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German Pages 605 [594] Year 2012
~ SpringerWienNewYork
Zum Künstler des Umschlagbildes: Oswald Tschirtner (1920–2007) Oswald Tschirtner wurde von Prim. Dr. Leo Navratil, dem Begründer des „Künstlerhauses“ im psychiatrischen Krankenhaus Gugging bei Wien, als Künstler entdeckt. Er litt an einer paranoiden Schizophrenie. Bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte er seinen charakteristischen Stil mit elongierten Figuren und minimalistischen Zeichnungen. Seit 1981 lebte er im Haus der Künstler in Gugging und erhielt gemeinsam mit seinen Künstler-Kollegen 1990 den Oskar-Kokoschka-Preis für Verdienste um die zeitgenössische Kunst. Tschirtners Werke finden sich in allen wesentlichen nationalen und internationalen Museen. In dem von Johann Feilacher und Nina Katschnig aufgebauten Museum Gugging, dem weltweit größten seiner Art, ist Tschirtner einer der bedeutendsten Vertreter der Art Brut. Seine Werke werden von der Galerie Gugging vertreten, die den Nachlass verwaltet.
W. Wolfgang Fleischhacker Hartmann Hinterhuber Herausgeber
Lehrbuch Psychiatrie
SpringerWienNewYork
Univ.-Prof. Dr. W. Wolfgang Fleischhacker Department für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
Em. o. Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber Department für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich Vorauflage erschienen unter dem Titel Lehrbuch der Psychiatrie © 1997/Georg Th ieme Verlag/Stuttgart
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaft ung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaft lichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haft ung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2012 Springer-Verlag/Wien
SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Umschlagbild: © Privatstift ung – Künstler aus Gugging/Oswald Tschirtner/Gemeinschaft der Heiligen; Foto: W. W. Fleischhacker © fotostanger.com/Wolfgang Fleischhacker steht vor einer Arbeit von Rudolf Polanszky Satz: Werner Berghofer, 6121 Baumkirchen, Austria Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Germany Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier SPIN 12197019 Mit 21 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-89864-2 SpringerWienNewYork
Vorwort Die Psychiatrie zählt zu den faszinierendsten medizinischen Disziplinen unserer Zeit, sie besticht durch die große Breite des Fachgebietes und die intensiven Berührungsflächen zu den Human-, Sozial- und Neurowissenschaften: Die Psychiatrie hat sich in der Tat zu einem der komplexesten, aber auch hoff nungsvollsten Forschungsfelder der modernen Medizin entwickelt. Eine Zusammenschau der wissenschaft lichen Erkenntnisse der letzten zwei Jahrzehnte dokumentiert wesentliche Fortschritte in der Diagnostik und Therapie psychiatrischer Erkrankungen: Ein Vergleich mit der ersten Auflage unseres Lehrbuches illustriert dies nachdrücklich. Unser Bemühen war es, eine Gesamtsicht des breiten Spektrums wissenschaft licher und versorgungsrelevanter Aspekte in Klinik und Praxis der Psychiatrie zu bieten. Die einzelnen Kapitel des Lehrbuches widmen sich systematisch der Ätiopathogenese, der Klassifi kation und den Therapiestrategien der unterschiedlichsten psychischen Störungen, mit dem Ziel, Studierende immer mehr für die Anliegen der Psychiatrie und der Psychotherapeutischen Medizin zu begeistern: Die Liebe zur jeweiligen Disziplin ist in Verbindung mit hohem Fachwissen der beste Garant für eine erfolgversprechende Arbeit mit den jeweiligen PatientInnen. Unser Lehrbuch richtet sich aber nicht nur an Studierende der Medizin und an in Ausbildung befindliche PsychiaterInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen, sondern auch an bereits Praktizierende sowie an VertreterInnen der Nachbardisziplinen, der Neurologie, der Inneren Medizin, der Pädiatrie, der Pädagogik und der Pflegewissenschaften. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diesem Buch bemühten sich nach Kräften, die Komplexität unseres Faches mittels durchdachter Didaktik in leicht verständlicher, aber gleichzeitig auch spannender Form darzustellen. Wesentliche Impulse erhielten wir alle von vielen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen unserer jahrelangen Tätigkeit in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung: Von deren Kompetenz und deren konstruktiven Beiträgen hat das Lehrbuch sehr profitiert. Der Thieme-Verlag Stuttgart, der die erste Auflage des Lehrbuches betreute, erlaubte uns in großzügiger Art und Weise jene Abschnitte aus den ersten Auflagen zu übernehmen, die nichts an Aktualität eingebüßt haben: Dafür danken wir sehr. Dem Springer-Verlag Wien sind wir zu Dank verpflichtet, unsere Idee einer Neuauflage aufgenommen und tatkräft igst unterstützt zu haben. Das hat uns ermöglicht, das Lehrbuch komplett zu überarbeiten und zu aktualisieren. Mit viel Geduld und Nachdruck haben Frau Mag. Eva-Maria Oberhauser und Frau Katrin Stakemeier diesen Prozess begleitet. Ebenso zu Dank verpflichtet sind wir der Privatstiftung – Künstler aus Gugging –, die uns die Verwendung einer Arbeit von Oswald Tschirtner als Titelbild ermöglicht hat. Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im nachfolgenden Text lediglich die männliche Form verwendet. Alle Formulierungen sind durchgängig geschlechtsneutral zu verstehen. Innsbruck, Sommer 2012
W. Wolfgang Fleischhacker Hartmann Hinterhuber
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmann Hinterhuber, W. Wolfgang Fleischhacker
1
1
Die Ziele der Psychiatrie
1
2
Schwerpunkte und Forschungsrichtungen der Psychiatrie
3
Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
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2
4
Einteilung psychiatrischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 4
5
Psychiatrische Untersuchungstechnik . . . . . . . . . 5.1 Anamneseerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Psychopathologische Befunderhebung . . . . . . 5.3 Organische Befunderhebung . . . . . . . . . . . 5.4 Anleitung zum Anlegen einer Krankengeschichte
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6 6 8 8 9
6
Klinisch-psychologische Diagnostik und Befunderhebung . . . . . . . . . . Verena Günther, Ilse Kryspin-Exner 6.1 Leistungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Persönlichkeitstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Erhebung sozialer Kognitionen und „emotionaler Intelligenz“ – neue Trends der Psychodiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Besonderheiten der testpsychologischen Untersuchung in der Psychiatrie
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12
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13 16
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17 18
Organische Psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmann Hinterhuber, Josef Marksteiner
21
1
Geschichtlicher Überblick und Synonyma
21
2
Definition
3
Diagnose und Differenzialdiagnose organischer Psychosen
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24
4
Bewusstsein und Formen der Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Quantitative Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Qualitative Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24 25 25
5
Akute organische Psychosyndrome mit Bewusstseinsveränderungen . . 5.1 Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Verwirrtheitszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Dämmerzustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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26 26 30 31
6
Akute organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsveränderung 6.1 Das akute amnestische Syndrom (akutes Korsakow-Syndrom) 6.2 Die organisch emotional labile (asthenische) Störung . . . . 6.3 Organische affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Organische wahnhafte (schizophreniforme) Störung . . . . . 6.5 Organische katatone Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Organische dissoziative Störung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Organische Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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32 32 33 33 33 34 35 35
Chronische organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsveränderung . . . . 7.1 Das amnestische Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35
7
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1
22
VII
Inhaltsverzeichnis
7.2 7.3 7.4
Die organische Halluzinose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die chronischen organischen Wahnstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Die chronischen organischen affektiven Störungen . . . . . . . . . . . . . .
36 36 36
8
Organische Persönlichkeitsveränderungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
9
Therapeutisches Vorgehen bei organischen psychischen Störungen . . . . . . . . 9.1 Somatische Basistherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Psychopharmakatherapie bei organischen psychischen Störungen . . . . .
37 37 38
10 Psychopathologische Syndrome bei Epilepsie: ein Exkurs . . . . . . . 10.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Zeitliche Beziehung zwischen psychiatrischen Störungen und epileptischen Anfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Kognitive Störungen im Rahmen von epileptischen Erkrankungen 10.5 Therapie epilepsieassoziierter psychiatrischer Störungen . . . .
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41 41
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42 43 46 46
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51
1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 51 51
2
Aktuelle Klassifikationsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Substanzgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Psychiatrische Störungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52 52 53
3
Ätiopathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . 3.4 Schutzfaktoren gegen schädlichen Gebrauch und Abhängigkeit von Drogen 3.5 Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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54 54 54 57 58 58
4
Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Allgemeine Grundsätze der Therapie 4.2 Motivation . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Therapieziele und -planung . . . . 4.4 Behandlungsstrukturen . . . . . .
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60 60 60 61 62
5
Störungen durch Alkohol . . . . . . 5.1 Zur Substanz . . . . . . . . . 5.2 Epidemiologie . . . . . . . . . 5.3 Diagnostische Laborparameter 5.4 Spezifische Störungsbilder . .
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70 70 71 71 72
6
Störungen durch Opioide . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . 6.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Spezifische Störungen durch Opioide . . .
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79 79 79 80
7
Störungen durch Cannabinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Spezifische Störungen durch Cannabinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84 84 85
Störungen durch psychotrope Substanzen Martin Kurz
VIII
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Inhaltsverzeichnis
8
Störungen durch Sedativa und Hypnotika . . . . . . . . . 8.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Spezifische Störungen durch Sedativa und Hypnotika 8.4 Weitere Störungen durch Benzodiazepine . . . . . .
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87 87 87 88 89
9
Störungen durch Kokain . . . . . . . . . . . . . 9.1 Zur Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Spezifische Störungen durch Kokain . . .
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90 90 90 91
10 Störungen durch Amphetamine und sonstige Stimulanzien, einschließlich Koffein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Spezifische Störungen durch Stimulanzien . . . . . .
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92 92 93 93
11 Störungen durch Halluzinogene . . . . . . . . . . . . . 11.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Spezifische Störungen durch Halluzinogene . . .
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94 94 95 95
12 Störungen durch Tabak . . . . . . . . . . . . . 12.1 Zur Substanz . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Spezifische Störungen durch Tabak . . .
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97 97 97 98
13 Störungen durch flüchtige Lösungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Spezifische Störungen durch flüchtige Lösungsmittel . . . . . . . . . . . .
99 99 99
14 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Konsum sonstiger psychotroper Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . .
100 100 100
15 Schädlicher Gebrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen 15.1 Zu den Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Diagnostische Beschreibung im ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Spezifische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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102 102 103 103 104
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111
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Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Alex Hofer, W. Wolfgang Fleischhacker 1
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Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Historische und transkulturelle Aspekte . . . . . 1.2 Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Klassifikationssysteme und diagnostische Kriterien 1.4 Subtypisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Epidemiologie, Verlauf und Prognose . . . . . . . 1.6 Ätiologie und Pathogenese . . . . . . . . . . . . . 1.7 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Therapie mit Antipsychotika . . . . . . . . . . . .
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111 111 113 118 120 121 123 130 130
IX
Inhaltsverzeichnis
1.9
Pharmakotherapie affektiver und kognitiver Begleitsymptome und der Negativsymptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.11 Soziotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.12 Angehörigenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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140 140 142 143
2
Schizoaffektive Störungen . . . . . . . . . . . 2.1 Einführung und nosologische Zuordnung 2.2 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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146 146 147 147 147
3
Schizotype Störung
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148
4
Wahnhafte Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Anhaltende wahnhafte Störung . . . . . . . . 4.2 Induzierte wahnhafte Störung . . . . . . . . . 4.3 Akute vorübergehende psychotische Störungen
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153
1
Einführung und Synonyme
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153
2
Epidemiologie und Verlauf
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Ätiologie und Pathogenese affektiver Erkrankungen . . 3.1 Die Monoamin-Mangel-Hypothese . . . . . . . . 3.2 Die genetische und die Umwelt-Hypothese . . . . 3.3 Alternative Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . .
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155 156 157 159
4
Depressive Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Symptome der depressiven Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sonderformen depressiver Episoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161 162 165
5
Rezidivierende depressive Störung
167
6
Bipolare affektive Störung . . . . . . . . . . . 6.1 Manische Episode . . . . . . . . . . . . . 6.2 Gemischte bipolare Episode . . . . . . . 6.3 Sonderformen bipolarer Störungen . . .
7
Anhaltende affektive Störungen: Zyklothymia, Dysthymia
8
Differenzialdiagnose affektiver Störungen
9
Antidepressive Akuttherapie: Pharmako- und Psychotherapie . . . . . . . . 9.1 Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Andere in der akuten Depressionsbehandlung verwendete Medikamente 9.3 Psychotherapeutische Ansätze; allgemeiner Umgang mit Depressiven . 9.4 Vorgehen bei therapieresistenter Depression . . . . . . . . . . . . . . .
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168 169 170 171
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173
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174
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154
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10 Antidepressive Akuttherapie: nicht pharmakologische biologische Therapieverfahren . . . 10.1 Elektrokrampftherapie (EKT) . . . . . . . . . . . . . . 10.2 repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) . . 10.3 Nervus-vagus-Stimulation (VNS) . . . . . . . . . . . . 10.4 Tiefe Gehirnstimulation (Deep Brain Stimulation – DBS) 10.5 Lichttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
X
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Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard A. Deisenhammer, Armand Hausmann
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149 149 150 150
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175 175 179 180 180
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181 182 183 184 184 185
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Inhaltsverzeichnis
10.6 Schlafentzugstherapie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
11 Antimanische Akuttherapie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
12 Die Behandlung der Depression im Rahmen einer bipolaren Störung
. . . . . . .
190
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
190
14 Allgemeine Richtlinien zur pharmakologischen Therapie in der Phasenprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
190
13 Akuttherapie einer gemischten Episode
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Johann F. Kinzl
. . . . . . . . . . . . . . .
197
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
1
Allgemeine und historische Aspekte
2
Klassifikation und Epidemiologie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
3
Symptomatik der Angststörungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
4
Ätiologie und Pathogenese der Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
5
Phobische Störungen . . . . . . . 5.1 Agoraphobie . . . . . . . . . 5.2 Soziale Phobie . . . . . . . . 5.3 Spezifische (isolierte) Phobien 5.4 Panikstörung . . . . . . . . 5.5 Generalisierte Angststörung 5.6 Ätiologie und Pathogenese .
. . . . . . .
202 203 203 204 204 205 206
6
Therapieformen von Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Psychopharmakologische Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Nichtpharmakologische Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207 208 209
7
Zwangsstörungen . 7.1 Diagnostik . . 7.2 Ätiopathogenese 7.3 Prävalenz . . 7.4 Therapie . . .
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212 212 214 216 217
8
Belastungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Akute Belastungsreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219 220 221
9
Posttraumatische Belastungsstörung 9.1 Allgemeines . . . . . . . . . . 9.2 Ätiologie . . . . . . . . . . . . 9.3 Symptomatologie . . . . . . . 9.4 Prävalenz . . . . . . . . . . . 9.5 Therapie . . . . . . . . . . . .
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221 221 222 223 224 224
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225 225 226 227 228 228
11 Dissoziative Störungen oder Konversionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Allgemeine und historische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230 230
10 Anpassungsstörung . . . . . . 10.1 Allgemeine Aspekte . . 10.2 Symptomatologie . . . . 10.3 Ätiologie . . . . . . . . . 10.4 Epidemiologie und Verlauf 10.5 Therapie . . . . . . . . .
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XI
Inhaltsverzeichnis
11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Symptomatologie und Formen Diagnose . . . . . . . . . . . Prävalenz . . . . . . . . . . Ätiologie und Pathogenese . Therapie . . . . . . . . . . .
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231 233 234 234 234
12 Somatoforme Störungen . . . . . . . 12.1 Historische Aspekte . . . . . . . 12.2 Symptomatologie . . . . . . . . 12.3 Formen somatoformer Störungen 12.4 Diagnose . . . . . . . . . . . . . 12.5 Ätiologie und Pathogenese . . . 12.6 Epidemiologie . . . . . . . . . . 12.7 Therapie . . . . . . . . . . . . .
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236 236 237 238 240 241 242 242
13 Andere neurotische Störungen 13.1 Neurasthenie . . . . . 13.2 Ätiologie . . . . . . . . 13.3 Symptomatologie . . . 13.4 Therapie . . . . . . . .
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246 246 246 246 247
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249
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249 249 250 251 258 262
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263 263
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Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Barbara Mangweth-Matzek, Johann F. Kinzl, Claudia Kohl 1
Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Allgemeine und historische Aspekte . . . . . . . . . 1.2 Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Atypische und nicht näher bezeichnete Essstörungen
2
Adipositas oder Fettsucht 2.1 Allgemeine Aspekte
3
Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . 3.4 Störungen der Geschlechtsidentität (Transsexualität; Transvestismus) 3.5 Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien, Perversionen, sexuelle Deviationen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung . . . . . . . . . . .
. . . .
Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett 4.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
XII
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266 266 267 267 279
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281
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287
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289 289 289 289 290 290 290 291
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Inhaltsverzeichnis
Persönlichkeitsstörungen Hans-Peter Kapfhammer
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
1
Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
2
Historische Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
3
Persönlichkeitsstörung zwischen kategorialer und dimensionaler Betrachtung
.
294
4
Epidemiologie der Persönlichkeitsstörungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
5
Ätiopathogenetische Modelle von Persönlichkeitsstörungen 5.1 Psychodynamisches Modell . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Traumamodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kognitives Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Soziologisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Biologisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Cluster A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Cluster B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Cluster C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Diagnose und Differenzialdiagnose von Persönlichkeitsstörungen
7
Verlauf und Prognose
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
310
8
Therapie der Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Notfallpsychiatrisch-psychotherapeutische Primär versorgung . . . . . . .
312 312
9
Stationäre und teilstationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung . .
10 Störungsorientierte Psychotherapien
. . . . . . . . .
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298 299 301 302 304 305 305 306 307
. . . . . . . .
308
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 Differenzielle Psychopharmakotherapie . . 11.1 Behandlungsrationale . . . . . . . . . 11.2 Behandlungsevidenz . . . . . . . . . 11.3 Behandlungskontext . . . . . . . . .
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317 317 318 320
Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Hackenberg, Wolfgang Aichhorn
323
1
Einführung und allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Fachdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kurzer historischer Abriss zur Entwicklung des Fachs . . . . . . 1.3 Krankheitsbegriff und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik . . . . . . . . . . 1.5 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Psychopharmakologische Behandlung im Kindes- und Jugendalter
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323 323 323 325 328 330 331
2
Spezifische Störungen des Kindes- und Jugendalters . . 2.1 Tief greifende Entwicklungsstörungen . . . . . . 2.2 Hyperkinetische Störungen . . . . . . . . . . . . 2.3 Störungen des Sozialverhaltens . . . . . . . . . . .
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333 333 336 340
3
Emotionale Störungen des Kindesalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Therapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343 345
4
Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in Kindheit und Jugend
. . . . . . .
346
5
Ticstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347 348
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313 315
XIII
Inhaltsverzeichnis
5.2 5.3 6
Störungsspezifische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
348 349
Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
350
Gerontopsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Marksteiner, Hartmann Hinterhuber, Christian Haring
353
1
Definition und Grundlagen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353
2
Biologisches Altern und soziales Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Verlustsituationen des höheren Lebensalters . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Alterungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353 354 355
3
Ursachen psychischer Störungen im Alter
355
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Epidemiologie gerontopsychiatrischer Erkrankungen
5
Klinische Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Leichte kognitive Beeinträchtigung: Zwischenstadium zwischen normalem Altern und Demenz . . . . . . 5.2 Demenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Prävention demenzieller Erkrankungen . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356 358 364
6
Alzheimerkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Beginn, Schweregrade und Verlauf . . . . . . . . 6.3 Neuropathologische Veränderungen . . . . . . . 6.4 Biochemische Veränderungen . . . . . . . . . . 6.5 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Therapie der Alzheimerkrankheit . . . . . . . . 6.8 Pharmakotherapie der nichtkognitiven Störungen 6.9 Betreuung von Demenzkranken in ihrem Umfeld
. . . . . . . . . .
7
Vaskuläre Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Definition, Krankheitsformen und Symptomatik . . . . . . 7.2 Risikofaktoren für die Entstehung einer vaskulären Demenz 7.3 Ätiopathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 9
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365 365 366 368 369 369 370 370 373 373
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374 374 375 376 377
Die gemischte Demenz (Mixed Dementia)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Andere Demenzformen . . . . . . . . 9.1 Frontotemporale Demenz (FTD) 9.2 Lewy-Körperchen-Demenz (LBD) 9.3 Demenz bei Morbus Parkinson 9.4 AIDS-Demenz . . . . . . . . . . 9.5 Demenz bei Morbus Huntington 9.6 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit . . 9.7 Andere demenzielle Prozesse . .
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. . . . . . . .
377 377 379 380 381 382 383 384
10 Spezifische Aspekte anderer psychischer Störungen im Alter . . 10.1 Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Depression im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Manische Erkrankungen im Alter . . . . . . . . . . . . . .
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385 385 386 389
XIV
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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356
Inhaltsverzeichnis
10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9
Schizophrene Psychosen im Alter . . . . . . . . . . . . Neurotische Störungen und Konfliktreaktionen im Alter Persönlichkeitsstörungen im Alter . . . . . . . . . . . . Häufige Wahnthemen im Alter . . . . . . . . . . . . . Alter und Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
390 390 391 391 392 392
Suizid und Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard A. Deisenhammer
395
1
Einführung
2
Begriffsbestimmungen
3 4 5
Erkennen von Suizidalität
6
Behandlung von und Umgang mit Suizidalität
7
Suizidprävention
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395
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395
Epidemiologie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
396
Risikofaktoren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
398
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
400
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401
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402
Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmann Hinterhuber
405
1
Physiologie des Schlafes . . . . . 1.1 Der natürliche Schlaf . . . 1.2 Dauer des Schlafes . . . . 1.3 Stadien des Schlafes . . . .
. . . .
405 405 406 406
2
Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Dyssomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Parasomnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
408 410 423
3
Schlafstörungen bei psychiatrischen Erkrankungen . 3.1 Schlafstörungen bei schizophrenen Erkrankungen 3.2 Schlafstörungen bei depressiven Erkrankungen 3.3 Schlafstörungen bei manischen Episoden . . . . 3.4 Schlafstörungen bei chronischem Alkoholismus
. . . . .
427 427 427 428 428
4
Exkurs: Therapie mit Schlaf
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428
Der psychiatrische Notfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sergei Mechtcheriakov, Maria Rettenbacher
431
1
Einführung und Definition
431
2
Psychopathologie des psychiatrischen Notfalls
3
Psychiatrischer Notfall im Rahmen spezifischer Störungsbilder . . . . 3.1 Organisch bedingte psychische Störungen . . . . . . . . . . . . 3.2 Akuter Erregungszustand im Rahmen einer schizophrenen oder affektiven Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Stuporöse Zustandsbilder als akuter psychiatrischer Notfall . . .
4
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431
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433 433
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433 433
Suizidalität, Aggression und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Akute Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Aggressives Verhalten im Rahmen einer psychiatrischen Störung . . . . . .
434 434 434
XV
Inhaltsverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
436
5
4.3
Medikamentöse Behandlung bei Agitation und Aggression . . . . . . . . . . . . 5.1 Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Management von aggressivem Verhalten
436 437 437
6
Zusammenfassung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
438
Psychotherapeutische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verena Günther, Ilse Kryspin-Exner
439
1
Einführung
439
2
Tiefenpsychologische Verfahren . . . . . . 2.1 Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . 2.2 Individualpsychologie . . . . . . . . 2.3 Analytische Psychologie . . . . . . . 2.4 Hypnotherapie und Hypnose . . . . . 2.5 Katathym Imaginative Psychotherapie 2.6 Transaktionsanalyse . . . . . . . . .
. . . . . . .
440 440 442 442 443 444 444
3
Lerntheoretische Verfahren – kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze . . . . 3.1 Verhaltensmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445 448
4
Humanistische Verfahren . . . . . . . 4.1 Personenzentrierte Psychotherapie 4.2 Logotherapie und Existenzanalyse 4.3 Gestalttherapie . . . . . . . . . . 4.4 Psychodrama . . . . . . . . . . .
. . . . .
449 449 450 451 451
5
Systemische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Familientherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Systemische Paartherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
452 452 453
6
Körperorientierte Ansätze
7
Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Autogenes Training und Autogene Psychotherapie . . . 7.2 Progressive Muskelrelaxation . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Biofeedbackmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Kurztherapien
9
Effektivität von Psychotherapie
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454 454 455 455
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456
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10 Psychotherapie und Neurowissenschaften Sozialpsychiatrie Wulf Rössler
. . . . . . . . .
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456
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461
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
1
Einleitung
2
Art und Umfang psychischer Störungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
3
Der Einfluss sozialer Faktoren – Entstehung und Verlauf psychischer Störungen 3.1 Kulturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Einflüsse der näheren sozialen Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
464 464 465
4
Stigma psychischer Erkrankung
465
5
Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
XVI
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
466
Inhaltsverzeichnis
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Bedarfsgerechte Versorgung . . . . . . . . . . Gemeindenahe Versorgung . . . . . . . . . . . Dezentralisierung und Sektorisierung . . . . . Koordination und Zusammenarbeit . . . . . . Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker
. . . .
. . . . .
467 467 468 468 469
6
Spezielle Versorgungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Wohnsitzlosigkeit und psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
470 470 471
7
Zusammenfassung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
471
Psychiatrische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meise, Hartmann Hinterhuber
473
1
Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473
2
Die ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health . . 2.1 Funktionale Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Konzept der Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Konzept der Aktivitäten und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
476 478 478 479
3
Zielgruppe für die psychiatrische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Psychische Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
480 480
4
Ziele der psychiatrischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Normalisierung der Lebensbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Erhalt sozialer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verbesserung von Alltagsaktivitäten und Selbstversorgung . . . . . . . . 4.4 Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – Verringerung von Stigma und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Förderung von Autonomie, von Bewältigungs- und Widerstandskompetenz 4.6 Lebenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
481 482 482 483
. .
483 484 485
5
Grundlagen der psychiatrischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Soziale Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Berufliche Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Biopsychosozialer Ansatz: das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell 5.5 Personenorientierter Behandlungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Hilfen für Angehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
486 488 489 489 489 490 491
6
Funktionsbereiche der psychiatrischen Rehabilitation 6.1 Beratung, Betreuung und Behandlung . . . . . 6.2 Tagesstrukturierung und Alltagsgestaltung . . 6.3 Wohnen und Selbstversorgung . . . . . . . . . 6.4 Arbeit und Ausbildung . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
491 492 492 493 494
Konsiliar-/Liaisonpsychiatrie: Behandlung und Betreuung von Patienten mit psychischen Belastungen/Störungen im Allgemeinkrankenhaus . . . . . . . . Barbara Sperner-Unterweger, Bernhard Holzner
497
1
Hintergrund
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
2
Definition und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Konsiliar-/Liaison Psychiatrie/Psychologie – Begriffsdefinition . . . . . . .
498 498
. . . .
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. . . . .
XVII
Inhaltsverzeichnis
2.2 2.3
Der psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutische Liaisondienst . . . Der psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutische Konsiliardienst . .
3
Zielgruppen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . 3.1 Hauptaufgaben in der CL-Versorgung . . . 3.2 Patienten und Krankheitsbilder . . . . . . 3.3 Spezielle Patientengruppen . . . . . . . . .
4
Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Struktur der Untersuchung und der therapeutischen Interventionen in der CL-Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Psychotherapie mit körperlich kranken Menschen . . . . . . . . . 4.3 Psychopharmakologische Therapie im psychiatrischen CL-Dienst
5
6
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501 501 502 503
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507
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507 508 509
2
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510 510 511 511
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512 512
Erhebung von Patient-Reported Outcomes (PROs) für die medizinische Praxis und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Patient-Reported Outcomes (PROs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515 515
Qualitätssicherung im CL-Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Standardvorgehen im Konsiliardienst . . . . . . . . . . . . . 5.2 Standardvorgehen im Liaisondienst . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Standards in der Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . . 5.4 Voraussetzungen und Kenntnisse eines psychiatrisch/psychotherapeutischen Konsiliararztes . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Wissenschaftliche Begleitevaluierung . . . . . . . . . . . . .
Forensische Psychiatrie 1
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Forensische Psychiatrie in Deutschland Norbert Nedopil
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517
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517 517
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521 527
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
532
Glossar psychiatrischer und psychopathologischer Fachausdrücke Hartmann Hinterhuber
. . . . . . . . .
543
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
571
Autorenverzeichnis
XVIII
. . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Forensische Psychiatrie in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regina Prunnlechner-Neumann, Reinhard Haller 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Erstellung eines Gutachtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Rechtliche Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung in psychiatrische Krankenanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Kompendium der psychiatrischen Rechtskunde . . . . . . . . . . . . .
Sachverzeichnis
. . . .
499 501
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
585
Kapitel 1
Einführung Hartmann Hinterhuber, W. Wolfgang Fleischhacker
1
Die Ziele der Psychiatrie
Die Psychiatrie befasst sich als Teilgebiet der Medizin mit Störungen des Erlebens und den Veränderungen des menschlichen Verhaltens. Sie steht in enger Beziehung einerseits zu den Neurowissenschaften, zu Genetik und Pharmakologie, andererseits zur Psychologie, Soziologie und den verschiedenen Humanwissenschaften: Die Psychiatrie handelt somit im Spannungsfeld von Natur- und Geisteswissenschaften. Ziel der Psychiatrie ist es, die Wahrnehmungs-, Erlebens-, und Kontaktfähigkeit des Individuums sowie seine sozialen Beziehungen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Aufgabe der Psychiatrie ist daher die Diagnostik, Therapie, Prävention und Rehabilitation psychischer Erkrankungen und deren Erforschung unter Berücksichtigung des biologischen, psychologischen und sozialen Bezugsrahmens.
2
Schwerpunkte und Forschungsrichtungen der Psychiatrie
Die psychiatrische Forschung ist insgesamt auf zwei Ziele gerichtet: • Das therapeutische Ziel ist die Prävention psychiatrischer Erkrankungen und deren optimale Therapie sowie eine Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen. • Das Erkenntnisziel ist das Verständnis für biologische und psychologische Vorgänge zu verbessern, die den pathologischen Prozessen zugrunde liegen oder die als Schutzwirkung bei bestehenden Risikosituationen dienen. Neben den Bemühungen um Verbesserungen der psychopharmakologischen Therapieführung ist die Entwicklung und Optimierung spezieller symptomorientierter psychotherapeutischer und soziotherapeutischer Programme zentraler Gegenstand der weltweiten psychiatrischen Forschung. Vorerst erscheint es hilfreich, einige wesentliche Begriffe zu klären. Die Psychopathologie beschäft igt sich mit der Beschreibung und Aufk lärung krank hafter Seelenzustände. Die Sozialpsychiatrie untersucht die sozialen Interaktionen, insbesondere die zwischenmenschlichen Beziehungen des psychisch Kranken bezüglich ihrer Bedeutung für Krankheitsentstehung, Therapie und Rehabilitation, und versucht die psychiatrische Krankenbetreuung zu verbessern. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie bemüht sich auf der Grundlage biologischer, soziologischer und psychologischer Erkenntnisse die gestörten Entwicklungspro-
1
Hartmann Hinterhuber | W. Wolfgang Fleischhacker
zesse des Kindes zu erforschen, die Auswirkungen des sozialen Raumes, in dem das Kind lebt, zu erfassen und im Zusammenwirken mit den Erkenntnissen der Pädagogik die psychische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter zu fördern und/oder wiederherzustellen. Ziel der Biologischen Psychiatrie ist die neurowissenschaft liche Erforschung der gestörten psychischen Funktionen, um dadurch einen Erkenntniszuwachs zu erzielen und die therapeutischen Möglichkeiten zu verbessern. Die Forensische Psychiatrie strebt im strafrechtlichen Bereich die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit bzw. -unfähigkeit, im zivilrechtlichen die Erfassung des Geisteszustandes bei Fragen der Geschäftsfähigkeit, Entmündigung, Ehescheidung u. a. an.
3
Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
Der Terminus „psychische Krankheit“ lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig festlegen und verlangt eine Definition des Begriffs „Gesundheit“: Dieser setzt das Bestehen von Normverhaltensweisen voraus, die jedoch großen transkulturellen Schwankungen unterliegen. Die Weltgesundheitsbehörde bietet folgende Definition von Gesundheit: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Diese weitgespannte Definition ist in ihrer unrealistischen Anspruchshaltung ohne praktische Relevanz. Psychisches Kranksein und normales menschliches Verhalten gehen fließend ineinander über, Gesundheit und Krankheit sind Eckpunkte eines Kontinuums. Nach Freud setzt „Gesundsein“ Liebes-, Arbeits- und Genussfähigkeit voraus. Psychiatrische Erkrankungen sind Störungen im Erlebnisvollzug und in den Verhaltensweisen eines Menschen, die mit einer Beeinträchtigung in den genannten drei Bereichen verbunden sind. Die spezielle Thematik psychiatrischer Erkrankungen erfordert im Unterschied zu anderen medizinischen Disziplinen eine Erweiterung des Krankheitsbegriffes. Wir unterscheiden zwischen drei Krankheitsbegriffen: 1. Der subjektive Krankheitsbegriff: Viele Menschen leiden unter ihrer psychischen Existenz, sie empfinden sich als krank und nicht belastungsfähig: Die Betroffenen weichen von der Idealnorm des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens ab. Das subjektive Krankheitsgefühl äußert sich als Hemmung, Angst und Depressivität oder als kognitives Defizit. Ätiologische und pathogenetische Aspekte bleiben beim subjektiven Krankheitsbegriff unberücksichtigt. Eine organpathologische Störung wird wohl postuliert, ist aber im Einzelfall sehr häufig nicht nachweisbar. 2. Der medizinische Krankheitsbegriff: Der medizinisch-psychiatrische Krankheitsbegriff entspricht dem klassischen der Organpathologie. Er umfasst jene psychiatrischen Erkrankungen, die sich auf eine somatisch bedingte Störung – zumeist eine Störung von Hirnfunktionen – zurückführen lassen. Die organische Substratschädigung ist beispielsweise entweder durch bildgebende Verfahren (Computer- oder Kernspintomografie, SPECT, PET) oder durch ein Elektro2
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enzephalogramm nachweisbar oder aus einer belegbaren Intoxikation abzuleiten. Ein Beispiel ist ein Patient mit Multiinfarktdemenz, der psychopathologische Auff älligkeiten wie kognitive Beeinträchtigungen, Verhaltens- und Affektstörungen zeigt, die auf einer nachweisbaren zerebralen Funktionsstörung beruhen. Medizinischer und subjektiver Krankheitsbegriff schließen einander nicht aus. So etwa kann ein Patient mit beginnender vaskulärer Demenz seine Versagenszustände subjektiv belastend erleben und sich somit als krank empfinden. Andere Patienten mit organisch bedingten psychischen Störungen können psychopathologisch höchst auff ällig, jedoch gänzlich krankheitsuneinsichtig sein. 3. Der persönlichkeitsbezogene Krankheitsbegriff: Viele Patienten aus der Kerngruppe der psychiatrischen Erkrankungen, den schizophrenen und affektiven Störungen, lassen sich (zumindest bislang) weder mit dem subjektiven noch mit dem medizinischen Krankheitsbegriff erfassen. Diese Kranken leiden oft nicht subjektiv; es lässt sich auch objektiv mit den heute zur Verfügung stehenden Methoden kein organpathologisches Korrelat ihres Krankseins finden: Eine Persönlichkeitsveränderung wird dann als Zeichen einer Erkrankung gewertet, wenn im Leben des Betroffenen ein deutlicher Wandel eingetreten ist, der die Sinnkontinuität unterbrochen hat. Entscheidend ist, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine tief greifende Störung der Erlebens- und Verhaltensweisen des Betroffenen, seiner Wertvorstellungen und Zukunftsperspektiven aufgetreten ist, oft verbunden mit einer konsekutiven Verarmung und Verflachung der psychischen Funktionen. Viele psychiatrische Erkrankungen sind aber nicht eindeutig einem der drei oben aufgeführten Krankheitsbegriffe zuzuordnen. Da eine psychiatrische Erkrankung sehr selten Ausdruck einer einzelnen, klar zu beschreibenden Störung ist, ist eine mehrdimensionale Betrachtungsweise bzw. Diagnostik notwendig. Folgende Faktoren müssen bei der Diagnose einer psychischen Störung besonders beachtet werden: • Die Biografie eines Patienten: Wenn auch nur unvollständig beurteilbar, birgt die Biografie den Schlüssel zum Verständnis der psychiatrischen Phänomene des Patienten. Unter dem ständigen Einfluss der Lebenserfahrungen entwickelt sich die Persönlichkeit auf der Basis ihrer angeborenen Tendenzen und Reaktionsbereitschaften. • Die akute Belastung: Jeder Mensch ist seit seiner Geburt verschieden starken Belastungen ausgesetzt. In bestimmten Lebensabschnitten, beispielsweise in der Pubertät und Klimakterium, treten sie häufig und in besonderer Ausprägung auf. Ein Mensch, der aufgrund seiner Lebensgeschichte labilisiert ist, wird durch eine akute Belastung eher dekompensieren als jener, der eine stabile Entwicklung erfahren durfte. Lebensgeschichte und akute Belastungsmomente stehen in enger Wechselwirkung. Kurzdauernde, einmalige Ereignisse sind für die Persönlichkeitsentwicklung weniger bedeutungsvoll als langdauernde emotionelle Spannungssituationen. • Der Funktionszustand des Gehirns: Das Gehirn ist Träger der psychischen Funktionen, somit ist das Erleben und Verhalten des Menschen vom Funktionszustand des Gehirns abhängig. Leichte perinatal erworbene Zerebralschäden, zurückliegende Intoxikationen oder Schädeltraumata können die Reaktionsweisen des Einzelnen beim Eintreten akuter Belastungsmomente bestimmen. 3
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• Die aktuelle Substratbelastung: Darunter versteht man zusätzliche akute Belastungen oder Schädigungen des Zentralen Nervensystems, etwa durch einen Alkoholrausch oder ein Schädelhirntrauma. Die Lebensgeschichte, die akuten Belastungsmomente, der Funktionszustand des Gehirns und dessen zusätzliche aktuelle Beeinträchtigung interagieren in unterschiedlichem Ausmaß und bestimmen die Reaktionsweisen des Menschen, seine psychische Gesundheit oder sein pathologisches Verhalten.
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Einteilung psychiatrischer Erkrankungen
Die Einteilung psychiatrischer Erkrankungen ist, auch aufgrund der im vorigen Abschnitt beschriebenen unterschiedlichen Krankheitsbegriffe, nicht ganz einfach. Analog zu anderen medizinischen Fächern war die Diagnostik in der Psychiatrie lange Zeit von einflussreichen Lehrern, die unterschiedlichste Schulen mit stark regionalspezifischer Ausprägung begründet haben, geprägt. Erst im letzten Jahrhundert kam es zu einer zunehmenden Internationalisierung der Klassifi kationsbemühungen, primär auf der Basis französischer, deutschsprachiger und angloamerikanischer Einflüsse. In diesem Kontext muss auch das triadische System der psychiatrischen Klassifikation Erwähnung finden, nicht nur aus Gründen seiner historischen Bedeutsamkeit, sondern auch weil es einen Grundstein für die heute gebräuchlichen Klassifikationssysteme gelegt hat – nicht zuletzt auch in der Hierarchisierung einzelner diagnostischer Kategorien. Es unterscheidet: 1. organisch begründbare psychische Störungen, 2. schizophrene und affektive Störungen, 3. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen. Im Verständnis dieses Systems („Schichtenregel nach Jaspers“) waren zum Beispiel neurotische Störungen nur nach Ausschluss von schizophrenen und affektiven Störungen („endogenen Psychosen“) möglich und letztere wiederum nur nachdem eine organische Grundstörung („exogene Psychosen“) ausgeschlossen werden konnte. Diesem Prinzip folgen auch moderne Klassifi kationen in ihren Grundzügen, wenn auch nicht mehr in voller Konsequenz. So sind in den modernen Klassifi kationssystemen (siehe 4.1) auch Doppeldiagnosen aus unterschiedlichen Kategorien möglich, also z. B. Schizophrenie und akute Belastungsstörung.
4.1
Klassifikationssysteme
Um eine internationale Vergleichbarkeit von Diagnostik und Behandlung psychiatrischer Erkrankungen zu gewährleisten sowie auch um ein gemeinsames überregionales Forschungsverständnis zu ermöglichen, wurden im letzten Jahrhundert, ursprünglich
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getrennt voneinander, zwei letztendlich stark konfluierende Klassifi kationssysteme entwickelt, die weltweit Akzeptanz finden: • Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt die International Classification of Diseases (ICD) heraus, die in der 10. Revision (ICD-10) vorliegt. • Die American Psychiatric Association (APA) entwickelte das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das seit 1994 in der 4. Fassung (DSM-IV) zur Verfügung steht. Beide Klassifi kationssysteme beruhen auf einer operationalisierbaren Diagnostik, im Rahmen derer eine bestimmte Konstellation von Symptomen letztlich für die Diagnose ausschlaggebend ist. Zudem operieren beide Systeme auf der Basis einer primär beschreibenden, phänomenologischen Zuordnung der einzelnen Störungsbilder. Ätiologische Zuordnungen, d. h. Krankheitsbezeichnungen, die hypothetische Überlegungen bezüglich der Entstehung der Störung beinhalten, wie z. B. die Begriffe „neurotische Depression“ oder „endogene Depression“ werden in beiden Systemen vermieden. Davon ausgenommen sind Störungen, bei denen eine ursächliche Zuordnung eindeutig möglich ist, wie z. B. „organische psychische Störungen“ oder „Belastungsstörungen“. Damit soll gewährleistet werden, dass eine internationale Klassifi kation abseits der historischen Schulenvielfalt psychiatrischer Diagnostik möglich wird. Zu den genannten Klassifi kations- bzw. Diagnosesystemen wurden standardisierte Interviews entwickelt (CIDI zum ICD-10, SCID und MINI zu DSM-IV): Diese sehr aufwändigen und hochstrukturierten Fragebögen bieten den Vorteil einer standardisierten Befragung und einer vollständigen Befunddokumentation. Sie finden vor allem im Forschungskontext Anwendung, sollten aber im klinischen Alltag das ausführliche personen- und situationsspezifische psychiatrische Interview keinesfalls ersetzen, allenfalls aber ergänzen. Das vorliegende Lehrbuch und seine Kapiteleinteilung basieren auf der WHOKlassifi kation ICD-10. Diese Systematik wird nur manchmal aus didaktischen Gründen verlassen, z. B. im Kapitel „Sexualstörungen“, das Diagnosen, die im ICD-10 in getrennten Kategorien (F5, F6) besprochen werden, in übersichtlicher Weise zusammenfasst. Ähnliches gilt für die Kapitel „Essstörungen“ und „Schlafstörungen“, denen im vorliegenden Buch besonderes Gewicht gewidmet wird. Zuletzt entspricht auch die Systematik des Kapitels „Organisch bedingte Psychische Störungen“ nicht genau der ICD-10-Klassifi kation; hier findet noch, ebenso aus didaktischen Gründen, die traditionell deutsche Einteilung in Durchgangssyndrome Berücksichtigung. Nicht unerwähnt bleiben darf auch die Tatsache, dass sowohl ICD-10 als auch DSM-IV sich derzeit in einer Phase der Überarbeitung befinden. Revisionen beider Klassifikationssysteme werden für die Jahre 2013–2015 angekündigt. Schon jetzt lässt sich – allerdings natürlich mit gewissem Vorbehalt – absehen, dass die revidierten Diagnoseinstrumente keine revolutionären Änderungen beinhalten werden.
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Psychiatrische Untersuchungstechnik
Tragende Säule der psychiatrischen Untersuchung ist das ärztliche Gespräch: Es stellt das Arbeitsbündnis zwischen Arzt und Patient her und dient nicht nur der Informationsgewinnung, sondern auch der Vertrauensbildung. Das in die Diagnosefindung einmündende Gespräch besitzt bereits therapeutischen Charakter: In der uneingeschränkten Annahme des Patienten durch den Therapeuten und in der Besprechung belastender Probleme findet der Kranke Entlastung und Entspannung. Trotz des einfühlsamen Verstehens und der menschlichen Nähe darf die gebotene Distanz nicht aufgegeben werden. Die psychiatrische Untersuchung fordert vom Therapeuten Einfühlungsvermögen, Flexibilität, Geduld und Zeit.
5.1
Anamneseerhebung
Die psychiatrische Anamnese zielt auf das Erfassen und die Beurteilung des subjektiven Erlebens des Patienten im Kontext seiner persönlichen Entwicklung und seiner gesamten Lebensgeschichte. Starre Schemata, ähnlich dem internistischen oder dem neurologischen Untersuchungsplan, haben sich in der täglichen Praxis nicht bewährt. Der Patient schildert zunächst frei seine Beschwerden. Dieser Schilderung entnimmt der erfahrene Arzt wichtige Aspekte. Im Laufe der Anamneseerhebung wird die offene Gesprächsführung schrittweise verlassen, das Gespräch nimmt immer mehr Struktur an. Durch gezielte Fragen wird die Krankheitsvorgeschichte erfasst und der Reifungsprozess sowie die soziale Entwicklung dargestellt. Die subjektiven Beschwerden werden in ihrem zeitlichen Beginn und Verlauf, in ihren sozialen Auswirkungen und in ihrem Bedeutungszusammenhang festgehalten. Das Gespräch beinhaltet somit einerseits objektive Informationen, andererseits auch subjektive Deutungen des Patienten. Darüber hinaus umfasst jede biografische Anamneseerhebung die Schilderung der Ursprungsfamilie mit eventuellen hereditären Belastungen, sie berücksichtigt die Meilensteine der psychomotorischen und psychosexuellen Entwicklung, die schulische und berufliche Ausbildung und geht auf Probleme der Partnerschaft und der familiären Einbindung sowie der Arbeitssituation und der Freizeitgestaltung ein. Für den Psychiater sind nicht nur die Inhalte des Gesprächs, sondern auch die Beobachtung des Patienten bezüglich seines Verhaltens, des Sprechtempos, der Gestik und der Mimik von großer Wichtigkeit. Die aus dem ersten Teil des Gesprächs ableitbaren diagnostischen Vermutungen werden dann durch gezieltes Forschen nach psychopathologischen Symptomen, nach akuten Belastungssituationen sowie nach lebensgeschichtlichen Zusammenhängen erweitert bzw. bestätigt. Im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung sind suggestive Fragestellungen zu vermeiden, der Psychiater muss andererseits aber auch die Möglichkeit einer Dissimulationstendenz oder einer bewussten Irreführung durch den Patienten berücksichtigen.
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Die Anamneseerhebung umfasst somit die Familienanamnese, die biografische Anamnese inkl. der sozialen und sexuellen Entwicklungsstadien, die früheren und aktuellen körperlichen Erkrankungen, die Charakterisierung der Primärpersönlichkeit und schließlich die psychiatrische Anamnese. Im Rahmen der Familienanamnese sind die soziale und berufliche Situation und das Familienklima bei Eltern und Großeltern zu erfassen und eventuelle neuropsychopathologische Auff älligkeiten (hereditäre Erkrankungen, Suizide, Suchterkrankungen, dissoziale Tendenzen) zu erfragen. Darüber hinaus soll eine Charakterisierung der beiden Elternteile und der Geschwister sowie der vier Großeltern versucht werden. Die Erfassung der äußeren Lebensgeschichte bemüht sich, neben den demografischen Daten die Stellung in der Geschwisterreihe, Besonderheiten in Schwangerschaftsund Geburtsverlauf sowie den Lebensraum in Kindheit und Jugend zu erfassen. Hierher gehören noch die Meilensteine der schulischen und berufl ichen Entwicklung sowie des Beziehungsverhaltens. Die innere Lebensgeschichte umfasst die narrative Schilderung der frühkindlichen und psychosexuellen Entwicklung, die Rolle der Bezugspersonen und den Erziehungsstil der Eltern. Darunter fallen auch Fragen nach Ehe und Partnerschaft , nach den gesellschaft lichen Kontakten und nach religiöser und weltanschaulicher Bindung. Zur Erfassung der Primärpersönlichkeit dienen Hinweise auf prämorbide Persönlichkeitseigenschaften bzw. zur Selbsteinschätzung des Patienten. Aus den bereits vorliegenden Gesprächsinhalten können schon Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur gewonnen werden. Im Rahmen der somatischen Anamnese werden frühere und/oder aktuelle körperliche Erkrankungen und deren Behandlungen erfasst. Die psychiatrische Anamnese erkundigt sich einerseits nach früheren psychiatrischen Erkrankungen und deren therapeutischen Beeinflussung, andererseits nach der Vorgeschichte und der Entwicklung der aktuellen Symptomatik. Darüber hinaus muss versucht werden, den Beginn der Beschwerden festzuhalten, eventuelle Auslösebedingungen zu definieren, die Einstellung des Betroffenen zu seiner eigenen Erkrankungen zu vergegenwärtigen sowie eine vollständige Auflistung der bisherigen medikamentösen Behandlungsversuche zu erhalten. Schließlich sind die Erwartungen des Patienten an die Behandlung zu definieren. In Ergänzung der Eigenanamnese dient die Fremd- oder Außenanamnese der Objektivierung der Angaben des Patienten. Häufig gelingt erst in der verantwortungsbewussten Auswertung der Angaben Dritter eine verlässliche Diagnosestellung. Die Stellung des Referenten zum Patienten ist zu klären und auch schrift lich festzuhalten. Die Aufzeichnungen der fremd- bzw. außenanamnestischen Erhebungen sind vertrauliche Mitteilungen. Sie dienen der Information der mit dem Patienten betrauten Therapeuten und sind somit nicht für die Übergabe an den Kranken bzw. einen Vertreter bestimmt. Aus diesen Gründen sind sie in der Krankengeschichte getrennt abzulegen. Neben der Darstellung des äußeren Erscheinungsbildes, der Verbalisierungsfähigkeit, der Gestik und Motorik ist auch das Verhalten in der Untersuchungssituation Bestandteil des psychischen Befundes.
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5.2
Psychopathologische Befunderhebung
Im Rahmen der psychopathologischen Befunderhebung wird systematisch nach der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung sowie nach der Orientierung und den Gedächtnisleistungen gefragt, auch um Bewusstsein und Vigilanz beurteilen zu können. Die Frage nach dem Wahrnehmungsmodus hat das Vorliegen von illusionären Verkennungen oder Halluzinationen zu objektivieren, ferner ist zu klären, ob formale oder inhaltliche Denkstörungen bestehen. Darüber hinaus müssen die Affektivität (depressive oder manische Stimmungslage), der Antrieb (Antriebsstörungen, psychomotorische Besonderheiten), eine eventuelle Intelligenzminderung (angeborene oder erworbene Intelligenzminderung) und das Ich-Erleben (Ich-Störung, Autismus) beurteilt werden. Zum psychopathologischen Befund gehören noch Angaben bezüglich der Krankheitseinsicht, des Krankheitsgefühls sowie des Wahrheitsgehaltes der gemachten Angaben. Das Fehlen oder das Vorliegen von Suizidgedanken oder Suizidimpulsen ist in der Krankengeschichte zu dokumentieren. Die wesentlichen psychopathologischen Begriffe und deren Definition finden sich auf Seite 543 „Glossar psychiatrischer und psychopathologischer Fachausdrücke“.
5.3
Organische Befunderhebung
Die körperliche Befunderhebung ist unerlässlicher Bestandteil der psychiatrischen Untersuchung, ihr Stellenwert ist jedoch je nach Krankheitsbild verschieden. Im Suchfeld stehen jene körperlichen Erkrankungen, die psychische Störungen bedingen können. Eine internistische sowie eine neurologische Untersuchung ist stets angezeigt, auch beim Verdacht auf das Vorliegen einer „neurotischen oder Belastungsstörung“ sind sie unerlässlich. Im differenzialdiagnostischen Prozess erlaubt das psychopathologische Querschnittsbild häufig keine schlüssige Zuordnung bezüglich der Ursache der Störung. Unterschiedlichste Noxen wie zum Beispiel mechanische Läsionen, Stoffwechsel- bzw. Elektrolytstörungen, Intoxikationen, Hirndurchblutungsstörungen, Infektionen, Tumoren usw. sind häufig Kausalfaktoren für psychiatrische Erkrankungen. Eine exakte körperliche und neurologische Untersuchung wird dadurch unverzichtbar. Jeder Patient, der wegen eines psychischen Leidens ärztlichen Rat in Anspruch nimmt, muss infolgedessen einer gewissenhaft durchgeführten körperlichen Untersuchung unterzogen werden. Obligatorisch erscheinen uns zumindest folgende Untersuchungen: • Erhebung des körperlichen Allgemeinbefundes inkl. Blutbild, Blutchemie und EKG, • Erhebung des neurologischen Status, • (Bildgebende Verfahren des ZNS.)
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Bei entsprechenden Verdachtsmomenten empfiehlt sich darüber hinaus zum Beispiel eine endokrinologische Abklärung sowie eine HIV-Diagnostik. Bei differenzialdiagnostischen Erwägungen im Rahmen akuter psychotischer Zustände bzw. meningoenzephaltischer Prozesse ist eine Liquoruntersuchung notwendig. Die nachfolgende „Anleitung zum Anlegen einer Krankengeschichte“ ist eine praxisnahe Übersicht aller Informationen, die für die Erstellung einer psychiatrischen Diagnose relevant sind.
5.4
Anleitung zum Anlegen einer Krankengeschichte
Inhalte der Krankengeschichte: Blatt 1 1.) Aufnahme, Einweisungsdiagnose 2.) Aktuelle Symptomatik 3.) Frühere psychiatrische Erkrankungen 4.) Psychopathologischer Status 5.) Internistische Erkrankungen, interner Status 6.) Neurologischer Status 7.) Bei Aufnahme verordnete Medikation bzw. empfohlene therapeutische Maßnahmen 8.) Vorläufige Diagnose Blatt 2 9.) Familienanamnese 10.) Biografische Anamnese 11.) Fremdanamnese ad 1.) Aufnahme: Aufnahmemodus (durch wen zugewiesen, mit welcher Verdachtsdiagnose; weshalb kommt der Patient; freiwillig, gegen seinen Willen?). Der Zeitpunkt des Erstkontakts ist festzuhalten. Daten zum Patienten: wichtige Adressen, Telefonnummern, Kontaktpersonen. ad 2.) Aktuelle Symptomatik: Aktuelle Beschwerden und deren Entwicklung. Eigene Angaben des Patienten (evtl. besondere Formulierungen des Patienten zitieren). Wenn der Patient selbst keine oder nur wenige Angaben machen kann, sind hier auch fremdanamnestische Informationen aufzunehmen. Aus den Angaben sollte hervorgehen, wie der Patient selbst seine Krankheit einschätzt. Die Entwicklung der psychopathologischen Veränderung und der Krankheitssymptome ist möglichst chronologisch zu ordnen. Vorhandene auslösende Ereignisse erwähnen.
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ad 3.) Frühere psychiatrische Erkrankungen: Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung bzw. des Zustandsbildes, insbesondere frühere Episoden (mit Anzahl, Dauer, Symptomatik und Behandlung; Name des Arztes, Angaben der verordneten Medikamente und des therapeutischen Erfolges, frühere Krankenhausaufenthalte). Befinden zwischen den Episoden. ad 4.) Psychopathologischer Status: Verhalten und Ausdruck; Bewusstseinslage, Orientierung, Auffassung und Konzentration, Gedächtnis; Denken (z. B.: formale und inhaltliche Denkstörungen), Wahrnehmung (z. B.: Halluzinationen), Ich-Erleben; Affektivität (z. B.: Stimmung, Angst, Reaktivität, Kontakt); Antrieb, Psychomotorik; Intelligenz; Persönlichkeitszüge. Biorhythmen (Tagesschwankungen der Symptomatik, Schlaf) Vegetative Symptomatik (z. B. trockener Mund, trockene Haut und Schleimhäute, Schwitzen, Zittern, Obstipation, Diarrhoe etc.). ad 5.) Internistische Erkrankungen – interner Status: Kinderkrankheiten, interne Vorerkrankungen bzw. Operationen etc. ad 6.) Neurologischer Status: Hirnnerven, Reflexbefund, Tonus, Motorik, Sensibilität, Pyramidenzeichen. ad 7.) Therapieplan: (bei der Aufnahme verordnete Medikation bzw. empfohlene therapeutische Maßnahmen) ad 8.) Vorläufige Diagnose: Die bisher erhobenen Befunde werden diskutiert und münden in eine (vorläufige) Diagnoseerstellung. Differenzialdiagnostische Überlegungen werden angeführt. ad 9.) Familienanamnese: Neuropsychiatrische Erkrankungen in Aszendenz und Kollateralen (Verwandte 1. Grades: Eltern, Geschwister, Kinder; Verwandte 2. Grades: Großeltern, Onkel/Tante, Halbgeschwister, Neffe/Nichte, Enkel). Bei positiver Familienanamnese die Symptomatik bzw. Diagnose des kranken Angehörigen notieren. Eventuell Zwillingsgeburten vermerken. ad 10.) Biografische Anamnese: Äußere Lebensgeschichte: Geburt: mit/ohne Komplikationen, frühkindliches Verhalten von Geburt bis jetzt: wo aufgewachsen, Kindergarten, welche Schule; abgeschlossene, abgebrochene, Berufsausbildung; berufliche Situation, Familienstand, Partnerschaften, Kinder (Alter, Schule, berufliche Situation) Innere Lebensgeschichte: Dem Patienten gerecht werdende Schilderung seiner persönlichen Entwicklung: Elternhaus, Kindheit, Jugend: familiäres Milieu; Kontaktfreudigkeit, Interessen, Hobbys; Belastungen in Kindheit. Weitere Entwicklung und derzeitige Situation: Einstellung des Patienten zu seiner Ehe bzw. Partnerschaft, zu Kindern, Geschwistern und zur Familie. Evtl. bestehende
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familiäre Probleme: Lebensstandard (subjektive Zufriedenheit). Evtl. bestehende finanzielle Probleme; soziale Kontakte, belastende Ereignisse in der letzten Zeit; Zukunftsplanung. Sexuelle Entwicklung: Sexualerziehung, evtl. Missbrauch, evtl. Sexualstörungen, befriedigendes bzw. nicht befriedigendes Sexualleben. Persönlichkeitszüge: hervorstechende Wesenszüge oder besondere Wertvorstellungen und Verhaltensmuster des Patienten. Selbstbewusstsein, Kontaktfähigkeit. ad 11.) Fremdanamnese: Name und Anschrift der befragten Personen, Grad der Beziehung zum Patienten. Wiedergabe der Beschreibung der Krankheitsentwicklung, evtl. Auslöser oder Verhaltensveränderungen sowie Verhaltensauff älligkeiten.
Merke: Das Blatt 2 genießt besonderen Datenschutz: Diese Angaben sind sehr verantwortungsbewusst zu handhaben, sie sind z. B. nicht für Versicherungsgesellschaften bestimmt. Die Fremdanamnese dient dem Arzt als wichtige persönliche Information; dem Patienten können diese Informationen vorenthalten werden.
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Verena Günther | Ilse Kryspin-Exner
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Klinisch-psychologische Diagnostik und Befunderhebung Verena Günther, Ilse Kryspin-Exner
Methoden, Ziele und Aufgaben Die klinisch-psychologische Diagnostik ist als eine wissenschaft liche Disziplin zu verstehen, welche Aussagen über psychische Funktionen und psychologische Charakteristika einer Person mittels spezieller Methoden tätigt. Zu den grundlegenden Methoden der klinisch-psychologischen Diagnostik zählen: • die Erhebung biografischer Daten wie Alter, Schulbildung etc.; • die Selbstbeobachtung des Patienten: eine Patientin mit Bulimie protokolliert beispielsweise therapiebegleitend schrift lich die Anzahl ihrer Essattacken und die dabei konsumierten Nahrungsmittel; • die Fremdbeobachtung: der Psychologe beobachtet zum Beispiel bei einem schwer sozial gehemmten Patienten, wie häufig es diesem gelingt, im Gespräch Blickkontakt aufzunehmen; • die psychophysiologische Diagnostik: dabei werden periphere physiologische Prozesse, beispielsweise die Anspannung des Musculus frontalis bei Spannungskopfschmerz, gemessen und ihr Zusammenhang mit psychologischen Parametern erfasst; • die Testdiagnostik, auch psychometrische Diagnostik genannt, auf die im Folgenden – dem Ziel dieses Kapitels entsprechend – näher eingegangen wird. Aufgaben und Ziele der testpsychologischen Diagnostik • Sie dient der Erfassung und objektiven Beschreibung des aktuellen kognitiven und affektiven Zustandes eines Patienten sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht. Werden beispielsweise Gedächtnisfunktionen überprüft, so wird in einem ersten Schritt auf qualitativer Ebene gesucht, welche speziellen Gedächtnisfunktionen betroffen sind (z. B. verbale oder visuelle Merkfähigkeit, Kurz- oder Langzeitgedächtnis). In einem zweiten Schritt wird gemessen, um wie viel (quantitativ) die Gedächtniskapazität gegenüber einer gesunden Vergleichsperson reduziert ist. • Sie vermittelt Informationen über psychologische Faktoren, die die Symptomatik aufrechterhalten. • Sie tätigt Aussagen sowohl über Kompetenzen und Stärken als auch über Defizite und Schwächen eines Patienten. • Sie trägt zur Indikationsstellung für verschiedene therapeutische Interventionen und Rehabilitationsmaßnahmen bei. • Sie dient im Sinne einer „therapiebegleitenden Diagnostik“ der Evaluation des Verlaufes einer therapeutischen Intervention (siehe auch Stetina et al., 2011).
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Merkmale eines psychologischen Tests Ein Test muss, um als wissenschaft lich hochwertiges diagnostisches Routineverfahren in der Psychodiagnostik eingesetzt werden zu können, spezielle Voraussetzungen – die sogenannten Testgüterkriterien – erfüllen. Dazu zählen u. a. • Objektivität: Ein Test erfüllt dann die Forderung nach Objektivität, wenn mehrere Untersucher zum selben Ergebnis kommen, den Test also gleich interpretieren. • Reliabilität: Unter Reliabilität versteht man die Zuverlässigkeit und Stabilität von Testresultaten im Falle wiederholter Anwendungen. Ein Test ist also dann reliabel, wenn mehrmalige Messungen bei ein und derselben Person zum gleichen Ergebnis führen. • Validität (Gültigkeit der Testresultate): Darunter versteht man den Grad der Genauigkeit, mit der ein Test das Merkmal, das er zu messen vorgibt, wirklich misst. Stellt man bei einem alkoholkranken Patienten in einem Gedächtnistest deutliche Defizite fest, dann sollte es diesem Patienten auch schwerfallen, sich im Alltag wesentliche Dinge einzuprägen, wie beispielsweise den Inhalt eines eben gelesenen Zeitungsberichtes (siehe auch Schermelleh-Engel et al., 2006). Neben diesen Gütekriterien müssen für einen gut konzipierten psychologischen Test auch sorgfältig ausgearbeitete Normwerte vorliegen. „Eichen“ oder „Normieren“ nennt man das Berechnen einer Kennzahl, die das Verhältnis des Testwertes einer Person zu den Ergebnissen einer sogenannten Normstichprobe zum Ausdruck bringt. Angenommen, eine 35-jährige depressive Patientin benötigt zur Bewältigung einer Konzentrationsaufgabe 30 Minuten, so sagt dieser Wert erst dann etwas aus, wenn bekannt ist, wie üblicherweise 35-jährige Frauen mit gleichem Ausbildungsgrad in diesem Test abschneiden. Wird also von gesunden Frauen durchschnittlich 15 Minuten für besagte Konzentrationsaufgabe benötigt, dann wäre die Patientin im Vergleich dazu deutlich schlechter, also in ihrer Konzentrationsleistungsfähigkeit „unter der Norm“ gelegen. Der „testpsychologische Markt“ ist inzwischen fast unüberschaubar angewachsen, viele der angebotenen Testverfahren werden den methodischen Anforderungen nicht ausreichend gerecht. Man tut daher gut daran, sich in den Anleitungen und Testhandbüchern genau über die Testgütekriterien sowie über die vorhandenen Normwerte zu informieren, weshalb Auswertung und Interpretation psychologischer Tests grundsätzlich in die Hände klinischer PsychologInnen/GesundheitspsychologInnen gehört. Klassifi kation psychologischer Testverfahren Die Möglichkeiten, Tests nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten zu klassifizieren, sind zahlreich. Weitgehend akzeptiert wird jedoch die große Zweiteilung in „Leistungstests“ und „Persönlichkeitstests“. Beide Gruppen bestehen wiederum aus verschiedenen Subkategorien (Brickenkamp, 1983).
6.1
Leistungstests
Psychische Störungen gehen häufig mit kognitiven Beeinträchtigungen einher, welche von Patienten oft als sehr belastend und ihren Alltag erschwerend erlebt werden. 13
Verena Günther | Ilse Kryspin-Exner
Die Aufgabe dieser Testverfahren in der Psychiatrie ist es daher, Beeinträchtigungen in den verschiedenen Komponenten der Informationsverarbeitung zu objektivieren. Erhoben werden u. a. Bereiche wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Konzentration eines Patienten, aber auch seine Fähigkeiten, zielgerichtet planen und handeln zu können (Bartl-Storck und Dörner, 2004). Für die leistungsdiagnostische Abklärung psychiatrischer Patienten sind folgende Testverfahren besonders relevant: 6.1.1
Neuropsychologische Verfahren
Aufmerksamkeits- und Konzentrationstests: Diese bestehen üblicherweise aus sehr einfachen Aufgaben, die im Sinne einer kurzen Belastung lediglich über einige Minuten, oder im Sinne einer Langzeitbelastung, auch über einen längeren Zeitraum möglichst schnell und genau durchgeführt werden müssen. Im Aufmerksamkeits-Belastungs-Test von Pauli beispielsweise werden 20 Minuten lang einfache Zahlen addiert, im Test d-2 nach Brickenkamp soll aus mehreren Zeilen mit verschiedenen Buchstaben das „d“ herausgefiltert werden. Verbale Gedächtnisfunktionen werden mit Hilfe von Wortlisten, Geschichten, manchmal auch Zahlenreihen, die vorgelesen und anschließend sofort (Kurzzeitgedächtnis) oder nach einiger Zeit (mittelfristiges bzw. Langzeitgedächtnis) reproduziert werden, erfasst (z. B. Münchner Verbaler Gedächtnistest von Ilmberger). Um das visuelle Gedächtnis zu objektivieren, werden häufig geometrische Figuren verwendet, die über einen gewissen Zeitraum eingeprägt und in der Folge aus dem Gedächtnis nachgezeichnet werden sollen (z. B. visueller Gedächtnistest von Benton). Allgemeine Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit: Zahlen oder Buchstaben, die zufällig auf einem Blatt Papier verteilt sind, sollen möglichst schnell geordnet miteinander verbunden werden (z. B. Zahlen-Verbindungs-Test von Oswald und Roth). Visuell-räumliche Fähigkeiten können durch farbige Würfel, mit denen ein vorgegebenes Muster nachgebaut werden muss, erhoben werden (z. B. Mosaiktest aus dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene von Tewes). Exekutivfunktionen: Unabhängig von vorhanden Fertigkeiten sowie Wissensbeständen einer Person verlangt sinnvolles Verhalten bei abstrakteren Problemstellungen die Fähigkeit, strukturiert zu planen, zielgerichtet zu handeln und diese Handlungsabläufe zu evaluieren. Relevante Informationen müssen von irrelevanten getrennt werden (Bartl-Storck und Dörner, 2004; Diener und Olbrich, 2004; Kryspin-Exner, 2010). Besonders Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis zeigen Defizite in der geordneten Handlungsplanung und -initiierung sowie Handlungsüberwachung und -kontrolle. Dies wirkt sich nicht zuletzt auch negativ auf Krankheitseinsicht und Compliance aus (Lautenbach und Möser, 2004). Eines der beliebtesten Verfahren zur Erfassung der vorausschauenden Planung und des prozessorientierten Problemlösens ist der „Turm von Hanoi“. In Anlehnung an das mathematische Geduldsspiel müssen drei, vier oder mehr Holzscheiben nach bestimmten Regeln von einer Position auf eine andere gebracht werden. Als Indikator für die Umstellfähigkeit (Flexibilität) wird gerne der Trail-Making-Test B von Reitan herangezogen. Er besteht aus Zahlen-Buchstaben-Matrizen, mit der Aufgabe, die
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Symbolsequenzen zu erkennen und zu verbinden. Am häufigsten zur Messung von Exekutivfunktionen wird jedoch der Wisconsin Card Sorting Test von Heaton et al. eingesetzt. Patienten sollen die Regeln erkennen, nach denen Antwortkarten an 4 Stimuluskarten, welche sich in Bezug auf Farbe, Form und Anzahl der abgebildeten Symbole unterscheiden, angelegt werden. Die Anlegeregeln sind aus der Rückmeldung des Untersuchers (richtig/falsch) zu erschließen. Nach 10 richtigen Antworten wird ohne Vorwarnung auf eine neue Kategorie gewechselt. Patienten mit mangelnden Umstellfähigkeiten wiederholen häufig das falsche Antwortverhalten trotz geänderter Anlegeregel (Diener und Olbrich, 2004; Überblick zu neuropsychologischen Instrumenten sind auch dem „Testglossar“ von Lautenbacher und Gauggel, 2004, zu entnehmen). Neuropsychologische Testbatterien: Durch die Möglichkeit, testpsychologische Verfahren computerisiert darzubieten, gibt es inzwischen eine Vielzahl von umfangreichen Testbatterien, welche mannigfache Aufgaben zur Erhebung unterschiedlichster kognitiver Einzelleistungen integrieren, wie etwa die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung von Zimmermann und Fimm. Der Vorteil fi xer Testbatterien liegt darin, dass man einen generellen Überblick über Stärken und Schwächen in verschiedenen Funktionsbereichen erhält, und diverse Störungsbilder systematisch miteinander verglichen werden können. Als nachteilig erweist sich dagegen ihr hoher Zeitaufwand. Auch werden oft Funktionsbereiche mit überprüft, die keine oder nur eine geringe Relevanz für die spezifische Störung aufweisen. Eine besondere Subgruppe der Leistungstests stellen die Instrumente zur Messung der Intelligenz dar. 6.1.2 Intelligenztests In der Psychologie gibt es immer noch keine einheitlichen Modellvorstellungen von Intelligenz. Deshalb muss bei jedem Verfahren das Intelligenzkonzept des Testautors bekannt sein. In dem im deutschen Sprachraum sehr bekannten Hamburg-WechslerIntelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R von Tewes) setzt sich der Intelligenzquotient aus einer Vielzahl einzelner Teilleistungen (z. B. Worte erklären, einfache Rechenaufgaben durchführen, Puzzles legen etc.) zusammen. Derart komplexe Intelligenztests integrieren auch oft Teilleistungen der vorher beschriebenen neuropsychologischen Verfahren (z. B. Gedächtnisaufgaben). Im Gegensatz dazu stehen Intelligenztests, die lediglich über den Weg des logischformalen Denkens einen Intelligenzquotienten erfassen und andere Fertigkeiten vernachlässigen (Progressiver Matrizentest nach Raven). Vor dem Hintergrund der Bandbreite unterschiedlicher Intelligenztests verwundert es daher nicht, dass die Intelligenzquotienten der jeweiligen Verfahren bei ein und derselben Person oft nicht übereinstimmen (Vock und Holling, 2006). Psychologische Trainingsprogramme zur Verbesserung von Leistungsparametern und von neuropsychologischen Funktionen sind aus dem Gesamttherapiekonzept für psychisch Kranke nicht mehr wegzudenken. Geübt werden, sehr häufig computerunterstützt, mannigfache Bereiche wie Konzentration, Visuomotorik, Auffassung, Merkfähigkeit u. v. m.
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Verena Günther | Ilse Kryspin-Exner
Die wissenschaft liche Datenlage spricht dafür, dass ein gezieltes Hirnleistungstraining nicht nur die neuropsychologischen Parameter positiv beeinflusst, sondern sich auch Stimmung und subjektives Kompetenzerleben deutlich verbessern (Trebo et al., 2007).
6.2
Persönlichkeitstests
Markante Persönlichkeitsmerkmale stellen für die Entwicklung vieler psychiatrischer Störungen Vulnerabilitäten dar. Eine ausgeprägte soziale Introversion und Gehemmtheit kann die Entstehung einer depressiven Symptomatik fördern. Für das Behandlungsprozedere muss der Stellenwert dieser Merkmale im psychopathologischen Geschehen entsprechend berücksichtigt werden. Darüber hinaus unterliegen auch die Ergebnisse der psychologischen Leistungstests dem Einfluss personaler Faktoren, wie Motivation und Emotion. Das schlechte Ergebnis eines depressiven Patienten in einem Konzentrationstest könnte allein durch die für affektive Störungen charakteristische Antriebshemmung erklärbar sein. Die Befunde psychologischer Leistungstests lassen sich daher erst im Kontext dieser Einflussgrößen richtig verstehen und einordnen (Bartl-Storck und Dörner, 2004). Grundsätzlich werden psychometrische Persönlichkeitstests von projektiven Verfahren unterschieden. 6.2.1 Psychometrische Persönlichkeitstests Dabei handelt es sich um Fragebögen, die in der Regel die Testgütekriterien (also Objektivität, Validität, Reliabilität und Normierung) erfüllen. Im Sinne einer Selbstbeschreibung beantwortet der Patient klar vorformulierte Fragen, z. B.: „Ich gehe abends gerne aus“ mit ja R nein R. In der Psychiatrie kommen häufig folgende Verfahren zur Anwendung: Persönlichkeitsstrukturtests: Sie erfassen stabile Merkmale einer Person, von denen angenommen wird, dass sie sich im Laufe des Lebens nicht wesentlich ändern werden. Es sind dies beispielsweise Extra- und Introversion, emotionale Labilität und Stabilität, Gehemmtheit, Aggressivität u. Ä. Ziel dieser Verfahren ist es, diese Faktoren, die grundsätzlich jedem Menschen, wenngleich in sehr unterschiedlicher Ausprägung, innewohnen, zu quantifizieren (z. B. Freiburger Persönlichkeits-Inventar von Fahrenberg et al.; Neo-Fünf-Faktoren-Inventar von Borkenau und Ostendorf). Klinische Tests hingegen erfassen psychopathologische Bilder und dienen der differenzialdiagnostischen Abklärung psychiatrischer Diagnosen. Einer der bekanntesten ist das Minnesota-Multiphasic-Personality-Inventory von Hathaway und McKinley. Gemessen werden das Ausmaß von Faktoren wie u. a. „Hypochondrie“, „Depression“, „Schizoidie“ und „Psychopathie“. Merkmale einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erhebt das Borderline-Persönlichkeits-Inventar von Leichsenring. Mittels des Eppendorfer Schizophrenie-Inventars von Maß wiederum lässt sich der Verdacht auf eine Erkrankung aus dem schizophre-
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Einführung | 1
nen Formenkreis absichern. Darüber hinaus existieren eine Vielzahl von Symptomlisten, meist sehr kurze Fragebögen, die die Intensität und/oder Qualität von speziellen emotionalen Zuständen wie Depression oder Angst erheben (z. B. State-Trait-Angstinventar von Laux et al.; Depressionsinventar von Beck). Fragebögen zur Erfassung bestimmter Verhaltensweisen und Probleme befassen sich mit dem menschlichen Verhalten in speziellen Situationen. Der Stressverarbeitungs-Fragebogen von Erdmann und Janke erhebt den individuellen Umgang mit Stresssituationen. Aber auch im pathologischen Bereich sind hier eine Reihe von Verfahren zu nennen, so das Hamburger-Zwangs-Inventar von Zaworka et al., welches unterschiedliche Formen von Zwangssymptomen diagnostiziert oder das Trierer Alkoholismusinventar von Funke et al., in welchem verschiedenen Ursachen des Alkoholkonsums nachgegangen wird. Fragebögen zur Erhebung der Lebensqualität: Speziell aus sozialpsychiatrischer Sichtweise wird der Lebensqualität von psychiatrischen Patienten ein besonderer Stellenwert zugeordnet, sie gilt als wichtiges Zielkriterium therapeutischer Interventionen. Erhoben werden die Zufriedenheit des Patienten sowie funktionsbezogene Aspekte in verschiedenen Lebensbereichen wie u. a. Arbeit, Wohnen, Familie/Partnerschaft , Gesundheit etc. Häufig in Verwendung bei psychiatrischen Patienten ist das Lancashire Quality of Life Profile, LQOLP (in der deutschen Version von Priebe et al). 6.2.2 Projektive Verfahren Diese orientieren sich an dem tiefenpsychologischen Mechanismus der Projektion. Patienten werden angeregt, Bilder zu deuten, Sätze zu ergänzen oder auch aktiv ein vorgegebenes Thema zu zeichnen: Daraus werden dann diagnostische Schlussfolgerungen gezogen. Diese Verfahren erfüllen die strengen Testgütekriterien in der Regel nicht oder nur unzureichend. Der erfahrene Diagnostiker kann jedoch Hinweise auf bisher möglicherweise nicht beachtete (eventuell auch bislang unbewusste) Themen des Patienten erhalten. Als Prototyp der Projektionsverfahren gilt das Formdeuteverfahren nach Rorschach. Relativ unstrukturierte, nicht eindeutig erkennbare abstrakte Bilder („Tintenkleckse“) werden dem Patienten vorgelegt, mit der Instruktion, alles zu äußern, was diese Bilder für ihn persönlich darstellen könnten (Rauchfleisch, 2006).
6.3
Die Erhebung sozialer Kognitionen und „emotionaler Intelligenz“ – neue Trends der Psychodiagnostik
Viele psychiatrische Patienten, insbesondere schizophren Erkrankte, aber auch solche mit affektiven Störungen, Alkoholabhängigkeit oder Persönlichkeitsstörungen leiden unter Defiziten im Erkennen und Decodieren sozialer Signale und Emotionen (Hoheisel und Kryspin-Exner, 2005). Beispielsweise ist die Fähigkeit, die Individualität menschlicher Gesichter oder deren emotionalen Ausdruck zu deuten sowie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Absichten zu erkennen („theory of mind“) gegenüber Gesunden deutlich vermindert. Die Störungen in diesen sozialen 17
Verena Günther | Ilse Kryspin-Exner
Kognitionen dürften maßgeblich für die Auff älligkeiten im Kommunikations- und Sozialverhalten vieler psychisch Kranker verantwortlich sein (siehe dazu Überblicksarbeiten von Haker et al., 2010; Hofer et al., 2010). Zur Erhebung der emotionalen Intelligenz und der sozialen Kognitionen gibt es bereits einige Testverfahren, wie den Emotionalen-Kompetenz-Fragebogen von Rindermann oder den Facial Emotional Expression Labeling Test von Kessler et al. Bei letztgenanntem Instrument handelt es sich um ein PC-gestütztes Verfahren. Es werden Gesichtsabbildungen zu Basisemotionen (wie Freude, Trauer, Angst etc.) sowie auch Gesichtsabbildungen mit neutralem Ausdruck auf einem Computerbildschirm präsentiert. Aufgabe der Testperson ist es, den gezeigten Gesichtsausdruck zu einer der Emotionen bzw. zu „kein Gefühl“ zuzuordnen. Inzwischen werden in die Behandlung und Rehabilitation psychiatrischer Patienten bei Bedarf Trainingsprogramme zur Steigerung der „emotionalen Intelligenz“ mit durchaus vielversprechenden Erfolgen integriert (Vauth und Stieglitz, 2008).
6.4
Besonderheiten der testpsychologischen Untersuchung in der Psychiatrie
Eine fundierte testpsychologische Diagnostik in der Psychiatrie kombiniert üblicherweise sowohl Leistungs- als auch Persönlichkeitstests. Es wird somit eine eklektische Vorgehensweise gewählt, die multimethodial und breit angelegt ist. Als Entscheidungsgrundlage werden nicht einzelne Daten (z. B. das Ergebnis eines speziellen Intelligenztests), sondern alle Daten in ihrer Kombination und Gewichtung herangezogen. Das schlechte Ergebnis eines Konzentrationstests wird bei einem sehr ängstlichen Patienten anders zu interpretieren sein, als bei einem Patienten ohne Angst. Die Auswahl der testpsychologischen Verfahren erfolgt hypothesengeleitet. Besteht etwa im Vorfeld aufgrund der Exploration und Verhaltensbeobachtung der Verdacht, dass es sich um einen Patienten handelt, der über ein hohes Aggressionspotenzial verfügt, dann wird man für die Psychodiagnostik Verfahren wählen, welche verschiedene Facetten von aggressivem Verhalten messen können. Weiters wird bei der Planung der Testuntersuchung zu berücksichtigen sein, ob eine Statusdiagnostik oder eine Prozessdiagnostik bzw. Therapiekontrolle angestrebt wird. Bei einer Statusdiagnostik liegt der Fokus auf dem Momentanzustand: Es wird beispielsweise festgestellt, ob ein Patient mit Panikattacken sich auch in seinem sonstigen Angstniveau von gesunden Personen unterscheidet. Bei der Prozessdiagnostik geht es um intraindividuelle Vergleiche, um Fragestellungen, inwiefern sich der Depressionswert einer Person aufgrund einer medikamentösen und/oder psychotherapeutischen Intervention verändert. Nicht zuletzt muss eine Vielzahl von Einflussfaktoren, die die testpsychologische Untersuchung bei psychiatrischen Patienten erschweren, in Betracht gezogen werden. Menschen mit einer psychischen Erkrankung befinden sich in einer speziellen Ausnahmesituation und sind häufig pharmakologisch eingestellt. Nebenwirkungen der Medikation können Testergebnisse verfälschen, ebenso krankheitsbedingte Tagesschwankungen. Ein depressiver Patient mit einem Morgenpessimum wird – wenn er
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Einführung | 1
in der Früh mit einem Leistungstest untersucht wird – deutlich schlechter abschneiden als am Abend. Zusätzlich können motorische Beeinträchtigungen, etwa ein alkoholbedingter Tremor, ebenfalls das reibungslose Durchführen von zügig zu absolvierenden Leistungstests erschweren. Somit verlangt eine testpsychologische Untersuchung zum einen eine möglichst geschützte und angstfreie Atmosphäre sowie eine hohe Sensibilität seitens des Untersuchers, zum anderen müssen die unterschiedlichsten Faktoren, die den Aussagewert der Testpsychologie schmälern, immer in Betracht gezogen werden. In jedem Fall sollte der Fokus nicht nur auf der Interpretation numerischer Werte (also den reinen Testergebnissen) liegen, es soll andererseits auch sehr aufmerksam beachtet und analysiert werden, wie sich eine Person dem Testleiter gegenüber sowie in der Testsituation verhält, wie sie auf diese Herausforderungen emotional reagiert und welche Wege sie wählt, um zu einem bestimmten Ergebnis zu kommen. Gerade der Umgang mit kognitiven Defiziten, also Bewältigungs- und Kompensationsmechanismen, ist psychodiagnostisch sehr interessant. Diese qualitative Analyse des Verhaltens muss in die psychodiagnostische Beurteilung und Befundung immer mit einfließen (Bartl-Storck und Dörner; Rupp et al., 2010).
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Verena Günther | Ilse Kryspin-Exner
Weiterführende Literatur Bartl-Storck C, Dörner D (2004) Der „kognitive Kern“ der Neuropsychologie. In: Lautenbacher S, Gauggel S (Hrsg) Neuropsychologie psychischer Störungen. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York Brickenkamp R (1983) Erster Ergänzungsband zum Handbuch psychologischer und pädagogischer Tests. Hogrefe, Göttingen Diener C, Olbrich R (2004) Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen. In: Lautenbacher S, Gauggel S (Hrsg) Neuropsychologie psychischer Störungen. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York
Payk Th R (2010) Psychopathologie. 3. Auflage, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg Rauchfleisch U (2006) Projektive Tests. In: Petermann F, Eid M (Hrsg) Handbuch der Psychologischen Diagnostik. Hogrefe Verlag, Göttingen – Bern – Wien – Toronto – Seattle Rupp C, Derntl B, Hinterhuber H (2010) Neuropsychologie und psychische Störungen. In: Lehrner J, Pusswald G, Fertl E, Strubreither W, Kryspin-Exner I (Hrsg) Klinische Neuropsychologie. Grundlagen – Diagnostik – Rehabilitation. 2. Aufl. Springer Verlag, Wien
Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2010) Internationale Klassifi kation psychischer Störungen. Verlag Hans Huber, Bern
Saß H, Wittchen HU, Zaudig M (1996) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV, Hogrefe-Verlag, Göttingen
Haker H, Schimansky J, Rössler W (2010) Soziophysiologie: Grundlegende Prozesse der Empathiefähigkeit. Neuropsychiatrie 24: 151–160
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Hofer A, Biedermann F, Yalcin N, Fleischhacker WW (2010) Neurokognition und soziale Kognition bei Patienten mit schizophrenen und affektiven Störungen. Neuropsychiatrie 24: 161–169
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Hoheisel B, Kryspin-Exner I (2005) Emotionserkrankung in Gesichtern und emotionales Gesichtergedächtnis. Neuropsychologische Erkenntnisse und Darstellung von Einflussfaktoren. Zeitschrift für Neuropsychologie 16: 77–87
Stetina BU, Kothgassner OD, Kryspin-Exner I (2011) Wissenschaft liches Arbeiten und Forschen in der Klinischen Psychologie. UTB facultas.wuv, Wien
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20
Trebo E, Holzner B, Pircher M, Prunnlechner R, Günther, V (2007) Der Einfluss eines computergestützten kognitiven Trainigs auf neuropsychologische und kognitionspsychologische Funktionen depressiver Patienten. Neuropsychiatrie 21: 207–215 Vauth R, Stieglitz RD (2008) Training Emotionaler Intelligenz bei schizophrenen Störungen. Ein Therapiemanual. Hogrefe Verlag, Göttingen Bern Wien Paris Oxford Prag Toronto Cambridge, MA Amsterdam Kopenhagen Vock M, Holling H (2006) Intelligenzdiagnostik. In: Petermann F, Eid M (Hrsg) Handbuch der Psychologischen Diagnostik. Hogrefe Verlag, Göttingen – Bern – Wien – Toronto – Seattle
Kapitel 2
Organische Psychische Störungen (ICD-10 F0) Hartmann Hinterhuber, Josef Marksteiner
1
Geschichtlicher Überblick und Synonyma
Bonhoeffer beschrieb 1917 das Krankheitsbild des „akuten exogenen Reaktionstyps“, auf das C. Mayer bereits 1909 hingewiesen hatte, und stellte dabei fest, dass einer Vielzahl von körperlichen Störungen mit psychischen Begleiterscheinungen nur eine kleine Zahl an Syndromen gegenübersteht (Gesetz der Noxenunspezifität). Wieck nannte diese Psychosen wegen der funktionellen Beeinträchtigung „Funktionspsychosen“ und die Syndrome – sofern sie reversibel und nicht mit einer Bewusstseinstrübung vergesellschaftet sind – „Durchgangssyndrome“. Der Begriff „Durchgangssyndrom“ bezeichnet eine zeitlich begrenzte organische Psychose. Im Rahmen schwerer Erkrankungen treten eine Reihe unspezifischer psychischer Störungen auf, die sich gewöhnlich in wenigen Tagen völlig zurückbilden (daher „Durchgangssyndrom“ genannt). Kurt Schneider fasste unter seinen „körperlich begründbaren Psychosen“ vor allem Syndrome mit Bewusstseinstrübung zusammen. M. Bleuler erweiterte die Lehre der organischen Psychosen, indem er den von Bonhoeffer beschriebenen akuten Formen zwei chronische organische Psychosen zur Seite stellte, das „hirnlokale“ und das „hirndiff use organische Psychosyndrom“. Ursächlich sind die unterschiedlichsten auf das Gehirn einwirkenden Schädigungen wie Schädel-Hirn-Traumata, Intoxikationen, Stoff wechselentgleisungen, Blutdruckschwankungen sowie die Folgen verschiedener Medikamente oder operativer Eingriffe. Das ICD-10 gliedert die organischen (einschließlich der symptomatischen) psychischen Störungen einerseits in die verschiedenen demenziellen Formen, andererseits in das amnestische Syndrom und in Delirien (soweit sie nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt sind) und in psychische Störungen sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen in Folge einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirnes beziehungsweise infolge einer körperlichen Erkrankung (Tabelle 1). Im klinischen Gebrauch werden Synonyma für organische psychische Störungen verwendet: • organische Psychosyndrome • symptomatische Psychosen • organische Psychosen • körperlich begründbare psychische Störungen • exogene Psychosen Im vorliegenden Lehrbuch werden die demenziellen Erkrankungen im Kapitel 10 „Gerontopsychiatrie“ behandelt. 21
Hartmann Hinterhuber | Josef Marksteiner
Tabelle 1
ICD-10-Diagnosen
Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F00–F09) F00.–
Demenz bei Alzheimerkrankheit
F01.–
Vaskuläre Demenz
F02.–
Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
F03.–
Nicht näher bezeichnete Demenz
F04.–
Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F05.–
Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F06.–
Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder körperlichen Krankheit
F07.–
Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F09.–
Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung
2
Definition
Organische psychische Störungen sind Syndrome, die durch zerebrale Funktionsveränderungen unterschiedlicher Ätiologie bedingt sind. Gestalt und Ausprägung der Symptomatik sind nicht durch das schädigende Agens allein, sondern durch den Manifestationszeitpunkt, die Geschwindigkeit des Auft retens, die Schwerpunktlokalisation sowie durch den Schweregrad der Schädigung definiert. Organisch bedingte psychische Störungen sind psychopathologisch vielgestaltig und können reversibel oder irreversibel sein. Anamnese und Symptomatik müssen eine körperlich begründbare Störung eindeutig erkennen lassen. Von den Symptomen alleine kann nicht auf eine spezifische Ätiologie geschlossen werden. Organische psychische Störungen werden in akute und chronische organische Psychosyndrome eingeteilt. Akute organische Psychosyndrome beruhen auf akuten Veränderungen des Gehirns. Das Vollbild ist charakterisiert durch plötzlichen Beginn und fluktuierende Störungen der kognitiven Fähigkeiten, der Psychomotorik und der Affektivität. Sie sind reversibel, wenn die Ursache wegfällt oder erfolgreich behandelt wird. Wir unterscheiden akute organische Psychosyndrome • mit Bewusstseinsveränderung (Delir) • ohne Bewusstseinsveränderung (z. B. Halluzinosen, amnestische Zustände, affektive Durchgangssyndrome) Chronische organische Psychosyndrome sind die Folge einer chronischen Veränderung des Gehirns. Die demenziellen Erkrankungen sind die wichtigsten Formen des
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Organische Psychische Störungen | 2
chronischen Psychosyndroms. Charakteristisch ist ein zunehmender Verlust kognitiver (intellektueller) Fähigkeiten. In einer weiteren Gruppe der chronischen Psychosyndrome kommt es vor allem zu Veränderungen der Persönlichkeit. Das Beispiel der frontotemporalen Demenz (siehe dort) zeigt, dass ausgeprägte Persönlichkeitsveränderungen auch einer Demenz vorauseilen können (Abb. 1).
Hirnfunktionsstörung aufgrund zerebaler Veränderungen oder sonstiger somatischer Erkrankungen oder Schädigungen, die das Gehirn in Mitleidenschaft ziehen.
Vorwiegend kognitive Störungen: Gedächtnis, Lernen, Intellekt
Abb. 1
Vorwiegend Halluzinationen, Wahn, affektive, psychomotorische und dissoziative Symptome
Vorwiegend Persönlichkeits- oder Verhaltensänderungen
Psychopathologische Folgen von Hirnfunktionsstörungen
Die Hirnfunktionsstörungen können primär sein, wenn Erkrankungen, Verletzungen oder Störungen vorliegen, die das Gehirn direkt betreffen; von sekundären Funktionsstörungen sprechen wir, wenn das Gehirn im Rahmen anderer, vorwiegend internistischer Erkrankungen mitbetroffen ist (Tabelle 2). Organische psychische Störungen können alle Altersstufen betreffen, treten aber vorzüglich im Erwachsenenalter oder im Senium auf. Der Verlauf kann entweder progredient in eine irreversible Störung einmünden oder spontan – beziehungsweise unter entsprechenden medikamentösen Maßnahmen – zur Restitutio ad integrum führen. Tabelle 2
Ursachen für organische Psychosyndrome
Primäre Ursachen
Sekundäre Ursachen
Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems
Metabolische Störungen Nutritiv-toxische Einwirkungen
Schädel-Hirn-Traumen
Neoplastische Syndrome
Hirntumore
Speichererkrankungen (Morbus Wilson)
Multiple Sklerose, AIDS
Vergiftungen und Stoffwechselstörungen
Frühkindlich entstandene Hirnfunktionsstörungen
Endokrinopathien
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Hartmann Hinterhuber | Josef Marksteiner
3
Diagnose und Differenzialdiagnose organischer Psychosen
Die differenzialdiagnostische Abgrenzung der organischen Psychosen von psychischen Störungen anderer Genese gelingt unter Berücksichtigung der folgenden Kriterien meistens ohne Schwierigkeiten: 1. Zeitlicher Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung 2. Symptome der Hirnleistungsschwäche Der zeitliche Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung oder zerebralen Beeinträchtigung weist auf die organische Genese der Symptome hin. Obligatorisch sind weiters die Zeichen einer Hirnleistungsschwäche. Bei Verdacht auf eine organische Psychose ist eine strukturierte somatische Abklärung mit Labordiagnostik, EEG und bildgebenden Verfahren sowie durch eine testpsychologische bzw. neuropsychologische Beurteilung zwingend erforderlich. Differenzialdiagnostische Überlegungen schließen vor allem psychotische und affektive Störungen sowie veränderte Schlaf-Wach-Zyklen, Angststörungen und Intoxikationen ein.
4
Bewusstsein und Formen der Bewusstseinsstörungen
Das Bewusstsein wird als Zusammenspiel der Wachheit mit Denkprozessen, der Orientierungs- und Erinnerungsfähigkeit und den Handlungsabläufen definiert. Es ermöglicht den Bezug zwischen dem Individuum und der Welt. Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die autobiografischen Erfahrungen des Selbst werden als erweitertes Bewusstsein bezeichnet. Dem gegenüber steht das Kernbewusstsein, das dem augenblicklichen Selbst entspricht. Dieser Dichotomie folgt die Gliederung in ein Objekt-Bewusstsein (das transitive Bewusstsein) und das Selbstbewusstsein (das intransitive Bewusstsein). Das Objekt-Bewusstsein umfasst die Vigilanz, den Schatz der Erfahrungen und das von der konkreten Person angehäufte objektive Wissen. Das intransitive oder Selbstbewusstsein ermöglicht dem Individuum seinen Wachzustand wahrzunehmen, seine eigenen Gefühle zu erkennen und seine Handlungen zu planen und zu reflektieren sowie die Fähigkeit mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ein wesentliches Merkmal des intransitiven Bewusstseins ist die Selbsterkenntnis. Das Bewusstsein fußt auf neuronalen Substraten, die verschiedene Funktionskreise umfassen, die alle hierarchisch organisiert sind und dynamisch zusammenarbeiten. Die unterste Ebene wird durch das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem in der mesenzephalen Formatio reticularis bestimmt, das über den Thalamus zur Großhirnrinde, über den Hypothalamus zum basalen Vorderhirn und zum limbischen System projiziert. Diese Ebene dient als Kontrollsystem der kortikalen Aktivität. Die 24
Organische Psychische Störungen | 2
Erregung dieses Systems führt zu einer Arousalreaktion: Darin können wir ein elektrisches Korrelat des Bewusstseins sehen. Eine Beeinträchtigung dieses Systems kann zum Koma führen. Die oberste Ebene des Bewusstseins sind kortikale Netzwerke, die der Aufmerksamkeit, dem Langzeitgedächtnis, dem Erkennen und der motorischen Steuerung dienen. Durch bildgebende Verfahren ist es möglich, für die unterschiedlichsten Bewusstseinsstörungen entsprechende Läsionsebenen nachzuweisen. Bewusstseinsstörungen können in quantitative und qualitative unterteilt werden.
4.1
Quantitative Bewusstseinsstörungen
Quantitative Bewusstseinsstörungen (Bewusstseinsverminderungen) wirken sich auf die Vigilanz und den Wachheitsgrad aus, sie reichen von Benommenheit, Somnolenz, Sopor bis hin zur Bewusstlosigkeit bzw. den verschiedenen Graden von Koma. 1. Benommenheit: Denken und Handeln sind deutlich bis hin zur Apathie verlangsamt. Die Orientierungsfähigkeit ist herabgesetzt oder eingeschränkt; 2. Somnolenz: Es besteht eine beständige Schläfrigkeit oder Schlafneigung, die durch einfache Weckreize aber noch jederzeit unterbrochen werden kann; 3. Sopor: Hierbei handelt es sich um einen schlafähnlichen Zustand, der Betroffene kann nur durch Schmerzreize geweckt werden. 4. Koma: Der höchste Grad der Bewusstlosigkeit besteht, wenn jemand durch keinerlei Mittel mehr geweckt werden kann. Neurologisch können dabei anhand zunehmender Reflexausfälle weitere Grade bis zum tiefsten Koma unterschieden werden. Ein Sonderfall des Komas ist das sog. Wachkoma oder das Apallische Syndrom. In der Notfallmedizin ist die Einteilung anhand der Glasgow Coma Scale üblich.
4.2
Qualitative Bewusstseinsstörungen
Qualitative Bewusstseinsstörungen wirken sich auf die Bewusstseinsklarheit aus. Wir unterscheiden dabei neben der Bewusstseinstrübung alle Formen der Bewusstseinseinengung und Bewusstseinsverschiebung und -erweiterung. • Von einer Bewusstseinstrübung spricht man bei mangelnder Klarheit der Vergegenwärtigung des Erlebens. Eine Trübung des Bewusstseins kann ständig bestehen und damit kontinuierlich sein, aber auch nur zeitweise auftreten (ondulierendes Bewusstsein). Der bewusstseinsgetrübte Patient zeigt formale Denkstörungen, die zeitliche, räumliche und situative Orientiertheit ist gestört, Merkfähigkeit, Gedächtnis und Antrieb sind deutlich eingeschränkt. • Eine Bewusstseinseinengung besteht in einer gedanklichen oder emotionalen Fixierung auf einen Aspekt des Lebens mit der Folge einer verminderten Ansprechbarkeit.
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Hartmann Hinterhuber | Josef Marksteiner
• Bei einer Bewusstseinsverschiebung/-erweiterung handelt es sich um eine Veränderung der Bewusstseinslage gegenüber dem normalen Tageswachbewusstsein. Sie kann in Form einer gesteigerten Wachheit (Überwachheit) auftreten, evtl. verbunden mit einer meditativ erreichten oder unterstützten „ekstatischen“ Erlebensweise. Ekstasen haben damit Ähnlichkeit zur Trance, in die sie dann auch übergehen können. Für die Hypervigilität ist ein stark erhöhtes Arousal und ein erhöhter Sympathikustonus charakteristisch. Daraus resultiert eine motorische Hyperaktivität sowie eine gesteigerte Ablenkbarkeit. Eine Hypervigilität tritt bei Angst, Agitiertheit, bei manischen Episoden und im Rahmen einer akuten Psychose auf.
5
Akute organische Psychosyndrome mit Bewusstseinsveränderungen
5.1
Delir F05.0
5.1.1
Definition und Diagnose
Im Delir kann das Bewusstsein sowohl quantitativ als auch qualitativ gestört, das Denken inkohärent und unzusammenhängend sein. Weitere Merkmale sind Desorientiertheit sowie gesteigerte Suggestibilität und vegetative Syndrome mit adrenergsympathotoner Überregulation (Tachykardie, Hyperhidrosis und Tremor). Ein Temperaturanstieg wird selten beobachtet. Das Syndrom „Delir“, definiert nach den ICD-10-Kriterien, gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Nach den WHO-Kriterien liegt ein Delir vor, wenn folgende Symptome vorhanden sind: • Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörungen • Störung der Wahrnehmung und der Kognition (Illusionen und – meist optische – Halluzinationen beispielsweise „Flockenlesen“ und „Nesteln“) • Psychomotorische Störungen (Hypo- oder Hyperaktivität, verlängerte Reaktionszeit) • Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus • Affektive Störungen wie Depressionen, Angst oder Reizbarkeit Der Beginn ist gewöhnlich akut, der Verlauf fluktuierend, die Gesamtdauer beträgt weniger als 6 Monate. Die zugrunde liegende Ursache ist nachweisbar. Mit steigendem Lebensalter ist eine deutliche Zunahme des Risikos für ein Delir zu verzeichnen. Das für den Betroffenen und seine Umgebung oft bedrohliche Beschäftigungsdelir liegt dann vor, wenn ein deliranter Patient halluzinierend versucht, seinen ihm vertrauten Tätigkeiten nachzukommen.
26
Organische Psychische Störungen | 2
5.1.2 Epidemiologie Daten zur Häufigkeit liegen fast ausschließlich aus klinischen Einrichtungen vor. Aufgrund zahlreicher Studien kann man davon ausgehen, dass ca. 10–40 % der in Allgemeinkrankenhäusern behandelten älteren Menschen zum Zeitpunkt der Klinikaufnahme bzw. im stationären Verlauf von einem deliranten Syndrom betroffen sind (Tabelle 3). Tabelle 3
Häufigkeit des Delirs
Prävalenz bei stationärer Aufnahme im Krankenhaus Inzidenz im Allgemein-Krankenhaus
14–24 % 6–56 %
Inzidenz postoperativ
15–53 %
Inzidenz Intensivmedizin
70–87 %
Altersheime und Pflegeeinrichtungen
60 %
Häufigkeit am Lebensende
83 %
Prävalenz > 85 Jahre
14 %
Prävalenz Notaufnahmestationen (im höheren Lebensalter)
10–30 %
Mortalität im Krankenhaus
22–76 %
1-Jahres-Mortalität
35–40 %
5.1.3 Verlauf Delirien sind akute psychiatrische Erkrankungen, die einer intensiven stationären Betreuung bedürfen. Aufgrund der starken vegetativen Erregung ist das Delir besonders bei somatisch vorgeschädigten Patienten (z. B. alkoholischer Kardiomyopathie, Leber- oder Niereninsuffizienz, etc.) ein lebensbedrohliches Geschehen. Unter entsprechender Therapie klingen delirante Zustandsbilder üblicherweise nach einigen Tagen ab. Die Mortalität ist im Rahmen eines Delirs immer noch sehr hoch: Es ist deshalb wesentlich, ein Delir zu verhindern. 5.1.4 Pathogenese Die Ursachen einer deliranten Verwirrtheit sind meistens multifaktoriell. Das Delir tritt bei akuten körperlichen Erkrankungen, bei Traumata und Intoxikationen auf. Die Tabelle 4 (S. 28) gibt die häufigsten Ursachen wieder:
27
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Tabelle 4
Ursachen des Delirs
Infektionen (Meningitis, Encephalitis, Sepsis, Pneumonie) Medikamente (z. B. Anticholinergika) Alkohol- bzw. Benzodiazepinentzug Stoffwechselstörungen (z. B. Hyperthyreose, Hypoglykämie) Hypoxien sowie Hyperkapnie Leber- und Nierenkrankheiten Hypertone Enzephalopathie Schädel-Hirn-Traumata Intoxikationen (z. B. Alkohol und Drogen) Epileptische Anfälle Fieber Exsikkose
5.1.5
Diagnostik bei Verdacht auf Delir
Die Diagnostik fußt auf einer genauen Anamneseerhebung, auf einem internistischen und neurologischen Status sowie auf Labor- und Zusatzuntersuchungen. Anamnese: (Fremdanamnese) • Medikamentenanamnese einschl. jener Präparate, die freiverkäuflich sind • Alkoholanamnese • Abschätzung des prämorbiden intellektuellen Niveaus • Frühere Episoden akuter oder längerfristiger Verwirrtheit • Operationen, neurologische oder psychiatrische Vorerkrankungen • Komorbiditäten Laboruntersuchungen • Blutbild, Differenzialblutbild, Gamma-GT, GOT, GPT, alkalische Phosphatase, Gesamtstickstoff, Natrium, Kalium, Chlorid, Bilirubin, Kreatinin, Blutalkohol • Blutzucker (Blutzuckertagesprofil, HbA1c) • Entzündungsparameter (CRP, BSG) • Drogenscreening • Schilddrüsenparameter (TSH, FT3, FT4) Zusatzdiagnostik • Röntgen-Thorax • EKG • Bildgebung (CCT oder nach Möglichkeit MRT) insbesondere bei initialen Anfällen, neurologischen Herdzeichen oder Bewusstseinsstörungen
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Eventuelle Zusatzdiagnostik nach dem klinischen Zustandsbild • HIV-Test • Borrelien-Titer • TPHA-Test • Blutkultur, Liquor (Meningoenzephalitis?) • EEG (nach Anfall, nichtkonvulsiver Status epilepticus?) 5.1.6 Formen des Delirs Prinzipiell können drei unterschiedliche Formen des Delirs beobachtet werden. Tabelle 5
Formen des Delirs
Hyperaktives Delir (z. B. Delirium tremens) > ca 15% Psychomotorische Unruhe (bis zur Erregung) Erhöhte Irritierbarkeit Halluzinationen Angst Ausgeprägte vegetative Zeichen Hypoaktives Delir (z. B. Medikamentenintoxikationen) > ca 25% „scheinbare“ Bewegungsarmut Kaum Kontaktaufnahme Halluzinationen und Desorientierung werden erst durch Befragen deutlich Selten vegetative Zeichen Das hypoaktive Delir wird sehr oft nicht erkannt Gemischtes Delir > ca 50%
5.1.7
Risikofaktoren
Es gibt Faktoren, die das Delir-Risiko stark erhöhen (siehe Tabelle 6). Diese Risikofaktoren sollten – wenn möglich – vor jedem operativen Eingriff reduziert werden. Tabelle 6
Risikofaktoren für das Delir-Risiko
Risikofaktor
Relatives Delir-Risiko
Anticholinergika
4,5–11,7
≥ 6 Medikamente
13,7
Natrium < 130 mmol/l
5,7
Harnstoff > 10 mmol/l
4,8
Schwere Erkrankung
4,5
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Tabelle 6
Risikofaktoren für das Delir-Risiko
Risikofaktor
Relatives Delir-Risiko
Demenz
5,2
Alkoholismus
3,3
Depression
1,9
Seh-/Hörstörung
1,9
5.1.8 Mögliche Komplikationen eines Delirs Ein Delir ist stets eine lebensbedrohliche Erkrankung, die Komplikationen sind vielfältig und schwerwiegend. Tabelle 7 gibt die wesentlichen delirassoziierten Störungen wieder: Tabelle 7
Komplikationen des Delirs
Elektrolytentgleisung Kreislaufschock epileptischer Anfall Herzrhythmusstörungen hypertone Krise Niereninsuffizienz hepatisches Koma bakterielle Entzündung Sepsis Pankreatitis Rhabdomyolyse Multiorganversagen
5.2
Die Verwirrtheitszustände
5.2.1 Definition und Diagnose Die Verwirrtheitszustände (Synonym: amentielles Syndrom) weisen nach der traditionellen deutschsprachigen Psychopathologie als Kardinalsymptome Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit sowie ein globales kognitives Defizit auf. Gestört ist auch die Affektivität sowie die Psychomotorik im Sinne von hyper- oder hypoaktiven Zustandsbildern: Die Betroffenen können unter Depressivität, Angst oder Reizbarkeit leiden.
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Charakteristisch sind ein schwankendes, leicht getrübtes Bewusstsein sowie ein gestörtes formales Denken mit einer Tendenz zum Haften. Die Einschätzung und Bewertung der Umgebung ist erschwert, die Kritikfähigkeit weitgehend reduziert. Die Orientierung ist in den Dimensionen Raum und Zeit gestört, die autopsychische Orientierung bleibt am längsten aufrecht, kann aber bei schweren Störungen auch verloren gehen. Oft besteht eine Ratlosigkeit oder auch eine hochgradige Erregung und ein Bewegungsdrang mit motorischer Unruhe (Katastrophenreaktion). Halluzinationen und Wahnphänomene treten seltener auf. Der Beginn der Symptomatik ist akut. Für die Dauer des Verwirrtheitszustandes besteht im Allgemeinen eine Amnesie. 5.2.2 Ursachen Viele Erkrankungen führen zu Verwirrtheitszuständen: zerebrale Durchblutungsstörungen, Blutdruckschwankungen, hirnleistungssenkende Pharmaka oder SchädelHirn-Traumata. Bei alten Menschen kann nachts durch die hypotone Blutdrucksituation eine Verschlechterung der Orientierungsfähigkeit eintreten. 5.2.3 Verlauf Verwirrtheitszustände weisen eine deutliche Fluktuationstendenz auf. Man unterscheidet vom Verlauf her zwischen akuten und chronischen Verwirrtheitszuständen. Letztere treten bei schweren Substratschädigungen, z. B. im Rahmen von Demenzen auf. Die Orientierungsstörung kann Minuten bis Tage anhalten, sie kann auch irreversibel sein.
5.3
Die Dämmerzustände
5.3.1
Definition und Diagnose
Im Dämmerzustand ist das Bewusstsein nicht getrübt, jedoch auf wenige erlebbare Bewusstseinsinhalte beschränkt und eingeengt. Außenreize werden vielfach nicht wahrgenommen, die Aufmerksamkeit ist nach innen gerichtet. Die Kranken wirken traumverloren oder berauscht, der Umwelt kaum zugänglich. Die Betroffenen sind nicht schläfrig oder benommen, es fehlt ihnen aber die volle Bewusstseinsklarheit, die Selbstvergegenwärtigung, der Selbstbezug und die Kommunikationsfähigkeit. Sie erkennen die sie umgebende Realität. Über Ort und Zeit sowie die Personen ihrer Umgebung sind sie orientiert. Die Patienten gehen traumwandlerisch umher und können sinnlose, persönlichkeitsfremde, manchmal auch kriminelle Handlungen begehen. Der Dämmerzustand endet oft in einem Terminalschlaf. Zusätzlich können Halluzinationen und als Folge davon Erregungszustände vorkommen. „Geordnete Dämmerzustände“ erlauben scheinbar sinnvolle Handlungen, die von der Umwelt oft nicht als krankhaft erkannt werden. Bei verworrenen Dämmerzuständen ist die Bewusstseinsqualität bereits in solchem Maße beeinträchtigt, dass oft nur mehr eine ungerichtete motorische und verbale Reaktivität vorliegt: Diese Patienten neigen zu Aggressionshandlungen. Dämmerzustände sind transiente psychopathologische Phänomene.
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5.3.2 Ursachen Organisch bedingte Dämmerzustände kommen bei Epilepsie, insbesondere bei Temporallappenepilepsie sowie beim pathologischen Alkohol- und Drogenrausch vor. Als postiktale Phänomene sind sie im Gefolge eines Grand mal zu beobachten. Differenzialdiagnostisch sind sie von dissoziativen Störungen (psychogenen Dämmerzuständen, Konversionsstörungen) abzugrenzen. 5.3.3 Verlauf Die Dauer beträgt Stunden bis Tage. Für die Dauer des Dämmerzustandes besteht eine teilweise oder vollkommene Amnesie. 5.3.4 Therapeutische Ansätze Die Therapie der Dämmerzustände richtet sich nach der Grunderkrankung, fordert aber eine rigorose Überwachung des Patienten.
6
Akute organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsveränderung
6.1
Das akute amnestische Syndrom (akutes KorsakowSyndrom) F04
6.1.1
Symptomatik
Das akute amnestische Syndrom ist durch eine sehr ausgeprägte Gedächtnisstörung charakterisiert: Diese beherrscht das klinische Bild. Neue Informationen können nicht gespeichert werden. Im Rahmen von Schädel-Hirn-Traumata oder einer transienten globalen Amnesie (siehe unten) erstreckt sich die Amnesie nur auf kurze Zeiträume. Die Patienten versuchen, die Gedächtnislücken durch Konfabulation zu füllen. Darüber hinaus herrscht eine sehr ausgeprägte Suggestibilität. Eine besondere Form der Gedächtnisstörung ist die transiente globale Amnesie. Dabei handelt es sich um ein seltenes Krankheitsbild mit einem vorübergehenden vollständigen Ausfall der Erinnerungsfähigkeit, verbunden mit einer meist retrograden Amnesie. Während der Attacke ist das Verhalten des Patienten bis auf die unablässigen, wiederholten Fragen nach seinen unmittelbaren Lebensumständen (beispielsweise „Was tue ich hier?“, „Wie bin ich hierhergekommen?“) vollkommen normal, der Betroffene ist wach und ist zu anspruchsvoller intellektueller Aktivität und Sprachfunktion fähig und steht im Kontakt mit seinem Umfeld.
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6.2
Die organisch emotional labile (asthenische) Störung F06.6
Die organisch emotional labile – asthenische – Störung (Synonym: hyperästhetischemotioneller Schwächezustand oder pseudoneurasthenisches Syndrom) ist gekennzeichnet durch eine Hypersensibilität für Außenreize und durch eine oft unmotivierte Erregung auf banale Stimuli sowie durch eine vegetative und emotionale Labilität. Der hyperästhetisch-emotionelle Schwächezustand kann einerseits im Rahmen beispielsweise eines fieberhaften Infektes oder eines Schädel-Hirn-Traumas als isoliertes Phänomen bestehen, andererseits aber auch im Zuge der Rückbildung der Symptomatik einer schwereren organischen Psychose vor der vollständigen Wiederherstellung der Gesundheit auftreten. Eine organisch emotional labile Störung kann bei anhaltender, auf das Gehirn einwirkender Schädigung in eine organische affektive Störung einmünden.
6.3
Organische affektive Störungen F06.3
(Synonym: depressives Durchgangssyndrom, dysphorisches Durchgangssyndrom, manisches Durchgangssyndrom) Eine Senkung der Hirnleistung im Rahmen eines organischen Psychosyndroms kann die Grundlage für eine depressive Verstimmtheit sein. Auch kann diese zu einer (organisch bedingten) manischen Symptomatik Anlass geben. Typisch für eine organische affektive Störung ist eine depressive Symptomatik im Gefolge einer Infektionserkrankung, beispielsweise eines grippalen Infektes, einer kardialen Dekompensation, eines operativen Eingriffes oder eines Schädel-Hirn-Traumas. Von einem dysphorischen Durchgangssyndrom sprechen wir, wenn die Stimmungslage durch Misslaune geprägt ist, die Patienten gereizt sind und Alltagsvorfälle depressiv verarbeiten. Die Umgebung empfindet sie als leicht irritabel und verärgert. Häufig besteht eine simultan kontradiktorische Aktivierung: Es fi nden sich gleichzeitig manische und depressive Antriebs- und Stimmungskomponenten. Aus der organischen affektiven Störung kann sich eine paranoide Symptomatik (paranoides Durchgangssyndrom) entwickeln: Aufgrund des Rationalisierungsbedürfnisses projizieren die Patienten die Ursachen ihrer Störung nach außen. Oft sind es die sich besonders um die Patienten bemühenden Angehörigen, die massiven Anschuldigungen ausgesetzt werden. Für diese Phänomene wird im ICD-10 der Begriff „organische wahnhafte Störung“ benützt.
6.4
Organische wahnhafte (schizophreniforme) Störung F06.2
(Synonym: Paranoid-halluzinatorisches Durchgangssyndrom) Im Rahmen einer organischen Ätiologie können sich Störungen entwickeln, die durch Wahnideen charakterisiert sind. Oft liegen typische schizophrene Symptome wie bizarrer Wahn oder formale Denkstörungen vor. Wahnideen können sich aufgrund
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von bestehenden Halluzinationen entwickeln, sind jedoch auch unabhängig davon zu beobachten. Bewusstsein und Gedächtnisfunktionen sind ungestört. Die Störung der Kontrolle über Wahrnehmungen und Assoziationen ist Folge der zunehmenden Einschränkung der Hirnleistung: Bei schwerer zerebraler Desintegration kommt es zu illusionären Verkennungen, Pseudohalluzinationen oder echten Halluzinationen. Halluzinationen können entweder elementar (optisch als Lichtblitze, akustisch als Geräusche) oder – bei stärkerer Desintegration – auch szenisch-komplex sein. Im Rahmen der schweren kognitiven Beeinträchtigung sind selbst olfaktorische und gustatorische Halluzinationen bekannt, sowie auch das gleichzeitige Wahrnehmen von Halluzinationen auf mehreren Sinnesgebieten (Synästhesien). Bezieht der Patient die Sinnestäuschungen auf sich, liegt ein paranoid-halluzinatorisches Syndrom vor. Häufig liegen die Störungen in limbischen und/oder subkortikalen Strukturen. Unterschiedliche Ursachen bedingen somit die genannten Zustandsbilder: Temporallappenepilepsien, Enzephalitiden, degenerative Hirnerkrankungen sowie Intoxikationen und Schädelhirntraumata. LSD-Konsum, Amphetamingebrauch und prolongierter Alkoholmissbrauch können wie auch eine L-Dopa-Medikation in eine organische wahnhafte (schizophreniforme) Störung (paranoid-halluzinatorisches Durchgangssyndrom) einmünden. 6.4.1 Verlauf Die genannten Störungen können sich im Rahmen der therapeutischen Maßnahmen oder auch gegebenenfalls spontan zurückbilden. Sie beschreiten dann in ihrem Verlauf den umgekehrten Weg ihrer Entwicklung: Aus einer organisch wahnhaften Störung kann sich über eine manische oder depressive Symptomatik eine organisch emotionell labile (asthenische) Störung entwickeln, um dann in die vollkommene Remission überzugehen. Bei entsprechender Schwere der Einwirkung auf das Gehirn bzw. bei ausgeprägter Vorschädigung ist auch ein Übergang in ein chronisches psychoorganisches Syndrom mit Bewusstseinsstörung möglich (siehe 7-3).
6.5
Organische katatone Störung F06.1
Besonders in Verbindung mit einer Enzephalitis oder eine Kohlenmonoxidvergiftung kann es zu einem katatonen Zustandsbild kommen, das rasch zwischen den beiden Extremen der psychomotorischen Störung wechselt: Der Patient kann zwischen starker Erregung und einem stuporösen Befinden schwanken. Es erscheint jedoch zweifelhaft, dass das organische katatone Zustandsbild ohne Bewusstseinstrübung auftreten kann. Häufiger scheint es sich im Rahmen eines Delirs mit nachfolgender partieller oder vollständiger Amnesie zu manifestieren.
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6.6
Organische dissoziative Störung F06.5
Auch im Rahmen von zerebralen Funktionsstörungen können sehr rasch wechselnde Konversionssymptome auftreten, die Kontrolle der Körperbewegung kann missglücken und das Identitätsbewusstsein eingeschränkt erscheinen. Mit Besserung der Hirnfunktion bildet sich auch die organische dissoziative Störung zurück.
6.7
Organische Angststörung F06.4
Bei einer zerebralen Funktionsbeeinträchtigung, besonders im Rahmen einer Temporallappenepilepsie, einer Thyreotoxikose oder eines Phäochromozytoms können sich die Symptome einer generalisierten Angststörung und/oder einer Panikstörung entwickeln: Die Patienten leiden unter extremer Angst bis hin zu Vernichtungsgefühlen und zeigen dabei eine ausgeprägte vegetative Begleitsymptomatik. In diesem Zusammenhang können auch Zwangsphänomene beobachtet werden. Häufig gelingen aufgrund der Symptomatik Zuordnungen zu definierten Hirnregionen, beispielsweise können Panikattacken bei Erkrankungen des Temporallappens, Zwangsstörungen bei Störungen der Basalganglien auftreten.
7
Chronische organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsveränderung
7.1
Das amnestische Syndrom
Das amnestische Syndrom (Synonym: Korsakow-Syndrom) ist eine Gedächtnisstörung, die vor allem als Folge des Alkoholismus (ICD-10: F1x.6) auft ritt, aber auch nach Hirntraumata, Vergiftungen oder Infektionen beobachtet werden kann. Die Patienten zeigen eine starke Beeinträchtigung der Merkfähigkeit und eine antero- und retrograde Gedächtnisstörung. Als charakteristisch für das Korsakow-Syndrom gilt die Neigung der Patienten, die Gedächtnislücken durch Konfabulationen zu füllen. Verantwortlich für das amnestische Syndrom sind pathologische Prozesse mit bilateral-dienzephalen und mediotemporalen Defekten, besonders in den Corpora mamillaria, im Fornix und im Hippokampus. Das amnestische Syndrom nach Herpesenzephalitis ist meist durch das gleichzeitige Vorliegen einer schweren anterograden und ausgedehnten retrograden Gedächtnisstörung gekennzeichnet. Der Verlauf ist oft chronisch und kann zu schwerer Behinderung führen.
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7.2
Die organische Halluzinose F06.0
Während die organische wahnhafte Störung eine zeitlich begrenzte reversible organische Psychose darstellt, sind für diese Störung anhaltende oder immer wiederkehrende akustische oder optische Halluzinationen bei klarer Bewusstseinslage kennzeichnend. Die Halluzinationen können wahnhaft verarbeitet werden, der Wahn dominiert aber nicht das klinische Bild. Erkennt der Patient den Trugcharakter dieser Wahrnehmungen, sprechen wir von Pseudohalluzinationen. Häufig bleibt die Krankheitseinsicht erhalten. Manifestieren sich die Halluzinationen besonders im taktilen Bereich, wird ein Dermatozoenwahn diagnostiziert. Differenzialdiagnostisch ist folgendes zu berücksichtigen: Isolierte Geruchshalluzinationen erfordern eine diagnostische Abklärung, da sie bei Prozessen im Bereich der Hirnbasis auftreten können. Ebenfalls isoliert auft retende optische Halluzinationen ohne Bewusstseinsstörungen können für eine kortikale Raumforderung sprechen. Wahnhaft ausgedeutete (optische) illusionäre Verkennungen sind im Rahmen eines Charles-Bonnet-Syndroms bei fortschreitender Erblindung zu beobachten. Besonders monotone akustische Halluzinationen (ein Chor singt beispielsweise immerfort idente Lieder) können bei infektiösen oder neoplastischen Hirnstammprozessen vorkommen. Musikhalluzinationen begleiten häufig Patienten mit fortschreitender Schwerhörigkeit oder sensorischer Aphasie.
7.3
Die chronischen organischen Wahnstörungen
Wenn limbische und/oder subkortikale Strukturen im Rahmen von organischen Erkrankungen oder schwerwiegenden Schädel-Hirn-Traumata gestört sind, entwickeln sich anhaltende Wahnphänomene. Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Substratschädigung und dem Beginn der Wahnerkrankung muss nachvollziehbar sein. Differenzialdiagnostisch muss beim Vorliegen chronischer organischer Wahnstörungen stets an eine beginnende Demenzerkrankung gedacht werden.
7.4
Die chronischen organischen affektiven Störungen
Bei entsprechender Schwere der auf das Gehirn einwirkenden Noxe können sich affektive „Durchgangsstörungen“ auch in chronische depressive oder manische Zustandsbilder entwickeln. Die Symptomatik und der zeitliche Zusammenhang mit der hirnorganischen Störung erlauben die Diagnosestellung.
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8
Organische Persönlichkeitsveränderungen F07.0
Die organische Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch eine weitreichende Veränderung des Verhaltens und der Wertnormen eines Menschen infolge von Hirnfunktionsstörungen. Die Symptomatik ist durch die Interaktion von hirnorganischen und persönlichkeitstypischen Merkmalen geprägt. Sie kann sich in mannigfaltigen Veränderungen vor allem im emotionalen Bereich, in einer Affektlabilität, in vermehrter Reizbarkeit und in Zornausbrüche sowie in Depressivität äußern. Die Trieb- und Impulskontrolle ist beeinträchtigt, der Antrieb verändert, die Interessen vermindert, ehemalige Wertnormen gehen verloren. Insgesamt beherrscht eine Verschärfung oder Vergröberung primärer Charakterzüge das Krankheitsbild. Ursächlich sind meist strukturelle Hirnläsionen, pathologische Konsumverhaltensmuster, atrophisierende Prozesse, Hirnblutungen, Tumore, Schädel-Hirn-Traumata, multiple Sklerose, Chorea Huntington oder auch endokrine Störungen. Analog zu neurologischen Bemühungen wurde auch in der Psychiatrie versucht, von verschiedenen psychopathologischen Prägnanztypen auf die Lokalisation der Schädigung zu schließen. Zwei Formen sollen erwähnt werden, besonders, da sie im neurologischen Bereich noch häufig diagnostiziert werden: Es sind dies das frontobasale und das frontokonvexe Psychosyndrom. • Das frontobasale Psychosyndrom Die Persönlichkeit der Patienten ist vergröbert, sie sind enthemmt und taktlos, distanzlos und geschwätzig. Darüber hinaus besteht die Neigung zu Kontrollverlusten und zur Witzelsucht. • Das frontokonvexe Psychosyndrom Beim Konvexitätssyndrom sind besonders der Antrieb und die Intelligenzleistungen vermindert. Es besteht eine Beeinträchtigung des Denkens im Sinne eines Assoziationsverlustes sowie eine Minderung der Interessen, die sich auch in einer allgemeinen Vernachlässigung der Körperpflege äußert.
9
Therapeutisches Vorgehen bei organischen psychischen Störungen
9.1
Somatische Basistherapie
In der Therapie organischer psychischer Störungen steht die somatische Basisbehandlung im Vordergrund, deren Ziel es ist, günstige Voraussetzungen für die Erholung der psychischen und physischen Leistungsfähigkeit zu schaffen: Erst dann ist eine psychopharmakologische Therapie sinnvoll. Als Richtlinie einer somatischen Basistherapie gelten folgende Bestrebungen:
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• Normalisierung der Herz-Kreislauf-Störungen. Hier empfiehlt sich in erster Linie die Verabreichung von Herzglykosiden. Vorhandene Arrhythmien sind zu behandeln. Auch der Regulierung des Blutdruckes kommt große Bedeutung zu. Stark erhöhte Blutdruckwerte dürfen nur allmählich gesenkt werden. Es ist auch zu beachten, dass bei atherosklerotischen Patienten der systolische Blutdruck nicht zu stark gesenkt wird. • Behebungen von Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes: Delirante Patienten, aber auch solche mit Essstörungen, leiden des Öfteren unter ausgeprägten Elektrolytentgleisungen, die häufige Kontrollen und entsprechende Substitutionen notwendig machen. • Behandlung von Infektionskrankheiten: Da Kinder und alte Menschen häufig auf fieberhafte Zustände mit der Ausbildung psychotischer Symptome reagieren, ist neben der antibiotischen Behandlung auch eine symptomatische Therapie der hohen Körpertemperaturen von großer Bedeutung.
9.2
Psychopharmakatherapie bei organischen psychischen Störungen
Tritt die Verwirrtheit während einer psychopharmakologischen Therapie auf, ist es empfehlenswert, alle psychotropen Substanzen abzusetzen, um deren Einfluss auf die kognitiven Leistungseinbußen abzuschätzen. Viele Pharmaka können Ursache für psychotische Zustandsbilder sein, z. B. Medikamente mit anticholinergem Wirkprofi l (z. B. Antiparkinsonmittel, trizyklische Antidepressiva), aber auch dopaminerge Präparate wie etwa L-Dopa oder Bromocriptin. Benzodiazepine führen v. a. bei Kindern und älteren Patienten zu paradoxen Reaktionen. Ist im Rahmen einer organischen psychischen Störung die Verabreichung von sedierenden Psychopharmaka notwendig, so ist zu berücksichtigen, dass alle gebräuchlichen Substanzen die kognitiven Fähigkeiten einschränken. Dies kann eine schon durch die Grunderkrankung reduzierte Hirnleistung verschlechtern. Die Indikation zur Sedierung sollte nur dann erfolgen, wenn die Agitation des Patienten ein für ihn oder seine Umgebung gefährliches Maß annimmt bzw. wenn dessen Leidensdruck so groß ist, dass eine Dämpfung unumgänglich ist. Die unkritische Gabe von sedierenden Substanzen in hoher Dosierung oder eine falsche Medikamentenwahl können zu einer Intensivierung organischer Psychosyndrome und zu vermehrter Unruhe führen. Gerade bei alten Menschen und bei Patienten mit Schädigungen des ZNS kann sich dadurch das psychische Zustandsbild noch weiter verschlechtern. Darüber hinaus ist eine stützende Betreuung im Sinne der Gefahrenabwehr, der Stimuluskontrolle sowie der Optimierung der Umgebungsbedingungen dringend angezeigt. Im Folgenden soll ein Überblick über Substanzen gegeben werden, die sich bei der Behandlung von organischen Psychosyndromen besonders in Akutsituationen bewährt haben.
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Hypnotika wie Zolpidem eignen sich gut zur Behandlung hartnäckiger Schlafstörungen in Kombination mit nächtlicher Verwirrtheit. Prothipendyl, ein niederpotentes Antipsychotikum aus der Gruppe der Phenothiazine, wird in dieser Indikation häufig mit Erfolg als Hypnotikum eingesetzt. Antipsychotika kommen in erster Linie bei Krankheitsbildern mit produktiv psychotischer Symptomatik mit Verwirrtheit und psychomotorischen Unruhezuständen zur Anwendung. Sie eignen sich auch für eine Angst- und Spannungsreduktion. Dabei bewähren sich besonders hochpotente Antipsychotika aller Substanzklassen in niedriger bis mittlerer Dosierung wie z. B. Haloperidol, das auch in Tropfenform (0,5–3 mg) verwendet werden kann, oder bei agitierten Patienten Melperon in oralen oder intramuskulären Einzeldosen von 25–100 mg. Aripiprazol, ein partieller D2-Antagonist, wirkt diesbezüglich sehr verlässlich und besitzt ein gutes Nebenwirkungsprofi l bezüglich Gewicht, Prolaktin, QTc-Zeit, extrapyramidalmotorische Störungen (EPMS) und anticholinergen Symptomen, soll aber bei älteren Patienten nicht gegeben werden. Bei der Gabe von Antipsychotika ist deren Nebenwirkungsspektrum besonders in Bezug auf die jeweilige körperliche Grunderkrankung zu beachten. Antipsychotika werden im Rahmen der Behandlung von organischen psychischen Störungen als Off-Label-Indikation verabreicht, es bestehen dazu jedoch bei klinischer Notwendigkeit keine Alternativen. Folgende Medikamenteninteraktionen sind bei der Gabe von Antipsychotika zu berücksichtigen: gesteigerte Resorption von Digoxin, verringerter Effekt von Insulin und oralen Antidiabetika, Wirkungsverminderung oraler Antikoagulantien sowie Blockade der antihypertensiven Wirkungen von Guanethidin. Da die vegetativen Nebenwirkungen niederpotenter Antipsychotika wie Levomepromazin und Chlorprothixen stark ausgeprägt sind, sollte von der Gabe dieser Substanzen bei Patienten mit vegetativer Irritabilität abgeraten werden. Bei ängstlich gefärbten Zustandsbildern können Tranquilizer indiziert sein. Allerdings können Benzodiazepine zur Herabsetzung des Muskeltonus und damit zu Gangstörungen, Fallneigung und zu sekundären Verletzungen führen. Auch Vigilanzstörungen, Verwirrtheit sowie paradoxe Erregungs- und Angstzustände können auftreten, besonders bei Patienten mit organischen Hirnschädigungen, sodass Therapieversuche mit Medikamenten aus dieser Gruppe mit Vorsicht und möglichst nur bei hospitalisierten Patienten durchgeführt werden sollten. Bestehen trotz Behandlung der Grundstörung weiterhin depressive Symptome, empfehlen sich besonders bei Vorliegen von Antriebsarmut, gedrückter Stimmung und Morgenpessimum SSRI und SSNRI (wie Venlafaxin und Duloxetin). Bei metabolischen Syndromen mit Gewichtszunahme sollte auf Mirtazapin verzichtet werden, dieses empfiehlt sich jedoch bei agitierter Symptomatik mit Gewichtsverlust und Schlafstörungen als schnell wirksames, nebenwirkungsarmes Antidepressivum. Bei der Behandlung eines Delirs oder einer deliranten Verwirrtheit ist folgendes zu beachten: Auch wenn auslösende Faktoren sehr häufig nicht zu ermitteln sind, ist es vordringlich, mögliche ursächlich wirksame Faktoren bzw. Folgeerscheinungen zu berücksichtigen:
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• Absetzen delirogener Pharmaka • Behandlung der eventuell bestehenden Infektionen • Ausgleich des Flüssigkeitshaushalts und der Elektrolytstörungen Die pharmakologischen Interventionen umfassen entsprechend der Zielsymptomatik Antipsychotika und Benzodiazepine. Zu beachten ist, dass möglichst wenig anticholinerg wirksame Antipsychotika eingesetzt werden (z. B. Risperidon 0,5–1,5 mg; Haloperidol 0,5–5 mg). Die Dosis richtet sich nach der Symptomatik. Bei Erregung sind kurzwirksame bis mittellang wirksame Benzodiazepine angezeigt (z. B. Lorazepam). Cholinesterasehemmer empfehlen sich bei einem Delir im Rahmen einer Demenz. Generell muss zur Psychopharmakatherapie von Patienten mit organischen Psychosyndromen angemerkt werden, dass Kombinationen verschiedener Psychopharmaka wegen der unübersichtlichen Interferenzen vermieden werden sollen. Besonders hingewiesen sei auf die wechselseitige Verstärkung sedierender Substanzen, auf die delirogene Wirkung der Kombination verschiedener anticholinerger Präparate, die zu massiven vegetativen Störungen, verstärkter Obstipation bis zum paralytischen Ileus führen können, sowie auf die wechselseitige Verstärkung somatischer Nebeneffekte auf das Herz-Kreislauf-System, die nicht selten zu ausgeprägten orthostatischen Hypotonien und zu Rhythmusstörungen führen. Vor der Behandlung, vor allem älterer Patienten, muss großer Wert auf eine ausführliche Medikamentenanamnese gelegt werden.
Fallbeispiel 1 Eine 19-jährige untergewichtige Patientin wird mit der Diagnose „psychogener Ausnahmezustand““ vom Hausarzt an die Ambulanz der psychiatrischen Klinik überwiesen. Bei der Untersuchung ist sie wach, die Orientierung ist nicht prüfbar, ebenso wenig die Hirnleistung. Die Patientin ist ängstlich-erregt, perseveriert, ist affektiv eingeengt, antriebsgesteigert. Im Rettungswagen musste sie an die Liege fixiert werden, weil sie sich dort, wie auch im Rahmen der Untersuchung, immer wieder aufbäumte und zu Boden fallen ließ. Mit überaus ängstlicher Stimme schrie sie immer wieder „lasst mich in Ruhe“. Ein geordnetes Gespräch war nicht möglich. Im Rahmen einer notfallsmäßigen Laboruntersuchung wird eine Hypoglykämie (Glukose 50 mg) sowie eine Hypokaliämie (2,0 mmol/l) festgestellt. Glukose und Kalium werden substituiert, das akute psychopathologische Zustandsbild klingt innerhalb weniger Stunden ab, ein hyperästhetisch-emotioneller Schwächezustand im Sinne einer organischen emotional labilen Störung besteht noch für mehrere Tage. Anamnestisch wird erhoben, dass die Patientin an einer Anorexia nervosa leidet und einen Diuretikamissbrauch betreibt. Die Patientin kann motiviert werden, die weitere Behandlung ihrer Essstörung an der psychosomatischen Abteilung der Klinik aufzunehmen. Diagnose: akuter Verwirrtheitszustand im Rahmen einer kombinierten Hypokaliämie und Hypoglykämie bei Anorexia nervosa und Diurektikamissbrauch.
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Fallbeispiel 2 Ein 23-jähriger Student erleidet im Zusammenhang mit einem schweren Autounfall ein ausgeprägtes Schädel-Hirn-Trauma. Nach einer mehrtägigen Bewusstlosigkeit erwacht der Patient. Das psychiatrische Konsilium ergibt folgenden Befund: Der Patient ist wach, zeitlich und örtlich nicht orientiert, zur eigenen Person jedoch teilorientiert. Es besteht eine retro- und anterograde Amnesie. Auffassung, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis sind deutlich beeinträchtigt. Die Stimmung ist angehoben, die affektive Auslenkbarkeit erhöht. Der Antrieb ist deutlich gesteigert. Es bestehen keine Hinweise auf inhaltliche Denkstörungen oder Wahrnehmungsstörungen. Der Patient wird zur Therapieeinleitung an die psychiatrische Klinik transferiert. Aufgrund der ausgeprägten Merkfähigkeitsstörung und Kritiklosigkeit gestaltet sich die Behandlung des Patienten schwierig, da er weder Anordnungen des ärztlichen noch des Pflegepersonals befolgen kann. Im Laufe des stationären Aufenthaltes bessert sich die Hirnleistung allmählich, zurück bleibt jedoch eine ausgeprägte Kritiklosigkeit, sodass der Patient sofort nach der Entlassung, trotz des Rates ein Semester zu pausieren, das Studium wieder aufnimmt. Im Zuge der weiteren Behandlung lässt sich feststellen, dass der Patient beginnt, die Hirnleistungsstörung realistischer einzuschätzen, es fällt ihm jedoch auf, dass er rasch ermüdet und banale Probleme überbewertet. Weiters beobachtet er, dass er auf geringe Mengen Alkohol deutlich berauscht ist und dabei zu unkontrollierten Affektausbrüchen neigt. Darauf reagiert der Patient depressiv und zieht sich vorübergehend stark zurück. Diese Phase dauert ungefähr sechs Wochen, danach kommt es zu einer Besserung der depressiven Symptomatik. Es besteht allerdings weiterhin eine vegetative Übererregbarkeit (leichter Tremor, Neigung zu Hyperhidrosis und Tachykardie sowie Schreckhaftigkeit). Auch diese Symptome bilden sich ca. 10 Monate nach dem Unfall zurück. Erst mehr als ein Jahr nach seinem schweren Schädel-Hirn-Trauma ist eine Restitutio ad integrum erreicht. Diagnose: organisches Psychosyndrom mit protrahiertem Verlauf infolge eines schweren Schädel-Hirn-Traumas (traumatisches Mittelhirnsyndrom ersten Grades).
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Psychopathologische Syndrome bei Epilepsie: ein Exkurs
10.1 Epidemiologie Mit einer Prävalenzrate von 0,1 bis 1 % der Gesamtbevölkerung zählen die Epilepsien zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Ätiologisch stellen sie eine heterogene Krankheitsgruppe dar. Die Inzidenz für epileptische Störungen liegt bei durchschnittlich 33 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner. Die Inzidenzraten sind bei Frauen und Männern ähnlich. Es besteht eine hohe Komorbidität von psychischen
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Störungen und Epilepsien: 50–60 % aller Patienten mit Epilepsie erkranken während ihres Lebens an einer psychiatrischen Symptomatik. Die psychiatrische Komorbidität ist besonders hoch bei Patienten mit Temporallappenepilepsie sowie bei Patienten mit therapierefrektären Epilepsien. Tabelle 8 gibt die Häufigkeit psychiatrischer Störungen der Patienten mit Epilepsie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung wieder. Tabelle 8
Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie Epilepsiepatienten
Allgemeinbevölkerung
Depression
11–55 %
2–4 %
Angststörung
15–25 %
2,5–6,5 %
5–10 %
1–2 %
2–8 %
0,9 %
1–10 %
0,1–0,2 %
10–40 %
2–10 %
Suizidgedanken Psychose Dissoziative Anfälle ADHS
nach B. Schmitz: Epilepsia 2005; 46: 45–49.
Es ist aber zu beachten, dass Epilepsiekranke immer noch mit stigmatisierenden und falschen Diagnosen wie „epileptische Wesensänderung“ und „epileptische Demenz“ versehen werden. Die „epileptischen Wesensänderungen“ sind aber Folge der nicht adäquaten psychosozialen Betreuung beziehungsweise als Nebenwirkungen älterer Antiepileptika, besonders der Barbiturate zu interpretieren. Bei Anfallskranken werden heute „epileptische Demenzen“ durch frühzeitig eingeleitete effiziente medikamentöse Therapien weitgehend verhindert.
10.2 Zeitliche Beziehung zwischen psychiatrischen Störungen und epileptischen Anfällen Psychiatrische Störungen können in einer fi xen zeitlichen Beziehung zu den Anfällen auftreten (präiktale, iktale und postiktale psychiatrische Störungen) oder sich unabhängig vom Auftreten der Anfälle manifestieren (interiktale psychiatrische Störung). In seltenen Fällen kommt es ausschließlich in Phasen der Anfallsfreiheit zu psychiatrischen Störungen, während diese bei Wiederauft reten der Anfälle remittieren (alternative psychiatrische Störung). Die entsprechende Einteilung folgt den Ausführungen von H. B. Rothenhäusler (2006, 2008).
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10.3 Symptomatik 10.3.1 Epilepsie und depressive Störungen Die psychiatrische Komorbidität für affektive Erkrankungen ist bei Epilepsiekranken signifi kant höher als bei anderen chronischen Erkrankungen. Bei Patienten mit therapieresistenten fokalen Anfällen beträgt die Lebenszeitprävalenz für eine Depression ca. 30 %. Epilepsiepatienten weisen eine 4- bis 5-fach erhöhte Suizidrate auf. Dies lässt auf eine gemeinsame biologische Grundlage von psychiatrischen Erkrankungen und Epilepsien schließen. Die Beziehung zwischen Epilepsie und Depression wird durch gemeinsame Pathomechanismen beider Erkrankungen erklärt. Sowohl bei affektiven Störungen als auch bei der Anfallserkrankung besteht eine veränderte serotonerge, noradrenerge und dopaminerge sowie GABAerge Neurotransmission. Darüber hinaus finden sich bei beiden Krankheitsgruppen strukturelle und funktionelle Veränderungen im mesialen Temporallappen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich subkortikaler Strukturen. Auch führen Substanzen, die die serotonerge und noradrenerge Transmission beeinträchtigen zu einer Anfallsexazerbation. Substanzen, die die serotonerge Transmission verbessern (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) reduzieren die Anfallsfrequenz. Epilepsieassoziierte depressive Verstimmungen werden je nach Zeitpunkt des Auftretens eingeteilt in präiktale, iktale, postiktale und interiktale depressive Verstimmungszustände sowie in alternative depressive Syndrome. Präiktale depressive Verstimmung: Anfallskranke entwickeln oft Stunden bis Tage vor dem Anfall eine depressive Symptomatik, häufig auch mit Reizbarkeit und Affektlabilität verbunden. Iktale depressive Verstimmung: Im Status einfacher oder komplexer fokaler Anfälle zeigen sich häufig depressive Symptome, nicht selten auch mit Suizidimpulsen verbunden und mit psychotischen Symptomen ausgestaltet. Diese Symptomatik findet sich häufig bei Temporallappenepilepsie. Postiktale depressive Verstimmung: Unmittelbar nach einem Anfall tritt eine nur wenige Stunden (oder wenige Tage) währende, missmutig-dysphorische, oft aber auch gereizt-explosive Stimmungslage auf. Es besteht hohe Suizidgefahr. Alternative depressive Verstimmung: Nach der Normalisierung eines früher pathologischen EEG bzw. bei Anfallsfreiheit aufgrund einer effektiven Therapie manifestiert sich eine depressive Symptomatik. Interiktale depressive Verstimmung: Unabhängig vom Anfallsgeschehen treten melancholische Verstimmungen mit Energielosigkeit und Antriebsstörung auf. Diese Störung stellt die häufigste Depressionsform bei Epilepsiekranken dar.
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Davon zu unterscheiden ist die „interiktale dysphorische Störung“. Diese ist nach Blumer et al. (1995) durch folgende Merkmale gekennzeichnet: depressive Verstimmungen, Energie- und Antriebsstörung, Gereiztheit, somatoforme Schmerzzustände, unruhiger Schlaf, diff use Befürchtungen, Angstzustände sowie oft auch eine feierlich-gehobene Stimmungslage. 10.3.2 Epilepsieassoziierte (schizophreniforme) Psychosen Auch die epilepsieassoziierten psychotischen Störungen werden wie folgt eingeteilt: Präiktale, iktale und postiktale Psychosen stehen als episodische Psychosen in einem zeitlichen Bezug zum Anfall. Alternativpsychosen bieten eine wechselnde Symptomatik, die zwischen unauff älligem psychischen Verhalten während der epileptischen Entladungen und produktiv psychotischen Symptomen während der Perioden der Anfallsfreiheit schwankt. Interiktale Psychosen weisen als chronische Psychosen keinen zeitlichen Bezug zum Anfall auf. Von den epilepsieassoziierten Psychosen sind 60–70 % postiktale Störungen, 17–20 % interiktale und 9–10 % alternative Psychosen sowie 4–10 % iktale Psychosen. Iktale Psychosen: Iktale psychotische Störungen können während eines non-konvulsiven Status epilepticus oder im Rahmen von einfach-fokalen Anfällen (Aura continua) auftreten: Es finden sich sehr lebhafte Halluzinationen, inhaltliche und formale Denkstörungen sowie deutliche Wahnphänomene. Das Bewusstsein ist im Unterschied zu schizophrenen Störungen beeinträchtigt. Postiktale Psychosen: Die nach einem Anfall auft retenden psychotischen Störungen weisen eine Symptomatik mit gleichzeitig vorhandenen psychotischen und manischdepressiven Symptomen auf. Typisch sind Größenideen, ekstatische Euphorie sowie magisch-mystische Wahnbilder. Diese Symptomatik manifestiert sich in der Regel nach einem freien Intervall von einem Tag bis einer Woche. Es besteht keine Bewusstseinstrübung. Die Remission tritt nach einigen Tagen auf, es sind jedoch auch 1 bis 2 Monate anhaltende psychotische Episoden bekannt. Fremdgefährdendes Verhalten und suizidale Impulse sind bei postiktalen Psychosen häufig und erfordern eine genaue Beobachtung und eine eingehende Betreuung. Interiktale Psychosen: Ohne zeitliche Beziehung zum Anfallsgeschehen zeigen die Patienten schizophrene Störungen wie Wahnsymptome, Beeinflussungserlebnisse, dialogische oder kommentierende Stimmungen sowie Halluzinationen aus anderen Sinnesorganen. Die psychotische Symptomatik tritt in der Regel 12 bis 14 Jahre nach der Erstmanifestation der Anfallserkrankung auf. Im Unterschied zu schizophrenen Störungen entwickelt sich aber keine Negativsymptomatik. In den Familien der Betroffenen findet sich kein vermehrtes Vorkommen von schizophrenen Störungen. Ätiopathogenetisch sind aber ähnliche strukturelle Störungen in mesial-temporalen Hirnarealen bei schizophren bzw. interiktal psychotischen Patienten zu beobachten.
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Pariktale Psychosen: Hand in Hand mit der Zunahme der Anfallsfrequenz entwickeln sich psychotische Störungen mit Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn. Im Unterschied zu schizophrenen Störungen ist das Bewusstsein häufig getrübt. Alternativpsychosen: In Verbindung mit einer Normalisierung eines vorhin pathologischen EEGs aufgrund einer effizienten antikonvulsiven Therapie treten produktivpsychotische Symptome oft auch in Verbindung mit manisch-depressiven Störungen auf. Im Anfangsstadium bestehen Schlafstörungen, Unruhe und Angst. Das Bewusstsein ist nicht gestört. Die Dauer der Störung beträgt mehrere Wochen. Während dieser Zeit herrscht Anfallsfreiheit. Die psychotische Symptomatik erlischt, wenn neuerlich Anfälle auft reten. 10.3.3 Epilepsie und Angststörung Im Rahmen einer Prodromalphase kann Angst Stunden bis Tage vor einem Anfall auftreten (präiktale Angst). Aufgrund einer epileptischen Aktivität in der Amygdala, im anterioren Gyrus cinguli sowie im orbitofrontalen und präfrontalen Kortex kann Angst auch einen Anfall kennzeichnen (iktale Angst). Diff use Angst kann sich auch nach einem Anfall manifestieren und Stunden bis Tage anhalten (postiktale Angst). Es besteht ein höheres Risiko für die Entwicklung einer anhaltenden Angststörung. Angst ist jedoch auch im Rahmen einer Komorbidität von Angsterkrankungen und Epilepsie möglich und kann iatrogen als Nebenwirkung der antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Therapie definiert werden. Darüber hinaus kann sie als psychologische Reaktion auf die Tatsache erklärt werden, an Epilepsie erkrankt zu sein. 10.3.4 Aura Vor dem Bewusstseinsverlust bemerken viele Patienten ein Angstgefühl sowie definierte Wärme- oder Kälteempfindungen, es kann zu Niesen, Husten, Schmerzen oder Schweißausbrüchen kommen. Weitere Symptome einer Aura sind: Herzbeklemmungen, Mikropsien, Makropsien, intensive Farbempfindungen und Déjà-vu-Erlebnisse. Auch sind Symptome wie Verlangsamung oder Beschleunigung des Gedankenablaufes mit verändertem Zeiterleben sowie Zwangsdenken, Illusionen und Halluzinationen bekannt. 10.3.5 Postiktaler Dämmerzustand Der postiktale Dämmerzustand folgt einem epileptischen Anfall und weist in der Regel folgende Symptomatik auf: Störung des Bewusstseins und der Orientierung, diffuse Angst, leichte Erregbarkeit und Gereiztheit sowie eine Tendenz zur Gewalttätigkeit. Für den gesamten Zeitraum besteht eine Amnesie. Während eines Dämmerzustandes ist die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben. Differenzialdiagnostisch sind Dämmerattacken (psychomotorische Anfälle), neurotische Reaktionen (abnorme Erlebnisreaktionen bzw. akute oder chronische Belastungsreaktionen) sowie Anpassungsstörungen zu bedenken.
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10.4 Kognitive Störungen im Rahmen von epileptischen Erkrankungen Kognitive Beeinträchtigungen werden von vielen Epilepsiepatienten als gravierender und beeinträchtigender erlebt als die Anfälle selbst: Knapp die Hälfte der Patienten weisen Probleme auf, Neues zu erlernen oder zeigen deutlich verlangsamte Denkabläufe. Für die neuropsychologischen Störungen sind morphologische, klinische und funktionelle Faktoren ursächlich. Als morphologische Faktoren gelten epileptogene Läsionen, epilepsiechirurgische Interventionen und diff use Hirnstörungen. Als funktionelle Ursachen werden nicht nur bestimmte antikonvulsive Medikamente, sondern auch die psychiatrische Komorbidität, der Anfallstyp und auch interiktale epileptiforme Entladungen namhaft gemacht. Zu den klinisch relevanten Einflussgrößen zählt das Alter zu Erkrankungsbeginn, die Dauer der bestehenden Anfallserkrankung, die Lokalisation bzw. Lateralisation der epileptogenen Herde, die Schwere und die Frequenz der Anfälle sowie das Geschlecht. Patienten mit mesialer Temporallappenepilepsie zeigen signifi kant höhere Depressionsscores als Patienten mit neokortikalen temporalen Läsionen. Auch weisen sie charakteristische neuropsychologische Störungen auf.
10.5 Therapie epilepsieassoziierter psychiatrischer Störungen Bestehen epilepsieassoziierte psychiatrische Auff älligkeiten, ist eine Evaluation der antikonvulsiven Medikation dringend angezeigt. Beim Vorliegen einer depressiven oder psychotischen Störung empfiehlt sich eine konsequente antidepressive oder antipsychotische Medikation unter Bedachtnahme einer möglichen Senkung der Krampfschwelle. Paroxetin bzw. Risperidon gelten als Mittel der ersten Wahl. Interaktionen sind stets zu beachten. Bei iktalen Psychosen ist eine intravenöse antiepileptische Therapie angezeigt, Antipsychotika sind in diesem Fall nicht indiziert. Antiepileptika besitzen negative und positive psychotrope Effekte, Tabelle 9 gibt diese wieder:
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Tabelle 9
Negative und positive psychotrope Effekte von Antiepileptika
Antiepileptika
Negative psychotrope Effekte
Positive psychotrope Effekte
Benzodiazepine
Dysphorisch-depressive Verstimmungen (bei Langzeiteinnahme), Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, paradoxe Reaktionen mit Erregung und Unruhe, Abhängigkeit, Hyperaktivität bei Kindern
Sedierende und anxiolytische Effekte
Carbamazepin
Minimale kognitive Beeinträchtigungen, vereinzelt depressive Zustandsbilder
Stimmungsstabilisierende, antimanische und antiaggressive Effekte
Ethosuximid
Alternativpsychosen, dysphorisch-depressive Verstimmungen, Schlafstörungen
unbekannt
Gabapentin
Hyperaktivität bei Kindern
Sedierende und antimanische Effekte
Lamotrigin
Schlafstörungen, Einzelfälle von Alternativpsychosen
Stimmungsstabilisierende und antidepressive Effekte
Oxcarbazepin
Depressive Zustandsbilder, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen
Sedierende und antimanische Effekte
Phenytoin
Alternativpsychosen, Enzephalopathien mit Sedierung, Konzentrationsstörungen, Choreoathetosen und orofaziale Dyskinesien
unbekannt
Topiramat
Alternativpsychosen, depressive Zustandsbilder, Wortfindungsstörungen
Sedierende und antimanische Effekte
Valproat
Einzelfälle von akuten und/oder chronischen Enzephalopathien
Stimmungsstabilisierende und antimanische Effekte
nach Rothenhäusler 2008
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Fallbeispiel Der 35-jährige Rechtsanwalt H. S. wird auf polizeiärztlichen Auftrag von Mitarbeitern der Rettung in Begleitung von zwei Polizisten an die Psychiatrische Klinik gebracht. Dem Begleitbrief ist zu entnehmen, dass sich Herr S. in einem Fünf-Sterne-Hotel geweigert hätte, seine Rechnung zu bezahlen: Es gereiche doch dem Renommee des Hauses zur Ehre, dass er diesem „Provinzhotel“ seinen Besuch abgestattet hätte. Auch habe er angekündigt, das Hotel sofort zu kaufen, wenn er weiterhin noch mit solchen Lappalien belästigt würde. Dabei sei er verbal äußerst aggressiv gegen Mitarbeiter des Hotels vorgegangen und hätte diese auch tätlich bedroht. Bei der psychiatrischen Untersuchung finden sich Größenideen, verbunden mit Wahnbildungen religiöser Natur: Er sei von einem höheren Wesen bestimmt, die Welt auf den richtigen Weg zu bringen. Dafür gezieme ihm auch die entsprechende Hochachtung und Wertschätzung. Unvermittelt erscheint der Patient aber dysphorisch-gereizt und bricht in Tränen aus. Dabei beklagt er sich, alles falsch gemacht zu haben. Das Leben hätte keinen Sinn mehr. Kurze Zeit später imponiert der Patient wiederum ekstatisch-verzückt. Der Patient ist bei Bewusstsein und in allen Qualitäten orientiert. Herr S. verweigert Angaben zu seiner biografischen Anamnese. Verdachtsdiagnose: gemischte schizoaffektive Störung (produktiv-psychotisches Zustandsbild mit Größenideen, Gefühlen der Ekstase und mischbildhaften Symptomen mit latenter Suizidalität). Im Rahmen der Aufnahmeformalitäten findet sich unter seinen Dokumenten ein Epilepsie-Ausweis. Mit Zustimmung des Patienten wird die Gattin verständigt. Diese zeigt sich sehr erleichtert, dass der Patient an die Psychiatrische Klinik gebracht worden ist: Seit Jahren leide er an einer generalisierten tonisch-klonischen Anfallserkrankung. Vor zwei Tagen hätte er einen Anfall erlitten. Für ihn typisch seien schizophrenieähnliche psychotische Symptome nach einem luziden Intervall von einem Tag bis maximal einer Woche. Diagnose: epilepsieassoziierte Störung, postiktale Psychose im Rahmen einer generalisier ten tonisch-klonischen Anfallserkrankung. Verlauf: Nach zwei Tagen klang die psychotische Symptomatik vollkommen ab. Der Patient berichtete, aufgrund der langen Anfallsfreiheit in der Einnahme seiner antikonvulsiven Medikation nachlässig geworden zu sein. Nach dem Anfall hätte er schlecht geschlafen und eine Steigerung seines Antriebes beobachtet. Herr S. wurde informiert, dass beim Auftreten dieser Symptome (Prodromi) eine mehrtägige, niedrig dosierte antipsychotische Therapie mit Risperidon (1–2 mg Risperidon täglich über drei bis fünf Tage) angezeigt sei. Engmaschige Kontrolluntersuchungen beim betreuenden Neurologen und Kontakte zu einem niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten wurden vereinbart.
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Weiterführende Literatur Blumer D, Montouris G, Hermann B (1995) Psychiatric morbidity in seizure patients on a neurodiagnostic monitoring unit. J Neurpsychiatry Clin Neurosci 7: 445–456 Bonhoeffer K (1908) Zur Frage der Klassifi kation der symptomatischen Psychosen. Berl Klin Wochenschr 45: 2257–2260 Deb S, Lyons I, Koutzoukis C (1999) Neurobehavioural Symptoms 1-Year After a Head Injury. Brit J Psychiat, 174: 360–365. Fleminger S (2009) The neuropsychiatry of head injury. In: Gelder MG, Andreasen NC, Lopez-Ibor JL Jr, Geddes JR, editors. New oxford textbook of psychiatry. 2nd ed. Oxford: Oxford University Press; p. 387–99 Fricchione GL, Carbone L, Bennett WI Psychotic disorder caused by a general medical condition, with delusions. Secondary „organic“ delusional syndromes. Psychiatr Clin North Am 1995, 18(2): 363–378 Inovye SK (1999) A Multicomponent Intervention to Prevent Delirium in Hospitalized Older Patients. N Engl J Med. 340(9): 669–676. Kapfhammer HP (1999) Depressiv-ängstliche Störungen bei somatischen Krankheiten. In:
Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, 1488–1519 Koponen H (1989) Delirium among Elderly Persons Admitted to a Psychiatric Hospital: Clinical Course During the Acute Stage and One-year Follow-up. Acta Psychiatr Scand, 79: 579–585. Lavery LL, Whyte EM (2009) Other cognitive and mental disorders due to a general medical condition. In: Sadock BJ, Sadock VA, Ruiz P, editors. Kaplan & Sadock’s comprehensive textbook of psychiatry. 9th ed. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia, p. 1207–36 Seltzer B, Sherwin L “Organic Brain Syndromes: An Empirical Study and Critical Review.” Am J Psychiatry 1978, 135: 1 Rothenhäusler HB (2008) Organische Psychische Störungen bei wichtigen somatischen Erkrankungen. In: Möller H, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie, 3. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Rothenhäusler HB (2006) Klinik, Diagnostik und Therapie epilepsieassoziierter depressiver Verstimmungen und Psychosen. Nervenarzt 77: 1381–1392
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Kapitel 3
Störungen durch psychotrope Substanzen (ICD-10 F1) Martin Kurz
1
Allgemeines
Störungen durch psychotrope Substanzen sind heute eine der am häufigsten in der Psychiatrie vorkommenden Krankheitsgruppen. Psychotrope Substanzen sind Stoffe unterschiedlicher chemischer Herkunft, die auf verschiedenen somatischen und psychischen Ebenen Wirkungen entfalten. Ihre Einnahme hat vegetative, affektive, kognitive, wahrnehmungsverändernde und damit auch verhaltensspezifische Reaktionen zur Folge.
1.1
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
In der Kulturgeschichte der Menschheit spielen psychotrope Substanzen seit vielen Jahrtausenden eine wesentliche Rolle sowohl im spirituell-ritualisierten Bereich als auch im Alltagsleben der Menschen. Welche Substanz zu einer sogenannten „Leitdroge“ wird, hängt von geografischen, moralischen oder religiös-normativen, wirtschaft lichen, produktions- und vermarktungsspezifischen Faktoren ab. Auf diese gesellschaft lichen Rahmenbedingungen wird im Zuge der Erörterung spezifischer Substanzen näher eingegangen. In der heutigen westlichen Kultur spielen Alkohol, Nikotin und Koffein eine wesentliche Rolle im Alltagsleben und sind aus den unterschiedlichsten sozialen Situationen und Abläufen nicht wegzudenken. Der gesellschaft liche bzw. gesetzliche Umgang mit psychotropen Substanzen kann als eine Abfolge von permissiven und prohibitiven Phasen beschrieben werden. Die heutige Zeit ist gekennzeichnet durch eine zwar zunehmend ambivalente, aber doch permissive Haltung gegenüber Alkohol und Koffein, eine zunehmend restriktive Haltung gegenüber Nikotin und eine stark prohibitive und kriminalisierende Haltung gegenüber Opioiden, Cannabinoiden, Coca-Produkten und Stimulanzien, wobei aber nicht nur Produktion und Verkauf, sondern auch Besitz und fallweise Konsum und damit auch die abhängigkeitskranken Konsumenten dieser Substanzen strafrechtlich verfolgt werden.
1.2
Begriffe
Unter sozialem Konsum versteht man den Konsum von psychotropen Substanzen innerhalb gesellschaft licher Regeln bzgl. Art, Menge, Frequenz, Zeitpunkt, Person 51
Martin Kurz
usw. Dem stellt das ICD-10 den schädlichen Gebrauch als diagnostische Kategorie gegenüber. Andere ältere Begriffe im Zusammenhang mit krankheitswertigem Konsum von Substanzen sind Missbrauch (Abusus), eine noch sehr weit verbreitete Definition; „Abhängigkeit“ hat innerhalb der psychiatrischen Klassifikation den älteren Begriff der „Sucht“ abgelöst. Dennoch taucht der Suchtbegriff (sprachlich abgeleitet von siech = krank) im klinischen alltagssprachlichen Gebrauch nach wie vor viel häufiger auf. Bei der Abhängigkeit von Substanzen wird klinisch zwischen psychischer Abhängigkeit und körperlicher Abhängigkeit unterschieden, darauf wird bei der Erörterung der ICD-10-Klassifikation noch näher eingegangen.
2
Aktuelle Klassifikationsschemata
2.1
Substanzgruppen
Die erste diagnostische Klassifi kationsebene des ICD-10 orientiert sich an unterschiedlichen Substanzgruppen (siehe Tabelle 1). Tabelle 1 ICD-10-Klassifi kation psychotroper Substanzen F10
Störungen durch Alkohol
F11
Störungen durch Opioide
F12
Störungen durch Cannabinoide
F13
Störungen durch Sedativa und Hypnotika
F14
Störungen durch Kokain
F15
Störungen durch Amphetamine und sonstige Stimulantien einschließlich Koffein
F16
Störungen durch Halluzinogene
F17
Störungen durch Tabak
F18
Störungen durch flüchtige Lösungsmittel
F19
Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen
52
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
2.2
Psychiatrische Störungsbilder
Die zweite diagnostische Ebene beschreibt die durch die Substanzen verursachten psychiatrischen Krankheitsbilder (siehe Tabelle 2). Tabelle 2 ICD-10 Klassifi kation der Störungen durch psychotrope Substanzen F1x.0
Akute Intoxikation: Ein vorübergehendes Zustandsbild nach Substanzaufnahme mit Störungen des Bewusstseins, der kognitiven Funktionen, der Wahrnehmung, des Affektes, des Verhaltens oder anderer psychophysiologischer Funktionen oder Reaktionen.
F1x.1
Schädlicher Gebrauch: Konsum psychotroper Substanzen, der zu Gesundheitsschädigung führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten, etwa in Form einer Hepatitis nach Selbstinjektion der Substanz oder als psychische Störung, z. B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum.
F1x.2
Abhängigkeitssyndrom: Das Abhängigkeitssyndrom (siehe Tabelle 3) ist eine komplexe, diagnostische Kategorie mit mehreren möglichen Symptomen, die je nach verursachender Substanz unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Die Symptome 3, 4 und 5 betreffen eher die Problematik der körperlichen Abhängigkeit, die Symptome 1, 2, 6, 7 und 8 betreffen zentrale Probleme der psychischen Befindlichkeit und des Verhaltens von Abhängigkeitskranken.
F1x.3
Entzugssyndrom: Symptomkomplex von unterschiedlicher Zusammensetzung und wechselndem Schweregrad bei absolutem oder relativem Entzug einer Substanz. Die ausgeprägtesten Entzugssyndrome werden bei Alkohol, Benzodiazepinen, Opioiden und Kokain beobachtet.
F1x.4
Entzugssyndrom mit Delir: Diese komplizierte Form des Entzugssyndroms kommt vor allem im Rahmen des Alkoholund Benzodiazepinentzugssyndroms vor.
F1x.5
Psychotische Störung: Heterogene Symptomgruppe, die während oder nach Substanzgebrauch auftritt und durch unterschiedliche produktive Phänomene (Halluzinationen, wahnhafte Phänomene, Beziehungsideen) gekennzeichnet ist.
F1x.6
Amnestisches Syndrom: Hier kommt es zu einer ausgeprägten, meist chronischen Schädigung des Kurzzeitgedächtnisses, selten auch des Langzeitgedächtnisses. Meist ist die amnestische Störung eine Folgeerkrankung durch chronischen Alkoholgebrauch.
F1x.7
Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung: In diese Gruppe fallen die unterschiedlichsten psychopathologischen Zustandsbilder, von bleibenden kognitiven Einbußen über Persönlichkeitsveränderungen bis hin zu FlashbackPhänomenen bei Cannabis- oder Halluzinogengebrauch.
53
Martin Kurz
Tabelle 3 Diagnostische Leitlinien des Abhängigkeitssyndroms nach ICD-10.Die Diagnose Abhängigkeit soll nur gestellt werden, wenn während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien vorhanden waren: 1
Ein starker Wunsch oder Zwang, Substanzen oder Alkohol zu konsumieren.
2
Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge der Substanz des Alkoholkonsums.
3
Substanzgebrauch mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern.
4
Körperliches Entzugssyndrom.
5
Nachweis einer Toleranz. Um die ursprünglich durch niedrige Dosen erreichten Wirkungen der Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich.
6
Eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol oder der Substanz wie z. B. die Regeln eines gesellschaftlich üblichen Trinkverhaltens außer Acht zu lassen.
7
Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums.
8
Anhaltender Konsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen. Diese können körperlicher, sozialer oder psychischer Art sein.
3
Ätiopathogenese
Die komplexen Entstehungsbedingungen einer Abhängigkeitserkrankung sind immer in einem Spannungsfeld zwischen Substanz, Person und Umwelteinflüssen zu sehen.
3.1
Substanz
Die im ICD-10 aufgelisteten psychotropen Substanzen besitzen unterschiedlich starkes Abhängigkeitspotenzial. Dieses kann im Tierversuch quantifi ziert werden, indem man z. B. im Rahmen einer Versuchsanordnung misst, welche Leistungen (z. B. wiederholtes Niederdrücken eines Hebels) von den Versuchstieren absolviert werden, um mit einer Substanz belohnt zu werden. Opioide, Kokain und Nikotin sind Substanzen mit höherem Abhängigkeitspotenzial, Alkohol, Stimulantien und Cannabis besitzen ein eher niedriges Abhängigkeitspotenzial.
3.2
Individuum
Bei den individuellen Entstehungsbedingungen sind genetische, neurobiologische, lebensgeschichtliche bzw. Lernbedingungen, psychiatrische und gesellschaft liche Faktoren maßgebend.
