem Arzt, dem der Kranke anvertraut ist, ein erheblicher Spielraum gegeben, die Bestimmungen für den Einzelfall auszulegen. Auch in diesen Fällen wird er individuell vorgehen müssen und sich von der Eigenart des Kranken, seinem eigentlichen Wesen ein Bild machen müssen, bevor er Entscheidungen trifft und feststellt, daß eine Verständigung nicht möglich ist. Im allgemeinen gehen wir so vor, daß wir in der Auslegung darüber, wann eine Verständigung möglich ist und wann nicht, mehr dazu neigen, eine Unmöglichkeit der Verständigung zu bescheinigen. Wir glauben, unserem Patienten einen Dienst zu erweisen. Das Mißtrauen der Allgemeinbevölkerung gegenüber behördlichen Anordnungen, Bestimmungen und besonders gegenüber verlangten Unterschriften von Belegen, auf denen auf unbekannte Paragraphen Bezug genommen wird, ist groß. Die Geistesschwachen und seelisch Gestörten gehören schon, bevor ihre Behandlungsbedürftigkeit erkannt wird, zu denen, die allen Dingen ,von Amts wegen' eine besondere Atmosphäre des Mißtrauens entgegenbringen. Sind sie nun in klinischer Behandlung und sollen sie eine Einwilligung für die Einrichtung einer Pflegschaft unterschreiben, so wird dieses Mißtrauen erneut bestärkt und fördert vielfach die Entstehung wahnhafter Vorstellungen. Der erklärende Arzt wird zum Gegner erklärt, der sich für eine anonyme Behörde zum Sprecher macht. Das Vertrauensverhältnis wird gestört. Während die Einrichtung einer Pflegschaft kaum Schwierigkeiten im Verkehr mit den zuständigen Gerichten mit sich bringt, liegen die Verhältnisse bei Einleitung eines Entmündigungsverfahrens anders. Durch die unsichere Rechtslage bei Einweisungen in die Heilanstalten wird von vielen praktizierenden Ärzten, besonders Nervenärzten und auch Amtsärzten, eine Vormundschaft bzw. eine vorläufige Vormundschaft zur Bedingung gemacht, bevor ein Einweisungsgutachten erstattet wird. Dies sollte die Notwendigkeit einer Anstaltsbehandlung bescheinigen, wenn der Kranke nicht unterschreiben will, daß er sich freiwillig in die Anstalt begibt. Hierdurch werden viele Kranke oft erst um Wochen später der für sie und ihren Krankheitszustand richtigen klinischen Behandlung zugeführt. Diese Lage ist entstanden, weil die Zeitungen, insbesondere die illustrierte SensationsPresse, immer wieder Ärzte bezichtigt, Personen ohne Grund in eine Anstalt gebracht

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und sie ihrer Freiheit beraubt zu haben. Die einweisenden Ärzte wollen sich sichern, da der Vormund den Aufenthaltsort für den Kranken bestimmen kann. In Gesprächen mit Richtern eines Verwaltungsgerichtes wurde von diesen geäußert, daß die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Person auf jeden Fall als eine der verfassungsmäßig gewährten Grundrechte unantastbar sei; insofern entfiele nicht nur für einen Pfleger — wie bisher — das Recht, den Aufenthaltsort für seinen Pflegling festzulegen, sondern auch ein Vormund könne diesen nicht für sein Mündel bestimmen; denn die Rechte, die dem Bürger in der Verfassung zugesprochen seien, könnten ihm auch nicht durch die Bestimmungen des B G B genommen werden, selbst wenn diese dagegensprechen, Entsprechende höchstrichterliche Entscheidungen sind bisher nicht bekannt geworden, so daß in der Praxis weiter danach verfahren werden kann, daß der Vormund den Aufenthaltsort bzw. den Wohnsitz seines Mündels bestimmen kann. Die juristischen Komplikationen bei der Aufnahme eines Kranken in eine Heilanstalt haben die Zahl der Entmündigungsverfahren in den letzten fünf Jahren erheblich vermehrt, zum Teil sind sie auf das Zehnfache gestiegen. Bei etwa 900 Kranken in der Landesheilanstalt Marienthal haben über 130 einen Vormund und 15 stehen unter vorläufiger Vormundschaft. Soll eine Vormundschaft eingerichtet werden, die die rechtzeitige Aufnahme in einer geschlossenen Anstalt bezweckt, so wird am besten gem. § 1906 B G B verfahren: „Ein Volljähriger, dessen Entmündigung beantragt ist, kann unter vorläufige Vormundschaft gestellt werden, wenn das Vormundschaftsgericht es zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung der Person oder des Vermögens des Volljährigen für erforderlich erachtet." Die vorläufige Vormundschaft ist als Schutz für denjenigen anzusehen, für den die Entmündigung beantragt äst. Der vorläufige Vormund hat dieselben Rechte und Pflichten seinem Mündel gegenüber wie ein Vormund. E r kann also auch dafür sorgen, daß sein Mündel in einer Anstalt untergebracht wird. Die erhebliche Gefährdung der Person festzustellen, liegt im freien Ermessen des Richters. Wenn auch eine Geisteskrankheit als genügender Grund angesehen wird, eine vorläufige Vormundschaft auszusprechen, so ist die Verfahrensweise der einzelnen Vormundschaftsrichter doch sehr unterschiedlich in den verschiedenen Amtsgerichtsbezirken. Es wird bei den Entmündigungsverfahren viel zu sehr davon ausgegangen, daß man den zu Entmündigenden doch nicht entrechten wolle. Der Gedanke, daß der Vormund einen Schutz bedeuten soll, wie es im Gesetz vorgesehen ist, ist zu wenig lebendig — und das sowohl bei den Juristen als auch allgemein im Urteil der Bevölkerung. In der Schweiz entbehrt ein Entmündigungsverfahren völlig jedes entehrenden Momentes, da hier das Bewußtsein der verantwortlichen Bürgerschaft viel ausgeprägter bestehengeblieben ist. Dort ist es so, wie es hier auch gedacht ist, daß ein Bürger für den anderen sorgt für die Zeit, in der er seine Interessen nicht selbst wahrnehmen kann. Bei uns hat für den Betroffenen die Tatsache, daß er unter Vormundschaft steht, oft etwas Anrüchiges an sich, etwas Deklassierendes. Hierunter leiden die Schwachsinnigen, Defekten oder Dementen natürlich weniger als die paranoiden Schizophrenen und sog. .chronischen Manien' mit gut erhaltenem Persönlichkeitsgefüge. Die Einstellung der Vormundschaftsrichter im einzelnen ist schon aus der verschiedenartigen Auslegung des § 646 Z P O zu erkennen.

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Nach Abs. I sind die Ehegatten, alle Verwandten (nicht aber Verschwägerte) und Sorgeberechtigten zur Antragstellung für die Einleitung eines Entmüdigungsverfahrens befugt. Die Angehörigen weigern sich oft, den Antrag zu stellen, und dann wird das Jugendader Gesundheitsamt damit befaßt. Diese sind aber nicht antragsberechtigt. In dieser Situation finden die Psychiater, die die psychiatrische Sprechstunde im Rahmen der Außenfürsorge der Heilanstalten an den Gesundheitsämtern abhalten, Patienten vor, die u. U. seit Wochen und Monaten der stationären Behandlung dringend bedürftig sind. Für alleinstehende, für sich wohnende Wahnkranke findet sich manchmal kein antragsberechtigter oder antragswilliger Angehöriger. Für alle Fälle dieser Art, in denen vom psychiatrischen Standpunkt verantwortlich und sofort gehandelt werden muß, wollen wir prophylaktische Medizin betreiben und nicht als Versorgungsmediziner die Dinge abwartend auf uns zukommen lassen. Hier bietet sich § 646 Abs. II ZPO an, der heißt: „In allen Fällen ist auch der Staatsanwalt bei dem vorgesetzten Landgericht zur Stellung des Antrages berechtigt." Der Staatsanwalt kann in nur seltenen Fällen die Kranken in einem Lokaltermin in Augenschein nehmen. Wir hatten bisher einmal Gelegenheit zur Zusammenarbeit, als eine Kranke von ihrer Hauswirtin monatelang ausgesperrt worden war und in einem Liegestuhl unter einem überdachten Eingang schlafen mußte und durch ein Fenster etwas zu essen gereicht bekam. Hier hatte sich die Staatsanwaltschaft jedoch hauptsächlich deswegen eingeschaltet, um an dem Ort selbst festzustellen, inwieweit die Aussetzung einer Hilfsbedürftigen (§ 223 b StGB) vorgelegen haben konnte. Der Absatz des § 646 ZPO gibt uns einen Ansatz zum Handeln. Wir handhaben die Dinge in allen Fällen, in denen wir uns mit unserem ärztlichen Gewissen verpflichtet fühlen, einzugreifen — also besonders bei Kranken, die akut erkrankt sind und bei solchen, wo eine aktive Therapie dringend angezeigt ist — wie folgt: Wir schreiben an die zuständige Staatsanwaltschaft: „Der Staatsanwaltschaft wird v o r s o r g l i c h mitgeteilt, daß bei Herrn X. eine Geisteskrankheit im medizinischen Sinne vorliegt. Infolge dieser Erkrankung ist er nicht in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Die Einleitung eines Entmündigungsverfahrens erscheint vom nervenärztlichen Standpunkte angezeigt. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Ziff. 1 BGB — zumindest wegen Geistesschwäche im juristischen Sinne — sind gegeben. Die Bestellung eines vorläufigen Vormundes gem. § 1906 ist dringend, da Gefahr im Verzuge ist." Wenn wir diesen Weg eingeschlagen haben, sind wir immer zum Ziele gekommen. Der Staatsanwalt stellt daraufhin den Antrag zur Einleitung des Verfahrens bei dem für den zu Entmündigenden zuständigen Amtsgericht und die Anträge werden schneller entschieden als das sonst der Fall ist, zumal ein Instanzenzug gespart wird. Wie wichtig es ist, von solch einer Möglichkeit, eine Entmündigung in Gang zu bringen, zu wissen, lehrt folgender Fall: Der Bürgermeister in L. schrieb über Katharina G. am 29. 10. 1945, daß G. ,beispiellos in ihrer Unsauberkeit und Verkommenheit' sei ,und eine Seuchengefahr für ihre ganze Umgebung' bilde. Sie könne .unmöglich wegen ihrer asozialen Einstellung, ihrer schweren psychopathischen Veranlagung und ihrer geistigen Unberechenbarkeit einer Privatfamilie zugemutet werden'. Die G. sei ,nicht in der Lage, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen'. Mit diesem Schreiben wurde beim Amtsgericht in L. der Vorschlag gemacht, G. unter Vormundschaft zu stellen. Ein Entmündigungsverfahren kam nicht in Gang. G. kam bis 1948 in Anstaltsbetreuung.