54
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
3.2.1 Genetik Die genetische Vulnerabilität spielt bei der Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen eine wesentliche Rolle. Besonders bei alkoholbedingten Störungen konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass familiäre Belastung in der Elterngeneration signifi kant häufiger zu alkoholbedingten Störungen führt, auch wenn die Kinder nicht bei ihren Eltern aufwachsen. Bestätigung der genetischen Einflüsse konnte auch durch Zwillingsstudien erhalten werden. Dies scheint im Zusammenhang mit einer individuell unterschiedlichen Reaktion auf die jeweiligen Substanzen zu stehen. Andere geschlechts- und ethnisch-spezifische genetische Faktoren betreffen unterschiedliche Stoff wechselwege, aber auch genetisch begründete individuelle somatopsychische Reaktionen auf Stress. 3.2.2 Neurobiologische Grundlagen der Abhängigkeitsentwicklung Eine besondere Rolle bei der Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen spielt das sogenannte „Belohnungssystem“: darunter versteht man funktionell miteinander verbundene Kerngebiete im limbischen System, insbesondere das ventrale Tegmentum und den Nucleus accumbens mit seinen dopaminergen Verbindungen in den Frontallappen. Im Belohnungssystem spielen körpereigene Endorphine eine besondere Rolle, eine Reihe von Substanzen (Alkohol, Nikotin, Cannabinoide, Opioide und Kokain) bewirken neben einer verstärkten Ausschüttung von Endorphinen auch eine Aktivierung anderer Transmittersysteme (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, GABA). Im Rahmen der Abhängigkeitsentwicklung scheint es im limbischen System zu einer veränderten Reaktion auf die Substanzen zu kommen, die zu einer Verstärkung von Belohnungsreizen führen. 3.2.3 Lebensgeschichte Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung in Kindheit und Jugend beinhalten ein hohes Risiko für eine mögliche Abhängigkeitsentwicklung. Besonders schwere und wiederholte Erfahrungen dieser Art stellen ein exzessives Risiko für spätere Substanzprobleme dar und übertreffen dabei die genetische Prädisposition. Eine weitere bedeutsame Variable ist das Alter des Erstkonsums. Je früher ein Individuum mit dem Konsum psychotroper Substanzen beginnt, desto höher ist später sein Risiko, eine Abhängigkeit zu entwickeln. Milieubedingungen und die mit ihnen verbundenen Konsumrituale (in Schule, Freundeskreis und Arbeitsplatz) sind besonders in vulnerablen Lebensphasen wie Pubertät und Adoleszenz wichtige, sowohl krankheitsfördernde, aber auch protektive Einflussfaktoren. Alle Formen subjektiv empfundener oder objektiver sozialer Isolation können das Risiko für schädlichen oder abhängigen Konsum erhöhen. 3.2.4 Psychiatrische Risikofaktoren Weitere psychische Risikofaktoren für die Entwicklung einer Störung durch psychotrope Substanzen sind Persönlichkeitsvariablen. Besondere Bedeutung in der Litera-
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Martin Kurz
tur hat das Konzept des „Sensation Seeking“ gewonnen, ein Persönlichkeitskonstrukt, in welchem ein für jeden Menschen optimales Erregungsniveau angenommen wird. Menschen mit einem geringen initialen Erregungsniveau setzten sich aktiv aufregenden Außenreizen durch riskante Sportarten, unkonventionellen Lebensstil, enthemmende soziale Kontexte aus, um das individuell erwünschte Ausmaß von Stimulierung aufrechtzuerhalten und Langeweile bzw. damit verbundene innere Unruhezustände zu vermeiden. Ein weiterer wichtiger Risikobereich sind Störungen der Affektregulation, insbesondere von negativen Affekten wie Ärger, Wut, Schuld und Schamgefühlen. Bei Personen mit Substanzproblemen werden sehr häufig koinzidierende psychiatrische Störungen wie Depressionen, Angststörungen, dissoziale oder Borderlinestörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Aufmerksamkeitsdefizite diagnostiziert. 3.2.5 Entwicklungspsychologische Konzepte zur Abhängigkeitsentstehung Alle wesentlichen metapsychologischen Modelle der Abhängigkeitsentstehung sehen den Gebrauch und das Erleben der Wirkung der Droge als kompensatorische Funktion zur Bewältigung von subjektiven oder objektiven Belastungen. a) Kognitiv-behaviorales Modell In der Lerntheorie, welche sicherlich am meisten zum Verständnis und zur Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen beigetragen hat, wird die Substanz einerseits als positiver Verstärker (künstliche Verstärkung positiver Emotionen), aber auch als negativer Verstärker (Milderung negativer Erlebnisinhalte) verstanden. Die Abhängigkeitsentwicklung basiert auf der Etablierung von konditionierten Verhaltensweisen, d. h. zunehmend reflexhaften Handlungsabläufen in bestimmten Lebenssituationen: Je häufiger und unmittelbarer nach Alkoholkonsum eine Entlastung oder Belohnung durch die Minderung oder den Wegfall von Hemmungen, Angst, Spannungen und anderen negativen Emotionen erlebt wird, umso stärker wird Substanzkonsum konditioniert und in die Alltagsabläufe eingebaut. Der wesentliche chronifi zierende Faktor besteht nach der Lerntheorie im zustandsabhängigen Lernen (State Dependent Learning): Im substanzbeeinflussten Zustand erlernte Verhaltensweisen und Wahrnehmungsformen können nur mehr unter Substanzeinfluss reaktiviert werden. Wesentliche Beispiele hiefür wären soziale Annäherungssituationen, Verhalten in Gruppen, Stressabbau und verschiedene Formen des Freizeitverhaltens. b) Tiefenpsychologische Modelle Die Tiefenpsychologie hat sich in ihrer Theoriegeschichte nur punktuell mit Abhängigkeitserkrankungen befasst. Auch hier wird die Substanz als dämpfendes und konfliktminderndes Agens verstanden. Rost (1997) hat eine klinische Typologie anhand der zugrunde liegenden Psychodynamik erarbeitet, er unterscheidet zwischen sogenannten „neurotischen Konsumenten“, welche die unangenehm erlebten Folgen eines unzureichend abgewehrten
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bzw. verarbeiteten intrapsychischen Konflikts (negative Emotionen, Schuld, Angst) im Sinne einer Selbstmedikation dämpfen. Die zweite Gruppe bezeichnet er als „Ich-defizitäre Konsumenten“: Hier liegt eine Defizienz der Ich-Funktionen insbesondere im Bereich der Affektwahrnehmung und -regulation zugrunde; es werden eher diff use Spannungszustände mit den psychotropen Substanzen bekämpft. In die dritte Gruppe fallen sogenannte „strukturell gestörte Konsumenten“ mit einer unzureichend ausgebildeten inneren Objektwelt und tiefer greifenden Beziehungsstörungen (Borderline-, narzisstische, dissoziale Persönlichkeitsstörungen), welche sich durch einen besonders destruktiven Konsumstil und massive selbst- und fremdaggressiven Verhaltensauff älligkeiten auszeichnen. Die in der Tiefenpsychologie postulierte Grundstörung darf aber nicht mit einer prädisponierenden „Suchtpersönlichkeit“ verwechselt werden, welche nach heutigem Wissensstand nicht existiert. Der Stellenwert tiefenpsychologischer Modelle besteht in einem vertieften Verständnis intrapsychischer Abläufe und der daraus entstehenden Beziehungsdynamik bei Abhängigkeitskranken. Ähnlich wie bei der Behandlung von schweren Persönlichkeitsstörungen wurden modifizierte therapeutische Interventionsformen entwickelt. c) Systemisch-kybernetische Modelle Systemisch-kybernetische Modelle der Abhängigkeitsproblematik haben in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, stellen die Bedeutung der Substanz bzw. des substanzbezogenen Verhaltens der Betroffenen innerhalb ihres Bezugssystems und die damit verbundenen kompensierten aber auch ausgelösten Beziehungsstörungen in den Mittelpunkt. Das Verdienst systemisch-kybernetischer Modelle besteht in der Entwicklung lösungsorientierter Verständnisweisen und Interventionsformen unter starker, aktiver Einbeziehung des sozialen Bezugssystems der Betroffenen. Insbesondere die Angehörigenarbeit hat durch die Einbeziehung systemischer Verständnisweisen und Interventionsformen enorm an Bedeutung gewonnen.
3.3
Gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen
Welche Substanzen sowohl gesellschaft lich als auch individuell hohe Bedeutung erlangen, hängt von unterschiedlichen Rahmenbedingungen ab. Die geografische Lage (Klima und Landwirtschaftsbedingungen), kulturelle Traditionen (Konsumrituale), allgemeine Verhaltensnormen, Gesetze (Arbeitsrecht, Jugendschutz, Verkehrsregeln), Kosten und Verfügbarkeit spielen eine wichtige und mit dem Individuum auf vielfältige Weise interagierende Rolle.
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3.4
Schutzfaktoren gegen schädlichen Gebrauch und Abhängigkeit von Drogen
Die Ergebnisse der Präventionsforschung zeigen, dass plakative Informationskampagnen auf der Ebene von Wissensvermittlung (vor allem mit Schwerpunkt auf negativen Konsequenzen des Substanzkonsums) keine bis gegenteilige Wirkung haben. Wirksame präventive Strategien scheinen unspezifisch und schon sehr früh in der Lebensgeschichte von Menschen bedeutsam zu sein: Als besonders präventiv gegenüber späterem pathologischen Konsum von psychotropen Substanzen gelten gute Beziehungserfahrungen in der Herkunftsfamilie, aber auch innerhalb der Peergroup und dort besonders im Zusammenhang mit aktiven und erlebnisintensiven Aktivitäten. Subjektive protektive Variablen sind Überzeugungen und Gefühle von Selbstwirksamkeit sowie ein genuines Wohlbefinden ohne substanzassoziiertes Verhalten oder andere zwanghaft-eingeengte Tätigkeiten.
3.5
Krankheitsverlauf
Entgegengesetzt zu der landläufigen Annahme, dass Abhängigkeitserkrankungen linear und schicksalhaft mit immer weiter ansteigendem Konsum und sich verschlimmernden Folgeerscheinungen verlaufen, zeigen langfristige Katamnesedaten aus repräsentativen Bevölkerungsstudien, dass in den meisten Gruppen der Substanzabhängigen ein großer Teil mit und ohne professionelle Hilfe eine Entwicklung in Richtung gesünderer Konsum- und Lebensformen durchläuft. Dies konnte besonders bei Alkohol- und Nikotinabhängigen nachgewiesen werden. Auch in der Gruppe der Abhängigen von illegalen Drogen gibt es zunehmend Hinweise auf positive Verläufe. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurden die Begriffe des „Maturing out“ bzw. des „Aging out“ – verstanden als lebensphasenabhängige und häufig spontane Verbesserungen des Krankheitsverlaufes – geprägt. In klinischen und in Bevölkerungspopulationen zeigt sich darüber hinaus im Laufe der Krankheitsgeschichte ein Wechsel von exzessiven, moderaten und abstinenten Konsummustern bei ein und derselben Person. Die lange Zeit sehr pessimistische Beurteilung des Erfolges der Bemühungen der Abhängigkeitskranken bzw. der therapeutischen Interventionen liegt darin begründet, dass die Gruppe der im psychiatrischen und spezialisierten Suchthilfesystem sichtbaren Personen sehr häufig eine nicht repräsentative negative Auslese mit zahlreichen Zusatzproblematiken (komorbiden Störungen bzw. Folgeschäden) darstellt. Abbildung 1 illustriert einen prototypischen Krankheitsverlauf am Beispiel alkoholkranker Patienten in Therapie auf der Grundlage eines retrospektiven Konsumdiagramms, welches man gewinnt, wenn abhängige Patienten ihren bisherigen Konsumverlauf über die Lebensspanne skizzieren.
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Rückfälle „Menge“
Entzugssymptome Kontrollverlust
psychisches Verlangen
subjektive „kritische“ Grenze
Alter
Abb. 1 Krankheitsverlauf (retrospektives Konsumdiagramm – Alkoholabhängige)
Nach eher punktuellen Konsumereignissen in Pubertät und Adoleszenz, teilweise schon im Sinne eines schädlichen Gebrauchs, etabliert sich ab der Spätadoleszenz ein gewohnheitsmäßiger erhöhter Konsum, der über einige Jahre (oft in einem entsprechenden sozialen Arrangement) ohne stärkere psychosoziale Folgeerscheinungen stabil bleibt. Am Ende dieser Gewöhnungsphase entwickeln sich die Kernsymptome der Abhängigkeit in relativ kurzer Zeit mit erneuter Dosissteigerung, Kontrollverlusten und Entzugserscheinungen. Viele Abhängige versuchen typischerweise, mit Abstinenzversuchen ihren Konsum und seine negativen Folgeerscheinungen unter Kontrolle zu bringen. Bei der erhofften Rückkehr zu einem sozialen Konsum erleben sie jedoch Rückfälle, in dem sich Dosis und Frequenz des Konsums wieder steigern. Die Dauer dieser Entwicklung kann je nach individuellem Risikoprofi l (Substanzwahl, familiäre Belastung, Alter und psychosozialer Entwicklungsstand, aktuelle Belastungsfaktoren, siehe Ätiopathogenese) deutlich verkürzt sein. Auch im Tierversuch zeigen sich im Rahmen einer experimentell herbeigeführten Abhängigkeitsentwicklung (z. B. bei sogenannten „Alcohol Prefering Rats“) ähnliche Konsumkurven.
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4
Therapie
4.1
Allgemeine Grundsätze der Therapie
Die moderne Suchtbehandlung muss individualisiert und zielorientiert angelegt sein. Die Ziele der jeweiligen Intervention orientieren sich an kontextabhängigen Möglichkeiten der Behandler und an dem aktuellen Hilfsbedarf der Patienten. Die zentrale Aufgabe jeder Intervention bei Menschen mit Substanzproblemen besteht in der Förderung von Motivation zur Erreichung der ausverhandelten Behandlungsziele.
4.2
Motivation
Das transtheoretische Motivationsmodell von Prohaska und DiClemente (1983) ist ein zirkuläres Modell unterschiedlicher Motivationsniveaus in Bezug auf die Veränderungsmöglichkeit des pathologischen Konsumverhaltens (siehe Abb. 2). (Ausstieg)
Aufrechterhaltung
Handlung
Vorbesinnung
Besinnung
Vorbereitung
Abb. 2 Transtheoretisches Motivationsmodell (Prohaska und DiClemente)
Es definiert fünf Stadien der Veränderungsbereitschaft: Im Stadium der Vorbesinnung (Pre-contemplation) gibt es kein Problembewusstsein beim Patienten. Im zweiten, dem Besinnungsstadium (Contemplation), können im Gespräch mit den Patienten bereits ambivalente oder konflikthafte Einstellungen zum Konsumverhalten eruiert werden. Im Stadium der Vorbereitung (Preparation) kommt es zu ersten gerichteten Verhaltensweisen in Richtung Veränderung (Informationsbeschaffung, deutliche innere Beschäftigung mit veränderten Lebensentwürfen und anderes). Im vierten Stadium der Handlungsbereitschaft (Action) kommt es zu konkreten Handlungen der Konsumreduktion oder -unterbrechung und zu ersten Kontakten mit dem Hilfesystem. Das fünfte Stadium der Aufrechterhaltung (Maintenance) beschreibt die Fähigkeit zur
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Aufrechterhaltung eines stabilen veränderten und gesünderen Konsumverhaltens, z. B. einer dauerhaft befriedigenden Abstinenz. Für jedes dieser Stadien stehen spezifische unterstützende und motivierende gesprächsstrategische Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung. Bemerkenswert ist bei diesem Konzept, dass abhängigkeitskranke Patientinnen und Patienten erst nach einer langen Zeit der inneren Motivationsbildung zu konkreten Handlungen imstande sind. Dies deckt sich auch mit den Erfahrungen aus den Anamnesen von Abhängigkeitskranken.
4.3
Therapieziele und -planung
Die Aufgabe aller im medizinischen System Tätigen im Umgang mit Abhängigkeitskranken ist somit eine phasenspezifische und den aktuellen Veränderungsmöglichkeiten der Abhängigkeitskranken angemessene Therapieplanung. Diese muss immer den jeweiligen medizinischen Kontext des Kontakts zwischen Arzt und Patienten berücksichtigen. Wienberg (1992) unterscheidet drei Bereiche des Gesundheitssystems, in denen Abhängigkeitskranke mit sehr unterschiedlichen primären Anliegen sichtbar werden: Bereich „1“ umfasst den spezialisierten ambulanten und stationären Suchthilfebereich, Bereich „2“ den Bereich der psychiatrischen Akut- und Basisversorgung und Bereich „3“ jenen der nichtpsychiatrischen und somatischen Behandlungseinrichtungen (allgemeine Krankenhäuser, niedergelassene praktische Ärzte und Fachärzte). Der Großteil der abhängigen Patienten wird im basismedizinischen Bereich versorgt, der psychiatrische Basisversorgungsbereich sieht vorwiegend Patienten in akuten Krisen und mit zusätzlichen komorbiden Störungen. Nur ein vergleichsweise geringer Anteil der Abhängigkeitskranken ist im Querschnitt im spezialisierten Suchthilfebereich in Behandlung. Es ist daher wichtig, je nach Kontext des Kontakts mit abhängigkeitskranken Patienten unterschiedliche Motivationsziele zu beachten (siehe Tabelle 4). Tabelle 4 Motivationsziele (nach Schwoon 1998) Behandlung (kurzfristig) Veränderung des Substanzkonsums (mittelfristig) Veränderung des Lebensstils (langfristig)
Die erste Aufgabe des Arztes besteht in der Förderung von Behandlungsmotivation. Hier sind drei Faktoren ausschlaggebend für eine positive Entwicklung und müssen im Kontakt mit dem Patienten ins Kalkül gezogen werden: Der subjektive Leidensdruck, die realistisch vermittelbaren und vom Patienten als solche auch wahrgenommenen Erfolgsaussichten einer vorgeschlagenen Maßnahme und nicht zuletzt die subjektive Praktikabilität der geplanten therapeutischen Intervention, d. h., ob diese auch mit dem Alltagsleben der Patientinnen und Patienten verträglich ist (Arbeitsleben, familiäre Verpflichtungen „Abkömmlichkeit“). Wenn das Ziel der Behandlungskontinuität erreicht ist, wird die Konsumveränderung zum Thema. Zwei unterschiedliche Generalziele können hier verfolgt werden,
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entweder Konsumreduktion oder gänzliche Abstinenz. In Frühphasen der Motivationsentwicklung oder bei sehr schwer komorbid belasteten Patienten ist eine schnelle Verfolgung des Abstinenzweges oft nicht von Vorteil. Nach gesicherter Stabilisierung eines gesünderen Konsumstiles werden Themen längerfristig veränderter Lebensstilfragen vordergründig; dies ist wichtig, da bei unveränderter substanzassoziierter ungesunder Lebensführung die Gefahr eines Rückfalls in das alte Konsummuster besonders stark ist.
4.4
Behandlungsstrukturen
Ausgehend von den unterschiedlichen Phasen der Krankheits- und Motivationsentwicklung beinhaltet ein modernes Suchthilfesystem mehre Ebenen der Interventionsstrategien mit den dazugehörigen Institutionen, welche je nach aktueller Situation immer wieder in Anspruch genommen werden können. Die Elemente dieses „therapeutischen Netzes“ sind in Tabelle 5 aufgeführt. Tabelle 5 Behandlungsstrukturen bei substanzbedingten Störungen Erstkontakt – Frühintervention Entzug Therapie – Rehabilitation Nachsorge Schadensbegrenzende/„akzeptierende“ Maßnahmen – Substitutionstherapie – Niederschwellige Betreuung Selbsthilfe
4.4.1 Erstkontakt und Frühintervention Ziele: Die wesentlichen Ziele in dieser Betreuungsphase sind die Etablierung einer Betreuungskontinuität, die Minderung aktueller Beschwerden und die Erhöhung der problemspezifischen Behandlungsmotivation. Die wesentlichen Aufgabenfelder im Rahmen des Erstkontakts sind in Tabelle 6 aufgeführt. Tabelle 6 Aufgaben im Rahmen des Erstkontaktes Klärung, Befunderhebung Information zu Symptomatik und Erkrankung Medizinische Versorgung Beratung hinsichtlich weiterer Therapieoptionen Soziale Unterstützungsangebote Förderung von Behandlungsmotivation
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Erstkontakte können in unterschiedlichen medizinischen und psychosozialen Kontexten stattfinden. Sehr häufig sind die Anliegen der Patienten somatischer Natur (ambulanter und stationärer somatisch medizinischer Bereich), die Substanzproblematik muss verborgen bleiben oder der Patient ist derzeit noch nicht in der Lage, sein Konsumverhalten rasch und massiv zu ändern. Gerade hier ist es wichtig, die unmittelbaren Beschwerden der Patienten ernst zu nehmen und erst anschließend das vom Arzt vermutete begleitende oder dahinterliegende Substanzproblem zu thematisieren und beratend tätig zu werden. Als besonders hilfreich hat sich dabei die möglichst frühe Einbeziehung von Angehörigen erwiesen. Die Frage nach eventuellen sozialen Belastungen (Finanzen, Wohnung und Rechtliches) ist bei Menschen mit Substanzproblemen essenziell, da oft Schwierigkeiten in diesen Bereichen bestehen und die Prognose der Erkrankung negativ beeinflussen, wenn sie nicht geklärt werden. Diese Problematiken kann der Arzt nicht lösen, aber zu einer Konsultation entsprechender Beratungseinrichtungen raten. Es existieren eine Reihe von manualisierten motivierenden Gesprächsstrategieformen, welche für den Umgang mit alkoholkranken Patienten im allgemeinmedizinischen Bereich entwickelt wurden und Elemente lösungsorientierter (Berg und Miller, 1992) und motivierender Gesprächsführung (Miller und Rollnick, 1991) enthalten. Eine Zusammenfassung des Ablaufs eines Erstkontaktgesprächs gibt Tabelle 7. Tabelle 7 Gesprächsführung im Rahmen des „Motivierenden Interviews“ (nach Veltrup, 1994) Nicht-wertende Akzeptanz der subjektiven Realität, Vermittlung von Fachwissen ohne übermächtige Autoritätsposition. Verbesserung des Selbstwertgefühls, Suche nach Ressourcen im Vordergrund. Abwehrmechanismen sind Ausdruck von Schutzbedürfnis vor bedrohlicher Außen- und Innenwelt. Supportive Diagnosestellung: Konfrontierung mit erhobenen Befunden, die Entscheidung bzgl. Diagnose (z. B. Abhängigkeit) bleibt beim Patienten. Förderung der Selbstverantwortlichkeit: Ermächtigung des Patienten, eigene konkrete (realistische) Veränderungsziele zu benennen. Behandlungsvorschläge ohne zu starke Freiheitsbedrohung des Patienten. Entscheidung beim Patienten. Weitere kontinuierliche Hilfe anbieten, auch wenn aktuell keine Hilfsangebote angenommen werden können.
Die Haltung hinter dieser Art der Gesprächsführung ist eindeutig partnerschaft lich und ressourcenorientiert und lässt die Verantwortung für das weitere Vorgehen stark beim Patienten, ohne ihm Unterstützung zu versagen. Diese Form des Umgangs unterscheidet sich stark vom klassischen, durch Expertenautorität begründeten Kommunikationsstil in der Arzt-Patient-Beziehung, sie ist bei offensichtlich selbstschädigenden und exzessiven Verhaltensweisen von abhängigen Menschen nicht leicht durchzuhalten. Konfrontativ-fordernde Gesprächsstrategien haben sich als weniger erfolgreich erwiesen.
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Ausgenommen von dieser Haltung sind somatische und psychiatrische Notfallsituationen, in denen es vorrangig akute Selbst- oder Fremdgefährdung abzuwehren gilt. 4.4.2 Entzugsbehandlung In dieser Behandlungsphase kommt es zu einem massiven Wechsel im Konsumverhalten der Patienten in Richtung Nüchternheit, verbunden mit allen Formen der körperlichen und psychischen Entzugserscheinungen und möglicherweise krisenhaften psychiatrischen Zustandsbildern. Ziel der Entzugsbehandlung ist die weitgehende Freiheit von Entzugserscheinungen durch größtmögliche somatische und psychosoziale Stabilisierung in Verbindung mit einer gut ausverhandelten und realistischen weiterführenden Therapieplanung. Der Schwerpunkt liegt auf somatisch-medizinischen, aber auch psychiatrischen pharmakotherapeutischen Interventionen auf der Basis einer supportiv-motivierenden Beziehungsgestaltung. Mehrere Formen der Entzugstherapie müssen unterschieden werden: Die geplante Entzugsbehandlung im Rahmen eines etablierten abstinenzorientierten Behandlungsplans (z. B. als Vorbereitung für eine längerfristige Entwöhnungsbehandlung), hier bestehen eine klare Zielsetzung, ein hoher Informationsgrad und eine motivierende Perspektive bei den Patienten. Diese Form der Entzugsbehandlung findet häufiger in psychiatrischen Behandlungssettings statt, kann aber auch je nach Schweregrad im somatisch-medizinischen Kontext (Praktischer Arzt, Allgemeinkrankenhaus) durchgeführt werden. Unter der „qualifizierten Entzugsbehandlung“ versteht man eine intensive, strukturiert organisierte Interventionsform im suchtspezifischen Kontext, welche sich vor allem im Bereich Alkoholabhängigkeit (siehe dort) zunehmend etabliert. Häufiger und problematischer ist die Entzugsbehandlung, welche durch unvorhergesehene Ereignisse im Leben der Patienten initiiert wird (Unfall, körperliche oder psychische Krankheit, Geldmangel, etc.). Hier fehlt meist ein gut geplanter betreuerischer Anschlusskontext, die Behandlung findet oft nicht in suchtspezifischen Settings statt (Chirurgie, Interne, Akutpsychiatrie). Die somatische oder akutpsychiatrische Symptomatik ist dabei so dominierend, dass eine abhängigkeitsbezogene Thematisierung und Planung erschwert ist. Neben der Bekämpfung der Entzugserscheinungen und co-morbiden Phänomene stehen Stabilisierung und grundlegende Motivationsarbeit mit den Methoden der Frühintervention im Vordergrund. Die Durchführung von Entzugsbehandlungen mit Zielrichtung Abstinenz bei unvorbereiteten Patienten stellt die Behandler oft vor das Problem fehlender oder unzureichender spezifischer Weiterbehandlung, da entsprechende Betreuungsressourcen fehlen oder lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen sind. Eine realistische Beratung des Patienten in Richtung ambulanter Betreuung, welche die weitere Motivationsarbeit übernimmt, ist oft die bessere Alternative als die Forderung nach Abstinenz mit einem möglichen daraus folgenden Betreuungsabbruch durch den Patienten. Hintergrund dieser Strategie ist die Erfahrung, dass sich die Prognose der Abhängigkeitserkrankung mit der Anzahl der Entzüge ohne Nachbetreuung zunehmend verschlechtert.
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Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass sich Patienten unter dem Eindruck einer massiven substanzbedingten Folgeerkrankung zu konkreten und weitgehenden Änderungsschritten entscheiden. Eine weitere Form der Entzugstherapie ist der sogenannte Partialentzug bei Patienten mit Mehrfachabhängigkeiten, wenn das Konsumverhalten bei einer der verwendeten Substanzen massiv gesundheitsschädigende Ausmaße angenommen hat. Die grundlegende psychopharmakotherapeutische Strategie besteht zunehmend in der sukzessiven Reduktion der Substanz und nicht mehr im plötzlichen Absetzen und der Gabe von Psychopharmaka zur Symptomreduktion. Dieses Vorgehen hat sich vor allem bei der Behandlung des Entzugssyndroms bei Opioden und Benzodiazepinen durchgesetzt. Die spezifische Pharmakotherapie wird in den Kapiteln zu den substanzspezifischen Störungsbildern erörtert. Bei Alkohol und anderen Substanzen ist das abrupte Absetzen der Substanz noch das Vorgehen der Wahl, wobei im Einzelfall ein begleitetes Herunterdosieren auch möglich sein kann. 4.4.3 Therapie und Rehabilitation Für Patienten mit dem Wunsch nach dauerhafter substanzfreier bzw. abstinenter Lebensführung und aktuell ausreichender Abstinenzfähigkeit existieren eine Reihe von meist stationären und ambulanten Entwöhnungsprogrammen, die je nach spezifischer Substanzproblematik und persönlicher Ressourcenlage unterschiedlich lange und mit spezifischen Schwerpunkten angelegt sind. Entwöhnungsprogramme für Abhängige von illegalen Drogen dauern zwischen drei (Kurzzeittherapie) und 24 Monaten (Langzeittherapie), die stationäre Alkoholentwöhnung in Österreich zwischen 8 Wochen (am häufigsten) und einem Jahr. Ambulante oder tagesklinische Entwöhnungsbehandlungen mit Abstinenzziel sind in Österreich im Unterschied zu vielen anderen westlichen Ländern noch kaum üblich. Zentrales Thema der Entwöhnungsbehandlungen ist eine zukünft ige zufriedene und gesicherte abstinente Lebensführung (siehe Tabelle 8). Neben persönlicher Weiterentwicklung stehen alltagsnahe rehabilitative Therapieziele im Vordergrund.
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Tabelle 8 Zielebenen der Entwöhnungsbehandlung Erholung Distanz von bisherigen Alltagsritualen Krankheitskonzept, Abstinenzfähigkeit Angemessenes Hilfesuchverhalten, Vorboten- und Rückfallsbewältigung Alternative Verhaltensweisen zum Konsum Konstruktives Beziehungsverhalten Leistungsfähigkeit, Arbeit Entspannung, Genuss Selbstreflexion, Selbstkontrolle Entscheidungsfähigkeit auf der Handlungsebene Lebenssinn, Visionen
Alle Entwöhnungstherapien beinhalten folgende Interventionsebenen (siehe Tabelle 9), die je nach Klientel und übergeordneten Schwerpunkten unterschiedlich gewichtet sein können. Tabelle 9 Therapie – Rehabilitation Spezifische therapeutische Interventionen – Einzel-/Gruppenpsychotherapie – Rückfallsprophylaxe – Psychoedukation – Kognitives Training, Ergotherapie – Soziales Kompetenztraining, Bewältigungsstrategien – Sport, Entspannungstechniken, Alltagstraining – Angehörigenarbeit Soziale und somatisch medizinische Betreuung Behandlung von co-morbiden Störungen und Folgeerkrankungen Planung langfristiger Nachsorge
Während früher die abstinenzorientierte Therapie mit der Voraussetzung eines abgeschlossenen Entzuges und klaren Auflagen bzgl. Abstinenzfähigkeit und strengen Rückfallsregelungen arbeitete, entwickeln sich zunehmend flexiblere Modelle mit teilweisem Verzicht auf diese Rahmenbedingungen, um mehr Menschen den Eintritt in eine therapeutische Situation zu ermöglichen. An dieser Stelle hat sich der Begriff der abstinenzgestützten Therapie etabliert, welche als therapeutische Auseinandersetzung unter möglichst abstinenten Bedingungen verstanden wird und Abstinenz nicht als Ziel definiert. In diesem Zusammenhang ist die Klarstellung wichtig, dass Abstinenz immer nur ein Mittel (d. h. die Konsequenz aus der Erfahrung mit der Substanzabhängigkeit) zur Erreichung eines gesünderen Lebens sein kann und nicht ein Ziel an sich.
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Aktuell findet innerhalb der Suchtmedizin eine bewegte Kontroverse darüber statt, ob Abstinenz noch das beste Mittel in der Ziele- oder Interventionshierarchie sein soll. Ausgehend von modernen Motivationsmodellen und der Beachtung von subjektiven und phasenspezifischen Ressourcen des jeweiligen Einzelpatienten sollte besser über unterschiedliche Optionen von Interventionsstrategien gesprochen werden, unter denen die Entwöhnungstherapie eine von mehreren darstellt. Eine Verordnung von Entwöhnungstherapie zum falschen Zeitpunkt der Abstinenzentwicklung kann zu einem Scheitern der Patienten und Therapeuten und damit zu einem Vermeiden zukünftiger therapeutischer Inanspruchnahme und zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufs führen. 4.4.4 Nachsorge Ein wesentlicher Faktor zur Erhaltung des Therapieerfolgs nach Entzug und/oder Entwöhnung ist die Inanspruchnahme von Nachsorge. Sie hat die weitere Stabilisierung der erfolgten Konsumveränderung und die Verbesserung der Alltagsbewältigung sowie die Unterstützung bei der Bewältigung von Rückfällen zum Ziel. Sie erfolgt meist in extramuralen suchtspezifischen Beratungseinrichtungen, wird häufig im Gruppensetting angeboten (1-mal/Woche) und sollte intensiv über 1–2 Jahre laufen. Auch Einzelsettings werden zunehmend häufiger angeboten und vor allem von Frauen besser angenommen. Die Selbsthilfe (siehe unten) spielt in diesem Bereich ebenfalls eine wichtige Rolle. Neben den diagnosespezifischen Themen beinhaltet Nachsorge auch die Behandlung von begleitenden somatischen, psychischen und sozialen Folgestörungen in Kooperation mit zuständigen medizinisch-psychiatrischen Einrichtungen. 4.4.5 Schadensbegrenzende/„akzeptierende“ Maßnahmen Ein Gutteil der abhängigen Personen ist nur teilweise oder nicht zu einer dauerhaften Abstinenz fähig. Daher gewinnen zunehmend schadensbegrenzende Maßnahmen an Bedeutung, deren Augenmerk auf der Erhaltung bzw. Verbesserung der gesundheitlichen und psychosozialen Verfassung der Abhängigkeitskranken liegt und die Konsum als Teil der Erkrankung akzeptieren. Je nach speziellem Fokus der Betreuung wird wenig an Vorleistung vom Patienten in dieser Hinsicht verlangt (niedrige therapeutische „Schwelle“). Eine Sonderform in dieser Gruppe stellt die Substitutionstherapie bei Opioidabhängigen dar, in deren Rahmen opoidhältige Ersatzpräparate vom Arzt verschrieben werden, um die psychosozialen und körperlichen Schäden des ungeregelten Konsums jenseits der Legalitätsgrenze zu verhindern. Die Substitutionstherapie wird im Kapitel „Störungen durch Opioide“ näher beschrieben. Therapieprogramme zum „kontrollierten Konsum“ sind strukturierte längerfristige verhaltenstherapeutische Programme für Menschen mit schädlichem Gebrauch und leichteren Formen der Abhängigkeit. Sie haben vor allem in angelsächsischen Ländern eine lange Tradition und werden seit den 90er Jahren auch zunehmend in Mitteleuropa angeboten (Körkel 2007). Kontrolliertes Trinken ist keine Rückkehr zum ursprünglichen sozialen Konsum, sondern ein therapeutisch begleitetes aktives Bemühen um 67
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selbst verordnete Konsumreduktion (Zeitpunkt, -raum, Art, Menge, Situation, etc.) für Menschen ohne längerfristige Abstinenzmotivation oder -fähigkeit. Es ist daher auch keine konkurrenzierende Alternative zu abstinenzorientierten Strategien, sondern kann auch gut in Vorphasen der Abstinenzentwicklung eingesetzt werden. Niederschwellige Angebote im engeren Sinne sind aufsuchende Betreuungen, Streetwork, Kontaktstellen (Treff punktmöglichkeiten von konsumierenden Abhängigen mit begleitender Gesundheits- und Sozialberatung), Obdachloseneinrichtungen u. a. Schadensbegrenzende Maßnahmen sind im Verhältnis zu „hochschwelligen“ Therapiemöglichkeiten bezüglich finanzieller Ressourcen und ihrer Wertigkeit immer noch stark im Hintertreffen. 4.4.6 Selbsthilfe Selbsthilfeeinrichtungen haben eine lange Tradition in der Suchtkrankenhilfe. Sie entstammen häufig den „Abstinenzbewegungen“ des 19. Jahrhunderts auf der Basis kirchlicher Strukturen unterschiedlicher christlicher Konfessionen. Die bekannteste und größte Selbsthilfebewegung im Suchtbereich sind die Anonymen Alkoholiker, die in den 30er Jahren von zwei alkoholkranken Männern, William Griffith Wilson („Bill“) und Dr. Robert Holbrook Smith („Bob“) gegründet wurden. Ihr Angebot besteht in regelmäßigen Gruppenmeetings für „Menschen, die mit dem Trinken aufhören wollen“, ihr theoretischer Hintergrund ist in „12 Traditionen“ und „12 Schritten“ zusammengefasst. Das Zwölf-Schritte-Programm (siehe Tabelle 10) wurde auch von vielen Therapieeinrichtungen übernommen. Die Bewegung der AA ist stark spirituell beeinflusst und geht von einem stark selbstverantwortlichen und auf Freiwilligkeit basierenden Menschenbild aus. Das Konzept wurde auch für andere Formen der Abhängigkeit (Narcotics Anonymous) und für Angehörige (Al-Anon, Al-Ateen) modifiziert.
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Tabelle 10 Das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker 1 . Schritt
1. Schritt : Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
2. Schritt
Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
3. Schritt
Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.
4. Schritt
Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
5. Schritt
Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.
6. Schritt
Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
7. Schritt
Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.
8. Schritt
Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
9. Schritt
Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war –, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
10. Schritt
Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
11. Schritt
Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.
12. Schritt
Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.
4.4.7 Angehörigenarbeit Der Erfolg abhängigkeitsspezifischer Interventionen hängt sehr stark von einer aktiven Einbeziehung der Angehörigen ab. Der Begriff der „Co-Abhängigkeit“ wurde zur Beschreibung des Verhaltens Angehöriger im Umgang mit abhängigkeitskranken Familienmitgliedern geprägt. Die dauernde Unsicherheit und Überlastung von Angehörigen führt zu verschiedenen Strategien, das Konsumverhalten des Betroffenen zu kontrollieren. In extremen Fällen kann dies bei Angehörigen über krankheitswertige Einengungen auf ihre Insuffizienz und als Folge der chronischen Stressbelastung zu Depressionen, somatischen Beschwerden und eigenem pathologischen Konsumverhalten führen. Angehörigenarbeit hat die Richtigstellung der Verantwortlichkeit für das Konsumverhalten, seine Folgeerscheinungen und das Hilfesuchverhalten sowie eine Beziehungsklärung für die Zukunft zum Inhalt. Co-Abhängigkeit darf nicht zu einem diskriminierenden und gegen die Angehörigen gerichteten Konzept werden, da so die oft jahrelangen realen Bemühungen um die Aufrechterhaltung eines funktionierenden sozialen Lebens übersehen und die Angehörigen weiter entmutigt werden, obwohl sie den wesentlichsten Teil des sozialen Netzes der Abhängigen darstellen.
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5
Störungen durch Alkohol F10
5.1
Zur Substanz
Alkohol (Äthylalkohol) ist ein sowohl wasser- als auch fettlösliches Molekül, welches sich in allen Organsystemen des Körpers verteilt und an den Zellmembranen Veränderungen der membrangebundenen Lipide und Proteine hervorruft und insbesondere bei chronischem Gebrauch das inhibitorische GABA-erge Transmittersystem herunterregulierend moduliert. Alkohol bewirkt eine Ausschüttung von Endorphinen, Dopamin und anderen stimulierenden Neurotransmittern im Zentralnervensystem und besitzt ein eher geringes genuines Abhängigkeitspotenzial. Vegetative Alkoholwirkungen sind Pulsbeschleunigung, Muskelrelaxation und Durchblutungssteigerung mit subjektivem Wärme- und Entspannungsgefühl. In Tabelle 11 sind die gesundheitsrelevanten Grenzwerte täglichen Alkoholkonsums aufgeführt, in Tabelle 12 der entsprechende Alkoholgehalt in gängigen alkoholhaltigen Getränken. Tabelle 11 „Harmlosigkeitsgrenze“ und „Gefährdungsgrenze“ bei täglichem Alkoholkonsum (British Health Education Council 1994) Männer
Frauen
„Harmlosigkeitsgrenze“
24 g/d
16 g/d
„Gefährdungsgrenze“
60 g/d
40 g/d
Tabelle 12 Alkoholgehalt in g/l in gängigen alkoholhaltigen Getränken 1 Volumprozent Alkohol in alkoholischen Getränken entspricht 7,9 g/l Reinalkohol. Bier (5 Vol. %): 0,5 l („großes“ Bier, „Halbe“)
20 g
0,3 l („kleines“ Bier, „Seidel“)
13 g
Wein (12 Vol. %): 0,7 l (Flasche in Ö und D)
71 g
0,25 l („Vierterl“)
24 g
Liköre (30 Vol. %, Kräuter, etc.) 0,04 l
9g
Spirituosen (40 Vol. %) 0,02 l („Einfacher“, Stamperl)
6g
Absinth (70 Vol. %) 0,04 l
70
22 g
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5.2
Epidemiologie
Alkoholische Getränke spielen seit Jahrtausenden eine Rolle in der Menschheitsgeschichte. Heute ist Alkohol in den meisten Kulturkreisen unbegrenzt in allen Qualitäten zu jeder Zeit und für jede Person verfügbar und ein wesentlicher gesellschaft licher Faktor mit allen negativen und positiven Folgeerscheinungen. In Tabelle 13 sind einige wichtige epidemiologische Eckdaten zum Alkoholkonsum und zu Folgen pathologischen Alkoholkonsums beschrieben. Tabelle 13 Epidemiologie des Alkoholkonsums und der Alkoholkrankheit in Österreich Jahres-Pro-Kopf-Konsum: ca. 12 l reiner Alkohol 90 % der erwachsenen Bevölkerung konsumieren Alkohol ca. 40 % regelmäßig ca. 15 % im Sinne des schädlichen Gebrauchs 5 % der Männer und 2 % der Frauen sind alkoholabhängig 8000 Todesfälle pro Jahr durch überhöhten Alkoholkonsum Lebenserwartung bei Alkoholkranken um 15–20 Jahre vermindert 40 % der Alkoholabhängigen haben zumindest einen Suizidversuch in Anamnese 15 % der Alkoholabhängigen sterben durch Suizid
5.3
Diagnostische Laborparameter
Der am häufigsten gebrauchte Laborparameter ist die Gamma-Glutamyl-Transferase (GGT), ein Leberenzym, welches eine toxische Beeinträchtigung des Leberparenchyms anzeigt. Ihre Schwankungen durch überhöhten oder reduzierten Alkoholkonsum erstrecken sich über mehrere Wochen. Im letzten Jahrzehnt wurde das alkoholspezifische Carbohydrat-defiziente Transferrin (CDT) standardmäßig in die Diagnostik von überhöhtem Alkoholkonsum implementiert. CDT reagiert deutlich empfi ndlicher als die GGT und eignet sich besser zur Begleitdiagnostik (80 g Alkohol täglich über zwei Wochen führen zu einer Erhöhung, die Erholungszeit des erhöhten Wertes beträgt in der Abstinenz 10–14 Tage). Andere alkoholspezifische Parameter sind derzeit noch in der Erprobungsphase (z. B. Ethylglucuroid, ETG). Häufig sieht man bei chronischem hohen Alkoholkonsum auch eine makrozytäre Anämie mit hohem MCV, Thrombozytopenie und Hyperlipidämie.
71
Martin Kurz
5.4
Spezifische Störungsbilder
5.4.1 Alkoholintoxikation Alkoholintoxikierte Patienten sind eine sehr häufige Patientengruppe im akutmedizinischen und -psychiatrischen Bereich. In Tabelle 14 sind die wichtigsten Symptome aufgeführt. Tabelle 14 Symptome der Alkoholintoxikation Symptomatik stark wechselnd zwischen Hypererregbarkeit und Dämpfung Beeinträchtigung kognitiver Leistung, insbesondere auch der Kritikfähigkeit Übelkeit, Erbrechen Ataxie, Nystagmus, Dysarthrie, Bulbusdivergenz Bei schwerer Intoxikation Koma, Atemlähmung, Blutdruckabfall, Unterkühlung Wichtig: Alkoholgeruch muss nicht wahrnehmbar sein! Möglichkeit der Mischintoxikation in Betracht ziehen.
Die Ausprägung der Symptomatik kann je nach Tagesverfassung, Konstitution und Alkoholgewöhnung sehr unterschiedlich sein. Eine große Gefahr besteht in Verletzungen insbesondere des Schädels und des ZNS, da bei höhergradiger Beeinträchtigung die Schutzreflexe fehlen und die Sturzgefahr sehr hoch ist. Bei vorbestehenden Persönlichkeitsstörungen oder -veränderungen kann es zu akutpsychiatrisch relevanten Spielarten der Intoxikation kommen, den abnormen Rauschzuständen. Im komplizierten Rauschzustand zeigt sich eine übersteigerte Rauschsymptomatik, ohne dass die konsumierte Menge diese erklären würde. Beim pathologischen Rausch treten zusätzliche psychopathologische Phänomene wie Dämmerzustände, Orientierungsverlust, paranoide Phänomene, schwere Depressionen oder massive Aggressivität mit hoher Fremd- oder Selbstgefährdung auf. Therapie der Alkoholintoxikation: Die in Tabelle 15 angeführten therapeutischen Maßnahmen gelten auch für Intoxikationen durch andere Substanzen. Unter „Talking-Down“ versteht man eine ruhige und nicht konfrontative, deeskalierende Form der Kommunikation. Für die Sedierung von erregten und aggressiven Alkoholintoxikierten werden höherpotente Antipsychotika oder Benzodiazepine eingesetzt, falls notwendig auch parenteral. Während bei ersteren v. a. extrapyramidal motorische, kardiale (QTc-Zeit-Verlängerung) und vegetative Nebenwirkungen zu beachten sind, können letztere zur Atemdepression führen. In jedem Fall müssen diese Patienten observiert werden.
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Tabelle 15 Therapeutische Maßnahmen bei Intoxikationen Erste Hilfe, Lagerung, Gefahr des Erbrechens mit Aspiration Engmaschige Überwachung (wechselnde Symptomatik!) Monitorisierung (Blutdruck, EKG, Sauerstoffsättigung) Laborkontrolle auf andere Substanzen Nach Möglichkeit ruhige und reizarme (= entängstigende) Umgebung, „Talking down“ Bei extremer Erregung und Aggressivität pharmakologische Sedierung und Fixierung bis zum Abklingen der Gefährdung
5.4.2 Abhängigkeitssyndrom Hier können alle Symptome wie im ICD-10 beschrieben auft reten (siehe Tabelle 3), auff ällig ist bei der Alkoholabhängigkeit die Toleranzsteigerung. Kontrollverluste müssen nicht bei jedem Patienten auftreten, ein mindestens ebenso großer Anteil der Patienten trinkt rauscharm hohe Mengen über den Tag verteilt („Spiegeltrinker“). Eine Sonderform stellt der sogenannte „Quartalstrinker“ dar, welcher nach monatelangen Phasen der weitgehenden Abstinenz wiederkehrend über ein bis zwei Wochen mit massiven Kontrollverlusten konsumiert und häufig von selbst wieder aufhört. Die vorherrschenden Konsumstile können sich aber im Laufe des individuellen Krankheitsgeschehens abwechseln. Therapie des Alkoholabhängigkeitssyndroms: Die Therapie des Abhängigkeitssyndroms beinhaltet alle Elemente des therapeutischen Netzes, wie im allgemeinen Teil beschrieben. Im abstinenzorientierten Bereich dominiert die 6–8-wöchige stationäre Entwöhnungstherapie mit anschließender Nachsorge. Zunehmend etablieren sich aber auch ambulante, tagesklinische und kürzer strukturierte stationäre Angebote („qualifizierter Entzug“). Die spezifische Problematik für Alkoholabhängige besteht in der permanenten Präsenz von alkoholassoziierten Reizen und sozialen Kontexten, welche gemeistert werden müssen. Für weniger stark Abhängige oder Personen mit schädlichem Konsum wurden Therapieprogramme zum sogenannten kontrollierten Trinken entwickelt, die eine dauerhafte Reduktion des Konsums auf sozial und gesundheitsverträgliche Mengen zum Ziel haben. Auch die Selbsthilfebewegung kann für eine erhebliche Anzahl von Alkoholkranken eine langfristig stabilisierende Funktion erfüllen. Das wichtigste Ziel der Therapie bei Alkoholabhängigkeit besteht in der Rückfallsvorbeugung. Aus dem kognitiv-behavioralen Bereich stammen etliche manualisierte Konzepte, die heute breit in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden. Eine wesentliche Grundlage dafür war das „Relapse Prevention Programme“ von Marlatt und Gordon (1985). Wichtig für das Verständnis des Rückfallgeschehens und die Interventionsmöglichkeiten ist die Unterscheidung von verschiedenen Schweregraden der Abstinenzbeendigung. Es wird zwischen punktuellem und eher geringem („slip“ – Ausrutscher, „lapse“ – kurze Phase vermehrten Konsums) Trinken im Gegen73
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satz zum „relapse“ – der Rückkehr zum zwanghaft-abhängigem Trinken – unterschieden. In der klinischen Realität gehen den Rückfällen der Patienten sehr häufig schon längere Phasen mit moderatem, aber letztendlich steigendem Konsum voraus – hier entsteht ein Interventionsraum, der therapeutisch genutzt werden kann (Notfallvereinbarungen, Krisenintervention, motivierende Strategien). Diese Differenzierung ist auch deswegen wichtig, da viele Patienten angesichts der erlebten Ohnmacht gegenüber der Abhängigkeitsdynamik dazu neigen, sich selbst harte und rigide Abstinenzverpflichtungen aufzuerlegen. Kommt es dennoch zum Konsum, können sie in einen krisenhaften Zustand der Hoffnungslosigkeit geraten, für den man den Ausdruck der „Abstinenzverletzungskatastrophe“ geprägt hat und in dem unerträgliche Affekte der Scham, Entwertung und Spannungszustände vorherrschen, die zu massiven Rückfällen und Therapieabbrüchen führen. Pharmakotherapie: Tabelle 16 gibt einen Überblick über die pharmakotherapeutischen Strategien bei Alkoholabhängigkeit. Tabelle 16 Alkoholabhängigkeitssyndrom – Medikamentöse Rückfallprophylaxe „Anti-Craving“-Substanzen (Einnahme 6–12 Monate): – Acamprosat: Glutamat-Antagonist (1200–1800 mg /d) – Naltrexon: Opiat-Antagonist (25–50 mg/d) Aversivmedikamente (meist langfristige Einnahme): – Disulfiram: Hemmung der Acetaldehyddehydrogenase
Unter „Craving“ versteht man das starke Verlangen, Suchtmittel zu konsumieren. Acamprosat gleicht als Glutamat-Antagonist das Ungleichgewicht zwischen exzitatorischer glutamaterger und durch den chronischen Alkoholkonsum beeinträchtigter GABA-erger Aktivität im ZNS aus. Naltrexon soll durch seinen Opiatantagonismus Craving bzw. Rückfälle verhindern. Interessant ist seine Wirksamkeit in der Reduktion der Alkoholmenge bei Rückfällen. Es gibt ebenfalls Hinweise auf Erfolge beim präventiven punktuellen Einsatz in Risikosituationen. Aversive Strategien werden zunehmend nur mehr in Spezialindikationen (z. B. in Spezialprogrammen für chronisch mehrfach beeinträchtigte Alkoholkranke) eingesetzt. Bei gleichzeitiger Einnahme von Disulfiram und Alkohol kommt es durch die Anhäufung von Acetaldehyd im Körper zu einem sehr unangenehmen Zustandsbild mit Kopfschmerzen, Herzrasen, Übelkeit/Erbrechen und massiver Erweiterung der Hautgefäße. Die dauerhafte Disulfiram-Einnahme hat daher die Funktion eines bewussten Selbstschutzes.
74
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5.4.3 Alkoholentzugssyndrom Mit dem Alkoholentzugssyndrom sind nahezu alle Bereiche des medizinischen Versorgungssystems befasst. Ein Synonym für das Alkoholentzugssyndrom ist das „Prädelir“. In Tabelle 17 sind Symptome und Therapie des Alkoholentzugssyndroms aufgeführt. Tabelle 17 Alkoholentzugssyndrom Symptome: Schwitzen, Unruhe, Angst, Schlafstörungen; Magen-Darm-Störungen; neurologische Auffälligkeiten, insbesondere Tremor Beginn und Dauer: etwa 12 h nach dem letzten Alkoholkonsum; 3–5 Tage Komplikationen: epileptische Anfälle, Delirium tremens, Alkoholhalluzinose Pharmakotherapie: Benzodiazepine (Oxazepam 100–200 mg/d, Lorazepam bis 15 mg/d) Antiepileptika (Valproinsäure, Oxcarbazepin jeweils 600–900 mg/d)
Wichtig ist das Prinzip der Entzugsbehandlung mit Benzodiazepinen: Zu Beginn sollte großzügig (symptomorientiert, Komplikationen verhindernd) mediziert werden, nach Abklingen der Symptome muss ein rasches (7 Tage) Ausschleichen wegen der Suchtpotenz der Tranquilizer erfolgen. Es ist wichtig, Patienten darüber zu informieren, dass Benzodiazepine nur zur Entzugsbehandlung und nicht zur Therapie der Alkoholabhängigkeit per se dienlich sind. Bei kontinuierlicher Einnahme dieser Substanzen besteht das Risiko der Entwicklung einer Mehrfachabhängigkeit. Leichte Formen des Alkoholentzugssyndroms können auch nur mit Antiepileptika sowie ambulant und im nichtpsychiatrischen Kontext behandelt werden. Die Ziele und Rahmenbedingungen der Entzugsbehandlung wurden bereits im Kapitel 4.4.2 behandelt. „Qualifizierte Entzugsbehandlung“: Zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms etablieren sich in den letzten Jahren strukturierte, meist dreiwöchige Therapieprogramme unter der Bezeichnung „Qualifizierte Alkoholentzugsbehandlung“. Neben der somatopsychischen Stabilisierung wird dabei ein intensives krankheitsspezifisches psychoedukatives und therapeutisches Programm angeboten und die ambulante Weiterbetreuung organisiert. 5.4.4 Delirium tremens Das Delirium tremens war vor der Einführung der intensivmedizinischen Betreuung ein mit hoher Mortalität behaftetes Zustandsbild. Es entwickelt sich in 95 % der Fälle aus einem Alkoholentzugssyndrom. 75
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Tabelle 18 Symptome und Behandlung des Delirium tremens Symptome: Tremor, Tachykardie, Hypertonie, Tachypnoe, Elektrolytentgleisung, Krampfanfälle; Angst, Halluzinationen, motorische Symptome (Wälzen, Nesteln), schwere Störung der Orientierung und wechselnde Bewusstseinslage. Beginn und Dauer: 1–2 Tage nach Konsumende; Dauer in der Regel 3–5 Tage Therapie: Benzodiazepine (Lorazepam i. v., eventuell zusätzlich Haloperidol i. v.) Pneumonie- und Thromboseprophylaxe, Flüssigkeitsbilanz und eventuell -substitution, parenterale Ernährung. Fixierung, soweit notwendig. Die Behandlung sollte immer in einem medizinisch streng überwachten Setting (z. B. Intermediate Care Unit) erfolgen.
Die Halluzinationen zeigen sich sehr häufig als optische (Mikropsien), aber auch als akustische Phänomene, manchmal mit szenischer Ausformung. Ziel der Pharmakotherapie ist eine überwachte Sedierung und damit auch eine Reduktion der vegetativen Übererregung. Die Dauer des Delirs kann durch starke somatische Vorschädigung oder durch Mitbeteiligung einer Benzodiazepinabhängigkeit verlängert sein. 5.4.5 Psychotische Störungen Alkoholbedingte psychotische Störungen sind die Alkoholhalluzinose, der Eifersuchtswahn und andere paranoide Zustandsbilder. Die Alkoholhalluzinose ist gekennzeichnet durch akustische Halluzinationen (Stimmen, teilweise konkret kommentierend und beschimpfend). Sie tritt häufig in abstinenten Phasen auf und ist gut mit Antipsychotika behandelbar. Der Eifersuchtswahn galt früher als charakteristisch für eine Alkoholkrankheit, aber auch Eifersuchtsphänomene ohne psychotischen Charakter sind häufig. Die Problematik besteht in der Gefahr exzessiver Gewalt durch die meist männlichen Kranken gegenüber ihren Partnerinnen. Die Prognose des Eifersuchtswahns ist ungünstig, vor allem bei fehlender Kooperationsbereitschaft der Patienten. Eine Trennung ist in schweren Fällen aus Sicherheitsgründen für die Partnerin mitunter unumgänglich. Bei paranoiden Episoden unterschiedlichster Färbung ist eine Therapie mit Antipsychotika indiziert. 5.4.6 Wernicke-Enzephalopathie, amnestisches Syndrom, Alkoholdemenz Die Wernicke-Enzephalopathie entsteht durch chronische toxische Schädigung der Hirnsubstanz und einen Vitamin-B1-Mangel. Sie ist durch folgende Symptome gekennzeichnet: Ataxie, Bewusstseinstrübung und Augenmuskelstörung. Sie kann in ein amnestisches Syndrom mit massiver Kurzzeitgedächtnis-, Konzentrations- und Orientierungsstörung und kompensatorischer Konfabulation münden, welches häufig
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
persistiert. Im Rahmen einer Alkoholabstinenz ist vor allem bei jüngeren Patienten eine Rückbildung möglich. Die Therapie der Wernicke-Enzephalopathie besteht in hoch dosierten i. v. Vitamin B1-Gaben. Die Alkoholdemenz stellt den Endzustand einer chronischen alkoholbedingten Hirnschädigung dar und unterscheidet sich psychopathologisch nicht von anderen Demenzformen. 5.4.7 Psychische Folge- und Begleiterkrankungen a) Kognitive Defizite Kognitive Defizite mit Aufmerksamkeits- und Kurzzeitgedächtnisproblemen sind eine sehr häufige auch in jungen Altersgruppen vorkommende Folgeerscheinung, klingen aber meist nach den ersten 4–8 Wochen der Abstinenz wieder ab. Sie werden häufig im Alltagskontakt von Patienten und Behandlern nicht oder nur indirekt als erhöhte Ermüdbarkeit oder Flüchtigkeitsfehler wahrgenommen (nicht selten dann auch als Widerstand gegen die Therapie und als Undiszipliniertheit fehlinterpretiert) und somit erst in neuropsychologischen Untersuchungsverfahren verifiziert. Persistierende kognitive Defizite müssen in der Nachsorge mit spezifischen Trainings behandelt werden, um den durch sie entstehenden erhöhten Alltagsstress bei den Betroffenen zu vermindern, da in ihm eine hohe Rückfallsgefahr liegt. b) Andere psychiatrische Störungen Depressionen und Angststörungen kommen sehr häufig als koinzidierende Störungsbilder bei Alkoholkranken vor. In mehreren Untersuchungen wurde aber festgestellt, dass die Symptomatik in der Abstinenz abklingt und sich nur in einem kleineren Teil der Fälle eine eigenständig verlaufende Angststörung oder Depression manifestiert. Depressionen sind vermutlich sehr viel häufiger durch Alkoholkonsum ausgelöst als umgekehrt. Pathologischer Alkoholkonsum ist eine häufige Begleiterscheinung bei antisozialen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Posttraumatische Störungen sind vor allem bei alkoholkranken Frauen sehr häufig. Bis zu 40 % der Patientinnen in Therapieeinrichtungen geben an, Opfer von Gewalt in Kindheit und Jugend geworden zu sein. Die Therapie komorbider psychiatrischer Störungen erfolgt gleichzeitig mit der substanzspezifischen Therapie. 5.4.8 Somatische Folge- und Begleiterkrankungen Chronisch überhöhte Alkoholzufuhr wirkt toxisch auf alle Organsysteme. Tabelle 19 gibt eine Übersicht zu den häufigsten somatischen Alkoholfolgeerkrankungen.
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Tabelle 19 Somatische Alkoholfolgeerkrankungen Gastrointestinale Störungen: Gastritis Durchfälle Duodenal- und Magenulzera Zeichen eines Leberparenchymschadens (z. B. Gerinnungsstörung, Ödeme, Aszites), Steatose, Alkoholhepatitis, Fibrose, Zirrhose Pankreatitis Diabetes Neurologische Störungen: Polyneuropathie zerebellare Gleichgewichtsstörungen, dysarthrische Sprache Muskelatrophien (speziell in den unteren Extremitäten) Epileptische Anfälle Hirnatrophie Internistische und kardiologische Störungen: Kardiomyopathie Erhöhtes Malignom-Risiko
Die zahlreichen somatischen Probleme im Zusammenhang mit chronischem Alkoholkonsum sind vor allem in ausgesprochen alkoholpermissiven Gegenden sehr häufig und auch nicht auf manifest Alkoholabhängige beschränkt. Chronisch überhöhter Alkoholkonsum in der Schwangerschaft führt zum fetalen Alkoholsyndrom (FAS), welches unterschiedliche Schweregrade von spezifischen körperlichen Symptomen (verkleinerter Augenspalt, langes Philtrum, Herzfehler, Kleinwuchs) und psychischen Störungen (kognitive Defizite) aufweisen kann. 5.4.9 Spezifische Subgruppen Nachdem der „klassische“ Alkoholkranke ein Mann um die 40 ist und nach wie vor die Wahrnehmung in der Suchtpsychiatrie dominiert, kamen erst in den letzten Jahren drei Subgruppen mit spezifischen Behandlungsbedürfnissen ins Blickfeld: Frauen, alte Menschen und Jugendliche. Die theoretisch klar ausformulierten Therapiekonzepte weichen vor allem bei den Frauen und Jugendlichen vom bisherigen Standard ab, sind aber in weiten Bereichen des Suchthilfesystems noch nicht ausreichend umgesetzt. Geschlechtsspezifische Untersuchungen bei Abhängigkeitskranken zeigen, dass Frauen häufig eine raschere Progredienz und schwerere Folgeerkrankungen aufweisen. Weiters findet man bei Frauen erschwerte Zugangswege zu therapeutischen Möglichkeiten durch die nach wie vor stark gesellschaft lich verankerte Stigmatisierung von Frauen mit Substanzproblemen, vor allem im Zusammenhang mit rollenspezi78
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
fischen Anforderungen (Mutterschaft, Zuständigkeit für das Funktionieren des familiären Zusammenlebens, Mehrfachbelastungen). Die hohe Anzahl von sexualisierten Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend führen zusätzlich zu einem resignativen, selbstverachtenden und stark autodestruktiven Lebens- und Konsumstil bei abhängigkeitskranken Frauen. Therapiekonzepte für Jugendliche müssen niederschwellig, stark schadensbegrenzend orientiert und der adoleszenten Normenwelt der Betroffenen angepasst sein, da Hilfesysteme sonst als feindlich wahrgenommen und vermieden werden. Bei alten Menschen ist der Versuch einer klassischen Vollrehabilitation nicht mehr primäres Ziel. Die Konzentration der Bemühungen wird auf psychophysische Stabilisierung, eine ausreichend positive Bilanz der Lebensgeschichte und die Vorbereitung auf eine konstruktive Inanspruchnahme von altersentsprechenden Lebensräumen und Betreuungssettings gelegt.
6
Störungen durch Opioide F11
6.1
Zu den Substanzen
Opioide werden aus dem Schlafmohn gewonnen. Im Roh-Opium, welches aus dem Saft der Mohnkapsel stammt, kommen eine Reihe von Opioiden vor, vorrangig jedoch Morphin (15 %) und Codein (2 %). Opioide sind seit Jahrtausenden im Gebrauch und aus der Medizin nicht wegzudenken: Opioide wirken schmerzlindernd, euphorisierend, unterdrücken den Hustenreiz und hemmen die Darmtätigkeit. Seit dem 19. Jahrhundert wird Morphin in großen Mengen hergestellt, ab 1870 ist Heroin als erstes halbsynthetisches Opioid am Markt. Seit 1925 gibt es internationale Konventionen, welche Produktion und Handel der Opiode stark einschränken. Das Abhängigkeitspotenzial der Substanzen ist groß, sie wirken hoch spezifisch am körpereigenen Endorphinsystem.Die Einnahme erfolgt oral, nasal, durch Rauchen („Folienrauchen“) und über i. v.-Konsum. Die moderne Opioid-Problematik der westlichen Welt begann in den 70er Jahren, als vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs Geschäftswege in den Westen aufgebaut wurden. Dieser befand sich in einem gesellschaft lichen Wandel, der die soziokulturelle Grundlage für die „Drogenwelle“ bot. Opioide selbst haben keine Organtoxizität, die massiven gesundheitlichen Schäden innerhalb dieser Patientengruppe entspringen den hochrisikohaften Konsumformen und der Beschaff ungsnot im kriminalisierten Raum.
6.2
Epidemiologie
Die Häufigkeit von Opioidabhängigen in Mitteleuropa bleibt seit Jahren bei rund 0,5 % der Bevölkerung konstant. Der Erstkonsum erfolgt häufig in der Pubertät oder Frühadoleszenz. Die Todesfälle durch Überdosierungen sind in den letzten Jahren zurück79
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gegangen und haben sich auf einem konstanten Niveau eingependelt. Die meisten Todesfälle mit Opioidbeteiligung sind Mischintoxikationen mit Benzodiazepinen und Alkohol. In Österreich haben aktuell Morphine das früher dominierende Heroin abgelöst, wobei diese Entwicklungen aber einem schnellen Wandel unterworfen und regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Das Schwergewicht der gesellschaft lichen Bemühungen in der Bekämpfung der Opioidproblematik liegt auf repressiven sowie auf präventiven und schadensminimierenden Maßnahmen; die Verminderung der Todesfälle kann als eindeutiger Erfolg schadensbegrenzender Behandlungsangebote verbucht werden (s. u.).
6.3
Spezifische Störungen durch Opioide
6.3.1 Opioid-Intoxikation Tabelle 20 gibt eine Übersicht zu Symptomen und Therapie der Opioid-Intoxikation. Tabelle 20 Opioid-Intoxikation Stecknadelpupillen; bei schwerer Intoxikation Pupillenerweiterung (Warnzeichen!) Sedierung bis zum Koma Atemdepression bis zur Atemlähmung Wichtig: Häufig Mischintoxikation mit Benzodiazepinen und/oder Alkohol! Medikamentöse Therapie: Antidot-Gabe mit Naloxon Wichtig: Langsame überwachte Gabe, sonst besteht Gefahr eines Raptus durch schlagartig eintretendes Erwachen und Entzugssyndrom
6.3.2 Abhängigkeitssyndrom Die Besonderheiten der Opioid-Abhängigkeit liegen in der starken Toleranzsteigerung und einem massiven somatopsychisch begründeten Substanzhunger (Craving) aufgrund der angenehmen Wirkung der Substanzen (Glücksgefühl, Entspannung, Distanzierung vom Alltag, Erleben von „Wärme“ und Geborgenheit) im Wechsel mit massiver Entzugssymptomatik. Eine zusätzliche Erschwernis entsteht durch die meist starke Verwahrlosung und psychosoziale Fehlentwicklung der Patienten. Der Krankheitsbeginn liegt in der Pubertät und Adoleszenz. Ein hoher Prozentsatz der Betroffenen stammt aus problematischen familiären Kontexten mit Vernachlässigung und Gewalterfahrungen. Besonders junge opioidabhängige Frauen wurden in einem extrem häufigen Ausmaß (in Behandlungspopulationen bis zu 80 %) Opfer sexualisierter Gewalt in der Kindheit. Die Koinzidenzen mit anderen psychiatrischen Störungen ist hoch (s. u.), neuerdings werden auch häufig vorbestehende Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrome beschrieben.
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
Die Beziehungsgestaltung von Opioidabhängigen ist geprägt von Manipulation, Grenzüberschreitung, Unzuverlässigkeit, dissozialen Zügen und stellt eine besondere Herausforderung für das Hilfesystem dar. Gesellschaft lich gesehen eignet sich diese Gruppe gut als Projektionsfläche für Ablehnung und Ängste, sie wird regelhaft politisch zu einer gefährlichen Randgruppe stilisiert. Dies erschwert den Zugang zum Hilfesystem zusätzlich. Die therapeutischen Schwerpunkte liegen bei der Opoidabhängigkeit neben abstinenzorientierten Therapien primär auf schadensbegrenzenden Maßnahmen mit dem Ziel der Überlebenssicherung, Gesundheitsförderung und Verhinderung weiterer Kriminalisierung. Die Angebote sollten so gestaltet sein, dass sie möglichst viele Betroffene dauerhaft erreichen. Als vorrangiges Erfolgskriterium wurde dazu der Begriff der „Haltequote“ geprägt. Hier existieren vor allem in städtischen Ballungsräumen Kontaktstellen mit angeschlossenem Streetwork, Spritzen-Automaten bzw. Möglichkeiten zum Spritzentausch, Gesundheits- und Sozialberatung. Notschlafstellen bzw. akzeptierende Wohnmöglichkeiten verhindern weitere Schäden durch Obdachlosigkeit. International etablieren sich vor allem in größeren Städten auch „Gesundheitsräume“, in denen unter sicheren Bedingungen selbst mitgebrachte Opiode konsumiert werden können. Die Substitutionstherapie mit ärztlich verschriebenen Opioden hat sich in den letzten Jahren als primär medizinisch-psychiatrische Interventionsform etabliert. Sie wird in Substitutionsambulanzen, aber auch im niedergelassenen ärztlichen Bereich angeboten. Die europäischen Suchtmittelgesetze regeln die Abgabemodalität in restriktiver Form. Andererseits existieren beispielsweise in Österreich klare Ausbildungsvorgaben für substituierende Ärzte. Die ärztlich-administrative Kontrolle der Rezeptur obliegt Amtsärzten. Tabelle 21 beschreibt die wesentlichen Elemente und Aufgabenbereiche der Substitutionst herapie. Tabelle 21 Substitutionstherapie mit Opioiden Indikation: Alter > 18a, im Einzelfall auch jünger Soziale Stabilität und Fähigkeit zum Einhalten von Vereinbarungen (Reha-Maßnahmen, Kontrollen, Verlässlichkeit) Unbefristete Indikation: schwere somatische Krankheit, AIDS, schwere Abhängigkeit Kurzzeitige Indikation: unzumutbarer Entzug, Schwangerschaft, Lebenskrisen, Überbrückung/Wartezeit bis Entzug, Herunterdosieren („warmer“ Entzug) Substanzen: Methadon, Buprenorphin, Buprenorphin/Naloxon als Kombinationspräparat, L-Polamidon, Morphin (Mittel 2. Wahl laut österreichischem Suchtmittelgesetz) Vorteile: Verringerung von Sekundärschäden (Krankheit, Kriminalität, Prostitution), Verbesserung der Resozialisierungschancen
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Tabelle 21 (Fortsetzung) Substitutionstherapie mit Opioiden Probleme: Kontrollierte Abgabe (Missbrauchsvorbeugung) Beikonsum (Alkohol, Benzodiazepine …) Persistierender intravenöser Konsum Mangelnde subjektiv erwünschte Wirkung Politische Problematik – wenig Ressourcen
Die Indikationsstellung muss sorgfältig geprüft werden. Wichtig sind begleitende psychosoziale Maßnahmen und eine engmaschige medizinisch-psychiatrische Betreuung vor allem in der Anfangsphase. Die richtige Dosierung wird anhand des Zustands des Patienten langsam angepasst. Um Überdosierungen (aufgrund evtl. falscher Angaben des Patienten zum Vorkonsum) zu vermeiden, wird mit einer niedrigen Dosierung begonnen und hinauftitriert. In Österreich stehen nicht nur Methadon und Buprenorphin (allein oder in Kombination mit Naloxon), sondern auch L-Polamidon und Morphine als Substitutionsmittel zur Verfügung. Die Kombination von Buprenorphin und Naloxon dient der Verhinderung der missbräuchlichen i. v.-Applikation von Buprenorphin. Naloxon entfaltet nur bei i. v.-Anwendung eine opiatantagonistische Wirkung, womit der gewünschte euphorisierende Effekt aufgehoben wird. Zwei zentrale Problembereiche sind in der Substitutionstherapie immer präsent: die Gewährleistung einer sicheren Abgabepraxis und der polytoxikomane Beikonsum. Die Abgabe von Substitutionsmedikamenten benötigt eine gute Kooperation zwischen behandelndem Arzt und Amtsarzt, Apotheke und psychosozialen Einrichtungen auf möglichst lokaler Ebene, um in die Lebenswelt der Patienten gut integriert zu werden. Das Missbrauchspotenzial (Weiterverkauf, i. v.-Applikation oraler Substitutionsmedikamente) lässt sich dadurch in Grenzen halten. Reine Opiodabhängige sind selten. Meist besteht ein zusätzlicher Cannabis-, Benzodiazepin-, Amphetamin und Alkoholkonsum, auch Kokain wird punktuell eingesetzt. Dies stellt bezüglich der Alltagsfähigkeiten und möglicher fataler Mischintoxikationen eine Herausforderung auch für die Behandler dar. Darüber hinaus können viele substituierte Patienten nicht vollständig auf die gesundheitsgefährdende Praxis des intravenösen Konsums verzichten. Auch hier liegt die Lösung in einer möglichst umfassenden und lebensweltnahen Betreuung. Für Patienten mit dem realistischen Wunsch nach Abstinenz bestehen Entwöhnungseinrichtungen mit Kurz- und Langzeittherapieprogrammen. Diese therapeutischen Angebote müssen im Vorfeld mit den Patienten gut vorbereitet werden. Adäquate Nachsorge für Patienten nach abstinenzorientierter Therapie ist unerlässlich. Die Erfahrungen dieser Einrichtungen erfordern Vorbereitungsambulanzen. Auch entstehen zunehmend Therapiekonzepte, die eine Aufnahme der Patienten nicht ausschließlich nach abgeschlossenem Entzug („clean“), sondern auch im substituierten
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
Zustand ermöglichen. Die Reduktion wird anschließend im geschützten Rahmen der Therapie durchgeführt. Die sorgfältige Überprüfung der Abstinenzfähigkeit von Opiodabhängigen ist deshalb wichtig, da sich die Toleranz der Patienten schon nach kurzer Abstinenzdauer wieder erniedrigt und bei einem Rückfall häufig akzidentelle Überdosierungen mit Todesfolge vorkommen. 6.3.3 Opioid-Entzugssyndrom Die Symptomatik des Opioid-Entzugssyndroms ist somatisch und psychisch sehr quälend und einer der Hauptgründe für die selbst- und fremdschädigenden Verhaltensweisen. Tabelle 22 Symptome und Behandlung des Opiodentzugssyndroms Symptome: Unruhe, Angst, Depression, Schmerzen, Darmkrämpfe, Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, massiver Substanzhunger Therapie: Medikamentengestützte Behandlung mit opiodhältigen oder -ähnlichen Substanzen: Methadon, Buprenorphin, Morphine, Tramadol Geplante Entzugsbehandlung: sukzessive Reduktion in kleinen Schritten bis zur Substanzfreiheit, „kalte“ Entzüge heute obsolet. Akzidenteller Entzug: medikamentöse Überbrückung mit Opioiden und (Wieder-)Einbindung in geordnetes substituierendes Behandlungssetting. Manchmal kurzfristig adjuvanter Einsatz von Benzodiazepinen
6.3.4 Andere psychische Störungen durch Opioide Delirante Zustandsbilder können bei Intoxikationen vorkommen. Die häufigsten koinzidierenden psychiatrischen Störungen sind Borderline- und dissoziale Persönlichkeitsvarianten, Depressionen, paranoide Episoden und posttraumatische Belastungsstörungen. 6.3.5 Körperliche Folgestörungen Durch die Praxis der intravenösen Drogeneinnahme kommt es zu einer Häufung von Infektionen: Hepatitis (A, B, C), HIV, infizierte Embolien, Abszesse, Thrombophlebitiden sind die häufigsten Komplikationen. Bis zu 70 % der Patienten in Behandlungspopulationen sind Hepatitis-C-positiv. Die in den 1980er Jahren explosionsartige HIVEpidemie konnte durch schadensbegrenzende Maßnahmen eingegrenzt werden. Unbehandelte Opioidabhängige sind einem hohen Stress und Drogenbeschaffungsdruck ausgesetzt. Diese Lebensführung birgt ebenfalls zahlreiche somatische und psychische Risiken in sich. Ungeschützter Geschlechtsverkehr bei Prostitution, Gewalterfahrungen, Unfälle bei Intoxikationen, Gefängnisaufenthalte, Selbstfürsorgedefizite, Fehlernährung, Obdachlosigkeit u. v. m. können zu einer extremen körperlichen Ver-
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wahrlosung und Multimorbidität führen. Daher ist jede gezielte therapeutische und gesundheitsfördernde Maßnahme gerade auch bei nicht abstinenzfähigen und stark verwahrlosten Patienten wichtig und sinnvoll. Hepatitis-Impfungen gehören zum Standardrepertoire der medizinischen Betreuung von Opioidabhängigen.
7
Störungen durch Cannabinoide F12
7.1
Zu den Substanzen
Cannabinoide werden aus dem indischen Hanf (Cannabis sativa) gewonnen. Innerhalb der ca. 60 in der Pflanze vorkommenden Cannabinoide ist Delta-9-Tetra-HydroCannabinol (THC) der aktivste psychotrope Wirkstoff. THC ist eine langkettige Fettsäure und wirkt im ZNS spezifisch an Cannabinoid-Rezeptoren. Cannabinoide werden in Form von getrockneten Blättern und Blüten, Harz der Blütenspitzen sowie von Cannabisöl (selten verwendet, hohe THC-Konzentrationen) entweder gegessen, als Teezubereitung getrunken und am häufigsten geraucht. Neuerdings erleben Cannabinoide einen vermehrten Einsatz in der Medizin, nachdem sie durch die Kriminalisierung der Substanz in den 1970er-Jahren tabuisiert wurden. Cannabis ist seit Jahrtausenden nicht nur als Rauschmittel, sondern auch als Medikament im Gebrauch. Es kann als Antiemetikum, Analgetikum, Muskelrelaxans und appetitsteigerndes Mittel bei Tumor- und AIDS-Kranken sowie bei Patienten mit spastischen Lähmungen eingesetzt werden. Hier exstieren Zubereitungen in Tablettenund Zäpfchenform. Die Toxizität der Cannabinoide ist gering, Überdosierungen führen nicht zur Atemlähmung, da im Stammhirn keine Cannabinoid-Rezeptoren existieren. Das genuine Abhängigkeitspotenzial ist gering, ähnlich wie bei Alkohol. Cannabinoide werden einige Stunden nach der Einnahme vom ZNS ins Körperfettgewebe verschoben und dort abgelagert. Die Ausscheidung erfolgt langsam, bei entsprechendem Konsum und Körperfettanteil kann Cannabis bis zu sechs Wochen im Harn nachgewiesen werden. In Tabelle 23 sind die häufigsten Phänomene des Cannabisrausches aufgeführt. Tabelle 23 Spezifische psychotrope Wirkungen von Cannabinoiden Verlangsamung des Zeitempfindens Assoziative Gedankenmuster (subjektiv „genial“) Gesteigerte Sinnesempfindungen Störungen der kognitiven Leistungen Steigerung des Appetits (u. U. Heißhunger) Steigerung von Herzfrequenz und Blutdruck Gerötete Augen, trockener Mund, Erweiterung der Bronchien (Pseudo-)Halluzinationen
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
Eine Besonderheit des Cannabisrausches ist das weitgehende Fehlen von aggressiver Enthemmung auch bei höheren Dosierungen. 7.1.1
Epidemiologie
Je nach Altersgruppe liegt die Lebenszeitprävalenz von Cannabis-Erfahrungen bei 20–40 % der Bevölkerung. Der größte Teil der Cannabiskonsumenten konsumiert gelegentlich, Schätzungen bzgl. der Rate der Cannabisabhängigen liegen bei 1–2 % der Konsumenten. Während der letzten 20 Jahre hat sich Cannabis in den jüngeren Altersgruppen zu einer weitverbreiteten Droge entwickelt. Die ideologischen Assoziationen der 1970erJahre sind verschwunden, Cannabiskonsum wird unter Adoleszenten nunmehr auch als „normal“ und häufig als die gesündere Variante der Berauschung im Gegensatz zu den (elterlichen) Alkoholkonsumgewohnheiten gesehen. Untersuchung zeigen, dass in dieser Altersgruppe trotz klarer gesetzlicher Restriktion wenig Unrechtsbewusstsein in Bezug auf Cannabisgebrauch existiert. Cannabis stand wegen seiner gesellschaft lich determinierten Nähe zu den anderen Drogen und der Häufigkeit des Cannabiskonsums bei Opioidabhängigen lange im Verdacht, die „Einstiegsdroge“ für eine „harte“ Drogenkarriere zu sein. Dies konnte widerlegt werden: Cannabisgebraucher werden nicht häufiger abhängig von Opioiden als cannabisabstinente Personen.
7.2
Spezifische Störungen durch Cannabinoide
7.2.1
Cannabinoid-Intoxikation
Die Cannabinoid-Intoxikation ist gekennzeichnet durch Kollapsneigung, Übelkeit, Gangstörungen, auch paroxysmale Tachykardien kommen vor. Psychische Symptome sind Angst und Panikzustände bis hin zu paranoiden Einengungen. Die Therapie ist symptomatisch: Der Rausch klingt natürlicherweise innerhalb von ca. 6 Stunden ab, massive Angstzustände werden mit Benzodiazepinen behandelt. 7.2.2 Abhängigkeit von Cannabinoiden Cannabis kann eine psychische Abhängigkeit hervorrufen. Häufi g ist eine Toleranzsteigerung. Der Interessens- bzw. Aktivitätsverlust kann enorme Ausmaße annehmen. Ein früherer Begriff dazu ist das „amotivationale Syndrom“, welches aber nicht cannabisspezifisch ist, da die Aufgabe von Interessen und Vergnügungen bei allen Formen substanzgebundener Abhängigkeit als zentrale Symptomatik vorkommt. Therapeutisch wird hier ähnlich vorgegangen wie bei alkoholbedingten Störungen, wobei aber die gesetzliche Sonderstellung des Cannabis und die adoleszent-rebellische Konnotation des Cannabisgebrauchs komplizierend wirken. Ob abstinente Lebensformen anzustreben sind, liegt letztendlich in der Entscheidung der Patienten.
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7.2.3 Entzugssyndrom Cannabis erzeugt keine körperliche Abhängigkeit im engeren Sinn, es kommt aber nach längeren Phasen starken Konsums zu Absetzphänomenen: Schlafstörungen, Angstzustände, Depersonalisation, Derealisation und Gereiztheit können bis zu drei Wochen lang anhalten. Die Behandlung erfolgt auch hier symptomatisch mit kurzfristiger Medikation mit Benzodiazepinen oder sedierenden Antipsychotika. 7.2.4 Andere psychische Störungen durch Cannabinoide Neben der angesprochenen Wesensänderung können Cannabinoide aufgrund ihrer halluzinogenen Komponente länger andauernde und verzögert auftretende psychotische Phänomene hervorrufen. Cannabinoidinduzierte Psychosen mit starker paranoider Einengung über den Berauschungszeitraum hinaus können bei prädisponierten Personen auftreten. Gefährdet sind besonders Adoleszente in psychosozialen und entwicklungspsychologischen Krisensituationen, bei Persönlichkeitsstörungen sowie in prämorbiden Phasen bei Schizophrenien. Cannabinoid-induzierte Psychosen können mit Antipsychotika gut behandelt werden. Schizophreniekranke zeigen in der Zeit vor Ausbruch der Erkrankung häufig einen Cannabiskonsum: diese Beobachtung führte zur These, dass Cannabinoide in irgendeiner Form schizophreniefördernd oder -auslösend seien. Bei regelmäßigen Konsumenten ist in späteren Lebensjahren – auch bei Reduktion oder Sistieren des Konsums – ein bis zu vierfach höheres Schizophrenierisiko beschrieben. Manifest Schizophreniekranke zeigen zudem neben Alkohol- sehr häufig einen Cannabisgebrauch mit negativem Einfluss auf den Krankheitsverlauf; er erfolgt vermutlich in der Absicht, die subjektiv als quälend erlebte Negativsymptomatik im emotionalen Bereich zu verbessern. Nach dem Konsum von Cannabis kann es zu „Flash-Backs“ kommen, einem déja-vuähnlichen Wiederauftreten von rauschähnlichen Zuständen Tage oder Wochen nach dem Abklingen des akuten Rausches. Kognitive Einschränkungen sind bei chronischem Cannabisgebrauch ein häufiges Begleitphänomen. Die vielfach geäußerte Vermutung, dass bei entsprechend hohem und chronischen Gebrauch von Cannabis irreversible kognitive Defizite auf organischer Grundlage auch in der Abstinenz persistieren, konnte nicht bestätigt werden. 7.2.5 Körperliche Folgestörungen Harte Befunde liegen von pulmologischer Seite vor, dass die tiefe Inhalation beim Cannabisrauchen in Verbindung mit den Rauchinhaltsstoffen von Cannabisprodukten zu einer starken Lungenschädigung (Bronchitis, COPD, Bronchuskarzinom) führen kann. Die Schädlichkeit von Cannabisrauch ist dabei um ein vielfaches größer als jene von normalem Zigarettenrauch.
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Störungen durch Sedativa und Hypnotika F13
8.1
Zu den Substanzen
Die dominierende Substanzklasse in dieser Klassifi kationsgruppe sind die Benzodiazepine bzw. benzodiazepinähnliche Medikamente, daher werden die Begriffe Sedativa, Tranquilizer, Hypnotika bzw. Schlafmittel oft synonym für die Benzodiazepine verwendet. Ältere Sedativa aus der Gruppe der Barbiturate sowie Meprobamat und Clomethiazol sind großteils nicht mehr erhältlich. Ein häufig verwendetes benzodiazepinähnliches Medikament ist Zolpidem, welches als Hypnotikum entwickelt wurde. Die ursprüngliche Hoffnung, dass Zolpidem kein Abhängigkeitspotenzial besitzt, hat sich nicht bestätigt. Benzodiazepine kamen Anfang der 1960er-Jahre auf den Markt und wurden zu einer häufig verschriebenen Medikamentengruppe. Ihr Indikationsgebiet betrifft alle Arten von primärer oder sekundärer Angstsymptomatik, Epilepsien und Entzugssyndrome, darüber hinaus werden sie als Muskelrelaxantien, Narkotika und beim psychiatrischen Notfall zur Akutsedierung verwendet. Sie sind nicht toxisch. Auch existiert ein Antidot, der Benzodiazepinantagonist Flumazenil. Ihre pharmakologische Wirkung entfalten sie spezifisch und hochwirksam an Benzodiazpinrezeptoren im GABA-Komplex. Man kann zwei Arten von Wirkprofi len unterscheiden: Vorwiegend anxiolytische (Diazepam, Lorazepam, Oxazepam, Alprazolam, Bromazepam) – auch „Tagestranquilizer“ genannt – und hypnotische (Flunitrazepam, Triazolam u. a.) Benzodiazepine. Die sedierende Wirkung von Benzodiazepinen ist dosisabhängig. Ihr genuines Abhängigkeitspotenzial wird ähnlich wie bei Alkohol beschrieben, bei bestimmten prädisponierten Personengruppen mit hohem Angstniveau werden aber Abhängigkeitsentwicklungen innerhalb weniger Wochen berichtet.
8.2
Epidemiologie
Der Anteil an Abhängigen in der Bevölkerung wird auf 1–2 % geschätzt. Bestimmte Personengruppen wie alte Menschen und psychiatrische Patienten, insbesondere mit Alkohol- und Drogenproblemen, Schizophrenie und Angststörungen weisen chronische Konsumraten zwischen 15 % und 80 % auf. Die Hauptgruppe der Benzodiazepingebraucher sind Menschen über 65 Jahre. Eine weitere pharmakoepidemiologische Besonderheit bei Benzodiazepinen ist die Verschreibungspraxis: Benzodiazepine werden vorwiegend von Allgemeinmedizinern und Internisten verschrieben. Psychiater sind im Laufe der Zeit eher restriktiv in der Verschreibung geworden. Der Grund für diese Verschiebung liegt unter anderem darin, dass Allgemeinmediziner und Internisten häufig mit Somatisierungsstörungen und situationsspezifischen Belastungsreaktionen (z. B. Isolation im Altersheim) bei
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ihren Patienten konfrontiert sind, psychiatrisch/psychotherapeutische Inanspruchnahme aber krankheitsimmanent oder versorgungstechnisch schwer möglich scheint. Benzodiazepine werden auf diese Weise häufig in Fehlindikationen verschrieben (Schmerz, Dysthymie). Benzodiazepinabhängige und ihre Bezugspersonen werden sehr selten im Suchthilfesystem vorstellig, da die Substanzen Emotionen wie Ärger oder sozial unverträgliches Verhalten, z. B. Klagen und Fordern in prekären Betreuungsituationen hemmen und kaum Leidensdruck besteht bzw. durch die Benzodiazepinwirkung genommen wird.
8.3
Spezifische Störungen durch Sedativa und Hypnotika
8.3.1 Benzodiazepinintoxikation Benzodiazepine wirken in der Regel dämpfend auf das ZNS mit Sprach-, Gang- und kognitiven Störungen. In höheren Dosen führen sie zu Koma und Atemlähmung. Als Therapie ist Flumazenil langsam bzw. im Perfusor zu verabreichen. Das „Wachspritzen“ kann vor allem bei abhängigen Patienten zu raptusartigen oder Panik-Zuständen im Sinne akuter Entzugssymptome führen. Bei alten Menschen, Kindern und hochdosiskonsumierenden Drogenabhängigen kann es zu paradoxen Reaktionen mit Vigilanz- und Antriebssteigerung oder verstärkter Angst kommen. 8.3.2 Benzodiazepin-Abhängigkeitssyndrom Alle Symptome des Abhängigkeitssymptoms können vorliegen. Eine Besonderheit stellt die beim überwiegenden Anteil der Patienten vorkommende „Low-Dose-Dependency“ von Benzodiazepinen dar. Darunter versteht man eine zwanghaft-ritualisierte und ohne Dosissteigerung einhergehende Konsumform über sehr lange Zeiträume, die in den meisten Fällen nicht den vollen Kriterien eines Abhängigkeitssyndroms entspricht. Die Therapiestrategien ähneln denen bei Alkoholproblemen. Bei Beachtung der Grundprinzipien der Entzugsbehandlung und ausreichenden flankierenden Maßnahmen ist die Langzeitprognose bzgl. der Abstinenz besser als bei alkoholbedingten Störungen.
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8.3.3 Benzodiazepin-Entzugssyndrom Tabelle 24 beschreibt die Symptomatik und Therapie: Tabelle 24 Benzodiazepin-Entzugssyndrom Symptome: Überempfindlichkeit, Angststörungen, Depressionen, massive Unruhe, Tachykardie, Schlaf-, Wahrnehmungsstörungen, wie z. B. Depersonalisation, Derealisation Rebound-Phänomene (verstärktes Auftreten von Symptomen, die ursprünglich Behandlungsziel waren.) Beginn und Dauer: abhängig von der Halbwertszeit Beginn häufig erst nach Tagen Dauer individuell unterschiedlich (bis zu einigen Wochen!) Komplikationen: Delir (wenig vegetative Symptome, häufig protrahiert) epileptische Anfälle, Panikattacken Pharmakotherapie: Prinzip der Entzugsbehandlung: kein plötzliches Absetzen (sehr quälend), stufenweise Reduktion in Abstimmung mit Patienten langfristiges Ausschleichen der Substanz (Wochen bis Monate), zusätzlich Carbamazepin oder Oxcarbazepin, Therapie der zusätzlichen Angst- oder depressiven Störung (Antidepressiva, evtl. sedierende Antipsychotika)
Die Entzugssymptomatik ähnelt der des Alkoholentzugs, ein wichtiger Unterschied besteht im möglichen späteren Beginn und der längeren Dauer mit einer bunten und oft quälenden Symptomatik. Der mögliche Zusammenhang mit einer Abhängigkeitsproblematik wird beim akzidentellen Entzug im Krankenhaus durch Verschweigen der Medikation seitens der Patienten übersehen bzw. fehlinterpretiert. Delirien im Rahmen von Benzodiazepinentzügen verlaufen meist protrahiert und sind von geringeren vegetativen Erscheinungen begleitet. Geplante Entzüge werden wenn möglich ambulant über Monate hinweg mittels kleiner Reduktionsschritte durchgeführt.
8.4
Weitere Störungen durch Benzodiazepine
Eine mögliche irreversible Persistenz von kognitiven Defiziten nach langjährigem Benzodiazepingebrauch ist nicht gesichert. Alte Menschen unter Benzodiazepin-Medikation haben ein doppelt so hohes Sturzrisiko mit Verletzungsfolgen (z. B. Schenkelhalsbruch). Therapieprogramme für alte Menschen kamen zum Ergebnis, dass auch nach langem Gebrauch im hohen Alter Reduktions- oder Absetzversuche gelingen können.
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Martin Kurz
9
Störungen durch Kokain F14
9.1
Zur Substanz
Kokain wird aus den Blättern des süd- und mittelamerikanischen Coca-Strauchs gewonnen. Die Tradition des Coca-Kauens bzw. die Zubereitung von Coca-Tee hat sich bis in heutige Zeit erhalten. Dabei wird das Kokain durch Hydrolyse in das deutlich weniger psychotrop wirksame Ecgonin umgewandelt, welches ähnlich stimulierend wirkt wie Koffein. Reines Kokain wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts extrahiert und kommt in zwei Formen vor: der Kokainbase („Freebase“), welche geraucht wird, und dem Kokain-Hydrochlorid, welches nasal oder intravenös konsumiert wird. Aus der freien basischen Form wird durch chemische Verbindung mit Natriumbikarbonat „Crack“ gewonnen, welches ebenfalls geraucht wird. Kokain ist seit dem 19. Jahrhundert in der Medizin als Lokalanästhetikum in Gebrauch. Diese Wirkung entsteht durch maximale Konstriktion der Blutgefäße. Kokain erlebte einen Höhepunkt als Modedroge der „Yuppies“ in den 1980er-Jahren. Die Substanz bewirkt eine starke Aktivierung (und Entleerung) vor allem des dopaminergen Systems durch Transmitter-Ausschüttung und Wiederaufnahmehemmung im synaptischen Spalt. Das genuine Abhängigkeitspotenzial von Kokain ist hoch. Die subjektiven erwünschten Wirkungen bestehen in Überwachheit, Euphorie, Stärkegefühl, Antriebsund Libidosteigerung sowie der Unterdrückung von Hunger und Ruhebedürfnissen („Rush“). Der Kokainrausch dauert in der Regel etwa 30 Minuten. Nach längeren Phasen regelmäßigen Kokainkonsums kommt es zu einer Erschöpfung der massiv stimulierten Transmittersysteme im ZNS und zu einem Wirkungsverlust bzw. Entzugserscheinungen, die auch durch große Mengen nicht mehr kompensiert werden können. In diesem Zusammenhang können Kontrollverluste auftreten, die in einer Intoxikation enden.
9.2
Epidemiologie
Gemessen an anderen illegalen Drogen spielt Kokain in Westeuropa nur eine untergeordnete Rolle. In den USA kommt Crack-Gebrauch in gesellschaftlich unterprivilegierten Ghetto-Situationen sehr häufig vor. Es mehren sich aber die Anzeichen, dass Crack im Zuge der gesellschaft lichen Veränderungen auch in Europa mehr Bedeutung bekommt. Kokaingebrauch steht häufig in Verbindung mit anderen psychischen Erkrankungen, insbesondere affektiven Störungen, Persönlichkeitsstörungen, nichtstoffgebundenen Abhängigkeiten und anderen Störungen durch psychotrope Substanzen.
90
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
9.3
Spezifische Störungen durch Kokain
9.3.1 Kokain-Intoxikation Die Intoxikation ist durch zahlreiche somatische und psychische Folgeerscheinungen der Hyperexzitation gekennzeichnet: Tabelle 25 Symptome der Kokain-Intoxikation Affektstörung/Dysphorie Wechsel zwischen Agitiertheit oder Verlangsamung Tachy-/Bradykardie Blutdruckschwankungen, Herzrhythmusstörungen Verwirrtheit, Krampfanfälle, Koma (Pseudo-)Halluzinationen („Coke Bugs“) Paranoide Denkinhalte Aggressionsdurchbrüche
Der Begriff der „Coke Bugs“ beschreibt taktile Wahrnehmungsstörungen der Haut, als deren Folge Insekten auf und in der Haut halluziniert werden. In diesen Fällen versuchen Patienten mit verschiedenen Instrumenten die Käfer zu entfernen, was zu teilweise massiven Exkoreationen führen kann. 9.3.2 Kokain-Abhängigkeitssyndrom Alle Kriterien des Abhängigkeitssyndroms können sehr stark ausgeprägt sein. Gewalttaten im Zusammenhang mit Kokaingebrauch sind häufig, vor allem in unterprivilegierten und verwahrlosten gesellschaft lichen Kontexten. Bei Crack werden extreme Formen der Abhängigkeit mit allen ihren Folgen beschrieben. Die Therapie bei Kokainabhängigen muss die häufigen koinzidierenden Störungen besonders mitbeachten. Bei schwer Abhängigen ist die Rückfallsgefahr hoch. 9.3.3 Kokain-Entzugssyndrom Die Entzugserscheinungen bei Kokain können extrem quälend sein und zu aggressivem Drogenbeschaff ungsverhalten oder zu Suizidhandlungen führen. Tabelle 26 Symptome des Kokain-Entzugssyndroms Affektstörung mit Dysphorie oder Depression mit Suizidalität: „Crash“ Antriebsstörung, Müdigkeit Schlafstörungen mit Albträumen Appetitsteigerung
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Martin Kurz
Die Therapie des Kokainentzugs erfolgt mit Antidepressiva mit möglichst breitem Wirkungsspektrum (noradrenerg, serotonerg und dopaminerg) sowie unspezifisch mit Benzodiazepinen. 9.3.4 Körperliche Folgeerkrankungen Bei Kokainkonsumenten sieht man häufig eine chronische Rhinitis durch reaktive Hyperaktivität der Nasenschleimhaut. Durch die vasokonstriktorische Wirkung des Kokains entstehen bei längerfristigem nasalem Gebrauch Läsionen der Nasenschleimhaut und der Nasenscheidewand. Im Rahmen von Kokainintoxikationen können im Sinne einer systemischen Wirkung auch größere arterielle Gefäße von der Vasokonstriktion mit der Folge von Myokardinfarkten oder ischämischen Insulten betroffen sein. Bei jungen Patienten mit diesen akuten Erkrankungsbildern sollte immer auch an die Möglichkeit von Kokain als Auslöser gedacht und ein entsprechendes Drogenscreening veranlasst werden. Bei Crack-Konsumenten wird eine chronische Entzündung der Atemwege mit Fieber, Atemeinschränkung und Brustschmerzen beschrieben („Crack Lung“). Chronischer Kokaingebrauch in der Schwangerschaft führt zu embryonalen Entwicklungsstörungen („Crack Babies“).
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Störungen durch Amphetamine und sonstige Stimulanzien, einschließlich Koffein F15
10.1 Zu den Substanzen Amphetamine wirken im ZNS dopaminerg und noradrenerg stimulierend und wurden seit vielen Jahrzehnten als leistungssteigernde und appetitvermindernde Medikamente verwendet (Extremsport, Militär, Lernhilfe, Gewichtsregulierung). In Mitteleuropa sind sie aufgrund ihres Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzials in diesen Indikationen offiziell vom Markt verschwunden. Einzig Methylphenidat und selten Amphetamin werden noch in der Behandlung des ADHS eingesetzt. Amphetamine-Präparate werden oral, nasal oder intravenös konsumiert und in der Form von „Ice“ (oder „Crystal“, Methylamphetamin) auch geraucht. Sie sind häufig die chemische Grundlage zur Entwicklung von sogenannten Designerdrogen (s. u.). Die erwünschten Wirkungen sind Euphorisierung, Antriebs- und Leistungssteigerung, Unterdrückung von Hunger und Ruhebedürfnis. Das genuine Abhängigkeitspotenzial kann als mäßig bezeichnet werden.
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
10.2 Epidemiologie Die Lebenszeitprävalenz des Amphetaminkonsums in der erwachsenen Bevölkerung (15 bis 64 Jahre) in Europa liegt zwischen 0,1 % und 6 %. Im Durchschnitt haben etwa 3 % der erwachsenen Europäer mindestens einmal Amphetamine konsumiert. Die am häufigsten vorkommenden Substanzen sind Methamphetamin und MDMA (Methylendioxymetamphetamin, Ecstasy). Der Ecstasy-Boom der 1990er-Jahre entwickelte sich in den letzten Jahren zurück, die Konsumraten sind seither stabil. Die Abhängigkeitsraten sind gesamtgesellschaft lich gesehen gering, Gelegenheitskonsum ist die Regel. Man schätzt, dass ca. 5 % der Konsumenten Abhängigkeitserscheinungen entwickeln.
10.3 Spezifische Störungen durch Stimulanzien 10.3.1 Amphetamin-Intoxikation Die Intoxikation durch Amphetamine ist durch Hyperexzitationsphänomene geprägt. Tabelle 27 Symptome der Amphetaminintoxikation Antriebssteigerung und Unruhe Logorrhoe Formale Denkstörungen (assoziatives Denken bis zur Inkohärenz) Akustische und optische Halluzinationen Panik- oder paranoide Zustände Vegetative Störungen, evtl. Krampfanfälle Delirante Zustandsbilder, Dämmerattacken
Die Behandlung erfolgt symptomatisch mit Benzodiazepinen. 10.3.2 Amphetamin-Abhängigkeitssyndrom Alle Zeichen der Abhängigkeit können gegeben sein, Toleranzsteigerung und massiver sozialer Abbau durch Interessensverlust stehen im Vordergrund. 10.3.3 Amphetamin-Entzugssyndrom Nach Abklingen der Amphetaminwirkung tritt ein depressiv gefärbtes Zustandsbild auf. Je nach Ausprägung und Dauer wird mit Antidepressiva behandelt. 10.3.4 Folgeerkrankungen Chronischer Konsum von Stimulanzien und Amphetaminen führt zu Affektlabilität, distanzlosem und aggressivem Verhalten, wechselnder Stimmungs- und Antriebslage und kognitiven Störungen (Konzentration und Merkfähigkeit). Neben kurzfristigen
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intoxikationsbedingten psychotischen Episoden kommen auch längere stark angstbetonte und paranoide psychotische Zustandsbilder vor. Somatisch zeigen sich vegetative Störungen (Tachykardie, Schweißausbrüche) und schwere Schlafstörungen, Libidoverlust, Appetitverlust und andere Formen von sekundären Stressfolgen (Ulkuserkrankung). Es bestehen einige Hinweise auf die Möglichkeit organisch bedingter persistierender affektiver und kognitiver Defizite nach langfristigem und hoch dosiertem Amphetamingebrauch. MDMA (Ecstasy) wird häufig im Kontext von Tanzveranstaltungen (Rave-Parties) konsumiert und beinhaltet die Gefahr der Überschätzung der körperlichen Möglichkeiten. Austrocknung und Überhitzung haben zu Todesfällen geführt. Die Etablierung von Informationskampagnen, Verhaltensregeln, mobile Betreuungsteams und Chill-out-Zonen haben zu einer Verbesserung der Sicherheit der Konsumenten beigetragen. Mobile Teams bieten auch die Möglichkeit der Überprüfung der konsumierten Ecstasy-Tabletten auf ihre Inhaltsstoffe, um die Gefahr der Schädigung durch beigemengte toxische Inhaltsstoffe zu minimieren. Die durch Amphetamine hervorgerufenen, schwer steuerbaren Unruhezustände werden häufig durch die Verwendung anderer sedativer Substanzen (Cannabis, Benzodiazepine) gedämpft. 10.3.5 Störungen durch Koffein Koffein ist als legales Stimulans auf der ganzen Welt verbreitet. Es führt zu leicht erhöhter Vigilanz und vegetativer Stimulation und kann im Einzelfall eine vorwiegend psychische Abhängigkeit hervorrufen. Chronisch überhöhter Gebrauch von Koffein führt zu Unruhe, Schlafstörungen und vegetativer Übererregung; Intoxikationszeichen sind Arrhythmien, Myoklonien und leichte sensorische Störungen wie Ohrensausen oder Lichtblitze.
11
Störungen durch Halluzinogene F16
11.1
Zu den Substanzen
Halluzinogene Substanzen sind seit Jahrtausenden in ritualisiertem Gebrauch, insbesondere in nomadisierenden Kulturen mit naturreligiösem Hintergrund. In den 30er Jahren wurde das halbsynthetische Halluzinogen Lysergsäure-Diäthylamid (LSD) als Zufallsprodukt der pharmazeutischen Industrie entwickelt. Zwischen 1960 und 1970 entstand rund um den Harvard-Professor Timothy Leary eine spirituell motivierte LSD-Bewegung. LSD war auch einige Jahre als unterstützendes „strukturauflockerndes“ Adiuvans für tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapien in Gebrauch. Der Konsum von Mescalin aus dem Peyotekaktus ist Teil des Gottesdienstes der „Native American Church“ in New Mexico. Psylocibin-Pilze sind auf allen Kontinenten verbreitet.
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
Die bekanntesten Substanzen sind in Tabelle 28 aufgeführt. Man unterscheidet Halluzinogene 1. Ordnung von anticholinerg wirksamen Halluzinogenen 2. Ordnung. Halluzinogene 1. Ordnung haben ein geringes Abhängigkeitspotenzial und eine geringe Toxizität. Die genaue Wirkungsweise der Halluzinogene 1. Ordnung ist nach wie vor ungeklärt. Bekannt sind Wirkungen im serotonergen und noradrenergen System. Die halluzinatorischen Phänomene der Halluzinogene 2. Ordnung entstehen durch anticholinerge delirogene Wirkungen, diese Substanzen besitzen eine erhebliche Toxizität und ein geringes Abhängigkeitspotenzial. Tabelle 28 Halluzinogene Substanzen Halluzinogene 1. Ordnung LSD (Lysergsäurediäthylamid), synthetisch Mescalin, im Peyotekaktus (Mittelamerika) Psylocibin, in Psylocibe-Pilzen (weltweit) Halluzinogene 2. Ordnung Atropin, in der Tollkirsche Muskarin u. a. anticholinerge Alkaloide, im Fliegenpilz, in Engelstrompeten, in antiemetischen Reisemedikamenten
11.2 Epidemiologie Genaue Zahlen zur Konsumhäufigkeit und zu Abhängigkeitsphänomenen sind schwer zu bestimmen und gesundheitspolitisch wenig relevant. Die Lebenszeitprävalenz des Konsums halluzinogener Substanzen liegt bei maximal 5 %. LSD war lange Zeit die am häufigsten konsumierte halluzinogene Droge. In den letzten Jahren zeichnet sich eine Zunahme der Verwendung von Psylocibin und Mescalin ab. Generell erfolgt der Konsum von Halluzinogenen punktuell im Sinne des Experimentierkonsums und auf bestimmte lokal gebundenen Subgruppen begrenzt. Im Zusammenhang mit diesen Substanzen entwickelte sich in den letzten Jahren eine Subkultur von „Smart Drug“-Konsumenten, welche die halluzinogenen Pflanzen bzw. spezielle Zubereitungen in „Smart Shops“ (häufig auch über das Internet) unter dem Motto der Naturverbundenheit und mit esoterischem Ideologiehintergrund beziehen.
11.3 Spezifische Störungen durch Halluzinogene 11.3.1 Rausch und Intoxikation Der halluzinogene Rausch wird in Tabelle 29 am Beispiel des LSD dargestellt.
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Tabelle 29 Ablauf des LSD-Rausches Rausch-Dauer: 8-12 h somatische Phase (vegetative Symptomatik, nach ca. 20 min) sensorische Phase (Wahrnehmungsverzerrungen, Halluzinationen) psychische Phase (psychotische Symptome) Erholungs- und Nachwirkungsphase (langsame Rückkehr des Realitätsbezuges)
Die sensorische und inhaltliche Ausprägung des Rausches hängt stark von der aktuellen psychischen Tagesverfassung und von zugrunde liegenden Persönlichkeitsfaktoren ab. Neben Gefühlen von Entrücktheit und Bewussteinserweiterung kommt es zu Veränderungen an Gegenständen und Personen (Größe, Farbe, Form) und Synästhesien („Hören“ von Farben u. a.). 11.3.2 Intoxikation Akute Risiken durch Intoxikation bestehen in schweren psychotischen Zustandsbildern, die über mehrere Tage anhalten können. Überdosierungen mit Halluzinogenen 2. Ordnung führen zu anticholinergen Delirien mit massiven Halluzinationen, Orientierungsstörungen und somatischer Gefährdung (Fieber, trockene Haut, Mydriasis, Herzrhythmusstörungen). Die Therapie erfolgt symptomatisch in möglichst reizarmer Umgebung mit Benzodiazepinen (Antipsychotika sind zu vermeiden) und bei hoher Gefährdung mit begleitenden Beschränkungsmaßnahmen und intensivmedizinischer Überwachung. Die Risiken beim Halluzinogen-Rausch liegen in negativen und angstbesetzten emotionalen, kognitiven und sensorischen Erlebnissen („Horrortrip“) und damit verbundenen selbstgefährlichen Fluchtreaktionen. Es sind auch Fälle von Größenvorstellungen von übermenschlichen Fähigkeiten (Fliegen, extreme Kraft, etc..) bekannt, die für die Betroffenen zu schweren Verletzungen bis zum Tod geführt haben, weil sie erprobt bzw. in die Tat umgesetzt wurden. 11.3.3 Abhängigkeitssyndrom Im Einzelfall kann eine psychische Abhängigkeit bei chronischem Gebrauch entstehen. Dabei spielen aber spezifische Persönlichkeits- und Milieubedingungen eine wesentliche Rolle. 11.3.4 Körperliche Entzugserscheinungen sind bei Halluzinogenen nicht bekannt. 11.3.5 Folgeerkrankungen „Flash-Backs“ mit angstbetonten Inhalten sind bei Halluzinogenen 1. Ordnung häufig. Diese meist kurzfristig spontan remittierenden Halluzinosesyndrome treten mitunter
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Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
auch noch nach längerer Abstinenz auf. Im Einzelfall kann sich eine prozesshaft e schizophrenieartige psychotische Störung entwickeln. Sie wird mit Antipsychotika behandelt.
12
Störungen durch Tabak F17
Tabakprodukte kamen im Zuge der Entdeckung der neuen Welt nach Mitteleuropa und stellen heute ein wesentliches wirtschaft liches und gesundheitspolitisches Thema dar.
12.1 Zur Substanz Die psychotrop wirksame Substanz in der Tabakpflanze ist Nikotin. Es wirkt spezifisch an den nach ihm benannten Rezeptoren und bewirkt im ZNS eine starke cholinerge, adrenerge, serotonerge und dopaminerge Aktivierung. Nikotin wirkt anregend, leistungssteigernd und leicht euphorisierend, angstlösend, muskelrelaxierend und hungerunterdückend. Es wird sehr rasch (innerhalb weniger Minuten) eliminiert. Sein genuines Abhängigkeitspotenzial ist hoch, zwei Drittel aller Nikotinkonsumenten erfüllen die Kriterien der Abhängigkeit. Tabakprodukte werden geraucht und geschnupft; eine in Mode gekommene Sonderform ist „Snus“, ein mit Salzen vermischter Tabak, der unter die Ober- oder Unterlippe gesteckt wird. Nikotin ist in hohen Dosen toxisch, chronischer Konsum führt jedoch zu keinen expliziten Organschäden. Die gesundheitlichen Folgeschäden des Tabakkonsums liegen in der Konsumform des Rauchens (Rauchinhaltsstoffe) begründet.
12.2 Epidemiologie Ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung ist Raucher, wobei eine steigende Tendenz bei Frauen feststellbar ist. In jüngeren Alterskohorten rauchen beide Geschlechter gleich häufig. 25 % aller vorzeitigen Todesfälle stehen im Zusammenhang mit den somatischen Folgeerkrankungen des Rauchens. Raucher zeigen einen gehäuften begleitenden schädlichen Gebrauch anderer Substanzen (Alkohol, Koffein, Benzodiazepine). Zahlreiche psychische Störungen werden durch erhöhten Nikotinkonsum begleitet, insbesondere die Schizophrenie (90 %), Manie, Depression und andere substanzbedingte Störungen.
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Martin Kurz
12.3 Spezifische Störungen durch Tabak 12.3.1 Intoxikation Die Intoxikation kommt akzidentell bei Kindern vor (Essen von Zigaretten). Ihre Symptomatik besteht in Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, Kopfschmerz, kaltem Schweiß, Verwirrtheit, Blutdruck-/Pulssteigerung. Die Behandlung besteht in induziertem Erbrechen, in schweren Fällen in intensivmedizinischer Behandlung. 12.3.2 Abhängigkeitssyndrom Alle Kriterien der Abhängigkeit können stark ausgeprägt sein. Die starke Ritualisierung des Rauchens trägt zur Verfestigung der obsessiven Verhaltensstörung bei. Therapie: Es existieren eine Reihe von manualisierten Therapieformen unterschiedlicher Intensität. Die langfristigen Abstinenzerfolge (meist 1-Jahres-Follow-ups) sind jedoch bescheiden. Kurzinterventionen beinhalten Maßnahmen wie den sogenannten „ärztlichen Rat“ (5 % Erfolgsrate), Bibliotherapie (10–15 %), suggestive Methoden wie (Selbst-) Hypnose, suggestive Methoden (Hypnose, Autogenes Training, Imaginationen). Verhaltenstherapeutische Interventionen im engeren Sinne sind Selbstmanagement, -instruktion, -kontrolltechniken und Motivationsstrategien. Weit verbreitet sind Akupunktur-Angebote (z. B. Ohr-Akupunktur), sie haben aber keinen wissenschaft lich belegbaren Erfolg. Die medikamentöse Behandlung verfolgt zwei Strategien, Schadensbegrenzung durch Substitution und abstinenzorientierte medikamentöse Unterstützung. Die Substitutionsbehandlung erfolgt über Nikotinpflaster, -kaugummis, -inhalatoren und -nasensprays. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Abstinenzfähigkeit von Rauchern gering und die Konsumform des Rauchens für die zahlreichen gesundheitlichen Folgeschäden bei Tabakabhängigkeit verantwortlich ist. Bupropion ist ein noradrenerg und dopaminerg wirksames Antidepressivum, welches als Begleitmedikation bei der Raucherentwöhnung eingesetzt wird und dessen dopaminerge Komponente genützt wird, um Entzugserscheinungen zu mildern und den Suchtdruck zu reduzieren. Vareneclin ist ein partieller Nikotinagonist, der begleitend zu einer stufenweisen Reduktion des Nikotinkonsums eingenommen wird. Die Methoden der Wahl mit den größten Abstinenzerfolgen sind Kombinationstherapien von spezieller Verhaltenstherapie und pharmakologischen Interventionen mit Erfolgsraten von 30 %. 12.3.3 Entzugssyndrom Das Entzugssyndrom beginnt innerhalb von 24 Stunden, in Fällen schwerer Abhängigkeit schon nach wesentlich kürzerer Zeit. Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen, Irritabilität, Angst, Unruhe, Pulsverlangsamung, Appetitsteigerung und Schweißaus98
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
brüche bestimmen das Bild. Die akute Symptomatik klingt meist nach einigen Tagen ab. 12.3.4 Körperliche Folgeschäden Seit Langem sind die klassischen Raucherkrankheiten wie die massiv erhöhte Krebsrate (Mundhöhle, Lunge, Kehlkopf, Speiseröhre), arterielle Gefäßerkrankungen (Herz-/Hirninfarkt, Durchblutungsstörungen v. a. der unteren Extremität sowie die chronische Bronchitis und obstruktive Lungenerkrankung (COPD) bekannt. Regelmäßiges Rauchen in der Schwangerschaft führt zu Entwicklungsverzögerung des Kindes und zu einer erhöhten Fehlgeburtenrate.
13
Störungen durch flüchtige Lösungsmittel F18
13.1 Zu den Substanzen Diese Störungen kommen vorwiegend bei Kindern und Jugendlichen vor; das „Schnüffeln“ von Lösungsmitteln oder Gasen (Butan, Nitro-Verdünnung, Klebstoffe, Äther, Benzin, Chloroform u. a.) bleibt aber meist eine vorübergehende Experimentierphase. In Adoleszentenkreisen ist das Schnüffeln aus Feuerzeugen und von Lachgas (aus Kapseln zur Herstellung von Schlagobers) verbreitet. In Elendsvierteln ärmerer Länder ist das chronische bzw. abhängige Inhalieren von Lösungsmitteln vor allem bei den sogenannten „Straßenkindern“ ein gravierendes Problem. Lösungsmittel werden in einen Plastiksack gegeben und dann aus der Öffnung in Portionen inhaliert. Symptome des Rausches sind Euphorie, Erregung, illusionäre Verkennungen und anschließende Sedierung.
13.2 Spezifische Störungen durch flüchtige Lösungsmittel 13.2.1 Intoxikation durch Lösungsmittel Die Intoxikation kann mit Koma und Atemstillstand enden und ist in sehr verwahrlosten und sozial unterprivilegierten Kontexten häufig. Besonders gefährlich ist die Praxis, sich mit Lösungsmitteln bestrichene Säcke über den Kopf zu ziehen, um maximale Wirkung zu erzielen. 13.2.2 Somatische Folgeerkrankungen Chronischer Konsum von flüchtigen Lösungsmitteln führt zu toxischen Organschäden im zentralen und peripheren Nervensystem mit kognitiven Einbußen, Epilepsie, organisch bedingten Persönlichkeitsveränderungen und Polyneuropathien.
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Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen F19
14.1 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch Diese Diagnose sollte nur gestellt werden, wenn mehrere Substanzen wahllos und chaotisch miteinander konsumiert werden oder unterschiedliche psychotrope Substanzen in einer Zubereitungsform vermischt sind. Diese Art des Konsums betrifft eine kleine Gruppe von Schwerstabhängigen mit zusätzlichen massiven psychischen und sozialen Problemen und einer hohen Selbstdestruktivität. Beispiel für eine Mischzubereitung ist der „Snowball“, eine Mischung aus Opioiden und Kokain. Die Konsumform von Abhängigen ist aber häufig polytoxikoman (polyvalent). Beim Fehlen der diagnostischen Kriterien des chaotischen und wahllosen Konsums sollte die diagnostische Zuordnung über die „führende“, das heißt in Bezug auf Abhängigkeitsschwere, Folgeerkrankungen und therapeutische Konsequenz relevanteste Kategorie erfolgen. Es gibt eine Reihe von häufigen Substanzkombinationen: Alkohol und Nikotin, Alkohol und Benzodiazepine, Stimulanzien und Benzodiazepine bzw. Cannabinoide (um die Übererregung zu dämpfen). Insbesondere OpioidAbhängige konsumieren meist zusätzlich alle Formen von psychotropen Substanzen (in erster Linie Cannabis, Benzodiazepine, Alkohol, Kokain, Stimulanzien) in unterschiedlichen Graden der Abhängigkeit. Alkohol ist die häufigste und aufgrund seiner Toxizität problematischste Substanz bei Polytoxikomanen. Therapeutisch kann man einerseits beratend-unterstützend und anderseits mit Partialentzügen von einzelnen Substanzen hilfreich sein. Diesbezüglich wurden Programme zum kontrollierten Konsum bei polytoxikomanen Patienten entwickelt.
14.2 Konsum sonstiger psychotroper Substanzen 14.2.1 Designerdrogen Dieser Begriff ist nicht in der ICD-10-Klassifikation verankert. In diese Gruppe fallen eine Reihe von Substanzen synthetischen Ursprungs, die mit der gezielten Absicht entwickelt wurden, spezifische rauschartige Wirkungen zu entfalten. Der Entwicklungsprozess geht von einer chemischen Leitstruktur aus, deren psychotropes Potenzial durch meist geringfügige chemische Änderungen verstärkt werden soll. Eine weitere Absicht der Produzenten dieser Substanzen ist das Ausnützen von vorübergehenden Rechtslücken der Suchtmittelgesetzgebung. Diese Lücken wurden in Österreich durch das 2012 in Kraft getretene „Neue-Psychoaktive-Substanzen-Gesetz“ geschlossen. Die chemischen Leitstrukturen der Designerdrogen sind meist Amphetamine, Fentanyl, Pethidin, Phenzyklidin und Tryptamin. Analog zu diesen Leitstrukturen wirken Designerdrogen häufig halluzinogen/„bewussteinserweiternd“, antriebssteigernd, euphorisierend oder in Kombination mehrerer dieser Komponenten. 100
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
Einige der heute als Designerdrogen bezeichneten Substanzen sind aber auch zufällige Nebenprodukte pharmazeutischer Entwicklungsarbeit. Dennoch werden sie aufgrund ihrer synthetischen Herkunft und der Schwierigkeit, sie den ICD-10-Substanzgruppen zuzuordnen, unter dieser Bezeichnung geführt. 14.2.2 Synthetische psychotrope Substanzen Im Folgenden werden die wichtigsten als Rauschmittel gebräuchlichen synthetischen Substanzen aufgeführt. Amphetaminabkömmlinge: Die bekannteste Substanz ist das Methylendioxy-Methamphetamin (MDMA, Ecstasy), welche bereits im Kapitel zu den Stimulanzien besprochen wurde. Weitere bekannte Varianten sind 2,3,5-Trimethoxyamphetamin (TMA) und Dimethoximethylamphetamin (DOM). Diese Substanzen wirken halluzinogen. Morphinabkömmlinge: Die Leitsubstanzen dieser Gruppe sind Fentanyl und Pethidin. Beide Substanzen werden in der Medizin als Analgetika verwendet und zeichnen sich durch eine gegenüber dem Morphin vielfach erhöhte analgetische und euphorisierende Wirkung aus. Phenzyklidin und Ketamin: Phenzyklidin („Angel Dust“) ist vor allem in Amerika weit verbreitet und besitzt eine Kombination aus halluzinogenen, euphorisierenden, analgetischen und sedierenden Wirkungen. Die akute Einnahme höherer Dosierungen kann zu paranoiden Symptomen, Angstzuständen und Verwirrtheit mit akuter Fremd- und Selbstaggression führen. Die somatischen Symptome der akuten Intoxikation sind motorische Koordinationsstörungen, Nystagmus, Krampfanfälle und Kreislaufversagen. Phenzyklidin kann zu einer starken psychischen Abhängigkeit mit Toleranzsteigerung und massivem Substanzhunger, jedoch ohne physische Abhängigkeitszeichen führen. Bei chronischer Anwendung werden Episoden depressiver und schizophrenieähnlicher Störungen beobachtet. Ketamin entstand aus der Weiterentwicklung des Phenzyklidin auf der Suche nach hochwirksamen analgetischen und sedierenden Substanzen. Es ist in der Anästhesie und Notfallmedizin als Analgetikum und Narkotikum in Verwendung. Sein psychotropes und somatisches Wirkprofil ähnelt stark dem vom Phenzyklidin, spezifisch ist die starke Stimulation des Herz-Kreislauf-Systems mit Pulsbeschleunigung und Blutdruckerhöhung. Tryptamin: Die zwei bekanntesten Tryptaminabkömmlinge sind Dimethyltryptamin (DMT) und Diethyltryptamin (DET), welche als Halluzinogene gebraucht werden.
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Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB, „Liquid Ecstasy“): GHB ist eng mit dem Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure verwandt und kommt auch eigenständig als Neurotransmitter vor. Neben der GABA-ergen Wirkung verstärkt es auch die dopaminerge Aktivität im ZNS. In der Medizin wird GHB als Narkotikum, zur Behandlung der Narkolepsie und in Österreich zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms, in früheren Jahren auch als Nahrungsergänzungsmittel für Sportler zur Förderung des Muskelwachstums (durch Stimulation des Wachstumshormons) und zur Sicherstellung eines erholsamen Schlafes verwendet. Die Indikation „Alkoholentzugssyndrom“ ist international umstritten. In vielen Ländern fällt GHB unter das Suchtmittelrecht, da es ein deutliches Abhängigkeitspotenzial besitzt. GHB wird als sogenannte Partydroge „Liquid Ecstasy“ eingesetzt, wobei keine Verwandtschaft mit dem Amphetaminabkömmling besteht; darüber hinaus hat es als „Date Rape Drug“ bzw. als „K.O.-Tropfen“ Bekanntheit erlangt. Dabei wird die sich gegenseitig verstärkende Wirkung von GHB und Alkohol ausgenützt, um potenzielle Opfer wehrlos zu machen. In niedrigen Dosen wirkt GHB enthemmend, angstlösend, euphorisierend und aphrodisierend, ein Wirkungsprofi l, das dem des Alkohols stark ähnelt. Die GHB-Intoxikation ist durch plötzlich einsetzenden koma-ähnlichen Schlaf und Übelkeit mit Brechreiz gekennzeichnet. Sehr hohe Dosen oder Mischintoxikationen mit anderen dämpfenden Substanzen führen zu Atemdepression. GHB kann ein Abhängigkeitssyndrom mit körperlichen und psychischen Symptomen hervorrufen. Das körperliche Entzugssyndrom dauert ein bis drei Tage und beinhaltet Angstzustände, Unruhe und vegetative Irritabilität. Eine ähnliche Substanz ist GBL (Gamma-Butyro-Lacton), welches in Felgenreinigern enthalten ist.
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Schädlicher Gebrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen F55
15.1 Zu den Substanzen Diese Diagnosegruppe ist Teil der übergeordneten ICD-10-Klassifi kation zu den Verhaltensauff älligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren. Die in Tabelle 30 aufgeführten Substanzen erzeugen keine Abhängigkeitszeichen im engeren Sinne, ihr schädlicher Gebrauch entwickelt sich immer auf der Basis einer Hintergrundstörung unter Mitbeteiligung körperlicher Funktionen. Tabelle 30 Nicht abhängigkeitserzeugende Substanzen, die schädlich gebraucht werden können (ICD-10) F55.0
Antidepressiva
F55.1
Laxanzien
F55.2
Analgetika
102
Störungen durch psychotrope Substanzen | 3
Tabelle 30 (Fortsetzung) Nicht abhängigkeitserzeugende Substanzen, die schädlich gebraucht werden können (ICD-10) F55.3
Antazida
F55.4
Vitamine
F55.5
Steroide und Hormone
F55.6
Pflanzen oder Naturheilmittel
F55.8
Sonstige Substanzen
F55.9
Nicht näher bezeichnete Substanz
15.2 Diagnostische Beschreibung im ICD-10 Das ICD-10 beschreibt die allgemeinen Verhaltensweisen der Patienten folgendermaßen: „Der anhaltende Gebrauch dieser Substanzen ist oft mit unnötigen Kontakten mit medizinischen und anderen Hilfseinrichtungen verbunden und manchmal von schädlichen körperlichen Auswirkungen der Substanzen begleitet. Der Versuch, dem Gebrauch der Substanz entgegenzusteuern oder ihn zu verbieten, stößt oft auf Widerstand. Bei Laxanzien und Analgetika führt der Missbrauch trotz Warnungen vor (oder sogar trotz der Entwicklung derselben) zu körperlichen Schäden, wie Nierenfunktions- oder Elektrolytstörungen. Obwohl die betreffende Person ein starkes Verlangen nach der Substanz hat, entwickeln sich keine Abhängigkeit bzw. Entzugssymptome wie bei den unter F10-F19 klassifizierten psychotropen Substanzen.“
15.3 Spezifische Störungen Hintergrund des schädlichen Gebrauchs sind verschiedene Störungen mit somatischer Mitbeteiligung: Schmerzsyndrome unterschiedlicher Genese, Somatisierungsstörungen, Ess-Störungen, Körperschemastörungen sowie dysfunktionale Bewältigungsstrategien bei Persönlichkeitsvarianten und Angsterkrankungen, bei affektiven und psychotischen Störungen sowie in psychosozialen Extremsituationen. Der schädliche Gebrauch von Antidepressiva soll sowohl den Wunsch nach Stimulation (mittels aktivierender Substanzen) als auch nach Beruhigung (sedierende Substanzen) erfüllen. Schädlicher Gebrauch von Laxanzien ist sehr häufig bei Ess-Störungen und kann gesundheitsschädliche Ausmaße annehmen (Elektrolytstörung, Beeinträchtigung der Darmtätigkeit und Mangelernährung). Aber auch dysfunktionales Coping bei ursprünglich vorhandenen Verdauungsstörungen anderer Genese oder neurotische Bewertungen der Stuhlgangsrituale können dahinterstehen. Schädlicher Gebrauch von Analgetika betrifft die Substanzgruppe der nichtsteroidalen Analgetika (NSAR; Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Diclofenac u. v. m.), die teilweise rezeptfrei erhältlich sind und zu den am häufigsten verschriebenen Medi103
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kamenten gehören. Sie wirken zusätzlich leicht euphorisierend, beim Absetzen nach längerem Konsum kommt es zu Absetzphänomenen wie Dysphorie, Antriebsverlust und innerer Unruhe. Die Toleranzsteigerung kann massiv sein. Frauen sind von dieser Störung sehr häufig betroffen, die Prävalenz in der Bevölkerung liegt bei 1–2 Prozent. Die spezielle Problematik bei den NSAR liegt in den Rebound-Phänomenen bei Reduktion, d. h. dem verstärkten Wiederauftreten der oft multiplen Schmerzsymptomatik und im sogenannten „Analgetika-Kopfschmerz“, der auch unter hohen Dosen auftritt und subjektiv jede Art der therapeutisch geratenen Reduktion verbietet. Hinter den Störungen durch schädlichen Gebrauch von Antazida, Vitaminen, Hormonen und verschiedensten pflanzlichen Zubereitungen stehen oft hypochondrische Befürchtungen oder dysfunktionale Einengungen auf eine ursprünglich vorhandene tatsächliche körperliche Störung. Im Spitzen- und Kraftsport ist der Gebrauch von anabolen Steroiden weit verbreitet. Der chronische Gebrauch dieser Substanzen führt häufig zu maniformen, aber auch depressiv gefärbten affektiven Störungen mit erhöhtem paranoidem Reaktionsmuster und Aggressionsbereitschaft. Auf somatischer Ebene treten Akne, Haarausfall, Maskulinisierung, Hypertonie und Gonadenverkleinerung auf.
15.4 Therapie Das erste wichtigste Ziel der Behandlung dieser Krankheitsbilder besteht in der Herstellung einer vertrauensvollen und tragfähigen Arbeitsbeziehung. Auf dieser Basis können primär motivierende Strategien zur Verringerung des selbstschädigenden Verhaltens unter Einbeziehung der Therapie der zugrunde liegenden Störung und der damit verbundenen Ängste eingesetzt werden. Die Konfrontation mit den negativen gesundheitlichen Folgen alleine wird wegen der mit der Grundstörung verbundenen, oft massiven kognitiven Fehlhaltungen nicht zum Ziel führen. Alternative Verhaltensweisen und Modelle von Gesundheit oder Krankheit müssen oft in mühsamen und langwierigen Prozessen erarbeitet werden. Die spezifischen Behandlungsstrategien bei den unterschiedlichen zugrunde liegenden Störungen werden in den entsprechenden Kapiteln ausführlich behandelt.
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Fallbeispiel „Alkohol“ Ein 40-jähriger Mann kommt wegen Alkoholproblemen in die Ambulanz einer Alkoholtherapieeinrichtung. Er wird begleitet von seiner Frau. Der Patient ist verheiratet, mit zwei Kindern im Schulalter, ist beruflich gut etabliert. Seine Frau beschreibt ihn als „überengagiert“. Er ist der älteste von drei Geschwistern, der Vater war alkoholkrank und ist vor mehreren Jahren gestorben, die Mutter lebt noch. Aktuell kam es durch Intervention der Frau im Vorfeld zu einigen Kontakten mit einer lokalen Suchtberatungsstelle. Hintergrund dieses Erstkontaktes waren zunehmend depressive Episoden mit Dysphorie und sozialem Rückzug. Der Patient artikuliert auch Sorge wegen zunehmender körperlicher Probleme (Entzugserscheinungen, allgemeine Schwäche), die ihn in der Arbeit behindern würden. Zum Konsumverhalten gibt der Patient an, dass er eigentlich nur Bier trinke, bezüglich der genauen Menge bleibt er unklar und gibt zwischen drei und sechs Bier an, manchmal könne es auch etwas mehr sein, zuletzt sei auch hin und wieder Schnaps dazugekommen. Ursprünglich habe er nur am Abend getrunken, nun trinke er schon am späten Vormittag zur Jause. Die Gattin des Patienten berichtet aber von morgendlichem Trinken und von durchgehendem Alkoholkonsum während des Wochenendes. Im Zuge der vorhergehenden Beratungsgespräche sei der Entschluss zu einer abstinenten Lebensführung und zur Absolvierung einer achtwöchigen Entwöhnungstherapie gefallen. Bei genauerem Nachfragen des Abstinenzziels wirkt der Patient aber noch unentschlossen und äußert auch den Wunsch, irgendwann wieder so trinken zu können wie die anderen auch. Während der einmonatigen Wartezeit gelingt es dem Patienten zwar tageweise reduziert Alkohol zu konsumieren, eine vollständige Abstinenz stellt sich jedoch nicht ein. Daher lässt sich der Patient eine Woche vor Aufnahme in der Entwöhnungstherapie im allgemeinen Krankenhaus zum körperlichen Entzug aufnehmen. In den ersten zwei Wochen der Entwöhnungstherapie erscheint der Patient häufig ratlos, schildert teilweise eine massive Unruhe und leidet stark unter einem Beschäftigungsdefizit, da er es gewöhnt sei, den ganzen Tag zu arbeiten. Diese Unruhe legt sich jedoch, er beginnt von den therapeutischen Angeboten zu profitieren und entdeckt auch alte Hobbys wieder. Dabei fällt aber die dem Patienten eigene Hyperaktivität auf. In einem Familiengespräch können die durch das konsumbedingte Verhalten des Patienten entstandenen Unstimmigkeiten besprochen und die Verantwortung für das zukünftige Verhalten im Falle eines Rückfalls geklärt werden. Ein Gespräch mit den Kindern wird vom Patienten vorerst vermieden, dann aber doch geführt und als entlastend erlebt. Der Patient kann auch die Notwendigkeit einer Nachsorge vor Ort gut akzeptieren und wird in deutlich erholtem und stabilisiertem Zustand entlassen. Er kann die wöchentliche Nachsorgegruppe in der Nähe des Heimatortes über zwei Jahre gut nützen und erlebt eine fünfjährige Phase zufriedener Abstinenz. Nach dieser Zeit kommt es erneut zur Kontaktaufnahme mit der Ambulanz, der Patient berichtet, dass er seit zwei Wochen wieder konsumiere. Grund sei wieder zunehmende Überlastung durch seine zahlreichen Tätigkeiten. Vor einem Monat sei seine Mutter verstorben und es gäbe in letzter Zeit auch Unstimmigkeiten in der Ehe
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im Bezug auf Erziehungsfragen, da die Kinder nunmehr in der Pubertät seien. Zum Rückfallsgeschehen berichtet der Patient, dass er an einem Abend alleine gewesen sei und ihm plötzlich alle seine Bemühungen um ein gutes Leben vergeblich vorgekommen seien. Dann sei ihm der Gedanke gekommen, warum er sich eigentlich so anstrenge mit dem Alkohol, ein Bier zur Entspannung würde wohl nichts ausmachen, die anderen würden es ja auch vertragen. Es seien bei dieser Gelegenheit aber drei Bier geworden, auch am nächsten Tag hätte er großen Trinkdruck verspürt und zunehmend größere Mengen, zuerst abends, aber dann auch schon mittags konsumiert. Seiner Frau und seinen Freunden sei die Veränderung aufgefallen, er selbst habe sich dann auch an die in der ersten Entwöhnungstherapie erarbeitete Notfallsregelung mit Kontaktaufnahme zum Hausarzt und zur Beratungsstelle erinnert und trotz großer innerer Widerstände auch umgesetzt. Zum Zeitpunkt des Gespräches in der Ambulanz ist der Patient wieder nüchtern, wirkt bedrückt und voller Fragen, wie es zu diesem Rückfall aus einer stabilen Abstinenz kommen konnte. Er beginnt selbst seinen Lebensstil und seinen exzessiven Beschäftigungsdrang mit der damit verbundenen Überforderung zu hinterfragen. In der Folge kommt es zu einer zweiten Achtwochentherapie, in deren Rahmen diese Themen mit hoher Reflexionsfähigkeit und Differenziertheit vom Patienten bearbeitet werden. Der Patient kann auch einen Bezug zwischen seinem Selbstfürsorgedefizit und seiner familiären Rolle als Kind aus einer Familie mit einem alkoholkranken Vater herstellen. In den darauffolgenden Jahren kommt es trotz immer wieder auftretender Lebensbelastungen, beruflicher Veränderung, Schwierigkeiten in der ehelichen Beziehung und einem vorübergehenden Alkoholproblem eines Sohnes zu keinem Rückfallsgeschehen mehr. Fallbeispiel „Benzodiazepine“ An die Ambulanz einer psychiatrischen Klinik kommt eine Patientin mit Überweisung vom Hausarzt mit den Diagnosen „Depression, Benzodiazepinabhängigkeit“. Aktueller Anlass für den Kontakt war eine von der Tochter der Patientin bemerkte starke Beeinträchtigung mit Sprachstörungen und Schläfrigkeit, die Tochter hat dann auch leere Medikamentenschachteln gefunden. Daraufhin kam es zur Konfrontation mit der Tochter, die Patientin musste dem familiären Druck nachgeben und zum Hausarzt gehen. Dort wurde auch eine Doppelstrategie in der Medikamentenbeschaffung deutlich, die Patientin hatte nebenher noch zwei weitere verschreibende Ärzte und wechselte auch häufig die Apotheke. Zum sozialen Hintergrund: Die Patientin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, welche schon außer Haus sind. Sie wirkt sozial gut integriert, die eheliche Beziehung zu ihrem Mann wirkt zumindest äußerlich intakt, sie beschreibt ihren Mann als rege und viel außer Haus. Im ausführlichen Anamnesegespräch gibt die Patientin auch an, dass sie aktuell trotz zuletzt steigender Einnahme von Temesta sehr schlecht schlafe, zuletzt habe sie vier bis sechs Stück Temesta 2,5 mg pro Tag eingenommen. Die Patientin klagt auch über wandernde Schmerzen, vor allem im Kopf-, Thoraxbereich und in den Extremitäten. Das Erstgespräch ist gekennzeichnet von Dissimulationstendenzen
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aus Scham und zahlreichen Klagen und Selbstvorwürfen. Sie vermittelt eine starke Ambivalenz bezüglich Abstinenzwunsch und Angst vor dem Verlust der Medikamente. Sie schildert einen stark ritualisierten Alltag mit vielen medikamentenbezogenen Ritualen. Psychopathologisch wirkt die Patientin kognitiv verlangsamt, im Affekt starr, amimisch, sie schildert multiple Ängste und eine depressive Stimmungslage, suizidale Tendenzen werden verneint. Anamnestisch wird deutlich, dass die Patientin seit einigen Jahren, ausgelöst durch die Ablösung der Kinder von zu Hause, unter zunehmenden Ängsten und depressiven Symptomen mit starker Somatisierung leidet. Bisher sei es lediglich zu einem Kontakt mit einem Psychiater gekommen, dies läge aber schon einige Jahre zurück. Damals seien ihr Tranquilizer verschrieben worden und hätten zu einer unmittelbaren starken Entlastung geführt. In der Folge sei sie aber nicht mehr zum Psychiater gegangen und der Hausarzt habe ihrem Druck nachgegeben und ihr die Medikamente in ursprünglich niedriger Dosis weiterverschrieben. Mit dieser Dosis sei sie einige Jahre gut ausgekommen, erst in letzter Zeit sei die Dosissteigerung – ausgehend von einer verstärkten Depressionsneigung – erfolgt. Im Bezug auf das weitere Vorgehen wird mit der Patientin ausführlich über die gängige Methode des Benzodiazepinentzuges bzw. der Benzodiazepinreduktion gesprochen. Sie kann sich mit einer langfristigen ambulanten, sukzessiven Reduktion anfreunden und wirkt durch diese Option deutlich entspannt, da sie Angst gehabt hatte, sie müsse stationär aufgenommen werden und die Medikamente würden ihr abrupt entzogen. Weiters stimmt die Patientin einer antidepressiven Therapie zu. Die Entzugstherapie läuft über mehrere Monate, zwischenzeitlich wird eine ausführliche Schmerzabklärung durchgeführt, welche keinen organischen Befund, jedoch deutliche muskuläre Verspannungen zutage bringt. Diese werden physiotherapeutisch behandelt. Zur Prophylaxe von schweren Entzugssysmptomen wird Oxcarbazepin 600 mg pro Tag über den gesamten Reduktionszeitraum gegeben. Weiters kann die Patientin basale Entspannungstechniken (Jacobson) lernen und gewinnbringend anwenden. Durch die verbesserte kognitive Leistungsfähigkeit im Rahmen der Dosisreduktion kann die Patientin ihren Alltag wieder besser bewältigen. Die Reduktion der Medikamente erfolgt in ganz langsamen Schritten, prinzipiell wöchentlich, mit einer Reduktion von höchstens fünf bis zehn Prozent der bisherigen Dosis, bei Verschlechterung und Auftreten von Entzugssymptomen, wie vermehrten Schmerzen, Ängsten, Unruhe und fallweise Depersonalisations- und Derealisationsphänomenen wird auch länger auf einer Dosis geblieben. Die Patientin erlebt es als sehr entlastend, dass ihr weitgehend die Kontrolle über die Medikamenteneinnahme erlaubt wird, sie verwaltet die Tagesdosis selbst und bestimmt auch den Zeitpunkt der Einnahme. In den Gesprächen dominiert eine primär supportiv motivierende Haltung und Gesprächsführung. In Abständen werden auch die Familienmitglieder, insbesondere der Mann und die ältere Tochter in die Gespräche mit einbezogen. Nach sechs Monaten ist die Patientin vollständig entzogen. Eine drei Wochen nach der letzten vereinbarten Medikamenteneinnahme durchgeführte Harnprobe zur gegenseitigen Bestätigung
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bleibt negativ. Oxcarbazepin wird nach der letzten Einnahme von Benzodiazepinen noch zwei Monate weitergeführt und dann ebenfalls langsam ausgeschlichen. Die Patientin hat in der Zwischenzeit ihre soziophobischen Tendenzen zum Großteil verloren und begonnen, alte Beziehungen wieder zu pflegen, frühere Hobbys wieder aufzunehmen und ist auf der Suche nach einer vorläufig geringfügigen Beschäftigung. Das Ehepaar hat auch begonnen, sich auf das Leben zu zweit wieder besser einzustellen und verschiedene Dinge wieder gemeinsam zu unternehmen. Die Behandlungstermine finden noch ein weiteres halbes Jahr in monatlichen Abständen statt. Inhalt dieser Gespräche sind die veränderten Lebensgewohnheiten und die Reflexion und lösungsorientierte Besprechung schwieriger Lebenssituationen. Nach Ablauf dieser Zeitspanne meldet sich die Patientin in längeren Abständen, nach 1,5 Jahren können auch die Antidepressiva langsam reduziert und abgesetzt werden. In den Folgejahren kann die Patientin ihr Leben gut ohne weitere Benzodiazepineinnahme bewältigen. Fallbeispiel „Opioidabhängigkeit“ In der Drogenambulanz eines Schwerpunktkrankenhauses wird eine 19-jährige Patientin in schlechtem Allgemeinzustand vorstellig. Die Zuweisung erfolgte über eine niederschwellige Drogeneinrichtung auf Anraten eines Beraters. Kurz zuvor war die Patientin wegen einer schweren Mischintoxikation an der Intensivstation aufgenommen gewesen. Anamnestisch berichtet die Patientin über einen abhängigen Opiatkonsum seit ca. vier Jahren, begonnen habe es mit dem Rauchen von Heroin, dann auch fallweise i. v.Konsum. Zuletzt konsumierte die Patientin eher Morphine, die sie auf dem Schwarzmarkt erwarb. Zusätzlich gibt die Patientin auch an, täglich Cannabis und Benzodiazepine zu konsumieren, fallweise kämen Kokain und Amphetamine hinzu. Bezüglich der Sozialanamnese gibt die Patientin an, dass sie in den letzten Jahren mehrere Lehren abgebrochen habe, seit zwei Jahren sei sie ohne Arbeit. Sie lebe bei der Mutter, es gebe viele Konflikte. Einerseits würde sich die Mutter kaum um sie kümmern, andererseits ihr aber ständig Vorwürfe machen. Die Eltern seien geschieden, der Vater lebe in einer anderen Stadt, sie habe kaum Kontakt mit ihm. Aktuell steht die Patientin in einer Beziehung zu einem dissozialen vorbestraften 29-Jährigen, der ebenfalls Drogen konsumiert. Psychopathologisch wirkt die Patientin kognitiv verlangsamt, sprunghaft, ratlos und misstrauisch. Sie äußert den Wunsch nach Behandlung, ohne jedoch konkrete Vorstellungen zu haben. Somatisch wirkt die Patientin abgemagert, eine Hepatitis C ist bekannt. Sie hat bereits zwei Entzugsversuche mit nachfolgender Therapie hinter sich, eine Kurzzeittherapie wurde wegen Konsums in der Therapieeinrichtung abgebrochen, eine zweite konnte absolviert werden. Es kam jedoch nach drei Monaten zu einem Rückfall, nachdem der Freund gewalttätig gegen die Patientin geworden war, als sie sich weigerte, sich zur Prostitution zwingen zu lassen. Dieser Rückfall wäre beinahe letal ausgegangen und führte zu einem zweitägigen Aufenthalt auf einer Intensivstation.
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Es werden weitere Termine mit der Patientin vereinbart, um zu einer genaueren Klärung der weiteren Therapieplanung zu kommen. Im Rahmen dieser Gespräche ergeben sich starke Hinweise auf posttraumatische Phänomene mit dissoziativen Zustandsbildern und autoaggressiven, aber auch fremdaggressiven Tendenzen im intoxikierten Zustand. Weiters ergeben sich aus der Anamnese deutliche Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch durch den Vater. Die Klärung konkreter Therapieziele gestaltet sich schwierig, die Patientin ist ambivalent und immer wieder durch den ungeregelten Konsum beeinträchtigt. Sie kann sich jedoch dann zu einer stationären Aufnahme für zwei Wochen entscheiden, um dem aktuellen Drogenumfeld zu entgehen. Sie wird stationär aufgenommen und auf ein Morphin eingestellt, die Benzodiazepine werden stufenweise reduziert. Die Schlafstörungen durch Wegfallen des Cannabis werden mit niedrigen Dosen Quetiapin behandelt. Immer wieder hat die Patientin Schwierigkeiten, die Vereinbarungen einzuhalten, auch die Ambivalenz zum Partner ist deutlich spürbar. Es gelingt jedoch, auch die Mutter mit einzubeziehen und eine gewisse Aussöhnung zwischen Mutter und Tochter zu erreichen. Aufgrund der auch im stationären Bereich sichtbaren multiplen psychischen Probleme und PTSD-Phänomene fällt die Entscheidung zugunsten einer zumindest mittelfristigen Substitution auch im ambulanten Bereich. Die Einstellungsphase wird über Monate hinweg in der Ambulanz begleitet, weiters hält die Patientin Kontakt mit der Drogeneinrichtung. Die psychologisch-psychotherapeutische Begleitung in der Drogenambulanz fokussiert auf die Verminderung der emotionalen Instabilität und der Steigerung der Selbstberuhigungsfähigkeiten mittels einfacher Stabilisierungsübungen. Psychopharmakologisch profitiert die Patientin von einer Behandlung mit SSRIs. Unter diesen Betreuungsbedingungen kann sich die Patientin stabilisieren, die Episoden des i. v.-Konsums nehmen ab, der Benzodiazepinkonsum bleibt im Rahmen. Es kommt insbesondere zu keinen Intoxikationsereignissen mehr. Sie beginnt auch halbtags in einem sozialökonomischen Betrieb zu arbeiten. Die Trennung vom Freund gestaltet sich schwierig, eine vorübergehende Distanzierung gelingt wegen einer Haftstrafe des Partners, was eine stabilere Phase ohne Gewalterfahrungen ermöglicht. Langfristig wird mit der Patientin daran gearbeitet, eine Therapieeinrichtung aufzusuchen, in der die Aufnahme auch im substituierten Zustand möglich ist.
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110
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Kapitel 4
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (ICD-10 F2) Alex Hofer, W. Wolfgang Fleischhacker
1
Schizophrene Störungen F20
1.1
Historische und transkulturelle Aspekte
Das Krankheitsbild der schizophrenen Störung wurde im deutschen Sprachraum erstmals im Jahr 1896 von Emil Kraepelin unter dem Begriff Dementia praecox beschrieben. Kraepelin trennte die Dementia praecox, eine Erkrankung mit frühem Beginn, kognitiven Einbußen und chronischem, ungünstigem Verlauf vom „manisch-depressiven Irresein“. Eugen Bleuler (1911) prägte etwas später den Begriff Schizophrenie und unterschied zwischen Grundsymptomen, die für die Diagnose obligat vorhanden sein müssen, und akzessorischen Symptomen, die zusätzlich bei der Erkrankung auft reten können (siehe Tabelle 1). Er sprach von der „Gruppe der Schizophrenien“ und stellte somit schon damals zur Diskussion, ob es sich bei der Schizophrenie um ein einheitliches Krankheitsbild handle. Einige Jahrzehnte später (1959) unterschied Kurt Schneider Symptome ersten und zweiten Ranges (siehe Tabelle 2), was gleichzeitig eine Vorstufe der Operationalisierung in den heutigen Klassifi kationssystemen darstellte. Tabelle 1
Grund- und akzessorische Symptome der Schizophrenie (E. Bleuler, 1911)
Grundsymptome
Akzessorische Symptome
Assoziationslockerung
Sinnestäuschungen
Affektstörungen
Wahnideen
Ambivalenz
katatone Symptome
Autismus
Auffälligkeiten von Sprache und Schrift (Mutismus, Neologismen u. a.)
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Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
Tabelle 2 Symptome 1. und 2. Ranges (K. Schneider, 1959) Symptome 1. Ranges
Symptome 2. Ranges
dialogische Stimmen kommentierende Stimmen Gedankenlautwerden leibliche Beeinflussungserlebnisse Gedankeneingebung Gedankenentzug Gedankenausbreitung Gefühl des Gemachten Wahnwahrnehmungen
sonstige akustische Halluzinationen Halluzinationen auf anderen Sinnesgebieten Wahneinfälle Ratlosigkeit depressive und frohe Verstimmung erlebte Gefühlsverarmung
Tim Crow schlug 1980 vor, zwischen Typ-I-Syndrom (Überwiegen von Ausdrucks-, Erlebens- und Verhaltensweisen, die beim Gesunden nicht anzutreffen sind = Positivsymptomatik, wie z. B. Wahn oder Halluzinationen) und Typ-II-Syndrom (Fehlen von bestimmten psychischen Funktionen, die beim Gesunden vorhanden sind = Negativsymptomatik, die sich beispielsweise in Form von Affektverflachung, Antriebsreduktion und sozialem Rückzug manifestieren) zu unterscheiden (siehe Tabelle 3). Tabelle 3 Typ-I- und Typ-II-Form der schizophrenen Störungen (T. Crow, 1987) Untergruppen
Typ-I-Schizophrenie
Typ-II-Schizophrenie
Vorherrschende Symptome
Positivsymptome
Negativsymptome
Prämorbides Funktionsniveau
gut
schlecht
Erkrankungsalter
mittleres Lebensalter
früheres Lebensalter (vor dem 25. Lebensjahr)
Beginn
akut
allmählich
Erblichkeit
höhere hereditäre Belastung
geringere hereditäre Belastung
CCT
unauffällig
abnorme Hirnstrukturen
Therapeutisches Ansprechen auf Antipsychotika
gut
schlecht
Prognose
günstig
schlecht
Verlauf
akute Episoden remittierend phasenhaft rezidivierend
chronisch einförmig Tendenz zu zunehmender Verschlechterung
In dem oben dargestellten Konzept einer Typologie der schizophrenen Störungen wurde ein kategorialer Ansatz angewandt, der besagt, dass die vorgeschlagenen Subtypen im Prinzip homogene und einander ausschließende Unterformen der Erkrankung darstellen. Um der tatsächlichen Heterogenität gerecht zu werden, präsentierte Peter Liddle 1987 einen dimensionalen Ansatz, in dem drei Syndromcluster unterschieden und neuroanatomisch zugeordnet werden: Verarmung der Psychomotorik, Realitätsverzerrung, Desorganisation (siehe Tabelle 4). Diese Syndrome repräsentieren keine Subtypen-Kategorien, sondern Dimensionen. 112
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
Tabelle 4 Dimensionaler Ansatz (P. Liddle, 1987) Läsionsort:
Linker dorsolateraler präfrontaler Kortex
Medialer Temporallappen
Rechter ventrolateraler präfrontaler Kortex
Syndrom:
Psychomotorische Verarmung
Realitätsverzerrung
Desorganisation
Symptome:
Sprachverarmung Affektverflachung Apathie
Wahn Halluzinationen
Formale Denkstörungen Ablenkbarkeit Inadäquater Affekt
Transkulturell-historische Vergleichsuntersuchungen dokumentieren weitgehend identische schizophrene Grundstörungen über die Jahrtausende. Die vermutlich älteste Beschreibung dessen, was wir heute in den Formenkreis der schizophrenen Störungen einreihen, lesen wir in den um 1000 vor Christus in Indien geschriebenen Ayurveden: Bereits dort fi nden wir Hinweise auf Denk-, Affekt- und Sprachstörungen, Veränderungen des Ich-Erlebens sowie Erwähnungen von akustischen Halluzinationen. Als Therapie wurden pflanzliche Heilmittel empfohlen, deren antipsychotische Wirkungen auf Rauwolfiaalkaloide zurückgeführt werden können, die auch in der Psychopharmakologie des letzten Jahrhunderts einen gewissen Stellenwert hatten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) konnte nachweisen, dass schizophrene Störungen in annähernd gleicher Verteilung in allen Kulturen, in allen Ländern und bei allen Rassen zu beobachten sind. Die Einförmigkeit der Grundsymptome in der Vielfalt der Kulturen legt eine naturwissenschaft liche Interpretation der schizophrenen Störungen nahe. Die Ausgestaltung der Psychosen ist abhängig von Überzeugungen, Traditionen, Mythologien und religiösen Inhalten. So wird Wahn vom Lebensalter, der Schulbildung, von tradiertem magisch-mystischen Denken und der kulturell begründeten Notwendigkeit einer rationalistischen Erklärung des Erlebens geprägt.
1.2
Psychopathologie
Schizophrene Störungen betreffen den zentralen Bereich des Ich und führen somit zu einer Veränderung von Persönlichkeit, Denken und Sprechen, von Wahrnehmung und Realitätserfassung, sowie des Erlebens, des Handelns und der Affekte. Keines dieser Symptome ist für sich allein schizophrenietypisch. Die erwähnten Phänomene sind wechselhaft und fluktuierend. Sie sind sowohl von der zugrunde liegenden Pathophysiologie als auch von der Umgebung und den zwischenmenschlichen Beziehungen abhängig. Psychopathologische Symptome besitzen für die Schizophreniediagnostik die größte Wertigkeit. Wesentlich für die Diagnose ist nicht nur die Beurteilung der augenblicklich vorherrschenden Symptomatik (Querschnittsdiagnose), sondern auch die Erfassung des Menschen in seiner psychomotorischen und personellen Entwicklung sowie die Berücksichtigung des Krankheitsverlaufes (Längsschnittdiagnose).
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Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
1.2.1
Störungen von Denken und Sprache
Terminologisch wird zwischen formalen und inhaltlichen Denkstörungen unterschieden. Zu den bei Schizophreniepatienten häufig beschriebenen formalen Denkstörungen gehört zerfahrenes, inkohärentes Denken. Die Gedanken des Betroffenen sind unlogisch, bruchstückhaft und verbindungslos. Es kann hierbei zu einem vollständigen Zerfall der Sprache kommen („Schizophasie“). Dies wird von Patienten mitunter als Gedankenabreißen erlebt. Bei der Denkhemmung ist das Denken gebremst oder stockend, die Sprache entsprechend schleppend, oft sind auch die Denkinhalte reduziert. Andererseits beschreibt der Begriff ideenflüchtiges Denken ein aufgrund vieler unterschiedlicher Ideen sprunghaftes und unkontrolliertes Denken, die Assoziationen sind gelockert, das Denktempo insgesamt erhöht. Daneben beobachtet man bei Schizophreniepatienten häufig ein Danebenreden (Antworten passen nicht zur gestellten Frage), Perseverationen (Gedanken, Worte und Angaben werden kontinuierlich wiederholt), Paralogik (die Logik der Argumentation wird verzerrt und unstimmig), Neologismen (Wortneubildungen, die nicht der sprachlichen Konvention entsprechen) und Konkretismus (abstrakte Begriffe, Metaphern oder Redewendungen werden konkret interpretiert). Inhaltliche Denkstörungen sind im Wesentlichen gleichbedeutend mit Wahninhalten. Als Wahn werden ungewöhnliche, dem vernünftigen Urteil offensichtlich widersprechende Interpretationen eigener Erlebnisse und Wahrnehmungen bezeichnet, an denen der Betroffene trotz aller Gegenargumente festhält. Wahnideen haben nach Jaspers (1913) drei Merkmale in einem hohen Ausmaß: erstens eine außergewöhnlich starke Überzeugung, mit der an ihnen festgehalten wird, sowie eine unvergleichliche subjektive Gewissheit. Zweitens sind sie durch Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und zwingende Schlüsse charakterisiert, drittens imponieren sie häufig durch die Unmöglichkeit des Inhalts. Folgende Wahnformen finden sich bei Schizophreniepatienten vermehrt: Beziehungswahn, Bedeutungswahn, Verfolgungswahn, Größenwahn, Schuldwahn, Liebeswahn, nihilistischer Wahn und religiöser Wahn. Wahnbilder bei Schizophreniepatienten haben häufig bizarre, surreale, magisch-mystische Inhalte. 1.2.2 Störungen der Affektivität Schizophren Erkrankte erleben Gefühle und Stimmungen uneinheitlich. Wenn die Aufmerksamkeit fluktuiert und Reize fehlinterpretiert werden, entstehen Ratlosigkeit, Verwirrung, Depressivität und Angst. Angst erweckt jede Situation, die auch nur einen geringen Neuheitsgrad für den Patienten besitzt (Novophobie): Angst vor Menschen, Angst vor Gegenständen, Angst vor Gesprächen. Wahrgenommene alltägliche Gegenstände flößen plötzlich Furcht ein, da ihnen eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Anforderungen werden nicht mehr bewältigt und erwecken Angst, weil das dazu notwendige geordnete Denken misslingt und Automatismen verloren gegangen sind. Manche Patienten scheinen in Angst und Ratlosigkeit zu erstarren, andere wiederum unternehmen panische Fluchtversuche oder verlieren sich in schwerer aggressiver Erregung. Ein weiteres Grundsymptom der Affektstörung ist die Parathymie (Gefühls114
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
verkehrung): Der Affektausdruck in Mimik, Gestik und Sprache steht im Gegensatz zu den Erlebnisweisen und Äußerungen des Betroffenen. Die Affektverflachung schizophren Erkrankter manifestiert sich als Verarmung des Fühlens und der emotionalen Ausdrucks- und Reaktionsfähigkeit. Dies kann sich nach Andreasen (1987) in verschiedenen Symptomen äußern (Tabelle 5). Tabelle 5 Symptome der Affektverflachung (N. Andreasen, 1987) Starrer Gesichtsausdruck Verminderte Spontanbewegungen Verarmte Ausdrucksbewegungen Mangelnder Blickkontakt Fehlende affektive Auslenkbarkeit Mangelnde Modulation der Stimme Inadäquater Affekt
Anhedonie bezeichnet eine psychische Störung, bei der die Fähigkeit zum positiven emotionalen Erleben reduziert ist, es ist also die Unfähigkeit, Lust, Freude und Vergnügen zu empfinden. Dies äußert sich bei Menschen mit schizophrenen Störungen in selteneren Freizeitinteressen und -aktivitäten, geringem sexuellen Interesse, beeinträchtigter Fähigkeit, Intimität und Nähe zu empfinden sowie einem geringen Kontakt zu Freunden und Altersgenossen (Andreasen 1987). Bei der Ambivalenz sind die Betroffenen stark widersprüchlichen Gefühlen ausgesetzt und zwischen Hass und Liebe, Angst und Glück, Ohnmacht und Omnipotenz, Zuwendung und Gewalttätigkeit hin- und hergerissen. Diese Gegensätze werden nicht bewusst erlebt, treten gleichzeitig auf und erschweren die Kommunikationsfähigkeit. Dem Gesunden erscheinen die Affekte uneinfühlbar, schwer nachvollziehbar und paradox. Das eigenartig-befremdliche Erleben bei der Begegnung mit einem Kranken kann differenzialdiagnostische Relevanz besitzen: Rümke (1958) nannte dies das „PräcoxGefühl“. Depressive Symptome finden sich im Krankheitsverlauf bei bis zu 50 % der Patienten mit schizophrenen Störungen. Im ICD-10 wird eine im Anschluss an eine akute schizophrene Episode auft retende depressive Episode als postschizophrene Depression codiert. Andererseits können auch manische Bilder mit Hyperaktivität, Kritiklosigkeit und Selbstüberschätzung auftreten. Hier soll auch auf das Risiko für Suizide hingewiesen werden, das mit 10 % beziffert wird. 1.2.3 Halluzinationen Halluzinationen sind Wahrnehmungen in einem oder mehreren Sinnesgebieten bei fehlendem objektivem physikalischem Reiz. Im Unterschied zu Pseudohalluzinationen können sie nicht von der Realität unterschieden werden.
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Bei den akustischen Halluzinationen handelt es sich entweder um Lärm oder Geräusche („Akoasmen“) oder um Laute, Worte, Sätze, Geflüster oder Stimmen. Sie treten bei etwa der Hälfte der schizophren Erkrankten auf und äußern sich vornehmlich als Gedankenlautwerden bzw. als kommentierende, dialogische oder imperative (befehlende) Stimmen. Relativ selten treten optische Halluzinationen auf, die sich meistens in Lichtern oder Farben, manchmal aber auch in mehr oder weniger deutlichen Gestalten, Szenen usw. manifestieren. Taktile oder haptische Halluzinationen werden als Berührung, Brennen, Elektrisieren, Bestrahlung u. a. wahrgenommen, die auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden. Coenästhesien sind abnorme Leibgefühle, die primär als körpereigene Störungen empfunden werden, beispielsweise das Gefühl, einzelne Körperteile wechselten ihre Form und Größe, würden verfaulen etc. Sehr selten beschreiben schizophren Erkrankte olfaktorische und gustatorische Halluzinationen, die sekundär beispielsweise Vergiftungsideen nach sich ziehen können. Ähnlich wie bei den Wahnideen, die im Übrigen häufig mit Halluzinationen gemeinsam auft reten, ja oft Folge einer entsprechenden Interpretation derselben sind, finden sich bei dieser Patientengruppe oft magisch-mystische Inhalte und Interpretationen, die einen sehr realitätsfernen Charakter haben. 1.2.4 Ich-Störungen Störungen des Ich-Erlebens sind charakteristisch für Menschen mit schizophrenen Symptomen und äußern sich in der Überzeugung, im Denken, Handeln und Fühlen von Außenkräften beeinträchtigt, beeinflusst und gesteuert zu werden. Entsprechend umfasst dieser Begriff verschiedene Symptome: Bei der Gedankenausbreitung ist der Betroffene überzeugt, andere kennen seine Gedanken, während sich Gedankenentzug als Gefühl, andere Menschen würden die eigenen Gedanken abziehen, äußert. Daneben beschreiben Schizophreniepatienten Gedankeneingebungen, Fremdbeeinflussungserlebnisse, Depersonalisation (das Ich oder Teile des Körpers werden als fremd oder verändert erlebt) und Derealisation (die Umwelt erscheint unwirklich, verändert und fremd). Ich-Störungen sind Folge der oben beschriebenen Denk- und Wahrnehmungsstörungen auf das Ich-Erleben, somit eine Beeinträchtigung der Ich-Integrität. 1.2.5 Störungen der Psychomotorik Motorische Phänomene, die psychische Vorgänge, insbesondere Affektivität und Antrieb, begleiten, erscheinen bei Menschen mit schizophrenen Störungen frühzeitig gestört. Mimische und gestische Besonderheiten, Auffälligkeiten in Gang und Motorik, Veränderungen der Stimmlage und der Sprechweise sind häufig zu beobachtende Phänomene. Oft berichten Patienten, ihre Gliedmaßen würden sich spontan bewegen, so als ob sie nicht zu ihnen gehörten. Alltägliche Arbeiten und Verrichtungen, ja jeder einzelne Schritt und jede Geste müssen neu intendiert und überlegt werden (Automatismenverlust). Dies führt in den Bewegungsabläufen, in Mimik und Gestik zu einem Verlust an Harmonie. Beobachter empfinden diese Motorik auch als manieriert. Katatone Symptome werden heute nur mehr im Rahmen kurzer Episoden beobachtet: Der Patient erstarrt, wird steif, verharrt bewegungslos (Stupor), ohne zu spre116
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chen (Mutismus), oft in sehr unangenehm erscheinenden Stellungen (Katalepsie). Der Patient nimmt an seiner Umgebung nicht mehr teil, kann diese aber intensiv wahrnehmen. Die erwähnten katatonen „Hypophänomene“ können abrupt in einen Erregungszustand einmünden, in dem der hochgradig unruhige Patient eine hohe Selbstund Fremdgefährdung aufweist. Im Rahmen derartiger katatoner Erregungszustände scheint eine passagere Bewusstseinstrübung vorzuliegen; hier kommt es zu katatonen Hyperkinesien mit rhythmisch sich wiederholenden, stereotypen Bewegungsabläufen (Bewegungsstereotypien, motorische Schablonen, Automatismen, Grimassen). Häufig sind auch Sprachstereotypien zu beobachten (Verbigerationen) oder eine Echolalie, bei der der Patient alle Worte der umgebenden Personen nachspricht. Echopraxie beschreibt die Imitation aller Bewegungen des Gegenübers. Ähnlich stellt sich der Befehlsautomatismus dar, bei dem der Patient anscheinend kritik- und willenlos alles ausführt, was ihm aufgetragen wird. Dieser Zustand kann wechselweise mit Negativismus auftreten, währenddessen der Patient nichts oder das Gegenteil dessen tut, was von ihm erwartet oder verlangt wird. Im Gegensatz zur Parathymie, einer Störung der Affektivität, bedeutet Paramimie, dass Affekte oft schlecht geäußert werden können, wenngleich der Affekt selbst adäquat erlebt wird. Der Kranke freut sich in einer angenehmen Situation, seine Mimik jedoch drückt Trauer und Sorge aus. 1.2.6 Kognitive Symptome Kognitive Defizite stellen ein Kernsymptom schizophrener Störungen dar und können je nach untersuchter kognitiver Funktion bei 60–80 % der Patienten nachgewiesen werden. Es gilt als gesichert, dass diese Defizite unabhängig von der bestehenden Krankheitssymptomatik sind und nicht als Folge der Institutionalisierung auft reten. Sie sind auch keinesfalls Konsequenz der antipsychotischen Behandlung. Kognitive Störungen werden bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts als wichtige Charakteristika schizophrener Störungen angesehen. Zum Beispiel beschrieb Kraepelin schon 1913 Störungen der Aufmerksamkeit und der Auffassung: „Ganz allgemein geht ihnen Neigung und Fähigkeit ab, ihre Aufmerksamkeit aus eigenem Antriebe stark und dauernd anzuspannen. Oft ist es schon schwierig, sie überhaupt zum Aufmerken zu bringen.“ Daneben sei auch die Auffassung insofern beeinträchtigt, als „… der Umfang und namentlich die Zuverlässigkeit der Auffassung entschieden verringert sind, am stärksten in den akuten Krankheitszuständen und dann wieder in den letzten Abschnitten des Leidens“ (Kraepelin 1913). Vielfach wird heute die Ansicht vertreten, dass kognitive Beeinträchtigungen die Basis aller psychopathologischen Auffälligkeiten von Schizophreniepatienten darstellen. Neurokognitive Defizite sind zeitstabil, d. h., sie sind sowohl in akuten als auch remittierten Krankheitszuständen vorhanden („Trait“-Merkmal). Sie finden sich bei Kindern schizophrener Eltern, die später selbst eine Psychose entwickeln („High Risk Children“), und zwar bereits vor dem erstmaligen Auftreten florid-psychotischer Symptome. So konnten Erlenmeyer-Kimling et al. (2000) beispielsweise zeigen, dass bei den Kindern erkrankter Eltern die festgestellten neuropsychologischen Defizite im Alter von neun Jahren das Auftreten einer schizophrenieartigen Psychose in den
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nächsten 15 Jahren sehr gut vorhersagen. Weiters finden sich neurokognitive Defizite bei Menschen mit schizotyper Störung sowie bei gesunden Verwandten ersten Grades von Patienten mit schizophrener Störung, vor allem im Bereich der Exekutivfunktionen und des Gedächtnisses. Generell wird davon ausgegangen, dass schizophrene Patienten Defi zite in verschiedensten neurokognitiven Domänen aufweisen, und zwar in erster Linie in den Bereichen Aufmerksamkeit (Vigilanz, selektive Aufmerksamkeit), Exekutivfunktionen, Gedächtnis (Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis) und Feinmotorik. Der Begriff der sozialen Kognition bezeichnet die Art und Weise, andere Menschen und sich selbst wahrzunehmen sowie die Fähigkeit zu erfassen, in welcher Beziehung man zu einem Gesprächspartner steht. Dadurch kann das soziale Verhalten entsprechend flexibel gestaltet werden. In diesem Zusammenhang sind die sogenannte Theory of Mind sowie die Fähigkeit zur Verarbeitung von Emotionen von besonderer Bedeutung. Prinzipiell bezeichnet die Theory of Mind die Fähigkeit, den seelischen Zustand eines anderen Menschen zu erfassen und zuzuordnen und entsprechend beispielsweise Empathie oder Schuldgefühle empfinden zu können. Verschiedene Untersuchungen von schizophrenen Patienten bestätigen Theory–ofMind-Defizite. Daneben bestehen auch Defizite im Erkennen von emotionalen Gesichtsausdrücken (v. a. Angst) und sozialen Signalen. Daraus ergeben sich für die betroffenen Patienten häufig Probleme bei Prozessen der sozialen Wahrnehmung und Interaktion.
1.3
Klassifikationssysteme und diagnostische Kriterien
In den heute verwendeten, international etablierten Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV werden die oben genannten Konzepte weitgehend aufgegriffen; sowohl Kraepelins Hinweise auf die Bedeutung des Verlaufs (DSM-Bedingung, dass die Symptomatik mindestens sechs Monate vorhanden sein muss), als auch die Grundsymptome Bleulers und die Erstrangsymptome Schneiders wurden berücksichtigt. Die im gleichen Abschnitt des Kapitels V des ICD-10 („Psychische und Verhaltensstörungen“, F00-F99) angeführten Erkrankungen werden in Tabelle 6 aufgelistet. Tabelle 6 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (ICD-10: F20–F29) F20
Schizophrenie
F21
Schizotype Störung
F22
Anhaltende wahnhafte Störungen
F23
Akute vorübergehende psychotische Störungen
F24
Induzierte wahnhafte Störung
F25
Schizoaffektive Störungen
F28
Sonstige nichtorganische psychotische Störungen
F29
Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose
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Zur Diagnostik einer Schizophrenie fasst das ICD-10 bestimmte Symptomgruppen zusammen, die häufig gemeinsam auftreten: 1. Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung. 2. Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahnwahrnehmungen. 3. Kommentierende oder dialogische Stimmen, die über den Patienten und sein Verhalten sprechen, oder andere Stimmen, die aus einem Teil des Körpers kommen. 4. Anhaltender, kulturell unangemessener oder völlig unrealistischer (bizarrer) Wahn, wie der, eine religiöse oder politische Persönlichkeit zu sein, übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten zu besitzen. 5. Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, begleitet entweder von flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung, oder begleitet von anhaltenden überwertigen Ideen, täglich über Wochen oder Monate auftretend. 6. Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit, Danebenreden oder Neologismen führt. 7. Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus, Mutismus und Stupor. 8. „Negative“ Symptome wie auff ällige Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte, zumeist mit sozialem Rückzug und verminderter sozialer Leistungsfähigkeit. Diese Symptome dürfen nicht durch eine Depression oder eine neuroleptische Medikation verursacht sein. 9. Eine eindeutige und durchgängige Veränderung bestimmter umfassender Aspekte des Verhaltens der betreffenden Person, die sich in Ziellosigkeit, Trägheit, einer in sich selbst verlorenen Haltung und sozialem Rückzug manifestiert. Für die Diagnose einer schizophrenen Störung ist mindestens ein eindeutiges Symptom (zwei oder mehrere, wenn die Ausprägung weniger eindeutig ist) der Gruppen 1–4 oder mindestens zwei Symptome der Gruppen 5–8 erforderlich. Die Symptome müssen einen Monat oder länger deutlich vorhanden sein. Bei Unterschreiten dieses Zeitrahmens soll zunächst eine „akute schizophreniforme psychotische Störung“ diagnostiziert werden. Dem Auftreten psychotischer Symptome kann manchmal eine Wochen bis Monate währende Prodromalphase vorausgehen, während der Symptome und Verhaltensweisen wie Beeinträchtigung bzw. Verlust des Interesses an der Arbeit, an sozialen Aktivitäten, am persönlichen Erscheinungsbild und an der Körperhygiene zusammen mit generalisierter Angst, leichter Depression und seltsamen Vorstellungen und Verhaltensweisen auftreten können. Der für die Diagnose bedeutsame Zeitraum von einem Monat vernachlässigt diese nichtpsychotische Phase und bezieht sich ausschließlich auf das Vorhandensein spezifischer Symptome. Bereits vor der Erstmanifestation der schizophrenen Störung können sich Positivsymptome im Rahmen der Prodromalphase zeigen. Zu ihnen gehören neben den so119
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genannten attentuierten Positivsymptomen (APS) auch die kurzen intermittierenden Positivsymptome (BLIPS = Brief Limited Intermittent Positive Symptoms), bei denen es sich um schizophrenietypische Positivsymptome handelt, die mit einer Dauer von weniger als sieben Tagen auftreten und spontan remittieren. Das DSM-IV weicht kaum von den ICD-10-Kriterien ab, allerdings gilt erst ein kontinuierlicher Erkrankungszeitraum von mehr als halbjähriger Dauer als schizophrene Störung; bei kürzer währender Symptomatik spricht man von einer schizophreniformen Erkrankung.