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Im Juli 1953 wandte sich der Schwager der G. in einem Brief an unsere Anstalt, in dem er schilderte, wie G. immer mehr verwahrlose und dringend etwas geschehen müsse. Der Brief erreichte uns über den psychiatrischen Außendienst am Gesundheitsamt in H . Der Schwager, der nach den gesetzlichen Bestimmungen keinen Antrag auf die Einleitung eines Entmündigungsverfahrens stellen darf, berichtete uns bei unserem ersten Besuch bei G., wie sehr er sich um eine Regelung der Verhältnisse während der vergangenen 3 Jahre bemüht habe. Er sei beim Gericht, bei einem Rechtsanwalt, bei einem Notar, beim Bürgermeister und bei der Fürsorgerin immer als nicht zuständig zurückgewiesen worden. Die antragsberechtigten Geschwister hatten sich um die Dinge nicht gekümmert. Wie so oft auf dem Lande, spielten Erbschaftsangelegenheiten eine Rolle. Unser Protokoll des ersten Besuches (4. 8.1953), das zum Anlaß genommen wurde, ein Entmündigungsverfahren in Gang zu bringen, lautete: „Die Zustände in der sog. .Wohnung* der G. lassen sich in Worten nur mit Mühe schildern, da die gebräuchlichen Superlative der deutschen Spradie für den Schmutz und das Gerümpel sowie den herrschenden Gestank nicht ausreichen. Um die Verhältnisse nur in etwa vermitteln zu können, müßte wenigstens eine Fotografie beigefügt werden können, aber auch diese wäre wegen der Dunkelheit nur mit Blitzlicht aufzunehmen möglich. Die sog. .Anrichte' war nur mit einem Kehrichthaufen .möbliert', gegen den die Dreckhaufen, die sich beim Kehren von Rekrutenstuben mit Strohbetten ergeben, vermischt mit Uberresten vom Gewehrreinigen mit öllumpen usw. als sauber anzusprechen sind. In der sog. .Küche' stank es so sehr, daß die begleitende Fürsorgerin es darin nicht aushalten konnte." „Beim zweiten Besuch am 1. 9. 1953 sah die Küche genau so aus. Beide Male wurde G. gefragt, was sie denn heute gekocht habe; beide Male wies sie den gleichen Topf vor, in dem Hafergrütze mit vielen Krusten und Rändern war, so, als wäre es nodi dieselbe. Die .Wäsche' lag ebenfalls bei beiden Malen .frisch' zum .Einweichen' in einem Zuber mit undurchsichtiger Lake, einen fadestinkenden Gerudi verbreitend. Die .Zimmer' im ersten Stock waren beide Male ebenfalls im praktisch unverändert unordentlichen Zustande und .möbliert' mit Hühnern und ihrem Mist, Stroh, Lumpen, zerbrochenem Glas, schimmelnden Zwiebeln, alten Kartoffeln, leeren Flaschen, zerbrochenen Kruken, rostigem Draht, einem Bettgestell ohne Inhalt, Federn, großen Kreuzspinnen. N u r sprungweise, mit gerafften Hosenbeinen, konnte man wegen des Dreckes von .Zimmer' zu ,Zimmer' kommen, Staubwolken um sich breitend. G. wurde gebeten, ihren Schweinestall zu zeigen. Ohne zu übertreiben muß festgestellt werden, daß der Stall das sauberste ,Zimmer' dieser verwahrlosten Behausung darstellte. Und wenn der Vergleich gestattet ist, aber die Dinge liegen bei G. so, waren die Schweine relativ sauberer als G., das soll heißen, sie sahen gepflegter aus als diese." Psydiopathologisch bot G. folgendes: (Wie geht es Ihnen?) „Glauben Sie, daß ich oft von Wahnsinn befallen bin?" (G. schrieb einen Brief an die Firma Reemtsma in Hamburg mit der Bitte um Anstellung: [?]) „Wissen Sie, Arbeit ist ja hier viel . . . ich dachte, Sie wären von D. gekommen . . . weil ich hier bin, muß ich gehen . . . ich bin bange, daß der R. kommt, will mal sehen (glaubt, es belausche sie j e m a n d ) . . . ob das Schreiben da noch liegt von Hamburg? (nimmt an, es habe ihr jemand gestohlen) . . . ich dachte, Sie kommen von Herrn D . . . . ich bin vom Notar aus . . . mein Vater kenn' ich gar nicht, da wissen Sie e s . . . wenn ich mal weg bin, will ich mal was anderes sagen, so schlagen sie m i c h . . . " (Wie war das mit Reemtsma?) „Ich hab' mich, j a . . . eine ältere Person nehmen sie nicht in der Gemeinde . . . aber ich muß eine Unterkunft haben . . . früher wollte ich zu Oetker mit Zimmer . . . wie das heute ist, weiß ich nicht." (Waren Sie mal in M.? [eine Anstalt]). „Das war wegen der Hitlerzeit, (G. war 1947—1948 dort) da wohnte ich bei L. im städtischen H a u s e . . . da wollte man Platz h a b e n . . . kam in Altersheim . . . Inspektor Sch. gab mir jeden Tag 5 Schnitten heimlich . . . da wurde v e r g i f t e t . . . ich weiß, die alten Leute und Mädchen, die will man alle wegbringen . . . will so'n bißchen nach den Kinder gucken . . . hier muß auch eine Frau sein . . . wir hatten im Winter viel Schweine . . . sind Sie von B.? ich kenne da nämlich eine Familie R. . . . das unterschreiben, das tue ich nicht, sonst werde ich totgeschlagen, aber wenn ich spreche, wird alle Welt staunen . . . das soll auch nicht alles so unter die Leute kommen (geheimnisvoll), da sind die Jungens so böse . . . zum Amtsgericht gehe ich nicht, mit meinem Rücken habe ich ja g e s a g t . . . da kann ich nicht hinkommen . . . ich hab' was gesehen, das genügt mir . . . die haben alle g e s ü n d i g t . . . "

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G. kam nicht zum Entmündigungstermin zum Amtsgericht, es mußte ein Lokaltermin in ihrer Behausung stattfinden, dem Amtsrichter wurde bei dieser Besichtigung schlecht. Audi ihm war es unverständlich, daß diese Geisteskranke, die als .Defektzustand bei einer paranoiden Psychose' beurteilt wurde, so lange unter solchen Bedingungen hatte leben können, ohne daß eingegriffen worden war.

Dieses Beispiel ist jedoch kein Einzelfall! Wir machen von der Möglichkeit, dem Staatsanwalt die Notwendigkeit der Einrichtung einer Vormundschaft vorsorglich mitzuteilen, nicht nur Gebrauch, wenn eine dringende Behandlungsbedürftigkeit besteht, sondern vor allem, wenn wir eine Anstaltsaufnahme für den zu Entmündigenden vermeiden wollen. Oft wählen wir den gleichen Weg, um einem Patienten, den wir erfolgreich stationär behandeln konnten, durch die Bestellung eines Vormundes wieder den Weg ins Leben zu ebnen. Ist die Entmündigung eingeleitet, das Verfahren durchgeführt, ein Sachverständiger gehört, ein Gutachten erstattet und schließlich abgeschlossen, so wird vom Gericht ein Entmündigungsbeschluß gefaßt. Von den Gerichten sollte es zur Regel gemacht werden, daß eine Abschrift dieses Beschlusses an die Heilanstalt geleitet wird, wenn bekannt ist, daß der Entmündigte sich dort zu einer Behandlung befindet. Ebenso sollte die Anstalt regelmäßig davon unterrichtet werden, wenn und wer zum Vormunde ernannt worden ist. Diese Benachrichtigung geschieht heute noch nicht immer, was häufig zu Benachteiligungen für den Kranken führen kann. Wenn die Entmündigung ausgesprochen ist, so beginnt die Suche nach dem geeigneten Vormund. Dies ist die Sache der Vormundschaftsrichter. Aber auch hier sollten sich die interessierten Ärzte, also die Psychiater im Einvernehmen mit den Amtsärzten, einschalten, indem sie in caritativen und fürsorgerisch orientierten Organisationen, Verbänden und Vereinen allgemeinverständliche Vorträge halten. Es besteht zur Zeit eine so große Aufgeschlossenheit im Publikum allen seelischen Problemen gegenüber, daß man bei Besprechungen und in Diskussionen nicht müde werden und nicht nur auf interessante vielgestaltige Neurosen eingehen, sondern immer wieder einen Weg finden sollte, über den Umgang mit seelisch Kranken und die Sorge um und für sie zu sprechen; besonders sind anzusprechen kinderlose, berufstätige, ,unerfüllte' Frauen und pensionierte Beamte. Besonders die sog. besser gestellten oder gebildeteren Kreise sollten von medizinischer wie auch von juristischer Seite auf ihre Pflichten als Staatsbürger — zu denen auch die Übernahme einer Pflegschaft oder Vormundschaft gehört — eindringlich hingewiesen und verpflichtet werden. Wichtig ist, in Gutachten im Rahmen eines Entmündigungsverfahrens unter Überschreitung des gutachtlichen Auftrages den Hinweis anzufügen, daß Angehörige, insbesondere Blutsverwandte, nicht zum Vormund ernannt werden sollten, wenn diese Möglichkeit besteht. Die Fragen, die das Mündel angehen, lassen sich naturgemäß mit einem emotional weniger Beteiligten sachlicher besprechen und gereichen dem Kranken dadurch eher zum Vorteil. Sind die Vormünder bestellt, uns bekannt und besteht die Möglichkeit, daß sie in die Anstalt kommen können, so hat sich uns bewährt, sie zu Zusammenkünften zu laden. Dann werden mit ihnen — wie bei einem Elternabend in der Schule — alle Sorgen und Anliegen besprochen. Wir haben feststellen können, daß diese Zusammenkünfte, bei denen wir 3 bis 5 Vormünder gemeinsam zu uns bitten, für alle Teile von Vorteil sind.

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Hier wird die Leitlinie der psychischen Führung besprochen, ob Ausflüge angebracht sind oder Caf£-Einladungen und andere Kleinigkeiten genau wie der weitere Therapieplan auf der Station und die Möglichkeiten der Entlassung sowie der Resozialisierung im Leben. Betrachten wir Pflegschaft und Vormundschaft auf diese Weise, so haben wir eine verantwortungsvolle psychiatrische Aufgabe vor uns und Wege zu einer erfolgversprechenden individuellen Therapie eröffnet.

Wahlrecht Die bisherigen Wahlgesetze des Landes Nordrhein-Westfalen enthielten einen Absatz, der dem Sinne nach dem § 3 entspricht, der im Gesetz vom 14. 3. 1950 zur Abänderung des Landeswahlgesetzes von 1947 für das Land Nordrhein-Westfalen aufgenommen ist: „Die Wahlberechtigung ruht für Personen, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht sind oder sich in Strafhaft befinden." (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen, 4. Jahrgang, Nummer 13 vom 17. April 1950, S. 45.) In den Fassungen des Landeswahlgesetzes von 1947 und 1950 findet sich § 2 Ziff. 1 gleichlautend: „Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist: 1. wer entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistigen Gebrechens unter Pflegschaft s t e h t . . . " Die Landeswahlordnung vom 8. April 1954 auf Grund des § 41 des Gesetzes über die Wahl zum Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen vom 26. März 1954 bringt den § 2 in neuer Fassung und differenziert: „Vom Wahlrecht ist gemäß § 2 Ziff. 1 des Gesetzes ausgeschlossen wer am Wahltag a) wegen Geisteskrankheit entmündigt ist (§ 104 Ziff. 3 BGB); b) wegen Geistesschwäche, wegen Verschwendung oder wegen Trunksucht entmündigt ist ( § 1 1 4 BGB); c) nach § 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist (§ 114 BGB). (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen, 8. Jahrgang, Nummer 21 vom 14. April 1954, S. 96.) Unter Abschnitt V „Besondere Regelungen" werden in der Landeswahlordnung vom 8. April 1954 unter Nr. 3 in den §§ 56—61 die Ausführungsbestimmungen für die „Wahl in Kranken- und Pflegeanstalten" erlassen (a.a.O. Seite 104). Als bekannt wurde, daß gemäß diesen gesetzlichen Bestimmungen die Patienten in den Heilanstalten bei der Landtagswahl 1954 in Nordrhein-Westfalen wählen sollten und dies auf den Krankenabteilungen zur Sprache kam, sagte eine 50jährige Frau, Maria P., die an schnell aufeinanderfolgenden manischen Phasen leidet: „Wir braudien gar nicht zu wählen. Ich bin 23 Jahre h i e r . . . ! Wir braudien nicht zu wählen, wir sind alle entmündigt. Ich möchte nach Hause! Wir haben ja nodi nie gewählt. Das ist ja komisch, daß wir auf einmal wählen sollen! Was soll denn das auf einmal heißen? Was wollen die wieder von uns? Wählen tue ich nicht!"

Am Tage vor der Landtagswahl (26. 6. 1954) wurden den Patienten sinngemäß etwa folgende Fragen vorgelegt: „Was bedeutet die Landtagswahl?"

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„Was ist der Landtag?" „Wissen Sie, welche Parteien morgen gewählt werden können?" „Was wollen oder bedeuten die Parteien? Dabei ergab sich: „Aber Herr Doktor! Das ist doch klar! Das steht doch in der Zeitung: Wer nicht CDU wählt, entmündigt sich selbst!" (Frieda W., 54 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Dürfen wir wählen!? — Ob Fisch oder Aal, ist ja doch egal! — Ich weiß jetzt auch, was ich wähle: CDU, weil mein Zuname mit D u anfängt und weil ich so erzogen wurde wie ich bin." (Elfriede D., 23 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend hebephren.) „Ich meine, da sind so Zettels und da steht alles drauf. — Wenn man wüßte, daß man in diesen Dingen Vorteil hätte, würde ich Kommunismus wählen, wenn ich zur Kirmes dürfte. Das wär' schön! Ich möchte gar nix, nur mal so'n bißchen Geld haben." (Annemarie P., 30 Jahre, Debilität.) „Das ist so üblich. — Ich hab' auch schon früher gewählt. Morgen ist zu wählen, ob die Besatzung noch 5 Jahre bleibt oder ob der EVG-Vertrag anerkannt werden soll, das ist eine christliche Angelegenheit (EVG = evangelisch, d. Ref.); es wird gewissermaßen gemessen, neigt das Volk zur Christlichen mit sozialen oder zur Rechten mit Richtigkeit..." (Elisabeth H., 44 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Unsere Lehrerin früher hat uns alles erklärt. Wenn der Friedensvertrag kommen soll, muß man es anders machen, wie es der am Radio sagt, sonst wird es anders, und das wollen wir nicht." (Anita J., 30 Jahre, Imbezillität.) „ . . . Keine Ahnung von Politik, das ist Geschichte machen..." (Maria K., 34 Jahre, genuine Epilepsie.) „Das müssen Sie mir sagen, dann weiß ich das. Wir, wo wir hier in der Anstalt sind, wir sind doch nicht ganz bei Kasse. — Na, der, der mich hier rausläßt!" (Therese P., 44 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid, maniform gefärbt.) „ . . . wähle Kommunisten und keine CDU, denn das ist Adenauer, der hat uns hier reingesteckt . . . " (Gertrud B., 42 Jahre, debile Psychopathin.) „ . . . was wir sind, das bleiben wir . . . " (Sophia F., 78 Jahre, senile Demenz.) „ . . . mit deutschem Gruß — Heil Hitler! H a t 'ne Näherin gesagt, Hitler ist ein guter Mann." (Else B., 34 Jahre, genuine Epilepsie.) „Ich bin SPD, hab' gar nichts damit zu tun. Ich hab' meinen Mann, ich brauch* nicht zu wählen, in Frankreich und Schweiz auch SPD. Ob morgen Wahl, ist mir gleich. Ich will nach Hause! Ich bin 1915 geboren, als in Frankreich Krieg war." (Ottilie Z., 36 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend halluzinatorisch.) „ . . . ich wähl' Dr. H., daß er mich e n t l ä ß t . . . " (Bernhardine M., 69 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Ich bin genau so dof. Ich tu' das nicht. Dann tu' ich irgend was wählen, was nicht richtig ist, vielleicht Hitler, der lebt bestimmt noch in einer Ecke . . . " (Erika K., 24 Jahre, debile Psychopathin.) „Ich hab' nicht zu wählen, meine Sache ist schon erledigt. Ich bin 5 Jahre hier. Ich darf nicht wählen. Meine Sache ist 18 erledigt worden. Ich bin von der Arbeitsfront nach Breslau geschickt, da ist mein Regierungsbezirk, da kann ich wählen." (Martha B., 55 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Ich wähl', ich will raus in die Heimat, im großen Ganzen, ich wähl' Zentrum. Das darf man ja nicht sagen, das ist geheim." (Maria H., 45 Jahre, Debilität.) „Ich wähl Schwester Erika, weil sie so schön ist!" (Rosemarie B., 22 Jahre, Imbezillität.) „Wat soll ich denn wählen? Nazi?! Ich weiß, daß morgen Send (münsterische Bezeichnung für Kirmes, d. Ref.) ist, aber Wahl, das kann ich nicht. Ich weiß nicht, welche dran sind, jetzt am Ruder. Wenn Sie dabeistehen und der Direktor, dann weiß ich." (Gertrud H., 51 Jahre, Psychose des cyclothymen Formenkreises, vorwiegend depressiv.) 7 Praktische Psychiatrie

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„ . . . ich Eugen K . in Berlin für Ehescheidung . . . " (Erna P., 49 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, defekt.) „Ich -wähl' den Mann, der mit mir ins Bett geht!" (Rosalia L., 52 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Vielleicht ist das der Teufel! Warum soll ich wählen, wenn ich im Irrenhaus bin?" (Martha M., 48 Jahre, Klimakterische Psychose.) „Ich kann mir denken, daß ich wählen kann zwischen zwei Männern." (Elisabeth Sch., 37 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises.) „ . . . daß ich nach Hause hin möchte, für ganz . . . !" (Christine E., 25 Jahre, debile Epileptikerin.) „ . . . ich weiß nicht, mir geht's noch g u t . . . " (Bernhard B., 54 Jahre, genuine Epilepsie.) „CDU oder Dr.Brüning, der ist hier als Malermeister — oder Kreuzschar im kirchlichen Verein." (Alfons P., 33 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „ . . . . das ist die Wahlurne . . . muß man Stimmzettel reinwerfen, damit man Abgeordneten hat mit christlicher Auffassung." (Ludwig B., 66 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend halluzinatorisch.) „Zentrum! Was die wollen, weiß ich nicht, Landtag kenn' ich n i c h t . . . früher einmal Zentrum, da hab' ich Karten für verkauft . . . " (Wilhelm H., 76 Jahre, senile Demenz.) „Das ist eine soziale, wirtschaftliche Sache, die geht vorwärts, ob das der ist oder der. Ich wähl' nicht, die machen doch was sie w o l l e n . . . die haben sich ja noch gar nicht vorgestellt." (Wilhelm O., 38 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises.) „ . . . CDU, daß sie an Gott glauben und bejaht das K a p i t a l . . . SPD ist nur sozial für die Familie . . . " (Karl-Heinz Sch., 28 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises.) „ . . . es wird alle K Jahre gewählt. Die Herren müssen doch was zu tun haben und jeder freut sich, wenn er mal 'nen Posten hat und es kommen andere, die ihm auch mal ein Kreuzchen machen." (Heinrich Sch., 78 Jahre, Cerebralsklerose.) „ . . . ich hab' mich nicht bemüht, es lohnt sich n i c h t . . . " (Theodor L., 46 Jahre, intelligenter, Psychopath.) „ . . . weil ich königliche und kaiserliche Hoheit von Deutschland bin. Da würde ich mich ja erniedrigen! Das würde mich ja heruntersetzen, wenn ich mich zu einer Partei bekennen würde. Ich lass' mir von den Leuten in Bonn nicht stören. Ich bin der Herr über meine Persönlichkeit, das sind so Interessengruppen, die sich Partei unter verschiedenen Namen zusammengefunden..." (Bernhard H., 68 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Bei der Hitlerzeit bin ich wahlberechtigt gewesen, jetzt hab' ich einen Vormund. Wenn ich wieder darf, dann will ich auch mein Kreuz machen. Da stand immer J a und Nein." (Franz F., 63 Jahre, Debilität.) „Für einen neuen Landtag? Die Leute haben mir schon seit 20 Jahren das Wahlrecht genommen, und das steht mir z u . . . ! " (Bernhard F., 51 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, defekt.) „Das ist, daß andere Personen auch mal an 'n Tisch kommen, an den Tisch der oberen Zehntausend . . . Was wir sagen, ist richtig — was die sagen, sollen wir annehmen, daß das auch richtig i s t . . . " (Alex N., 24 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend halluzinatorisch.) „ . . . damit wir 'ne Lebensversicherung kriegen sollen . . ( W i l h e l m E., Progressive Paralyse, 46 Jahre.) „Katholisch und evangelisch sollen vereinigt werden. Die Katholiken, der Hitler, der hat die Juden rausgejagt, und das war der Verderb, und deshalb müssen sie vereinigt werden, dann wird es besser. Das U heißt nicht Unsinn, das ist U n i o n . . . , da kam ein Landrat und sagte das . . . ich bin der König von Polen . . . na sowas! Wir sind nicht zurechnungsfähig und wir sollen wählen!?! Die Parteien wollen nix . . . die Menschenherzen werden g e l e n k t . . . früher hab' ich mich politisch b e t e i l i g t . . . nun wollen wir s e h e n . . . ich hab' bis jetzt noch gut g e w ä h l t . . . ist ja 'ne Selbstverständlichkeit..." (Hermann E., 32 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid, defekt.)