1.4
Subtypisierung
Nach ICD-10 ergeben sich aus der Kombination der erwähnten charakteristischen Symptome die in Tabelle 7 angeführten Typen der schizophrenen Störungen. Tabelle 7 Subtypisierung der schizophrenen Störungen (ICD-10): F20.0
Paranoide Schizophrenie
F20.1
Hebephrene Schizophrenie
F20.2
Katatone Schizophrenie
F20.3
Undifferenzierte Schizophrenie
F20.4
Postschizophrene Depression
F20.5
Schizophrenes Residuum
F20.6
Schizophrenia simplex
1.4.1
Paranoide Schizophrenie
Charakteristisch sind inhaltliche Denkstörungen in Form von Wahnvorstellungen und/oder Halluzinationen, Denkzerfahrenheit mit desorganisierter Sprache und Verhalten, katatone Symptome und Affektstörungen stehen im Hintergrund. 1.4.2 Hebephrene Schizophrenie Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen Affekt-, Denk- und Antriebsstörungen. Katatone Symptome sind in der Regel nicht vorhanden und Wahn, wenn überhaupt, nur in fragmentarischer Form. Dieser Typ wurde früher viel häufiger und vor allem bei adoleszenten Patienten beschrieben. 1.4.3 Katatone Schizophrenie Das klinische Bild wird durch ein oder mehrere katatone Symptome beherrscht. Treten daneben noch Fieber, Kreislaufstörungen (Tachykardien), Exsikkose sowie evtl. Zyanose und Hämorrhagien auf, spricht man von einer perniziösen Katatonie.
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1.4.4 Undifferenzierte Schizophrenie Diese Diagnose wird gestellt, wenn die Kriterien der paranoiden, hebephrenen oder katatonen Schizophrenie nicht eindeutig erfüllt werden. Sie kommt nur für akute schizophrene Erkrankungen in Betracht. Postschizophrene Depression und schizophrenes Residuum müssen ausgeschlossen werden. 1.4.5 Postschizophrene Depression Diese Diagnose wird gestellt, wenn innerhalb der letzten zwölf Monate – aber nicht mehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt – ein Krankheitsbild vorlag, das die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (F20) erfüllt hat. Es sind noch ein oder einige schizophrene Symptome vorhanden, das klinische Bild dominieren aber depressive Symptome, die die Kriterien einer depressiven Episode erfüllen, und seit mindestens zwei Wochen bestehen. 1.4.6 Schizophrenes Residuum Ein schizophrenes Residuum liegt vor, wenn früher mindestens einmal ein psychotisches Zustandsbild auftrat, das die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (F20) erfüllte, und während der letzten zwölf Monate ausgeprägte Negativsymptome vorhanden waren. Produktive Symptome liegen mit geringer oder wesentlich verminderter Intensität vor. Das schizophrene Residuum kann zeitlich begrenzt etwa im Übergang von akutpsychotischer Episode zur vollständigen Remission oder kontinuierlich über viele Jahre mit oder ohne akute Exazerbationen vorkommen. 1.4.7 Schizophrenia simplex Es entwickelt sich eine ausgeprägte Negativsymptomatik, ohne dass jemals zuvor eine nennenswerte floride psychotische Symptomatik vorhanden war. Das Zustandsbild ist von schleichender Progredienz mit zunehmend schwerer Negativsymptomatik und häufig vom Abbruch einer Ausbildung oder von beruflichem Abstieg sowie sozialem Rückzug und Isolation begleitet. Diese Symptome müssen seit mindestens einem Jahr bestehen. Nicht immer sind die genannten Subtypen leicht voneinander abzugrenzen, auch innerhalb des individuellen Krankheitsverlaufes kann es zu Überschneidungen bzw. Symptomwechsel kommen.
1.5
Epidemiologie, Verlauf und Prognose
Die Prävalenz schizophrener Störungen liegt zwischen 1,6 und 12,1 ‰, während die Wahrscheinlichkeit, im Verlauf eines Lebens an einer schizophrenen Störung zu erkranken (Life Time Risk) etwa 1 % beträgt. Der Erkrankungsgipfel ist bei Männern zwischen 15 und 25 Jahren, bei Frauen zwischen 25 und 35. Männer werden fünf bis zehn Jahre früher wegen einer schizophre-
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nen Symptomatik in ein psychiatrisches Krankenhaus aufgenommen. Aufgrund des früheren Erkrankungsbeginnes leben männliche Patienten seltener in festen Beziehungen. Schizophrene Störungen sind deshalb unter ledigen Männern viermal häufiger als bei verheirateten, Frauen weisen diesbezüglich keine Unterschiede auf. Schizophrenieerkrankte haben somit öfter eine erkrankte Mutter als einen erkrankten Vater. Der frühe Erkrankungsbeginn bei Männern mit schizophrenen Störungen ist auch eine Erklärung für deren häufige Kinderlosigkeit. Schizophrene Erkrankungen, die in sehr frühen Lebensjahren auftreten, scheinen einen ungünstigen Verlauf zu nehmen, und Psychosen mit einer Erstmanifestation nach dem vierzigsten Lebensjahr (Spätschizophrenien) erfordern eine besonders subtile differenzialdiagnostische Beurteilung. Die mit der Erstmanifestation florider psychotischer Symptome beginnende aktive Erkrankungsphase kann durch das Persistieren positiver Symptome gekennzeichnet sein (kontinuierlicher Verlauf). Bei der Mehrzahl der Patienten fi ndet sich aber ein Wechsel von psychotischen Exazerbationen und Remissionen. Dabei sind die Remissionen nicht immer komplett. Die Residualsymptomatik zeigt einen chronischen Verlauf, der allerdings nicht irreversibel sein muss. Von großer klinischer Bedeutung ist die Beobachtung, dass sich psychotische Rückfälle durch Frühwarnzeichen ankündigen können, die den Prodromalsymptomen ähneln und in der Regel bereits einige Wochen vor der Dekompensation auft reten: Misstrauen, Konzentrationsstörungen, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Nervosität, Gespanntheit, sozialer und emotionaler Rückzug. In Tabelle 8 sind die im ICD-10 angegebenen Verläufe wiedergegeben. Tabelle 8 Klassifi kation des Verlaufs schizophrener Erkrankungen nach ICD-10 F20.x0
kontinuierlich
F20.x1
episodisch, mit zunehmendem Residuum
F20.x2
episodisch, mit stabilem Residuum
F20.x3
episodisch remittierend
F20.x4
unvollständige Remission
F20.x5
vollständige Remission
F20.x8
andere
F20.x9
Beobachtungszeitraum weniger als ein Jahr
Ein episodisch-schubhafter Verlauf mit unterschiedlicher Krankheitsdauer, der von wenigen Stunden bis zu vielen Monaten reichen kann, ist typisch für die paranoide Form. Wiederholte Schübe können ein Residualsyndrom unterschiedlicher Ausprägung bedingen. Ein phasenhafter, wellenförmiger Verlauf mit Remissionen zwischen den Krankheitsphasen ist typisch für die viel selteneren katatonen Formen. Die prozesshaft verlaufenden Formen (Schizophrenia simplex und Hebephrenie) münden nach progredientem Verlauf in stärkere Defektsyndrome. Die Langzeitprognose der
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schizophrenen Störungen konnte durch die Optimierung psychopharmakologischer Therapien und die Einbindung von soziotherapeutischen Programmen deutlich verbessert werden. Chronische schizophrene Katastrophenverläufe, katatone Dauerstörungen und schwere Residualsyndrome sind heute sehr selten. Etwa 20 % der Patienten mit schizophrenen Störungen erfahren langfristig eine dauerhafte Vollremission, ca. 40 % erreichen einen stabilen Residualzustand mit sozialer Integration. Ein knappes Drittel zeigt chronische Symptome von behindernder Ausprägung. Insgesamt ist die Prognose der Erkrankung vor allem bei Früherkennung und entsprechend raschem Behandlungsbeginn viel besser als gemeinhin angenommen. Tabelle 9 führt verschiedene prognostisch wichtige Faktoren an. Tabelle 9 Indikatoren, die für eine günstige bzw. ungünstige Prognose sprechen Günstige Prognose
Ungünstige Prognose
Akuter Krankheitsbeginn
Schleichender Krankheitsbeginn
Unauffällige prämorbide Persönlichkeit
Persönlichkeitsstörungen
Berufliche und soziale Integration
Berufliche und soziale Desintegration
Psychische Belastung bei Erkrankungsbeginn (Life Events)
Fehlen von Life Events
Frühzeitig eingeleitete antipsychotische Therapie
Mangelhafte antipsychotische Therapie
Keine Komorbidität
Komorbider Substanzmissbrauch
Fähigkeit zu entsprechender Krankheitsverarbeitung
Ungünstige Krankheits- und Konfliktbewältigungsstrategien
Tragfähige Familienstruktur
Hostilität in der Familie
Natürlicher Umgang innerhalb des Bezugssystems
Überprotektive Bezugspersonen
Weibliches Geschlecht
Männliches Geschlecht
1.6
Ätiologie und Pathogenese
Insgesamt sind schizophrene Störungen komplexe Erkrankungen, deren Ursachen bis heute nicht restlos geklärt sind und bei denen genetische und umweltbedingte Faktoren zusammenwirken. Zu den relevanten Umweltrisikofaktoren gehören neben mütterlichen prä- und perinatalen Virusinfekten der Geburtsort (in der Stadt höheres Risiko als auf dem Land), der Geburtszeitpunkt (erhöhtes Risiko in den Wintermonaten), das Alter des Vaters, Migration (Einwanderung in ein fremdes Land) und Drogenkonsum. Das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell geht von einer Vulnerabilität im Sinne einer Disposition für die Manifestation einer schizophrenen Störung aus, die durch genetische und nicht-genetische Einflüsse bedingt ist. Biologische und psychosoziale
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Stressoren ziehen schließlich bei reduzierter Anpassungsleistung des Gehirns und unzureichenden Bewältigungsstrategien eine akut psychotische Symptomatik nach sich. 1.6.1
Genetische Befunde
Wir können heute annehmen, dass ein Großteil der manifest schizophren Erkrankten Träger eines oder mehrerer Gene sind, die zu einer schizophrenen Störung disponieren. Wie nahezu alle psychiatrischen Krankheiten weisen schizophrene Störungen eine familiäre Häufung auf. Die beobachteten Häufigkeitsmuster sind jedoch nicht homotypisch: So kommen auch affektive Störungen in Familien von schizophren Erkrankten gehäuft vor. Es besteht eine ausgeprägte intrafamiliäre Überlappung affektiver, schizoaffektiver und schizophrener Erkrankungen. Diese Beobachtungen legen wiederum eine dimensionale Betrachtungsweise nahe, wonach es ein Kontinuum von Psychosen geben könnte, das sich von den monopolaren affektiven Störungen über die bipolaren zu den schizoaffektiven und schließlich zu den schizophrenen Störungen erstreckt. Das Lebenszeit-Erkrankungsrisiko für eine schizophrene Störung, das in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 1 % liegt, steigt bei Angehörigen ersten Grades auf 10 % und bei monozygoten Zwillingen auf 44 % an. Bei dizygoten Zwillingen beträgt das Erkrankungsrisiko 12 %. Die Bedeutung einer genetisch übertragenen Vulnerabilität für schizophrene Störungen wurde besonders durch die erhöhten Schizophrenieraten von Kindern schizophren erkrankter Mütter unterstrichen, auch wenn sie in Heimen oder von gesunden Adoptiveltern erzogen wurden. Inzidenz und Prävalenz für schizophrene Erkrankungen entsprechen – wie Adoptionsstudien zeigen konnten – bei Adoptivkindern den Werten der Familien der biologischen Eltern, nicht jenen der Adoptivmütter und -väter. Für die familiäre Häufung schizophrener Störungen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit interagierende Genkonstellationen verantwortlich, von denen jede nur einen geringen Teil zum Erkrankungsrisiko beiträgt. Um auf Genomebene krankheitsverursachende Veränderungen feststellen zu können, bieten sich prinzipiell zwei Methoden an: Während bei der Kopplungsanalyse eine gemeinsame Übertragung des krankheitsverursachenden Gens und der Störung in mehrfach belasteten Familien untersucht wird, überprüft die Assoziationsanalyse die überzufällige Häufung eines Allels in einer Gruppe unabhängiger, nicht verwandter Fälle. Aufgrund der Ergebnisse von Kopplungsanalysen werden heute Zusammenhänge zwischen schizophrenen Störungen und Genorten auf den Chromosomenabschnitten 5q, 6p, 8p, 10p, 13q, 18p und 22q diskutiert, während sich mit Assoziationsstudien die unten angeführten neurochemischen Hypothesen bezüglich der Serotonin-, Dopamin- und Glutamatrezeptoren verifizieren ließen. Als aussichtsreiche singuläre Kandidatengene gelten die Gene für Dysbindin auf Chromosom 6p, für Neuroregulin-1 auf Chromosom 8p, für den metabotropen Glutamatrezeptor GRM-3 auf Chromosom 7q und für die Glutamat-Decarboxylase 1 auf Chromosom 2q. Dennoch konnten bisher keine definitiven Kopplungen oder auch Assoziationen identifiziert werden, was sich damit begründen lässt, dass schizophrene Störungen zu den komplexen, multifaktoriellen Erkrankun-
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gen gehören, bei denen sich kein Haupt-Genort mit monogenem Erbgang nachweisen lässt. Es wird vielmehr ein polygenes Modell diskutiert, in dem mehrere Gene sowohl untereinander als auch mit Umgebungsfaktoren interagieren. 1.6.2 Neuropathologische Befunde Die neuropathologische Forschung liefert Hinweise, dass eine während der Ontogenese gestörte Hirnentwicklung einen für die Entstehung schizophrener Störungen entscheidenden Faktor darstellt. Neuropathologische Befunde sind durch genetische Einflüsse sowie durch prä- bzw. perinatale Traumata wie Infektionen, Sauerstoff mangel oder das Einwirken unterschiedlicher Toxine erklärbar. Betroffen sind vor allem die Bildung von Synapsen und Neuriten sowie die Migration der Neurone. Einer der am besten belegten biologischen Befunde ist die Erweiterung der Hirnventrikel: betroffen sind die Seitenventrikel, aber auch der dritte Ventrikel. Neben einer wahrscheinlich progredienten globalen Volumenabnahme von weißer und grauer Substanz konnten bei schizophren Erkrankten spezifische Substanzdefizite im Bereich der großen limbischen Strukturen des Temporallappens (Hippocampus und Amygdala), der damit verbundenen dienzephalen periventrikulären Gebiete des Pallidum internum und des Balkens nachgewiesen werden. Patienten mit paranoidhalluzinatorischer Symptomatik scheinen besonders im medialen Temporallappen einen Volumenmangel aufzuweisen. Post-mortem-Studien zeigen auch histopathologische Veränderungen (Parenchymverluste) in den zentralen limbischen Strukturen des Temporallappens: Die Anzahl der Nervenzellen ist herabgesetzt, deren Anordnung verändert. Die bisher genannten Befunde wurden vorwiegend bei Patienten erhoben, die einen chronischen Verlauf aufwiesen. Über die Beobachtung der Neuroglia sind indirekte Aussagen über die Ätiologie möglich: Nach der Kindheit aufgetretene Hirnstörungen (Infektionen, Schädelhirntraumata, zu Atrophie führende Prozesse) bedingen eine absolute oder relative Gliose; demgegenüber bewirken prä- oder perinatal eingetretene Störungen nur eine passagere, im Erwachsenenalter nicht mehr objektivierbare gliöse Reaktion. Da sich bei Postmortem-Studien von Schizophreniepatienten keine Hinweise auf eine Gliose fanden, scheinen die Störungen im Bereich der großen limbischen Strukturen des Temporallappens somit prä- oder perinataler Genese zu sein. Auch die gestörte Zytoarchitektonik in der dem Hippocampus vorgeschalteten Regio entorhinalis untermauert die Hypothese einer dysontogenetischen Störung im limbischen Temporallappen, da die Zellmigration in die Area entorhinalis in frühen Embryonalmonaten stattfindet. 20 % der später an einer schizophrenen Störung Erkrankten weisen geburtstraumatische Komplikationen auf. Die für Hypoxie anfälligsten Gebiete sind der Hippocampus und das Pallidum, Gebiete, in denen bei diesen Patienten Substanzdefizite bestehen. Durch bildgebende Verfahren wie die Computertomografie (CT), die Magnetresonanztomografie (MRT) und -spektroskopie (MRS), die Single-Photon-Emissions-CT (SPECT) und die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) wurden der neuropathologischen Forschung wesentliche Impulse vermittelt: Sowohl bei akut als auch bei chronisch schizophren Erkrankten konnten gravierende morphologische sowie patho-
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physiologische Veränderungen nachgewiesen werden. Die mittels dieser Techniken in vivo erhobenen morphologischen Befunde bestätigen frühere neuropathologische Studien. So finden sich auch hier Substanzverluste und eine Erweiterung des Ventrikelsystems. Neuronale Aktivität, regionaler Hirnstoff wechsel und regionale Hirndurchblutung (rCBF) sind eng korreliert, sodass Rückschlüsse von der rCBF auf die neuronale Aktivität möglich sind. SPECT-, PET- und funktionelle MRT-Studien weisen auf eine Minderung des frontalen Blutflusses und des Stoff wechsels im Sinne einer „Hypofrontalität“ im dorsolateralen präfrontalen Kortex hin. Diese Befunde stehen allerdings in Abhängigkeit zur aktuellen Psychopathologie der untersuchten Patienten. Das Ausmaß der Hypofrontalität korreliert zum Beispiel mit dem Grad der Negativsymptomatik: Diese wird wiederum biochemisch mit einer präfrontal reduzierten dopaminergen Aktivität assoziiert. Die Bedeutung möglicher Störfaktoren bei all diesen Untersuchungsergebnissen (eine Vorbehandlung mit Antipsychotika, Ernährungsgewohnheiten, langfristige Hospitalisierung etc.) wird kontrovers diskutiert: Eine Vergrößerung der Seitenventrikel wurde jedoch durch radiologische Untersuchungen (Pneumenzephalographie) lange Zeit vor der Einführung der Psychopharmaka beschrieben. 1.6.3 Neurophysiologische Befunde Brain-Mapping-Untersuchungen von Patienten mit schizophrenen Störungen zeigen einerseits eine frontale Verlangsamung der EEG-Aktivität und andererseits Abweichungen der funktionellen Hemisphärenorganisation und der neuronalen Konnektivität. Außerdem werden Störungen des autonomen Nervensystems wie eine herabgesetzte Schmerzwahrnehmung oder eine Veränderung der Schlafarchitektur (verkürzte REM-Latenz) beobachtet. Defizite in der Informationsverarbeitung äußern sich in Veränderungen bei der Ableitung ereigniskorrelierter Potenziale. 1.6.4 Neurobiochemische Befunde Die Grundlagenforschung hat unseren Wissensstand über neurobiologische Dysfunktionen bei schizophrenen Störungen entscheidend erweitert: Funktionsstörungen im Bereich der Neurotransmitter und Veränderungen von Regelmechanismen im zentralen Nervensystem sind pathophysiologisch bei schizophrenen Psychosen von großer Bedeutung. Komplexe Regelkreise bestimmen die Interaktionen von Neurotransmittern (Dopamin, Noradrenalin, GABA, Serotonin, Acetylcholin, exzitatorische Aminosäuren) und Neuromodulatoren (Hormone, Neuropeptide). Die bedeutendste neurobiochemische Hypothese ist die Dopamin-(DA-)Hypothese, die von einer Pathologie des dopaminergen Systems ausgeht. Sie basiert auf der pharmakologisch gesicherten Tatsache, dass DA-Rezeptor-Agonisten (z. B. Apomorphin, Amphetamin) Positivsymptome induzieren oder verstärken können und konventionelle Antipsychotika als DA-Rezeptor-Antagonisten antipsychotisch wirken. Schizophreniepatienten haben während der aktiven Krankheitsphasen eine mittels bildgebender Verfahren gut nachweisbare verstärkte Dopaminausschüttung im Striatum. 126
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Allerdings liegt nicht eine einfache, generelle Überaktivität im dopaminergen System vor, es gibt vielmehr Hinweise auf eine Dysregulation mit gleichzeitig bestehender Über- oder Unterfunktion der Transmission in unterschiedlichen Hirnregionen. So lässt sich die Entstehung der Positivsymptomatik mit einer mesolimbischen Hyperaktivität erklären. Eine Hypoaktivität des mesokortikalen dopaminergen Systems wird mit der Ausbildung von kognitiven Defiziten und der Negativsymptomatik in Beziehung gebracht. Neben dem dopaminergen System spielen in der Pathogenese von schizophrenen Störungen auch noch eine Reihe anderer Transmittersysteme und deren Wechselwirkungen eine Rolle. Von besonderer Bedeutung sind die Neurotransmitter Glutamat, GABA und Serotonin (5-HT), die über zentrale Regelkreise untereinander und mit dem dopaminergen System verbunden sind. Die Glutamathypothese geht davon aus, dass schizophrene Störungen durch eine Unterfunktion des glutamatergen kortikostriatalen und kortikomesolimbischen Systems verursacht werden. In diesen Regelkreisen modulieren dopaminerge und glutamaterge Neurone einander im Sinne einer wechselseitigen Aktivierung bzw. Hemmung. Die Glutamathypothese stützt sich unter anderem auf den psychotogenen Effekt des Glutamat-Rezeptor-(NMDA-)Antagonisten Phenzyklidin (PCP) und auf Berichte über eine verminderte Konzentration von Glutamat und seiner Metaboliten im Gehirn im Rahmen von MRS-Untersuchungen. Darüber hinaus ist ein Teil der Kandidatengene in die glutamaterge Transmission involviert. Auch im Bereich des GABA-Stoff wechsels wurden bei Patienten mit schizophrenen Störungen Veränderungen gefunden, wie beispielsweise Migrationsstörungen GABAerger kortikaler und limbischer Neuronenpopulationen. Dem serotonergen (5-HT-)System wird ebenfalls eine Rolle bei der Manifestation schizophrener Störungen eingeräumt, unter anderem aufgrund der psychotogenen Wirkung strukturähnlicher psychoaktiver Substanzen, wie beispielsweise von Lysergsäurediäthylamid (LSD). Rezeptorbindungsstudien zeigen eine Erhöhung der 5-HT1ARezeptoren im präfrontalen und temporalen Kortex sowie eine Erniedrigung der 5-HT2-Rezeptoren im präfrontalen Kortex. Der Wegfall der serotonergen Hemmung des präfrontalen Kortex auf subkortikale Strukturen könnte zu einer gesteigerten dopaminergen Funktion führen. Die Membranhypothese geht von der Beobachtung aus, dass bei Patienten mit schizophrenen Störungen die Phospholipidstruktur der Membran von Nervenzellen im Vergleich zu Gesunden verändert ist. Die Zellaktivität hängt ganz entscheidend von der Intaktheit ihrer Plasmamembranen ab. Eine Phospholipid-Cholesterin-Schicht reguliert die Impulsübertragung sowie die prä- und postsynaptische Freisetzung und Aufnahme von Neurotransmittern. Strukturelle und metabolische Veränderungen in der Zellmembran beeinflussen so die Funktionsfähigkeit von assoziierten Rezeptoren, Ionenkanälen, Enzymen und Second-Messenger-Systemen. Das Verhalten dieser Proteine wird besonders durch die Art der Fettsäuren, in die sie eingebettet sind, beeinflusst. In diesem Zusammenhang wurde eine Erniedrigung essenzieller Fettsäuren im Liquor von Patienten mit schizophrenen Störungen beschrieben. Die Membranhypothese ist auch deshalb von Interesse, da eine Störung der Zellstruktur eine Erklärung für verschiedenste neuroanatomische, morphologische, biochemische und funktio127
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nelle Veränderungen sein könnte. Zudem ist der Aufbau der intakten Zellmembran von genetischen Determinanten abhängig. Darüber hinaus können auch exogene Einflüsse (virale Infektionen, immunologische Reaktionen oder Fehlernährung) bereits pränatal diesen Entwicklungsprozess stören. 1.6.5 Psychodynamische Modellvorstellungen Sigmund Freud hielt die schizophrene Störung für den Ausdruck einer Regression auf die narzisstische Ebene der Libidoentwicklung, ein Entwicklungsstadium also, in dem das Ich noch nicht ausreichend differenziert ist: Der Betroffene zieht sich aus seinen Objektbeziehungen zurück. Obwohl Freud bei schizophrenen Psychosen die psychoanalytische Therapie nicht für angezeigt hielt, eröffnete er den Weg zu deren psychologischer Erforschung. Schizophrene Störungen werden heute im Rahmen der genannten Theorien auf Störungen der frühkindlichen Beziehung zur Mutter zurückgeführt. Es wird angenommen, dass der Betroffene mit der Bewältigung einer übermächtigen Angst und mit der Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse zu kämpfen hat; es bestünden also Auseinandersetzungen, die in der Krankheitsgegenwart wohl symbolisch sind, in der frühen Kindheit jedoch real – ohne Erfolg – geführt worden sind. Psychoanalytische Überlegungen zur Schizophreniegenese wurden in der Folge in das psychiatrische Denken einbezogen (E. Bleuler, C. G. Jung), wobei einige Autoren diese Theorien mehr auf die Ausgestaltung psychotischen Erlebens als auf dessen Ursache bezogen. 1.6.6 Familieninteraktion und schizophrene Störungen In den familiendynamischen Überlegungen zur Genese schizophrener Störungen nahm lange Zeit hindurch die „Double-Bind-Hypothese“ eine besondere Stellung ein. Sie beschreibt eine widersprüchliche Kommunikationsweise, bei der z. B. der mimische und gestische Ausdruck der verbalen Botschaft grob widerspricht. Das Kind kann auf das verwirrende Beziehungsmuster nicht reagieren, ohne familiäre Spielregeln zu verletzen und somit bestraft zu werden. In der aktuellen Literatur über Angehörigenverhalten wird die Double-Bind-Hypothese nicht mehr als schizophrenietypisch, sondern als ein ubiquitär vorkommendes kommunikatives Phänomen dargestellt. Eine kausalätiologische Beziehung der Familiendynamik zur Entstehung einer schizophrenen Störung ist nach heute vorliegenden Befunden auszuschließen. Vieles spricht aber für Wechselwirkungen zwischen Krankheitsverläufen und emotionalen Belastungen durch familiäre Interaktionen, die wiederum auf ein verstärktes Krankheitsrisiko des vulnerablen, prädisponierten Familienmitglieds zurückwirken können. Dem längst überholten Konzept der „schizophrenogenen Mutter“ mit deren Double-Bind-Kommunikation wurde das emotionale Überengagement („High-Expressed-Emotion“) der Familie gegenübergestellt. Dabei ist eine typische Eigenart der affektiven Kommunikation relevant. Dazu zählen Kritikhäufigkeit bis Feindseligkeit, Schuldzuschreibung, Einmischungen und Überfürsorge. Diese Kommunikationsmuster sind nicht familientypisch, sondern an Einzelpersonen gebunden. Vielen krankheitsbedingten Verhaltensstörungen von Patienten 128
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
mit schizophrenen Störungen stehen Angehörige verständnislos gegenüber. In Folge schwanken Eltern und Familienangehörige zwischen emotionalem Überengagement und feindseliger Ablehnung des Kranken. Dieses Verhalten wurde als Ursache eines ungünstigen Krankheitsverlaufes interpretiert: Die Krankheit überfordert die gesamte Umgebung des Patienten, besonders wenn Angehörige hohe Erwartungen in den Kranken gesetzt haben, aber über Symptomatik und Verlauf der Erkrankung nicht informiert wurden und keine entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen oder psychotherapeutische Hilfen erfuhren. Unabhängig von der Diagnose belasten das Lebensziel verändernde Erkrankungen Eltern und Angehörige; diese sind von Zukunftssorgen und Schuldzuschreibungen, von Ängsten und Selbstvorwürfen geplagt und erschüttert. Daraus erwachsen emotionale Spannungen, die das Befinden des Patienten negativ beeinflussen können. Nach der Einführung der Antipsychotika verminderte sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer schizophren erkrankter Patienten in Kliniken drastisch. Es ist deshalb heute der großen Mehrheit der chronisch Kranken möglich, außerhalb klinischer Einrichtungen zu leben, wodurch aber für Familienmitglieder therapeutische und pflegerische Aufgaben entstehen, denen sie oft nur unzureichend gewachsen sind. Dadurch wird das emotionale Überengagement noch gesteigert. Angehörige benötigen somit dringend Beratung und begleitende Fürsorge. 1.6.7 Soziologische Modellvorstellungen Antipsychiatrische Soziologen schrieben den peristatischen Faktoren, besonders dem niederen sozialen Milieu, der Frustration des missglückten sozialen Aufstiegs und – ganz allgemein – dem herrschenden Gesellschaftssystem ätiopathogenetisch wirksame Stressfunktionen zu. Kontrollierte Studien konnten diese Thesen weitgehend entkräften. Der Sozialstand schizophren Erkrankter entspricht zum Zeitpunkt der Erstmanifestation der Erkrankung dem ihrer Väter. Nach mehrjährigem Krankheitsverlauf sinken viele Patienten bezüglich ihres soziokulturellen Funktionsniveaus ab. Die Ausbildung ist bei der Mehrzahl der Patienten deutlich qualifizierter als sie der späteren Berufsausübung entspricht. Kognitive Beeinträchtigungen und Kommunikationsstörungen bestehen oft schon viele Jahre vor der akuten schizophrenen Krise. Dies erklärt eine soziale Benachteiligung der Betroffenen, lange bevor sie akut erkranken. Aus diesen Gründen müssen sich Betroffene häufig mit weniger qualifizierten Arbeiten begnügen, haben oft weniger Freunde und Kollegen und können schwerer tragfähige Partnerschaften eingehen. Die soziale Beeinträchtigung ist bei Frauen geringer. Der spätere Erkrankungsbeginn bedingt eine bessere soziale Eingliederung, oft bestehen bereits eine tragfähige Partnerschaft und eine abgeschlossene Berufsausbildung. Aufgrund der geringen sozialen Integration ist bei Männern in vielen Fällen der Krankheitsverlauf dramatischer. Die Tatsache, dass im großstädtischen Milieu 45 % aller schizophren Erkrankten den unteren sozialen Klassen angehören, wird durch die oben angeführten Selektionsmechanismen erklärt.
129
Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
In den Großkrankenhäusern entwickelten früher viele Patienten im Laufe der Zeit eine große Passivität, sie lebten in weitgehender Übereinstimmung mit den Gewohnheiten und den Werten der Anstalt, sodass der Wunsch schwand, das Krankenhaus zu verlassen und außerhalb ein anderes Leben zu führen. Folgen des Hospitalismus sind aber auch außerhalb von Krankenhäusern zu beobachten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass soziale Faktoren in Form von krankheitsfördernden Reizkonfigurationen, aber auch von protektiven Konstellationen den Verlauf der Erkrankung mitbestimmen.
1.7
Therapie
Jedes therapeutische Vorgehen ist engstens an die Entstehungstheorie der Erkrankung gebunden. Wenn wir vom Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell der Schizophrenie ausgehen und darunter eine Verminderung der Fähigkeit des Betroffenen verstehen, Stressoren entsprechend zu bewältigen, dann resultieren daraus verschiedene therapeutische Notwendigkeiten: • Reizabschirmende Medikamente: Antipsychotika reduzieren die Gefahr der Überstimulation und erleichtern die Informationsverarbeitung. • Psychotherapeutische Verfahren: Diese zielen primär auf die Verbesserung der kognitiven Defizite, auf eine Beeinflussung der Familiendynamik sowie auf eine Stärkung und Stabilisierung der Ich-Funktionen. • Soziotherapeutische (rehabilitative) Maßnahmen: Die psychosoziale Stützung erfolgt durch spezifische Trainingsprogramme unter Einbeziehung therapeutischer und rehabilitativer Strukturen und durch Einbindung entsprechend geschulter Angehöriger. Da die Erkrankung einerseits eine neurobiologische Grundlage hat, andererseits durch äußere psychosoziale Bedingungen beeinflusst wird und sich aus beiden Faktoren sekundäre Störungen ableiten, ergibt sich zwangsweise die Forderung, die angewandten Therapieformen als integrative und nicht als alternative Maßnahmen zu verstehen. Eine konsequent durchgeführte psychopharmakologische Medikation ist jedoch die Voraussetzung aller Therapiebemühungen, sowohl der Sozio- als auch der Psychotherapie. Auswahl und Gewichtung der therapeutischen Interventionen richten sich nach den psychopathologischen Prägnanztypen und nach den psychosozialen Ressourcen des Betroffenen.
1.8
Therapie mit Antipsychotika
Mit der Synthese des Chlorpromazin 1950 und der darauf folgenden Entdeckung seiner antipsychotischen Wirksamkeit durch die französischen Psychiater Jean Delay und Pierre Deniker wurde der entscheidende Schritt zur Entwicklung und Anwendung 130
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
jener Medikamente getan, die wir heute – in Analogie zu den „Antidepressiva“ – als „Antipsychotika“ bezeichnen, da die bisher übliche Benennung „Neuroleptika“ einige terminologische Unschärfen in sich birgt. Es folgte 1958 durch Paul Janssen die Entdeckung des Haloperidol, des ersten Antipsychotikums aus der Gruppe der Butyrophenone, und schließlich die Entwicklung strukturchemisch und pharmakologisch neuer antipsychotischer Substanzen, wie Clozapin, Sulpirid und Risperidon (siehe Tabellen 10–12). 1.8.1
Biochemische und pharmakologische Eigenschaften von Antipsychotika
Die heute gebräuchlichen Antipsychotika lassen sich in drei große Gruppen unterteilen: 1. trizyklische Verbindungen, 2. Butyrophenon- und Diphenylbutylbiperidenderivate, 3. Benzamidderivate und andere Substanzen. Die therapeutische Hauptwirkung der Antipsychotika beruht auf ihrer Fähigkeit zur Blockade der postsynaptischen Dopaminrezeptoren im mesolimbischen System. Die dämpfende und reizabschirmende Wirkung basiert wahrscheinlich vor allem auf antinoradrenergen Mechanismen im Bereich der Formatio reticularis. Die antidopaminerge Wirkung im nigrostriären System führt zu extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen. Die Blockade der Dopaminrezeptoren im tuberoinfundibulären System bedingt einen deutlichen Anstieg des Prolaktinspiegels und kann zu Galaktorrhoe und Gynäkomastie Anlass geben, die Blockade der Chemorezeptorentriggerzone der Area postrema und peripher an den Dopaminrezeptoren des Magens ist für die antiemetische Wirkung der Antipsychotika verantwortlich. Die meisten Antipsychotika besitzen auch noch zentrale und periphere • anticholinerge, • antialphaadrenerge, • antiserotonerge und • antihistaminerge Eigenschaften in unterschiedlicher Ausprägung. Diese werden vorwiegend mit den unerwünschten Arzneimittelwirkungen in Verbindung gebracht. Die verschiedenen Antipsychotika besitzen eine unterschiedliche Affinität zu den D1- und D2-Rezeptoren: Psychopharmaka mit hoher antipsychotischer Wirksamkeit zeichnen sich zumeist durch eine ausgeprägte D2-Rezeptorenblockade aus. Die feste Bindung an D2-Rezeptoren im nigrostriären Bereich ist auch für die Auslösung extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen verantwortlich. Eine möglichst selektive Dopaminrezeptorblockade im mesolimbischen System durch Antipsychotika wäre deshalb wünschenswert. Eine Blockade der Serotoninrezeptoren im mesokortikal-mesolimbischen System bei schizophrenen Störungen soll allerdings auch therapeutische
131
Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
Relevanz besitzen: Selektive 5HT2-Antagonisten wirken anxiolytisch und stimmungsaufhellend und scheinen sich bei der Negativsymptomatik zu bewähren. Kombinierte D2-5HT2-Antagonisten zeigen auch eine geringere Inzidenz extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen. Die α1-Noradrenalin-Rezeptorblockade wird verantwortlich gemacht für kardiovaskuläre Nebenwirkungen (orthostatische Hypotension, Tachykardie) sowie für Nebenwirkungen wie Schwindel, Müdigkeit und Libidoverlust. Die Blockade von Histaminrezeptoren kann zu Somnolenz, Hypotension und Gewichtszunahme führen. Anticholinerge Nebenwirkungen beinhalten Obstipation, Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen und Harnverhalten. 1.8.2 Klassische und „atypische“ Antipsychotika Die klassische Einteilung der Antipsychotika in hochpotente und niederpotente beruht auf deren antipsychotischer Potenz. Darunter versteht man die Dosis des jeweiligen Medikamentes in mg, die zur ausreichenden Blockade von D2-Rezeptoren nötig ist. Um ihre antipsychotische Wirkung zu entfalten, benötigen niederpotente Pharmaka eine höhere Dosierung. Unterschiede zwischen den einzelnen Antipsychotika ergeben sich auch hinsichtlich des Nebenwirkungsprofi ls. Antipsychotika werden zumeist oral eingenommen (siehe Tabelle 10), allerdings stehen sowohl für die Akut- wie auch für die Langzeitbehandlung parenteral applizierbare Antipsychotika zur Verfügung (siehe Tabelle 11). Nach der Entwicklung von Clozapin wurde der Begriff der „atypischen“ im Gegensatz zu den klassischen („typischen“) Antipsychotika eingeführt. Im Vergleich zu den klassischen zeichnen sich die „atypischen“ Antipsychotika durch eine sehr gute antipsychotische Wirkung bei geringeren bis fehlenden extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen aus. Auf der Transmitterebene wird ein hoher 5HT2-D2-BlockadeQuotient als Unterscheidungsmerkmal angegeben. Die „atypischen“ Antipsychotika weisen darüber hinaus eine bevorzugte Blockade mesolimbischer und eine geringere Blockade nigrostriärer D2-Rezeptoren und eine verstärkte D1-Rezeptor-Blockade auf. Da es fließende Übergänge zwischen klassischen und „atypischen“ Substanzen gibt, bevorzugen wir den Begriff „neuere Antipsychotika“ bzw. „Antipsychotika der zweiten und dritten Generation“.
132
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
Zu den neueren Antipsychotika zählen (siehe auch Tabellen 10 bis 12): • Amisulprid • Aripiprazol (3. Generation) • Clozapin • Olanzapin • Paliperidon • Quetiapin • Risperidon • Sertindol • Ziprasidon • Zotepin. Tabelle 10 Peroral zu verabreichende Antipsychotika Substanzklasse
Generischer Name
Handelsname (Auswahl)
Übliche Erwachsenendosis mg/Tag
Phenothiazine
Levomepromazin Perphenazin
Nozinan Decentan
150–300 mg 12–42 mg
Thioxanthene
Chlorprothixen Flupenthixol Zuclopenthixol
Truxal Fluanxol Cisordinol
100–300 mg 5–15 mg 20–40 mg
Azaphenothiazine
Prothipendyl
Dominal
80–640 mg
Butyrophenone
Haloperidol Melperon
Haldol Buronil
3–15 mg 50–300 mg
Diphenylbutylpiperidine
Pimozid
Orap
Benzamide
Sulpirid Amisulprid
Dogmatil Solian
400–1200 mg 50–800 mg
Dibenzodiazepine
Clozapin Olanzapin Quetiapin
Leponex Zyprexa Seroquel
200–450 mg 5–20 mg 400–750 mg
Phenolindole
Sertindol
Serdolect
12–20 mg
Dibenzothiepine
Zotepin
Nipolept
100–300 mg
Benzisoxazole
Risperidon Paliperidon
Risperdal Invega
3–6 mg 3–9 mg
Benzothiazoyl-Piperazine
Ziprasidon
Zeldox
80–160 mg
Chinolone
Aripiprazol
Abilify
15–30 mg
2–10 mg
133
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Tabelle 11 Antipsychotika zur akuten parenteralen Anwendung Substanzklasse
Generischer Name
Handelsname (Auswahl)
Phenothiazine
Chlorpromazin Dixyrazin Levomepromazin Triflupromazin
Largactil Esucos Nozinan Psyquil
Thioxanthene
Chlorprothixen Zuclopenthixol
Truxal Cisordinol
andere trizyklische Antipsychotika
Prothipendyl
Dominal
Butyrophenone
Haloperidol Melperon
Haldol Buronil
Chinolone
Aripripazol
Abilify
Dibenzodiazepine
Olanzapin
Zyprexa
Benzothiazol-Piperazine
Ziprasidon
Zeldox
1.8.3 Therapieführung Patienten mit schizophrenen Störungen bedürfen einer pharmakologischen Behandlung: Antipsychotika sind dabei die Medikamente der ersten Wahl. Sie verkürzen die akute schizophrene Episode und verringern das Risiko von Rezidiven. Die Prognose schizophrener Störungen ist im Wesentlichen von der Dauer bis zum Behandlungsbeginn und der Anzahl der Schübe abhängig. Mit zunehmender Erkrankungshäufigkeit und -dauer wird die Therapieführung schwieriger. Ein rascher Einsatz von Antipsychotika bei Patienten mit Erstmanifestation führt bei zwei Drittel der Patienten nach etwa einem halben Jahr zur Symptomremission. Eine konsequente antipsychotische Prophylaxe senkt die Ein-Jahres-Rezidivrate von 75 % auf 20 %. Da über 50 % aller Patienten Compliance-Probleme entwickeln, sind therapiefördernde Maßnahmen integrative Bestandteile jeder ärztlichen Bemühung. Die Zielsymptome für antipsychotische Therapien sind breit gefächert, die spezifische Zuordnung eines bestimmten Medikamentes zu einer umschriebenen Symptomatik ist nicht möglich. Die Auswahl des Pharmakons erfolgt unter Berücksichtigung des individuellen Nutzen-/Risikoprofi ls. Clozapin kann auch bei therapieresistenten Patienten mit schizophrenen Störungen noch eine deutliche Besserung bewirken. Es ist jedoch aufgrund des Agranulozytose-Risikos nicht als Medikament der ersten Wahl einzusetzen. Antipsychotika mit vorwiegend dämpfender (sedierender) Wirkung eignen sich besonders für die Behandlung von psychomotorischen Erregungszuständen. Bei akuten psychotischen Zustandsbildern ohne begleitende Agitation, in der Langzeitbehandlung schizophrener Störungen sowie in der Rückfallsprophylaxe bei remittierten schizophren Erkrankten wird Substanzen, die nicht sedieren, der Vorzug gegeben. Bei den Antipsychotika unterscheiden wir eine sedierende und eine antipsychotische Wirkung im engeren Sinn. Unter antipsychotischer Wirkung verstehen wir pri-
134
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
mär die Beeinflussung von Halluzinationen und Wahnsymptomen sowie von Rückzug und Autismus. Diesem Wirkprofi l entsprechend unterscheiden wir bei Schizophreniepatienten folgende Hauptindikationen für Antipsychotika: • Behandlung akuter psychotischer Störungen, • Behandlung chronisch schizophrener Störungen, • Erhaltungstherapie im Rahmen der Rezidivprophylaxe. Die Vorteile der länger wirksamen, injizierbaren Antipsychotika, der Depotantipsychotika (siehe Tabelle 12), liegen für die Langzeitbehandlung in einer deutlichen Reduktion der verabreichten Gesamtmenge an antipsychotischer Wirksubstanz aufgrund der Umgehung des First-Pass-Effektes, im Wegfall der täglichen Medikamenteneinnahme und in einem verbesserten Compliancemanagement. Tabelle 12 Depotantipsychotika (intramuskulär) Substanzklasse
Generischer Name
Handelsname (Auswahl)
Therapeutischer Dosisbereich in mg (mittlere Injektionsintervalle)
Thioxanthene
Flupentixol-Decanoat Zuclopenthixol-Decanoat
Fluanxol Depot Cisordinol Depot
ambulant 20-40 mg (2–4 Wochen) 100–750 mg (2 Wochen)
Zuclopenthixol-Azetat
Cisordinol Acutard
50–150 mg (2–3 Tage)
Butryphenone
Haloperidol-Decanoat
Haldol Decanoat
50–150 mg (4 Wochen)
Benzisoxazole
Risperidon-Depot
Risperdal Consta
25–50 mg (2 Wochen)
Paliperidon-Palmitat
Xeplion
50–150 mg (4 Wochen)
Olanzapin-Pamoat
Zypadhera
150–405 mg (2–4 Wochen)
Dibenzodiazepine
Da Antipsychotika in vielen Fällen über Jahre verabreicht werden müssen, sind die in Tabelle 13 aufgeführten Richtlinien für begleitende Untersuchungen zu beachten.
135
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Tabelle 13 Richtlinien für Routineuntersuchungen bei der Therapie mit Antipsychotika Vor Therapiebeginn
Monate
Halbjährlich
I
II
III
IV
V
VI
Blutbild (bei Einnahme trizyklischer Antipsychotika)
1×
4×
4×
3×
2×
1×
1×
1×
Blutbild* (bei Einnahme anderer Antipsychotika)
1×
1×
1×
1×
1×
1×
1×
1×
RR/Puls
1×
2×
2×
2×
1×
1×
1×
1×
Nierenfunktionsparameter
1×
1×
1×
1×
Leberfunktionsparameter
1×
1×
1×
1×
1×
1×
Nüchtern-Glucose
1×
1×
1×
1×
1×
1×
Nüchtern-Lipide
1×
1×
EKG
1 ×a
EEG
1×
Gewicht/BMI
1×
Hüftumfang
1×
1×
1×
1 ×a
1 ×a
1 ×a 1 ×b
1×
1×
1×
1×
1×
1×
1×
1× 1×
a Bei Patienten über 50 Jahre, bei kardiovaskulären Störungen und bei Verordnung trizyklischer Antipsychotika. b Bei Patienten mit hirnorganischen Störungen und Kombinationstherapien. *Ausnahme: Clozapin erfordert in den ersten 18 Behandlungswochen wöchentliche Blutbildkontrollen, anschließend in einmonatigen Abständen.
1.8.4 Nebenwirkungen von Antipsychotika Vor Einleitung einer Antipsychotikatherapie ist es ärztliche Pflicht, den Patienten über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären. Besonders die extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen können bei unvorbereiteten Patienten Beunruhigung hervorrufen, wodurch auch das Vertrauensverhältnis zum behandelnden Arzt stark belastet wird. Die Entscheidung, einen Patienten auf ein bestimmtes Präparat einzustellen, muss seine individuelle Empfindlichkeit gegenüber unerwünschten Wirkungen und das Nebenwirkungsprofi l des Medikamentes berücksichtigen. Im Einzelnen wurden bei der Einnahme von Antipsychotika folgende Nebenwirkungen beschrieben: • Störungen des Erlebens und Verhaltens: dysphorische Reaktionen, Sedierung, Delirien. • Neurologische Nebenwirkungen: akute Dyskinesien und Dystonien, Parkinsonsyndrom, Akathisie, Spätdyskinesien, malignes neuroleptisches Syndrom, Störungen der Thermoregulation, zerebrale Krampfanfälle.
136
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• Störungen des autonomen Nervensystems und kardiovaskuläre Störungen: arterielle Hypotonie und Orthostasesyndrom, EKG-Veränderungen, Herzrhythmusstörungen, Mundtrockenheit, Obstipation, Ileus, Harnretention, Akkomodationsstörungen. • Leberfunktionsstörungen: Erhöhungen der Transaminasen, cholestatischer Ikterus. • Blutbildveränderungen: passagere Leukozytose, Eosinophilie, Lymphozytose, Leukopenie, Agranulozytose. • Stoff wechselstörungen: Störungen des Glukose- und Lipidstoff wechsels, Gewichtszunahme. • Endokrine und sexuelle Störungen: Galaktorrhoe, Gynäkomastie, Menstruationsstörungen, Störungen des Sexualerlebens und -verhaltens. • Hautstörungen: Allergien, Photosensibilisierung. • Augenstörungen: Linsentrübungen, Hornhauttrübungen, Pigmentablagerungen in der Retina. • Absetzerscheinungen. • Plötzliche Todesfälle. Die beim Gebrauch von Antipsychotika auft retenden Nebenwirkungen werden im Sinne der Nutzen-Risiko-Relation in häufige und seltene eingeteilt (Tabelle 14). Tabelle 14 Relativ häufige und seltene Nebenwirkungen von Antipsychotika Relativ häufig
Selten
Sedierung
Agranulozytose
Reduzierte Konzentrationsfähigkeit
Malignes neuroleptisches Syndrom
Extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen
Epileptische Anfälle
Benigne Blutbildveränderungen
Herzrhythmusstörungen
Transiente Leberstörungen
Ophthalmologische und dermatologische Nebenwirkungen
Stoffwechselstörungen
Plötzliche Todesfälle
Endokrine Störungen Vegetative Symptome
1.8.5 Häufige Nebenwirkungen Zu diesen zählen – besonders zu Behandlungsbeginn – Erscheinungen wie Sedierung und damit verknüpfte herabgesetzte Konzentrationsfähigkeit. Beides bessert sich normalerweise im Verlauf der Therapie; nur selten wird eine Dosisreduktion oder das Umsteigen auf ein anderes Antipsychotikum notwendig. Die akuten Wirkungen auf das extrapyramidalmotorische System sind für Patienten unangenehm. Dazu gehören Frühdyskinesien und das Parkinsonsyndrom sowie die Akathisie. Diese ist geprägt von einer charakteristischen motorischen sowie auch in137
Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
neren Unruhe, findet sich vorwiegend in den unteren Extremitäten und manifestiert sich unter anderem – im Stehen – als Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere („auf der Stelle treten“) sowie unruhigem Auf- und Abgehen. Diese Nebenwirkung findet sich bei ca. 25 % der akut oder chronisch mit Antipsychotika behandelten Patienten und gefährdet häufig deren Compliance. Therapeutisch ist neben einer Dosisanpassung des Neuroleptikums die Gabe von zentral wirksamen β-Blockern am besten belegt. Unter dem Namen Frühdyskinesien fasst man dystone Bewegungsstörungen wie Blickkrämpfe, Trismus, Opisthotonus, Zungen- und Schlundkrämpfe sowie choreatisch-athetoide Bewegungsstörungen im Bereich des Halses und der oberen Extremitäten zusammen. Diese auch dramatisch erlebten Zustände lassen sich durch Gabe von Anticholinergika gut behandeln. Frühdyskinesien treten im Allgemeinen in den ersten Behandlungstagen oder nach Dosiserhöhung auf. Sie können sich in Einzelfällen aber auch schon nach einmaliger Gabe eines Antipsychotikums manifestieren. Das Parkinsonsyndrom ist durch Rigor, Verlust der spontanen Motorik, Hypo- oder Amimie, Tremor und Akinese gekennzeichnet. Es tritt erst nach ein- bis zweiwöchiger Behandlung auf und lässt sich ebenso wie die Frühdyskinesien durch die Gabe von anticholinergen Antiparkinsonmitteln gut behandeln. Akute extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen manifestieren sich vor allem beim Einsatz klassischer, hochpotenter Antipsychotika, die individuelle Empfindlichkeit der Patienten ist jedoch sehr unterschiedlich. Dadurch ergibt sich bei Langzeittherapien die Notwendigkeit, für jeden Patienten das optimale Präparat individuell festzulegen. Im Gegensatz zu den akuten extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen treten die Spätdyskinesien erst nach (zumindest monate-)langer Behandlung mit Antipsychotika auf. Unter späten oder tardiven Dyskinesien versteht man diskrete bis intensive choreoathetotische Bewegungen, vorwiegend im Gesichtsbereich, die sich zu Beginn meist als unwillkürliche Bewegungen der Zunge oder als Kauen oder Schmatzen manifestieren. Gefährdet sind vor allem Patienten im höheren Lebensalter und solche mit zerebrovaskulären oder traumatischen Vorschädigungen. Spätdyskinesien können irreversibel bleiben, eine medikamentöse Beeinflussung ist schwierig. Wichtig sind hier vor allem Prophylaxe und Früherkennung. Bei manifester Erkrankung kann die Umstellung auf „atypische“ Antipsychotika von Nutzen sein. Die Inzidenz von akuten und chronischen extrapyramidalen Nebenwirkungen ist unter einer Therapie mit neueren Antipsychotika deutlich geringer als unter klassischen Antipsychotika. Neben den extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen klagen Patienten vor allem über vegetative Symptome. Häufig sind Hypotonie und Orthostaseneigung, vorwiegend bei Verwendung von niederpotenten Antipsychotika. Aber auch Mundtrockenheit, Tachykardie, Akkomodations- und Miktionsstörungen sind als Folgen der anticholinergen Wirkung vieler Antipsychotika zu beobachten. Nach Einleitung einer antipsychotischen Therapie kommt es in den ersten Wochen öfter zu einem transienten Anstieg der Transaminasen. Die Befunde normalisieren sich jedoch zumeist innerhalb von zwei bis vier Wochen auch bei Weiterführung der Therapie.
138
Schizophrenie, schizotpye und wahnhafte Störungen | 4
Bei lang währenden Antipsychotikatherapien sind verschiedene endokrinologische Störungen möglich. Am häufigsten sind Störungen des Menstruationszyklus und Gewichtszunahme (verbunden mit einem erhöhten Risiko für Störungen des Glukoseund Lipidstoff wechsels, besonders unter der Behandlung mit Clozapin und Olanzapin). Verschiedenste Beeinträchtigungen des Sexualerlebens und -verhaltens werden auf eine Erhöhung des Prolaktinspiegels zurückgeführt und vor allem in Folge einer Therapie mit älteren Antipsychotika, aber auch unter Amisulprid und Risperidon beschrieben. 1.8.6 Seltene Nebenwirkungen Im Rahmen der Therapie kann es auch zu Blutbildveränderungen in Form von passageren Leukopenien, Eosinophilien oder relativen Lymphozytosen kommen. Diese Störeffekte sind genau zu überwachen, stellen jedoch zumeist keinen Grund für einen Therapieabbruch dar. Sie werden unter den seltenen Nebenwirkungen angeführt, weil sie selten klinische Relevanz haben. Beim sehr seltenen Auft reten einer Agranulozytose jedoch muss das Präparat sofort abgesetzt werden. Clozapin führt bei ungefähr einem Prozent der Behandelten zu dieser potenziell tödlichen Nebenwirkung. Bei Verwendung dieses – häufig unentbehrlichen – Präparates sind daher engmaschige Blutbildkontrollen vorgeschrieben. Zu den sehr seltenen Nebenwirkungen zählen Störungen der Temperaturregulation, verschiedene dermatologische und ophthalmologische Störungen sowie anticholinerge Delirien. Das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) ist eine extrem seltene schwerwiegende Komplikation. Leitsymptome des MNS sind Hyperthermie, ein gesteigerter Tonus der Skelettmuskulatur, der nicht selten mit einer Rhabdomyolyse vergesellschaftet ist, und eine stark undulierende Bewusstseinslage. Der dramatische, in 20 % tödliche Verlauf zwingt zu intensivmedizinischer Behandlung. Diese ist vorwiegend auf eine unspezifische Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen zentriert. Das verantwortliche Psychopharmakon ist sofort abzusetzen, zusätzlich haben sich der Dopaminagonist Bromocriptin und das Muskelrelaxans Dantrolen therapeutisch als günstig erwiesen. Kasuistiken berichten von plötzlichen Todesfällen nach Einnahme eines Antipsychotikums. Die Frage nach einem kausalen Zusammenhang wird kontrovers beantwortet. Erklärungen könnten eine durch Antipsychotika akzentuierte Apnoesymptomatik oder Arrhythmien sein. Manche Antipsychotika setzen die Krampfschwelle herab, zerebral vorgeschädigte Patienten können somit epileptische Anfälle erleiden. 1.8.7 Mögliche Nebenwirkungen in Schwangerschaft und Stillzeit Obwohl Antipsychotika wahrscheinlich nicht teratogen sind, empfiehlt es sich, sie besonders in der frühen Schwangerschaft nur bei strenger Indikationsstellung anzuwenden. Am besten untersucht sind Haloperidol und Phenothiazine, die lediglich mit einem leichtgradig erhöhten Fehlbildungsrisiko in Verbindung gebracht werden. Die Erfahrungen mit neueren Antipsychotika in der Schwangerschaft sind begrenzt, bis-
139
Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
her wurde jedoch kein eindeutiger Anhalt für ein erhöhtes Malformationsrisiko gefunden. Da Antipsychotika in unterschiedlichem Umfang in die Muttermilch übergehen und somit Nebenwirkungen hervorrufen können, ist im Regelfall vom Stillen abzuraten.
1.9
Pharmakotherapie affektiver und kognitiver Begleitsymptome und der Negativsymptomatik
Jahrzehntelang galt die Verringerung von Positivsymptomen (Halluzinationen, Wahnvorstellungen etc.) als Schwerpunkt der Therapie von schizophrenen Störungen. Erst in den vergangenen 10 bis 15 Jahren rückte die Behandlung von affektiven und negativen Symptomen (Anhedonie, Motivationsdefizit etc.) zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Diese Entwicklung entstand einerseits aus der Erkenntnis, dass diese Symptome mit einem schlechten subjektiven und funktionellen Outcome korrelieren, andererseits war sie auch durch die Entwicklung von Antipsychotika der zweiten Generation bedingt, welche den klassischen Substanzen in der Behandlung der affektiven Begleitsymptome und der Negativsymptomatik überlegen sind. In jüngerer Zeit zeigte sich allerdings, dass kognitive Defi zite jenen Faktor darstellen, welcher den funktionellen Outcome von Patienten mit schizophrenen Störungen am meisten bestimmt, und zwar mehr als Positiv- oder Negativsymptome. Es gilt als gesichert, dass die neuropsychologischen Defizite keinesfalls Konsequenzen der antipsychotischen Behandlung sind. Antipsychotika der ersten Generation scheinen wenig therapeutische Wirkung auf die Schizophrenie-immanenten kognitiven Defizite zu besitzen und sind diesbezüglich neutral bzw. eher nachteilig einzustufen. Demgegenüber haben Antipsychotika der neueren Generation wahrscheinlich günstigere Effekte auf die kognitiven Funktionen, wenngleich die relativ hohe Dosierung konventioneller Präparate in früheren Studien eventuell zu einer Verzerrung der Ergebnisse geführt haben mag und neuere Untersuchungen einen vergleichbaren Effekt von Antipsychotika der ersten und zweiten Generation beschreiben. Vergleichende Aussagen über eine Überlegenheit der einzelnen Antipsychotika der neueren Generation untereinander bezüglich ihrer Wirkung auf kognitive Funktionen sind im Moment noch kaum möglich.
1.10 Psychotherapie Die Ziele moderner psychotherapeutischer Ansätze bei Patienten mit schizophrenen Störungen sind vielfältig und in der Tabelle 15 zusammengefasst.
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Tabelle 15 Psychotherapeutische Ziele bei Patienten mit schizophrenen Störungen Förderung der Krankheitseinsicht Erarbeiten von Strategien zur Krankheitsbewältigung Optimierung der therapeutischen Beziehung Förderung von Compliance und Behandlungszufriedenheit Verbesserung kognitiver Defizite Verbesserung sozialer Fertigkeiten Beeinflussung der Dynamik des familiären Systems Förderung der Realitätsanpassung Reduktion der Vulnerabilität Identifikation von Stressfaktoren Stärkung der Ich-Funktionen Korrektur von Wahn/Halluzinationen
Insgesamt lassen sich durch kombinierte Behandlungsverfahren (Antipsychotika und psychotherapeutische bzw. soziale Interventionen) Rückfälle weitgehend verhindern. Im Folgenden werden ausschnitthaft einige psychotherapeutische Interventionen skizziert, für deren Wirksamkeit bei Schizophrenie es gute wissenschaft liche Evidenz gibt. Für die Verbesserung kognitiver Defizite und sozialer Fertigkeiten haben sich unter den verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen kognitive Trainingsprogramme am besten bewährt. Diese bestehen aus speziellen Programmen mit sowohl kognitiver als auch sozialpädagogischer Gewichtung. In den ersten Schritten werden einzelne kognitive Störungen bearbeitet. Das Therapiematerial wird zunehmend komplexer und der spezifischen Situation des Patienten angepasster. Gleichzeitig werden auch die erforderlichen gruppenbezogenen Interaktionen in quantitativer und qualitativer Hinsicht anspruchsvoller. Erst später erfolgt das Einüben sozialer Strategien, die vor allem eine Problembewältigung auf einem niedrigen emotionalen Erregungsniveau ermöglichen. Diese Programme basieren auf lerntheoretischen Prinzipien (strenges Lernvorgehen in kleinen Lernschritten, Anwendung von Bekräftigungen, Rückmeldungen, Angehen des Motivationsproblems u. a.). Die lerntheoretische Grundorientierung dient auch zur Schaff ung von Strukturen, die den soziokulturellen Ressourcen des Patienten entsprechen. Die Entwicklung sowohl über- als auch unterfordernder Lebensbedingungen wird damit verhindert, was Rehabilitationsbemühungen erleichtert. Kognitive Verhaltenstherapie umfasst verschiedene Interventionsansätze, die einerseits zur Behandlung von psychotischen Symptomen und andererseits zur Veränderung kognitiver Krankheitsbewältigungsprozesse eingesetzt werden. Der Begriff der Psychoedukation beschreibt systematische, didaktisch-psychotherapeutische Interventionen, die Patienten und deren Angehörige über die Erkrankung und deren Behandlung informieren und bei der Krankheitsbewältigung unterstützen. 141
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Familientherapeutische Ansätze weisen in der Beeinflussung der Familiendynamik schizophren Erkrankter die besten Erfolge auf. Psychotherapeutische Familienprogramme beinhalten folgende Elemente: 1. Kontaktaufnahme und Motivation der Familie, Strategien zu erlernen, um sich und dem Patienten zu helfen. 2. Information der Familie: Diese erhält genaue Informationen über die Erkrankung und über Techniken, besser mit dem Patienten umzugehen (Vermeidung von Überstimulation usw.) 3. Bearbeitung von gestörten Interaktionsmustern zwischen einzelnen Familienmitgliedern (Gefahren der Über- bzw. Unterversorgung usw.). 4. Schrittweise Reduktion der Sitzungen (langsames Sichzurücknehmen des Therapeuten). Eventuell periodische, stützende Kontakte. Supportive Maßnahmen dienen dazu, in einer Akzeptanz und Wärme vermittelnden Umgebung auf die Grundbedürfnisse des Patienten einzugehen und an aktuellen Problemlagen orientiert seine Ressourcen zu stärken. Vielfach überlappen sich Ansätze aus den einzelnen Methoden; vor allem in den Psychoedukationsprogrammen finden sich viele der Einzelelemente wieder.
1.11
Soziotherapie
Soziotherapie umfasst Trainings- und Motivationsmethoden, die die soziale Reintegration zum Ziel haben. Sie setzt somit ein Netzwerk sozialpsychiatrischer Rehabilitationseinrichtungen (Tageszentren, Beratungsstellen, Berufs- und Arbeitstrainingszentren, Tages- und Nachtkliniken, Rehabilitationszentren, geschützte Wohnheime und Wohngemeinschaften) voraus. Die psychosoziale Stützung des Betroffenen erfordert in besonderem Ausmaß die Einbeziehung der Umwelt und beinhaltet die Einleitung von milieu-, beschäftigungs- und arbeitstherapeutischen Maßnahmen. Viele soziotherapeutische Verfahren haben auch psychotherapeutische Anteile, sodass eine scharfe Trennung zwischen diesen beiden Behandlungskonzepten kaum möglich ist; sie fließen ineinander über und werden somit unter dem Begriff „psychosoziale Intervention“ subsumiert. Insgesamt soll die soziotherapeutische Situation auf Informationsvereinfachung hinzielen, worunter ein transparenter, reizadäquater Lebensrahmen mit konstanten Bezugspersonen verstanden wird. Alle Betroffenen sollten einheitlich über die Art der Erkrankung, Therapie und Prognose informiert werden. Hierfür muss der Kommunikationsstil klar und eindeutig sein, wobei vor allem komplizierte, widersprüchliche und affektive Umgangsformen vermieden werden sollen. In der personellen Betreuung und bezüglich des Behandlungskonzepts muss eine Kontinuität vorhanden sein, um klare Behandlungsziele mit realistischer Zukunftserwartung erstellen zu können. Behandlungsstrategien zum Training funktionaler Fertigkeiten, die für eine soziale, berufliche und familiäre Alltagsbewältigung wichtig sind, müssen individuell festgelegt werden. Dazu eignen sich das Training von sozialen Fähigkeiten, das Training 142
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interpersonaler Problemlösungsfertigkeiten sowie Maßnahmen zur Beeinflussung der familiären Verhaltensweisen. Soziotherapeutische Maßnahmen müssen im Rahmen eines individuellen Rehabilitationsprogrammes besonders der Leistungsfähigkeit, der sozialen Anpassungs- und Einbindungsmöglichkeit, der Ausbildung und der Bindungsfähigkeit des Patienten Rechnung tragen. Ihre Bedeutung wird eindrücklich auch durch eine Senkung der Rückfallquoten dokumentiert, wenn sie neben einer antipsychotischen Basistherapie zum Einsatz kommt.
1.12 Angehörigenarbeit Eine erfolgreiche Rezidivprophylaxe setzt auch einen strukturierten Behandlungsrahmen und eine stabile familiäre Umgebung voraus. Allzu gefühlsintensive Situationen und Gruppenprozesse bergen ein erhöhtes Rückfallrisiko in sich. Dies gilt auch für den Umgang mit Angehörigen. Das Hauptziel der professionell geleiteten Angehörigengruppen liegt in der Bemühung, die Rückfallprävention zu optimieren. Gleichzeitig wird den Angehörigen die Möglichkeit gegeben, ihre Erfahrungen im Umgang mit dem psychisch erkrankten Familienmitglied und mit den Reaktionen aus der Umwelt zu reflektieren und in bewusste Leitlinien des Handelns umzusetzen. Nicht zuletzt ermöglicht diese Arbeit auch eine realistische Einschätzung krankheitsbedingter Konsequenzen für alle Familienmitglieder und damit eine bessere Bewältigung der vielen Beeinträchtigungen, die ein erkrankter Verwandter für alle Betroffenen bedeutet. In den meisten Therapieprogrammen, die Familienangehörige einbeziehen, werden zunächst persönliche Erfahrungen erhoben und analysiert, um das Wissen im Umgang mit akuten Krankheitsphasen zu erweitern. Weiters gilt es, bedeutsame Stressfaktoren und kritische Lebensereignisse zu identifi zieren, um diese mit dem Ziel der Rückfallsprävention künftig vermeiden zu können. Da sich die Bedürfnisse von Angehörigen nicht immer mit jenen der Betroffenen decken, gibt es auch speziell auf Angehörige ausgerichtete Psychoedukationsgruppen, an denen die Patienten selbst nicht teilnehmen.
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Fallbeispiel 1 Diagnose: Akute schizophrene Episode Die 28-jährige Patientin wuchs bei Pflegeeltern auf, da die Mutter nicht in der Lage gewesen sei, die Pflege und Erziehung des Kindes zu übernehmen. Zum Vater bestanden keine Kontakte. Die frühkindliche Entwicklung verlief regelrecht, die schulischen Leistungen waren durchschnittlich. Mit großem Einsatz und gutem Erfolg ließ sie sich zur technischen Zeichnerin ausbilden. Wenige Monate nach Übernahme einer Anstellung in einem großen Architekturbüro fiel sie durch unkonzentriertes Verhalten auf. Auf die Kollegen wirkte sie abwesend, die Kommunikation war zunehmend erschwert. Dem Betriebsarzt versuchte sie ihre Konzentrationsstörungen zu erklären. Sie berichtete, stets eine „Linksdenkerin“ gewesen zu sein: was andere Menschen links hätten, habe sie rechts. Darunter hätte sie immer schon gelitten, besonders aber unter dem Verhalten der Menschen, die „Linksdenker“ nicht ausstehen könnten. Das „Linksdenken“ sei auch der Grund, warum sie nun auch schielen müsse. Deshalb habe der (ihr unbekannte) leibliche Vater auch versucht, sie zu beeinflussen. Seit Monaten habe er regelmäßig kleine Mengen Gift in ihre Nahrung gegeben. Dadurch habe er die Herrschaft über ihre Gedanken erlangen und sie nach seinem Willen beeinflussen können. In den letzten Wochen sei sie um 20 Jahre gealtert, ihr Aussehen habe sich stark verändert. Immer wieder höre sie handlungsbegleitende und über sie sprechende Stimmen, meistens würden sie diese aber beschimpfen. Aus diesen Gründen sei sie, so oft sich eine Möglichkeit geboten hätte, in die Berge geflohen. Trotzdem habe sie auch dort immer wieder diese Stimmen gehört. Ihr unbekannte Menschen hätten sich in ihrem Gehirn festgesetzt. Deutlich spüre sie auch, wie ihre Gedanken entzogen würden. Im Gehirn würden ihr immer wieder Stiche zugefügt werden, seltener aber auch im Herzen und in den Nieren. Gelegentlich würden auch fremde Menschen in ihrem Körper Bewegungen durchführen. Dann würden auch ihre Haare davonfliegen. Therapie: Nach Einleitung einer antipsychotischen Therapie mit 4 mg Risperidon besserte sich das Befinden der Patientin, acht Wochen nach einer dreiwöchigen Krankenhausaufnahme konnte sie wiederum in das Architekturbüro zurückkehren. Dort ist sie nun seit sechs Jahren eine beliebte und geachtete Mitarbeiterin. Unter einer sehr gering dosierten antipsychotischen Medikation (1 mg/d) bietet sie ein psychopathologisch vollkommen unauffälliges Bild; der Versuch eines Absetzens der Antipsychotika wurde stets mit erhöhtem Misstrauen und Feindseligkeit beantwortet. Fallbeispiel 2 Diagnose: Schizophrenes Residualsyndrom Der nun 40-jährige Patient steht seit vielen Jahren in Betreuung des regionalen Sozialpsychiatrischen Dienstes. Die erste Aufnahme an der psychiatrischen Klinik erfolgte kurz nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Schulabschluss. In dieser Zeit begann er, Rundfunk- und Fernsehsendungen auf sich zu beziehen, fühlte sich verfolgt und preisgegeben, sodass er glaubte, nur durch eine Flucht in ein anderes Land seinen
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Peinigern entgehen zu können. Da er sich dort in einem Hotelzimmer verbarrikadierte, wurde er des Landes verwiesen und kam erstmals an die psychiatrische Klinik. Er berichtete, Frauen- und Männerstimmen sprächen auf ihn ein, die Stimmen drohten, ihn in einen Behälter zu sperren, wo er ertrinken müsse, sie kommentierten seine Gedanken und gäben ihm Befehle. Seine Gedanken würden – besonders in bestimmten Situationen – wie mit einem Staubsauger abgezogen, häufig seien sie wiederum von außen gemacht. Der Patient glaubte, dass die Stimmen auch seine Gedanken beeinflussten. Oft hatte er den Eindruck, dass er sich nicht selbst bewegte, sondern dass alle seine Bewegungen gelenkt würden. Sich dagegen zu wehren sei unmöglich gewesen. Durch den Einfluss dieser Stimmen konnte er auch nicht seine Gedanken festhalten. Da er gewusst habe, keine einheitliche Person mehr zu sein, entstanden zeitweise große Angstgefühle. Wenn er davon berichtete, hätte er zwangsläufig lachen müssen, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute gesesen sei. Auch dieses Lachen wurde ihm von diesen Stimmen aufgezwungen, es kam nicht von ihm selbst. Unter einer Therapie mit hochpotenten Antipsychotika kam es sehr bald zu einer weitestgehenden Remission der produktiven Symptome. Der Patient trat in den elterlichen Betrieb ein und sollte nach einer Einarbeitungsphase die eigenverantwortliche Führung einer Abteilung übernehmen. Während der Schulungsphase stabilisierte sich sein Befinden zunehmend, er nahm die seit Langem abgebrochenen Kontakte zu seinen Schul- und Sportkameraden wieder auf und war ein gern gesehener Gast bei den gesellschaftlichen Ereignissen seiner Stadt. Bei einem Empfang lernte er eine gleichaltrige Frau kennen, die ihm große Zuneigung entgegenbrachte. Als die Frau nach einjähriger Beziehung zur Hochzeit drängte und das Familienunternehmen dem Patienten weitere Verantwortung übertrug, stellten sich wieder Stimmen ein, die neuerlich kommentierenden und imperativen Charakter aufwiesen. Viele Stunden lang verharrte er in Regungslosigkeit, da er überzeugt war, auch nur die geringste Bewegung müsse eine Katastrophe auslösen. In diesem Zustand erfolgte die zweite Aufnahme. Wiederum klang unter Antipsychotikagaben die psychotische Symptomatik rasch ab. Unter dem Einfluss seiner Mutter konnte sich der Patient nicht zu einer Langzeitmedikation entschließen. Obwohl die Mutter selbst unter dem Eindruck der psychotischen Symptomatik zur Wiederaufnahme der stationären Betreuung geraten hatte, war es ihr nicht möglich, die krankhafte Natur des Verhaltens ihres Sohnes zu akzeptieren. Da ihr Vater sich nach einem ersten schizophrenen Schub suizidiert hatte, wollte sie psychiatrische Symptome bei Angehörigen nicht wahrnehmen. Dem behandelnden Arzt gelang es auch nicht, die kurze Zeit nach der Entlassung geplante Beförderung zu verschieben. Nach Übernahme der Direktorenstelle kam es zu einer neuerlichen psychotischen Manifestation mit den bekannten Symptomen. Der Patient beklagte darüber hinaus, dass sich seine Mutter in alles einmische, ihn andauernd gängle und ihn an seiner Selbstentfaltung hindere. Gleichzeitig klammerte er sich aber wie ein Kleinkind an ihr fest.
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Der Patient distanzierte sich während des Krankenhausaufenthaltes nur langsam und mangelhaft von seinen Wahnvorstellungen, immer wieder lachte er unmotiviert auf und berichtete, wichtige Missionen erfüllen zu müssen. Unter einer höher dosierten Antipsychotikagabe kam es langsam zu einer geringen Besserung, wenngleich der Patient interesse- und antriebslos verblieb, affektiv kaum modulierbar war und auch für kleine Verrichtungen eine Fremdmotivation benötigte. Es gelang, durch neuerliche eingehende Informationsarbeit die Erwartungshaltung der Familie zu verändern und deren Gegnerschaft medikamentösen Therapien gegenüber zu durchbrechen. Seit Jahren ist der Patient nun unter dem Schutz eines zweiwöchentlich zu verabreichenden Depot-Präparates in der Lage, eine wenig belastende Tätigkeit in der Poststelle des Unternehmens auszuüben. Er klagt über rasche Ermüdbarkeit und erscheint vermehrt reizbar, besonders, wenn sich mehrere Menschen in seinem Büro aufhalten. Trotz seiner guten intellektuellen Leistungen meidet er Entscheidungssituationen, sein Verhalten wirkt oft bizarr und manieriert. Seine affektiven Ausdrucksmöglichkeiten sind sehr begrenzt, seine verbale Kommunikationsfähigkeit ist eingeengt, hin und wieder wirkt der Patient zerfahren. Spontan meidet er jegliche ihn überfordernde Hektik und beschäftigt sich in seiner Freizeit fast ausschließlich mit der Ordnung seiner Briefmarkensammlung. Seine zwischenmenschlichen Kontakte hat er weitgehend abgebrochen. Eine akute schizophrene Symptomatik war seit Jahren nicht mehr zu beobachten.
2
Schizoaffektive Störungen F25
2.1
Einführung und nosologische Zuordnung
Die nosologische Zuordnung der schizoaffektigen Störungen (ältere Synonyma: Mischpsychosen, Legierungspsychosen) erscheint uneinheitlich. Psychiatrisch-epidemiologische Felduntersuchungen und genetische Studien legen eine dimensionale Betrachtungsweise nahe, nach der es ein Kontinuum von endogenen Psychosen geben könnte, das sich von den monopolaren über die bipolaren affektiven Störungen zu den schizoaffektiven und schließlich zu den schizophrenen Störungen erstreckt. Im ICD-10 wird die schizoaffektive Störung als Sondergruppe der schizophrenen Störungen aufgelistet. Die Diagnose „schizoaffektive Störung“ kann nur dann gestellt werden, wenn die Kriterien für ein depressives oder manisches Syndrom erfüllt sind sowie im Krankheitsverlauf auch Wahnideen oder Halluzinationen ohne deutliche affektive Symptomatik bestanden haben oder noch fortbestehen. Eine organische Basis ist auszuschließen. Die nosologische Abgrenzung der schizoaffektiven Störung wird in der Literatur kontrovers diskutiert, sodass über Vererbung, Verlaufsgestalt und Therapieaussichten unterschiedliche Lehrmeinungen vorherrschen. 146
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Eine Überschneidung der Erbkreise für schizophrene und affektive Störungen wird angenommen, da sich in der Verwandtschaft schizoaffektiv Erkrankter eine besonders hohe Zahl von affektiv und schizophren Kranken, aber keine Häufung von schizoaffektiven Psychosen findet.
2.2
Symptomatik
Das Wesen der schizoaffektiven Störung ist die im Quer- und/oder Längsschnitt zu beobachtende Verbindung eines schizophrenen und affektiven Syndroms. Am Beginn der schizoaffektiven Erkrankung steht häufig ein schizophrenes Syndrom, dem depressive, manische bzw. bipolare Affektsyndrome folgen. Ein Beginn mit einer affektiven Erkrankung, der ein schizophrenes Syndrom folgt, ist seltener zu beobachten. Im Querschnitt ist die Kombination eines schizophrenen Syndroms mit allen Spielarten der affektiven Erkrankungen möglich. Krankheitsbilder mit vorherrschender schizomanischer Symptomatik werden eher den bipolaren affektiven Störungen zugerechnet. Sehr häufig ist erst durch die Verlaufsbeobachtung eine eindeutige Diagnose möglich.
2.3
Therapie
Therapeutisch hat sich besonders beim schizomanischen Typ die Gabe von Lithium bewährt. Schizodepressive Patienten sprechen auf eine Kombination von Antidepressiva mit Antipsychotika gut an. Bei Therapieresistenz ist durch Elektrokonvulsionsbehandlung rasche Besserung zu erreichen. Auch neuere Behandlungsmethoden finden einen fi xen Platz im Therapierepertoire schizoaffektiver Erkrankungen: Carbamazepin und Valproat wurden – teilweise in Kombination mit anderen Substanzen – erfolgreich eingesetzt. Als generelle Strategie erscheint es sinnvoll, den therapeutischen Ansatz anhand der „Polarität“ zu wählen. Dieser kann dann, abhängig von der aktuellen Symptomatik, in der Gabe von Lithium, eines Antidepressivums, eines Antipsychotikums oder in der Anwendung verschiedener Kombinationsbehandlungen bestehen. Aufgrund der uneinheitlichen Diagnosekriterien steht die psychopharmakologische Behandlung der schizoaffektiven Störungen noch auf rein empirischer Basis.
2.4 Verlauf Die Symptomatik entwickelt sich typischerweise akut. Indikatoren für eine gute Verlaufsprognose sind das Fehlen von schizoiden Persönlichkeitszügen, gute prämorbide Anpassung, ein sehr akuter Krankheitsbeginn sowie vorherrschende affektive Symptome in der Akutphase. Verlauf und Ausgang der schizoaffektiven Erkrankungen scheinen gegenüber der Kernschizophrenie deutlich besser zu sein, sie sind jedoch durch ein hohes Suizidrisiko
147
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belastet, das nicht nur das der schizophrenen Störungen, sondern auch das der affektiven Störungen übertrifft.
3
Schizotype Störung F21
Hauptmerkmal der schizotypen Störung ist ein tief greifendes Muster sozialer und zwischenmenschlicher Defizite, das durch Verzerrungen des Denkens und Wahrnehmens sowie durch exzentrisches Verhalten gekennzeichnet ist. Denken und Stimmung wirken schizophren, obwohl nie eindeutige und charakteristische Symptome einer schizophrenen Störung auft reten. Es gibt kein beherrschendes oder typisches Merkmal; jedes der folgenden kann vorhanden sein (ICD-10): 1. Inadäquater oder eingeschränkter Affekt (der Patient erscheint kalt und unnahbar). 2. Seltsame(s), exzentrische(s) und eigentümliche(s) Verhalten und Erscheinung. 3. Wenige soziale Bezüge und Tendenz zu sozialem Rückzug. 4. Seltsame Glaubensinhalte und magisches Denken, die das Verhalten beeinflussen und im Widerspruch zu (sub)kulturellen Normen stehen. 5. Misstrauen oder paranoide Ideen. 6. Zwanghaftes Grübeln ohne inneren Widerstand, oft mit dysmorphophoben, sexuellen oder aggressiven Inhalten. 7. Ungewöhnliche Wahrnehmungsinhalte mit Körpergefühlsstörungen oder anderen Illusionen, mit Depersonalisations- oder Derealisationserleben. 8. Denken und Sprache vage, umständlich, metaphorisch, gekünstelt, stereotyp oder anders seltsam, ohne ausgeprägte Zerfahrenheit. 9. Gelegentlich vorübergehende quasi-psychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen und anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen; diese Episoden treten im Allgemeinen ohne äußere Veranlassung auf. Bereits während der Kindheit und Adoleszenz kann sich diese Erkrankung durch sozialen Rückzug, schlechte Schulleistungen, außergewöhnliche Denk- oder Sprechweise und bizarre Fantasien äußern. Eine geringe Anzahl der Betroffenen entwickelt im Laufe des Lebens eine schizophrene Störung. Dies betrifft vor allem Verwandte ersten Grades manifest schizophren erkrankter Patienten. Deshalb wird angenommen, dass die schizotype Störung einen Teil des genetischen Spektrums der schizophrenen Störungen verkörpert. Die Behandlung der schizotypen Störung erfolgt psychotherapeutisch in Verbindung mit Antipsychotika. Dabei muss eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden, was aufgrund der ausgeprägten Beeinträchtigung im zwischenmenschlichen Bereich häufig sehr schwierig ist. Daneben kommen gelegentlich Antidepressiva zum Einsatz.
148
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4
Wahnhafte Störungen
4.1
Anhaltende wahnhafte Störung F22
4.1.1
Definition
Unter der Rubrik „anhaltende wahnhafte Störungen“ subsumiert ICD-10 eine Gruppe von Störungen, bei denen ein lang anhaltender Wahn das einzige oder das auffälligste klinische Charakteristikum ist, der aber nicht auf der Basis einer organischen Erkrankung, einer schizophrenen oder affektiven Störung erklärt werden kann. Diese wahnhaften Störungen stellen mit großer Wahrscheinlichkeit keine nosologische Einheit dar. 4.1.2 Symptomatik In der traditionellen psychiatrischen Klassifikation wurde zwischen Paranoia und Paraphrenie unterschieden. Bei der Paranoia handelt es sich um eine systematische Wahnentwicklung auf dem Boden einer überwertigen Idee. Diese Einengung bedeutet aber gleichzeitig, dass der Kranke mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der logischen Argumentation das vermeintlich Wahre seines Wahnes zu begründen sucht. Demgegenüber zeigt das paraphrene Syndrom allerdings Wahnphänomene und Erlebnisvollzugsstörungen schizophrener Art bei intakter Persönlichkeit in auffallendem, oft weitgehend beziehungslosem Nebeneinander. Die Wahninhalte befassen sich häufig mit erotisch-partnerschaft lichen Beziehungen. Diese Inhalte erklären sich durch das höhere Lebensalter. Die Paraphrenie ist jedoch wesentlich durch die sogenannte intakte Außenpersönlichkeit des Betroffenen von der schizophrenen Störung zu unterscheiden. Schizophrene Ich-Störungen liegen nicht vor. Der schizophren Erkrankte ist infolge seiner Gesamtstörung von den konkreten Formen des psychotischen Krankseins überwältigt, ohne die Möglichkeit einer kritischen Distanz zu besitzen. Der paraphren Erkrankte hingegen ist im Kern seiner Persönlichkeit gesund, die schizophrene Symptomatik umfasst nur die Peripherie der Persönlichkeit. Dies bedeutet, dass sich der Betroffene von den gefährdeten Randpositionen seines Daseins auf den Kern seiner gesunden Restpersönlichkeit zurückziehen kann und meist auch eine recht stabile Barriere gegen die massiven Wahninhalte aufzubauen vermag. Dieser Prozess beinhaltet jedoch eine Einengung der Entfaltungsmöglichkeiten. Der Patient hat aber, auch wenn diese Einengung störende Maße annimmt, immer noch die Möglichkeit, in den Bereich eigener Ordnungen, Geborgenheiten und Sicherheiten zurückzukehren. Die Bewältigungsmöglichkeit des paraphren Erkrankten ist das passive Vermeidensverhalten, er wird somit nur selten in seiner Umwelt auff ällig.
149
Alex Hofer | W. Wolfgang Fleischhacker
4.1.3 Therapie Vor allem lange chronifizierte Wahnsymptome sind therapeutischen Bemühungen gegenüber sehr hartnäckig. Über eine Antipsychotikagabe hinaus bewährt sich der Einsatz psychotherapeutischer Maßnahmen. Die schwerste Gefährdung liegt in einem passiven Vermeidensverhalten. Da der Wahnkranke, dem Phobiker ähnlich, dazu neigt, seine Lebensgrenzen zunehmend einzuengen, muss es Ziel der therapeutischen Bemühung sein, diese im möglichen und zumutbaren Bereich zwischen Wahn und gesunder Persönlichkeit zu halten, um so das bestmögliche Maß der Persönlichkeitsentfaltung zu erreichen.
4.2
Induzierte wahnhafte Störung F24
Von einer induzierten wahnhaften Störung, einer folie á deux, spricht man, wenn zwei oder mehr Menschen, die in enger Beziehung zueinander leben, denselben Wahn oder dasselbe Wahnsystem teilen. Ein unter einer echten psychotischen Störung leidender Mensch induziert einen anderen, der meistens in einer abhängigen Position zum ersten steht. Die Wahninhalte sind, sowohl beim dominierenden Partner als auch beim induzierten, chronisch. Meistens leidet der Induktor an einer schizophrenen Störung, es können jedoch auch andere Wahnursachen zugrunde liegen. Bei den induzierten Partnern konnte des Öfteren eine familiäre Häufung schizophrener oder Wahnerkrankungen nachgewiesen werden. Therapeutisch empfiehlt sich beim Induktor die Einleitung einer antipsychotischen Medikation, die in der akuten Situation auch beim Induzierten notwendig erscheinen kann. Sehr häufig erfolgt bei der abhängigen Person eine Distanzierung von den Wahnvorstellungen allein schon durch eine – vorübergehende – räumliche Trennung.
4.3
Akute vorübergehende psychotische Störungen F23
Akute vorübergehende psychotische Störungen sind gekennzeichnet durch einen rasch einsetzenden Beginn, das Vorhandensein einer typischen schizophrenen Symptomatik und die Verbindung mit akuter Belastung. Der Betroffene wechselt in einem Zeitraum zwischen wenigen Stunden und maximal zwei Wochen von einem ungestörten Befinden in einen eindeutig abnormen psychotischen Zustand. Die schizophrene Symptomatik kann sich sehr rasch ändern und wird infolgedessen als „polymorph“ bezeichnet. Typischerweise gehen der Erkrankung akute Belastungsmomente wie Verlusterlebnisse oder psychische Traumen durch Kriegshandlungen u. Ä. voraus. Wenn die Symptomatik länger als einen Monat währt, ist die Diagnose in schizophrene Störung zu ändern. Die vorübergehende Verordnung von Antipsychotika ist angezeigt.
150
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Weiterführende Literatur Fleischhacker WW (2010) Antipsychotic drugs. In: Encyclopedia of Psychopharmacology. Ed: Stolerman I, Springer, 118–122 Fleischhacker WW, Hofer A (2012) Schizophrene Störungen. In: Handbuch der Psychopharmakotherapie, 2. Auflage, Hrsg.: Gründer G, Benkert O, Springer, 937–960
Hofer A, Fleischhacker WW (2010) Pharmacological interventions. In: Neuocognition and Social Cognition in Schizophrenia Patients. Eds.: Roder V, Medalia A, Karger, 145–157
Fleischhacker WW, Hofer A, Hummer M (2008) Managing schizophrenia: the compliance challenge. 2nd edition. Science-Press Ltd
Lambert M, Fleischhacker WW, Naber D (2012) Pharmakotherapie der Schizophrenie (ICD-10 F2): Akut-, Notfall- und Langzeitbehandlung. In: Therapie psychischer Erkrankungen. 7. Auflage, Hrsg.: Voderholzer U, Hohagen F, Urban & Fischer, 57–94
Haddad P, Fleischhacker WW (2011) Adverse effects and antipsychotic long-acting injections. In: Antipsychotic long-acting injections. Hrsg.: Haddad P, Lambert T, Lauriello J, Oxford University Press, 47–69
Miyamoto S, Fleischhacker WW (2012) Pharmacological Treatment of Schizophrenia. In: Clinical Manual for Treatment of Schizophrenia. Eds.: Lauriello J, Pallanti S, American Psychiatric Publishing, 291–340
Hofer A (2010) Theory of mind – theoretische Grundlagen und praktische Konsequenzen. In: Schizophrene Störungen – State of the Art. Hrsg.: W.W. Fleischhacker, H. Hinterhuber, Verlag Integrative Psychiatrie, 31–43
Miyamoto S, Merrill DB, Lieberman JA, Fleischhacker WW, Marder SR (2008) Antipsychotic Drugs. In: Psychiatry, 3rd ed., Eds.: Tasman A, Kay J, Liebermann JA, First MB, Maj M, Wiley, 2161–2201
Hofer A (2010) Schizophrenia. Encyclopedia of Psychopharmacology. Ed: Stolerman I, Springer, 1175–1180
151
Kapitel 5
Affektive Störungen (ICD-10 F3) Eberhard A. Deisenhammer, Armand Hausmann
1
Einführung und Synonyme Eberhard A. Deisenhammer
Der Überbegriff „Affektive Störungen“ (ICD-10: F30-F39, Tabelle 1) umfasst eine Gruppe psychischer Erkrankungen, die vor allem den „Gemütsbereich“, also Stimmung, emotionales Befinden und gefühlsmäßige Anteilnahme an der sozialen Umwelt betreffen. Sie können aber auch das formale und inhaltliche Denken und die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen und sich oft – unter Umständen auch fast ausschließlich – in Form körperlicher Symptome äußern. Affektive Störungen manifestieren sich meist in grundsätzlich selbst limitierten manischen und/oder depressiven Phasen. Differenzialdiagnostisch sind davon affektive Syndrome abzugrenzen, welche „aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung“ (ICD-10: F06), „durch psychotrope Substanzen“ (ICD-10: F1x.5) oder als „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ (ICD-10: F43) auft reten. Typischerweise manifestieren sich affektive Störungen als – einmalige oder rezidivierende – manische oder depressive Episoden, allerdings werden die Zyklothymia sowie die Dysthymia als „anhaltende affektive Störungen“ ebenfalls zu diesem Kapitel gerechnet. Die diagnostischen Codes der affektiven Störungen nach ICD-10 sind in Tabelle 1 aufgelistet. Affektive Störungen – auch affektive Psychosen genannt – können als einmalige Episode auftreten, sind jedoch grundsätzlich als potenziell chronisch rezidivierend zu betrachten. Sie können sich bipolar (mit sowohl depressiven wie manischen Episoden im Verlauf) oder unipolar (bisher nur Phasen eines Poles, wobei der unipolar manische Verlauf sehr selten ist) manifestieren. Affektive Störungen wurden früher als manischdepressives Kranksein bezeichnet, die Abkürzung MDK begegnet uns auch heute noch im klinischen Sprachgebrauch. In der englischsprachigen Literatur werden die Bezeichnungen affective disorders und mood disorders verwendet. Beschreibungen manisch-depressiver Stimmungsschwankungen finden sich bereits in den Schriften der Antike. So stammt der früher für die Depression gebräuchliche Begriff der Melancholie aus der, dem Hippokrates von Kos zugeschriebenen, VierSäfte-Lehre. Danach hat die Melancholie ihren Ursprung in einem Überschuss an schwarzer, verbrannter Galle, die das Blut vergiftet. Der Begründer der psychiatrischen Systematik, Emil Kraepelin (1856–1926), nannte die affektiven Störungen „manisch-depressives Irresein“ und grenzte sie in Symptomatik, Verlauf und Prognose von der „Dementia praecox“, den schizophrenen Erkrankungen, ab.
153
Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
Tabelle 1
F3 – Affektive Störungen
F30
Manische Episode
F31
Bipolare affektive Störung
F32
Depressive Episode
F33
Rezidivierende depressive Störungen
F34
Anhaltende affektive Störungen
F38
Sonstige affektive Störungen
F39
Nicht näher bezeichnete affektive Störung
2
Epidemiologie und Verlauf Eberhard A. Deisenhammer
Das für die affektiven Störungen – abgesehen von den sogenannten „anhaltenden“ affektiven Störungen (F34) – kennzeichnende Verlaufskriterium ist die Phasen- bzw. Episodenhaft igkeit, also der selbstlimitierte Charakter der Symptomatik mit grundsätzlich vollständiger Remission. Affektive Störungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen und sind oft mit anderen psychischen Störungen (Angsterkrankungen, Süchte, Persönlichkeitsstörungen) komorbid. Aufgrund der Suizidgefährdung während depressiver Zeiten sind sie als grundsätzlich lebensbedrohlich einzustufen. Aber auch die Auswirkungen auf die psychosoziale Integration der Patienten (oft mals längere Krankenstände mit drohendem Arbeitsplatzverlust, depressiver Rückzug aus dem sozialen Umfeld, Unverständnis der Umgebung für verstörende, manische Verhaltensweisen, Beeinträchtigung des partnerschaft lichen Zusammenlebens) sowie die Belastung der Angehörigen sind oft sehr groß. Daneben haben affektive Störungen aufgrund der erhöhten Mortalität, oft langer Krankenstände und Frühpensionierungen massive volkswirtschaft liche Bedeutung. Allein die unipolare Depression liegt nach der DALY-(Disability-Adjusted Life Year)Wertung weltweit mittlerweile an erster Stelle der Ursachen für den Verlust „gesunder Lebensjahre“. Affektive Störungen verursachen 7 % der gesamten Krankheitslast in Europa. Der Bezug zu körperlichen Erkrankungen ist – abgesehen von den häufig im Rahmen von Depressionen bestehenden Somatisierungssymptomen – ein wechselseitiger: Zum einen treten affektive Syndrome auch organisch bedingt auf, zum anderen haben Depressionen einen negativen Einfluss auf den Verlauf (einschließlich der Mortalität) von vaskulären Erkrankungen und Diabetes. Die Lebenszeitprävalenz beträgt bei Frauen bis zu 25 %, bei Männern 12 %, wobei sich dieser Geschlechtsunterschied nur auf die unipolare Depression bezieht, bei der bipolaren Störung ist das Geschlechtsverhältnis ausgeglichen. Die Punktprävalenz af-
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Affektive Störungen | 5
fektiver Erkrankungen liegt bei 9 %, d. h., jeder Elfte leidet aktuell unter einer behandlungsbedürftigen depressiven oder manischen Episode. Affektive Störungen können grundsätzlich in jedem Lebensalter erstmalig auftreten, der (Erst-)Erkrankungsgipfel liegt aber im dritten Lebensjahrzehnt. Auch wenn ein monophasischer Verlauf möglich ist, ist dennoch lebenslang mit einem erhöhten Wiederauftretensrisiko zu rechnen. Die rezidivierende unipolare Depression macht etwa ⅔ der Fälle aus, knapp 30 % der Patienten entwickeln sowohl depressive wie manische Episoden, unipolar manische Verläufe sind sehr selten. Die Häufigkeit der Diagnosenstellung affektiver, vor allem depressiver Störungen ist zuletzt angestiegen. (Etwas plakativ wird in manchen Medien sogar vom „depressiven Zeitalter“ gesprochen). Dieses Phänomen ist aber zum Teil durch die an sich erfreuliche Entwicklung bedingt, dass die Tabuisierung und Stigmatisierung psychischer Krankheiten zumindest in Teilen der Bevölkerung doch langsam abnimmt und deshalb Menschen, die früher vielleicht als zeitweise eigenbrötlerisch und faul angesehen wurden, heute zumindest häufiger als depressiv erkannt werden. Allerdings werden depressive Erkrankungen immer noch zu häufig nicht erkannt (und selbst bei richtiger Diagnose erstaunlich oft falsch, nämlich z. B. mit Benzodiazepinen, behandelt). Es ist immer wieder beeindruckend, zu Konsiliarbesuchen bei „unkooperativen“ oder „komischen“ Patienten auf somatischen Stationen gerufen zu werden, die bei der Exploration monatelang bestehende eindeutige depressive Symptome berichten, die offenbar weder dem Betroffenen noch der Umgebung als solche erkennbar waren. Hier besteht zweifellos noch ein Nachschärfungsbedarf auch des ärztlichen Sensoriums.
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Ätiologie und Pathogenese affektiver Erkrankungen Armand Hausmann
Affektive Erkrankungen werden seit Jahrzehnten intensiv untersucht. So wurden mehrere Theorien zur Pathogenese generiert, wobei bisher keine einzige Theorie für sich alleine genommen die Ätiologie affektiver Erkrankungen erklären kann. Gut belegt ist bisher, dass die genetische Belastung eine entscheidende Rolle spielt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass lediglich die Vulnerabilität für die Erkrankung vererbt wird, d. h., dass eine Depression bzw. Manie sich selbst bei einer entsprechenden genetischen Disposition erst im Zusammenspiel mit psychosozialen Auslösefaktoren manifestiert. Im Folgenden sollen verschiedene Hypothesen zur Entstehung affektiver Erkrankungen angeführt werden.
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Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
3.1
Die Monoamin-Mangel-Hypothese
Die älteste dieser Theorien ist die Monoamin-Mangel-Hypothese. Sie basiert auf der Annahme eines zentralnervösen Defizits biogener Amine, nämlich von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Serotonin ist ein im Körper ubiquitär vorkommender Botenstoff, welcher nicht nur im Nervensystem gebildet wird. Die größten Konzentrationen finden sich vielmehr im Magen-Darm-Trakt, wo Serotonin bei der Regulation der Motilität, Motorik und Resorptionsfunktion mitwirkt. Daher haben Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zu Beginn der Behandlung oft Übelkeit als Nebenwirkung. Im ZNS befindet sich Serotonin konzentriert in den Raphe-Kernen im Hirnstamm, welche serotonerge Neuronenkerne enthalten. Serotonin wirkt im ZNS überwiegend inhibitorisch, moduliert die Stressantwort eher dämpfend und steuert vorrangig Wachheit, Emotionslage und Gedächtnisleistung. Es wirkt ausgeprägt antidepressiv und regelt zusammen mit seinem Metaboliten Melatonin die Schlaf-Wach-Zyklen und die Schlafregeneration. Zudem beeinflusst Serotonin das Sättigungsempfinden und die Schmerzwahrnehmung. Bei Serotoninmangel kann es zu Depressionen, Angstzuständen, Konzentrationsmangel und Schlaflosigkeit kommen. Serotonin wird aus der Aminosäure Tryptophan über 5-Hydroxytryptophan (5-HTP) unter Mitwirkung von Vitamin B6 gebildet. Aus Serotonin entsteht über Acetylserotonin das wichtige, immunregulierende, Schlaf fördernde Hormon Melatonin, sodass Serotoninmangel auch zu Melatoninmangel und zu Schlafstörungen führt. Ein ausreichendes Angebot an Serotonin im zentralen Nervensystem hängt von der Konzentration von Tryptophan im Gehirn ab. Für unipolare Depressionen sind Fehlfunktionen des serotonergen Systems gut untersucht und belegt. Niedrige Konzentrationen von Serotonin, aber auch Noradrenalin und Dopamin sind mit schlechter Stimmung assoziiert: Antidepressiva, welche die Konzentrationen dieser drei biogenen Amine erhöhen, konnten eine Verbesserung der depressiven Stimmung bewirken. Zu niedrige Spiegel des Serotonin-Abbauprodukts 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIES) im Liquor stehen im Zusammenhang mit Suizidalität, Impulsivität und Aggression. Für bipolare Erkrankungen ist die Evidenz über eine Dysfunktionalität biogener Amine im Vergleich zur unipolaren Depression geringer. Ähnliche Veränderungen wurden aber beschrieben. Die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin werden aus der Aminosäure Tyrosin (Phenylalanin) synthetisiert. Das Stresshormon Adrenalin wird vorwiegend im Nebennierenmark (NNM) aus Noradrenalin gebildet. Während im ZNS Noradrenalin stark überwiegt (90 %), ist im Nebennierenmark Adrenalin das Hauptprodukt. Adrenalin wird bei jeder Form physischer und psychischer Belastung akut ausgeschüttet und mit sehr kurzer Halbwertszeit von wenigen Minuten metabolisiert. Adrenalin wirkt generell exzitatorisch, steigert u. a. die Pulsfrequenz, das Herzminutenvolumen, den Blutdruck sowie das Aufmerksamkeits- und Wachheitsniveau, fördert Leistungsbereitschaft, Motivation, Konzentration und Motorik. Das noradrenerge System scheint nach bisherigen Befunden im Rahmen manischer Episoden aktiviert zu sein, während es bei Depression eher zu einer Unterfunktion kommt. Dopamin wirkt im ZNS vorwiegend exzitatorisch. Die meisten Dopamin produzierenden Neuronen sind im Hirnstamm lokalisiert. Motivation, psychomotorische Ge156
Affektive Störungen | 5
schwindigkeit, kognitive Leistungsfähigkeit, Konzentration und die Fähigkeit, Freude zu empfinden, sind Funktionen, welche mit der dopaminergen Neurotransmission im zentralen Nervensystem in Verbindung stehen. Bei Dysfunktionalität des dopaminergen Systems beobachtet man dementsprechend Amotivation, psychomotorische Verlangsamung, Müdigkeit und Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörung und Anhedonie, also all jene Symptome, welche prominent in der Depression zu sehen sind. Indirekte klinische Hinweise für die Beteiligung des dopaminergen Systems an der Entstehung bipolarer Erkrankungen liefern die über dopaminerge Bahnen gesteuerten Funktionen wie motorische Aktivität, Belohnungsreaktionen („Reward System“) und Motivation. Gerade bipolare Depressionen präsentieren sich klinisch häufig „atypisch“ mit stark reduzierter motorischer Aktivität, Amotivation und Anhedonie, was eine dopaminerge Unterfunktion nahe legt, während es in der Manie zu überschießender motorischer Funktion und Symptomen wie bei Aktivierung des Belohnungssystems kommt. Darüber hinaus können zahlreiche Dopaminagonisten wie L-DOPA oder Amphetamine manische oder hypomanische Episoden bei bipolaren Patienten triggern. Umgekehrt sind viele Dopamin blockierende Medikamente, wie z. B. Antipsychotika, wirksam zur Behandlung einer Manie In den letzten Jahren fokussierte sich in der Ätiologieforschung affektiver Erkrankungen die Aufmerksamkeit auch auf nicht monoaminerge Transmittersysteme. Das glutamaterge System mit dem hauptsächlich erregenden Transmitter Glutamat und seinen Rezeptoren (z. B. NMDA-Rezeptoren) ist für die Pathophysiologie der Depression bedeutsam. Aufmerksamkeit wurde einer Studie zuteil, in der mit einer einzigen Dosis des NMDA-Rezeptor-Antagonisten Ketamin ein robuster, antidepressiver Effekt nach nur zwei Stunden erzielt werden konnte. Dieses aktuelle Ergebnis muss aber als vorläufig angesehen werden. GABA, die γ-Aminobuttersäure, ist der wichtigste inhibitorische Neurotransmitter im Zentralnervensystem. Mehrfach wurde ein verminderter GABA-Spiegel in Plasma und Liquor bipolarer Patienten nachgewiesen, wobei es sich vermutlich weniger um eine globale Funktionsminderung, als um eine sehr spezifische Störung im Bereich limbischer Strukturen und damit assoziierter ZNS-Areale handelt. Bei unipolar-depressiven Patienten scheint das GABAerge Defizit geringer ausgeprägt zu sein und durch die Behandlung mit verschiedenen Stimmungsstabilisatoren (SST) in einen supraphysiologischen Bereich angehoben zu werden. Anstelle Veränderungen einzelner Transmitter-Substanzen bei der Entstehung der Depression ins Feld zu führen, geht die „Imbalance-Hypothese“ von einem relativen Ungleichgewicht verschiedener Transmittersysteme aus.
3.2
Die genetische und die Umwelt-Hypothese
Diese beiden Hypothesen zur Entstehung affektiver Erkrankungen stehen sich nur scheinbar diametral entgegen. Es gibt zunehmend Evidenz über deren ursächliche Verknüpfung. Die Annahme genetischer Ursachen affektiver Erkrankungen gründet auf erhöhten Prävalenzraten in den Herkunftsfamilien Betroffener.
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Um ein Kennzeichen zur Erfassung der Bedeutung genetischer Faktoren für die Ausprägung eines Merkmals zu haben, werden die sog. Konkordanzraten verwendet. Ein untersuchtes Merkmal ist erblich bedingt, wenn die Konkordanzrate der monozygoten/eineiigen Zwillinge signifi kant größer ist als die Konkordanzrate der dizygoten/zweieiigen Zwillinge. Regelmäßig wurden höhere Konkordanz-Raten bei bipolar Erkrankten im Vergleich zu unipolar Erkrankten berichtet. So wurden Konkordanzraten für bipolare Störungen von 40–70 % für monozygote Zwillinge und 5–10 % für dizygote Zwillinge gefunden. Es fanden sich allerdings weder bei unipolarer noch bei bipolarer Erkrankung Konkordanzraten monozygoter Zwillinge von 100 %. Dies lässt auf zusätzliche, umweltbedingte Einflüsse schließen. Affektive Störungen werden als sog. komplexe Störungen betrachtet. Bei diesen Störungen besteht zwar ein (poly-)genetischer Einfluss, welcher aber, durch Umweltfaktoren moduliert, sich in komplexen Phänotypen klinisch bemerkbar macht. Zur Übertragung affektiver Störungen gehört, dass die familiär-genetische Belastung umso stärker ist, je früher die Erkrankung erstmals auftritt. Unipolare Depressionen, die erstmalig im höheren Alter auftreten, stehen nur noch unter einem relativ schwachen genetischen Einfluss. Trotz deutlicher Prävalenzunterschiede zwischen Männern und Frauen (1:2 bis 1:3) gibt es keine Geschlechtsunterschiede in der Penetranz des genetischen Einflusses. Aufgrund der oben beschriebenen Komplexität werden im Gegensatz zu monogenetischen Erkrankungen bei affektiven Störungen keine kausalen, sondern Dispositionsgene gesucht. Diese und deren pathogene Polymorphismen erhöhen das Krankheitsrisiko, ohne das Auftreten der Krankheit selbst allein zu verursachen. Einige Polymorphismen wurden mittlerweile auf ihre Assoziation zu depressiven Syndromen hin untersucht. Dabei ist anzumerken, dass bisher nur wenige der beschriebenen Polymorphismen in mehreren unabhängigen Studien als krankheitsassoziiert repliziert werden konnten. Es handelt sich hierbei primär um Gene, die für Moleküle codieren, welche sich aufgrund ihrer Funktion mit den bestehenden Theorien zur Ätiologie der Depression gut vereinbaren lassen. Dazu zählen in erster Linie der Serotonin-Transporter (SERT) und die Katechol-O-Methyl-Transferase (COMT). Ersterer nimmt Serotonin aus dem synaptischen Spalt wieder in die Präsynapse auf und beendet dadurch die postsynaptische serotonerge Signalgebung. Die COMT ist ein Enzym, welches in den sympathischen Nervenenden der Zielorgane verschiedene Katecholamine, darunter das Noradrenalin, das Adrenalin und das Dopamin, abbaut. Zur Komplexität affektiver Erkrankungen gehört die kausale Verknüpfung von genetischen Faktoren mit Umwelteinflüssen. Frühe traumatische Ereignisse bzw. Deprivation in prägenden Phasen können persistierende Veränderungen in der neuronalen Verknüpfung bewirken und zu dauerhafter Fehlregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse und der monoaminergen Modulation führen. Dies sind die Grundlagen der entwicklungsneurobiologischen Hypothese. Separierung von Tieren aus ihrer Peergruppe oder beispielsweise frühe Trennung vom Muttertier gehen mit schweren chronischen Stresszuständen einher. Auch bei depressiven Patienten konnten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen zwei- bis dreimal so häufig Verlusterlebnisse in der frühen Lebensgeschichte dokumentiert werden. In vielen wissenschaft lichen Arbeiten konnte gezeigt werden, dass nicht nur die Dauer der Stressexposition, sondern vor allem die Stressbewältigung (Coping-Strate158
Affektive Störungen | 5
gien) einen Einfluss auf das Neurotransmittersystem hat. Im Falle des als „erlernte Hilfslosigkeit“ bekannt gewordenen Konzepts übersteigt der Transmitter-Verbrauch die Synthese, um schließlich einem aminerg-cholinergen Ungleichgewicht zugunsten des cholinergen Systems zu weichen. Eine analoge Hypothese, die kognitive Theorie von Beck, nimmt an, dass für depressive Menschen negative Gedanken über sich selbst, ihre Umwelt und die Zukunft für ihr Leben bestimmend sind. Diese „negativen Kognitionen“ haben ihren Ursprung in Erfahrungen und Familienbeziehungen in der Kindheit. Nach Beck können diese Grundüberzeugungen jahrelang vorhanden sein, ohne schädliche Auswirkungen zu haben. Werden sie jedoch durch schwierige Lebenssituationen – sog. „Life Events“ – aktiviert, können sie schwerwiegende Konsequenzen für Verhalten und Erleben des Betroffenen haben, die in einer Depression enden können. Die kognitive Verhaltenstherapie geht auf diese Annahmen zurück.
3.3
Alternative Hypothesen
3.3.1 Die Hypothese dysfunktionaler zentralnervöser Regelkreise Zur Erklärung der emotionalen Verarbeitung im Gehirn fokussierte die Wissenschaft in den letzten 30 Jahren auf definierte Areale im Gehirn. PET-Daten konnten konsistent Veränderungen im Rahmen der Depression nachweisen. Verminderter zerebraler Blutfluss (CBF) oder reduzierter Glukosemetabolismus wurden im präfrontalen Kortex, im anterioren Cingulum (ACC) und im Nucleus caudatus beobachtet. Die Forschung entwickelte sich in den letzten Jahren allerdings in Richtung globalerer Betrachtungsweisen, indem nicht so sehr mehr die einzelnen Regionen, sondern die Organisation und das Zusammenspiel dieser Regionen innerhalb integrierender neuronaler Netzwerke im Fokus standen. Diese Hypothese sieht die Ätiologie affektiver Erkrankungen in einer dysfunktionalen Netzwerkregulation und nicht im Versagen einzelner genetischer oder topografischer Komponenten. 3.3.2 Die molekular-zelluläre Hypothese Neben der Transmitter- und Rezeptoren-Ebene spielen intrazelluläre Regulationsmechanismen, z. B. Second-Messenger-Systeme, eine wesentliche Rolle in der Weiterleitung der Rezeptor-Stimuli. Die Stimulationen an Rezeptoren verändern über die Aktivierung von spezifischen „Second-Messenger-Systemen“ und Transkriptionsfaktoren ihrerseits die Gen- bzw. die Proteinexpression. Diese bewirkt in Neuronen jene Veränderungen, die der neuronalen Plastizität und somit der Verhaltensänderung zugrunde liegen. Konstitutive Transkriptionsfaktoren (KTF), wie beispielsweise das CAMP-Responsive-Element-Binding-proteine (CREB), bestimmen, welche Gene als spezifische Reizantwort, zuerst auf nukleärer, dann auf Protein-Ebene exprimiert werden. Diese intrazellulären Systeme scheinen in der Depression verändert, sodass CREB einen Teil der gemeinsamen Endstrecke der Stimmungskontrolle darstellt. Neurotrophine sind Kandidaten für die Regulierung neuronaler Plastizität. Eines der durch CREB induzier159
Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
ten Neurotrophine ist der so genannte „Brain-Derived Neurotrophic Factor“ (BDNF). Neuere Untersuchungsergebnisse deuten auf eine Beteiligung von BDNF und dessen Polymorphismen bei der Pathogenese verschiedener psychischer Erkrankungen, wie z. B. Depression und Manie, aber auch Schizophrenie, Essstörungen, Demenz und Huntington-Erkrankung hin. Die neuronale Plastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur und Organisation den veränderten biologischen Grundlagen (z. B. Läsionen) und Anforderungen (z. B. Lernen) anzupassen. Im Rahmen einer Depression auft retende plastische Veränderungen sind auf Veränderungen der Genexpression zurückzuführen, was dann zu Veränderungen in der neuronalen Funktion und letztendlich zu Verhaltensänderungen führt. Peptide sind kleine Proteine, die zwischen neuronalen Strukturen entweder direkt als Transmitter auf Rezeptoren wirken oder in Form von Kotransmittern modulierend auf die Neurotransmission durch monoaminerge Botenstoffe wirken können. Peptidsysteme, wie zum Beispiel das Opiat-Peptid-System, spielen eine Rolle bei der Entstehung von Depressionen. Auch die Substanz P (SP), ein weiteres Peptid, scheint eine wichtige Rolle bei der Regulation der Stimmung zu haben. Forschungsergebnisse der antidepressiven Wirksamkeit von SP-Antagonisten waren bisher nicht erfolgreich. 3.3.3 Die neuroendokrine Hypothese Die wichtigsten Hormone im Zusammenhang mit affektiven Erkrankungen sind folgende: Cortikotropin-Releasing Hormon (CRH), Thyreotropin-Releasing Hormon (TRH) und Cholezystokinin (CCK). Heute gehen wir von einem Modell der Bidirektionalität zwischen Gehirn und Endokrinium aus. Eine veränderte periphere Hormonaktivität kann nicht nur Folge zentraler Regulationsstörungen sein, sondern gleichzeitig auch Ursache veränderter Hirnfunktionen und kann somit beobachtbares Verhalten modifizieren. Bei ca. 80 % der schwer depressiven Patienten wird eine Hyperaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde (HHN)-Achse beschrieben. Depressive Patienten leiden unter chronischem Stress. Bei ihnen ist die HHN-Achsen-Feedback-Inhibition oft dysfunktional und geht mit erhöhtem Hypophysen- und Nebennierenvolumen sowie chronisch hohen Kortisol-Werten einher. Die gestörte Feedback-Schleife kann indirekt durch den sogenannten Dexamethason-SupressionsTest (DST) bestimmt werden. Seit Langem ist bekannt, dass Schilddrüsenhormone einen Einfluss auf die Stimmung haben können. So ist eine eventuelle Unterfunktion der Schilddrüse Teil der differenzialdiagnostischen Überlegungen bei depressiven Patienten mit Niedergeschlagenheit und Antriebsstörung. Im Rahmen eines TRH-Stimulationstests zeigen 25–50 % der depressiven Patienten eine abgeschwächte Thyreotropin-Reaktion. In den meisten Fällen normalisiert sich die Dysregulation mit Besserung der depressiven Symptomatik. 3.3.4 Die Entzündungs- oder Zytokin-Hypothese Die Entzündungs- oder Zytokin-Hypothese stellt die Schnittstelle zwischen Immunologie und Verhalten dar. Obschon einige Studien die Idee unterstützen, dass Ent160
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zündungsprozesse zur Pathogenese der Depression beitragen, ist die aktuelle Literatur nicht konsistent. Entzündungsprozesse scheinen bei einigen, aber nicht bei allen Fällen von Depression eine Rolle zu spielen. 3.3.5 Die Neurodegenerations-Hypothese Die Neurodegenerationshypothese fußt auf volumetrischen Daten. Mehrere Hirnareale, im Speziellen der Hippocampus, unterliegen strukturellen Veränderungen in der Depression. So wird ein vermindertes hippokampales Volumen in der Depression beschrieben. Allerdings sind die zugrunde liegenden Ursachen derzeit noch nicht bekannt. Eine der Ursachen dieser spezifischen volumetrischen Veränderung könnte in neurodegenerativen Prozessen zu sehen sein.
4
Depressive Episode F32 Eberhard A. Deisenhammer
Depressive Episoden werden nach dem Schweregrad (leicht, mittelgradig, schwer) sowie nach symptomatischen Kriterien (mit bzw. ohne somatisches Syndrom, mit bzw. ohne psychotische Symptome) unterschieden. Tabelle 2 zeigt die ICD-10-Kodierungen für die depressive Episode und die rezidivierende depressive Störung. Die Befindlichkeit ist wenig von den aktuellen äußeren Lebensumständen abhängig, allerdings kann eine ausgeprägte Tagesrhythmik bestehen, und zwar typischerweise ein Pessimum am Morgen mit Aufhellung der Stimmung gegen Abend. Für die Diagnose einer depressiven Episode wird gewöhnlich eine Dauer von mindestens zwei Wochen verlangt. Kürzere Zeiträume können berücksichtigt werden, wenn die Symptome besonders stark ausgeprägt oder sehr schnell aufgetreten sind. Definitionsgemäß gilt diese zeitliche Einschränkung auch nicht bei der rezidivierenden kurzen depressiven Störung (siehe 4.2). Im Durchschnitt dauern unbehandelte depressive Phasen etwa sechs Monate. Die Bezeichnung „somatisches Syndrom“ wird oft als Somatisierung missverstanden. Tatsächlich werden zu diesem Begriff jedoch Symptome wie eine mangelnde Fähigkeit, auf freudige Ereignisse emotional zu reagieren, frühmorgendliches Erwachen, Morgentief oder Appetitverlust gerechnet. Für den – hier etwas unglücklichen – Terminus „somatisch“ werden auch die Bezeichnungen „melancholisch“, „vital“, „biologisch“ oder „endogenomorph“ verwendet. Im Rahmen der depressiven Episode auft retende psychotische Symptome sind z. B. Wahnideen oder Halluzinationen.
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Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
Tabelle 2 F32 – Depressive Episode F32.0
Leichte depressive Episode
F32.00
ohne somatisches Syndrom
F32.01
mit somatischem Syndrom
F32.1
Mittelgradige depressive Episode
F32.10
ohne somatisches Syndrom
F32.11
mit somatischem Syndrom
F32.2
Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome
F32.3
Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
F32.8
Sonstige depressive Episoden
F32.9
Nicht näher bezeichnete depressive Episode
4.1
Symptome der depressiven Episode
Generell sind die Manifestationsformen depressiver Episoden sehr vielfältig. Es kann eine große Zahl unterschiedlicher Symptome in den verschiedensten Konstellationen auftreten, die den Gemüts- und Gefühlsbereich, den formalen Ablauf und Inhalt des Denkens, die kognitive Hirnleistung, das soziale Kontaktverhalten, aber auch die körperliche Ebene betreffen. Als zentrale Symptome einer depressiven Episode werden gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und Antriebsverminderung angesehen. Allerdings ist es nicht selten, dass Patienten eine solche typische schlechte und niedergeschlagene Stimmung nicht beschreiben können, sondern vielmehr über eine innere Leere, ein „Gefühl von Gefühllosigkeit“ klagen. Das herabgesetzte Interesse an üblicherweise für den Betroffenen wichtigen Dingen wird in vielen Fällen von den Patienten selber wahrgenommen, muss manchmal allerdings vom Untersucher erst erfragt werden oder erschließt sich aus der Anamnese mit Angehörigen. Die Verminderung der Interessenvielfalt kann sich auf das eigene berufl iche und private Leben, die soziale Umgebung, das politisch-gesellschaft liche Geschehen, aber auch die eigene Körperpflege (unüblich nachlässigeres Schminken, selteneres Duschen, in schwereren Fällen bis zu zentimeterlangen Fingernägeln und Ernährungsstörungen) beziehen. Wichtig, wie bei allen psychopathologischen Erhebungen, ist der Vergleich zum „Normalzustand“ des Patienten. Eigene Wertmaßstäbe sollen nicht in die Beurteilung einfließen. Die Frage „Worüber können Sie sich im Alltag freuen?“ (in der Exploration einer Ja/ Nein-Entscheidungsfrage generell vorzuziehen) wird als eine der zentralen ScreeningFragen für eine depressive Symptomatik angesehen. Wenn der Patient auch bei individuumsbezogenen Beispielen („Wenn Sie Besuch von der Familie bekommen“, „wenn Sie Ihre Lieblingsmusik hören“, „Als Ihr Fußballverein letzte Woche gewonnen hat“) keine Antwort findet, sollte das – auch wenn der Patient ursprünglich wegen körper162
Affektive Störungen | 5
licher Beschwerden eine allgemeinmedizinische Praxis aufgesucht hat – zu einer weiterführenden Exploration führen. Typischerweise klagen depressive Patienten über eine Verminderung des inneren Antriebs und Elans und die reduzierte Fähigkeit, morgens aufzustehen und die Tagesaktivitäten in Angriff zu nehmen. Überhaupt ist das Aktivitätsniveau depressiver Patienten im Vergleich zu jenem während ihrer gesunden Phasen meist deutlich eingeschränkt. Wichtig für Angehörige und das gesamte Umfeld ist es, diese depressionsbedingte Hemmung als ein „Nicht-Können“ zu erkennen und nicht als ein „Nicht Wollen“ zu missverstehen. Letzteres kann in einer inadäquaten Gegenübertragungsreaktion zu einer subjektiven Überforderung des Patienten und damit zu einer Verstärkung meist ohnehin schon vorhandener Insuffizienzgefühle, unter Umständen auch zu einer Verschlimmerung von Suizidalität führen. Allerdings sollte auf der anderen Seite versucht werden, der Gefahr einer malignen Regression (also dem – teilbewussten – Abgeben von Verantwortung und Aktivität) gegenzusteuern und die vorhandenen Restaktivitäten des Patienten zu fördern. Antriebsmangel kann bis zum depressiven Stupor gehen, einem Zustand, in dem zwar die Wahrnehmung äußerer Reize möglich ist, die Patienten aber selbst keinen Kontakt aufnehmen und keine Aktivität setzen können. Das (seltene) Vollbild eines Stupors erfordert intensive Pflege einschließlich parenteraler Ernährung. Seltener als in einer Verminderung kann sich eine depressive Antriebsstörung in einer Vermehrung, einer oft quälenden Agitiertheit manifestieren. Eine solche innere und oft auch psychomotorische Unruhe ist hinsichtlich der Suizidgefährdung von großer Bedeutung. Die Patienten präsentieren sich dann nicht schweigsamer und zurückgezogener als sonst, sondern klagen oft nachdrücklich und wiederholt über ihr seelisches oder körperliches Befinden, ohne sich von Erklärungen und Ablenkungen beruhigen zu lassen. Auch ein solches ständiges Klagen und „Jammern“ ist eine potenzielle Gefahr pathologischer Gegenübertragung. Gesteigerter Antrieb ist bei vorhandenen Suizidgedanken in der Gefahrenabschätzung unbedingt als Risikofaktor zu werten. Weitere häufige Symptome im Rahmen einer depressiven Episode sind in Tabelle 3 aufgelistet. Die Beeinträchtigungen der Kognition (Konzentration, Aufmerksamkeit, Auffassung, Gedächtnisleistungen) können mit neuropsychologischen Tests erhoben werden, fallen meist aber schon klinisch auf oder werden von den Patienten selbst berichtet. Die kognitiven Symptome können ganz im Vordergrund stehen und im Querschnitt das Bild einer Demenz bieten („Depressive Pseudodemenz“, siehe 4.2). Viele Patienten klagen über eine verminderte psychophysische Belastbarkeit und erhöhte Erschöpfbarkeit. Oft wird von den Betroffenen angegeben, dass ihnen die Arbeit schwerer falle, sie sich zwischen einzelnen Hausarbeitstätigkeiten öfters niederlegen müssen oder sie bereits von kurzen Spaziergängen völlig erschöpft seien. Die sehr häufig vorhandenen und oft quälenden Ein- und/oder Durchschlafstörungen können zu einer vermehrten Tagesmüdigkeit beitragen. Wenn eine Störung des Biorhythmus vorliegt, dann meist im Sinne eines Morgenpessimums. Im depressiven Zustand werden die eigenen Fähigkeiten und Lebensumstände meist negativ getönt wahrgenommen, positive und erfreuliche Dinge werden nicht gesehen oder sogar ins Negative umgedeutet. Diese pessimistische Sicht kann bis zur wahnhaften Einengung gesteigert sein, man spricht dann von Nihilismus. Die Hoff163
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nungslosigkeit, die negativen Zukunftsperspektiven entspringt, ist vor allem im Rahmen der Suizidalitätseinschätzung zu beachten. Menschen sind grundsätzlich in der Lage, mit belastenden und schwierigen Lebenssituationen zurechtzukommen, wenn diese als vorübergehende Krisen aufgefasst werden können und ein Ende abzusehen ist. Die Kombination von reduzierter Befindlichkeit und fehlender Hoffnung auf ein Ende des belastenden Zustandes kann dann zu der Überlegung führen, dem Leiden ein Ende zu setzen. Typischerweise bestehen im depressiven Zustand ein deutlich herabgesetztes Selbstwertgefühl und ein verringertes Selbstvertrauen. Die Patienten trauen sich Aktivitäten, die für sie normalerweise kein Problem darstellen, nicht mehr zu, fühlen sich unattraktiv und nicht liebenswert. Diese minderwertige Selbstwahrnehmung kann mit Schuldgefühlen verbunden sein, etwa wenn ein Patient weniger Gefühle für den Partner empfinden kann und glaubt, alles falsch zu machen, oder sich selbst nur als Belastung sieht. In diesem Zusammenhang kann die sehr häufig während einer Depression bestehende Verminderung der Libido zu einem sekundären Problem werden. Auch andere sexuelle Dysfunktionen (Erektionsstörungen, Orgasmusverzögerung bzw. -unfähigkeit) können auftreten. Ebenfalls ein Ausdruck reduzierter Lebens- und Genussfreude ist der verminderte Appetit, sodass es zu einem massiven Gewichtsverlust kommen kann, der immer auch eine körperliche Durchuntersuchung erfordert, da ja Depressionen auch als Begleitphänomen z. B. von Karzinomen auftreten können. Immer noch zu häufig werden Ärzte durch Somatisierungssymptome auf die falsche Fährte gelockt. Nicht nur Patienten aus mediterranen Kulturkreisen klagen häufig primär über Kopf- oder Rückenschmerzen, Schwindel, Bauchbeschwerden oder andere, oft unspezifische körperliche Symptome, die durch konkretes Nachfragen nach den depressiven Kernsymptomen als Depressionskorrelate erkannt werden können. Eine depressive Episode, welche mit psychotischen Symptomen vergesellschaftet ist, ist definitionsgemäß als schwergradig anzusehen. Als depressiv-psychotische Symptome sind Wahninhalte (Verarmung, Versündigung, Nihilismus) sowie – meist stimmungskongruente – Halluzinationen (die strafende Stimme Gottes, Totenglocken, Fäulnisgeruch) zu nennen, auch der depressive Stupor wird hierzu gezählt. Angst in den verschiedensten Ausprägungsformen (Angst vor oder um andere Menschen, soziale oder spezifische Phobien, Zukunftsangst, Panikattacken) sind bei fast allen depressiven Patienten zu erheben, manchmal ist eine komorbide Angststörung abzugrenzen. Reizbarkeit bis zu „anger attacks“, exzessiver Alkoholkonsum, histrionisches Verhalten, zwanghafte Symptome oder hypochondrische Grübeleien können darüber hinaus das vielfältige Bild einer depressiven Episode prägen.
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Tabelle 3 Wichtige Symptome der depressiven Episode Gedrückte Stimmung oder „Gefühl von Gefühllosigkeit“ Interessenverlust Freudlosigkeit Antriebsverminderung oder -steigerung Aktivitätseinschränkung Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit Erhöhte Ermüdbarkeit, Tagesmüdigkeit Schlafstörungen Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven Minderwertigkeits- und Schuldgefühle Angst (phobisch, generalisiert, Panikattacken) Beeinträchtigung der Sexualität Verringerter Appetit, Gewichtsabnahme Somatisierungssymptome Psychotische Symptome (Wahn, Halluzinationen, Stupor) Suizidgedanken bzw. Suizidhandlungen
4.2
Sonderformen depressiver Episoden
Manchmal werden von den Patienten praktisch ausschließlich die somatischen Symptome geschildert und die Betroffenen beharren nachdrücklich darauf, an einer körperlichen Krankheit zu leiden. Da aber auf Nachfragen meist eine Stimmungsverschlechterung, ein reduzierter Antrieb und Schlafstörungen exploriert werden können und diese durch die körperliche Symptomatik sozusagen nur „maskiert“ sind, spricht man von einer Maskierten oder Larvierten Depression. Die Patienten attribuieren oft in umgekehrter Richtung („Es geht mir psychisch nicht gut, weil ich andauernd solche Schmerzen habe.“). Sie müssen einerseits in ihrer subjektiven Wahrnehmung ernst genommen, andererseits adäquat antidepressiv behandelt werden. Die rezidivierende kurze depressive Störung („Recurrent Brief Depression“) zeichnet sich durch etwa einmal pro Monat auftretende Phasen von zwei bis drei Tagen Dauer mit vollständiger Remission aus. Die Episoden können durchaus schwer sein, die Suizidgefahr ist nicht zu unterschätzen. Bei der bereits erwähnten Depressiven Pseudodemenz stehen die kognitiven Symptome (Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen bis hin zur Desorientiertheit) ganz im Vordergrund, sodass die Abgrenzung von der Demenz manchmal erst im Verlauf (Rückbildung der kognitiven Symptome durch die antidepressive Behandlung) gelingt.
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Die Saisonal Abhängige Depression (SAD, „Herbst/Winter-Depression“) ist mit der in den dunklen Monaten verminderten Lichteinstrahlung assoziiert und zeichnet sich in der Symptomatik durch starke Tagesmüdigkeit bei vermehrtem Schlaf und gesteigerten Appetit aus. Die SAD nimmt in der Häufigkeit mit dem Abstand vom Äquator zu. Entsprechend der Pathogenese spricht diese Depressionsform gut auf die Therapie mit biologisch aktivem Licht (siehe 10.5.) an.
Fallbeispiel Der psychiatrische Konsiliardienst wird von der Gynäkologischen Klinik angefordert, um eine 31-jährige Patientin zu untersuchen, welche aufgrund von Komplikationen nach einer Fehlgeburt seit vier Wochen stationär aufgenommen ist. Die Patientin sei abweisend, zurückgezogen, weine öfters, wenn sie sich unbeobachtet fühle. Das von gynäkologischer Seite empfohlene psychiatrische Gespräch lehnt die Patientin vorerst schroff ab, sie lässt sich erst nach längerem Zureden durch das Pflegepersonal dazu motivieren. Sie erklärt gleich einleitend, sie brauche keinen Psychiater. Natürlich gehe es ihr schlecht, das sei wohl verständlich, immerhin habe sie ihr Kind verloren. Außerdem habe vor einem halben Jahr ihr Pferd, an dem sie sehr gehangen habe, eingeschläfert werden müssen. Sie wisse, was Depressionen seien, sie habe früher im Winter regelmäßig an Antriebsstörungen, Müdigkeit und Lustlosigkeit gelitten. Die damals verschriebenen Tabletten hätten sie nur dick gemacht, erst seit sie sich eine Lichtlampe zugelegt habe und diese zwischen Oktober und Februar regelmäßig verwende, gehe es ihr auch im Winter recht gut. Der jetzige Zustand (es lassen sich Interessenlosigkeit, Rückzugstendenzen, Konzentrations- und Schlafstörungen explorieren) könne aber keine Depression sein, sondern habe seine Ursache in den Verlusterlebnissen. Sie müsse diese nur verarbeiten, dann werde es schon wieder gehen. Während des Gespräches beginnt die Patientin immer wieder zu weinen, berichtet schließlich, dass sie fürchte, vom Arbeitgeber (einem Büro für Werbedesign) entlassen zu werden, weil ihr nichts Kreatives mehr einfalle. Ihr Partner gehe über den intrauterinen Tod des gemeinsamen ersten Kindes, auf das sie sich beide doch so gefreut hätten, wie unbeteiligt hinweg, sie könne das gar nicht verstehen und sei sich ihrer Gefühle zu ihm derzeit gar nicht sicher. Ihre Freundinnen würden sie nur zum Ausgehen und anderen Ablenkungen motivieren wollen. Auf Suizidgedanken angesprochen berichtet die Patientin unter Tränen von Fantasien, wie sie, das Kind im Arm, mit einem Gefühl von Befreitheit auf ihrem Pferd durch wunderschöne Landschaften reite, „dann wären wir alle vereint“. Die Patientin kann sich nach und nach darauf einlassen, ihren Zustand als eine depressive Symptomatik – unabhängig davon, welche Lebensumstände oder andere Faktoren diese hervorgerufen haben könnten – zu erkennen, und einer Behandlung zustimmen. Es wird eine antidepressive Medikation mit Schlaf anstoßender Wirkung zur Nacht (den Bedürfnissen der Patientin entsprechend gewichtsneutral) vereinbart. In den parallel stattfindenden psychotherapeutischen Gesprächen lassen sich mehrere kindliche Trennungserfahrungen besprechen (Tod der geliebten Großmutter,
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stationäre Behandlungen der Mutter aufgrund depressiver Episoden), die sich als nicht verarbeitet herausstellen. Daraus resultiert das Bedürfnis der Patientin, sich sehr eng an wichtige Personen zu binden. Nach zwei Wochen kann sich die Patientin wieder etwas besser von der fast zwanghaften Einengung auf die Gedanken an das Kind und das Pferd distanzieren, gewinnt mehr Interesse an ihrer Umwelt und bearbeitet in der Psychotherapie ihre ambivalent ständig vorhandenen Trennungs- und Verlustängste in Beziehung und Beruf.
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Rezidivierende depressive Störung F33 Eberhard A. Deisenhammer
In der Mehrzahl der Fälle folgt –wenn auch oft nach Jahren – auf eine erste depressive Episode eine weitere. Mit der Zahl der bisher durchlebten Episoden steigt das Risiko von weiteren Phasen an und die Zykluslänge wird (auf Kosten des symptomfreien Intervalls) meist kürzer („kindling“-Effekt). Die ICD-10-Kodierungen für die verschiedenen Formen rezidivierender Depressionen sind in Tabelle 4 aufgelistet. Tabelle 4 F33 – Rezidivierende depressive Störungen F33.0
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode
F33.00
ohne somatisches Syndrom
F33.01
mit somatischem Syndrom
F33.1
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode
F33.10
ohne somatisches Syndrom
F33.11
mit somatischem Syndrom
F33.2
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, ohne psychotische Symptome
F33.3
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, mit psychotischen Symptomen
F33.4
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert
F33.8
Sonstige rezidivierende depressive Störungen
F33.9
Nicht näher bezeichnete rezidivierende depressive Störung
Da auch nach einem jahrelangen unipolaren Verlauf noch erstmalig manische Episoden auftreten können, ist die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung eigentlich immer eine vorläufige, das Eintreten einer manischen Episode macht dann eine Änderung der Diagnose auf „bipolare Störung“ mit den entsprechenden Änderungen im therapeutischen Regime notwendig. Es ist davon auszugehen, dass nach
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Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
15 Jahren etwa die Hälfte der ursprünglich als unipolar depressiv diagnostizierten Patienten bipolar geworden sind.
6
Bipolare affektive Störung F31 Armand Hausmann
Nach ICD-10 wird eine bipolare affektive Störung (F31) dann diagnostiziert, wenn mindestens zwei Episoden aufgetreten sind, in denen Stimmung und Aktivitätsniveau des Betroffenen entweder gehoben (Hypomanie/Manie) oder vermindert sind (Depression). Patienten mit rezidivierenden, ausschließlich hypomanischen oder manischen Phasen werden ebenfalls hier klassifi ziert. Von dieser Diagnose auszuschließen ist eine einzelne manische oder depressive Episode sowie eine rezidivierende unipolare Depression oder eine Zyklothymie. Das klinische Vorgehen bei der Erstellung der Diagnose einer klassischen bipolaren Störung, die neben depressiven auch aus manischen Episoden besteht, erfordert neben der Erfassung der aktuellen Symptomatik auch das Erheben einer Fremdanamnese. Beim erstmaligen Auft reten einer depressiven Episode steht noch nicht fest, ob die Erkrankung einen unipolaren oder bipolaren Verlauf nehmen wird. Durchschnittlich 25 % der Patienten mit ursprünglich „unipolar“ diagnostizierter Depression durchlaufen allerdings innerhalb von neun Jahren eine (hypo-)manische Episode. Bipolar affektive Störungen zeichnen sich durch eine sehr hohe Rate an psychiatrischen und somatischen Komorbiditäten aus. Viele bipolare Patienten suchen primär die Hilfe eines Arztes wegen Beschwerden, die durch eine komorbide Erkrankung verursacht werden. Die durch die Komorbidität bedingte Symptomatik kann die Diagnose der dahinterliegenden affektiven Erkrankung erschweren. Zu den charakteristischen Komorbiditäten zählen Panikattacken, generalisierte Angststörungen, soziale Phobien, Zwangsstörungen, Migräne, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Mehr als 61 % aller Patienten mit einer bipolaren Störung leiden während ihres Lebens an einer Abhängigkeitserkrankung. Bipolare Patienten mit exzessivem Alkoholkonsum zeigen höhere Raten an manischen und depressiven Symptomen, verstärkter Impulsivität und Gewalt. Sowohl krankheitsimmanente als auch therapiebezogene Einflussfaktoren sowie ein mit der Erkrankung häufig einhergehender ungünstiger Lebensstil bewirken zusätzlich ein erhöhtes somatisches Morbiditätsrisiko. Klinisch ist unter anderem die statistisch signifi kante Assoziation zu einem metabolischen Syndrom mit Diabetes mellitus, Hyperlipidämie und Adipositas mit anschließenden zerebro- und koronarvaskulären Erkrankungen zu beachten. Werden Patienten, die wegen ihrer bipolaren Störung zufriedenstellend behandelt werden, mit solchen verglichen, die keine konsequente Therapie erhalten, dann ist bei letzteren auch das Mortalitätsrisiko infolge der komorbiden somatischen Erkrankungen deutlich erhöht.
168
Affektive Störungen | 5
Tabelle 5 F31 – Bipolar affektive Störung F31.0
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig hypomanische Episode
F31.1
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig manische Episode ohne psychotische Symptome
F31.2
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen
F31.3
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradige depressive Episode
F31.30
ohne somatisches Syndrom
F31.31
mit somatischem Syndrom
F31.4
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome
F31.5
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
F31.6
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig gemischte Episode
F31.7
Bipolar affektive Störung, gegenwärtig remittiert
F31.8
Sonstige bipolare affektive Störung
F31.9
Nicht näher bezeichnete bipolare affektive Störung
6.1
Manische Episode F30
Die Diagnostik einer hypomanischen Episode (F30.0) in der Vorgeschichte des Patienten ist schwierig. Sie ist im Gegensatz zur voll ausgeprägten Manie durch eine kürzere Dauer und einen milderen Verlauf charakterisiert und wird daher auch von den Betroffenen und den Angehörigen nur selten als krankheitswertig angesehen. Somit wird diese im Zuge der Anamnese nicht erwähnt. Im Gegenteil, die Betroffenen fühlen sich während hypomaner Phasen oft besonders vital, leistungsfähig und somit gesund. Die Kritiklosigkeit dem eigenen Tun gegenüber kann den Patienten allerdings in gefährliche Situationen bringen. Eine manische Episode (auch als dunkle Seite der Hypomanie bezeichnet) kann mit euphorischen oder dysphorischen Symptomen einhergehen. Die euphorische Manie zeigt sich durch gehobene Stimmung, Gedankenrasen, Ideenflucht, Rededrang, Leichtsinnigkeit, Größenideen, vermindertes Schlafbedürfnis und Unruhe bei Antriebssteigerung. Von der euphorischen Form der Manie wird die dysphorische Form unterschieden, die durch Gereiztheit, Aggressivität und evtl. Feindseligkeit gekennzeichnet ist. Es können aber auch Halluzinationen und Wahnideen in Kombination mit Sprunghaftigkeit im Denken auftreten. Bei leichten Formen von Manie ist der Tatendrang bis spät in die Nacht oft nicht von jenem eines sog. „Workaholic“ zu unterscheiden. Die manische Arbeitswut tritt aber phasisch auf und ist zeitlich begrenzt, sowie in der Regel nicht produktiv. Danach folgt entweder ein Leistungstief oder gar eine depressive Episode mit völligem Leistungseinbruch. Der Anteil manischer Patienten mit psychotischen Symptomen beträgt circa 30 %. Die Qualität der psychotischen Symptome ist meistens stimmungskongruenter (syn169
Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
thymer) Natur: Expansive Ideen sind vorherrschend. Diese psychotischen Inhalte können auch stimmungsinkongruent (parathym) sein, sodass die Abgrenzung zur schizoaffektiven Psychose oder Schizophrenie im Querschnitt schwer möglich sein kann. Die Symptomatik der manischen Episode gibt Tabelle 7 wieder. Tabelle 6 F30 – Manische Episode F30.0
Hypomanie
F30.1
Manie ohne psychotische Symptome
F30.2
Manie mit psychotischen Symptomen
F30.20
Manie mit synthymen psychotischen Symptomen
F30.21
Manie mit parathymen psychotischen Symptomen (z. B. Stimmen, die zum Betroffenen von affektiv neutralen Dingen sprechen, ferner Beziehungs- oder Verfolgungswahn)
F30.8
Sonstige manische Episode
F30.9
Nicht näher bezeichnete manische Episode
Tabelle 7 Typische Symptome einer manischen Episode Grandiosität (bei euthymer Manie) Gesteigerte Aktivität mit Verrichten von Arbeiten bis in die Nacht hinein. Subjektives Empfinden einer Steigerung von Leistungsfähigkeit und Kreativität Zielloser, sprunghafter Tatendrang Deutlich vermindertes Schlafbedürfnis Gesteigerter Rededrang und Gedankensprünge im Gespräch Distanzlosigkeit im Umgang mit anderen Gesteigertes Selbstbewusstsein, Größenideen mit Kritiklosigkeit dem eigenen Tun gegenüber Verstärktes Risikoverhalten Enthemmung (zügelloses Sexualleben, Kaufrausch etc.) Gereiztheit (bei dysphorischer Manie) Gedrückte Stimmung, begleitet von Überaktivität oder Euphorie gepaart mit Antriebslosigkeit (bei gemischter Episode)
6.2
Gemischte bipolare Episode F31.6
Die Diagnose einer gemischten Episode fordert ein vorwiegend simultanes Auft reten oder rasches Wechseln (gewöhnlich innerhalb von wenigen Stunden) von depressiven und hypomanischen/manischen Symptomen mit einer Mindestdauer von zwei Wochen. Zur Absicherung der Diagnose einer biploaren Störung verlangt das ICD-10 zusätzlich zur gemischten Episode eine gut belegte manische, hypomanische oder zweite 170
Affektive Störungen | 5
gemischte affektive Episode in der Anamnese. Im Schnitt werden 40 % aller Patienten mit bipolarer Störung im Laufe ihrer Erkrankung als „symptomatologisch gemischt“ diagnostiziert. Die Dauer der Episoden korreliert direkt mit der Art ihrer Auslenkung: Manische Episoden persistieren im Schnitt sechs Wochen, depressive Episoden 12 Wochen und gemischte Episoden 45 Wochen. Allerdings finden sich besonders bei BP-IIPatienten oft auch langjährige chronifizierte depressive Verläufe.
6.3
Sonderformen bipolarer Störungen
Ein Subtypus ist die Bipolar-II-Störung (BP-II) (F38.0) mit überwiegend depressiven Episoden, welche von hypomanen Schwankungen gefolgt werden. Die Diagnosestellung einer BP-II-Störung ist nicht nur aus therapeutischer, sondern auch aus prognostischer Sicht wichtig. Im Vergleich zu BP-I ist BP-II durch das Auft reten hypomaner anstelle manischer Episoden charakterisiert. Patienten, welche an einer BP-I-Störung leiden, haben kürzere Episoden-Intervalle sowie eine höhere Rückfallrate. Die BP-IIStörung tendiert zu einem chronischen Verlauf. Auch haben Patienten mit BP-II deutlich mehr depressive Episoden als jene, die unter einer BP-I-Störung leiden. Rapid Cycler (RC) (F31.81) weisen im Jahr vier oder mehr Episoden manischer und/ oder depressiver Auslenkung auf. Diese können mit zunehmender Dauer der Erkrankung häufiger auftreten, aber auch wieder verschwinden. Fallbeispiel Vorgeschichte: Lena O. wird von ihrem Vater in die Klinik gebracht. Sie ist 19 Jahre alt und besucht die 8. Klasse Gymnasium. Die 6. Klasse hat sie – obwohl hochintelligent – wegen ungenügender Leistungen wiederholen müssen. Anlass für die Sorge des Vaters sei ein wesensfremdes Verhalten gewesen: Nach einem Schreiduell habe sie dem Deutschlehrer eine Ohrfeige versetzt. Der Vater berichtet, dass seine Tochter Lena normalerweise eher still und zurückgezogen sei. Manchmal habe er sich sogar gedacht, dass sie ihrer Tante, seiner Schwester, sehr ähnlich sei. Diese habe an Depressionen gelitten und sei mehrmals in einer psychiatrischen Abteilung aufgenommen worden. Ihrem Leben habe sie durch einen Suizid ein Ende gesetzt. Bei der Erziehung seiner Tochter habe es nie größere Schwierigkeiten gegeben. Sie sei ernst und strebsam. Auch in der Schule sei es nie zu disziplinären Problemen gekommen. Seit nunmehr zwei Wochen habe sich das Bild jedoch völlig gewandelt. Lena habe die Schule kaum mehr besucht, sei von Diskothek zu Diskothek gezogen und habe anschließend regelmäßig junge Männer mit nach Hause gebracht. Nach konkreten Vorhaltungen vonseiten der Eltern sei es zu Zornausbrüchen der Tochter gekommen, worauf sie die folgende Nacht überhaupt nicht mehr nach Hause gekommen sei. Auch habe die sonst sparsame Tochter in letzter Zeit Unsummen für Kosmetika und sehr aufreizende Kleidung ausgegeben.
171
Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
Exploration der Patientin: Die Unterredung mit der Patientin selbst gestaltet sich schwierig, weil sie darauf besteht, im Garten spazieren zu gehen, um frische Luft zu schnappen. Auch weigert sie sich den Kopfhörer ihres MP3-Players abzunehmen. Die Patientin ist stark geschminkt. Zum Vorfall in der Schule befragt, erklärt sie, wenn man dumme Fragen stelle, bekomme man eine dumme Antwort, auch wenn man, wie der Deutschlehrer, keinen Bart habe. Eine Ohrfeige sei schließlich auch eine Form einer dummen Antwort. Außerdem sei es notwendig, Farbe in das Leben zu bringen, nach einer Ohrfeige verfärbe sich die Wange rot. Dem Vorschlag in der Klinik zu bleiben, stimmt die Patientin sofort zu, weil hier viele kranke Menschen seien, denen sie durch ihre extraterristrischen Heilkräfte helfen könne. Hiervon sei sie hundertprozentig überzeugt: Sie sei zu großen Taten auserwählt. Diagnose: Aufgrund der aktuellen Symptomatik sowie der Anamnese wird die Verdachtsdiagnose „Bipolare Störung, derzeit manische Episode mit synthymen psychotischen Symptomen“ gestellt (F31.20). Therapie und Verlauf: Die Patientin wird mit Olanzapin 20 mg/d sowie Lithiumkarbonat bis zu einem Serumspiegel von 1,1 mmol/l behandelt. Aufgrund der zu Beginn der Therapie bestehenden Kritikunfähigkeit der Patientin – sie erachtete sich selbst als völlig gesund und alle anderen als krank – kommt es immer wieder zu Konflikten mit dem Pflegepersonal. Es ergeben sich Schwierigkeiten bei der Medikamenteneinnahme sowie bei der zur Bestimmung der Schilddrüsen- und Nierenparameter notwendigen Blutabnahme. Unter der Therapie klingt nach 3-wöchiger Behandlung allmählich die manische Symptomatik ab: Die Patientin kann sich langsam von ihren Wahninhalten distanzieren und eine adäquatere Sichtweise ihrer Situation einnehmen. Als Auslöser für die Krankheitsepisode sieht die Patientin lernbedingte Schlafdefizite und den Dauerstress während der letzten zwei Jahre: Sie habe neben ihrem Studium mitgeholfen, die bettlägerigen Großeltern zu pflegen: Auch habe sie die vor zwei Jahren durch einen Insult in der Verrichtung der haushaltlichen Tätigkeiten deutlich beeinträchtigte Mutter unterstützt. Um das Arbeitspensum zu schaffen, habe sie immer öfter bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. In einer zusätzlichen außenanamnestischen Erhebung mit einem Bekannten wird die Patientin als warmherzig, stützend, hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe und Vernachlässigung eigener Bedürfnisse beschrieben. Nach 4-wöchigem Klinikaufenthalt wird die Patientin bei leichter Restsymptomatik zu einer teilstationären Therapie an die Tagesklinik transferiert. Hier wird die bestehende Diagnose durch die außenanamnestisch erhebbaren, der Manie vorausgehenden leichtgradigen depressiven Episoden bestätigt und die Therapie mit Lithium und dem Antipsychotikum in gleicher Dosis weitergeführt. Während des teilstationären Aufenthalts wollte die Patientin Olanzapin wegen der Nebenwirkungen (Müdigkeit und Ge-
172
Affektive Störungen | 5
wichtszunahme) möglichst bald absetzen und plante im nächsten Monat wieder ganz ohne Medikamente zurechtzukommen. Olanzapin wird daraufhin gegen Apripiprazol ohne sedierende Komponente und mit weniger metabolischer Nebenwirkung umgestellt. In den psychoedukativen Gruppen werden die Diagnose und deren Prognose, das Prozedere beim Auftreten von Frühsymptomen sowie die Notwendigkeit einer weiterführenden Pharmakotherapie besprochen. In den psychodynamisch orientierten Psychotherapie-Gruppen wird der innere neurotische Versorgungs-Autarkie-Konflikt bearbeitet. Der Wiedereinstieg in die Maturaklasse wird in den soziotherapeutischen Gruppen besprochen. Da die Auseinandersetzung mit dem Lehrer als äußerst schamhaft erlebt wurde, wird dieser zu einem gemeinsamen Gespräch gebeten, das sehr positiv verläuft. Im Sinne des Entlassungsmanagements wird der Kontakt zu dem die weitere Behandlung übernehmenden niedergelassenen psychiatrischen Facharzt hergestellt.
7
Anhaltende affektive Störungen: Zyklothymia, Dysthymia F34 Eberhard A. Deisenhammer
Affektive Störungen manifestieren sich – wie erwähnt – typischerweise in Form von manischen bzw. depressiven Episoden mit dazwischenliegenden Phasen vollständiger Remission. Die Zyklothymia und die Dysthymia stellen hingegen chronische, oft fluktuierende affektive Verstimmungszustände dar, die im Schweregrad unter den affektiven Episoden liegen, jedoch jahrelang andauern und ebenfalls zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen können. Die Zyklothymia (F34.0) wurde früher zu den Persönlichkeitsstörungen gerechnet und ist durch eine andauernde Instabilität der affektiven Befindlichkeit mit oft monatelangen Perioden leichter depressiver oder angehobener Stimmung gekennzeichnet. Typischerweise werden die Befindlichkeitsänderungen nicht in Zusammenhang mit äußeren Ereignissen stehend erlebt. Die Betroffenen sind meist arbeits- und beziehungsfähig, im angehobenen Zustand sogar vermehrt kreativ und produktiv. Menschen mit leichten Formen kommen oft gar nicht in ärztliche Therapie. Die Grenze zur bipolaren affektiven Störung ist fließend. Die Dysthymia (F34.1) wurde in der Vergangenheit als „neurotische Depression“ bezeichnet. Die Symptomatik besteht in einer lang andauernden, mäßig ausgeprägten depressiven Verstimmtheit mit Schlafstörung, verminderter Genuss- und Freudfähigkeit und ständiger Müdigkeit. Die Anforderungen des täglichen Lebens können aber meist erfüllt werden. Treten zusätzlich noch Phasen verdichteter Stimmungsbeeinträchtigung im Sinne depressiver Episoden auf, spricht man von „double depression“. Antidepressiva sind in der Behandlung der Dysthymia effektiv, der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Psychotherapie.
173
Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
8
Differenzialdiagnose affektiver Störungen Armand Hausmann
Beim erstmaligen Auft reten einer depressiven Episode steht, wie bereits erwähnt, noch nicht fest, ob die Erkrankung einen unipolaren oder bipolaren Verlauf nehmen wird. Die frühzeitige differenzialdiagnostische Unterscheidung zwischen unipolar depressivem und bipolarem Verlauf ist aufgrund notwendiger therapeutischer Konsequenzen allerdings wichtig. Die Qualität der Stimmungsschwankungen gibt die wichtigsten Hinweise für die Diagnose. Oft ist nicht so sehr die Eigenanamnese, sondern eine Außenanamnese hilfreich, da Verhaltensänderungen sowie eine Angehobenheit der Stimmung besser von Angehörigen als vom Patienten selber berichtet werden können. Hinweise auf eine entsprechende Prädisposition für eine bipolare Störung kann die Familienanamnese geben. Ein früher Beginn oder eine initiale schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen sprechen eher für die Entwicklung einer bipolaren Störung als für eine unipolare Depression. Ebenfalls auf bipolare Störung verdächtig sind postpartaler Beginn, saisonale Abhängigkeit, kurze Dauer der Episoden mit hoher Zyklizität sowie rascher Beginn und schnelle Abnahme der Episoden. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung zur schizoaffektiven Störung (SAS) und zur Schizophrenie ist klinisch oft schwer und häufig nur im Verlauf möglich. Im Gegensatz zur bipolaren Störung bestehen Stimmungsstörungen im Rahmen einer Schizophrenie im Vergleich zur Gesamtdauer der Erkrankung nur für kurze Zeit und kommen besonders während der Prodromal- oder Residual-Phase vor. Auch erfüllen sie häufig nicht die vollen Kriterien für eine depressive oder manische Episode. Wenn psychotische Symptome exklusiv während der Phase einer affektiven Störung auftreten, wird die Diagnose Depression bzw. Manie mit psychotischen Symptomen gestellt. Bei der SAS muss eine affektive Episode vorliegen, welche gleichzeitig mit der aktiven Symptomatik der Schizophrenie auftritt. Wahnsymptome oder Halluzinationen sollen mindestens zwei Wochen länger als die Stimmungsstörungen bestehen. Affektive Symptome, speziell depressiver Natur, können auch während einer wahnhaften Störung auftreten. Allerdings erfüllen diese Syndrome nicht die Kriterien für eine SAS, weil die psychotischen Symptome im Rahmen einer wahnhaften Störung sich nicht auf bizarre Wahninhalte beschränken und deswegen nicht das Kriterium A der Schizophrenie erfüllen, das auch für die SAS als konstituierend gilt. Nach der Jaspers’schen Schichtenregel müssen somatische Ursachen psychiatrischer Symptome als Erstes ausgeschlossen werden. Eine organische drogen- oder arzneimittelinduzierte depressive oder manische Symptomatik kann aus dem zeitlichen Zusammenhang bei entsprechenden anamnestischen Hinweisen erhoben werden. Diese schließen die Diagnose einer bipolaren Störung aus.
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Affektive Störungen | 5
9
Antidepressive Akuttherapie: Pharmako- und Psychotherapie Eberhard A. Deisenhammer
Wie bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen basiert die Therapie depressiver Episoden auf einem mehrdimensionalen Ansatz und umfasst medikamentöse und psychotherapeutische sowie ergo-, physio- und soziotherapeutische Maßnahmen. Die Kombination von Pharmako- und Psychotherapie hat sich in Studien als den jeweiligen Monotherapien überlegen erwiesen. Die Phase der antidepressiven Akuttherapie, welche die vollständige Remission zum Ziel hat, geht direkt in jene der Erhaltungstherapie über. Diese beschreibt jene Zeitspanne erhöhten Rückfallrisikos, welches für etwa sechs Monate nach Eintreten der (Voll-)Remission besteht (Abb. 1). In dieser Phase sollte jene Medikamentendosis, welche für die Akuttherapie verwendet wurde, gleich belassen werden. Daher ist es wichtig, bereits zu Beginn der Behandlung die Verträglichkeit der Medikation auch hinsichtlich jener Nebenwirkungen zu erheben, welche in der akuten Depression für die Patienten eine geringere Rolle spielen, im remittierten Zustand jedoch eine größere Bedeutung bekommen (wie etwa Tagesmüdigkeit, Tremor oder sexuelle Dysfunktionen). So kann schon initial jenes Antidepressivum eingesetzt werden, welches dann auch längerfristig von den Patienten akzeptiert wird. Wenn nach der Erhaltungsphase keine Indikation für eine pharmakologische Langzeittherapie („Phasenprophylaxe“; siehe 9.14) vorliegt, wird die Medikation langsam ausgeschlichen. Remission
Symptomfreiheit
Rückfall
Depressives Syndrom
Wiederauftreten
Ansprechen Depressive Episode
Behandlungsphasen
Akut
Erhaltung (6 Monate)
Abb. 1
Phasen der antidepressiven Akuttherapie (nach Kupfer, 1993)
9.1
Antidepressiva
Prophylaxe
Die Erkenntnis der pharmakologischen Beeinflussungsmöglichkeit depressiver Symptomatik basiert auf der zufälligen Entdeckung der stimmungsaufhellenden Wirkung von Imipramin durch den Schweizer Psychiater Roland Kuhn im Jahr 1956. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die biochemischen Grundlagen depressiver Erkrankungen völ-
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Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
lig unbekannt. Welche der neurobiologischen Veränderungen, die Antidepressiva im ZNS haben, die klinisch tatsächlich relevanter sind, ist noch nicht vollkommen klar. Antidepressiva sind nicht nur bezüglich der neurobiologischen Wirkungen, sondern auch hinsichtlich der therapeutischen Effekte relativ unspezifisch. So werden sie unter anderem bei der Panikstörung, der Generalisierten Angststörung, der Sozialphobie, der Zwangsstörung, der Posttraumatischen Belastungsstörung, der Bulimie, aber auch in der adjuvanten Schmerzbehandlung eingesetzt. Der Wirkmechanismus fast aller heute am Markt befindlichen Antidepressiva beruht auf der in den 1960er-Jahren formulierten Monoaminmangel-Hypothese der Depression. Nach dieser beheben antidepressiv wirksame Medikamente das postulierte zerebrale Defizit an Serotonin und Noradrenalin und führen über eine Down-Regulation der Rezeptoren die Stimmungsaufhellung herbei. Die Behebung des Defizits an diesen beiden Neurotransmittern kann einerseits durch eine Erhöhung der Konzentration im synaptischen Spalt über die Blockierung der Wiederaufnahme in das präsynaptische Neuron, andererseits durch die Hemmung des enzymatischen Abbaus erfolgen. Auch andere spezifische Wirkungen an prä- oder postsynaptischen Rezeptoren können insgesamt die serotonerge und/oder noradrenerge Neurotransmission fördern. Infolge des zunehmenden Wissens über die neurobiologischen Grundlagen der Entstehung depressiver Erkrankungen werden zunehmend neue Hypothesen über deren medikamentöse Beeinflussung entwickelt. Dementsprechend werden derzeit Substanzen mit völlig neuen molekularbiologischen Ansatzpunkten in klinischen Studien hinsichtlich ihrer antidepressiven Wirksamkeit getestet. Vor dem Hintergrund der als gesichert geltenden Über- bzw. Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse steht dabei der Antagonismus am Corticotropin Releasing Factor (CRF)-1-Rezeptor und jener am zentralen Glukokortikoid-Rezeptor im Mittelpunkt des Interesses. Das glutamaterge System könnte, neben anderen psychiatrischen Erkrankungen, auch für affektive Störungen ein therapeutischer Ansatzpunkt sein. Ein Melatonin-Rezeptor-Agonist ist mittlerweile als Antidepressivum zugelassen worden. Auch die Erkenntnis, dass sich das Gehirn bis ins hohe Alter das grundsätzliche Potenzial zur Neuroneogenese, also zur Zell- und Synapsenneubildung, erhält, hat die therapeutische Forschung stimuliert. Stress und Glukokortikoide hemmen die Expression des Brain-Derived Neurotrophic Factors (BDNF), Antidepressiva sowie verschiedene nicht medikamentöse Verfahren (ECT, Schlafentzug, Bewegung) fördern sie. So sind in den nächsten Jahren große Fortschritte in der Depressionsbehandlung zu erhoffen. Die derzeitigen Antidepressiva haben allesamt gemein, dass ihre klinische Wirkung erst mit einer Latenzzeit von etwa zwei Wochen eintritt. Dieses Phänomen steht in erstaunlichem Widerspruch zum akuten depressiogenen Effekt der Tryptophan-Depletion (ein artifiziell herbeigeführtes serotonerges Defizit) sowie zum relativ raschen Wirkeintritt von Antidepressiva beim Prämenstruellen (Dysphorischen) Syndrom und beruht wohl auf den für die stimmungshebende Wirkung notwendigen sekundären Mechanismen (Rezeptoradaptationen, Neuronenregeneration). Für die Einschätzung der suizidalen Gefährdung ist es wichtig zu wissen, dass die Verbesserung des Antriebs zeitlich vor der Stimmungsaufhellung eintreten kann und 176
Affektive Störungen | 5
dadurch Patienten, deren Suizidgedanken durch die psychomotorische Hemmung blockiert waren, erst durch die Medikation in die Lage versetzt werden können, diese Gedanken in ein Handeln umzusetzen. Daher sind depressive Patienten vor allem in dieser Einstellungsphase regelmäßig hinsichtlich ihrer Suizidalität zu evaluieren. Der Wirkgrad von Antidepressiva beträgt 60–70 %, d. h., etwa ein Drittel der Patienten spricht auf die erste medikamentöse Therapie nicht an. In diesen Fällen ist daher eine Umstellung oder die Einleitung adjuvanter Maßnahmen erforderlich (siehe Kapitel 9.4, S. 180). Der Anteil des Placebo-Effekts ist bei der Behandlung depressiver Patienten hoch. Bei Substanzen mit kurzer Halbwertszeit ist auch auf die Möglichkeit eines discontinuation syndromes bei zu raschem Absetzen des Antidepressivums hinzuweisen. Dabei können in den ersten Tagen nach plötzlicher Beendigung der Medikation Schwindel, Übelkeit, Muskelzuckungen und -krämpfe, Schlafstörungen oder Agitiertheit auft reten; Phänomene also, die leicht mit depressiven Symptomen bzw. Nebenwirkungen verwechselt werden können. Die in Österreich derzeit verschreibbaren Antidepressiva mit der jeweiligen empfohlenen Tagesdosis sind in Tabelle 8 aufgelistet. 9.1.1
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)
Diese Gruppe von Antidepressiva zeichnet sich durch eine weitgehend selektive Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin in die präsynaptische Zelle (über den Serotonin-Transporter) aus. Diese Substanzklasse war die erste, die in Forschungslabors gezielt auf Basis der Erkenntnis entwickelt wurde, dass ein Serotonin-Defizit als biologisches Korrelat depressiver Erkrankungen eine zentrale Rolle spielt. Als wichtigste Nebenwirkungen sind Übelkeit, Durchfall, Schlafstörungen und sexuelle Dysfunktionen (Verminderung der Libido, Ejakulationsverzögerung) zu nennen. Nicht ungefährlich kann die durch eine überschießende Sekretion des antidiuretischen Hormons induzierte Hyponatriämie sein. Bei Kombination mit anderen serotonergen Substanzen (z. B. Lithium oder Triptane) kann es zum Auft reten eines Serotonin-Syndroms (gekennzeichnet durch Übelkeit, Grippegefühl, Myoklonien, Reflexsteigerungen und Akathisie) kommen. 9.1.2 Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) Bei Medikamenten aus dieser Substanzgruppe kommt zusätzlich eine Blockade der Noradrenalin-Wiederaufnahme hinzu. Ihnen wird in Studien ein etwas rascherer Wirkeintritt zugeschrieben, allerdings wird das Spektrum an möglichen Nebenwirkungen durch adrenerg vermittelte Effekte (Miktionsstörungen, Obstipation, Tachykardie, Hyperhidrosis) erweitert. 9.1.3 Trizyklische Antidepressiva (TZA) Zu den Trizyklika zählte das erste als solches deklarierte Antidepressivum, das Imipramin. TZAs wirken auf eine Vielzahl von Rezeptorsystemen, weshalb diese mit einem hohen Nebenwirkungsrisiko verbunden sind (u. a. Tremor, Mundtrockenheit, Miktionsstörungen, Obstipation, Akkomodationsstörungen, Herzrhythmusstörun177
Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
gen, bei älteren Patienten auch delirante Zustände). Trizyklika sind nicht als Antidepressiva der ersten Wahl anzusehen. Gleiches gilt auch für Tetrazyklika. 9.1.4 Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Inhibitoren) Durch Medikamente dieser Substanzklasse wird der enzymatische Abbau von Serotonin und Noradrenalin gehemmt. Irreversible MAO-Hemmer sind heute kaum mehr in Verwendung. Der reversible MAO-Inhibitor Moclobemid kann zu Schlafstörungen, Schwindel und gastrointestinalen Nebenwirkungen führen, scheint aber mit einem geringeren Risiko sexueller Dysfunktionen assoziiert zu sein. 9.1.5 Andere Antidepressiva Die meisten anderen Substanzen mit einer nachgewiesenen stimmungsaufhellenden Wirkung greifen ebenfalls über serotonerge oder noradrenerge Systeme ins ZNS ein. Zu den Ausnahmen zählt Bupropion, welches vorwiegend die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin hemmt. Diese Substanz wird auch in der Behandlung der Nikotinabhängigkeit eingesetzt. Tianeptin wirkt einerseits – ganz konträr zur Monoaminmangel-Hypothese – fördernd auf die Serotonin-Wiederaufnahme, es hat jedoch auch Effekte auf das glutamaterge System, die mittlerweile als die relevanten angesehen werden. Agomelatin hat eine agonistische Funktion an den Melatonin-Rezeptoren, ist aber auch ein 5-HT2-Antagonist. Johanniskraut-Extrakt wird als „natürliches“ und pflanzliches Antidepressivum mit einer Wirkung bei leichten Depressionsformen vermarktet, ist jedoch de facto ebenfalls ein SNRI. An das Interaktionspotenzial (z. B. Spiegelsenkungen von Zytostatika) wird oft mals zu wenig gedacht.
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Affektive Störungen | 5
Tabelle 8 Übersicht der in Österreich am Markt befi ndlichen Antidepressiva Substanzgruppe
Substanzen (Handelsname des Primärherstellers; daneben gibt es von vielen Substanzen Generika)
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)
Citalopram (Seropram®, Cipramil®) Escitalopram (Cipralex®) Fluoxetin (Fluctine®) Fluvoxamin (Floxyfral®, Fevarin®) Paroxetin (Seroxat®) Sertralin (Tresleen®, Gladem®, Zoloft®)
Serotonin- und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer (SNRI)
Duloxetin (Cymbalta®) Milnacipran (Ixel®) Venlafaxin (Efectin®, Trevilor®)
Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (NARI)
Reboxetin (Edronax®)
Dopamin- und NordrenalinWiederaufnahme-Hemmer
Bupropion (Wellbutrin®, Elontril®)
150–300 mg/d
Tri- bzw. tetrazyklische Antidepressiva (Beispiele)
Amitriptylin (Saroten®, Tryptizol®) Clomipramin (Anafranil®) Maprotilin (Ludiomil®)
50–150 mg/d 75–150 mg/d 50–150 mg/d
MAO-Hemmer
Moclobemid (Aurorix®)
300–600 mg/d
Andere Antidepressiva
Agomelatin (Valdoxan®) Johanniskraut (Jarsin®, Laif®) Mianserin (Tolvon®, Tolvin®) Mirtazapin (Remeron®, Remergil SolTab®) Tianeptin (Stablon®) Trazodon (Trittico®, Thombran®)
25–50 mg/d 900 mg/d 30–90 mg/d 15–45 mg/d 37,5 mg/d 150–300 mg/d
9.2
Dosisbereich bei Erwachsenen 20–60 mg/d 10–20 mg/d 20–60 mg/d 100–300 mg/d 20–50 mg/d 50–200 mg/d 60–120 mg/d 100 mg/d 75–375 mg/d 8–12 mg/d
Andere in der akuten Depressionsbehandlung verwendete Medikamente
Die „Zwei-Zügel-Therapie“ (Kombination von Antidepressiva mit Antipsychotika) ist in der Behandlung der psychotischen Depression als Standard anzusehen. In den letzten Jahren konnte in großen Studien auch ein eigenständiger antidepressiver Effekt für atypische Antipsychotika der neuen Generation, insbesondere für Quetiapin nachgewiesen werden. In der Akutphase wird man um die Verwendung von Benzodiazepinen zur Anxiolyse und Schlafförderung oft mals nicht herumkommen, das Abhängigkeitspotenzial ist jedoch im Auge zu behalten. Zum Einsatz von Lithium und Antikonvulsiva in der Depressionsbehandlung siehe 9.4 und 14.
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9.3
Psychotherapeutische Ansätze; allgemeiner Umgang mit Depressiven
„Psychotherapie“ bedeutet keine „Heilung der Seele“, sondern „Heilung über die Seele“. Dieser Hinweis ist besonders bei den depressiven Erkrankungen wichtig, da hier die einfühlsame, stützend-supportive Begleitung des Patienten im Rahmen der ärztlichen Gespräche ebenso wichtig ist wie spezifische psychotherapeutische Verfahren. Von diesen sind die kognitive Verhaltenstherapie und die interpersonelle Psychotherapie am besten untersucht. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich nicht alle Patienten auf einen intensiven psychotherapeutischen Prozess einlassen können. Vom Grundansatz gedanklicher Umstrukturierung, nämlich negative Erwartungsschablonen („Heute wird sicher wieder alles schief gehen!“) und negative gedankliche Generalisierungen („Mein ganzes Leben ist eine Ansammlung von Problemen!“) abzubauen, können aber grundsätzlich alle depressiven Patienten profitieren. Für den Umgang mit depressiven Menschen ist es wichtig, die Erkrankung, die bei Angehörigen und Arbeitskollegen oft als ein „Nicht-Wollen“ imponiert, als ein „NichtKönnen“ zu erkennen. Eine unterstützende, die Phasenhaftigkeit (und damit das zu erwartende Ende der Symptomatik) und Behandelbarkeit betonende Haltung, die den Patienten ermuntert, seine – vorübergehend limitierten – Ressourcen zu nützen, aber nicht überfordert, ist von großer Wichtigkeit. Kleine Schritte der Besserung („Dass Sie bei der Visite schon angekleidet sind, wäre letzte Woche noch nicht möglich gewesen!“) sollten dem Patienten gespiegelt werden. Aufforderungen, sich doch „zusammenzureißen“, oder Sätze wie „So schlimm wird das schon nicht sein!“, verstärken die Insuffizienzgefühle Depressiver noch mehr und können unter Umständen auch das Suizidrisiko erhöhen. Langzeitstudien haben gezeigt, dass Psychotherapie auch eine phasenprophylaktische Wirkung hat, also weitere depressive Episoden verhindern kann. Dieser Effekt ist in der Kombination mit einer Langzeitbehandlung mit Antidepressiva am stärksten ausgeprägt.