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»Landtagswahlen oder was da sind, und da muß man schon was draufschreiben. Man war ja 7 Jahre Soldat, das ist Pflicht!" (Herbert Sch., 34 Jahre, epileptische Demenz.) „ . . . daß ich meine Freiheit wiederbekomme . . . Aufbau, Deutschland. Parteien sind für bess'res Dasein da, bess're Beköstigung, bess'ren Tabak . . . " (Gustav E., 50 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, defekt.) „Wenn ich einen Wahlzettel bekomme und einen Bleistift, dann wähle ich mir einen aus. — Ich hab' noch nicht drüber nachgedacht. — Da müßte idi ja erst mal n a c h d e n k e n . . . Das muß ich mir aber erst mal vornehmen, sonst kann ich das nicht." (Wilhelm V., 27 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „Partei weiß i c h . . . die b e s t e ! ! . . . wo es die meisten Zigaretten g i b t . . . woher soll idi wissen, wozu die da s i n d . . . wo ich das Kreuz mache, weiß ich." (Franz D., 22 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises.) „ . . . ist denn morgen Volksabstimmung? Bezüglich Aderlaß möchte ich doch was anderes sein als Graf von Monte Christo . . . " (Gerhard P., 30 Jahre, Psychose des schizophrenen Formenkreises, vorwiegend paranoid.) „ . . . wird jetzt gewählt, katholisch... weg mit de Kommunisten . . . Kohlen brauchen wir nicht, nur noch Neon, das kostet kein Geld, das wird Montag e i n g e f ü h r t . . . wir bauen ein Denkmal bei Verdun, wo ich gekämpft habe . . . ich wähle deutsch, demokratisch... die Zuchthäuser waren v o l l . . . Parteien . . . zur Regelung mit ausländischen Firmen regeln den Verkehr, Versicherungen und so w e i t e r . . . und Landtag macht im Lande die Viehordnung und die Soforthilfe, wo ich so lange drauf gewartet habe . . . Bundeskanzler soll ich werden . . . der paßt auf, daß alles in Ordnung ist, daß keine krummen Sachen passieren... aus den Kasernen mach' ich Cafés d r a u s . . . " (Karl H., 55 Jahre, Progressive Paralyse.)

Während des Wahlganges am 27. 6. 1954 konnte u. a. folgendes notiert werden: „Ein Kreuz soll ich machen . . . Ich will doch heiraten!" „Ich tu' in der M i t t e . . . " (des Stimmzettels, d. Ref.) „Bleistift auch mit einfalten? (Zählt laut auf:) A, B, C, D, E, F, G, H , (Anfangsbuchstaben des letzten Kandidaten auf dem Stimmzettel) . . . und hier der Kreis ein Kreuz mich . . . (Name der Kranken fängt mit I an). „Idi wähle Dr. H . ! „Was wählen denn die Ärzte? Mein Schwiegersohn ist Arzt, mit dem kann ich es mir doch nicht verderben." (Nach langem Suchen auf dem Stimmzettel) „Freie Demokratische Partei — frei! — frei! — die machen alle frei!" „ . . . früher Zentrum, jetzt CDU, das ist Infantrieü" (Lehnt ab, weint) „ . . . die wollen mir bloß w a s . . . " (meint die Herren der Wahlkommission). „Ich will wählen, weiß aber nicht wie." „ . . . will Deutschland wählen! Muß man unterschreiben?" „Für mich ist ein großer Uberlag (will wohl Überlegung sagen, d. Ref.) — Kinder! — BDM! (eine Partei ist BdD, Bund der Deutschen). „Will K P D wählen — ach, ich kann auch CDU wählen." (An der rechten H a n d behindert.) „Darf man vielleicht auch die linke H a n d benutzen?" „Wieviel Kreuze?" „Man braucht nicht zu wählen, wenn man tugendlos ist!" „Idi wähl die Partei, die den Schnaps billiger macht." „Kann man den Kaiser wählen? Steht der denn überhaupt drauf?"

Diese Beispiele ließen sich an Hand unserer Protokolle noch um viele gleiche und ähnliche vermehren. Von den abgegebenen Stimmen waren 49, d. h. 9 °/o ungültig. Wenn im Gemeindewahlgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen die gleichen Ände7*

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rungen, das Wahlrecht der Patienten in Heil- oder Pflegeanstalten betreffend, zur Geltung kommen, wie in dem Landeswahlgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 26. März 1954, so ergibt sich die beachtliche Tatsache, daß dann in kleineren Amtsbezirken, zu denen Heilanstalten gehören, die Patienten der Anstalt einen erheblichen Prozentsatz der Stimmberechtigten ausmachen, ja in einzelnen Fällen, infolge der Möglichkeit einer absoluten Mehrheit, für die Besetzung des Gemeinderates ausschlaggebend sein können. An Hand der Erfahrungen mit der Landtagswahl vom 27. 6. 1954 in Nordrhein-Westfalen muß vom verantwortungsbewußten psychiatrischen Standpunkt gesagt werden, daß dem geltenden Wahlgesetz vom Gesetzgeber wieder ein Paragraph angefügt werden sollte, in dem zum Ausdruck gebracht wird, daß das Wahlrecht für alle Personen, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht sind, ruht. Die jetzige Regelung, daß nur Personen, die entmündigt sind, unter vorläufiger Vormundschaft stehen oder wegen geistiger Gebrechlichkeit einen Pfleger haben, nicht wählen, ist juristisch gesehen einfach und klar. Unter den Verhältnissen in einer Heilanstalt ergeben sich aber ganz andere Perspektiven: Ein Patient mit einem angeborenen Schwachsinn vom Grade der Idiotie, der weder lesen noch schreiben kann, der nur in der Lage ist, einige Unk-Laute von sich zu geben und ständig gepflegt und betreut werden muß, wird zur Landtagswahl nach der Liste der Wahlkommission aufgerufen, da er nicht entmündigt ist, Angehörige interessieren sich nicht für ihn, Vermögen ist nicht zu erwarten, gegen seinen Aufenthaltsort kann er nicht protestieren, er kann auch nicht mündlich oder schriftlich querulieren — also besteht von keiner Seite ein Interesse oder Bedürfnis, diesen Kranken entmündigen zu lassen. Im Gegensatz dazu ist eine andere Kranke zu nennen, die nach einem abgeschlossenen Studium mit Promotion zum Dr. phil. noch Theologie studierte und im 8. Semester an einer Psychose des schizophrenen Formenkreises erkrankte, und zwar so schwer, daß sie wegen Geisteskrankheit im juristischen Sinne entmündigt werden mußte! Ihr Zustand war zur Zeit der Wahl so, daß sie sich für alles schon wieder interessierte. Diese Patientin war entrüstet, als sie erfuhr, daß sie nicht zur Wahl zugelassen werden könne und schimpfte im erregten Tone tagelang auf der Abteilung. Eine andere Frau mit einer klimakterischen Psychose mit vorwiegend religiösen Wahngedanken, ebenfalls mit erhaltener formaler Intelligenz, Mutter von 5 Kindern, beschwerte sich in erregter Weise darüber, daß man sie nicht nur entmündigt habe, sondern, daß man ihr auch noch das Wahlrecht nehme. Sie wisse ja, daß sie krank sei und oft schon durcheinandergeredet habe, daß man von ihr sage, sie habe einen .religiösen Fimmel', sie sei ja auch manchmal verdreht, aber so verrückt wie die (meint einige Schwachsinnige), sei sie noch nie gewesen; „die wirklich Unnormalen sind heute normal . . . ich beschwere mich beim Bischof!"

Auch bei diesen beiden Frauen handelt es sich nicht um Einzelfälle! Soll das geltende Wahlgesetz von Nordrhein-Westfalen so ausgelegt werden, daß derjenige entmündigt werden kann, der „seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag", daß unter „Angelegenheiten" auch verstanden werden soll, daß derjenige sein Wahlrecht nicht ausüben kann? Dann könnten, dann müßten noch viele Entmündigungsverfahren eingeleitet werden. Wenn man nicht vorzieht, die Regelung der Wahlverhältnisse in den Heil- und Pflegeanstalten wieder dem Zustande vor 1954 anzugleichen, d. h. daß in den Anstalten nicht gewählt wird, also das Wahlrecht für die Geisteskranken und Geistesschwachen ruht, so müßte man sich im Sinne einer individuellen Behandlung und gerechten demokra-

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tischen O r d n u n g besondere Gedanken über die Wahlmündigkeit machen. Dieser Begriff wäre dann als besondere Angelegenheit f ü r eine Einrichtung einer Pflegschaft herauszuheben. In diesem Falle hätte der Pfleger nur die Aufgabe, d a f ü r zu sorgen, d a ß der Betroffene als nicht wahlberechtigt aus den Wahllisten gestrichen würde. Andererseits müßte f ü r differenzierte Kranke, die entmündigt werden sollen, bei denen die Vormundschaft auch als eine Maßnahme angesehen werden muß, die über längere Zeit aufrechterhalten bleiben soll, die Möglichkeit offen lassen, wahlmündig zu bleiben, d. h. ihres Wahlrechtes durch die Entmündigung nicht verlustig zu gehen. Wollte man diese Probleme juristisch in Paragraphen fassen, so ergäben sich große Schwierigkeiten, zur Durchf ü h r u n g wäre bei den Gerichten sicher die Einrichtung neuer Kammern und bei Obergerichten neuer Senate f ü r die Beschwerden notwendig. Sicher ist, daß die gegenwärtige Regelung keine gerechte ist und nur U n r u h e schafft. Vom Standpunkt einer individuellen Behandlung unserer Patienten müssen wir Wahlen in Heilanstalten ablehnen. Bei der letzten Wahl wußte die Öffentlichkeit kaum etwas davon, daß die Kranken in den Heilanstalten mitwählen. Man stelle sich vor, d a ß bei einer neuen W a h l die P a r teien beanspruchen, Wahlversammlungen in den Heilanstalten abhalten zu wollen! Wenn man die Wahl selbst ermöglicht, so findet sich genauso wenig eine Begründung, etwa eine solche Wahlpropaganda abzulehnen. W e n n wir auch bestrebt sind, das Milieu der Anstalt in jeder Weise soweit als möglich den normalen Verhältnissen anzugleichen, so glauben wir, in diesem Punkte doch zur Zurückhaltung verpflichtet zu sein. Wir sind der Meinung, daß kein Unrecht geschieht, wenn das Wahlrecht unserer Kranken f ü r die Zeit ihres Anstaltsaufenthakes ruht. Sollte aber von seiten des Gesetzgebers an den jetzigen Bestimmungen festgehalten werden, so geben wir zu bedenken, daß der Begriff der Wahlmündigkeit ernsthaft erwogen werden müßte, da die Probleme individuell verschieden gewertet werden müssen und nicht schematisch angesehen werden können.

Verminderte Zurechnungsfähigkeit Vielfach ist die Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen als die Schicksalsfrage des Strafrechts bezeichnet worden, insonderheit das Problem der psychopathischen Persönlichkeiten. Es wird befürchtet — da ein „Normaler" nicht fortlaufend straffällig wird —, d a ß jeder Gewohnheitsverbrecher schließlich als „abnorm" begutachtet wird und damit straffrei oder strafmildernd beurteilt werden muß, so daß f ü r den Strafvollzug nur noch diejenigen übrig bleiben, denen gelegentlich eine strafbare H a n d l u n g unterläuft. Vom verantwortlichen forensisch-psychiatrischen Standpunkt treffen diese Befürchtungen jedoch höchstens f ü r zu stark psychoanalytisch profilierte oder „psychologisierende" G u t achter zu, die damit den wissenschaftlichen Boden verlassen. Als Beispiel sei Kaplan erwähnt, dessen psychoanalytisch orientierte Betrachtung zu Problemen der Strafjustiz in dem Schlußsatz gipfelt: „So bestätigt sich wieder die s e e l i s c h e I d e n t i t ä t von Verbrecher u n d Richter." Auf diese „nicht mehr auf dem Boden des geltenden Rechts stehenden gewissen psychoanalytischen Auffassungen" weist besonders eingehend Leferenz in seinem zusammenfassenden Bericht hin. Die Bemühungen um Einführung eines Paragraphen f ü r die besonderen Verhältnisse der Gruppe von Personen, die als vermindert zurechnungsfähig angesehen werden müssen,

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datieren seit 1869. Im Entwurf I der Strafreditsform hatte man den Strafmilderungsgrund für vermindert Zurechnungsfähige aufgenommen. Im Entwurf II, der zur Annahme gelangte, war dieser Vorschlag aber wieder abgelehnt worden (zit. nach Mayer). Immer wieder wurden in den Jahrzehnten danach Reformentwürfe eingereicht, die den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit einführen wollten. Schließlich wurde die Fassung des § 51 StGB, in der heute geltenden Form 1934 geprägt: „Unzurechnungsfähigkeit, verminderte Zuredinungsfähigkeit" „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe e r h e b l i c h vermindert, so kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden." Wir haben das "Wort „erheblich" aus dem geltenden Gesetzestext herausgehoben, weil wir hier den Angelpunkt für Mißverständnisse und Verwässerungen des § 51 Abs. 2 StGB., wie er in der Praxis gehandhabt wird, sehen. Ergibt sich doch, wenn man in den gebräuchlichen Lehrbüchern des Strafrechts, im Kommentar für das Strafgesetzbuch sowie den Lehrbüchern der gerichtlichen Medizin nachschlägt, daß man dabei praktisch nur auf dten Begriff der „verminderten Zurechnungsfähigkeit" stößt, sowohl als Überschrift als auch im Text, wenngleich hier natürlich darauf hingewiesen wird, daß die Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert sein müsse. Langeläddeke weist beim Vergleich der zu Rate gezogenen Literatur am eingehendsten auf die Betonung des „erheblich" hin, während z. B. bei de Crinis der Begriff im erläuternden Text überhaupt nicht erwähnt wird. Selbst in der für den Juristen und Psychiater so wichtigen kritischen Stellungnahme zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit von K. Schneider werden die Fragen der verminderten Zurechnungsfähigkeit nur zum Schluß am Rande behandelt. Und auch K. Schneider spricht lediglich von der verminderten Zurechnungsfähigkeit ohne weitere Differenzierung zwei Abschnitte nach der Zitierung des § 51 StGB. Aber diese Nichtbeachtung, Übersehung oder Vernachlässigung der besonderen Hervorhebung der im § 51 Abs. 2 StGB ausdrücklich festgesetzten „erheblichen" Verminderung der Zuredinungsfähigkeit in den einschlägigen Hand- und Lehrbüchern sowie Nachschlagewerken — und besonders oft in der Praxis — ist nicht verwunderlich, wenn man im § 42 b StGB des gültigen Gesetzestextes liest: „ H a t jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit ( § 5 1 Abs. 1; § 55 Abs. 1) oder der v e r m i n d e r t e n Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t (gesperrt vom Ref.) § 51 Abs. 2 ; § 55 Abs. 2) begangen, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Dies gilt nicht bei Ubertretungen. Bei v e r m i n d e r t e r Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t bringung neben die Strafe."

(gesperrt vom Ref.) tritt die Unter-

Im Kommentar von Schönke heißt es zum § 42 b StGB unter III, 2:

„Bei Begehung der T a t muß der Täter zuredinungsunfähig (§ 51 Abs. 1; § 55 Abs. 1) oder v e r m i n d e r t z u r e c h n u n g s f ä h i g ( § 5 1 Abs. 2 ; § 55 Abs. 2) gewesen sein. Es ist erforderlich, daß die Zurechnungsunfähigkeit oder v e r m i n d e r t e Zurechnungsfähigkeit vom Gericht festgestellt wird."

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Sicher ist jeder, der den § 51 Abs. 2 zugesprodien erhalten hat und als erheblich vermindert zurechnungsfähig angesehen worden ist, auch vermindert zurechnungsfähig, da eine erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit eine verminderte Zurechnungsfähigkeit als umfassenderenden Begriff einbezieht. Wen will der Gesetzgeber im § 42 b StGB aber mit dem bedeutend weiter gefaßten Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit erfassen, wenn eine Erkennung auf Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt nur im Zusammenhang mit § 51 StGB möglich ist, worin eine e r h e b l i c h verminderte Zurechnungsfähigkeit gefordert wird? Ist es durch die Unklarheit dazu gekommen, daß vielfach von Richtern, Verteidigern und Gutachtern nur noch von verminderter Zurechnungsfähigkeit gesprochen wird bzw. daß verminderte und erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit in der Praxis oft gleichgesetzt werden, als könne man hier nicht näher differenzieren? Kommt auf diese Weise die Verwässerung des § 51 Abs. 2 zustande, vor der vor Einführung desselben schon gewarnt wurde? Kann es so erklärt werden, daß der § 51 Abs. 2 hier und da als „Kompromiß-Paragraph" benutzt wird? Man kann sich häufig des Eindruckes nicht erwehren, daß der § 51 Abs. 2 sowohl von juristischer, d. h. von richterlicher Seite, als auch von medizinisch-psychiatrischer Warte gesehen, als rettende Insel „in dubio pro reo" aufgefaßt wird — von der Sicht der Verteidigung wird er sowieso in dieser Weise ausgelegt. „Das Schlimmste ist", schreibt K. Schneider, „wenn ein Sachverständiger damit seine klinisch-diagnostische Unsicherheit und Verlegenheit deckt und aus ihr heraus ,für alle Fälle' diesen Mittelweg ( § 5 1 Abs. 2; d. Ref.) wählt — man hat nicht zu Unrecht auch von ,vermindert zurechnungsfähigen Sachverständigen* gesprochen. Schlimm ist es auch noch, wenn der Sachverständige in Fällen, die er auch bei bestem Können nicht lösen kann, auf diesen Kompromiß verfällt." Und wir verstehen den Gesichtspunkt von Wildermuth, wenn er sagt: „Man kann sich, bei allem Respekt vor der verantwortungsbewußten Gründlichkeit der Gutachter oft nur schwer des Eindrucks erwehren, daß diese vor der schwierigen Entscheidung gewissermaßen auf §§ 51, 2 und 42b ausweichen: dabei sind alle Teile befriedigt: der Staatsanwalt kann eine Strafe beantragen, der Richter eine verhängen, der Rechtsanwalt hat einen leichten Stand, der Angeklagte kommt mit einer kleinen Strafe davon und der Gutachter ist um eine unangenehme Entscheidung herumgekommen. Das Nachsehen haben die Anstalten und ihre Insassen, in und bei welchen der Kriminelle nach einigen Wochen oder Monaten auftaucht, wo er nichts zu suchen hat und wo man nichts mit ihm anfangen kann." Der § 51 Abs. 2 StGB wurde für alle die Fälle eingeführt, bei denen eine erhebliche Minderung der Willensfähigkeit oder Einsiditsfähigkeit vorliegt, „wenn der Fall nahe an die Grenze des § 51 Abs. 1 heranreicht" {Mayer) und bei „Bewußtseinsstörungen geringeren Grades, welche nicht im Sinn des Abs. 1 ausreichen, können zur Strafmilderung nach Abs. 2 führen, wenn sie immerhin ,erheblich' sind" (Mayer), sowie bei krankhafter Störung der Geistestätigkeit und Geistesschwäche. Die Psychiatrie ist unter den Wissenschaften eine der jüngsten. Seit der Einführung des § 51 Abs. 2 StGB sind inzwischen wiederum zwanzig Jahre vergangen, in denen in unserem Fach — abgesehen von den therapeutischen Neuerungen — auch die Diagnostik stetig fortgeschritten ist.