9.4 Vorgehen bei therapieresistenter Depression Armand Hausmann Immer noch fehlt eine weltweit übereinstimmende Definition der therapieresistenten Depression. Im deutschen Sprachraum wird von „Therapieresistenz“ einer Depression gesprochen, wenn zwei Antidepressiva in ausreichender Dosierung über jeweils sechs Wochen keinen klinischen Erfolg erbracht haben. Risikofaktoren für die Entwicklung einer therapieresistenten Depression sind lange Latenz bis zum Beginn der Behandlung, die Dauer der aktuellen Indexepisode, die Schwere der Symptomatik vor Behandlungsbeginn sowie eine komorbide Persönlichkeitsstörung und somatische Begleiterkrankungen oder schwere, ungelöste psychosoziale Probleme. Spricht ein Patient nach drei bis vier Wochen nicht auf eine Monotherapie mit einem Antidepressivum an, sollten zunächst diesbezügliche Ursachen gesucht wer180
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den. Dazu gehören mangelnde Adhärenz seitens des Patienten oder ein zu niedriger Serumspiegel aufgrund nicht ausreichender Dosierung. Eine sinnvolle Maßnahme bei Non-Response kann somit in der Gabe einer adäquat hohen Dosis bestehen. Falls die Dosissteigerung nicht ausreichen sollte, ist eine der folgenden Strategien zu erwägen: Die Augmentation bezeichnet eine Verstärkung der Wirkung eines gegebenen Antidepressivums durch die zusätzliche Gabe einer weiteren Substanz, die selbst kein Antidepressivum ist. Als Erstes sollte eine Augmentation mit einem Antipsychotikum, z. B. Quetiapin, durchgeführt werden. Daten gibt es aber auch zur Augmentation mit Olanzapin und Aripiprazol. Die Zugabe von Aripiprazol zu einem Antidepressivum ist aber mit hohen Akathisieraten verbunden. Vielfach angewendet wird die Augmentation mittels Lithium. Patienten, die gut auf diese Add-on-Therapie ansprechen, sollten dieses Regime für mindestens sechs Monate erhalten. Die Augmentation von Antidepressiva mittels Carbamazepin, Lamotrigin, Pindolol, Valproat, Dopaminagonisten, Psychostimulanzien oder Hormonen wird als Routineeinsatz bei therapieresistenter Depression nicht empfohlen. Der Wechsel des Antidepressivums ist die am häufigsten durchgeführte Strategie bei Nichtansprechen. Bei der Umstellung wird empfohlen, die Substanzklasse zu wechseln. Beim Wechsel von SSRIs oder SNRI auf MAO-Hemmer ist ein ausreichender Sicherheitsabstand von zwei Wochen, bei Fluoxetin von fünf Wochen zu berücksichtigen. Die Gabe eines zusätzlichen Antidepressivums zu einer bestehenden, aber nicht ausreichenden Medikation wird als „Kombinationstherapie“ bezeichnet. Für die Kombinationen von Mianserin (Cave: Agranulozytoserisiko) oder Mirtazapin mit einem SSRI oder einem TZA wurde in mehreren randomisierten und doppelblinden Studien gezeigt, dass sie wirksamer sind als die Monotherapie mit nur einem der Wirkstoffe. Für den therapeutischen Nutzen der Verordnung von mehr als zwei verschiedenen Antidepressiva gibt es keine Evidenz. Allerdings gibt es Evidenz für die Kombination von Antidepressiva mit Psychotherapie. Bringt auch diese Therapiephase keinen ausreichenden Effekt, ist mit dem Patienten die Durchführung einer Elektrokonvulsionstherapie zu besprechen.
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Antidepressive Akuttherapie: nicht pharmakologische biologische Therapieverfahren Armand Hausmann
Neben der antidepressiven Pharmakotherapie können andere biologische Therapieverfahren zur Behandlung depressiver Erkrankungen eingesetzt werden. Diese Therapien werden meist in Kombination mit Antidepressiva verwendet, entweder um einen additiven Effekt zu erzielen oder die Antidepressiva immanente mehrwöchige Wirklatenz zu überbrücken.
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10.1 Die Elektrokrampftherapie (EKT) Im Rahmen der „biologischen Therapieverfahren“ stellt die Elektrokrampft herapie (EKT), auch Elektrokonvulsionstherapie (ECT) genannt, die wirksamste Option in der Therapie depressiver Erkrankungen dar. Das derzeit noch nicht gänzlich geklärte Wirkprinzip der EKT besteht in der Auslösung eines generalisierten epileptischen Anfalls durch Verabreichung von elektrischem Strom mittels am Kopf des Patienten platzierter Elektroden. Das Anfallsgeschehen manifestiert sich klinisch zunächst tonisch, um anschließend in einen klonischen Ablauf überzugehen. Die therapeutische Wirkung hängt mit der neurophysiologischen Qualität des Krampfes zusammen. Die Elektroden können unilateral frontotemporal, bitemporal oder bifrontal angeordnet werden. Aufgrund des schnelleren Wirkungseintritts und einer ausgeprägteren Wirksamkeit empfiehlt sich die bilaterale Elektrodenplatzierung. Im klinischen Alltag wird aber meistens eine unilaterale Stimulation an der nicht-dominanten Hemisphäre bevorzugt, da diese mit geringeren kognitiven Nebenwirkungen einhergeht. Bei Unwirksamkeit sollte nach 4–6 Behandlungen auf die bitemporale Platzierung gewechselt werden. Die EKT wird in Kurznarkose mit Sauerstoff maske und unter Muskelrelaxierung, welche die periphere Krampfsymptomatik deutlich reduziert, durchgeführt. Die Vitalfunktionen werden mittels EKG und Messung des Blutdruckes sowie der Sauerstoffsättigung fortlaufend überprüft. Alle modernen Geräte besitzen eine fi xe Stromstärke mit der Möglichkeit, die elektrische Spannung an den jeweiligen dynamischen Widerstand individuell anzupassen. Für die EKT-Stimulation sind Stromstärken von 900 mA bei einer Dauer von 0,5 bis 8 Sekunden erforderlich. Die maximale Krampfdauer bei der EKT liegt bei 2–3 Minuten. Die typische EKT-Behandlung besteht aus 6–12 Sitzungen (2–3-mal pro Woche), wobei nach der sechsten Sitzung ein KontrollEEG durchzuführen ist. Die Nebenwirkungen der EKT beziehen sich nicht nur auf die EKT selbst, sondern auch auf die dafür notwendige Anästhesie. Reversible Gedächtnisleistungsstörungen sind nicht selten und können auch nach abgeschlossener Behandlung vorübergehend andauern. Sie bilden sich aber in der Regel innerhalb von wenigen Tagen, in ungünstigen Fällen innerhalb eines halben Jahres wieder vollkommen zurück. Kardiovaskuläre Nebenwirkungen wie Vagotonus, Bradyarrhythmie und andere Herzrhythmusstörungen stellen infolge der obligatorischen Anwesenheit eines Anästhesisten ein beherrschbares Risiko dar, da sie in aller Regel rasch (v. a. medikamentös) zum Sistieren gebracht werden können. Zu beachten sind oft aber Kopfschmerzen und Symptome eines Muskelkaters. Da eine 70–90 %ige Erfolgswahrscheinlichkeit besteht, ist die EKT beim Vorliegen einer schweren depressiven Episode mit Agitiertheit, psychomotorischer Hemmung und/oder psychotischen Symptomen unabhängig der zugrunde liegenden uni- oder bipolaren Nosologie indiziert. Der rasche Wirkungseintritt der EKT legt ihre Verwendung bei akuter Suizidalität oder Nahrungsverweigerung im Rahmen einer depressiven Episode nahe. Die therapieresistente Depression stellt zahlenmäßig das Hauptanwendungsgebiet der EKT dar. Da die akuten antidepressiven Effekte der EKT kurzlebig sind, ist eine anschließende Prophylaxe mittels Antidepressiva dringend erforderlich. Moderne Antidepressiva müssen während der EKT nicht abgesetzt werden. 182
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Eine Phasen-Prophylaxe mittels EKT („Erhaltungs-EKT“, einmal pro Woche bis einmal pro Monat) ist bei Patienten, welche auf EKT gut angesprochen haben, eine therapeutische Option. Die Wirksamkeit der EKT ist auch bei therapierefraktärer Manie gut dokumentiert.
10.2 Die repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) Die rTMS ist eine nicht invasive Methode, höhere kognitive Fähigkeiten zu modulieren, respektiv – wie im Fall von bestehender Depression – diese zu therapieren. Dabei wird eine Stimulationsspule über dem zu stimulierenden Areal am Kopf appliziert. Diese induziert ein Magnetfeld, welches ungehindert durch die Schädelkalotte dringt und dort in einem elektrisch leitfähigen Medium, d. h. dem Nervengewebe, einen Stromfluss erzeugt. Dieser Reiz wird laut Theorie über neuronale Zirkel zu assoziierten subkortikalen Arealen, welche in der Ätiologie der Depression eine Rolle spielen, weitergeleitet. Das der TMS zugrunde liegende physikalische Prinzip, die elektromagnetische Induktion, wurde 1839 von Faraday entdeckt. Der Reizimpuls entsteht aufgrund des rasch wechselnden magnetischen Feldes (165 μ-Sekunden pro Reiz). Die rTMS ist allerdings noch keine etablierte Depressionstherapie. Sie wird zurzeit als experimentelle, mögliche Alternative zur EKT erforscht. Obschon in präklinischen Studien neurobiochemische und verhaltensparadigmatische Ähnlichkeiten zu den Effekten von Antidepressiva und EKT gefunden wurden, bleiben die antidepressiven Effekte der rTMS hinter denen der Antidepressiva und der EKT zurück. Auch bei der rTMS sind spezifische Nebenwirkungen möglich. Trotz des sehr geringen Risikos epileptischer Anfälle sollte vor Beginn einer hochfrequenten rTMS (≥ 1 Hz) ein EEG durchgeführt werden. Bei einer niederfrequenten rTMS (≤ 1 Hz) ist dies nicht notwendig, da diese Form der Stimulation kaum epileptogenes Potenzial birgt. Vermieden werden sollte in diesem Fall eine Ko-Administration von Krampfschwellen senkenden Medikamenten. Bemerkenswert ist, dass – im Gegensatz zur EKT – auch bei hoch dosierter, mehrwöchiger rTMS keine Gedächtnisstörungen auftreten. Patienten mit metallischen Implantaten im Kopfbereich (Kochleaimplantat, Gehirnstimulatoren usw.) sollten von der Therapie ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt auch für Patienten mit erhöhtem Hirndruck. Angesichts des großen technischen, zeitlichen und personellen Aufwandes bei immer noch enttäuschenden Ansprechraten sowie der Tatsache, dass die Methode in der Therapie der Depression in der EU nicht zugelassen ist, wird derzeit ein klinischer Routine-Einsatz in der Behandlung der Depression nicht empfohlen.
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10.3 Die Nervus-vagus-Stimulation (VNS) Diese neuromodulatorische Methode, bei der der linke Nervus vagus mittels Stimulator über eine Elektrode im Halsbereich intermittierend stimuliert wird, wurde erstmals in der Therapie der medikamentenrefraktären Epilepsie angewandt. Das einzige derzeit zugelassene therapeutische Stimulationssystem für den Nervus vagus besteht aus einem durch eine Lithiumbatterie betriebenem Impulsgenerator, 2 Elektroden und einer Ankerhelix sowie einem Verbindungskabel. Ähnlich einem Herzschrittmacher wird dieses System subkutan eingepflanzt. Der Impulsgenerator ist telemetrisch von außen multiprogrammierbar. Der Nervus vagus stellt als zehnter Hirnnerv eine „Ausstülpung“ des Gehirns dar. Es ist ein parasympathischer gemischter Nerv, der in seinen Efferenzen die autonomen Funktionen von Herz und Magen kontrolliert und reguliert. 80 % der sensorischen Anteile sind allerdings afferent und tragen Informationen von Kopf, Nacken, Thorax und Abdomen ins Gehirn. Der Nerv steht im zentralen Nervensystem direkt und indirekt mit Strukturen wie Locus coeruleus, Hypothalamus, Amygdala sowie orbitofrontalen und präfrontalen Kortex-Arealen, welche in der Ätiologie der Depression eine Rolle spielen, in Verbindung. Obschon der Mechanismus auf biochemischer Ebene nicht eindeutig geklärt ist, deuten präklinische Studien auf Änderungen im Serotonin- und Noradrenalin-Haushalt sowie in der GABA- und Glutamat-Neurotransmission hin. Nebenwirkungen der VNS-Therapie inkludieren Alterationen der Stimme, Husten sowie Kopfschmerzen. Aufgrund des invasiven Charakters ist die Anwendung der VNS bei affektiven Störungen der therapieresistenten Depression vorbehalten. Sie ist derzeit noch als experimentell anzusehen.
10.4 Die Tiefe Gehirnstimulation (Deep Brain Stimulation – DBS) Die DBS ist ein invasives, aber reversibles Behandlungsverfahren, welches seit mehr als zehn Jahren in der Behandlung von Bewegungsstörungen wie beispielsweise bei Morbus Parkinson Einsatz findet. Erste Behandlungsversuche zur Therapie affektiver Störungen erfolgten Ende des vergangenen Jahrhunderts. Seither sind weltweit erst wenige Dutzend Patienten mit Depressionen mit dieser Methode behandelt worden. Die Tiefe Hirnstimulation ist ein sog. „Hirnschrittmacher-Verfahren“, welches für die Behandlung von Depressionen bisher noch nicht zugelassen ist. Es stellt das invasivste Verfahren aller biologisch-psychiatrischen Interventionsformen dar. Die Stimulation der in der Ätiologie der Depression dysfunktionalen subkortikalen Areale wird mittels operativ implantierter Elektroden durchgeführt. Das Stimulationssystem besteht aus Elektroden mit einem Durchmesser von etwa 1 mm, welche stereotaktisch genau in die anvisierte Hirnregion eingeführt werden. Die Elektroden werden durch ein Kabel mit einem elektrischen Pulsgenerator verbunden, welcher unter der Haut im Brustbereich implantiert wird. Mögliche Nebenwirkungen der Operation sind Verletzung von Gefäßen und Infektionen. Die Nebenwirkungen der Stimulation ergeben sich durch nicht exakt gesetzte Elektroden. 184
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Seit ihrer Einführung ist die Wirksamkeit und Verträglichkeit der DBS ausschließlich bei Patienten mit schwersten Depressionen getestet worden. Vorherige Behandlungsversuche mit verschiedenen Antidepressiva und auch erfolglose Elektrokonvulsionstherapien sind Voraussetzung, um die Möglichkeit einer DBS zu erörtern. Bis zum heutigen Tag wurden keine größeren kontrollierten Studien durchgeführt, aufgrund derer man die Wirksamkeit der neuen Methode wissenschaft lich fundiert beurteilen könnte. Die DBS ist somit als experimentelles Therapieverfahren zu bezeichnen.
10.5 Die Lichttherapie Um die Wirkungsweise der Lichttherapie besser verstehen zu können, bedarf es einer Einführung in zirkadiane Rhythmen. Zirkadiane Rhythmen finden sich bei allen Säugern. Es handelt sich dabei um adaptive Phänomene der Organismen auf die periodischen Änderungen der Umwelt. Dabei ist der Hell-Dunkel-Zyklus der wichtigste äußere Zeitgeber. Die zirkadianen Rhythmen des Menschen stehen aber primär unter dem Einfluss innerer Zeitgeber. Der wichtigste Zeitgeber befindet sich im Nucleus suprachiasmaticus (NSC), welcher im ventralen Hypothalamus liegt. Das zirkadiane System synchronisiert rhythmische Verläufe physiologischer Funktionen und beeinflusst als biologische Uhr die meisten Körperfunktionen (Kortisolspiegel, Sekretion von TSH und Melatonin, Regulation der Körpertemperatur, u. v. m.). Die augenfälligste Rhythmik ist der Schlaf-Wach-Zyklus und die Regulation des REM-Schlafs. Bei vielen depressiven Patienten ist der Kortisolspiegel über die gesamten täglichen und nächtlichen Phasen des zirkadianen Zyklus erhöht. Für Melatonin wurde bei Patienten mit Depression im Vergleich zu Gesunden eine signifi kante nächtliche Hyposekretion beobachtet. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde die sogenannte Phasen-Shift-Theorie entwickelt. Sie besagt, dass Stimmungserkrankungen durch eine Desynchronisation des Hauptoszillators, des NSC, mit anderen peripheren Zeitgebern entstehen. Bei depressiven Patienten zeigen viele biologische Rhythmen eine Phasenverschiebung nach vorne, d. h., sie treten früher auf und zeigen eine verminderte Amplitude. So treten REM-Phasen bei depressiven Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden zeitlich früher auf. Die Phasen-Shift-Theorie bildet auch den Hintergrund für den therapeutischen Einsatz der Lichttherapie und des Melatonin bei der saisonal abhängigen Depression. Melatonin besitzt – ähnlich wie das Licht – die Fähigkeit, Phasen zu resynchronisieren. Licht als externer Zeitgeber unterdrückt die Melatoninproduktion. Die morgendliche Lichttherapie kann also eine zeitliche Verschiebung des zirkadianen MelatoninRhythmus nach vorne bewirken. Erst ab einer Beleuchtungsstärke von 2500 Lux schüttet das Gehirn Serotonin und Melatonin aus. Bei einer Intensität von 2500 Lux ist eine Behandlungsdauer von zwei Stunden, bei 10.000 Lux von 30 Minuten effektiv. Der Patient sitzt dabei mit geöff neten Augen in einem Abstand von ca. 50 bis 80 cm frontal zur Lichtquelle. Allerdings hält die antidepressive Wirkung in der Regel nur für die Dauer der Therapie an, sodass eine 185
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durchgehende Behandlung während der lichtarmen Monate, u. U. auch eine prophylaktische Applikation ab September anzuraten ist. Vor Beginn der Behandlung sollte eine augenärztliche Untersuchung vorgenommen werden, da z. B. eine Bindehautentzündung durch die Lichttherapie verstärkt werden kann. Kopfschmerzen, Übelkeit und Agitation können auftreten, sind aber generell milder als nach der Gabe von Antidepressiva. Auch das Auft reten von Hypomanien ist möglich, wobei es sich dabei wahrscheinlich weniger um eine Nebenwirkung, als um eine Demaskierung einer latent vorhandenen bipolaren Erkrankung handeln dürfte. Das Hauptanwendungsgebiet der Lichttherapie ist die saisonal abhängige Depression (SAD). Bei anderen Depressionsformen ist die Lichttherapie allenfalls nur additiv anzuwenden.
10.6 Die Schlafentzugstherapie Ein totaler Schlafentzug für eine Nacht hat einen eindrucksvollen antidepressiven Effekt bei zumindest 60 % aller behandelten Patienten. Allerdings scheint die Dauer des antidepressiven Effekts sehr limitiert zu sein. Circa 80 % jener Patienten, welche allein mit Schlafentzug behandelt wurden, erleiden nach der nächsten durchschlafenen Nacht einen Rückfall in die depressive Stimmung. Antidepressiva scheinen zwar die Responder-Raten auf Schlafentzug nicht zu erhöhen, vermindern allerdings das Risiko eines Rückfalls nach der Erholungsnacht. Ähnliche Ergebnisse wurden auch für die Kombination Schlafentzug mit Lichttherapie berichtet. Die «Wachtherapie» muss infolgedessen öfters wiederholt werden. Sie eignet sich besonders zur Überbrückung der Wirklatenzzeit der Antidepressiva. Als Alternative zum kompletten Schlafentzug kann ein Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte (partieller Schlafentzug) mit vergleichbarer antidepressiver Wirksamkeit empfohlen werden. Die Patienten werden nach mehrstündiger Schlafdauer um 1 oder 2 Uhr geweckt und bleiben für den Rest der Nacht sowie am darauffolgenden Tag wach.
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Antimanische Akuttherapie Armand Hausmann
In der Therapie der akuten manischen Episode stehen derzeit mehrere Substanzklassen zur Verfügung. Antipsychotika werden zunehmend in der Therapie der bipolaren Störung eingesetzt. Die Wirksamkeit klassischer Neuroleptika, beispielsweise Haloperidol, in der Akutphase der Manie ist bewiesen. Nicht kontrollierte Studien haben gezeigt, dass diese aber nicht phasenprophylaktisch wirksam sind, insbesondere was die Prophylaxe depressiver Rezidive angeht. Zusätzlich sind sie mit einem hohen Risiko für extrapyramidale Störungen behaftet. Zunehmend wird den Antipsychotika der neuen Generation Vorzug gegeben: Alle Antipsychotika der zweiten und dritten Generation zeigen gute, akute antimanische Effekte.
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Es sind dies Antipsychotika, Antiepileptika sowie Lithium. Bei der Therapie von Patienten mit akuter Manie werden in praxi zwei Situationen auf den Behandler zukommen. Entweder handelt es sich um das Ex-novo-Auft reten einer manischen Episode oder die Manie tritt im Rahmen einer bestehenden Therapie auf. Auch hier wiederum kann von zwei unterschiedlichen Szenarien ausgegangen werden. Der Patient kippte von einer Depression in die Manie, oder es kam, unter laufender antimanischer Therapie, zu einem Rückfall. Im Fall des Kippens sollte das Antidepressivum durch eine antimanische Therapie ersetzt werden. Im zweiten Fall sollte der Serumspiegel des Antimanikums bestimmt und die Dosis entsprechend adjustiert werden. Befinden sich die Spiegel im Normbereich, so sollte ein zweites Antimanikum hinzutherapiert werden. Tritt eine leichte oder mittelgradige manische Episode ohne Vorbehandlung auf, so sollte zuerst versucht werden, mit einer Monotherapie der Symptomatik zu begegnen. Bezüglich der Wirksamkeit bei euphorischer Manie gibt es zwischen den Substanzklassen Antipsychotika, Lithium oder Antiepileptika kaum einen Unterschied, wobei bei allen Antipsychotika – im Vergleich zu Lithium und Valproat – ein rascherer Wirkungseintritt zu verzeichnen ist. Die Kombination eines Antipsychotikums mit anderen Antimanika (z. B. Lithium) haben signifi kant bessere antimanische Resultate gezeigt als die entsprechende Monotherapie. Bei schweren manischen Episoden kann gleich zu Beginn eine Kombinationstherapie mit Antipsychotikum und Stimmungsstabilisator implementiert werden. Zur Therapie der psychotischen Manie gibt es kontrollierte Evidenz für Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin und Risperidon und für Clozapin und Ziprasidon in offenen Studien. Lithium ist bei psychotischer Manie weniger effektiv als bei der „rein euphorischen Manie“. Auf Grund der geringeren bis fehlenden extrapyramidalen Nebenwirkungen sollte den neueren Antipsychotika der Vorzug vor klassischen gegeben werden. Bei sehr agitierten Patienten können intramuskuläre Injektionsformen von Olanzapin, Ziprasidon und Aripiprazol zum Einsatz kommen. Erfordert ein extrem agitierter Patient eine intravenöse Applikation eines klassischen Antipsychotikums (Haloperidol) sind penibel die Kontraindikationen zu berücksichtigen. Liegen schwerste therapierefraktäre Verläufe vor, kann auch die Möglichkeit einer Elektrokrampft herapie (EKT) erwogen werden. Lithium besitzt eine gute antimanische Wirksamkeit, obschon im Vergleich zu Antipsychotika mit einer längeren Wirklatenz zu rechnen ist. Die Behandlung akut manischer Zustandsbilder mit Lithium ist gut belegt. Allerdings sprechen auf Lithium besser klassisch-euphorische Zustandsbilder als gemischte Episoden, manische Dysphorien oder Manien mit psychotischen Symptomen an. In der Praxis empfiehlt es sich, Lithium bei akuten manischen Episoden mit einer Anfangsdosis von mindestens 900 mg pro Tag zu beginnen. Aufgrund der engen therapeutischen Breite von Lithium ist eine regelmäßige Überwachung des Serumspiegels von großer Bedeutung. Die Nebenwirkungen sind in Tabelle 9 zusammengefasst. In der Akutbehandlung der Manie werden Lithium-Serumkonzentrationen von 0,9 bis 1,2 mmol/l angestrebt. Bei einem Spiegel oberhalb von 1,2 mmol/l kann es zu Intoxikationserscheinungen kommen. Typische Symptome einer beginnenden Lithiumintoxikation sind: feinschlägiger, später grobschlägiger Tremor, Schwindel, Übelkeit, Durchfall, Sehstörungen, Des187
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orientiertheit, Dysarthrie und Ataxie sowie gesteigerte Muskeleigenreflexe. Serumspiegel über 2,5 mmol/l führen zu deutlichen neurologischen Störungen, zerebralen Anfällen und kardialen Rhythmusstörungen und stellen eine schwere Notfallsituation dar. Wichtigste Maßnahme bei Verdacht auf eine Intoxikation ist der sofortige Stopp der Medikation, sowie Flüssigkeitszufuhr. Tabelle 9 Die wichtigsten Nebenwirkungen von Lithiumsalzen Wichtigste Nebenwirkungen Mangel an Spontanietät, verlangsamte Reaktionszeiten, okkasioneller extrapyramidaler Tremor, klinischer Hypothyroidismus (bei mindestens 4 %), Beeinträchtigung der renalen Konzentrationsfähigkeit, Polyurie, Diabetes insipidus (bei 35 % mehr als 3 Liter), strukturelle Veränderungen am distalen Tubulus der Niere, interstitielle Fibrose der Niere, nephrotisches Syndrom, Neusea, Erbrechen, verminderter Appetit, steigende Kreatininwerte, dünnflüssiger Stuhl, Diarrhoe, Granulozytose, Auftreten oder Verschlechterung von Akne und Psoriasis, Hitzewellen, Hautrötungen, Haarverlust, Gewichtszunahme Wichtigste Symptome einer Intoxikation Grober Tremor Dysarthrie Ataxie Neuromuskuläre Irritabilität Epileptische Krampfanfälle Malignes Neuroleptika-Syndrom ähnliche Symptomatik Koma, Tod
Tabelle 10 Lithium-Monitoring Alle drei Monate folgende Parameter:
Lithium-Serum-Spiegel
Alle sechs Monate:
EKG, SD-Funktion, Kreatinin-Clearance-Test
Einmal pro Jahr:
Glomeruläre Filtrationsrate (GFR)
Die antimanische Wirksamkeit von Valproat ist, besonders wenn i. v. verabreicht, gut. Basierend auf der Hypothese, dass eine Manie durch eine Reduktion der inhibitorischen GABA-Neuronen bedingt ist, wurde angenommen, dass das GABA-erge Valproat therapeutische Wirksamkeit bei Manie haben könnte. Während Valproat und Lithium die gleich guten Response-Raten bei rein manischen Patienten zeigen, reagieren Patienten mit gemischter Manie besser auf Valproat als auf Lithium. Auch bei der akuten psychotischen Manie kann Valproat eingesetzt werden. Bei akuten manischen Episoden ist ein schnelles Aufsättigen von Valproat („loading dose“) bis 20 mg/ kg Körpergewicht am Tag notwendig. Wegen der großen therapeutischen Breite ist jedoch individuell eine noch höhere Dosierung möglich. Für die Langzeitgabe ist wegen der besseren Verträglichkeit eine orale, magensaftresistente oder eine retardierte Form zu empfehlen. Für Valproat sollte ein Spiegel im Plasma von 50–120 mg/ml angepeilt werden. Nebenwirkungen, deretwegen die Substanz immer wenige eingesetzt wird, sind Tabelle 11 zu entnehmen.
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Tabelle 11 Die wichtigsten Nebenwirkungen der klassischen Stimmungsstabilisatoren Medikament
Wichtigste Nebenwirkungen
Valproat (VLP)
Erbrechen, Schwindel, Tremor, Sedierung und Ataxie, Alopezien, Lethargie, hämatologische Dysfunktionen, asymptomatische Erhöhung der Lebertransaminasen. Pankreatitiden und Hepatoxizität kommen selten vor, sind aber potenziell fatal. Hyperandrogenismus und polyzystische Ovarien bei Langzeittherapie
Lamotrigin (LTG)
Hautrötungen bis Stevens-Johnson-Syndrom*, Nausea, Cephalea
Carbamazepin (CBZ) Oxcarbazepin (OXC)
Bei CBZ + OXC: Müdigkeit, Tremor Bei CBZ: aplastische Anämie Häufiger bei CBZ: allergische Hautreaktionen, Transaminasenerhöhung, Leukopenie Bei OXC: Hyponatriämie, die fatal sein kann
*) Bei Nichteinhalten der Titrationsvorschriften
Seit Mitte der 1980er-Jahre bietet sich bei bipolaren Patienten Carbamazepin als Alternative an, sofern diese auf Lithium nicht hinreichend ansprechen oder deutliche Nebenwirkungen entwickeln. Carbamazepin zeigt gute antimanische Effekte. Eine gute Wirksamkeit konnte Carbamazepin nicht nur bei Lithium-refraktären Patienten, sondern auch bei Rapid-Cycling-Patienten zeigen. Die Dosierung von Carbamazepin ist individuell sehr unterschiedlich, wobei die orale Tagesdosis in der Regel zwischen 600 und 1800 mg liegt. Nebenwirkungen sind in Tabelle 11 zusammengefasst. Die Wirksamkeit der empfohlenen Medikamente ist – je nach Polarität – in der Abb. 2 zusammengefasst.
Akute antimanische Wirksamkeit
Lithium
Quetiapin
Valproat
Aripiprazol
Asenapin
Ziprasidon
Olanzapin
EKT
Risperidon
Antidepressiva (keine TZA oder SNRI bei RC und gemischten Episoden) Quetiapin EKT Akute antidepressive Wirksamkeit
Abb. 2
Polarität der Wirksamkeit bei akuten Monotherapien
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Die Behandlung der Depression im Rahmen einer bipolaren Störung Armand Hausmann
In der Therapie der depressiven Episode im Rahmen einer bipolaren Störung wird die Anwendung von Antidepressiva kontrovers diskutiert. Die Wirksamkeit von Antidepressiva (TZA, SSRI, SNRI) ist zwar metaanalytisch abgesichert, aber die eingeschlossenen Studien sind schwer vergleichbar, so dass diese Metaanalysen von zweifelhaftem Wert sind. Dass Antidepressiva ein „Kippen“ in die Hypomanie oder Manie induzieren können, scheint in der Vergangenheit aber überschätzt worden zu sein. Trizyklika (TZA) und duale Antidepressiva haben die größere Wahrscheinlichkeit, einen Switch (Kippen) auszulösen als SSRI. In jedem Fall sollte die Gabe eines Antidepressivums bei bipolarer Depression mit einem Stimmungsstabilisator (Lithium, Valproat, Antipsychotika) kombiniert werden. Als wichtige Alternative zur Verwendung von Antidepressiva bei bipolarer Depression erscheint die Monotherapie mit Quetiapin. Für Olanzapin konnte im Rahmen einer Kombinationstherapie mit Fluoxetin ein guter antidepressiver Effekt nachgewiesen werden. Bei Nichtansprechen trotz Behandlung mit Antidepressiva bzw. Antipsychotika und Stimmungsstabilisatoren sollte als nächster Schritt die Kombination mit einem zweiten Stimmungsstabilisator erfolgen. Die Indikationsstellung zur EKT sollte bei fortwährendem Therapieversagen besonders im Hinblick auf das beträchtliche Suizidrisiko nicht allzu lange aufgeschoben werden.
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Akuttherapie einer gemischten Episode Armand Hausmann
Mischzustände sind generell mit einem schlechteren Behandlungserfolg assoziiert. Kontrollierte Daten haben gezeigt, dass Valproat und Carbamazepin in dieser Indikation der Lithiumgabe überlegen sind. Darüber hinaus gibt es Hinweise, die ein günstiges Ansprechen auf neue Antipsychotika, wie Olanzapin, Risperidon, Ziprasidon und Quetiapin bei Mischzuständen nahe legen. Antidepressiva sollten in dieser Indikation nicht als Monotherapie gegeben werden, wobei die Gabe von Antidepressive in dieser Indikationsstellung insgesamt kritisch gesehen werden muss.
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Allgemeine Richtlinien zur pharmakologischen Therapie in der Phasenprophylaxe Armand Hausmann
Da die bipolare Störung eine hochrezidivierende Erkrankung ist, und die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs mit der Anzahl der vorangegangenen Episoden positiv 190
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korreliert, ist es notwendig weitere Episoden, egal welcher affektiven Polarität, zu verhindern, respektiv die Zeit bis zum Auftreten zu verlängern. Der goldene Standard der phasenprophylaktischen Therapie besteht in der Gabe von Pharmaka, die durch psycho- und soziotherapeutischen Interventionen augmentiert werden. Für die Phasenprophylaxe ist jene Medikation zu wählen, welche schon in der Akuttherapie wirksam war. Die in der Akuttherapie gegebene Dosis sollte auf Dauer beibehalten werden. Eine pharmakologische Langzeittherapie – oder auch Phasenprophylaxe genannt – sollte laut internationalen „Guidelines“ bei der bipolaren Störung ab der ersten manischen Episode implementiert werden. Dies kann natürlich nur im Konsens mit dem Patienten geschehen. Da die bipolare Störung eine hochrezidivierende Erkrankung ist, und die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs mit der Anzahl der vorangegangenen Episoden positiv korreliert, ist es notwendig weitere Episoden, egal welcher affektiven Polarität, zu verhindern, respektiv die Zeit bis zum Auftreten zu verlängern. Der goldene Standard der phasenprophylaktischen Therapie besteht in der Gabe von Pharmaka, die durch psycho- und soziotherapeutischen Interventionen augmentiert werden. Plasmaspiegelwerte und Dosierungen von Stimmungsstabilisatoren gibt die Tabelle 12 wieder. Tabelle 12 Dosierung der Stimmungsstabilisatoren (SST) in der Phasenprophylaxe Medikament Lithium Valproat Lamotrigin
Dosis (mg/d)
Plasmaspiegel
450–900
0,4–0,8 mmol/l
1000–2000
50–120 mg/ml*
200–400
keine Referenzwerte**
Carbamazepin
400–1200
40–100 μg/ml*
Oxcarbazepin
900–2400
10–15 μg/ml*
Olanzapin
10–20
keine
Aripiprazol
15–30
keine
300–600
keine
Quetiapin
* Richtwerte unter Toleranzaspekten ** In der Epilepsietherapie werden Werte von 1–10 μg/ml angegeben.
Add-on Therapien in der Phasenprophylaxe haben eine bessere Wirksamkeit bzgl. Reduktion von Rezidiven im Vergleich zu Monotherapie gezeigt. Während Antidepressiva in der Phasenprophylaxe der unipolaren Depression gut evaluiert sind, liegen wenige Daten zur Langzeitbehandlung mit Antidepressiva bei Bipolar I und II Störungen vor. Die Art der affektiven Auslenkung der aktuellen Episode (depressiv oder manisch) hat eine Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit der Art eines Rezidivs. Wenn beispielsweise die Indexepisode eine manische war, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Rezidiv manischer Natur ist, um einen Faktor 2 bis 3 erhöht. Das gleiche gilt für eine depressive Indexepisode. Da affektive Störungen hochrezidivierende Erkrankungen sind, welche meist eine jahrzehnte- bis lebenslange Therapie erfordern, müssen die substanzspezifischen
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Nebenwirkungen individuell auf den Patienten abgestimmt werden. Aufgrund von medikamenteninduzierten Nebenwirkungen müssen in gegebenen Abständen somatische Untersuchungen durchgeführt werden (Tabelle 13). Tabelle 13 Durchzuführende Untersuchungen bei der bipolaren Störung Parameter
Baseline
Nach Monaten
vierteljährlich
1
2
3
4
5
6
RR/Puls
Blutbild
TSH
NFP3
LFP
EKG
1
1
1
EEG
2
2
2
Bauchumfang
1) 2) 3) TSH: NFP: LFP:
Patienten mit kardiovaskulären Problemen Patienten mit hirnorganischen Symptomen Kreatinin-Clearance sollte alle sechs Monate durchgeführt werden Thyreotropin Nierenfunktionsparameter Leberfunktionsproben
Für die prophylaktische Lithium–Monotherapie kann sich der maximale Benefit erst nach einem längeren Zeitraum zeigen. Mit der Dauer der Behandlung nehmen Schwere und Frequenz der Rezidive aber meistens ab. Wichtig ist es, in dieser Zeit nicht mit einem raschen Wechsel der Medikation die affektive Stabilität zu gefährden. Lithium verhindert Rezidive in die Manie besser als depressive Rezidive. Ein Drittel der mit Lithium Behandelten berichten von einer vollständigen Reduktion der Symptome selbst über einen Zeitraum von 30 Jahren. Wegen des möglichen Auftretens einer renalen Dysfunktion sowie eines Hypothyreoidismus empfiehlt es sich, vor einer geplanten Lithiumbehandlung die Kreatinin-Clearance und die Schilddrüsenwerte zu kontrollieren. In den ersten sechs Monaten sollte die Kontrolle in zwei- bis dreimonatigen Abständen erfolgen. In jährlichen Intervallen muss die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) kontrolliert werden. Kreatininerhöhungen sind nach Ausschleichen der Substanz reversibel. Auch EEG- und EKG-Kontrollen sind in größeren Abständen angezeigt. Zu beachten ist auch die teratogene Gefährdung. Die Patienten, welche in der akuten Episode auf Valproat ansprechen, zeigen auch in der Erhaltungstherapie im Vergleich zu Lithium eine bessere Wirksamkeit. Die Literatur läßt derzeit keinen eindeutischen Schluss zu, ob Valproat eher manische oder depressive Rezidive verhindert. Die Nebenwirkungen von Valproat sind gastrointestinale Beschwerden und neurologische Symptome. Teratogenität in Form von Neural-
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Affektive Störungen | 5
rohrdefekten sowie kongenitalen Herzfehlbildungen, digitalen Anomalien und kraniofazialen Dysmorphien beim Gebrauch im ersten Trimester wurden berichtet. Wird die prophylaktische Wirksamkeit von Carbamazepin mit der von Lithium verglichen, zeigen Studien eine Überlegenheit von Lithium in der Verhinderung von Rezidiven gleich welcher Auslenkung. Allerdings scheint Carbamazepin die bessere Alternative bei atypischen Manifestationen der bipolaren Erkrankung, wie rapid-cycling-Verläufe und häufige Rezidive von dysphorischer oder psychotischer Manie zu sein. Bei rapid-cycling-Patienten mit insuffizientem Ansprechen auf Lithium kann die Add-on-Therapie mit Carbamazepin eine erhöhte phasenprophylaktische Wirksamkeit zeigen. Carbamazepin kann auch eine Alternative für Patienten sein, welche Gewichtsprobleme haben. Prinzipiell ist Carbamazepin eher als Medikament der zweiten Wahl oder als Kombinationstherapie mit Lithium oder anderen Stimmungsstabilisatoren zu sehen. Bei der Kombination mit anderen Medikamenten muss auch auf pharmakokinetische Interaktionen geachtet werden, was neben anderen Antiepileptika auch verschiedene Antidepressiva und Antipsychotika betrifft. Die hepatische Enzyminduktion durch Carbamazepin kann auch zu einem vermehrten Abbau von Östrogenen und damit zu einem Versagen hormoneller Kontrazeption führen. Häufige Nebenwirkungen von Carbamazepin sind Schwindel und Müdigkeit. Die therapeutische Breite ist eher schmal: Bei höheren Spiegeln kann eine Kleinhirn-Symptomatik mit Schwindel und Doppelbildern auft reten. Auch können sich allergische und dermatologische Komplikationen sowie eine Agranulozytose manifestieren. Im Vergleich zu Carbamazepin und Valproat scheint Lamotrigin seinen größten Nutzen in der Prophylaxe bipolarer depressiver Rezidive bei BP-I-Patienten zu zeigen. Die Nebenwirkungen von Lamotrigin sind im Allgemeinen benigne. Allerdings sollten Patienten darauf hingewiesen werden, sich bei Veränderungen der Haut bzw. der Schleimhäute sofort mit dem behandelnden Arzt in Verbindung zu setzen. Die schwerste, sehr seltene Nebenwirkung ist das potenziell lebensbedrohliche StevensJohnson-Syndrom. Lamotrigin macht, im Gegensatz zu vielen anderen Antiepileptika, nicht müde und die Konzentrationsfähigkeit bleibt erhalten. Für die Phasenprophylaxe mittels neuerer Antipsychotika liegen derzeit kontrollierte Daten für eine Monotherapie mittels Olanzapin, Aripiprazol, Quetiapin, und Risperidon Depot, vor (Abb. 3).
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Eberhard A. Deisenhammer | Armand Hausmann
Lithium Phasenprophylaktische Wirksamkeit gegen manische Rezidive
Quetiapin Aripiprazol Olanzapin Risperidon Depot Valproat
(Lithium) Phasenprophylaktische Wirksamkeit gegen depressive Rezidive
Quetiapin Lamotrigin Valproat
Abb. 3
Polarität der Wirksamkeit bei akuten Monotherapien
Alle Antipsychotika der zweiten oder dritten Generation verhindern signifi kant manische Rezidive, respektive verlängern im Vergleich zu Placebo signifi kant die Zeit bis zum Auftritt eines manischen Rezidivs. Als einziges verhindert Quetiapin zusätzlich depressive Rezidive. Es gilt das gleiche wie in der Akuttherapie der Manie, dass addon Therapien, wie Quetiapin oder Olanzapin plus einem SST oder die Kombinationstherapie von zwei SST die Zeit bis zum Auftreten eines affektiven Rezidivs signifi kant verlängern. Bei länger dauernder Verwendung von Antipsychotika ist auf metabolische Nebenwirkungen wie Adipositas, Dyslipidämie oder Diabetes mellitus zu achten. Clozapin und Olanzapin zeigen hier das größte Risiko, Ziprasidon sowie Aripiprazol induzieren die geringste Gewichtszunahme.
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Affektive Störungen | 5
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Kapitel 6
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (ICD-10 F4) Johann F. Kinzl
1
Allgemeine und historische Aspekte
Der Begriff der Neurose wurde erstmals 1776 von William Cullen verwendet. Er gebrauchte die Bezeichnung für alle Erkrankungen des Nervensystems, wenn keine organische Erkrankung nachgewiesen werden konnte. Im 19. Jahrhundert wurden in ähnlicher Weise unter dem Begriff der Neurose Organstörungen ohne Läsionen der Organstruktur verstanden, wobei sie je nach dem betroffenen Organ bezeichnet wurden (z. B. Herzneurose). Nach Sigmund Freud (1895) ist die Neurose eine psychisch bedingte Gesundheitsstörung, deren Symptome unmittelbare Folge und symbolischer Ausdruck eines krank machenden, unbewussten seelischen Konfliktes sind. Die Symptome können sich im psychischen (Psychoneurosen), körperlichen (Konversionssyndrome) oder charakterlichen Bereich (Verhaltensstörungen) äußern. Tiefenpsychologische Schulen nehmen an, dass der zugrunde liegende Konflikt in der Kindheitsentwicklung verwurzelt und das Resultat früher Beziehungserfahrungen ist, und dass die jeweilige Symptomatik aus einem Kompromiss zwischen Triebwünschen und einer ihre Realisierung verhindernden Abwehr entsteht. Freud entwickelte zur Veranschaulichung der Krankheitsdynamik ein Strukturmodell der Psyche, das aus drei Instanzen besteht: • Das Ich: Ihm obliegen die Wahrnehmung der Außenwelt und die Anpassung daran; es ist der Vermittler zwischen Individuum und Realität bzw. zwischen dem Es und dem Über-Ich. • Das Es: stellt den triebhaften Pol der Psyche dar. • Das Über-Ich: ist der Träger allgemeiner Wertvorstellungen, die moralische Instanz. Bei einem Konflikt, d. h. dem Zusammenstoßen zweier einander widersprechender Strebungen oder Motivationen in einer Person, komme es zu einer fehlenden Anpassung des Ichs als Vermittler zwischen der Innenwelt und der äußeren Realität. Das neurotische Symptom, aber auch das (körperliche) psychosomatische Krankheitssymptom kann als Ergebnis und vorläufige Lösung eines innerseelischen Konflikts verstanden werden. D. h., die neurotischen Symptome sind unmittelbare Folge oder sogar symbolischer Ausdruck (z. B. Herzneurose) des krank machenden seelischen Konflikts, der unbewusst bleibt. Die Lerntheorie betrachtet die Neurose als Verhalten oder Angewohnheit, die unter ungünstigen Bedingungen gelernt wurde.
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Johann F. Kinzl
Die Grenzen zwischen einer Psychose und einer Neurose sind wohl fließend, wobei beim Psychotiker häufig kein Realitätsbezug gegeben ist. Bei neurotischen Störungen leichterer Ausprägung bleibt die soziale Integration in der Regel erhalten, der Verlauf weist keine den Psychosen vergleichbare Einschränkungen auf. Der Krankheitswert einer schweren Neurose kann aber ebenso groß sein wie der einer Psychose. Die neuen, jetzt üblichen Klassifi kationssysteme DSM-IV und ICD-10 verwenden den Begriff der Neurose nicht mehr, weil der Begriff der Neurose weitgehend auf der psychoanalytischen Theorie beruht. Die neuen Klassifi kationssysteme verwenden vorwiegend deskriptiv neutrale Bezeichnungen. Vor allem der Begriff der „Hysterie“ (hysteria = kreisende Gebärmutter) wird wegen des Problems der Diskriminierung, die mit diesem Namen verknüpft ist, nicht mehr verwendet und durch andere Begriffe (z. B. histrionisch; Konversion) ersetzt. Nur der Begriff neurotisch ist als Adjektiv noch erhalten und meint scheinbar unmotivierte Angstzustände und körperliche Beschwerden ohne organische Ursachen.
2
Klassifikation und Epidemiologie
Die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation gliedert die neurotischen, Belastungsund somatoformen Störungen wie folgt (Tabelle 1): Tabelle 1
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
F40
phobische Störungen
F41
andere Angststörungen
F42
Zwangsstörung
F43
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
F44
dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)
F45
somatoforme Störungen
F48
andere neurotische Störungen
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen, wobei von einer Lebenszeitprävalenz von 15–20 % ausgegangen werden muss. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Berücksichtigt man den Krankheitswert und zählt man nur jene neurotischen Störungen, die länger anhalten und die soziale Anpassung, die Leistungs- und Genussfähigkeit schwer beeinträchtigen sowie durch die Depression und mögliche Suizidalität eine weitere Gefährdung des Betroffenen darstellen, beträgt die Prävalenz in den westlichen Industrienationen zwischen 2–10 %. Die Schwankungen der Prävalenzraten sind vor allem durch die unterschiedlichen Definitionskriterien und durch die Fluktuation der Symptomatik bedingt. Die Häufigkeit neurotischer Störungen scheint sich in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert zu haben, wohl aber ihr Erscheinungsbild. Während früher die 198
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen | 6
konversionsneurotischen Störungen (z. B. Lähmungen) und „hysterische Anfälle“ (vor allem der „arc de cercle“: Dabei bäumt sich der Patient im Liegen massiv nach hinten, der Nacken wird in das Kissen gebohrt, der Rumpf ist überstreckt und die Fersen oft unter den Körper genommen) dominierten, sind es in der heutigen Zeit eher die „stillen“ Erscheinungsformen wie Angstneurose und psychosomatische Krankheitsbilder. Der Verlauf der Angststörungen ist entweder episodisch (Panikstörung, Anpassungsstörung mit Angst) oder anhaltend (Phobien, generalisierte Angststörung).
3
Symptomatik der Angststörungen
Die klinische Relevanz der Angststörungen ergibt sich aus folgenden Charakteristika: • Neigung zur Chronifizierung ohne Behandlung • Gefahr eines sekundären Alkohol- und/oder Medikamentenabusus („Selbstmedikation“) • Gefahr einer sekundären Depression und Suizidalität • Tendenz zu hoher Beanspruchung des medizinischen und psychosozialen Versorgungssystems • Beeinträchtigungen der Lebensqualität und der Lebensgestaltung • Generalisierung des Vermeidungsverhaltens, oft verbunden mit einer Arbeitsunfähigkeit Typische Verhaltensweisen von Angstkranken sind: • Sie fühlen sich nicht psychisch, sondern körperlich krank (vor allem herzkrank oder sie klagen über Schmerzen). • Sie gehen primär zu Hausärzten und Internisten. • Das Beschwerdebild ist oft ein Körperliches: Daher kann der Betroffene eher somatische Therapieverfahren (z. B. Medikamente) akzeptieren als eine Psychotherapie. Typische Kennzeichen der Angststörungen sind (Reinecker 1993): • Die Angstreaktionen sind nicht mehr angemessen. • Die Angstreaktionen sind überdauernd. • Der Betreffende besitzt keine Möglichkeiten zur Bewältigung der Angst. • Die Angstreaktionen führen zu einer massiven Beeinträchtigung des Lebensvollzugs. Das diagnostische bzw. differentialdiagnostische Vorgehen beim Vorliegen einer Angstsymptomatik ist Folgendes: • Klärung, ob die vorgebrachten Angstsymptome „normal“ (d. h. Angst als basales und für das Überleben des Individuums notwendiges Verhalten, „Realangst“) sind, oder als „Störung“ einzustufen sind. • Beim Vorliegen einer pathologischen Angst (z. B. Unangemessenheit der Angstreaktion gegenüber den Bedrohungsquellen, Ausmaß der Angstausprägung, abnorme Angstbewältigung) sind folgende Schritte notwendig: – Ausschluss einer organischen Grunderkrankung (s. u.). 199
Johann F. Kinzl
– Besteht eine andere psychische Grunderkrankung wie z. B. eine Psychose, eine Depression oder ein schädlicher Substanzgebrauch? – Liegt eine primäre Angststörung (z. B. Phobie, Panikstörung, generalisierte Angststörung) vor? Gelegentliche oder anhaltende Ängste ohne das Ausmaß einer Angststörung treten auch bei zahlreichen anderen psychischen und physischen Störungen auf, wobei die Angstsymptome nach Abklingen der Grunderkrankung auch verschwinden. Besonders häufig sind Angstsymptome bei folgenden Krankheiten: • Depression: Dabei handelt es sich vor allem um Versagensängste, existenzielle Ängste und hypochondrische Befürchtungen als Resultat einer negativen kognitiven Triade, d. h. einer negativen Sicht der eigenen Person, des sozialen Umfeldes und der Zukunft. • Anpassungsstörungen: Diese treten als Reaktion auf belastende Lebensveränderungen auf. Die Ereignisse erfordern eine hohe Anpassungsleistung und oft Veränderung von Lebensperspektiven. Veränderungen sind fast immer mit Angst verbunden, besonders Angst, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. • Schizophrenie: Dabei treten Ängste vor allem als Reaktion auf Wahrnehmungsstörungen und paranoide Vorstellungen auf. • Persönlichkeitsstörungen: Hier ist die Ausgestaltung der Angst abhängig von der Art der Persönlichkeitsstörung. So überwiegt z. B. bei abhängigen Persönlichkeitsstörungen die Angst, ohne eine andere Person den Lebensanforderungen nicht gerecht zu werden oder die Angst, verlassen zu werden. Bei emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen treten vor allem schwer kontrollierbare Ängste auf, wobei Trennungsängste und ein verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden, überwiegen. • Organisch-psychische Störungen (Delir, organische Angststörung): Ein Delir geht aufgrund der Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen und der Wahrnehmungsstörungen mit Furcht, Angst und dissoziativen Symptomen wie Depersonalisation einher. • Substanzinduzierte Störungen: Viele psychotrope Substanzen (z. B. Amphetamine, Kokain, Halluzinogene, Koffein, Ecstasy) oder deren Entzug können zum Auft reten von Angstsymptomen führen. So geht der Konsum von Amphetaminen neben gesteigerter Vitalität häufig mit starker innerer Unruhe, vegetativen Symptomen, Agitiertheit und Angst einher. Intoxikationen mit Halluzinogenen sind meist mit intensiver Furchtsamkeit und Angst, auch Furcht vor dem Wahnsinn und dem Tod verbunden. • Körperliche Erkrankungen: Eine Reihe von organischen Krankheiten kann Angstsymptome verursachen. Dazu zählen vor allem verschiedene endokrinologische Krankheitsfaktoren (z. B. Schilddrüsenüber- und -unterfunktion, Phäochromozytom, Hypoglykämie), kardiovaskuläre Krankheiten (z. B. Lungenembolie, Myokardinfarkt), Störungen der Atmung (z. B. chronisch obstruktive Atemwegserkrankung, Hyperventilationssyndrom) und neurologische Erkrankungen (z. B. Encephalomyelitis disseminata, Epilepsie, Migräne, erhöhter Hirndruck).
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Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen | 6
4
Ätiologie und Pathogenese der Angststörungen
Wie bei den meisten anderen psychischen Störungen wird eine multifaktorielle Genese der verschiedenen Angststörungen angenommen, wobei den einzelnen Faktoren interindividuell eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Prinzipiell können folgende pathogenetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen: Prädisponierende Faktoren: • Erhöhte Vulnerabilität: Zwillingsuntersuchungen konnten bei eineiigen Zwillingen eine Konkordanz für neurotische Störungen von 33–60 %, bei zweieiigen von 17–28 % finden. Dabei scheinen die genetischen Faktoren für eine generell erhöhte Ängstlichkeit und verringerte Fähigkeit zur physiologischen Habituation verantwortlich zu sein. • Lern- und Erziehungseinflüsse: Gehäuft findet man bei Angstkranken einen ängstlichen oder Angst induzierenden Erziehungsstil, wobei von den frühen Bezugspersonen die Außenwelt generell als gefährlich vermittelt wird. Im Sinne eines Modell-Lernens entwickeln die Betroffenen eine entsprechende Erwartungsangst und ein Vermeidungsverhalten. Auch instabile Familienstrukturen wie frühe Trennungs-, Verlustund Missbrauchserfahrungen können neurotische Entwicklungen begünstigen. • Persönlichkeitsfaktoren: Bestimmte Persönlichkeitsstile sind mit einer erhöhten Bereitschaft zur Ängstlichkeit verbunden, wobei je nach der spezifischen Persönlichkeitsstruktur in spezifischen Situationen mit Angst reagiert wird (z. B. Trennungsangst bei Patienten mit einer emotional-instabilen oder einer dependenten Persönlichkeitsstörung). Auch externale Kontrollüberzeugungen, d. h., die betreffende Person nimmt bestimmte Ereignisse als vom eigenen Verhalten unabhängig wahr, können Angstentwicklungen begünstigen. Auslösende Faktoren: • Traumatische Erfahrungen • Verlust- und Trennungssituationen (z. B. Tod, Scheidung, Arbeitsplatzverlust) • Akute oder chronische Stresssituationen (z. B. Mobbing) • Konflikt-, Entscheidungs- und Ambivalenzsituationen • Körperliche Erkrankungen, gesundheitliche Bedrohungen (z. B. bevorstehende Eingriffe) • Psychische Erkrankungen • Drogeneinflüsse (z. B. Koffein, Cannabis, Stimulantien) Aufrechterhaltende Faktoren: • Problematische Bewältigungsstrategien (z. B. Vermeidungsverhalten). • Ungünstiger Umgang mit Angstreaktionen: Dazu gehören vor allem eine forcierte Selbstbeobachtung und die Erwartungsangst („Angst vor der Angst“) sowie die kognitiven Verzerrungen, d. h. unsinnige bzw. schädliche Überzeugungen bezüglich der Gefährlichkeit einer Situation oder körperlichen Reaktion. • Entmutigung durch mangelhafte Angstkontrolle. • Krankheitsgewinn: Dabei müssen zwei Formen unterschieden werden: Beim primären Krankheitsgewinn zieht die betreffende Person einen inneren Vorteil aus 201
Johann F. Kinzl
dem neurotischen Symptom (Angst) und aus der Flucht in die Krankheit (z. B. kann unangenehmen oder unlösbaren Konflikten ausgewichen werden). Beim sekundären (oder interaktionellen) Krankheitsgewinn bekommt die betreffende Person von außen etwas, was sie ohne Symptom nicht bekommen würde (z. B. Aufmerksamkeit, Unterstützung, Krankenstatus, Rente).
5
Phobische Störungen F40
Unter Phobie (griech. phobos = Furcht) versteht man eine anhaltende und intensive Angst vor einem umschriebenen Objekt oder einer umschriebenen Situation. Dabei handelt es sich um eindeutig definierte, im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte außerhalb der betreffenden Person. Diese Situationen werden meist weitgehend oder völlig vermieden oder unter intensivem Angsterleben ertragen. Die Angstreaktion, die durch die Begegnung mit der Situation oder dem Objekt hervorgerufen wird, variiert von leichtem Unbehagen, von Einzelsymptomen wie Schwächegefühl, Globusgefühl und Herzklopfen bis hin zu Paniksymptomen wie Angst zu sterben, Kontrollverlust oder Gefühl, verrückt zu werden. Der Leidensdruck in der betreffenden Situation ist meist hoch. Die generelle Beeinträchtigung der Lebensqualität und Lebensgestaltung hängt stark von der Bedeutung der Situation für die betreffende Person ab: Wenn sie von hoher Relevanz für die Person im Alltagsleben ist, der nur sehr schwer oder nicht ausgewichen werden kann (z. B. Prüfungsangst bei einem Studenten; Flugangst bei einem Geschäftsreisenden), können die Einschränkungen groß sein. Kennzeichen von Phobien sind: • Erwartungsangst („Angst vor der Angst“): Tritt als intensives Angsterleben bereits antizipierend vor der tatsächlichen Begegnung mit den entsprechenden Situationen oder Objekten auf. • Vermeidungsverhalten verbunden – abhängig von der Art der Phobie – mit Leidensdruck und deutlichen Einschränkungen in der Lebensgestaltung. Es gibt eine lange Liste von verschiedensten Phobien, da sich Phobien prinzipiell gegen alle denkbaren Situationen und Objekte entwickeln lassen. Eingang in die internationalen Klassifi kationsschemata DSM-IV und ICD-10 haben aber nur folgende Phobien gefunden: • Agoraphobie • soziale Phobie • spezifische (isolierte) Phobien
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5.1
Agoraphobie F40.0
Der Begriff Agoraphobie (griech. agora = Markt(-platz)) bezeichnet nicht nur die Angst vor weiten, offenen Plätzen, sondern auch vor Menschenmengen, das Aufsuchen von großen Kaufhäusern, weite Reisen alleine, Brücken usw. Das Gemeinsame dieser angstauslösenden Situationen ist, dass die betreffende Person im Falle des Auft retens einer starken Angstreaktion nicht schnell genug flüchten kann, Hilfe nicht schnell und effizient genug vorhanden wäre und sie in eine peinliche Situation (z. B. Ohnmacht, Hilflosigkeit) geraten könnte. Es werden zwei Formen der Agoraphobie unterschieden: • Agoraphobie ohne Panikstörung (F40.00) • Agoraphobie mit Panikstörung (F40.01): Zu den typischen Symptomen der Agoraphobie treten noch die Symptome einer Panikattacke (siehe S. 204) auf.
5.2
Soziale Phobie F40.1
Bei der sozialen Phobie handelt es sich um eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor sozialen Situationen oder Leistungssituationen, bei denen die Angst besteht, einen Fehler zu machen, sich zu blamieren, oder von anderen heruntergemacht oder gedemütigt zu werden. Weitere Symptome sind Erröten oder Zittern, die Angst zu erbrechen und Miktions- oder Defäkationsdrang. Soziale Situationen, in denen sich die soziale Phobie besonders häufig zeigt, sind das Sprechen in der Öffentlichkeit bzw. öffentliche Diskussionen, bei Studenten die aktive Teilnahme an Seminaren und Prüfungen, der Kontakt mit dem anderen Geschlecht u. ä. m. Diese Störung findet man in allen Gesellschaftsschichten und etwa gleich häufig bei Frauen und Männern. Es werden verschiedene Formen sozialer Ängste unterschieden: • Lampenfieber: normale, situationsgebundene soziale Angst • Soziale Phobie: situationsgebundene, krankhafte Angst • Schüchternheit: normale, generalisierte soziale Angst • Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit: generalisierte, krankhafte soziale Angst. Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl findet man bei sozialen Phobien häufig, auch wenn es sich um unterschiedliche Störungsbilder handelt. Während sich bei der sozialen Phobie die Angst ausschließlich auf soziale Situationen bezieht, wo ein gewisses Risiko (die betreffende Person befürchtet eine hohe Gefährdung) zu scheitern besteht („Versuchungs- und Versagenssituationen“), besteht die Selbstunsicherheit im Sinne einer extremen Gehemmtheit und Schüchternheit bei Personen mit einer entsprechenden Persönlichkeitsstörung auch außerhalb einer sozialen Situation. Bei einigen Patienten mit einer sozialen Phobie kommt es zu einer Generalisierung der Furcht auf (fast) alle sozialen Situationen, sodass in diesen Fällen eine Abgrenzung zwischen
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Johann F. Kinzl
einer sozialen Phobie und einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung nicht mehr möglich ist. Die Symptome, die bei einer sozialen Phobie auftreten können, sind vielfältig. Sie reichen von Vermeidung von Augenkontakt beim Sprechen mit einer anderen Person über vegetative Symptome wie starkes Schwitzen, Händezittern, Erröten, über Stuhldrang und Drang zum Wasserlassen bis hin zu panikartigen Symptomen. In extremen Fällen kann das Vermeidungsverhalten dazu führen, dass die betreffenden Personen sich weitgehend aus sozialen Kontakten zurückziehen und völlig isoliert leben, oder nur mit Hilfe von Alkohol oder Beruhigungsmitteln als Selbstmedikation in sehr beschränkter Weise noch am Sozialleben teilhaben.
5.3
Spezifische (isolierte) Phobien F40.2
Die spezifischen (isolierten) Phobien sind ein Sammeltopf für alle klar strukturierten Phobien. Dabei handelt es sich um übertriebene und unbegründete Angstzustände vor spezifischen Situationen oder Objekten, die üblicherweise nicht oder nur geringe Furcht hervorrufen würden. Wie erwähnt, ist es prinzipiell möglich gegen alle denkbaren Situationen oder Objekte Phobien („banale Alltagsphobien“) zu entwickeln, und es gibt auch eine endlos lange Liste von zum Teil exotischen Phobien. Je nach der Situation oder dem Gegenstand, auf den sich die Phobie bezieht, werden verschiedene Typen von Phobien unterschieden: • Tiertyp (z. B. Spinnen, Schlangen, Hunde, Vögel) • Umwelttyp (z. B. Donner, Dunkelheit) • Verletzungs- oder Bluttyp (z. B. Spritzen, Zahnarztbesuch) • Situationstyp (z. B. geschlossene Räume, Höhenangst, Prüfungen). Spezifische Phobien sind in der Allgemeinbevölkerung sehr häufig. Die klinische Relevanz der einzelnen Typen ergibt sich vor allem aus dem Ausmaß der Beeinträchtigung in der Lebensgestaltung durch die entsprechende Phobie bzw. der Möglichkeit der Vermeidung der entsprechenden Situationen. Bestimmte spezifische Phobien (z. B. Flugphobie bei Geschäftsreisenden; Prüfungsangst bei Studenten) können zu ausgeprägten Leidenszuständen und zu problematischen Versuchen der Angstbewältigung (z. B. Alkohol, Tranquilizer) führen.
5.4
Panikstörung F41.0
Eine Panikattacke ist eine klar abgrenzbare Episode intensiver Angst und Unbehagens, die sich nicht unbedingt auf eine besondere Situation oder besondere Umstände beschränkt und deshalb schwer voraussehbar ist. Folgende Symptome sind typisch für eine Panikattacke, wobei mindestens vier der folgenden Symptome abrupt auft reten, meist innerhalb von einigen Minuten ihren Höhepunkt erreichen und interindividuell unterschiedlich rasch wieder abklingen:
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Vegetative Symptome: 1. Palpitationen (Dyskardie), Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz 2. Schweißausbrüche (meist kaltes Schwitzen) 3. Fein- oder grobschlägiger Tremor 4. Mundtrockenheit Symptome, welche die Atmung oder den Bauch betreffen: 5. Atembeschwerden, Erstickungsgefühl 6. Beklemmungsgefühl 7. Thoraxschmerzen oder -missempfindungen 8. Übelkeit oder abdominelle Missempfi ndungen (z. B. Unruhegefühl im Magen) Psychische Symptome: 9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit 10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man ist selber weit entfernt oder nicht wirklich hier (Depersonalisation) Allgemeine Symptome: 11. Hitze- oder Kälteschauer 12. Gefühllosigkeit (Parästhesien)oder Kribbelgefühle. Eine Panikstörung liegt dann vor: • bei wiederkehrenden unerwarteten Panikattacken • wenn mindestens nach einer Attacke ein Monat mit einem der folgenden Symptome folgt: • anhaltende Besorgnis über das Auftreten weiterer Attacken („Angst vor der Angst“) • Sorgen über die Bedeutung der Attacke oder ihrer Konsequenzen • deutliche Verhaltensänderung infolge der Attacken. Die Lebenszeitprävalenzrate liegt bei der Panikstörung in der Allgemeinbevölkerung bei 1–2 %, das Erstmanifestationsalter meist im frühen Erwachsenenalter. Der typische Verlauf ist chronisch, meist schwankend. Ein Großteil der Personen mit einer Panikstörung hat außerdem eine Agoraphobie.
5.5
Generalisierte Angststörung F41.1
Die generalisierte Angststörung (GAD) (Synonyma: Angstneurose, Angstreaktion) ist durch folgende Symptome gekennzeichnet: • übermäßige Angst und Befürchtung (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse und Tätigkeiten (z. B. viele Sorgenbereiche über zukünftiges Unglück, Krankheiten von Familienmitgliedern, berufliche Probleme), die an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten besteht; • es bestehen Schwierigkeiten, die Angst zu kontrollieren; • die Angst ist mit mehreren der folgenden Symptome verbunden: 205
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– Ruhelosigkeit, ständiges „auf dem Sprung sein“ oder Unfähigkeit sich zu entspannen – leichte Ermüdbarkeit – Konzentrationsschwierigkeiten, Leere im Kopf oder Vergesslichkeit – Reizbarkeit – erhöhte Muskelspannung, Spannungskopfschmerzen – Ein- oder Durchschlafstörungen – Benommenheit, Schwindel, Schwitzen, Mundtrockenheit • klinisch bedeutsame Beeinträchtigung und Leidensdruck. Ein großer Teil der Angstkranken, speziell der Patienten mit einer generalisierten Angststörung, weist eine oder mehrere psychische Komorbiditäten auf, besonders häufig eine Dysthymie, einen Substanzmissbrauch oder eine Major Depression, wobei die Angststörung der Depression meist vorausgeht. Wenn eine GAD mit komorbider Depression besteht, finden sich sehr häufig funktionelle Beeinträchtigungen und ein erhöhtes Risiko für Suizidalität. Die Häufigkeitsraten der GAD schwanken stark (2–32 %), abhängig vor allem von der Definition. Der Verlauf dieser Angststörung ist meist großen Schwankungen unterworfen bzw. es besteht eine Neigung zur Chronifizierung. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
5.6
Ätiologie und Pathogenese
Wie bei den meisten psychischen Störungen wird auch bei den Angststörungen bzw. Phobien eine multifaktorielle Genese angenommen, wobei einerseits disponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren (s.o.), als auch psychodynamische, psychosoziale und neurobiologische Faktoren eine Rolle spielen. Bei einem Teil der Angstpatienten handelt es sich um ängstliche bzw. selbstunsicher-vermeidende oder um dependente (= abhängige) Persönlichkeitsstrukturen oder Persönlichkeitsstörungen; aber auch zwanghafte (= anankastische) Persönlichkeitsstrukturen lassen sich nicht selten finden. Eine Grunddynamik der meisten Personen mit einer Angststörung ist eine Unfähigkeit zur Selbststeuerung in vielen Bereichen, vor allem der Impulskontrolle. Nur bei wenigen Menschen mit einer Angstsymptomatik sind konkrete negative Erfahrungen mit einem angstauslösenden Objekt oder einer Situation nachzuweisen. Die Psychoanalyse nimmt als Ursache der meisten Phobien eine unbewusste Vorstellung an, deren Inhalt verdrängt wird. Diese Fantasie bezieht sich auf innerseelisch erlebte Gefahren, wofür die in der Außenwelt erlebten Gefahren dann stellvertretend eintreten. Die äußere gefürchtete Situation steht symbolisch für eine innere Bedrohung. Als zentraler Abwehrvorgang findet eine Verschiebung des Angstobjektes von innen nach außen bzw. eine Verschiebung seines Bedeutungsgehaltes statt. Das nach außen verschobene Angstobjekt kann nun vermieden werden, was zur situativen Angstentlastung führt. Dieser Vermeidungsvorgang wird durch Lernprozesse eingeübt, kann so chronifizieren und auch auf andere Situationen oder Objekte generalisieren. 206
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Die Lerntheorie nimmt an, dass die Angst eine erlernte Reaktion (Modelllernen) ist. Es gibt angstauslösende Reizkonstellationen, d. h., ein bestimmter (unkonditionierter) Reiz ist durch die Koppelung mit einer angstauslösenden Situation zu einem Reiz (konditionierter Reiz), der eine Angstreaktion auslöst, umgewandelt worden. Die im Rahmen von Angst wahrgenommenen körperlichen Symptome werden von den betreffenden Personen als Gefahr gedeutet (kognitive Fehlattribution), wodurch ein Teufelskreis entsteht. Lerntheoretische Modelle erklären auch die Erwartungsangst im Rahmen von Panikstörungen. Dabei löst das Erleben von starker Angst eine Angst vor weiteren Angstattacken aus („Angst vor der Angst“). Viele Studien konnten zeigen, dass Angststörungen mit bestimmten Bereichen des Gehirns verknüpft sind und dass ein Ungleichgewicht zwischen den Angst steuernden Neurotransmittern (Noradrenalin, Serotonin und Gammaaminobuttersäure) zu den Symptomen der Krankheit beitragen können. Dabei kommt dem limbische System, insbesondere der Amygdala und dem Hippokampus, welche Emotionen modifizieren, eine entscheidende Bedeutung zu. Weiters wird eine Dysfunktionalität bestimmter Transmittersysteme angenommen, wobei das GABA-System (GammaAmino-Buttersäure) und das serotonerge System eine besondere Wichtigkeit haben. Die γ-Aminobuttersäure ist der bedeutendste inhibitorische Transmitter im ZNS und kann sowohl angstlösend als auch angstauslösend wirken. Die Rolle von Serotonin im Gehirn, insbesondere seine Funktion und sein Einfluss im synaptischen Spalt, ist noch nicht vollständig geklärt. Aber die Entdeckung, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), welche die von Serotonin gesteuerte Neurotransmission im Gehirn verstärken, zur Behandlung von affektiven und Angststörungen wirksam sind, hat zu der Hypothese geführt, dass wohl bei der Ätiologie dieser Störungen eine Serotonin-Funktionsstörung eine wichtige Rolle spielt.
6
Therapieformen von Angststörungen
Grundsätzlich kommen bei der Behandlung der Angststörungen pharmakologische und nichtpharmakologische Therapiestrategien infrage, wobei die einzelnen Verfahren oft ausschließlich, häufig aber kombiniert werden. • Unabhängig von der Art der Angststörung beruht die Behandlung von Angstkranken auf drei Wirkprinzipien: • der medikamentösen Therapie des Angstsyndroms mit Antidepressiva oder für kurze Zeit mit Anxiolytika; • dem Durchdenken der aktuellen Belastungssituationen (daraus strukturiert sich eine individuelle Psychotherapie); • dem Überwinden des aufgetretenen Vermeidungsverhaltens. Abgesehen von den spezifischen Therapieverfahren sind folgende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie von Angstkranken notwendig: • viel Geduld und Zeit • den Angstkranken ernst nehmen • ein bestimmtes und ruhiges Auftreten 207
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• bei Vorliegen einer Hyperventilation helfen, „ruhig“ zu atmen; ein Plastikbeutel oder Hohlhand vor dem Mund fördert die Azidose und den Rückgang der Symptome • Aufk lärung des Patienten bezüglich Angst (z. B. Angstmodell), Verläufe, Prognose, Behandlungsmöglichkeiten • genaue Aufk lärung über Wirkung und Nebenwirkungen der Medikamente • Vereinbarung regelmäßiger Kontakte • Vermeidung von Aussagen wie: „Das ist alles nur psychisch!“ • Ermutigung und Motivationsförderung, aktive Formen der Angstbewältigung zu erproben • Vermeidung von Krankenhauseinweisungen und wiederholten umfangreichen diagnostischen Maßnahmen • stationäre Behandlung ist angezeigt bei schweren komorbiden Störungen, Alkoholoder Medikamentenabusus und massiven psychosozialen Belastungen.
6.1
Psychopharmakologische Therapieverfahren
Folgende Psychopharmaka werden bei Angststörungen verwendet: • Benzodiazepine • Antidepressiva • Antipsychotika • Phytotherapeutika • Betablocker Benzodiazepine: Die Indikation zur Gabe von Benzodiazepine ist gegeben: • oft zu Beginn einer Akuttherapie (besonders bei Panikattacken) als Zusatzmedikation zu Antidepressiva (diese haben einen späten Wirkungseintritt); • kurzer Einsatz von 4–6 Wochen, dann schrittweises Reduzieren, da die Gefahr einer Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklung (oft „Low-Dose-Dependence“) besteht. Anwendung finden vor allem die Substanzen Oxazepam, Lorazepam, Diazepam und Alprazolam. Antidepressiva: Die Wirksamkeit der Antidepressiva, besonders der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI, vor allem Paroxetin, Sertralin, Fluoxetin) ist bei der Panikstörung, der generalisierten Angststörung und der sozialen Phobie erwiesen. Aber auch trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Clomipramin) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) (z. B. Duloxetin, Venlafaxin, Milnacipran) haben sich bei Angststörungen als effektiv erwiesen. Bei der Gabe von Antidepressiva, besonders der SSRI und SNRI, müssen die Patienten darüber informiert werden, dass einerseits eine Wirklatenz von 2–3 Wochen besteht und es andererseits initial durch die Antriebssteigerung zu einer Intensivierung der Angstsymptomatik kommen kann. Bei 208
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einem guten Ansprechen sollte die therapeutisch wirksame Dosis mindestens ein halbes Jahr gegeben werden. Bei einer stark ausgeprägten Ängstlichkeit kann auch eine zusätzliche Gabe von Benzodiazepinen oder Antipsychotika der zweiten Generation notwendig sein. Die Gabe von Beta-Blockern hat sich nur dann als sinnvoll erwiesen, wenn periphere sympathikotone Symptome (z. B. Herzrasen) im Vordergrund stehen. Phytotherapeutika (z. B. Baldrian, Hopfen, Johanniskraut) können bei leichten Angststörungen – auf Wunsch des Patienten – versucht werden. Ziele der pharmakologischen Behandlung bei der Panikstörung sind: • Kontrolle der Panikanfälle • Reduktion der antizipatorischen Angst • Reduktion des phobischen Vermeidungsverhaltens • Verbesserung des Allgemeinbefindens und der sozialen Adaptation. Notwendig bei der medikamentösen Therapie der Panikstörung sind: • eine ausreichende Dosierung • eine Kontrolle der Angstsymptomatik; meist nach 4–8 Wochen gegeben • oft eine Langzeitmedikation • eine gelegentliche kurzfristige Zusatzmedikation von Benzodiazepinen. Bei der medikamentösen Therapie der generalisierten Angststörung hat sich neben den SNRIs, den SSRIs, den trizyklischen Antidepressiva und den Benzodiazepinen das Antiepileptikum Pregabalin als wirksam erwiesen.
6.2
Nichtpharmakologische Therapieformen
Jede psychotherapeutische Schule hat entsprechende Therapiesettings für die Behandlung von Angstkranken entwickelt, wobei besonders die Verhaltenstherapie spezifische Therapiekonzepte anbietet, auf die näher eingegangen wird. Folgende verhaltenstherapeutische Strategien haben sich als effektiv erwiesen: a) Detaillierte Funktions- und Problemanalyse: Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie der Angstkrankheit ist die genaue Erfassung der zugrunde liegenden Probleme, eine Analyse der möglichen Ursachen (meist ist eine Angststörung multifaktoriell bedingt) und eine genaue Erfassung der Rahmenbedingungen (z. B. soziales Umfeld, Krankheitsgewinn). Wichtig ist es auch, das subjektive Krankheitsmodell des Angstkranken zu kennen, da in der Psychotherapie „der Patient immer dort abgeholt werden muss, wo er steht“. Gemeinsam wird dann vom Therapeuten und Patienten ein Störungsmodell erarbeitet, daraus kann das Therapie-Rational abgeleitet werden. b) Expositionsverfahren oder Konfrontationstherapie:
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Dabei werden prinzipiell zwei verschiedene Strategien zur Behandlung von phobischen Ängsten unterschieden: – Systematische Desensibilisierung: Dabei wird der Patient nach der Herstellung einer tiefen Entspannung und Aufstellung einer Angsthierarchie (= Liste von gemeinsam mit dem Patienten erstellten angsterregenden Situationen nach ihrer Intensität) in der Vorstellung („in sensu“) in einer Reihe von Sitzungen aufgefordert, sich sukzessive alle angsterregenden Situationen vorzustellen und auszuhalten. – Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung („massierte Reizkonfrontation“, „Flooding“): Dabei wird der Angstkranke in der Realität ohne Entspannung intensiv mit den Angst machenden Situationen konfrontiert, mit dem Ziel des Erlernens von Bewältigungsstrategien und Aushaltens bei erlebten Angstreaktionen. Die reale Konfrontation ist – wenn möglich – der Konfrontation in der Vorstellung vorzuziehen. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die beste Korrektur von unbegründeten phobischen Ängsten ihre Überprüfung in der Realität ist. („Ist es wirklich so, wie ich befürchte?“) c) Entspannungsverfahren: Dabei haben sich mehrere Entspannungstechniken bewährt: – Autogenes Training (AT): Dabei handelt es sich um eine konzentrative Selbstentspannung, bestehend aus einer Unterstufe und einer Oberstufe. Die Unterstufe des AT besteht aus sechs Übungen (Schwereübung, Wärmeübung, Herzübung, Atemübung, Sonnengeflechtübung, Kopfübung), die nach längerem Training einen Ruhe- und Entspannungszustand herbeiführen. – Progressive Muskelentspannung nach Jacobson: Bei dieser Methode werden nacheinander bestimmte Muskelgruppen angespannt und entspannt, wobei sich die Entspannung schließlich über den ganzen Körper erstreckt. – Biofeedback: Bei diesem Verfahren erlernt der Betreffende objektiv auf elektronischem Wege hörbar und/oder sichtbar gemachte Körperfunktionen zu beeinflussen. Dadurch können z. B. verspannte Muskelpartien gelockert, die Durchblutung gesteigert und der Herzschlag beeinflusst werden. – Hypnose: Es handelt sich um ein Verfahren, bei dem durch Suggestionen ein schlafähnlicher Zustand (Trance) herbeigeführt wird: Dabei ist das Bewusstsein eingeengt, der Betreffende kann dann mit weiteren Suggestionen angeregt werden, bestimmte Veränderungen vorzunehmen. d) Kognitive Therapieverfahren: Die Grundannahmen bei diesen Verfahren sind, dass die Entstehung und Aufrechterhaltung der Angststörung stark mit gelernten, nicht der Realität entsprechenden, unlogischen und übergeneralisierenden Denkmustern und Bewertungsprozessen („dysfunktionale Annahmen“) zusammenhängen.
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Fallbeispiel Diagnose: Panikstörung Der 32-jährige Patient wird von der Notfallambulanz der Universitätsklinik für Innere Medizin zugewiesen, wohin er wegen akuter Herzschmerzen mit dem Hubschrauber mit Verdacht auf einen Herzinfarkt eingeliefert worden war. Schon während der Untersuchungen an der Ambulanz kam es zu einer raschen Besserung der Symptomatik. Da die körperliche Abklärung (EKG, Laborparameter) keine Hinweise auf organpathologische Befunde ergab, wurde er an die Psychosomatische Abteilung verlegt, einer Verlegung, welcher der Patient nur mit großer Skepsis zustimmte. Im Erstgespräch zeigte sich, dass der Patient im letzten Jahr bereits mehrmals mit der Rettung bzw. dem Hubschrauber wegen der gleichen Schmerzen an die Universitätsklinik oder in ein anderes Krankenhaus eingeliefert worden war und zahlreiche ambulante und stationäre organische Abklärungen durchführen hat lassen. Trotz der jeweils negativen Ergebnisse hätte sich seine Angst nur für kurze Zeit gebessert. Die ersten Symptome seien vor einem Jahr aufgetreten. Er könne sich deshalb noch genau erinnern, weil er an diesem Tag bei der Fahrt in die Firma erfahren habe, dass sein gleichaltriger Freund in der Nacht an einem Herzinfarkt gestorben sei. Eine Stunde später seien bei ihm eine starke innere Unruhe und Anspannung, vegetative Symptome wie kaltes Schwitzen und Zittern, und vor allem starke Herzschmerzen aufgetreten, weswegen er sofort die Notfallambulanz aufsuchte, wo er zur organischen Abklärung stationär aufgenommen wurde. Zur Beruhigung hätte er einen Tranquilizer (Bromazepam) bekommen. In den folgenden Monaten sei es trotz zunehmenden Tranquilizerkonsums immer wieder zum Auftreten von Herzschmerzen (Dyskardien) und zu einer ständigen Erwartungsangst gekommen. Aufgrund einer ausgeprägten Selbstunsicherheit (selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung) habe er bei Auftritten als Musiker (Nebenjob) zunehmend Alkohol getrunken: In der Tat zeigt sich ein ausgeprägter Alkoholmissbrauch. In den Gesprächen während des stationären Aufenthaltes zeigten sich weitere psychosoziale Problembereiche (z. B. Konflikt mit der Ursprungsfamilie, Partnerprobleme, u. Ä.). Therapeutisch wurde in den ersten Wochen vor allem eine Entzugsbehandlung (Tranquilizer, Alkohol) durchgeführt. Neben verschiedenen roborierenden Maßnahmen (z. B. gezieltes körperliches Aufbautraining, Abbau des starken Schonverhaltens) und Vermittlung des Angstkreises bzw. des psychophysiologischen Modells der Panikstörung wurde der Patient zunehmend im Sinne des Expositionsverfahrens angehalten, sich lange vermiedenen Angstsituationen auszusetzen. Auch setzte sich der Patient mit den verschiedenen Problembereichen auseinander, wobei neben der Einzeltherapie auch Paargespräche durchgeführt wurden. Letztendlich konnte der Patient deutlich gebessert mit einem Antidepressivum nach Hause entlassen werden. Er nahm Abstand von seinem Wunsch nach einer frühzeitigen Pensionierung und er begann eine ambulante Psychotherapie.
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7
Zwangsstörungen F42
Zwangsstörungen sind psychische Störungen, bei denen ein innerer Drang besteht, bestimmte Dinge zu denken oder zu tun. Die Zwänge werden vom Betroffenen als sinnlos und übertrieben erlebt und er kämpft dagegen an. Die Störung ist mit deutlichen Einschränkungen in der Lebensqualität und vor allem in der Lebensgestaltung verbunden und führt zu einem hohen Leidensdruck beim Betroffenen und/oder der Umwelt.
7.1
Diagnostik
Die Diagnostik der Zwangsstörungen umfasst: • ein umfassendes klinisches Interview • Selbstbeobachtung • Zuweisung von Hausaufgaben • direkte Verhaltensbeobachtung Grundsätzlich werden bei den Zwangsstörungen folgende Typen von Zwangsstörungen unterschieden: 1. Zwangshandlungen (F42.1) 2. Zwangsgedanken oder Grübelzwang (F42.0) 3. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, gemischt (F42.2) Ad 1.) Zwangshandlungen sind wiederkehrende zwanghafte Handlungen, die • sehr zeitaufwendig sind, • mit einem hohen Leidensdruck und mit deutlichen Beeinträchtigungen in einem oder mehreren Lebensbereichen einhergehen, • oft, aber nicht immer, als unsinnig, unangemessen oder unbegründet erkannt werden, und • denen erfolglos Widerstand geleistet wird, und • die durch Rituale gekennzeichnet sind. Ad 2.) Zwangsgedanken sind wiederkehrende zwanghafte Gedanken oder Ideen, die • mit einem hohen Zeitaufwand verbunden sind, • als eigene Gedanken erkannt werden, • mit einem hohen Leidensdruck und mit deutlichen Beeinträchtigungen in einem oder mehreren Lebensbereichen einhergehen, • als unsinnig, unangemessen oder unbegründet erkannt werden, • nicht unterdrückbar sind. Die Zwangsgedanken können durch eine Vielzahl von auslösenden Reizen hervorgerufen werden, wobei diese im Verlaufe der Erkrankung häufig noch zunehmen. Da die Zwangsgedanken mit Unbehagen und Angst verbunden sind, versucht der Betrof-
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fene diese durch neutralisierende Handlungen unter Kontrolle zu bringen. Da dies wenigstens kurzfristig mit einem Gefühl der Entlastung verbunden ist, werden diese Zwangshandlungen bzw. neutralisierenden Verhaltensweisen stereotyp wiederholt. Es entsteht die Überzeugung, dass mit Unterlassung der Handlung die Angst und innere Unruhe steigen würden. Der Gedanke, ob das wirklich so wäre, wird zunehmend weniger zugelassen. Außerdem entwickeln die Betroffenen ein Vermeidungsverhalten, bei welchem besonders Situationen vermieden werden, die Zwangsgedanken auslösen könnten. Zwangssymptome können in verschiedenen Formen und Schweregraden auft reten. Sie reichen von einer gelegentlichen, bizarren Idee (wie z. B. das „nicht auf Fugen treten dürfen“) bis hin zu Zwangshandlungen, die den ganzen Alltag dominieren (z. B. ständig kontrollieren zu müssen). Häufige Zwangsgedanken sind: • Zählzwang: Dabei muss alles genau geordnet, gezählt, sortiert werden • Aggressive Zwangsgedanken bzw. zwanghafte Impulse wie z. B. einen anderen zu verletzen, zu quälen; Befürchtungen, Beleidigungen laut von sich zu geben usw. • Sexuelle oder obszöne Zwangsgedanken wie z. B. sexuelle Handlungen mit Kindern, homosexuelle Kontakte, „perverse“ Gedanken wie öffentlich zu onanieren usw. • Grübeln, abergläubische Befürchtungen, sinnloses Wiederholen von Inhalten: Dabei fühlen sich die Betroffenen gezwungen, bestimmte Sätze, Melodien usw. laut auszusprechen oder innerlich zu formulieren • Zwanghafte Vorstellungen/Bilder z. B. von Flugzeugkatastrophen, Unfällen • Als besonders belastend werden Gedanken erlebt, das eigene Kind töten zu müssen (siehe auch Beispiel). Die Inhalte der Zwangsgedanken spiegeln allgemeine besorgniserregende Inhalte der jeweiligen Zeitepoche wider (z. B. Werk des Teufels; Risiko einer erworbenen Immunschwäche). Im zwangsneurotischen Denken besteht meist eine magische Grundeinstellung, d. h., die Nichtdurchführung einer Handlung würde ein großes Unglück bringen oder das Denken von Gegengedanken kann negative Wirkungen neutralisieren. Häufige Zwangshandlungen sind: • Kontrollzwänge, z. B.: Ist der Herd ausgeschaltet? Sind alle Türen verschlossen? • Waschzwänge wie extrem häufiges Händewaschen, stundenlanges Duschen aus Angst vor Kontamination oder Verseuchung • Ordnungs- und Putzzwänge wie z. B. wiederholtes, stundenlanges Staubsaugen • Berührungszwang: Dabei „müssen“ die Betroffenen alles anfassen, was sie sehen oder sie vermeiden es sehr stark, mit allen möglichen Gegenständen in Berührung zu kommen • Zwang zum Sammeln von nutzlosen Gegenständen („Messie-Syndrom“ oder „Vermüllungssyndrom“): Dabei werden wertlose Gegenstände wie alte Zeitungen über einen langen Zeitraum gesammelt und in der Wohnung gestapelt, sodass oft kaum mehr Platz zum Wohnen besteht. 213
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Der Zwangskranke ist überzeugt, dass ein Gedanke, ein Impuls, eine bestimmte Handlung oder die Unterlassung einer Handlung schreckliches Leid über ihn oder andere bringen könnte. Aus diesen Gründen müssen Rituale (= Handlungen, die nach vorgegebenen Regeln ablaufen und einen hohen Symbolgehalt haben) durchgeführt werden. Rituale können bestimmte Gesten, genau festgelegte Handlungen oder Sätze sein, die der Abwehr und dem Schutz der betreffenden Person dienen. Die Rituale haben eine magische Funktion, die das Böse bannen sollen, das durch die eigenen Gedanken heraufbeschworen wurde. Nur wenn diese Rituale exakt eingehalten werden, tritt wenigstens für eine kurze Zeit ein Gefühl der Sicherheit auf. In diese Rituale werden häufig auch Angehörige einbezogen. Zwanghaft rituelle Handlungen werden oft täglich über einen langen Zeitraum ausgeführt. Aufgrund der Heterogenität der Zwangsstörungen ist ein entsprechend variables Vorgehen bei der Diagnostik der Zwangsstörungen notwendig. Neben der Herausarbeitung eines adäquaten psychologischen Entstehungsmodells, der Erstellung einer Liste der zu bearbeitenden Probleme, ist die Rolle des sozialen Umfeldes, vor allem der wichtigsten Bezugspersonen, die Motivation des Patienten zur Veränderung (ist meist großen Schwankungen unterworfen) und die Funktionalität des Symptoms im Leben des Patienten zu reflektieren und zu beachten.
7.2
Ätiopathogenese
Wie die meisten psychischen Störungen sind auch Zwangsstörungen multifaktoriell bedingt. Neben genetischen Faktoren spielen psychische und psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle. Hinweise auf eine genetische Komponente sind das vermehrte Auftreten von Zwängen innerhalb einer Familie bei mehreren Familienmitgliedern und eine höhere Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen als bei dizygoten Zwillingen. Eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Zwangsstörung scheint der Neurotransmitter Serotonin, eventuell auch der Neurotransmitter Dopamin zu spielen, da Erfolge mit serotonergen Medikamenten und entsprechende neurochemische Befunde darauf hinweisen. Die Zwänge werden dabei als Begleitphänomen einer primären Störung des orbitofronto-zingulostriatalen Projektionssystems gesehen, welches das Verhalten an eine sich verändernde äußere Umwelt und innere emotionale Zustände anpasst und auf die monoaminergen Kerne des Mittelhirns zurückwirft (Kapfhammer 2000). Auch liegen Hinweise auf Funktionsstörungen im Bereich der Basalganglien vor, die durch Positronen-Emissions-Computertomographische Studien unterstützt werden. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass sich Zwangsstörungen dann entwickeln, wenn Kinder ihre eigenen Es-Impulse (Zwangsgedanken) zu fürchten beginnen und Abwehrmechanismen (Gegengedanken, Zwangshandlungen) einsetzen, um die resultierende Angst zu verringern. Sigmund Freud postulierte, dass manche Kinder in der analen Phase (etwa 2.–3. Lebensjahr) intensive Wut und Scham empfinden. Diese Gefühle heizen den Kampf zwischen dem Es und dem Ich an und stellen die Weichen für eine Zwangsstörung. Die psychosexuelle Lust der Kinder ist in diesem Lebensabschnitt an die Ausscheidungsfunktion gebunden, während zugleich die Eltern mit der 214
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Sauberkeitserziehung beginnen und von den Kindern analen Befriedigungsaufschub fordern. Wenn die Sauberkeitserziehung zu früh einsetzt oder zu streng ist, kann dies bei den Kindern Wut auslösen und zur Entwicklung aggressiver Impulse führen. Diese Kinder beschmutzen vielleicht ihre Kleidung erst recht und werden allgemein destruktiver, schlampig oder dickköpfig. Wenn die Eltern diese Aggressivität unterdrücken, kann das Kind auch Scham- und Schuldgefühle sowie das Gefühl, schmutzig zu sein, entwickeln. Gegen die aggressiven Impulse des Kindes stellt sich jetzt ein starker Wunsch ein, diese zu beherrschen. Dieser heft ige Konflikt zwischen dem Es und dem Ich kann sich das ganze Leben fortsetzen und sich schließlich zu einer Zwangsstörung entwickeln. In der Theorie von Sigmund Freud sind alle Zweifel, Hemmungen und Impulse die Folge eines Konfliktes, durch den die psychischen Energien des Betreffenden mobilisiert und blockiert werden. Die Symptome stellen Kompromisse zwischen Triebwünschen, ihren Verboten, der vom Über-Ich geforderten Sühne und verkleideten Ersatzbefriedigungen dar, zwischen denen sich das Ich nicht entscheiden kann (Ambivalenz). Thematisch dreht es sich um die Befriedigung unedler Triebwünsche. Bei Zwangskranken besteht prämorbid häufig eine Überanpassung an die Normen anderer. Die fehlende „normale“ Verselbstständigung führt oft zu Beziehungen, in denen Überanpassung und gleichzeitig innere Auflehnung bestehen. Nicht selten kommt es zu sadomasochistischen Beziehungsmustern. In der Verhaltenstherapie erklärt man die Entstehung von Zwangssymptomen mittels der Lerntheorie und des klassischen und operanten Konditionierens. Personen mit einer Zwangsstörung versuchen, durch ihr Verhalten oder ihre Gedanken ihre Ängste zu verdecken bzw. so mit ihren Ängsten zu leben. Zwangsgedanken werden als konditionierte Stimuli auf Angst gesehen. Ein ursprünglich neutraler Reiz, z. B. Schmutz, wird durch die Koppelung an einen angstbesetzten Stimulus zu einem stellvertretenden Auslöser für die Empfindung von Angst oder Abneigung. Als Folge kommt es zum Auftreten von Zwangshandlungen, um die Angst zu vermindern bzw. zu neutralisieren. Durch die damit verbundene negative Verstärkung werden aber die Zwangshandlungen operant konditioniert, d. h., sie werden dadurch verstärkt. Die Zwangssymptome, die ursprünglich der Angstabwehr dienten und zum Gefühl der inneren Sicherheit beitrugen, verselbstständigen sich allmählich und werden zu einem „inneren Müssen“ (Zwang). Auch wenn die betroffene Person diese Rituale als sinnlos empfindet, ist es ihr trotzdem nicht möglich, diese zu unterlassen. Wenn die betroffene Person versucht, den Zwang aufzugeben, die Rituale zu unterlassen, werden die Ängste, die damit vermeintlich kontrolliert werden, frei. Kognitive Verhaltenstherapeuten nehmen an, dass folgende Faktoren dabei eine Rolle spielen, dass Personen mit einer Zwangsstörung „normale“ Gedanken als Problem empfinden: • Depressive Verstimmung: Diese führt bei den Betroffenen zu einer Verstärkung unerwünschter, negativer Gedanken. • Strenger Verhaltenskodex: Außerordentlich hohe Moralmaßstäbe tragen dazu bei, dass besonders sexuelle und aggressive Gedanken viel weniger akzeptiert werden können.
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• Dysfunktionale Überzeugungen von Verantwortlichkeit und Schaden: Menschen mit Zwangsstörungen glauben, dass ihre störenden negativen – vollkommen normalen – Gedanken sie selbst oder andere schädigen könnten. • Dysfunktionale Überzeugungen und Gedankenmuster: Zwangsgestörte haben fehlangepasste Vorstellungen darüber, wie das menschliche Denken funktioniert, da sie annehmen, sie könnten unangenehme Gedanken kontrollieren. Die Symptome der Zwangsstörung sind meist eingebettet in eine Stimmung der Unsicherheit, der Angst vor Ablehnung und einer generellen Ängstlichkeit sowie von Hilf- und Hoffnungslosigkeit und von Depressivität. Typisch für Zwangskranke ist ihre Suche nach Rückversicherung und Beruhigung. Dieses Verhalten hat einerseits eine Kontrollfunktion, andererseits dient es der Abgabe von Verantwortung an vertraute Menschen. Außer dem „primären oder intrapsychischen Krankheitsgewinn“ durch die Zwangsstörung, d. h., die betroffene Person braucht sich dadurch nicht mit Dingen auseinanderzusetzen, die sie überfordern, liegt häufig auch ein „sekundärer oder interaktioneller Krankheitsgewinn“ vor, d. h., die betroffene Person bekommt von außen durch die Krankheit etwas, was sie im Gesunden nicht bekommen würde, wie z. B. Entlastung, Zuwendung usw. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass der Verlust durch die Krankheit (z. B. an Lebensqualität) bei Zwangsstörungen besonders hoch ist. Es gibt nicht den Persönlichkeitsstil, der ganz typisch für Menschen mit einer Zwangsstörung ist; gehäuft werden ängstliche, selbstunsicher-vermeidende, dependente und anankastische Persönlichkeitsstrukturen bzw. Persönlichkeitsstörungen gefunden. Zwänge sind das charakteristische Symptom einer Zwangsstörung, können aber auch bei anderen psychischen Störungen (z. B. Depression, Schizophrenie) als Begleitsymptom auft reten.
7.3
Prävalenz
Es wird angenommen, dass 1–2 % der Bevölkerung von einer Zwangsstörung betroffen sind: Die Häufigkeit der Störung ist bei erwachsenen Männern und Frauen etwa gleich. Eine Zwangsstörung beginnt meist in der Adoleszenz, wobei der Gipfel des Erstauft retensalters bei Männern früher liegt als bei Frauen. Der Beginn ist meist schleichend (besonders bei Männern), der Verlauf oft Schwankungen unterworfen. Bei etwa 15 % der Patienten mit einer Zwangsstörung kommt es zu einem progredienten Verlauf verbunden mit massiver Einschränkung des psychosozialen Funktionsniveaus. Spontanremissionen sind eher selten. Prognostisch günstige Faktoren sind eine hohe Eigenmotivation des Patienten und Bereitschaft zur Kooperation vonseiten des sozialen Umfeldes, eine kurze Dauer der Störung, ein episodischer Verlauf, eine gesunde prämorbide Persönlichkeitsstruktur und kritische Lebensereignisse als Auslöser der Störung. Negative prognostische Faktoren sind eine lange Krankheitsdauer, häufige misslungene Vorbehandlungen und das Vorliegen von Zwangsgedanken und von gleichzeiti216
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ger Depression. Besonders negativ wirken sich ein starker primärer Krankheitsgewinn (z. B. Entschärfung eines Konfliktes) und ein hoher sekundärer Krankheitsgewinn (Vorteile aus den jeweiligen Symptomen wie z. B. Versorgungsansprüche).
7.4
Therapie
In der Therapie der Zwangsstörungen hat sich die Kombination von Psychotherapie (vor allem Verhaltenstherapie) und medikamentöser Therapie (Antidepressiva) am ehesten bewährt. Auch wenn sich durch neue Therapiemethoden sowohl von psychotherapeutischer als auch von medikamentöser Seite die Behandlungsmöglichkeiten und die Prognose der Zwangsstörungen gebessert haben, gehören Patienten mit Zwangsstörungen immer noch zur Gruppe der Patienten, die als schwer behandelbar gelten. Da die Prognose der Zwangsstörung stark von der Mitarbeit des Betroffenen abhängig ist, muss dem Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung eine hohe Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch muss der Zwangskranke besonders stark in den Behandlungsplan einbezogen werden (z. B. Kenntnis des subjektiven Erklärungsmodells des Patienten; gemeinsame Definition des Therapieziels; Transparenz des Vorgehens; genaue Besprechung der Konfrontationsübungen). Häufig ist es auch notwendig, die wichtigsten Bezugspersonen des Patienten in den Therapieprozess einzubeziehen. 7.4.1 Verhaltenstherapie Wichtig ist es, zunächst im Rahmen einer Analyse das problematische Verhalten zu erfassen. Dazu dient auch die Anleitung zur Selbstbeobachtung im Rahmen von Hausaufgaben (z. B. Tagebuch zwanghafter Gedanken bzw. Verhaltens; Einschätzung des Unbehagens, des Drangs zum Neutralisieren, von Angst und Depression). Anschließend hat sich die symptombezogene Exposition („in vivo“) in Verbindung mit einer Reaktionsverhinderung besonders bewährt. Hier werden die Betroffenen wiederholt mit Situationen oder Gegenständen konfrontiert, die bei ihnen normalerweise Angst, zwanghafte Befürchtungen und Zwangshandlungen auslösten. Die Patienten werden jedoch angehalten, keine Verhaltensweisen auszuführen, zu denen sie sich möglicherweise gezwungen fühlten. Die Therapeuten führen die erwünschte Handlung dann modellhaft vor, wenn es den Betroffenen besonders schwer fällt. Im Sinne von teilnehmendem Modelllernen ermutigen die Therapeuten dann die Patienten, dasselbe Verhalten zu zeigen. Bei der Durchführung dieser Therapieschritte wird der Betroffene auch angehalten, auf die die Handlung begleitenden Kognitionen zu achten. Diese Therapieschritte können sowohl im Rahmen einer Einzeltherapie als auch Gruppentherapie durchgeführt werden. Beim Habituationstraining wird der Patient angehalten, wiederholt und bislang gefürchtete Gedanken so lange zu denken, bis von selbst eine Angstreduktion eintritt. Gleichzeitig müssen jegliche verdeckte Vermeidung oder neutralisierende Verhaltensweisen unterlassen werden.
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Eine weitere Methode bei Zwangsstörungen ist der Gedankenstopp: Dabei lässt der Betroffene bei geschlossenen Augen die störenden Gedanken in sein Bewusstsein eintreten. Sobald der Therapeut durch ein Zeichen des Patienten vom erfolgreichen Eintreten dieses Schrittes unterrichtet ist, sagt dieser „Stopp“. Schließlich übernimmt der Patient auch diesen Teil. 7.4.2 Medikamentöse Therapie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer haben sich am ehesten bewährt. Es kommen aber nicht nur selektive Serotonin-Re-uptake-Inhibitoren (SSRI) wie Escitalopram, Fluoxetin oder Paroxetin infrage, sondern auch das trizyklische Antidepressivum Clomipramin, ein nicht-selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Die Dosierung dieser Medikamente ist deutlich höher als bei Depressionen, wobei zur Vermeidung von unerwünschten Nebenwirkungen ein langsames Aufdosieren empfohlen wird. Die Wirklatenz bis zum Eintreten einer klinischen Besserung der Zwangssymptomatik ist deutlich länger als üblicherweise bei Depressionen (6–8 Wochen). Die erwähnten therapeutischen Schritte werden üblicherweise in einem ambulanten Setting durchgeführt. Ein stationärer Aufenthalt – am besten in einer entsprechenden Spezialklinik – kann am Anfang einer Therapie sinnvoll sein, wenn der Betroffene – besonders bei Zwangsstörungen, die sich um Verunreinigungen drehen – nicht in der Lage ist, gleich mit selbstgesteuerten Konfrontationen zu beginnen.
Fallbeispiel Diagnose: Zwangsstörung Die 32-jährige Patientin kommt in die psychiatrisch-psychotherapeutische Ambulanz, nachdem sie zum wiederholten Male den Zwangsgedanken hatte, ihr drei Monate altes Kind zu ermorden. Diese Zwangsgedanken sind bald nach der Geburt des Sohnes aufgetreten. Besonders wenn sie in der Küche ist und ein Messer sieht, drängen sich die Gedanken auf, dem Kind den Hals durchzuschneiden. Extrem sei es einen Tag vor dem Gespräch gewesen, als sie den Drang hatte, dem Kind mit einer Hacke den Kopf abzuhacken. Dies hätte sie so erschreckt, dass sie dies ihrem Mann erzählte, der mit ihr in die Ambulanz kam. Die Patientin erzählte, dass das Kind „nicht geplant“ war. Sie habe erst vor etwa einem Jahr eine Abtreibung durchführen lassen, obwohl Kinder immer Teil ihres Lebensplanes waren. Sie hätte damals aber gerade mit dem Hausbau begonnen, und der Zeitpunkt der Schwangerschaft habe überhaupt nicht gepasst. Da sie sich überfordert fühlte, habe sie sich nach langen Gesprächen mit dem Ehemann zur Abtreibung entschieden. Kurz danach sei es zum Auftreten einer schweren seelischen Krise gekommen, weil sie „etwas Furchtbares getan habe, was sie sich nicht verzeihen konnte“. Obwohl sich die Lebensumstände nicht geändert hätten, habe sie alles unternommen, um rasch wieder schwanger zu werden. Sie sei auch bald wieder schwanger geworden, wobei die Schwangerschaft sehr problematisch verlief. Neben einer Hyperemesis gravidarum kam es immer wieder zu Frühgeburtsbestrebungen, weswegen sie oft zur Bettruhe
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gezwungen wurde. Sie habe dabei bemerkt, dass sie sich auf das Kind freute, aber immer wieder traten Gedanken der Ablehnung und der Aggression dem werdenden Kind gegenüber auf. Auch nach der Geburt hätten diese Gedanken angedauert bzw. es seien die konkreten Zwangsgedanken aufgetreten, das Kind zu ermorden. Da eine deutliche depressive Verstimmung fassbar war und der Leidensdruck hoch war, wurde neben der Psychotherapie auch eine medikamentöse Behandlung mit einem Antidepressivum und für kurze Zeit einem Benzodiazepin durchgeführt. Die Patientin war hoch motiviert, die zugrunde liegende Problematik zu bearbeiten, und es kam dadurch – und weil ein klarer Auslöser fassbar war – sehr rasch zu einer Besserung des Symptomatik.
Weiterführende Literatur Margraf J (Hrsg) (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 2. Springer, Berlin Heidelberg New York
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Morschitzky H (2002) Angststörungen. Springer, Wien New York Reinecker H (1991) Zwänge. Diagnosen, Theorien und Behandlung. Huber, Bern
Belastungsstörungen F43
Unter seelischer Belastung versteht man die Bedrohung des seelischen Gleichgewichts entweder durch äußere Belastungssituationen oder/und innere Konfliktsituationen. Belastungen und eine entsprechende Bewältigung gehören zum menschlichen Erleben und Verhalten. Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit zahlreichen Belastungen konfrontiert, wobei die Bewältigung dieser Anforderungen von zahlreichen Faktoren abhängig ist. Als Beispiele für leichte Belastungssituationen gelten Auseinanderbrechen einer Freundschaft, Schulbeginn, Loslösung vom Elternhaus, Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz u. a. m., als mittlere Belastungssituationen Trennung vom Partner, Arbeitsplatzverlust, Partnerprobleme, Mobbing usw. und als (sehr) schwere müssen Scheidung, Tod eines nahen Angehörigen, Naturkatastrophe, Folter, Arbeitslosigkeit u. a. m. bezeichnet werden. Unter dem Begriff „Reaktionen auf schwere Belastungen“ werden Reaktionen auf belastende Lebensereignisse verstanden, die nach Art und Ausmaß deutlich über das nach allgemeiner Lebenserfahrung zu Erwartende hinausgehen. Dabei bestehen in der Regel Beeinträchtigungen der affektiven Situation, der Leistungsfähigkeit und der sozialen Beziehungen. Nach dem ICD-10 gliedern sich die Belastungsreaktionen in: • Akute Belastungsreaktionen • Posttraumatische Belastungsstörung • Anpassungsstörungen
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8.1
Akute Belastungsreaktion F43.0
Die akute Belastungsreaktion ist die Folge einer extremen psychischen Belastung, für die der Betroffene keine geeignete Bewältigungsstrategie besitzt. Sie ist eine normale Reaktion der menschlichen Psyche auf eine außergewöhnliche Erfahrung. Häufige Auslöser einer akuten Belastungsreaktion sind Verlust- und Trennungserlebnisse, vor allem der Tod eines Angehörigen, weiters das Erleben von Gewalt oder Unfällen. Abhängig von der individuellen Konstitution des Betroffenen können aber auch objektiv weniger einschneidende Erlebnisse zu einer akuten Belastungsreaktion führen. Der Beginn der akuten Belastungsreaktion setzt üblicherweise mit dem Erleben der belastenden Situation ein, d. h., sie erfolgt ohne oder nur mit geringer Verzögerung und dauert Stunden bis Tage, in seltenen Fällen Wochen. Typische Symptome sind: • Verhaltensänderungen: Während einige Betroffene eher apathisch reagieren und kaum eine Reaktion auf Außenreize (z. B. Ansprache, Schmerzreize) zeigen, reagieren andere mit einer starken inneren und psychomotorischen Unruhe, gehen unruhig und ohne Ziel auf und ab. Auch kommen sinnlose Handlungen wie Weglaufen oder selbstschädigendes Verhalten als Ausdruck panischer Angst vor. • Körperliche Reaktionen: Dabei treten vor allem vegetative Symptome im Sinne eines Hyperarousals auf wie starkes Schwitzen, starke Blässe, schnelles Atmen, hochroter Kopf. Auch Schlafstörungen und Mangel an sexueller Erregbarkeit zeigen sich oft . • Emotionale Reaktionen: Anfangs scheinen die Gefühle völlig abgeschaltet zu sein. Die Betroffenen wirken emotional wie abgestumpft. Anschließend können unterschiedlich wechselnde Gefühle wie Ärger, Wut, Angst und Verzweiflung auft reten. Grundsätzlich werden zwei Phasen unterschieden: • In der Akutphase zeigt sich meist eine deutliche Einengung auf mehreren Ebenen; dies äußert sich u. a. darin, dass der Überblick über die Situation verloren geht. Es besteht ein Zustand der Betäubung und der Desorientiertheit. Außerdem kommen dissoziative Symptome vor, wie das Gefühl, nicht man selbst zu sein (Depersonalisation) oder alles wie durch einen Filter oder eine Kamera zu erleben (Derealisation). Es zeigen sich meist starke Stimmungsschwankungen und ein starker Wechsel der Symptome. Meist besteht ein Zustand des „Hyperarousals“, der sich in Zeichen einer vegetativen Reaktion wie Schwitzen, Herzrasen oder Übelkeit zeigt. • In der Verarbeitungsphase nehmen die Symptome allmählich ab und verschwinden üblicherweise völlig. In dieser Phase kann es auch zum Wiedererleben (Intrusion) der Ereignisse kommen, oft in Form von Albträumen oder Flash-backs. Die Betroffenen berichten gelegentlich auch über eine eingeschränkte Empfi ndungsfähigkeit und Schlafstörungen.
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Die Reaktion auf eine akute Belastungssituation ist von vielen Faktoren abhängig: • Schwere der Belastung: Wenn eine Belastung eine gewisse Schwere überschreitet, reagiert jeder Mensch mit entsprechenden Symptomen sowohl psychischer als auch physischer Natur. • Art der Belastung: Nicht jede Belastungssituation wird von den verschiedenen Menschen in gleicher Weise erlebt. Neben der Persönlichkeitsstruktur (s. u.) spielen frühere Erfahrungen eine besondere Rolle. • Bewertung einer Situation und Verhalten: Ob eine Belastungssituation als Bedrohung oder als Herausforderung erlebt wird, hängt stark von der subjektiven Bewertung einer Situation und dem darauf folgenden Verhalten, also der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen ab. (Seneca: „Es sind nicht die Dinge an sich, die wir fürchten, sondern die Vorstellungen, die wir von den Dingen haben.“) So stellen Trennungs- und Verlustsituationen (z. B. Tod, Scheidung) vor allem für Personen mit einer dependenten Persönlichkeitsstruktur oder -störung eine besonders extreme Belastung dar, da ihr Selbstbild und ihr Weltbild dadurch besonders labilisiert werden. Dagegen sind Lebenssituationen, die das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigen (z. B. Niederlagen) besonders für Personen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur bzw. -störung stark bedrohlich und führen oft akut zu extrem schweren Krisen mit hoher Suizidgefahr.
8.2 Therapie Die wichtigsten Sofortmaßnahmen sind das Wegbringen des Betroffenen aus dem Gefahrenbereich und das Herstellen einer beschützten Umgebung. Dabei gilt es zu Therapiebeginn zunächst die Fähigkeit des Patienten zur Selbstberuhigung und Selbstdesensitivierung zu stärken. Bei starker Anspannung hat sich die kurzzeitige Gabe von Benzodiazepinen bewährt.
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Posttraumatische Belastungsstörung F43.1
9.1
Allgemeines
Die Posttraumatische Belastungsstörung (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) ist eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, die als außergewöhnliche Bedrohung katastrophenartigen Ausmaßes erlebt wird, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Unter dieser Störung werden unterschiedliche psychische und psychosomatische Symptome zusammengefasst, die als Langzeitfolgen eines Traumas oder mehrerer Traumata auftreten können. Bei der Erfahrung eines Traumas wird das Bedürfnis nach Sicherheit massiv erschüttert. Die PTSD wird ursächlich durch ein oder mehrere traumatische Erlebnisse ausgelöst. Dazu zählen z. B.:
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• • • • • •
Vergewaltigung Sexueller Missbrauch oder Gewalterfahrung in der Kindheit Naturkatastrophen Folter Geiselnahme, Entführung Schwere Unfälle
Nach der Häufigkeit des Auft retens kann man zwei Arten von Traumata unterscheiden: • Einmalige traumatische Erfahrung: Überfall, Vergewaltigung, Unfall, Entführung • Langdauernde bzw. wiederholte traumatische Erfahrung: Folter, Krieg, langdauernde körperliche oder emotionale Misshandlung, jahrelanger sexueller Missbrauch
9.2
Ätiologie
Ein potenziell traumatisierendes Ereignis ist gekennzeichnet durch ein schwerwiegendes Erlebnis der Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Das traumatisierende Ereignis geht mit Gefühlen starker Angst, Hilflosigkeit und massiver Überforderung einher und führt auch zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses der betroffenen Person. Eine traumatische Situation führt bei – fast – jeder Person zu einer psychischen Labilisierung, auch bei psychisch Gesunden. Ob sich später eine PTSD entwickelt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Risikofaktoren sind: • Negative Aufwuchsbedingungen: also Faktoren, die generell zu einer Erhöhung der psychischen Labilität beitragen • Fehlendes soziales Netzwerk • Bestehende psychische Störung, vor allem Depression, Angst oder Persönlichkeitsstörung Schutzfaktoren sind: • Enge, Halt gebende Beziehungserfahrungen • Hoher sozioökonomischer Status • Gute soziale bzw. emotionale Unterstützung Ob genetische Faktoren einen Einfluss auf das Risiko haben, eine PTSD zu entwickeln, wird diskutiert, ist aber nicht gesichert.
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9.3
Symptomatologie
Die Diagnose einer PTSD sollte nur gestellt werden, wenn neben dem Trauma eine typische Symptomatik vorliegt (s. u.). Ein Trauma allein rechtfertigt nicht die Diagnose einer PTSD. Andererseits ist die Symptomatik beim PTSD so variabel, dass sie nicht immer als Folge einer oder mehrerer Traumatisierungen erkannt wird, speziell dann nicht, wenn das traumatische Ereignis nicht erfasst oder vom Betroffenen verdrängt wurde. Symptome können sowohl relativ bald nach Erleben des Traumas, aber auch mit einer Verzögerung von vielen Jahren oder Jahrzehnten auftreten: • Akut: weniger als 3 Monate lang • Chronisch: mindestens 3 Monate oder länger • Mit verzögertem Beginn: Zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Beginn der Symptome sind mindestens 6 Monate vergangen. Folgende Symptome sind typisch für eine Posttraumatische Belastungsreaktion: • Wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen („Flashbacks“), Träumen oder Albträumen • Im Hintergrund bestehen: – ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Leere – Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen – Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber – Anhedonie (= Unfähigkeit, Freude zu empfinden) – Vermeidung von Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten • Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit auf: – Vigilanzsteigerung (= erhöhte Wachsamkeit) – Übermäßiger Schreckhaft igkeit – Schlaflosigkeit • Angst und Depressionen sind häufig assoziiert, Suizidgedanken nicht selten. Die psychischen Folgen des Traumas führen nicht selten zu Verhaltensweisen, die negative Auswirkungen auf die Gestaltung privater Beziehungen und des beruflichen Umfeldes haben können. Dies kann zu sozialer Isolierung und zur Ausgrenzung aus dem üblichen Sozialleben sowie zu Verwahrlosung usw. führen. Viele Menschen haben nach einem Trauma Schwierigkeiten, ins spätere Leben zurückzufinden. Nach einer traumatischen Erfahrung wird sowohl das Selbstbild, z. B. die Illusion der Unverwundbarkeit oder das Bild der eigenen Stärke als auch das Weltbild erschüttert: Die Welt, die vor dem Trauma als sicher und berechenbar galt, wird plötzlich als feindlich und unberechenbar erlebt. Unter den schwer traumatisierten Personen finden sich in den westlichen Industrienationen etwa doppelt so viele Frauen wie Männer, was wahrscheinlich ihre Ursache in dem deutlich höheren Anteil von jungen Mädchen und Frauen unter den Opfern sexuellen Missbrauchs haben könnte. 223
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Ob sich nach einer schweren Traumatisierung eine komplexe PTSD entwickelt, hängt stark von den späteren Lebensumständen ab. Eine stabile Umgebung, die durch Sicherheit, Wertschätzung und soziale Unterstützung gekennzeichnet ist, stellt dabei den wichtigsten protektiven Faktor dar.
9.4
Prävalenz
Das Risiko, im Laufe des Lebens ein Trauma zu erleben, ist generell groß, gleichzeitig liegt aber das Risiko, eine PTSD zu entwickeln, „nur“ bei etwa 8 %. Menschen, die häufig mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert werden (wie z. B. Rettungskräfte, Feuerwehrleute, Polizisten), haben ein erhöhtes Risiko, ein PTSD zu entwickeln, besonders, wenn sie nicht entsprechend unterstützt und geschult sind.
9.5
Therapie
1. Mehrere traumaspezifische Therapieverfahren wurden in den letzten Jahren entwickelt (auf Details dieser Verfahren kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden): Psychodynamisch imaginative Traumatherapie (PITT) (Reddemann, 2008): Diese Therapieform integriert Elemente der Psychoanalyse mit solchen aus der kognitiven Verhaltenstherapie und imaginativen Verfahren sowie Prinzipien der Achtsamkeitsmeditation. Leitend ist dabei das Konzept der Selbstregulation und der Selbstachtung. Das therapeutische Vorgehen ist durch drei Schritte gekennzeichnet: 1. Stabilisierung 2. Traumabearbeitung 3. Integration Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT) (Fischer & Riedesser, 2003): Diese Therapie ist ein integratives Verfahren, das imaginative, kognitive und behaviorale Elemente mit EMDR (s. u.) und einem psychodynamischen Konzept der Beziehungsgestaltung und Therapieplanung verbindet. MPTT versucht den Patienten in seinen eigenen Strategien und Möglichkeiten zu unterstützen und knüpft somit an die natürliche Selbstregulation an. Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) (Shapiro, 1989): Bei dieser Therapieform regt der Therapeut den Patienten nach strukturierter Vorbereitung zu beidseitigen Augenbewegungen an, wodurch es möglich werden soll, unverarbeitete traumatische Inhalte zu verarbeiten. Diese Methode erfreut sich hoher Beliebtheit, eine sichere Effizienz ist aber nicht erwiesen.
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Kognitive Verfahren: Diese Techniken setzen an verschiedenen Belastungs- und Problemkonstellationen des Patienten an. Dabei haben sie gemeinsam, dass Patienten lernen, unangemessene Gedanken, die zu negativen Reaktionen führen können, systematisch zu erkunden und zu verändern. Folgende zwei Verfahren haben sich bewährt: • Kognitive Verarbeitungstherapie (KVT) (Nishit & Resick 1997): Diese Therapie beruht auf der theoretischen Annahme, dass durch das Trauma kognitive Schemata verändert wurden. Fünf Bereiche kognitiver Selbst- und Fremdkonzepte stehen im Mittelpunkt der KVT: Sicherheit, Vertrauen, Macht/Einfluss, Selbstachtung und Intimität. Das praktische Vorgehen der KVT umfasst neben kognitiven Komponenten auch Patientenedukation und Konfrontationstechniken. • Kognitive Umstrukturierung (Ehlers & Clark 1998): Im Zentrum dieses Ansatzes stehen: – die subjektive Bedeutung des Traumas, – die subjektive Bedeutung der Konsequenzen des Traumas und – die verschiedenen Formen kognitiver Vermeidung. Das therapeutische Vorgehen kombiniert Konfrontation mit dem erlebten Trauma mit der Analyse des Auftretens von Intrusionen und der damit verbundenen Kognitionen und Emotionen. Zugleich werden die Formen und die Häufigkeit der kognitiven und verhaltensmäßigen Vermeidung erfasst. 2. Medikamentöse Therapie Der Einsatz von Psychopharmaka muss in eine tragfähige therapeutische Beziehung eingebettet sein. Dabei hängt ihr Einsatz von der Schwere und Ausprägung der psychopathologischen Symptomatik ab. Folgende Antidepressiva haben sich bei der PTSD am ehesten bewährt: • Paroxetin (Seroxat®) • Mirtazapin (Mirtel®, Mirtazapin®) • Sertralin (Gladem®, Tresleen®) • Amitryptilin (Saroten®). Der Einsatz der Benzodiazepine sollte kurzfristig erfolgen. Bei starken Erregungszuständen haben sich Antipsychotika der 2. Generation (z. B. Quetiapin, Risperidon) am besten bewährt.
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Anpassungsstörung F43.2
10.1 Allgemeine Aspekte Die Anpassungsstörungen sind Reaktionen auf Belastungen, vor allem auf Situationen, die mit Veränderungen bzw. der Notwendigkeit einer Anpassung an eine neue Situation verbunden sind. Es kommt zu unterschiedlichen affektiven Symptomen sowie zu einer sozialen Beeinträchtigung. Definitionsgemäß handelt es sich bei den Anpassungsstörungen um relativ kurzzeitige Symptome, die als Reaktion auf eine oder meh-
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rere belastende Lebensereignisse aufgetreten sind. Es muss also ein klarer zeitlicher Zusammenhang bestehen. Folgende psychosoziale Belastungssituationen sind häufige Auslöser von Anpassungsstörungen: • Entscheidende Lebensveränderungen: Verlassen des Elternhauses, Umzug, Pensionierung, Scheitern im schulischen oder beruflichen Bereich • Kritische Lebensereignisse: Scheidung, Tod eines Angehörigen, massive familiäre Probleme, Mobbing am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Armut • Schwere körperliche Krankheit: chronisches Leiden, Krebs • Bei Kindern und Jugendlichen kann Vernachlässigung die Ursache sein. Die Belastungen können sowohl wiederkehrend als auch kontinuierlich sein. Häufig treten sie im Zusammenhang mit spezifischen Lebensphasen auf.
10.2 Symptomatologie Abhängig vom vorherrschenden Beschwerdebild werden verschiedene Anpassungsstörungen unterschieden: • Kurze depressive Reaktion (43.20): Ein vorübergehender, leichter depressiver Zustand, der nicht länger als einen Monat andauert. • Längere depressive Reaktion (F43.21): Ein leichter depressiver Zustand als Reaktion auf eine länger anhaltende Belastungssituation, die aber zwei Jahre nicht überschreitet. • Angst und depressive Reaktion gemischt (43.22): Dabei bestehen sowohl Angstsymptome als auch depressive Krankheitssymptome, die jedoch nicht so ausgeprägt sind, dass man eine konkrete Angststörung oder eindeutige Depression ableiten könnte. • Mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen (F43.23): Dabei bestehen Symptome wie Besorgnis, Anspannung, Ärger oder im Kindesalter regressive Symptome wie Bettnässen, Daumenlutschen und andere. • Mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens (F43.24): Es überwiegen dissoziale Verhaltensweisen und Aggressionsdurchbrüche. • Mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25): Es bestehen sowohl Stimmungsbeeinträchtigungen als auch Störungen des Sozialverhaltens. Weitere Formen von Anpassungsstörungen: • Eine weitere Form einer Anpassungsstörung ist die „Komplizierte“ Trauer: Im Gegensatz zur „Normalen“ Trauer kommt es bei der Komplizierten Trauer – meist nach dem Verlust einer nahestehenden Person – nicht zu einer mehr oder weniger stetigen Abnahme des Trauerschmerzes und der damit verbundenen Intensität der erlebten Emotionen. Vielmehr kommt es zu einer Chronifizierung des Zustandes, der durch einen hohen Leidensdruck, meist begleitet von verschiedenen psychischen und psychosomatischen Beschwerden gekennzeichnet ist. • Weitere Kennzeichen einer komplizierten Trauer sind: 226
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– – – – – –
eine intensive Sehnsucht nach der verstorbenen Person; ein Gefühl, als ob ein Teil von einem selbst gestorben ist; keine oder nur mangelhafte Anpassung an die neue Wirklichkeit; immer wiederkehrende oder dauernde Gedanken an den Verlust; Gefühlsüberflutung und Gefühle der Verbitterung und Affektlabilität; Schuldgefühle („Es darf mir nicht mehr gut gehen“), Ängste, innere Leere oder Schlafstörungen; – reaktiv selbstschädigendes Verhalten (Alkohol, Drogen, Essstörungen); – Vermeidung oder häufiges Aufsuchen von Orten oder Verhaltensweisen, die an den Verstorbenen erinnern. Diese Symptome führen zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität und auch der Lebensgestaltung mit der Gefahr der Vereinsamung. So werden u. a. Hobbys und soziale Kontakte vernachlässigt, auch schulische oder berufliche Leistungen werden schlechter. • Eine spezifische Form einer Anpassungsstörung stellt die Posttraumatische Verbitterungsstörung dar (Linden 2003): Diese Störung, die besonders durch Verbitterungsemotionen wie Hilflosigkeit, Wut, Beleidigtsein, Verzweiflung, Selbstaggression oder Selbstvorwürfe und Vorwürfe gegen andere gekennzeichnet ist, tritt vor allem nach Erlebnissen von sozialer Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Mobbing am Arbeitsplatz und bei Erfahrungen von Extremtraumatisierungen auf. Personen mit einer Verbitterungsstörung lassen sich durch das hohe Ausmaß an Gekränktsein schlecht helfen, weisen Hilfsangebote zurück und zeigen in der Folge oft ein passiv-aggressives Vermeidungs- und Verweigerungsverhalten (wie z. B. Rückzug aus Sozialbeziehungen und aus dem Berufsleben).
10.3 Ätiologie Die Ursachen für eine Anpassungsstörung liegen im Zusammenwirken einer individuell persönlichen Veranlagung (Disposition), eigenen Bewältigungsstrategien und fehlenden Unterstützungsmöglichkeiten mit den auft retenden Belastungen („DiatheseStress-Modell“). Zwar spielen für das Auftreten der Anpassungsstörung die „individuelle Disposition“ oder „Vulnerabilität“ eine größere Rolle als bei anderen psychischen Krankheitsbildern, es ist aber davon auszugehen, dass das erwähnte Krankheitsbild beim jeweiligen Patienten ohne die belastenden Lebensereignisse nicht entstanden wäre. Die Belastung muss also als primärer und ausschlaggebender Kausalfaktor eindeutig nachgewiesen werden, ebenso die zeitliche Abhängigkeit der Symptomatik. Diagnostische Schwierigkeiten können sich aus der Einstellung des Untersuchers bezüglich einer „ausreichenden“ Schwere der Belastung ergeben. Hierbei spielen individuelle, kulturspezifische und auch berufsspezifische Merkmale eine Rolle. Das Risiko, dass nach einem negativen Lebensereignis eine Anpassungsstörung auftritt, ist erhöht, wenn dieses auf eine Person trifft, die: • aufgrund einer Persönlichkeitsvariante in ihren Anpassungsfähigkeiten an eine neue Lebenssituation eingeschränkt ist. Diese Situation ist vor allem dann gegeben, 227
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wenn die auslösende Belastungssituation eine besonders hohe subjektive Bedeutung für die betroffene Person hat, wie z. B. ein Verlusterlebnis bei einer Person mit einer dependenten Persönlichkeitsstörung; • wenig Ressourcen auf mehreren Ebenen aufweist, um mit den Anforderungen adäquat fertig zu werden; • wenig Resilienzfaktoren (= Widerstandsfähigkeit) aufweist, d. h. in ihren Fähigkeiten eingeschränkt ist, in Krisen auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zurückgreifen zu können. Besonders gefährlich ist die sogenannte „Akkumulation von Risikofaktoren“: • eine vorbestehende mangelhafte Belastbarkeit oder eine psychische Störung, • inadäquate zwischenmenschliche, insbesondere partnerschaft liche und familiäre, aber auch berufl iche Unterstützung, • Defizite in den individuellen Bewältigungsstrategien, • gleichzeitige körperliche Schwäche oder Erkrankung, • schwierige psychosoziale Situation.
10.4 Epidemiologie und Verlauf Anpassungsstörungen sind häufig. Schätzungen sprechen von 5–20 % in ambulanter psychotherapeutisch-psychiatrischer Behandlung. Beide Geschlechter sind von Anpassungsstörungen etwa gleich häufig betroffen. Das scheinbare Überwiegen der Frauen ist darauf zurückzuführen, dass sich Frauen eher in Behandlung begeben. Allein lebende Personen (Ledige, getrennt lebende Geschiedene, Verwitwete) haben meist größere Probleme in der Bewältigung von Belastungen als Verheiratete oder solche in einer festen Beziehung. Anpassungsstörungen sind vor allem in psychiatrisch-psychotherapeutischen Ambulanzen häufig diagnostizierte Störungen, einerseits, weil viele Menschen schwere Belastungen erleben, die sie nicht adäquat bewältigen können, und andererseits, weil diese Störung wegen der geringen negativen Konnotation, die mit dieser Diagnose verbunden ist, eine hohe Akzeptanz erfahren hat. Der Verlauf der Anpassungsstörungen ist sehr unterschiedlich; neben dem spontanen Abklingen nach einigen Wochen und Monaten – auch ohne Therapie – gibt es Verläufe mit einer hohen Neigung zur Chronifizierung, die letztendlich erhebliche sozialmedizinische Konsequenzen wie z. B. Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit haben.
10.5 Therapie Abhängig von der sorgfältigen Analyse des Einzelfalls haben sich bei den Anpassungsstörungen psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsansätze bewährt, die häufig kombiniert werden.
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Therapeutische Schritte sind: • Entlastung des Betroffenen häufig bereits durch das erste ausführliche, die Diagnose einer Anpassungsstörung ermöglichende Gespräch. • Soziale Unterstützung im Sinne einer Beziehungssicherheit, emotionaler Unterstützung und Unterstützung beim Problemlösen. • Erarbeiten eines Zusammenhangs zwischen den psychischen Beschwerden und der belastenden Lebensveränderung. • Bei Verlusterlebnissen helfen, die Wirklichkeit des Verlustes zu akzeptieren, sich auf die Welt ohne den Verstorbenen einzurichten und die Beziehung zum Verstorbenen neu zu definieren. • Aktivierung vorhandener Bewältigungsstrategien durch Erinnern früherer gut bewältigter Lebenskrisen; Unterstützung in der Erprobung neuer Bewältigungsstrategien. • Bei der medikamentösen Behandlung haben sich am ehesten Antidepressiva bewährt. Benzodiazepine sollten – wenn unbedingt notwendig – nur kurzfristig verabreicht werden.
Fallbeispiel Diagnose: Anpassungsstörung mit Angst und Depression gemischt F43.22 Die 30-jährige Patientin (Beruf: Sekretärin) wird von ihrem Hausarzt an die psychiatrischpsychotherapeutische Ambulanz zugewiesen, nachdem sie wegen verschiedener körperlicher und seelischer Beschwerden schon länger nicht mehr arbeiten konnte. Mehrere Therapieversuche mit verschiedenen Antidepressiva hatten nur kurzfristig eine Verbesserung gebracht. Sie klagt über Müdigkeit, Einschlafstörungen, Albträume, Pavor nocturnus, innere Unruhe, Spannungskopfschmerzen; auch könne sie sich nicht mehr so freuen wie früher. Weiters berichtet sie von diffusen Ängsten, vor allem den Anforderungen des Alltagslebens nicht mehr gerecht zu werden. Die Beschwerden hätten vor etwa zwei Jahren einige Wochen nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten begonnen. Sie hätte ihn kurz vorher im Bett mit einer anderen Frau überrascht, obwohl in dieser Zeit schon der Heiratstermin festgelegt war. Verschlimmernd sei hinzugekommen, dass sie damals wegen des Lebensgefährten mit ihrer Ursprungsfamilie gebrochen habe. Sie gibt außerdem an, dass sie ein „sehr anhänglicher Mensch“ sei, dem es besonders wichtig sei, sich auf andere verlassen zu können. Da der Hausarzt und die Patientin selbst eine stationäre Aufnahme an der Psychosomatischen Klinik wünschten, wird diese durchgeführt. Unter der Entlastung und den verschiedenen Therapieangeboten (Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Entspannungsverfahren, Antidepressiva) kam es zu einer eher langsamen, schließlich aber sehr zufriedenstellenden Besserung der psychischen Befindlichkeit. Nach der stationären Entlassung begab sich die Patientin in eine ambulante Gesprächspsychotherapie.
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Weiterführende Literatur Baumann K, Linden M (2008) Weisheitskonzepte und Weisheitstherapie. Die Bewältigung von Lebensbelastungen und Anpassungsstörungen. Pabst, Lengerich Foa EB, Olasov Rothbaum B, Maercker A (2000) Posttraumatische Belastungen. In: Margraf J (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 2. Springer, Berlin Heidelberg New York, 107–121
Kapfhammer HP (2000) Posttraumatische Belastungsstörung. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York Reddemann L (2008) Psychodynamisch-imaginative Traumatherapie. Klett-Cotta, Stuttgart
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Dissoziative Störungen oder Konversionsstörungen F44
11.1
Allgemeine und historische Aspekte
Die beiden Störungsbilder „Dissoziative Störungen“ und „Konversionsstörungen“ werden im Klassifi kationssystem DSM-IV als verschiedene, im ICD-10 als idente Störungsformen behandelt. Bei beiden Störungen wird ursächlich eine Psychogenese angenommen, wobei die Symptome in enger zeitlicher Verbindung mit traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen stehen. Das Konzept der Dissoziation wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch den französischen Arzt Pierre Janet entwickelt. Janet hatte im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zur Hypnose an hysterischen Patientinnen dissoziative Symptome beschrieben und auf den Zusammenhang zwischen diesen Symptomen und traumatische Erinnerungen hingewiesen. Sigmund Freud verstand die Dissoziation als Ausdruck eines psychodynamisch begründbaren Abwehrvorgangs und wies ebenfalls auf die Beziehung zu traumatischen Erlebnissen hin. Gemeinsam mit Breuer beschrieb er in den „Studien zur Hysterie“ (1895) die Bewusstseinsspaltung als ein Grundphänomen der Hysterie. Anfänge der Dissoziation gibt es bereits in frühen Kulturen und Religionen (Schamanismus) mit ekstatischen Erfahrungen, Besessenheitszuständen und religiösen Erlebnissen. Die Psychologie des 19. Jahrhunderts verstand Dissoziation im Wesentlichen als ein psychopathologisches Modell, das mit traumatischen Erlebnissen verbunden war. Die entsprechenden Symptome wurden weitgehend der Hysterie zugerechnet. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einem starken Rückgang dieses Interesses. Dies hatte einerseits mit Freuds Aufgabe seiner Verführungstheorie, mit dem Aufkommen des Behaviorismus und mit der Einführung des Schizophreniebegriffs von Bleuler zu tun. Erst durch die Aufnahme dieser Störung in das DSM-III (1980) erlebte dieses Störungsbild eine Renaissance. Konversion (conversio = Umwandlung) bedeutet, dass sich der durch die unlösbaren Schwierigkeiten und Konflikte hervorgerufene unangenehme Affekt in irgendei230
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ner Weise in Symptome umsetzt. Das Konversionsmodell wurde erstmals von Freud (1895) beschrieben. Beim Konversionssymptom liegt der dynamische Grundgehalt in der Symbolisierung von Konflikten, Fantasien, Wünschen und Befürchtungen in einer für den Patienten nicht mehr verständlichen Körpersprache vor. Es wird angenommen, daß es bei einer Anhäufung von (zu) hoher innerer und äußerer Anspannung oder Erregung zu einer Abfuhr dieser Anspannung in Form direkter körperlicher Symptome kommt, ohne wesentliche psychische Beteiligung (Hoff mann, 1999). Uexkull (2003) spricht bei diesen Störungen von „Ausdruckskrankheiten“. Eng verknüpft mit dem Konversionskonzept ist die Hysterie.
11.2 Symptomatologie und Formen Wörtlich übersetzt bedeutet Dissoziation Abspaltung bestimmter Erlebnisanteile aus dem Bewusstsein. Bei der Dissoziation handelt es sich um eine vielgestaltige Störung, wobei es zu einem teilweisen oder völligen Verlust von psychischen Funktionen wie des Erinnerungsvermögens, der eigenen Gefühle oder Empfindungen (z. B. Schmerz, Angst, Hunger, Durst), der Wahrnehmung der eigenen Person und/oder der Umgebung sowie der Kontrolle von Körperbewegungen kommt. Der Verlust dieser Fähigkeiten kann rasch wechseln. Es handelt sich um eine Störung des Bewusstseins, die vielfältige Formen aufweisen kann. Typische Kennzeichen dissoziativer Störungen sind: • Der Beginn oder die Verschlechterung der Symptomatik folgt häufig Konflikten oder anderen Belastungen (deshalb Vermutung eines Zusammenhangs zwischen den Symptomen und psychischen Faktoren). • Die Symptomatik wirkt Angst reduzierend und dient dazu, den Konflikt außerhalb des Bewusstseins zu halten, d. h., die Symptome haben eine hohe Funktionalität im Sinne eines primären oder innerseelischen Krankheitsgewinns. Auch ein sekundärer oder interaktioneller Krankheitsgewinn ist oft fassbar. • Überzeugender Beleg für eine psychische Verursachung ist oft schwierig, auch wenn vieles dafür spricht. • Es besteht eine Tendenz zur Verleugnung offensichtlicher Probleme und Schwierigkeiten. • „Heile Welt“-Schilderungen: oft findet sich wenig Offenheit und mangelnde Introspektionsfähigkeit und ein meist hoher Widerstand gegen die Aufdeckung psychischer Auff älligkeiten. • Keine organische Erklärung der Symptomatik. • Oft plötzlicher Beginn und Ende der Störung. • Eine Tendenz zur Remission nach einigen Wochen und Monaten (besonders bei traumatisierenden Lebensereignissen). • Chronische Verläufe sind eher selten (am ehesten bei unlösbaren Problemen oder interpersonellen Schwierigkeiten).
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Es gibt unterschiedliche dissoziative Phänomene, die als Störungen mit unterschiedlicher Intensität verlaufen: • Die Dissoziative Amnesie (F44.0) ist gekennzeichnet durch das Vergessen persönlicher Informationen, weit über das Maß der normalen Vergesslichkeit hinaus. Die Amnesie bezieht sich meist auf traumatische Erlebnisse (z. B. Unfall, unerwarteter Todesfall); sie ist in der Regel unvollständig und selektiv. • Dissoziative Fugue (F44.1): Hierunter wird das unerwartete Weggehen von der gewohnten Umgebung (Zuhause, Arbeitsplatz) verstanden; dies kann bis zur Annahme einer neuen Identität bei gleichzeitiger Desorientiertheit bezüglich der eigenen Person führen. • Dissoziative Krampfanfälle (F44.5): Dabei treten plötzliche und unerwartete krampfartige Bewegungen auf, die an epileptische Anfälle erinnern, aber nicht mit einem Bewusstseinsverlust einhergehen. Dazu gehört auch der klassische „Arc de Cercle“ (= pathologische Körperhaltung mit extremer Beugung des Körpers, wobei die Konvexität vorne oder hinten sein kann). Freud hat eine Reihe von solchen Fällen unter dem Begriff der „Hysterie“ beschrieben. • Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6): Bei diesem Störungsbild liegt ein teilweiser oder vollständiger Verlust einer oder aller normalen Hautempfindungen an Körperteilen oder am ganzen Körper oder ein teilweiser oder vollständiger Verlust des Seh-, Hör- oder Riechvermögens vor. • Dissoziative Identitätsstörung oder multiple Persönlichkeitsstörung (F44.81): Dabei handelt es sich um eine dissoziative Störung, bei der die Wahrnehmung, die Erinnerung und das Erleben der Identität betroffen sind. Die Patienten bilden zahlreiche unterschiedliche Persönlichkeiten, die abwechselnd, aber nie gemeinsam vorhanden sind und die sich in getrennten Gedanken, Erinnerungen, Verhaltensweisen und Gefühlen äußern. Der Wechsel von einer Person zur anderen wird nicht wahrgenommen. Betroffen sind vor allem Menschen mit schweren Traumatisierungserfahrungen in der Kindheit (länger dauernde körperliche oder sexuelle Misshandlungen oder emotionale Vernachlässigung), aber auch nach extremen Erlebnissen mit vielen Toten und Verletzten. Bei der dissoziativen Identitätsstörung zeigt sich eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen, vor allem mit Depressionen, Angststörungen, PTSD und besonders Persönlichkeitsstörungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder der schizotypischen Persönlichkeitsstörung. Von vielen Therapeuten wird bezweifelt, ob es diese Störung überhaupt gibt oder ob sie eine „Erfindung von Therapeuten“ ist. In Europa wird die Diagnose deutlich seltener gestellt als in den USA. • Depersonalisation (F48.1): Dabei besteht ein verändertes oder verzerrtes Erleben und Wahrnehmen der eigenen Person und des eigenen Körpers mit Gefühlen der Selbstentfremdung und der emotionalen Distanzierung von sich. Die Personen reagieren aber völlig angemessen auf ihre Umwelt. Allerdings können Sinneswahrnehmungen und auch Körpergefühle wie Hunger und Durst gestört sein. • Derealisation (F48.1): Durch ein Gefühl der Unwirklichkeit wird die Umwelt als fremd oder verändert wahrgenommen. Depersonalisation und Derealisation treten selten isoliert auf, sondern meist als ein Symptom bei anderen Störungen, z. B. im Zusammenhang mit Panikattacken. 232
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• Weitere dissoziative Phänomene sind: Licht- und Geräuschempfindlichkeit; das Gefühl, als wäre der eigene Körper ausgeweitet, sodass er sich breiter anfühlt als sonst; das Gefühl, als wäre der Körper „eingegangen“, also kleiner proportioniert; stationäre Gegenstände scheinen sich zu bewegen; Zeitverlust, das heißt die Empfindung, nur eine unvollständige Erinnerung an kurz zurückliegende Ereignisse zu haben. • Besonders häufig sind dissoziative oder funktionelle Bewegungsstörungen (F44.4): Das Spektrum dieser Störungen ist bunt: – Vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder (häufigste Form). – Lähmung: kann partiell, mit schwachen oder langsamen Bewegungen oder vollständig sein. – Unterschiedliche Formen und verschiedene Grade mangelnder Koordination (Ataxie): besonders in den Beinen, daraus resultieren ein bizarrer Gang oder eine Unfähigkeit, ohne Hilfe zu stehen (Astasie, Abasie). – Übertriebenes Zittern oder Schütteln einer oder mehrerer Extremitäten des ganzen Körpers. Charakteristika funktioneller Bewegungsstörungen sind: – normaler Reflexstatus – intakte Muskeltrophik – ungewöhnliche Begrenzungen sensibler Defizite (entspricht den subjektiven Vorstellungen der Patienten) – absonderliches, seltsames Gang- oder Standmuster – merkwürdige allgemeine Verlangsamung – unmittelbare Verbesserungen oder Verschlechterungen – (unökonomische) „Überanstrengung“ der Muskulatur ohne adäquaten Bewegungseffekt – fehlender Leidensdruck – psychodynamische Problemkonstellation – normale zerebrale oder spinale Bildgebung (MRT, CT) – normale klinische neurophysiologische Parameter (EMG)
11.3 Diagnose Neben verschiedenen Fragebögen zur Erfassung der dissoziativen Störung kommt dem strukturierten klinischen Interview die größte Bedeutung zu. Die Diagnose wird meist nach Ausschluss körperlicher Ursachen der Symptomatik gestellt: Sie sollte aber nicht nur eine Ausschlussdiagnose sein, sondern auch eine positive Diagnose in dem Sinne, dass entsprechende zugrunde liegende psychische Konflikte bzw. Belastungen erfasst werden.
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11.4 Prävalenz Es gibt nur wenige Prävalenzzahlen der verschiedenen dissoziativen Störungen. Im klinischen Bereich werden am ehesten dissoziale Bewegungsstörungen und Sensibilitätsstörungen dokumentiert. Dabei scheint die Häufigkeit der einzelnen Störungen auch stark kulturabhängig zu sein, bestimmte Zeittrends sind auch nicht auszuschließen.
11.5 Ätiologie und Pathogenese Die psychoanalytische Theorie geht davon aus, dass intrapsychische, unbewusste Konflikte quasi in Körpersprache übersetzt werden. Dadurch bekommt das Symptom einen deutlich Symbol- und Ausdruckscharakter. Wahrscheinlich spielt auch eine Prägung durch eine individuelle Anfälligkeit bestimmter Organsysteme („Organminderwertigkeit“) für die Organwahl eine wichtige Rolle. Als Auslöser für dissoziative Störungen oder Konversionsstörungen spielen psychische bzw. psychosoziale Belastungen eine wichtige Rolle: • Meist handelt es sich um unspezifische Reaktionen auf emotionale Belastungen („Anpassungsstörungen“). Dabei besteht eine erhöhte Belastung durch einen akuten psychosozialen Stress; oft liegt ein Gefühl der Bedrohung bzw. Überforderung vor. • Reaktionen auf ein traumatisches Erlebnis (eher selten). • Chronisch schwierige Lebenssituation (gelegentlich). Bei den dissoziativen Störungen handelt es sich nicht um homogene, sondern um heterogene Störungen. Die Heterogenität bezieht sich auf • die klinische psychiatrische Diagnose: Sie reicht von Normalbefunden bis hin zu Depressionen; • die Persönlichkeitsstruktur: Es fi nden sich keine Hinweise auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, sondern auf verschiedene Persönlichkeitsstrukturen bzw. -störungen (alexithym, narzisstisch, histrionisch, dependent).
11.6 Therapie Im Umgang mit Patienten mit dissoziativen Störungen ergeben sich oft einige Probleme. Diese hängen damit zusammen, dass • die Patienten meist ein ausschließliches somatisches Krankheitskonzept haben; • die Betroffenen oft geringgradige neurologische Störungen aufweisen; • umfangreiche diagnostische Abklärungsprogramme durchgeführt wurden (können zu einer iatrogenen Fixierung führen); • lange Zeit eine mögliche psychische Genese nicht mitbedacht wurde.
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Das Behandlungskonzept dissoziativer Störungen sollte im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans folgende Schritte berücksichtigen: • Eine zu schnelle (= vorschnelle) Konfrontation mit dem Psychogenese-Konzept sollte vermieden werden, da es dadurch zu einem Beziehungskonfl ikt kommen kann, welcher die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung beeinträchtigt. Auch die Gefahr einer Polarisierung ist gegeben (z. B. Verstärkung alter Symptome und/oder Entwicklung neuer Symptome). • Vermeidung diskreditierender Äußerungen (z. B. „nur psychisch“) • Aufk lärung des Patienten (Psychoedukation), dass – Belastungen einen auslösenden, verlaufsmodifizierenden Mitfaktor für die Symptome darstellen; – dem Untersucher die Schwere der Symptomatik, der Leidensdruck und die daraus resultierenden Konsequenzen auf mehreren Ebenen bewusst sind; – nicht davon ausgegangen wird, dass der Patient „nichts hat“ (er hat ja ein Symptom oder eine Störung). • Einleitung einer am Symptom orientierten Behandlung, welche dem Symptom, das der Patient präsentiert, und dem somatischen Beschwerdedruck besondere Beachtung schenkt wie z. B. eine gezielte physikalische Therapie und Krankengymnastik bei motorischen Störungen. • Beginn der psychotherapeutischen Behandlung muss folgende Aspekte sorgfältig analysieren: – das Krankheitskonzept, – die Behandlungsbereitschaft, – symptomauslösende und -aufrechterhaltende Faktoren, – die Introspektionsfähigkeit, – die Psychotherapiemotivation. • Angebot suggestiv-hypnotherapeutischer Verfahren wie Autogenes Training, Muskelrelaxation nach Jacobson oder andere Entspannungsverfahren, um initial einen eher passiv-rezeptiven Zugang zu ermöglichen. Ziel ist aber die Erhöhung des Aktivitätsniveaus, das meist eher gering ist, und die aktive Auseinandersetzung mit der Situation bzw. der zugrunde liegenden Problematik. • Konfliktbearbeitende oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen. • Psychopharmaka: am ehesten Antidepressiva, wobei es aber nur wenige Hinweise auf ihre Wirksamkeit gibt. Benzodiazepine sollen eher vermieden werden, weil sie dissoziative Phänomene verstärken können. Eine Indikation zu einer stationären Psychotherapie ist bei dissoziativen Störungen bei laufender Behandlung dann gegeben, wenn: • es sinnvoll ist, den Patienten aus einer überfordernden Situation herauszubringen bzw. eine psychische Fixierung durch einen hohen primären und/oder sekundären Krankheitsgewinn zu verhindern; • die Symptomatik eine ambulante Behandlung nicht zulässt (z. B. dissoziative Halbseitenlähmung); • eine Therapieresistenz über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten in der ambulanten Behandlung vorliegt; 235
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• rezidivierende Störungen auftreten; • eine Komorbidität mit anderen psychischen Störungen vorliegt; • Symptomverschiebungen und Komplikationen im therapeutischen Prozess auftreten.
Fallbeispiel Diagnose: Konversionsstörung mit sensorischen Symptomen oder Ausfällen Eine 50-jährige Frau wird von der Augenklinik wegen einer psychogenen Blindheit an die Psychosomatische Klinik zugewiesen. Die Patientin war wegen eines akuten Ausfalls des Sehvermögens an der Augenklinik aufgenommen und genau abgeklärt worden. Dabei fanden sich keinerlei organische Ursachen für die „Blindheit“. Die Patientin verstand zunächst nicht, warum sie wegen ihrer Störung an die Psychosomatische Klinik sollte. Als besondere Auffälligkeit zeigte sich die geringe Ängstlichkeit und fast fehlende Verunsicherung durch das schwerwiegende Symptom aufseiten der Patientin, eine Reaktion, die üblicherweise bei einer solchen Bedrohung der Unversehrtheit ausgelöst wird. Sie zeigte ein weitgehend emotionales Unbeteiligtsein („la belle indifference“). Auch nahm sie rasch Kontakt mit dem Blindenverein auf und erkundigte sich über mögliche soziale Unterstützungen für Blinde. Auch organisierte sie sich schnell ein Umfeld, das sich um alle ihre Belange kümmerte. Bei der Erfassung der Lebenssituation redete die Patientin zunächst nur über ihre Blindheit, ohne dass ein wesentlicher Leidensdruck fassbar war. In den folgenden Gesprächen zeigte sich schließlich eine sehr schwierige psychosoziale Belastungssituation: Kurze Zeit vor dem Auftreten der Blindheit wurde der Lebensgefährte der Patientin, von dem sie auf mehreren Ebenen existenziell abhängig war, wegen eines schweren Verbrechens eingesperrt. Mit den damit verbundenen „unerträglichen“ Konsequenzen konnte sie sich zunehmend auseinandersetzen. Die Halt gebende therapeutische Beziehung und die verschiedenen Therapieangebote, zu denen vor allem auch die Einbeziehung der Sozialarbeiterin zur Klärung sozialer Aspekte beitrug, führten schließlich zu einem Verschwinden der „Sehbehinderung“.
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12.1 Historische Aspekte Der Begriff „Somatoforme Störungen“ hat den früher gebräuchlichen Begriff „Psychosomatische Störungen“ weitgehend ersetzt. Beide Begriffe decken dieselben Störungsbilder ab und können identisch verwendet werden. Unter „Psychosomatischer Medizin“ versteht man die Lehre von den körperlichseelisch-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von menschlichen Krankheiten. Sie ist ihrem Wesen nach eine personenzentrierte Medizin. 236
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„Somatoform“ (Soma = Körper, Forma = Gestalt) meint „körpergestaltige“ Störungen, also Störungen, die rein körperlich verursacht wirken, es aber essenziell nicht sind. Dieser Begriff wird auch deswegen verwendet, weil damit ätiologische Aussagen vermieden werden. Der Ausdruck „somatoform“ ist weitgehend an die Stelle der sonst für diese Störungen üblichen Begriffe „psychogen“ und „funktionell“ getreten. Während der Ausdruck „psychogen“ auch wegen seiner einseitigen Zuordnung aufgegeben wurde und bei den Patienten insgesamt wenig Akzeptanz fand, hat der Begriff „funktionell“ bei den Therapeuten immer noch einen hohen Stellenwert. „Funktionell“ meint, dass einerseits eine Störung einer Körperfunktion besteht, andererseits diese Störung auch eine Funktion, eine Aufgabe, einen Sinn im Leben des Betroffenen hat, die diesem nicht bewusst ist, die aufzudecken aber ein wichtiger Aspekt der Behandlung ist („Funktionalität einer Störung“).
12.2 Symptomatologie Somatoforme Störungen, also körperliche Beschwerden ohne organischen Befund, finden sich bei vielen Menschen: Da sie keinen wesentlichen Krankheitswert haben, aber die Befindlichkeit des Betroffenen einschränken, werden sie häufig unter dem Begriff „körperliche Befindlichkeitsstörungen“ zusammengefasst. Befindlichkeitsstörungen • sind überwiegend psychisch oder psychosozial bedingte körperliche Beschwerden, bei denen weder chronische Störungen des vegetativen Nervensystems noch krankhafte Gewebeveränderungen oder Schädigungen von Organen bestehen. • Viele Menschen (75–90 %) haben Beschwerden, aber nur wenige gehen zum Arzt, weil sie einerseits meist naheliegende Erklärungsmuster dafür haben (z. B. Stress, Fön), andererseits auch eine Behandlungsmöglichkeit dafür gefunden haben (z. B. Medikament, Hausmittel). • Bei etwa drei Viertel aller Patienten, die wegen körperlicher Beschwerden zum Arzt gehen, kommt es innerhalb von zwei Wochen zu einer deutlichen Verbesserung oder Verschwinden der Symptome. • Die meisten Menschen machen sich nichts daraus, benützen es als Frühsignal gegen Überforderung in ihrem Leben. Die häufigsten körperlichen Beschwerden, worunter die Menschen leiden und deshalb zum Arzt gehen sind: • Kreuzschmerzen • Nackenschmerzen, Spannungskopfschmerzen • Müdigkeit/Erschöpfung • Schwitzen • Muskelschmerzen Diese Beschwerden sind häufig begleitet von folgenden Symptomen:
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Appetitstörung, allgemeine innere Unruhe, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Reizbarkeit, Ängsten, Konzentrationsstörungen. Diese Beschwerden werden auch als „Rand- oder Begleitsymptome“ (Uexküll) bezeichnet. Patienten mit somatoformen Störungen weisen prinzipiell folgende Kennzeichen auf: • Anhaltende körperliche Beschwerden unterschiedlicher Lokalisation ohne ausreichende organmedizinische Ursache („Ohne Befund und doch krank“; „Gesunde Kranke“). • Hartnäckige Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. • Diskrepanz zwischen subjektivem Befinden und objektivem Befund (oft schwierige Patienten, weil sie trotz gegenteiliger Befunde auf organischen Ursachen ihrer Beschwerden beharren). • Widerstand des Betroffenen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren; lehnen deshalb eine psychotherapeutische Behandlung oft ab. • Häufige Enttäuschung sowohl aufseiten des Arztes als auch des Patienten über das zu erreichende Verständnis für die Verursachung der Symptome. • Oft Symptome einer (Erschöpfungs-)Depression bzw. Angststörung, deren Ausprägung sehr wechselhaft ist. • Erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und in der Lebensgestaltung.
12.3 Formen somatoformer Störungen 12.3.1 Somatisierungsstörung F45.0 Diagnostische Kriterien: • Seit mehr als zwei Jahren bestehen mindestens sechs (häufig wechselnde) körperliche Symptome aus mindestens zwei Organbereichen (vier Schmerzsymptome, die verschiedene Körperbereiche oder Funktionen betreffen; zwei gastrointestinale Symptome; ein sexuelles Symptom, ein pseudoneurologisches Symptom), die trotz fehlender oder nicht ausreichender organischer Ursachen zu häufigen Arztbesuchen führen. • Häufige Symptome sind: Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Atemnot, Globusgefühl, Harndrang, Schluckbeschwerden, Schmerzen in den Gliedern oder Gelenken, unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühle. Etwa 1–3 % der Bevölkerung sind betroffen. 12.3.2 Undifferenzierte somatoforme Störung F45.1 Diese Kategorie wird dann verwendet, wenn zwar auch verschiedene körperliche Beschwerden vorhanden sind, aber das vollständige und typische klinische Bild einer Somatisierungsstörung erfüllt ist: • Eine Störung oder mehrere körperliche Beschwerden (z. B. Müdigkeit, Appetitlosigkeit, gastrointestinale oder urologische Beschwerden). Diese können nicht vollstän238
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dig durch einen bekannten medizinischen Krankheitsfaktor oder durch die direkte Wirkung einer Substanz erklärt werden. • Subjektives Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Die Störung kann nicht durch eine andere psychische Störung erklärt werden. Das Symptom wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht. Dauer der Störung: mehr als sechs Monate 12.3.3 Hypochondrie F45.2 Typische Kennzeichen dieser Störung sind: • Übermäßige Beschäftigung mit der Angst, krank zu werden, oder Überzeugung, eine ernsthafte Krankheit – meist Krebs, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, AIDS, neurologische Krankheit wie Multiple Sklerose oder Demenz – zu haben (Fehlinterpretation körperlicher Symptome). • Vielfältige körperliche Symptome oder Veränderungen können die Auslöser für Krankheitsängste darstellen (alle Körperteile können betroffen sein). • Die Aufmerksamkeit des Körperängstlichen richtet sich besonders auf den eigenen Körper. • Hypochonder achten auf krankheitsrelevante Informationen: Informationssuche führt zur Bestätigung ihrer Hypothesen. • Beschäft igung mit den Krankheitsängsten bleibt trotz Abklärung und Rückversicherung bestehen. • Hohe Komorbiditätsraten mit Angst- und Zwangsstörungen und Depression. • Deutliches Leiden und Beeinträchtigung in Lebensqualität und Lebensgestaltung. • Oft geringe Einsicht in zugrunde liegende Problematik. 12.3.4 Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.3 Dieses Störungsbild lässt häufig Patienten einen Internisten aufsuchen: • Die Beschwerden treten in Organsystemen auf, die weitgehend oder vollständig vegetativ innerviert werden, wie das kardiovaskuläre, das gastrointestinale, das respiratorische und das urogenitale System. Dazu gehören u. a. Dyskardien, Dyspnoe, Hyperventilation, Aerophagie, Schluckstörungen, Flatulenz, Diarrhö, Dysurie. • Es finden sich Symptome, die mit Angst und einer Aktivierung des Sympathikus zusammenhängen wie Herzklopfen, Schwitzen, Erröten, Zittern, Mundtrockenheit. • Auch zeigen sich oft unklare subjektive Beschwerden, die in Intensität und Lokalisation rasch wechseln wie flüchtige Schmerzen, Brennen, Schweregefühl, Globusgefühl. Diese Störungsbilder mit unklaren körperlichen Symptomen wurden früher als funktionelle psychosomatische Störungen oder psychovegetative Dystonien bezeichnet. Jedes medizinische Fachgebiet kennt solche funktionellen Syndrome nach dem ICD10, wobei sich einige Diagnosen großer Beliebtheit bei den Ärzten erfreuen, wie z. B. das Reizdarmsyndrom, die Fibromyalgie, der Tinnitus, der Spannungskopfschmerz u. a. m. Bei den meisten dieser Störungen ist aber eine Abgrenzung von einer orga239
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nischen Erkrankung oft nur schwer möglich und eine Überlappung mit psychischen Faktoren anzunehmen. 12.3.5 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.4 Typische Kennzeichen sind: • Anhaltende Schmerzen (und andere körperliche Symptome) über mehr als 6 Monate in einer oder mehreren anatomischen Regionen. Sie sind in ihrer Intensität oft stark wechselnd. • Kein ausreichendes organisches Korrelat. • Psychische Faktoren, meist Belastungen, spielen eine wichtige Rolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen. • Die ausgeprägte subjektive Beeinträchtigung bzw. Behinderung („Pain Disability“) ist oft stärker als die Schmerzintensität („Pain Intensity“). • Positive Familienanamnese bezüglich chronischer Schmerzen. • Symptome oder Ausfälle werden nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht. • Ausgeprägtes Krankheitsverhalten wie z. B. häufige Krankenstände, Arztkontakte und Arztwechsel, Fixierung auf Operationen und Medikamente (oft missbräuchliche Einnahme besonders von Analgetika). Patienten mit einer chronischen Schmerzstörung sind vor allem in speziellen Schmerzambulanzen häufig. 12.3.6 Körperdysmorphe Störung oder Dysmorphophobie F45.21 Typische Kennzeichen sind: • Eine übermäßige Beschäft igung mit einem eingebildeten Mangel oder einer Entstellung in der äußeren Erscheinung (wenn eine Anomalie besteht, wird diese stark übertrieben). Besonders häufig betroffen sind der Busen, das Gesicht oder Teile des Gesichtes. • Ein deutliches subjektives Leiden (besonders eine Selbstwertproblematik) oder Beeinträchtigung in verschiedenen Bereichen, oft verbunden mit einem starken Vermeidungsverhalten (vor allem in der Sexualität und im Sozialverhalten). Diese übermäßige Beschäft igung ist nicht durch eine andere psychische Störung erklärbar (z. B. Anorexia nervosa, Transsexualität). Patienten mit einer körperdysmorphen Störung sind vorwiegend an der Plastischen Chirurgie und Dermatologie zu finden. Als psychische Komorbiditäten zeigen sich neben einer Depression vor allem Persönlichkeitsstörungen, wobei narzisstische, histrionische und vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörungen überwiegen.
12.4 Diagnose Die Diagnose wird im Rahmen eines strukturierten klinischen Interviews gestellt und berücksichtigt folgende Faktoren: 1. Aktuelle Beschwerden und Symptome 240
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2. Beginn und Verlauf der Beschwerden; Krankheitskonzepte („subjektives Erklärungsmodell“) 3. Lebenssituation bei Beschwerdebeginn und im Verlauf 4. Lebensgeschichtliche und soziale Situation 5. Persönlichkeitsstruktur. Hinweise für das Vorliegen einer somatoformen Störung liefern folgende Symptome und Verhaltensweisen: • Körperliche Beschwerden ohne ausreichende medizinische Erklärung. • Drängen auf wiederholte organische Untersuchungen und Therapien. • Überzeugung, körperlich krank zu sein trotz negativer Befunde. • Diskrepanz zwischen subjektivem Befinden und objektivem Befund. • „Rand- oder Begleitsymptome“ (Uexküll) wie Ängstlichkeit, innere Unruhe, Schlafstörungen, Depressivität. • Risikoreiche Medikamenteneinnahme im Sinne einer Selbstmedikation. • Suche nach Rückversicherung und Entängstigung. • Häufiger Arztwechsel („Doctor (S)hopping“). • Lange Krankengeschichte („Big-Charts-Patienten“ = hohe Kosten durch die zahlreichen Untersuchungen). • Häufiger Symptomwandel. • Ähnliche Beschwerden bei Bezugspersonen. • Hinweise auf eine schwierige Lebenssituation.
12.5 Ätiologie und Pathogenese Bei den somatoformen Störungen handelt es sich um ein multifaktorielles bio-psychosoziales Geschehen, wobei interindividuell den einzelnen Faktoren eine unterschiedliche Bedeutung zukommt:
12.5.1 Prädisponierende Faktoren: Bei vielen Patienten mit einer somatoformen Störung findet man frühe psychische und biologische Stresserfahrungen (wie z. B. Traumata oder Beeinträchtigungen der frühen Versorgungsstrukturen im Sinne emotionaler Vernachlässigung oder Zurückweisung durch überforderte, kranke oder fehlende Bezugspersonen), die zu einer Einschränkung der Funktion des Stressverarbeitungssystems geführt haben, woraus eine lebenslange dysfunktionale Stressverarbeitung resultiert. Auch Beziehungserfahrungen, die durch fehlende Sensibilität für die emotionalen Bedürfnisse des Kindes charakterisiert sind, werden häufig gefunden. 12.5.2 Auslösende Faktoren: Akute und/oder chronische belastende Lebensereignisse sind häufige Auslöser, besonders Trennungs- und Verlusterlebnisse, Verantwortungsübernahme, Verletzungen des 241
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Selbstwertgefühls, chronische Belastungssituationen wie Mobbing, familiäre Probleme, Armut usw. (verbunden mit einem hohen Erregungsniveau und Erhöhung der Stresshormone). Bei Migranten findet man sehr häufig traumatische Erfahrungen. 12.5.3 Aufrechterhaltende Faktoren: Viele Faktoren spielen bei der Aufrechterhaltung (= Chronifizierung) einer somatoformen Störung eine Rolle: • Krankheitsgewinn (primär und sekundär) • Ängstlich besorgte und depressiv resignative Stimmungslage • Persönlichkeitszüge (z. B. Neurotizismus, Introversion) • Kognitionspsychologische Aspekte (z. B. Einstellung zu Gesundheit und Krankheit) • Wahrnehmung von Körperprozessen (z. B. Aufmerksamkeitsfokussierung) • Mangel an Ressourcen für die Bewältigung der Lebensanforderungen • Soziokulturelle Determinanten (z. B. hohe Akzeptanz körperlicher Symptome) Weitere mögliche Rahmenbedingungen, die zur Entwicklung von Krankheitsangst und somatoformen Störungen beitragen können: • Erziehung zur Ängstlichkeit • Erfahrungen mit schweren Krankheiten in der Familie oder Vergangenheit • Wenig Vertrauen in Ärzte oder negative Erfahrungen • Geringes Selbstwertgefühl • Genetische Veranlagung • Einfluss der Medien • Hohes Bedürfnis nach Sicherheit (gesund zu sein) bzw. fehlende Fähigkeit zur Verdrängung (von Krankheitsrisiken)
12.6 Epidemiologie Schmerzstörungen gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern bei Patienten in Allgemeinarztpraxen. Abhängig vom Schweregrad wird angenommen, dass 5–20 % an einer somatoformen Störung leiden, wobei nur wenige Patienten das Vollbild einer Somatisierungsstörung erfüllen. Frauen haben ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko bezüglich somatoformer Störungen als Männer (Verhältnis 5:1). Somatoforme Störungen finden sich besonders häufig in unteren sozialen Schichten, bei Personen mit einem geringen Bildungsgrad und bei Migranten.
12.7 Therapie Bei der Behandlung somatoformer Störungen ist besonders auf die therapeutische Beziehung zu achten. Sie sollte: • zunächst die Symptome und nicht sofort die Probleme in das Zentrum der Gespräche rücken; 242
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• eine vorschnelle Psychologisierung der Beschwerden vermeiden, da die meisten Patienten ein rein somatisches Beschwerdemodell haben; • geduldig interessiert, begleitend-unterstützend erfolgen; • den Betroffenen die Möglichkeit geben, über ihre Enttäuschungen auf mehreren Ebenen zu reden (z. B. krank geworden zu sein; negative Beziehungserfahrungen; geringe Effektivität bisheriger therapeutischer Maßnahmen); • hohe Ansprüche relativieren (z. B. rasche und völlige Symptombeseitigung) und kleine Schritte propagieren. 12.7.1 Psychotherapeutisch-„psychosomatische“ Behandlung: Dem bio-psycho-sozialen Modell in der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Störungen entsprechend muss auch die Therapie dieser Störungen multimodal ausgerichtet sein, wobei die einzelnen Therapieschritte individuumzentriert sein sollten. Die „psychosomatische Behandlung“ ist durch folgende Therapieschritte gekennzeichnet: • Aufbau einer tragfähigen, gegenseitig wertschätzenden therapeutischen Beziehung: Dabei ist besonders auf die typischen Interaktionsmuster und auf das subjektive Erklärungsmodell des Patienten zu achten. • Informationsvermittlung (psycho-edukativer Ansatz): Damit sollen dem Patienten Zusammenhänge zwischen Belastungen und Reaktionen des Körpers verständlich gemacht werden. • Anleitung zur Selbstbeobachtung: am besten in Form eines Symptomtagebuchs (z. B. Schmerztagebuch). • Vermittlung von Selbstmanagement- und Stressbewältigungstechniken: Dabei kommt dem Erlernen von aktiven und passiven Entspannungstechniken eine besondere Rolle zu. Sie senken das Erregungsniveau, reduzieren körperliche Missempfindungen wie Verspannungen und verbessern das subjektive Wohlbefi nden. • Einleitung einer kognitiven Therapie dysfunktionaler Gedankenprozesse. • Zurückhaltung bzw. Verzicht auf weitere oder weitergehende somatische Abklärungen. • Abbau von Schon- und Vermeidungsverhalten und allmähliche Aktivierung. • Förderung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. • Verbesserung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit, besonders wenn eine Alexithymie, d. h. eine eingeschränkte Fähigkeit Gefühle wahrzunehmen und zu verbalisieren, vorliegt (Schmerz-Affekt-Differenzierung). • Verbesserung der Konfliktbewältigung z. B. durch soziales Kompetenztraining. • Physio- und sporttherapeutische Maßnahmen: Dienen der Förderung des Zugangs zum eigenen Körper, verbessern die Fitness und das Vertrauen in den eigenen Körper. • Kreativtherapeutische Maßnahmen wie Ergo-, Musik-, Kunsttherapie. • Einbeziehung klinischer Sozialarbeit: Oft auch wegen einer problematischen beruflichen und finanziellen Situation.
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12.7.2 Medikamentöse Therapie bei somatoformen Störungen: Eine alleinige Verabreichung von Medikamenten ist nicht gerechtfertigt. Ziele der medikamentösen Therapie sind: 1. Einsparung von Analgetika: Da häufig ein Analgetika-Missbrauch oder -Abhängigkeit besteht, sollte eine allmähliche Reduktion der Schmerzmittel oder eine Umstellung auf weniger problematische Schmerzmittel (z. B. bei Morphinpräparaten) erfolgen. 2. Antidepressiva: Da Antidepressiva neben ihrer stimmungsaufhellenden und aktivierenden Wirkung auch analgetisch wirken, haben sie sich bei den somatoformen Störungen bewährt. Dabei kommt folgenden Antidepressiva eine besondere Bedeutung zu: Amitriptylin (Saroten®), Mirtazapin (Mirtel®), Duloxetin (Cymbalta®). 3. Benzodiazepine: Diese Substanzklasse spielt eine große Rolle in der Selbstmedikation („mother’s little helper“). Sie sind für den Kurzeinsatz dann geeignet, wenn eine muskelrelaxierende, eine anxiolytische und eine Schlaf anstoßende Wirkung gewünscht wird. Bewährt haben sich am ehesten Oxazepam (Praxiten®) und Tetrazepam (Myolastan®). Fallbeispiel Diagnose: Undifferenzierte somatoforme Störung Die 39-jährige Patientin wird wegen unklarer Unterbauchbeschwerden von einem peripheren Krankenhaus an die Psychosomatische Ambulanz zugewiesen. Bei der Unterredung zeigt sie ein dysphorisches, vorwurfsvolles Verhalten und weist darauf hin, dass sie hier am falschen Platz sei, will nur die Gynäkologen ihr helfen könnten, indem sie ihr die Gebärmutter entfernen. Um Zugang zur Patientin zu bekommen, wurde zunächst nur über das dominierende Symptom gesprochen: Vor einigen Wochen sei es neben vegetativen Symptomen wie vermehrtem kalten Schwitzen, einem „Knödel“ im Hals und Verspannungen im Nackenbereich mit Kopfschmerzen vor allem zu zunehmenden stechenden Schmerzen im rechten Unterbauch gekommen. Sie sei deshalb zum Hausarzt gegangen, der sie an die Chirurgische Abteilung eines Krankenhauses zuwies. Obwohl keine akute Appendizitis vorlag, wurde eine Appendektomie durchgeführt („unschuldiger Blinddarm“). Die Wundheilung erfolgte bland. Einige Tage später kam es zu einem erneuten Auftreten von Schmerzen, jetzt im mittleren Unterbauch. Die Patientin suchte einen Gynäkologen auf, der ein kleines Myom in der Gebärmutter feststellte, dieses aber als Zufallsbefund ansah und von einer Operation abriet. Die Patientin verlangte aber eine Einweisung ins Krankenhaus, „weil ihr nur eine Hysterektomie helfen könnte“. Die Gynäkologen des Krankenhauses sahen aber auch keine Indikation für eine Hysterektomie und lehnten eine entsprechende Operation ab. Da die Patientin daraufhin nicht – wie erwartet wurde – mit Erleichterung reagierte, sondern mit einem aggressiven und vorwurfsvollen Verhalten, wurde sie an die Psychosomatische Klinik überwiesen.
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In dem Gespräch über die Lebenssituation zeigten sich schwierige chronische, vor allem aber schwierige aktuelle psychosoziale Problemfelder: Die Patientin wuchs als Einzelkind bei der Mutter auf, weil der Kindesvater sich scheiden ließ, da er keine Kinder haben wollte. Es erfolgte eine sexual- und männerfeindliche Erziehung („Die Männer wollen nur das Eine, dann verlassen sie dich!“). Die Patientin, die keine Ausbildung absolvieren durfte, lernte während eines Urlaubs mit 25 Jahren in Tirol einen Mann kennen, verliebte sich in ihn, hatte das erste Mal Sex und wurde gleich schwanger. Die „Urlaubsbekanntschaft“ war aber nicht an ihr interessiert und verließ sie. Die Patientin trug die Schwangerschaft aus und zog kurz danach – auch um sich von ihrer Mutter zu lösen – mit dem Kleinkind nach Tirol. Sie arbeitete hier in einem großen Gastbetrieb und baute sich ein Haus. Der zum Zeitpunkt der Unterredung 14-jährige Sohn besuchte ein Gymnasium mit Internatsanschluss („Der Sohn soll es einmal besser haben als ich!“). Trotz der hohen Beanspruchung (keine Freizeit, keine sozialen Kontakte) war die Frau weitgehend gesund. Kurz vor dem Auftreten der Beschwerden wurde sie an ihrem Arbeitsplatz gekündigt, weil der Juniorchef heiratete und dessen Ehefrau ihre Rolle im Betrieb übernahm. Dies erlebte sie als massive Kränkung und nahm bald darauf – da sie Geld verdienen musste – einen Job in einer Zeitarbeitsfirma an („starker Abstieg“). Zwei Tage nach Arbeitsbeginn wurden in diesem Betrieb Zinnkrüge gestohlen, angeblich von einer Kollegin, die sie bei ihr deponierte. Die eingeschaltete Polizei entdeckte dies, sie wurde fristlos entlassen und angezeigt. Einige Tage später begannen oben erwähnte Symptome. Der Therapeut wies auf die hohe Belastung und Kränkung des Geschehens hin. Die Patientin reagierte daraufhin mit den Worten: „Das stimmt, aber meine Beschwerden haben damit nichts zu tun.“ Schuld ist die kranke Gebärmutter und sie wolle keine Psychotherapie, sondern eine Hysterektomie. Eine entsprechende Untersuchung an der Gynäkologischen Abteilung ergab den gleichen Befund wie früher und eine Hysterektomie wurde abgelehnt. Die Patientin verließ daraufhin im Zorn die Klinik und wies darauf hin, dass sie schon eine Klinik finden werde, welche die von ihr gewünschte Operation durchführen würde.
Weiterführende Literatur Uexkull T (Hrsg) (2003) Psychosomatische Medizin. Urban & Fischer, München Rief W, Hiller W (1998) Somatisierungsstörung und Hypochondrie. Hogrefe, Göttingen
Rudolph G, Henningsen P (2002) Somatoforme Störungen. Springer, Berlin Heidelberg New York
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Andere neurotische Störungen
13.1 Neurasthenie F48.0 13.1.1 Historische und transkulturelle Aspekte Die Neurasthenie (asthenia = Schwäche; Beard 1880) oder das Erschöpfungssyndrom ist eine psychische Störung, deren Bedeutung starken zeitlichen und kulturellen Schwankungen in Häufigkeit und Ausgestaltung unterworfen ist. Vor allem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte dieses Zustandsbild zu den häufigsten psychiatrischen Diagnosen. Unter der „Nervenschwäche“ wurde ein seelischer Zustand bezeichnet, der durch abnorme Ermüdbarkeit, verminderte psychophysische Belastbarkeit, Störung der Vitalität, mangelhaftes Durchhaltevermögen und seelische Labilität gekennzeichnet war. Es handelte sich um scheinbar gesunde Menschen, die häufig aber unter verschiedenen unerklärbaren körperlichen Beschwerden litten und erschöpft und leicht gestresst waren. Schuld wurde früher der Verstädterung gegeben. Auch wurde als Grund ein konstitutionell festgelegter „Mangel an Nervenenergie“ angenommen, wobei vermutet wurde, dass sie im Verdauungstrakt gebildet wird und sich über den Körper ausbreitet. Die Diagnose einer Neurasthenie wird in vielen Ländern nicht gestellt. Eine andere Diagnose, die dem neurasthenischen Syndrom weitgehend entspricht, hat in den letzten Jahren in westlichen Industrienationen zunehmende Beliebtheit erlangt, nämlich das „Chronische Ermüdungssyndrom“ oder „Chronic Fatigue Syndrom“.
13.2 Ätiologie Als Ursache werden konstitutionelle Faktoren angenommen. Andererseits wird die Neurasthenie als reaktiv oder als psychogen verursacht angesehen, und zwar als Folge einer chronischen Überforderung, Überarbeitung oder anderer starker körperlichseelischer Belastung. Die einige Zeit vermutete Verursachung des neurasthenischen Syndroms durch eine Viruserkrankung konnte niemals belegt werden. Die vorherrschende Symptomatik (Müdigkeit, Schwäche) hat eine hohe Funktionalität beim Betroffenen, einerseits dient sie der Schuldentlastung (z. B. Erklärung für mangelnde Fähigkeiten), andererseits stellt sie einen Appell nach Entlastung, Hilfe, Halt usw. dar.
13.3 Symptomatologie Die diagnostische Kriterien für die „Neurasthenie“ fordern ein anhaltendes oder quälendes Erschöpfungsgefühl nach geringer geistiger Anstrengung z. B. nach der Bewältigung oder dem Bewältigungsversuch alltäglicher Aufgaben, die keine ungewöhnlichen Anstrengungen erfordern. Es kann aber auch eine anhaltende und quälende
246
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen | 6
Müdigkeit und Schwäche nach nur geringer körperlicher Anstrengung bestehen. Darüber hinaus wird mindestens eines der folgenden Symptome gefordert: 1. Akute oder chronische Muskelschmerzen 2. Benommenheit 3. Spannungskopfschmerz 4. Schlafstörung 5. Unfähigkeit zu entspannen 6. Reizbarkeit Die Betroffenen sind nicht in der Lage, sich von den erwähnten Beeinträchtigungen innerhalb eines normalen Zeitraumes von Ruhe, Entspannung oder Ablenkung zu erholen. Die Dauer der Störung beträgt mindestens drei Monate. Die Symptome sind nicht Ausdruck eines anderen Störungsbildes.
13.4 Therapie Viele der Patienten mit einem neurasthenischen Syndrom haben meist zahlreiche differenzierte organische Abklärungen hinter sich, wobei die durchwegs negativen Befunde nicht zur Entlastung, sondern zu einer noch stärkeren Einengung auf eine bisher nicht erkannte oder nicht bekannte Ursache des Leidens geführt haben. Eine psychische Genese wurde lange nicht bedacht und wird von den meisten Patienten auch strikt zurückgewiesen. Deswegen ist es einerseits notwendig, den Wünschen des Patienten nach weiteren körperlichen Untersuchungen nicht zu entsprechen, auch wenn sie einen starken Druck ausüben, andererseits ist eine Zurückhaltung bezüglich einer vorschnellen Psychogenese der Störung notwendig: Dadurch würde die meist ohnehin schwierige therapeutische Beziehung noch mehr belastet. Die meisten Patienten haben auch schon viele Therapiemaßnahmen, vor allem Alternativmethoden ausprobiert, ohne dass es zu einer wesentlichen Änderung des Beschwerdebildes gekommen ist. Therapeutisch ist vor allem eine Entlastung sowie eine Aufarbeitung der zugrunde liegenden Störmomente anzustreben. Roborierende (= stärkende und kräft igende) Maßnahmen (z. B. Sport, Wellness, auch Vitamine) sind zu empfehlen. Ein Versuch mit einem Antidepressivum, vor allem mit einem SSRI oder einem NaSRI, ist angezeigt.
247
Kapitel 7
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (ICD-10 F5) Barbara Mangweth-Matzek, Johann F. Kinzl, Claudia Kohl
Die im ICD-10 Kapitel F5 erfassten Diagnosen sind in der Tabelle 1 zusammengefasst. Aus didaktischen Gründen wird den Schlafstörungen ein eigenes Kapitel (siehe Kapitel 12) gewidmet. Zudem sind die hier aufgeführten sexuellen Funktionsstörungen (F52) ergänzt durch Störungen der Geschlechtsidentität (F64), Störungen der Sexualpräferenz (F65) sowie sexuelle Reifungskrisen F66. Der schädliche Gebrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen (F55) findet sich im Kapitel Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (siehe Kapitel 3). Tabelle 1 Verhaltensauff älligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren F50
Essstörungen
F51
nichtorganische Schlafstörungen
F52
sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
F53
psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, andernorts nicht klassifiziert
F54
psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten
F55
schädlicher Gebrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen
F59
nicht näher bezeichnete Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
1
Essstörungen Barbara Mangweth-Matzek
1.1
Allgemeine und historische Aspekte
Die Anorexia nervosa hat eine Geschichte von über 300 Jahren. Richard Morton veröffentlichte 1689 den ersten medizinischen Bericht über Anorexia nervosa, beschrieben als „nervous consumption caused by sadness and anxious cares“. Ähnliche Fälle wurden 1767 von Robert Whytt publiziert, bei denen erste Therapieerfolge durch Nahrungssteigerung dargestellt wurden. Erst 100 Jahre später folgten weitere Berichte von Anorexia nervosa, die den heutigen Namen prägten und als „L’Anorexie Hysterique (Charles Lasegue 1873) und „Anorexia Nervosa, Apesia Hysterica, Anorexia Hysterica“ (William W. Gull 1874) in die Geschichte eingingen. Diese Autoren betonten den 249
Barbara Mangweth-Matzek | Johann F. Kinzl | Claudia Kohl
psychiatrischen und psychopathologischen Kontext dieser Erkrankung und grenzten diese klar von einer physischen Erkrankung ab. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es unterschiedlichste Theorien über die Entstehung der Anorexia nervosa. Pierre Janet (1911/1929) unterschied zwischen einem „obsessiven“ (= Angst vor Gewichtszunahme und sexueller Reife) und einem „hysterischen“ (= totaler Appetitverlust) Subtyp der Anorexia nervosa. Morris Simmonds setzte mit seiner Arbeit über Anorexia nervosa als Hypophyseninsuffizienz einen Meilenstein in der Essstörungsliteratur, welche sich erstmals vom Kontext der rein psychologischen Ätiologie distanzierte. Moderne Pioniere der Essstörungsforschung legten ihren Schwerpunkt auf psychotherapeutische Therapieansätze: Hilde Bruch (1962) beschrieb das selbst induzierte Hungern der Anorexia nervosa als Kampf um Autonomie, Kontrolle und Selbstbestimmung. Dieser zeigt sich durch innere Konflikte in Form einer Körperbildstörung (Überschätzung des Körperumfangs), Körperwahrnehmungsstörungen (Unfähigkeit auf Hunger, Sättigung, sexuelle Gefühle passend zu reagieren) und dem Gefühl der Ineffektivität (Kontrollverlust). Mara Selvini Palazzoli (1974) vertritt eine ähnliche Theorie der Autonomisierung, indem das Abmagern als Befreiung des introjezierten mütterlichen Objekts angesehen wird. Arthur Crisp (1967, 1980) sieht Anorexia nervosa als Versuch der Bewältigung von Ängsten und Konfl ikten im Zusammenhang mit der psychosexuellen Reifung. Die junge Geschichte der Bulimia nervosa verweist auf ein Phänomen der Neuzeit. Erst 1979 wurde der Begriff von Gerald Russell als Variante der Anorexia nervosa (mit Überessen und Erbrechen) beschrieben. Obwohl es historische Belege von exzessiver Nahrungsaufnahme und/oder selbst induziertem Erbrechen gibt (im alten Ägypten, im alten Rom und in Arabien), so bestehen klare Abgrenzungen zur Bulimia nervosa der heutigen Zeit. Die Hinzunahme des Begriffs „nervosa“ zum ursprünglichen Terminus „bulimia“ (bei DSM-III, APA 1980) verdeutlicht nicht nur die psychodynamische Nähe zur Anorexia nervosa, sondern betont den psychopathologischen Kontext dieser Erkrankung. Spezifische Merkmale davon sind die krankhafte Angst vor Gewichtszunahme und der Versuch der Gewichtsabnahme durch das Erbrechen.
1.2
Klassifikation
Essstörungen werden im ICD-10 im Kapitel F5 unter „Verhaltensauff älligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ abgehandelt. Es werden folgende Essstörungen unterschieden:
250
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren | 7
Tabelle 2 Klassifi kation von Essstörungen nach ICD-10 F50.0
Anorexia nervosa
F50.00
Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.)
F50.01
Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc., u. U. in Verbindung mit Heißhungerattacken
F50.1
Atypische Anorexia nervosa
F50.2
Bulimia nervosa
F50.3
Atypische Bulimia nervosa
F50.4
Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen
F50.5
Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen
F50.8
Sonstige Essstörungen
F50.9
Nicht näher bezeichnete Essstörungen
1.3
Anorexia nervosa F50.0
1.3.1
Definition und Symptomatologie
Diagnostische Klassifi kationssysteme wie das ICD-10 beruhen auf deskriptiven Symptomen ohne ätiologische Inhalte. Die Diagnosekriterien der Anorexia nervosa verzichten auf psychodynamische Erklärungen und beziehen sich primär auf das Essverhalten und damit assoziierten Verhaltensweisen bzw. Folgen (siehe Tabelle 3). Tabelle 3 Klassifi kationskriterien von Anorexia nervosa 1.
Untergewicht von mindestens 15 % unter dem zu erwarteten Gewicht oder Quetelets-Index* [= Körpergewicht in Kilogramm / (Körpergröße in Meter )2] < 17.5
2.
Selbst herbeigeführter Gewichtsverlust durch Diät und eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: • selbst induziertes Erbrechen • selbst induziertes Abführen • übertriebene körperliche Aktivitäten • Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika
3.
Körperschema-Störung
4.
Endokrine Störung (bei Frauen: Amenorrhö; bei Männern: Libido- und Potenzverlust)
5.
Verzögerung der Entwicklung bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät
* Entspricht dem Body-Mass-Index [= Körpergewicht in Kilogramm/(Körpergröße in Meter)2
Das Untergewicht entsteht durch selbst induzierte Gewichtsabnahme. Abzuklären sind sämtliche Differenzialdiagnosen, sowohl somatischer (z. B. Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Hypo- oder Hyperthyreose, Diabetes mellitus, Gastristis, Malabsorb251
Barbara Mangweth-Matzek | Johann F. Kinzl | Claudia Kohl
tionssyndrome, Tumorerkrankung etc.) als auch psychiatrischer (z. B. BorderlinePersönlichkeitsstörung, Zwangserkrankungen, affektive Störungen, Hypochondrie, schizophrene Psychosen oder wahnhafte Störungen etc.) Herkunft. Auch wenn ein Großteil anorektischer Patienten/innen sehr bewusst hochkalorische Nahrungsmittel von ihrem Speiseplan eliminiert und auch das Essen mengenmäßig stark reduziert, so gibt es auch Betroffene (oft Männer), die keine bewusste Diät machen, jedoch Essen erst nach zahlreichen Leitungsaufgaben zulassen und damit starkes Untergewicht bewirken. Im chronischen Stadium resultiert dieses restriktive Essverhalten meist in einer sehr rigiden Nahrungsaufnahme, die nur noch aus wenigen Lebensmitteln besteht. Die Körperschema-Störung der Anorexia nervosa wurzelt im essgestörten Verhalten und perpetuiert die Erkrankung. Das überdimensionale Gefühl des Zu-dick-Seins ist allgegenwärtig und stark verbunden mit einer Gewichtsphobie (= Angst vor Gewichtszunahme). Beide Phänomene intensivieren sich mit zunehmendem Schweregrad der Erkrankung und schwinden langsam bei Gewichtszunahme. Die endokrine Störung liegt auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Das Kriterium ist nicht überprüfbar bei Hormonsubstitutions-Behandlung und bei präpubertären Mädchen. Es können erhöhte Wachstumshormon- und Kortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion vorliegen. Anorexia nervosa vor Eintritt der Pubertät bewirkt die zeitliche Verzögerung der pubertären Entwicklungsschritte (Nicht-Einsetzen der Menarche bei Mädchen bzw. Verbleiben mit kindlichen Genitalen bei Buben). Dieser Wachstumsstopp entspricht der Dauer der Anorexia nervosa und endet mit Gewichtszunahme. 1.3.2
Zugehörige klinische Merkmale
Das ausgeprägte Untergewicht bei der Anorexia nervosa ist das somatische Leitsymptom dieser Erkrankung. Betroffene schaffen es oft sehr lange durch weite Kleidung und Zurückgezogenheit den ausgemergelten körperlichen Zustand in der Familie, Schule oder im Berufsumfeld zu verheimlichen. Zahlreiche körperliche Symptome können sekundär zur Mangelernährung auft reten (siehe Tabelle 4).
252
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren | 7
Tabelle 4 Körperliche Merkmale und Befunde von Anorexia nervosa Äußere Merkmale
Hypothermie, Haarausfall, Hautrockenheit, Langugobehaarung (Flaumhaar), Hyperkarotinämie, Petechien, periphere Ödeme – v. a. nach Absetzen von Laxantien, Akrozyanose, Hypertrophie der Ohrspeicheldrüsen – v. a. bei Erbrechen
Laborbefunde
Leukopenie und leichte Anämie, Hypercholesterinämie, Hypophosphatemie, Hyperamylasemie, erhöhte Leberfunktionswerte; bei induziertem Erbrechen: metabolische Alkalose, Hypokaliämie, Hypochlorämie; SerumThyroxin (T4)-Spiegel = niedrig bis normal, Trijodthyronin (T3)-Spiegel = erniedrigt, Frauen: niedrige Serum-Östrogen-Spiegel, Männer: niedrige Serum-Testosteron-Spiegel
Sonstige Befunde
Bradykardie, Hypotension, orthostatische Dysregulation, diffuse Anomalien im EEG, Computertomografie: Anstieg des Verhältnisses Liquorraum zu Gehirnvolumen als Folge des Hungerns, Osteoporose bzw. Osteopenie, Zahnschäden (Karies), Grundumsatz: deutlich erniedrigt
Wenn anorektische PatientInnen zusätzlich erbrechen und/oder Laxantien bzw. Diuretika missbrauchen, können Störungen des Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushaltes mit lebensgefährlichen Konsequenzen auft reten (z. B. Hypokaliämie: Herzrhythmusstörungen und irreversible Nierenschädigungen). Regelmäßige Laborkontrollen sind deshalb von großer Bedeutung. Ein Großteil anorektischer PatientInnen hat eine verringerte Knochendichte (Osteopenie oder Osteoporose) bedingt durch die Unterernährung, den hypogonadotropen Hypogonadismus und eine Hyperkortisolämie. Nur Gewichtszunahme kann die Knochendichteverminderung stoppen, weder Kalzium-Vitamin-D3-Präparate noch Östrogene vermögen dies. 1.3.3
Psychopathologie
Personen mit Anorexia nervosa verändern ihr gesamtes Verhalten im Zuge dieser Erkrankung. Was meist harmlos mit einer Diät begann, um einige Kilogramm zu verlieren (obwohl bei Betroffenen prämorbid nur selten Übergewicht vorliegt), verselbstständigt sich zu einer überdimensionalen Idee der Kontrolle über den Körper und seine Bedürfnisse. Die bewusste Abgrenzung zur lustorientierten Gesellschaft bestärkt den Perfektionismus und die asketische Disziplin und erhöht nicht unwesentlich das Gefühl der Besonderheit. Die zunehmende Einengung auf Gewicht, Körper und Essen führt zu einem rigiden, zwanghaften Verhalten, das meist isoliert von sozialen und gesellschaft lichen Kontexten gelebt wird. Viele Personen mit Anorexia nervosa kompensieren das starke Hungergefühl und die Fokussierung auf Essen mit z. B. exzessiven Essenseinladungen (mit hochkalorischen Speisen, bei denen sich die Betroffenen nicht beteiligen), penibelsten Rezeptsammlungen (von Speisen, die sie nie zu sich nehmen würden), mit Konditorei-Schaufenster-Schauen und Horten von bevorzugten Nahrungsmitteln (meist Süßigkeiten, die nicht konsumiert werden). Zusätzlich entwickeln Betroffene eigene Verhaltensweisen wie z. B. die Einteilung der Lebensmittel in „gute“ und „böse“, mehrmaliges tägliches Wiegen des Körpers, ausgeprägte Leistungsorientierung (sowohl geistig als auch körperlich) und zunehmenden sozialen Rückzug. Eine Krankheitseinsicht ist meist nicht vorhanden.
253
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Eine Vielzahl anorektischer Personen zeigt komorbide Erkrankungen wie affektive Störungen (meist unipolare Depression), Angststörungen (meist soziale Phobie), Zwangsstörungen, Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit sowie Persönlichkeitsstörungen (häufig zwanghaft, abhängig, ängstlich-vermeidend). Da die kausalen Zusammenhänge der Komorbiditäten nicht geklärt sind, ist eine genaue psychiatrische Anamnese am Beginn sowie bei Beendigung der Behandlung der Essstörung wichtig. 1.3.4 Epidemiologie Anorexia nervosa ist eine Erkrankung, die vorwiegend in Gesellschaften vorkommt, die hoch industrialisiert sind, Nahrungsüberfluss haben und Schönheit mit Schlankheit verbinden (vor allem USA, Kanada, Europa, Australien). Hauptbetroffene sind junge Frauen aus allen sozioökonomischen Klassen in städtischen wie ländlichen Gebieten (bis zum durchschnittlich 35. Lebensjahr). Das Geschlechterverhältnis zwischen Frau und Mann entspricht 11:1. Die Erkrankung beginnt meist während der Pubertät. Zusätzlich zu dieser an sich schon kritischen Zeit zeigen sich oft andere belastende Lebensereignisse wie z. B. Auszug von Zuhause oder Scheidung der Eltern als potenzielle Krankheitsauslöser. Obwohl die allgemeine Meinung besteht, dass Essstörungen über die Jahre im Ansteigen sind, kann dies wissenschaft lich nicht bestätigt werden: Vorausgeschickt werden muss allerdings die Tatsache, dass Prävalenz- und Inzidenzstudien sich vorwiegend auf klinische Populationen beziehen und damit selektiv sind. Zudem ist bekannt, dass Betroffene mit Essstörungen bei epidemiologischen Fragebogenuntersuchungen ihre Teilnahme oft verweigern. Der heimliche Umgang mit der Erkrankung sowie die nicht vorhandene Krankheitseinsicht erschweren wesentlich die Erhebung der realen Häufigkeit. Somit spiegeln vorliegende Prävalenz- und Inzidenzstudien Zahlen, die die Realität mit großer Wahrscheinlichkeit unterschätzen. Die Prävalenz von Anorexia nervosa bei adoleszenten Mädchen und jungen Frauen liegt bei 0,3–1 % und die Inzidenz bei 19 pro 100.000 jungen Frauen. 1.3.5
Ätiologie/Pathogenese
Die Ursachen der Anorexia nervosa sind multifaktoriell, d. h. soziokulturelle, familiäre, individuelle und biologische Faktoren wirken zusammen. Da über 40 % der Betroffenen mit Anorexia nervosa im Laufe der Zeit Bulimia nervosa oder eine atypische Essstörung entwickeln, werden die Risikofaktoren meist allgemein für die Entstehung von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa beschrieben. Tabelle 5 fasst die unterschiedlichsten Risikofaktoren von Anorexia nervosa zusammen.
254
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren | 7
Tabelle 5 Risikofaktoren für die Entstehung von Anorexia nervosa Generelle und soziale Faktoren Geschlecht Kulturelle Zugehörigkeit Subkultur (Models, Tänzer etc.) Für Männer: Homosexualität Familiäre Faktoren Elterliche Adipositas/Psychopathologie Familiäre Interaktion, Kommunikationsstil Ausgedrückte Emotionalität Widrige Lebensereignisse Sexueller/physischer Missbrauch Stressvolle Ereignisse Biologische Faktoren Genetische Faktoren Neuroendokrine und metabolische Störungen Veränderungen in der Rezeptordichte Veränderung im Elektroenzephalogramm Veränderung bei Hunger & Sättigung Psychologische und Verhaltensfaktoren Diäten und gezügeltes Essen Körperunzufriedenheit, negatives Körperbild Gestörte Wahrnehmung der inneren Reize Perfektionismus Depression, Angststörungen, Drogen- bzw. Alkoholmissbrauch Bindungsstil Selbstbewusstsein Extremsport Entwicklungsfaktoren Adoleszenz Prämorbide Adipositas, hoher Body-Mass-Index Kindheit: problemhaftes Essverhalten Hänselei bezüglich Gewicht, Aussehen Frühe Pubertät Kindheit: Angststörung
Ein Großteil der beschriebenen Risikofaktoren ist unspezifisch, d. h. kann auch die Entstehung anderer psychischer Störungen verursachen. Spezifisch für Essstörungen scheinen die Faktoren prämorbides Übergewicht, Hänselei bezüglich Gewicht und
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Aussehen und familiäre Interaktionen (negative familiäre Beziehungen und Umgang mit dem Körper), jedoch basieren diese Ergebnisse auf nur wenigen Studien. Zunehmend mehr genetische Untersuchungen bestätigen eine biologische Prädisposition der Anorexia nervosa. Die Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen lag für Anorexia nervosa bei 55 %, bei dizygoten Zwillingen bei 5 %. Familienstudien beschrieben eine Anhäufung von Essstörungen innerhalb der Familie und ein 10-fach erhöhtes Risiko für die Entstehung einer Essstörung, wenn ein Familienmitglied bereits essgestört ist. Molekularbiologische Studien zeigen erste signifikante Ergebnisse bei Assoziationsstudien, die jedoch noch repliziert werden müssen. 1.3.6 Verlauf und Prognose Essstörungen wie die Anorexia nervosa beginnen meist mit einer Diät. Charakteristisch für eine mögliche Krankheitsentstehung sind zunehmend niedrigere Gewichtsziele und zunehmend stärkere Körperkritik trotz erfolgreicher Gewichtsabnahme bei einer Diät, zunehmende soziale Isolierung, Fasten in Verbindung mit Amenorrhö sowie selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxantien oder Diuretika. Die Geheimhaltung der Symptome trägt dazu bei, dass Anorexia nervosa oft erst im stark ausgeprägten Zustand von der sozialen Umwelt (Familie, Freunde) entdeckt wird. Bei ca. 10–20 % der Betroffenen verläuft die Anorexia nervosa als chronische Erkrankung. Die Mortalitätsrate dieser Erkrankung ist mit 10–15 % die höchste im psychiatrischen Bereich und etwa 10-mal höher als die der Normalbevölkerung. Ursachen des Versterbens sind meist Organversagen oder Suizid. Etwa 40–50 % remittieren ganz oder teilweise, wobei Letzteres oft einen Symptomshift in eine andere Essstörung bedeutet. Prädiktoren für einen günstigen Verlauf sind: kurze Erkrankungsdauer, früher Erkrankungsbeginn, geringer Gewichtsverlust, Symptomatik ohne Erbrechen und Laxantienabusus, wenig oder keine Komorbidität. 1.3.7
Therapie
Obwohl das Krankheitsbild der Anorexia nervosa schon eine lange Geschichte hat, ist die Datenlage zu klaren therapeutischen Richtlinien nach wie vor dürftig. Internationale Praktiken orientieren sich an den NICE-Leitlinien (National Institute for Clinical Excellence, 2004), den Praxisleitlinien der APA 2006 (American Association of Psychiatry) und den Cochrane Reviews. Grundsätzlich gilt, dass je früher eine anorektische Patientin in Therapie kommt, desto größer sind ihre Chancen gesund zu werden. Indikation zur stationären Aufnahme besteht bei Bedrohung der Vitalzeichen (Hypotension 90/60 mm, Bradykardie 110 Schläge/Minute, Körpertemperatur rektal 30). Die Fettsucht an sich ist keine Essstörung, jedoch weist ein großer Teil der Adipösen, vor allem bei starkem Übergewicht, ein gestörtes Essverhalten auf. Übermäßiges Körpergewicht ist die Folge einer positiven Energiebilanz, d. h. Adipöse essen zu viel und/oder bewegen sich zu wenig. Dieses Zuviel an Energie wird in körpereigenes Fett umgewandelt und in den Fettzellen gespeichert. Die Situation vieler Adipöser könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: „Zu viel des falschen Essens, vor allem zu fettes Essen, bei zu wenig Bewegung“. Wie schon erwähnt, spielen für die Entwicklung einer Adipositas viele Faktoren zusammen, wobei aus Zwillingsuntersuchungen bekannt ist, dass den genetisch-konstitutionellen Faktoren eine große Bedeutung zukommt. Für die starke Zunahme der Häufigkeitsraten an Adipositas in den letzten Jahren sind der Lebensstil (falsches und zu üppiges Essverhalten, wenig körperliche Bewegung, Stress), aber auch psychische Dysfunktionen wesentliche Faktoren. Übergewicht und Adipositas gelten als Zivilisationskrankheiten ersten Ranges. Neuere Untersuchungen konnten zeigen, dass im Gehirn eines Übergewichtigen ähnliche Prozesse ablaufen wie bei Drogenabhängigen, wobei das emotionale Belohnungssystem eine zentrale Rolle bei der Steuerung des Essverhaltens spielt. Besonders der Neurotransmitter Dopamin scheint dabei eine wichtige Funktion bei der Gewichtskontrolle zu haben. Mithilfe der Positronen-Emissionstomografie konnte gezeigt werden, dass das jeweilige Körpergewicht sehr eng mit einem bestimmten Dopaminrezeptor zusammenhängt. Es wird vermutet, dass viele Adipöse unter einem Dopaminmangel leiden und deswegen ständig nach neuer Belohnung, d. h. nach Essen suchen.
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2.1.2
Formen von Essstörungen bei der Adipositas
Folgende Essstörungen lassen sich bei Adipösen gehäuft finden: 1. „Binge-Eating“-Störung oder „Syndrom der Fressorgien“ („Rauschesser“): Diese Störung ist gekennzeichnet durch wiederholte Episoden von Essanfällen, verbunden mit dem Gefühl des Kontrollverlustes über das Essverhalten und einem fehlenden kompensatorischen Verhalten (kein Erbrechen, kein Fasten); meist wird schnell gegessen und nach dem Essen treten Ekel oder Schamgefühle auf. Ausgelöst werden diese Essanfälle, die meist abends auft reten, häufig durch emotionale Ereignisse wie Langeweile, Einsamkeit oder Ärger. Von dieser Essstörung sind mehr Frauen als Männer betroffen. Personen mit einer „Binge-Eating“-Störung weisen häufig komorbide psychische Störungen auf, vor allem affektive Störungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. 2. „Overeaters“ oder „chronische Überesser“: Bei dieser Essstörung essen die Betroffenen bei den Hauptmahlzeiten zu viel, besonders dann, wenn es ihnen gut schmeckt („Hedonistische Esser“). Die Betroffenen könnten jederzeit willentlich mit dem Essen aufhören, wollen aber nicht, weil es ihnen schmeckt. Deutlich mehr Männer als Frauen können zu dieser Gruppe gezählt werden. 3. „Syndrom nächtlichen Essens“ oder „Night-Eating“-Syndrom: Diese Essstörung ist gekennzeichnet durch nächtliche Essanfälle, verbunden mit Ein- und Durchschlafstörungen sowie morgendlichen Appetitminderungen. Es konnte gezeigt werden, dass besonders akute emotionale Störungen zu einem Übermaß an nächtlichem Essen führen. Die Störung fi ndet sich deutlich häufiger bei Frauen als bei Männern. 4. „Craving“ oder Essgier: Dabei besteht ein fast unbändiges Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln, vor allem der Wunsch nach Süßem. Dieses Essverhalten findet man häufiger bei Frauen, vor allem während der Schwangerschaft oder prämenstruell. 2.1.3 Therapie der Adipositas Erfolgreiche Behandlungen der Fettsucht erfordern: 1. Eine langfristige Veränderung des Essverhaltens: Am ehesten bewährt hat sich eine ausgewogene, fettarme, kohlenhydratreiche Mischkost, wobei der Kaloriengehalt nicht zu niedrig angesetzt werden darf, da sonst häufige Hungergefühle auftreten, die letztendlich dazu führen, dass wieder mehr gegessen wird. 2. Eine Steigerung der körperlichen Aktivität: dabei soll neben einer regelmäßigen sportlichen Aktivität (mindestens drei Stunden pro Woche) ein insgesamt aktiverer Lebensstil angestrebt werden. Bei der Lebensstilveränderung soll auch dem Stress und dem Rauchen Aufmerksamkeit geschenkt werden. 3. Entscheidend ist weniger, welche „Diät“ oder welche Sportarten ausgeübt werden, vielmehr ist die Dauer, d. h. das Durchhalten das entscheidende Kriterium. Um lange durchzuhalten, muss man davon überzeugt sein, das Richtige zu tun. Ohne ausreichende innere Motivation, d. h. ohne ein hohes Maß an Veränderungsbe264
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren | 7
reitschaft, geht es nicht. Die Problematik liegt darin, dass eine langfristige Veränderung von Gewohnheiten notwendig ist. Jeder weiß aber, wie schwer es ist, Gewohnheiten, vor allem schlechte, zu verändern! Dazu sind ein hoher Aufwand (meist sind viele Veränderungen notwendig), ein massiver Auslöser (Einengung durch die Krankheit) und ein dauerndes Ankämpfen gegen alte Verhaltensmuster erforderlich, was besonders in Belastungszeiten schwierig ist. „Wirklich abnehmen und schlank bleiben kann nur derjenige, der mehr verändert als seinen täglichen Speiseplan“. 4. Medikamentöse Therapie: Nachdem mehrere Medikamente gegen Adipositas (z. B. Sibutramin) in den letzten Jahren aufgrund schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen wurden, ist nur mehr der Fettresorptionshemmer Orlistat zugelassen. Die Gewichtsreduktion mit Orlistat wurde in zahlreichen Studien belegt. Es treten aber unter dieser Behandlung häufig gastrointestinale Nebenwirkungen (z. B. ölige Stühle, Flatulenz) auf. 5. Bariatrische Therapie: Darunter versteht man operative Eingriffe zur Erleichterung der Gewichtsabnahme. Diese Eingriffe werden laparoskopisch durchgeführt. Man unterscheidet: • restriktive operative Maßnahmen wie das verstellbare Magenband und der Magenschlauch (Sleeve Resection), • malabsorptive operative Maßnahmen wie der Magen-Bypass. Die operativen Eingriffe werden bei adipösen Patienten mit einem BMI>40 oder bei Patienten mit einem BMI > 35 und gleichzeitig adipositasassoziierten Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie, Rückenleiden usw. durchgeführt. Die Langzeitergebnisse der chirurgischen Therapie sind bei schwer adipösen Patienten deutlich besser als konservative Maßnahmen.
Weiterführende Literatur Bruch H (1982) Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht. Fischer, Frankfurt Garner DM, Garfinkel PE (1997) Handbook of Psychotherapy for Anorexia nervosa and Bulimia. Guilford Press, New York Herpertz S, de Zwaan M, Zipfel S (Hrsg) (2008) Handbuch Essstörungen und Adipositas. Springer, Berlin Heidelberg Hoek HW, Treasure JL, Katzman MA (eds) (1998) Neurobiology in the treatment of eating disorders. John Wiley, New York
Jacobi C et al (2004) Coming to terms with risk factors for eating disorders: application of risk terminology and suggestions for a general taxonomy. Psychol Bull, 130: 19–65 Kaplan AS, Garfinkel PE (1993) Medical Issues and the Eating Disorders. The Interface. Brunner/Mazel Eating, New York Voderholzer U, Hohagen F (Hrsg) Therapie psychischer Erkrankungen. State of the Art 2006/2007. Urban & Fischer Verlag, München
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3
Sexualstörungen F52, F64, F65 Johann F. Kinzl
3.1
Allgemeines
Unter Sexualität oder Geschlechtlichkeit versteht man alle mit dem Geschlechtstrieb zusammenhängenden Regungen und Erlebnisse. Sie spielt in viele Bereiche der menschlichen Existenz hinein und ist für die meisten Menschen ein wichtiger Teil ihrer Identität. Diese hohe Bedeutung der Sexualität für das Individuum spiegelt sich aber nur bedingt in der Medizin wider, wo sich für die sexuellen Störungen kaum ein Fachbereich voll zuständig fühlt. Sexualität ist die treibende Kraft sowohl für das Eingehen als auch für die Aufrechterhaltung einer intimen Beziehung zwischen zwei Menschen. Im Gegensatz zur Sexualität anderer Gattungen ist die des Menschen stark durch psychosoziale Einflüsse geprägt und beeinflusst und – bedingt durch sichere Kontrazeptionsmöglichkeiten – von der Reproduktion weitgehend losgelöst. Sexuelles Erleben und sexuelle Aktivitäten hängen grundsätzlich mit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zusammen, wobei eine große Variationsbreite sowohl in der Intensität dieser Bedürfnisse als auch in den sexuellen Praktiken besteht. Sexualität bzw. ihre Störungen können nicht nur unter dem Aspekt der Funktionalität gesehen werden, dem emotionalen Aspekt kommt eine ähnliche Bedeutung zu. Es zeigen sich große individuelle Unterschiede im Sexualverhalten, wobei auch die sexuellen Bedürfnisse des Einzelnen je nach Gesundheitszustand, Alter und Lebenssituation starken Schwankungen unterworfen sind. Um die Bedeutung der Sexualität für den einzelnen Menschen zu erfassen, ist es wichtig, die verschiedenen Funktionen der Sexualität für das Individuum zu kennen: • Fortpflanzungsfunktion: Diese spielt in einem bestimmten Lebensabschnitt eine wichtige Rolle. • Beziehungsgestaltung: Die Sexualität gibt der Beziehung einen besonderen Stellenwert. • Lustgewinn, Spannungsabfuhr, Trost • Selbstwertgefühl • Psychosexuelle Identitätsbildung • Machtausübung: Die Sexualität wird oft in passiver Form (z. B. sexuelle Verweigerung) als auch in aktiver Form (z. B. Vergewaltigung) eingesetzt, um Macht über den Geschlechtspartner zu gewinnen. Voraussetzungen für eine befriedigende Sexualität sind: • eine grundsätzlich positive Einstellung zur Sexualität und zum eigenen Körper (diese wird vor allem durch frühe Beziehungserfahrungen vermittelt); • ein gesundes Maß an Altruismus aber auch Egoismus, d. h. die Wahrnehmung der Bedürfnisse und Wünsche des Gegenüber, aber auch der eigenen Wünsche und Bedürfnisse; 266
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• die Fähigkeit, diese Bedürfnisse offen in die Kommunikation mit dem Partner/der Partnerin einzubringen. Viele Verhaltensweisen, die früher als abnorm oder schädlich angesehen wurden wie z. B. die Masturbation, oro-genitale sexuelle Kontakte usw. werden heutzutage von den meisten Menschen gelegentlich oder häufig als selbstverständliches Sexualverhalten praktiziert („Die Onanie hat ihren Schrecken verloren.“). Auch die Homosexualität und die Bisexualität werden weitgehend als „normale Varianten des Sexuallebens“ gesehen. Im Bereich der menschlichen Sexualität spielt – unabhängig, ob es um „normales“ oder „gestörtes“ Sexualverhalten geht – grundsätzlich die enge Vernetzung von biologischen, psychologischen und sozialen Aspekten eine Rolle. Wenn die verschiedenen Faktoren nicht berücksichtigt werden, besteht die Gefahr einseitiger oder verkürzter Aussagen.
3.2
Klassifikation
Nach dem ICD-10 werden folgende Sexualstörungen unterschieden: • sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Erkrankung (F52); sie werden zu den „Verhaltensauff älligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ gezählt. • Störungen der Geschlechtsidentität (F64) und Störungen der Sexualpräferenz (F65); sie werden zu den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen gerechnet. Darüber hinaus werden im ICD-10 unter psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung sexuelle Beziehungsstörungen, ich-dystone Sexualorientierung und sexuelle Reifungskrisen eingeordnet.
3.3
Nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen F52
3.3.1
Definition
Die sexuellen Reaktionen des Menschen lassen sich in verschiedene Phasen (Lust-, Appetenz-, Erregungs-, Orgasmus-, Entspannungsphase) unterteilen, wobei diese Stadien physiologisch und psychologisch eng miteinander verbunden sind: • Die sexuelle Appetenz ist die grundsätzliche Bereitschaft zu sexuellem Verhalten, wobei starke interindividuelle Unterschiede bestehen. • Die Erregungsphase ist durch ein zunehmendes Lustgefühl gekennzeichnet, verbunden mit einer Lubrikation (= Feuchtwerden) der Vagina bzw. einer Erektion des Penis. • Die Orgasmusphase ist durch ein intensives Lustgefühl gekennzeichnet, verbunden mit rhythmischen Kontraktionen des äußeren Scheidendrittels und der Gebärmut-
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ter bzw. der Ejakulation, wobei die Anzahl der Kontraktionen abhängig ist von der Intensität des Orgasmus. • Die Entspannungsphase ist durch ein Gefühl der Befriedigung gekennzeichnet, verbunden mit einer Entspannung des unteren Scheidendrittels und einer Abnahme der Erektion. Weiters findet man häufig – besonders bei Männern – ein deutliches Schlafbedürfnis. Hemmungen des sexuellen Reaktionszyklus können in einer oder mehreren dieser Phasen auftreten. Daraus resultiert eine Vielfalt von Störungsmustern. Eine Störung in einem Bereich hat häufig eine Beeinträchtigung eines anderen Bereiches des sexuellen Reaktionszyklus zur Folge. Unter sexuellen Funktionsstörungen verstehen wir die Unfähigkeit, aufgrund ausbleibender oder verminderter physiologischer und psychischer Reaktionen auf übliche sexuelle Reize zu einem Sexualleben zu gelangen, das für beide Partner als befriedigend erlebt wird (Tabelle 8). Tabelle 8 Klassifi kation der sexuellen Funktionsstörungen (ICD-10) F52.0
Mangel oder Verlust an sexuellem Verlangen
F52.10
Sexuelle Aversion
F52.11
Mangelnde sexuelle Befriedigung
F52.2
Versagen genitaler Reaktionen (Männer: Erektionsstörung; Frauen: Mangel oder Ausfall der genitalen Lubrikation)
F52.3
Orgasmusstörung
F52.4
Ejaculatio praecox
F52.5
Nichtorganischer Vaginismus
F52.6
Nichtorganische Dyspareunie
F52.7
Gesteigertes sexuelles Verlangen
F52.8
Sonstige nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen
F52.9
Nicht näher bezeichnete nicht-organische sexuelle Funktionsstörung
3.3.2 Ätiopathogenese der funktionellen Sexualstörungen Sexualstörungen sind stets multifaktoriell bedingt, wobei die einzelnen Faktoren (körperliche, psychische, partnerschaft liche) in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen. Häufig können konkrete organische oder psychogene ätiologische Faktoren identifiziert werden, wobei es selten möglich ist, die genaue Bedeutung der einzelnen Faktoren aufgrund des komplexen Wechselspiels einzuschätzen. Es gibt keine einzelne pathogene Erfahrung, die allein eine funktionelle Sexualstörung auslösen könnte. Erst die Summierung ungünstiger Erfahrungen in verschiedenen Bereichen kann zu einer sexuellen Dysfunktion führen. Für eine Vielzahl sekundärer Sexualstörungen
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kann man annehmen, dass sie im Rahmen einer kurzfristigen körperlichen Erkrankung oder vor allem durch Stress aufgetreten sind, dann aber durch psychische Faktoren aufrechterhalten wurden. Unabhängig von der auslösenden Ursache kommt der Erwartungsangst, dem daraus resultierenden Vermeidungsverhalten und der Reaktion der Partnerin/des Partners bei der Aufrechterhaltung sexueller Funktionsstörungen eine entscheidende Rolle zu. Auch Defizite in der sozialen Kompetenz spielen für das Entstehen von Sexualstörungen eine Rolle. Das Vorliegen eines sexuellen Problems bedingt nicht in jedem Fall einen Leidensdruck. Einige Menschen leiden kaum unter ihrer sexuellen Dysfunktion, während andere in ihrem Selbstwertgefühl und in ihrer psychosexuellen Identität stark betroffen sind. Die organische Abklärung umfasst neben der üblichen Erhebung des somatischen Status die Erstellung einer exakten Medikamenten-, Drogen- und Alkoholanamnese sowie eine urologisch-andrologische bzw. gynäkologische Untersuchung mit Bestimmung des hormonellen Status. Darüber hinaus sind gelegentlich auch ergänzende angiologische und neurologische Befunderhebungen sinnvoll. Grundlage jeder Therapie ist im Sinne eines diagnostisch-therapeutischen Zirkels immer eine genaue Erhebung der Sexualanamnese, d. h. die Klärung der konkreten Beschwerden, die Erkundigung bezüglich der Sexualaufk lärung, das Erfragen des Sexualwissens und der sexualitätsbezogenen Einstellungen, der Fantasien und der diesbezüglichen Ängste. Von Bedeutung ist auch die Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Erfahrungen, die Analyse der Partner- und Berufssituation und die zugrunde liegende Psychopathologie (z. B. Persönlichkeitsstörung, Depression). Mögliche Fragen im Rahmen der Sexualanamnese sind: • Welches Problem liegt genau vor? • Seit wann? Wann? Mit wem? • Positions- und/oder situationsbezogen? • Risikofaktoren vorhanden? (z. B. Medikamente, Krankheiten) • Partnerschaft • Lebenssituation (vor allem psychosoziale Belastungsfaktoren). Die häufigsten Ursachen sexueller Funktionsstörungen sind: 1. Organische Krankheiten: • Allgemeine Krankheiten können zu deutlichen Befindlichkeitsstörungen und zu reaktiven Depressionen führen und dadurch einen Libidomangel bedingen; • Entzündungen im Anogenitalbereich (z. B. Prostatitis, Adnexitis) sind häufig von Schmerzen begleitet; • Neurologische Erkrankungen und Läsionen (z. B. Querschnittläsion, Poly neuropathien, SHT, Multiple Sklerose, Parkinson-Krankheit, Schlaganfall) führen zu Funktionseinschränkungen; • arterielle Gefäßerkrankungen (z. B. Sklerose der Becken- oder Penisgefäße); • venöse Gefäßerkrankungen (z. B. Insuffi zienz der Venenklappen der Corpora cavernosa); • endokrinologische Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus); • Fehlbildungen im Genitalbereich (z. B. Phimose, Hypospadie). 269
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2. Medikamente: Es gibt eine Unzahl von Medikamenten, bei denen selten oder häufig sexuelle Funktionsstörungen als Begleiterscheinungen auftreten können, wobei aber die Zusammenhänge meist sehr komplex sind. Viele Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva und Antipsychotika, haben eine hemmende Wirkung auf die Sexualfunktion. Die medikamentös bedingten Störungen sind oft dosisabhängig und reversibel; auch sind sie vielfach weniger von ihren pharmakologischen Eigenschaften als von der Persönlichkeitsstruktur und der psychischen und psychosozialen Ausgangslage der Betroffenen abhängig. Die unerwünschten negativen Auswirkungen auf die Sexualität (vor allem eine Reduktion des sexuellen Verlangens und der Orgasmusfähigkeit) sind ein häufiger Grund für die Non-Compliance des Betroffenen und müssen deshalb bei der Verordnung bzw. im Verlaufe der Therapie immer wieder mit dem Patienten reflektiert werden. 3. Alkohol, Nikotin: Im Rahmen eines pathologischen Konsumverhaltens nimmt der Alkohol eine besondere Stellung ein: In kleineren Dosen wirkt er meist stimulierend oder enthemmend, in größeren Dosen stark beeinträchtigend. Bei einem Großteil der Männer mit Erektionsstörungen lässt sich Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit nachweisen, wobei die Ursachen für die begleitenden Sexualstörungen meist komplexer Natur sind: Neben vaskulären (Angiopathie) und neurologischen Faktoren (Polyneuropathie, diffuse kortikale Dysfunktion) spielen psychosoziale und psychische Störmomente (Persönlichkeitsstörungen, Partnerproblematik, allgemeine Lebenssituation) eine wichtige Rolle. Eine große praktische Bedeutung für Erektionsstörungen hat der Nikotinabusus; in einigen Fällen kann allein durch eine Nikotinabstinenz eine deutliche Besserung der Erektionsfähigkeit erreicht werden. 4. Psychische und psychosoziale Ursachen: Es können verschiedene Bereiche psychischer und psychosozialer Ursachen sexueller Dysfunktionen unterschieden werden: a) Unmittelbare oberflächliche Gründe: • Unwissenheit, Ungeschicklichkeit • Fehlvorstellungen z. B. bezüglich Penisgröße, der Häufigkeit oder der Dauer eines Geschlechtsverkehrs, Gleichzeitigkeit des Orgasmus usw. • Leistungs- und Versagensängste. b) Intrapsychische Ursachen: Das Sexualverhalten oder die sexuelle Dysfunktion kann die Bedeutung der Abwehr unbewusster Ängste (z. B. Angst vor Kontrollverlust, Versagensangst, Angst vor Ablehnung, Geschlechtsidentitätsängste, Gewissensangst) haben, die mit der Sexualität verknüpft sind. Die sexuelle Symptomatik dient also der Stabilisierung des psychischen Gleichgewichtes.
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c) Partnerschaftsbezogene Ursachen: Partnerschaft liche Konflikte können sowohl Ursache als auch Folge sexueller Dysfunktionen sein. Sexuelle Störungen besitzen im Rahmen einer Zweierbeziehung vielfältige Funktionen: • Sexualangst als gemeinsamer Grundkonflikt: Beide Partner befürchten, dass eine störungsfreie Sexualität ihre Beziehung gefährden könnte. Der symptomfreie Partner kann die Störung des anderen verstärken, um seine eigenen Probleme an diesen zu delegieren. • Sexuelle Funktionsstörungen als Machtmittel: Die sexuelle Störung kann gegen den Partner gerichtet sein und Feindseligkeit oder ein Vorenthalten von Lust ausdrücken. • Sexuelle Funktionsstörung als Ausdruck einer Nähe-Distanz-Problematik: Da Angst vor Abhängigkeit und Autonomieverlust vorherrscht, hilft das sexuelle Symptom, Distanz und Unabhängigkeit zu sichern. Bei fast allen Paaren mit sexuellen Dysfunktionen spielen Interaktions- und Kommunikationsprobleme sowohl verbaler als auch nonverbaler Art eine bedeutende Rolle. 5. Psychiatrische Erkrankungen: Bei sexuellen Dysfunktionen gibt es keine Konfliktspezifität, d. h., den sexuellen Störungen können verschiedene psychische Konflikte, unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen und psychopathologische Syndrome zugrunde liegen. Bei Depressionen finden sich in vielen Fällen Libidoverlust und Potenzstörungen als Ausdruck der allgemeinen Antriebshemmung und Lustlosigkeit. So klagen Depressive etwa doppelt so häufig über sexuelle Probleme als die Durchschnittsbevölkerung. Am Beginn einer depressiven Episode kann der Patient gelegentlich auch eine vermehrte sexuelle Aktivität entfalten. Bei manischen Syndromen führen der erhöhte Antrieb und die Kritiklosigkeit häufig zu einer Libidosteigerung und vermehrten sexuellen Kontakten. Schizophrene Psychosen gehen häufig mit sexuellen Funktionsstörungen unterschiedlicher Symptomatik einher, die oft auf Hemmung bzw. Enthemmung sexueller Triebimpulse zurückzuführen sind. Die Sexualstörungen sind bei diesen psychischen Störungen sowohl durch die Grundkrankheit als auch durch die Psychopharmakotherapie bedingt. Bei Oligophrenen lassen sich vermehrt sexuelle Devianzen (z. B. Exhibitionismus, Sodomie) nachweisen; grundsätzlich entsprechen die sexuellen Bedürfnisse der Betroffenen aber jenen der Durchschnittsbevölkerung. Bei histrionischen Charakterstrukturen lassen sich gehäuft Störungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens (Alibidinämie bis Anorgasmie oder Nymphomanie) nachweisen. 3.3.3 Epidemiologie Über die Häufigkeit sexueller Dysfunktionen ist nur wenig bekannt. Befragungen größerer Bevölkerungsgruppen sind oft nicht repräsentativ, auch bestehen unterschiedliche Definitionen sexueller Probleme. Eine amerikanische Studie ergab bei Frauen als
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häufigste sexuelle Dysfunktionen einen Mangel an sexuellem Verlangen (33 %), keinen Orgasmus (24 %), keine Freude an Sex (21 %) und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (14 %), bei Männern dagegen einen vorzeitigen Samenerguss (29 %), Angst vor Geschlechtsverkehr (17 %), mangelndes sexuelles Interesse (16 %) und Erektionsschwierigkeiten (10 %). Eine deutsche Untersuchung ergab in festen Paarbeziehungen 10 % behandlungsbedürft ige sexuelle Funktionsstörungen, während bei Bevölkerungsbefragungen ca. 40 % der Befragten über „sexuelle Probleme“ berichten. Die Zahlenangaben über die Häufigkeit organischer (Mit-)Ursachen bei sexuellen Dysfunktionen schwanken stark und sind von vielen Faktoren abhängig wie z. B. von der Art der Störung, dem Alter des Patienten usw. 3.3.4 Arten sexueller Dysfunktionen 3.3.4.1 Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen (verminderte sexuelle Appetenz, Alibidinämie) F52.0 Der Verlust des sexuellen Verlangens ist eine anhaltende oder wiederkehrende Unfähigkeit, auf sexuelle Stimulation mit genitaler Erregung zu reagieren, oder ein Mangel eines subjektiven Gefühls sexueller Erregung bzw. das Fehlen von Lust während der sexuellen Aktivität. Ein Mangel oder ein Verlust an sexuellem Verlangen wird dann als Störung bezeichnet, wenn dadurch ein Leidensdruck oder zwischenmenschliche Probleme auftreten. Die Libido ist als angeborener Sexualtrieb inter- und intraindividuellen Schwankungen unterworfen. Neben kultur- und erziehungsabhängigen Erfahrungen und Lernprozessen sind vor allem Partnerschaftsprobleme und psychische Beeinträchtigungen für den Mangel bzw. den Verlust an sexuellem Verlangen von Bedeutung. Die Häufigkeit dieser sexuellen Störungen scheint sowohl bei Frauen als auch bei Männern zugenommen zu haben. Vorübergehende Gefühlsstörungen, nicht selten verbunden mit Schmerz und Abwehrspannungen, stehen nicht selten im Zusammenhang mit Belastungs- und Konfliktsituationen. Der Lust-Verlust ist bei Männern oft Folge einer Erektionsstörung. Die beeinträchtigte Libido des Mannes in der Altersgruppe ab dem 45. Lebensjahr steht häufig im Zusammenhang mit dem Climacterium virile. Weitere Symptome des Absinkens des Testosteronspiegels sind körperliche Veränderungen wie Gewichtszunahme, Leistungsverminderung, Müdigkeit, Schweißausbrüche, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen. Vor allem hormonelle und psychosoziale Ursachen tragen bei Frauen zur Entwicklung einer Störung des sexuellen Verlangens bei. Oft willigen die betroffenen Frauen nur deshalb in einen Geschlechtsverkehr mit ihrem Partner ein, um Streit und Missstimmung zu vermeiden oder den Partner nicht zu verlieren. Das verminderte sexuelle Verlangen kann auch ein Begleitsymptom einer Depression sein, aber auch eine Nebenwirkung von Psychopharmaka, besonders von Antidepressiva. 3.3.4.2 Sexuelle Aversion F52.1 Die Vorstellung sexueller Kontakte ist dabei mit so starken negativen Gefühlen, besonders Angst und Abneigung verbunden, dass sexuelle Handlungen vermieden werden. 272
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Eine sexuelle Aversion entwickelt sich häufig bei Personen, die sexuelle Missbrauchsbzw. Gewalterfahrungen erlebt oder sexuelle Kontakte häufig trotz mangelndem sexuellen Verlangen gehabt haben. 3.3.4.3 Störungen der sexuellen Erregung, Versagen der genitalen Reaktionen (Erektionsstörung) F52.2 Unter einer Störung der sexuellen Erregung versteht man die Unfähigkeit zum Geschlechtsverkehr aufgrund unzureichender Gliedsteife. Dabei kann die Erektion von Anfang an nicht stark genug sein oder aber nach dem Vorspiel zunehmend schwächer werden. Die Erektionsstörung beschränkt sich meistens auf den Geschlechtsverkehr, bei der Selbstbefriedigung ist die Funktion meist intakt. Die Ursachen für eine Erektionsstörung sind vielfach: • Bei vielen Männern tritt bei Stress, Ermüdung oder vermehrtem Alkoholkonsum gelegentlich eine Erektionsschwäche auf: Diese wird von vielen als gravierendes Ereignis erlebt und löst bei den nächsten sexuellen Versuchen oft eine verstärkte Erwartungsangst aus. Diese Angst, häufig verbunden mit einem erhöhten Sympathikotonus, der die Erektion hemmt, die Ejakulation aber eher fördert, führt zu vermehrter Selbstbeobachtung, zu genitaler Fixierung und aktivem Wollen, wodurch der autonome reflektorische Ablauf des sexuellen Reaktionszyklus weiter gehemmt wird. • Bei der Erektionsschwäche im Zusammenhang mit einem Diabetes mellitus oder peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen geht die Stärke der Gliedsteife nicht über ein bestimmtes Maß hinaus, bleibt jedoch im gleichen Umfang während des Geschlechtsverkehrs weitgehend erhalten. • Bei einer Insuffizienz der Venenklappen der Corpora cavernosa kommt es bei zunächst ausreichender Erektion zu einem raschen Nachlassen der Gliedsteife. Die Erektionsstörung ist häufig mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls verbunden. Für das Vorliegen einer vorwiegend psychogenen Erektionsstörung sprechen: • nächtliche und morgendliche Spontanerektionen • Auftreten nur bei bestimmten Partnerinnen bzw. Praktiken • periodisches Auftreten • akuter Beginn der Störung. Für das Vorliegen einer vorwiegend organisch bedingten Erektionsstörung sprechen: • allmählicher Beginn • Ausbleiben der nächtlichen oder morgendlichen Spontanerektionen • Erektionsschwäche auch bei der Masturbation. Aufgrund immer subtilerer somatischer Untersuchungsmethoden (u. a. SKAT = Schwellkörper-Autoinjektions-Therapie-Test, Kavernosometrie, Angiographie) konnten in den letzten Jahren viele, bisher nicht objektivierbare organische Ursachen aufge273
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deckt werden. Organische Beeinträchtigungen finden sich mit fortschreitendem Alter naturgemäß häufiger, die Gefahr einer Überbewertung eines minimalen körperlichen Befundes als alleiniger Ursache der Störung und die Vernachlässigung psychosozialer Faktoren muss jedoch stets beachtet werden. Pathologische Organbefunde lassen sich auch bei einer großen Anzahl sogenannter „Potenzgesunder“ nachweisen: Der organische Befund ist eine oft notwendige, aber nicht hinreichende Erklärung für Erektionsstörungen. Eine seltene Form der Erektionsstörung ist der Priapismus, d. h. die schmerzhafte Dauererektion des Penis bzw. das extrem verzögerte Nachlassen der Erektion ohne sexuelle Erregung. Bei der Behandlung der erektilen Impotenz mittels intravenöser Injektion von vasoaktiven Substanzen (Papaverin, Prostaglandin) ist vermehrt mit solchen Reaktionen zu rechnen. Der Priapismus bedarf einer urologischen bzw. chirurgischen Behandlung innerhalb von zwölf Stunden, um irreparable Läsionen zu vermindern. Die Erregungsstörung bei Frauen äußert sich während der sexuellen Stimulierung in einer mangelhaften oder fehlenden Lubrikation (Lubrikation = die Transsudation einer Gleitsubstanz durch das Vaginalepithel während der sexuellen Erregungsphase). Diese Störung ist bei Frauen eher selten und tritt meist in Kombination mit Störungen der sexuellen Appetenz, der sexuellen Aversion oder mit Anorgasmie auf. Wenn trotz der Erregungsstörung ein Geschlechtsverkehr durchgeführt wird, ist dies fast durchgehend mit Schmerzen verbunden. 3.3.4.4 Orgasmusstörung (Psychogene Anorgasmie, gehemmter Orgasmus) F52.3 Kennzeichnend für eine Orgasmusstörung ist das Fehlen des sexuellen Höhepunktes, wobei jedoch während des Geschlechtsverkehrs intensive Lustgefühle und starke Erregung bestehen können, die Entspannung aber nicht eintritt. Von einer Orgasmusstörung soll nur gesprochen werden, wenn der sexuelle Höhepunkt meistens ausbleibt und ein Leidensdruck besteht. Der Orgasmus stellt eine sehr sensible, leicht störanfällige Phase dar und ist bei Frauen variabler als bei Männern. Höchstens die Hälfte der Frauen kommt beim Geschlechtsverkehr – fast – immer zum Orgasmus, auch weil der Geschlechtsverkehr für Frauen – im Gegensatz zu Männern – nicht die ideale Methode für die sexuelle Erregung darstellt. Das Ausbleiben des sexuellen Höhepunktes beschränkt sich gewöhnlich auf den Geschlechtsverkehr, während ein Orgasmus bei anderen Arten der Stimulation, etwa der Masturbation, möglich ist. Die Ursachen für die Anorgasmie sind vielfältig, organische Ursachen spielen kaum eine Rolle. Situative Einflüsse wie ungünstige räumliche Verhältnisse, Zeitmangel, schlechte Stimmungslage, aber auch Angst vor möglicher Schwangerschaft und frühere sexuelle Missbrauchserfahrungen sind wichtige auslösende Momente. Voraussetzungen für eine uneingeschränkte Hingabefähigkeit sind weiters eine sichere psychosexuelle Identität sowie das Gefühl des Vertrautseins, der Sicherheit und der Geborgenheit.
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3.3.4.5 Störungen der Ejakulation 1 Ejaculatio praecox (vorzeitiger oder frühzeitiger Samenerguss) F52.4 Unter einer Ejaculatio praecox versteht man die Unfähigkeit des Mannes, die sexuelle Erregung und den Ejakulationsreflex über einen gewissen Spannungszustand hinaus kontrollieren zu können. Die Ejakulation erfolgt, bevor die grundsätzlich erlebnisfähige Partnerin eine sexuelle Befriedigung erreicht. Der Samenerguss ereignet sich oft bereits unmittelbar vor bzw. kurz nach dem Eindringen des Penis in die Vagina; dagegen ist bei der Selbstbefriedigung meist eine gute Kontrolle möglich. Der frühzeitige Samenerguss, der immer psychisch bedingt ist, ist die häufigste sexuelle Störung vor allem bei sexuell unerfahrenen, selbstunsicheren jungen Männern. Zur starken inneren Erregung und der Unfähigkeit, mit der starken Erregung umgehen zu können, gesellt sich oft eine geringe Vertrautheit mit der Partnerin. Mit zunehmender sexueller Erfahrung sind aber die meisten Männer in der Lage, eine bessere – wenn auch nicht immer gute – Kontrolle über den Ejakulationsvorgang zu erlangen, da sie lernen, mit der sexuellen Spannung umzugehen. 2 Ejaculatio deficiens N50.8 bzw. Ejaculatio retardata F52.3 Bei dieser Störung kommt es trotz intensiver und lang anhaltender Reizung zu keinem oder zu einem zeitlich stark verzögerten Samenerguss. Die psychischen Ursachen sind vielfältig, wie Angst vor Schwängerung der Partnerin, Angst vor zu enger Bindung oder Verlust der Unabhängigkeit oder negative Lernerfahrungen. 3 Ejaculatio retrograda F52.4 Trotz ungestörten Ablaufs des Orgasmus erfolgt bei dieser Störung der Samenerguss in die Harnblase. Diese Störung tritt häufig nach transurethralen urologischen Eingriffen auf. 3.3.4.6 Störungen mit sexuell bedingten Schmerzzuständen 1 Nichtorganische Dys- oder Algopareunie (Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) F52.6 Wiederkehrende oder anhaltende genitale Schmerzen vor, bei oder nach dem Geschlechtsverkehr werden als Dys- oder Algopareunie bezeichnet. Als Hauptursachen finden sich neben einer mangelhaften Lubrikation – meist bedingt durch eine geringe sexuelle Erregung oder mangelhafte Stimulation im Sinne eines fehlenden sexuellen Vorspiels – häufig ein krankhaftes lokales Geschehen. In der Postmenopause kann es, bedingt durch einen Östrogenmangel, zur Atrophie der Vaginalschleimhaut mit Verlust der Elastizität und verzögerter Lubrikation kommen. Darüber hinaus spielen Partnerprobleme nicht selten eine wichtige Rolle. Immer sollte neben einer körperlichen Untersuchung die genaue Lokalisation der Beschwerden festgestellt werden, da dies die Diagnosestellung erleichtert. 2 Nichtorganischer Vaginismus (Scheidenkrampf) F52.5 Beim Vaginismus tritt eine reflektorische Verkrampfung der Scheiden- und Beckenbodenmuskulatur der Frau im Sinne eines Abwehrreflexes auf, sobald versucht wird,
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in die Scheide einzudringen. Ein Geschlechtsverkehr oder eine gynäkologische Untersuchung ist dadurch undurchführbar. Neben traumatischen Erfahrungen (z. B. Vergewaltigung) oder körperlichen Erkrankungen (z. B. Entzündungen im Unterleib, komplizierte Entbindungen) kann sich ein Vaginismus als Folge eines schmerzhaften Koitus manifestieren. Darüber hinaus stellen sich viele Frauen die vaginale Penetration als etwas Unangenehmes oder Gefährliches vor. Frauen mit primärem Vaginismus weisen oft keinen Leidensdruck auf, auch wenn sie verheiratet sind. Das Bedürfnis nach Behandlung tritt oft erst nach vielen Ehejahren auf, vor allem wenn ein Kinderwunsch besteht. Die betreffenden Frauen leben häufig in einer Partnerschaft mit eher passiven Männern, die auch unter latenten Sexualstörungen leiden. Fallbeispiel 29-jährige, ledige Patientin. Einzelkind, sehr schwierige Ehe der Eltern (außereheliche Beziehungen beider Elternteile), mit 17 Jahren forcierte Loslösung von zu Hause, häufig wechselnde Männerbeziehungen. Im Alter von 19 Jahren wurde die Patientin vergewaltigt und nach der Abtreibung vom Freund verlassen. Seit dieser Zeit leidet sie unter Unterleibsbeschwerden. In der Folgezeit vermied sie jeglichen sexuellen Kontakt, bis sie vor drei Jahren einen Arbeitskollegen kennenlernte. Beim Einführen des Penis machen aber starke Schmerzen und Verkrampfungen den Geschlechtsverkehr unmöglich. In der Folgezeit trat erneut ein sexuelles Vermeidungsverhalten auf. Bei einem weiteren Versuch eines Geschlechtsverkehrs mit einem anderen Arbeitskollegen ein Jahr später bestand bei der Patientin ein Vaginismus. Therapeutisch standen neben der Sexualtherapie im engeren Sinne das Erlernen von Entspannungsmethoden, ein soziales Kompetenztraining und die Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen im Vordergrund.
3 Weitere Sexualstörungen, die mit körperlichen Beschwerden verbunden sind (indirekte Sexualstörungen) Bei den Psychogenen Unterleibsbeschwerden (Pelvipathien) (F45.8) handelt es sich um Schmerzen, die unabhängig vom Geschlechtsverkehr auft reten. Die betroffenen Frauen klagen über diff use, selten genau lokalisierbare Druckschmerzen an den Organen im Unterbauch und in den Beckenwänden. Verantwortlich dafür sind meist Konfliktsituationen, die zu mangelnder sexueller Befriedigung und Erregungsabfuhr führen. Häufig lassen sich in der Kindheit sexuelle Missbrauchserfahrungen nachweisen. Zu den Psychogenen Menstruationsstörungen (N94.9) gehören die Dysmenorrhö, das prämenstruelle Syndrom und das primäre oder sekundäre Amenorrhösyndrom. Der Psychogene Juckreiz im Genitalbereich (L29.9) tritt meist anfallsartig auf, tendiert zur Chronifizierung und kann so heftig sein, dass sich durch starkes Kratzen artifizielle Hautveränderungen manifestieren. Verantwortlich dafür kann eine Sexualproblematik sein, wobei die sexuelle Erregung nicht adäquat abgebaut wird. Stets müssen aber organische Ursachen ausgeschlossen werden. Dem Psychogenen Fluor genitalis (N89.8) liegt eine Hypersekretion oder erhöhte Transsudation der Scheidenwände und der Zervixdrüsen sowie der Bartholinischen 276
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Drüsen zugrunde. Bei allgemeiner neurovegetativer Labilität können unspezifische Stresssituationen (z. B. Partnerkonflikte, Arbeitsplatzprobleme) über eine Parasympathikus-Aktivierung zu zervikalem Fluor führen. 3.3.5 Diagnostik und Therapie funktioneller Sexualstörungen Die Behandlung funktioneller Sexualstörungen basiert auf einer breit gefächerten interdisziplinären Betrachtung der menschlichen Sexualität. Der psychosomatische Ansatz, d. h. die gleichwertige Berücksichtigung physiologischer, somatischer, psychischer und sozialer Faktoren und deren komplexes Wechselspiel, ist eine Bedingung für das Verständnis und für die Therapie der genannten Störungen. 1 Sexualberatung, Psychotherapie Die Initiative zum Gespräch über Sexualität mit dem Patienten sollte immer vom Arzt/ Ärztin aus gehen, unabhängig davon, ob der Patient psychisch krank ist oder nicht. Voraussetzungen für ein Gespräch über sexuelle Probleme sind: • der Patient muss mit seinem Arzt ungestört und allein sprechen können; • der Patient muss merken, dass der Arzt ihn und sein Problem ernst nimmt; • der Patient muss sich in seiner, ihm eigenen Sprache äußern können; • der Patient muss Gelegenheit zu mehreren Gesprächen erhalten (meist hat er sich erst nach langem Zögern entschlossen, den Arzt zu befragen, oft kann er sein Problem jedoch nicht auf Anhieb formulieren); hilfreich ist der Hinweis, dass es „normal“ ist, Hemmungen beim Thema Sexualität zu haben; • Zeit geben; • über eigene Fähigkeiten verfügen, über das Thema Sexualität reden zu können („Modellfunktion“); • die eigene Einstellung zur Sexualität (Normen, Orientierung, Vorliegen usw.) reflektieren. Bei der Exploration sollen nicht nur die Störbereiche beleuchtet werden, sondern auch jene Bereiche der sexuellen Beziehung und der Gestaltung des Zusammenlebens erörtert werden, die sich als harmonisch und störungsfrei erweisen. Eine Sexualberatung kann mit folgenden Zielsetzungen auch vom geschulten Hausarzt erfolgen: • Vermittlung von Wissen über die sexuelle Entwicklung; • Informationen zum Abbau bzw. Korrektur von Fehlvorstellungen und Hemmungen; • Beseitigung ungünstiger äußerer Faktoren; • Ermunterung zum Reden über Sexualität und zur Mitteilung sexueller Wünsche; • Erteilung spezifischer Vorschläge wie z. B. Techniken der Selbststimulation, Empfehlung eines vorübergehenden Koitusverbots mit gleichzeitiger Anweisung zu verstärktem nicht sexuellen Körperkontakt und Zärtlichkeitsaustausch mit dem Ziel, Erwartungsangst und genitale Fixierung abzubauen und prägenitales Verhalten zu stärken. 277
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Sexuelle Störungen betreffen nicht nur eine einzelne Person, sondern immer auch die Beziehung. Deshalb sollte – wenn immer es möglich ist – der Partner in die Therapie einbezogen werden. Die Psychotherapie richtet sich nach der Grundproblematik. Sexualtherapien im engeren Sinne sind eigens geschulten Psychotherapeuten vorbehalten, da sich der Therapieprozess oft komplex gestaltet. Die Zielsetzung ist die Verbesserung der sexuellen Funktionsfähigkeit, d. h. auf die Beseitigung der störenden Symptome und auf die Optimierung der verbalen und nonverbalen Kommunikation des Paares ausgerichtet. Die Therapie beinhaltet neben der Vermittlung von Information über Sexualität Anleitungen zu spezifischen sexuellen Erfahrungen und Therapieübungen, welche die Partner zu Hause durchführen. Eine zentrale Rolle kommt auch der Exploration und Bearbeitung innerseelischer und interpersoneller Konflikte zu. Voraussetzung für die Durchführung einer Sexualtherapie ist stets die Bereitschaft des Paares zur Mitarbeit. Vorausgehen muss auch eine ausreichende körperliche Abklärung und der Ausschluss gravierender psychischer Störungen. Eine spezifische Sexualtherapie sollte dann erfolgen, wenn • die Sexualproblematik unverändert über ein halbes Jahr besteht, • ausgeprägte sexuelle Versagensangst oder ein Vermeidungsverhalten vorliegen, • erhebliche Partnerprobleme seit längerer Zeit bestehen, und • eine intensive Sexualberatung keine Veränderung der Problematik erbracht hat. 2 Organotherapien, medikamentöse Therapie Die Behandlung einer Allgemein- oder Grunderkrankung, die zu einer sexuellen Dysfunktion beiträgt, muss im Vordergrund stehen. Die Beseitigung einer Noxe, wie z. B. Nikotin, Drogen oder Alkohol, kann dazu beitragen, die sexuelle Funktionsfähigkeit wieder herzustellen. Chirurgische Eingriffe kommen vor allem bei männlichen Erregungsstörungen infrage, wenn arterielle oder venöse Insuffi zienzen bestehen. Auch physiotherapeutische Maßnahmen, wie z. B. Training der Beckenbodenmuskulatur, können bei sexuellen Reaktionsstörungen durchaus erfolgreich sein. Bei Bestehen eines Androgendefizits kann bei Männern mit einer sexuellen Dysfunktion eine Testosteron-Substitution zu einer Verbesserung der Erektionsfähigkeit (und des sexuellen Verlangens) beitragen. Der entscheidende Durchbruch in der Behandlung sexueller Erregungsstörungen bei Männern gelang in der Entwicklung der Phosphodiesterase-Hemmer, die zur Entspannung der glatten Muskulatur der Schwellkörper und der das Blut zuführenden Arteriolen führen. Gleichzeitig wird der Blutabfluss aus dem Schwellkörper des Penis reduziert, weil die das Blut abführenden Venen in dem die Hohlräume umgebenden Bindegewebe zusammengepresst werden. Die Phosphodiesterase-Hemmer wie Sildenafi l (Viagra®), Tadalafi l (Cialis®) und Vardenafi l (Levitra®) sind keine Aphrodisiaka, also keine Mittel zur Steigerung des sexuellen Verlangens, sondern Substanzen, die bei Vorhandensein sexuellen Verlangens das Eintreten und die Aufrechterhaltung der sexuellen Erregung begünstigen. Die Wirkung der Phosphodiesterase-Hemmern bei Frauen ist gering, auch wenn es zu einer Verstärkung der Durchblutung des Genitales 278
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und der Lubrikation kommt. An unerwünschten Wirkungen zeigen sich vor allem Kopfschmerzen, Gesichtsrötungen, Magenbeschwerden, Sehstörungen und gelegentlich prolongierte Erektionen. Eine besondere Beachtung verdient das kardiovaskuläre Risiko, weil viele ältere Patienten, die unter einer Erektionsstörung leiden, auch eine kardiovaskuläre Erkrankung und damit verbunden medikamentöse Therapie (z. B. Nitrolingual) aufweisen (erhöhtes Risiko für Myokardinfarkt und Schlaganfall).
3.4
Störungen der Geschlechtsidentität (Transsexualität F64.0; Transvestismus F64.1)
3.4.1 Definition Geschlechtsidentität ist das Wissen der Zugehörigkeit zu einem definierten Geschlecht; sie ist die persönliche Erfahrung der Geschlechtsrolle. Die Störungen der Geschlechtsidentität sind in Tabelle 9 dargestellt. Tabelle 9 Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10) Transsexualismus F64.0 Symptomatische Klassifikation: Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden; meist einhergehend mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht; Wunsch nach hormoneller und chirurgischer Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht so weit wie möglich anzugleichen. Diagnostische Leitlinien: die transsexuelle Identität muss mindestens 2 Jahre durchgehend bestanden haben; sie darf nicht Ausdruck einer anderen psychischen Störung, wie z. B. einer Schizophrenie, sein; ein Zusammenhang mit intersexuellen, genetischen oder geschlechtschromosomalen Anomalien muss ausgeschlossen sein.
3.4.2 Epidemiologie Es handelt sich bei den Geschlechtsidentitätsstörungen (GIS) um eher seltene Störungen (Schätzungen geben für Deutschland derzeit maximal 4.000 Transsexuelle an), mit einem deutlichen Überwiegen der Transsexualität bei den Männern (Männer : Frauen = 2–3:1). Als Gründe für die unterschiedliche Häufigkeit von GIS bei Männern gegenüber Frauen werden neben psychodynamisch-entwicklungspsychologischen Einflüssen biologische sowie soziokulturelle Faktoren angenommen.
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3.4.3 Ätiopathogenese Die Ätiologie der Geschlechtsidentitätsstörung ist bislang unbekannt und die Hypothesen sind umstritten. Transsexualität wurde unter anderem als angeborene Neuroendokrinopathie betrachtet, wobei eine Androgeninsuffizienz in der hypothalamischen Differenzierungsphase zum männlichen Transsexualismus, ein Androgenüberschuss zu weiblichen Transsexualismus disponiere. Andere Erklärungsmodelle sehen in der GIS eine Deviation aufgrund familiensoziologischer bzw. soziobiologischer Fehlentwicklungen. Bei der Untersuchung der Familiendynamik fallen häufig eine geringe Verfügbarkeit der Väter und eine symbiotische Beziehung der Betroffenen zu ihren Müttern auf. Weiters lassen sich vermehrt Partnerkrisen der Eltern, neurotische Mechanismen und soziale Defizite bei gleichzeitigem Außenseitertum in der Kindheit und Jugend nachweisen. 3.4.4 Diagnostik Für die Diagnostik der Transsexualität sind folgende Untersuchungen notwendig: • Erhebung einer biografischen Anamnese unter besonderer Berücksichtigung der Sexualanamnese und des Geschlechtsrollenverhaltens; • psychiatrische Abklärung zum Ausschluss psychiatrischer Erkrankungen wie Schizophrenie (dagegen wird die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht mehr als Ausschlussdiagnose einer GIS bzw. als Ausschlusskriterium für somatische Maßnahmen gesehen); • psychometrische Tests (z. B. zur Erfassung der Persönlichkeitsstruktur); • urologische bzw. gynäkologische Untersuchung; • endokrinologische Untersuchung (z. B. zum Ausschluss von Störungen im Sinne der Intersexualität und eines Hypogonadismus); • genetische Untersuchung zur Bestimmung des Geschlechtschromatins bzw. Chromosomenanalyse; • EEG (zum Ausschluss eines Anfallsleidens). 3.4.5 Beratung und Behandlung Psychotherapeutische Behandlungsversuche erweisen sich – bedingt durch mangelhafte Krankheitseinsicht und Fixierung auf operative Geschlechtskorrektur – als selten erfolgreich. Eine Psychotherapie ist aber sinnvoll und möglich, wenn der Therapeut – und im Idealfall auch der Patient – für jeden Ausgang des Prozesses offen ist, und das wie immer geartete Ergebnis nicht als Erfolg oder Misserfolg wertet: Entweder versöhnt sich der transsexuelle Patient mit seinem biologischen Geschlecht, oder er richtet sich „irgendwo“ zwischen den Geschlechtern ein oder er strebt konsequent alle medizinischen Möglichkeiten an. Wichtig ist es zu beachten, dass es sich bei den Transsexuellen um eine heterogene Gruppe handelt („Transsexualitäten“), und dass Hormonbehandlungen und chirurgische Maßnahmen nicht die einzigen Optionen darstellen.
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In vielen Ländern existieren interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaften aus Gynäkologen, Urologen, Endokrinologen, Psychologen, Psychiatern und Sozialarbeitern, die jeden Einzelfall begutachten und die weitere Betreuung übernehmen. Voraussetzungen für eine chirurgische Anpassungsoperation sind nach Vorschlägen einer Kommission der deutschen Gesellschaft für Sexualforschung: • eine abgeschlossene psychosexuelle Entwicklung (keine Operation unter 21 Jahren); • eine gründliche diagnostische Abklärung; • eine intensive, 1–2-jährige ärztliche präoperative Beobachtung, während der der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung in Bezug auf Dauer und Stabilität geprüft wird; • Nachweis, mindestens ein Jahr in der angestrebten Geschlechtsrolle gelebt und gearbeitet zu haben („Alltagstest“); in dieser Zeit wird nach Erstellung eines entsprechenden Gutachtens auch eine Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen durchgeführt; • Aufk lärung über das Operationsrisiko und die Häufigkeit des Wunsches nach Rückoperation sowie über die unsichere rechtliche Situation; • psychotherapeutische Behandlung (im Ausmaß von mindestens 50 Stunden); • ärztliches Gutachten bzgl. der geschlechtskorrigierenden Operation. Die operativen Resultate sind sowohl kosmetisch-ästhetisch als auch funktionell unbefriedigend, die Ergebnisse in Bezug auf die gesellschaft liche Anpassung und emotionale Stabilisierung etwas besser. Sehr häufig lässt sich eine völlig unrealistische Erwartungshaltung gegenüber den Operationsergebnissen eruieren, was auch ein Grund für schwerwiegende, psychosoziale Probleme ist, die der Geschlechtsumwandlung häufig folgen (z. B. soziale Isolation).
3.5
Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien, Perversionen, sexuelle Deviationen) F65
3.5.1
Definition
Während der Pubertät kommt es durch die hormonellen Veränderungen zur Ausbildung erotischer und sexueller Wünsche und Bedürfnisse, die sich in den sexuellen Präferenzen (Vorlieben) und in der sexuellen Orientierung wiederfinden. Unter Störungen der Sexualpräferenz versteht man sexuelle Fehlverhaltensweisen, die gekennzeichnet sind durch das Auftreten von Erregung als Reaktion auf Objekte oder Situationen, die nicht üblichen Aktivierungsmustern sexueller Stimulation entsprechen. Sie beeinträchtigen in unterschiedlichem Ausmaß die Fähigkeit zur wechselseitigen, liebevollen sexuellen Begegnung. Von Devianz sprechen wir, wenn es um die äußere Beschreibung eines Verhaltens geht, von Perversion, wenn damit aus psychodynamischer Perspektive eine intrapsychische Symptombildung gekennzeichnet werden soll.
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Die Grenzen zwischen „Normalität“ und „Abweichung“ im sexuellen Verhalten sind fließend, ständigen Veränderungen unterworfen und zum Teil kulturabhängig, wobei sich eine zunehmende Toleranz gegenüber den vielfältigen sexuellen Orientierungen und Arrangements zeigt. Viele sexuelle Praktiken, die in der Vergangenheit als „abnorm“ oder „pervers“ angesehen wurden, sind für viele Menschen eine normale Variante ihres Sexuallebens. Schon für Freud galten nur jene Perversionen als psychische Störungen, die bei den Betroffenen subjektives Leid auslösten, ein zwanghaftes Wiederholen beinhalteten oder destruktive Impulse zur Folge hatten. Es gibt große individuelle Variationen (abweichender Menschen). Viele realisieren ihre perversen Fantasien nie oder nur selten und führen nach außen hin ein weitgehend unauff älliges Leben, bei anderen wiederum können sie einen drängenden und zwanghaften Charakter annehmen und für den Betroffenen bzw. den Partner eine hohe Belastung darstellen. Vermeintlich paraphile sexuelle Präferenzen sind in unserer Gesellschaft sehr verbreitet (siehe beispielsweise den großen kommerziellen Markt für paraphile Pornografie und Zubehör). 3.5.2 Ätiopathogenese Es gibt keine allgemeingültigen, einfachen Erklärungsmodelle für Paraphilien. Ein multifaktorielles Modell, das genetische, biochemische, psychodynamische, lerntheoretische und soziale Faktoren inkludiert, ist – wie für die meisten psychischen Störungen – wahrscheinlich. Ein psychodynamisches Verständnis für die Symptomatik ist sowohl für die Diagnose als auch für die Therapie von Wichtigkeit. Das perverse Symptom hat für das seelische Gleichgewicht eine stabilisierende und Angst reduzierende Wirkung. In der paraphilen Symptomatik können sich verschiedene Grundthemen und Ängste ausdrücken, welche die psychosexuelle Identität, die Aggression, das Selbstwerterleben und die Beziehungsfähigkeit betreffen. Von lerntheoretischer Seite kommt neben den Modellen der klassischen und operanten Konditionierung dem Modell des sozialen Lernens eine besondere Bedeutung zu. 3.5.3 Symptomatik Das pathologische Verhalten ist gekennzeichnet durch: • den zwanghaften, drängenden Charakter; • das Fehlen anderer Möglichkeiten zur Befriedigung; • die Ausschließlichkeit und Fixierung. Eine Störung der Sexualpräferenz soll nur dann diagnostiziert werden, wenn das entsprechende Verhalten die wichtigste Quelle sexueller Erregung darstellt oder Voraussetzung für die Befriedigung ist. Die deviante Symptomatik kann eine unterschiedliche Intensität aufweisen: 1. Ein devianter Impuls taucht einmalig oder sporadisch auf (in Zeiten stärkerer Belastung).
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2. Eine deviante Reaktion wird zum immer wiederkehrenden Konfliktlösungsmuster, ohne die sexuelle Orientierung zu bestimmen. 3. Es entwickelt sich eine stabile deviante Orientierung: Die Sexualität ist ohne Einbindung devianter Verhaltensmuster nicht oder nicht intensiv zu erleben. 4. Die stabile deviante Orientierung geht in eine progrediente Entwicklung und Verlaufsform über. Diese „sexuelle Süchtigkeit“ ist gekennzeichnet durch einen Verfall an Sinnlichkeit, zunehmende Häufigkeit sexuell devianten Verhaltens mit abnehmender Befriedigung, Trend zur Anonymität und Promiskuität, Ausbau devianter Fantasien und Praktiken und ein „süchtiges Erleben“. Auch wenn sich bei den einzelnen Paraphilien häufig Persönlichkeitsstörungen (meist selbstunsichere, antisoziale oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen) und gelegentlich auch andere psychische Störungen (z. B. Schizophrenie, Störung der intellektuellen Leistungsfähigkeit) nachweisen lassen, ist nicht jede Paraphilie Ausdruck einer psychopathologischen Symptomatik. 3.5.4 Formen der Störungen der Sexualpräferenz 3.5.4.1 Pädophilie F65.4 Bei pädophilem Verhalten ist die sexuelle Betätigung mit (prä)pubertären Kindern die bevorzugte oder ausschließliche Methode zur Erlangung sexueller Erregung und Befriedigung. Pädophiles Verhalten beeinträchtigt die psychosexuelle Entwicklung der missbrauchten Kinder gravierend und die Täter werden strafrechtlich verfolgt. Die Pädophilie kommt in allen Altersgruppen vor, bei Frauen deutlich seltener als bei Männern, und kann gleichgeschlechtlich, gegengeschlechtlich oder beidgeschlechtlich ausgerichtet sein. Die zugrunde liegende psychische Störung ist nicht einheitlich. Beim pädophilen Erleben wird die Welt des Kindes als die einzig angemessene empfunden; nur hier fühlt sich der Pädophile gelöst, frei, überlegen und nicht durch ängstliche Erwartungen bedrängt. Wie bei anderen Deviationen wird für dieses Symptom der Charakter der Abwehr von Ängsten, die von der Sexualität der erwachsenen Frau ausgehen, diskutiert. Bei Pädophilen finden sich häufig emotionale Entwicklungsstörungen infolge negativer Umwelteinflüsse oder einer „Broken-Home“-Situation. Viele Betroffene leiden häufig an Depressionen und Angststörungen oder weisen eine geringe Impulskontrolle auf. Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmissbrauch erhöhen das Risiko sexueller Übergriffe. Intellektuelle oder hirnorganische Defi zite sind gehäuft nachweisbar. 3.5.4.2 Fetischismus F65.0 Der Fetischist gebraucht wiederholt leblose Objekte als Stimuli für eine starke sexuelle Erregung und zur sexuellen Befriedigung. Als Fetischobjekte dienen vor allem Gegenstände wie Büstenhalter, Unterwäsche, Stiefel usw., wobei die bevorzugten Materialen Leder, Gummi und Plastik sind. Die sexuelle Betätigung kann sich auf den Fetisch allein beschränken (Masturbation mit dem Fetisch), der Fetisch kann jedoch auch in die sexuelle Aktivität einbezo283
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gen werden. Für die Entstehung des Fetischismus wird in einigen Fällen eine spezifische Konditionierung der sexuellen Reaktion auf spezifische Reize angenommen. Der Fetisch kann auch ein „Übergangsobjekt“ sein, mit dem das Kind die schwierige Phase der Ablösung von der Mutter und die Entwicklung einer von der Mutter unabhängigen Identität überbrückt hat. Fallbeispiel 35-jähriger Architekt, Einzelkind, strenge Erziehung durch eine dominante Mutter, verheiratet, drei Kinder. Mit 14 Jahren kam der Patient in ein Internat, wo er unter starkem Heimweh litt. Er berichtet, dass er damals „zufällig“ einen Strumpf der Mutter im Koffer fand. Bei seinen regelmäßigen Masturbationen erregte ihn besonders die Vorstellung eines Geschlechtsverkehrs mit seiner Tante (Schwester der Mutter), die in seiner Fantasie dabei Strümpfe trug. Nach der Heirat erlebte er eine besonders starke sexuelle Erregung, wenn seine Ehefrau beim Geschlechtsverkehr Strümpfe angezogen hatte. Ohne diesen Fetisch war er nur sehr schwer sexuell stimulierbar. Seine Frau fühlte sich durch seine Neigung in ihrer Weiblichkeit zunehmend gekränkt und warf ihm vor, sie nicht als Person, sondern als Fetisch zu lieben. In der Einzeltherapie stand die Auseinandersetzung mit der männlichen Identitätsproblematik, mit der Beziehungsproblematik und der Selbstwertproblematik im Vordergrund. Die Ehefrau lehnte leider eine Partnertherapie zur Bearbeitung der Beziehungsproblematik ab.
3.5.4.3 Fetischistischer Transvestitismus F65.1 Wiederkehrende starke sexuelle Impulse und sexuell erregende Fantasien im Zusammenhang mit gegengeschlechtlicher Verkleidung kennzeichnen diese Paraphilie. Die Störung kommt fast ausschließlich bei Männern vor. Die Betroffenen benutzen die weibliche Verkleidung zur Steigerung der sexuellen Erregung immer dann, wenn sie allein sind, und legen die Bekleidung nach dem Orgasmus und dem anschließenden Abklingen der Erregung wieder ab. 3.5.4.4 Exhibitionismus F65.2 Unter Exhibitionismus versteht man die Entblößung der Geschlechtsteile vor fremden Mädchen oder erwachsenen Frauen, um sexuelle Erregung zu erreichen. Oft wird dabei durch Masturbation eine Ejakulation und Befriedigung erreicht. Die Störung tritt fast ausschließlich bei Männern auf. Dem Akt des Entblößens geht meist ein Zustand voraus, der einer Bewusstseinseinengung („Trance“) gleichgesetzt werden kann: Die Realität einer strafbaren Handlung wird ausgeblendet und die eigene sexuelle Gestimmtheit auf die fremde Person projiziert. Nach der sexuellen Entspannung erfolgt meist schlagartig eine Ernüchterung mit Scham- und Schuldgefühlen und der Absicht, „das nie mehr zu tun“. Die exhibitionistische Darbietung kann als verzweifelte Form einer symbolischen Darstellung der eigenen Überlegenheit durch den erigierten Penis gesehen werden: Sie ist eine Machtdemonstration des ohnmächtigen, meist schüchternen und ängstlichen, sich Frauen unterlegen fühlenden Mannes, also das Symptom einer sozialen Phobie 284
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oder einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung. Häufig liegt auch eine sexuelle Funktionsstörung vor. Fallbeispiel 30-jähriger Mann, Vertreter, zwei Kinder, geschieden. Außerehelich geboren, Vater unbekannt. Durch häufigen Wohnungs- und Arbeitsplatzwechsel der Mutter kaum soziale Kontakte im Kindesalter. Nächtliches Bettnässen bis zum 14. Lebensjahr. Der Patient kommt wegen wiederholter exhibitionistischer Handlungen, weswegen er bereits einmal im Gefängnis saß (Exhibitionismus wird strafrechtlich verfolgt!). Bei allen sexuellen Kontakten des Patienten bestand ein vorzeitiger Samenerguss. Schon im ersten Ehejahr traten belastende Auseinandersetzungen infolge einer außerehelichen Beziehung der Ehefrau auf, weiterhin bestanden schwerwiegende finanzielle Probleme. In dieser Zeit entwickelte der Patient eine zunehmende Eifersucht mit massiver innerer Unruhe. Die den Eifersuchtsdramen folgende sexuelle Verweigerung der Ehefrau führte zu häufiger Selbstbefriedigung mit anschließend starker Spannungsreduktion. Während der ersten exhibitionistischen Handlungen erlebte der Patient die Ängste der Frauen: Dabei stabilisierte sich sein angeschlagenes Selbstwertgefühl wenigstens für kurze Zeit. Im Rahmen der Therapie wurde neben der genauen Analyse der Verhaltenskette und der Auslöser ein besonderes Augenmerk auf die Erarbeitung von alternativen Verhaltensweisen und auf die Stärkung der Selbstkontrolle in kritischen Situationen gerichtet, ebenso auf den Abbau sozialer Defizite und den Aufbau sozialer Kompetenz.
3.5.4.5 Voyeurismus F65.3 Der Voyeurismus („Schaulust“) bezeichnet ein Verhalten, bei dem wiederholt oder ständig eine sexuelle Erregung und Befriedigung (durch Masturbation) an die heimliche Beobachtung von Personen in unbekleidetem Zustand oder beim Geschlechtsverkehr gebunden ist. Bei vielen Voyeuren ist eine Tendenz zu sozio-sexueller Unterentwicklung vorhanden: Sie ziehen aus unterschiedlichen Gründen (z. B. Hemmungen, versteckte sadistische Neigungen) das anonyme Zuschauen der aktiven Gestaltung des Sexuallebens vor. Das voyeuristische Verhalten beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und tritt überwiegend bei Männern auf. 3.5.4.6 Sadomasochismus F65.5 Unter sexuellem Sadismus wird eine Neigung verstanden, bei der die sexuelle Befriedigung nur dann erreicht wird, wenn der Geschlechtspartner beherrscht oder gedemütigt wird. Sexueller Masochismus ist das sexuell erregende Verlangen, vom Sexualpartner beim Geschlechtsakt beherrscht, überwältigt oder erniedrigt zu werden. Sadomasochistische Deviationen treten meist kombiniert auf, die Partner gehen entsprechende Arrangements ein. Meist ist es der Masochist, der die sadistischen Aktivitäten seines Sexualpartners kontrolliert. Es wird zwischen einem „inklinierenden“ und einem „nicht inklinierenden sexuellen Sadomasochismus“ unterschieden (Fiedler 2004): Beim „inklinierenden Sadomasochis285
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mus“ besteht ein Einvernehmen bzgl. der sexuellen Handlungen zwischen den beiden Partnern. Der sexuelle Sadismus als Paraphilie ergibt sich dann, wenn sexuelle Aktionen ohne die Bereitschaft und Zustimmung der zweiten Person gesetzt werden, sodass sich diese als unfreiwilliges Sexualobjekt erlebt und gegen ihren Willen sexuell missbraucht und misshandelt wird („nicht inklinierender Sadismus“). Ausgeprägte Formen von sexuellem Masochismus sind selten, ein geringer Ausprägungsgrad kommt auch bei der sonst „normalen“ Sexualität zur Steigerung der sexuellen Erregung vor. Viele sadistische bzw. masochistische Praktiken spielen sich nur in der Fantasie ab und werden nicht in die Realität umgesetzt. Es wird geschätzt, dass etwa 5–10 % der Menschen sich irgendwann in ihrem Leben für kürzere oder längere Zeit masochistisch betätigen, während ein größerer Teil sich nur in der Fantasie masochistischer Praktiken bedient, besonders bei der Masturbation. Sadomasochismus findet sich in allen Gesellschaftsschichten und wird großteils in entsprechenden Klubs ausgelebt. Die Versuche, den Ursprung des Sadomasochismus zu klären, sind spekulativ. Das Bedürfnis der Dominanz, die psychologische Bedeutung der Passivität, die Sexualisierung von Ärger und der erregende Effekt von Schmerzen in bestimmten Situationen scheinen hier zusammenzuwirken. 3.5.4.7 Sodomie F65.8 Sexuelle Handlungen an Tieren oder deren Vorstellung sind bei diesem Störungsbild die bevorzugte oder ausschließliche Methode zur Erlangung sexueller Erregung. Bei diesen Devianten handelt es sich meist um Oligophrene oder um schwer gehemmte oder gestörte junge Männer, die aus inneren Motiven oder äußeren Umständen unfähig sind, sexuelle Kontakte mit Frauen aufzunehmen. Häufig erfolgen die sexuellen Handlungen unter Alkoholeinfluss. 3.5.4.8 Nekrophilie F65.8 Die Nekrophilie ist ein abartiges, auf Leichen ausgerichtetes sexuelles Triebverlangen bzw. eine Leichenschändung zum Zwecke der sexuellen Befriedigung. Es gibt eine große Palette nekrophiler Sexualdelikte: Während einige Täter eine sexuelle Erregung bzw. Befriedigung beim Anblick einer Leiche haben, vollziehen andere sexuelle Handlungen an diesen. Wieder andere verstümmeln die Leiche, bewahren Leichenteile auf oder verzehren einzelne Teile der Leiche (Kannibalismus). 3.5.4.9 Frotteurismus F65.8 Unter Frotteurismus versteht man die wiederholte starke Erregung, die durch das Pressen und Reiben des eigenen Körpers an anderen Menschen, die mit der Handlung nicht einverstanden sind, hervorgerufen wird. Dazu zählt auch das Berühren der Brüste und Genitalien anderer Menschen. Frotteure sind fast ausschließlich Männer, die ihre Opfer im Gedränge großer Menschenmassen suchen. Wie bei den Exhibitionisten handelt es sich bei diesen Menschen meist um selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörungen, die aufgrund ihrer sozialen Defi zite nicht in der Lage sind, auf „normalem“ Weg in Kontakt mit Frauen zu kommen.
286
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3.5.5 Therapie der Störungen der Sexualpräferenz Nur bei einem kleinen Teil der sexuell Devianten besteht der Wunsch nach Beratung bzw. Behandlung. Erst Partnerkonflikte und Selbstwertkrisen, die sich sekundär aus der Devianz ergeben, oder die von einem Gericht veranlasste Behandlung motivieren die Betroffenen zur Aufnahme einer Therapie. Folgende Voraussetzungen sind für eine Beratung notwendig: • umfassende Abklärung der zugrunde liegenden Problematik; • Objektivierung unrealistischer Erwartungshaltungen; • Beurteilung der Motivation zur Veränderung; • wertfreie Aussprachemöglichkeit mit dem Arzt oder Überweisung an einen Spezialisten; • Erörterung der Möglichkeiten einer teilweise Akzeptanz der Deviation durch den Betroffenen (z. B. können bei Fetischismus bestimmte Praktiken in das Sexualleben eingebaut werden, wenn mit dem Sexualpartner ein Kompromiss gefunden werden kann). Psychotherapeutische Verfahren wie Einzel-, Paar- und Gruppentherapie können erhebliche Hilfe vermitteln. Psychodynamisch fundierte verhaltenstherapeutische Techniken zur Förderung der Selbstkontrolle haben in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Psychopharmaka, vor allem Antipsychotika und Antidepressiva, werden bei sexuellen Deviationen aufgrund ihrer dämpfenden Wirkung angewandt, der triebreduzierende Effekt ist jedoch häufig unzureichend. Den Antiandrogenen (Cyproteronacetat), die eine kompetitive Blockade endo- und exogener Androgene an allen androgensensiblen Rezeptoren bewirken, kommt zur reversiblen Dämpfung des Sexualtriebes bei bestimmten Indikationen eine größere Bedeutung zu. Eine neue pharmakologische Möglichkeit stellt die Gabe des GnRH-Agonisten Zoladex dar, einem Präparat, welches zur palliativen Therapie des Prostata-Karzinoms bereits erfolgreich eingesetzt wird. Das Ziel der Therapie mit diesem Medikament ist dabei die Unterdrückung der Bildung nachgeschalteter hypophysärer Hormone mittels Rückkoppelung. Diese Behandlungsverfahren werden langfristig eingesetzt und sind generell mit sozio- und psychotherapeutischen Maßnahmen zu kombinieren.
3.6
Psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung F66
In diesem Kontext werden Störungen klassifiziert, bei denen die sexuelle Orientierung an sich nicht als Störung angesehen wird, aber von den betroffenen Personen als problematisch erlebt wird. Hier kommt es, meist bei Adoleszenten, die sich ihrer sexuellen Orientierung nicht sicher sind, häufig zu Ängsten oder Depression. Im Rahmen einer Änderung der sexuellen Orientierung, z. B. aus einer heterosexuellen in eine bisexuelle, können auch derartige Störungen entstehen (sexuelle Reifungskrise, F66). 287
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Auch wenn die sexuelle Identität und Orientierung klar ist, kann der Wunsch, diese verändern zu wollen, zu psychischen und Verhaltensstörungen führen. Desgleichen können Geschlechtsidentität und/oder Sexualpräferenz zu partnerschaftlichen Schwierigkeiten führen.
Weiterführende Literatur Buddeberg K (2005) Sexualberatung. Th ieme, Schorsch E (1985) Perversion als Straftat. SprinStuttgart ger, Berlin Heidelberg New York Fiedler P (2004) Sexuelle Orientierung und se- Sigusch V (2007) Sexuelle Störungen und ihre xuelle Abweichung. Beltz PVA, Weinheim Behandlung. Thieme, Stuttgart Kockott G, Fahrner EM (2004) Sexualstörungen. Th ieme, Stuttgart
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4
Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett F53 Claudia Kohl
4.1
Definition
Unter dieser Diagnosegruppe werden psychische Erkrankungen subsumiert, die innerhalb von sechs Wochen nach einer Entbindung beginnen und nicht die Kriterien für andere klassifizierte Störungen erfüllen. Abhängig vom Schweregrad der Symptome hat sich eine Einteilung in drei verschiedene Störungsbilder etabliert: • Postpartum Blues (stellt keine eigentliche Erkrankung dar und kann im ICD-10 nicht klassifiziert werden). • Postnatale Depression (oder Postpartum Depression, leichte psychische oder Verhaltensstörung im Wochenbett, F53.0). • Puerperalpsychose (schwere psychische oder Verhaltensstörung im Wochenbett, F53.1)
4.2
Epidemiologie
Mit 30–75 % hat der sogenannte Postpartum Blues die höchste Prävalenz der Wochenbettstörungen. Eine postpartale Depression entwickeln 9–15 % der jungen Mütter, das entspricht damit der Prävalenz depressiver Störungen von Frauen in der Allgemeinbevölkerung. Das Auft reten von psychotischen Symptomen kommt mit 0,1–0,2 % relativ selten vor.
4.3
Ätiologie
Tryptophan spielt eine wichtige Rolle in der Schwangerschaft (eine lokale Tryptophandepletion verhindert die Abstoßung des allogenen Feten) und ist somit in die Pathogenese der Depression involviert. Veränderungen dieser Aminosäure unmittelbar nach der Geburt sind mit der Entstehung von Postpartum Blues, aber nicht mit postnataler Depression assoziiert. Trotz der ausgeprägten hormonellen Umstellung nach der Entbindung scheint diese als Ursache für psychische Störungen im Wochenbett eher nicht infrage zu kommen. Psychosoziale Faktoren (schlechte soziale Einbindung und mangelhafter Zusammenhalt mit dem Partner) erhöhen das Risiko für die Entwicklung depressiver Symptome nach der Geburt. Die wichtigsten Prädiktoren stellen frühere depressive Episoden, frühere psychische Störungen im Wochenbett und depressive Symptome in der Schwangerschaft dar.
289
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4.4
Symptomatik
Die Symptome des Postpartum Blues sind leicht und umfassen Stimmungslabilität, Weinerlichkeit, aber auch Euphorie, Überempfindlichkeit, Schlaflosigkeit und Ängste, den neuen Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Dieser Symptomenkomplex beginnt unmittelbar nach der Geburt, erreicht einen Gipfel am 4./5. Tag postpartal und klingt innerhalb von 10 Tagen vollständig ab. Die Symptome der postnatalen Depression entsprechen den Symptomen depressiver Störungen außerhalb des Wochenbetts mit gedrückter Stimmung, Interessensverlust, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs, der Konzentration und des Selbstwerts, Schuldgefühlen, Biorhythmusstörungen und Suizidgedanken. Die Puerperalpsychose bezeichnet die schwerste Ausprägung psychischer Störungen im Wochenbett. Die Patientinnen zeigen meist eine schwere depressive oder manisch angehobene Stimmungslage mit Wahnsymptomen und Halluzinationen und als Komplikation die Gefahr der Vernachlässigung des Kindes und ein erhöhtes Suizidund Infantizidrisiko. Seltener ist erweiterter Suizid, ein Suizid nach Tötung des Neugeborenen.
4.5
Diagnostik
Da in unserer Gesellschaft ein Bild von jungen Müttern vorherrscht, die glückselig und entzückt ihr Kind im Arm halten, werden psychische Beschwerden von den betroffenen Müttern oft auch vor Familie und Freunden verschwiegen und von Ärzten häufig nicht diagnostiziert. Eine psychische Erkrankung stellt jedoch für die Mutter eine enorme Belastung dar und hat auch einen negativen Einfluss auf die MutterKind-Beziehung: Sie kann damit die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. Ein gutes Screening – vor allem von Frauen mit erhöhtem Risiko – und die frühzeitige Diagnose einer postpartalen psychischen Störung sind deshalb sehr wichtig und verlangen eine gute Kooperation zwischen Pädiatern, Gynäkologen und Psychiatern.
4.6
Therapie
Frauen, die in den Tagen unmittelbar nach der Geburt Symptome eines Postpartum Blues entwickeln, benötigen keine spezifische Therapie. Wichtig ist aber diese Mütter darüber aufzuklären, ihnen vermehrt Zuwendung und Unterstützung zu geben und den weiteren Verlauf zu beobachten. Frauen, die depressive Symptome im Wochenbett entwickeln, sollten unbedingt behandelt werden. Während bei leichteren Symptomen psychosoziale Maßnahmen und psychotherapeutische Interventionen im Vordergrund stehen, ist bei schwereren Verläufen auch eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva indiziert. Für Frauen, die nicht stillen, gelten dieselben Therapieempfehlungen und Dosierungen wie für
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Frauen außerhalb des Wochenbetts. Da alle Psychopharmaka in die Muttermilch übergehen, benötigt die medikamentöse Therapie von Frauen, die weiter stillen möchten, ein besonders gute individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung und sorgfältige Auswahl des Medikaments sowie eine entsprechende Aufk lärung der Patientin und ihrer Angehörigen. Bei schweren Verlaufsformen, zum Beispiel bei Auftreten von Suizidgedanken, kann auch eine stationäre Aufnahme erforderlich sein, bevorzugt in speziellen Mutter-Kind-Einheiten. Frauen, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer psychischen Störung im Wochenbett haben, sollten schon während der Schwangerschaft ausreichend Information und verstärkte psychosoziale Unterstützung erhalten. Eine prophylaktische Behandlung mit Antidepressiva sollte unmittelbar nach der Entbindung erwogen werden. Die Therapie einer Puerperalpsychose erfordert in der Regel eine stationäre Behandlung, wobei auch hier, wenn immer möglich, eine Mitaufnahme des Kindes in einem multidisziplinären Team anzustreben ist. Im Vordergrund steht die psychopharmakologische Therapie mit hochpotenten Antipsychotika, zusätzlich kann eine anxiolytische Therapie mit Benzodiazepinen und/oder eine antidepressive Therapie notwendig sein. Nach dem Abklingen der akut psychotischen Symptome sind psychoedukative Methoden und soziale Unterstützung zur Stärkung der Mutter-Kind-Beziehung wichtig.
4.7
Prognose
Erfreulicherweise haben psychische Störungen im Wochenbett einen günstigen Verlauf. Allerdings ist das Rezidivrisiko vor allem für die Puerperalpsychose nach weiteren Entbindungen mit 25 % recht hoch und sollte bei nachfolgenden Schwangerschaften berücksichtigt werden.
Weiterführende Literatur Fallahpour MH, Zinkernagel C, Frisch U, Neuhofer C, Stieglitz R-D, Riecher-Rössler A (2005) Was Mütter depressiv macht … und wodurch sie wieder Zuversicht gewinnen: Ein Therapiehandbuch. Verlag Huber, Bern Kemp B, Bongartz K, Rath W (2003) Postpartale psychische Störungen – ein unterschätztes Problem in der Geburtshilfe. Z Geburtsh Neonatol 207: 159–165
Kohl C (2003) Generationspsychosen: Die Reaktion von Frauen und Männern auf Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit. Neuropsychiatrie 17: 130–133 Reck C (2007) Postpartale Depression: Mögliche Auswirkungen auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion und Ansätze zur psychotherapeutischen Behandlung. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiat 56: 234–244
291
Kapitel 8
Persönlichkeitsstörungen (ICD-10 F6) Hans-Peter Kapfhammer
1
Einleitung
Das Konzept der Persönlichkeitsstörung steht im Schnittpunkt sehr unterschiedlicher Begriffe, die jeweils auf heterogene theoretische Kontexte verweisen. Persönlichkeit drückt die Summe von zeitlich überdauernden Eigenschaften und Verhaltenstendenzen aus, die einem Menschen seine ganz charakteristische und einmalige Individualität verleihen. Die relative Zeitstabilität dieser Persönlichkeitsmerkmale stellt sich als integratives Ergebnis einer genetisch vermittelten Disposition, einer Reifung in biologischen Programmen sowie einer biografischen Entwicklung in psychosozialen Kontexten dar. Die Persönlichkeit eines Individuums lässt sich in einzelnen Persönlichkeitsmerkmalen sowie in definierten Grunddimensionen, aber auch mit den Persönlichkeiten anderer Individuen vergleichen. Persönlichkeitspsychologie einerseits und differenzielle Psychologie andererseits setzen sich mit diesen Aspekten der Einmaligkeit versus Vergleichbarkeit von Persönlichkeiten wissenschaft lich auseinander. Temperament bezeichnet konstitutionell verankerte Dispositionen zu willentlichen, emotionalen und triebhaften Reaktionsweisen eines Individuums. Psychobiologie und Neurobiologie sind seine theoretischen Bezugssysteme. Charakter wiederum meint die in psychosozialen Lernkontexten im Laufe einer individuellen Entwicklung erworbene Gesamtheit von überdauernden Haltungen, Einstellungen, Zielen, Handlungsstilen einer Person. Entsprechend tragen Entwicklungs-, Lern- und Sozialpsychologie, aber auch psychodynamische Modelle wissenschaft liche Erkenntnisse bei.
2
Historische Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen
Das Konzept der Persönlichkeitsstörung nimmt seit den Anfängen der modernen Psychiatrie eine bedeutsame Rolle ein. Die Geschichte der sukzessiv in das wissenschaftliche Denken der Psychiatrie einfließenden theoretischen Modellvorstellungen zu Persönlichkeitsstörungen ist wechselhaft, sie hat in den aufeinanderfolgenden offiziellen Klassifi kationssystemen Niederschlag gefunden (Bronisch et al. 2008). Kraepelin verwendete das Konzept der „psychopathischen Zustände“ in den verschiedenen Ausgaben seines Lehrbuchs ab 1883. Der Begriff der „psychopathischen Persönlichkeit“ erschien erstmals in der 7. Auflage (1903–1904). Er meinte hier in erster Linie Persönlichkeiten mit dissozialen Verhaltensweisen. Daneben bezog sich Kraepe-
293
Hans-Peter Kapfhammer
lin aber auch auf Zustände anhaltender Verstimmungen und konstitutioneller Unruhe, in denen er Dispositionen für Depression, Manie und zyklothymer Erregtheit erblickte. Von Kretschmer (1921) stammt eine Konstitutionstypologie mit Korrelationen zwischen dem Körperbau und der Persönlichkeit. Die von ihm herausgestellten pyknischen, leptosomen und athletischen Konstitutionen mit den angenommenen Verbindungen zu bestimmten Charaktereigenschaften konnten aber in weiteren empirischen Untersuchungen nicht bestätigt werden. Von großer klinischer Bedeutung war die Monografie von K. Schneider (1923) über „die psychopathischen Persönlichkeiten“. Er favorisierte einen deskriptiv-symptomatologischen Ansatz, der Persönlichkeitseigenschaften an einer nicht näher bestimmten statistischen Norm beurteilte. „Abnorme Persönlichkeiten“ zeichneten sich demnach zunächst nur durch ein bedeutsames Abweichen in einigen Charaktereigenschaften von dieser vorgestellten Norm aus. Eine psychopathologische Relevanz erlangte diese „Abnormität“ erst, wenn durch diese außergewöhnlichen Persönlichkeitsmerkmale ein subjektives Leiden oder aber eine Störung der sozialen Beziehungen resultierten. In diesem wertneutralen Beschreibungsansatz von Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen übte K. Schneider einen prägenden Einfluss auch auf die verschiedenen Fassungen psychiatrischer Klassifi kationssysteme bis in die Gegenwart aus. Im Versuch einer operationalen Definition von Persönlichkeitsstörung betonen die beiden aktuellen Klassifikationssysteme von ICD-10 und DSM-IV-TR dauerhafte innere Erfahrungs- und Verhaltensmuster, die im Vergleich zu einer soziokulturellen Norm charakteristisch in Kognition, Affektivität und zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung abweichen. Diese Abweichung definiert sich über eine Unflexibilität und Unangepasstheit in vielen persönlichen und sozialen Situationen. Hieraus können sowohl ein bedeutsames subjektives Leiden als auch nachteilige Folgen für die soziale Umwelt erwachsen. Die Rigidität und Unangemessenheit im Erleben und Verhalten zeigt bereits Anzeichen in der frühen individuellen Entwicklung, beginnt sich zunehmend deutlicher in den Adoleszenzjahren zu artikulieren und besteht im Erwachsenenalter langfristig fort.
3
Persönlichkeitsstörung zwischen kategorialer und dimensionaler Betrachtung
In der wissenschaft lichen Diskussion drückt sich eine konzeptuelle Spannung zwischen einer kategorialen Betrachtungsweise einerseits und einer dimensionalen anderseits aus. In Übereinstimmung mit der auch sonst in der Medizin vorherrschenden Systematisierung von Krankheiten zielen Kategorien von Persönlichkeitsstörungen auf qualitativ abgesetzte psychopathologische Entitäten, die typologisch charakterisiert werden können. Eine andere Denkrichtung konzeptualisiert Persönlichkeitsstörungen wiederum als Extremvarianten von normalen Persönlichkeitszügen, deren Ausprägungen sich quantitativ auf einzelnen Dimensionen erfassen lassen. Die aktuellen diagnostischen Klassifi kationssysteme in der Psychiatrie folgen in ihrer betont deskriptiven, d. h. weitgehend von theoretischen Vorannahmen freien
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Persönlichkeitsstörungen | 8
Ausrichtung nach wie vor einem kategorialen Ansatz. Sowohl ICD-10 als auch DSMIV-TR orientieren sich an einer prototypischen Perspektive. D. h., sie fordern den diagnostischen Abgleich mit der idealtypischen Beschreibung einer bestimmten Persönlichkeitsstörung, die wesentlich über eine Anzahl von diagnostischen Kriterien festgelegt ist. Lediglich eine Mindestanzahl von Kriterien muss für die kategoriale Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vorliegen. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die im ICD-10 und DSM-IV-TR enthaltenen Persönlichkeitsstörungen. Der DSM-Auflistung liegt eine Clusterbildung zugrunde, die theoretisch eine Assoziation von Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen zum schizophrenen Störungsspektrum, von Cluster-B- und Cluster-C-Persönlichkeitsstörungen aber zu affektiven bzw. Angststörungen annimmt. Da die diagnostischen Kriterien für die einzelnen Persönlichkeitsstörungen letztlich aus einem Expertenurteil stammen, in der Regel keine weitere Außenvalidierung besitzen und häufig große konzeptuelle Überlappungen aufweisen, ist es möglich, dass einzelne Patienten wenig zielführend mehrere „komorbide“ Persönlichkeitsstörungen gleichzeitig diagnostiziert bekommen können. Ferner ist zu bedenken, dass zahlreiche diagnostische Kriterien für Persönlichkeitsstörungen explizit nicht definierte Persönlichkeitsmerkmale beschreiben, sondern stattdessen psychopathologische Symptome anzeigen, die wiederum auf primäre psychische Störungen verweisen können. Tabelle 1
Gegenüberstellung der in ICD-10 und DSM aufgeführten Persönlichkeitsstörungen
ICD-10
DSM-IV-TR
Paranoide PS
Paranoide PS
Schizoide PS
Schizoide PS
*
Schizotypische PS
Dissoziale PS
Antisoziale PS
Emotional instabile PS
Borderline-PS
Cluster
A
Borderline-Typus B Impulsiver Typus Histrionische PS
Histrionische PS
**
Narzisstische PS
Ängstliche (Vermeidende) PS
Selbstunsicher-vermeidende PS
Abhängige PS
Abhängige PS
Anankastische PS
Zwanghafte PS
C
* Schizotype Störung als Achse I – Störungen bei den schizophrenen Störungen. ** Nur im Anhang der ICD-Forschungskriterien aufgeführt.
Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die mittlerweile in der Literatur vorliegenden über 60 unterschiedlichen Messinstrumente zur diagnostischen Erfassung von Persönlichkeitsstörungen durch klinische Interviews, Checklisten und 295
Hans-Peter Kapfhammer
Selbstfragebögen untereinander nur eine sehr unzufriedenstellende Reliabilität und Übereinstimmung aufweisen (Tyrer et al. 2007). Einen Ausweg bieten möglicherweise dimensionale Ansätze in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. Sie fußen auf einer breiten Basis psychologischer Forschung zur allgemeinen Struktur der Persönlichkeit. Diese zielen auf eine Beschreibung von Persönlichkeit in einer Gesamtheit distinkter Persönlichkeitszüge. Sie beschränken sich also nicht nur auf potenziell klinisch relevante Merkmale. Es liegen mehrere empirisch fundierte dimensionale Persönlichkeitsmodelle vor. Die bekanntesten sind: • Das 5-Faktoren-Modell („Big Five“-Modell) von Costa und McCrae (1992) mit den grundlegenden Dimensionen von Extraversion, Neurotizismus, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen; • Das 7-Faktoren-Modell von Cloninger et al. (1993), das 4 Temperamentsdimensionen der Schadensvermeidung, des Neugierverhaltens, der Belohnungsabhängigkeit und des Beharrungsvermögens mit 3 Charakterdimensionen der Selbstlenkungsfähigkeit, Kooperativität und Selbsttranszendenz kombiniert.
4
Epidemiologie der Persönlichkeitsstörungen
In den großen epidemiologischen Studien von ECA (Epidemiologic Catchment Area Study) und NCS (National Comorbidity Survey) waren die Häufigkeiten von Persönlichkeitsstörungen (Ausnahme: antisoziale Persönlichkeitsstörung) noch nicht erfasst worden. Trotzdem existieren andere Untersuchungen zur Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung. Sie zeigen Raten zwischen 6,7 % (Lenzenweger et al. 1999), 9 % (Samuels et al. 2002) und 14,6 % (Zimmermann und Coryell 1989) in den USA, 13 % (Torgersen et al. 2001) in Norwegen und 4,4 % in einer neueren britischen Untersuchung (Coid et al. 2006). Eine deutsche Studie führte zu einer Prävalenzschätzung von 9,4 % (Maier et al. 1992). Eine Gegenüberstellung der Diagnosenhäufigkeiten nach DSM-IV- und ICD-Kriterien zeigt Tabelle 2.
296
Persönlichkeitsstörungen | 8
Tabelle 2 Prävalenzraten von Persönlichkeitsstörungen in der Eastern Baltimore Study ICD-10
Gewichtete Prävalenz (%)
DSM-IV
Gewichtete Prävalenz (%)
Paranoid
0.3 (0.1)
Paranoid
0.7 (0.4)
Schizoid
1.1 (0.6)
Schizoid
0.9 (0.5)
Schizotypisch
0.6 (0.2)
Cluster A
2.1 (0.7)
Emotional-instabil (B)
0.1 (0.1)
Borderline
Emotional-instabil (I)
0.9 (0.3)
Narzisstisch
0.003 (0.03)
0.05 (0.04)
Histrionisch
0.2 (0.1)
Antisozial
4.1 (1.2)
Histrionisch Dissozial
2.3 (0.8) Cluster B
0.5 (0.3)
4.5 (1.2)
Anankastisch
0.8 (0.4)
Zwanghaft
0.9 (0.5)
Ängstlich (Vermeidend)
0.2 (0.1)
Selbstunsicher-vermeidend
1.8 (1.3)
Abhängig
0.1 (0.1)
Abhängig
0.1 (0.1)
Cluster C Persönlichkeitsstörungen insgesamt
5.1 (1.1)
2.8 (1.4) Persönlichkeitsstörungen insgesamt
9.0 (2.0)
(Samuels et al. 2002)
Die Häufigkeit von koexistenten Persönlichkeitsstörungen bei Patienten mit unterschiedlichen psychischen Störungen und psychiatrischem Behandlungskontext liegt noch um ein Vielfaches höher (Herpertz et al. 1994; Oldham et al. 1992; Loranger et al. 1994; Zimmerman et al. 2005). In einer geschlechtsdifferenziellen Perspektive zeichnet sich in einigen Studien ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen (Maier et al. 1992; Torgersen et al. 2001), in anderen Untersuchungen eine höhere Prävalenz unter Männern ab (Samuels et al. 2002). Bei letzterer Studie ist allerdings die sehr hohe Prävalenzrate von ca. 4 % antisozialer Persönlichkeitsstörungen zu beachten, die in 80 % von Männern eingenommen wurde. In einem klinischen Versorgungskontext sind wiederum die Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung bis zu 80 % weiblich (Paris 2003). Eine epidemiologische wie auch klinische Herausforderung stellt die häufige psychische Komorbidität bei Persönlichkeitsstörungen dar. Diese betrifft einerseits das zusätzliche Vorliegen noch anderer Persönlichkeitsstörungen. In der National Register of Oslo Study litten 13,4 % aller Probanden an mindestens einer Persönlichkeitsstörung. Davon hatten 71 % eine Persönlichkeitsstörung, 18,6 % erfüllten die diagnostischen Kriterien von zwei, 5,2 % von drei und 5,2 % von vier bis sieben Persönlichkeitsstörungen (Torgersen et al. 2001). Auch in der MIDAS-Studie (Rhode Island Methods to Improve Diagnostic Assessment and Services) hatten 60,4 % der Patienten mit einer
297
Hans-Peter Kapfhammer
spezifischen Persönlichkeitsstörung mehr als eine Persönlichkeitsstörung (Zimmerman et al. 2005). Der Komorbiditätsaspekt betrifft andererseits das gleichzeitige Vorkommen von Persönlichkeitsstörungen und anderen psychischen Störungen. Alle Persönlichkeitsstörungen scheinen besonders mit Abhängigkeitserkrankungen, depressiven, Angst-, Zwangs-, somatoformen, Ess-, Schlaf- und sexuellen Störungen assoziiert zu sein. 30 % bis 50 % aller ambulanten Patienten und bis zu 65 % der stationären Patienten weisen diese Form von psychischer Komorbidität auf (Zimmerman et al. 2005). Auch unabhängig von den ungelösten konzeptuellen und messmethodischen Problemen sind diese Komorbiditätsaspekte von großer Versorgungsrelevanz. • So wird durch die Zusatzdiagnose Persönlichkeitsstörung der allgemeine Krankheitsverlauf von psychischen Störungen in aller Regel negativ beeinflusst. Die Chancen eines Ansprechens auf verfügbare Therapiemaßnahmen können entscheidend gemindert werden (Khan et al. 2005; Kool et al. 2005; Mulder 2002; Mulder et al. 2006; Tyrer et al. 1997). • Oft sind es gerade komorbide psychische Störungen wie depressive, Angst- oder Substanzabhängigkeitsstörungen, die der Grund für die Kontaktaufnahme von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen mit dem Gesundheitssystem sind und das Krankheitsverhalten bestimmen (Cramer et al. 2006; Newton-Hows et al. 2006; Zanarini et al. 2004). • Patienten mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen wie Borderline-, narzisstischer oder dissozialer Persönlichkeitsstörung zeigen ferner ein signifikant erhöhtes Suizidrisiko, das bei komorbiden psychischen Störungen noch weiter ansteigt (Paris 2003). • Und auch das Ausmaß der somatischen Morbidität und damit assoziiert auch der Mortalität wird durch Persönlichkeitsstörungen nachteilig beeinflusst (Moran et al. 2007; Frankenberg und Zanarini 2006). • Die mit einigen Persönlichkeitsstörungen, v. a. der dissozialen Persönlichkeitsstörung korrelierte Tendenz zu gefährlichen fremdaggressiven Verhaltensweisen definiert eine besondere Herausforderung für Justiz- und Gesundheitsbehörden gleichermaßen (Tyrer und Mulder 2006).
5
Ätiopathogenetische Modelle von Persönlichkeitsstörungen
Die in der Literatur akzeptierten Modelle zur Entstehung von Persönlichkeitsstörungen sind auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen anzusiedeln. Sie sind keineswegs exklusiv zu betrachten. Einzelne theoretische Perspektiven sind in sich auch nicht homogen zu verstehen. Häufig umfassen sie sehr unterschiedliche theoretische Ansätze, die fortlaufend modifiziert werden. Nicht alle im Folgenden aufgeführten Modelle sind in einem strikten kausalen Sinne als ätiologisch zu bezeichnen. Vielmehr verweisen sie überwiegend auf allgemeine Einflussfaktoren und beschreiben Entwicklungsfolien, die zum Verständnis grundlegender Aspekte in der psychologischen,
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Persönlichkeitsstörungen | 8
interpersonalen und psychosozialen Organisation von Persönlichkeitsstörungen beitragen. Differenzielle ätiopathogenetische Einblicke können in erster Linie von neurobiologischen Ansätzen erwartet werden. Integrative Ätiologiemodelle, die auf das Zusammenwirken von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren fokussieren, sind daher zu fordern (Abb. 1).
Abb. 1
5.1
Persönlichkeit – Temperament, Persönlichkeitszüge, Persönlichkeitsstörungen in einem biopsychosozialen Modell (nach: Paris 2003)
Psychodynamisches Modell
Der psychoanalytische Denkansatz fokussiert zunächst auf eine Dimension unbewusster Konflikte hinter offenkundigen Erlebnis- und Verhaltensweisen eines Individuums. Im Hinblick auf die Entstehung einer Persönlichkeitsstruktur können diese Konflikte, wenn sie nicht traumatischer Natur sind, über eine erfolgreiche Abwehr – meist über Reaktionsbildungen oder Sublimierungen – zu typischen Verarbeitungsstilen dieser Person werden. Diese assimilativ-defensive Umformung von zentralen Konflikterfahrungen zu synton erlebten Merkmalen der Persönlichkeit kennzeichnet das traditionelle psychoanalytische Konzept der „Charakterneurose“. Im Laufe der Entwicklung können aber die verinnerlichten, zu Strukturen verdichteten Selbst- und Beziehungserfahrungen Kernaspekte einer Persönlichkeit selbst massiv irritieren. Bei schweren Persönlichkeitsstörungen stehen vorrangig strukturelle Defizite einer Persönlichkeitsorganisation im Mittelpunkt der psychodynamischen Betrachtung. Eine psychoanalytische Überzeugung besagt, dass entscheidende strukturelle Defizite bereits während früher Abschnitte der Individualentwicklung erworben werden. Das Strukturniveau einer Persönlichkeit kann im Hinblick auf Integration, Differenzierung und Regulation bestimmt werden. 299
Hans-Peter Kapfhammer
• Die Dimension der Integration kann über das typische Bild einer Person von sich selbst, über seine Fähigkeit, sich in die Innenwelt von anderen einzufühlen sowie über die Fähigkeit, Bilder von wichtigen Partnern emotional zu besetzen und hierüber stabile innere Beziehungen herzustellen, beschrieben werden. • Die Dimension der Differenzierung zielt auf eine sichere Unterscheidung von Selbst und Objekt, auf die Vielfalt der verfügbaren emotionalen Erlebnis- und Reaktionsmöglichkeiten und die Fähigkeit zu variablen Bindungen in unterschiedlichen äußeren Kontakten. • Die Dimension der Regulation stellt ein Gleichgewicht des Persönlichkeitssystems über Selbstwertregulation, Affekttoleranz und Affektexpression her. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen weisen in dieser Perspektive starke strukturelle Defi zite im Selbst und in der Objektwelt auf. Eine eingeschränkte Selbstreflexivität, ein inkonsistentes Selbstbild mit brüchigem Identitätsgefühl, eine mangelhafte Affektdifferenzierung mit reduzierter Affekt- und Impulskontrolle, vor allem Schwierigkeiten mit eigener Aggression, ein meist labiles Selbstwertgefühl sowie eine beeinträchtige Selbstfürsorge charakterisieren diese Patienten im Umgang mit sich selbst. Der Kontakt mit Personen der sozialen Umwelt ist hierdurch komplementär erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Eine ganzheitliche Objektwahrnehmung gelingt oft nicht. Typischerweise sind zentrale Bilder von sich selbst und wichtigen anderen nur ungenügend voneinander differenziert. Das Empathievermögen ist nur unzureichend, die Fähigkeit sich interpersonal in wichtigen Emotionen auszudrücken und verständlich zu machen, ist bedeutsam eingeschränkt. Auch ist die Internalisierungsfähigkeit, also das Vermögen aus Beziehungserfahrungen gewinnbringend zu lernen und erworbene Bilder als eine verlässliche innere Orientierung zu gebrauchen, nur rudimentär. Um zumindest ein prekäres Gefühl von sich selbst aufrechtzuerhalten, werden Bezugspersonen in grundlegende Abwehrprozesse direkt miteinbezogen. Die unterschiedlichen psychoanalytischen Modelle wie z. B. von M. Klein, M. Mahler, O. Kernberg, H. Kohut oder P. Fonagy fokussieren auf eher allgemeine entwicklungspsychologische bzw. entwicklungspsychopathologische Voraussetzungen für strukturelle Defizite in der Selbstorganisation und der grundlegenden Beziehungsfähigkeit, die schwere Persönlichkeitsstörungen kennzeichnen. Trotz großer theoretischer Unterschiede lassen sich einige Gemeinsamkeiten herausstellen (Kapfhammer 2007). Demnach ist die Entwicklungspsychopathologie von Persönlichkeitsstörungen psychodynamisch in den Kontext eines gestörten Bindungsprozesses zu stellen. Schwerwiegende Konflikte um die ungelösten Themen von „Trennung und Individuation“, von „Bindung und Autonomie“ einerseits, folgenreiche Traumatisierungen andererseits markieren typischerweise eine frühe Entwicklungsfolie. Diese negativen Interferenzen mit dem Bindungsprozess beeinträchtigen sowohl die Bildung eines reifen Selbstkonzeptes wie auch von realistischen Objektkonzepten. • Auf einer intrapsychischen Ebene gehen hiermit massive Defizite der Affektregulierung und Symbolisierungsfähigkeit einher. Das Affekterleben zeichnet sich durch eine hohe Alexithymie, eine verringerte Affekttoleranz und eine starke Polarisierung mit einem Überwiegen negativer Affekte aus. Selbstbezogen überwiegen Be300
Persönlichkeitsstörungen | 8
schämung, Demütigung, Stigmatisierung, Entfremdung, Gefühle der Prägung durch eine negative Umwelt und Unterwerfung gegenüber „inneren Objekten“. Der Innenwelt mangelt es in aller Regel an tragender subjektiver Bedeutsamkeit und selbstbestärkender Wertigkeit. Objektbezogene Affekte tragen einen ausgeprägt feindseligen, zuweilen verfolgenden oder aber unerreichbar idealisierten Charakter. Ein Coping mit und eine Abwehr von Konflikten und emotionalen Spannungen sind primitiv. • Auf einer interaktionellen Ebene wird verdeutlicht, dass die intrapsychischen Defizite meist eine unbedingte Angewiesenheit auf einen realen Beziehungskontakt mit einer Person notwendig machen. Beziehungsmodi sind typischerweise so angelegt, dass sie eine reife Bindung gerade verhindern, im Extremfall sogar zerstören. Viele selbst- oder objektgerichtete destruktive Verhaltensweisen müssen im Dienste einer Selbstregulation, einer Herstellung von Selbstkohärenz gesehen werden, auch wenn tragischerweise gerade dadurch die Chancen einer konstruktiven Verarbeitung weiter reduziert werden.
5.2
Traumamodell
Traumapsychologische Ansätze stellen eine wichtige Ergänzung zu psychodynamischen Modellen dar. Spätestens seit der Publikation von Herman et al. (1989) wird schwerwiegenden frühen Traumatisierungen ein eigenständiger ätiologischer Einfluss in der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen, speziell der Borderline-Persönlichkeitssstörung zugeschrieben. Hierbei erscheint zunächst bedeutsam, dass etwa 55–80 % der Borderline-Patienten in ihrer frühen Entwicklungsanamnese tief greifenden traumatisierenden Erfahrungen eines sexuellen, körperlichen oder emotionalen Missbrauchs ausgesetzt waren und ca. ein Drittel dieser Patienten gleichzeitig auch die strikten diagnostischen Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt (Sabo 1997). Im systematischen Vergleich mit anderen Persönlichkeitsstörungen wird eine besonders enge Assoziation zwischen Borderline-Persönlichkeitsstörung und frühen sexuellen Missbrauchserlebnissen als empirisch gesichert angenommen (Zanarini 2000). Dieser Zusammenhang stellt sich allerdings vorrangig in kleineren Patientensamples mit hospitalisierten Patienten dar. In allgemeinbevölkerungsgestützten Untersuchungen sind die Effektstärken deutlich geringer und belegen auch keine Assoziation zu spezifischen Traumaformen (Bierer et al. 2003). In einer epidemiologischen Perspektive gilt es grundlegend zu bedenken, dass ca. 80 % der Erwachsenen mit der Anamnese eines sexuellen Missbrauchs keine offenkundigen psychopathologischen Auff älligkeiten zeigen (Paris 1997). Ferner weisen ca. 40 % der Patienten mit der Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ keine relevante Traumaerfahrung in ihrer frühen Lebensgeschichte auf (Figueroa und Silk 1997). Und wiederum erfüllen von jenen Frauen, die unterschiedlichen Formen eines frühkindlichen sexuellen Missbrauchs ausgesetzt waren (Schätzung: ca. 34 %–62 %), nur ca. 2 % die diagnostischen Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Sabo 1997). Traumaexposition kann also lediglich als ein Faktor unter vielen anderen psy301
Hans-Peter Kapfhammer
chosozialen und neurobiologischen Variablen betrachtet werden und verweist auf ein komplexes Bedingungsmodell von Diathese und Stress. So kommt Temperamentseinflüssen, pathologischen familiären Umweltkonstellationen und spezifischen Bindungsmustern eine eigenständige Rolle zu. Trotz dieser empirisch notwendigen Korrektur einer Sichtweise, die Persönlichkeitsstörungen, speziell Borderline-Persönlichkeitsstörungen vorschnell als TraumaSpektrumsstörungen betrachtet, wird eine eigenständige traumatologische Perspektive in der Literatur nach wie vor als berechtigt und klinisch fruchtbar angesehen. Fonagy und Mitarbeiter (2002, 2003) verknüpfen in einem solchen multifaktoriellen Entwicklungsmodell von Persönlichkeitsstörungen verschiedene theoretische Ansätze, so Ergebnisse der Bindungsforschung, der soziokognitiven Entwicklung des Selbst, der Objektbeziehungstheorie, der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und der Traumaforschung. Ein wesentlicher Fokus liegt auf dem entwicklungspsychologischen Zusammenhang von frühen Bindungserfahrungen und Selbstentwicklung, von interpersonaler Affektregulation und Mentalisierung im Sinne einer selbstreflexiven Funktion und innerseelischen Symbolisierungsfähigkeit. Die Autoren belegen überzeugend, dass schwere, vor allem aber Borderline-Persönlichkeitsstörungen sich im Kontext unsicherer oder desorganisiert-desorientierender Bindungserfahrungen mit oft zahlreichen Traumatisierungen entwickeln.
5.3
Kognitives Modell
Kognitive Ansätze zu Persönlichkeitsstörungen gründen wesentlich im kognitiven Modell von A. Beck, die er zunächst für affektive und Angststörungen entwickelt und anschließend auch auf die speziellen Verhältnisse von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen angewendet hat (Beck und Freeman 1990). Vorstellungsbilder und Gedankengänge dokumentieren einen zentralen Stellenwert negativer Urteile über das Selbst, die Welt im Allgemeinen und die Zukunft im Besonderen. Diese „negative kognitive Trias“ identifiziert spezifische kognitive Störungen, die auf einer Verhaltensebene mit einer verringerten Selbstwirksamkeit, einer reduzierten Initiative zu positiv verstärkenden Handlungen, auf einer symptomatologischen Ebene mit typischen Symptomen einer emotionalen Dysregulation und Impulskontrollstörung einhergehen. Beck unterscheidet drei Ebenen kognitiver Prozesse und Strukturen, die eine bedeutsame Rolle im Erleben und Verhalten von Patienten spielen: • Auf einer kognitiven Oberflächenebene bestimmen automatische Gedanken die spontane Bewertung von Erfahrungen in der jeweiligen Situation. Sie können einer fokussierten Aufmerksamkeit leicht zugängig gemacht werden. Als innere Sätze begleiten sie auch die Erinnerung und Einschätzung vergangener Ereignisse. Typischerweise gruppieren sie sich um Themen von Wert losigkeit, Schuld, Inkompetenz, Niederlage, Deprivation, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Bedrohung, Demütigung, Missbrauch oder Vernichtung. Sie treten rasch auf und werden als implizites Wissen in aller Regel keiner weiteren kritischen kognitiven Überprüfung unterzogen. Sie stellen nicht so sehr Abbilder einer objektiven Realität dar, sondern drücken vielmehr einen nicht infrage gestellten subjektiven Bewertungsstil aus. 302
Persönlichkeitsstörungen | 8
• Diesen automatischen Gedanken haften eine Reihe logischer Fehler und kognitiver Verzerrungen an. Charakteristische Muster sind herauszuarbeiten, die störungsübergreifende und störungstypische Denkfehler erkennen lassen. Tabelle 3 stellt eine Reihe von solchen kognitiven Dysfunktionen zusammen, wie sie häufig bei Persönlichkeitsstörungen angetroffen werden können. • Automatische Gedanken und typische Denkstile verweisen auf weniger bewusstseinsfä hige kognitive Schemata. Als innere Modelle repräsentieren diese auf einer abstrakteren Ebene die grundlegenden Aspekte von Selbst und Umwelt. Sie erleichtern die Wahrnehmung, die Codierung und die Erinnerung an Informationen und gruppieren sie in übergeordnete Bedeutungsstrukturen. Als solche besitzen sie einen zentralen Anpassungswert für die psychosoziale Entwicklung. Individuelle Lebenserfahrungen können aber zu einer besonderen Rigidität dieser Schemata beitragen und Korrekturen durch neues Lernen behindern. Für Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen etwa werden als grundlegende Schemata aufgeführt: „verlassenes und missbrauchtes Kind“, „ärgerliches und impulsives Kind“, „distanzierter Beschützer“, „strafendes Elternteil“. Diese Schemata korrespondieren mit typischen Kernszenen vor allem der frühen Entwicklung. Ein typisches Fluktuieren zwischen diesen in der frühen Entwicklung verankerten Erlebniszuständen bei geringer Kontrollfähigkeit über den manchmal chaotischen Wechsel zwischen diesen Zuständen wird betont (Young et al. 2005).
303
Hans-Peter Kapfhammer
Tabelle 3 Häufige dysfunktionale kognitive Stile bei Persönlichkeitsstörungen Dichotomes Denken
typisches Schwarz-Weiß-Denken
Übergeneralisierung
aus einem besonderen Ereignis auf das Leben insgesamt verallgemeinert, statt dieses Ereignis als eines unter vielen zu betrachten
Selektive Abstraktion
ausschließliche Konzentration auf einen speziellen Aspekt in einer bestimmten Situation anstatt auf die Komplexität aller vorhandenen Aspekte
Schlechtmachen
positive Aspekte, die einer negativen Gesamtsicht widersprechen würden, übergehen und die negativen überbetonen
Gedankenlesen
Annahme, man wisse bereits, was andere Personen denken oder wie sie sich verhalten werden, ohne ausrechende Evidenz dafür
Zukunftsdeutung
Reaktionsweisen, als ob Erwartungen über die Zukunft bereits ausgemachte Fakten seien
Katastrophisierung
tatsächliche oder antizipierte Ereignisse als unerträgliche Katastrophen zu behandeln, statt sie in einer realistischen Perspektive zu bewerten
Maximierung/ Minimierung
Aspekte in einer Situation unabhängig von ihrer realen Bedeutung entweder als sehr wichtig oder aber als banal anzusehen
Emotionales Urteilen
Annahme, die verspürten Emotionen würden eine Situation notwendig wahr reflektieren; sich hoffnungslos fühlen bedeutet nicht unbedingt, dass eine Situation hoffnungslos ist
Soll-Sätze
„Soll“- und „Muss“-Sätze vermitteln selten eine echte Motivation für realitätsorientiertes Handeln
Selbst-Labeling
sich mit einem globalen Urteil versehen („ich bin ein Versager“) statt sich in der Bewertung auf die komplexen Aspekte einer Situation zu beziehen
Personalisierung
sich die Schuld an einer bestimmten Situation geben, auch wenn real andere Faktoren dafür verantwortlich sind
(nach: Pretzer und Beck 2005)
Moderne Entwicklungen in der Theorienbildung des kognitiven Ansatzes unterstreichen den Vor teil einer entwicklungspsychopathologischen Dimension sowie einer besonderen Beachtung zentraler Schemata in der Selbstorganisation und Objektbeziehungsfähigkeit. Es ergeben sich bedeutsame Querverbindungen sowohl zu psychodynamischen Modellen (Bateman und Fonagy 2004; Clarkin et al. 2006) als auch zu kognitiv-behavioralen Modellen (Linehan 1993).
5.4
Soziologisches Modell
Soziale Determinanten spielen in der wissenschaft lichen Diskussion der Persönlichkeitsstörungen auf vielen Ebenen eine bedeutsame Rolle. Ihre grundlegende Relevanz scheint zunächst auf, wenn im Fall der anti- oder dissozialen Persönlichkeitsstörung 304
Persönlichkeitsstörungen | 8
geradezu explizit ein fortlaufender Verstoß gegen soziale Spielregeln und Normen als diagnostisches Kernkriterium formuliert wird. Soziale Einflussfaktoren kommen ferner immer dann zum Tragen, wenn soziale Milieus mit erhöhten Risiken für Gewaltanwendung und Traumaexposition einhergehen oder gesellschaft liche Rahmenbedingungen die adaptiven Ressourcen von Familiensystemen und sozialen Gruppierungen überfordern und damit die Entwicklungsprozesse von Individuen langfristig negativ beeinflussen. Die Zusammenhänge sind aber keineswegs linear, sondern interaktiv zu konzeptualisieren (Paris 2003). In einem allgemeinen evolutionstheoretischen Zugang kommt das biosoziale Modell von Millon und Davis (1996) diesen komplexen Anforderungen insgesamt am nächsten.
5.5
Biologisches Modell
Die konzeptuelle und methodische Auft rennung einer Persönlichkeit nach dem Charakter als dem Resultat eines komplexen psychosozialen Lernprozesses einerseits, dem Temperament als den einer Persönlichkeit zugrunde liegenden neurobiologischen Prädispositionen und Vulnerabilitäten andererseits hat zu einer Reihe von anregenden psycho- bzw. neurobiologischen Persönlichkeitsmodellen geführt, unter denen jenes von Cloninger und Mitarbeitern (1993) am einflussreichsten ist. Es sieht in den vier Grunddimensionen der Neuigkeitssuche, der Schadensvermeidung, der Belohnungsabhängigkeit sowie der Persistenz die neurobiologische Grundstruktur eines individuellen Temperaments repräsentiert. Diesen vier Persönlichkeitsdimensionen wird nicht nur je ein dominantes Neurotransmittersystem zugeordnet. Es werden hieraus auch unmittelbare differenzielle psychopharmakologische Interventionen bei Störungen in den jeweiligen assoziierten Neurotransmittersystemen postuliert. Die bisherigen empirischen Resultate nicht zuletzt aus genetischen Studien bestärken allerdings nicht die Hypothese, dass eine bestimmte Temperamentsdimension nur in einem distinkten Neurotransmittersystem neurobiologisch verankert werden kann (Whittle et al. 2006). Der methodische Ansatz von Siever (2005), der auf eine endophänotypische Aufschlüsselung übergeordneter Dimensionen bei einzelnen Persönlichkeitsstörungen zielt, ist im Vergleich hierzu offener angelegt. Allerdings geht auch dieser Ansatz zunächst noch von der konzeptuellen Annahme nosologisch je zusammengehöriger Persönlichkeitsstörungen innerhalb eines Spektrums von primären psychischen Störungen aus, sowie sie der Clusterbildung von Persönlichkeitsstörung im DSM-IV-TR zugrunde liegt (Übersicht: Kapfhammer 2008).
5.6
Cluster A
Die neurobiologische Forschung in diesem Cluster hat sich bisher vorrangig auf die schizotypische Persönlichkeitsstörung konzentriert und folgt hierin weitgehend der theoretischen Annahme einer schizophrenen Spektrumsstörung. Patienten mit schi-
305
Hans-Peter Kapfhammer
zotypischer Persönlichkeitsstörung zeigen auff ällige Beeinträchtigungen in der Verarbeitung wichtiger sozialer Informationen, die affektiv-kognitiv wesentlich zu einer „theory of the mind“ beitragen. Störungen der sozialen Wahrnehmung lassen sich in definierten neurokognitiven Funktionen neuropsychologisch reliabel erfassen. Defizite hier scheinen im Vergleich mit schizophrenen Patienten subtiler zu sein und zur charakteristischen Exzentrizität und den interpersonalen Schwierigkeiten der schizotypischen Patienten beizutragen. Eine intermediäre Stellung in diversen neuropsychologischen Leistungen zwischen gesunden Probanden einerseits und schizophrenen Patienten anderseits spiegelt sich auch in Studien wider, die mit funktionellen Neuroimaging-Methoden kombiniert durchgeführt worden sind. Das für eine Vulnerabilität hinsichtlich psychosenaher Symptome der Wahrnehmung und des inhaltlichen Denkens relevante Dopaminsystem ist auch bei schizotypischen Patienten pathologisch verändert. Sehr wahrscheinlich sind aber auch andere Neurotransmitter wie z. B. das Noradrenalin an der Vermittlung klinisch charakteristischer neurokognitiver Störungen beteiligt.
5.7
Cluster B
Wesentliche Charakteristika der in diesem Cluster gruppierten Persönlichkeitsstörungen betreffen die Impulskontrolle und Aggressivität, die emotionale Regulation und Informationsverarbeitung. Die neurobiologische Forschung hat sich bisher vorrangig auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung konzentriert. Befunde zu Impulsivität und Aggressionsneigung sind aber auch für die antisoziale Persönlichkeit von grundlegender Bedeutung. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung können zusätzlich aber auch langfristig nachweisbare Tendenzen zur Dissoziation im Kontext aversiver und traumatischer Affekterlebnisse imponieren und einen speziellen Modus der emotionalen und kognitiven Informationsverarbeitung markieren. Die affektive Instabilität beinhaltet eine erhöhte emotionale Ansprechbarkeit mit einerseits einer herabgesetzten Schwelle für emotionale Reaktionen, andererseits mit einer hohen Intensität der emotionalen Expression bei insgesamt stark verzögerter Rückbildungsfähigkeit auf ein affektives Ausgangsniveau. Häufige, leicht eskalierende aversive Affekte sind mit einem quälenden Gefühl der inneren Anspannung verbunden und gehen häufig auch mit selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Suizidversuchen, Selbstverletzungen, bulimischen Attacken, episodischen Alkohol- und Drogenexzessen etc. einher. Beide Dimensionen der affektiven Instabilität und der Impulskontrollstörung sind also in einem engen Interaktionsverhältnis zu betrachten. Emotionale Dysregulation und Impulskontrollstörung verweisen auf Störungen in neuronalen Regelkreisen von limbischer Aktivierung und präfrontal-kortikaler Kontrolle. Die mittlerweile zahlreichen Befunde aus funktionellen, aber auch strukturellen Neuroimaging-Studien lassen sich sowohl mit der Hypothese einer reduzierten „Top-down“-Regulation als auch mit einer Hypothese einer verstärkten „Bottom-up“Regulation vereinbaren. Für beide Aspekte der neuronalen Dysregulation müssen sowohl genetische als auch defi zitäre, vor allem traumatische Lernerfahrungen als wichtige Bedingungsvariablen diskutiert werden. In einer Perspektive vermittelnder 306
Persönlichkeitsstörungen | 8
Neurotransmitter sind auff ällige Befunde in den serotonergen, noradrenergen, glutamatergen, dopaminergen, opioidergen, cholinergen Systemen erhoben werden. Ein besonders enger Zusammenhang von serotonerger Dysfunktion und Impulskontrollstörung kann vor allem in der klinischen Manifestation von Ärger und reaktiver Aggressivität aufgezeigt werden. Borderline-Patienten zeigen vor allem in Zeiten emotionaler Krisen beeindruckende dissoziative Symptome. Sowohl die klinische Phänomenologie als auch die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen sind hoch komplex und können vorteilhaft in einem traumatologischen bzw. einem Stressreaktionskontext diskutiert werden.
5.8
Cluster C
Angst, Ängstlichkeit, Gefahrenvermeidung, Verhaltenshemmung und Zwanghaftigkeit definieren die für das C-Cluster typischen Kernmerkmale. Neurobiologische Forschungsansätze haben sich bisher fast ausschließlich auf die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung konzentriert, wobei implizit eine weitgehende Identität mit der generalisierten sozialen Phobie angenommen worden ist. Es scheinen daneben aber auch Befunde zur allgemeinen Persönlichkeitsdimension der Ängstlichkeit von Relevanz zu sein. Hinsichtlich einer allgemeinen Angstbereitschaft legen distinkte neuronale Regelkreise ein enges Zusammenspiel von Hirnstamm-, limbischen und kortikalen Strukturen nahe. Die Amygdala imponiert als Schaltzentrale der Angstentstehung und spielt eine primäre Rolle im Erwerb angstbezogener Erinnerungen. Zwei hierüber bei drohenden Gefahren organisierte neuronale Schaltkreise unterscheiden sich in der Geschwindigkeit, aber auch in der kognitiven Differenziertheit der Informationsverarbeitung. Zahlreiche Neurotransmitter und Neuropeptide sind an der Angstregulation beteiligt, wobei aber dem GABAergen, noradrenergen, serotonergen und glutamatergen System eine besondere Funktion zukommt. In Neuroimaging-Studien wird eine amygdaläre Überaktivität bei ungenügender präfrontal-kortikaler Modulation hervorgehoben. Auch andere Zentren wie die Insel (viszeral-autonome Wahrnehmung), das anteriore Zingulum (emotionale Bewertung) oder der dorsolaterale präfrontale Kortex (Arbeitsgedächtnis, Reaktionsauswahl, -vorbereitung) sind bedeutsam an der Vermittlung von Angstreaktionen beteiligt. Molekulargenetische Untersuchungen bemühen sich, Assoziationen zu einer allgemeinen Angstdisposition aufzudecken. Bedeutsam erscheint beispielsweise der Nachweis einer Assoziation der in der Persönlichkeitsdimension Neurotizismus enthaltenen Trait-Ängstlichkeit mit einer kurzen Variante des Polymorphismus für das Serotonin-Transportergen. Dieser Polymorphismus ist wahrscheinlich auch an einer Entkoppelung des amygdalären Regelkreises von Steuereinflüssen des präfrontalen Kortex bzw. des anterioren Zingulums pathogenetisch beteiligt.
307
Hans-Peter Kapfhammer
6
Diagnose und Differenzialdiagnose von Persönlichkeitsstörungen
Der diagnostische Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung stellt sich immer dann ein, wenn bei einem Patienten maladaptive Verhaltensmuster in großer Persistenz wiederkehrend durch die Biografie nachgewiesen werden können, die große Inkonsistenzen in seinem Selbstkonzept, eine typische Konflikthaftigkeit in seinen interpersonalen Beziehungen und ungünstige Lösungen von normativen Entwicklungsaufgaben dokumentieren und mit einer stark beeinträchtigten Rollenkompetenz in zahlreichen psychosozialen Bereichen des Erwachsenenlebens einhergehen. Die Orientierung an den allgemeinen Kriterien, wie sie in den ICD-10-Leitlinien aufgeführt sind, ist hilfreich (Tabelle 4). Eine sehr viel detailliertere Bewertung der Persönlichkeitsstruktur eines Patienten erlaubt die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (Arbeitskreis OPD-2, 2006), die allerdings eine intensive Schulung in der Gesprächsführung voraussetzt. Tabelle 4 Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nach den Leitlinien von ICD-10 Die angeführten Verhaltensweisen sind nicht direkt auf Hirnschädigungen/Hirnkrankheiten oder andere psychiatrische Störungen zurückzuführen 1.
Deutliche Unausgeglichenheit in Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funktionsbereichen (Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen, Denken sowie in Beziehungen zu anderen)
2.
Das abnorme Verhaltensmuster ist andauernd, nicht auf Episoden psychischer Krankheiten begrenzt
3.
beherrschend und in vielen persönlichen/sozialen Situationen unpassend
4.
Auftreten in der Kindheit oder Adoleszenz und Überdauern im Erwachsenenalter
5.
führen zu deutlichem subjektiven Leiden, oft aber erst im späteren Verlauf deutlich
6.
Meist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistung verbunden
Nach hinreichend gestützten Belegen für eine allgemeine Persönlichkeitsstörung ist der diagnostische Abgleich mit einer der prototypischen Beschreibungen einer speziellen Persönlichkeitsstörung weiterführend (Tabelle 5).
308
Persönlichkeitsstörungen | 8
Tabelle 5 Prototypische Beschreibung von spezifischen Persönlichkeitsstörungen Paranoid
Antisozial
Vermeidend
Vermutet ohne ausreichende Grundlage, dass andere ihn ausnützen, schädigen, täuschen
Kriminell, aggressiv, impulsiv, unverantwortliches Verhalten
Vermeidet (berufliche) Aktivitäten mit sozialen Kontakten aus Furcht vor Kritik/Zurückweisung
Schizoid
Borderline
Abhängig
Wünscht weder noch freut sich über enge Beziehungen, auch innerhalb der eigenen Familie
Heftiges Bemühen, tatsächliches/vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden
Braucht andere, um Verantwortung zu übernehmen für die meisten Lebensbereiche
Schizotypisch
Histrionisch
Zwanghaft
Seltsam im Denken, wirkt seltsam, exzentrisch, komisch
Fühlt sich unwohl in Situationen, wo nicht im Mittelpunkt stehend
Per fek tionistisch in Sprechen und Verhalten; dadurch im Erfüllen von Aufgaben behindert
Narzisstisch Grandioses Gefühl von der Bedeutung seiner Person
Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung kann am zuverlässigsten anhand strukturierter Interview-Methoden gestellt werden. Besonders bewährt haben sich: • Strukturiertes Klinisches Interview zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen (SCID-II) nach DSM-IV-TR; • International Personality Disorder Examination nach Loranger (in der deutschen Version), das sowohl ein ICD-Modul als auch ein DSM-Modul aufweist. Der Verdacht auf das diagnostische Vorliegen einer anti- bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörung kann auch durch eine systematische Abklärung der bekannten Psychopathie-Kriterien nach Hare erhärtet werden, die mittels der PCL-R (Psychopathy Checklist-Revised) erfolgen kann (Hare 2003). Differenzialdiagnostisch ist zunächst die organische Persönlichkeitsstörung, also andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach direkten oder indirekten Schädigungen des Gehirns, z. B. Schädelhirntraum, Enzephalitis etc. mit charakteristischen Veränderungen des Affekt-, Trieb-, Impuls- und Sozialverhaltens auszuschließen. Es werden Prägnanztypen nach apathisch – antriebsarm, euphorisch – umständlich und reizbar – enthemmt beschrieben. Auch die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (z. B. KZ-Aufenthalt, Folter) ist abzugrenzen. Hierbei können sozialer Rückzug, grundlegendes Misstrauen, innere Leere, Depersonalisation, Anhedonie, Alexithymie, Somatisierung, Hoffnungslosigkeit imponieren. Häufig findet sich in der Anamnese auch das klinische Bild einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Persönlichkeitsstörungen manifestieren sich bevorzugt unter dem Eindruck aktueller interpersonaler oder psychosozialer Stressoren. Liegt gleichzeitig eine andere manifeste psychische Störung vor, ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung manchmal 309
Hans-Peter Kapfhammer
schwierig zu stellen und verlangt eine sorgfältige Kontrolle des diagnostischen Eindrucks nach Remission der Symptome dieser Störung. Tabelle 6 gibt einen Überblick über einige wichtige Differenzialdiagnosen von speziellen Persönlichkeitsstörungen. Tabelle 6 Einige Differenzialdiagnosen zu spezifischen Persönlichkeitsstörungen Paranoide PS
wahnhafte Störung mit Verfolgungs- und Eifersuchtswahn (z. B. koexistenter Alkoholabhängigkeit); narzisstische PS (Größenideen im Kontaktverhalten nach außen dargestellt, während paranoide PS grundlegendes Misstrauen in Kontakten)
Schizoide PS
leichte Formen der Asperger-Störung, Residualsymptome bei Schizophrenie; ängstlich-vermeidende PS, schizotypische PS (gemeinsam: sozialer Rückzug, schwierige zwischenmenschliche Beziehungen. Schizoid: fehlendes Kontaktbedürfnis, ängstlich-vermeidend: Furcht vor Kritik und Zurückweisung, schizotypisch: verzerrtes Denken, Wahrnehmungen, merkwürdiges Verhalten)
Schizotypische PS
Schizophrenie (v. a. bei prominenten Negativsymptomen)
Antisoziale PS
Hypomanie/Manie, Erregungszustände im Rahmen von Intoxikationen (Alkohol, Drogen); Überschneidungen mit Borderline-, histrionischer, narzisstischer PS (hier: weniger ausgeprägtes aggressives, impulsives, delinquentes Verhalten)
Borderline-PS
psychotische Störungen (Borderline: nur kurzfristige psychotische Symptome, bipolar (II) affektive Störungen; Überschneidungen mit narzisstischer, antisozialer, histrionischer, abhängiger PS
Histrionische PS
Überschneidungen mit narzisstischer, Borderline und antisozialer PS
Narzisstische PS
Überschneidungen mit histrionischer, Borderline und antisozialer PS
Ängstlich-vermeidende PS
generalisierte soziale Angststörung; Überschneidungen mit abhängiger PS
Abhängige PS
Major Depression, bipolar affektive Störung; Überschneidungen mit Borderline-, ängstlich-vermeidender, histrionischer PS
Zwanghafte PS
Überscheidung mit narzisstischer PS (Perfektionismus – zwanghaft: Kontrollbedürfnis, narzisstisch: Überzeugung von überlegener persönlicher Größe)
7
Verlauf und Prognose
Persönlichkeitsstörungen werden mit hinlänglicher Zuverlässigkeit erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Doch auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie existieren Ansätze, Persönlichkeitsstörungen mit adaptierten Messinstrumenten zu erfassen, allerdings nicht vor Abschluss der mittleren Adoleszenz, ca. dem 14. Lebensjahr. Die Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung kann erst mit der Spätadoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter, ca. dem 18. Lebensjahr, gestellt werden. Aus der Sicht der Erwachsenenpsychiatrie weisen jedoch alle Persönlichkeitsstörungen schon in der Kindheit und in der Adoleszenz bedeutsame psychopathologische Vorläufersymptome auf. Empirische Befunde unterstreichen klar, dass es vor allem Ex310
Persönlichkeitsstörungen | 8
tremvarianten unterschiedlicher Temperamente sind, die den Beginn problematischer Entwicklungen signalisieren. So werden beispielsweise schon sehr früh einsetzende soziale Verhaltensstörungen mit hoher impulsiver Reaktionsweise als charakteristische Vorläufer der späteren antisozialen Persönlichkeitsstörung beschrieben (Robins 1966). Und außergewöhnliche Schüchternheit, soziale Kontaktscheu und allgemeine Verhaltenshemmung illustrieren ebenso früh nachweisbare Vorstufen einer späteren ängstlich–vermeidenden Persönlichkeit oder generalisierten sozialen Phobie (Kagan 1994). Kognitiven Dysfunktionen kommt wiederum eine eigenständige prädiktive Bedeutung für Störungen aus dem schizophrenen Störungsspektrum, wie für die schizotypische Persönlichkeitsstörung zu (Gottesman 1991). Die einzelnen Persönlichkeitsstörungen nehmen im Erwachsenenleben generell einen sehr vielschichtigen Verlauf. Hierbei überrascht zunächst, dass kategoriale Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen in Longitudinalstudien oft nur eine geringe Zeitstabilität besitzen, was aber eher die Problematik der aktuellen kategorialen Diagnostik unterstreicht (Grilo et al. 2004; Gundersen et al. 2006; Lenzenweger 2006; McGlashan et al. 2005; Zanarini et al. 2006). Dimensional erfasste Persönlichkeitscharakteristika scheinen für die Prognose von Persönlichkeitsstörungen im Hinblick auf ein späteres psychosoziales Funktionsniveau aussagekräft iger zu sein (Hopwood et al. 2007). In einer Perspektive der Langzeitentwicklung ist festzuhalten, dass sich vor allem die Persönlichkeitsdimension der Impulsivität allmählich abschwächt. Die hierüber vermittelten dissozialen Verhaltensakte werden in ihrem fremdaggressiven Potenzial im Laufe der Jahre weniger, was sowohl bei Menschen mit antisozialer, aber auch mit Borderline-Persönlichkeitsstörung nachgewiesen ist. Diese psychopathologische Mitigierung in einer Kerndimension der Persönlichkeitsorganisation wird aber von einem meist anhaltenden interpersonalen Problemverhalten konterkariert und signalisiert bei vielen Patienten eine weiterhin bestehende psychische Vulnerabilität (Paris 2003). Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster A und dem Cluster C haftet wiederum eine hohe Chronizität mit gravierenden Einbußen der psychosozialen Adaptation und persönlichen Lebensqualität an (McGlashan 1986; Plakun et al. 1985; Tyrer u. Seivewright 2002). Langzeituntersuchungen mit bis zu einem 27-jährigen Follow-up-Beobachtungszeitraum existieren vor allem für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Übereinstimmendes Ergebnis der sehr unterschiedlich konzipierten Studien ist, dass für die Gesamtpatientengruppe ein günstigerer Outcome protokolliert werden kann, als der hochdramatische Krankheitsverlauf vor allem während der ersten 5 bis 10 Jahre zunächst erwarten ließ. Dieses ermutigende Resultat wird aber durch eine insgesamt hohe Suizidrate mit bis zu 10 % in den Untersuchungspopulationen relativiert. Wenngleich dieses Suizidrisiko in den Anfangsstadien am ausgeprägtesten erscheint, kann es auch noch nach vielen Jahren eines von zahlreichen Tragödien des psychosozialen Lebens und negativen Therapieerfahrungen gezeichneten Krankheitsverlaufs zu vollendeten Suiziden kommen. Ein eindeutiges Muster an Risikofaktoren für diese ungünstigen Ausgänge ist aus den Studien nur schwer abzuleiten. Einer psychiatrischen Komorbidität wie affektiven Störungen und Substanzmissbrauch kommt aber eine große Relevanz zu (Paris 2003). Analoge Verhältnisse zeichnen sich auch für die anti311
Hans-Peter Kapfhammer
soziale Persönlichkeitsstörung ab. Hier ist die Suizidrate mit ca. 10 % ebenfalls sehr hoch (Black et al. 1995).
8
Therapie der Persönlichkeitsstörungen
Patienten mit Persönlichkeitsstörungen zeigen ein sehr unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten in den ärztlichen Versorgungssystemen. Das klinische Merkmal, therapeutische Hilfe eher zu suchen oder aber eher abzulehnen, stellt sich über die einzelnen Cluster von Persönlichkeitsstörungen hinweg sehr differenziell dar. So nehmen Patienten mit Cluster-C-Störungen therapeutische Angebote mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf als solche mit Cluster-A-Störungen (Tyrer et al. 2003). Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich wiederum durch ein extremes, häufig chaotisches Inanspruchnahmeverhalten aus. Ihre Krankheitsanamnese weist in der Regel eine exzessive Anzahl unterschiedlichster psychologischer und medikamentöser Therapiemaßnahmen nacheinander oder gleichzeitig auf (Zanarini et al. 2001). Abgesehen von passageren Krisen lehnen Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung meist weiterführende Therapien ab. Dies trifft auch auf forensisch-psychiatrische Behandlungskontexte zu, wo nicht selten ein höchst manipulativer Umgang mit angebotenen Therapien zur besonderen Herausforderung im Rahmen der Prognosebegutachtung werden kann (Stone 2007). Therapeutische Interventionen bei Persönlichkeitsstörungen erfolgen auf unterschiedlichen Behandlungsebenen (ambulant, stationär, tagesklinisch, rehabilitativ) und schließen sowohl psychotherapeutische als auch psychopharmakologische Ansätze ein. Spezielle störungsorientierte Psychotherapien sind entwickelt und empirisch erprobt worden. Eine differenzielle Psychopharmakotherapie zeichnet sich auf dem Boden durchgeführter kontrollierter Studien ab. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen nehmen mit dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem vor allem Kontakt auf • im Rahmen von schwerwiegenden psychopathologischen Krisen; • beim Auftreten sekundärer psychiatrischer Komorbiditäten.