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Es sei erwähnt, daß z. B. vor 1934 die Entnahme der Rückenmarksflüssigkeit noch als Seltenheit angesehen werden mußte. Seitdem kann für alle Kliniken und Heilanstalten die Liquorpunktion als obligatorisch betrachtet werden. Die Röntgentechnik zur Vornahme von Schädelaufnahmen und Enzephalographien ist verbessert. Vielerorts können Elektrenzephalogramme gemacht werden. Durch diese medizinisch-technischen Untersuchungen wird z. B. das Krankheitsbild der Epilepsie eingeengt, Hirnverletzungen als solche erkannt und mancher, der früher als Psychopath aufgefaßt wurde, als „organisch" festgestellt sowie „angeboren Schwachsinnige" als „exogen" erkannt. Die Psychologie entwickelte die verschiedensten Testverfahren, die uns helfen, die Persönlichkeit und deren Charakter zu enträtseln, seine Interessen und Strebungen — seien sie bewußt oder unbewußt — zu erkennen. Wir haben Möglichkeiten, auch auf dem Wege über den Test die Intelligenzqualitäten und die geistige Entwicklungsstufe zu erfassen, Hirnleistungsschwächen festzustellen, „moralisch-esthische Defekte" aufzufinden und auch Pseudodemente, Aggravanten oder Simulanten zu entdecken. Nicht zuletzt haben wir durch die Psychopathologie von Jaspers und die Schule von K. Schneider ein Gespür für differenzierte phänomenologische Beobachtungen bekommen und die Beachtung aller ausdruckspsychologischen Momente haben uns Klaesi, Leonhard, Lersch und Mauz besonders gelehrt. Vom forensich-psychiatrisch-psychologischen Standpunkt aus glauben wir durchaus in der Lage zu sein, zwischen Zurechnungsfähigkeit, erheblich verminderter und verminderter Zurechnungsfähigkeit unterscheiden zu können. Um nicht in einer kasuistischen Diskussion, z. B. allein über den Psychopathiebegriff, unterzugehen, soll als Modellfall die Geistesschwäche im medizinischen Sinne, also der Schwachsinn, sei er nun als angeboren oder erworben anzusehen, für unsere Dreiteilung dienen. Als schwere Grade werden die Idiotie von der Imbezillität und Debilität bei der Beurteilung getrennt. Ein Idiot ist in jedem Fall als nicht zurechnungsfähig zu betrachten. Bei einem Imbezillen wird häufig eine Ermessensfrage bestehen bleiben, aber die Lebensbewährung den Entscheid geben, ob er nur als vermindert zurechnungsfähig oder aber als erheblich vermindert zurechnungsfähig angesehen werden muß. Nach unserer Einteilung wird ein Debiler praktisch nicht mehr den Schutz des § 51 Abs. 2 erhalten können, sondern allenfalls als vermindert zurechnungsfähig beurteilt werden. Die Verhältnisse bei den anderen Krankheitsmöglichkeiten, die bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zur Debatte stehen, sind natürlich vielgestaltiger, aber können sinngemäß in gleicher Form betrachtet werden. So wird jeder Psychotiker, wie bisher, als zurechnungsunfähig bezeichnet; als erheblich vermindert zurechnungsfähig werden vorzugsweise die ,Organiker' angesehen werden müssen, wie die „pseudopsychopathischen" Verhaltensweisen der Postenzephalitiker, Wesensänderungen bei Epilepsie oder arteriosklerotisch bedingte Demenzen usw., soweit sie nicht zurechnungsunfähig sind; die Gruppe der psychopathischen Persönlichkeiten sollte — wenn überhaupt — dann nur als vermindert zurechnungsfähig beurteilt werden. Sie werden hier mit Absicht nur kurz erwähnt, da die Kasuistik im Rahmen dieser Mitteilung eher zur Verwirrung als zur Klärung beitragen würde; deshalb der Bezug auf das nachfolgende Schema.

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Welcher Art soll nun die neu einzusetzende strafrechtliche Bestimmung sein, die für die verminderte Zuredinungsfähigkeit angemessen ist, wenn die angeführten Maßstäbe gelten? Wir folgen hier den Juristen. Hierzu ist als Vorbemerkung zu erläutern, daß der Begriff „Geisteskranke" im juristischen Sinne zu verstehen ist. Wie sehr nicht nur die Terminologien der beiden Fächer auseinanderklaffen, sondern auch die sprachlichen Auslegungen der Begriffe auseinandergehen, geht daraus hervor, daß z. B. Mayer sagt: „Die größten Unklarheiten für die juristische Begriffsbildung verursacht der Begriff P s y c h o p a t h i e . Sprachlich heißt das gerade Geisteskrankheit..." Vom medizinischen Standpunkt können alle seelischen und geistigen Störungen und Krankheiten sowie die psychopathischen Persönlichkeiten vom juristischen Terminus „Geisteskranke" umgriffen werden. R. v. Hippel schreibt: „Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß im weitesten Umfange K i n d e r und G e i s t e s k r a n k e durch die Vorschriften des Rechtes, insbesondere des Strafrechts, beeinflußt werden, und zwar in genau derselben Art wie zurechnungsfähige Erwachsene: ganz regelmäßig nicht durch Lesen des Gesetzes, sondern dadurch, daß dessen Forderungen ihnen überall in Erziehung und Leben als verbindlich entgegenstehen" (zitiert nach Wegner). Wir können diese Ansicht an Hand der Verhältnisse in den Heilanstalten, in denen die Arbeits-, Beschäftigungs- und Milieutherapie aktiv betrieben wird, nur bestätigen. Hieraus folgern wir den Vorschlag für § 51 Abs. 3 StGB: „ W a r die F ä h i g k e i t , das U n e r l a u b t e der T a t e i n z u s e h e n o d e r n a c h d i e s e r E i n s i c h t zu h a n d e l n , z u r Z e i t d e r T a t aus e i n e m d i e s e r G r ü n d e v e r m i n d e r t , so k a n n d i e S t r a f e n a c h d e n V o r s c h r i f t e n ü b e r die B e s t r a f u n g des V e r s u c h s g e m i l d e r t w e r d e n . " Und der § 51 Abs. 2 StGB ändert sich wie folgt: „War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert, so w i r d die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert." Wir fassen unser Modell zum besseren Überblick zusammen: § 51 Abs. 1: Zurechnungsunfähigkeit § 51 Abs. 2: erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit § 51 Abs. 3: verminderte Zuredinungsfähigkeit

Idioten

Psychotiker

Debile

,Organiker'

Imbezille

Psychopathen

Demzufolge hat die Uberschrift des § 51 StGB zu lauten: „ Z u r e c h n u n g s u n f ä h i g k e i t , e r h e b l i c h v e r m i n d e r t e und v e r m i n derte Zuredinungsfähigkeit." Hierzu sagt Schultze bereits 1926: „Ich halte es für ein gutes Recht auch des Psychiaters, wenn er nicht nur hinsichtlich des Inhaltes, sondern auch des Wortlautes an dem Entwurf Kritik übt, so habe ich früher den Ausdruck Unzurechnungsfähigkeit bemängelt. Ich wies darauf hin, daß doch offenbar die Fähigkeit, für eine Straftat verantwortlich gemacht zu werden, verneint werden soll, wie man denn auch nur von Geschäftsunfähigkeit oder Zeugungsunfähigkeit spricht."

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Verminderte Zurechnungsfähigkeit

Im § 42 b StGB ist bei der zweimaligen Erwähnung der verminderten Zurechnungsfähigkeit das Wort „ e r h e b l i c h " davor einzufügen. Für vermindert Zurechnungsfähige ist die Anwendung des § 42 b StGB nicht erforderlich. Vorzugsweise werden Psychopathen und Schwachsinnige vom § 51 Abs. 3 StGB betroffen werden. Wenn für sie besondere Maßnahmen getroffen werden sollen, so liegen diese zum geringeren Teil auf medizinisch-psychiatrischem Gebiete, also den Möglichkeiten, die eine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt gewährleisten — sondern mehr auf pädagogischem bzw. psychagogischem Sektor. Ist die Zusammenarbeit von psychologisch versiertem Juristen, Erzieher und Psychiater gewährleistet, so bietet sich — analog den Jugenderziehungsstraflagern — die Lösung des Arbeitshauses für die betroffene Personengruppe an. Deshalb sollte die Einführung einer Erweiterung des § 42 d StGB mit folgendem Wortlaut im Zusammenhang mit dem Vorschlag des § 51 Abs. 3 StGB erwogen werden: „ H a t j e m a n d e i n e m i t S t r a f e b e d r o h t e H a n d l u n g im Z u s t a n d d e r v e r m i n d e r t e n Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t b e g a n g e n , so k a n n d a s G e r i c h t n e b e n d e r S t r a f e s e i n e U n t e r b r i n g u n g in e i n e m A r beitshaus anordnen." Ein Beispiel eines Mannes, für den der § 51 Abs. 3 StGB in Verbindung mit der Ergänzung zum § 42 d StGB angebracht ist, soll mit der gekürzten Beurteilung des Strafgutachtens gegeben werden. In diesem Fall, wo in der I. und II. Instanz eine Strafe von zwei Jahren Gefängnis ausgesprochen wurde, haben wir in eingehenden Gesprächen mit den Juristen, den Richtern, dem Staatsanwalt und' Verteidigern während der mehrtägigen Hauptverhandlungen sprechen können. Wir kamen alle zu dem Schluß, daß dieser Mann weder im Gefängnis, noch im Zuchthaus — hiervor rettete ihn in der II. Instanz nur, daß lediglich die Verteidigung und nicht die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hatte —, oder in einer Heilanstalt am rechten Platz sei, sondern am besten in ein Haus zur Überwachung durch die Justiz eingewiesen werden müsse, das unter psychagogischen Gesichtspunkten geleitet wird und bei ärztlich-psychiatrischer Beratung, also einer moderneren Form dessen, was heute als Arbeitshaus bezeichnet wird, mit der Möglichkeit zu disziplinären Maßnahmen: „Wir haben in U. einen jetzt fast 44 Jahre alten Mann vor uns. Über seine Familie und seine eigene Kindheitsentwicklung ist nidit viel bekannt. Er hat die Volksschule besucht und ist mindestens einmal sitzengeblieben. Nachdem er aus der Schule entlassen ist, fängt er in einem Eisenwerk eine Lehre als Schlosser an. Er kann jedodi dem zu dieser Ausbildung zugehörigen theoretisdien Unterricht (Waggonschlosserei) nicht folgen, scheidet aus der Lehre aus und bleibt als angelernter Arbeiter in dem Eisenwerk bis zu seinem 20. Lebensjahre. Seit dieser Zeit hat U. eigentlich keine regelrechte, länger andauernde Arbeit mehr gehabt bzw. durchgehalten. Als er 18 Jahre alt ist, wird er zum ersten Male bestraft, 1928 wird er wegen Diebstahls zu 6 Tagen Haft bestraft. Sein Vorstrafenregister enthält bis zum Jahre 1942 insgesamt 8 Strafen. Eine längere Pause ist nur von 1933 bis 1937 festzustellen. Während dieser Zeit ist U . zuerst im freiwilligen und danach im Reichsarbeitsdienst gewesen. Er erreichte den Dienstgrad eines Truppführers, der dem eines Unteroffiziers bei der Wehrmacht entspricht. U. heiratet 1934. Im gleichen Jahre wird für ihn bereits beim Wohlfahrtsamt des Kreises L. eine Fürsorgeakte angelegt. Seit dieser Zeit ist U . bis heute praktisch nicht mehr mit seiner Familie aus der fürsorgerischen Betreuung entlassen worden. Bezeichnend ist der Hinweis in den Akten des .Fürsorgefalles U., daß die Familie nur Ruhe und geregelte Verhältnisse gehabt hat, als U . zur Wehrmacht eingezogen worden ist'.