8.1
Notfallpsychiatrisch-psychotherapeutische Primärversorgung
Akute und chronische Suizidalität, parasuizidales Selbstschädigungsverhalten, schwer kontrollierbare Affekt- und Spannungszustände und kurzfristig auftretende psychotische Symptome zählen zu den häufigsten Gründen, weshalb Patienten mit Persönlichkeitsstörungen einer somatischen oder psychiatrischen Notfalleinrichtung zur Erstversorgung vorgestellt werden. Nicht selten sind die Krisen Ausdruck von Behandlungsengpässen, -abbrüchen oder besonderen Veränderungen im Verlauf einer ambulanten Psychotherapie. Innerhalb eines somatisch-stationären Kontextes trifft man als Konsiliarpsychiater auf Patienten mit Persönlichkeitsstörungen – neben der
312
Persönlichkeitsstörungen | 8
Primärversorgung nach Suizidversuchen – vor allem bei besonderen Interaktionsproblemen auf den Stationen. Ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Krisenmanagement erfordert die diagnostische Identifi kation psychopathologisch relevanter Syndrome, eine Evaluation speziell des Grads an Selbst- und Fremdgefährdung sowie eine sorgfältige Analyse der auslösenden psychologischen und psychosozialen Stressoren, die zur aktuellen Krise geführt haben. Die wesentlichen zu leistenden Aufgaben zielen prinzipiell auf • die Errichtung eines therapeutischen Bündnisses; • die Errichtung und Aufrechterhaltung von Grenzen; • die Bestimmung gemeinsamer Behandlungsziele; • die Stärkung des Kompetenzgefühls des Patienten zur Selbstfürsorge. Das klinische Erfahrungswissen um die hohe Plötzlichkeit und Variabilität in der Entwicklung und Veränderbarkeit von seelischen Krisen bei Patienten mit schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungen kennzeichnet sowohl die Grenzen als auch die Chancen von Interventionen eines psychiatrischen Krisenmanagements. Hierbei wirken sich aktive Handlungsorientierung und hoher Strukturiertheitsgrad, die das Setting einer psychiatrischen Notfallambulanz oder eines psychiatrischen Konsiliardienstes charakterisieren, potenziell vorteilhaft gegenüber den Rahmenbedingungen einer ambulant durchgeführten Psychotherapie aus. Die vorrangige Konzentration auf noch intakte psychische Funktionen und verfügbare psychosoziale Kompetenzen eines Patienten bei reflektiertem Aufschub stark konfl iktbesetzter oder traumabezogener Themen für eine spätere psychotherapeutische Arbeit ist hilfreich. Diese bewusst supportive Haltung sucht verfügbare Coping-Strategien nicht weiter zu verunsichern, sondern vielmehr zu stärken und kann so der momentanen Desorganisation eines Patienten entgegenwirken. Medikamente werden zu Akutinterventionen eingesetzt, richten sich nach Grundsätzen der Notfallpsychiatrie (Laux und Berzewski 2008) und sind synergistisch zu diesem psychotherapeutischen Vorgehen zu sehen (Kapfhammer 2007). Zum Einsatz kommen z. B. bei psychomotorischer Erregung neuere Antipsychotika wie Risperidon oder Olanzapin. Bei starker ängstlicher Unruhe ist die kurzfristige Gabe von Benzodiazepinen zu diskutieren (z. B. Diazepam, Lorazepam), die allerdings bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen nur in überlegten Ausnahmefällen verabreicht werden sollen.
9
Stationäre und teilstationäre psychiatrischpsychotherapeutische Behandlung
In der Frage der stationären Aufnahme von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, speziell mit Borderline-Persönlichkeitsstörung in psychopathologischen Krisen, sind sich die Experten uneins (Paris 2007). Die mittlerweile vorliegenden empirischen Studien sprechen für abgestufte Behandlungsebenen mit unterschiedlicher Betreuungsdichte, die von stationärer, teilstationärer, poliklinischer hin zu ambulanter Therapie reichen (Gunderson et al. 2005). In einem pragmatischen Versorgungsmodell gilt es
313
Hans-Peter Kapfhammer
hierbei nicht nur die jeweiligen Besonderheiten der Krankheitsgeschichte eines individuellen Patienten, etwa vorliegende psychiatrische Komorbiditäten, wiederkehrende Krisensituationen und psychosoziale Gefährdungen, sondern stets auch die überhaupt verfügbaren Behandlungsangebote in der Gemeinde zu reflektieren. In einer solchen Perspektive können wichtige Gründe für eine stationäre Behandlung sein: • Schwere, ambulant psychiatrisch-psychotherapeutisch nicht beherrschbare Suizidalität und Angebot eines kontrollierten Schutzraums • Bedeutsame psychiatrische Komorbiditäten, z. B. affektive Störungen, Abhängigkeiten von psychotropen Substanzen • Wiederherstellung einer genügend wirksamen Realitätskontrolle bei psychotischer Dekompensation • Sicherstellung einer sorgfältigen Diagnose und Differenzialdiagnose • Erstmalige Erprobungen psychopharmakologischer Behandlungsansätze • Vorbereitung für einen spezifischen psychotherapeutischen Ansatz überhaupt • Kollegiale Zusammenarbeit mit ambulanter und stationärer Psychotherapie in Fällen schwerwiegender Behandlungsengpässe Klinische Studien weisen darauf hin, dass auch die Rahmenbedingungen einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Tagesklinik zur Behandlung schwieriger Patientengruppierungen mit Persönlichkeitsstörungen vorteilhaft genützt werden können. Hierbei kommen die allgemein stabilisierenden Elemente einer „therapeutischen Kommunität“ zum Tragen. In diesem Kontext lassen sich aber auch spezifische Psychotherapieansätze Erfolg versprechend einsetzen (Bateman und Fonagy 2007; Linehan 1993). Eine noch stärkere Akzentverschiebung weg von spezifischen, in aller Regel sehr kontaktintensiven Therapiemodalitäten in Richtung „Milieutherapie“ oder „Nidotherapie“ ist für eine Patientensubgruppe zu diskutieren, deren Behandlungsanamnese häufige oder gar regelmäßige symptomatische Verschlechterungen unter den üblichen ambulanten und stationären therapeutischen Bedingungen aufzeigt. So tendieren diese Patienten dazu, sehr schnell eine aufgenommene ambulante Behandlung wieder abzubrechen, oder aber, befinden sie sich in einer stationären Einrichtung, ein massives selbstdestruktives und/oder fremdaggressives Verhalten zu zeigen und durch provozierte feindselige Gegenreaktionen ihrer Therapeuten noch zusätzlich geschädigt zu werden (Dawson 1988). Einer „Nidotherapie“ liegt die klinische Erfahrung zugrunde, dass spezielle Umweltkontexte für bestimmte Persönlichkeiten in einem hohen Ausmaß zur Manifestation von Psychopathologie beitragen. Sie geht von der therapeutischen Erkenntnis aus, dass dieselben Patienten wiederum in anderen Umwelten ein erstaunliches Funktionsniveau erreichen können. Wichtige Prinzipien einer solchen „Nidotherapie“ sind (Tyrer und Bajai 2005): • Evaluation von psychosozialen Umwelten aus der Perspektive des Patienten • Formulierung von realistischen Veränderungszielen im Hinblick auf Umwelt • Verbesserung der sozialen Rollen-Kompetenzen • Betonung der Eigenverantwortlichkeit • Miteinbeziehung von vertrauenswürdigen „Mentoren“ oder „Schiedsrichtern“ bei der persönlichen Umweltgestaltung. 314
Persönlichkeitsstörungen | 8
In eine sehr ähnliche Richtung zielen auch die Ansätze nach dem Rehabilitationsmodell (Links 1993, 1998). Auch hier richtet sich die Konzentration weg von der Diagnose hin auf die sozialen Rollendefizite eines Patienten. Charakteristisch ist auch hier eine Sichtweise, dass die Behinderungen und Beeinträchtigungen eines Patienten entscheidend von den jeweiligen sozialen Lebensbedingungen akzentuiert werden. Vom Arzt werden zunächst typische Einstellungen gegenüber seinem Patienten verlangt: • Die Selbstbestimmung eines Patienten gilt als leitendes Prinzip, zusammen mit dem Arzt einen Problembereich aktiv zu wählen, der von subjektiver Bedeutsamkeit ist und zum Ziel von Veränderungsbemühungen werden soll. Diese Haltung schließt auch mit ein, anzuerkennen, wenn ein Patient sich für die Option „keine Therapie“ entscheiden sollte. • Grundlegend ist die Erkenntnis, dass eine Reduktion von psychopathologischen Symptomen nicht automatisch mit einer höheren sozialen Kompetenz einhergehen muss. • Gerade im Hinblick auf die Resultate der Langzeitkatamnesen gilt es, dem Patienten immer wieder die durchaus realistische Hoffnung auf Besserung im Krankheitsverlauf zu vermitteln. Ein Training von grundlegenden psychologischen und sozialen Fertigkeiten steht im Mittelpunkt von Rehabilitationsmaßnahmen. Hierunter fallen vor allem die Benennung von typischen emotiona len Zuständen und den jeweiligen interpersonalen und sozialen Konsequenzen, die Einübung allgemeiner Problemlösungsstrategien, die Förderung den Selbstwert steigernder Fertigkeiten und vor allem ein sozial tolerables Ärgermanagement. Die Entwicklung von förderlichen Umwelten bildet die dritte Säule dieses Rehabilitationsmodells. So ist beispielsweise die Psychoedukation von Partnern und Familienmitgliedern von grundlegender Wichtigkeit, um die negative Spirale eines Klimas von „High Expressed Emotion“ zu unterbrechen. In einer reflexiven Bewertung der unterschiedlichen Lebensbereiche gilt es dem Patienten aufzuzeigen, ganz bestimmte Situationen mit eindeutig schädigenden Einflüssen auf ihn zu vermeiden. Stattdessen sollen Umwelten erprobt werden, die einen validierenden und strukturierenden Charakter für ihn besitzen.
10
Störungsorientierte Psychotherapien
Persönlichkeitsstörungen sollten in einer Orientierung an Leitlinien vorrangig mit speziellen psychotherapeutischen Ansätzen behandelt werden. In den letzten Jahrzehnten hat die Psychotherapieforschung zu einer signifi kanten Veränderung in der störungsorientierten psychotherapeutischen Versorgung von Persönlichkeitsstörungen geführt. Das geweitete Spektrum verfügbarer Psychotherapien mit empirischen Wirksamkeitsnachweisen stellt sich vor allem unter der Indikationsstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung dar. Vor einem jeweils unterschiedlichen theoretischen Hintergrund sind hier folgende Ansätze mit ermutigender Evidenz erprobt worden: 315
Hans-Peter Kapfhammer
• • • • • •
Dialektisch-Behaviorale Therapie (Linehan 1993) Kognitive Therapie (Beck und Freeman 1990; Layden et al. 1993) Kognitive Schematherapie (Young et al. 2005) Kognitiv-Analytische Therapie (Ryle 1997). Übertragungsfokussierte psychodynamische Psychotherapie (Clarkin et al. 2006) Mentalisierungsgestützte Psychotherapie (Bateman und Fonagy 2004)
Im Hinblick auf die empirisch gesammelten Studienergebnisse zur Psychotherapie bei speziellen Persönlichkeitsstörungen muss auf systematische Reviews und Leitlinienempfehlungen verwiesen werden (Herpertz et al. 2008; McMain und Pos 2007; Verheul und Herbrink 2007). In einer allgemeinen Evaluation wirksamer Psychotherapieformen ist zunächst festzuhalten (Clarkin 2007; Livesley 2007): • Die meisten Therapien konzentrieren sich nur auf einen begrenzten Bereich von Problemen. Keiner der Therapieansätze adressiert die umfänglichen klinischen Herausforderungen, wie sie typischen klinischen Fällen von Persönlichkeitsstörungen mit vor allem unterschiedlichen psychischen Komorbiditäten gemein sind. • Alle untersuchten Therapieformen kommt ein begrenzter Wirksamkeitsnachweis zu. Eine Generalisierung der Resultate der mehrheitlich als Kurzzeittherapien durchgeführten Behandlungen ist vor allem im Hinblick auf die Langzeitperspektive der Verläufe nicht möglich. • Es finden sich keine überzeugenden Belege, die eine der Psychotherapieformen vor anderen grundlegend favorisieren würden. Die Annahme bedeutsamer allgemeiner Wirkfaktoren in diesen Therapien erscheint naheliegend. • Spezifische Interventionen sind möglicherweise aber hinsichtlich spezieller psychopathologischer Problemstellungen von differenzieller Wertigkeit. So können parasuizidale und impulsive Verhaltensweisen besonders günstig mit behavioralen und kognitiven Methoden gemeistert, soziale Ängste aber eher mit einem Social-SkillsTraining gebessert werden. Maladaptive Kognitionen lassen sich mittels kognitiver Strategien modifizieren, während aber die Integration maladaptiver Selbstschemata und Beziehungsmuster vorteilhaft durch psychodynamische Behandlungsprinzipien korrigiert werden. Als allgemeine Faktoren einer wirksamen Psychotherapie von Persönlichkeitsstörung lassen sich herausstellen: • Aufbau und Aufrechterhaltung einer kollaborativen therapeutischen Beziehung • Aufrechterhaltung eines konsistenten Behandlungsprozesses • Validierung der grundlegenden Selbst- und Objekterfahrungen in der Therapie • Motivation und persönliche Entscheidung für Veränderungen Die Organisation einer jeden Therapiemodalität ist in einem hohen Maße strukturiert. Sie sieht eine detaillierte Aufk lärung über den therapeutischen Rahmen, den therapeutischen Prozess und die Behandlungsziele vor. Die Schließung eines Therapievertrags ist obligatorisch. Es muss die erklärte Absicht von Therapeut und Patient sein, persönliche Verantwortung für die Einhaltung der Behandlungsallianz zu übernehmen. 316
Persönlichkeitsstörungen | 8
Alle wirksamen Therapien bewegen sich von Anfangsphasen, in denen die Sicherheit des Patienten im Vordergrund steht und möglichst alle psychopathologischen Manifestationen in einem konstruktiven Rahmen gehalten und validiert werden können, hin zu Phasen, in denen maladaptive Muster in einer Konfrontation herausgefordert, traumatische Erfahrungen thematisiert, neue Lernerfahrungen innerhalb und außerhalb der therapeutischen Beziehung in Richtung größerer Integration und Synthese angestoßen und erprobt werden können. Vom Therapeuten wird insgesamt eine sehr aktive Haltung in der Gestaltung des Therapieprozesses verlangt. In speziellen Krisensituationen muss er über ein definiertes Set an psychotherapeutischen Strategien verfügen und gezielte Behandlungsschritte einleiten, um die Sicherheit des Patienten und der eigenen Person aufrechtzuerhalten. Die in der wissenschaft lichen Literatur angeführten störungsorientierten Psychotherapieformen sind jeweils in einem speziellen Forschungskontext konzeptualisiert und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht worden. Eine Generalisierung auf durchschnittliche Versorgungsbedingungen ist also nicht so ohne Weiteres zu unterstellen. Gerade im Hinblick auf die höchst vielfältigen Verlaufsgestalten in der Langzeitentwicklung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen ist möglicherweise eine bescheidene, authentisch-tolerante, durchaus aber optimistische psychotherapeutische Haltung in vielen Behandlungsfällen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsroutine angezeigter. Nach Paris (1998, 2003) besitzt die Psychotherapie bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen hier sehr häufig einen stark edukativen Charakter. Nicht die grundlegende Veränderung einer Persönlichkeitsstruktur erscheint in den meisten Fällen als ein realistisch anzusteuerndes Ziel. Ein konstruktiverer Umgang mit maladaptiven Persönlichkeitszügen ist jedoch möglich. Dies impliziert vier grundlegende Schritte: • Identifikation, welche Persönlichkeitszüge und Verhaltensmuster sind maladaptiv • Beobachtung jener emotionaler Zustände, die zu problematischem Verhalten führen • Experimentierung mit alternativen Strategien und Überprüfung, wie diese wirken • Einübung neuer Strategien
11
Differenzielle Psychopharmakotherapie
11.1
Behandlungsrationale
Bei Persönlichkeitsstörungen bestehen grundlegende neurobiologische Auff älligkeiten, z. B. Dysfunktionen in diversen Neurotransmittersystemen, die innerhalb eines multifaktoriellen Störungsmodells im Hinblick auf typische psychopathologische Syndrome diskutiert werden können. Es zeichnen sich vor allem zwei prinzipielle Modelle eines psychopharmakologischen Zugangs ab (Herpertz et al. 2008; Kapfh ammer 2008):
317
Hans-Peter Kapfhammer
• Psychopharmaka beeinflussen bestimmte Kernmerkmale bzw. Symptomcluster bei einer Persönlichkeitsstörung. Diese Symptomcluster repräsentieren distinkte psychopathologische Dimensionen, z. B. kognitiv-perzeptive Organisation, Impulsivität/Aggressivität, affektive Instabilität, Ängstlichkeit/Hemmung. Diese sind mit biologischen Dispositionen korreliert, die wiederum besondere Relationen zu einzelnen Neurotransmittersystemen erkennen lassen. • Psychopharmaka behandeln die mit einer Persönlichkeitsstörung assoziierten komorbiden psychischen Störungen. Eine z. B. im Verlauf einer Persönlichkeitsstörung auftretende depressive Störung kann durch eine antidepressive Medikation therapiert werden. In diesem Modell herrscht die Überzeugung vor, dass nach Abklingen der psychopathologischen Symptome der komorbiden psychischen Störung die Grundzüge der Persönlichkeitsstörung wieder hervortreten, die wiederum andere, z. B. psycho- oder soziotherapeutische Maßnahmen erfordern. Indirekt stellt sich hiermit auch die klinisch relevante Frage, inwieweit eine zugrunde liegende Persönlichkeitsstörung eine bestimmte andere psychische Störung kompliziert, inwieweit sich hierdurch ferner die Ansprechbarkeit auf unterschiedliche psychopharmakologische Strategien verändern kann.
11.2 Behandlungsevidenz In einer pragmatischen Behandlungsperspektive sind es vor allem die im Krankheitsverlauf häufigen Krisen mit psychopathologischen Zuspitzungen, die bei Inanspruchnahme psychiatrischer oder notfallärztlicher Einrichtungen einen Behandlungsversuch mit Medikamenten nahelegen (siehe o.). Diese Patienten werden in der Routineversorgung häufig psychopharmakologisch behandelt. Unter EbM-Gesichtspunkten muss hierzu allerdings angemerkt werden, dass diese Notfallsituationen typische Ausschlusskriterien für die Durchführung von kontrollierten Studien sind, also gerade hierfür keine empirisch gestützten Behandlungsempfehlungen verfügbar sind. In einer Fortführung spezifischer psychopharmakologischer Ansätze über akute Krisensituationen hinaus kann festgehalten werden, dass die Anzahl randomisierter und kontrollierter Studien bei den unterschiedlichen spezifischen Persönlichkeitsstörungen nach wie vor relativ gering ist. Die Outcome-Kriterien sind zumeist nur symptombezogene Variablen. Sehr viel seltener aber sind Maße der globalen und spezifischen psychosozialen Anpassung inkludiert. Insbesondere muss kritisch bedacht werden, dass • in einzelnen Studien sehr selten mehr als 50 Patienten eingeschlossen worden sind, dann zu höheren Evidenzgraden führen, wenn einzelne Bewertungsstrategien die Anzahl der in den Studien inkludierten Patienten nicht berücksichtigen; • eine z. T. bedeutsame Drop-out-Quote die Aussagen der Studien weiter einschränken; • Direktvergleiche zwischen verschiedenen medikamentösen Strategien höchst selten empirisch untersucht worden sind, eine differenzielle Bewertung also im Einzelfall nur unter klinischen Aspekten getroffen werden kann; 318
Persönlichkeitsstörungen | 8
• derzeit fast ausschließlich Studien für eine Behandlungsdauer von wenigen Wochen und Monaten vorliegen, also keine evidenzbasierten Empfehlungen für eine Langzeittherapie gegeben werden können; • die üblichen Ein- und Ausschlusskriterien für psychopharmakologische RCT zu einer sehr eng definierten Studienpopulation führen, die nicht identisch mit jener Inanspruchnahmepopulation unter Routineversorgungsbedingungen ist; vor allem ist eine Generalisierung auf Patienten mit suizidalen oder parasuizidalen Krisen sowie mit klinisch relevanten psychischen und somatischen Komorbiditäten nur sehr eingeschränkt möglich. Die vorliegende empirische Datenbasis erlaubt orientierende Richtlinien für den Einsatz von psychopharmakologischen Substanzen zur Kontrolle bzw. Modifikation von definierten psychopathologischen Syndromen, die bei einzelnen Persönlichkeitsstörungen eine zentrale Rolle spielen (Tabelle 7). So werden bei schizotypischen Persönlichkeitsstörungen vor allem neue Antipsychotika eingesetzt. Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen zeigen Antidepressiva (v. a. SSRI) und Mood-Stabilizer (v. a. Topiramat, Valproat) signifi kante Effekte auf affektive Instabilität und Ärger, nicht hingegen auf allgemeine Impulsivität, Aggressivität, instabile Beziehungsmuster, Suizidalität und globales Funktionsniveau. Antipsychotika (v. a. Olanzapanin, Aripiprazol) entfalten umgekehrt positive Effekte auf Impulsivität und Aggressivität, instabile Beziehungsmuster und globales Funktionsniveau. Bei der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit wurden insbesondere MAO-Hemmer (z. B. Moclobemid), SSRI (z. B. Paroxetin, Sertralin) und SSNRI (Venlafaxin) erprobt.
319
Hans-Peter Kapfhammer
Tabelle 7 Differenzielle psychopharmakologische Strategien mit empirischen Wirknachweisen in distinkten Symptomclustern bei Persönlichkeitsstörungen (nach: Kapfhammer 2008; Rinne u. Ingenhoven 2007) Kognitiv-perzeptive Symptome
„psychoseähnliche“ Symptome
neue Antipsychotika
dissoziative Symptome
keine EbM-Empfehlung Opiat-Antagonisten: Wirkung nur in offenen Studien bei Depersonalisation
Störungen der Impulskontrolle
1. 2.
3. zu vermeiden: Emotionale Dysregulation
affektive Labilität
1. 2.
depressive Verstimmung 1. (ohne Major Depression) 2. zu vermeiden:
Topiramat SSRI (Fluoxetin; männliche Patienten), Valproat (Patientinnen; bedenke: Nebenwirkungen) neue Antipsychotika Benzodiazepine, Trizyklika, Polypharmazie SSRI (Fluvoxamin) Valproat neue Antipsychotika (Olanzapin) MAO-Hemmer, Trizyklika, Carbamazepin
Ärger, Feindseligkeit, Irritabilität
1. 2.
Topiramat, Valproat neue Antipsychotika
Angst
1. 2. 3.
neue Antipsychotika SSRI, SSNRI MAO-Hemmer
11.3 Behandlungskontext Eine Behandlung mit Psychopharmaka verweist selbst bei bescheiden gewählten Therapiezielen immer auf den Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung. Diese ist supportiv zu gestalten und soll zu konstruktiven Lernschritten motivieren. Die impliziten Bedeutungen einer Medikation sind für Patienten und für Therapeuten in einer aktuellen therapeutischen Beziehung von grundlegender Relevanz. Bereits zu Beginn einer Behandlung, d. h. auch bei Einleitung einer spezifischen Psychotherapie, sollte mit dem Patienten die Möglichkeit eines psychopharmakologischen Ansatzes erörtert werden. Bei einer späteren Entscheidung für Medikamente darf nicht vermittelt werden, dass hiermit ein Rückzug aus einem gesprächs- und/oder handlungsorientierten Ansatz intendiert sei. Es ist notwendig, ein Grundverständnis zu erarbeiten, dass psychotherapeutische Maßnahmen oft nur greifen können, wenn schwerwiegende und beeinträchtigende Symptome in ihrer Intensität durch Medikamente gebessert werden. Es muss mit dem Patienten klar besprochen werden, welche
320
Persönlichkeitsstörungen | 8
Beschwerden als Zielsymptome für eine pharmakologische Intervention identifiziert werden können, welches Medikament mit welchem Therapieziel gegeben werden soll, welche Nebenwirkungen auftreten können, und innerhalb welcher realistischen Zeitspanne das Erreichen oder aber Verfehlen eines definierten Therapieziels überprüft werden sollte. Oft ist es wichtig, sich die besonderen psychodynamischen Voraussetzungen zu verdeutlichen, unter denen ein individueller Patient mit einer bestimmten Persönlichkeitsstörung den Modus der Medikamentenverschreibung erlebt, die pharmakologischen Haupt- und Nebenwirkungen verarbeitet und mit Compliance oder Noncompliance reagiert. Gerade in der Einstellungsphase sind engmaschige Kontrollen notwendig. Eine Kombination von mehreren psychopharmakologischen Substanzen sollte sehr kritisch reflektiert und mit dem Patienten besprochen werden. Ein verlässliches, d. h. in Konsensbildung zwischen Arzt und Patienten vereinbartes Prozedere in Situationen heftiger und vor allem gefährlicher Nebenwirkungen sollte verfügbar sein. Werden Medikamente wiederholt in selbstdestruktiven Verhaltensweisen verwendet, besteht eine Kontraindikation für eine Fortführung der Pharmakotherapie, solange es mit psychotherapeutischen Möglichkeiten nicht gelingt, wieder eine tragfähige therapeutische Allianz herzustellen. Unwirksame Medikamente sollten abgesetzt werden. Tragen Medikamente zu einer signifikanten symptomatischen Stabilisierung bei und ermöglichen unter Umständen sogar eine günstigere Gestaltung psychotherapeutischer Prozesse, sollte erst nach einigen Monaten sehr vorsichtig eine Reduktion gewagt werden, bevor die Medikamente ganz abgesetzt werden können. Auf mögliche Verschlechterungen muss hierbei hingewiesen werden. Eine Entscheidung für eine medikamentöse Langzeitbehandlung im Einzelfall verlangt ebenfalls wiederkehrende Kontrollen und Gespräche über die Medikation. Zu der unter vielen theoretischen und klinischen Aspekten zu fordernden und in der Routineversorgung auch häufig praktizierten Kombination von differenzieller Pharmakotherapie einerseits und spezieller Psychotherapie andererseits bei Persönlichkeitsstörungen liegen bisher nur erste, noch wenig aussagekräftige Studien vor.
Weiterführende Literatur* DGPPN-Expertenkomitee (2008) S2 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Band 1. Behandlungsleitlinie Persönlichkeitsstörungen. Steinkopf, Darmstadt
Kapfhammer HP (2008) Persönlichkeitsstörungen – Diagnostische Konzepte, Neurobiologie, Pharmakotherapie. Psychiatrie Psychotherapie 4: 37–57
Fiedler P (2007) Persönlichkeitsstörungen. 6. Aufl. Beltz, Weinheim, Basel
van Luyn B, Akhtar S, Livesley WJ (eds) (2007) Severe personality disorders. Cambridge University Press, Cambridge
Kapfhammer HP (2007) Zur Genese der Persönlichkeitsstörungen aus psychodynamischer Sicht. Psychiatrie Psychotherapie 3: 96–110 * detailliertes Literaturverzeichnis beim Autor
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Kapitel 9
Kinder- und Jugendpsychiatrie Brigitte Hackenberg, Wolfgang Aichhorn
Das folgende Kapitel deckt das Fachgebiet nicht vollständig ab. Es gibt einen Überblick über die häufigsten psychiatrischen Krankheitsbilder des Kindes- und Jugendalters und jene, die der angehende Mediziner zumindest gelernt haben soll. Tiefer gehendes Wissen sollte aus den spezifischen Lehrbüchern der Kinder- und Jugendpsychiatrie erworben werden.
1
Einführung und allgemeine Grundlagen
1.1
Fachdefinition
Das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie befasst sich mit der Behandlung, Prävention, Rehabilitation und Begutachtung von psychischen, psychosozialen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen oder Störungen sowie von psychischen und sozialen Verhaltensauff älligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie stützt sich auf ambulante, teilstationäre und stationäre Einrichtungen und die Praxis des niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiaters. Als ärztliches Fachgebiet sind die Aufgaben der Kinder- und Jugendpsychiatrie Teil des Gesundheitssystems und eng verflochten mit der Psychiatrie des Erwachsenenalters, der Kinder- und Jugendheilkunde, der Neurologie, der klinischen Psychologie, der Psychotherapie sowie dem psychosozialen Netzwerk (pädagogische Institutionen, Jugendhilfe, Jugendgerichtsbarkeit, etc.) Die Arbeitsweise der Kinder- und Jugendpsychiatrie gründet sich auf einer ganzheitlichen Sicht des Kindes, seiner Familie und seines Umfeldes, einer Entwicklungs-, Familien- und Beziehungsorientierung, und der gleichgewichtigen Beachtung von patho- und salutogenetischen Aspekten. Sie arbeitet präventiv, multiprofessionell und interdisziplinär und fühlt sich der Konvention über die Rechte des Kindes (UN-KRK 1990) verpflichtet.
1.2
Kurzer historischer Abriss zur Entwicklung des Fachs
Die medizinische Betreuung und Versorgung behinderter, verwahrloster und psychisch kranker Kinder reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück. Das von Papst Innozenz III. gegründete und mit einem Findel- und Waisenhaus ausgestattete Spital Santo Spirito in Rom ist die erste historisch gesicherte Krankenanstalt für psychisch kranke Kinder. Die Verbindung zwischen Medizin und Pädagogik, vor allem im Zusammenhang mit der Betreuung behinderter und verwahrloster Kinder, wurde im 16. Jahrhun323
Brigitte Hackenberg | Wolfgang Aichhorn
dert von Comenius in seiner Schrift zu den Methoden der Schwachsinnigenbetreuung formuliert. Der Begriff der Heilpädagogik wurde von den Pädagogen Georgens und Deinhardt 1861 zum ersten Mal verwendet. Der durch Kriege, Revolutionen und wirtschaft liche Probleme belasteten, verwahrlosten und streunenden Kinder nahmen sich vorwiegend kirchliche Institutionen an; Beispiele dafür sind die Heime der „Guten Hirtinnen“ oder des Don Giovanni Bosco. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewannen die Tiefenpsychologie, zunehmend auch andere psychotherapeutische Richtungen Bedeutung für das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie; in Wien ist diese Entwicklung durch die Namen Anna Freud, August Aichhorn, Alfred Adler, Ferdinand Birnbaum und Otto Spiel gekennzeichnet (Spiel W, Spiel G, 1987). Das in Österreich junge Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sein Wissensgefüge und seine therapeutische Ausrichtung aus vielfältigen Wurzeln bzw. Quellströmen (um eine Formulierung Hans Aspergers zu gebrauchen) entwickelt. Aus den Bausteinen der Psychiatrie, Neurologie, Kinder- und Jugendheilkunde, Psychosomatik, Psychologie und Psychotherapie sowie den sozialwissenschaft lichen Fächern Sozialpädagogik, Sonder- und Heilpädagogik und Kriminologie ergibt sich für das Fachgebiet ein sehr vielschichtiger Ansatz von Ganzheitlichkeit. Diese Vielschichtigkeit oder „Mehrdimensionalität“ findet ihren Ausdruck in der „Multiaxialen Klassifi kation“ der ICD für das Kindes- und Jugendalter und stellt eine Ergänzung zum bio-psycho-sozialen Störungsmodell der Erwachsenenpsychiatrie dar. Da das Kind aus entwicklungspsychologischer Perspektive nicht als unfertiger Erwachsener, sondern als eigenständiges, eigenmotiviertes, vollwertiges Wesen mit der Fähigkeit zur Anpassung und zum Wissenserwerb gesehen wird, erscheinen additive Modelle psychischer Störungen, die von zunehmenden Risikofaktoren einer Persönlichkeitsentwicklung ausgehen, nicht angemessen. Die Entwicklungspsychopathologie beschäft igt sich mit der Entstehung und dem Verlauf von fehlangepasstem Verhalten im Kontext der Wechselwirkungen von Psychopathologie und Entwicklungspsychologie (Resch 2007). Interaktive Modelle zwischen mehreren komplexen Gegebenheiten sprengen das klassische, medizinische Störungsmodell, welches primär auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen aufbaut. Die Ansatzpunkte der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegen daher nicht nur in der Beeinflussung von Störgrößen, sondern vor allem in der Stärkung von Anpassungsleistungen und Kreativität des Kindes und seines unmittelbaren Umfeldes. Das naturwissenschaft lich begründete Verständnis von Pathogenese wird daher durch die Prinzipien der Entwicklungspsychopathologie um die Dimension der Zirkularität (Denken und Handeln in Wechselwirkungen) erweitert. Der in der Präambel des Fachgebietes genannte Begriff der Salutogenese bedeutet: Gesundheit entsteht nicht nur aus der Abwesenheit von Krankheit, sondern aus der Förderung der autoprotektiven Kräfte (Ressourcen) des Menschen im Dialog mit der Umwelt, wie sie auch im modernen Begriff der Resilienz ihren Ausdruck findet. Wenn wir ein Kind zum ersten Mal, meist in Begleitung eines oder beider Elternteile, in der Sprechstunde sehen und von seinen Problemen erfahren, nehmen wir üblicherweise viele Fakten gleichzeitig wahr: das Verhalten des Kindes, das seiner Eltern, die Interaktion mit dem Untersucher und untereinander, die bisherigen Schwierig324
Kinder- und Jugendpsychiatrie | 9
keiten und Erfolge innerhalb und außerhalb der Familie, etwaige körperliche Befunde, mögliche Auff älligkeiten der Bezugspersonen und oft sehr unterschiedliche Erwartungen an eine Behandlung. Im Erstgespräch gelingt bestenfalls eine Hypothese über die möglichen Entstehungsbedingungen einer Störung, wobei stets das Bezugssystem des jungen Patienten berücksichtigt werden muss. Ist sein Symptom Ursache oder Folge der familiären Irritation? Ist das Kind Signalgeber oder Störenfried oder beides?
1.3
Krankheitsbegriff und Klassifikation
Psychische Auff älligkeiten im Kindes- und Jugendalter können Normvarianten ohne Krankheitswert darstellen, sie können aber auch Erscheinungsbilder eines komplexen Krankheitsgeschehens sein. Für die Beurteilung und Gewichtung einer Auff älligkeit sind drei Aspekte wichtig: • die qualitative Ausprägung, • die quantitative Ausprägung, • das zeitliche Auftreten im Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensumständen. Die Definition einer psychischen Störung lässt sich nach Remschmidt (1988) formulieren als „Zustand gestörter Lebensfunktionen, der durch Beginn, Verlauf und ggf. auch Ende eine zeitliche Dimension aufweist und ein Kind bzw. einen Jugendlichen daran hindert, an den alterstypischen Lebensvollzügen aktiv teilzunehmen und diese zu bewältigen.“ Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde von Havighurst in die Entwicklungspsychologie eingeführt und als produktive Anpassungsleistung zur Bewältigung von alterstypischen Anforderungen beschrieben. Die erstmalige Trennung des Kleinkindes für mehrere Stunden von der Mutter für den Kindergartenbesuch, das Anerkennen der Kindergärtnerin als Vertrauensperson und das Akzeptieren von Gruppenregeln stellt für viele Kinder (und Mütter) eine Herausforderung dar, die nicht gleich problemlos gelingt. Ob sich hier zum ersten Mal eine klinisch relevante Trennungsangst oder lediglich eine leichte Anpassungsreaktion zeigt, entscheidet sich an der altersadäquaten Entwicklung. Die psychopathologische Wertigkeit von Entwicklungsaufgaben ist individuell unterschiedlich. Psychische Störungen können die Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben erschweren, sie können zum Teil auf eine unzureichende Bewältigung früherer Entwicklungsaufgaben zurückgeführt werden, sie können auch als inadäquate oder unzureichende Lösungsversuche einer Entwicklungsanforderung verstanden werden. Als Kriterien für das Vorliegen einer interventions- und behandlungsbedürftigen Störung im Kindes- und Jugendalter gelten letztlich ähnliche Faktoren wie im Erwachsenenalter (Tabelle 1).
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Brigitte Hackenberg | Wolfgang Aichhorn
Tabelle 1
Kriterien für das Vorliegen einer behandlungsbedürft igen Störung
Akute Gefährdung Objektive Beeinträchtigung bzw. Einschränkung in den altersentsprechenden Lebensvollzügen Objektive Beeinträchtigung der Entwicklungsmöglichkeiten Subjektiver Leidensdruck
Die Klassifi kation psychiatrischer Störungen im Kindes- und Jugendalter ist bei aller Problematik von „Codierung“ und Etikettierung der jungen Patienten schon aus gesundheitspolitischen Gründen von besonderer Bedeutung, da die Erfordernisse von Prävention, Behandlung und Nachsorge einer allgemeingültigen Argumentation zugänglich sein müssen. Seit 1977 wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach den Richtlinien der WHO in der International Classification of Diseases (Rutter, Shaffer und Sturge) multiaxial klassifiziert, seit der 10. Revision von 1994 gilt das heute angewandte sechs-axiale Klassifikationsschema (MAS ICD-10), herausgegeben von Remschmidt, Poustka und Schmidt. Daneben findet das aus der Amerikanischen Klassifi kations-Tradition stammende DSM-IV (Diagnostic and Statistic Manual) seine Anwendung, vor allem um den Begriffen des angloamerikanischen Schrifttums gerecht zu werden. Traditionelle Klassifi kationsschemata erfassen aber Störungen des Alters von 0–5 Jahren nicht genügend (von Gontard 2006). Psychische Störungen im frühen Kindesalter treten mindestens genauso häufig auf wie zum späteren Zeitpunkt: 14–25 % aller Kleinkinder zeigen klinisch relevante psychische Störungen, 9–12 % haben schwere Störungen mit erheblicher Beeinträchtigung, aber nur 11–25 % der Kleinkinder mit Verhaltensstörungen werden tatsächlich vorgestellt (Egger und Angold, 2006) In verschiedenen Reformschritten wurde eine Verbesserung der Klassifi kation durch Etablierung von Kriterien für neue Störungsbilder speziell für das junge Alter erreicht; es fand seinen Niederschlag im Klassifi kationssystem Zero-to-Three 3.R, 2005 (Tabelle 2). Tabelle 2 DC:0–3R (2005) Multiaxiales Klassifi kationssystem für Säuglinge und Kleinkinder I. Achse: II. Achse:
Klinische (psychische) Störung Beziehung
III. Achse:
Medizinische Diagnosen nach ICD-10 und DSM-IV
IV. Achse:
Psychosoziale Stressoren
V. Achse:
Emotionales und soziales Funktionsniveau
Das heute gültige multiaxiale Klassifi kationsschema findet sich in Tabelle 3:
326
Kinder- und Jugendpsychiatrie | 9
Tabelle 3 Multiaxiales Schema der Klassifi kation kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen AS (ICD-10) I
Klinisch-psychiatrisches Syndrom
II
Umschriebene Entwicklungsstörungen,
III
Intelligenzniveau
IV
Körperliche Symptomatik
V
Aktuelle assoziierte abnorme psychosoziale Umstände
VI
Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung
Die Betrachtung mehrerer diagnostischer Achsen nebeneinander setzt eine mehrdimensionale Sichtweise des Untersuchers voraus und führt konsequenterweise zu multimodalen Behandlungskonzepten. Die folgende Grafi k (Abb. 1) soll die Tatsache veranschaulichen, dass Zusammenhänge zwischen mehreren Punkten kein eindeutiges Bild ergeben, sondern mehrere Deutungen ermöglichen – so wie das augenscheinliche Sechseck bei dreidimensionaler Betrachtung in einen Würfel „umspringt“.
Abb. 1
Die multiaxiale Klassifi kation
Fallbeispiel Die Familie, bestehend aus Mutter, Lebensgefährten der Mutter und dessen Mutter (Stiefgroßmutter) bringt den 12-jährigen Florian nach einer aggressiven Auseinandersetzung mit einem Mitschüler an die Klinik. Seit dem achten Lebensjahr besteht ein Diabetes mellitus Typ 1. Der Blutzuckerspiegel ist nach oben entgleist. Seit Wochen hat Florian keine Tagebuchaufzeichnungen gemacht, das Messgerät zeigt unregelmäßige Messzeitpunkte an. Das deutlich spürbare Streitklima belastet die Untersuchungssituation. Florian ist ein guter Schüler, er besucht die zweite Klasse einer kooperativen Mittelschule, seine Deutschnoten fallen gegenüber den anderen Fächern deutlich ab. Er macht viele Rechtschreibfehler und liest sehr langsam. Er wirkt im Gespräch gleichgültig, antriebslos und entmutigt.
327
Brigitte Hackenberg | Wolfgang Aichhorn
Es stellt sich die Frage, ob Florians Problem in der Krankheitsbewältigung seines Diabetes oder in der Anpassung an die neue familiäre Situation (Lebensgemeinschaft der Mutter nach relativ kurz zurückliegender Trennung vom leiblichen Vater) oder an seinen schulischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer vermuteten LeseRechtschreib-Schwäche begründet ist. Ob sich diese Zusammenhänge summieren oder wechselseitig beeinflussen, ist im Rahmen eines hypothesengeleiteten Problemlösungsprozesses einer diagnostischen Objektivierung näherzubringen.
1.4
Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik
Die Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik gliedert sich in folgende Abschnitte: Anamneseerhebung: • Vorstellungsanlass/Zuweisungskontext/Aufnahmemodus (Wer weist warum zu? Wer sieht ein Problem? Wer nicht? Wer ist verantwortlich für das Problem? Wer kann Verantwortung für die Lösung des Problems übernehmen?) • Psychosoziale und Familienanamnese • Eigenanamnese Psychopathologische Befunderhebung: Die beschreibende Psychopathologie erfordert die Berücksichtigung kindspezifischer Gegebenheiten (Tabelle 4). Tabelle 4 Schwerpunkte der beschreibenden Psychopathologie Die Ausdrucksfähigkeit und altersspezifische Kommunikationsfähigkeit des Kindes Die Verhaltensbeobachtung (in der Untersuchungssituation und über längere Zeiträume) Der nonverbale, spielerische Zugang in der Beziehungsgestaltung der Untersuchungssituation Die Kenntnis der Umgangssprache des Kindes und seiner Familie
Paulitsch, Karwautz 2008.
Wie beim Erwachsenen ist zur Einschätzung der inneren Erlebnisweisen des Kindes und seiner komplexen Verhaltensmuster die Beurteilung der kognitiven, affektiven und somatischen Basisfunktionen von Bedeutung. Körperliche Untersuchung: Erhoben werden, je nach individueller Anamnese und spezieller Fragestellung, die in Tabelle 5 angeführten Parameter:
328
Kinder- und Jugendpsychiatrie | 9
Tabelle 5 Bausteine kinder- und jugendpsychiatrischer Befunderhebung der pädiatrisch-internistische Befund, der entwicklungsneurologische Befund, Labordiagnostik, molekular-genetische Untersuchung, elektrophysiologische Untersuchung (EEG), neuroradiologische bzw. bildgebende Verfahren.
Psychologische Diagnostik: Unterschieden wird zwischen Status- und Prozessdiagnostik, norm- und kriterienorientierter Diagnostik, Eigenschafts- und Verhaltensdiagnostik sowie individuenbezogener Diagnostik und Familien- und Umfelddiagnostik. Zur Messung von psychischen Eigenschaften werden standardisierte Testverfahren verwendet, welche in zwei Gruppen eingeteilt werden können (siehe Tabelle 6). Tabelle 6 Standardisierte Testverfahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Leitungstests: Tests zur Erfassung der allgemeinen Intelligenz Differenzielle Intelligenztests Entwicklungstests Neuropsychologische Funktionstests Persönlichkeitstests: Psychometrische Persönlichkeitstests Projektive Verfahren
Der diagnostische Prozess ist auch als eine Intervention zu sehen, die vom ersten Kontakt an Veränderungen in das Familiengefüge bringen kann. Schon zu Beginn einer Exploration steht der Untersucher vor der Notwendigkeit, die Bedeutung der Botschaft zu bedenken, die er der Familie geben wird. Diagnostizieren bedeutet somit, in einem Spannungsfeld von Erwartungshaltungen, Befürchtungen, Schuldzuschreibungen und Vorurteilen Fakten zu setzten, die das Familienklima ändern oder auch alte Muster fi xieren können. Neben der Erfassung pathogener Mechanismen geht es auch um das Erkennen funktionaler Zusammenhänge und protektiver (selbstschützender) Faktoren und die Nutzung von Ressourcen beim Patienten und seinem Bezugssystem.
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Brigitte Hackenberg | Wolfgang Aichhorn
1.5
Epidemiologie
Je nach Definition des Begriffes „psychische Auff älligkeit“ schwanken international die Häufigkeitsangaben kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen: • In der Altersgruppe der Vorschulkinder von 7–15 %; • im Grundschulalter von 8–30 %; • in der Adoleszenz liegen die Werte um 20 %. Etwa 5 % der jeweiligen Alterspopulation werden als behandlungsbedürftig eingeschätzt. Die Prävalenz klinisch bedeutsamer Störungen variiert mit verschiedenen Bedingungsfaktoren, von denen vor allem die Zugehörigkeit zu definierten sozialen Gegebenheiten bedeutsam ist. Psychische Störungsbilder („Achse-1-Diagnosen“) können in ihrem Entstehungszeitpunkt entweder altersunabhängig, d. h. in jedem Lebensalter auftreten, oder ihr Beginn ist altersspezifisch nur auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt. Einige altersunabhängige Störungsbilder haben im Kindes- und Jugendalter besondere Bedeutung. Dazu zählen die affektiven Störungen, deren Bedeutung für das Kindes- und Jugendalter lange unterschätzt wurde, die Belastungs- und somatoformen Störungen (F40–48), im Besonderen die posttraumatische Belastungsstörung oder auch die Verhaltensauff älligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F50–59). Einer besonderen Beachtung bedarf die Kategorie F60–62: spezifische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Der nahezu inflationär gebrauchte Begriff der Verhaltensstörung von Kindern und Jugendlichen beschreibt häufig soziale Auff älligkeiten ohne pathognomonische Relevanz auf der Achse 1, jedoch Mehrfachbelastungen auf der Achse 5 (assoziierte, aktuelle abnorme psychosoziale Umstände). Spezifische Persönlichkeitsstörungen treten häufig erstmals in der Kindheit und oder in der Adoleszenz in Erscheinung und manifestieren sich endgültig im Erwachsenenalter. Daher ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor dem Alter von 16 oder 17 Jahren wahrscheinlich unangemessen (Remschmidt H., Schmidt M., Poustka F. 2006). Chronische Krankheiten mit Organveränderungen der Achse 4 (Asthma bronchiale, Colitis ulcerosa, atypische Dermatitis) und die später genannten funktionellen Störungen der Ausscheidung im Kindesalter stellen Musterbeispiele für psychosomatisch bzw. somatopsychisch behandlungsbedürftige Störungen dar. Hier wird deutlich, dass grundsätzlich kein Unterschied zwischen den Konzepten der psychosomatischen Medizin und der Psychiatrie besteht, dass aber das umfangreiche Spezialwissen aus den einzelnen Fachdisziplinen in den Diagnose- und Therapieprozess integriert werden muss. Der Begriff „psychosomatisch“ bezieht sich demgemäß auf eine theoretische Betrachtungsweise der Ganzheitlichkeit, unter Einschluss von psychologischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und beansprucht Allgemeingültigkeit für Krankheiten schlechthin. Obwohl in der ICD-10 auf den Begriff „psychosomatisch“ wegen seiner uneinheitlichen Verwendung bei der Klassifi kation vollständig verzichtet wird, lassen sich zahlreiche Störungen des Kindes- und Jugendalters unter dem gemeinsamen Begriff der Psychischen Störungen mit körperlicher Symptomatik zusammenfassen und einem psychosomatischen Behandlungskonzept zuordnen. 330
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Fallbeispiel Die 11-jährige Ceylan, jüngstes Kind einer türkischen Familie mit zwei erwachsenen Geschwistern, leidet an einem angeborenen Herzfehler mit deutlich verkürzter Lebenserwartung. Aufgrund schwerer Organschäden in Niere und Lunge ist ihr eine Herztransplantation nicht zuzumuten. Bei chronisch reduzierter Sauerstoffsättigung (um 50 %) kommt sie bei jeder Stressreaktion in Lebensgefahr. Es hatten sich wiederholt dyspnoische Anfälle mit starker psychischer Überlagerung gezeigt, die Notfallmaßnahmen und entsprechende Ängstigung der Familie zur Folge hatten. Ceylan verließ die elterliche Wohnung nur zu medizinischen Interventionen, wurde daheim unterrichtet und schlief im Ehebett gemeinsam mit der Mutter. Der Vater war ausgezogen und hatte eine Beziehung mit einer jungen Frau begonnen, die von ihm schwanger wurde. Die Mutter und die unverheiratete ältere Schwester konzentrierten ihren gesamten Tagesablauf auf das Wohlbefinden des kranken Kindes, was zu massiv tyrannischen Verhaltensmustern bei Ceylan führte. Jede kleinste Versagung konnte Wut- und Schreiattacken auslösen, was wiederum die Gefahr einer lebensbedrohlichen Herzbelastung forcierte. Zum Zeitpunkt der Aufnahme an der psychosomatischen Station betrug die Lebenserwartung des Mädchens unter einem halben Jahr, die Herzfunktion hatte im letzten Jahr deutlich abgenommen. Ziel der Aufnahme war die Begleitung und Verbesserung der Lebensqualität der Familie in der letzten Lebensphase des Kindes – eigentlich eine Hospiz-Aufgabe, die aber im Kindesalter nur wenige Angebote zur Verfügung hat. Es erwies sich als hilfreich, in einem tagesklinischen Setting eine stundenweise Trennung zwischen Mutter und Kind zu ermöglichen und Ceylan mit aller gebotenen medizinischen Unterstützung in die Kindergruppe zu integrieren. Während eines mehrmonatigen Aufenthalts gelang es, ein familientherapeutisches Setting zu etablieren, in das sowohl der Vater als auch der verheiratete ältere Bruder einbezogen wurden. Die Patientin wurde in der Klinikschule unterrichtet und konnte immer häufiger auch zu Ausflügen mitgenommen werden. Psychopharmaka kamen nicht zum Einsatz. Die Sauerstoffsättigung besserte sich überraschend auf bis zu 80 %, es konnte eine Eingliederung in eine öffentliche Schule trotz schwieriger organisatorischer Abläufe (Transport mit O2-Flasche) ins Auge gefasst werden. Ceylan lebt nun zwei Jahre nach ihrer Entlassung zu Hause, besucht die öffentliche Schule, schläft in ihrem eigenen Zimmer, der Vater ist in die Familie zurückgekehrt.
1.6
Psychopharmakologische Behandlung im Kindesund Jugendalter
Psychopharmaka bekommen auch in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen eine zunehmende Bedeutung. Noch mehr als bei Erwachsenen muss aber auf eine genaue Indikationsstellung geachtet werden, die sich an den behördlichen Zulassungsvorschriften orientiert. Jede Verordnung eines Arzneimittels außerhalb der
331
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indikationsbezogenen Zulassung ist eine individuelle Heilbehandlung im Sinne eines „Off-Label-Use“. Dies bedeutet eine hohe Verantwortung für den behandelnden Kinder- und Jugendpsychiater. Um zu einer erhöhten Arzneimittelsicherheit im Kindes- und Jugendalter zu kommen, fordert die europäische Arzneimittelbehörde bei Neuzulassungen von Medikamenten vermehrt auch kontrollierte Studien in dieser Altersgruppe. Hauptsächliche Indikationsgebiete von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter sind psychotische, affektive und hyperkinetische Störungen. Immer häufiger kommen Psychopharmaka, zumeist Antipsychotika, aber auch bei Kindern und Jugendlichen mit schweren Sozialverhaltensstörungen zum Einsatz. Ein weiteres wichtiges Einsatzgebiet ist die Akutbehandlung bei Erkrankungen mit erheblicher Selbstund/oder Fremdgefährdung. Hier liegt auch eines der wenigen Indikationsgebiete für Benzodiazepine bei Kindern und Jugendlichen. Eine psychopharmakologische Behandlung sollte aber grundsätzlich nur im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans in Kombination mit psychotherapeutischen, soziotherapeutischen und pädagogischen Maßnahmen indiziert werden. Dieser Behandlungsplan muss dem Kind oder Jugendlichen ebenso wie seinen Eltern bzw. wichtigen Bezugspersonen verständlich kommuniziert werden. Nur so gelingt es, Ängste in Bezug auf eine psychopharmakologische Behandlung rechtzeitig zu erkennen und eine für den Behandlungserfolg notwendige Compliance aller Beteiligten zu erreichen. Eine besondere Rolle nimmt die Behandlung depressiver Störungen im Kindes- und Jugendalter ein. Aufgrund der hohen auch öffentlichen Aufmerksamkeit und den aktuellen Warnhinweisen der europäischen und amerikanischen Arzneimittelbehörden ist bei der Verordnung eines Antidepressivums an Kindern und Jugendliche besondere Vorsicht geboten. In den letzten Jahren galten selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) als Mittel der Wahl in der Behandlung von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. SSRI bewiesen ihre signifikante Wirksamkeit insbesondere bei Angst- und Zwangsstörungen in mehreren kontrollierten Studien. Die Ergebnisse in der Behandlung depressiver Störungen hingegen waren nicht so eindeutig positiv zu sehen. Aktuell ist nur Fluoxetin in der Depressionsbehandlung von Kindern und Jugendlichen ab dem 8. Lebensjahr zugelassen. Die Warnhinweise der Behörden beziehen sich auf eine geringe, aber signifikant erhöhte Suizidalität unter antidepressiver Medikation bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum 24. Lebensjahr. Der Einsatz von Antidepressiva kann daher nur nach exakter Aufk lärung und Beurteilung des individuellen Nutzen-RisikoVerhältnisses erfolgen. Kinder, Jugendliche und ihre Angehörigen müssen sorgfältig über das Auftreten von • suizidalem Verhalten, • suizidaler Gedanken, • Selbstverletzungen und/oder • Feindseligkeit bzw. aggressivem Verhalten aufgeklärt werden. Dies gilt insbesondere für die ersten Wochen der Behandlung, in denen auch kurzfristige Visiten vorzusehen sind.
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Große Einigkeit herrscht in Bezug auf die Ablehnung von trizyklischen Antidepressiva, da alle durchgeführten kontrollierten Studien im Kindes- und Jugendalter ein negatives Ergebnis erbrachten und das bei hohen Abbruchraten aufgrund von Unverträglichkeiten.
2
Spezifische Störungen des Kindesund Jugendalters
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft lichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, www.awmf.net) hat gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie die Leitlinien für Diagnostik und Therapie beschrieben und festgelegt; sie werden in der Folge für die Beschreibung der einzelnen Störungsbilder auszugsweise im Wortlaut angeführt. Dazu zählen die in der Tabelle 7 zusammengefassten ICD-10-Kategorien, die in den nächsten Kapiteln exemplarisch abgehandelt werden. Tabelle 7 Spezifische Störungen des Kindes- und Jugendalters F8 Entwicklungsstörungen F84 Tief greifende Entwicklungsstörungen F90–F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F90 Hyperkinetische Störung F91 Störungen des Sozialverhaltens F92 Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F93 Emotionale Störungen des Kindesalters F94 Störung sozialer Funktionen mit Beginn in Kindheit und Jugend F95 Ticstörungen F98 Andere
2.1
Tief greifende Entwicklungsstörungen F84
Ein Spektrum von Störungen zwischen Normvarianten und schweren qualitativen Einschränkungen der Interaktion und Kommunikation manifestiert sich in den ersten fünf Lebensjahren und bleibt bis ins Erwachsenenalter bestehen. Bei einer Prävalenz von 6 % für die tief greifende Entwicklungsstörung allgemein (frühkindlicher Autismus: 1 %) stellt sich für eine nicht unbeträchtliche Zahl von Kindern die Anforderung für ein sehr differenziertes und aufwändiges diagnostisches Vorgehen. Die betreffenden ICD-10 Kategorien sind in der Tabelle 8 aufgeführt. 333
Brigitte Hackenberg | Wolfgang Aichhorn
Tabelle 8 Tief greifende Entwicklungsstörungen F84.0
Frühkindlicher Autismus
F84.1
Atypischer Autismus
F84.2
Rett-Syndrom
F84.3
Andere desintegrative Störung des Kindesalters
F84.4
Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien
F84.5
Asperger-Syndrom
2.1.1
Klassifikation
Der frühkindliche Autismus F84.0 ist als tief greifende, meist wahrscheinlich genetisch bedingte Entwicklungsstörung anzusehen, die Manifestation erfolgt vor dem vollendeten dritten Lebensjahr und persistiert während der gesamten Lebenszeit. Das Asperger-Syndrom sowie der atypische Autismus umfassen Teilaspekte des frühkindlichen Autismus. Für die Diagnosestellung des frühkindlichen Autismus sind folgende Symptome wesentlich: Neben der Unfähigkeit, soziale Interaktionen durch nichtverbales Verhalten zu regulieren (Blickkontakt, soziales Lächeln, subtiles Mienenspiel, mimischer Ausdruck von Gefühlen; interaktionsbegleitendes Mienenspiel fehlt weitgehend), gelingt es auch nicht, Beziehung zu Gleichaltrigen aufzunehmen (ausgeprägter Mangel an Interesse an anderen Kindern, an Fantasiespielen mit Gleichaltrigen; fehlende Reaktion auf Annäherungsversuche anderer; Unfähigkeit, Freundschaft einzugehen). Es imponiert ein Mangel an Aufmerksamkeit oder Freude, die mit anderen geteilt wird (andere werden nicht auf Dinge gelenkt, um sie daran zu interessieren) sowie ein Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit (Annäherungsversuche des Kindes und seine Reaktionen in sozialen Situationen sind unangemessen oder unpassend; Gefühlsäußerungen, wie jemanden zu trösten, fehlen; andere Personen scheinen wie Gegenstände benutzt zu werden). Bei der Hälfte der Kinder (in neueren Studien evtl. nur ⅓) mit frühkindlichem Autismus entwickelt sich entweder keine oder nur eine unverständliche Sprache. Es erfolgt keine Kompensation der mangelnden Sprachfähigkeiten durch Mimik oder Gestik, kein spontanes Imitieren der Handlungen anderer, insbesondere bei Kindern unter vier Jahren, später kein spontanes oder fantasievolles Spielen bzw. Symbolspielen. In schweren Fällen kommt es zu stereotypen, repetitiven oder eigentümlichen sprachlichen Äußerungen (neologische Wortbildungen, Vertauschung der Personalpronomina, verzögerte Echolalie, kein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation). Das Rett-Syndrom F84.2 beginnt erst nach normaler Entwicklungsperiode mit Sprach- und Kommunikationsstörungen, neurologischen Koordinationsstörungen und charakteristischen stereotypen Handbewegungen (fast nur Mädchen betroffen).
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Asperger-Syndrom: Es besteht eine qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion mit begrenzten, repetitiven und stereotypen Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten, es fehlt eine klinisch eindeutige, allgemeine und schwerwiegende Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache und/oder der kognitiven Entwicklung. Die kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten sind in den ersten drei Lebensjahren unauff ällig. Die störungsspezifische Anamneseerhebung, Diagnostik, Differenzialdiagnostik, Verhaltensbeobachtung und Erhebung der psychiatrischen Komorbidität von tief greifenden Entwicklungsstörungen setzt eine sehr behutsame Annäherung an die „Besonderheit“ autistischer Kinder voraus, die gerade beim Asperger-Syndrom für die Familien von großer Bedeutung ist. Oft sind die Eltern von Schuldgefühlen und Ratlosigkeit belastet. Häufig werden diese Störungen aus Unkenntnis übersehen oder fehldiagnostiziert. Fallbeispiel Roman, 9 Jahre alt. Nach regelrechter Schwangerschaft und Geburt entwickelt sich das Einzelkind zunächst unauffällig bei früher Sprachentwicklung. Er zeigt bereits ab dem 4. Lebensjahr vordergründiges Interesse für komplizierte Röhrenkonstruktionen, die er aus Materialien aus der Werkstatt seines Vaters in stundenlanger Beschäftigung zusammenbaut. Der Kindergartenbesuch gestaltet sich als schwierig, da er nicht mit anderen Kindern spielen will und nur Bastelspiele akzeptiert, bei denen die anderen zuschauen dürfen. Er dominiert die Gruppe durch ausführliche Erklärungen und erfindet Wörter wie „Röhrenwurzel“ und „Lochzertrümmerungsmaschine“ Die Kindergärtnerinnen beschreiben ihn als extrem selbstbezogen, egozentrisch, einzelgängerisch, manchmal sogar tyrannisch. Er sei kalt und ohne Mitleid mit anderen. Dabei sei er hochsensibel und bemerke jede Veränderung sofort. Der Übertritt in die Schule bringt eine überdurchschnittliche Einzelbegabung in Mathematik bei durchschnittlichen sonstigen Begabungen zutage, sein Klassenlehrer zeigt viel Verständnis für sein Einzelgängertum und hilft ihm, sich in der Klasse zu integrieren. Der familiäre Alltag gestaltet sich als schwierig aufgrund seiner vielen Eigenwilligkeiten, die von der Mutter meist widerspruchslos akzeptiert werden, teilweise aber auch heftige Zornreaktionen auslösen. Ein Lehrerwechsel bewirkt eine massive Verschlechterung des sozialen Funktionsniveaus, Roman verweigert immer häufiger den Schulbesuch und wird deshalb zur stationären Aufnahme vorgestellt.
2.1.2 Interventionen Eine kausale Behandlung autistischer Störungen ist bislang nicht möglich. Die Therapie kann die Interaktionsfähigkeit, Selbstständigkeit und Anpassung an die Anforderungen des Alltags erheblich verbessern und hat ihren Schwerpunkt auf der Ebene der Verhaltensmodifi kation. Sie muss über längere Zeiträume durchgeführt werden. Neben der genauen Analyse der vorhandenen zusätzlichen Entwicklungsaspekte (Defizite oder Einzelbegabungen) sind in der Elternarbeit besondere Sorgfalt und Kontinui-
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tät erforderlich. Aspekte lösungsorientierter Behandlungsstrategien wurden Spitczok von Brisinki 1999 und Vogel 2001 formuliert. Der soziale Rückzug als Ausdruck der „Leidenschaft zum In-sich-Sein“ erfordert ein hohes Maß an Akzeptanz des „So-Seins“ und eine sehr differenzierte Elternbegleitung, mit Unterstützung durch Selbsthilfegruppen und schulische und berufliche Förderprogramme. Primäre Therapieziele einer psychopharmakologischen Behandlung bei autistischen Kindern sind meist fremd- und autoaggressives Verhalten oder ein komorbid vorliegendes Hyperaktivitätssyndrom. Unterschiedliche Substanzengruppen werden zur Behandlung autistischer Störungen eingesetzt, am häufigsten Antipsychotika, aber auch Antidepressiva und Stimulanzien. Der Opioid-Antagonist Naltrexon und das Polypeptid Sekretin stellen hingegen keine Behandlungsoptionen mehr dar, da die hohen Erwartungen in Bezug auf eine Verbesserung autistischer Symptome in kontrollierten Studien nicht bewiesen werden konnten. Antipsychotika der ersten Generation wie Haloperidol verbessern stereotype Verhaltensmuster, helfen bei ausgeprägter Agitiertheit und reduzieren Hyperaktivität. Extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen limitieren aber den Einsatz typischer Antipsychotika bei Kindern. Von den Antipsychotika der 2. Generation kommen Risperidon, Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon und Clozapin zum Einsatz, wobei die meisten kontrollierten Daten für Risperidon vorliegen. Durch die Behandlung mit Antipsychotika verbessern sich Symptome wie Aggression, Selbstverletzung, Impulsivität, Hyperaktivität und ritualisiertes stereotypes Verhalten. Gewichtszunahme und Sedierung sind die häufigsten Nebenwirkungen. Wie auch für schizophrene und bipolare Störungen im Kindes- und Jugendalter ist Clozapin aufgrund der Gefahr einer Agranulozytose (Cave: bis 2 % bei Kindern und Jugendlichen) nur Mittel der letzten Wahl in der Behandlung autistischer Kinder. Einige Hinweise gibt es, dass SSRI Stereotypien und rigides Verhalten positiv beeinflussen. Alternative Behandlungsoptionen wie die Gabe neuroprotektiver Substanzen wie z. B. von Omega-3-Fettsäuren sind zurzeit noch nicht ausreichend durch kontrollierte Studien gesichert.
2.2
Hyperkinetische Störungen F90
Mit dem Begriff des Hyperkinetischen Syndroms (ICD-10) oder dem (fast) synonym gebrauchten Begriff des ADHD (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung nach DSM-4) werden Verhaltensweisen mit einem hohen Ausmaß von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität beschrieben, die die normale intelligenzadäquate Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen und zu einem erheblichen Leidensdruck des Kindes und/oder seines sozialen Umfeldes führen. Etwa 3 % der Kinder im Grundschulalter sind betroffen, wobei die Diagnose bei Knaben 3–4-mal häufiger gestellt wird. Die Diagnose allein rechtfertigt noch nicht die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung, sondern impliziert vorerst eine Reihe von psychoedukativen und übenden Interventionen unter Einbeziehung des familiären und pädagogischen Umfeldes. Aus historischer Sicht ist sowohl die bis heute zutreffende Symptomschilderung des „Zappelphilipp“ von Heinrich Hoff mann (1847) als auch die seit 336
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1937 praktizierte medikamentöse Behandlungsstrategie mit Stimulanzien (Bradley 1937) bei Kindern bemerkenswert. Im Erwachsenenalter ist die Störung je nach Studie in 1–5 % manifest, wobei sich das Symptom der Hyperaktivität in Richtung innere Unruhe und Rastlosigkeit entwickelt, die übrigen Kernsymptome wandeln sich in Desorganisation, Sprunghaftigkeit und extreme Ungeduld, es kommt zu Stimmungsstörungen mit emotionaler Überreagibilität und Reizbarkeit. Geringes Selbstvertrauen und Beziehungsinstabilität sind häufige Wurzeln komorbider Störungen wie Substanzabhängigkeit, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. Gerade in der Elternberatung spielt der Problembereich eigener Betroffenheit eine nicht unerhebliche Rolle. Bis heute ist kein eindeutiges neuronales pathophysiologisches Korrelat der ADHS bekannt. Strukturelle Veränderungen in fronto-striatalen Regionen sind dokumentiert. Eine Dysregulation der inhibitorischen Aktivität im frontalen Kortex (vorwiegend noradrenerg) und in striatalen Regionen (vorwiegend dopaminerg) ließ sich nachweisen. Eine Vielzahl molekulargenetischer Befunde spricht dafür, dass es sich bei der Entstehung des ADHS um einen polygenen Erbgang handelt, wobei mehrere Gene zusammenwirken und es dadurch zu einem breiten Spektrum von Komorbiditäten und dem Auft reten von Subgruppen kommt. Auch das unterschiedliche Ansprechen auf die Medikation findet hier einige Erklärungen. Lange Zeit wurde angenommen, dass sich die Störung im Erwachsenenalter „auswächst“. Wir wissen heute, dass bei über 50 % aufmerksamkeitsgestörter Kinder Einzelsymptome ins Erwachsenenalter persistieren und von anderen psychiatrischen Syndromen überlagert werden. Generell wird von einer Interaktion von biologischen und psychosozialen Faktoren ausgegangen, wobei nach den Ergebnissen der umfangreichen Studienlage zu diesem Thema die Bedeutung der biologischen Funktionsdefi zite im Sinne einer besonderen Vulnerabilität größeren Stellenwert besitzt als die psychosozialen Risikofaktoren. Diese wiederum haben offensichtlich signifi kanten Einfluss auf die Ausprägung der Komorbidität und den Gesamtverlauf. 2.2.1 Klassifikation Hyperkinetische Störungen (HKS) sind durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, das in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt. Die Störung beginnt vor dem Alter von sechs Jahren und sollte in mindestens zwei Lebensbereichen/Situationen (z. B. in der Schule, in der Familie, in der Untersuchungssituation) über mehr als sechs Monate auft reten. Leitsymptome sind Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit), Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe) und Impulsivität. Nach ICD-10 (klinische Kriterien) müssen sowohl Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität vorliegen. Für Kinder mit vorwiegender Störung der Aufmerksamkeit ohne Hyperaktivität kann die Kategorie „sonstige hyperkinetische Störung“ verwendet werden.
337
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Schweregradeinteilung: Vermutlich handelt es sich um ein kontinuierlich verteiltes Merkmal. Generell lässt sich der Schweregrad an der Intensität der Symptomatik, an dem Grad der Generalisierung in verschiedenen Lebensbereichen (Familie, Kindergarten/Schule, Freizeitbereich), der Einschränkung des Funktionsniveaus in diesen Lebensbereichen sowie an dem Grad bemessen, in dem die Symptomatik nicht nur in fremdbestimmten Situationen (z. B. Schule, Hausaufgaben), sondern auch in selbstbestimmten Situationen (Spiel) auftritt. ICD-10 trifft die in Tabelle 10 aufgeführten Unterscheidungen. Tabelle 9 Typologie der hyperkinetischen Störungen Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0); Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1), bei der sowohl die Kriterien für eine hyperkinetische Störung als auch für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt sind. Diese Kombinationsdiagnose wird durch die Häufigkeit begründet, mit der beide Störungen gemeinsam auftreten und mit der im Vergleich zur einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung vermutlich ungünstigeren Prognose; Andere und nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung (F90.8/F90.9); Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität; und eine Doppeldiagnose bei Patienten, welche die Kriterien beider Störungen erfüllen; setzt sich sowohl in der Forschung als auch der Praxis zunehmend durch.
2.2.2 Störungsspezifische Diagnostik Im Zentrum steht die Exploration der Eltern und des Kindes/Jugendlichen. Je älter das Kind ist, umso stärker wird es in die Exploration einbezogen. Die Informationen der Eltern sind jedoch meist zuverlässiger. Standardisierte Eltern- und Lehrerfragebogen und (für ältere Kinder und Jugendliche) Selbsturteilsfragebogen zur Erfassung von hyperkinetischer Symptomatik eignen sich hier sehr. Die Verhaltensbeobachtung sollte in unterschiedlichen sozialen Situationen durchgeführt werden. 2.2.3 Komorbidität und Begleitstörungen Bis zu 80 % der Patienten mit ADHS weisen komorbide psychische Störungen auf. Die Abklärung dieser komorbiden Störungen verlangt daher große Sorgfalt. Die häufigste psychiatrische Komorbidität sind Störungen des Sozialverhaltens und umschriebene Entwicklungsstörungen. Emotionale Störungen werden am häufigsten übersehen. Deutliche Einflüsse auf Schweregrad und Verlauf sind durch inkonsistentes Erziehungsverhalten und mangelnde Wärme in den familiären Beziehungen gegeben. Eine orientierende internistische und neurologische Untersuchung sollte ebenfalls durchgeführt werden. 2.2.4 Testpsychologische Diagnostik Zumindest eine orientierende Intelligenzdiagnostik wird bei allen Schulkindern empfohlen. Bei Schulkindern ist immer dann eine ausführliche testpsychologische Unter338
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suchung der Intelligenz und schulischer Teilleistungen notwendig, wenn Hinweise auf Leistungsprobleme (Noten, Klassenwiederholung, Sonderbeschulung) oder schulische Unterforderung vorliegen. Neuropsychologische Verfahren können ergänzend hilfreich sein. Bei Vorschulkindern wird eine ausführliche Entwicklungsdiagnostik wegen der hohen Komorbiditätsraten von Entwicklungsstörungen und wegen der meist fehlenden zuverlässigen Angaben zum Entwicklungsstand grundsätzlich empfohlen. 2.2.5 Apparative Labordiagnostik Zu achten ist auf mögliche begleitende körperliche Erkrankungen, z. B. Störungen des Schilddrüsenstoff wechsels sowie akute und chronische zerebrale Erkrankungen. Gegebenenfalls sind bildgebende Verfahren bei fraglichen Hinweisen auf einen raumfordernden Prozess oder eine EEG-Ableitung zur Differenzialdiagnostik bezüglich epilepsiebedingter Aufmerksamkeitsstörungen indiziert. 2.2.6 Therapeutische Interventionen Als therapeutische Maßnahme der ersten Wahl ist stets die Aufk lärung und Beratung (Psychoedukation) der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und des Erziehers bzw. des Klassenlehrers zu sehen. Elterntraining und Interventionen in der Familie (einschließlich Familientherapie) zur Verminderung der Symptomatik in der Familie stehen ebenso an vorderster Stelle wie auch Interventionen im Kindergarten oder in der Schule (einschließlich Platzierungs-Interventionen) zur Verminderung der Symptomatik in den betreffenden (schulischen) Einrichtungen. Die kognitive Therapie des Kindes/Jugendlichen (ab dem Schulalter) zur Verminderung von impulsiven und unorganisierten Aufgabenlösungen (Selbstinstruktionstraining) oder zur Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Modifikation des Problemverhaltens (Selbstmanagement) hat sich in Abhängigkeit vom Schweregrad als Einzelmaßnahme oder in Kombination mit Pharmakotherapie bewährt. Diätetische Behandlungen (oligoantigene Diät; Omega-3/Omega-6-Supplementierung) sowie Neurofeedback können hilfreich sein und werden durch einige neuere Studien bestätigt. Aus familienorientierter Sicht stellt das multimodale Behandlungsprinzip eine hohe Anforderung an Eltern und Geschwister und bedarf daher neben dem störungsspezifischen Therapieansatz auch ressourcen- und beziehungsorientierter Interventionen. Familienklima und Lebensqualität sind dabei mindestens so wichtig wie die elterliche Präsenz und Geschicklichkeit in der Erziehung. Systemische Ansätze fokussieren auf bestehende Talente und Fähigkeiten bei Kindern und ihren Angehörigen und arbeiten an Konzepten der gegenseitigen Akzeptanz und dem Konsens, das Kind nicht verändern zu wollen, sondern „nur“ zu lernen, gut genug damit zu leben. 2.2.7 Medikamentöse Behandlung Eine pharmakologische Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen ist dann indiziert, wenn die hyperkinetische Symptomatik mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Patienten oder seines Umfeldes einhergeht. Die größte durch zahlreiche kontrollierte Studien gesicherte Wirksamkeit liegt für Stimulanzien wie Methyl339
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phenidat vor. In Österreich sind alle Stimulanzien nur auf Suchtgiftrezept erhältlich. Seit wenigen Jahren ist auch der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin zur Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen zugelassen. Für beide Substanzen wird eine direkte bzw. indirekte dopaminerge Aktivierung im präfrontalen Kortex und bei Methylphenidat auch im Striatum als potenzieller Wirkmechanismus angesehen. Mögliche Nebenwirkungen einer Stimulanzientherapie sind Unruhe, Tachykardien, Hypertonie, Appetitmangel und Schlafstörungen. Besonders zu beachten ist ein etwaiger Gewichtsverlust. Zur besseren Verträglichkeit sind auch Retardformen erhältlich. Zum Unterschied zu Atomoxetin (> 2 Wochen) tritt der therapeutische Effekt von Methylphenitat bereits nach 30 Minuten ein und ermöglicht eine rasche Überprüfung des Therapieerfolgs. Antipsychotika kommen bei Kinder und Jugendlichen mit ADHS bei komorbiden Symptomen einer schweren Sozialverhaltensstörung zur Anwendung.
2.3
Störungen des Sozialverhaltens F91
Mehr als andere Krankheitsbilder zeigen sich die Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen als Teile von Kreislaufprozessen zwischen widrigen familiären Umständen und missglückten Bewältigungsversuchen aller Beteiligten. An diesen „Teufelskreisen“ wirken auch professionelle Institutionen wie Schule, Jugendwohlfahrt, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendgerichtsbarkeit mit. Es ist davon auszugehen, dass 90 % jugendlicher Wiederholungstäter bereits in der mittleren Kindheit Störungen des Sozialverhaltens gezeigt haben. Frühe traumatische Trennungserfahrungen und institutionelle Überforderungen sind häufig die Ursachen von „Interventionseskalationen“, also jenen Teufelskreisen von Hilflosigkeit der Helfer und zunehmenden Zwangsmaßnahmen zur Verhinderung von Selbst- und Fremdgefährdungen. Gesellschaft liche Mechanismen wie Fremdenhass, Gewalt in den Medien, das Fehlen kultivierter Gewaltrituale etc. spielen bei der Entstehung von jugendlicher Dissozialität mit (Rotthaus und Trapmann 2004). Die einzelnen Subtypen dieser Störungen finden sich in Tabelle 10. Tabelle 10 Störungen des Sozialverhaltens F91.0
Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens
F91.1
Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen
F91.2
Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
F91.3
Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
F92.0
Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung
F92.3
Störung des Sozialverhaltens mit anderer Störung des Befindens
340
Kinder- und Jugendpsychiatrie | 9
2.3.1 Klassifikation Die Störungen des Sozialverhaltens umfassen ein Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen, welches länger als sechs Monate besteht. Sie kommen oft gleichzeitig mit schwierigen psychosozialen Umständen vor und können mit deutlichen Symptomen einer emotionalen Störung, vorzugsweise Depression oder Angst, kombiniert sein (F92). In Tabelle 11 sind die Leitsymptome zusammengefasst: Tabelle 11 Leitsymptome von Störungen des Sozialverhaltens Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren Erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum Zündeln Stehlen Häufiges Lügen Schule schwänzen Weglaufen von zu Hause.
Bei erheblicher Ausprägung genügt jedes einzelne der genannten Symptome für die Diagnosestellung, nicht jedoch einzelne dissoziale Handlungen. Die Symptomatik kann ggf. nur innerhalb der Familie auft reten oder mit dem Fehlen sozialer Bindungen verbunden sein, meist mit frühem Beginn. Bei einer Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen bestehen die genannten Auff älligkeiten bei überwiegend guter Einbindung in die Altersgruppe, wobei es sich häufi g um dissoziale oder delinquente Gleichaltrige handelt. Die Beziehungen zu Erwachsenen sind häufig schlecht. Bei einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten fehlen schwere dissoziale oder aggressive Handlungen. Leitsymptome sind aufsässiges, ungehorsames, feindseliges, provokatives und trotziges Verhalten, die Missachtung der Regeln oder Anforderungen Erwachsener und gezieltes Ärgern anderer. Anderen wird die Verantwortung für eigene Fehler zugeschrieben, Wutausbrüche sind häufig, die Frustrationstoleranz ist niedrig. Diese Verhaltensweisen richten sich mehr gegen Erwachsene als gegen Gleichaltrige. Die Exploration der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte umfasst die Entwicklung des Kindes/Jugendlichen inkl. pränataler und Geburtsanamnese, insbesondere mütterlicher Alkohol- und Drogenmissbrauch, mütterliche Infektionen, Einnahme von Medikamenten, Medizinische Vorgeschichte, insbesondere ZNS-Beeinträchtigungen/Störungen (z. B. Anfallsleiden, Unfälle), Vorgeschichte bezüglich körperlichem und/oder sexuellem Missbrauch, Vorgeschichte in Bezug auf Stieffamilienstatus, Adoptionen, Unterbringung in Pflegefamilien oder Heimen, Ausbildung
341
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von Gewissen und Schuldgefühlen und selbstverständlich die Erhebung von Schullaufbahn und Entwicklung etwaiger schulischer Leistungsschwierigkeiten. Eine Übersicht über psychiatrische Komorbidität und Begleitstörungen bietet Tabelle 12. Tabelle 12 Psychiatrische Komorbidität und Begleitstörungen bei Störungen des Sozialverhaltens Hyperkinetische Störungen (bei deutlicher Ausprägung Zuordnung zu F90.1) Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch (vgl. Leitlinie zu F1) Depressive Störungen (bei deutlicher Ausprägung Zuordnung zu F92) Phobische oder Angststörungen (bei deutlicher Ausprägung Zuordnung zu F92) Suizidalität Paranoid wirkende Zuschreibungen
2.3.2 Therapeutische und psychosoziale Interventionen Im Vordergrund kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlungskonzepte steht die Therapie komorbider Störungen. Eltern-Coaching zur Vermittlung funktionaler Erziehungsstrategien bei gleichzeitiger Berücksichtigung der sozialen Bedürft igkeit setzt eine gute Zusammenarbeit verschiedener sozialer Institutionen voraus. Das Zusammenwirken therapeutischer, sozialpädagogischer und behördlicher Maßnahmen richtet sich jeweils nach den Prinzipien der „Verhältnismäßigkeit“ erreichbarer Ziele und realisierbarer Maßnahmen. Häufig sind die Anforderungen der adäquaten Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens von fachspezifischen Versorgungsmängeln und Problemen der interdisziplinären Kooperation überschattet. Wichtigste Behandlungsziele sind Aggressivitätskontrolle, Stärkung defizitärer Selbst-Strukturen, Kommunikationstraining, Aufbau und Verstärkung positiver Beziehungserfahrungen und Aufbau prosozialer Verhaltensmuster sowie eine Verbesserung der intrafamiliären Kooperation (modifi ziert nach Goldstein und Keller 1987). Fragen der „Herausnahme“ eines Kindes aus einem gewalttätigen Milieu stehen oft im Widerspruch mit Überlegungen der Kooperation mit Problemfamilien, Therapie und Erziehung können einander nur bedingt ergänzen. Vernetzte Arbeitskonzepte bedeuten auch aufwändige koordinative Aufgaben der öffentliche Träger (Sozialversicherungen, Sozialämter etc.). Sekundärpräventive Strategien mit nachgehender Betreuung, niederschwelligen Beratungsangeboten und langfristigen sozialtherapeutischen Konzepten müssen flächendeckend weiterentwickelt werden. Nicht geeignet sind non-direktive einzelpsychotherapeutische Methoden ohne Einbeziehung der Angehörigen. Psychopharmaka kommen zur Unterstützung psychotherapeutischer und sozialer Maßnahmen bei ausgeprägter Fremd- und/oder Autoaggressivität oder bei komorbidem Vorliegen hyperkinetischer oder depressiver Symptome zur Anwendung. Insbesondere bei ausgeprägtem impulsiv-aggressivem dissozialem Verhalten sind Antipsychotika der 2. und 3. Generation wie Risperidon, Quetiapin oder Aripiprazol, ein 342
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partieller Dopaminantagonist, indiziert. Bei Kindern mit ADHS und aggressiv gestörtem Sozialverhalten kann auch eine Stimulanzientherapie einen positiven Einfluss auf das gestörte Sozialverhalten haben. Bei ausgeprägt depressiv dysphorischer Symptomatik sollte eine antidepressive Behandlung mit einem SSRI unter Beachtung der eingangs beschriebenen Vorsichtsmaßnahmen erwogen werden. Die größte Evidenz in kontrollierten Studien in der Behandlung von Symptomen wie Feindseligkeit, Aggression und Irritabilität liegt für Risperidon vor. Zu beachten sind mögliche Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, extrapyramidalmotorische Symptome und Hyperprolaktinämie.
3
Emotionale Störungen des Kindesalters F93
In dieser Störungsgruppe (Tabelle 13) sind Unterschiede zwischen Erwachsenenpsychiatrie und der Psychiatrie des Kindesalters vor der Adoleszenz besonders zu beachten. Es besteht eine deutliche Diskontinuität zwischen den emotionalen Störungen des Kindesalters, die nur selten in eine neurotische Störung des Erwachsenenalters übergehen und vielen Angststörungen des Erwachsenenalters, die keine psychopathologischen Vorläufer in der Kindheit haben. Viele emotionale Störungen des Kindesalters können als Normvarianten („normative Krisen“) der alterstypischen Entwicklungsanforderungen ohne Krankheitswert verstanden werden. Es wird angenommen, dass die beteiligten psychischen Mechanismen des Kindes andere sind als die des Erwachsenen, wobei hier empirische Belege noch fehlen. Die Einteilung in spezifische Kategorien wie phobische Zustände oder Zwangsstörungen gelingt beim Kind weniger eindeutig als beim Erwachsenen. Tabelle 13 Emotionale Störungen des Kindesalters F93.0
Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters
F93.1
Phobische Störung des Kindesalters
F93.2
Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters
F93.3
Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
F93.80
Generalisierte Angststörung des Kindesalters
Angst ist eine anpassungsnotwendige, physiologische Emotion, welche zur normgerechten Entwicklung gehört (Tabelle 14).
343
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Tabelle 14 Physiologische Angstthemen 0–6 Monate
Aversive Reize
6–9 Monate „Fremdeln“ 9–24 Monate
Separation
2–5 Jahre
Umweltangst
6–9 Jahre
Sozialisationsangst
9–12 Jahre
Realangst
12–14 Jahre
Reifungsangst
14+ Jahre
Existenzangst
(nach Eggers et al.)
Die Kriterien der pathologischen Angst entwickeln sich aus Persistenz, Intensität und Anlassgeneralisierung. Fallbeispiel Corinna, 9 Jahre alt, besucht die dritte Klasse der Volksschule in der Nähe ihres Wohnortes. Sie hat seit mehreren Wochen den Unterricht wegen unklarer Fieberzustände versäumt. Die kinderärztliche Durchuntersuchung brachte keinen pathologischen Befund, es wird der Schulbesuch trotz erhöhter Körpertemperatur (max. 37,4 Grad) erlaubt. Die Exploration ergibt eine unauffällige frühkindliche Entwicklungsanamnese. Der Eintritt in den Kindergarten hatte sich schwierig gestaltet, da Corinna sich nicht von der Mutter trennen wollte und die Mutter der Kindergärtnerin nicht zutraute, Corinna „richtig“ zu trösten. Da damals gerade die Geburt des Bruders bevorstand, wurde der Kindergartenbesuch ein Jahr verschoben. Auch dann gab es mehrwöchige Eingewöhnungsschwierigkeiten, die jedoch mit viel Zuwendung gelöst werden konnten. Corinna wurde mit 6 Jahren als „schulreif“ eingestuft. Nun weigert sich Corinna mit heftigem Weinen, das Bett zu verlassen, sie fühle sich krank. Am Nachmittag bessert sich ihr Zustand meist, sie verbringt die Zeit mit Fernsehen, schreibt aber auch den versäumten Schulstoff nach. Die Eltern überlegen, einen Antrag auf häuslichen Unterricht zu stellen. Familiär ist zu erheben, dass die Mutter vor einigen Monaten wegen eines Knotens in der Brust untersucht wurde und sich glücklicherweise kein maligner Befund ergab. Alle Familienmitglieder erinnern sich aber an die Angst vor einer Krebsdiagnose. In den letzten Wochen litt die ganze Familie unter grippalen Infekten, am schwersten war der 5-jährige Bruder betroffen, er musste einige Tage gemeinsam mit der Mutter im Krankenhaus verbringen, da eine Pneumonie befürchtet wurde. Corinna wurde in dieser Zeit zur Oma gebracht. Seither klagt sie über die oben genannten Beschwerden.
Trennungsangst kann ab der physiologischen „Achtmonatsangst“ im Zusammenhang mit Trennungserlebnissen von der primären Bezugsperson auft reten. Im Vorschulalter manifestieren sich Angstsyndrome häufig als Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, Pavor nocturnus mit nächtlichem Aufschrecken und Weinen sowie 344
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als Schlafwandeln). Umschriebene Ängste treten in dieser Zeit häufig als Tierphobien oder Angst vor Injektionen auf. Mit dem Eintritt ins Schulalter gewinnen Leistungs- und Versagensängste sowie soziale Ängste („Mobbingopfer“) an Bedeutung. Somatisierungstendenzen, zwanghafter Perfektionismus in der Leistungssituation hin bis zu tyrannischen Verhaltensmustern, bei denen sich die Eltern oft als „vollkommen hilflos“ erleben, zeigen sich als typische Symptomkonstellationen.
3.1
Therapeutische Interventionen
Vor jeder Überlegung einer psychopharmakologischen Behandlung steht die beziehungsdynamische Aufschlüsselung der kindlichen Angstsymptomatik. Ob es um die Verlustangst geht, die hinter einer Trennungsangst steht oder um die Bedrohung des Selbstwertes, die bei Eltern und Kindern oft gleichermaßen vorhanden sind, immer geht es um „Ermächtigung“ gegenüber der übermächtigen Angst. Wenn schulpfl ichtige Kinder aus Angstgründen die Schule verweigern, erhält die Therapie auch einen verpflichtenden Aspekt, es kommt zur verbindlichen Verantwortungsverteilung. Mithilfe von schrittweisen Wiedereingliederungsprogrammen, die vollstationär, teilstationär oder ambulant durchgeführt werden können, wird versucht, die „Angst vor der Angst“ durch behutsame Exposition mit der Trennungssituation zu „entmachten“. Oft mals ist es schwieriger, die Kooperation der Eltern zu gewinnen, als die betroffenen Kinder zur Behandlung zu ermutigen. Gerade bei den kindlichen Angststörungen wird deutlich, dass nondirektive, individuumzentrierte Therapiesettings ohne aktive Elternarbeit den Bedürfnissen der Patienten nicht gerecht werden. Am besten wurden kognitiv- verhaltenstherapeutische Strategien untersucht, sie bewähren sich, in schweren Fällen in Kombination mit SSRIs, besonders bei schulphobischen und sozialphobischen Störungen. Elternarbeit wird sehr erfolgreich in Multifamiliengruppen und streng strukturierten „FamilienErziehungsschul-Programmen“ geleistet. Die systemische Familientherapie arbeitet mit narrativen Ansätzen, Paradoxien, „Angstexternalisierungen“ und der Dekonstruktion von pathologieerhaltenden Glaubenssätzen. Fortsetzung Fallbeispiel Die Überzeugung der Mutter, sie sei die Einzige, die Corinna helfen könne, ihre Angst zu überwinden, indem sie ihr möglichst viel Zuwendung und Verständnis schenkte, wurde infrage gestellt. Möglicherweise könne auch jemand anderer dem Mädchen helfen. Es wurde mit einer Integrationslehrerin der Klinik ein Besuchssystem entwickelt, bei dem die Verantwortung für die Krankheitssymptome den Spitalsärzten, für die schulische Weiterentwicklung der Lehrerin und für das In-die-Klinik-Fahren dem Familiensystem übergeben wurde. Die Angst wurde jeweils „im Gepäck“ mitgenommen, sehr vorsichtig behandelt, sehr wichtig genommen („sich mit der Angst anfreunden“), manchmal aber auch zu Hause „vergessen“.
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4
Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in Kindheit und Jugend F94
Unter dieser Kategorie wird im aktuellen Klassifi kationssystem (Tabelle 15) eine heterogene Gruppe von kindlichen Störungsbildern zusammengefasst, deren ätiologische Gemeinsamkeit nicht auf konstitutioneller Ebene (wie bei den Entwicklungsstörungen), sondern in Beeinträchtigungen des frühkindlichen Milieus angenommen wird. Tabelle 15 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in Kindheit und Jugend F94.0
Elektiver Mutismus
F94.1
Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
F94.2
Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
Beim elektiven Mutismus handelt es sich um eine emotional bedingte Störung der sprachlichen Kommunikation. Sie ist durch eine andauernde Unfähigkeit gekennzeichnet, in bestimmten Situationen zu sprechen, wobei in anderen Situationen das Sprechen möglich ist. Diese Störung beruht nicht auf fehlenden Sprachfertigkeiten. Artikulation, rezeptive und expressive Sprache der Betroffenen liegen in der Regel im Normbereich. Als Leitsymptom gilt die Selektivität des Sprechens: In einigen sozialen Situationen spricht das Kind meist fließend, in anderen sozialen Situationen bleibt es jedoch stumm oder fast stumm. Es besteht Konsistenz bezüglich der sozialen Situationen, in denen gesprochen bzw. nicht gesprochen wird. Das Kind zeigt häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen). Die Dauer der Störung muss mindestens ein Monat betragen (zur Abgrenzung eines passageren Mutismus soll der erste Monat nach Einschulung/Beginn des Kindergartenbesuchs nicht berücksichtigt werden). Der elektive Mutismus tritt wahrscheinlich mit einer Häufigkeit von unter 1 % auf, deutlich häufiger jedoch bei Migranten. Die Störung betrifft etwas häufiger Mädchen. Ein totaler Mutismus findet sich selten. Im Rahmen eines totalen Mutismus kann der elektive Mutismus als Übergangsstadium vor bzw. nach dem völligen Schweigen angesehen werden. Teilweise ist der totale Mutismus nur aus dem Vergleich mit dem früheren Kommunikationsverhalten diagnostizierbar. Er kann nach schweren seelischen Traumata auftreten. Die Diagnose ist nicht vereinbar mit dem Vorliegen folgender Störungen: schizophrene Störung, speziell Katatonie, tief greifende Entwicklungsstörungen, sehr schwere umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache, morphologische bzw. neurologische Störungen des Sprechapparates. Die Störung sollte nicht durch eine andere Kommunikationsstörung (z. B. Stottern) besser erklärbar sein. Die Bindungsstörungen des Kindes gehören gemäß ICD-10 zu einer heterogenen Gruppe gestörter sozialer Funktionen. Sie beginnen in den ersten fünf Lebensjahren und sind nicht durch eine offensichtliche konstitutionelle Beeinträchtigung oder De346
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fizite verschiedenster sozialer Funktionen charakterisiert. Vermutlich spielen schwerwiegende Milieuschäden oder Deprivation eine entscheidende Rolle in der Pathogenese. Umschriebene Entwicklungsstörungen kommen häufig vor; oft handelt es sich dabei um kombinierte Entwicklungsstörungen. Primär organische Ursachen und/oder tief greifende Entwicklungsstörungen liegen nicht vor. Manchmal fi nden sich Wachstums- und Gedeihstörungen. Alle Symptome sind auf dem Hintergrund von anamnestischen Daten und unter Berücksichtigung ihres Schweregrades zu beurteilen. Verschiedene neue Studien setzen sich kritisch mit dem Merkmal des wahllosen Beziehungsverhaltens auseinander und betrachten es eher als Anpassung an institutionalisierte Erziehung, denn als Kernmerkmal von Bindungsstörungen. Als alternative diagnostische Kategorien werden vorgeschlagen: fehlende Bindung („non-attachment“), Verzerrung der sicheren Basis („secure base distortion“) sowie unterbrochene Bindung („disrupted attachment“). Es liegen bislang keine Ergebnisse epidemiologischer Forschung über die Häufigkeit von Bindungsstörungen vor: Inzidenz und Prävalenz sind unbekannt. Die englische Studie an rumänischen Adoptivkindern mit unterschiedlich langer Deprivationsdauer kommt zu folgenden Ergebnissen: Bei rumänischen Kindern mit langer Deprivationsdauer vor der Adoption lag die Häufigkeit schwerer Bindungsstörungen im Alter von sechs Jahren bei 30 %. Störungen der sozialen Funktionen im Kindesalter zeigen sich als abnorme Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung und Widerstand gegen Zuspruch, eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen, Beeinträchtigung des sozialen Spielens sowie gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen. Typische emotionale Auff älligkeiten sind Furchtsamkeit, Unglücklichsein, ein Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit bis zur Apathie und eine erstarrte Wachsamkeit („frozen watchfulness“). Die genannten Störungen sollten nicht nur auf eine konkrete Person beschränkt sein, sondern in verschiedenen Situationen zu beobachten sein. Die Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung ist charakterisiert durch inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote von fremden Bezugspersonen und nicht selektives Bindungsverhalten mit wechselnder Freundlichkeit und Distanzlosigkeit. Typisch sind ferner Einschränkungen des sozialen Spielens und der Interaktion mit Gleichaltrigen sowie gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen. Emotionale Auff älligkeiten stehen nicht im Vordergrund.
5
Ticstörungen F95
Bei Tics (Tabelle 16) handelt es sich um nicht rhythmische, weitgehend unwillkürliche Bewegungen (gewöhnlich in funktionell umschriebenen Muskelgruppen) oder Lautäußerungen, ohne dass ein offensichtlicher Zweck zu erkennen ist. Die Tics sind plötzlich auftretend und rasch ablaufend, sich einzeln oder in Serien wiederholend. Tics können für unterschiedliche Zeiträume unterdrückt werden und müssen manchmal aus einem inneren sensomotorischen Drang heraus initiiert werden. Sowohl motorische als auch vokale Tics können in einfacher oder komplexer Form auftreten und 347
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unter emotionaler Erregung (freudig oder ärgerlich) verstärkt vorkommen. Tics sind in allen Schlafstadien beobachtbar, allerdings in abgeschwächter Form. Sie verändern sich im Zeitverlauf hinsichtlich Art, Intensität, Häufigkeit und Lokalisation. Tabelle 16 Ticstörungen F95.0
Vorübergehende Ticstörung
F95.1
Chronische motorische oder vokale Ticstörung
F95.2
Kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom)
F95.8
Sonstige Ticstörung
F95.9
Nicht näher bezeichnete Ticstörung
5.1
Klassifikation
Leitsymptome sind die motorischen Tics (Muskelzuckungen in Form von z. B. Blinzeln, Kopfrucken, Schulterrucken) und vokale Tics (Lautäußerungen in Form von z. B. Räuspern, Bellen, Quieken, Ausstoßen von Worten bis hin zur Koprolalie).
5.2
Störungsspezifische Diagnostik
Am zuverlässigsten sind die Informationen durch die Mutter. Insbesondere jüngere Kinder bemerken selbst nur sehr starke Tics. Es geht darum, Art (motorisch, vokal), Lokalisation (proximal, distal), Häufigkeit, Intensität, Verlauf (z. B. Spontanschwankungen, vorübergehende Remissionen) sowie evtl. Empfindungen vor einem Tic und Unterdrückbarkeit sowie eine mögliche Stressempfindlichkeit zu erfassen und Problemverständnis, subjektive Erklärungsmodelle, psychosoziale Belastung und Krankheitsbewältigung zu erfragen. Von Wichtigkeit ist die Verhaltensbeobachtung während der Exploration sowie die körperliche und psychologische Untersuchung. Vorsicht: Mitunter können Tics während dieser Zeit vollkommen unterdrückt werden. Daher empfiehlt sich eher die strukturierte Beobachtung (evtl. mit Videoaufnahmen) durch die Eltern anhand der beispielsweise Yale-Tourette-Syndrom-Symptomliste während einer Woche zu Hause. In der Erhebung der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte sind folgende Faktoren von Bedeutung: Beginn (meist um das siebte Lebensjahr, laut Definition vor dem achtzehnten Lebensjahr), familiäre Belastung, bisherige Behandlungen und Ausschluss organischer Ursachen. Bei einigen Kindern besteht der Verdacht, dass die Ticstörungen durch einen bakteriellen Infekt mit Streptokokken der Gruppe A (z. B. Scharlach, Mandelentzündung) verursacht werden. Bei einer Infektion mit diesen Erregern entwickeln einige Patienten Antikörper gegen die Bakterien, die dann bestimmte Hirnregionen, insbesondere die Basalganglien, angreifen. Dieser Mechanismus ist nur für einen kleinen Teil 348
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der Tic-Erkrankungen verantwortlich, es muss ein zeitlicher Zusammenhang durch plötzlichen Beginn innerhalb von vier Wochen erkennbar sein. Man spricht dann vom PANDAS-Syndrom: Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorder associated with Streptoccocal Infections. Ticstörungen können in unterschiedlichen Schweregraden auft reten, oft nur passager, unter bestimmten Anspannungen oder situativen Belastungen. Sie können durch Stimulanzien verstärkt werden. Das Tourette-Syndrom weist eine wesentlich ungünstigere Prognose auf.
5.3
Therapeutische Interventionen
Entspannungstechniken und verhaltenstherapeutische Methoden bewähren sich bei passageren Tics. Neuere Untersuchungen (Coghill et al. 2005) zeigen, dass der Verlauf sehr wesentlich von der Wahl der richtigen Schule abhängt, dass also Stressfaktoren eine entscheidenden Rolle spielen. In der Elternberatung wird versucht, Überbehütung und übermäßige Rücksichtnahme zu reduzieren. Voraussetzung für die pharmakologische Behandlung einer Ticstörung ist eine erhebliche Beeinträchtigung des Alltagslebens des betroffenen Kindes oder Jugendlichen. Einige wirksame pharmakologische Behandlungsstrategien liegen vor. Eine medikamentöse Therapie sollte grundsätzlich monotherapeutisch und in niedriger Dosierung begonnen werden. Immer wieder sind aber auch Zwei- oder Dreifach-Kombinationen zur Symptombeherrschung notwendig. Primär kommen die selektiven D2-Antagonisten Tiaprid und Sulpirid sowie die typischen D2-antagonisierenden Antipsychotika Pimozid und Haloperidol zum Einsatz. Eine signifikante Reduktion von Tics ist auch durch die Gabe moderner Antipsychotika wie Risperidon, Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon und, wie erste Fallberichte zeigen, mit Aripiprazol zu erzielen. Eine Behandlungsoption stellt auch noch der zentrale Alpha2-adrenerge Agonist Clonidin dar. Dieser ist aber aufgrund zahlreicher Nebenwirkungen wie Blutdruckabfall und ausgeprägter Müdigkeit nur als Reservemedikament anzusehen.
349
Brigitte Hackenberg | Wolfgang Aichhorn
6
Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F98
In dieser Kategorie wird eine heterogene Gruppe von Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend zusammengefasst, deren gemeinsames Merkmal die häufige Verbindung mit psychosozialen Problemen darstellt. Tabelle 17 gibt eine Übersicht dieser Störungen. Tabelle 17 Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F98.0
Nicht organische Enuresis
F98.1
Nicht organische Enkopresis
F98.2
Fütterstörung im frühen Kindesalter
F93.3
Pica im Kindesalter
F98.4
Stereotype Bewegungsstörung
F98.5
Stottern
F98.6
Poltern
Die Enuresis, charakterisiert durch unwillkürlichen Harnabgang ohne organische Ursache ab dem 5. Lebensjahr, tritt am häufigsten nachts (Enuresis nocturna), aber auch tagsüber (E. diurna) oder kombiniert auf. Nach mindestens einjähriger Trockenphase spricht man von sekundärer Enuresis, sonst von primärer E. Die Enuresis ist die häufigste kinderpsychiatrische Störung mit deutlicher Knabenwendigkeit, sie kommt bei 5-Jährigen bei 13 %, bis zum 18. Lebensjahr bei 2 % vor. Das biopsychosoziale Entstehungsmodell, gekennzeichnet durch familiäre Häufung, funktionelle Störungen der zirkadianen Urinsekretion und psychosoziale Probleme, bestimmt auch den Therapieplan, der sowohl verhaltenstherapeutische und/ oder medikamentöse als auch psychotherapeutische und familienorientierte Maßnahmen beinhaltet. Medikamentös kommt Desmopressin, ein synthetisches Analogon des antidiuretischen Hormons, zum Einsatz. Nicht selten kommt es nach Absetzen des Medikaments aber zu einem Rückfall. Die früher häufig verordneten trizyklischen Antidepressiva sind aufgrund ernster kardialer Nebenwirkungen nur mehr als Reservemedikamente anzusehen. Die Enkopresis, das Einkoten als Absetzen von Kot an nicht dafür vorgesehenen Stellen (nach dem 5. Lebensjahr), ist in seiner vollen Ausprägung als relativ schwere kinderpsychiatrische Störung mit einer Prävalenz von unter 2 % anzusehen. Die Psychopathologie der Kinder imponiert als dysphorisch-depressiv mit Stimmungslabilität und Schwierigkeiten im Umgang mit Aggression. Nach Ausschluss organischer Ursachen (z. B. Megacolon congenitum, M. Hirschsprung) ist bei chronisch obstipierten Kindern auch an eine „Überlauf“-Symptomatik zu denken, die eine sorgfältige laxierende Begleittherapie neben der verhaltens- und familienorientierten Psychotherapie erfordert.
350
Kinder- und Jugendpsychiatrie | 9
Die für das frühe Kindesalter spezifische Fütterstörung wird nur diagnostiziert, wenn das Ausmaß deutlich außerhalb der (weiten) Norm kindlichen Essverhaltens liegt und es zu mangelnder Gewichtszunahme oder Gewichtsverlust kommt. Als begleitende Störung wird gelegentlich Rumination (wiederholtes Heraufwürgen von Nahrung ohne Übelkeit) beobachtet. Im Zentrum der therapeutischen Maßnahmen steht die Beeinflussung der Mutter-Kind-Interaktion. Pica, definiert als anhaltender Verzehr nicht essbarer Substanzen, und die Stereotype Bewegungsstörung als willkürliches, wiederholtes, nicht funktionales motorisches Verhalten (ohne erkennbaren Zusammenhang mit einer neurologischen oder psychiatrischen Erkrankung) treten häufig in Verbindung mit Intelligenzminderungen auf. Stottern als Unterbrechung des rhythmischen Sprechflusses und Poltern als hohe Sprachgeschwindigkeit mit gestörter Sprechflüssigkeit sind, im Unterschied zu den übrigen Störungen des Sprechens und der Sprache als „Achse 1-Störungen“, primär als psychische Störungen anzusehen, die üblicherweise sowohl einer psychotherapeutischen als auch einer logopädischen Behandlung bedürfen.
Weiterführende Literatur Knölker U (2007) Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie systematisch, 4. Aufl. UNI-MED, Bremen
Remschmidt H, Mattejat F, Warnke A (Hrsg) (2008) Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Th ieme, Stuttgart
Paulitsch K, Karwautz A (2008) Grundlagen der Psychiatrie. Facultas, Wien
Schweitzer J, von Schlippe A (2006) Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Remschmidt H, Schmidt M, Poustka F (Hrsg) (2006) Multiaxiales Klassifi kationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO, 5. Aufl. Hans Huber, Bern
Spiel W, Spiel G (1987) Kompendium der Kinderund Jugendpsychiatrie. E. Reinhardt, München Steinhausen H-C (2006) Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen, 6. Aufl. Urban & Fischer, München
351
Kapitel 10
Gerontopsychiatrie Josef Marksteiner, Hartmann Hinterhuber, Christian Haring
1
Definition und Grundlagen
Die Gerontopsychiatrie beschäft igt sich mit älteren Menschen und ihren psychischen Erkrankungen und umfasst Nosologie, Diagnostik, Therapie und Prävention von psychiatrischen Störungen, die das Alter begleiten oder durch Altersvorgänge ausgelöst werden. Darüber hinaus berücksichtigt sie die somatischen, psychischen und sozialen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit im Alter. Infolge des demografischen Wandels gewinnt die Gerontopsychiatrie zunehmend an Bedeutung. Die Altersgrenze, ab welcher Patienten der Gerontopsychiatrie zugeordnet werden, lässt sich nicht eindeutig festlegen: Zumeist wird sie mit 65 Jahren festgesetzt. Die dem Altern zugrunde liegenden Prozesse lassen sich nicht punktgenau definieren. Die oftmals großen individuellen Unterschiede ergeben sich dadurch, dass biologisches und soziales Alter deutlich voneinander abweichen können. Neue Therapiemöglichkeiten stimulieren das Fach, wie beispielsweise erweiterte medikamentöse Behandlungsoptionen bei Demenzen und Depressionen sowie die Umsetzung erfolgreicher Formen der Psychotherapie im Alter. Menschen leben heute im Durchschnitt nicht nur länger als früher, sondern sind auch im Alter körperlich und psychisch gesünder und leistungsfähiger. Das einstige – einengende – „Defizitmodell“ des Alterns wird heute durch die Faktoren der Entwicklungsmöglichkeiten, der Kompensation und der autoprotektiven Kräfte erweitert: Dadurch wurde es durch ein „Ressourcenmodell“ abgelöst. Die Einstellung zu alternden Menschen macht eine Kulturrelativität deutlich: Neben Kulturen, in denen die Wertminderung des alten Menschen seine soziale Position bestimmt, finden sich solche, in denen das Alter eine besondere Würde genießt und dem Greis als Träger von Erfahrung, Wissen und Tradition hohe Achtung entgegengebracht wird.
2
Biologisches Altern und soziales Umfeld
Altern ist als biologisch determinierter Prozess auf das Ende des Lebens orientiert: Es wird von individuellen, genetischen und umweltbedingten Faktoren beeinflusst. Der Alterungsprozess kann bis zu einer gewissen Grenze durch Umweltbedingungen, Ernährung, Lebensstil, Training, psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen sowie durch neu entwickelte Neuropsychopharmaka günstig beeinflusst werden. Seelische Gesundheit jenseits des 65. Lebensjahres ist nicht allein eine Variable der Gehirnfunk353
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
tion oder genetischer und konstitutioneller Faktoren, die gerontologische Forschung der letzten Jahrzehnte stellte darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Einflussgrößen fest: die Intaktheit der sozialen Beziehungen, Ausmaß und Inhalt von Beschäftigung und Freizeitgestaltung, das Arrangement des Zusammenlebens und Wohnens, die Struktur familiärer Beziehungen, die wirtschaft liche Sicherheit sowie das psychosoziale Hilfsangebot der Gesellschaft und vieles andere mehr. Entscheidend für den alternden Menschen sind die ihm zur Verfügung stehenden Verarbeitungsmechanismen. Oft entwickelt der alternde Mensch eine zunehmende Ichbezogenheit, auch engen sich Denken und Interessen auf den eigenen Körper und dessen Funktionen ein. Verlusterlebnisse und das Bewusstsein der Insuffizienz bedingen häufig eine hypochondrische Verstimmung, aus der heraus jedes Körpersymptom als gravierend wahrgenommen wird. Alte Menschen versuchen andererseits aber auch, Erkrankungen zu verleugnen und zu verdrängen. Eine weitere charakteristische Form der Auseinandersetzung ist das regressive Verhalten, das durch die Aufgabe der Eigeninitiative und – damit verbunden – durch einen Appell an die Hilfe anderer gekennzeichnet ist. Dieses Verhalten, das in eine erlernte Hilflosigkeit einmünden kann, wird oft durch überprotektive, entmündigende Mechanismen der Umgebung, der Angehörigen wie der Institutionen (Altersheime, Pflegeheime) gefördert. Diese Verarbeitungsmuster müssen frühzeitig erkannt werden, damit die daraus resultierenden Fehlhaltungen durch psychoedukative und psychotherapeutische Maßnahmen verhindert werden können.
2.1
Verlustsituationen des höheren Lebensalters
Menschen im höheren Erwachsenenalter sind mit vielfältigen Verlustsituationen konfrontiert. Viele Untersuchungen konnten zeigen, dass psychische Störungen im Alter oft in zeitlicher Folge von Verlusten stehen. Typische Verlusterlebnisse sind: • Verlust von Bezugspersonen, • Verlust von Zielvorstellungen und Zukunftserwartungen, • Verlust der körperlichen Unversehrtheit, • Verlust der beruflichen Herausforderung. Der sogenannte „Ruhe-Stand“ und die damit verbundenen oft negativen sozialen Veränderungen stehen in einem engen Zusammenhang mit den psychischen Störungen alter Menschen. Viele Untersuchungen zeigen, dass die „Chance der neuen Freiheit“ häufig nicht in erhofftem Maße genutzt wird. Insbesondere Männer verkraften den mit dem „Ruhe-Stand“ verbundenen Rollen- und Statusverlust häufig nur schwer. Psychisch klassifizierbare Störungen kommen nicht nur unmittelbar nach Eintritt der Pensionierung vor, sondern treten häufig erst Jahre später als Ergebnis eines nicht bewältigten Überganges in Erscheinung.
354
Gerontopsychiatrie | 10
2.2
Der Alterungsprozess
Es gibt viele Theorien über das Altern. Keine einzige ist allumfassend. Der größte Konsens besteht darin, dass es sich beim Alterungsprozess um intrinsische zelluläre Veränderungen handelt, die zu neuronalen und endokrinen Veränderungen führen. Die physiologischen Alterungsvorgänge sind nicht Thema der Psychiatrie des Alterns, sie bleiben jedoch in ihrem Blickfeld, da mit zunehmendem Alter gesetzmäßig auft retende organische und psychische Veränderungen mit krankhaften Phänomenen zusammentreffen. Die Anzahl der Synapsen nimmt mit Fortschreiten des Alters ab. Das Hirnvolumen verringert sich zwischen dem 80. und 90. Lebensjahr um etwa 6 %. Dabei kann sowohl der Beginn der Verringerung des Hirnvolumens als auch die Geschwindigkeit des Prozesses individuell sehr unterschiedlich sein. Nicht alle psychischen Störungen im höheren Lebensalter sind altersspezifisch: Oft handelt es sich um psychische Krankheiten, die auch bei jüngeren Menschen vorkommen, nun aber in Verbindung mit den biografischen Abläufen und biologischen Alterungsprozessen eine für den zweiten Lebensabschnitt typische Ausprägung erfahren. Psychische Krankheiten zeigen im Alter nicht selten einen Symptom- bzw. Verlaufswandel: Die Krankheitsaktivität kann einerseits mit fortschreitendem Alter geringer werden (zum Beispiel bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenien), andererseits besteht auch die Tendenz zu schwereren Verläufen (zum Beispiel bei einem Teil der affektiven Störungen). Die soziale Situation vieler alter Menschen und die zunehmenden Gesundheitsstörungen beeinflussen sich gegenseitig ungünstig. Unter dem sozialen Druck negativer Fremdbilder nehmen defensive Persönlichkeitszüge zu. Die Veränderungen der Persönlichkeit im Alter sind aber meist als Fortsetzung bzw. Verschärfung der vorbestehenden Persönlichkeitszüge zu interpretieren. Als krankhaft sind jene Veränderungen anzusehen, die zum Wesen und der Persönlichkeit des Betroffenen im Widerspruch stehen.
3
Ursachen psychischer Störungen im Alter
Ein höheres Lebensalter ist immer mit einem erhöhten Krankheitsrisiko verbunden. Häufig bedingen bei älteren Menschen körperliche Erkrankungen, Stoff wechselentgleisungen und Nebenwirkungen von Medikamenten gravierende psychische Störungen. Hinzu kommt, dass ältere Menschen eine Multimorbidität sowie eine längere Krankheitsdauer aufweisen.
355
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
4
Epidemiologie gerontopsychiatrischer Erkrankungen
In der Bevölkerung steigt mit zunehmendem Lebensalter die Häufigkeit chronischer Krankheiten. Bei allen Alterskrankheiten, so auch bei den gerontopsychiatrischen Erkrankungen, gibt es eine Abhängigkeit von spezifischen biologischen Krankheitsursachen, von generellen körperlichen Veränderungen sowie spezifischen psychologischen und sozialen Umstrukturierungen. Mehr als 25 % der alten Menschen in der Allgemeinbevölkerung leiden an psychischen Erkrankungen. Dabei sind Depressionen und Demenzen die häufigsten Störungen. Die Häufigkeit der wesentlichen Störungen gibt die Tabelle 1 wieder. In psychiatrischen Krankenhäusern ist der Anteil der Alterskranken in den letzten Jahrzehnten erheblich angestiegen, sie stellen heute mit 20 bis 30 % eine der größten Aufnahmegruppen dar. Tabelle 1
Die häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Alter
Ambulant
Langzeitpflege
Demenz
Demenz
50–70 % 10–15 %
Alter > 65
10 %
Affektive Erkrankungen
Alter > 85
45 %
Angsterkrankungen
4–8 %
Depression
4–5 %
Schizophrenie
0–4 %
Substanzmissbrauch
1–5 %
Mentale Retardation/Oligophrenie
1–5 %
Wahn
0,1–4 %
5
Klinische Syndrome
5.1
Leichte kognitive Beeinträchtigung: Zwischenstadium zwischen normalem Altern und Demenz F06.7
Leichte kognitive Störungen (englisch „Mild Cognitive Impairment“ MCI) sind per definitionem Minderungen der geistigen Leistungsfähigkeit, die nicht so schwerwiegend sind, dass die Diagnose einer Demenz gestellt werden kann. Für eine leichte kognitive Beeinträchtigung sprechen folgende Hinweise: • Klagen über Gedächtnisstörungen, die von einem Bekannten oder Angehörigen bestätigt werden • Beeinträchtigte Gedächtnisleistung in Relation zu Alter und Bildung • Erhaltene allgemeine kognitive Fähigkeiten • Intakte Aktivitäten des täglichen Lebens • Keine Demenzzeichen
356
Gerontopsychiatrie | 10
Leichte kognitive Störungen sind somit charakterisiert durch subjektiv empfundene Gedächtnisstörungen, Lernschwierigkeiten und die verminderte Fähigkeit, sich längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Oft besteht beim Versuch, Aufgaben zu lösen, ein Gefühl geistiger Ermüdung. Objektiv erfolgreiches Lernen wird subjektiv als schwierig empfunden. Die Alltagskompetenz ist nicht oder nur in geringem Maß beeinträchtigt. Es finden sich keine organischen oder psychischen Ursachen, die den Zustand erklären könnten. Das Mild Cognitive Impairment (MCI) stellt einen häufigen Übergang zwischen der normalen Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit im Alter und der Demenz vom Alzheimertyp (DAT) dar. Für die Diagnose ist es jedoch erforderlich, dass die festgestellten kognitiven Defizite über altersbedingte Leistungsverluste eindeutig hinausgehen. Beim MCI handelt es sich um ein ätiologisch, psychopathologisch und prognostisch uneinheitliches Syndrom, die Diagnose ist rein beschreibend. Die meisten Studien beziehen sich auf sehr gut getestete und gut motivierte Patienten: Diese sind aber nicht repräsentativ für übliche klinische Stichproben, somit sind auch nicht alle Forschungsergebnisse auf die klinische Realität übertragbar. Die Ursachen können sehr unterschiedlich sein: Häufig sind es Vorstufen einer Demenzerkrankung des Alzheimertyps oder einer vaskulären Demenz. Leichte kognitive Störungen können reversibel im Rahmen von Depressionen oder akuten organischen Psychosyndromen vorkommen. Tabelle 2 Möglicher Verlauf einer länger anhaltenden leichten kognitiven Beeinträchtigung Leichte kognitive Beeinträchtigung. Die Gedächtnisleistung ist besonders betroffen (MCI Amnestischer Typ)
M. Alzheimer
Leichte kognitive Beeinträchtigung. Betroffen sind Gedächtnisleistung und weitere kognitive Bereiche (MCI Amnestischer Typ, multiple domains)
M. Alzheimer Vaskuläre Demenz normales Altern
Leichte kognitive Beeinträchtigung ohne signifikante Störung der Gedächtnisleistung (MCI nichtamnestischer Typ, multiple domains)
Frontotemporale Demenz Demenz mit Lewy-Körperchen Parkinson und Demenz Vaskuläre Demenz Andere Demenzformen
Menschen mit leichten kognitiven Störungen entwickeln in 80 % innerhalb von sechs Jahren eine Demenz. Beim „MCI – amnestischer Typ“ wird gefordert, dass objektive Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistung vorliegen. Patienten, die an dieser MCIForm leiden, haben eine besonders hohe Konversionsrate für eine Alzheimerkrankheit. Eine Atrophie hippokampaler Regionen gilt als sensitiver biologischer Marker von MCI und beginnender AD. Neben der etablierten Hippokampus-Volumetrie bietet die Diff usions-Tensor-Bildgebung (DTI) eine neue Möglichkeit der Quantifi zierung funktionell-relevanter struktureller neurodegenerativer Syndrome.
357
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
5.1.1
Therapeutische Bemühungen
Aufgrund der hohen Konversionsrate von MCI-Patienten zu Alzheimerpatienten werden sehr intensive Anstrengungen unternommen, um diese Patientengruppe effektiv behandeln zu können. Es hat sich aber gezeigt, dass keine der etablierten medikamentösen Alzheimer-Therapieformen (Cholinesterase-Hemmer, Memantin) die Konversionsrate von MCI zur Alzheimerkrankheit signifi kant reduzieren. Eine Behandlung mit den genannten Medikamenten kann derzeit nicht empfohlen werden. Von großer Bedeutung sind jedoch stützende Maßnahmen wie die Förderung von körperlichen wie intellektuellen Aktivitäten. Darüber hinaus scheint bereits in diesem Stadium die Angehörigenbetreuung von großer Wichtigkeit. Die Betroffenen sind auch in regelmäßigen Abständen neuropsychologisch zu kontrollieren.
5.2
Demenzen
5.2.1 Epidemiologie demenzieller Erkrankungen Das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, steigt mit dem Alter. So leidet im Alter zwischen 65 und 69 Jahren jeder Zwanzigste an einer Demenz, zwischen 80 und 90 ist fast jeder Dritte betroffen. Die Wahrscheinlichkeit an einer Demenz zu erkranken steigt mit dem Alter (siehe Abb. 1). Weil in unserer Gesellschaft der Anteil älterer Mitbürger zunimmt, ist auch eine Zunahme an Demenzkranken zu erwarten. Der Anteil alter Menschen mit kognitiven Einschränkungen wird somit in Zukunft durch die Überalterung der Gesellschaft steigen. So rechnen Experten für das Jahr 2030 mit 2,5 Millionen Demenzkranken in Deutschland. Im Jahr 2000 wurden in Österreich 90.500 Betroffene geschätzt. Bis zum Jahr 2050 soll sich diese Zahl auf etwa 235.000 erhöhen (Wancata, 2001). Frauen haben eine etwas höhere Prävalenz der Alzheimererkrankung. Sind in der Altersgruppe 65–69 Jahre etwa 0,7 % der Frauen und 0,6 % der Männer betroffen, so steigen diese Zahlen bei 85–89-jährigen auf 14,2 % und 8,8 %. Die Inzidenz ist ebenfalls in allen Altersgruppen bei Frauen höher.
358
Gerontopsychiatrie | 10
Betroffene Bevölkerung (%) 30 25 20 15 10 5
30–59
Abb. 1
60–64
65–69
70–74
75–79
80–84
85–89
90+
Die Häufigkeit demenzieller Erkrankungen in Bezug auf das Alter
5.2.2 Diagnostische Maßnahmen Die Demenzdiagnostik soll in der Regel ambulant erfolgen, sofern alle notwendigen Untersuchungsschritte verfügbar sind. Eine stationäre Aufnahme ist in der Regel bei komplizierten und unklaren Fällen, bei jungen Patienten, beim Vorliegen neurologischer Symptome sowie bei ungeklärter internistischer Situation und anstehender Liquorpunktion erforderlich. Spezialisierte Einrichtungen erzielen eine diagnostische Sicherheit von 80–90 %. Wesentlich ist der Ausschluss von behandelbaren intrakraniellen und internistischen Erkrankungen sowie einer Depression und eines Verwirrtheitszustandes. Für die Erhebung der Anamnese und der Fremdanamnese bietet sich folgendes Vorgehen an: • Familienanamnese: Gibt es demenziell erkrankte Familienmitglieder? Eine strukturierte Angehörigenbefragung kann zur Diagnosesicherung beitragen. • Initiale und derzeitige Defizite, Progressionsmodus • Alltagsbewältigung für basale und anspruchsvolle Aktivitäten • Defizite in den Bereichen Orientierung, Gedächtnis (für Gesprächsinhalte und Ereignisse), räumliches Denken (Ablesen, Zeichnen, Zusammensetzen, Einräumen), Sprache (u. a. Wortfindung, Wortflüssigkeit, Verständnis), Geschwindigkeit des Denkens, Handelns und Sprechens, Praxie • Grundgestimmtheit, Antrieb, Sprachantrieb, Wesensänderung • Psychiatrische Symptome (z. B. Paranoia, Wahnsymptome, Schlafstörung, Affektlabilität • Erstellung einer Medikamentenanamnese • Hinweise auf Gefahren, beispielsweise beim Autofahren oder bei der Bewältigung der Alltagsaufgaben (Benutzung eines Küchenherdes)
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Für die Diagnose einer Demenz sind folgende Schritte obligatorisch (siehe Tabelle 3). Tabelle 3 Diagnostische Maßnahmen bei Verdacht auf ein demenzielles Syndrom Anamnese Eigenanamnese Außenanamnese Familienanamnese Sozialanamnese Neurologischer Status Psychiatrisch-psychopathologischer Status Internistischer Status Neuropsychologie Kognitive Tests Depressionsskalen Erfassung von Psychosen und Verhaltensstörungen Laborparameter Komplettes Blutbild Elektrolyte (Na, K, Cl, Kalzium, Phosphat) Nierenfunktionsparameter Leberfunktionsparameter Blutzucker Schilddrüsenfunktionsparameter (TSH, T4) Vitamin B12/Folsäure Bildgebung CCT, besser MRT Koronare Schichten, Atrophiemuster
Optional können weitere diagnostische Maßnahmen getroffen werden (siehe Tabelle 4). Tabelle 4 Optionale diagnostische Maßnahmen EEG SPECT/PET Dopamin-Transporter-SPECT Genetische Untersuchung Apolipoprotein E Autosomal dominante Mutationen (z. B. bei Verdacht auf CADASIL) Liquoranalyse Tau-Protein, Phopho-Tau-Protein
360
Gerontopsychiatrie | 10
Neuropsychologische Diagnostik Die neuropsychologische Diagnostik ist ein sehr wesentlicher Baustein für die Demenzdiagnostik. Sie dient dem objektiven Nachweis einer kognitiven Störung, der Differenzialdiagnose, der Schweregradeinteilung sowie Verlaufsbeurteilung. Die Verhaltensbeobachtung während der Testuntersuchung ist wichtig und kann zusätzliche wertvolle diagnostische Hinweise liefern. Als Screening-Tests sowie als orientierende Hilfen in der Verlaufsbeobachtung und zur Stadieneinteilung werden Kurztests empfohlen: Mini-Mental-Status-Test (MMSE), Demenz-Detections-Test (DemTect) und der Uhrentest (Clox-Test). Sie genügen nicht für eine differenziertere Diagnostik. Standardisierte Tests und Testserien dienen der Erstellung eines Defizit-Profi ls und damit der Differenzialdiagnose: CERAD-Testserie, Tests aus dem Nürnberger Altersinventar (z. B. Zahlenverbindungstest ZVT-G für ältere Personen), Trail-Making-Test A und B, Tests aus dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene. Strukturelle zerebrale Bildgebung Eine strukturelle Bildgebung wird als obligatorisch empfohlen. Wenn möglich ist eine Magnetresonanztomografie aufgrund der höheren Aussagekraft als Methode der ersten Wahl in der Primärdiagnostik von unklaren, neu aufgetretenen kognitiven Störungen und demenziellen Abbauerscheinungen durchzuführen und einer Kranialen Computertomografie vorzuziehen. Mit quantitativen MRT-Verfahren können Gesamt- und Teilvolumina (z. B. Hippokampus) sowie Atrophieraten (Prozent pro Jahr) bestimmt werden. Diese Verfahren sind aufwändig und derzeit kaum für die Routinediagnostik einsetzbar. Das CCT ohne Kontrast kann aus diagnostischer Sicht ausreichend sein, wenn nicht primär Hinweise auf eine entzündliche, tumoröse oder metabolische Erkrankung bestehen. Perfusions-Spect Das Ziel einer Perfusions-SPECT-Untersuchung ist der Nachweis typischer Hypoperfusions-Muster bei degenerativen Erkrankungen. Das Verfahren ist für die Diagnose und Differenzialdiagnose von lobären Atrophien (frontotemporale Demenzformen) und Morbus Alzheimer geeignet. Der Stellenwert des SPECT ist wegen des Fehlens von populationsbasierten Studien, die eine Abschätzung der positiven und negativen prädiktiven Werte erlauben würden, nicht abschließend zu beurteilen. Dopamin-Transporter-Spect (Dat-Scan) Für die Beurteilung der präsynaptischen Dopamin-Wiederaufnahme (z. B. mit 123IFP-CIT) als Marker für die Integrität des nigrostriatalen Systems hat sich diese Methode etabliert. Die Anwendung ist besonders indiziert in der Differenzialdiagose von Demenzerkrankungen mit hypokinetisch-rigidem Syndrom. Es besteht eine hohe Spezifität (90%) für die Diagnose einer Lewy-Körperchen-Demenz gegenüber anderen Demenzformen. Die hohen Kosten schränken allerdings die Verfügbarkeit dieser Methode ein.
361
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
Positronenemissionstomografie Durch Glukose-PET kann der Nachweis eines typischen Hypometabolismus-Musters bei degenerativen Erkrankungen erfolgen. Wichtig ist die PET auch bei der Suche nach Hinweisen für entzündliche Veränderungen (z. B. bei Verdacht auf limbische Enzephalitis). Weitere PET-Verfahren sind an einzelnen Zentren verfügbar, jedoch nicht in der klinischen Diagnostik etabliert (z. B. Quantifi zierung von L-Dopa-Metabolismus, Acetylcholinesterase-Aktivität, Amyloidbeladung, Nikotinrezeptoren). Bei gleichem klinischem Einsatzbereich ist die PET der SPECT im direkten Vergleich überlegen. Insbesondere der direkte Nachweis von Amyloidplaques durch den sogenannten PIBTracer wird derzeit intensiv beforscht. EEG Der Stellenwert einer EEG-Untersuchung hat sich in der Demenzdiagnostik verändert. Das EEG trägt wenig zur Differenzialdiagnose bei, ist jedoch sensitiv für einige organische Erkrankungen. Bei Alzheimerdemenz und Lewy-Körperchen-Demenz wird oft eine diff use Verlangsamung des Grundrhythmus gefunden. Das EEG ist dagegen typischerweise normal bei frontotemporaler Demenz und nichtorganischen Störungen. Periodische Sharp-Wave-Komplexe stützen die Diagnose einer Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung. Erweiterte Labordiagnostik Bei Vorliegen eines begründeten Verdachts muss an folgende Untersuchungen gedacht werden: Lues-Suchtest, HIV- und Borrelien-Serologie, Bestimmung von Kalzium und Phosphat (Hypoparathyreoidismus), immunologisches Screening einschließlich Schilddrüsen-Antikörpern, Drogen- und Schwermetall-Screening (Blei, Quecksilber), HbA1c (Diabetes), Kupfer-Clearance im 24-Stunden-Urin (Morbus Wilson), Vitaminund Hormonspiegel (B1, B6, Niacin, Kortisol, Parathormon), ggf. Selen/Wismut bei Einnahme entsprechender Präparate. Liquordiagnostik Die Liquordiagnostik kann zum Ausschluss von entzündlichen Veränderungen (akute/chronische Infektion, Multiple Sklerose, Vaskulitis, limbische Enzephalitis) genützt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Bestimmung von Amyloid-Peptiden, GesamtTau, sowie hyperphosphorlytiertem Tau-Protein die Spezifität und Sensitivität der Diagnose Alzheimerkrankheit signifi kant erhöht. Bei Verdacht auf Creutzfeld-JakobKrankheit ist der Nachweis der Proteine 14-3-3, Tau, S 100 und NSE angezeigt. Eine Entlastungspunktion bei Verdacht auf Normaldruckhydrozephalus kann sowohl aus diagnostischen und therapeutischen Gründen durchgeführt werden. Genetische Diagnostik Der Nachweis von Genmutationen soll nur bei konkretem Verdacht auf erbliche Erkrankung, ausschließlich in Verbindung mit einer humangenetischen Beratung und mit schrift lichem Einverständnis erfolgen.
362
Gerontopsychiatrie | 10
5.2.3 Differenzialdiagnose Demenz Kognitive Beeinträchtigungen fordern eine detaillierte differenzialdiagnostische Abklärung. Ist die Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit durch das Vorliegen einer Systematrophie bzw. eines intrakraniellen oder extrazerebralen Tumors erklärbar? Besteht ein Vitamin-Mangel-Zustand oder eine metabolisch-endokrinologische Enzephalopathie oder eine immunologische Erkrankung? Von besonderer Bedeutung ist die Abgrenzung eines demenziellen Prozesses von chronisch organischen psychischen Störungen. Auch das Vorliegen einer schweren Depression oder eines schizophrenen Residualzustandes kann gelegentlich auch die differenzialdiagnostische Zuordnung erschweren. Delir Das Delir geht mit Bewusstseinstrübungen und vegetativen Begleitsymptomen einher und ist im Gegensatz zur Demenz fluktuierend. Das Delir ist kurzdauernd und durch einen eindeutigen Auslöser verursacht. Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten kann es geben, wenn ein Delir im Rahmen einer demenziellen Erkrankung auftritt (Delir bei Demenz). Schizophrene Residualsyndrome Schizophrene Residualzustände können sich auch wie eine Demenz darstellen, entscheidend ist jedoch die bestehende dynamische Entleerung und Affektverflachung. Bei Schizophrenen finden sich im Allgemeinen keine Orientierungsstörungen, auch lässt sich kein eindeutiges hirnorganisches Korrelat nachweisen. Entscheidend für die Differenzialdiagnose ist die Berücksichtigung der biografi schen Anamnese. „Pseudodemenzen“ bei affektiven Erkrankungen Bei schwer depressiven Zuständen können Gedächtnisschwäche sowie Denk- und Konzentrationsstörungen zum Bild einer „Pseudodemenz“ führen, da die intellektuellen Fähigkeiten insgesamt vermindert erscheinen. In der Regel stehen Störungen der Stimmung und des Affekts im Vordergrund. Die Anamnese und der phasische Verlauf führen zur Sicherung der Diagnose. Psychologische Tests – so sie nicht unter Belastung durchgeführt worden sind – können eine Demenz von einer Pseudodemenz nur schwer trennen. Oligophrenien Die exakte Diagnose kann unter Einbeziehung biografischer Daten leicht gestellt werden: Von besonderer Bedeutung ist die Berücksichtigung des in der Vergangenheit erreichten intellektuellen Niveaus. Diagnostische Probleme können dann bestehen, wenn ein Grenz- oder Minderbegabter im Alter zusätzlich eine zerebrale Abbausymptomatik aufweist. 5.2.4 Formen und Prävalenz der Demenz Eine Beeinträchtigung vieler höherer kortikaler Funktionen kommt in Verbindung mit Motivationsverlust, gestörter emotionaler Kontrolle und Verschlechterung des 363
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
Sozialverhaltens bei der Alzheimererkrankung, bei zerebrovaskulären Störungen und bei anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn betreffen. Die Tabelle 5 zeigt die Gliederung der unterschiedlichen Demenzformen nach der internationalen Klassifi kation psychischer Störungen ICD-10. Tabelle 5 Demenzformen nach ICD-10 ICD-10 Neurodegenerative Erkrankungen
F00 F00.0 F00.1 F00.2
Alzheimererkrankung Früher Beginn Später Beginn Atypisch oder gemischt
Vaskuläre Erkrankungen
F01 F01.0 F01.1 F01.2 F01.3 F01.8
Vaskuläre Demenz Mit akutem Beginn Multiinfarkt (vorwiegend kortikal) Subkortikale VAD Gemischt kortikale und subkortikale Andere VAD
Andernorts klassifizierte Erkrankungen
F02.8
Demenz bei HIV-Erkrankung, bei progressiver Paralyse, Neurosyphilis, Periarteriitis nodosa, systemischer Lupus erythematodes, bei Mb. Parkinson, Mb. Huntington, Mb. Pickschen sowie Creutzfeldt-Jakobscher Erkrankung und bei Schädel-Hirn-Trauma
Die Häufigkeit der einzelnen demenziellen Syndrome gibt nachfolgende Tabelle 6 wieder. Tabelle 6 Häufigkeit der einzelnen demenziellen Syndrome Demenzform
Häufigkeit in %
Alzheimerkrankheit
55–65 %
Alzheimer und vaskulär gemischt
10–15 %
Vaskuläre Demenz Lewy-Körperchen-Demenz (LBD) und Parkinson Demenz
5–10 % 10–15 %
Frontotemporale Demenz
5%
Andere Demenzen
5%
5.3
Prävention demenzieller Erkrankungen
Da immer mehr Menschen ein höheres Lebensalter erreichen und damit auch die Häufigkeit chronischer und Mehrfacherkrankungen zunimmt, kommt dem Bereich der Prävention eine immer größer werdende Bedeutung zu. Körperliche und psychische Gesundheit sind im höheren Lebensalter besonders eng miteinander verflochten. 364
Gerontopsychiatrie | 10
Derzeit gibt es aber nur wenige Forschungsergebnisse über geeignete und effektive präventive Maßnahmen. Daher können präventive Maßnahmen im Wesentlichen nur nach Erfahrungswerten empfohlen werden. Die meisten behandelbaren Risikofaktoren für Schlaganfall sind auch direkte Risikofaktoren für die Alzheimer-Demenz. Die stärkste Evidenz besteht für Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, erhöhtes LDL-Cholesterin und Zigarettenrauchen. Durch eine Beeinflussung dieser Risikofaktoren kann die Wahrscheinlichkeit, an der Alzheimerkrankheit zu erkranken, reduziert werden. Eine medikamentöse Prävention für Demenz und die Alzheimerkrankheit im Speziellen ist bis heute nicht gesichert. Die nichtmedikamentöse Demenzprävention im Sinne einer gesunden Lebensweise kann allen Personen empfohlen werden. Körperliche Aktivität (dreimal pro Woche je eine Stunde z. B. Tanzen, Nordic Walking etc.) und Denkaktivitäten wie Brettspiele, Musizieren oder Lesen können das Demenzrisiko mindern. Auch soziale Interaktionen (emotionale Aktivität) wirken der Demenzentwicklung entgegen. „Gesunde Diät“ wie Gemüse (vor allem Blattgemüse), Obst und ein- bis zweimal wöchentlich Fischmahlzeiten kann ebenfalls das Demenzrisiko senken.
6
Alzheimerkrankheit F00
6.1
Symptomatik
Reduzierte Hirnfunktionen und kognitive Defizite gehören zu den Hauptmerkmalen der Demenz. Besonders hervorstechend ist die signifikante Gedächtnisschwäche. Am Beginn der Erkrankung sind besonders die Merkfähigkeit und das Kurzzeitgedächtnis betroffen, das Langzeitgedächtnis bleibt noch längere Zeit erhalten. Oft eilen Persönlichkeitsveränderungen der Symptomatik voraus: Der Kranke ist dysphorisch, ängstlich, depressiv und apathisch. Bemerkenswert sind weiters ein Mangel an Spontanität und ein stiller Rückzug aus den sozialen Aktivitäten. Die Betroffenen zeigen meist noch lange ein gepflegtes Erscheinungsbild, sie sind kooperativ und verhalten sich sozial angepasst, wenngleich öfters eine gereizte oder eine flach euphorische Verstimmung auff ällt. Gelegentlich kommen Triebdurchbrüche mit Essattacken und sexuellen Verhaltensstörungen vor. Im weiteren Verlauf sind Sprachstörungen bis zum totalen Sprachzerfall häufig, weiters bestehen Apraxien und Agnosien. Daneben können noch szenische Halluzinationen, Verwirrtheitszustände, Delirien, Wahnsymptome und andere psychotische Phänomene auft reten. Die einzelnen kognitiven und nicht-kognitiven Symptome zeigen sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Abb. 2). Im Endstadium entwickelt sich eine apathische Demenz mit Bettlägerigkeit und Inkontinenz: Die Patienten sind nun unansprechbar und stumm. Die Krankheit mündet schließlich in einen raschen terminalen Verfall mit letalem Ausgang.
365
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Kognition
Verschlechterung
Mobilität
Verhalten
Stimmung
Zeit
Abb. 2
6.2
Symptome im Verlauf einer Alzheimerkrankheit (modifiziert nach Gauthier, 1999)
Beginn, Schweregrade und Verlauf
Der Beginn der primär degenerativen Demenz kann bereits im mittleren Erwachsenenalter oder – sehr selten – sogar früher liegen: Es handelt sich dann um eine Alzheimererkrankung mit präsenilem Beginn F00.0. Tritt die Symptomatik vor dem 65. Lebensjahr auf, sind ähnliche Fälle in der Familie wahrscheinlich; die Erkrankung nimmt einen raschen Verlauf. Im Vordergrund stehen Symptome einer temporalen und/oder parietalen Schädigung mit Dysphasie oder Dyspraxie. Patienten mit späterem Beginn weisen einen langsameren Verlauf auf und werden durch allgemeine Beeinträchtigungen der höheren kortikalen Funktionen charakterisiert (siehe Abb. 3).
366
Gerontopsychiatrie | 10
Zeit?
Kognitive Funktion
normal MMSE 26–30 Milde subjektive/ objektive Gedächtnisprobleme Normale Alltagsfunktionen
0
10 Jahre
leichte AD MMSE 20–25 Vergesslichkeit Wiederholte Fragen Alltagsfunktionen leicht beeinträchtigt
mittlere AD MMSE 10–19 Fortschreiten der kognitiven Dezifite Wortfindungsstörungen Supervision erforderlich
schwere AD MMSE 0–9 Agitiertheit Verhaltensauffälligkeiten Ganz auf Unterstützung angewiesen (z. B. Anziehen, Baden)
Abb. 3
Klinischer Verlauf der Alzheimerkrankheit
Die Verlaufsgestalt der primär degenerativen Demenz ist meist schleichend, einförmig und deutlich progredient. Die Progressionsrate kann jedoch individuell sehr unterschiedlich sein. Die Dauer der Krankheit, die jeweils mit dem Tod endet, schwankt zwischen 5 und 20 Jahren. Die Abb. 6 gibt den Verlauf sowie die Risikofaktoren der Alzheimerkrankheit wieder. Die Bestimmung des Demenz-Schweregrades ist wichtig. Sinnvollerweise bezieht man sich auf das Ausmaß der Betreuungsbedürft igkeit: Leicht: Obwohl Arbeit und soziale Aktivitäten deutlich beeinträchtigt sind, bleibt die Fähigkeit erhalten, mit intaktem Urteilsvermögen und mit entsprechender persönlicher Hygiene unabhängig zu leben. Mittel: Eine selbstständige Lebensführung ist mit Schwierigkeiten möglich, ein gewisses Maß an Hilfestellung bzw. Aufsicht ist erforderlich. Schwer: Die Aktivitäten des täglichen Lebens sind derart beeinträchtigt, dass eine kontinuierliche Aufsicht benötigt wird.
367
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6.3
Neuropathologische Veränderungen
Die Alzheimerkrankheit ist durch neuropathologische Veränderungen gekennzeichnet: • Verlust an Nervenzellen (Synapsen), • Tau-Pathologie, • Amyloid-Plaques (Abb. 4), • die Neurofibrillen (Abb. 5).
Abb. 4
Beta-Amyloid-Plaques im Neokortex
Bei den Amyloid-Plaques handelt es sich um pathologische Eiweißablagerung im Zwischenzellraum. Diese Plaques bestehen aus einem ß-Amyloid-Kern. Dieses ß-Amyloid (1–40; 1–42 Aminosäuren lang) ist ein Spaltprodukt eines größeren Eiweißmoleküls, dem Amyloid Precursor Protein. Es lagert sich auch in den Blutgefäßwänden ab, wodurch es zu Störungen der Sauerstoff- und Energieversorgung des Gehirns kommt. Neurofibrillen bestehen aus dem Protein Tau, welches ein normaler Bestandteil des Zellskeletts darstellt, bei der Alzheimerkrankheit jedoch ungewöhnlich stark phosphoryliert ist. Hierdurch kommt es in der Zelle zu Störungen von Stabilisierungs- und Transportprozessen, die letztlich zum Absterben der Zelle führen.
368
Gerontopsychiatrie | 10
Abb. 5
6.4
Die Neurofibrillen
Biochemische Veränderungen
Verantwortlich für demenzielle Abbausyndrome sind vor allem Störungen im Bereich der cholinerg übertragenden Nervenzellen im frontalen und temporalen Kortex, im Nucleus amygdalae und im Hippokampus. Die Abnahme der cholinergen Aktivität äußert sich in einer Verminderung der Enzyme Cholinazetyltransferase und Azetylcholinesterase. Die Werte sind gegenüber gleichaltrigen, nicht leistungsgestörten Menschen um mehr als die Hälfte abgesunken. Die Abnahme der cholinergen Aktivität ist besonders in medial gelegenen Temporalregionen am ausgeprägtesten. Zwischen dem cholinergen Defizit, der Häufigkeit von Plaques und der klinischen Symptomatik besteht ein quantitativer Zusammenhang. Auch das noradrenerge Transmittersystem ist bei der Alzheimerkrankheit in geringerem Umfang in Mitleidenschaft gezogen. Serotonin und seine Abbauprodukte sind im Gehirn von Alzheimerkranken ebenfalls vermindert. Das dopaminerge System ist lange Zeit nicht beeinträchtigt: Dies bedingt, dass Alzheimerpatienten zumindest zu Beginn der Erkrankung in der Motorik nicht beeinträchtigt sind.
6.5
Ursachen
Die Ursachen der Alzheimererkrankung sind noch weitgehend unbekannt. Heute werden vor allem genetische, infektiöse und toxische Ursachen diskutiert. Für eine genetische Ätiologie sprechen Zwillingsstudien, die Prädisponierung beim Down-Syndrom und das viermal höhere Erkrankungsrisiko bei Verwandten 1. Grades von Alzheimerpatienten. Familien- und Stammbaumstudien legen einen autosomal-dominanten Erbgang nahe. Molekularbiologische Untersuchungen konnten genetische Beziehungen zu mehreren Chromosomen und genetischen Markern aufdecken. Bei einem kleinen Teil der Patienten, die unter einer familiär vererbten Form des demenziellen Abbaues mit frühem Beginn leiden, wird die Erkrankung durch eine Mutation innerhalb des Gens für
369
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das Amyloid-Vorläuferprotein auf dem Chromosom 21 hervorgerufen. Eine größere Zahl zeigt eine genetische Koppelung an Markern auf dem Chromosom 14. Eine Koppelung auf dem Chromosom 19 zeigen jene Patienten, die jenseits des 60. Lebensjahres erkranken: Auf diesem Chromosom befindet sich auch das Gen für Apolipoprotein E. Der Anteil an dem Allel e4 des ApoE ist wesentlich höher als in der gesunden gleichaltrigen Bevölkerung. Es gibt jedoch auch gesunde Anlageträger, wie umgekehrt auch Alzheimerpatienten e4-negativ sein können. In den meisten Fällen ist die Erkrankung aber nicht genetisch bedingt. Doch die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung ist erhöht, wenn ein Verwandter ersten Grades erkrankt ist. Dies gilt speziell für die Alzheimerkrankheit, wenn der Angehörige Symptome bereits vor dem 65. Lebensjahr aufgewiesen hat. Eine virale Genese wird durch eine bestimmte Ähnlichkeit mit der CreutzfeldtJakob-Erkrankung nahegelegt. Spekulationen bezüglich einer möglichen toxischen Ätiologie (Aluminium-Hypothese) können als widerlegt gelten. Als Risikofaktoren für das Auftreten einer senilen Demenz des Alzheimertyps gelten heute neben dem höheren Lebensalter, dem Nachweis von definierten Erkrankungen in der Familie und dem Allel e4 des Apolipoproteins besonders in der Vergangenheit erlittene Schädel-Hirn-Traumata, Hypertonie, Schilddrüsenerkrankungen und Depressionen. Genetische, biografische und Umweltfaktoren scheinen in noch nicht bekannter Wechselwirkung das Auft reten der Alzheimerdemenz zu verursachen-
6.6 Vorkommen Die Alzheimerdemenz ist die häufigste Form der intellektuellen Abbausyndrome. Es kann angenommen werden, dass 2–4 % der Bevölkerung über 65 Jahre von der AD betroffen sind. Die Erkrankung tritt aufgrund der höheren Lebenserwartung häufiger bei Frauen auf. Die Inzidenzrate wird auf etwa 1 Prozent pro Jahr geschätzt, sie ist in den meisten Ländern im Steigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch bis zum Alter von 80 Jahren schwer dement ist, muss mit circa 20 % angegeben werden. Immer mehr Mitbürger in den westlichen Industrienationen erreichen das Manifestationsalter der Alzheimererkrankung, deren Prävalenz somit weiter ansteigen wird. In Deutschland wird die Zahl der unter der Alzheimererkrankung leidenden Menschen auf rund 800.000, in Österreich auf 90.000 geschätzt.
6.7
Therapie der Alzheimerkrankheit
In den vergangenen Jahrzehnten wurden in der Therapie der Alzheimerdemenz substanzielle Fortschritte erzielt. Obwohl gegenwärtig keine Heilung möglich ist, konnten zahlreiche Studien die Wirksamkeit pharmakologischer Therapien belegen. Evidenzbasierte Therapieeffekte zeigen eine Verlangsamung, oft aber auch eine temporäre Stabilisierung der kognitiven und funktionellen Defizite der Patienten.
370
Gerontopsychiatrie | 10
Mehrere Fachgesellschaften, darunter auch die Deutsche und die Österreichische Alzheimergesellschaft haben in Konsensuspapieren die Wirksamkeit dieser Substanzen beschrieben und Therapieempfehlungen ausgesprochen. Der Wirksamkeitsnachweis eines Antidementivums fordert eine Besserung der Symptomatik auf mindestens zwei der folgenden Ebenen, wobei die Besserung der Kognition obligat ist: • Kognition (kognitive Ebene); • Aktivitäten des täglichen Lebens (funktionale Ebene); • Klinischer Gesamteindruck (globale Ebene) Zur Behandlung kognitiver und funktioneller Defizite der AD sind derzeit Acetylcholinesteraseinhibitoren (AChEI; Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) und Memantin verfügbar (siehe Tabelle 7). Das Wirkprinzip der AChEIs ist die bessere neurale Verfügbarkeit des bei der AD reduzierten Acetylcholin durch Hemmung des abbauenden Enzyms Cholinesterase bzw. Butyrylcholinesterase (cholinerge Hypothese). Die Abb. 6 zeigt ein cholinerges Nervenende.
AChE, Acetylcholinersterase
Acetyl CoA
Choline CAT
ACh ACh Choline
AChE
Choline
Acetyl CoA
ACh-R
Abb. 6 Cholinerges Nervenende
Die Effektivität einer Behandlung mit AChEI für leichte und mittelschwere Formen der AD als „First-line“-Therapie ist vielfach nachgewiesen. Der Wirkungsnachweis 371
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erfolgte in randomisierten, placebokontrollierten Studien und wurde auch in Metaanalysen bestätigt. Eine besondere Herausforderung stellt die Compliance der Patienten dar. Memantin besitzt eine antagonistische Funktion auf den NMDA-Rezeptor und dient der Regulation des Glutamathaushalts. Tabelle 7 Therapie mit Antidementiva Substanz Donepezil
Halbwertszeit im Serum (h)
Dosierung und Anwendung
Therap. Minimaldosis
Häufigste Nebenwirkungen
70–80
initial 1× 5 mg, bei Bedarf, nach 4–6 Wochen 10 mg täglich p.o., Schmelztablette verfügbar
5 mg/Tag
Durchfall, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Verwirrtheit
Galantamin
5–7
initial 1× 8 mg, nach 4 Wochen 1× 16–24 mg täglich p.o.
16 mg/Tag
Durchfall, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Schwindel
Rivastigmin
2
initial 2× 1,5 mg, nach 4 Wochen langsam auf 6–12 mg täglich, p.o. und 24-Std. 4,6-mgund 9,5-mg-Pflaster
6 mg/Tag
Übelkeit, Gewichtsverlust, Schwindel, Kopfschmerzen, Verwirrtheit
20 mg/Tag
Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Verwirrtheit, Halluzinationen
Memantin
60–100
initial 1× 5 mg, wöchentliche Steigerung auf 2× 10 mg täglichp.o.
Derzeit ist Memantin bei Patienten mit einer mittelschweren bis schweren Alzheimerdemenz (MMSE = 3–19) indiziert und kassenzulässig. Die empfohlene Tagesdosis beträgt 20 mg. Die Titration sollte gemäß dem Arzneimittel-Beipackzettel erfolgen. Die Wirksamkeit von Memantin wurde auch bei leichteren Demenzstadien und bei Patienten mit vaskulärer Demenz belegt. Prädiktive Kriterien für das Ansprechen des einzelnen Patienten auf die unterschiedlichen Antidementativa sind bislang nicht bekannt. Bei Therapieversagen ist ein Präparatewechsel angezeigt. Therapieunterbrechungen sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Eine Zulassung für die Kombination von Acetylcholinesterase-Hemmern mit Memantin besteht derzeit nicht. In einer Studie fand sich eine Add-on-Wirksamkeit von Memantin bei Donepezil vorbehandelten Patienten. Eine Therapieevaluation der Antidementiva ist im Einzelfall mit den kognitiven oder nichtkognitiven Skalen nur begrenzt möglich. Gründe hierfür sind u. a. die geringe Reliabilität der gängigen Testverfahren oder die ungenügende Vorhersagbarkeit der individuellen Verläufe.
372
Gerontopsychiatrie | 10
6.8
Pharmakotherapie der nichtkognitiven Störungen
Psychische Symptome wie Depression, Unruhe, Wahn- und Angstzustände, Aggression und Schlafstörungen treten bei demenziellen Erkrankungen häufig auf. Patienten mit einer Demenz drücken ihre psychischen Befindlichkeiten anders aus als nichtdemente Patienten. Deshalb wurden diese Symptome in den letzten Jahren unter dem Begriff BPSD (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia) zusammengefasst. Bei Beginn der Behandlung von BPSD ist eine sorgfältige Ursachenanalyse unabdingbar. Erklärt sich beispielsweise die Unruhe aufgrund von Schmerzen? Strukturierung des psychosozialen Umfeldes sowie adäquate Ernährung und verhaltenstherapeutische Interventionen sind wichtig. Wird damit der gewünschte Erfolg nicht erzielt, ist zusätzlich eine Behandlung mit Psychopharmaka (ohne anticholinerge Wirkung) indiziert. Entscheidend ist aber immer die Empathie, mit der den Patienten begegnet wird. Die Notwendigkeit der pharmakologischen Therapieführung muss regelmäßig überprüft werden. Es liegen für die medikamentöse Therapie der BPSD nur wenige qualitativ befriedigende Studien vor – vorwiegend solche mit modernen Antipsychotika. Eine „Off-label“-Verordnung ist bei dieser Patientengruppe nur unter einer strikten Indikationsstellung zu treffen. Die FDA und die europäische Zulassungsbehörde haben auf ein erhöhtes Mortalitätsrisiko bei Patienten mit Demenz bei der Gabe von Antipsychotika hingewiesen. Aufgrund der vorliegenden Studiendaten ist insbesondere auf Risikofaktoren und Frühzeichen zerebrovaskulärer Störungen zu achten, das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist sorgfältig abzuwägen und engmaschig zu überprüfen. Die Indikation muss eng gestellt werden. Besondere Vorsicht ist bei der Demenz mit Lewy-Körperchen bezüglich einer Therapie mit Antipsychotika geboten. Cholinesterase-Hemmer und Memantin sind auch für die Behandlung diverser BPSD geeignet. Sie gehören somit zur Basistherapie der Demenz.
6.9
Betreuung von Demenzkranken in ihrem Umfeld
Der Großteil der Demenzkranken wird von ihren Angehörigen betreut: Mindestens 75 % der Betroffenen werden in ihrer Wohnung von ihren Familienmitgliedern versorgt. Die Information der Patienten und der Angehörigen über die Erkrankung ist eine wichtige Voraussetzung für eine adäquate Krankheitsverarbeitung. Mit Fortschreiten der Krankheit wird die Pflege für die Betreuenden immer belastender. Im Umgang mit Demenzkranken ist folgendes zu beachten: Verbale Botschaften müssen langsam, kurz und klar, nonverbale Botschaften eindeutig übermittelt werden. Der Patient soll nicht ständig mit seinen Defiziten konfrontiert werden, im Gegenteil, er soll durch emotionale Wertschätzung gestützt werden. Die Betreuung dementer Patienten erfordert ein Netzwerk von verschiedenen Angeboten: Diesbezüglich ist die unterstützende Begleitung der pflegenden Angehörigen von größter Wichtigkeit.
373
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
Die Abb. 7 zeigt verschiedene Störfaktoren in der Behandlung von Demenzpatienten in den unterschiedlichen Bereichen auf.
Abb. 7
Störfaktoren in der Behandlung von Demenzpatienten
7
Vaskuläre Demenz F01
7.1
Definition, Krankheitsformen und Symptomatik
Kennzeichnend für die vaskulären Demenzen sind entweder einzelne Gefäßläsionen an strategisch wichtigen Stellen oder multiple Störungen der Hirndurchblutung. Diese Durchblutungsstörungen sind von transienten oder persistenten neurologischen Ausfällen begleitet. Die Entwicklung der kognitiven Defizite steht in einem zeitlichen Zusammenhang zum Hirninfarkt bzw. zu den definierten zerebralen Durchblutungsstörungen. Der Verlauf der vaskulären Demenzen ist somit häufig schubhaft. Als Synonyma gelten „Multiinfarktdemenz“, „Dementia Lacunaris“ oder „Morbus Binswanger“. Die vaskuläre Demenz ist mit 15–20 % die zweithäufigste Demenzursache im höheren Lebensalter. 374
Gerontopsychiatrie | 10
Die ICD-10-Kriterien fordern für die Diagnose einer vaskulären Demenz eine demenzielle Symptomatik, ungleichmäßige kognitive Beeinträchtigungen, einen plötzlichen Beginn sowie eine schrittweise Verschlechterung und neurologische Herdzeichen und -symptome. Darüberhinaus werden noch zusätzliche Merkmale verlangt, wie das Bestehen einer Hypertonie sowie einer Affektlabilität mit vorübergehender depressiver Stimmungslage, eine Reizbarkeit sowie eine Affektinkontinenz im Sinne eines inadäquaten Weinens oder unbeherrschten Lachens. Die Persönlichkeit kann in vielen Fällen gut erhalten sein, Veränderungen in Form von Apathie oder Enthemmung oder eine Zuspitzung früherer Persönlichkeitszüge treten aber häufig auf. Als weitere zusätzliche Merkmale zählt das ICD–10 noch Reizbarkeit und paranoide Haltungen auf. Folgende Subtypen werden beschrieben: • Die Demenz nach einem Schlaganfall beginnt plötzlich. Patienten haben fokale neurologische Ausfälle und Zeichen kortikaler kognitiver Beeinträchtigungen wie Aphasie (Sprachstörung), Apraxie (Beeinträchtigung, motorische Aktivitäten auszuführen) und Agnosie (Unfähigkeit, Gegenstände zu identifizieren bzw. wiederzuerkennen). • Eine Multiinfarktdemenz entwickelt sich langsam und wechselnd im Schweregrad. Die Symptome werden mit stummen Infarkten in Zusammenhang gebracht. • Die strategische Infarktdemenz zeigt kleine Infarkte, die akut eine Demenz auslösen können. Neben kognitiven Defiziten sind auch Verhaltensauff älligkeiten wie Apathie, Spontaneitätsverlust und Perseveration möglich. • Die subkortikale ischämische vaskuläre Demenz ist durch Erkrankung der kleinen Gefäße des Gehirns verursacht. Als Leitsymptom entwickelt sich klinisch eine Störung der Exekutivfunktionen wie Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge etc. Die Gedächtnisdefizite sind weniger stark ausgeprägt als bei der Alzheimerdemenz. Häufig werden neurologische Zeichen, Gangstörungen, Blasenstörungen und psychomotorische Verlangsamung beobachtet (Synonym: Binswanger-Enzephalopathie). Kennzeichnend sind meist ausgedehnte periventrikulär und im Marklager lokalisierte Läsionen. Histopathologisch ist eine schwere Demyelinisierung der weißen Substanz, lakunäre Infarkte und eine deutliche Erweiterung der Seitenventrikel typisch. Die Hirnrinde ist nicht betroffen. Der demenzielle Abbau beginnt im Unterschied zu den oben genannten vaskulären Demenzformen schleichend, sie schreitet langsam fort. Viele Patienten zeigen eine Veränderung der Stimmungslage und des Verhaltens, häufig bestehen eine Depression mit Antriebshemmung, eine emotionale Labilität und eine Persönlichkeitsveränderung.
7.2
Risikofaktoren für die Entstehung einer vaskulären Demenz
Der Blutdruck ist bei der Entstehung einer vaskulären Demenz von großer Bedeutung. Eine konsequente Blutdrucksenkung mit Werten unter 140/90 mmHg tagsüber und 120/80 mmHg nachts kann wesentlich zur Vermeidung vaskulärer Demenzen beitragen. Studien haben belegt, dass eine Hypertonie das Risiko für eine subkortikale vas375
Josef Marksteiner | Hartmann Hinterhuber | Christian Haring
kuläre Demenz um das 15- bis 24-fache erhöht. Deshalb ist eine konsequente antihypertensive Therapie bereits im mittleren Lebensalter wesentlich. Darüberhinaus sind alle weiteren Risikofaktoren für eine zerebrovaskuläre Erkrankung auch für die Entwicklung einer vaskulären Demenz von Bedeutung. Besonders hervorzuheben sind noch Diabetes mellitus, Vorhoffl immern, Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, extra- oder intrakranielle Gefäßstenosen, Rauchen, Blutfetterhöhung und Makroangiopathie sowie die demografischen Faktoren „hohes Alter“ und „männliches Geschlecht“. Als Risikofaktoren einer vaskulären Demenz wurden identifiziert: • Anamnestisch bekannte Hypertonie (Odds Ratio: 2,8; 95 %-KI: 1,29–3,35) • Alkoholmissbrauch (OR: 2,45) • Herzerkrankungen (OR: 1,17) • Umgang mit Herbiziden und Pestiziden (OR: 2,45) • Umgang mit flüssigen Kunststoffen oder Gummilösungen (OR: 2,59) • Niedrige Schulbildung (< 6 Jahre) (OR: 4,02) Vaskuläre Risikofaktoren spielen aber auch für die Alzheimerdemenz (AD) eine bedeutende Rolle. So sind insbesondere Hypertonie, koronare Herzkrankheit und Vorhofflimmern auch Risikofaktoren für die Entwicklung einer AD: Es erscheint wahrscheinlich, dass vaskuläre Schäden die Reservekapazität des Gehirns mindern und die Schwelle zur Manifestierung einer AD senken können.
7.3
Ätiopathogenese
Häufiger als Verschlüsse größerer Arterien (Makroangiopathien) sind jene von kleinen Arterien (Mikroangiopathien), die zu lakunären Infarkten mit vorwiegend subkortikaler Lokalisation führen. Die Stenosen größerer Arterien bedingen kortikale Territorial- und Grenzzoneninfarkte. Insgesamt sind verschiedene pathogenetische Mechanismen für die Entwicklung einer vaskulären Demenz verantwortlich. Prinzipiell sind am Untergang von Nervenzellen auch jene Faktoren bedeutsam, die auch bei den neurodegenerativen Prozessen ursächlich sind: Freisetzung von Glutamat, Aktivierung der Gliazellen, verstärkte Bildung von freien Radikalen und erhöhter Einstrom von Kalziumionen in die Zelle. Die lokalen Ischämien unterbrechen neuronale Verbindungsbahnen: Neben der ischämiebedingten Zerstörung von Hirngewebe ist dies der wesentliche Faktor in der Genese der vaskulären Demenzen.
376
Gerontopsychiatrie | 10
7.4
Therapie
Die Therapie umfasst: • die Behandlung der vaskulären Grundkrankheit und der vaskulären Risikofaktoren (insbesondere der Hypertonie), • die Sekundärprophylaxe weiterer vaskulärer Ereignisse, • die psychiatrische und internistische Begleittherapie, • die spezifische Pharmakotherapie. Auch wenn eine spezifische Zulassung in dieser Indikation nicht besteht, ist aufgrund aktueller Studien bei leichten bis mittelschweren Formen ein Therapieversuch mit Memantin, Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin zu empfehlen. Die Behandlung muss somit off-label erfolgen. • die nicht medikamentöse Behandlung und Betreuung, • Maßnahmen der Neurorehabilitation.
8
Die gemischte Demenz (Mixed Dementia)
In letzter Zeit konnte festgestellt werden, dass gerade bei älteren Patienten ein Kontinuum von Veränderungen besteht, das eher quantitativ denn qualitativ einer bestimmten Demenzunterform zugeordnet werden kann. Eine Mixed Dementia (MD) könnte gerade bei alten und sehr alten Patienten viel häufiger sein und AD und VD nur die beiden Extreme des oben beschriebenen Kontinuums darstellen. Klinisch imponiert die MD häufig als AD mit begleitenden vaskulären Veränderungen. Die Häufigkeit der gemischten Demenz scheint ungefähr 10 % aller demenziellen Fälle zu betragen. Die zunehmende diagnostische Genauigkeit der bildgebenden Verfahren kann eine zunehmende Häufigkeit der Mischformen erklären. Insgesamt stellen die „gemischten Demenzen“ ätiopathogenetisch und psychopathologisch eine sehr heterogene Gruppe dar. Auch ist der Verlauf der Störung individuell sehr unterschiedlich.
9
Andere Demenzformen
9.1
Frontotemporale Demenz (FTD) F02.0
9.1.1
Definition und Prägnanztypen
Die frontotemporale Demenz ist eine präsenil auft retende degenerative Hirnerkrankung, die mit Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur, des Sozialverhaltens und der Emotionen beginnt und in einen fortschreitenden demenziellen Abbauprozess einmündet. Betroffen sind vor allem der Frontal- und der Temporallappen. Typisch für die frontotemporale Demenz sind angeschwollene kortikale Neurone, die „Pick-Zellen“. Dies erklärt auch das Synonym der frontotemporalen Demenz als „Morbus Pick“.
377
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Die FTD wird in 3 klinisch definierte Prägnanztypen unterteilt, die vor allem im Frühstadium unterscheidbar sind. Sie gehen im Verlauf, z. T. auch schon von Beginn an, ineinander über: • Frontale/frontotemporale Verlaufsform (Haupttyp): Das führende Symptom ist die Wesensänderung. • Primär-progressive Aphasie: Das führende Symptom ist Aphasie und linkstemporale Atrophie. • Semantische Demenz: Die führenden Symptome sind Defizite des Wissens über Wortbedeutungen, Defizite des „Weltwissens“ zu allgemeinen Fakten sowie visuellgnostische Störungen. Es besteht eine bitemporale Atrophie. 9.1.2 Symptomatik der FTD: frontale/frontotemporale Verlaufsform Typisch für die Diagnose einer frontotemporalen bzw. frontalen Demenz sind die früh auftretenden Verhaltensauff älligkeiten und die Defizite im zwischenmenschlichen Sozialkontakt sowie die ausgeprägte emotionale Indifferenz. Darüber hinaus bestehen eine geistige Inflexibilität, eine leichte Ablenkbarkeit und eine fehlende Ausdauer. Das Verhalten ist perseverierend und stereotyp, an Gegenständen wird pausenlos manipuliert, diese werden auch häufig in den Mund gesteckt (Hyperoralität). Auff ällig ist auch die Veränderung der Sprache im Sinne einer Wortkargheit oder einer Logorrhö, es treten sprachliche Stereotypien wie Echolalien und Perseverationen sowie Sprachantriebsstörungen auf. Nicht selten ist auch eine Witzelsucht. Neurologisch finden sich frühzeitig Primitivreflexe sowie Rigor, Tremor und Akinesie. Früh tritt auch eine Inkontinenz auf. Im Rahmen der neuropsychologischen Testuntersuchung fi nden sich ausgeprägte Defizite der frontalen Funktionen, während schwere Gedächtniseinbußen, Aphasien oder visuell-räumliche Störungen fehlen. Die zerebrale Bildgebung bestätigt die vorherrschenden frontalen und/oder temporalen Ausfälle. PET-Untersuchungen weisen auf einen fronto-temporalen Hypometabolismus hin. 9.1.3 Pathogenese Der pathologische Prozess ist wie die Klinik sehr variabel. Die Pathologie kann vornehmlich den frontalen oder den temporalen Kortex oder aber beide betreffen, sie kann auch asymmetrisch ausgeprägt sein. Die Insel ist fast immer beteiligt. Selten ist eine familiäre Häufung zu beobachten. Eine Teilgruppe hiervon sind Fälle mit Parkinson-Syndrom bei Mutation des Tau-Proteins auf Chromosom 17. Eine weitere Teilgruppe der familiären Fälle (mit ubiquitinhaltigen Einschlusskörperchen) resultiert aus einer Mutation oder Deletion des Progranulin-Gens, ebenfalls auf Chromosom 17. 9.1.4 Differenzialdiagnose zur Alzheimerdemenz Je niedriger das Erkrankungsalter, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer FTD. Ein frühes Auftreten von Inkontinenz und hypokinetisch-rigidem Syndrom spricht gegen eine AD, Myoklonien und Anfälle sprechen gegen FTD.
378
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Frühe Verhaltensauff älligkeiten (Hyperoralität, stereotypes und perseveratives Verhalten sowie Sprachverarmung) haben einen hohen prädiktiven Wert für die Diagnose FTD. 9.1.5 Therapie der FTD Es gibt bisher keine gezielten Therapiemöglichkeiten. Medikamente, die zur Behandlung der Alzheimerkrankheit eingesetzt werden, scheinen bei der FTD keinen positiven Effekt zu erzielen. Die symptomatische medikamentöse Behandlung zielt derzeit darauf ab, die Verhaltensauff älligkeiten der Patienten zu mildern. Am besten haben sich Antidepressiva wie z. B. Trazodon oder serotonerge Präparate wie Citalopram und Sertralin bewährt. Sie steigern insbesondere den Antrieb und können eine affektive Ausgeglichenheit erreichen. Bei ausgeprägter Unruhe oder Aggressivität können moderne Antipsychotika versucht werden. Das Zusammenleben mit einem Patienten, der an einer frontotemporalen Demenz leidet, bedeutet für die Angehörigen eine sehr große Belastung. Vor allem sind es die Verhaltensauff älligkeiten, besonders die Aggressivität und die Unberechenbarkeit oder die Teilnahmslosigkeit der Patienten, die anderen Familienmitgliedern unsägliche Schwierigkeiten bereiten können.
9.2
Lewy-Körperchen-Demenz (LBD)
9.2.1 Definition und Symptomatik Die Lewy-Körperchen-Demenz geht mit Funktionseinschränkungen im Alltag einher. Häufig sind Beeinträchtigungen der exekutiven und visuo-perzeptiven Funktionen sowie Aufmerksamkeitsstörungen. Letztere lassen sich durch detaillierte Befragung, durch Fremdanamnese oder durch neuropsychologische Testuntersuchungen objektivieren: Sie sind starken Tagesschwankungen unterworfen. Die Gedächtnisfunktion ist beim Erkrankungsbeginn relativ gut erhalten. Typisch für die LBD sind neben den Parkinson-Symptomen und den Fluktuationen der Kognition und der Wachheit wiederkehrende, stark ausgestaltete visuelle Halluzinationen. Diese treten im Krankheitsverlauf sehr früh auf, sind szenisch und detailreich und werden von den Patienten oft sehr genau beschrieben. Weitere Merkmale sind darüber hinaus: Verhaltensstörungen im REM-Schlaf (Schreien, Sprechen, motorisches Ausagieren von Träumen) und Stürze durch plötzlichen Tonusverlust. Früh tritt eine orthostatische Dysregulation und ein imperativer Harndrang bzw. eine Harninkontinenz auf. Es findet sich eine ausgeprägte Neuroleptika-Überempfindlichkeit bei verminderter dopaminerger Aktivität in den Basalganglien, dargestellt mit SPECT oder PET sowie Reduktion des striatalen Dopa-Transporters (18F-Dopa-Aufnahme). 9.2.2 Pathogenese Bei der Demenz mit Lewy-Körperchen handelt es sich um eine progrediente degenerative Demenzerkrankung mit zahlreichen konzentrischen, zytoplasmatischen Ein379
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schlusskörperchen in den Neuronen des Neokortex, limbischen Kortex, Hirnstamms und Nucleus basalis Meynert. Es bestehen ein ausgeprägtes dopaminerges Defizit sowie eine starke cholinerge Deafferenzierung des Kortex. 9.2.3 Differenzialdiagnostische Überlegungen Fälle, in denen die Demenz mehr als ein Jahr nach der Parkinson-Erkrankung auft ritt, werden unter „Morbus Parkinson mit Demenz“ klassifiziert. Diese Abgrenzung ist willkürlich. Vermutlich liegt in einem Gutteil der Fälle klinisch und pathogenetisch dieselbe Erkrankung vor. Darüber hinaus gibt es sowohl in der Klinik als auch in der Neuropathologie Überschneidungen mit der Alzheimerkrankheit: Es wird dann von einer „Alzheimerkrankheit mit Lewy-Körperchen-Pathologie“ gesprochen. 9.2.4 Therapie der Lewy-Körperchen-Demenz Die Behandlung der LDB ist komplex, da – ähnlich wie bei der Parkinson-Demenz – die Therapieziele vielfältig sind: Durch die medikamentöse Therapie eines Zielsymptoms kann ein anderes Schlüsselsymptom der Erkrankung verschlechtert werden. Die Therapie der motorischen Symptome führt häufig zur Verschlechterung der psychiatrischen Symptomatik, umgekehrt kann aber auch die Behandlung psychotischer Symptome mit Antipsychotika die motorischen Störungen verschlechtern. Eine Monotherapie mit L-Dopa ist zu bevorzugen, weil unter dieser Medikation das geringste Risiko einer Induktion oder Verschlechterung psychotischer und kognitiver Probleme besteht. Cholinesterasehemmer (Rivastigmin) sind in der Therapie der kognitiven, aber auch der neuropsychiatrischen Symptome der LDB effektiv. Klassische Antipsychotika sind bei allen neurodegenerativen Parkinsonsyndromen grundsätzlich kontraindiziert, Clozapin und Quetapin sind die Mittel erster Wahl.
9.3
Demenz bei Morbus Parkinson
Die Patienten bieten die typische Parkinson-Symptomatik, zeigen aber Störungen des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit und der Sprache. Deutlich ausgeprägt sind Defi zite im räumlichen Sehen. Häufig sind auch Veränderungen der Stimmungslage und der Persönlichkeitsstruktur. Die Bradyphrenie, die Denkverlangsamung des Parkinsonkranken sowie die Verlangsamung in Mimik und Gestik sind nicht mit einer Reduktion intellektueller Leistungen gleichzusetzen. Die Symptomatik zeigt eine deutliche Ähnlichkeit mit der bei der Demenz mit Lewy-Körperchen. Die Parkinsonkrankheit besteht aber länger als ein Jahr, bevor es zum Auftreten einer Demenz kommt. Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass 30–40 % der von Morbus Parkinson betroffenen Patienten im Verlauf der Erkrankung eine Demenz entwickeln, wobei die Prävalenz stark altersabhängig ist. Das Durchschnittsalter von Patienten mit Parkinsondemenz liegt etwa bei 72 Jahren, ganz ähnlich wie bei Patienten mit einer Demenz mit Lewy-Körperchen (74 Jahre).
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Gegenüber ihrer Altersgruppe weisen Patienten mit einem ideopathischen Parkinsonsyndrom ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines demenziellen Syndroms auf. Die Diagnostik beruht auf einer mit neurologischer Methodik nachgewiesener Parkinsonerkrankung sowie auf neuropsychologischen Untersuchungen. Das EEG zeigt häufig eine Verlangsamung des Alpha-Grundrhythmus. In der Bildgebung fi ndet sich eine innere und äußere Hirnatrophie, eine Erweiterung des 3. Ventrikels sowie eine Verminderung des regionalen Blutflusses temporo-parietal und des Glukosemetabolismus. Es besteht kein Unterschied in Dichte und Verteilung von Lewy-Körperchen bei Parkinson-Patienten mit früher versus später Demenz. Eine wirksame neuroprotektive Therapie ist derzeit nicht bekannt. Neben der Gabe moderner Anti-Parkinson-Medikamente kann das Antidementivum Rivastigmin empfohlen werden.
9.4 AIDS-Demenz F02.4 9.4.1 Symptomatik Eine HIV-Erkrankung ist häufig mit Vergesslichkeit, herabgesetzter Konzentrationsfähigkeit und einer allgemeinen Verlangsamung sowie mit Spontaneitätsverlust, sozialem Rückzug und Apathie assoziiert. Neben den kognitiven Beeinträchtigungen weisen AIDS-Kranke noch vielfältige psychiatrische Probleme, wie Verwirrtheitszustände und abnorme Erlebnisreaktionen sowie depressive Störungen. Häufig werden auch delirante Syndrome beobachtet. Die organischen psychischen Störungen (besonders die Verwirrtheitszustände und die demenziellen Syndrome) können im Zusammenwirken HIV-bedingter zentralnervöser Störungen auch durch andere Faktoren, wie metabolische Störungen, Sepsis, sekundäre Infekte oder Nebenwirkungen von Medikamenten, hervorgerufen werden. In einem hohen Prozentsatz mündet die HIV-Demenz sehr rasch in schwerste Behinderung mit letalem Ausgang. Erfolgt die HIV-Infektion im Kindesalter, fi ndet sich eine deutliche Retardierung mit Mikrozephalie und Verkalkung der Basalganglien. Im Rahmen der neurologischen Untersuchung fi nden sich Hypodiadochokinese, Tremor, Steigerung des Tonus, allgemeine Hyperreflexie, Ataxie sowie frontale Schablonen und sakkadische Augenbewegungen. Neuropsychiatrische Auff älligkeiten finden sich bei 40 bis 70 % der durch das HI-Virus Betroffenen. 9.4.2 Pathogenese Neben dem bekannten Lymphotropismus hat das Humanimmundefizienz-Virus (HIV) eine unabhängige neurotrope Wirkung. Neuropathologische Befunde werden bei Obduktionen bei mehr als 80 % der Patienten nachgewiesen. Mit absteigender Häufigkeit werden nachfolgende Veränderungen beschrieben:
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• • • • • • •
Gliose des Kortex und der subkortikalen Kerne fokale Nekrosen der grauen und weißen Substanz Mikrogliaknötchen atypische Oligodendrozyten perivaskuläre entzündliche Infiltrate Entmarkungsherde vielkernige Makrophagen
Diese Veränderungen korrelieren nicht immer mit dem Grad der klinischen Symptomatik. Die Viren werden durch Makrophagen in das Nervensystem eingeschleust. Mikrogliazellen treten in Wechselwirkung mit dem HIV und bilden vielkernige Riesenzellen, die im Sinne eines Reservoirs die Persistenz im Nervensystem verursachen. Virale Proteine scheinen die Rezeptormoleküle besetzen zu können und so eine kompetitive Hemmung endogener Neuropeptide zu bewirken: Darin wird die Hauptursache der HIV-Demenz gesehen. Die kognitiven Beeinträchtigungen können anderen Symptomen der AIDS-Erkrankung vorausgehen. 9.4.3 Therapie Die medikamentöse Therapie richtet sich nach dem psychopathologischen Befinden der Patienten: Bei Antriebsverminderung und leichter depressiver Verstimmung kann eine Therapie mit Antidepressiva wirksam sein. Herrschen Verwirrtheitszustände, Halluzinationen, Wahnideen oder psychomotorische Erregungszustände vor, sind Antipsychotika indiziert. Bei Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen ist ein Versuch mit Antidementiva angezeigt.
9.5
Demenz bei Morbus Huntington
Aus psychiatrischer Sicht ist für diese primär durch neurologische Symptome charakterisierte Erkrankung eine deutliche Reduktion aller kognitiven Leistungen sowie eine ausgeprägte Apathie bei gleichzeitigem Fehlen aphasischer Störungen typisch. Depressive Verstimmungen und paranoid-halluzinatorische Zustandsbilder können oft lange vor dem Auftreten der neurologischen Symptomatik beobachtet werden. Letztere ist durch ein hyperkinetisch-hypertones Syndrom mit extremer Bewegungsunruhe der gesamten Willkürmuskulatur gekennzeichnet. Verantwortlich für die Chorea Huntington sind Nervenzelldegenerationen im Bereich des frontalen und okzipitalen Kortex, des Hirnstammes und des Corpus striatum. Die Veränderungen im Bereich des Corpus striatum führen zu choreatischen Bewegungsmustern. In diesen Regionen wurden im Rahmen von Post-Mortem-Studien verschiedene Neurotransmitter erniedrigt gefunden, insbesondere der inhibitorische Transmitter GABA und dessen Rezeptoren. Die Konzentrationsverminderung wird mit zunehmender Dauer der Erkrankung ausgeprägter.
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Die progrediente Krankheit wird autosomal-dominant vererbt und führt nach ca. 10 Jahren zum Tode. Die Erkrankung manifestiert sich zumeist im 3. und 4. Dezennium. Der Gen-Ort dieser Erkrankung wurde dem kurzen Arm vom Chromosom 4 zugeordnet. Die Gen-Diagnose der Chorea Huntington ermöglicht bei Verwandten von Patienten die Erkennung der Anlageträger, noch bevor eine entsprechende Symptomatik aufgetreten ist. Die präsymptomatische Diagnostik muss mit aller Zurückhaltung in Betracht gezogen werden und wirft eine Reihe von ethischen Fragen auf, die zurzeit noch kontrovers diskutiert werden. 9.5.1 Therapie der Huntington-Demenz Derzeit gibt es keine zugelassene spezifische Therapie der Demenz im Rahmen der Huntington-Erkrankung. Es wird eine symptomatisch-medikamentöse Therapie angewandt, wenn nicht-medikamentöse Therapiestrategien nicht ausreichen. Eingesetzt werden Antipsychotika, Antidepressiva und Benzodiazepine. Insbesondere die Therapie mit Antipsychotika muss zeitlich begrenzt sein und die niedrigst mögliche Dosis eingesetzt werden.
9.6
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit F02.1
Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) zählt zu den Prionerkrankungen, die bei Mensch und Tieren auft reten, neuropathologisch durch spongiforme Veränderungen, astrozytäre Gliose, Neuronenverlust und Ablagerung der abnormen Form des Prionproteins charakterisiert und innerhalb der betroffenen Spezies oder auch zwischen den Spezies übertragbar sind. Ein Synonym ist übertragbare spongiforme Enzephalopathie. Die Prionerkrankungen des Menschen kommen in verschiedenen Unterformen der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit vor: • Sporadische Prionerkrankung (Inzidenz von etwa 1–1,5 Fällen pro Jahr pro Million Einwohner). • Genetische Prionerkrankung: Hierzu zählen die familiäre/genetische CJK, das Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom und die letale familiäre Insomnie. Die familiäre CJK kann häufig nicht von der sporadischen Form unterschieden werden. • Übertragene Formen: iatrogene CJK. Die weltweit meisten Fälle gehen auf kontaminierte Dura-mater-Transplantate zurück. Die übertragene Erkrankungsform (Variante der CJK) wird ätiopathogenetisch mit der bovinen spongiformen Enzephalopathie in Zusammenhang gebracht. Bisher sind weltweit ca. 200 Erkrankungsfälle aufgetreten. Die Patienten sind deutlich jünger als bei der sporadischen Form der CJK (Median 30 Jahre). Die Erkrankungsdauer ist länger (Median 14 Monate). Im Vordergrund stehen psychiatrische Auff älligkeiten (meist Depression oder Psychose), die über mehrere Monate ohne neurologische Auff älligkeiten verlaufen können.
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Die WHO-Überwachungskriterien fordern für eine wahrscheinliche sporadische Creutzfeldt-Jakob-Krankheit neben einer progressiven Demenz noch mindestens zwei der folgenden klinischen Erscheinungen: Myoklonien, visuelle oder zerebelläre Symptome, pyramidale/extrapyramidale Störungen und/oder einen akinetischen Mutismus. Im EEG müssen periodische Sharp-Wave-Komplexe bestehen. Auch muss der Nachweis der Proteine 14-3-3 im Liquor bei Krankheitsdauer länger als 2 Jahre erbracht werden. Häufig sind hyperintense Basalganglien im MRT darstellbar. Die Diagnose CJK gilt als möglich, wenn wohl die oben genannten Symptome vorhanden sind, jedoch ein untypisches EEG bzw. ein negativer 14-3-3-Befund vorliegen. 9.6.1 Therapie der CJK Eine kausale Therapie ist unbekannt, die einzigen möglichen Therapieansätze sind symptomatisch und liegen im begleitenden psychotherapeutischen, pflegerischen und internistischen Bereich. Daneben kommen noch unterschiedliche psychopharmakologische Interventionen zum Einsatz: Eine spezifische Therapie existiert bisher nur für die CJK-typischen Myoklonien, die in der initialen Krankheitsphase gut auf Clonazepam oder Valproat ansprechen.
9.7
Andere demenzielle Prozesse
Eine große Zahl von zerebralen Erkrankungen, alimentären und toxischen Einwirkungen sowie metabolischen, infektiösen oder systemischen Krankheitsbildern können in schwere kognitive Beeinträchtigungen münden. In der Tabelle 8 sind beispielhaft demenzielle Syndrome unterschiedlicher Ursachen aufgelistet. Tabelle 8 Demenzielle Syndrome unterschiedlicher Ursachen Chronischer Alkoholismus Schädel-Hirn-Traumata einschließlich der Dementia pugilistica Epilepsie (Poly-)Toxikomanie Vitamin-B12-Mangel Niazin-Mangel (Pellagra) Hyperkalzämie (Morbus Fahr) Intoxikationen (Kohlenmonoxidvergiftungen) zerebrale Lipidstoffwechselstörung Hypothyreose Normaldruck-Hydrozephalus Periarteriitis nodosa
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Tabelle 8 Demenzielle Syndrome unterschiedlicher Ursachen hepatolentikuläre Degeneration (Morbus Wilson) Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) zerebrale Raumforderung Neurosyphilis (Progressive Paralyse) Trypanosomiasis Systemischer Lupus erythematodes Guam-Parkinson-Demenz
9.7.1 Therapie Sofern möglich ist eine kausale Therapie anzuwenden. Allerdings ist eine demenzielle Entwicklung sehr oft die Folge eines langen Krankheitsverlaufes, sodass selbst bei kausaler Therapie die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, die demenziellen Symptome wesentlich zu bessern. Deshalb ist bei den meisten dieser Erkrankungen eine frühestmögliche Therapie erforderlich, um die Spätfolgen im Sinne einer Demenz zu verhindern.
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Spezifische Aspekte anderer psychischer Störungen im Alter
10.1 Angststörung 10.1.1 Symptomatik Angstsyndrome und Angsterkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter. Über zehn Prozent der älteren Menschen sind davon betroffen. Alte Menschen neigen aufgrund von Verunsicherung, von Krankheit und Behinderung, von sozialer Isolierung und Vereinsamung sowie aufgrund des nahenden Lebensendes in vermehrtem Maße dazu, Angst zu empfi nden. Es besteht eine hohe Komorbidität mit depressiven Erkrankungen (bis zu 50 %). Angst ist als Affektzustand immer körperliches und seelisches Phänomen zugleich. Die körperlichen Erscheinungen wie Herzklopfen, Globusgefühl, motorische Unruhe, Zittern, Schweißausbrüche, Harndrang und Durchfall sind nicht Folge der Angst, sondern unmittelbares somatisches Korrelat. Angstsyndrome und Angsterkrankungen können sich im höheren Lebensalter anders darstellen als bei jüngeren Menschen. Darüber hinaus werden krankheitsbedingte Einschränkungen, die mit Angststörungen einhergehen, von älteren Erkrankten häufig als schicksalhaft hingenommen.
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10.1.2 Epidemiologie Die Prävalenz für Angststörungen bei älteren Menschen (55 bis 85 Jahre) gibt Tabelle 9 wieder: Tabelle 9 Prävalenz für Angststörungen im höheren Alter Generalisierte Angststörung
7,3 %
Soziale Phobie
3,1 %
Panikstörung
1,0 %
Zwangsstörung
0,6 %
10.1.3 Diagnose und Differenzialdiagnose Angststörungen im höheren Lebensalter erfordern eine sehr sorgfältige differenzialdiagnostische Abklärung. Sie können als unerwünschte Arzneimitteleffekte oder als Begleitsymptome somatischer Erkrankungen, wie zum Beispiel Diabetes mellitus und Angina pectoris, auft reten. Daneben ist eine Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen, wie depressiven Störungen, Wahnerkrankungen oder Demenz, zu berücksichtigen. 10.1.4 Therapie der Angststörung Die Therapie von Angststörungen im Alter verlangt wie auch bei jüngeren Patienten einen multidimensionalen Behandlungsansatz. Es sollten psychodynamische, verhaltenstherapeutische und medikamentöse Ansätze kombiniert und individuell angepasst werden. SSRI und neue Antidepressiva sind wirksam: Ältere Menschen sprechen nicht schlechter auf die Therapie an als jüngere. Benzodiazepine, die sehr häufig verordnet werden, sollten nur kurzzeitig eingesetzt werden. Verschiedene Therapiestudien zeigen, dass Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie kombiniert mit Entspannungsverfahren sowie nondirektive Therapien auch bei älteren Patienten gut wirksam sind.
10.2 Depression im Alter 10.2.1 Symptomatik und Verlauf Affektive Erkrankungen, insbesondere Depressionen, treten in jedem Lebensalter auf. Bei rezidivierendem Verlauf werden mit dem Alter die Episoden häufiger und z. T. auch länger. Die gesunden Intervalle werden dementsprechend kürzer, sofern nicht der Verlauf durch eine Lithium- oder Carbamazepinprophylaxe günstig gestaltet werden konnte. Häufig tritt im Alter auch eine erste depressive Episode auf, die unerkannt und unbehandelt eine hohe Suizidgefährdung aufweist.
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Depressionen im Alter sind regelhaft ängstlich-agitiert oder hypochondrisch-paranoid getönt. Neben einer erhöhten Klagsamkeit sind eine oft sehr einschneidende Antriebslosigkeit sowie ein Versündigungs-, Verarmungs-, Schuld- oder nihilistischer Wahn kennzeichnend. Auch sind Klagen über Kopfschmerzen, Herzsensationen, Schlafstörungen, körperliche Abgeschlagenheit oder Inappetenz sehr häufig. Bei der Multimorbidität des Alters ist die Unterscheidung zwischen depressiver Somatisierung und einer echten somatischen Krankheit oft aber sehr schwer. Altersdepressionen manifestieren sich häufig auch subsyndromal und verbergen sich in körperlichen Beschwerdebildern. Die Klassifi kation und differenzialdiagnostische Zuordnung der Altersdepression ist schwierig, weil sich erlebnisreaktive, neurotische und somatische Bedingungsfaktoren eng verschränken. Psychosoziale Komponenten spielen – wie erwähnt – eine sehr große Rolle. Der Verlauf der Erkrankung ist schleppend und neigt zur Chronifizierung. Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass Depression im Alter eine wiederkehrende Erkrankung ist. 90 Prozent der Alten, die eine Remission erreicht haben, erleiden ohne Therapie innerhalb von drei Jahren einen Rückfall. Auch zeigen viele organische Erkrankungen bei depressiven Patienten eine schlechte Prognose: Die Mortalität Depressiver ist vielfach höher als bei der Durchschnittsbevölkerung. Depressionen im Alter sind darüber hinaus durch eine erhöhte Suizidalität belastet. 10.2.2 Epidemiologie Etwa 14 bis 43 % der älteren Menschen leiden an depressiven Syndromen, bis zu 17 % an einer rezidivierenden depressiven Störung. Der Allgemeinmediziner begegnet Altersdepressionen bei 10–25 % seiner Patienten. Verschiedene Medikamente – nicht nur Psychopharmaka – können als psychotrope Nebenwirkung eine Depression hervorrufen, worauf bei älteren Patienten, die oft eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen, besonders zu achten ist. 10.2.3 Organische Komorbidität Körperliche Begleiterkrankungen sind bei depressiven Menschen im Alter sehr häufig. Die wesentlichen spiegelt die Tabelle 10 wider. Tabelle 10 Häufige körperliche Begleiterkrankungen älterer depressiver Patienten Arterielle Hypertonie:
52 %
Koronare Herzkrankheit:
52 %
Deg. Erkrankungen des Bewegungsapparates:
31 %
Herzinsuffizienz:
24 %
Magen-Darm-Erkrankungen:
21 %
Diabetes mellitus:
19 %
COPD:
14 %
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Tabelle 10 (Fortsetzung) Häufige körperliche Begleiterkrankungen älterer depressiver Patienten Neurologische Erkrankungen:
14 %
Schilddrüsenerkrankungen:
10 %
10.2.4 Ursachen Zwischen der erhöhten depressiven Erkrankungsbereitschaft und den Hirnalterungsprozessen bestehen pathophysiologische Zusammenhänge. Wie eng Hirnfunktionsstörungen und depressive Symptome verflochten sind, zeigen die Formen der präapoplektischen Depression, der Depression als Vorstufe beim Herzinfarkt sowie der depressiven Syndrome im Rahmen der Entwicklung zerebrovaskulärer Prozesse und bei beginnender Parkinsonkrankheit. Hirnfunktionsstörungen werden im Initialstadium oft vorschnell als Depressionen diagnostiziert, deren Symptome sie aber deutlich zeigen. Eine beginnende Demenz kann gelegentlich durch eine hinzutretende Depression maskiert werden. Bilder, bei denen die depressive Antriebsverarmung eine Einschränkung der intellektuellen Leistungsfähigkeit vermuten lässt, werden als depressive Pseudodemenzen bezeichnet. Auch körperliche Krankheiten können zu schweren depressiven Verstimmungen führen, besonders dann, wenn es sich um chronische und schmerzhafte Erkrankungen handelt. Depressionen im Rahmen maligner Neoplasien, Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie bei Blutdruckschwankungen und Eisenmangel sind bekannt. Eine somatische Abklärung ist in jedem Fall dringend angezeigt, da über 80 % der über 65-Jährigen unter einer oder mehreren chronischen Krankheiten leiden, die eine Depression mitbegründen können: Die Altersdepressionen haben somit zumeist eine multifaktorielle Genese aufzuweisen. Psychoreaktive Faktoren, besonders das Erleben der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins sowie das Bewusstsein, wichtige Entscheidungen nicht mehr selbst treffen zu können, sind von großer Bedeutung; dazu kommen noch Verlusterlebnisse, Kränkungen durch andere Menschen sowie das Unverständnis, das in unserer Gesellschaft vielfach alten Menschen entgegengebracht wird. All dies führt einerseits zu Compliance-Problemen, andererseits auch zu erhöhter Suizidalität. 10.2.5 Risikofaktoren Einige Risikofaktoren sind in Tabelle 11 zusammengefasst. Tabelle 11 Risikofaktoren für eine Depression im höheren Alter Verwitwung Multimorbidität/Komorbidität Schlafstörungen Beeinträchtigung in den Alltagsaktivitäten Frühere Erkrankungen Weibliches Geschlecht (Frauen erkranken 50 % häufiger als Männer)
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10.2.6 Therapie der Depression im Alter Die Behandlung der Altersdepression muss aufgrund der multifaktoriellen Genese immer mehrdimensionale Aspekte berücksichtigen (allgemeinmedizinische, psychosoziale und pharmakotherapeutische). Ziele der Therapie älterer Depressiver sind Symptomremission, Rückfall- und Rezidivprophylaxe sowie die Verbesserung der Lebensqualität und der mentalen und körperlichen Funktionsleistungen. Selbst bei differenzialdiagnostischen Zweifeln ist eine antidepressive Therapie zu versuchen. Die depressive Symptomatik und die möglichen medizinischen Begleiterkrankungen sind konsequent zu behandeln. Auch ältere Patienten haben bei Bedarf ein Recht auf Psychotherapie. Neben Gespräch und Beratung bildet die Behandlung mit stimmungsaufh ellenden Medikamenten einen zentralen Bestandteil der Therapie des älteren depressiven Menschen. Die überwiegende Mehrzahl der kontrollierten Studien mit Antidepressiva schließt allerdings Patienten über 60 bzw. 65 Jahren und solche mit körperlichen einschließlich demenzieller Erkrankungen systematisch aus, sodass die Empfehlungen weitgehend auf Studienergebnissen an jüngeren und körperlich gesunden Patienten beruhen. Verschwindend wenige Daten existieren zur Population der über 75-Jährigen, eine der am stärksten wachsenden Bevölkerungsgruppen. Antidepressiva sind grundsätzlich auch im Alter gut wirksam. Entscheidend für die Auswahl des Antidepressivums sind das jeweilige Nebenwirkungs- und Interaktionsprofi l, pharmakokinetische Überlegungen sowie bestehende Komorbidität. Aufgrund ihres günstigen Wirkungsprofi ls werden SSRIs oder auch SNRIs das Mittel der ersten Wahl. Bei älteren Patienten empfiehlt es sich, Antidepressiva niedrig zu dosieren, da sie ein höheres Risiko für Arzneimittelnebenwirkungen aufweisen. Bei Bedarf ist die Dosis schrittweise anzuheben. Bezüglich der angewandten Psychotherapiemethoden ist die Wirkung bei kognitiver Verhaltenstherapie (VT) und bei interpersoneller Psychotherapie (IPT) besonders gut belegt. Bei ausgeprägten wahnhaften bzw. psychotisch gefärbten Symptombildern oder lebensbedrohlichen Verläufen mit Nahrungsverweigerung kann die Elektrokrampftherapie (EKT) auch bei älteren Patienten eine wirksame Therapieoption sein.
10.3 Manische Erkrankungen im Alter Manische Episoden im Alter sind seltener, Fehldiagnosen somit häufiger, da der Arzt aufgrund der oft uncharakteristischen Symptomatik in diesem Lebensalter nicht an eine Manie denkt. Die Episoden verlaufen meist milder, dauern aber länger als in jüngeren Lebensjahren. Die Dynamik früherer manischer Zustände geht verloren. Häufig erschweren holothyme Wahnphänomene und psychoorganische Störungen das Zustandsbild. Die Behandlungsmöglichkeiten entsprechen denen der Manien in jüngerem Lebensalter, es empfehlen sich jedoch Antipsychotika mit geringer anticholinerger Wir-
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kung. Eine prinzipiell auch im Alter erfolgreiche Lithiumprophylaxe ist bei einigen multimorbiden Patienten leider kontraindiziert. Differenzialdiagnostisch sind manische Zustandsbilder gegenüber organischen psychischen Störungen abzugrenzen.
10.4 Schizophrene Psychosen im Alter Schizophrene Psychosen manifestieren sich bevorzugt im jüngeren Erwachsenenalter. Eine erstmalige Erkrankung nach dem 45. Lebensjahr ist selten. Die Ätiologie der Spätschizophrenien wird kontroversiell diskutiert: Manche Patienten erlitten bereits in frühen Jahren unerkannte Krankheitsphasen, andere wiederum zeigen Störungen, die gegen organische psychische Störungen bzw. paranoide Syndrome anderer Ursache und gegenüber Affektpsychosen schwer abgrenzbar sind. Psychosen, die im späteren Lebensalter erstmalig auftreten, entsprechen in der Kernsymptomatik im Wesentlichen den betreffenden Erscheinungsbildern im jüngeren Lebensalter; die Symptomatik ist jedoch eher farblos und monoton, nicht selten wird sie von hirnorganischen Faktoren mitgestaltet. Die schizophrenen Verläufe erfahren im Senium häufig einen Wandel: Akute Syndrome werden seltener, paranoid-halluzinatorische Phänomene nehmen zu. Verlaufsuntersuchungen zeigen aber, dass das Alter gerade bei den Schizophrenien eine lindernde und stabilisierende Wirkung ausübt. Die Symptomatik wird darüber hinaus im höheren Lebensalter geprägt durch die geänderte soziale Situation, die häufig bestehende Multimorbidität und durch mögliche hirnorganische Veränderungen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen im Alter die schizophrenen Residualzustände, die durch kognitive Basisstörungen und eine dynamische Entleerung sowie eine allgemeine Antriebsschwäche und Affektverflachung gekennzeichnet sind. Schizophrene Defekte sind jedoch nicht nur Folge des Krankheitsprozesses, sondern auch mangelhafter psychosozialer Betreuung. Spontane oder therapeutisch induzierte Besserungen und soziale Remissionen sind selbst nach jahrelangen oder jahrzehntelangen ungünstigen Verläufen nicht selten. Andererseits begegnen uns chronisch-produktive Schizophrenien, die gegenüber therapeutischen Maßnahmen sehr hartnäckig sind. Die Therapie der Schizophrenien des höheren Alters unterscheidet sich nicht von der in jüngeren Lebensabschnitten. Bei der Therapie mit Antipsychotika genügen meistens jedoch niedrige Dosierungen. Beim Vorherrschen von Affektstörungen sind Antidepressiva indiziert.
10.5 Neurotische Störungen und Konfliktreaktionen im Alter Auch im Alter machen Konfliktreaktionen und neurotische Störungen einen großen Teil der psychischen Störungen aus. Die Symptomatik verliert jedoch im Laufe des Alterns bei vielen Kranken an Schärfe.
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Erstmanifestationen von neurotischen Störungen kommen in der zweiten Lebenshälfte nach übereinstimmender Lehrmeinung nicht mehr vor, aktuelle Konfliktreaktionen sind jedoch nicht selten. Bestehen biografische Hinweise, ist auch an ein neurotisches Residualsyndrom zu denken. Durch die Einengung der Vitalität und der Erlebnisbreite kann aber ein erträglicher Zustand mit Zurücktreten der belastenden neurotischen Störungen eintreten. Es sind aber auch chronische neurotische Störungen bekannt, deren Symptomatik sich im Alter nur wenig verändert. Die im Alter häufigen Konfliktreaktionen sind zum Teil Folge der veränderten Lebensbedingungen, da Verlusterlebnisse, Versagenszustände und Trauerreaktionen das Leben des alten Menschen kennzeichnen.
10.6 Persönlichkeitsstörungen im Alter Es gibt Lebensläufe von Menschen mit abnormer Persönlichkeitsstruktur, die durch Konflikte mit der Umwelt bis ins hohe Alter charakterisiert sind. In der Regel werden Persönlichkeitsstörungen, die in jüngerem Lebensalter dominierend waren, in der zweiten Lebenshälfte seltener oder verschwinden zur Gänze. Manche dieser Patienten finden somit im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit zunehmendem Alter zu einer sinnvollen, befriedigenden oder wenigstens erträglichen Daseinsform, andere leben aber bis in das hohe Alter in Konflikt mit der Umwelt. Die Persönlichkeitsmerkmale bleiben im Laufe des Lebens qualitativ weitgehend unverändert, der Ausprägungsgrad ist aber in Abhängigkeit von Lebensumständen und Vitalitätseinbußen unterschiedlich. Originäre Persönlichkeitsstörungen können sich mit alterstypischen Veränderungen wie Vergröberung und Verschärfung der Charaktermerkmale und hirnorganischen Faktoren mischen. Bei schweren Persönlichkeitsstörungen kann ein defektähnliches Syndrom auftreten, das durch Vitalitätsverlust, Einengung der Umweltbeziehungen und allgemeine Resignation charakterisiert wird.
10.7 Häufige Wahnthemen im Alter Wahnentwicklungen und paranoide Phänomene sind bei alten Menschen häufig. Kennzeichnend sind Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen ohne Halluzinationen sowie Schuld-, Versündigungs- und Verarmungsgedanken. Von schizophrenen Wahnbildern unterscheiden sie sich durch die Realitätsnähe und die Konkretheit der Wahninhalte. Der Verarmungs-, Versündigungs- und Weltuntergangswahn tritt vorwiegend bei depressiven Affektpsychosen auf. Häufig sind auch der Eifersuchtswahn sowie der Beeinträchtigungs-, der Verfolgungs- und der Vergiftungswahn. Beim hypochondrischen Wahn hat der Betroffene Gewissheit, an einer bestimmten Krankheit zu leiden.
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10.8 Alter und Suizid Die Prävalenz von Suiziden steigt weltweit mit dem Alter kontinuierlich an. Die Zahl von Suiziden auf 100.000 Menschen beträgt bei jungen Erwachsenen 19, bei über 75-Jährigen 56. Auch in Deutschland ist nach Angaben des Nationalen Suizid-Präventionsprogramms die Suizidrate bei über 60-Jährigen mehr als doppelt so hoch wie bei jungen Erwachsenen und steigt bei noch älteren Menschen rasant an: Von den über 85-jährigen Männern töten sich 110 von 100.000 pro Jahr, bei den 20- bis 25-jährigen sind es 18 von 100.000. Bei Frauen steigt die Rate von zehn bei jungen Frauen auf über 40 pro 100.000 bei den mehr als 85-jährigen. Daten aus Fallkontrollstudien zeigen, dass Patienten mit körperlichen Beschwerden ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko haben. Viele alte Menschen, die an einem Suizid versterben, suchen kurz vor dem Suizid einen Hausarzt auf. Für die ärztliche Praxis hat gerade diese Tatsache unmittelbare Konsequenzen: Alte Menschen, die über körperliche Beschwerden klagen und denen es an Lebensfreude mangelt, müssen immer psychologisch einfühlsam auf das Vorliegen einer depressiven Symptomatik und einer damit verbundenen Suizidalität exploriert und auch entsprechend behandelt und betreut werden. Wesentlich geringer als bei jungen Menschen ist dagegen die Häufigkeit von Suizidversuchen bei alten Menschen.
10.9 Schlafstörungen Schlafstörungen im Alter stellen ein häufiges medizinisches Problem dar. Die Schlafdauer alter Menschen ist insgesamt verkürzt; es kann zu einer Verminderung der REM-Phasen, der Non-REM-Phasen, insbesondere der Phase 4, und zu unregelmäßigen Schlafzyklen kommen, die durch Wachperioden unterbrochen werden. Das Schlafmuster ist somit im Alter sowohl quantitativ wie qualitativ verändert. Eine Rolle wird auch dem im Alter auft retenden Mangel an Schlaf induzierendem Serotonin bzw. 5-Hydroxitryptamin zugemessen. Die Häufigkeit von Schlafstörungen nimmt mit dem Alter zu: 60 % der über 65-Jährigen berichten von Einschlafstörungen, 95 % von zu frühem Erwachen. Wichtige Ursachen der Schlafstörungen bzw. der pathologischen Schlafmuster sind: • kardiale und respiratorische Insuffi zienz • zerebrovaskuläre Insuffizienz • somatische Krankheiten, die mit starken Schmerzen verbunden sind • Biorhythmusstörungen im Alter mit Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus: Die Patienten sind oft morgens müde, dösen tagsüber, sodass nachts der Schlaf unregelmäßig und häufig unterbrochen ist. Manchmal sind die Patienten während der Nachtstunden hellwach, ängstlich erregt und aufgrund der Reizdepravation desorientiert. • Nykturie: Bei Männern kann infolge einer Prostatahypertrophie oder auch im Rahmen einer latenten Herzinsuffizienz ein Harndrang auftreten, der zu Schlafunterbrechungen führt.
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• Psychische Störungen, vor allem Angst und Depression: Schlafstörungen, insbesondere Durchschlafstörungen mit frühmorgendlichem Erwachen sind bekanntlich oft das erste Symptom einer Depression. 10.9.1 Therapie der Schlafstörungen Bei Schlafstörungen empfiehlt sich folgende Vorgangsweise: • Änderung der Schlafgewohnheit: Mobilen Patienten sollte ausreichende Bewegung nahegebracht werden. Auf das geringere Schlafbedürfnis ist hinzuweisen. • Einsatz von herzstärkenden Mitteln und Xanthien-Derivaten (Theophyllin und Koffein). Manche Schlafstörungen besonders bei Menschen mit hypotoner Blutdrucklage können mit Tee oder Kaffee behoben werden. • sedierende Antidepressiva • Naturheilmittel • Schlaf induzierende Psychopharmaka: Da Psychopharmaka oft blutdrucksenkend sind und somit den Erfordernishochdruck herabsetzen, ist eine behutsame Anwendung angezeigt. Nebenwirkungsarmen Antipsychotika wie Dixyrazin oder Melperon ist gegenüber kurzwirksamen Tranquilizern der Vorzug zu geben. • Auch kann eine vermehrte Lichtexposition in den frühen Morgenstunden den gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus normalisieren und somit das Schlafverhalten verbessern. Die Anwendung des biologisch aktiven Lichtes hat den Richtlinien der Lichttherapie (siehe dort) zu folgen.
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Kapitel 11
Suizid und Suizidalität Eberhard A. Deisenhammer
1
Einführung
Das Phänomen der Selbsttötungsgedanken und -handlungen („suicidal ideation“ und „suicidal behavior“) hat im Laufe der Menschheitsgeschichte unterschiedliche moralische Bewertungen – von heroisierendem Verständnis bis zu scharfer Verurteilung – erfahren. Man hat sich dem Thema aus den verschiedensten Sichtweisen und Wissenschaftsbereichen – von der Genetik zur ethischen Philosophie, von der Soziologie zur Theologie, von der Tiefenpsychologie zur Rechtssprechung – genähert. Die Beschäftigung der Psychiatrie mit dem Suizid erklärt sich einerseits durch die Tatsache, dass – allen Postulaten von der „Freiheit zum Freitod“ zum Trotz – in mehr als 90 % der Suizide wie Suizidversuche zuvor eine psychiatrische Erkrankung vorgelegen hat und psychiatrische Störungen damit als zentrale Risikofaktoren suizidalen Handelns zu gelten haben. Zum anderen stellt die dynamische Denkeinengung (also die reduzierte Fähigkeit, auf alle dem Individuum sonst zur Bewältigung und Lösung von Problemen zur Verfügung stehenden kognitiven Strategien zurückgreifen zu können), welche der suizidalen Handlung in den allermeisten Fällen vorausgeht, als solche bereits einen (wenn auch oft nur krisenhaft-kurzdauernden) zumindest Psychose-nahen Zustand dar.
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Begriffsbestimmungen
Wolfersdorf definiert Suizidalität als die „Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, passives Unterlassen oder durch Handeln lassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen“. Dabei ist jedoch zu ergänzen, dass der Tod bzw. das Sterben oft gar nicht die zentrale Rolle im Denken suizidaler Menschen spielt. Es wird weniger ein „Hin zum Tod“ als ein „Weg von den Lebensproblemen“ angestrebt. Typische Äußerungen nach einem überlebten Suizidversuch sind „Es war mir einfach alles zu viel“, „Ich habe meine Lebenssituation nicht mehr ausgehalten“ oder „Ich wollte (für immer) schlafen“. Henseler betont die Abgabe von Verantwortung und eine absolute Geborgenheit als Ziele und spricht in diesem Zusammenhang von einem idealisierten „harmonischen Primärzustand“. Suizid wird korrekt mit Selbsttötung übersetzt, der Begriff Selbstmord wird heute wegen der negativen Konnotation vermieden. Parallel zum Begriff Suizidversuch wird heute oft der von der WHO vorgeschlagene Terminus Parasuizid verwendet, in dessen Definition der Wille zu sterben nicht explizit gefordert wird, sondern von „Änderungen, die die Person durch die tatsächlichen oder erwarteten körperlichen Konsequen395
Eberhard A. Deisenhammer
zen anstrebt“ gesprochen. Das Spektrum parasuizidaler Handlungen reicht von der manipulativ wirkenden Einnahme einiger weniger Schlaftabletten bis zu sorgfältig geplanten Handlungen, die nur durch Zufall nicht tödlich enden. Von Parasuiziden abzugrenzen sind (oft habituelle) selbstschädigende Handlungen, die bei manchen Patienten mit Persönlichkeitsstörungen zur Abfuhr innerer Spannungsgefühle dienen, sowie nicht-suizidale Selbstverletzungen bei psychotischen Erkrankungen und intellektueller Minderbegabung. Der Begriff suizidales Verhalten wird unterschiedlich verwendet und umfasst neben dem Suizid und dem Parasuizid meist auch Vorbereitungshandlungen wie das Sammeln von Tabletten oder den Kauf einer Schusswaffe zum Zweck des Suizids, manchmal werden auch Suizidgedanken oder stationäre Aufnahmen und andere Interventionen aufgrund von Suizidalität dazugerechnet. Das – sehr umstrittene – Konzept des Bilanzsuizids beschreibt eine Selbsttötung in einer allgemein als ausweglos angesehenen Situation nach reiflicher, von kognitiven oder emotionalen Einengungen freier Abwägung aller Gründe, die für oder gegen das Weiterleben sprechen. Neben einem ideologisch betonten Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben werden am häufigsten unheilbare, schmerzhafte Krankheiten als möglicher Grund für einen solchen „Freitod“ angeführt. In manchen Ländern (Niederlande, Belgien) wurde der ärztlich unterstützte Suizid, also aktive Euthanasie auf Verlangen des Patienten, legalisiert. Dieser wird ärztlicherseits bei uns überwiegend abgelehnt, weil einerseits die Möglichkeiten der Behandlung der Begleitdepression sowie jene der Hospizmedizin noch bei Weitem nicht optimal genutzt werden. Andererseits wird befürchtet, dass ökonomischer, familiärer oder gesellschaft licher Druck die „freie“ Entscheidung eines Betroffenen zum Suizid massiv beeinflussen könnte. Besonders für in der Psychiatrie Tätige muss – in Erinnerung der vielen als „lebensunwert“ ermordeten Opfer unter den psychiatrischen Patienten während der nationalsozialistischen Diktatur – die strikte Ablehnung einer Aufweichung des ärztlichen Lebensschutzprinzipes als oberste Maxime gelten. In seiner großen Suizid-Enzyklopädie grenzt Durkheim den „altruistischen Suizid“ von der krankheitsassoziierten Selbsttötung ab. Darunter fallen Handlungen, die mit dem Tod des Akteurs enden, aber primär andere, meist politische Ziele anstreben. Die japanischen „Kamikaze“-Angriffe des II. Weltkriegs zählen dazu, ebenso Selbstverbrennungen zur Erregung von Aufmerksamkeit für politische Anliegen in der ehemaligen ČSSR und 2011 in Tunesien oder Selbstmordattentäter, die durch möglichst viele mit in den Tod gerissene Opfer ein Höchstmaß an medialem Interesse sowie politisches Chaos hervorrufen wollen. Die oben beschriebene typische psychosenahe Einengung des Denkens besteht bei diesen Suizidanten zwar ebenso, als Adressaten suizidpräventiver Hilfsstrategien sind sie jedoch kaum erreichbar.
3
Epidemiologie
Weltweit sterben pro Jahr etwa eine Million Menschen durch Suizid. Das sind mehr als alle Opfer von Kriegen, Terroranschlägen und Mordfällen zusammen. Dabei bestehen bezüglich des Risikos suizidalen Verhaltens große Unterschiede zwischen den Län396
Suizid und Suizidalität | 11
dern. Neben unterschiedlichen Erhebungs- und Klassifizierungsmethoden werden genetische, soziologische, kulturelle und umweltbedingte Faktoren dafür angeführt. Der allgemein verwendete Vergleichswert ist die Suizidrate, die als die Zahl der Suizide pro 100.000 Angehörigen einer Population (z. B. eines Staates oder einer Altersgruppe) pro Jahr definiert ist. Tabelle 1 zeigt rezente Suizidraten einzelner Länder. Tabelle 1
Suizidraten im internationalen Vergleich Gesamt
Männer
Frauen
Litauen (2009)
34,1
61,3
10,4
Ungarn (2009)
24,6
40,0
10,6
Japan (2009)
24,4
36,2
13,2
Slowenien (2009)
21,9
34,6
9,4
Schweiz (2007)
18,0
24,8
11,4
Österreich (2009)
15,2
23,8
7,1
China (1999; ausgewählte Gebiete)
13,9
13,0
14,8
Deutschland (2006)
11,9
17,9
6,0
USA (2005)
11,0
17,7
4,5
Mauritius (2008)
6,8
11,8
1,9
Italien (2007)
6,3
10,0
2,8
Brasilien (2008)
4,8
7,7
2,0
Griechenland (2009)
3,5
6,0
1,0
Kuwait (2009)
1,8
1,9
1,7
Nach einem Anstieg der Suizidraten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kam es in vielen Ländern seit etwa Mitte der 1980er Jahre zu einem deutlichen Absinken der Suizidzahlen. Über die genauen Gründe dafür kann nur spekuliert werden, unter anderem werden die verbesserten psychiatrischen Therapieoptionen und auch der (beginnende) Abbau der Stigmatisierung psychischer Krankheiten als mögliche Ursachen genannt. Abb. 1 zeigt exemplarisch die Suizidraten in Österreich für die Jahre 1980 bis 2009. In den meisten Staaten weisen Männer im Vergleich zu Frauen zwei- bis dreifach höhere Suizidraten auf. Das einzige Land, aus dem höhere Suizidraten bei Frauen im Vergleich zu Männern bekannt sind, ist China. Die Gefahr, durch Suizid zu sterben, steigt bei beiden Geschlechtern mit zunehmendem Alter an. Die Zahl der Parasuizide wird auf das bis zu 25-fache der Suizidzahlen geschätzt, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Im Gegensatz zu Suiziden sind Parasuizide bei Frauen häufiger als bei Männern und werden in jüngerem Alter öfter verübt.
397
Eberhard A. Deisenhammer
25 %
20 %
15 %
10 %
5%
1980
Abb. 1
’82
’84
’86
‘88
’90
’92
‘94
’96
’98
2000
’02
’04
’06
’09
Suizidraten in Österreich 1980–2009
Die gedankliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen, ist als weit verbreitet anzunehmen. In Befragungsstudien werden für Suizidgedanken Lebenszeitprävalenzen von bis zu 20 % angegeben.
4
Risikofaktoren
Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Entstehung von Suizidalität multifaktoriell bedingt und komplex ist. Eine Reihe von demografischen, biologischen, soziologischen und anderen Parametern wurden im Rahmen suizidalen Verhaltens gehäuft gefunden. Die Etablierung eines monokausalen Zusammenhanges zwischen einem bestimmten Lebensumstand oder einem Einzelfaktor und einer suizidalen Handlung ist praktisch nie möglich. Entsprechende, nicht selten posthoc formulierte Konstrukte sind grundsätzlich mit Vorsicht zu beurteilen. Manchmal sind auch umgekehrt „Risikofaktoren“ die Folge einer suizidalen Krise, sodass generell korrekterweise eigentlich von „suizidassoziierten Faktoren“ gesprochen werden sollte. Ein Beispiel für die Problematik der Erfassung kausaler Zusammenhänge ist das Rauchen. Suizidales Verhalten tritt bei Rauchern gehäuft auf, es gibt jedoch sowohl Beobachtungen, dass Rauchen (aufgrund einer Störung des Serotonin-Stoff wechsels) Suizidalität induzieren kann, als auch dafür, dass der Zigarettenkonsum im Rahmen psychischer Belastungen unbewusst als eine Art Selbstmedikation zur Stressreduktion eingesetzt wird. Infolge insuffizienter psychotroper Wirkung käme es dann dennoch zu suizidalen Handlungen. Das Rauchen wäre in diesen Fällen nicht Ursache, sondern Epiphänomen von Suizidalität. Rezente Studienergebnisse sprechen allerdings tatsächlich eher für eine suizi-
398
Suizid und Suizidalität | 11
dalitätsinduzierende Wirkung durch Rauchen. Dass regelmäßiger Zigarettenkonsum gleichzeitig einen jeden Tag vielfach wiederholten Nikotinentzug (welcher wiederum einen körperlichen Stressfaktor darstellt) bedeutet, erhöht die Komplexität des Zusammenhangs noch weiter. Neben dem bereits erwähnten demografischen Befund, dass hinsichtlich Suiziden Männer und ältere Personen und bezüglich Parasuiziden Frauen und jüngere Menschen das höchste Risiko aufweisen, stellen vor allem das Vorliegen einer psychiatrischen Krankheit sowie frühere Suizidversuche zentrale Risikofaktoren dar. Die Wahrscheinlichkeit, durch Suizid zu versterben, beträgt bei Menschen mit einer Parasuizid-Anamnese das 40-fache der Normalbevölkerung. Bezüglich psychiatrischer Erkrankungen sind in erster Linie depressive Störungen zu nennen, weiters schizophrene Psychosen, Essstörungen, Suchterkrankungen und einzelne Persönlichkeitsstörungen, wobei auch hier depressive Symptome für die Gefährdungseinschätzung besonders zu beachten sind. Komorbidität, also das Vorliegen mehrerer psychischer Störungen, bedeutet meist auch eine Erhöhung des Risikos. Eine genetische Komponente, welche – unabhängig von der erblichen Vulnerabilität für psychiatrische Erkrankungen – zu Suizidalität prädisponiert, ist mittlerweile als gesichert anzusehen. Die Erhebung der Familienanamnese hinsichtlich suizidalen Verhaltens ist daher wichtiger Teil der individuellen Risikoeinschätzung. Ebenso unumstritten ist der erniedrigte Serotonin-Umsatz im ZNS, auf den durch erniedrigte Konzentrationen der 5-Hydroxy-Indol-Essigsäure (5-HIES) im Liquor geschlossen werden kann. Ursprünglich aus der Lipidstoff wechsel-Forschung stammt die – allerdings umstrittene – Hypothese eines Zusammenhanges niedriger Cholesterinwerte im Blut mit dem Risiko für Suizide und Suizidversuche. Eine Reihe von Studienergebnissen sowie epidemiologische Beobachtungen legen die zentrale Bedeutung sozialer Desintegriertheit für die Entwicklung suizidaler Krisen nahe. Partnerschaft, Kinder oder Eingebundensein in eine religiöse oder soziale Gemeinschaft, insgesamt das Erleben von „Sinn im Leben“ stellen präventive Faktoren dar. Verwitwete, sozial isolierte Personen und Vereinsamte haben dagegen ein höheres Suizidrisiko. Zeiten psychosozialer Umbrüche eines Individuums (Trennungssituationen, Verlusterlebnisse, Arbeitslosigkeit) stellen Phasen erhöhter Gefährdung dar. Die Suizidraten homosexueller Menschen liegen über jenen Heterosexueller, was auf die immer noch gegebene psychosoziale Belastung durch gesellschaft liche Stigmatisierung zurückgeführt wird. Aus psychologischer Sicht sind Hoffnungslosigkeit (als Ausdruck der Unfähigkeit, eine belastende Situation als vorübergehende Krise ansehen zu können), eine erhöhte narzisstische Kränkbarkeit sowie Probleme mit dem „gesunden“, sozial verträglichen Ausleben von Aggression nach außen als Risikofaktoren zu nennen. Von Werther-Effekt (nach dem Goethe-Roman „Die Leiden des jungen Werthers“) spricht man, wenn es nach der Selbsttötung einer prominenten Person oder nach einer heroisierenden oder sehr emotionalen Darstellung eines fiktiven oder realen Suizides in Filmen oder Zeitungen zu einer Häufung von Folge-Suiziden kommt. Es ist jedoch klar, dass eine solche Entwicklung nur bei bereits durch andere Faktoren prädisponierten Menschen stattfinden kann. Dass durch die Verfügbarkeit („availability“) von Suizidmitteln (z. B. Schusswaffen oder hohe Gebäude) die Zahl der Suizide beeinflusst werden kann, hat potenzielle Implikationen für suizidpräventive Strategien. 399
Eberhard A. Deisenhammer
In Tabelle 2 sind wichtige Suizid-Risikofaktoren aufgelistet. Tabelle 2 Risikofaktoren suizidalen Handelns Alter (höher bei Suiziden, niedriger bei Suizidversuchen) Geschlecht (männlich bei Suiziden, weiblich bei Suizidversuchen) Anamnese früherer Suizidversuche Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung Rauchen Positive Familienanamnese bezüglich suizidaler Handlungen Niedrige 5-HIES-Konzentration im Liquor Kränkungs- oder Verlusterlebnisse Soziale Desintegriertheit Hoffnungslosigkeit Werther-Effekt Verfügbarkeit der Suizidmethode
5
Erkennen von Suizidalität
Vorneweg das Wichtigste für das Erkennen von Suizidalität ist es, überhaupt einmal an die Möglichkeit zu denken, dass jemand (sei es ein uns überantworteter Patient, sei es jemand aus unserem persönlichen Umfeld) sich in einer suizidalen Krise befinden könnte. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen klare Suizidäußerungen und -ankündigungen, sogar Vorbereitungshandlungen tätigen und diese von der Umgebung nicht wahrgenommen oder verleugnet werden. Der Satz „Wer vom Suizid spricht, begeht ihn nicht” ist als grundlegend falsch anzusehen. Umgekehrt kann aber auch nicht davon ausgegangen werden, dass keine Gefahr bestünde, wenn jemand keine solchen Äußerungen macht oder die Frage nach Suizidgedanken (vielleicht dissimulierend) verneint. Grundsätzlich können alle auff älligen Änderungen im Verhalten einer Person mögliche Hinweise für eine seelische Problematik und damit ein Warnsignal hinsichtlich potenziell vorliegender Suizidalität sein. Dazu zählen einmal alle Hinweise auf eine depressive Symptomatik wie sozialer Rückzug, Interessenverlust oder negatives Denken, welche ein Erfragen von Suizidgedanken unbedingt erfordert. Auch unvermittelt auftretender vermehrter Alkohol- oder Drogenkonsum kann ein Ausdruck seelischer Not sein, ebenso kann sich hinter erhöhter Reizbarkeit oder Aggressivität abgewehrte Verzweiflung verbergen. Menschen in seelischen Krisen berichten immer wieder über Albträume, vor allem mit Sturz-, Todes- und Katastropheninhalten. Allgemeine häufigere Bemerkungen über den Tod (oder eine vermehrte gedankliche Beschäftigung mit bereits Verstorbenen) können ein Hinweis für eigene Todeswünsche sein. Mehrere 400
Suizid und Suizidalität | 11
Studien haben gezeigt, dass etwa die Hälfte der Suizidopfer im letzten Monat vor dem Tod noch Kontakt mit einem Arzt hatten, öfters sogar mehrere Ärzte konsultierten. In allzu vielen Fällen scheint in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient der suizidale „Hilfeschrei“ nicht adäquat verstanden zu werden. Der österreichische Psychiater und Pionier der Suizidprävention, Erwin Ringel, postulierte aus Gesprächen mit Menschen, die einen Suizidversuch überlebt hatten, das Präsuizidale Syndrom. In dieser Symptomen-Trias sind die zunehmende gedankliche Einengung, die Wendung der Aggression gegen das Selbst sowie Suizidfantasien zusammengefasst. Dabei beschreibt die situative Einengung den Verlust von Freude und Interesse an sonst wichtigen Lebensinhalten. Dynamische Einengung ist die Reduktion der Fähigkeit, auf – normalerweise verfügbare – kognitive Problemlösungsstrategien zurückgreifen zu können. Dies wird bildlich auch als „Röhrensehen“ bezeichnet. Die Wendung der Aggression gegen das Selbst resultiert aus der mangelnden Fähigkeit, Aggressionen „gesund“, also im Sinne der eigenen Sicherung und des narzisstischen Machterhalts und trotzdem sozial adäquat, nach außen leben zu können (z. B. „Streiten können“). Suizidfantasien können „aktiv intendiert“ oder – gefährlicher, da oft nicht mehr steuerbar – „passiv sich aufdrängend“ sein.
6
Behandlung von und Umgang mit Suizidalität
Mit dem Erkennen von Suizidalität und dem vorurteilsfreien, stützenden und nicht wertenden Annehmen eines Menschen in einer suizidalen Krise ist eigentlich schon ganz Wesentliches in der Akut-Behandlung getan. Suizidäußerungen, auch solche, die vorwiegend demonstrativ oder manipulativ erscheinen, müssen als Warnsignal und Hilferuf immer ernst genommen werden. Die – früher weitverbreitete – Vorstellung, dass jemand gerade durch das Fragen nach Suizidgedanken erst auf die Idee gebracht werden könnte, sich das Leben zu nehmen, ist als falsch erkannt worden. Vielmehr kann im Gespräch mit Menschen, welche unter Suizidideen gelitten haben, oft die Erfahrung gemacht werden, dass eine Haltung, die solche Gedanken als Teil einer (z. B. depressiven) Erkrankung akzeptiert und nicht als schuldhaft verurteilt, eine entlastende Wirkung hat. Überhaupt ist die Herstellung einer Verlässlichkeit und Vertrauen signalisierenden Beziehung und die Schaffung einer kommunikativen Atmosphäre der zentrale Punkt im Umgang mit Menschen in einer suizidalen Krise. In einer akut bedrohlichen Situation kann es allerdings –unter Erklärung der Gründe – notwendig sein, vorübergehend sogenannte „kustodiale“, mit der Beschränkung der persönlichen Freiheit des Betroffenen einhergehende Maßnahmen zu setzen, etwa eine gesetzliche Unterbringung in einem geschlossenen Bereich. In der ärztlichen Interaktion mit suizidalen Menschen ist die Tatsache von Bedeutung, dass die Intentionen beider Seiten – zumindest in der verbalen Kommunikation – oft diametral entgegengesetzt sind („Sterben wollen“ versus „Leben erhalten wollen“). Weiters stellt das Überleben eines Suizidversuches für den Betreffenden eigentlich ein Scheitern und damit eine erneute narzisstische Kränkung und ein Erleben von Insuffizienz dar. Gleichzeitig kann auch das ärztliche Selbstbild des engagierten Helfers durch eine suizidale Drohung oder Handlung irritiert sein. In diesem Spannungsfeld 401
Eberhard A. Deisenhammer
entstehen aufseiten des Arztes nicht selten massive Gegenübertragungsprobleme, die – zwischen Überprotektion und „Gegenübertragungshass“ – das Etablieren eines rationalen therapeutischen Bündnisses erschweren können. Das Bearbeiten solcher Gegenübertragungsprobleme (und damit ein sichererer Umgang mit suizidalen Patienten) ist ein wichtiger Ansatz in Supervisions- oder Balintgruppen. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass verschiedene psychotherapeutische Strategien sowohl als Kurzzeitbehandlung im Sinne einer Krisenintervention als auch längerfristig-präventiv wirksam sind. In der Beurteilung der spezifischen Wirksamkeit von Psychotherapie bei Suizidalität ist jedoch zu beachten, dass die Herstellung einer tragfähigen Beziehung grundlegende Voraussetzung sowohl der Arbeit mit suizidalen Patienten als auch der Psychotherapie als solcher ist. Ebenfalls gut belegt ist die suizidpräventive Wirkung von Lithium sowie Clozapin (sowohl in on/off-Untersuchungen wie im Vergleich mit anderen mood stabilizern bzw. Antipsychotika). Hinsichtlich der Gruppe der Antidepressiva sprechen klinische Beobachtungen wie auch Ergebnisse von Medikamenten-Zulassungsstudien dafür, dass mit der Behandlung der Depression generell auch die Suizidalität abnimmt. Allerdings tauchen seit vielen Jahren phasisch immer wieder Berichte über einen Anstieg der Inzidenz von Suizidgedanken und -versuchen unter der Behandlung mit Antidepressiva auf. Dies hängt zumindest zum Teil damit zusammen, das die verschiedenen Wirkungen der Antidepressiva nicht zeitgleich eintreten. Wenn die Antriebssteigerung der Stimmungsaufhellung vorausgeht, kann es dem Patienten (indirekt iatrogen) ermöglicht werden, bereits vorhandene Suizidideen in die Tat umzusetzen. Deshalb ist vor allem in der Anfangsphase einer (nicht nur medikamentösen) antidepressiven Therapie eine regelmäßige Einschätzung der Suizidalität unumgänglich. Neueste Daten sprechen dafür, dass Antidepressiva mit zunehmendem Alter der Patienten Suizidalität signifi kant reduzieren, während es bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich zu einer Zunahme von Suizidalität kommen könnte. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Äußern von Suizidideen nicht unbedingt ein Beweis für neu entstandene Suizidalität sein muss, sondern im Gegenteil sogar als Ausdruck einer vermehrten Fähigkeit, sich vertrauensvoll öff nen zu können, verstanden werden könnte.
7
Suizidprävention
Suizidpräventive Maßnahmen werden einerseits in solche der Suizidverhütung (also der Prävention von Suizidalität selbst) und jene zur Suizidverhinderung (des Abhaltens von einer suizidalen Handlung) unterschieden. Zum anderen beschreibt primäre Suizidprävention Strategien auf der kollektiven, gesellschaft lichen Ebene, während die sekundäre und tertiäre Suizidprävention Maßnahmen zum Schutz eines suizidalen Individuums umfassen. Zu Ersteren zählen eine Reduktion der Verfügbarkeit von Suizidmethoden, also etwa restriktive Schusswaffengesetze, technische Änderungen an Autos (Abgasfilter oder automatisches Abschalten des Motors bei längeren Standgasphasen), Absperrungen in U-Bahn-Stationen, die sich erst öffnen, wenn der Zug zum Stillstand gekommen ist, oder Barrieren an Brücken oder hohen Gebäuden, die sich zu 402
Suizid und Suizidalität | 11
„hot spots“ suizidaler Handlungen entwickelt haben. Auch die generelle Optimierung der psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosozialen Versorgung zählt dazu, ebenso eine möglichst zurückhaltende und nüchterne Medienberichterstattung über Suizide. Maßnahmen der sekundären Prävention sind, neben dem zentral bedeutsamen Erkennen von Suizidalität und der Herstellung eines sozialen Netzes, die Einleitung der jeweils notwendigen Therapiestrategien für die Erkrankung eines Menschen in einer suizidalen Krise bzw. (tertiäre Prävention) nach einem Parasuizid.
Weiterführende Literatur Améry J (2004) Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Klett-Cotta, Stuttgart
Henseler H (2000) Narzisstische Krisen. Westdeutscher Verlag, Opladen
Bronisch T (2002) Psychotherapie der Suizidalität. Thieme, Stuttgart
Maris RW (2002) Suicide. Lancet 360: 319–326
Durkheim E (1897/2006) Der Selbstmord. Suhrkamp, Frankfurt/Main Harris EC, Barraclough B (1997) Suicide as an outcome for mental disorders. Br J Psychiatry 170: 205–228
Ringel E (2002) Der Selbstmord. Verlag Dietmar Klotz, Eschborn Wurst FM, Vogel R, Wolfersdorf M (2007) Theorie und Praxis der Suizidprävention. Roderer Verlag, Regensburg
Hawton K, Van Heeringen K (2000) The International Handbook of Suicide and Attempted Suicide. Wiley and Sons, Chichester
403
Kapitel 12
Schlafstörungen (ICD-10 F51) Hartmann Hinterhuber
1
Physiologie des Schlafes
Die richtige Einschätzung von Schlafstörungen setzt die Kenntnis der Physiologie des Schlafes, besonders der Merkmale, der Stadien und der Dauer des natürlichen Schlafes voraus.
1.1
Der natürliche Schlaf
Definition und Merkmale des Schlafes Der Schlaf ist ein aktiver Erholungsprozess des Gesamtorganismus. Er beeinflusst Stoff wechselvorgänge im Gehirn und fördert die Anpassung des Menschen an seine Umwelt, er verbessert wesentlich die Gedächtnisleistungen und scheint die Kreativität des Menschen zu unterstützen. Darüber hinaus regelt der Schlaf eine Fülle von Funktionen, er fördert die Hirnleistungsfähigkeit, stärkt das Immunsystem und reguliert das Hunger-Sättigungs-Gefühl. Auch spielt er eine wichtige Rolle in der Erhaltung der normalen Glukoseregulation. Ohne äußere Zeitgeber folgt der Schlaf bei den meisten Gesunden – wie andere biologische Funktionen auch – einem 24-Stunden-Rhythmus. Der Schlaf als Ruhezustand weist charakteristische Merkmale auf: • Eine Bewusstseinsänderung: Während des Schlafes ist die Bewusstseinslage herabgesetzt, eine Wahrnehmungsbereitschaft bleibt jedoch bestehen. Durch geeignete Reize ist eine Weckbarkeit jederzeit möglich. • Eine trophotrope-vagotone Reaktionslage: Diese erklärt die verminderte Atem- und Kreislauftätigkeit, die Bradykardie und die Herabsetzung der Muskelspannung. Der Metabolismus ist allgemein niedrig, die Körpertemperatur sinkt ab. Die Aufbauprozesse, besonders die Proteinsynthese, sind verstärkt. • Eine Induzierbarkeit: Bedingte Reflexe sind in der Lage, den Schlaf einzuleiten. Dazu gehört das Aufrechterhalten eines typischen Schlafrituales, wie beispielsweise das Einnehmen einer „embryonalen Lage“. Der Schlaf hat auf die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten eine große Bedeutung. Ohne Tiefschlaf gibt es keine langfristige Verfestigung von Erfahrungen und Wissen. Bei großen Anforderungen an die Informationsverarbeitung benötigt der Mensch auch vermehrten Tiefschlaf, um komplexe Inhalte besser verarbeiten zu können: In diesem Stadium werden Inhalte aus dem Zwischenspeicher in das Langzeitgedächtnis 405
Hartmann Hinterhuber
übertragen. Dadurch wird auch der temporäre Speicher wieder geöff net. Im Tiefschlaf werden wiederkehrende Strukturen erkannt und diese separat abgespeichert. Dies erklärt, dass wir nach einem erholsamen Schlaf viele Probleme in einem anderen Licht wahrnehmen. Ein erholsamer Schlaf korreliert mit psychosozialer Funktionsfähigkeit im privaten und beruflichen Bereich, ausgeglichener Stimmungslage und höherer Lebensqualität. Für die Regulation des Schlafes beziehungsweise der verschiedenen Schlafstadien sind die Raphe-Kerne und der Nucleus coeruleus verantwortlich. Das Zentrum der Steuerung der zirkadianen Rhythmik ist der Nucleus suprachiasmaticus, der als Teil des Hypothalamus direkte Afferenzen aus dem Nervus opticus und damit Informationen vom Auge erhält. Die Schlafbereitschaft und die reguläre Abfolge der verschiedenen Schlafstadien werden durch die Balance zwischen Serotonin, Noradrenalin- und Acetylcholin-Ausschüttung reguliert.
1.2
Dauer des Schlafes
Die Dauer des natürlichen Schlafes ist individuell sehr verschieden, sie kann zwischen vier und zehn Stunden variieren. Ebenso unterschiedlich ist die Einschlafdauer, sie beträgt – nach dem Zubettgehen – durchschnittlich weniger als 20 Minuten. Im Laufe des Lebens verringert sich die Schlafdauer: Der Säugling schläft ohne Bindung an einen Tag-Nacht-Rhythmus in zwölf Episoden mehr als 16 Stunden, der erwachsene Kurzschläfer mit fünf bis sechs Stunden Schlaf weist die größte Schlaft iefe nach dem Einschlafen auf, der Langschläfer mit acht bis neun Stunden hat diese in den Morgenstunden. Im Durchschnitt schläft der Mitteleuropäer jede Nacht sieben Stunden und 15 Minuten. Diesbezüglich scheinen sich gesellschaft liche Einflüsse zu manifestieren: Im Jahr 1991 betrug die durchschnittliche Schlafdauer noch über acht Stunden. Anfang des letzten Jahrhunderts waren noch neun Stunden die Regel. Die Beurteilung des Schlaf-Wach-Verhaltens hängt von der Selbstwahrnehmung des Menschen ab: Wesentlicher als die Länge des Schlafes ist sein Erholungswert.
1.3
Stadien des Schlafes
Der Schlaf kann aufgrund elektrophysiologischer Kriterien in folgende Stadien eingeteilt werden, die international als verbindlich anerkannt sind: • Stadium I: zunehmende Schläfrigkeit, Übergang in die Einschlafphase. Das EEG zeigt eine relativ niedergespannte, langsame Tätigkeit verschiedener Frequenzbereiche (ca. 5 % der gesamten Schlafzeit). • Stadium II: leichter Schlaf. Im EEG finden sich Schlafspindeln (12–14/sec. Wellen), K-Komplexe und Vertexwellen (ca. 50 % der Schlafzeit).
406
Schlafstörungen | 12
• Stadium III: mittlerer Schlaf. Das EEG weist mäßige Anteile von langsamer Aktivität auf. • Stadium IV: tiefer Schlaf. Im EEG herrscht eine hochgespannte langsame Aktivität vor. Die Schlafstadien II und III machen beim gesunden Jugendlichen ca. 20 % aus, sie werden als Tiefschlaf bzw. Slow-Wave-Sleep bezeichnet. Im Stadium II ist die Weckschwelle am niedrigsten, in den Stadien III und IV am höchsten. Schlafphasen, die im EEG das Bild eines Stadiums I, aber eine hohe Weckschwelle aufweisen, werden als REM-Schlaf-Stadien (Rapid-Eye-Movements) bezeichnet. Typisch dafür sind episodische, rasche Augenbewegungen, eine Muskelatonie und das Auftreten von Träumen. Beim Erwachsenen machen die REM-Phasen 20–25 %, beim Neugeborenen 60 % der Schlafzeit aus. Die verschiedenen Schlafstadien dauern unterschiedlich lang: Mit den anderen Stadien bilden die REM-Phasen Zyklen, die ca. 90 Minuten dauern und sich 4–5-mal während des normalen Nachtschlafes wiederholen (Abb. 1). Menschen mit psychischen Störungen zeigen ein unterschiedliches Verteilungsmuster. Schlafzyklen
Wach REM-Latenz REM
Stadien
1
2
3
4
0
1
2
3
4
5
6
7
Stunden
Abb. 1
Der Nachtschlaf eines gesunden Erwachsenen (EEG-Ableitung)
407
Hartmann Hinterhuber
2
Schlafstörungen
Definition Schlafstörungen sind individuell erlebte Störungen des Schlaf-Wach-Verhaltens: Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem subjektiven Schlafbedürfnis und dem objektiven Schlafvermögen. Ein nicht erholsamer Schlaf bzw. eine Schlafstörung ist verbunden mit Einschränkungen der Gesundheit, der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit sowie der Teilhabe am beruflichen und sozialen Leben. (Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin 2009) Die Anforderungen des täglichen Lebens mit den verschiedenen und unterschiedlich ausgeprägten psychosozialen Stressoren können Beeinträchtigungen des Schlafes bedingen, die wenige Tage dauern und als physiologische Reaktion auf Belastungsmomente zu interpretieren sind: Diese Beeinträchtigungen sind nicht als Schlafstörungen im engeren Sinne zu bezeichnen. Länger währende, das Wohlbefinden eines Menschen deutlich beeinträchtigende Schlaflosigkeit ist ein häufiges Symptom vieler organischer wie psychischer Störungen. Diesbezüglich sind körperliche Erkrankungen, chronische Schmerzzustände oder verschiedene psychiatrische Störungen, besonders schizophrene Psychosen und depressive Syndrome zu identifizieren: Ein beeinträchtigter Schlaf kann das erste Symptom einer der letztgenannten Störungen sein. Die Schlafstörung wird in diesen Fällen als sekundär bezeichnet. Eine primäre Schlafstörung liegt dann vor, wenn keine Störfaktoren aufgedeckt werden können. Die International Classification of Sleep Disorders ICDS-2 zählt über 100 klinisch und polysomnografisch abgrenzbare Schlafstörungen auf und teilt diese in folgende Kategorien ein: • Insomnien: Die Patienten äußern Beschwerden über ungenügenden Schlaf oder fühlen sich nach der üblichen Schlafzeit nicht erholt. • Schlafbezogene Atmungsstörungen • Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs • Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen • Parasomnien • Schlafbezogene Bewegungsstörungen • Isolierte Symptome: Darunter werden einerseits Normvarianten wie Lang- und Kurzschläfer, andererseits auch umweltbedingte Schlafstörungen erfasst. Das ICD-10 unterscheidet zwei große Gruppen, die organischen und die nicht-organischen Schlafstörungen. Die nicht-organischen Schlafstörungen treten aufgrund von psychischen Belastungen oder psychiatrischen Erkrankungen auf und machen 70 % aller Schlafstörungen aus: Nur 30 % weisen körperliche Ursachen auf. Schlafstörungen werden in Dyssomnien und Parasomnien eingeteilt. Ist der Schlaf hinsichtlich der Dauer, der Qualität oder einer gestörten Wach-Schlaf-Abfolge beeinträchtigt, sprechen wir von einer Dyssomnie. Demgegenüber sind Parasomnien abnorme Ereignisse, die mit dem Schlaf verbunden sind (siehe Abb. 2).
408
Schlafstörungen | 12
primäre (nicht organische) Schlafstörungen
Parasomnien
Dyssomnien
Insomnien (Schlaflosigkeit)
Abb. 2
Hypersomnien (exzessive Schläfrigkeit)
Störungen des Schlaf-WachRhythmus
Schlafwandeln
Pavor nocturnus
Albträume (Angstträume)
Klinische Klassifi kation von Schlafstörungen
Epidemiologie Rezente epidemiologische Untersuchungen (Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse DAK 2010) sagen, dass jeder zweite Deutsche über Schlafprobleme klagt, 15 % leiden unter einer behandlungsbedürftigen Insomnie. Schlafstörungen scheinen zuzunehmen: Laut DAK-Studie litten im Jahr 2009 über 60 Prozent mehr Menschen an quälender Schlaflosigkeit als noch vier Jahre zuvor. Entsprechende Untersuchungen in Großbritannien und den USA bestätigen diesen Trend. In einer kürzlich durchgeführten repräsentativen Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung erklärten nur 20 % der Befragten, über einen ungestörten Schlaf zu verfügen: Vor 15 Jahren waren es noch 75 Prozent. Weiters berichteten 11,5 %, tagsüber ungewollt einzunicken. Jeder Fünfte gab an, während des Tages öfters Schwierigkeiten zu haben, sich in monotonen Situationen wachzuhalten. Neben schlafbezogenen Atmungsstörungen sind Schlafmangel und erhöhter Schlafmittelgebrauch Risikofaktoren für erhöhte Tagesschläfrigkeit. Durch die damit verbundenen Risiken stellt die Tagesschläfrigkeit ein nicht zu unterschätzendes gesundheitliches Problem dar. Die Auswirkungen von Schlaflosigkeit sind mannigfach und gravierend: Mehr als 1/3 der Betroffenen klagen über körperliche Beschwerden während des Tages, ¼ fühlt sich intellektuell beeinträchtigt, jeder Vierte bemerkt negative Auswirkungen auf seine Arbeitsleistung, fühlt sich beim Autofahren beeinträchtigt und in seinem Privatleben gestört sowie in seiner Partnerschaft behindert. Trotz dieser sehr einschneidenden negativen Folgen der Schlaflosigkeit unterrichten die Betroffenen nur selten ihre Hausärzte, noch seltener konsultieren sie einen Psychiater und Psychotherapeuten: Nur eine Minderheit sucht wegen einer Schlafstörung ihren Arzt auf. Schlafprobleme scheinen für viele Betroffene trotz aller negativer Konsequenzen immer noch entweder nicht behandlungswürdig oder nicht behandelbar zu sein. Dies sollte Psychiater motivieren, sich in vermehrtem Umfang dieser Patientengruppe zu widmen: Die Entwicklungen der Schlafmedizin bieten uns diesbezüglich vielfältige Möglichkeiten.
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Hartmann Hinterhuber
Schlafstörungen nehmen mit dem Alter zu. Die Prävalenz chronischer Schlafstörungen ist in der Altersgruppe der über 65-Jährigen am höchsten. Die Tabelle 1 gibt die entsprechenden Werte wieder. Tabelle 1 Alter und Schlafstörungen Alter
Schlafstörungen
14–30 Jahre
13 %
31–50 Jahre
22 %
über 50 Jahre
41 %
2.1
Dyssomien F51
Definition und Einteilung Als Dyssomnie wird eine Störung der Dauer und der Qualität des Schlafes sowie der Schlaf-Wach-Abfolge bezeichnet: Sowohl eine Verkürzung wie eine Verlängerung der Schlafdauer kann die Befindlichkeit und die Leistungsfähigkeit des Menschen schwer beeinträchtigen. Dyssomnien werden unterteilt in: • Insomnien (Verkürzung der Schlafdauer, Schlaflosigkeit im engeren Sinne) • Hypersomnien (Verlängerung der Schlafdauer) • Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus
2.1.1
Insomnien F51.0
Definition und Symptomatik Deckt sich das individuelle Schlafbedürfnis nicht mit dem Schlafvermögen, sprechen wir von einer Schlafstörung. Der menschliche Schlaf kann sowohl in der Einschlafphase wie auch während der gesamten Schlafdauer gestört sein. Die Ein- und Durchschlafstörungen treten entweder primär (ohne erkennbare Ursache) oder sekundär im Rahmen von psychischen Störungen oder organischen Erkrankungen auf. Primäre, nicht-organische Schlafstörungen werden nach dem ICD-10 diagnostiziert, wenn • Schlafstörungen im Laufe eines Monats mindestens dreimal pro Woche auft reten, • zu klinisch signifi kantem Leiden führen, • die Beschäftigung mit der Schlaflosigkeit stark beeinträchtigend ist, sowie • diese zu Störungen im sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen des Betroffenen führen. Die ICSD-2 unterscheidet folgende Insomnieformen: • Schlafanpassungsstörung (akute Insomnie) • psychophysiologische Insomnie 410
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• • • • • • •
paradoxe Insomnie ideopathische Insomnie Insomnie bei psychiatrischer Erkrankung inadäquate Schlafhygiene verhaltensbedingte Insomnie im Kindesalter Insomnie bei Drogen- oder Substanzgebrauch Insomnie bei körperlicher Erkrankung
Viele Menschen klagen auch nach objektiv ausreichendem Schlaf über eine mangelhafte oder ausgebliebene Erholung und leiden tagsüber unter deutlicher Erschöpfung. Eine Leistungseinbuße sowie – häufig damit verbunden – eine Dysphorie sind regelhaft auftretende Symptome der Insomnie. Schlafmangel kann zu einer organischen emotional labilen Störung (hyperästhetisch-emotionales Durchgangssyndrom) führen. Bei den meisten Formen der primären Insomnie beherrscht den Patienten die starke Sorge, nachts nicht schlafen zu können, sodass er sich vermehrt auf sein Schlafverhalten konzentriert. Dies führt wiederum zu zunehmender Spannung und Erregung. Dadurch wird die Einschlaflatenz neuerlich verlängert (siehe Abb. 3). Auch ein ehemals durch organische Ursachen gestörtes Schlafverhalten kann zu einer ängstlichen Erwartungshaltung Anlass geben, sodass sich aus einer ursprünglich sekundären Insomnie eine primäre entwickelt.
411
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Abb. 3
Psychophysiologischer Circulus vitiosus der primären Insomnie (mod. nach Morin)
Epidemiologie Ca. 15 % der Menschen suchen in Mitteleuropa aufgrund von Ein- und Durchschlafstörungen einen Arzt auf, Insomnien treten im Alter häufiger auf, Frauen scheinen häufiger davon betroffen zu sein als Männer. Die große Häufigkeit der Schlafstörungen ergibt sich auch in der Bewertung der jährlichen indirekten und direkten Kosten. Die direkten Kosten werden in den USA auf 14 Mrd. US-Dollar pro Jahr geschätzt; die indirekten auf 80 bis 90 Mrd. US-Dollar. Mögliche Ursachen der Insomnie Eine Insomnie wird durch verschiedene psychische wie physische bzw. organische Faktoren verursacht, die wesentlichen werden in der Tabelle 2 zusammengefasst. Tabelle 2 Mögliche Ursachen einer Schlafstörung Primäre/psychophysiologische Insomnien Starke Stress-Einwirkungen Falsche Vorstellungen des Wach-Schlaf-Rhythmus Mangelhafte Schlafvoraussetzungen
412
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Tabelle 2 (Fortsetzung) Mögliche Ursachen einer Schlafstörung Insomnien bei psychiatrischen Erkrankungen Affektive Störungen Schizophrene Störungen Demenzen Angsterkrankungen Ess-Störungen Suchterkrankungen Anankastische Persönlichkeitsstruktur Insomnien bei neurologischen Erkrankungen Nächtliche Bewegungsstörungen Restless-Legs-Syndrom Myoklonien Epilepsien Extrapyramidal-motorische Erkrankungen Kopfschmerzen, Migräne Polyneuropathien Insomnien bei internistischen und anderen Erkrankungen Lungenerkrankungen: Apnoe, zentral oder obstruktiv bedingt Herz-Kreislauf-Erkrankungen Chronische Nierenerkrankungen Magen-Darm-Erkrankungen (Ulzera, Refluxkrankheit) Endokrinologische Erkrankungen (Diabetes mellitus, Hypothyreose etc.) Maligne Erkrankungen Chronische Infektionen Kyphoskoliose Urologische Störungen Insomnien bedingt durch zentralvenös wirksame Substanzen und andere Medikamente Antidepressiva (MAO-Hemmer, SSRI etc.) Alkohol Koffein Amphetamine und andere Stimulanzien Kortikosteroide Antihypertensiva Asthmamedikamente (Bronchodilatoren) Anti-Parkinson-Medikamente Hormonpräparate Antibiotika (Gyrasehemmer) Aspirin Diuretika Genetische Momente
413
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Dieses Kapitel berücksichtigt nur Schlafstörungen, bei denen vor allem emotionale Ursachen auslösend sind. Insomnien organischen Ursprungs wie die Schlafapnoe, die episodischen Bewegungsstörungen und die nächtlichen Myoklonien sowie das KleineLevin-Syndrom werden ausführlich in neurologischen Lehrbüchern dargestellt. Von der Kinder- und Jugendpsychiatrie wissen wir, dass Schlafstörungen, ja selbst ein leichter Schlaf in der Kindheit, im Erwachsenenalter häufig zur Insomnie führen. Komorbide Störungen Schlafstörungen sind mit vielen Erkrankungen assoziiert: Viele der Patienten mit nichtorganischen Schlafstörungen weisen eine zusätzliche organische Diagnose auf, häufig ist eine Komorbidität vor allem mit periodischen Beinbewegungen und einem RestlessLegs-Syndrom. Seltener sind nicht-organische Schlafstörungen auch mit Schlafapnoe, obstruktiver Hypopnoe und mit primärem Schnarchen assoziiert. Aus Letzterem kann sich auch eine schlafbezogene Atmungsstörung entwickeln. ¾ der organisch Schlafgestörten weisen eine psychiatrische Komorbidität auf. Chronische Insomnien erhöhen deutlich das Risiko, an einer psychiatrischen Störung zu erkranken. Diagnostische Maßnahmen bei Schlafstörungen Die Diagnose einer Schlafstörung erfolgt einerseits durch die subjektive Beurteilung durch den Patienten und den Arzt (freie Exploration, strukturierte Interviews, Fragebögen, Schlaftagebücher), andererseits durch objektive Messungen des Schlafes im Rahmen einer polysomnografischen Untersuchung. Immer sind auch die Aufwachqualität und die Tagesschläfrigkeit zu beurteilen. Zur Erfassung von Schlafstörungen liegen verschiedene diagnostische Instrumente vor, wie beispielsweise die „Abend-und-Morgen-Protokolle“, der „Schlaf-Fragebogen B“, der „Schlaf-Fragebogen A“ und die „visuellen Analogskalen abends/morgens“. Die Polysomnografie im Schlaflabor mit Überwachung durch schlafmedizinisch qualifiziertes Personal wird als Methode erster Wahl empfohlen, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: • schwere Schlafstörung mit deutlicher Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit; • fehlender Behandlungserfolg über mehr als 6 Monate; • Verdacht auf das Vorliegen einer organischen Schlafstörung (Schlafapnoe, RestlessLegs, periodische Beinbewegungen, Herzrhythmus-Störungen, epileptische Anfälle); • Schlafstörungen mit Selbst- und/oder Fremdgefährdung im Rahmen von Parasomnien (beispielsweise Schlafwandeln) oder Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen (beispielsweise das Bedienen von Maschinen bei Schlafstörungen infolge Schichtarbeit); • schwere subjektiv empfundene Schlafstörung bei objektiv fehlendem Anhalt. Im Rahmen der Polysomnografie werden Schlaf-EEG, EOG, EMG und EKG aufgezeichnet und der Atemfluss, die Atmungsanstrengung sowie die Sauerstoffsättigung registriert. Weiter werden Körperlage und Bewegungen während des Schlafes beobachtet. Die Videometrie ist nur für die Diagnostik der Parasomnien und der differenzialdiagnostischen Abgrenzung zu einigen Epilepsieformen als unabdingbar zu empfehlen. 414
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Differenzialdiagnose Störungen, die sich während des Schlafes manifestieren, vom Patienten selbst aber nicht wahrgenommen werden, werden nicht zu den hier besprochenen Erkrankungen gezählt. Die Schlafapnoe, die mit häufigen Atempausen während des Schlafes verbunden ist und zu einer Verringerung der Sauerstoffsättigung und zu Herzrhythmus-Störungen Anlass gibt, muss unter „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ diagnostiziert werden. Die periodischen Myoklonien, die durch Krämpfe und Zuckungen der Beine den Schlaf beeinträchtigen, scheinen unter „Schlafbezogene Bewegungsstörungen“ auf. Verlauf Der Verlauf der Schlafstörung wird weitgehend von den zugrunde liegenden psychischen oder physischen Belastungsmomenten bestimmt. Eine primäre Insomnie kann sich über Jahrzehnte erstrecken. Schlafprobleme tendieren zur Chronizität: Die Hälfte aller Schlafgestörten leiden länger als 5 Jahre unter ihrer Insomnie, 80 % länger als ein Jahr. Nicht selten führt die Schlaflosigkeit zu einem pathologischen Konsumverhalten: Die Betroffenen versuchen durch Tranquilizer, Hypnotika oder alkoholische Getränke den Schlaf zu induzieren oder gebrauchen Stimulantien, um tagsüber den Wachheitsgrad zu steigern. Therapie der Schlafstörungen a) Pharmakologische Maßnahmen Die modernen Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten und die neueren „Z-Substanzen“ haben zuverlässige und klinisch signifi kante Effekte auf die Einschlaff ähigkeit und die Schlafkontinuität, sie sind in der Kurzzeitbehandlung von Ein- und Durchschlafstörungen effektiv und sicher. Zur Schlafeinleitung beziehungsweise Schlafvertiefung eignen sich die in Tabelle 3 aufgeführten Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten und die Benzodiazepin-ähnlichen Hypnotika. In Tabelle 4 werden zwei Gruppen von Hypnotika charakterisiert. Tabelle 3 Benzodiazepine und Benzodiazepin-ähnliche Hypnotika Substanzgruppen
Wirkstoffe und Präparatebeispiele
Tagesdosis in mg
Benzodiazepine
Brotizolam (Lendormin, Lendorm) Diazepam (Valium) Flunitrazepam (Rohypnol) Flurazepam (Dalmadorm) Lormetazepam (Noctamid) Nitrazepam (Mogadan) Triazolam (Halcion) Oxazepam (Praxiten, Adumbran)
Imidazopyridine
Zolpidem (Ivadal, Stilnox)
10
Zyklopyrrolone
Zopiclon (Somnal, Ximovan)
7,5
Pyrazolopyrimidine
Zaleplon (Sonata)
10
0,125–0,25 5–20 0,5–1,0 15–30 0,5–2 5–10 0,125–0,25 15–45
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Tabelle 4 Charakterisierung unterschiedlicher Hypnotika „Ideales Schlafmittel“
Benzodiazepine
Zopiclon/ Zolpidem
Beeinflussung REM-Schlaf
0
+
0
Beeinflussung Tiefschlaf
0
++
+
Toxizität (Suizidgefährdung)
0
0
0
Abhängigkeitsentwicklung
0
++
+
Wirkungsminderung
0
+
+
Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
0
0/+
0/+
0 = unbedeutend, + = leicht, ++ = mittel
Die Gabe von Benzodiazepinen zur Behandlung von Schlafstörungen erfordert ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein beim verordnenden Arzt, da diese ein hohes Abhängigkeitspotenzial besitzen: Die Dauer der Verabreichung von Benzodiazepinen soll zwei Wochen nicht überschreiten. Bedacht werden muss, dass alle Hypnotika das Reaktionsvermögen deutlich beeinträchtigen, die höheren geistigen Funktionen einschränken und zu einem Amotivationssyndrom Anlass geben können. Weiters besteht eine erhöhte nächtliche Sturzgefahr, auch können mnestische Störungen und verschiedene parasomnische Ereignisse auftreten. Darüber hinaus ist mit einer Tagesmüdigkeit sowie mit Benommenheit zu rechnen, die beide besonders ausgeprägt im Zusammenwirken mit Alkohol auftreten. Es entwickelt sich rasch eine psychische und physische Abhängigkeit: Das abrupte Absetzen kann zu Entzugssymptomen und zu einer Rebound-Insomnie führen. Die Nebenwirkungen der Benzodiazepine schränken deren Verordnung sehr ein: Ein besonderes Problem stellt aber gerade die Chronizität vieler Insomnien dar, die eine langfristige, sichere und erfolgreiche Behandlung erfordert. Sedierende Antidepressiva gelten als Alternative zu den Benzodiazepin-Rezeptoragonisten: Weltweit werden sie häufig als Mittel der ersten Wahl zur Therapie von komorbiden Schlafstörungen, aber auch bei der primären Insomnie eingesetzt. Antidepressiva eignen sich besonders zur Langzeittherapie von Schlafstörungen. Bei chronischen Insomnien haben sich sedierende Antidepressiva (Amitriptylin, Trimipramin, Doxepin, Trazodon oder Mirtazapin) bewährt. Trazodon zählt in den USA zu den am häufigsten eingesetzten Hypnotika. Es normalisiert bei depressiven Patienten die Schlafarchitektur, auch kommt es zu einer Zunahme der Tiefschlafphasen S3 und S4. Erfolgreich sind auch melatonerge Chronobiotika. Vor allem bei älteren Patienten werden sedierende Antipsychotika, besonders Melperon und Dixyrazin mit Erfolg verordnet, wenngleich kaum randomisierte kontrollierte Studien vorliegen. Sedierende Antidepressiva und niedrig potente Antipsychotika müssen als Off-Label-Medikamente verabreicht werden.
416
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Bei alten Menschen wie auch bei Demenzkranken kann die Lichttherapie zu einer weitgehenden Normalisierung des Schlafverhaltens führen: Es empfiehlt sich, biologisch aktives Licht eine Stunde vor der normalen Morgendämmerung einzusetzen. Bei der Wahl eines Schlafmittels ist stets an die hohe Komorbidität von nicht-organischen und organischen Schlafstörungen zu denken. Verschiedene Psychopharmaka können beispielsweise nächtliche Bewegungsstörungen auslösen oder vorbestehende verschlechtern. Dies trifft nicht nur für Antipsychotika, sondern auch für einige Antidepressiva zu. Dafür scheinen Interaktionen des serotonergen und des dopaminergen Systems verantwortlich zu sein, die zu einer reduzierten dopaminergen Transmission führen. Diesbezüglich empfiehlt sich die Verordnung von Amitriptylin, Trazodon oder Bupropion. Auch Phasenprophylaktika müssen unter dem Gesichtspunkt von nächtlichen Bewegungsstörungen beurteilt werden: Unter Lithium treten häufig nächtliche Bewegungsstörungen auf oder werden dadurch verschlechtert. Carbamazepin, Valproinsäure und Topiramat sind diesbezüglich vorzuziehen, da sie die nächtlichen Bewegungsstörungen positiv beeinflussen können. Benzodiazepine verbessern auch bei Patienten mit nächtlichen Bewegungsstörungen die Schlafkontinuität. Liegt eine Schlafapnoe vor, sind spezielle therapeutische Interventionen wie eine kontinuierliche nasale Überdruckbeatmung notwendig. Die Verordnung von Benzodiazepinen ist strikt kontraindiziert. Zur Therapie des Restless-Legs-Syndroms sind Dopamin-Agonisten wie Pramipexol oder L-DOPA angezeigt. Verschiedene körpereigene Substanzen besitzen eine Schlaf fördernde Wirkung. Eine davon ist das Melatonin, ein Hormon, das in Abhängigkeit von Tageslicht und zirkadianen Rhythmen ausgeschüttet wird. Kontrollierte Studien über die Einnahme, die Wirkung und die Nebenwirkungen des Melatonins fehlen noch weitgehend, sodass erst die Zukunft zeigen wird, ob Melatonin oder Melatonin stimulierende Substanzen für die Behandlung von Schlafstörungen eingesetzt werden können. Große Erwartungen werden auch an das DSIP, das Delta-Sleep-Inducing-Peptid geknöpft: Dieses niedermolekulare Peptid induziert parenteral verabreicht Tiefschlafstadien (Stadium III und IV) mit langsamen Delta-Wellen im EEG. Das DSIP ist derzeit noch nicht verfügbar. Auch Medikamente, die auf das Orexin/Hypokretin-System einwirken und somit den Schlaf-Wach-Zyklus regulieren, sind derzeit noch nicht erhältlich. Da für viele Schlafstörungen neben psychischen Belastungssituationen, Angsterkrankungen und depressiven Syndromen, auch internistische Erkrankungen, akute oder chronische Schmerzzustände sowie Störungen des Biorhythmus mit zum Teil gänzlicher Umkehr der Schlaf-Wach-Folge ursächlich sind, muss sich infolgedessen die Therapie nach der zugrunde liegenden Ätiologie richten. Als erste medikamentöse Maßnahme können gegebenenfalls Phytopharmaka bzw. pflanzliche Präparate versucht werden, deren Wirkung jedoch nur mangelhaft belegt ist. b) Psychologische Maßnahmen Zur Behandlung von Schlafstörungen empfehlen sich folgende psychologische Verfahren: 417
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• Schlafedukation • Schlafrestriktion • Stimuluskontrolle (regelmäßige Aufsteh- und Zubettgehzeiten, Tagesnickerchen auf eine halbe Stunde begrenzen, Aufstehen bei längeren nächtlichen Wachphasen) („Problemlöseecken“) • Entspannungstechniken • kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren • imaginative Übungen • Biofeedback Menschen mit Schlafstörungen weisen besonders in den Abendstunden eine erhöhte Arausal-Reaktion auf: Sie befinden sich in starker Unruhe und Unsicherheit, ihre Gedanken kreisen um die erwartete neuerliche Schlaflosigkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten am kommenden Tag. Diese sich gegenseitig bedingenden Faktoren führen zu einer übermäßigen Beschäftigung mit den Schlafproblemen und verstärken dadurch wieder die Schlafstörung: Die sich so konditionierende Schlaflosigkeit wird häufig noch durch ungeeignete Therapieversuche verstärkt. Wesentlich Bedeutung für die Lösung von Schlafproblemen besitzen das Darstellen und Erklären schlafhygienischer Regeln im Rahmen von psychoedukativen Bemühungen, spezifische verhaltenstherapeutische Interventionen sowie Entspannungsmethoden, Stimuluskontrolle und Schlafreduktion. Erfolgreich sind auch die Techniken des Gedankenstopps und der paradoxen Intention. Kombinationstherapien scheinen nicht nur zu einer signifi kanten Verbesserung des Durchschlafens zu führen, sondern auch den Anteil an Tiefschlaf zu vermehren. Die Therapie der Schlafstörung fordert häufig eine Veränderung des Alltagsverhaltens, der Betroffene benötigt auch Hilfen für die Entwicklung von Problemlösungsstrategien und für die Verbesserung des Stressmanagements. Günstig erweisen sich Anleitungen zu körperlicher wie intellektueller Aktivität. Unerlässlich sind auch Entspannungstechniken: Dazu eignet sich besonders das Autogene Training, die progressive Muskelrelaxation sowie Yoga- und Meditationsübungen. Diesen Maßnahmen muss eine ausführliche Information über den physiologischen Schlaf-Wach-Rhythmus vorausgehen, um unrealistische Annahmen, besonders bezüglich der Schlafdauer, zu korrigieren. Aufgabe der Information ist darüber hinaus auch das Besprechen von schlafoptimierenden Verhaltensweisen, wie das Vermeiden von Tagesschlaf, der Verzicht auf Alkohol, Nikotin und Koffein, das Hinführen zu angenehmer Abendgestaltung, das Einhalten der individuell als notwendig empfundenen Schlafdauer und der regelmäßigen Schlafzeiten. Im Sinn einer „Stimuluskontrolle“ soll der Begriff „Bett“ nur mit Schlaf und angenehmer Entspannung, nicht aber mit Grübeln, Lesen oder Fernsehen verbunden sein. Der Patient muss angehalten werden, Wachzeiten auch nachtsüber nicht im Bett zu verbringen. Die gedankliche Bearbeitung negativer Inhalte soll räumlich aus dem Bett verbannt werden. Darüber hinaus soll der schlafgestörte Patient durch kognitive Kontrollmaßnahmen das Unterbrechen der negativen Gedankenkreise („Gedankenstop“) erlernen und gegebenenfalls positiv getönte Vorstellungsweisen einüben. 418
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Zur Effektivität und Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapien (KVT) besteht eine breite evidenzbasierte Studienlage. Durch dieses Bündel von Maßnahmen gelingt es nach einigen Wochen bis Monaten, bei entsprechender Motivation des Patienten selbst hartnäckige Schlafstörungen positiv zu beeinflussen. Als Tipps für Patienten empfehlen sich zusammenfassend folgende Ratschläge: • Schlafrituale beachten • Schlafstätte optimieren • Umweltbedingungen verbessern (Temperatur, Lärm etc.) • körperliche Aktivitäten unmittelbar vor dem Schlafengehen vermeiden • Ernährungsgewohnheiten überdenken • Spannung und Stress reduzieren (alles was entspannt, ist gut für den Schlaf!) • Schlaf störende Beeinträchtigungen vermeiden (Zigaretten, Alkohol, stimulierende Getränke) • Aktivität während des Tages verstärken und soziale Kontakte pflegen 2.1.2 Hypersomnien F51.1 Definition und Symptomatik Eine Hypersomnie liegt vor, wenn tagsüber eine exzessive Schläfrigkeit besteht oder Schlafattacken auftreten, die unabhängig von der Qualität und der Dauer des Nachtschlafes die Leistung eines Menschen, seine sozialen Beziehungen und die zwischenmenschliche Kommunikation beeinträchtigen. Unter die Hypersomnien wird auch die Schlaftrunkenheit gezählt, die durch eine verlängerte Übergangszeit zwischen dem Aufwachen und der vollkommenen Wachheit defi niert wird. Menschen mit Hypersomnien leiden somit unter einer ausgeprägten Schläfrigkeit, sie können zu jeder Zeit für wenige Minuten einschlafen, selbst bei spannungsreichen und anspruchsvollen Tätigkeiten am Arbeitsplatz. Die Schlafattacken treten imperativ auf, die Betroffenen können diese nicht willentlich durch besondere Verhaltensweisen beeinflussen. Epidemiologie Die Häufigkeit dieser Störung wird mit 1 bis 2 % angegeben. Verwandte ersten Grades scheinen häufiger darunter zu leiden. Ätiopathogenese 85 % aller Hypersomnien können auf organische Faktoren zurückgeführt werden, für die Hälfte davon ist eine Schlafapnoe verantwortlich, für ein Viertel eine Narkolepsie und für 10 % sind es schlafbezogene Myoklonien und ein Restless-Legs-Syndrom. Erscheinungsformen Patienten mit Schlafapnoe leiden tagsüber an einer übermäßigen Schlafneigung. Neben den nächtlichen Apnoephasen können typische intermittierende Schnarchgeräusche beobachtet werden, auch besteht eine nächtliche Hypermotilität und ein übermäßi-
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ges Schwitzen. Patienten mit Schlafapnoe neigen zu Adipositas, Hochdruck, Impotenz und kognitiven Beeinträchtigungen. Die Narkolepsie ist zusätzlich zu den Einschlafattacken durch plötzliches Erschlaffen (Kataplexie), durch Wachanfälle und hypnagoge Halluzinationen (Trugwahrnehmungen in der Einschlafphase) charakterisiert. Während der Wachanfälle (der Schlafparalyse) ist der Betroffene völlig bewusstseinsklar, er kann sich aber nicht bewegen, auch kann er nicht sprechen. Dabei erlebt er starke Angstgefühle. Das anfallsartige, plötzliche Erwachen tritt meistens während der Einschlafphase auf. Der Zustand währt gewöhnlich 30 Sekunden bis 2 Minuten. Die Schlafanfälle treten imperativ auf, meistens werden sie als erholsam erlebt. Der Nachtschlaf ist in der Regel verkürzt und fragmentiert. Patienten leider unter andauernder Müdigkeit und folgedessen unter einer eingeschränkten Lebensqualität. Hypersomnien können auch im Rahmen definierter organischer Erkrankungen auftreten: Ursächlich können eine Enzephalitis, eine Meningitis, raumfordernde zerebrale Prozesse, neurodegenerative und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie metabolische oder endokrine Störungen sein. Bildgebende Verfahren und Laboruntersuchungen können in der Regel ohne Schwierigkeiten die genannten Störungen von einer nichtorganischen Hypersomnie differenzieren. Beim Vorliegen einer Hypersomnie ist auch an die Einnahme von psychotropen Substanzen (Cannabis-Produkte, Sedativa) oder von Antihypertensiva zu denken. Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sind depressive Störungen, besonders die Winterdepressionen sowie psychomotorische Anfälle und das Kleine-Levin-Syndrom auszuschließen: Diese letztgenannten Störungen treten episodisch gehäuft auf, Hypersomnien im Rahmen einer Narkolepsie oder einer Schlafapnoe sind täglich zu beobachten. Verlauf Menschen mit Hypersomnie entwickeln oft als Reaktion auf die Störung und die damit verbundenen familiären und sozialen Beeinträchtigungen eine depressive Verstimmung. Das häufige Einschlafen führt ferner zu vielen, auch bedrohlichen Verletzungen. Die Selbsttherapie mit Stimulantien kann eine Abhängigkeit verursachen. Therapie Beim Vorliegen einer Hypersomnie sind neben schlafhygienischen Maßnahmen antriebssteigernde Antidepressiva angezeigt. Kann eine Ursache der Schlafvermehrung festgelegt werden, ist eine kausale Therapie einzuleiten. Die Narkolepsie wird mit Medikamenten behandelt, die die Vigilanz steigern können (Modafinil oder Methylphenidat). Eine Kombination mit Antidepressiva, die den REM-Schlaf unterdrücken, ist Erfolg versprechend. Diesbezüglich eignet sich beispielsweise Clomipramin. Auch sind eine Gewichtsreduktion und ein stabiler Schlaf-Wach-Rhythmus anzustreben.
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2.1.3
Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus F51.2
Definition und Symptomatik Bei den Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus klaffen der individuelle zirkadiane Rhythmus und die äußeren Zeitgeber auseinander. Es gelingt den Betroffenen nicht, wach zu bleiben, wenn tagsüber Wachheit gefordert wird. Der Mangel an Synchronizität zwischen dem persönlichen Schlaf-Wach-Rhythmus und den (konträren) Anforderungen der Umgebung führt zu Schlaflosigkeit während der üblichen Hauptschlafperiode und zu besonderer Tagesmüdigkeit bzw. ausgeprägter Hypersomnie während der allgemeinen Wach- und Aktivitätsperiode. Die ungenügende Dauer und die negative Qualität des Schlafes sowie der verschobene Zeitpunkt verursachen Erschöpfung und depressive Verstimmung, sie behindern darüber hinaus die soziale und berufliche Leistungsfähigkeit. Können diese Menschen aber ihrem eigenen Rhythmus folgen, verschwinden die genannten Störungen. Ätiopathogenese Prädisponierend für die Schlaf-Wach-Störungen ist ein Lebensstil mit wechselhaften Aktivitäts- und Ruhephasen, wie sie beispielsweise bei Schichtarbeit, interkontinentalen Flügen oder unregelmäßigen sozialen Verpflichtungen auftreten. Klassifi kation Bei Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus werden folgende Typen unterschieden: • der vorverlagerte Typus • der verzögerte Typus • der desorganisierte Typus • der häufig wechselnde Typus Darüber hinaus klassifiziert die ICSD-2 noch Rhythmusstörungen, die durch körperliche Erkrankungen bzw. durch Drogen, Medikamente oder Substanzen verursacht werden. Der „vorverlagerte Typus“ Es kommt zu einem sehr frühen Erwachen, das meistens gegen 3 Uhr morgens erfolgt. Dementsprechend werden abendliche Aktivitäten und das Zubettgehen vorverlagert. Zu dieser Störung neigen vorwiegend ältere Menschen. Aufgrund der mit diesem Syndrom häufig verbundenen Störungen der Stimmungslage und der Befindlichkeit kann die Abgrenzung gegenüber einer Depression schwer sein. Der „verzögerte Typus“ Menschen mit diesen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen haben späte Einschlaf- und Aufwachphasen und somit auch gravierende Schwierigkeiten, am Morgen zeitgerecht aufzustehen, um den beruflichen Notwendigkeiten entsprechen zu können. Dieser Typ ist vorwiegend bei jungen Menschen ohne geregelte Arbeitszeiten oder beruflichsoziale Verpflichtungen zu beobachten: Aus diesen Gründen sind unter den genannten Störungen häufig nicht nur Studenten, sondern auch Arbeitslose anzutreffen. Auch 421
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Personen mit einem hohen Arousal während der Abend- und Nachtstunden („Nachtmenschen“) sind öfters davon betroffen. Ein ähnliches Schlafmuster zeigen auch Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis. Der „desorganisierte Typus“ Das Fehlen einer täglichen Hauptschlafperiode kann konstitutionell bedingt sein; darüberhinaus findet sich dieses Schlafmuster bei älteren oder bettlägerigen Menschen, die häufig über den Tag verteilte kurze Schlafpausen einlegen. Der „häufig wechselnde Typus“ Kennzeichnend für diese Störung ist ein typisches Schlafverhalten, das täglich zwei oder mehrere Perioden aufweist. Aus dieser Störung können berufliche oder familiäre Störmomente resultieren. Dieser Typ ist bei all jenen Menschen zu beobachten, die ihre Schlaf- und Wachperioden immer wieder ändern müssen: Dazu zählen Schichtarbeiter oder Flugpersonal, das häufig Zeitzonengrenzen überwindet. Die ICSD-2 unterscheidet bei den zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen des „häufig wechselnden Typus“ den „Typ Schichtarbeitersyndrom“ und den „Typ Jetlag“. Das Schichtarbeitersyndrom In den modernen Industrienationen sind 15 % der Erwerbstätigen Schichtarbeiter. Die dadurch bedingten Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus führen zu Schlafstörungen und zu einer ausgeprägten Tagesmüdigkeit. Die Reduktion der zentralnervösen Aktivierung bedingt eine eingeschränkte Wachheit und eine verminderte Daueraufmerksamkeit sowie einen erhöhten Einschlafdrang. Ein Drittel der Schichtarbeiter berichten über Schlafstörungen oder einen nicht erholsamen Schlaf, ein weiteres Drittel klagt über exzessive Tagesschläfrigkeit. Jeder zehnte Arbeiter im 3-Schicht-System leidet aus diesen Gründen unter deutlichen Einbußen im sozialen und familiären Bereich. Therapie des Schichtarbeitersyndroms: Um ein Schichtarbeitersyndrom zu verhindern, empfiehlt sich eine hohe Lichtintensität am Arbeitsplatz: Biologisch-aktives Licht (mindestens 2.500 Lux) verbessert die Vigilanz und erhöht den Wachheitsgrad. Nach der Nachtschicht soll die Einwirkung von Sonnenlicht vermieden werden: Angezeigt ist das Tragen einer dunklen Sonnenbrille. Ein biphasischer Schlafrhythmus (ein Kurzschlaf vor der Nachtschicht) erhöht die Wachheit. Die Schichtfolge Früh-Spät-Nacht-Frei-Schicht gilt als günstigste Schichtfolge des 3-Schichten-Dienstes. Die Anzahl der Tage mit gleicher Schicht sollte möglichst individuell ermittelt werden. Günstig erscheinen nicht mehr als 3 Nachtschichten in der Folge, optimal sind aber einzelne Nachtschichten, die in der Regel zu keinen Störungen Anlass geben: Die Dissoziation biologischer Rhythmen ist dadurch sehr gering. In der Regel wird eine Schichtdauer von 10 bis 12 Stunden bevorzugt. Melatonin und Melatoninagonisten verbessern die Rhythmusadaptation und scheinen auch die Schlafqualität am Tag nach einer Nachtschicht optimieren zu können.
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Die diesbezügliche Studienlage ist jedoch nicht eindeutig. Modafi nil stellt eine effektive Behandlungsoption dar. Jetlag-Syndrom Das Jetlag-Syndrom tritt immer dann auf, wenn Transmeridianflüge mit schnellem Wechsel der Zeitzonen unternommen werden. Da der Mensch in der Regel leichter den Tag verlängern kann als ihn abzukürzen, tritt das Jetlag-Syndrom weniger ausgeprägt bei Flügen in Richtung Westen als in Richtung Osten auf. Ältere Menschen sind schwerer betroffen als jüngere. Die biologischen Rhythmen passen sich mit einer Geschwindigkeit von einer Stunde pro Tag an. Ähnlich wie beim Schichtarbeitersyndrom klagen die Betroffenen über ausgeprägte Tagesmüdigkeit, Ein- und/oder Durchschlafstörungen, herabgesetzte Leistungsfähigkeit und allgemeine Beschwerden wie Übelkeit, Unwohlsein und Appetitstörungen. Therapie des Jetlag-Syndroms: Die Einnahme von Melatonin scheint effektiv zu sein. Gegebenenfalls kann auch Modafinil verordnet werden. Wichtig sind jedoch präventive Maßnahmen: Ist nur ein kurzer Aufenthalt in der neuen Zeitzone geplant, empfiehlt es sich, die gewohnte zirkadiane Rhythmik aufrechtzuerhalten. Bei einem längeren Aufenthalt ist es ratsam, sich bereits im Flugzeug auf die zu erwartenden Zeitgeber einzustellen: Am Zielort sollte man sich sofort den neuen sozialen Rhythmen aussetzen.
2.2
Parasomnien
Definition Parasomnien sind Störungen, die sich während des Schlafes oder beim Übertritt von Wachbewusstsein in den Schlaf manifestieren. Sie sind nicht primäre Störungen des Schlaf-Wach-Zustandes, sondern Folge einer Aktivierung bzw. Überaktivierung des ZNS während bestimmter Schlafzeitpunkte. Parasomnien treten während des Schlafstadienwechsels, beim partiellen Erwachen oder beim Erwachen auf. Zu den Parasomnien zählen die Schlaftrunkenheit, das Schlafwandeln, der Pavor nocturnus, die Angstträume, die hypnagogen Halluzinationen, das nächtliche Zähneknirschen (Bruxismus), das Sprechen im Schlaf sowie Zustände der Verwirrtheit im Stadium des Aufwachens. 2.2.1 Schlafstörungen mit Angstträumen F51.5 Definition und Symptomatik Menschen, die unter Albträumen leiden, werden immer wieder durch bedrohende, furchterregende oder sie entwürdigende Träume geweckt. Albträume können die Qualität des Schlafes schwerstens beeinträchtigen; sie treten in den REM-Phasen auf, bevorzugt in solchen am Ende der Nacht. Veränderungen der Schlafumgebung erleichtern das Auftreten von Angstträumen.
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Epidemiologie Albträume sind häufig: Ungefähr 5 % der erwachsenen Bevölkerung leiden zu einem bestimmten Zeitpunkt unter diesen Störungen, etwa gleich viele berichten, in der Vergangenheit darunter gelitten zu haben. Frauen scheinen häufiger betroffen zu sein. Die Störung bleibt oft über Jahrzehnte bestehen. Ätiopathogenese Bei knapp zwei Drittel der Betroffenen gelingt es, ein schwer belastendes Lebensereignis vor dem Auftreten der Angstträume aufzudecken. Angstträume können auch durch psychotrope Medikamente ausgelöst werden: Diesbezüglich werden besonders trizyklische Antidepressiva, Benzodiazepine und das Thioridazin beschuldigt. Trizyklika unterdrücken den REM-Schlaf: Werden diese plötzlich abgesetzt, kann es zu einem REM-Rebound kommen. Die nunmehr verstärkte Traumaktivität führt zu Albträumen. Therapie Ein ausschleichendes Absetzen der Medikamente kann das Auftreten von Angstträumen verhindern; bestehen diese unabhängig einer Medikation mit psychotropen Substanzen, empfiehlt sich die Aufnahme einer Psychotherapie. 2.2.2 Pavor nocturnus F51.4 Definition Kinder mit Pavor nocturnus, dem nächtlichen Aufschrecken, erwachen immer wieder abrupt, setzen sich laut aufschreiend im Bett auf und zeigen eine sehr ausgeprägte, oft panikartige Angst. Epidemiologie 2–3 % aller Kinder leiden über einige Zeit unter einem Pavor nocturnus. Die Störung findet sich bei Verwandten ersten Grades häufiger. Symptomatik Neben schneller Atmung und einem beschleunigten Puls (bis zu 160/min) finden sich erweiterte Pupillen, starkes Schwitzen und ein deutlicher Pilomotoreneffekt. Die Betroffenen reagieren nicht auf beruhigenden Zuspruch. Während im unmittelbaren Anschluss an das Ereignis von starken Angstgefühlen und bruchstückhaften Traumbildern berichtet wird, besteht am Morgen eine generelle Amnesie für den Vorfall. Der Pavor nocturnus tritt vorwiegend im ersten Drittel des Nachtschlafes (hoher Tiefschlafanteil) auf und fi ndet sich im Non-REM-Schlaf, der im EEG durch eine Delta-Aktivität gekennzeichnet ist (Schlafphase 3 und 4). Die Dauer schwankt zwischen einer und zehn Minuten. Vor Beginn des Pavors steigen häufig die Amplituden der Delta-Wellen höher als sonst im Non-REM-Schlaf an. Atmung und Herzschlag sind in den Initialstadien langsamer, um dann stark anzusteigen.
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Das nächtliche Aufschrecken setzt meistens zwischen dem 4. und 12. Lebensjahr ein; der seltene Beginn nach dem 14. Lebensjahr birgt die Gefahr eines chronischen Verlaufes in sich. Differenzialdiagnose Schlafanfälle, die mit einem postiktalen Dämmerzustand begleitet sind, können ein differenzialdiagnostisches Problem darstellen. Therapie Bei seltenem Auftreten des Pavor nocturnus ist primär die Beruhigung der Eltern angezeigt. Das Einhalten von regelmäßigen Schlafenszeiten ist empfehlenswert, oft kann ein kurzer Mittagsschlaf den Tiefschlafdruck am Abend reduzieren. 2.2.3 Hypnagoge Halluzinationen Hypnagoge oder hypnopompe Halluzinationen treten am Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf auf: Sie sind durch konkrete Vorstellungen aus der Alltagserfahrung gekennzeichnet und nur selten angstbesetzt. Diese Trugwahrnehmungen sind eine physiologische Erscheinung. 2.2.4 Schlafwandeln F51.3 Definition Der Somnambulismus ist durch sich wiederholende komplexe Verhaltensmuster gekennzeichnet: Der darunter Leidende verlässt das Bett und wandert umher, ohne sich am Morgen daran erinnern zu können. Meistens sind Jugendliche davon betroffen. Epidemiologie Einzelne somnambule Episoden werden bei 15 % der Kinder beobachtet, häufigere Manifestationen zeigen ca. 5 %. Knaben scheinen öfter darunter zu leiden als Mädchen. Schlafwandler erkranken vorzugsweise zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr, mehrheitlich sind sie nach dem 20. Lebensjahr symptomfrei. Eine im Erwachsenenalter beginnende Symptomatik neigt zu einem chronischen Verlauf. Symptomatik Das Schlafwandeln wird vorzugsweise im ersten Drittel des Nachtschlafes beobachtet. Während der wenigen Minuten bis zu einer halben Stunde dauernden Episode reagiert der Somnambule nicht auf den Zuspruch der Umgebung, er nimmt diese jedoch in eingeschränkter Art und Weise wahr. Aus diesen Gründen und infolge der ausgeprägten Koordinationsstörungen besteht während des Schlafwandelns eine hohe Gefährdung des Betroffenen. Die Episode kann durch spontanes Erwachen enden, es folgt meistens noch eine kurze Zeit währende Orientierungsstörung: Häufig findet der Betroffene wieder ins Bett zurück oder legt sich anderswo nieder. Beim Erwachen ist er für das Vorgefallene amnestisch.
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Hartmann Hinterhuber
Das EEG zeigt während des Vorfalles eine Mischung verschiedener Non-REM-Phasen und Aktivitäten niedriger Amplituden. Das Schlafwandeln ist häufig mit dem Pavor nocturnus verbunden, bei dem ebenfalls eine episodische Störung im tiefen NonREM-Schlaf vorliegt. Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch muss das Schlafwandeln von nächtlichen psychomotorischen Anfällen und von psychogenen Fuguen abgegrenzt werden. Therapie Eine therapeutische Beeinflussung des in der Regel harmlosen Somnabulismus ist generell nicht notwendig. Präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Selbstverletzungen sind aber angezeigt. Auch empfehlen sich Entspannungstechniken und Ratschläge zur Schlafhygiene. Selten sind Medikamente, die den Tiefschlaf reduzieren, angezeigt.
Fallbericht Aus der Anamnese: Die 48-jährige Glasschleiferin A. P. berichtet von einer deutlich verminderten Leistungsfähigkeit und von einer sie lähmenden Tagesmüdigkeit: Sie könne kaum noch ihren familiären und nachbarschaftlichen Verpflichtungen gerecht werden, da sie immer wieder nicht nur gegen eine imperative Schläfrigkeit ankämpfen müsse, sondern in der Tat auch in einen tiefen Schlaf falle. Nach ihrer Arbeit freue sie sich, schlafen zu können: Sie finde aber nur für kurze Zeit einen oberflächlichen, nicht erholsamen Schlaf. Ihre Stimmung sei depressiv, der Antrieb vermindert. Soziale Anamnese: Die Patientin arbeitet in ungekündigter Stellung seit zwölf Jahren im selben Betrieb, in dem sie große Wertschätzung genießt. Vor fünf Monaten wurde Schichtbetrieb eingeführt. Psychopathologisch: Bewusstsein ungestört, in allen Qualitäten voll orientiert. Depressive Stimmungslage, Antriebs- und Befindlichkeitsstörungen. Internistischer Status: Peptische Ulzera, sonst regelrechter Organbefund. Hypertonie (RR 160/90) Zusammenfassung der Befunde: Depressives Syndrom. Insomnisch-hypersomnisches Mischbild aufgrund einer verkürzten Schlafdauer (Einund Durchschlafstörungen), Tagesmüdigkeit und Tagesschläfrigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit. Gastrointestinale Beschwerden, Hypertonie. Diagnose: Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörung, Schichtarbeitersyndrom.
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Schlafstörungen | 12
3
Schlafstörungen bei psychiatrischen Erkrankungen
3.1
Schlafstörungen bei schizophrenen Erkrankungen
Als Frühzeichen der Erstmanifestation finden sich bei schizophren Erkrankten häufig Ein- und Durchschlafstörungen sowie Beeinträchtigungen der zirkadianen Rhythmik. Ähnliches gilt auch für eine Exazerbation der Symptomatik. Die genannten Störungen stehen in Beziehung zur Positiv-Symptomatik und zur Desorganisation des Denkens. Schizophrene Patienten zeigen im Rahmen der polysomnografischen Ableitung eine verlängerte Einschlaflatenz sowie eine Reduktion des Tiefschlafes. Die Beeinträchtigung des Tiefschlafs führt aber zu kognitiven Störungen und beeinträchtigt die neokortikale Plastizität. Bei noch nie antipsychotisch behandelten schizophrenen Patienten findet sich eine Störung des Non-REM-Schlafes mit vermehrten Aufwachphasen und einer reduzierten Schlafdauer. Insgesamt zeigen schizophrene Patienten einen deutlich fragmentierten Schlaf, der zu vermehrter Einschlaftendenz („Napping“) tagsüber führt. Zu beachten ist darüber hinaus, dass ältere Antipsychotika, beispielsweise das Haloperidol, die zirkadiane Rhythmik und somit die Schlaf-Wach-Folge durch direkte Einflussnahme auf den Nucleus suprachiasmaticus anhaltend stören können. Neuere Antipsychotika wie Olanzapin, Clozapin und Risperidon verbessern die Gesamtschlafzeit. Risperidon und Olanzapin führen darüber hinaus auch zu einer Verbesserung des Tiefschlafes. Clozapin stabilisiert den zirkadianen Rhythmus. Antipsychotika können aber auch zu periodischen Beinbewegungen im Schlaf sowie zu einem Restless-Legs-Syndrom führen. Klagt der Patient unter Antipsychotikatherapie über persistierende Schlafstörungen, sind periodische Beinbewegungen differenzialdiagnostisch auszuschließen. Bei sehr schwerer Beinunruhe kann zusätzlich zur antipsychotischen Medikation ein Dopaminagonist (Ropinirol 1 bis 3 mg) verabreicht werden: In der Regel wird dadurch die schizophrene Symptomatik nicht negativ beeinflusst. Übergewichtige schizophrene Patienten tendieren im Rahmen der langfristigen Antipsychotikatherapie nicht nur eine starke Tagesmüdigkeit, sondern auch ein Schlafapnoe-Syndrom zu entwickeln.
3.2
Schlafstörungen bei depressiven Erkrankungen
Depressive Patienten weisen eine charakteristische zirkadiane Rhythmusstörung auf, sie leiden unter Durchschlafstörungen und morgendlichem Früherwachen. Die Schlafstörung wird häufig als „Etappenschlaf“ beschrieben. Die Schlafarchitektur eines Patienten mit einer schweren Depression wird durch eine reduzierte Schlafqualität charakterisiert, die folgende Störmomente einschließt: • eine längere Einschlaflatenz, • eine reduzierte Schlafkontinuität, • ein häufiges und zu frühes Aufwachen.
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Hartmann Hinterhuber
In der Polysomnografie findet sich ein langer und ruheloser REM-Schlaf. Während beim gesunden Schläfer die erste REM-Phase nach ca. 80 Minuten auft ritt, erscheint diese beim Depressiven bereits nach 30 Minuten: Die REM-Latenzzeit ist im Rahmen eines depressiven Syndroms in typischer Ausprägung verkürzt. Das erste REM-Stadium ist verlängert, die Gesamt-REM-Zeit vergrößert. Die Augenbewegungen sind im REM-Schlaf häufiger und intensiver. Der REM-Schlaf ist an den Beginn der Nacht verlagert. Der Non-REM-Schlaf und somit auch der Tiefschlaf sind reduziert. Der Tiefschlaf ist vom Beginn der Nacht zum Morgen hin verlagert.
3.3
Schlafstörungen bei manischen Episoden
Typisch für die Schlafstörungen im Rahmen einer Manie ist die deutliche Schlafverkürzung. 2–4 Stunden Schlaf werden ohne Leidensdruck als ausreichend empfunden. Ferner besteht eine stark erhöhte Einschlaflatenz. Charakteristisch sind auch Durchund Ausschlafstörungen. In der Polysomnografie sieht man eine verkürzte REM-Latenz sowie eine vermehrte REM-Aktivität.
3.4
Schlafstörungen bei chronischem Alkoholismus
Patienten mit chronischem Alkoholismus weisen Ein-, Durch- und Ausschlafstörungen auf. Die Schlafeffizienz ist deutlich reduziert, ebenso der Tiefschlaf. In der Polysomnografie fällt eine Zunahme des REM-Schlafes auf. Die alkoholbedingten Schlafstörungen bestehen auch noch während einer lang dauernden Abstinenzphase.
4
Exkurs: Therapie mit Schlaf
Da Störungen des zirkadianen Rhythmus für das Auftreten von depressiven Verstimmungen mitverantwortlich sind, werden durch Schlafentzug (Wachtherapie) überzeugende Erfolge in der Therapie erzielt. Die Schlafentzugsbehandlung (Wachtherapie) wird eingehend im Abschnitt „Therapie der depressiven Störungen“ dargestellt. Aber auch eine Schlafverlängerung kann eine überzeugende therapeutische Wirkung entfalten. Eine Indikation für eine Schlaftherapie sind vor allem schwere akute Belastungsreaktionen und Angst- und Spannungszustände sowie angstbesetzte Psychosen. Die Schlafbehandlung ist auch bei jenen depressiv Erkrankten indiziert, bei denen eine schwere suizidale Gefährdung besteht. Die Dauer der Schlaft herapie beträgt ein bis vier Tage. Während dieser Zeit wird die Schlaftiefe durch Antipsychotika und Benzodiazepine so gesteuert, dass die Nahrungsaufnahme und die Erledigung der körperlichen Bedürfnisse möglich sind. Alle Patienten werden heparinisiert. Die unspezifische Sedierung erfolgt vorzugsweise durch Diazepam und Aripiprazol oder Ziprasidon i. m. Auch klassische Antipsychoti-
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Schlafstörungen | 12
ka wie beispielsweise Chlorprothixen können in dieser Indikation noch häufig mit gutem Erfolg verwendet werden. Eine genaue Observation des Patienten ist aber sicherzustellen. Nach der Schlafkur kann eine ausgeprägte Distanzierung zu den zugrunde liegenden Problemkreisen beobachtet werden, die Patienten sind psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Maßnahmen zugänglich. Insgesamt werden durch die Schlaft herapie jene Symptome am deutlichsten gebessert, die auch auf Schlafentzug günstig ansprechen: depressive Verstimmung, psychomotorische Hemmung, Angst und Unruhe. Im Anschluss an die Schlafzäsur sind eine entsprechende psychopharmakologische Therapie und/oder eine psychologische Betreuung einzuleiten. Die theoretische Erklärung der nachgewiesenen therapeutischen Wirkungen stützt sich einerseits auf die Verstärkung der restitutiven Funktionen des Schlafes und andererseits auf die Unterbrechung von pathologischen Erregungskreisen. Die Wirkungsweise der Schlafbehandlung ist letztlich jedoch nicht geklärt. Patienten mit depressiver Verstimmung sowie mit Angst- und Spannungszuständen zeigen Auff älligkeiten im zirkadianen System, sodass auch der Schluss zulässig erscheint, dass der Effekt der Schlafbehandlung über Eingriffe in den 24-Stunden-Rhythmus erklärt werden kann.
Weiterführende Literatur Morin CM (1993) Insomnia. Guilford Press, New York, London
Saletu B et al (2005) Insomnia in somatoform pain disorder. Neuropsychobiology 51: 148–163
Riemann D, Hajak G (2009) Insomnien. I. Ätiologie, Pathophysiologie und Diagnostik. Nervenarzt 80: 1060–1069
Saletu-Zyhlarz GM (2010) Eine Schlafstörung kommt selten allein. Psychopraxis 1: 12–16
Riemann D, Hajak G (2009) Insomien. II. Pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten. Nervenarzt 80: 1327–1340 Saletu B, Saletu-Zyhlarz GM (2001) Was Sie schon immer über Schlaf wissen wollten. Ueberreuter, Wien
Spiegelhalder K, Riemann D (2009) Diagnostik und Therapie von Schlafstörungen. Fortschr Neurol Psychiat 17: 353–364 Staedt J et al (2010) Schlafstörungen bei schizophrenen Erkrankungen. Bedeutung und Optionen einer multimodalen Hilfestellung. Fortschr Neurol Psychiat 78: 70–80
429
Kapitel 13
Der psychiatrische Notfall Sergei Mechtcheriakov, Maria Rettenbacher
1
Einführung und Definition
Der psychiatrische Notfall ist eine Situation, in welcher der Patient im Zusammenhang mit einer psychiatrischen Erkrankung sich oder andere durch sein Verhalten ernsthaft und unmittelbar gefährdet. Diese Situation erfordert einen raschen medizinischen Eingriff zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Integrität des Betroffenen und/oder zum Schutz seiner Umgebung. Der psychiatrische Notfall ist durch ein akutes Angewiesensein auf fremde Hilfe gekennzeichnet. Die Interventionen beim psychiatrischen Notfall können und müssen mitunter ohne Zustimmung des Patienten durchgeführt werden und können einen Eingriff in die Freiheitsrechte des Patienten bedeuten. Daher müssen die Kriterien eines Notfalls klar definiert und alle Maßnahmen gut begründet und dokumentiert werden. Zudem stellt beim psychiatrischen Notfall das selbst- und/oder fremdaggressive Verhalten von Patienten ein häufiges Problem für Mitarbeiter in psychiatrischen Einrichtungen dar. Daten aus dem deutschsprachigen Raum zeigen, dass es bei 2,7 % der stationären Aufnahmen zu körperlich aggressivem Verhalten bzw. Sachbeschädigungen kommt. Etwa 73 % aller Männer und 53 % aller Frauen zeigen während eines stationären Aufenthaltes in einer psychiatrischen Abteilung zumindest ein Mal selbst- oder fremdaggressives Verhalten. Die häufigsten psychiatrischen Notfälle entstehen im Rahmen von akuten Belastungsreaktionen und Persönlichkeitsstörungen. Es folgen Alkohol- und Drogenintoxikationen sowie Abstinenzsyndrome. Seltener stellt eine akute psychotische Störung aus dem schizophrenen oder affektiven Formenkreis die Grundlage für psychiatrische Notfälle dar. Weiters entstehen psychiatrische Notfälle im Rahmen von Verwirrtheitszuständen unterschiedlicher Genese.
2
Psychopathologie des psychiatrischen Notfalls
Jeder psychiatrische Notfall wird durch das akute und subakute Auftreten bestimmter psychopathologischer Symptome charakterisiert. Bei der Erkennung dieser Symptome ist es vorrangig, auf die Störung der Bewusstseins- und Antriebslage sowie auf die Stimmung des Patienten zu achten.
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Sergei Mechtcheriakov | Maria Rettenbacher
Tabelle 1
Psychopathologische Zustandsbilder, die zu einem psychiatrischen Notfall führen können
Somnolenz Stupor Mutismus Verwirrtheitszustand Delir Dämmerzustände Erregungszustände Manie und maniforme Zustände Depression Suizidalität
Die wichtigsten somatischen und psychiatrischen Erkrankungen, in deren Rahmen solche Phänomene auftreten können, sind in Tabelle 2 angeführt. Tabelle 2 Psychiatrische und somatische Erkrankungen, in deren Rahmen es zu Erregungszuständen kommen kann Psychosen
Schizophrenie, Manie, agitierte Depression, medikamenteninduzierte Psychosen (unter anderem Kortison, L-Dopa)
Hirnorganische Störungen
Demenzen, Schädel-Hirn-Trauma, Epilepsie, entzündliche Hirnerkrankungen, Neoplasien des ZNS, paraneoplastische Veränderungen im ZNS, Infektionserkrankungen mit ZNS-Beteiligung, Enzephalopathien verschiedenster Genese
Intoxikationen und Entzugssyndrome
Alkohol, Opiate, Halluzinogene, Cannabis, Stimulantien.
Systemische Erkrankungen
Hyperthyreose, Hypoglykämien, Leber- und Nierenerkrankungen
Psychogene Störungen
akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen
432
Der psychiatrische Notfall | 13
3
Psychiatrischer Notfall im Rahmen spezifischer Störungsbilder
3.1
Organisch bedingte psychische Störungen
Dabei handelt es sich vorwiegend um Verwirrtheits- und Erregungszustände bei neurologischen oder systemischen Erkrankungen (s. Tabelle 2). Bei der symptomatischen Behandlung dieser Zustände ist vor der Sedierung nach Möglichkeit die körperliche Ursache der psychopathologischen Störung zu definieren, da sedierende Maßnahmen eine eventuell eintretende Bewusstseinsstörung verdecken können. Am geeignetsten sind in so einem Fall kurzwirksame Benzodiazepine (s. unten) etwa zur Sedierung im Rahmen der Durchführung notwendiger diagnostischer Maßnahmen.
3.2
Akuter Erregungszustand im Rahmen einer schizophrenen oder affektiven Störung
Bei akuten Erregungszuständen im Rahmen einer Psychose ist Selbst- oder Fremdgefährdung, selbst wenn nicht unmittelbar gegeben, so kaum ausschließbar. So gesehen sind Monitoring und Behandlung dieser Patienten häufig in einer geschlossenen psychiatrischen Einheit erforderlich. Die spezifisch psychopharmakologische Behandlung mittels Antipsychotika (peroral oder parenteral) ist unverzichtbar, gegebenenfalls mit adjuvanter Sedierung durch Benzodiazepine (s. unten).
3.3
Stuporöse Zustandsbilder als akuter psychiatrischer Notfall
Im Rahmen eines katatonen Stupors auf der Basis einer schizophrenen oder affektiven Störung kommt es zu einem Zustand extremer psychomotorischer Hemmung. Der Patient wirkt angespannt, in extremen Fällen treten Haltungsverharren, Flexibilitas cerea, sowie andere katatone Muster auf (s. katatone Schizophrenie). Stupores können aber auch psychogen bedingt sein (z. B. im Rahmen einer akuten Belastungsreaktion). Essenziell ist der Ausschluss einer evtl. zugrunde liegenden somatischen Erkrankung. In der Behandlung der Katatonie sind Antipsychotika und Benzodiazepine Mittel der Wahl. In extremen Fällen kann eine maligne (perniziöse) Katatonie auftreten. Dieses Zustandsbild ist selten, hat aber eine hohe Mortalitätsrate. In der Behandlung der malignen Katatonie ist nach einem Therapieversuch mit intravenösem Lorazepam die Elektrokonvulsionstherapie Mittel der Wahl und in manchen Fällen sogar vital indiziert.
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Sergei Mechtcheriakov | Maria Rettenbacher
4
Suizidalität, Aggression und Gewalt
Suizidalität, Aggression und Gewalt sind die gemeinsame Endstrecke verschiedenster psychiatrischer Störungen, die letztendlich einen Großteil der psychiatrischen Notfälle definieren.
4.1
Akute Suizidalität
Psychiatrische Störungen sind häufig die Basis für Suizidalität. Zum gesamten Thema Suizidalität: Siehe Kapitel „Suizid und Suizidalität“. Die Behandlung eines akut suizidalen Patienten im Rahmen einer Notfallsituation beinhaltet zunächst die Ausschaltung der akuten Gefahr für den Patienten. Meist ist dazu eine stationäre Aufnahme im Unterbringungsbereich notwendig. In den allermeisten Fällen ist eine medikamentöse Behandlung indiziert. Diese soll einerseits einen raschen distanzierenden und sedierenden Effekt zeigen und andererseits eine spezifische psychopharmakologische Behandlung der psychiatrischen Grunderkrankung beinhalten. Während der akuten Interventionsphase sollen Maßnahmen für längerfristige Betreuung und psychosoziale Unterstützung bzw. Psychotherapie eingeleitet werden.
4.2
Aggressives Verhalten im Rahmen einer psychiatrischen Störung
Patienten, die an einer psychiatrischen Störung leiden, können aufgrund der damit assoziierten Symptomatik aggressives Verhalten zeigen. Die häufigsten zugrunde liegenden psychiatrischen Störungen sind Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und affektive sowie psychotische Störungen. Aber auch im Rahmen von organisch bedingten Störungen oder Belastungs- und Anpassungsstörungen kann es zu Aggressionsbereitschaft kommen. Beim Management einer Notfallsituation mit Gewaltrisiko gilt es, Schwerpunkte zu beachten, die in Tabelle 3 zusammengefasst sind: Tabelle 3 Management aggressiven Verhaltens im psychiatrischen Kontext (nach Ketelsen, 2004) Frühzeitiges Erkennen von Risikofaktoren für Aggression und Gewalt Deeskalation und Prävention der Aggression Koordiniertes Vorgehen bei akutem aggressivem Verhalten Nachsorge und nachhaltige Minimierung von Risikofaktoren
Das Risiko für fremdaggressives Verhalten von Patienten ist in den ersten 24 Stunden eines stationären Aufenthaltes am größten. Deshalb ist es wichtig, bereits in der 434
Der psychiatrische Notfall | 13
Aufnahmesituation an eine mögliche Eskalation zu denken und dementsprechend bestimmte Regeln zu beachten: adäquate Raumsituation, Unterstützung durch geschultes Personal sichern, bei erhöhtem Gewaltrisiko nur unter Anwesenheit des geschulten Personals mit Patienten sprechen. In den Tabellen 4 und 5 finden sich die wichtigsten Risikofaktoren sowie die Grundlagen zur Risikobeurteilung. Tabelle 4 Risikofaktoren für aggressives Verhalten Biologische Faktoren: z. B: Intoxikationen Soziale und Kontextfaktoren: niedriger sozio-ökonomischer Status, familiäre Konflikte, fehlende soziale Kontrolle, Traumata in der Anamnese Psychiatrische Erkrankungen: Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, paranoide Schizophrenie, andere psychotische Störungen, somatische und psychiatrische Komorbidität
Tabelle 5 Risikobeurteilung einer möglichen aggressiven Handlung Gibt es fremd- und/oder autoaggressives Verhalten in der Vorgeschichte? Liegt zum Zeitpunkt der Risikobeurteilung ein zusätzlicher aggressionsfördernder Faktor vor? (Intoxikation mit Drogen oder Alkohol, Entzugssymptome) Liegt eine aggressionsfördernde Komorbidität vor? (z. B. Persönlichkeitsstörung oder Sucht bei Patienten mit affektiver oder schizophrener Störung) Liegen besondere psychopathologische Symptome vor, die die Aggressionsbereitschaft erhöhen können? (z. B. Wahnideen) Nimmt der Patient Arzneimittel ein, die erhöhtes Aggressionspotenzial im Sinne einer Nebenwirkung verursachen können? (z. B. Akathisie bei Einnahme von Antipsychotika) Besitzt der Patient Waffen bzw. hat der Patient konkrete Vorstellungen oder Pläne im Bezug auf eine aggressive Handlung?
Meist entsteht der Aggressionsausbruch eines Patienten im Rahmen von Eskalationsstufen (Tabelle 6). Tabelle 6 Eskalationsstufen vor und bei Aggression Emotionale Spannung Non-verbale Grenzverletzung Verbale Aggression und Drohungen Aggression gegen Gegenstände Aggression gegen Personen
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Sergei Mechtcheriakov | Maria Rettenbacher
4.3
Management von aggressivem Verhalten
Häufig ist es möglich, im Gespräch eine Deeskalation herbeizuführen. Dies setzt voraus, dass der Patient gesprächsfähig und gesprächsbereit ist. Günstig ist für diese Gespräche ein neutrales Umfeld, nach Möglichkeit räumlich distanziert von einer eventuell belasteten Umgebung. Falls die Kommunikation mit dem Patienten nicht möglich ist oder nicht den gewünschten Effekt zeigt, muss der Patient unter adäquater und professioneller personeller Beteiligung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung transferiert werden, um einer weiteren Eskalation vorzubeugen. Sollte die Situation im geschlossenen Bereich weiter eskalieren, müssen Sedierung und Bewegungseinschränkung des Patienten in Erwägung gezogen werden. Alle Maßnahmen müssen unter Berücksichtigung der maximal möglichen Einhaltung der Rechte des Patienten bzw. dürfen nur in eindeutig begründeten Fällen durchgeführt werden. Für die rechtlichen Grundlagen zur Unterbringung und Behandlung von psychisch Kranken im geschlossenen Bereich siehe Kapitel „Forensische Psychiatrie“. Um in Notfallsituationen in Verbindung mit Aggression und Gewalt einen strukturierten und inhaltlich korrekten Ablauf gewährleisten zu können, sind das Vorhandensein von baulichen und technischen Bedingungen sowie die regelmäßige Schulung aller zuständigen Personen unverzichtbar. Im Zusammenhang mit Aggression ist es grundsätzlich wichtig, die psychodynamischen Ursachen, die diesem Phänomen zugrunde liegen, zu verstehen. Eine der wichtigsten Komponenten ist Angst. Sie ist nicht nur ein ständiges Begleitsymptom vieler psychiatrischer Krankheitsbilder, sondern betrifft ebenso alle Menschen, die in eine psychiatrische Notfallsituation involviert sind, auch die Helfer. Daher ist eine wichtige Aufgabe der Helfer in einer derartigen Notfallsituation, Maßnahmen zu ergreifen, die die Angst bei allen Beteiligten so schnell wie möglich reduzieren. Das „Nähe-Distanz“Verhältnis ist in einer Notfallsituation kritisch: Bei erregten Patienten soll während des Gespräches die größtmögliche Distanz eingehalten werden. Sowohl der Patient als auch der Arzt sollen die Möglichkeit haben, die Distanz zueinander jederzeit vergrößern zu können. In letzter Zeit wurde zunehmend darauf hingewiesen, dass eine sichtbare Überzahl des helfenden Personals die Aggressionsbereitschaft aufseiten des Patienten und somit den Bedarf an evtl. bewegungseinschränkenden Maßnahmen und intensiver medikamentöser Sedierung reduziert. Ist die Bewegungseinschränkung des Patienten unvermeidlich, muss eine medikamentöse Sedierung so rasch wie möglich eingeleitet werden, um die Angst des Patienten und das Risiko für eventuelle Traumatisierungen zu reduzieren.
5
Medikamentöse Behandlung bei Agitation und Aggression
Grundsätzlich sollte den Patienten zunächst eine orale Verabreichung angeboten werden. Erst bei Verweigern derselben soll eine parenterale Therapie in Betracht gezogen werden. Aufgrund ihrer raschen angstlösenden und sedierenden Wirkung sind Ben436
Der psychiatrische Notfall | 13
zodiazepine und Antipsychotika Mittel der Wahl. Andere Psychopharmaka und psychoaktive Substanzen kommen selten und nur in speziellen Fällen zum Einsatz.
5.1
Benzodiazepine
Aufgrund der sedativen und anxiolytischen Wirkung der Benzodiazepine und der guten Akzeptanz von Seiten der Patienten sowie der Möglichkeit der Antagonisierung finden sie in Akutsituationen häufig Anwendung. Vergleichsstudien mit Antipsychotika der ersten Generation zeigten weniger Nebenwirkungen und eine stärkere Sedierung in der Benzodiazepingruppe (Allen 2000). Obwohl die Atemdepression eine seltene Nebenwirkung der Behandlung mit Benzodiazepinen ist, sollen diese Medikamente bei Patienten mit chronisch obstruktiven pulmonalen Erkrankungen und anderen Lungenerkrankungen mit eingeschränkter Atemreserve mit besonderer Vorsicht verwendet werden. Eine paradoxe Reaktion im Sinne einer Steigerung der Agitation wird sehr selten beschrieben und findet sich meist nur bei Verwendung von hohen Dosen von Benzodiazepinen bei Patienten mit Schädigungen der Gehirnstruktur, mentaler Retardierung und Demenz. Ist eine intramuskuläre Gabe erforderlich, muss beachtet werden, dass Lorazepam als einziges Benzodiazepin rasch und vor allem komplett resorbiert wird. Clonazepam zeigt oral eine raschere Absorption als bei einer intramuskulären Gabe. Midazolam wird bei intramuskulärer Gabe zwar rasch absorbiert und hat einen raschen Wirkungseintritt (innerhalb von 15 Minuten), der Effekt ist jedoch kurz (1–2 Stunden). Diazepam hat eine ungleichmäßige Absorption und eine sehr lange Halbwertszeit. Aufgrund von möglicher Atemdepression und der damit verbundenen seltenen Gefahr des Atemstillstandes wird bei der intravenösen Gabe von Benzodiazepinen die Monitorisierung der Vitalparameter empfohlen.
5.2
Antipsychotika
Sedierung durch Antipsychotika ist in vielen Fällen eine sinnvolle Maßnahme. Bei psychotischen Patienten sind sie Mittel der Wahl. Verträglichkeitsprobleme und das Fehlen von spezifischen Antagonisten sind die Nachteile dieser Medikamente gegenüber den Benzodiazepinen. Auch in Notfallsituationen ist auf die Verwendung von möglichst nebenwirkungsarmen Antipsychotika zu achten, um die spätere Compliance in der Langzeittherapie nicht zu gefährden. Zur parenteralen Behandlung von akut agitierten Patienten stehen zurzeit diverse ältere Substanzen (z. B. Haloperidol) sowie neuere Substanzen (Aripiprazole, Olanzapine und Ziprasidon) zur Verfügung. Haloperidol verfügt zwar über ein hohes Sedierungspotenzial, hat jedoch den Nachteil des höheren Risikos für extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen. Weiters ist zu erwähnen, dass die parenterale Gabe von Antipsychotika mit einem gewissen Risiko für kardiale Arrhythmien verbunden ist. Für Haloperidol zeigte sich in Studien, dass mit einer Dosis von max. 10–20 mg pro 24 Stunden die optimale Wirkung erzielt werden kann und mit
437
Sergei Mechtcheriakov | Maria Rettenbacher
einer höheren Dosis kein zusätzlicher therapeutischer Effekt, jedoch eine Zunahme der Nebenwirkungen erreicht wird. Von den neuen Antipsychotika stehen Olanzapin und Risperidon auch in oral rasch resorbierbarer Darreichungsform zur Verfügung. Da in der Behandlung der akuten Agitation nicht mehr die maximale Sedierung, sondern eher die Linderung der Agitation als primäres Behandlungsziel betrachtet wird, wird aufgrund der problematischen Nebenwirkungen (Hypotension, Irritation an der Injektionsstelle, kardiale Nebenwirkungen, extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen) die Verwendung von niederpotenten Antipsychotika nicht mehr empfohlen. Diese sollten daher nur in Ausnahmefällen Anwendung finden (Battaglia 2005). Bei der antipsychotischen Behandlung von agitierten Patienten mit einer schizophrenen oder affektiven Psychose ist besonders auf die Medikamentenanamnese zu achten, um für die akute Sedierung möglichst ein Medikament zu wählen, das man auch langfristig weiter verabreichen kann.
6
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Früherkennung und Prävention eines psychiatrischen Notfalls eine wichtige Rolle beigemessen werden muss. Adäquate räumliche und medizinische Ausstattung sowie die regelmäßige Schulung des Personals ermöglichen rasches und kompetentes Handeln in einer Notfallsituation. Das Einhalten der Rechte des Patienten in einer Notfallsituation sowie die Vermeidung der Traumatisierung müssen oberste Priorität haben – dies ist nur bei kompetentem und koordiniertem Vorgehen möglich. Außerdem ist die Beachtung von somatischen Komplikationen in jeder Phase der Behandlung notwendig. Bereits in der frühen Phase der Behandlung sollen Nachsorge und Minimierung von Risikofaktoren für die Entstehung weiterer Notfallsituationen geplant werden.
Weiterführende Literatur Allen MH (2000) Managing the agitated psychotic patient: a reappraisal of the evidence. J Clin Psychiatry 62 [Suppl 14]: 11–20 Battaglia J (2005) Pharmacological management of acute agitation. Drugs 65: 1207–1222 Ketelsen R, Schulz M, Zechert C (2004) Seelische Krise und Aggressivität. Der Umgang mit
438
Deeskalation und Zwang. Psychiatrie-Verlag, Bonn Hummer M, Conca A, Vitecek P, Nedopil N, David H, Wlasak G, Schanda H, Fleischhacker WW (2006) Prävention und Management von Psychiatrischen Notfällen im stationären Bereich. Psychiatrie & Psychotherapie 2: 1–8
Kapitel 14
Psychotherapeutische Verfahren Verena Günther, Ilse Kryspin-Exner
1
Einführung
Die Anfänge der professionellen Psychotherapie werden – basierend auf den ersten großen psychoanalytischen Werken von Sigmund Freud – auf den Beginn des 20. Jahrhunderts datiert. Seither hat sich eine Vielzahl psychotherapeutischer Verfahren etabliert, die sich teils direkt aus der Psychoanalyse entwickelt haben, teils jedoch auch in grundsätzlich völlig anderen Modellen bzw. Grundannahmen verwurzelt sind wie bspw. die Verhaltenstherapie. Unabhängig von ihrer theoretischen Ausrichtung verfolgen jedoch alle Psychotherapeuten das folgende übergeordnete Ziel: Sie versuchen, Menschen in ihren realen Lebenszusammenhängen ganzheitlich wahrzunehmen und zu verstehen, dies unabhängig von gängigen Stereotypien. Im Vordergrund steht immer die Achtung und Wertschätzung des Individuums in seiner Einzigartigkeit. Jeder psychotherapeutische Prozess umfasst neben der Analyse der individuellen Symptomausprägung auch gesellschaft liche Bedingungen sowohl in der aktuellen Lebenssituation des Patienten als auch in seiner Vergangenheit, wobei seine Ressourcen besonders berücksichtigt werden. Der Patient erhält Unterstützung in der Entwicklung neuer Fähigkeiten, um adäquatere Wege zu fi nden, mit gesellschaft lichen Widersprüchen und Beschränkungen umzugehen. Auf der Basis der wertschätzenden therapeutischen Beziehung wird seine Fähigkeit gefördert, sich selbst zu achten und für sich angemessene Lebensformen zu entwickeln (Mückstein, 2007). Da Personen, die einen Psychotherapeuten aufsuchen, zumeist auch die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen, ist das Ziel nicht nur die Symptomminimierung, sondern auch die Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderung, letztlich persönliche Entwicklung und Wachstum. Abgesehen von speziellen Kurzzeittherapien dauern Psychotherapien daher oft bis zu mehreren Jahren, durchschnittlich ein bis zwei Jahre. Von der Vorgangsweise her sind sie je nach Richtung eher aufdeckend oder auch erlebnisorientiert, übend, rational oder suggestiv. Wenngleich die Übergänge fließend sind, so ist Psychotherapie grundsätzlich von psychologischer Beratung/psychologischer Behandlung – im angloamerikanischen Raum als „Counseling Psychology“ bezeichnet – abzugrenzen. Psychologische Behandlung ist deutlich kürzer als Psychotherapie, für Menschen mit umschriebenen Lebensproblemen geeignet, eher allgemein anregend, stützend und problemorientiert. Dem Ratsuchenden werden Informationen zur Verfügung gestellt, die Entscheidungshilfen bieten oder Handlungsgrundlage darstellen. In der psychologischen Behandlung ist der Psychologe aktiver in den Prozess eingebunden, indem er nicht nur die Ziele und deren Umsetzungsmöglichkeiten erarbeitet, sondern den Betroffenen auch bei der Realisierung dieser Ziele begleitet, z. B. in der 439
Verena Günther | Ilse Kryspin-Exner
Planung von Verhaltensänderungen und deren Erprobung in alltäglichen Situationen (Kryspin-Exner, 1994, 2004; Stumm, 2006). Nicht zuletzt unterscheiden sich psychologische Beratung, psychologische Behandlung und Psychotherapie durch unterschiedliche Ausbildungsanforderungen und nationale gesetzliche Bestimmungen. Auch innerhalb der psychotherapeutischen Richtungen werden Zulassungsbedingungen und Ausbildungsordnungen unterschiedlich gehandhabt und variieren von Land zu Land. Eine vergleichsweise sehr bunte Therapielandschaft ist in Österreich zu verzeichnen, hier sind psychologische Beratung und Behandlung im Psychologen-, Psychotherapie im Psychotherapiegesetz (Kierein et al., 1991) bzw. entsprechend den Regelungen der Ärztekammer festgeschrieben und inzwischen über 20 psychotherapeutische Methoden gesetzlich anerkannt (s. Anhang). Sie lassen sich nach ihren spezifischen Ansatzweisen in • • • • • •
Tiefenpsychologische (Psychoanalytische) Verfahren Lerntheoretische Verfahren Humanistische Verfahren Systemische Verfahren Körperorienterte Verfahren Entspannungsverfahren
einteilen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, werden im Folgenden einige dieser Methoden kurz dargestellt, wobei der Beschreibung der tiefenpsychologischen, humanistischen und systemischen Verfahren das Überblickswerk von Kriz (2007) „Grundkonzepte der Psychotherapie“ zugrunde liegt.
2
Tiefenpsychologische Verfahren
2.1
Psychoanalyse
Die Psychoanalyse umfasst nach ihrem Schöpfer Sigmund Freud (1856–1936) nicht nur eine Vorgehensweise zur Behandlung psychischer Störungen, sondern auch eine allgemeinpsychologische Theorie des menschlichen Erlebens und Handelns. Der Psychoanalyse und allen anderen tiefenpsychologischen Verfahren gemeinsam ist die Annahme eines „ubiquitären dynamischen Unbewussten“, welches u. a. Erlebnisse beinhaltet, deren bewusste Wahrnehmung sehr unangenehme Gefühlszustände erzeugen würde (Datler und Stephenson, 1996). Der in Wien bereits frühzeitig mit Hypnose arbeitende Arzt Josef Breuer entwickelte zusammen mit Freud die Methode der Katharsis, in deren Mittelpunkt die Annahme steht, dass die eigentliche Ursache der therapeutischen Wirkung das Erkennen und Wiedererleben von traumatischen Erfahrungen unter Hypnose sei. Im Zuge seiner Beobachtungen entwickelte Freud das Strukturmodell des psychischen Apparates. Dieser besteht aus den Instanzen Es (die Triebenergie), Über-Ich (ethische Wertvorstellungen und Normen) und Ich (der Entscheidungsinstanz, die ständig die zwischen Es und Über-Ich realitätsangepasste Ver-
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wirklichung erreichen sollte). In diesem Kontext forderte Freud später daher zunehmend vom Therapeuten, sich mit dem durch „Es“ und „Über-Ich“ geschwächten „Ich“ des Patienten zu verbünden und das Verdrängte freizulegen. Grundsätzlich beruht die Therapiemethode der analytischen Verfahren auf Konfliktaufdeckung und Bearbeitung der unbewussten Vorgänge. Freie Assoziation und Deutung sind dabei die klassischen Vorgehensweisen. Der Patient wird angeregt, alles, was ihm in den Sinn kommt zu äußern, gleichgültig, ob es ihm unwichtig, sinnlos oder peinlich erscheinen mag, auch unabhängig davon, ob sich die Inhalte auf die Therapiesituation selbst, auf vergangene Erlebnisse oder zukünftige Befürchtungen beziehen mögen. Diese Assoziationen sowie auch die Hindernisse, die der Patient beim Versuch zur freien Assoziation erfährt, werden ebenso gedeutet, wie seine Gefühle und seine Verhaltensweisen dem Analytiker gegenüber. Der Therapeut-Patient-Beziehung kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Denn zum zentralen Konzept der psychoanalytischen Arbeit gehört der Widerstand des Patienten gegen die Bewusstmachung und die Übertragung seiner frühkindlichen affektiven Erlebnisse und Verhaltensmuster auf den Therapeuten. Der Widerstand äußert sich in Abwehrmechanismen (z. B. Rationalisierungen, Projektionen, Reaktionsbildungen) bzw. therapiespezifischen (unbewussten) Boykottmaßnahmen wie Schweigen, Zuspätkommen, Wichtiges erst am Ende der Therapiestunde mitteilen etc. Widerstand und Übertragung werden kontrolliert gedeutet und durch wiederholtes Durcharbeiten aufgelöst, dabei wächst die Fähigkeit des Patienten zur Einsicht und Introspektion. Komplementär zur Übertragung ist die sog. Gegenübertragung zu sehen: Das sind die Gefühle des Therapeuten, mit denen er auf die Übertragung reagiert, die Gefühle, die der Patient in ihm erzeugt. Diese Gefühle werden als wichtiges Instrument in der Therapeut-Patient-Beziehung anerkannt und spielen heute eine zentrale Rolle. Um mit den Gefühlen der Gegenübertragung gut umgehen zu können, müssen Therapeuten ihre eigenen Reaktionsmuster sehr gut verstehen lernen und sich deshalb im Rahmen der Ausbildung einer eigenen Therapie, der sog. Lehranalyse, unterziehen. Das Verhalten des Analytikers ist grundsätzlich durch Flexibilität, Offenheit, Bemühen um Verstehen, Einsicht in eigene Fehlerhaft igkeit, Toleranz gegenüber Ungewissheit, Konsistenz und Verlässlichkeit sowie völlige Neutralität gekennzeichnet. Die Abstinenzregel fordert vom Therapeuten, dass er sich aller wertenden Stellungnahmen gegenüber dem Patienten zu enthalten habe: Dies betrifft auch die indirekten Verhaltensweisen wie trösten, beschwichtigen, beraten und belehren. Beim klassischen Setting liegt der Patient auf der Couch, der Analytiker sitzt hinter ihm, dies in einer Frequenz von 4–5 Wochenstunden, teils über mehrere Jahre hinweg. Für viele tiefenpsychologische Richtungen ist dieses Setting jedoch keine unabdingbare Voraussetzung mehr, es finden sich Modifi kationen und Weiterentwicklungen wie etwa die Technik der psychoanalytischen Kurztherapie und der psychoanalytischen Gruppentherapie. Die traditionelle Indikation für eine Psychoanalyse stellen chronifizierte neurotische Störungen oder sog. psychosomatische Erkrankungen dar. Freud selbst erachtete psychotische Zustandsbilder nicht geeignet für psychoanalytisches Vorgehen. Voraussetzung für eine Psychoanalyse sind eine hohe Motivation sowie ein genügendes Ausmaß an Verbalisierungs- und Introspektionsfähigkeit; darüber hinaus muss auch die 441
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Bereitschaft zu einem hohen zeitlichen (und damit oft auch finanziellen) Engagement gegeben sein. Bereits sehr früh haben sich aus Freuds Psychoanalyse heraus andere Richtungen entwickelt:
2.2
Individualpsychologie
Alfred Adlers (1870–1937) individualpsychologische Theorien gründen auf der Überlegung, dass bis zum 4./5. Lebensjahr primäre Minderwertigkeitsgefühle (bedingt etwa durch Kleinheit bei der Geburt, schlechte körperliche Verfassung, schlechte ökonomische oder soziale Situation, auch Familienposition und entwertender Erziehungsstil der Eltern) geprägt werden, welche dann (sowohl in gesunder als auch pathologischer Form) in Machtstreben und Geltungsbedürfnis Kompensation finden. Die Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Umwelt und den eigenen Minderwertigkeitsgefühlen nannte Adler den sog. Lebensstil. Im individualpsychologischen Denken wird weniger die Frage nach der Kausalität (woher habe ich das Symptom), sondern vielmehr die Frage nach der Finalität (wozu dient das Symptom) gestellt. Da der Kern der menschlichen Entwicklung durch das Minderwertigkeitsgefühl bestimmt ist, stehen sowohl Ermutigung und Stärkung des Patienten an zentraler Stelle, als auch das Bewusstmachen und Infragestellen der mit dem Minderwertigkeitsgefühl zusammenhängenden Lebenspläne, wie etwa „alles perfekt machen zu wollen“. Die Positionierung des Patienten innerhalb der Geschwisterreihe wird ebenso analysiert wie seine frühesten Kindheitserinnerungen. Neben einem intellektuellen Zugang über wachsende Einsicht werden auch Witz und Humor als paradoxe Interventionsformen eingesetzt (vgl. Kriz, 2007, S. 40–52).
2.3
Analytische Psychologie
Mit Carl Gustav Jung (1875–1961) entstand die analytische Psychologie. Neben dem persönlichen Unbewussten nahm Jung auch ein sog. kollektives Unbewusstes an, welches sehr stark durch seine ethnologischen und kulturübergreifenden Forschungen beeinflusst wurde. Das kollektive Unbewusste fügt sich also als tiefe Schicht an das persönliche Unbewusste und beinhaltet die allen Völkern gemeinsamen Urbilder, auch Archetypen genannt. Diese finden sich in ähnlichen Mythen und Märchen unterschiedlicher Kulturen (z. B. „gute“ und „böse“ Hexe etc.). Ein weiterer bedeutender Beitrag Jungs ist die Typenlehre, welche er als eine orientierende Klassifizierung der Menschen verstanden hat. So unterscheidet er zwischen extrovertierten Menschen (sie sind an äußeren Geschehnissen orientiert, ihr Fühlen und Handeln richtet sich an äußere Objekte) und introvertierten Menschen (sie leben eher in ihren inneren Erfahrungen, ziehen sich von der äußeren Welt eher zurück). Aus der Archetypenlehre ergeben sich Konsequenzen für die Behandlungsmethode. Ein zentraler Bestandteil von Jungs Analyse stellen die Assoziationstechnik sowie die
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aktive Imagination und die Traumarbeit dar. Träume können in symbolischer Form auf unbewusste Konflikte hinweisen, die Entschlüsselung dieser Träume kann daher wertvolle Einsicht ermöglichen. Insofern ist das Ziel der Jung’schen Psychotherapie nicht eine symptombezogene Heilung, sondern Wachstum und Selbstverwirklichung (vgl. Kriz, 2007, S. 53–65). Freud, Adler und Jung gelten als die drei großen Begründer der klassischen tiefenpsychologischen Schulen. Als weitere Entwicklungen bildeten sich vor allem in Großbritannien und den USA in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg weitere Richtungen heraus, etwa die Selbstpsychologie, deren wichtigste Vertreter Heinz Kohut und Otto Kernberg sind; Neuinterpretationen erfolgten beispielsweise durch Lacan, zeitgenössische Ausprägungen sind die Objektbeziehungstheorien (z. B. Bion). Geprägt von diesen Einflüssen haben sich auch eine Reihe von eigenständigen Therapierichtungen entwickelt, z. B. Hypnotherapie, Katathym Imaginative Psychotherapie oder die transaktionsanalytischen Psychotherapien.
2.4
Hypnotherapie und Hypnose
Diese Verfahren versuchen, die rationalen Anteile eines Patienten zu umgehen, indem ein direkter Zugang zum Unbewussten gesucht wird. Hypnose und Hypnotherapie bedienen sich der „Suggestibilität“, also der Grundfähigkeit des Menschen, über Vorstellungen Antwortreaktionen auszulösen. Der amerikanische Psychiater und Hypnose-Therapeut Milton H. Erikson sieht im Unbewussten die Quelle von Ressourcen, Lernerfahrungen und kreativem Veränderungspotenzial. Er verwendet Motivationsfaktoren und kognitive Stile des Patienten zur Lösungsorientierung. Hinderliche und eingefahrene Verhaltensmuster können durch minimale strategische Veränderung gelockert und verändert werden, durch die „Suggestionen“ wird deren Wirkung erhöht (Stumm und Pritz, 2000). Dabei wird mittels Hypnose ein Trancezustand erreicht, der durch vorübergehende Aufmerksamkeit und meist tiefe Entspannung gekennzeichnet ist. Eine hypnotische Trance kann verschiedenartig induziert werden, üblicherweise wird tiefe Entspannung suggeriert und z. B. durch Augenfi xation (Anstarren eines Objektes, um die Augenmuskeln zu ermüden) die Neigung in Trance zu gehen verstärkt. Auch akustische Unterstützung ist möglich wie etwa bei der Augen-Zähl-Methode. Der Hypnotiseur zählt von 100 rückwärts und fordert den Probanden auf, bei geraden Zahlen die Augen zu schließen und bei ungeraden zu öffnen. Ähnliche Effekte haben gleichförmige und beruhigende Klänge, Rhythmen oder auch Musikstücke. Sowohl die Ansprechbarkeit des Unbewussten als auch die Konzentration auf eine bestimmte Sache sind stark erhöht, die Kritikfähigkeit des Bewusstseins in gleichem Maße reduziert. Dadurch können bestimmte Phänomene verstärkt oder überhaupt erst wahrgenommen werden, auch ist vermehrte Empfänglichkeit für Suggestionen gegeben. Ist die hypnotische Trance erreicht, können „therapeutische Suggestionen“ vermittelt werden, z. B. sich in einer Alltagsszene als mutig und stark zu erleben.
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Jede hypnotische Trance bedarf der Auflösung. Dazu wird mithilfe von Suggestionen der ursprüngliche Bewusstseinszustand wiederhergestellt. Wenn Suggestionen nicht zurückgenommen werden, behalten sie ihre Wirkung nach der Hypnose längerfristig oder so lange bei, bis sie wieder aufgehoben werden. Diese sog. „posthypnotischen Suggestionen“ macht man sich z. B. in der Raucherentwöhnung zunutze. Hypnose ist breit anwendbar, ihr Ansatzgebiet reicht von sogenannten psychosomatischen Erkrankungen und funktionellen Störungen (vor allem chronische Schmerzzustände) bis hin zu Angsterkrankungen und zur Unterstützung von Anästhesie (z. B. im Zuge zahnärztlicher Behandlung). Hypnotherapeutische Verfahren lassen sich zudem gut mit anderen psychotherapeutischen Zugängen kombinieren, häufig werden sie in verhaltenstherapeutische und systemische Ansätze integriert.
2.5
Katathym Imaginative Psychotherapie
Die Katathym Imaginative Psychotherapie ist ein von Hans Carl Leuner 1955 eingeführtes tiefenpsychologisches Verfahren. Therapeutisch wird besonderer Stellenwert auf die Arbeit mit Imaginationen gelegt. Dahinter steht die Annahme, dass Bilder und Vorstellungen ebenso wie Tag- und Nachtträume unbewusste Konfl ikte und Gefühle widerspiegeln. In Zusammenarbeit mit dem Therapeuten werden bewusst Tagträume und Vorstellungen hervorgerufen (das sog. „Bildern“) und diese mit dem Therapeuten gedeutet bzw. die Symbolik der Bilder entschlüsselt. Dem Patienten werden damit Konfliktlösung und die Integration verdrängter und abgespaltener Persönlichkeitsanteile möglich (siehe auch Dieter, 2001).
2.6 Transaktionsanalyse Wenngleich tiefenpsychologisch verwurzelt, entspricht das Menschenbild der Transaktionsanalyse von Eric Berne (1910–1970) auch sehr stark der humanistischen Psychologie (siehe S. 449). In seiner Theorie geht Berne von drei Ich-Zuständen aus, dem „Kind-Ich“, dem „Eltern-Ich“ und dem „Erwachsenen-Ich“ (ähnlich der Einteilung in Es, Ich und Über-Ich der Psychoanalyse). Unklare Grenzen zwischen diesen drei Ich-Zuständen führen zu neurotischen Reaktionen. Therapeutisch muss daher die Festigung der Ich-Grenzen gefördert werden, z. B. durch Klarstellung von Patientenaussagen, Konfrontation, Erklärungen, Illustrationen, Interpretationen, aber auch Zuwendung, Überredung und Ermahnung. Mit dem „therapeutischen Imperativ“ sind direkte Botschaften des Therapeuten an das Erwachsenen-Ich gemeint, z. B.: „Du kannst etwas zu Ende bringen!“ oder „Sei ganz du selbst!“ (vgl. Kriz, 2007, S. 99). Rollenspiele oder die „leere Stuhl-Technik“ (aus der Gestalttherapie, siehe S. 451) werden ebenso integriert wie verhaltenstherapeutische Techniken, etwa das kognitive Umstrukturieren (neue Ansätze s. Rabaioli-Fischer, 2007).
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3
Lerntheoretische Verfahren – kognitivverhaltenstherapeutische Ansätze
Der Begriff „Behavior Therapy“ tauchte erstmals 1953 in den Vereinigten Staaten in einer Veröffentlichung von O. R. Lindsley, B. F. Skinner und H. L. Solomon auf. Unabhängig davon entstanden zwischen 1950 und 1960 Zentren verhaltenstherapeutischer Forschung in Südafrika (J. Wolpe, A.A. Lazarus und S. Rachman) und in England (H.J. Eysenck, D. Shapiro und A.J. Yates). Die Verhaltenstherapie geht grundsätzlich davon aus, dass sowohl menschliches Normalverhalten als auch Problemverhalten nach den gleichen Lernprinzipien erworben und mittels verschiedener Methoden dauerhaft verändert, also wieder verlernt werden kann. Älteres verhaltenstherapeutisches Handeln fußt somit in den psychologischen Lerntheorien, darunter zählen klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren und Modelllernen. Die von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) beschriebene „klassische Konditionierung“ – ursprünglich beobachtet an Hunden – basiert darauf, dass ein ursprünglich neutraler Reiz (z. B. Glockenton) Auslösefunktion für eine Reaktion (z. B. Speichelfluss) bekommt, die zuvor immer nur auf einen biologischen Reiz hin (Futter) auft rat. Die klassische Konditionierung fließt bei vielen psychischen Störungen ein, so etwa bei posttraumatischen Belastungsstörungen. Beispielsweise erzählt eine Frau, die eine Vergewaltigung erleben musste, dass sie auch Jahre später auf einen gewissen Zigarettengeruch, der dem Täter damals anhaftete, automatisch mit einem massiven Angstzustand reagiert. Unabhängig von dem traumatischen Ereignis löste der Geruch dieser Zigarettenmarke die Angst aus, obwohl weder Täter noch das Verbrechen präsent sind. Burrhus Frederic Skinner (1904–1992) stellt mit seinem Konzept der „operanten Konditionierung“ die Bedeutung der Verstärkung für das Erlernen von Verhaltensweisen in den Vordergrund. Demnach wird Verhalten, das belohnt („verstärkt“) wird, aufrechterhalten, während Verhalten, das negative Konsequenzen nach sich zieht, nicht mehr gezeigt wird. Legt man dieses Gesetz auf psychische Störungen, z. B. Substanzmissbrauch um, so kann das Suchtmittel in zweifacher Hinsicht Verstärkerwert besitzen: zum einen durch das Ernten von Bewunderung seitens der Peergroup, durch das Erleben eines Zugehörigkeitsgefühls, zum anderen durch den Wegfall unangenehmer Gefühlszustände wie Angst, Depression und Selbstunsicherheit. In beiden Fällen folgt dem Substanzgebrauch also zumindest kurzfristig eine Belohnung. Albert Bandura (geb. 1925) betont die Bedeutung des „Modell-Lernens“ als zentralen Bestandteil unserer Sozialisation (vor allem auch beim Spracherwerb) und sieht es somit auch maßgeblich am Erwerb vieler psychologischer Probleme beteiligt. So spielt Modelllernen beispielsweise bei Schmerzpatienten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Leidet ein Elternteil stark unter Migräneattacken und erfährt dafür sehr viel Schonung seitens der Umgebung, dann ist die Gefahr groß, dass auch die Kinder modellhaft Schmerzzustände entwickeln. Auf der Basis dieser älteren Lerntheorien entstand eine große Breite sehr interessanter Behandlungsverfahren. Die Besonderheit verhaltenstherapeutischen Vorgehens liegt dabei auf der übenden Intervention; Therapeut und Patient bewegen sich aus dem Behandlungsraum hinaus, suchen also direkt die Situationen auf, in denen das Symp-
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tom auftritt, und setzen sich dort konkret mit diesem auseinander (also in der Realsituation, „in vivo“). Der Therapeut unterstützt den Patienten dabei, mit den Symptomen einen adäquateren Umgang zu erlernen. Klassisches Beispiel dafür sind alle Angstkonfrontationsmethoden. Sinn dieser Interventionen ist es, das Vermeidungsverhalten des Patienten aufzulösen, jedoch in sehr langsamer und gestufter Form. Mit dem Patienten werden die Angst auslösenden Situationen (z. B. enge Räume, große Menschenansammlungen, Seilbahnen) in eine Hierarchie hinsichtlich des Grades der Angstauslösung geordnet. Des Weiteren werden dem Patienten Entspannungsmethoden und Atemtechniken vermittelt. In der Folge, nach sehr genauer exakter Vorbereitung, begleitet der Therapeut den Patienten in die einfachste Situation, also in jene, welche mit der geringsten Angstauslösung verbunden ist. Wenn die 1. Stufe gut bewältigt werden kann, wird die nächste Stufe der Angsthierarchie bearbeitet usw. Angstkonfrontationen werden also in der realen Angstsituation durchgeführt. Bei der systematischen Desensibilisierung kann die Hierarchie lediglich in der Vorstellung abgearbeitet und die Übungen erst später weiterführend in der Realität umgesetzt werden. Eine spezielle Form der Angstbewältigungsverfahren ist das Selbstbehauptungs- oder Selbstsicherheitstraining (engl.: assertiveness training). Dabei werden sozial beängstigende Situationen (z. B. jemanden auf der Straße nach der Zeit fragen, Kleidungsstücke in einem Geschäft umtauschen, in einen Raum gehen, in dem schon viele beisammensitzen, Nein sagen können, Fordern können, Kritik üben können) ebenfalls gestuft, häufig im Rollenspiel, geübt. Eine weitere traditionelle Technik stellt beispielsweise das Führen von Tagesplänen dar, eine häufig eingesetzte Intervention, vor allem bei depressiven Patienten. Der durch seine depressive Symptomatik oft sehr passive Patient wird angeleitet, stündlich jede durchgeführte Aktivität aufzuschreiben und parallel dazu auch seine Depressionstiefe zu registrieren. Ziel ist es, trotz der Depression ein adäquates Aktivitätsniveau einzuhalten, da Inaktivität grundsätzlich zu Verstärkerverlust und daher zu einer Vertiefung der depressiven Stimmungslage führt. Während also traditionelles verhaltenstherapeutisches Handeln in den klassischen Lerntheorien verwurzelt ist, basiert moderne Verhaltenstherapie zusätzlich sowohl auf kognitionspsychologischen als auch emotionsorientierten Modellen. In der ursprünglichen kognitiven Therapie z. B. von A. T. Beck (1976, 2001) und später seiner Tochter Judith S. Beck (1999) werden besonders die gedanklichen Interpretationen und Bewertungen einer Situation als Ursache für die mit dieser Situation verbundenen Gefühle und Verhaltensweisen angesehen; entsprechend zielt das therapeutische Vorgehen vor allem auf die Identifikation und Veränderung dieser „problematischen“ Kognitionen ab. Beispielsweise wird depressives Denken mit Kognitionsprotokollen nicht nur genau diagnostiziert, sondern durch das sog. „Kognitive Umstrukturieren“ versucht, den automatischen negativen Gedankenfluss positiv zu beeinflussen und damit auch die depressive Stimmungslage positiv zu verändern. Tabelle 1 zeigt das Beispiel einer jungen Frau. Anhand der Protokollierung werden die automatischen, sehr pauschalierenden Bewertungen der Patientin mittels Beweisführung „dafür“ und „dagegen“ diskutiert und in der Folge eine entsprechende realistischere Bewertung formuliert. In der letzten Spalte sollte sich die gefühlsmäßige Bewertung, die in der 2. Spalte hochgradig ausgeprägt war, entsprechend ändern. Eine erhebliche Erweiterung erfuhr die kognitive Verhaltenstherapie durch die „Schematherapeutischen Ansätze“ von Jeffrey E. Young (2008). Unter dem Begriff „frühe mal446
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Tabelle 1 Situation
Spaltentechnik Gefühl (1–100°)
Sehe eine sehr Depressivität attraktive Frau (70°) auf der Straße Unsicherheit (80°)
Realistisch Beweise formulierte gegen den „hot thought“ Gedanken
Gedanke („hot thought“)
Beweise für den „hot thought“
Wie bin ich doch hässlich
• Ich habe eine • Ich habe sehr schöne leicht ÜberHaut, darum gewicht. • Ich habe eine haben mich Mitschülegroße Nase. rinnen sehr • Ich habe sehr beneidet. dünne Haare. • Ein Freund sagte einmal, er liebt weibliche Figuren und mag keine Bohnenstangen. • Ich gelte als sehr freundlich und charmant.