Verminderte Zurechnungsfähigkeit

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Über die Zeit bei der Truppe weiß U . bis in alle Einzelheiten zu berichten. Ebenso sind ihm die Umstände, die zu seinen Verwundungen geführt haben, genau bewußt. Während der Militärzeit ist U. jedoch auch zweimal bestraft worden. Zum großen Teil sind die Strafen ausgesetzt worden, und er bekam sogar ,Frontbewährung', d. h. er wird zur kämpfenden Truppe an Brennpunkte des Kriegsschauplatzes in Rußland geschickt. Hierbei wird er mehrfach verwundet. Im Juli 1944 erleidet U . eine Kopf Verwundung durch Granatsplitter. Alles, was seine Persönlichkeit und seine allgemeinen Verhaltensweisen bis zu diesem Zeitpunkt betrifft, seine Anlagen, seine Erziehung, sein .Milieu', das, was er gelernt hat und was er daraus gemacht hat, alles dies zusammengenommen, ist seine „praetraumatische Persönlichkeit"; alles, was danach mit ihm und durch ihn, U., gesdiieht, geht von der sog. „posttraumatischen Persönlichkeit" aus. U n d jetzt können wir erkennen, daß sich in seiner Persönlichkeit durch dieses Trauma der K o p f verwundung nichts ändert. Wir finden nichts bei U., was d a f ü r spräche, daß ein ,Knick' in seiner weiteren Persönlidikeitsentwicklung zu verzeichnen wäre. Ebenso haben wir bisher keinen Anlaß dazu, anzunehmen, daß ein langsamer Persönlichkeitsabbau oder gar Persönlichkeitsverfall bei ihm vor sich ginge. Auch f ü r eine sog. ,Hirnleistungsschwäche' können wir an H a n d unserer Prüfungen keinen Anhaltspunkt finden. U. gibt an, gelegentlich ,Anfälle' zu haben. Bei seinen verschiedenen Aufenthalten in Kliniken sind diese, genau wie bei seinem Aufenthalt hier in der Anstalt zur Beobachtung, vereinzelt beschrieben. Diese vorliegende Anfallsform spricht d a f ü r , daß eine gewisse Hirnbeteiligung angenommen werden kann, daß sich ein , H e r d ' gebildet hat, von dem in großen Abständen hin und wieder ein krampfähnliches Zustandsbild ausgelöst werden kann. Diese nicht generalisierten Anfälle sind bezeichnend f ü r Krampfleiden, wie sie nach Verletzungen oder Verwundungen des Kopfes auftreten können. Glücklicherweise brauchen sie nicht die Intelligenz des Betroffenen zu beeinträchtigen; auch wird das Persönlichkeitsniveau nicht immer beeinträchtigt. Vergleichen wir nun die praetraumatische mit der posttraumatischen Verhaltensweise, so ergibt sich, daß sich bei U. praktisch nichts geändert hat. Es ist lediglich zu vermerken, daß gelegentlich, meist im Abstände von Monaten, Anfälle auftreten und daß er, wie er sagt, unter K o p f schmerzen zu leiden hat, was als glaubhaft unterstellt werden kann. U. neigt nach wie vor dazu, kleine Straftaten zu begehen; er liebt es, sich zu betrinken; auch in seiner H a l t u n g seiner Familie gegenüber ist er in den Jahren vor dem Kriege genauso asozial gewesen, wie er es jetzt auch noch ist. Für bezeichnend halten wir f ü r das Wesen des U., wie er in den Briefen des Kreisgruppenleiters des Hirnverletztenbundes geschildert wird. Wenn selbst ein Vertreter dieses Bundes darauf hinweist, daß ihm das Verhalten des U. und seine Renommiererei mit dem Begriff .Hirnverletzter' nicht p a ß t , so spricht dies f ü r sich, da sich gerade dieser Bund die Vertretung der berechtigten tigten Interessen aller Hirnverletzten zur Aufgabe gemacht hat. Wir können auf diese Urteile unserer Vorgutachter hinweisen, die alle in ihren schriftlichen Aufzeichnungen zu einem übereinstimmenden Urteil kommen. Dr. X . betont, daß das Verhalten des U. der inneren Haltlosigkeit des U. entspringt, die er bereits durch seine Straftaten seit 1920, also lange vor der Hirnschädigung, unter Beweis gestellt habe. D r . X . sagt auch, daß die „Praemorbide Persönlichkeit" (praemorbid-praetraumatisch) des U. dagegenspräche, daß der Alkoholmißbrauch als Folge einer Wesensänderung infolge Hirnverletzung anzusprechen sei. D r . Y. in B. hebt ausdrücklich hervor, daß es sich bei U . ,um einen auch v o r der Hirnverletzung sehr schwierigen Menschen, um einen Asozialen und Arbeitsunwilligen gehandelt hat'. Und wir schließen uns dem Urteil des Gutachtens des Hirnverletzten-Institutes B. an, wenn U. f ü r .einen haltlosen, asozialen Psychopathen' angesehen wird. Bei Berücksichtigung der Tatsache, daß während all der langen Beobachtungszeiten bisher nie ein Unruhe-, Erregungs- oder Dämmerzustand im Anschluß an die Anfälle beobachtet werden konnte, sind wir f ü r die U . in diesem Verfahren zur Last gelegte S t r a f t a t der Meinung, d a ß ,die Hirnverletzung . . . gemessen an den neurologischen Ausfallserscheinungen nicht erheblich sein dürfte* und ,da sie trotz des traumatischen Anfallsleidens praktisch keine Wesensänderung herbeigeführt hat, keinen Einfluß auf die Zurechnungsfähigkeit hat'. Zu erörtern bleibt, inwieweit die Zurechnungsfähigkeit bezüglich des Intelligenzniveaus des U. f ü r beeinträchtigt angesehen werden konnte. Wir haben U . einer eingehenden P r ü f u n g der In-

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Verminderte Zurechnungsfähigkeit

telligenzqualitäten unterzogen. Es können aber nicht nur die schriftlich fixierten Ergebnisse gewertet werden, sondern der Gesamteindruck — auch von den psychodiagnostischen Testen — muß bei der Beurteilung mit bewertet werden. Aus diesem Grunde sind wir der Meinung, daß U. wohl minderbegabt ist, aber höchstens als schwachsinnig leichteren Grades angesehen werden kann. Die Minderbegabung ist in keinem Falle als so hoch zu veranschlagen, daß sie forensischpsychiatrisch von Bedeutung sein könnte, d. h., daß der § 51 Abs. II StGB in Erwägung gezogen werden könnte; denn ein e r h e b l i c h e r Schwachsinn liegt nicht vor, so daß auch aus diesem Grunde seine Zurechnungsfähigkeit nicht als erheblich vermindert anzusehen ist. Unser abschließendes Urteil lautet: Es handelt sich bei U. um einen haltschwachen, erregbaren Menschen, der in seinem ganzen Leben — bis auf seine Jugendzeit — nie einer geregelten Tätigkeit nachgegangen ist. Seit 1928 ist er fortlaufend straffällig geworden. Seit 1934 — dem Jahre seiner Heirat — fällt er fortgesetzt der Wohlfahrt zur Last und überläßt der Fürsorge zum großen Teil die Betreuung seiner Familie. Bei der Wehrmacht wird U. ebenfalls straffällig. 1944 erleidet er eine Kopfverwundung. Als Folge davon treten später Anfälle auf. Sein Lebenswandel ändert sich nach dem Kriege nicht. U. bleibt dem Trünke ergeben, benimmt sich gesellschaftsfeindlich und kümmert sich wenig um seine Frau und seine Kinder. Weiterhin begeht er kleine Straftaten: Diebstähle, Betrügereien, Körperverletzung. Durch die Kopfverwundung und dessen Folgen lassen sich bei U. in seinem Lebenswandel keine Änderungen feststellen, die für seine strafrechtliche Beurteilung vom psychiatrischen Standpunkte von Belang wären. Im wesentlichen entspricht seine praetraumatisdie Persönlichkeit der bei ihm zu beobachtenden posttraumatischen Persönlichkeitsentwicklung. Wir halten U. für die ihm zur Last gelegte Straftat für verantwortlich. Der Schutz des § 51 Abs. 1 oder 2 StGB kann ihm vom psychiatrischen Standpunkte aus nicht zugebilligt werden. Bei der bei U. vorliegenden Persönlichkeitsstruktur, insbesondere seinem asozialen, arbeitsscheuen Verhalten, ist mit weiteren Straffälligkeiten bei ihm sicher zu rechnen." Wäre U . der Schutz des § 51 Abs. 2 StGB zugebilligt worden, so hätte das Gericht bei Beachtung der langen Reihe einschlägiger Vorstrafen auch auf § 42 b StGB erkennen müssen. U n d in einer Heil- viel weniger in einer Pflegeanstalt ist U . am Platze. Für diese forensisch-psychiatrischen Fälle können die Ausführungen von Wildermuth nicht deutlich genug hervorgehoben werden. In den Heilanstalten, die die Patienten aufnehmen, bei denen die Gerichte gemäß § 42 b StGB entschieden haben, ist der Anteil der schwachsinnigen Psychopathen, psychopathischen Schwachsinnigen oder Untergebrachten mit ,Psychopathie von Krankheitswert' etwa 20 Prozent. Diese wären am besten in einem Arbeitshaus mit den geschilderten pädagogischen und therapeutischen Möglichkeiten aufgehoben. Von dem Personal in den Heilanstalten, die für die gerichtlich untergebrachten Patienten eingeteilt sind, haben 40 bis 50 Prozent der Pfleger und Schwestern mit diesen 20 Prozent von Schwachsinnigen und Psychopathen und ihren Reaktionen zu tun, werden also dem eigentlichen Pflegeund Heildienst an den übrigen ihrer bedürftigen Kranken entzogen. D i e nach § 42 b StGB untergebrachten Kranken sollten ebenfalls aus dem Rahmen der Heilanstalten herausgenommen werden, damit von den übrigen Patienten das Odium der Gefährdung durch Kriminelle oder gar eine Gleichsetzung mit diesen genommen wird. Es ist eine besondere Härte, wenn unsere seelisch Kranken mit geisteskranken Verbrechern oder verbrecherischen Geisteskranken gemeinsam auf einer Abteilung sein müssen, da die Sicherungsmaßnahmen über den sonst üblichen Rahmen hinaus der Erweiterung bedürfen. Die ,normalen Geisteskranken' wie auch die Criminellen Geisteskranken' würden in jeder Weise, beide Teile für sich, mehr zu ihrem Recht kommen können, wenn sie gesondert, d. h. an verschiedenen Orten, in unabhängig voneinander arbeitenden Anstalten untergebracht wären.

Schlußwort

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Schlußwort Allgemein kann von allen Ländern gesagt werden, ob an H a n d der Literatur, von Berichten anderer oder aus eigener Anschauung, daß die aktuellen Fragen — medizinisch, sozial, juristisch gesehen — praktisch gleich sind. Trotz der Verbesserung der somatischen Behandlungsmethoden steigen die Zahlen der in Anstalten untergebrachten Kranken. Fast überall sind die Kliniken und Anstalten überbelegt und es werden Neubauten geplant. Durch die Überfüllung wird der Raum immer enger. Das jährliche Ansteigen der anstaltsbehandlungsbedürftigen Patienten hängt zum Teil mit der immer engeren Belegung der Räumlichkeiten zusammen. Die gegenwärtigen Verhältnisse stellen zum großen Teil nicht mehr Behandlungserfolge in Frage, sondern sie lassen infolge der Raumenge eine zweckmäßige Behandlung gar nicht zu und sind bereits der Grund für weitere Überbelegungen. Wenn Räume, die zur Erweiterung der Therapie im Sinne der Resozialisierung als Bastelstuben oder Werkstätten eingerichtet werden sollen, bis zur letzten Möglichkeit mit Betten vollgestellt werden, sind alle Versuche, eine individuelle Psychiatrie' zu treiben, zum Fehlschlagen verurteilt. Hinzu kommt der Personalmangel. Es nützt nichts, wenn ein Pflegerschlüssel von 1 : 5 vom Kuratorium genehmigt ist, infolge Mangel an Arbeitskräften aber kaum ein Verhältnis von 1 : 8 erreicht werden kann — und das nur, wenn auf Halbtagsbeschäftigte oder tageweise Arbeitende zurückgegriffen werden kann. Es hat auch keinen Zweck von einer Schlüsselzahl von 1 : 7 beim Pflegepersonal zu sprechen, wenn hierin Urlauber, Kranke, Nachtdienst und evtl. Sonderbeschäftigte (im Laboratorium, in der Apotheke, als Schreibkraft) enthalten sind, abgesehen davon, daß fast immer einige Stellen offen bleiben. Diese Pflegekräfte, die oft nur auf dem Plan vorhanden sind, machen es aber gerade aus. Es ist genau wie bei der Durchsetzung einer konsequenten Arbeitstherapie: die letzten erreichbaren 10 Prozent sind die schwierigsten, sie geben den Ausschlag. Auch beim Pflegepersonal ist zur Aufrechterhaltung der Abteilung eine gewisse Zahl notwendig. In diesem Zusammenhang kann die gründliche Ausarbeitung aller Pfleger- und Ärzteschlüssel für die verschiedenen Erfordernisse der einzelnen Abteilungen in einer Anstalt oder Klinik von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft empfohlen werden. Bei zukünftigen Berechnungen von Stellenplänen darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß allgemein die 40-Stunden-Woche angestrebt wird. Das Personal in allen Krankenhäusern, auch in den Heilanstalten, ist bisher noch nicht in den Genuß der 48-StundenWoche gekommen, sondern es sind offizielle Dienstfestsetzungen mit etwa 60 Stunden in der Woche die Regel. In einer Heilanstalt ist es wichtiger, ausreichendes Pflege- und sonstiges ärztliches Hilfspersonal wie Sozialfürsorger, Gymnasten, Beschäftigungstherapeuten usw. zu haben, als daß e i n Arzt mehr oder weniger Dienst macht. Die Arbeit in der Praxis wird weiterhin dadurch erschwert, daß Kranke mit Anfällen, Schwachsinnige und Sieche in der Heilanstalt untergebracht sind und werden. Im Auslande ist man schon lange dabei, die Kranken ihren speziellen Bedürfnissen entsprechend unterzubringen. Die Trennung der Epileptiker in besonderen Abteilungen oder Anstalten ist zweckmäßig. Das Anfallsgeschehen ist für die übrigen Kranken der Anlaß zu Aufregungen oder reak-

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Schlußwort

tiven Handlungen. Eine Trennung wäre allein schon darum zu begrüßen, als dann den Patienten endlich eine dieser Krankheit entsprechende Diät gegeben werden könnte, was bisher kaum in geregelter Form der Fall ist. Die besonderen Verhaltensweisen der Anfallskranken in allen Dingen, die Kirche und Religion angehen, bedürfen der Beachtung. Die Vorteile einer gesonderten Behandlung und Unterbringung dieser Patienten ist in den Betheler Anstalten seit Jahrzehnten bewiesen. Ebenso ist es wichtig, die Schwachsinnigen vom Grade der Idiotie und die schwer Imbezillen gesondert unterzubringen, da sie, auf alle Abteilungen verteilt, das Niveau und Milieu senken müssen. Sie sind ebenfalls einer besonderen Behandlung bedürftig, da sie arbeits- und beschäftigungstherapeutisch nur im kleineren Maßstabe förderungsfähig sind. Kranke mit geistigen Ausfällen und seelischen Störungen im Alter und Sieche, dem Aufbau unserer Bevölkerungsstruktur entsprechend, müssen immer mehr aufgenommen werden. Sie haben in jedem Falle ihre eigene Pflege, Betreuung und Behandlung nötig. Der Anteil dieser Aufnahmen beträgt jetzt etwa 15 Prozent, die durchschnittliche Anstaltsaufenthaltsdauer bis zum Tode liegt ungefähr bei anderthalb Jahren. Wir sehen also, daß die Trennung der kriminell gewordenen von den anderen seelisch oder geistig Kranken nur eines der grundsätzlichen Probleme ist, die uns Psychiater beschäftigen. Wollen wir die psychiatrische Therapie, den Bedürfnissen unserer Patienten entsprechend, individueller gestalten als es heute in der Regel geschieht, wie es uns aber auf Grund unserer Kenntnisse möglich ist und vermöge unserer Erkenntnisse nötig erscheint und deshalb gefordert werden muß, so haben wir Ärzte mit den Verantwortlichen in den Verwaltungen und den Juristen und jeder f ü r sich im Rahmen seiner dienstlichen und auch außerdienstlichen Möglichkeiten die Pflicht, zusammen zu arbeiten — und Verantwortung der Sache gegenüber und Begeisterung zur Sache müssen allen gemeinsam sein! Nur auf diese Weise wird es möglich sein, die vielen Schwierigkeiten, die mit den Forderungen, die mit der Durchführung einer .individuellen Psychiatrie' verknüpft sind, zu überwinden. Aber nur so werden die Heilanstalten wirklich zu psychiatrischen Krankenhäusernwerden können, um eines Tages auch bei der Bevölkerung im gleichen Ansehen wie die übrigen Häuser zu stehen. Die Möglichkeiten hierzu sind vom psychiatrischen Standpunkt vorhanden. An einigen Stellen wird schon fortschrittlich gearbeitet; aber das langsamste Schiff bestimmt das Tempo eines Geleitzuges. Deutschland hat bezüglich der modernen psychiatrischen Therapie lange Zeit zu den schnellen Schiffen gezählt. Dann kamen Jahre, in denen die geistig und seelisch Geschädigten trotz aller gerade zu jener Zeit aufkommenden organischen Behandlungsmethoden, dennoch nur verwaltet, dann sterilisiert und schließlich vergast wurden. Wir haben für das, was in jener Zeit in den Anstalten und mit unseren Kranken geschehen ist, immer noch eine nicht unerhebliche Hypothek an Schuld abzutragen! Es geht nicht an, daß die seelisch Leidenden weiterhin als zweitrangige Menschen und als Patienten 4. Klasse angesehen und behandelt werden! Wer heute die Worte „Irrenpflege" oder „Anstaltsinsasse" benutzt, ist nicht nur dem Buchstaben gemäß, sondern auch dem Sinne nach um mehr als eine Generation in der Entwicklung der Psychiatrie zurückgeblieben. Wer so spricht und schreibt, kann nur an eine dauernde Verwahrung des Kranken hinter hohen Mauern denken. Ihm können

Sdiluß-wort

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,aktivere' therapeutische Bestrebungen mit dem Ziele einer baldigen Resozialisierung nicht genügend vertraut sein. Die Differenzierung der verschiedenen geistig-seelischen Krankheitsformen und die Zuweisung der Patienten in die für sie geeigneten Kliniken und Krankenhäuser zur Durchführung einer individuell ausgerichteten Therapie ist notwendig. Diese Gesichtspunkte werden von Ort zu Ort, von Klinik zu Anstalt verschieden gewertet werden können, sie sollten aber in jedem Fall mit berücksichtigt werden, bei Überlegungen zur Neuorganisation einer Klinik und bei Erwägungen, ein psychiatrisches Krankenhaus nach Durchführung einer Anstaltsreform erstehen zu lassen.

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GEORG

DESTUNIS

Einführung in die Medizinische Psychologie Für Mediziner und Psychologen Groß-Oktav. XII, 219 Seiten mit 20 Abbildungen. 19}}. Ganzleinen DM 22,— „Dieses an Mediziner, Psychologen und Pädagogen gerichtete Buch verarbeitet die neuzeitlichen theoretischen und praktischen Erkenntnisse auf dem Gebiet der medizinischen Psychologie. Begrüßenswert ist die ausführliche und kritische Wiedergabe der zahlreichen psychologischen Tests, deren sich die heutige Psychodiagnostik bedient . . . klare Gliederung, die eingehende Berücksichtigung der Literatur und seine prägnante Sprache sichern ihm schon jetzt einen wichtigen Platz in der modernen psychologischen Literatur."

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Psychosomatische Medizin Grundlagen und Anwendungsgebiete Mit einem Kapitel über die Funktionen des Sexualapparates und ihre Störungen von Therese

Benedek.

Aus dem Englischen übersetzt von P a u l

Kühne

Oktav. XII, 244 Seiten mit 5 Abbildungen. 19} 1. Ganzleinen DM 16,— „Der Name des Autors ist so bekannt, daß es kaum notwendig ist, dem Buch eine Empfehlung zu schreiben. . . Das vorliegende Buch ist der Versuch, die Ganzheitsmedizin im Sinne der psychosomatischen Gesichtspunkte zu

skizzieren und

die

emotionalen und nervösen Faktoren bei den verschiedenen Krankheitsgruppen zu erörtern. Ein Budi, das eigentlich jeder Arzt, insbesondere jeder Internist, lesen sollte." Wiener Zeitschrift für innere Medizin

WALTE R D E VORMALS

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J. G U T T E N T A G ,

R E I M E R - KARL J. T R Ü B N E R - V E I T 8c C O M P .