• Es gibt Frauen, die haben etwas, was ich auch gerne hätte. • Es gibt aber auch Frauen, die hätten gerne etwas von mir . • Es gibt genügend Menschen, die mich attraktiv finden. • Attraktivität ist mehr als nur gängiges Schönheitsideal.
Gefühl
Depressivität (40°) Unsicherheit (30°)
adaptive Schemata“ werden weit gesteckte Muster verstanden, die aus Erinnerungen, Emotionen, Kognitionen und Körperempfindungen bestehen, sich in der Kindheit und Adoleszenz entwickelten, sich im Laufe des Lebens durch wiederholte ungünstige Erfahrungen immer weiter ausprägten und stark lebensstörend, also dysfunktional sind. Diese Schemata sind Personen nicht bewusst und „treiben“ sie immer wieder in schädigende Verhaltensweisen. Zu den klassischen Schemata, die bei sehr vielen Patienten zu finden sind, zählen: „ich werde grundsätzlich nicht geliebt“, oder „grundsätzlich kann man niemanden vertrauen“ oder „ich brauche immer Hilfe“ oder „ich kann grundsätzlich mein Leben nicht beeinflussen“. Schematherapeutisches Vorgehen beinhaltet neben den klassischen behavioralen und kognitiven Strategien auch erlebnisbasierte Interventionen, es ist also ein integrativer Ansatz, der tiefenpsychologische und gestalttherapeutische Elemente einbezieht, wobei der therapeutischen Beziehung ein sehr hoher Stellenwert zukommt. In der modernen Verhaltenstherapie werden neben symptomverändernden Interventionen mehr und mehr auch Konzepte der „Achtsamkeit und Akzeptanz“ integriert. Achtsamkeit gilt als Drehpunkt für Veränderung, als Voraussetzung, um Vermeidungsverhalten auflösen zu können. Gearbeitet wird zuerst an der Annahme und Akzeptanz des Symptoms, um dadurch in der Folge echte Verhaltensänderungen erreichen zu können (Hayes S. et al., 2003). Achtsamkeitsübungen reichen von bewusster Atmung bis hin zum Training von Genussfertigkeiten und selbstfürsorglichem Verhalten (genussvoll Schmecken, Riechen und Tasten lernen). In diesem Zusammenhang sei auf die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) von Marsha M. Linehan et al. (1991) verwiesen. In dieser werden achtsamkeitsbasierte und fernöstlich-meditative Techniken mit klassischen kognitiven verhaltenstherapeuti447
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schen Standardtechniken (z. B. sozialem Fertigkeitstraining, kognitivem Umstrukturieren, Regulation traumaassoziierte Emotionen), humanistischen, körperorientierten, gestalttherapeutischen und hypnotherapeutischen Elementen kombiniert. Die Wirksamkeit der DBT wurde ursprünglich für chronisch suizidale Borderline-Patienten entwickelt. Speziell bei diesen Patienten ist ihre sign. höhere Wirksamkeit gegenüber anderen Therapierichtungen durch kontrollierte Studien belegbar. Zusammengefasst ist verhaltenstherapeutisches Vorgehen stark strukturiert und erfolgt unter höchster Mitentscheidung des Patienten. Dessen aktive Beteiligung am Geschehen wird sehr gefördert, um damit auch seine Motivation und Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Eine gesamte Verhaltenstherapie gliedert sich üblicherweise in sieben Phasen, auch Selbstmanagement-Vorgehen genannt (Kanfer et al., 2011). Die erste Phase beinhaltet neben der Sichtung der Eingangsbeschwerden die Herstellung und Stabilisierung der Therapeut-Patient-Beziehung und die Vereinbarung der Setting-Bedingungen. Die zweite Phase beschäftigt sich vor allem mit der Analyse der Motivation. In der dritten Phase werden die bisherigen Informationen in ein diagnostisches Modell, den sog. Verhaltens- und Bedingungsanalysen zusammengefasst. Dabei werden zum einen die eine Symptomatik (bspw. Panikattacke, Depression etc.) auslösenden Situationen, zum anderen die belohnenden und verstärkenden Konsequenzen (Zuwendung seitens der Umgebung) aufgeschlüsselt. Darüber hinaus werden die Schemata und negativen Gedanken und Vorstellungen des Patienten erfasst. Auf der Basis dieser Analysen werden erst in der vierten Phase gemeinsam die Zielvorstellungen formuliert und in der fünften Phase die entsprechenden Interventionen gesetzt. Die sechste Phase dient der Evaluation des therapeutischen Prozesses (z. B. mittels Fragebögen und Videos), die siebente Phase leitet die Beendigung der Therapie und den therapeutischen Abschied ein. (Weiterführende Literatur: s. Parfy et al., 2003).
3.1
Verhaltensmedizin
Aufgrund ihrer hohen Wirksamkeit und ihren konkreten Interventionen wurde der hilfreiche Einsatz verhaltenstherapeutischer Interventionen auch bei körperlich Kranken bald erkannt und mit dem Begriff „Behavioral Medicine“ von Birk (1973) erstmals eine inzwischen eigenständige Disziplin benannt. Sie verknüpft medizinische Ansätze mit Methoden und Kenntnissen der Verhaltenstherapie, um Prävention, Diagnose, Behandlung sowie Rehabilitation somatischer Erkrankungen zu unterstützen. Als das Standardwerk im deutschen Sprachraum gilt das 2003 im Springer-Verlag von Ulrike Ehlert herausgegebene Lehrbuch „Verhaltensmedizin“. Es gibt einen Überblick über die klassischen Anwendungsgebiete der Verhaltensmedizin, nämlich chronische Schmerzsyndrome, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Störungen des gastrointestinalen Systems, Krebserkrankungen, dermatologische Erkrankungen, gynäkologische und immunologische Erkrankungen (wie Rheuma, HIVInfektion). Aktuelle Metaanalysen bestätigen die Effekte verhaltensmedizinischer Interventionen, insbesondere von Biofeedback, Entspannungsverfahren, Stressbewältigungstraining, Psychoedukation (Information sowie Anleitung der Hilfe zur Selbst448
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hilfe), z. B. bei arterieller Hypertonie oder auch in der Psychoonkologie. So lassen sich beispielsweise Übelkeit, Erbrechen, Schmerz, ebenso die Stressbelastung, die Befindlichkeit und das Copingverhalten durch verhaltensmedizinische Interventionen positiv beeinflussen. Auch biologische Parameter können sich unter verhaltensmedizinischer Behandlung stabilisieren, so lässt sich eine Senkung der Blutzuckerwerte bei Diabetes mellitus durch Förderung der Selbstwirksamkeit und des Empowerment erreichen. Insgesamt belegt eine Vielzahl von Studien, dass gezielte Verhaltensänderungen, wie es verhaltensmedizinisches Vorgehen ermöglicht, regulierend auf endokrinologische und neuroimmunologische Parameter einwirken können (Schedlowski, 2007).
4
Humanistische Verfahren
Vertreter dieser Therapierichtungen orientieren sich am Menschenbild der humanistischen Psychologie. Dieses betont Autonomie bei gleichzeitiger sozialer Interdependenz, Selbstverwirklichung, Wachstumsbedürfnisse, Ziel- und Sinnorientierung sowie die Ganzheit von Leib und Seele bzw. von Gefühl und Vernunft (vgl. Kriz, 2007, S. 161–162).
4.1
Personenzentrierte Psychotherapie
Die Client-Center-Therapy von Carl R. Rogers (1902–1986) – im deutschen Sprachraum auch Gesprächspsychotherapie oder klientenzentrierte Psychotherapie genannt – möchte den Patienten zu einer möglichst hohen Selbstwahrnehmung seiner eigenen Gefühle und Bewertungen führen. Personenzentrierte Psychotherapie beruht auf den zentralen Begriffen des Selbst, der Aktualisierungstendenz und der Inkongruenz. Das Konstrukt des Selbst differenziert sich im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung aus den Körperwahrnehmungen in Interaktionen mit der Umwelt heraus; die Aktualisierungstendenz wohnt jedem Organismus inne und bewegt den Menschen in Richtung Wachstum und Reife. Inkongruenz beschreibt einen Zustand der Uneinigkeit, also der Spannung im Sinne von Angst, wenn Erleben und Empfi ndungen nicht mehr zum Selbst passen. Diese Inkongruenz im Erleben wird als Indikation für eine Gesprächspsychotherapie angesehen. Die Gesprächspsychotherapie distanziert sich somit von klassischen Diagnoseschemata oder der Definition bestimmter Probleme, Verhaltensdefizite und Krankheitsbilder. In der Therapie soll ein Patient, der sich im Zustand der Inkongruenz befindet, persönlichkeitsverändernde und korrigierende Erfahrungen machen, wobei Rogers (1957) die folgenden drei Basisvariablen als „notwendige und hinreichende“ Bedingungen des Therapieverhaltens ansieht: 1. Positive Wertschätzung und emotionale Wärme: Der Therapeut erwirbt in seiner Ausbildung die Fähigkeit, den Patienten zu erleben, ohne ihn aufgrund seiner Handlung oder Eigenschaften einzuordnen.
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2. Echtheit (Kongruenz): Der Therapeut muss fähig sein, sich selbst zu erleben und keine neurotisch-ängstlichen Abwehrhaltungen den eigenen Gefühlen gegenüber zu haben. 3. Einfühlendes Verstehen (Empathie): Der Therapeut versteht die Erfahrungen des Patienten so, als wären es seine eigenen, wobei er sich jedoch gleichzeitig immer bewusst sein muss, dass es sich eben nicht um seine persönlichen Gefühle handelt. Der Therapeut versucht, weniger auf die direkten Inhalte der Aussagen des Patienten zu reagieren, sondern vielmehr die dahinter liegenden Gefühle, Empfindungen sowie Betroffenheit zu benennen; Rogers spricht dabei von der „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte“. Über diese psychotherapeutische Beziehung kann der Patient sich selbst als Person von Wert wahrnehmen (Selbstwertschätzung) und seine Erfahrungen mit seinem Selbst in Übereinstimmung bringen (Selbstkongruenz). Erweitert wurde die Personenzentrierte Psychotherapie durch Konzepte des „Experiencing“ und „Focusing“. Es soll das im Moment gefühlte Erleben durch spezielle Formen der Zentrierungen und Konzentration wahrgenommen werden. Erst dadurch wird es möglich, abgebrochene, verhinderte, entgleiste und erstarrte Erlebnisprozesse wieder ins Lot zu bringen und entsprechende Verhaltensänderungen vorzunehmen (vgl. Kriz, 2007).
4.2
Logotherapie und Existenzanalyse
Die Logotherapie von Viktor E. Frankl (1905–1997) wird neben Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie häufig als die 3. Wiener Schule der Psychotherapie bezeichnet. Nach Frankl ist die Suche nach dem individuellen Sinn der Existenz eine Grundmotivation des Menschen (die er aus eigenen Erfahrungen im Konzentrationslager ableitete), eine treibende Kraft, die, wenn sie sich nicht entfalten kann, zur Krankheit führt. Die sog. noogene Neurose (von Griechisch: noos = menschlicher Geist) geht aus Frankls Sicht letztlich auf den Verlust kultureller Traditionen, dem damit verbundenen existenziellen Vakuum und daraus resultierenden Gewissenskonflikten sowie Wertkollisionen zurück. In der praktisch-therapeutischen Arbeit liegt in der Logotherapie der Schwerpunkt mehr auf dem kognitiven Zugang wie Sinnfindungsgesprächen, der paradoxen Intention (dem Patienten wird geraten, bewusst das Symptom, das er verlieren will, hervorzurufen) und dem sokratischen Dialog (vgl. Kriz, 2007, S. 197–199). Mit dieser Fragetechnik werden irrationale Einstellungen und rigide Positionen des Patienten hinterfragt. Beispielsweise äußert der Patient: „Ich bin ein totaler Versager, mir gelingt überhaupt nichts mehr.“ Darauf der Therapeut: „Es ist jetzt 14.00 Uhr, was ist Ihnen heute bereits misslungen?“ Patient: „Ja, heute ist mir nicht gerade etwas misslungen, aber …“ Therapeut: „Wenn Ihnen heute nichts misslungen ist, heißt das, dass Ihnen auch einiges gelungen ist?“ 450
Psychotherapeutische Verfahren | 14
Patient: „Gelungen ist mir auch nichts Besonderes, ich habe halt das Normale geschafft.“ Therapeut: „Heißt das, dass Ihnen die normalen Alltagsaktivitäten relativ gut von der Hand gingen?“ Patient: „Wenn Sie das so sagen, ja.“ Abschließend folgert der Therapeut: „Sie haben mir heute gesagt, Sie sind ein Versager. Nach diesem Gespräch glaube ich sagen zu können, dass Sie sich selbst sehr streng beurteilt haben. Soweit wir jetzt zusammenarbeiten konnten, ist Ihnen zumindest in der letzten Vergangenheit nichts Auff älliges passiert, was Sie global als Versager abstempeln würde.“ Der Begriff Existenzanalyse lässt sich als Weiterentwicklung der Logotherapie beschreiben. In der Existenzanalyse wird vermehrt mit dem emotionalen Erleben und auch den biografischen Aspekten gearbeitet (Längle, 1992).
4.3
Gestalttherapie
Die Gestalttherapie geht auf Frederic Solomon Pearls (1893–1970) zurück. Für Pearls ist menschliches Leben ein ständiger Prozess der Auseinandersetzung mit der Umwelt. In dieser Entwicklung wird je nach Interesse des Individuums ein Reiz zur Figur (in Anlehnung an die Gestaltpsychologie), also zum Zentrum des Verlangens. Innere Konflikte können dann entstehen, wenn – insbesondere konfliktbesetzte – Bedürfnisse sich nicht zur Figur entwickeln, sondern vermieden werden. Der Kontakt mit der Umwelt verlangt gleichzeitig auch eine starke Abgrenzung. Die Gestalttherapie fasst Neurosen demnach als eine Störung dieser Kontaktgrenzen auf. Im therapeutischen Gespräch wird jeglicher Ausdruck einbezogen, der verbale wie der nonverbal-körperliche und der nonverbal-atmosphärische. Zur Unterstützung ganzheitlichen Erlebens kommen auch kreative Medien und Körperinterventionen (Malen, Musik, Bewegung etc.) zur Anwendung. Gestalttheoretische Psychotherapie versteht sich als integrative Therapieform, die grundsätzlich für alle psychotherapeutischen Methoden, soweit sie mit dem ganzheitlichen Menschenbild zu vereinbaren sind, offen ist (vgl. Kriz, 2007, S. 183–194).
4.4
Psychodrama
Im Psychodrama von Iacov Levi Moreno (1889–1974) wird die heilende Wirkung im Aspekt der Katharsis, also des Nacherlebens von belastenden Erfahrungen gesehen. Konfliktlösung wird über den kreativen Weg des Rollenspiels und Rollentausches sowie der spontanen Improvisation möglich und lässt persönliche und soziale Prozesse verstehen. Ähnlich wie bei einem Theaterstück wird versucht, eigene Probleme und Konflikte in Szenen spontan nachzuspielen. Obwohl ursprünglich als reine Gruppen-
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therapie entwickelt, wird Psychodrama inzwischen auch im Einzelsetting durchgeführt (Monodrama/Individualdrama) (vgl. Kriz, 2007, S. 203–207).
5
Systemische Verfahren
Eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze wird unter die Systemischen Therapien eingereiht. Psychische Krankheiten oder Störungen werden auf ihre Funktion im sozialen Interaktionsprozess hin untersucht bzw. interpretiert; entsprechend wird üblicherweise mit dem gesamten System, in dem sich der Patient befi ndet, gearbeitet, also der ganzen Familie oder auch einem Paar. Die systemischen Therapien basieren u. a. auf der von Gregory Bateson in Palo Alto entworfenen „pragmatischen Kommunikationstheorie“, welche von Paul Watzlawick et al. (1969) systematisch dargestellt wurde. Er formulierte fünf Axiome, u. a.: „Man kann nicht nicht kommunizieren“, oder „Kommunikation ist kreisförmig, d. h., jedes Verhalten ist sowohl Ursache als auch Wirkung.“ Den Familientherapien grundsätzlich gemeinsam ist ihre Lösungsorientiertheit; die Familie (oder Paarbeziehung) wird immer in der eigenen Handlungskompetenz und Problembewältigung gefördert. Wenn einzelne Familienmitglieder nicht bereit sind, therapeutisch mitzuarbeiten, dann sind systemische Ansätze auch im Einzelsetting durchführbar (vgl. Kriz, 2007, S. 210–237).
5.1
Familientherapien
5.1.1
Analytisch orientierte Familientherapie
Im deutschen Sprachraum gilt Horst-Eberhard Richter (1923–2011) als einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung. Nach dem Freud’schen Konzept der Objektwahl werden Konflikte innerhalb einer Familie nicht selbst gelöst, sondern es werden bestimmte Rollenvorschriften an den Partner – oft auch an ein Kind – herangetragen (z. B. die Rolle des Sündenbocks). Bei Helm Stierlin werden nicht nur die Beziehungen zwischen Mitgliedern der gleichen Generation thematisiert, sondern auch die Frage bearbeitet, inwiefern sich z. B. eine ungelöste Bindung an die eigenen Eltern auf die Beziehung zum Ehepartner auswirkt. Therapeutisch wird vor allem die Bereitschaft zum Dialog gefördert und konkrete Kommunikation trainiert, wie nur im eigenen Namen oder in der Ich-Form zu sprechen, Verallgemeinerungen und Verzerrungen zu korrigieren (vgl. Kriz, 2007, S. 267– 269). 5.1.2 Erfahrungszentrierte Familientherapie Diese Richtung wurde maßgeblich von Virginia Satir (1916–1988) geprägt. Satir sieht im Selbstwertgefühl den zentralen Faktor für gesunde oder auch gestörte Kommunikation. Besonders geachtet wird auf die Veränderung doppeldeutiger Botschaft en, welche bei Personen mit geringem Selbstwertgefühl häufig beobachtbar sind. Charak452
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teristisch für die doppeldeutige Botschaft ist ihre Widersprüchlichkeit. So wird etwa verbal geäußert: „Du kannst dich ruhig heute Abend mit deinem Freund treffen, ich bleibe gern zuhause“, nonverbal wird jedoch traurige und gekränkte Mimik gezeigt. Therapeutisch wird dem Patienten vermittelt, dass er Forderungen stellen darf, ohne Angst davor haben zu müssen, die Gefühle anderer zu verletzen, etwa: „Ich würde mich sehr freuen, wenn du heute Abend bei mir bleiben würdest.“ (vgl. Kriz, 2007, S. 275–280). Sowohl als diagnostisches als auch therapeutisches Instrument werden gerne Familienskulpturen „gebaut“. In den letzten Jahren sehr großen Zulauf kann die sog. Familienaufstellung verzeichnen. Dabei werden eine ganze Familie oder ein Problem von einem Gruppenteilnehmer mit den anwesenden anderen Teilnehmern „aufgestellt“ und die im Raum entsprechend positionierten Personen gebeten, ihre Wahrnehmungen und Empfindungen mitzuteilen. Aus den Gefühlen, die die aufgestellten Personen erleben, können wertvolle Einsichten gezogen werden. Leider geriet das ursprünglich interessante Konzept durch viel missbräuchliche Anwendung in Verruf. Möchte man eine Familienaufstellung durchführen, sollte man sich daher über die Seriosität des Anbieters sehr genau erkundigen. 5.1.3
Strukturelle Familientherapien
Nach dem Begründer Salvador Minuchin (geb. 1923) bezieht sich der Begriff „Struktur“ auf die Gliederung der Familien in ihre Subsysteme wie das elterliche, das eheliche, das geschwisterliche sowie auf den Aspekt der Abgrenzung und Durchlässigkeit ihrer Grenzen. Pathogene Strukturen entstehen nach Minuchin, wenn das System Familie Veränderungen nicht flexibel abfangen kann und z. B. Dreiecksbeziehungen oder Koalitionen (z. B. Mutter, Kind) gebildet werden, um die konflikthafte Ehe zu verdecken. Grundsätzliches Ziel der Therapie ist es, diese Strukturen zu erschüttern, und neue Regelsysteme zu bilden (vgl. Kriz, 2007, S. 271–274).
5.2
Systemische Paartherapie
Als Vertreter im deutschen Sprachraum ist Jürg Willi (geb. 1934) zu nennen, er prägte den Begriff der „Kollusion“. Demnach wird die Partnerwahl durch neurotische Grundkonflikte bedingt. So wird eine gefügige und unaggressive Frau sich verständlicherweise durch einen dominanten und cholerischen Mann angezogen fühlen. In diesem Fall lebt der Mann auch die ungelebten aggressiven Anteile der Frau aus. Derartige Konstellationen lassen sich jedoch auf Dauer in einer Beziehung nicht gut ertragen. In der Paartherapie werden zum einen Erkenntnisprozesse über die eigene Beziehung gefördert und zum anderen ein flexibleres Gleichgewicht in Bezug auf die eingeschliffenen Verhaltensweisen hergestellt (vgl. Kriz, 2007, S. 251–261).
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6
Körperorientierte Ansätze
Zu der körperorientierten Psychotherapie zählt beispielsweise die bioenergetische Analyse von Alexander Lowen, in welcher aus dem Körperausdruck auch eine Diagnose erstellt werden kann (Body Reading). Der therapeutische Zugang beinhaltet entsprechende Körperübungen wie Vertiefung der Atmung, mehr Kontakt mit dem Boden (Grounding) und Behandlungen (Massage, Druck und sanfte Berührung), aber auch das Bewusstmachen der hinter Verspannungen stehenden Emotionen: Beispielsweise lernt der Patient zu erkennen, dass seine Nackenschmerzen Ausdruck seiner aggressiven Impulse sein könnten (vgl. Kriz, 2007, S. 80–87). Ein weiteres Verfahren ist die konzentrative Bewegungstherapie, begründet vom Psychoanalytiker Helmut Stolze. Dabei werden Wahrnehmung und Bewegung als Grundlage des Handelns, Fühlens und Denkens genutzt. Im konzentrativen Sich-Bewegen und Sich-Wahrnehmen werden Erinnerungen reaktiviert, die im Laufe des Lebens ihren Körperausdruck in Haltung und Verhalten gefunden haben. Außerdem kann im Umgang mit Objekten (z. B. Tüchern, Steinen, aber auch Menschen) neben der realen Erfahrung auch ein symbolischer Bedeutungsgehalt erlebbar werden.
7
Entspannungsverfahren
Sinn aller Entspannungsverfahren ist es, den Kreisprozess zwischen verspannungsbedingten Symptomen zu durchbrechen und von der sympathikusgesteuerten Anspannung auf parasympathikusgesteuerte Entspannung umzuschalten.
7.1
Autogenes Training und Autogene Psychotherapie
Eines der bekanntesten Verfahren ist das Autogene Training von Johannes H. Schultz (1884–1970): Es kann als Ergänzung im Rahmen anderer psychotherapeutischer Maßnahmen erlernt werden oder auch eine eigene Basistherapie darstellen. Ziel des Autogenen Trainings ist es, ohne Fremdeinwirkung unter Zuhilfenahme bestimmter gedanklicher Vorstellungen (Autosuggestionen) selbstständig einen Zustand der Entspannung herzustellen. Der Übende legt sich flach und bequem auf den Rücken oder setzt sich vornübergebeugt, die Arme auf den Knien abgestützt, nieder („Droschkenkutscherhaltung“) und beginnt, sich in eine Stimmung zu versetzen, die ihm das Gefühl vermittelt, Ruhe und Zeit für sich selbst zu haben: „Keine Außeneinflüsse haben Bedeutung, alles ist ruhig und angenehm.“ In dieser entspannungsfördernden Gestimmtheit richtet der Übende nun die Aufmerksamkeit auf die quer gestreifte Muskulatur und die Durchblutung der Arme und Beine (Wärme- und Schwereübung). Danach wird die Aufmerksamkeit auf den Herzschlag (Herzübung) gelegt, später wird die Gleichmäßigkeit der Atmung (Atmungsübung) hinzugenommen. In der Sonnengeflechtübung wird die Aufmerksamkeit auf ein strömendes Wärmegefühl im Bauchraum gelenkt. 454
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Nachdem diese Übungen erlernt wurden, kann der Patient Formeln einsetzen, die genau auf die ihm bewusst gewordenen eigenen Bedürfnisse ausgerichtet sind. Man spricht von der formelhaften Vorsatzbildung. So kann z. B. eine Person, die ein Verhalten ändern möchte, den Vorsatz „ich bin ganz ruhig“ fassen und diese Formel in die Übungen integrieren. Die Autogene Psychotherapie bezieht neben der oben skizzierten Grundstufe der Entspannung auch eine Mittel- und Oberstufe ein. Wesentliche Prinzipien der Autogenen Psychotherapie – Loslassen und Geschehenlassen – sind Grundvoraussetzungen und ermöglichen erst einen gelassenen und angstfreien Umgang mit den allmählich ins Bewusstsein aufsteigenden inneren Konflikten. Dem autogenen Prinzip folgend behält der Patient die Kontrolle über Regressionstiefe und Dauer des Versenkungszustandes. Vor allem die präverbale körperliche Erlebnisdimension der autogenen Psychotherapie hat eine wichtige therapeutische Funktion.
7.2
Progressive Muskelrelaxation
Diese in den 1920er-Jahren von Edmund Jacobson (1885–1976) entwickelte Entspannungsmethode setzt an der willkürlichen Muskulatur an, an denjenigen Muskeln also, die der Mensch bewusst und willentlich anspannen und entspannen kann. Emotionen wie Angst sind häufig mit reflektorischen Muskelkontraktionen verbunden. Im Verlauf der Sitzungen soll der Patient lernen, die angespannten Muskeln genau zu lokalisieren. Er wird instruiert, diese noch einmal bewusst schnell anzuspannen, um sie dann in der Folge bestmöglich zu entspannen. Auf die dabei auft retenden Empfindungen (Wärme, Schwere, Schläfrigkeit etc.) wird besonders geachtet. Die Progressive Muskelrelaxation beinhaltet Übungen für Arme, Beine, Nacken, Gesicht, Brust, Bauch und Rücken. Die Übungen werden hintereinander in einer bestimmten vorgeschriebenen Reihenfolge durchgeführt.
7.3
Biofeedbackmethoden
Ziel dieser Methoden ist es, zu stark oder zu schwach ausgeprägte Körperfunktionen zu regulieren. Hauptanwendungsgebiete sind psychosomatische Erkrankungen wie chronischer Kopfschmerz, Schlafstörungen, Bluthochdruck, Asthma bronchiale und allgemeine Stresssymptome. Im Zuge eines Biofeedbacktrainings wird der Patient an einen Computer angeschlossen, welcher die verschiedensten physiologischen Vorgänge (z. B. die Atemfrequenz, den Muskeltonus, den Hautwiderstand) optisch (durch Farbkreise, die auf dem Bildschirm erscheinen) oder akustisch (durch Töne in verschiedener Höhe) rückmeldet. Der Patient lernt nun, in etwa 10–25 regelmäßigen Sitzungen von etwa 30–60 Minuten Dauer, seine Körperfunktionen (etwa den erwünschten Muskeltonus) über die optische und akustische Rückmeldung willentlich zu beeinflussen. In der Folge sollte der Patient in der Lage sein, diese beruhigten Zu-
455
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stände auch ohne Gerät zu erreichen. (Weiterführende Literatur zu Entspannungsverfahren: s. Vaitl u. Petermann, 2009)
8
Kurztherapien
In den letzten Jahren wird den Kurztherapien (20–30 Therapiestunden) immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Unabhängig von der zugrunde liegenden Therapieschule und damit den wichtigsten begrifflichen und praktischen Unterschieden, verfolgen Kurzzeittherapien gemeinsame Ziele: In den ersten Therapiegesprächen werden Therapiemotivation und die Fähigkeit des Patienten, sich in eine konstruktive therapeutische Beziehung zu begeben, geprüft. In der Folge wird der therapeutische Arbeitsbereich genau definiert und der zeitliche Rahmen festgelegt. Die Inszenierung von emotionalen Patientenkonflikten in der Therapiebeziehung wird als Hauptgegenstand der Interpretationsarbeit betrachtet und die Beendigungsproblematik während der ganzen Therapie immer wieder angesprochen. Ein Beispiel ist die von G.L. Klerman und M.M. Weissman vor über 30 Jahren begründete Interpersonelle Psychotherapie (IPT), welche speziell für depressive Patienten entwickelt wurde. Entsprechend der Namensgebung wird als Ursache für die Depression von einem ineffektiven Umgang des Betroffenen mit interpersonellen Konfl ikten, z. B. einem Ehekonflikt oder einem Konflikt mit dem Arbeitgeber, ausgegangen. Trotz nachgewiesener Wirksamkeit im Zuge einer Vielzahl von Evaluationsstudien (auch im Vergleich zu psychopharmakologischer Therapie) hat die IPT zwar im deutschen Sprachraum durchaus Bekanntheitsgrad erreicht, sie konnte sich jedoch in Österreich vielleicht gerade wegen ihrer schulenunabhängigen Konzeption nicht als eigenständige Therapierichtung etablieren (Schramm, 2009).
9
Effektivität von Psychotherapie
Das Ausmaß psychotherapeutischer Behandlungseffekte wird häufig durch eine standardisierte Größe, die sog. Effektstärke, ausgedrückt. Effektstärken von 0,2 indizieren einen kleinen, von 0,5 einen mittleren und von 0,8 einen starken Effekt. In einer Metaanalyse, in welcher annähernd 900 Therapiestudien aufgearbeitet wurden, weisen Grawe et al. (1995) nach, dass die großen Therapierichtungen wie die psychoanalytischen, die personenzentrierten, die verhaltenstherapeutischen und die systemischen Behandlungsmethoden durchschnittliche Effektstärken von 1,21 zeigen. Diese gehen somit sehr deutlich über das Ausmaß spontaner Remission hinaus, denn die mittlere Effektstärke von entsprechenden Kontrollgruppen beträgt lediglich 0,10. Somit besteht kein Zweifel an der Wirkung von Psychotherapie. Zentraler, genereller Wirkfaktor jeder Therapie ist die Therapeut-Patient-Beziehung. Ihr wird ein enormer Stellenwert für den therapeutischen Erfolg zugeordnet. Insofern ist die Herstellung und Aufrechterhaltung einer guten Therapiebeziehung einer der wichtigsten spezifischen Beiträge des Therapeuten zum Therapieerfolg. Erst auf der Basis der Beziehung können jene
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Faktoren positiv wirken, welche die erwünschten therapeutischen Veränderungen herbeiführen sollen, wie etwa die schulspezifischen Techniken. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Techniken der einzelnen Therapieformen wirken sich jedoch bei unterschiedlichen Patienten sehr unterschiedlich aus. So profitieren Patienten mit ausgeprägten Autonomiebedürfnissen z. B. besonders gut von personenzentrierter Psychotherapie, anlehnungsbedürftige und submissive Patienten jedoch eher von verhaltenstherapeutischen Interventionen. Auch depressiven und angstbesetzten Patienten ist mit verhaltenstherapeutischen Interventionen mehr genützt als mit psychoanalytischen Ansätzen. Letztere wiederum sind besonders bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sinnvoll, für Borderline-Patienten speziell ist die dialektisch-behaviorale Therapie eindeutig die Methode der Wahl. Vor dem Hintergrund seiner Studienergebnisse sieht Grawe die Zukunft der Psychotherapie in einer „Allgemeinen Psychotherapie“, die auf folgenden drei Dimensionen basiert: der Beziehungsperspektive, der Problemperspektive und der Klärungsperspektive. Therapeuten, die im Sinne einer Allgemeinen Psychotherapie arbeiten, müssen in der Lage sein 1. einen auf den jeweiligen Patienten spezifisch zugeschnittenen zwischenmenschlichen Rahmen für die Therapie herzustellen und diesen mit dem eigenen Beziehungsverhalten kontinuierlich zu gestalten (Beziehungsperspektive), 2. bei den verschiedenartigsten Problemen aktive Hilfe zur Problembewältigung zu geben (Problembewältigungsperspektive), und 3. einen Klärungsprozess bezüglich Motiven, Werten und Zielen, die das Handeln des Patienten bestimmen, mit hilfreichen Interventionen zu unterstützen (Klärungsperspektive). Mit einer „Allgemeinen Psychotherapie“ wird somit ein neuer theoretischer Ansatz geprägt, in den einerseits die Erfahrungen der traditionellen therapeutischen Richtungen einfließen, der sich aber andererseits eindeutig von der bislang üblichen schulspezifischen „Aufsplitterung“ löst.
10
Psychotherapie und Neurowissenschaften
Wie schon im Abschnitt 3.1 „Verhaltensmedizin“ (S. 448) erwähnt, lassen sich mittels peripher-physiologischer Verfahren psychotherapeutische Effekte auch auf endokrinologische und neuroimmunologische Parameter nachweisen. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der dominierenden Neurowissenschaften tritt in der Psychotherapieforschung die Suche nach hirnorganischen Korrelaten von psychotherapeutischen Behandlungseffekten sehr in den Vordergrund. Einen hohen Stellenwert nehmen dabei funktionelle Bildgebungsstudien ein: Wiederholt konnte gezeigt werden, dass Psychotherapie zu einer Normalisierung der Hirnaktivität bei Patienten mit psychischen Störungen führt (Rief, Exner und Martin, 2006; Brand und Markowitsch, 2006). Publikationen wie die von Drevets (2000) beweisen, dass im Kontext einer Psychotherapie nicht nur eine Linderung der depressiven Symptomatik, sondern auch funktionelle Hirnänderungen beobachtbar sind. Auch Schauer et al. (2006) kamen zu ähnlichen 457
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Ergebnissen: Messungen der Hirnaktivität von Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen näherten sich nach psychotherapeutischen Interventionen denen einer Normstichprobe an. Entsprechende Ergebnisse liegen bei Angstpatienten während Angstexpositionsverfahren oder bei Patienten mit Essstörungen vor. Insofern eröffnen die neurowissenschaft lichen Disziplinen der Psychotherapie einen hoch spannenden Zugang zum Verständnis psychischer Störungen und deren Behandlung; gleichzeitig hat sich die Vorsilbe „Neuro“ inflationär ausgeweitet, entsprechende Begriffe sind Neuropsychotherapie (Grawe, 2004) oder auch Neuro-Psychoanalyse (Kaplan-Solms und Solms, 2007). Der Brückenschlag zwischen den Neurowissenschaft en und der Psychotherapie ist innovativ, menschliches Erleben und Verhalten soll jedoch nicht auf eine neurobiologische Perspektive reduziert und dabei psychologische, soziale und kulturgeschichtliche Zusammenhänge übersehen werden.
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Anhang Anerkannte psychotherapeutische Methoden in Österreich • • • • • • • • • • • •
Analytische Psychologie Autogene Psychotherapie Daseinsanalyse Dynamische Gruppenpsychotherapie Existenzanalyse Existenzanalyse und Logotherapie Integrative Gestalttherapie Gruppenpsychoanalyse Gestalttheoretische Psychotherapie Hypnosepsychotherapie Individualpsychologie Integrative Therapie
• • • • • • • •
Katathym Imaginative Psychotherapie Klientenzentrierte Psychotherapie Konzentrative Bewegungstherapie Personenzentrierte Psychotherapie Psychoanalyse Psychodrama Systemische Familientherapie Transaktionsanalytische Psychotherapie • Verhaltenstherapie • Neuro-Linguistische Psychotherapie
Anerkannte psychotherapeutische Methoden in Deutschland • Psychoanalytisch begründete Verfahren – Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (wie z.B. dynamische Psychotherapie) – Analytische Psychotherapie
• Verhaltenstherapie mit verschiedenen Schwerpunkten • Gesprächspsychotherapie (keine kassenärztliche Kostenübernahme) • Autogenes Training, progessive Muskelentspannung und Hypnose (werden kassenärztlich übernommen)
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Weiterführende Literatur Beck AT, Rush AJ, Shaw BF, Emery G (2001) Kognitive Therapie der Depression. Beltz, Hamburg Beck JS (1999) Praxis der Kognitiven Therapie. Beltz, Weinheim Birk L (1973) Biofeedback: Behavioral medicine. Grune & Stratton, New York Brand M, Markowitsch HJ (2006) Hirnforschung und Psychotherapie. Psychotherapie Forum 14: 136–140 Datler W, Stephenson T (1996) Tiefenpsychologische Ansätze in der Psychotherapie: Eine Einführung. In: Ahlers C, Brandl-Nebehay A, Datler W et al (Hrsg). Einführung in die Psychotherapie. Facultas, Wien, pp80-144 Dieter W (2001) Die Katathym Imaginative Psychotherapie – eine tiefenpsychologische Behandlungsmethode. Imagination 23/3. Facultas, Wien
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Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2005) Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Junfermann, Paderborn
460
Kapitel 15
Sozialpsychiatrie Wulf Rössler
1
Einleitung
Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit den sozialen Einflussfaktoren auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen sowie mit der langfristigen Betreuung und Behandlung chronischer und schwerer psychischer Erkrankungen. Schon die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts vermutete schädliche Einflüsse des sozialen Lebensfelds auf die Entstehung und den Verlauf seelischer Erkrankungen. Menschen mit „verwirrten Sinnen“ und „entordneter Vernunft“ sollten aus dem vermeintlich pathogenen Milieu ihres Lebensfelds herausgenommen werden, um in dem idealen Milieu einer psychiatrischen Anstalt, die „verlorene Ordnung ihres Lebens und ihres Geistes“ wiederzufinden. Obwohl also bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine intensive Debatte über soziale Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen und die daraus abzuleitenden Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen in Gang gekommen waren, gab es noch nicht den dazugehörigen Begriff „Soziale Psychiatrie“ oder „Sozialpsychiatrie“. Der Begriff „Soziale Psychiatrie“ mit eigenständigen Inhalten entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Priebe und Schmiedebach, 1997). Außerhalb des engeren Feldes der Psychiatrie gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl von Ärzten, welche unter dem Stichwort „Soziale Medizin“ die Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung auf die Gesundheit intensiv diskutierten. In der weiteren Entwicklung wurde der Begriff „Soziale Medizin“ durch den Begriff der „Sozialen Hygiene“ ersetzt. „Soziale Hygiene“ beschäft ige sich mit den Wechselwirkungen häufig vorkommender Krankheitsbilder wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Krebskrankheiten und sozialen Lebensverhältnissen als begünstigende, vermittelnde oder beeinflussende Faktoren. Der Begriff „sozial“ erhielt zu dieser Zeit zwei auch noch heute gültige Konnotationen, und zwar einerseits im Sinne eines humanitären Ansatzes und einer ethischen Verpflichtung, andererseits im Sinne sozio-ökonomischer Lebensbedingungen. Es war vor allem das zweite Bedeutungsfeld, also die sozio-ökonomischen Lebensbedingungen, auf die sich die neu aufkommende „Soziale Psychiatrie“ mit vorwiegend ambulanten sozialpsychiatrischen Betreuungskonzepten Anfang des 20. Jahrhunderts richtete (s. unten). Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass viele Psychiater der damaligen Zeit unter dem Begriff „Soziale Psychiatrie“ vorwiegend ihre rassenhygienischen Vorstellungen thematisierten. Ihre sozialpsychiatrischen Vorstellungen richteten sich auf soziale Kontrolle und Selektion der „schwer degenerierten Geisteskranken, Idioten und Epileptiker“. Die praktischen Maßnahmen, die damit verbunden waren, waren Eheverbot und Ehe-Erschwerung, Sterilisation, Kastration und Euthanasie. Die ent461
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setzlichen Folgen der Rassenhygiene sind weithin bekannt. So ermordeten die Nationalsozialisten ca. 260.000 psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren, und begründeten dies mit der Notwendigkeit der Rassenhygiene. Während also in Deutschland die soziale Psychiatrie mehr und mehr unter den Einfluss der Erbbiologie und der Rassenhygiene geriet, nahm die Entwicklung der „Social Psychiatry“ in den USA einen anderen Weg. Vor allem war die amerikanische Entwicklung sehr viel mehr mit einer wissenschaft lichen Profi lierung verknüpft, die sozialwissenschaft liche, soziologische und kulturanthropologische Konzepte miteinander zu integrieren versuchte. Es ist offensichtlich, dass in den deutschsprachigen Ländern als Folge der Untaten der Nationalsozialisten der Begriff „Soziale Psychiatrie“ nach dem 2. Weltkrieg desavouiert war. Allerdings waren aber die damit verknüpften Versorgungsvorstellungen keineswegs hinfällig. In der Nachkriegszeit standen deshalb in deutschsprachigen Ländern ersatzweise die Begriffe der Resozialisierung und Rehabilitation im Vordergrund. Erst in den 60er Jahren mit dem Aufkommen der Bestrebungen, die veralteten psychiatrischen Versorgungsstrukturen zu reformieren, wurde der Begriff reaktiviert. Aber in Abgrenzung zu dem desavouierten Begriff „Soziale Psychiatrie“ wurde vorwiegend der Begriff „Sozialpsychiatrie“ verwendet. In den deutschsprachigen Ländern ist es aber im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum auch in den letzten Jahrzehnten fast nicht gelungen, Sozialpsychiatrie als wissenschaft liche Disziplin zu etablieren. Die Zahl der wenigen Lehrstühle für Sozialpsychiatrie im deutschsprachigen Raum ist deshalb weiterhin rückläufig, während im angloamerikanischen Sprachraum an allen Universitäten „Social Psychiatry“ ein weithin akzeptierter Pfeiler der akademischen Psychiatrie ist. Die Sozialpsychiatrie hat sich weltweit über die Auseinandersetzung mit praktischen Versorgungsfragen hinaus zu einer breit gefächerten Disziplin mit vielfältigen Arbeits- und Forschungsfeldern entwickelt. Neben der klassischen Versorgungsforschung, die sich mit der Entwicklung und Bewertung von Versorgungsinstitutionen beschäft igt, ist die Ursachen- und Verlaufsforschung ebenfalls zu einem wichtigen Arbeitsgebiet der Sozialpsychiatrie geworden. Ausgangspunkt vieler sozialpsychiatrischer Forschungsfelder ist vor allem die psychiatrische Epidemiologie. Sie beschäftigt sich nicht nur damit, Art und Häufigkeit psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung zu erfassen, sondern versucht, soziale Einflussfaktoren sowohl auf die Entstehung wie auf den Verlauf psychischer Störungen zu identifizieren. Die sozialpsychiatrische Forschung ist aufgrund der Komplexität des Forschungsfeldes zwangsläufig multidisziplinär. In Analogie zur biologisch orientierten psychiatrischen Forschung, die neben Medizinern und Biologen, Chemiker und Pharmakologen beschäftigt, benötigt die sozialpsychiatrische Forschung Sozialwissenschaftler, insbesondere Psychologen und Soziologen, wie auch Biometriker, die die komplexen sozialen Verhältnisse mittels moderner statistischer Verfahren abbilden helfen.
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2
Art und Umfang psychischer Störungen
Eine kürzliche Übersicht über 27 Studien, die sich mit Art und Umfang psychischer Störungen in Europa beschäft igen, hat gezeigt, dass psychische Störungen von enormer gesamtgesellschaft licher Bedeutung sind. Wir können davon ausgehen, dass in Europa im Verlauf eines Jahres rund 27 % der Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren unter einer diagnostizierbar psychischen Störung leiden. 68 % dieser Fälle wiesen nur eine Diagnose auf, 18 % jedoch zwei und 14 % drei oder mehrere psychiatrische Diagnosen. In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass fast 83 Mio. Menschen pro Jahr in Europa unter einer oder mehreren psychischen Störungen leiden. Die größten Anteile betreffen Menschen mit Depressionen und spezifischen Phobien, mit 18,4 resp. 18,5 Mio. Menschen. Eine Alkoholabhängigkeit besteht bei 7,2 Mio. Menschen, während eine Abhängigkeit von illegalen Substanzen bei 2 Mio. Menschen vorliegt. Unter besonders schwerwiegenden Erkrankungen wie einer psychotischen Störung leiden ca. 3,7 Mio. Menschen (Wittchen und Jacobi 2005). Die Mehrheit der analysierten Studien konnte zeigen, dass nahezu alle psychischen Störungen mit einem substanziellen Grad an Behinderung und einer erheblichen Reduktion von Lebensqualität verbunden sind, sowie dass die Behinderung resp. die reduzierte Lebensqualität bei Komorbidität mehrerer psychischer Erkrankungen zunimmt. Außerdem sind viele psychische Störungen mit einem erhöhten Sterberisiko verknüpft. Auch sind die meisten psychischen Störungen mit einer erheblichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit verbunden. Gemessen an den verlorenen Arbeitstagen weisen Menschen mit psychischer Störung 3-mal mehr Abwesenheitstage als Menschen ohne psychische Störung (aber anderen Erkrankungen) auf. Nicht zuletzt muss man sich die enormen Belastungen für Angehörige vergegenwärtigen. Neben dem emotionalen Stress der zeitlichen und finanziellen Belastung, der Zurückstellung eigener Interessen, der Störungen eines normalen Familienlebens sind Angehörige selbst beträchtlichen somatischen und psychischen Gesundheitsrisiken mit der Folge einer erhöhten Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt (Rössler et al. 2005). In einer eigenen Studie hat sich vor allem die gestörte Beziehung zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen als Belastungsfaktor erwiesen (Lauber et al. 2003). Es ist mittlerweile klar, dass nur ein Bruchteil aller von einer psychischen Störung betroffenen Menschen psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfährt. Ebenso wissen wir aus einer Analyse von Bijl et al. (2003), dass je nach Diagnose nur zwischen 13 und 20 % aller Betroffenen mit einer psychischen Störung irgendeine Art der Behandlung während der letzten 12 Monate erhalten haben. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass die Behandlungsraten stark korrelieren mit der Schwere der Erkrankung. Die Behandlungsraten sind jedoch nur eingeschränkt gesamteuropäisch zu betrachten, insofern als natürlich das Gesundheits- und Versorgungssystem die Rate der Behandlung wegen psychischer Erkrankung wesentlich mitbeeinflusst. In den Niederlanden wird z. B. der Großteil der Betroffenen im Rahmen der primärärztlichen Versorgung betreut (74 %), und 48,5 % erhalten spezialisierte Behandlung, wohingegen sich in Deutschland 70 % in spezialisierter Behandlung befinden und nur 39 % in hausärztlicher Behandlung (Bijl et al. 2003).
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3
Der Einfluss sozialer Faktoren – Entstehung und Verlauf psychischer Störungen
Es gibt wohl keine andere psychische Erkrankung, die mehr Forschungsaktivitäten seit ihrer „Entdeckung“ vor mehr als 100 Jahren stimuliert hat als die Schizophrenie. Trotzdem besteht das Rätsel Schizophrenie weiter. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass kein einzelner Faktor hinreicht, um die Krankheit auszulösen bzw. um den Verlauf der Krankheit zu modifizieren. Die Schizophrenie ist damit zu einem Forschungsparadigma für komplexe psychische Erkrankungen geworden. Anhand dieses Krankheitsbildes soll nachfolgend kurz der sozialpsychiatrische Kenntnisstand über die Auslösung und den Verlauf einer psychischen Erkrankung paradigmatisch dargestellt werden. Ein Argument, das bisher gegen einen signifikanten Einfluss von Umweltfaktoren auf die Auslösung einer Schizophrenie gesprochen hat, scheint überholt zu sein, nämlich die geringe geografische Variation im Hinblick auf das Erkrankungsrisiko der Schizophrenie. Eine Übersichtsarbeit (McGrath 2005) konnte eine beträchtliche Variationsbreite der Schizophrenie-Inzidenz zwischen 7,7 und 43,0 pro 100.000 Einwohnern der Bevölkerung über verschiedene Studien hinweg aufzeigen. Wenngleich ein Anteil dieser Variation immer noch auf unterschiedliche Messmethoden zurückzuführen ist, bestehen kaum noch Zweifel, dass unterschiedliche Lebensbedingungen zu dieser Varianz des Erkrankungsrisikos beitragen.
3.1
Kulturelle Einflüsse
Der Einfluss der Umwelt auf das Erkrankungsrisiko wird z. B. durch verschiedene Migrationsstudien gestützt. So weisen eine Reihe von Studien eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gut dokumentierte erhöhte Inzidenzrate für eine schizophrene Erkrankung von Immigranten auf, z. B. von Immigranten aus Trinidad und Jamaika in Großbritannien (z. B. Davies et al., 1995). Der gewichtigste und seit vielen Jahren erhobene Einwand gegen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in einer fremden und potenziell feindlichen Umgebung ist, dass Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung die Migration steuern, d. h., dass z. B. prämorbid belastete oder psychisch auff ällige Menschen eher bereit sind, auszuwandern: Dies ist wiederum mit einem erheblichen Krankheitsrisiko für ihre Nachfahren verbunden. In zahlreichen neueren englischen epidemiologischen Untersuchungen (Übersicht bei Fearon und Morgan 2006) findet sich trotz erhöhten Krankheitsrisikos für Immigranten aus Trinidad und Jamaika der 2. Generation kein erhöhtes Erkrankungsrisiko in der Ursprungsbevölkerung. Die Ergebnisse sind inzwischen so robust, dass für diese Bevölkerungsgruppe in Großbritannien die Umwelt einen gesicherten Risikofaktor darstellt. Auch für andere Immigrantengruppen gibt es inzwischen gute Belege, dass die Umwelt ein Risikofaktor für das Erkrankungsrisiko ist. Wenn wir uns fragen, welche ungünstigen Lebensbedingungen genau denn das Erkrankungsrisiko von Migranten erhöhen, ist die Datenlage noch nicht überwältigend. Es gibt einzelne Studien, die darauf hinweisen, dass vor allem 464
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soziale Exklusion, Isolation, Arbeitslosigkeit sowie Stigmatisierung und Diskriminierung als Umweltfaktoren zu dem Erkrankungsrisiko beitragen können. Migranten sind diesen Risiken in erhöhtem Maße ausgesetzt.
3.2
Einflüsse der näheren sozialen Umwelt
In der sozialwissenschaft lichen Theorienbildung der 60er und 70er Jahre spielte der mutmaßliche Einfluss der frühkindlichen Umgebung auf das Erkrankungsrisiko eine besondere Rolle. Besondere Bekanntheit in diesem Zusammenhang erzielte die sogenannte Double-Bind-Theorie. Danach führen widersprechende Botschaften in der Kommunikation von Eltern mit ihren Kindern zwangsläufig zu „schizophrenen“ Reaktionen der betroffenen Individuen. Die Hauptschwäche dieser und ähnlicher Erklärungsansätze liegt darin, dass sie – neben einer überschießenden Theorienbildung ohne hinreichende empirische Belege – beobachtete Phänomene in den betroffenen Familien nicht nach Ursache und Folge der Erkrankung zu differenzieren vermögen. Dies erlauben hingegen prospektive Studien. Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren einige Arbeiten zu dem Thema einer frühkindlichen Belastung und einem erhöhten Psychoserisiko gegeben. So identifizierten zwei von fünf Langzeitstudien mit Risikopersonen ungünstige Familienverhältnisse als zusätzliche Risikofaktoren für den Ausbruch einer Schizophrenie (Cornblatt & Obuchowski 1997). In der Kopenhagener Risikostudie erwiesen sich neben Geburtskomplikationen instabile frühkindliche Familienverhältnisse als besonderes Risikomerkmal (Cannon et al. 1994). In der finnischen Adoptionsstudie erkrankten fast ausschließlich genetisch belastete Individuen, aber wiederum vorwiegend diejenigen, die in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen waren (Tienari et al. 1994). In den letzten Jahren gibt es auch eine wachsende Literatur, die Missbrauch in Kindheit und Jugend als Risikofaktor für den Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung gefunden haben (Janssen et al. 2004). Wenn es auch insgesamt relativ gut gesicherte Zusammenhänge zwischen Missbrauch in Kindheit und Jugend und psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter gibt, wird dieser Zusammenhang mit schizophrenen Erkrankungen noch kontrovers diskutiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es immer mehr Hinweise darauf gibt, dass mit ungünstigen Lebensbedingungen und mit Traumatisierungen in Kindheit und Jugend der Einfluss auf das Risiko an einer Schizophrenie zu erkranken zunimmt. Je mehr dieser ungünstigen Lebensumstände zusammenkommen, desto größer wird das Risiko.
4
Stigma psychischer Erkrankung
Wenn wir uns mit den sozialen Einflüssen auf Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankung auseinandersetzen, kommen wir nicht umhin, uns auch in diesem Zusammenhang mit Stigma und Diskriminierung zu beschäftigen. Wie kaum eine andere Erkrankung unterliegen psychische Erkrankungen negativem Werturteil einer
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Wulf Rössler
breiteren Öffentlichkeit. Soziale Ausgrenzung und Benachteiligung sind die häufigsten Folgen für die Betroffenen. Die Stigmatisierung psychisch Kranker hat historisch betrachtet eine lange Tradition. Bis in die vorklassische Zeit reicht die Vorstellung von psychischen Erkrankungen als eine Art Besessenheit. Im späten Mittelalter galten Armut und psychische Erkrankung als Strafe Gottes. Logischerweise wurden die, die sich schuldig gemacht hatten, als säumige Schuldner oder vom Teufel Besessene in gemeinsamen Zucht- und Tollhäusern verwahrt, wenn sie nicht die Teufelsaustreibung mit ihrem Leben bezahlen mussten. Das Zeitalter der Aufk lärung befreite die psychisch Kranken von ihren Ketten und anerkannte, dass es sich um kranke Menschen handelt. Wenngleich die Versorgung psychisch Kranker im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Irrungen und Wirrungen durchlief, fand die Verfolgung psychisch Kranker ihren traurigen Höhepunkt während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Deutschland mit Ermordung und Zwangssterilisierung hunderttausender Menschen (s. oben). Das Stigma psychischer Erkrankung ist bis heute ein brennendes Thema. In der Allgemeinbevölkerung herrscht nicht nur Unkenntnis über Art und Umfang psychischer Erkrankung vor, sondern weitverbreitet ist auch Furcht und Angst vor psychisch Kranken – allerdings mit weniger dramatischen Folgen für die Betroffenen als im Mittelalter, aber modernen Sozialstaaten nichtsdestoweniger unwürdig. Die Diskriminierung psychisch Kranker ist allgegenwärtig, sei es in der Sozialversicherung, in der Rehabilitation, eigentlich bei allen Bemühungen, psychisch Kranken ihren Platz in Gesellschaft, Beruf und Familie zu sichern. Das öffentliche Bild vom psychisch Kranken ist vor diesem Hintergrund nach wie vor von schwerwiegenden Vorurteilen geprägt. Die Öffentlichkeit ist sich bewusst, dass psychisch Kranke im gesellschaftlichen Kontext vielfach abgewertet und benachteiligt werden. Bei oberflächlicher Bereitschaft, psychisch Kranke in den Alltag zu integrieren, z. B. als Arbeitskollegen, werden diese im persönlichen Umfeld aber weitgehend abgelehnt. Die Stigmatisierung psychisch Kranker beschränkt sich allerdings nicht auf eine „unwissende“ Allgemeinheit, sondern reicht weit hinein in das Feld der professionellen Betreuung und inkludiert medizinisches und nichtmedizinisches Fachpersonal. Möglicherweise haben Betreuer, die im klinisch-institutionellen Setting verankert sind, sogar eine signifi kant schlechtere Einstellung gegenüber psychisch Kranken als ihre anderweitig engagierten Berufskollegen. Damit werden Stigmatisierung und Diskriminierung für viele der Betroffenen zu einer Art „zweiter Krankheit“, welche sie in die Isolation treibt und die ihnen vollends die möglicherweise schon durch die Krankheit selbst reduzierten Chancen zur Teilhabe am gesellschaft lichen Leben nimmt.
5
Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
Die wichtigsten in den letzten Jahrzehnten international vollzogenen Reformen der psychiatrischen Versorgung gründen auf einheitlichen Versorgungsgrundsätzen, die bereits 1950 von der Weltgesundheitsorganisation formuliert und in den folgenden Jahren präzisiert wurden (vgl. Rössler und Salize 1993). Die wichtigsten Reformzie466
Sozialpsychiatrie | 15
le finden sich auch in dem für alle deutschsprachigen Länder wichtigen Enquête-Bericht wieder (Deutscher Bundestag 1975). Die wichtigsten Reformziele haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren und lauten: 1. Aufbau eines bedarfsgerechten Versorgungssystems 2. Aufbau eines gemeindenahen Versorgungssystems 3. Koordination und Zusammenarbeit innerhalb der Versorgungssysteme 4. Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker in rechtlicher, fi nanzieller und sozialer Hinsicht
5.1
Bedarfsgerechte Versorgung
Die konkrete Versorgungsdiskussion während der ersten Reformschritte zentrierte sich vorwiegend auf die Frage, welche Einrichtungen für eine bedarfsgerechte Versorgung benötigt werden. In den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat diese institutionsbezogene Sichtweise ihr Monopol verloren. In Abgrenzung von einem institutionszentrierten Ansatz wird heute einem personenzentrierten Ansatz Vorrang eingeräumt unter der Perspektive, welche Hilfen ein Patient institutionsunabhängig benötigt. In diesem Zusammenhang wurden vier funktionale Behandlungsbereiche definiert: Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Hilfen im Bereich Wohnen und Arbeit und Hilfen zur sozialen Teilhabe und Verwirklichung materieller Rechte. Erst in einem zweiten Schritt werden diese Behandlungsbereiche bestimmten Institutionen zugeordnet.
5.2
Gemeindenahe Versorgung
Untrennbar mit einer bedarfsgerechten Versorgung ist ein gemeindenahes Versorgungssystem verbunden. Psychisch Kranke und behinderte Menschen haben einen Anspruch darauf, die ihnen zustehende Hilfe in Anspruch nehmen zu können, ohne ihre gewohnte Lebensumwelt aufgeben zu müssen. Dieses Prinzip des Lebensweltbezugs findet sich als zentrale Versorgungsleitlinie weltweit in nationalen Programmen zur Reform der psychiatrischen Versorgung. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz und Österreich. Es ist vielfach versucht worden, den Begriff „Gemeindenähe“ zu konzeptualisieren. Eine der dahinterstehenden versorgungspolitischen Leitlinien basiert auf der Bevorzugung solcher Behandlungsmethoden, die mit den wenigsten Einschränkungen für Patienten verbunden sind (Chambers 1978). In diesem Zusammenhang ist vor allem die Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen von Belang. Die Bedeutung der Entfernung zwischen Wohn- und Behandlungsort für die Inanspruchnahme stationärer Behandlungseinrichtungen wurde bereits vor 160 Jahren erkannt. Die inverse Beziehung zwischen der Entfernung vom psychiatrischen Krankenhaus und Aufnahmeraten ging als Jarvis-Gesetz 1852 in die psychiatrische Literatur ein. In dem vorgenannten
467
Wulf Rössler
Enquête-Bericht wurden Einrichtungen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb einer Stunde erreichbar oder in einer Entfernung von maximal 25 km liegen, für hinreichend gemeindenah erklärt. Verschiedene Analysen haben aber inzwischen aufzeigen können, dass sowohl für ambulante Einrichtungen als auch für stationäre Einrichtungen die Inanspruchnahmerate bereits ab einer halben Stunde Anreisezeit deutlich abnimmt. Die wachsende Kundenorientierung in der Gesundheitsversorgung macht es deshalb zunehmend erforderlich, das Inanspruchnahmeverhalten der Betroffenen in Rechnung zu stellen.
5.3
Dezentralisierung und Sektorisierung
Besondere Bedeutung bei der Umsetzung von Gemeindenähe im Sinne von Erreichbarkeit hat die Aufteilung der Versorgungsangebote auf viele klein strukturierte und leichter erreichbare Einrichtungen und Dienste erlangt (Dezentralisierung). Mit klein dimensionierten Einrichtungen und Diensten war auch die Hoffnung verknüpft, wie in einem Baukastensystem individueller auf die Versorgungsbedürfnisse der Betroffenen eingehen zu können. In der Realität der Versorgung hat aber eine solchermaßen aufgesplitterte Versorgung eine Vielzahl von Unter-, Fehl- und Doppelbetreuungen zur Folge. Auch ist zu beachten, dass klein strukturierte Einrichtungen mit einem gewissen Grad an Entspezialisierung einhergehen. Dies steht heutzutage im Widerspruch zu dem wachsenden therapeutischen Wissensstand, der zukünft ig in einem bestimmten Umfang eine Rezentralisierung der Institutionen erforderlich machen wird, um die notwendige Spezialisierung sicherzustellen. Die formalisierte Zuordnung eines bestimmten Versorgungsgebiets zu psychiatrischen Fachinstitutionen, vor allem stationären Einrichtungen, wird „Sektorisierung“ genannt. Für die psychiatrische Klinik in einem sogenannten Sektor bringt das die Versorgungsverpfl ichtung aller stationär zu Behandelnden mit sich. Diese Versorgungsverpflichtung ist aus der Vorstellung heraus entstanden, dass damit „schwierige Patienten“ nicht einfach in andere psychiatrische Kliniken weiterverwiesen werden können. Für die Patienten sollte aber selbstverständlich das Recht auf freie Krankenhauswahl erhalten bleiben.
5.4
Koordination und Zusammenarbeit
Vor dem Hintergrund der Fragmentierung der Hilfesysteme werden zusätzliche Versorgungsangebote zur Koordination erforderlich. Mit der Koordination von Angeboten verbunden ist das Konzept der Einzelfallbetreuung, das in der angelsächsischen Literatur unter dem Begriff „Case Management“ bekannt geworden ist. Unter Betonung der langfristigen therapeutischen Beziehung ist dieses Modell zum sogenannten Clinical Care Management weiterentwickelt worden. Ein anderes ähnliches Konzept ist das sogenannte „Assertive Community Treatment“ (ACT). Das ursprünglich in den 1970er-Jahren in den USA entwickelte Pro-
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gramm war darauf gerichtet, gemeindepsychiatrische Alternativen zur stationären Behandlung für Personen mit schweren Erkrankungen zu entwickeln. Für die Betroffenen wird ein umfangreiches Betreuungsprogramm durch ein multidisziplinäres Team rund um die Uhr angeboten. Das wesentliche Kernelement von ACT ist, dass die Betroffenen vorwiegend in ihrer natürlichen Umgebung betreut werden. Die wichtigsten Erfolgsfaktoren der vorgenannten Betreuungsmodelle sind: 1. Eine kleine Zahl zu betreuender Personen 2. Regelmäßige und häufige Hausbesuche 3. Integration von medizinischer und sozialer Betreuung sowie 4. Ein multidisziplinäres Team (Burns et al. 2006) Inwieweit sich mit diesen Betreuungsmodellen die Versorgung effizienter gestalten lässt, wird unterschiedlich beurteilt. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob sich dadurch stationäre Aufenthalte verhindern lassen. Hinsichtlich eines reduzierten Aufnahmerisikos in stationäre Behandlung durch Case Management halten sich negative wie positive Ergebnisse die Waage. Die Zahl positiver Ergebnisse nimmt allerdings bei Betrachtung längerer Analysezeiträume ab. Über die Tatsache hinaus, dass das Wiederaufnahmerisiko in stationäre Behandlung durch deutlich mehr Faktoren als alleine durch Case Management und Assertive Community Treatment gesteuert wird, wird der Erfolgsindikator Vermeidung stationärer Behandlung zunehmend fragwürdiger. In wachsendem Maße geraten institutionsorientierte Indikatoren wie die Wiederaufnahme zugunsten personenorientierter Indikatoren wie z. B. Lebensqualität in den Hintergrund. Für einen anderen personenorientierten Indikator, nämlich die Symptomatologie und die Funktionsfähigkeit im Alltag, gibt es nur wenig empirische Belege. Überwiegend kann gezeigt werden, dass die Auswirkungen der vorgenannten Betreuungsmodelle auf diese Parameter mäßig bis schwach sind.
5.5
Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker
Dieses Reformprinzip betrifft alle Bereiche der psychiatrischen Versorgung. Das Ziel gleichberechtigter Teilhabe psychisch Kranker am gesellschaft lichen kulturellen Leben bleibt der Zentralprüfstein des Erfolgs von Psychiatriereformen. Paradigmatisch für direkte oder indirekte Ausgrenzungsprozesse ist die Anwendung des Sozialrechts im Zusammenhang der psychiatrischen Rehabilitation. Hier ist die Benachteiligung chronisch psychisch Kranker und Behinderter gegenüber chronisch körperlich Kranken und Behinderten eklatant.
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Wulf Rössler
6
Spezielle Versorgungsprobleme
6.1
Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit ist eine der bedeutsamsten Strukturprobleme in den Volkswirtschaften des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Betroffen davon sind alle Wirtschaftssysteme, unabhängig von ihrer ökonomischen und ideologischen Ausrichtung. Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen einen fundamentalen Einschnitt in die Lebensplanung und -gestaltung, der mit einer Vielzahl sozialer und gesundheitlicher Begleit- und Folgeerscheinungen verbunden ist. Neben den Auswirkungen auf den nationalökonomischen und politischen Ebenen ist Arbeitslosigkeit somit vor allem auch ein Problem der Sozial- und Gesundheitsversorgung. Die Wirkungszusammenhänge zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit sind vielfältig. Neben der unmittelbaren fi nanziellen Notlage bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes meist auch den Verlust von mit Arbeit verbundenen immateriellen Qualitäten (Sozialstatus, den Verlust der zeitlichen und inhaltlichen Strukturierung des Alltags sowie den Verlust der durch die Arbeit vermittelten sozialen Beziehungen und Unterstützungssysteme). All diese Aspekte können – vermittelt über Lebensführung und Gesundheitsverhalten – negativ auf die physische und psychische Gesundheit einwirken. Folgende Wirkungszusammenhänge und Vermittlungsmechanismen (Häfner 1990) sind denkbar: 1. Arbeitsplatzverlust kann direkter Auslöser von Krankheit oder Suizid sein. 2. Arbeitslosigkeit stellt ein indirektes Gesundheitsrisiko als auslösender bzw. begünstigender Faktor erhöhten Konsums von Nikotin, Alkohol oder Drogen dar. 3. Soziale Verteilungsprozesse um das knappe Gut Arbeit benachteiligen längerfristig oder chronisch erkrankte Personen. Solche Gruppen können folglich unter den Erwerbslosen überrepräsentiert sein. 4. Arbeitslosigkeit begünstigt Attributionseffekte: Erwerbslosen wird von Ärzten, Angehörigen usw. bei gleicher Symptombelastung wie bei Erwerbstätigen möglicherweise früher ein Krankenstatus zugewiesen. 5. Arbeitsplatzverlust kann in entsprechenden Bereichen auch das Entfallen von arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken bedeuten. Im Einzelfall kann dies auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Diese Aufstellung macht die vielfältigen Interdependenzen zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit deutlich. Unbestritten ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen seelischen Störungen und Arbeitslosigkeit besteht. Zahlreiche Studien haben entsprechende Zusammenhänge festgestellt. Die Fragen der kausalen Verursachung und der Richtung der Wirkzusammenhänge sind jedoch Gegenstand kontroverser Diskussionen. Die Annahme monokausaler Wirkmechanismen gilt heutzutage übereinstimmend als vereinfachte Sichtweise, ohne dass dabei jedoch Konsens über allgemeingültige multifaktorielle Zusammenhangsmodelle erreicht wäre.
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Sozialpsychiatrie | 15
In jedem Fall führt aber eine chronisch psychische Erkrankung viele Betroffene in die Armut. Die schlechte wirtschaft liche Lage chronisch psychisch Kranker wird bei näherer Betrachtung ihrer Beschäftigungssituation deutlich. Ein Großteil der Betroffenen ist schon im mittleren Alter aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden. Unter diesen Personen sind insbesondere psychisch Kranke mit der Diagnose Schizophrenie überdurchschnittlich vertreten. Seit Langem wird bei dieser Patientengruppe die Tendenz zur vorzeitigen und übereilten Frühberentung beklagt.
6.2
Wohnsitzlosigkeit und psychische Störungen
Die Diskussion um die Ursache von Wohnsitzlosigkeit ist über lange Zeit hinweg überwiegend psychiatrisch geführt worden. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts postulierten psychopathologischen Ursachen von Nichtsesshaftigkeit wurden von den Nationalsozialisten zur ideologischen Legitimation der Ermordung Tausender von Wohnsitzlosen benutzt und missbraucht. In den deutschsprachigen Ländern wird das Problem der Wohnsitzlosigkeit psychisch Kranker noch nicht angemessen wahrgenommen, obwohl der Problemdruck in den letzten Jahren deutlich angewachsen ist. Die institutionellen Reformmaßnahmen im Bereich der psychiatrischen Versorgung sind in den deutschsprachigen Ländern an der Randgruppe der Wohnsitzlosen weitgehend vorbeigegangen. Auch mit der ansteigenden Arbeitslosigkeit wird sich das Problem der psychisch Kranken Wohnsitzlosen zunehmend verschärfen und vermutlich auch mehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit eindringen, insbesondere weil viele der Betroffenen dann auch in den Innenstädten sehr sichtbar werden.
Zusammenfassung Sozialpsychiatrie befasst sich mit den sozialen Einflussfaktoren auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankung sowie mit der langfristigen Betreuung und Behandlung chronischer und schwerer psychischer Erkrankungen. In den deutschsprachigen Ländern hat sich Sozialpsychiatrie vorrangig als Praxisfach etabliert, während im angloamerikanischen Sprachraum „Social Psychiatry“ ein weithin akzeptierter Pfeiler der akademischen Psychiatrie ist. Entgegen den in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten vorherrschenden Forschungsparadigmen, die die Hauptursachen psychischer Störungen in der biologischen Veranlagung der Menschen, z. B. ihrer Gene lokalisierten, gibt es in der letzten Dekade einen zunehmend stärker werdender Forschungszweig, der sich wieder mit sozialen und kulturellen Einflüssen auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen beschäft igt. So sind beispielsweise Migranten von einem erheblich erhöhten Erkrankungsrisiko bedroht. Aber auch frühkindliche Traumatisierungen spielen eine zunehmende Rolle bei der Entstehung psychischer Störungen im jungen Erwachsenenalter. Viele der Erkrankten haben nicht nur mit der Erkrankung selbst zu kämpfen, sondern
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stehen einer häufig ablehnenden Umwelt gegenüber, die ihnen die Schuld für ihre Erkrankung selbst zuweist. Trotz fortdauernder Benachteiligung psychisch Kranker in unseren Gesundheitssystemen ist es in den meisten europäischen Ländern gelungen, eine zureichende psychiatrische Gesamtversorgung zu etablieren. Die Versorgung psychisch kranker Menschen erfolgt heute überwiegend gemeindenah, das heißt im Lebensfeld der Betroffenen. Trotzdem sind nach wie vor insbesondere schwer psychisch Kranke von Ausgrenzung bedroht. Schwer psychisch Kranke haben ein erhebliches Risiko arbeitslos oder gar wohnsitzlos zu werden. Sozialpsychiatrie ist deshalb nicht nur ein Forschungsfeld, sondern eine ethische Verpflichtung für die Gleichstellung psychisch Kranker gegenüber körperlich Kranken einzutreten.
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Kapitel 16
Psychiatrische Rehabilitation Ullrich Meise, Hartmann Hinterhuber
1
Einleitung
Psychische Erkrankungen können zu Behinderungen führen, wodurch die Betroffenen in ihrer Fähigkeit, den alltäglichen Anforderungen zu entsprechen, eingeschränkt sind. Diese sozialen Auswirkungen betreffen aber nicht nur die erkrankte Person selbst, sondern auch ihre Familie und das weitere soziale Umfeld. Rehabilitative Aspekte spielen nicht nur in der Langzeitbehandlung, sondern auch in der Akutbehandlung eine Rolle. Zwischen kurativer und rehabilitativer Medizin bestehen vielfältige Wechselwirkungen und ein Kontinuum mit Überlappungen. Die klinisch-psychiatrische Behandlung und die psychiatrische Rehabilitation ergänzen sich gegenseitig. Eine entsprechende kausale oder symptomatische nebenwirkungsarme Behandlung ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Rehabilitation, die sich wiederum günstig auf den Verlauf der Erkrankung auswirkt. Deshalb ist es wichtig, dass psychiatrische Rehabilitation und klinische Psychiatrie in enger Kooperation stehen. Obwohl die Rehabilitation, was ihre Administration und Finanzierung betrifft, überwiegend dem Sozialbereich zugeordnet ist, muss sie in der Psychiatrie verankert bleiben. Der Rechtsanspruch auf Rehabilitation ist in Österreich gesetzlich festgelegt. Gemäß den sozialstaatlichen Prinzipien haben Menschen, die körperlich, geistig oder psychisch behindert sind oder denen eine solche Behinderung droht, unabhängig von den Ursachen der Behinderung ein Recht auf Hilfen, die notwendig sind, um • eine Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern, ihre Verschlimmerung zu verhüten; • eine Pflegebedürftigkeit oder soziale Einschränkungen zu vermeiden oder ihre Folgen zu mildern; • ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, um ihnen eine möglichst selbstständige Lebensführung zu ermöglichen; • ihnen einen ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz im Arbeitsleben zu sichern; • allfälligen Benachteiligungen, die aus der Behinderung erwachsen könnten, entgegenzuwirken. Die Deutsche Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (1984) beschreibt die psychiatrische Rehabilitation als „… die Gesamtheit der Bemühungen, um einen seelisch behinderten Menschen über die Akutbehandlung hinaus durch umfassende Maßnahmen auf medizinischem, schulischem, beruflichem und allgemeinsozialem Gebiet in die Lage zu versetzen, eine Lebensform und Lebensstellung, die ihm entspricht und
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seiner würdig ist, im Alltag, in der Gemeinschaft und im Beruf zu fi nden bzw. wiederzuerlangen.“ Die psychiatrische Rehabilitation kann nach Einzelbereichen in eine medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation unterteilt werden. In der Praxis ist es zumeist erforderlich, diese Rehabilitationsbereiche gemeinsam zu verfolgen. Die Rehabilitation soll Menschen mit anhaltenden und schwerwiegenden psychischen Erkrankungen ermöglichen, jene sozialen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln, die sie benötigen, um mit dem geringsten Ausmaß an professioneller Unterstützung ein möglichst normales Leben in der Gemeinschaft führen zu können. Sie soll dazu beitragen, die Lebensqualität von Betroffenen, aber auch jene ihrer Angehörigen zu verbessern und sie darin zu unterstützen, für ihr Leben als selbstbestimmte und aktive Menschen (wieder) Verantwortung zu übernehmen, damit sie gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilnehmen können. Die heutige Sichtweise von Rehabilitation hebt die positiven Entwicklungspotenziale von Menschen mit psychischer Behinderung hervor; ein Aspekt, der in der Vergangenheit zu wenig beachtet wurde. In der Anfangsphase konzentrierten sich die Planungen der psychiatrischen Rehabilitation auf die Schaff ung von unterschiedlichen Typen von Einrichtungen. Ihr Ansatz war somit institutionszentriert. Rehabilitation wurde zudem als ein umfassender Prozess angesehen, in dem ein psychisch behinderter Mensch, unterstützt durch fachgerechte Anleitung, lernen sollte, seine Behinderung zu beheben oder sie durch Entfaltung verbliebener Fähigkeiten soweit als möglich auszugleichen. Ziel war es, auch bei einer allfällig fortbestehenden Beeinträchtigung, wieder einen Platz in der Gesellschaft und – wenn möglich – im Arbeitsleben einnehmen zu können. Diese Sicht forderte, dass ein Mensch mit psychischer Behinderung nach Beendigung eines zeitlich begrenzten Lernprozesses wieder in die Gesellschaft integriert wird. Dieses Konzept fand auch Eingang in die Sozialgesetzgebung: Auch heute noch bauen manche Rehabilitationsprogramme auf diesem auf. Im Unterschied zu diesem auf einen Lernprozess fokussierten Rehabilitationsansatz mit seiner Forderung nach Anpassung, folgt das Konzept von Bennet (1978) einem anderen Leitbild: Rehabilitation wird als ein Prozess des Helfens angesehen, wodurch es einer psychisch behinderten Person ermöglicht werden sollte, von seinen Fertigkeiten den besten Gebrauch zu machen, um auf dem bestmöglichen Niveau in seinem gewohnten sozialen Kontext leben zu können. Demnach sollte Rehabilitation einen offenen Prozess bieten, dessen Hilfen sich am objektiven Bedarf und den individuellen Bedürfnissen des Betroffenen ausrichten. Es ist Aufgabe der Rehabilitation, den sozialen Kontext für ein Leben in der Gesellschaft zu schaffen und Hilfen so lange anzubieten, wie sie der Betroffene benötigt. Damit ist jeder Mensch mit einer psychischen Behinderung rehabilitationsfähig. Nach dem alten Konzept, das die Lernfähigkeit in den Vordergrund stellte, bestand die Gefahr, dass nur eine kleine Gruppe von Patienten, die zumeist eine gute Prognose aufweist, als rehabilitationsfähig erachtet wird.
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Eine auf Hilfen gründende Konzeptualisierung der rehabilitativen Praxis in der Psychiatrie findet nach Michael von Cranach (2007) in folgenden Thesen ihren Niederschlag. Psychiatrische Rehabilitation • muss gemeindenahe und gleichsam „in vivo“, d. h. im realen sozialen Umfeld des Patienten stattfinden; • muss das soziale Umfeld an die Behinderung anpassen; dies ist ein weiteres Argument dafür, dass sie gemeindenahe erfolgen muss; • muss hinsichtlich ihrer Anforderungen und Angebote abgestuft sein und sollte es jedem Behinderten ermöglichen, auf jeder Anforderungsstufe verweilen zu können; • ist kein zeitlich umschriebener und begrenzter Lernvorgang, sondern häufig ein langwieriger komplexer Prozess; • und psychiatrische Behandlung müssen miteinander eng und flexibel verzahnt sein; • ist nicht nur dann sinnvoll, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit der Wiedereingliederung zu erwarten ist.
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2
Die ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health
Eine gute Grundlage für das Verständnis von Prävention, Behandlung und Rehabilitation in der Psychiatrie bietet die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), die 2001 von der WHO entwickelt wurde. Gesundheitsproblem (psychische Störung)
Funktionen und Strukturen Störungen von z. B. – Bewusstsein – Orientierung – Aufmerksamkeit – Gedächtnis – formalem Denken – inhaltlichem Denken – Wahrnehmung – Ich-Funktionen – Affektivität – Antrieb – Psychomotorik
Aktivitäten
Partizipation
Störungen in Bereichen z. B. – der Kommunikation und interpersonellen Aktivitäten (Aufnahme und Pflege sozialer Kontake) – der Strukturierung des Tagesablaufs – des täglichen Lebens (Selbversorgung) – von Arbeit und Schule – der Nutzung medizinischer, sozialer, kultureller Angebote
Störungen der Teilhabe z. B. – an sozialen Beziehungen (Familie, Freunde, Bekannte) – an Ausbildung – an Arbeit – an Wohnen und Unterkunft – an Erholung, Freizeit, Kultur – am sozialen Leben
Persönliche und umweltbedingte Kontextfaktoren (als Förderfaktoren oder Barrieren)
Zum Beispiel: – sozialer Hintergrund – Persönlichkeit – Lebensstil/Coping – Bildung/Ausbildung – Motivation
Abb. 1
Zum Beispiel: – Qualität der psychiatrischen und sozialen Versorgung – Beziehungen und Unterstützungen (Familie, …) – materielle/sozialrechtliche Voraussetzungen – Einstellungen (Stigma, Diskriminierung)
ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health), WHO 2001
In der Medizin gewinnen die Krankheitsfolgen für die Behandlung zunehmend an Bedeutung. Die sozialen und beruflichen Auswirkungen von Erkrankungen werden als entscheidend erachtet, wie eine Behandlung oder auch die Schwere einer Krank476
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heit beurteilt wird. Während akute Erkrankungen in der Regel zeitlich begrenzt sind und zumeist nur zu vorübergehenden Aktivitäts- und Partizipationsstörungen führen, gehen chronische oder rezidivierende Erkrankungen mit Folgen einher, die auch nach Abklingen der akuten Symptomatik weiter bestehen bleiben können. Diese beeinträchtigen das soziale Funktionsniveau, wodurch Betroffene den Anforderungen des täglichen Lebens nur mehr eingeschränkt oder nicht mehr gewachsen sind. Kurative Medizin und Rehabilitationsmedizin unterscheiden sich in ihrer Sichtweise. Mit der ICD-10 können Erkrankungen nach syndromalen und nosologischen Gesichtspunkten klassifiziert, jedoch nicht die Krankheitsfolgen erfasst werden. Aus diesem Grund hat die Weltgesundheitsorganisation bereits 1980 die „Internationale Klassifikation der Schädigung, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH)“ eingeführt. Diese baute auf einem Konzept auf, das drei Ebenen unterscheidet: • Schädigung biologischer und/oder psychischer Strukturen und Funktionen (Impairment); • Fähigkeitsstörungen (Disability); • Soziale Beeinträchtigungen (Handicap). Im Jahre 2001 wurde die ICIDH durch die ICF abgelöst. In ihr wurden die negativen Beschreibungen wie „Schädigung“, „Fähigkeitsstörung“ oder „Handicap“ durch die neutralen Begriffe „Funktionen“, „Aktivitäten“ und „Partizipation“ ersetzt. Zusätzlich beinhaltet diese Weiterentwicklung auch einen Abschnitt über die „Kontextfaktoren“ als Teil der Klassifi kation. Die ICF dient der Beschreibung des Gesundheitszustandes eines Menschen gemäß einer um das soziale Netz erweiterten „psychosomatischen Sicht“ (biopsychosoziales Konzept) und erfasst allfällige Beeinträchtigungen in den Bereichen der • Körperfunktionen und -strukturen, • Tätigkeiten (Aktivitäten) jeglicher Art, • Teilhabe (Partizipation) an Lebensbereichen und • umweltbedingten und persönlichen Kontextfaktoren. In der ICIDH wurde angenommen, dass sich eine Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit unidirektional und kausal von der Schädigung zu Fähigkeitsstörungen und in der Folge zu sozialen Beeinträchtigungen entwickelt. Die ICF verfolgt hingegen, hinsichtlich der Entwicklung von psychischer Behinderung, ein komplexes Interdependenzmodell, wobei vielfältige sich im Zeitverlauf ändernde Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsproblemen, Aktivitäten, Teilhabe und Kontextbedingungen bestehen. Sie sieht somit die „funktionale Gesundheit“ als Ergebnis der Interaktion von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen und positiven Ressourcen des Betroffenen sowie fördernden oder hemmenden Faktoren der sozialen Umwelt. Als Grundlage für die psychiatrische Rehabilitation führt sie vom medizinischen Krankheitsmodell, das seinen Fokus auf die Symptomatologie richtet, hin zu einem Krankheitsmodell, das die funktionellen Einschränkungen von Erkrankten in den Mittelpunkt stellt. In Ergänzung zur Beschreibung von Erkrankungen auf Symptomebene (ICD) ermöglicht die ICF systematisch eine Beschreibung auf dem Niveau von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. ICF und ICD ergänzen einander durch ihre unterschied liche Schwerpunktsetzung. 477
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2.1
Funktionale Gesundheit
Ein wesentliches Element der ICF ist der Begriff der „Funktionalen Gesundheit“. Ihre Wiederherstellung ist Gegenstand der Rehabilitations- und Sozialmedizin: Im Falle von psychischen Erkrankungen ist dies das Anliegen der Sozialpsychiatrie. Eine Person gilt dann als „funktional gesund“, wenn unter Berücksichtigung ihres gesamten Lebenshintergrundes • ihre körperlichen und psychischen Funktionen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen); • sie das leisten und tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten) und • sie zu allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, Zugang hat und sich in der Art und Weise entfalten kann, die einem Menschen ohne Beeinträchtigung möglich ist (Konzept der Partizipation). Die WHO spricht in diesem Zusammenhang auch von Funktionsfähigkeit eines Menschen („functioning“). Es ist jedoch zu bedenken, dass dieses Modell von Gesundheit auf einem Normalitätskonzept basiert. Wird es als normative Forderung rigoros oder unkritisch übernommen, könnten daraus den von einer Störung betroffenen Personen auch Nachteile erwachsen. Grundsätzlich erfährt jedoch durch diese Definition die biomedizinische Betrachtungsweise eine Erweiterung ihres Blickfeldes.
2.2
Konzept der Kontextfaktoren
In der ICF werden alle jene Gegebenheiten, welche den Lebenshintergrund einer Person kennzeichnen, als Kontextfaktoren bezeichnet. Sie setzen sich aus den Umfeldfaktoren und den personenbezogenen (oder persönlichen) Faktoren zusammen. Letztere dürfen jedoch nicht Teil des bestehenden Gesundheitsproblems sein, wie beispielsweise der vorübergehende mangelnde Handlungswille aufgrund einer Depression. Durch die Berücksichtigung des Kontextes kann beurteilt werden, welche dieser Bedingungen sich als Förderfaktoren positiv und welche sich als Barrieren negativ auf die soziale Teilhabe auswirken. Die persönlichen Faktoren, die sich auf die funktionelle Gesundheit einer Person positiv auswirken, werden auch als Ressourcen bezeichnet. Rehabilitationsziele sind infolgedessen: • die Förderung von Motivation; • die Veränderung des Lebensstiles; • die Vermeidung von Risikofaktoren; • die Anleitung zur Stressbewältigung oder • die Planung von Veränderungen im häuslichen oder beruflichen Umfeld.
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2.3
Konzept der Aktivitäten und Teilhabe
Das „Konzept der Aktivitäten und Teilhabe“ bezieht sich auf den Einzelnen als handelndes Subjekt und berücksichtigt seine Entfaltung in Gesellschaft und Umwelt. Nach der Handlungstheorie von Nordenfelt müssen drei Bedingungen vorliegen, damit dieser aus freien Stücken Aktivitäten durchführen kann: • die Leistungsfähigkeit, die im entsprechenden Ausmaß vorhanden sein muss, um entsprechende Handlungen setzen zu können; • die Gelegenheit, worunter die äußeren Umstände zu verstehen sind, die es einer Person ermöglichen ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend handeln zu können und • der Wille der betroffenen Person, bei entsprechender Leistungsfähigkeit diese auch erbringen zu wollen. Rehabilitationsziele bezogen auf die Aktivitäten können sein: die Verbesserung der sozialen Wahrnehmung sowie der kommunikativen Fertigkeiten, der Aufbau von sozialen Kompetenzen, die Verbesserung von Beziehungsfähigkeit und Beziehungsgestaltung, der Erwerb von Strategien Probleme zu lösen, die Förderung kognitiver Fertigkeiten, die Aktivierung oder die Krankheits- und Stressbewältigung. Mit dem Konzept der Teilhabe werden zwei Gesichtspunkte berücksichtigt: Der erste bezieht sich auf die Menschenrechte (Antidiskriminierungsgebot), wodurch sicherzustellen ist, dass ein gleichberechtigter Zugang zu den üblichen Lebensbereichen sowie eine unabhängige und selbst gewählte Lebensführung möglich sind. Der zweite Aspekt beurteilt die subjektive Wahrnehmung und geht Fragen nach, wie der Zufriedenheit mit den jeweiligen Lebensbereichen oder der Beurteilung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Auch wird beurteilt, welches Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung die Betroffenen erfahren. Rehabilitationsziele sind u. a. der Erhalt und die Verbesserung der sozialen Integration, die wirtschaft liche Unabhängigkeit oder die Verbesserung der Mobilität. Mit der heute vorliegenden Form der ICF können keine funktionalen Diagnosen gestellt werden, obwohl sie auf mehreren Ebenen funktionale Befunde erhebt. Sie kann jedoch zur Entwicklung entsprechender Beurteilungsinstrumente beitragen. Die ICF hat den Vorteil, dass sie das rehabilitationsorientierte Denken systematisiert und dem therapeutischen Handeln neue Perspektiven eröffnet. Sie dient heute schon als informeller Leitfaden für die Rehabilitationsplanung und fand bereits Eingang in die deutsche Sozialgesetzgebung für die psychiatrische Rehabilitation. Im Sinne einer optimalen Rehabilitationsplanung können mit der ICF Beeinträchtigungen und Ressourcen erfasst, Behandlungsziele definiert sowie Interventionen formuliert werden. Die ICF leitete einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Krankheit und Gesundheit ein: Statt sich auf die Beschreibung von Symptomen oder Defiziten zu beschränken, beschreibt sie Erkrankungszustände im Hinblick auf die konkrete Person mit all ihren Ressourcen und psychosozialen Bezügen. Sie erweitert den Rehabilitationsbegriff um den Aspekt der „funktionalen Gesundheit“.
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3
Zielgruppe für die psychiatrische Rehabilitation
Zielgruppe für eine psychiatrische Rehabilitation sind Menschen, die eine schwere oder anhaltende psychische Störung (nach ICD 10 – Kapitel F) aufweisen, welche mit längerfristigen sozialen Einschränkungen und somit einer Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit einhergeht.
3.1
Psychische Behinderung
Die ICF verdeutlicht, dass die Entwicklung von psychischen Behinderungen ein komplexes Geschehen ist, in dem stabilisierende und/oder belastende Situationen aus unterschiedlichen Lebensbereichen durch Effekte der Rückkoppelung miteinander verbunden sind. Krankheit und Behinderung sind niemals zwei unterschiedliche Zustände, die in einer bestimmten zeitlichen Abfolge auft reten, sondern sie sind Ausdruck eines dynamischen Prozesses. Die Entwicklung einer Behinderung als Krankheitsfolge ist bei psychischen Erkrankungen immer stark kontextabhängig. In die Rehabilitationsplanung werden nicht nur die Einflüsse der Umwelt, die Einstellungen der Gesellschaft mit ihren Normen und Werten sowie die Qualität der sozialen und psychiatrischen Unterstützungssysteme berücksichtigt, sondern auch die jeweils Betroffenen mit ihrer Bewältigungsfähigkeit, ihrem Lebensstil, ihrer Motivation, ihren Zielen sowie ihrem sozioökonomischen Hintergrund einbezogen. Mit einer psychiatrischen Rehabilitation sollte begonnen werden, wenn aufgrund einer anhaltenden psychischen Störung eine psychische Instabilität und eine soziale Fehlanpassung vorliegen, die erwarten lassen, dass die soziale Teilhabe länger als sechs Monate beeinträchtigt sein wird. Im Unterschied zu körperlich Behinderten sind • psychisch Kranke vor allem in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, die erwarteten sozialen Rollen zu übernehmen; • die Entstehung, der Verlauf und die Ausprägung von psychischer Behinderung wesentlich durch Umwelteinflüsse mitbestimmt. Sie weisen eine starke Abhängigkeit von belastenden und/oder stabilisierenden Umfeldbedingungen auf; • psychische Behinderungen nicht statisch, sondern oft schwer vorhersehbaren Schwankungen unterworfen, wozu auch krankheitsimmanente Faktoren beitragen können; • psychisch Kranke in ihrer Fähigkeit, die eigene Hilfebedürftigkeit zu erkennen und angebotene Hilfen zu nutzen, mitunter eingeschränkt. Es darf jedoch nicht jede Ablehnung von angebotenen Hilfen als mangelnde Krankheitseinsicht bewertet werden; • die Probleme psychisch Kranker in der Bevölkerung oft wenig bekannt. Sie werden häufig nicht erkannt oder als organische Beeinträchtigung verkannt. Da die Störung oft auch nicht akzeptiert wird, ist das Potenzial an spontaner Hilfeleistung eingeschränkt. Die Betroffenen werden nicht selten stigmatisiert und ausgegrenzt;
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• Rehabilitationserfolge bei Vorliegen einer psychischen Behinderung schwer prognostizierbar. Der Zeitraum für Rehabilitationsmaßnahmen ist entsprechend lange anzusetzen; • die Chancen sozial und/oder beruflich wieder Fuß fassen zu können auch für Menschen mit ausgeprägter psychischer Behinderung gut; • die Ziele einer Rehabilitation sind nicht immer erreichbar; nach einem Erkrankungsrezidiv muss mit der Rehabilitation wieder neu begonnen werden. Für die Behandlung einer psychischen Störung ist es wichtig, dass mit der Rehabilitation rechtzeitig begonnen wird. Bei Betroffenen, die Gefahr laufen, psychische Behinderungen zu entwickeln, vergehen noch heute oft viele Jahre, bis eine Rehabilitation in Angriff oder in Anspruch genommen wird. Die sich einstellenden Beeinträchtigungen wirken sich immer negativ auf den Krankheitsverlauf aus.
4
Ziele der psychiatrischen Rehabilitation
Die psychiatrische Rehabilitation hat andere Aufgaben als die kurative Psychiatrie, die dem klassischen medizinischen Modell folgt. In der Akutbehandlung zielen Diagnostik und Therapie vorwiegend auf die Verbesserung der Psychopathologie. Die Rehabilitation fokussiert auf Beeinträchtigungen in den Bereichen „Aktivität“ und „Teilhabe“. Sie strebt in erster Linie nicht eine maximale Symptomreduktion an, sondern ist auf die Verbesserung der sozialen Partizipation ausgerichtet und bemüht sich, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Auch wenn Krankheitssymptome fortbestehen, kann die Rehabilitation den Betroffenen oft eine weitgehende Überwindung der Krankheit ermöglichen. Die Rehabilitation folgt vorrangig den in Tabelle 1 aufgelisteten Zielen.
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Tabelle 1
Ziele der psychiatrischen Rehabilitation
In erster Linie Förderung von Normalisierung der Lebensbezüge Erhalt sozialer Beziehungen Alltagsaktivitäten und Selbstversorgung Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Autonomie und Selbsthilfe (Empowerment) Genesung, Wiedergesundung (Recovery) Bewältigungs- und Widerstandskompetenz (Resilienz) Selbsthilfe Lebenssicherung Darüber hinaus soll die Rehabilitation beitragen, die klinische Symptomatik zu verbessern möglichen Erkrankungsrückfällen und Suiziden vorzubeugen dem Stigma und der Diskriminierung zu begegnen die subjektive Lebensqualität und den Lebensstandard zu erhöhen das Wohlbefinden von Angehörigen zu verbessern
4.1
Normalisierung der Lebensbezüge
Ein Grundprinzip der psychiatrischen Versorgung fordert, dass die rehabilitativen Angebote den Betroffenen ein weitestgehend normales Leben mit wenigen Einschränkungen ermöglichen. Die Herauslösung der Erkrankten aus den gewohnten Lebensbezügen durch die Unterbringung in einer Langzeiteinrichtung oder in einem wohnortfernen Rehabilitationsangebot stellt für diese ein negatives Ereignis dar, das zu Entwurzelung führen kann. Nach akuter Erkrankung ist die Integration in normale Lebensbezüge so rasch wie möglich anzustreben.
4.2
Erhalt sozialer Beziehungen
Bei vielen schweren psychischen Erkrankungen treten Störungen in der sozialen Kommunikation auf. Dies führt zu einer geringeren sozialen Unterstützung, zu Rückzug und Verringerung des sozialen Netzwerkes sowie zu Isolation. In kontrollierten Studien wurde belegt, dass durch ein strukturiertes Training die sozialkommunikativen Kompetenzen (wieder) verbessert werden konnten. Bei vielen Betroffenen beschränken sich die Kontakte auf die Herkunftsfamilie, auf professionelle Bezugspersonen oder das sozialpsychiatrische Versorgungssystem. Be482
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sonders die Eltern erbringen beträchtliche Leistungen in der Betreuung und beklagen oft zu Recht, dass sie mit ihrer emotional und fi nanziell belastenden Aufgabe häufig alleine gelassen und darüber hinaus oft als Sündenböcke angesehen werden. Die Einbeziehung der Familie in die Rehabilitation ist deshalb wichtig: Oft bietet sie als einzig verbliebenes Unterstützungssystem den Rahmen für die Genesung. Für die Arbeit mit Angehörigen wurde eine Reihe von Familieninterventionsprogrammen entwickelt. Die Einbeziehung der Angehörigen kann auch für den Krankheitsverlauf bestimmend sein. Untersuchungen bei an Schizophrenie Erkrankten konnten zeigen, dass es in einem Umfeld, das von emotionalem Überengagement geprägt ist und das dem Betroffenen ein hohes Ausmaß an Kritik entgegenbringt, gehäuft zu Erkrankungsrezidiven kommt. Diese Form der sozialen Interaktion wird als „High Expressed Emotions“ bezeichnet. Ergebnisse von Interventionsstudien belegen, dass durch eine Familientherapie Erkrankungsrückfälle gesenkt und die psychosoziale Kompetenz von Betroffenen verbessert werden konnten.
4.3
Verbesserung von Alltagsaktivitäten und Selbstversorgung
Einschränkungen der funktionalen Gesundheit fördern Erkrankungsrezidive, Chronifizierung oder die Entwicklung von Behinderungen. Deshalb ist bei Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung eine längerfristige milieutherapeutisch ausgerichtete „strukturierende“ Behandlung erforderlich, die möglichst alltagsnahe erfolgen soll. Durch diese Maßnahmen kann auch die verbliebene Symptomatik gebessert werden. Durch die Tagesstrukturierung wird die Alltagsbewältigung sowie die zwischenmenschliche Kommunikation verbessert und die subjektive Krankheitsverarbeitung und Copingfähigkeit gefördert. Im Setting eines „Tageszentrums“ können ergotherapeutische, pharmakologische, psychologische und psychotherapeutische Maßnahmen koordiniert eingesetzt und weitere Rehabilitationsschritte geplant werden. Realistische Ziele sollen gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Angehörigen erarbeitet werden.
4.4 Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – Verringerung von Stigma und Diskriminierung Rehabilitative Maßnahmen zielen darauf ab, die soziale Integration und Teilhabe der Betroffenen am gesellschaft lichen Leben zu verbessern. Die Förderung der oft beeinträchtigten sozialkommunikativen Kompetenzen erweist sich als besonders wichtig. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen stellen an das Leben dieselben Wünsche und Hoffnungen, wie sie Menschen ohne Behinderung haben: Sie möchten respektiert werden und ein Leben so normal wie möglich führen. Sie wünschen selbstständig zu wohnen, einer sinnstiftenden Beschäft igung nachzugehen, befriedigende Partnerschaften und ein Leben in der Gesellschaft mit den gleichen Rechten und Chancen zu führen. Häufig wird jedoch diese Forderung nach Chancengleichheit
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durch Stigmatisierung und Diskriminierung behindert. Die von Vorurteilen belasteten Einstellungen der Öffentlichkeit erschweren – wie in zahlreichen Studien belegt werden konnte – die soziale Teilhabe der Betroffenen. Psychiatrischen Patienten wird in unserer Gesellschaft nach wie vor mit Unsicherheit und Misstrauen begegnet. Psychisch Erkrankten werden negative Eigenschaft en wie Gefährlichkeit oder Unberechenbarkeit zugeschrieben. Ihre Erkrankung wird häufig als unheilbar erachtet. Angst und Ablehnung führen zu Diskriminierung, verursachen Rückzug und Isolation und beeinträchtigen das Selbstwertgefühl der Betroffenen. Das Stigma behindert auch ihr Hilfesuchverhalten, die rechtzeitige Behandlung und Compliance. Neben der in den sozialen Beziehungen erlebten Stigmatisierung, den von Vorurteilen geprägten Darstellungen psychisch Erkrankter in Medien sowie einem aus Misstrauen erschwerten Zugang zu sozialen Rollen, haben zwei bislang vernachlässigte Aspekte ein besonderes Gewicht. Der eine kann als „iatrogenes Stigma“ bezeichnet werden: Es konnte belegt werden, dass es in allen medizinischen Bereichen, auch innerhalb der Psychiatrie, zur Stigmatisierung psychisch Kranker kommt, die jener in der Allgemeinbevölkerung ähnlich ist. Ein Beispiel für iatrogene Stigmatisierung ist, dass körperliche Erkrankungen bei Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose häufig nicht ernst genommen werden. Der zweite Aspekt, der sich negativ auf die Behandlung und Rehabilitation auswirkt, ist die „Selbststigmatisierung“. Dabei internalisieren Betroffene die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und identifizieren sich mit ihnen. Dies hat ein negatives Selbstbild oder die Übernahme der Krankenrolle zur Folge. Asmus Finzen hat das Stigma psychischer Erkrankung treffend als eine „zweite Erkrankung“ bezeichnet, die von der Grunderkrankung unabhängig ist. Die Stigmatisierung verschlechtert den Krankheitsverlauf und die Partizipation der Betroffenen und trägt zu ihrer Vereinsamung, zu Resignation und vermindertem Selbstwert bei. Menschen mit psychischen Erkrankungen, die mehr soziale Unterstützung erfahren, zeigen eine höhere Stigmaresistenz, einen günstigeren Verlauf ihrer Erkrankung und eine höhere Lebensqualität.
4.5
Förderung von Autonomie, von Bewältigungs- und Widerstandskompetenz
Die psychiatrische Rehabilitation folgt heute einem geänderten Menschenbild und veränderten Sichtweisen: Der Begriff Rehabilitation beinhaltet auch die Wiederherstellung des „öffentlichen Ansehens“ von Betroffenen. Viele psychisch Kranke erfahren in vielfältiger Weise Ausgrenzung. Sie haben den Wunsch, trotz ihrer Erkrankung anerkannt zu werden und auch sozial akzeptable Rollen einnehmen zu können. Durch soziale Einflüsse, aber auch durch die Selbststigmatisierung droht ihre Identität beschädigt zu werden. Ziel moderner Rehabilitationsbemühungen ist es, das verloren gegangene Selbstbewusstsein, das Selbstvertrauen und die Selbstachtung wieder zu entwickeln. Mit Konzepten, die als „Empowerment“ oder „Recovery“ in die Sozialpsy-
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chiatrie eingegangen sind, zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der geeignet ist, die genannten Aspekte zu fördern (Amering und Schmocke, 2008). Demnach richtet sich der Blick nicht wie bisher vorwiegend auf die Defi zite einer Person, sondern auf deren erhaltene vielfältige Fähigkeiten (Ressourcenorientierung). Im Zentrum stehen nun Aspekte wie Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme sowie aktive Mitgestaltung der Betroffenen (Empowerment), die Förderung des ihnen innewohnenden Potenziales zur Wiedergesundung oder zur Genesung (Recovery) sowie die Förderung ihrer Widerstands- und Bewältigungskompetenz (Resilienz). Durch diesen Paradigmenwechsel soll ein persönlicher Prozess in Gang gesetzt werden, der die Förderung menschlicher Beziehungen, die Selbstbestimmung und die Übernahme von Verantwortung, die soziale Teilhabe sowie die Fähigkeit, Probleme zu lösen, unterstützt und somit die Hoffnung und einen neuen, positiven Lebenssinn fördert. Soziotherapeutische Aktivitäten sollen Betroffene ermuntern, sich Wissen über ihre Erkrankung und deren Behandlung anzueignen, zu lernen ihre Symptome zu kontrollieren, wieder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und an seiner Gestaltung aktiv mitzuwirken. Die Bemühungen der erkrankten Menschen, sich wieder die verloren gegangenen Fertigkeiten und Fähigkeiten anzueignen und Macht und Einfluss bezüglich der Lebensgestaltung zu gewinnen, rücken somit immer stärker in das Blickfeld der Rehabilitation. In einigen Ländern wie Neuseeland oder Großbritannien wurde das Recovery-Konzept zum Leitprinzip für die staatliche psychiatrische Gesundheitsversorgung. Das Programm der Weltvereinigung für Psychiatrie (WPA) „Psychiatry with the person“ folgt der Entwicklung, die von einer krankheitsdominierten Sichtweise zu einer personenzentrierten Perspektive führt. Dabei werden sowohl Krankheits- als auch Gesundheitsaspekte entsprechend dem Leitsatz „psychiatry of the person, by the person, for the person and with the person“ berücksichtigt. Damit ändert sich auch das Rollenverständnis der Behandler. Der paternalistisch orientierte Ansatz in Behandlung und Rehabilitation wird zunehmend durch ein partizipatives und interaktives Prinzip abgelöst. Mit dem Schlagwort „verhandeln statt behandeln“ wird dieser Wandel verdeutlicht.
4.6
Lebenssicherung
Für die sozialpsychiatrische Arbeit ist die materielle Grundsicherung des Lebens ein wichtiger Aspekt. Das Gleiche gilt für die Sicherung der rechtlichen Lage sowie der körperlichen Gesundheit der Betroffenen. Viele chronisch Kranke müssen ihr Leben aus Einkünften bestreiten, die unterhalb des Existenzminimums liegen. Materielle Not wirkt sich als „Stressor“ negativ auf den Krankheitsverlauf aus und behindert ein eigenständiges Leben und die soziale Teilhabe. Es ist Aufgabe der Soziotherapie, die rechtliche und materielle Situation der Patienten abzuklären und sie in Fragen ihrer Grundsicherung zu beraten und aktiv zu unterstützen. Chronisch Kranke tragen auch aufgrund ihres Lebensstiles, der pharmakologischen Behandlung oder der ungünstigen Lebensbedingungen ein erhöhtes Risiko, eine so485
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matische Komorbidität zu entwickeln. Dabei stehen Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und Stoff wechselerkrankungen im Vordergrund. Es ist somit erforderlich, für eine regelmäßige medizinische Betreuung zu sorgen und das Gesundheitsverhalten (z. B. Rauchen, Ernährung, Hygiene) der Patienten zu beeinflussen. Schwerkranke Patienten mit mangelnder Behandlungsmotivation und -bereitschaft können nicht nur von sozialer Desintegration, von Wohnungslosigkeit, somatischen Erkrankungen oder von Suchterkrankungen bedroht sein, sondern auch zu Opfern von Gewalt werden oder selbst Delikte begehen. Letztere führen zu einer „Forensifizierung“, d. h. der gerichtlich angeordneten Unterbringung im Maßnahmenvollzug. Diese „schwierigen“ Patienten benötigen ambulante sozialpsychiatrische Dienste, die aktiv „aufsuchend“ tätig werden. Bei diesen Kranken geht es in erster Linie um die Förderung der Krankheitseinsicht, Behandlungsmotivation, Lebenssicherung und Schadensbegrenzung sowie auch um die Entlastung der Familie.
5
Grundlagen der psychiatrischen Rehabilitation
Die psychiatrische Rehabilitation gründet auf der Annahme, dass für die psychische Gesundheit die Teilhabe in Gesellschaft, Familie und Arbeit sowie soziale Teilhabe für die psychische Gesundheit als zentral angesehen werden. Psychiatrische Rehabilitationsangebote folgen der Erkenntnis, dass die Kontextbedingungen, also das soziokulturelle Umfeld, sowie die Ressourcen einer Person die Entwicklung und den Verlauf psychischer Erkrankung erheblich beeinflussen. Ihre Wirksamkeit beruht auf den Ansätzen des sozialen Lernens, der Selbstregulation und des Selbstmanagements. Eine Symptomremission ist zwar sehr erwünscht und für die Rehabilitation förderlich, jedoch nicht zwingend erforderlich. Einige Aussagen zur psychiatrischen Rehabilitation, die von namhaften Vertretern der Sozialpsychiatrie formuliert wurden, sollen das heute gültige Leitbild veranschaulichen. Bernd Eikelmann (1997) äußert dazu: • Auch nach lange andauernden Erkrankungen findet sich bei jedem psychisch Kranken ein Rehabilitationspotenzial, das es zu entfalten gilt. • Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht Objekt der Behandlung, sondern im Rehabilitationsgeschehen Handelnde und Wählende. Durch die aktive und zustimmende Beteiligung der Betroffenen und ihrer Familie sind die besten Interventionsresultate erzielbar. • Jede Behandlung und Betreuung in einer Einrichtung soll den Betroffenen ein möglichst großes Maß an Selbstbestimmung überlassen. Leona Bachrach (2000) hält in ihren Leitsätzen für eine erfolgreiche Rehabilitation fest: • Es liegt die Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung und Rehabilitation vor. • Die Bedeutung der Umgebungsfaktoren wird anerkannt. • Die psychosoziale Rehabilitation muss sich an den Stärken der Betroffenen orientieren und lässt diese aktiv mitbestimmen. 486
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• Sie hilft ihnen, ihr Potenzial in Hinblick auf die Lebensgestaltung und die berufl iche Integration auszuschöpfen. • Rehabilitation ist ein fortdauernder Prozess und basiert auf einer therapeutischen Beziehung zwischen den professionellen Helfern und den Betroffenen. • Rehabilitation vernetzt die Betroffenen mit den Ressourcen der Umgebung. • Sie vermittelt Hoff nung. Wulf Rössler (2004) sieht im Ressourcenmodell den wesentlichen rehabilitativen Aspekt: Therapeutische Allianz, Empowerment, Personenorientierung und die Einbeziehung von Betroffenen und ihren Angehörigen sind im Rehabilitationsprozess von grundlegender Bedeutung. Diese Forderungen werden auch von der WHO im „World Health Report 2001; Mental Health: New Understanding, New Hope“ vertreten. Rössler betont, dass wichtige Entwicklungen der Psychiatrie durch die psychiatrische Rehabilitation in Gang gesetzt wurden. Sie ist der für Laien sichtbarste Teil der Psychiatrie und wirkt als solcher auch als Verbindungsglied zur Gesellschaft. Die psychiatrische Rehabilitation kann wesentlich zur Verminderung von Stigma und Diskriminierung psychisch kranker Menschen beitragen. Die Autoren (U. Meise, H. Hinterhuber, 1995, 2007) stellen im Rahmen der Rehabilitation die Genesung, Wiedergesundung und die Rückkehr in ein subjektiv erfülltes Leben in den Vordergrund. Durch die Förderung der Auseinandersetzung der Betroffenen mit ihrer Erkrankung sollen sie in die Lage versetzt werden, trotz ihrer psychischen Probleme ein aktives, sinnerfülltes und hoffnungsvolles Leben zu führen. Dieser auch als Recovery bezeichnete Prozess bedeutet nicht unbedingt vollständige Heilung. Dabei geht es vielmehr um die Bewältigung der Krankheit und ihrer Symptome, da in vielen Fällen diese bzw. die Vulnerabilität weiter fortbesteht. Ziel ist es, dass Betroffene trotz bestehender Beeinträchtigungen ein zufriedenes Leben führen können. In all diesen Stellungsnahmen finden sich Forderungen wie das Anknüpfen an den Stärken des Betroffenen, seine Einbeziehung in den Behandlungs- und Rehabilitationsprozess, die Verbesserung seiner sozialkommunikativen Kompetenzen, die Einflussnahme auf das Lebensumfeld und auch die Vermittlung einer optimistischen Haltung. Die Rehabilitation psychisch Erkrankter orientiert sich – zusammenfassend – an einem mehrdimensionalen Konzept von Gesundheit und Krankheit und folgt den in Tabelle 2 aufgelisteten Grundlagen (siehe auch Kapitel „Sozialpsychiatrie“).
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Tabelle 2 Grundlagen der psychiatrischen Rehabilitation biopsychosozialer Ansatz (Komplexleistungsprogramm) Lebensfeld-/Alltagsnähe (Gemeindenähe) personenorientierter Ansatz (Skill Developement) umgebungsbezogener/ökologischer Ansatz (Environmental Ressource Intervention) therapeutische Allianz und therapeutisches Milieu Betreuungs- und Beziehungskontinuität (Case Management”) Bedarfs-/Bedürfnis-/Ressourcenorientierung Hilfen für Angehörige Wissenschaftlich gesicherte Fundierung des therapeutischen Handelns Behandlungs-/Rehabilitationsplanung Multidisziplinarität, interdisziplinäre und interinstitutionelle Kooperation sowie Koordination (Gemeindepsychiatrischer Verbund)
Die Psychiatrische Rehabilitation kann in drei Teilbereiche gegliedert werden: • die medizinische Rehabilitation, • die soziale Rehabilitation, und • die berufliche Rehabilitation.
5.1
Medizinische Rehabilitation
Die Medizinische Rehabilitation dient der Symptom- und Krankheitsbewältigung und beinhaltet pharmakologische, psychotherapeutische, psychologische, psycho-, ergo-, physio- oder kreativtherapeutische Verfahren. Dazu wurden störungsspezifisch ausdifferenzierte Methoden zur Einstellungs- und Verhaltensmodifi kation und Kompensation entwickelt. Für die Rehabilitation von an Schizophrenie Erkrankten haben sich beispielsweise zusätzlich zur pharmakologischen Rezidivprophylaxe bewährt: • problemorientierte familientherapeutische Verfahren; • kognitiv verhaltenstherapeutische Techniken zur Optimierung von Bewältigungsstrategien und Förderung der Selbstwirksamkeitswahrnehmung; • Interventionen zur Bewältigung von maladaptiven Emotionen, von Wahn oder Halluzinationen und dem Wahrnehmen von „Frühwarnsymptomen“; • psychotherapeutische Hilfen zur Stressvermeidung und Stressbewältigung; • Entspannungsverfahren; • auf neuropsychologischen Konzepten beruhende Verfahren wie die INT (Integrierte Neurokognitive Therapie) und andere Programme zur Kompensation und Verbesserung von kognitiven Störungen oder der sozialen Funktionsfähigkeit; • Psychoseseminare und Psychoedukation. Sie dient der Rezidivprophylaxe und der Tertiärprävention. 488
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5.2
Soziale Rehabilitation
Unter sozialer Rehabilitation werden alle Hilfen subsumiert, die sich dem Wohnen, der Selbstversorgung und Tagesgestaltung, den sozialen Beziehungen, der Freizeitgestaltung sowie den finanziellen Angelegenheiten widmen. Die soziale Rehabilitation zielt auf die Bewältigung von Alltagsanforderungen und auf soziale Integration und Partizipation ab. Im Gegensatz zu der auf die einzelne Person gerichteten Behandlung folgt die Sozio- und Milieutherapie auch einem umgebungsorientierten oder ökologischen Ansatz: Sie sollte in den gewohnten Lebenskontext der Betroffenen eingebettet werden. Die Kernaufgabe der „direkten Soziotherapie“ liegt in der Strukturierung der rehabilitativen Settings; die „indirekte Soziotherapie“ setzt, gemäß der ICF, an den Kontextfaktoren, am Umfeld und dem sozialen Netz des Patienten, die dem Bedarf angepasst werden sollten, an. Ziel der sozialen Rehabilitation ist es, dass Betroffene (wieder) am Leben in der Gemeinschaft weitestgehend selbstständig und selbstbestimmt teilhaben können. Die Soziotherapie muss neben den Betroffenen, bei denen eine ausreichende Motivation für die Rehabilitation vorliegt, auch jene berücksichtigen, die eine Behandlung und Rehabilitation ablehnen.
5.3
Berufliche Rehabilitation
Arbeits- bzw. Beschäft igungslosigkeit stellen Risikofaktoren für den Erhalt der psychischen Gesundheit dar. Beim Vorliegen einer psychischen Störung wirken sie sich negativ auf den Verlauf der Erkrankung sowie die soziale Teilhabe aus. Die Zielsetzung der beruflichen Rehabilitation ist die (Wieder-)Eingliederung in den allgemeinen oder – ersatzweise – in den sogenannten zweiten oder den beschützten Arbeitsmarkt. Arbeit und Beschäftigung sind für die Rehabilitation von zentraler Bedeutung. Die positiven Auswirkungen der beruflichen Rehabilitation sind auch empirisch sehr gut belegt. Arbeit und Beschäft igung fördern nicht nur die Autonomie und die persönliche Leistungsfähigkeit, sondern sie verbessern auch die Krankheitssymptomatik, senken Erkrankungsrückfälle und wirken sich positiv auf zwischenmenschliche Beziehungen, Selbstwert, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, subjektive Lebensqualität sowie auf den Lebensstandard aus. Insgesamt tragen Arbeit und Beschäft igung zu einer Normalisierung der Lebensverhältnisse bei und werden von Betroffenen auch überwiegend positiv beurteilt. Beschäft igungs- und Arbeitstherapie gehören auch zu den traditionellen Therapieangeboten der stationären Psychiatrie.
5.4
Biopsychosozialer Ansatz: das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell
Psychische Erkrankung entwickelt sich in Wechselwirkung von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren (biopsychosoziales Modell). Diese Sichtweise ist heute weit489
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hin anerkannt und findet im Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell ihren Niederschlag. Dieses geht davon aus, dass sich Erkrankungen auf Grundlage einer „Vulnerabilität“, d. h. Verletzlichkeit oder Empfänglichkeit entwickeln. Die Natur dieser Anfälligkeit ist nicht geklärt. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel von genetischen, biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren, die jeweils für den einzelnen Kranken individuell gewichtet sind. Die Erkrankung wird letztlich durch Stressoren ausgelöst. Dazu zählen länger andauernde Belastungen beispielsweise durch zwischenmenschliche Konflikte oder Überforderung am Arbeitsplatz. Auch kritische Lebenssituationen wie Scheidung, Verlust einer nahestehenden Person, aber auch prinzipiell positive Ereignisse wie Verliebtheit oder die Geburt eines Kindes können als Stressor wirksam sein. Dieses Konzept bietet eine gute Arbeitshypothese, um das heute fragmentarische Wissen über die Ursachen psychischer Störungen in eine Gesamtsicht zu integrieren. Eine erhöhte Vulnerabilität kann durch protektive Faktoren wie z. B. ein tragfähiges soziales Netz, soziale Unterstützung und individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Belastungen, aber auch durch die Psychopharmakotherapie gesenkt werden. Um die Vulnerabilität zu beeinflussen, ist es wichtig, dass Erkrankte ihre Coping- und Bewältigungsfähigkeit verbessern: Unter Coping wird die Kompetenz des Betroffenen verstanden, Belastungen, die durch Stressoren in der Beziehung zwischen Person und Umwelt entstehen, besser zu bewältigen.
5.5
Personenorientierter Behandlungsansatz
Die psychiatrische Rehabilitation ruht auf zwei Säulen: Sie setzt am Individuum und an der Umgebung an. Der individuelle Unterstützungsbedarf eines Patienten ist die Basis jeglicher Rehabilitation und deren Planung. Sind mehrere therapeutische Interventionen gleichzeitig erforderlich („Komplexleistungsprogramm“), müssen sie in einen Gesamtbehandlungsplan integriert sein. Eine wirksame psychiatrische Rehabilitation beruht stets auf einer personenbezogenen Behandlung, die in einem mehrgliedrigen, jedoch koordinierten System rehabilitativ ausgerichteter Einrichtungen und Dienste eingebettet ist. Im Rahmen der ersten gemeindepsychiatrischen Reform wurde bald erkannt, dass die auf die psychiatrischen Institutionen gerichtete Betrachtungsweise durch eine Sicht abgelöst werden muss, die den einzelnen Menschen mit seinem individuellen Unterstützungsbedarf in den Mittelpunkt stellt. Die institutionsorientierte Planung führte zur Fragmentierung der Versorgung mit Unter-, Über- oder Fehlbetreuung. Diese Zersplitterung entstand auch dadurch, da unterschiedliche Trägerorganisationen ihre Einrichtungen oft in Konkurrenz oder wenig geplant nebeneinander aufgebaut hatten. Die neue Linie in der Rehabilitationsplanung fordert die Koordination und Integration der verschiedenen Angebote und ihre gemeinsame Ausrichtung auf den individuellen Unterstützungsbedarf von Patienten. Aus der Notwendigkeit, verschiedene Hilfsangebote und Versorgungseinrichtungen für psychisch erkrankte Menschen, die einen komplexen Hilfebedarf aufweisen, zu koordinieren, entstand ein Organisationsmodell, das als „Gemeindepsychiatrischer Verbund“ bezeichnet wird. Dieser dient in erster Linie der funktionalen Organisation rehabilitativer Dienste und ermöglicht 490
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• die Kontinuität therapeutischer Bezugspersonen; • eine Einrichtungs- und Trägergrenzen sprengende institutions- und berufsgruppenübergreifende Abstimmung; • ein ganzheitliches Konzept hinsichtlich der zu erbringenden Leistungen; • die flexible Anpassung an den Bedarf und die angestrebte Lebensform des einzelnen Patienten, sowie • die Verpflichtung der „Gemeinde“, für ihre psychisch Kranken zu sorgen.
5.6
Hilfen für Angehörige
Da eine erhebliche Zahl von Kranken mit rezidivierenden oder chronischen psychischen Erkrankungen in der Familie lebt, trägt diese die Hauptlast der Betreuung und der materiellen Lebenssicherung. Neben diesen Belastungen finden sich oft Schuldgefühle aufgrund von ungerechtfertigten Schuldzuweisungen. Es fi nden sich aber auch berechtigte Sorgen um die Zukunft der erkrankten Angehörigen und eigene psychische Probleme, die aus der Belastung durch die Betreuung erwachsen. Neben der Vermittlung von Information über die Erkrankung und ihrer Behandlung soll das Schwergewicht familientherapeutischer Interventionen auf konkrete Unterstützung in lebenspraktischen und emotionalen Bereichen liegen. Dazu zählt die Vermittlung individueller Strategien zur Problemlösung, zu Krisenmanagement und zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Patient und Angehörigen. Ein weiteres Ziel der Angehörigenarbeit ist die Selbsthilfe, die gefördert werden soll. Diese Selbsthilfegruppen ermöglichen den Angehörigen, Erfahrungen und Hilfsangebote auszutauschen und beugen somit auch der Isolation vor, zu welcher viele neigen.
6
Funktionsbereiche der psychiatrischen Rehabilitation
Psychiatrische Rehabilitation findet heute überwiegend ambulant und regionalisiert, d. h. gemeindenahe im Lebensraum der Betroffenen statt. Sie benötigt ausreichend Zeit. Unter Umständen müssen die Bemühungen über Jahre aufrechterhalten bleiben, damit Kranke genesen und sich die sozialen erforderliche Fertigkeiten (wieder) aneignen können. Die unterschiedlichen Rehabilitationsverfahren und der Kontext, in dem diese angewandt werden, sollen auf den Bedarf der einzelnen Person zugeschnitten werden und flexibel variierbar sein. Die Leistungen, die im regionalen Hilfesystem des „Gemeindepsychiatrischen Verbundes“ erbracht werden, können vier Funktionsbereichen zugeordnet werden (Tabelle 3). Diese Strukturierung hat auch den Vorteil, dass viele bislang stationär erbrachten Leistungen ambulant und gemeindenahe erfolgen können. Das Krankenhausbett verliert damit seine traditionell zentrale Stellung: Der stationäre Bereich wird so zu einem Glied in einer „Kette“ von gleichrangigen Institutionen.
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Tabelle 3 Funktionsbereiche der psychiatrischen Rehabilitation Sozialpsychiatrische Leistungen für: Beratung, Betreuung, Behandlung (Sozialpsychiatrischer Dienst) Tagesstrukturierung, Alltagsgestaltung (Tageszentren, Tagesstätten, Klubs) Wohnen, Selbstversorgung (unterschiedliche Wohnformen) Arbeit, Ausbildung (Arbeitstrainingszentren, Supported Employment, Selbsthilfefirmen)
6.1
Beratung, Betreuung und Behandlung
Der „Sozialpsychiatrische Dienst“ mit seinen ambulanten Angeboten dient in erster Linie jenen Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die in mehreren Bereichen (siehe auch ICF) einen hohen Unterstützungsbedarf aufweisen. Die Behandlung und Betreuung ist nachgehend, vorbeugend und aufsuchend. Sie beinhalten nicht-ärztliche und ärztliche Hilfen. Dabei werden folgende Ziele verfolgt: • barrierefreier Zugang für Patienten und ihre Angehörigen; • Abklärung durch Analyse der Ist-Situation, Information und Motivationsaufbau; • Beratung, Behandlung und Betreuung unter Einbeziehung der Bezugspersonen; • Einleitung einer Rehabilitationsplanung mit gemeinsamer Zielbestimmung; • nachsorgende Betreuung durch Hausbesuche; • Case-Management; • Krisenintervention.
6.2
Tagesstrukturierung und Alltagsgestaltung
Schwere oder lange andauernde psychische Störungen führen zu erheblichen Beeinträchtigungen und zu Benachteiligungen. Aufgrund der Erkrankung, aber auch durch die Reaktionen der Umwelt können die Beziehungen zu Mitmenschen gestört werden, was Rückzug und Isolierung zur Folge hat. Darüber hinaus können die Fertigkeiten oder die Möglichkeiten der Betroffenen, einen sinnvollen und sinnstiftenden Lebensund Tagesrhythmus zu finden oder die Freizeit zu gestalten, verloren gehen. Sozialer Rückzug, Resignation und Vereinsamung beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität von Betroffenen und ihren Familien, sondern verstärken psychische Beeinträchtigungen, verhindern Genesung und Heilung und tragen erheblich zum Auft reten von Erkrankungsrezidiven bei. Tagesgestaltende Rehabilitationsangebote fördern die Stabilisierung der klinischen Symptomatik, verbessern die Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung sowie die Kommunikation. Für die Betroffenen ist ein therapeutisch gestaltetes Milieu erforderlich: Ihnen muss ausreichend Zeit in einem geschützten und beziehungsorientierten Rahmen gewährt werden. Das „Milieu“ sollte so gestaltet
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sein, dass es strukturiert, transparent und übersichtlich ist und genügend Raum für Kommunikation bietet. Für diesen Baustein der „sozialen Rehabilitation“ haben sich unterschiedliche Einrichtungstypen wie Tageszentren, Beschäftigungsinitiativen und Klubs zur Freizeitgestaltung entwickelt. Ein Tageszentrum bietet durch unterschiedliche Gruppenangebote (z. B. Küche, Werkstatt, Gruppe für Außenaktivitäten, Kreativgruppe, etc.) eine soziale Rehabilitation an. Da bei vielen psychischen Erkrankungen ausgeprägte Defizite in der Kommunikation bestehen, konnte belegt werden, dass mit Hilfe von „Social Skill Trainings-Programmen“ beeinträchtigte Personen sich (wieder) soziale Fertigkeiten aneignen können. Einrichtungen zur Tagesstrukturierung dienen in erster Linie der Stabilisierung der psychischen und sozialen Situation, der Neuorientierung und der Förderung sozialer Kompetenzen. Dadurch soll die Teilhabe am gesellschaft lichen Leben gesichert und verbessert werden. Dabei werden folgende Ziele verfolgt: • Stabilisierung der klinischen Symptomatik; • Verbesserung von sozial-kommunikativen Fertigkeiten; • Vermittlung alltagsnaher Aktivitäten; • Strukturierung des Tages und Förderung von zwischenmenschlichen Kontakten; • Anregung zu sinnstiftender Beschäft igung und Gestaltung der Freizeit; • Vorbereitungen für eine allfällig weiterführende berufliche Rehabilitation.
6.3
Wohnen und Selbstversorgung
Ein Hauptanliegen der sozialpsychiatrischen Rehabilitation ist es, Menschen mit psychischer Behinderung normale Wohn- und Lebensverhältnisse zu ermöglichen, wobei grundsätzlich ein Leben in der gewohnten Umgebung angestrebt werden sollte: Gefordert ist die größtmögliche Inklusion. Große Langzeiteinrichtungen oder Pflegeheime bieten keinen geeigneten Lebensraum. Sie fördern im Gegenteil durch Hospitalismus die Entwicklung sozialer Behinderungen. Das Ziel, in einer eigenen Wohnung zu leben, hat Vorrang vor allen anderen rehabilitativen Maßnahmen. Die Wohnrehabilitation setzt ein gewisses Ausmaß an Stabilität der klinischen Symptomatik, psychische Belastbarkeit und basale Fähigkeiten und die Motivation voraus, den Alltag zu gestalten und zu bewältigen. Die Möglichkeit, ein weitgehend eigenständiges Leben führen zu können, ist für das Selbstbild von Betroffenen wichtig. Die meisten früheren Langzeitpatienten psychiatrischer Krankenhäuser konnten erfolgreich in solche kleinen gemeindepsychiatrischen Wohneinrichtungen integriert werden. Die Fähigkeit, (wieder) ein weitgehend eigenständiges Leben führen zu können, besitzt für Betroffene einen hohen Stellenwert; ihre Stellung in der Gesellschaft wird dadurch verbessert. Das Ziel der Rehabilitation ist immer, dass Betroffene mit geringstnötiger Unterstützung (wieder) außerhalb von Institutionen möglichst selbstbestimmt ihr Leben gestalten können. Die Wohnbetreuung sollte von den Orten, an denen andere Hilfen (z. B. Tagesgestaltung oder berufliche Rehabilitation) angeboten werden, abgekoppelt sein. Auf Grundlage der psychischen Situation, der individuellen Belastbarkeit und Stabilität sowie entsprechend dem Bedarf der Patienten haben sich abgestufte Wohnoptionen 493
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mit unterschiedlicher Intensität der Betreuung entwickelt. Diese reichen vom wenig intensiv betreuten Einzelwohnen zu intensiver betreuten kleinen Wohngemeinschaften. Falls autonomes Wohnen (noch) nicht möglich ist, bieten sich kleine Übergangsund Dauerwohnheime an. Dabei werden folgende Ziele verfolgt: • Förderung von Selbstversorgung und der Aktivitäten des täglichen Lebens; • Verbesserung der sozial-kommunikativen Fertigkeiten; • weitere psychische Stabilisierung und Förderung von Bewältigung und Genesung.
6.4
Arbeit und Ausbildung
In der Arbeitsrehabilitation, die heute überwiegend ambulant stattfi ndet, werden arbeitsplatzrelevante Fertigkeiten geübt, die die Betroffenen für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten soll. Sie sind von anderen therapeutisch notwendigen Maßnahmen räumlich getrennt anzubieten. Ist die Kluft der Anforderungen zwischen einem Rehabilitationsarbeitsplatz und einem Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu groß oder stehen dort keine Arbeitsplätze zur Verfügung, sollte ein zweiter Arbeitsmarkt mit „beschützten Werkstätten“ und „Selbsthilfefirmen“ oder „sozioökonomischen Betrieben“ vorhanden sein. Für die berufl iche Rehabilitation wurden unterschiedliche Strategien und Rahmenbedingungen entwickelt. Neben der Rehabilitation in eigens dafür geschaffenen „Berufs- oder Arbeitstrainingszentren“ bestehen erfolgreiche Bemühungen im Sinne eines „Supported Employment“. Während die Arbeitstrainingszentren das Prinzip „first train than place“ verfolgen, folgt das Modell „Supported Employment“ dem Motto „first place than train“. Dies bedeutet, dass Betroffene sofort in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden und dort „in vivo“ während ihrer Tätigkeit von einem Job-Coach längerfristig betreut und begleitet werden. Dabei werden folgende Ziele verfolgt: • Aufbau von Motivation, Klärung von realistischen beruflichen Zielen und Zukunftsperspektiven; • Herstellung einer arbeitsplatznahen, dem individuellen Leistungsvermögen angepassten Rehabilitationssituation; • Training von arbeitsplatzrelevanten sozialen und kommunikativen Fähigkeiten; • Integration in einem Betrieb des ersten oder zweiten Arbeitsmarktes; • ambulante Integrations- und Berufsbegleitung.
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Psychiatrische Rehabilitation | 16
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Kapitel 17
Konsiliar-/Liaisonpsychiatrie: Behandlung und Betreuung von Patienten mit psychischen Belastungen/Störungen im Allgemeinkrankenhaus Barbara Sperner-Unterweger, Bernhard Holzner
1
Hintergrund
Die meisten Menschen mit psychischen Problemen wenden sich zuerst an den somatischen Mediziner – praktischen Arzt oder Facharzt –, auch wenn die psychischen Symptome im Vordergrund stehen. Nicht selten liegen gleichzeitig körperliche und psychische Erkrankungen vor, die in Wechselwirkung zueinander stehen und den diagnostischen und therapeutischen Prozess beeinflussen. Dem Österreichischen Psychiatriebericht 2004 ist zu entnehmen, dass die prozentuelle Verlängerung der Aufenthaltsdauer bei Patienten mit somatischen Hauptdiagnosen mit zusätzlicher psychiatrischer Nebendiagnose durchschnittlich 69,1 % beträgt (Katschnig et al. 2004). Neben indirekten Faktoren wird auch ein direkter Einfluss von psychischen Erkrankungen auf den Verlauf somatischer Krankheiten beschrieben. Als Beispiel seien die negativen Auswirkungen depressiver Störungen auf Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere mit Myokardinfarkt genannt (Mortalitätsrisiko bis zu vier Mal höher bei Patienten mit depressiver Symptomatik nach Myokardinfarkt). Die Prävalenz psychischer Störungen bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus liegt in Abhängigkeit von der somatischen Diagnose zwischen 10 und 60 % (Stuhr und Haag, 1989). Das Nichterkennen bzw. das Nichtbehandeln psychischer Störungen hat nicht nur einen Einfluss auf eventuell vorliegende somatische Erkrankungen, sondern führt auch zu einer Chronifizierung und damit stärkeren Ausprägung der psychiatrischen Erkrankung. Besonders deutlich ist das bei Angststörungen und Somatisierungsstörungen festzustellen. Dabei kommt es häufig zu wiederholter somatischer Abklärung und häufigen stationären Aufnahmen mit Fokus auf der somatischen Untersuchung und Behandlung. Neben den negativen Auswirkungen für die Patientin/den Patienten führen diese Gegebenheiten auch zu Belastungen des Gesundheitssystems. Psychologische Interventionen können zu einer deutlichen Reduktion der medizinischen Behandlungskosten führen (Frasch et al. 1999). Diese Kostenreduktion basiert auf vier gut untersuchten Grundannahmen:
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Barbara Sperner-Unterweger | Bernhard Holzner
1. Führt eine undiagnostizierte und unbehandelte psychische Komorbidität bei Patienten mit einer körperlichen Grunderkrankung zu längeren stationären Aufenthalten (z. B. Lyons et al. 1986). 2. Resultiert daraus häufig eine erhöhte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (Smith 1994), welche 3. die Gefahr von iatrogenen Schäden erhöhen und 4. ist die nicht erkannte, fehlende psychische Diagnose ein allgemeiner Risikofaktor für Chronifizierungen. Neben der Reduktion der Behandlungskosten kommt natürlich als noch wichtigeres Argument für den Ausbau psychiatrischer und psychologischer Leistungen die Erhöhung der Patientenzufriedenheit zum Tragen. Ausgehend von einer sehr hohen Prävalenz psychischer Störungen bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus besteht nach einer Schätzung von Herzog et al. (1994) bei ca. 10 % dieser Patienten eine entsprechende Behandlungsmotivation. Die tatsächliche Inanspruchnahme hängt unter anderem wesentlich von den Strukturbedingungen – wie z. B. der Verfügbarkeit des psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutischen Behandlungsangebotes – ab. Neben der medizinischen Sinnhaftigkeit ergibt sich letztlich auch aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen die Notwendigkeit der Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen im Allgemeinkrankenhaus.
2
Definition und Organisation
2.1
Konsiliar-/Liaison Psychiatrie/Psychologie – Begriffsdefinition
Als disziplinenübergreifender Fachbereich zwischen Psychiatrie, klinischer Psychologie und Psychotherapie widmet sich die CL-Psychiatrie den Patienten an somatischen Stationen und Ambulanzen eines Allgemeinkrankenhauses mit • primär körperlicher Erkrankung und • somatopsychischer Komorbidität Sie engagiert sich in der Durchführung von Diagnostik und Therapie und fördert die psychosozialen Aspekte in der Medizin • in den somatischen Bereichen durch Einbringen der psychosozialen Dimension in der Patientenbetreuung sowie in der Begleitung der Behandlungsteams (z. B. Burnout-Prophylaxe); • in der Psychiatrie und klinischen Psychologie durch Etablieren von Aus- und Fortbildungscurricula zu psychosozialen Behandlungskonzepten. Um den unterschiedlichen Anforderungen, die von der psychiatrisch/psychologisch/ psychotherapeutischen Patientenbehandlung über die Angehörigenunterstützung bis hin zur Unterstützung des somatischen Behandlungsteams reichen, gerecht zu werden, ist die Zusammensetzung und Strukturierung eines Konsiliar-/Liaison-Dienstteams
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Konsiliar-/Liaisonpsychiatrie | 17
(CL-Dienstteams) von besonderer Bedeutung. Folgende Voraussetzungen sollten Berücksichtigung finden: 1. Ein möglichst personenkonstantes Team, sodass eine Kontinuität sowohl im Konsiliardienst als auch im Liaisondienst gewährleistet ist. 2. Die Zusammensetzung des Teams muss sowohl Fachärzte für Psychiatrie als auch klinische Psychologen berücksichtigen, da durch diese unterschiedlichen Professionen in der Behandlung Synergien ausgenutzt werden können bzw. auch gegenseitige Entlastungen möglich sind. Von besonderer Bedeutung ist auch eine psychotherapeutische Ausbildung der Teammitglieder (diese ist in der Facharztausbildung für Psychiatrie inkludiert) sowie evtl. fachspezifische Zusatzqualifikationen. 3. Gefordert werden muss eine eigenständige Funktionseinheit in enger Kooperation mit psychiatrischen Abteilungen. 4. Strukturierung des Angebots in Akutinterventionen mit der Möglichkeit der Initiierung einer weiterführenden Behandlungskette und längerfristiger therapeutischer Interventionen im Rahmen von Liaisonversorgungssettings. Als Rahmenbedingungen, die für den Ablauf eines Konsiliar-Liaison-Versorgungsbereiches notwendig sind, sind zu nennen: • adäquate personelle Ausstattung innerhalb der Regeldienstzeit; • permanente Erreichbarkeit über direkte telefonische Verbindung der Konsiliartätigen zur Gewährleistung der Akutversorgung; • gute Erreichbarkeit der Liaisondienstmitarbeiter über eine Koordinationsstelle (für intra- und extramurale Kontakte); • Ausstattung der Koordinationsstelle mit verfügbaren Ambulanzräumen bzw. Anbindung der Koordinationsstelle an eine bestehende psychiatrisch-psychotherapeutische Ambulanz; • Gewährleistung der psychiatrisch/psychotherapeutischen Akutversorgung außerhalb der Regeldienstzeit durch eine etablierte Nachtdienststruktur. Die Struktur der psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutischen Behandlungstätigkeit in Akutkrankenhäusern ist sehr unterschiedlich und reicht von einer Konsiliartätigkeit im Bedarfsfall (Rufbereitschaft) über Liaisondienstmodelle bis hin zur ständigen Anwesenheit bzw. de facto Zugehörigkeit der Fachärzte für Psychiatrie bzw. der Klinischen Psychologen zu der jeweils behandelnden somatischen Station.
2.2
Der psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutische Liaisondienst
Wörtlich übersetzt bedeutet Liaison „zur Liebe geneigt, aber nicht in der Ehe verbunden“ und drückt die Charakteristik eines Liaisondienstes sehr gut aus. Es bedeutet, dass der Liaisondienstmitarbeiter personenkonstant einer bestimmten Station zugeordnet (z. B. einer chirurgischen oder einer internistischen Station) und dort in den
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Stationsalltag integriert ist (Visitenteilnahme, Teilnahme an Besprechungen etc.), nicht aber dem Hierarchiegefüge der Station bzw. der jeweiligen Klinik unterworfen ist, sondern von „außen“ kommt. Die Versorgungsform des Liaisondienstes eignet sich insbesondere für die psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutische Versorgung von Stationen mit primär schwer bzw. chronisch Kranken. Dazu zählen z. B. onkologische Patienten, Patienten mit Organtransplantationen, chronischen Stoff wechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus), chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder auch Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Morbus Parkinson). In Tabelle 1 finden sich die Hauptmerkmale des Liaisondienstes: Tabelle 1
Hauptmerkmale des Liaisondienstes
Der Facharzt für Psychiatrie bzw. der Klinische Psychologe ist fixer Ansprechpartner für die jeweilige Station (Behandlungsteam, Patienten, Angehörige), ist regelmäßig auf der jeweiligen Station anwesend, nimmt an den Visiten (mehrmals wöchentlich) teil, nimmt an den Stations- bzw. Ambulanzbesprechungen teil, organisiert bzw. leitet eigene Besprechungen, in denen die psychosoziale Situation der Patienten im Mittelpunkt steht, leitet versorgungsrelevante Intervisions- bzw. Supervisionsgruppen, nimmt an gemeinsamen fachspezifischen Fortbildungen teil, organisiert psychosoziale Fortbildungen für das Behandlungsteam.
Durch die regelmäßige Anwesenheit der Fachärzte für Psychiatrie bzw. der Klinischen Psychologen z. B. bei den Visiten auf der jeweiligen Station erleben die Patienten die Liaisonpersonen als „zur Station gehörig“, als Teammitglieder; die erste Kontaktaufnahme kann im Rahmen einer Visite erfolgen. Dadurch können häufig bestehende Schwellenängste leichter überbrückt werden und Betreuungsangebote ohne Stigmatisierungsängste angenommen werden. Auch der zweiten Aufgabe, der Unterstützung des Behandlungspersonals der Station, kann der Liaisondienstmitarbeiter unter diesen Voraussetzungen besser gerecht werden, da er bei einer derartigen Organisation nicht in das Hierarchiesystem der jeweiligen Station eingegliedert ist, sondern seiner „Herkunftsklinik“ (z. B. Univ.-Klinik für Psychiatrie) zugeordnet bleibt. Bei einer solchen Struktur bleibt auch gewährleistet, dass die Fachärzte für Psychiatrie bzw. die Klinischen Psychologen an ihrer „Stammklinik“ in andere Aufgabenbereiche mit eingebunden bleiben und ihren Tätigkeiten entsprechend spezifische Supervision in Anspruch nehmen können, wodurch eine bessere Bewältigung der berufsbedingten Belastungen ermöglicht wird.
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Konsiliar-/Liaisonpsychiatrie | 17
2.3
Der psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutische Konsiliardienst
Eine Konsiliardienstversorgung ist besonders für Stationen und Bereiche in Akutkrankenhäusern sinnvoll, bei denen die Implementierung eines Liaisondienstes aufgrund der beschränkten personenbezogenen Ressourcen nicht möglich bzw. wegen der relativ geringen Frequenzen von Patienten mit psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutischem Behandlungsbedarf nicht zielführend ist. Der Konsiliardienst kann über einen Dienstpieps angefordert werden und wird mit ganz konkreten Fragestellungen bei Patienten beigezogen, um einen spezifischen fachärztlichen/fachpsychologischen Rat (= Konsilium) einzuholen. Sowohl Konsiliar- als auch Liaisondienste sollten eng mit entsprechenden psychiatrischen ambulanten und stationären Strukturen vernetzt sein.
3
Zielgruppen und Aufgaben
In der CL-Versorgung sind drei Zielgruppen zu defi nieren: • die psychosoziale Versorgung der Patienten; • die Unterstützung der Behandlungsteams; • die psychosoziale Unterstützung der Angehörigen.
3.1
Hauptaufgaben in der CL-Versorgung
Als CL-Schwerpunkte sind folgende Funktionen zu nennen: • psychosoziale Aspekte und Kompetenz in die medizinische Gesamtbehandlung zu integrieren; • fachspezifische Behandlung von Patienten und deren Angehörigen; • Schnittstellenmanagement, kontinuierliche Behandlungskette sichern. Das Hauptanliegen der CL-Dienste muss es sein, ein ganzheitliches Krankheitsverständnis zu vermitteln und somit die psychosoziale Versorgung von Patienten im Allgemeinkrankenhaus auf der Basis eines biopsychosozialen Behandlungsansatzes zu gewährleisten. Neben den direkten therapeutischen Interventionen auf der Ebene der Patienten und deren Angehörigen stellt vor allem die Verbesserung der psychosozialen Kompetenz der Behandler einen wichtigen Aufgabenbereich im CL-Dienst dar. Die Vermittlung psychosozialer Aspekte kann niederschwellig, individuell und in das klinische Prozedere integriert geschehen (z. B. durch Fallbesprechungen mit dem Behandlungsteam). Ebenso kann dies auch durch Fortbildungsangebote erfolgen. Vor diesem Hintergrund wird auch ersichtlich, dass durch einen guten und engen Kontakt zwischen Konsiliararzt/Konsiliarpsychologen und Behandlungsteam ein zufriedenstellender Weiterbildungseffekt erzielt werden kann.
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In der Schnittstellenarbeit vermitteln CL-Dienste zwischen verschiedenen psychosozialen und somatopsychischen Fachdisziplinen, koordinieren die psychosoziale und somatische Versorgung im Krankenhaus und organisieren die Überleitung vom Akutkrankenhaus zur weiterführenden psychiatrischen, psychologisch oder psychotherapeutischen Versorgung, sowohl im ambulanten als auch im (teil-)stationären Setting.
3.2
Patienten und Krankheitsbilder
3.2.1 Psychische Störungen im Allgemeinkrankenhaus – primäre Störungsbilder Der CL-Dienst widmet sich vor allem Kranken, die • psychische Störungen mit somatischen Beschwerden und Symptomen, aber ohne somatische Erkrankung im engeren Sinne (z. B. somatoforme Störungen); • psychische Störungen als biologische (symptomatische psychische Störungen, z. B. delirante Symptomatik) oder • psychische Folgen medizinischer Erkrankungen (Anpassungsstörungen); • körperliche Erkrankungen mit psychischer (Mit-)Verursachung oder Auslöser vorbestehender, häufig bisher unentdeckter psychischer Störungen (z. B. Substanzmissbrauch) (mod. nach Herzog und Setin 2003) aufweisen. In Tabelle 2 sind Diagnosen aufgeführt, mit denen das CL-Team häufig konfrontiert ist. Tabelle 2 Häufige psychiatrische Diagnosen im CL-Dienst organische psychische Störungen, delirante Syndrome, Demenzen Substanzmissbrauch, Abhängigkeitserkrankungen Depression, depressive Syndrome (akute) Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen Angststörungen somatoforme Störungen
3.2.2 Häufigkeit von psychischen Störungen im Allgemeinkrankenhaus Die heute als klassisch angesehene Untersuchung zur psychiatrischen Morbidität bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus wurde von Querido und Mitarbeitern 1959 in Amsterdam durchgeführt. Dabei wurden 1630 Patienten verschiedener Abteilungen erfasst. Bei 47 % der Patienten wurde eine deutliche psychische Beeinträchtigung festgestellt. Auch in der Lübecker Allgemeinkrankenhaus-Studie (Rothermundt et al. 1997) zeigte die Untersuchung von 400 Patienten den gleichen Prozentsatz an psychi-
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schen Störungen, wobei organisch bedingte psychische Störungen mit 16,5 % am häufigsten diagnostiziert wurden, gefolgt von Anpassungs-, Angst- und somatoformen Störungen, die gemeinsam 11,8 % darstellten, und affektiven und Suchterkrankungen, die bei jeweils 8 % festgestellt wurden. 3.2.3 Bedürfnisse der Patienten hinsichtlich des CL-Versorgungsangebotes Das CL-Versorgungsangebot gilt für alle Patienten der verschiedenen somatischen Abteilungen eines Allgemeinkrankenhauses in Belastungssituationen und beim Vorliegen von psychischen Störungen. A. Patienten mit kurzem stationären Aufenthalt (3–8 Tage): Bei dieser Patientengruppe sind max. 1–3 Kontakte vorzusehen. Das primäre Ziel ist eine Akutintervention bzw. bei Bedarf die Initiierung einer weiterführenden Behandlungskette nach der Entlassung mit entsprechender Krankheits- und Therapieinformation und Motivation. B. Chronisch kranke Patienten mit wiederholten stationären Aufenthalten: Bei dieser Patientengruppe ist es notwendig, ein kontinuierlich zur Verfügung stehendes psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutisches Setting anzubieten, wobei nicht nur die Bedürfnisse der Patienten und ihrer Angehörigen, sondern auch Bedürfnisse der Behandler berücksichtigt werden müssen. Der Großteil der psychiatrisch/ psychologisch/psychotherapeutischen Behandlung wird bei dieser Patientengruppe immer wieder im stationären Setting stattfinden. Um diese Behandlung gewährleisten zu können, ist eine Liaisonversorgung dieser Patientengruppe erforderlich. C. Patienten mit längerfristigen stationären Behandlungen: Das betrifft Patienten mit einer Behandlungsdauer über 10 Tage, jedoch ohne wiederholte stationäre Aufnahmen. Je nach Belastung und Aufenthaltsdauer kann die Anzahl der Kontakte bis zu 3–4-mal/Woche notwendig sein. Dabei handelt es sich um Akutinterventionen für die Dauer der stationären Behandlung (max. für einige Wochen). Bei Bedarf muss eine Behandlungskette geplant werden. D. Patienten, die auf intensivmedizinischen Stationen behandelt werden: Auch für diese Patienten muss eine Akutintervention sowie bei Bedarf eine weitere Behandlungskette gegeben sein. Gerade in intensivmedizinischen Settings ist es auch wichtig, psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungsbedürfnisse der Angehörigen zu berücksichtigen.
3.3
Spezielle Patientengruppen
Obwohl die psychischen Belastungen und Störungen bei vielen somatisch Kranken ähnlich sind und die erforderlichen Interventionen demzufolge auch vergleichbare Grundstrukturen aufweisen, gibt es doch in vielen medizinischen Fachgebieten spezi-
503
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fische Problembereiche, bei denen ganz gezielte CL-Fragestellungen herausgearbeitet werden können und die auch ein besonderes therapeutisches Vorgehen verlangen. 3.3.1 Organtransplantationspatienten Dieser Liaisondienst widmet sich in erster Linie Patienten, die auf eine Organtransplantation vorbereitet werden. Am häufigsten werden zurzeit Patienten mit Leber-, Nieren- und Herztransplantation psychosozial evaluiert und betreut. Im Rahmen der psychiatrisch/psychologischen Abklärung wird neben der Klärung der psychosozialen Situation auf die psychische Belastung im Rahmen der Organtransplantation eingegangen und auch eine Abklärung bezüglich eventuell bestehender Abhängigkeitserkrankungen (i.b. Alkohol) durchgeführt. Gegebenenfalls wird eine entsprechende Therapie bzw. längerfristige Betreuung organisiert. Weitere wichtige Aspekte im Zuge dieser Evaluierung sind die Beurteilung der Compliance, der Bewältigungsstrategien und der persönlichen Ressourcen. Für diese Liaisondienste gelten ebenfalls die unter 2.2 bereits genannten Kriterien. 3.3.2 Onkologische Patienten In den letzten Jahrzehnten hat sich das Subfachgebiet der Psychoonkologie selbständig entwickelt und entsprechend den Bedürfnissen der Patienten und der Behandlungsteams etabliert. Trotz dieser eigenständigen Entwicklung steht es vollkommen außer Frage, dass eine sinnvolle und zufriedenstellende psychiatrisch/psychologisch/ psychotherapeutische Behandlung von KrebspatientInnen in einem onkologischen Gesamtbehandlungskonzept integriert sein muss. Jeder Krebspatient hat beim Auftreten von psychischen Belastungen und Störungen primär das Anrecht auf eine psychosoziale Unterstützung durch den onkologischen Arzt bzw. durch das onkologische Behandlungsteam. Um diesen Anforderungen gerecht werden zu können, ist es unumgänglich, dass die behandelnden Onkologen auch in ihrer psychosozialen Kompetenz (z. B. in der Gesprächsführung, in der Diagnosemitteilung, etc.) geschult werden (Bernard 2009). Aber auch das Erkennen ausgeprägter psychischer Symptome und das notwendige Beiziehen eines psychiatrischen CL-Mitarbeiters erfordert nicht nur eine Fortbildung im psychosozialen Bereich, sondern auch eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dies gilt auch für weitere Berufsgruppen wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Seelsorger, sodass der Patient tatsächlich im Mittelpunkt von interdisziplinären, multiprofessionellen und integrativen Behandlungsstrukturen steht. Psychoonkologische Interventionen – seien sie psychologisch/psychotherapeutisch oder auch psychopharmakologisch – zielen primär auf eine Verbesserung der Lebensqualität ab. In einer Vielzahl von Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass dieses Ziel gut erreicht werden kann. 3.3.3 Patienten mit AIDS Eine kontinuierliche psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung im Rahmen eines Liaisondienstes erscheint bei AIDS-Patienten im stationären wie auch im ambulanten oder tagesklinischen Setting sinnvoll. Obwohl durch die intensive antivirale Therapie (HAART, highly active antiretroviral therapy) das Auft reten von HIV-assozi504
Konsiliar-/Liaisonpsychiatrie | 17
ierten Demenzen (subkortikale Demenz) deutlich seltener geworden ist (nur mehr bei ca. 7–10 %), stellen depressive Störungen, Anpassungsstörungen, aber auch delirante Symptome häufige Fragestellungen an den CL-Dienstmitarbeiter dar. Auch die Problematik der Compliance und suchtassozierte Probleme stellen häufige Herausforderungen in der Betreuung dieser Patientengruppen dar. 3.3.4 Gerontopsychiatrische Patienten Kognitive Einschränkungen, beginnende oder auch schon weiter fortgeschrittene dementielle Erkrankungen mit oder ohne deliranter Verwirrtheit und psychiatrischen Verhaltensauff älligkeiten, aber auch depressive Symptome und Schlafstörungen bis hin zur Tag-Nacht-Umkehr stellen die häufigsten Gründe für eine Zuweisung an den psychiatrischen Konsiliardienst dar. Bei diesen Patienten ist eine Außenanamnese zur Evaluierung und zur Therapieeinstellung oft sehr wichtig. Neben der psychopharmakologischen Behandlung ist vor allem die Organisation von psychosozialen Betreuungsstrukturen (mobile Hilfsdienste, Tageseinrichtungen, etc.) in Form einer intensiven Schnittstellenarbeit zwischen dem intramuralen Behandlungsteam (z. B. mit Sozialarbeitern) und den extramuralen Einrichtungen erforderlich. 3.3.5 Patienten auf Intensivstationen Die Kooperation mit Intensivstationen ist oft als Liaisondienst organisiert, weil so den Bedürfnissen der Patienten, die mittel- bzw. längerfristig dort behandelt werden müssen, sowie ihrer Angehörigen, aber auch den mit erheblichem Stress belasteten Behandlungsteams am besten entsprochen werden kann (Burn-out-Prophylaxe). Auch wenn die Zeit auf der Intensivstation von Patienten mit eingeschränktem Bewusstsein (phasenweise sediert) durchlebt wird, berichten manche nachher von extremen Belastungen durch die permanente Betriebsamkeit und Unruhe, durch die Autonomieeinschränkungen und durch Wahrnehmungsstörungen, die als sehr bedrohlich erlebt werden. Anhaltende oder wiederkehrende Ängste können die Folge sein und müssen dann zu einem späteren Zeitpunkt in therapeutischen Gesprächen bearbeitet werden. Die Anwesenheit vertrauter Bezugspersonen kann für Patienten sehr unterstützend sein. Delirante Syndrome können oft in der ersten Behandlungsphase, z. B. postoperativ, aber auch zu einem späteren Zeitpunkt auftreten und dann nicht selten durch zu rasche Veränderungen der medikamentösen Therapieschemata mit Benzodiazepinen und/oder Opiaten verursacht sein. Manchmal kann auch eine gezielte Außenanamnese Aufk lärung über eine unverständlich lange delirante Symptomatik liefern, indem vorbestehende Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeiten exploriert werden. Seitens der psychopharmakologischen Therapie stehen Antipsychotika, eventuell in Kombination mit Benzodiazepinen, zur Verfügung. 3.3.6 Patienten mit somatoformen Störungen Die Problematik im Umgang mit Patienten mit somatoformen Störungen liegt einerseits im Risiko, dass ihre Symptome zu rasch als „psychogen“ beurteilt werden und daher wichtige somatische Untersuchungen unterbleiben, andererseits werden häufig intensive körperliche Abklärungen vorgenommen, wodurch eine Chronifizierung 505
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der somatoformen Störung unterstützt wird. Die therapeutischen Kernpunkte in der Arbeit mit diesen Patienten sind es, die Beschwerden ernst zu nehmen, jedoch immer weiteren somatischen Untersuchungen bzw. auch Behandlungen (eventuell Operationen) entgegenzuarbeiten und damit auch ein „Doctor Shopping“ möglichst zu verhindern. Patienten sollten klare Behandlungspläne erhalten, die realistische Ziele beinhalten (nicht Heilung im Sinne von Beschwerdefreiheit, sondern erreichbare Symptomverbesserung definieren!). Auch hat ein langsames Heranführen an die psychischen Aspekte der körperlichen Symptome zu erfolgen. Zielführende Methoden sind kognitiv-verhaltenstherapeutische Strategien und Entspannungstraining (z. B. Progressive Muskelrelaxation nach Jakobson). Im CL-Dienst liegt ein bedeutender Teil der Arbeit auch in der fachlichen Diskussion mit den somatisch tätigen Kollegen, denn ihr Umgang mit der Symptomatik gestaltet maßgeblich den psychischen Krankheitsverlauf mit. 3.3.7 Angehörige Den psychischen Belastungen von Angehörigen wird in den letzten Jahren zu Recht große Bedeutung beigemessen: Behandlungsbedürft ige psychischen Störungen zeigen sich bei ca. 30 % der Angehörigen onkologisch kranker Patienten. Auch therapeutische Interventionen binden vermehrt Angehörige mit ein. Die Arbeit mit den Bezugspersonen besteht primär in einem Gesprächsangebot. Neben dem Bewältigen der Belastung für die Angehörigen nehmen Verhaltensanweisungen für den richtigen Umgang mit den Patienten einen wichtigen Stellenwert ein. Auch für den Fall des Todes eines Patienten sollte Angehörigen bei Bedarf eine weitere Unterstützung angeboten werden. 3.3.8 Personal Die Arbeit mit Mitgliedern der jeweiligen somatischen Behandlungsteams beinhaltet zwei wesentliche Aspekte: Zum einen wird in regelmäßigen Supervisionssitzungen gemeinsam versucht, Möglichkeiten des besseren Umgangs mit den berufs- und patientenbedingten Stressoren zu finden, zum anderen zählt es ebenfalls zu den Aufgaben des Liaisondienstmitarbeiters, interpersonelle Konflikte aufzuspüren und zu ihrer Lösung beizutragen. In diesem Zusammenhang ist die Burn-out-Prophylaxe als wichtige Aufgabe der CL-Mitarbeiter zu sehen. Aus organisationspsychologischer Sicht dient die Auseinandersetzung mit dem Personal vor allem der Steigerung der Qualität der Arbeit, der Arbeitszufriedenheit und der Verbesserung des Betriebsklimas.
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4
Interventionen
Die Tabelle 3 bietet eine Übersicht über die therapeutischen Interventionen im CLDienst. Tabelle 3 Die therapeutischen Interventionen im CL-Dienst Beratung, Krankheitsinformation, Therapiemotivation Kurzzeitpsychotherapie, supportive Maßnahmen psychopharmakologische Therapie Verlaufsmonitoring, Therapieevaluierung Behandlungsempfehlung, Behandlungsvermittlung (= kontinuierliche Behandlungskette)
4.1
Struktur der Untersuchung und der therapeutischen Interventionen in der CL-Versorgung
Die CL-Versorgung strebt zwei Ziele an. Dabei handelt es sich einerseits um die konsiliar-psychiatrische Akutversorgung mit Initiierung einer spezifischen Behandlungskette bei Patienten mit psychischen Störungen (das zeitliche Ausmaß dieses Versorgungsangebots ist kurz- bis mittelfristig). Andererseits werden chronisch Kranke mit wiederholtem Behandlungsbedarf bei psychischen Belastungs- und Anpassungsstörungen infolge von somatischen Erkrankungen (wie z. B. Krebserkrankungen, chronische Herz-Kreislauf-Erkrankungen, AIDS, neuro-degenerative Krankheiten, Schmerzsyndrome, etc.) mittel- bis langfristig psychiatrisch/psychotherapeutisch im Liaisondienst versorgt. Diese CL-Versorgungsangebote können folgende Bestandteile beinhalten: Diagnostik: Die Diagnostik stellt die Basis dar, auf die alle weiteren CL-Versorgungsangebote aufbauen. Die Kernelemente einer fundierten Diagnostik sind eine umfassende Exploration inkl. Fremdanamnese, der psychopathologische Status, bei Bedarf psychodiagnostische Untersuchungen sowie die abschließende zusammenfassende Befunderstellung. Gutachtenerstellung: Die häufigste Fragestellung in diesem Zusammenhang ist die Abklärung einer akuten Suizidalität. Weiters ist auch die Frage der Geschäftsfähigkeit (Einsichts-Urteilsfähigkeit) eine häufige Fragestellung im CL-Dienst. Ein dritter Bereich der Gutachtenerstellung bezieht sich auf die Evaluierung vor Organtransplantationen.
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Akutbehandlung, Behandlungsempfehlung, Verlaufsmonitoring, Therapiemotivation, Therapievermittlung: Die psychiatrisch/psychotherapeutischen Interventionen umfassen im CL-Dienst Kriseninterventionen, supportive Interventionen sowie auch fokussierte Kurzzeitpsychotherapie. Darüber hinaus sind – wie aus Tabelle 3 zu entnehmen – kontinuierliche Kontrollen im Sinne eines Verlaufsmonitorings sowie Therapiemotivation und Therapievermittlung besonders wichtige Elemente des CL-Versorgungsangebotes. Die Motivationsarbeit kann in Gruppen- oder Einzelsettings durchgeführt werden. Dabei wird das psychische Störungsbild erklärt und an der Motivation zu weiteren psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlungen gearbeitet. Bei der Therapievermittlung werden weiterführende Behandlungsstrukturen dem Patienten zugänglich gemacht. Dies erfolgt entweder durch eine Vermittlung an eine intramurale Spezialambulanz oder durch die Überweisung an extramurale Strukturen (Facharzt, Psychotherapeuten, Psychologen).
4.2
Psychotherapie mit körperlich kranken Menschen
Bei der Psychotherapie mit körperlich kranken Menschen stellt die somatische Krankheit den Dreh- und Angelpunkt dar. Die Patienten haben oft keine klare Vorstellung, was Psychotherapie bedeutet, sodass anfangs häufig erklärende Informationen notwendig sind. Da der Auft rag für eine psychiatrisch/psychotherapeutische Intervention meistens vonseiten der somatischen Behandler kommt, kann der Patient selbst oft das Problem nicht genau definieren bzw. kann auch keinen klaren Behandlungsauftrag formulieren. Im CL-Dienst ist es also häufig notwendig, diese Problemdefinition und den Behandlungsauftrag gemeinsam mit dem Patienten zu erarbeiten. Sehr oft liegt der Schwerpunkt der psychotherapeutischen Arbeit auf Realängsten, die sich auf die somatische Erkrankung beziehen oder auch auf aktuellen Konflikten. Besonders wichtig ist es Einschränkungen der Patienten zu berücksichtigen, die mit der somatischen Krankheitssituation einhergehen bzw. dadurch verursacht sind. Aus diesem Grund orientiert sich das therapeutische Arbeiten immer an deren Ressourcen und Möglichkeiten. Eine funktionierende CL-Arbeit bezieht auch immer die somatischen Mitbehandler mit ein, sodass ein guter Austausch gegeben ist und die psychiatrisch/ psychotherapeutischen Interventionen im somatischen Gesamtbehandlungskonzept integriert sind. In Anbetracht der immer kürzeren Aufenthaltsdauern im stationären Behandlungsbereich ist es auch besonders wichtig, die Angehörigen in die Behandlungskonzepte mit einzubeziehen, wodurch sich häufig zusätzlich Unterstützungsmöglichkeiten für den Patienten eröffnen. Auch die Rahmenbedingungen, unter denen die psychiatrisch/psychotherapeutische Arbeit stattfindet, unterscheiden sich von denen in einer psychiatrischen Ambulanz oder Ordination, orientieren sich an dem Krankenhausalltag und besonders an den Möglichkeiten der Patienten. Psychotherapeutisches Arbeiten mit körperlich kranken Menschen zielt auf die Verbesserung von Bewältigungsstrategien, Veränderungen im Gesundheitsverhalten, Förderung der Motivation und die Förderung von Ressourcen der Patienten, aber auch des unterstützenden Umfelds ab. Besonders wichtig ist es beim therapeutischen Arbei508
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ten im Hier und Jetzt zu bleiben, klar umschriebene Behandlungsziele zu formulieren und neue Verhaltensweisen im Umgang mit der Erkrankung zu erlernen und zu erproben. Auf jeden Fall sollte viel Raum und Zeit zum Zuhören und für Emotionen vorhanden sein. Auch existenzielle Themen wie Krankheitsprogression und damit verbundenes Fortschreiten der Behinderung, eine eventuelle Lebensbedrohung und auch die Lebensendlichkeit müssen entsprechend den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Patienten Platz finden. Tabelle 4 beinhaltet eine Übersicht der psychotherapeutischen Interventionen bei körperlich kranken Menschen. Tabelle 4 Psychotherapeutische Interventionen bei körperlich kranken Menschen Beziehungsbildende Kurzkontakte Informationsvermittlung, Informationsaustausch Krisenintervention Beratung, Psychoedukation Betreuung (emotionale Unterstützung) Begleitung (Kontinuität) Behandlung: psychiatrisch, klinisch-psychologisch, psychotherapeutisch Kurzfristige psychotherapeutische Fokaltherapie (3–6 Kontakte) Längerfristige Psychotherapie
4.3
Psychopharmakologische Therapie im psychiatrischen CL-Dienst
Bei jeder psychopharmakologischen Medikation, die im CL-Dienst verordnet wird, müssen zwei potentielle Interaktionsbereiche berücksichtigt werden: 1. Interaktionen mit den somatischen Erkrankungen bzw. Krankheitsrisikofaktoren: Z. B. sind Psychopharmaka, die ein höheres Risiko aufweisen eine metabolische Stoff wechsellage zu verursachen bzw. negativ zu beeinflussen, bei Krankheiten wie Diabetes mellitus oder auch bei bestehenden Risikofaktoren wie Adipositas zu vermeiden. 2. Interaktionen zwischen Medikamenten gegen die somatischen Grunderkrankungen und Psychopharmaka: Besonders gut lassen sich diese Einflussfaktoren anhand des Zytochromsystems darstellen, wodurch bei einer Vielzahl von Psychopharmka über Inhibition oder Induktion eine Veränderung der Wirksamkeit sowohl der somatischen wie auch der psychiatrischen Medikation verursacht werden kann. Als Beispiel sei der mögliche Einfluss von Antidepressiva genannt, die über CYP 2D6 metabolisiert werden und dort auch die Metabolisierung des in 509
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der onkologischen Therapie des Mammakarzinoms eingesetzten Tamoxifen verändern und zu einer Reduktion des Tamoxifenspiegels führen können. Tabelle 5 Richtlinien für die Verordnung von Psychopharmaka im CL-Dienst Interaktionsprofile sowohl hinsichtlich somatischer Erkrankung als auch hinsichtlich somatischer Medikation berücksichtigen Bei schweren somatischen Erkrankungen und damit verbundenem reduziertem Allgemeinzustand und bei älteren Patienten mit geringer Dosierung beginnen und langsamer Aufdosieren („start low and go slow“) Ausreichende Information des Patienten über psychopharmakologische Medikation und eventuelle Nebenwirkungen Regelmäßige Evaluierung der Therapie in Verbindung mit Abwägen der Nutzen-/Risikoverhältnisse Beobachtung von Compliance, die vor allem bei Polypharmazie reduziert sein kann
5
Qualitätssicherung im CL-Dienst
Zur Sicherung der Qualität im CL-Dienst bedarf es bestimmter überprüfbarer, standardisierter Vorgehensweisen.
5.1
Standardvorgehen im Konsiliardienst
Die Basis für jede Untersuchung im CL-Dienst stellt eine ausführliche Exploration des Patienten dar. Häufig ist es hilfreich, auch eine außenanamnestische Erhebung mit relevanten Bezugspersonen durchzuführen und so das psychosoziale Wissen abzurunden. Die Grundlage für die Diagnostik wird im Rahmen der ausführlichen Exploration mittels der psychopathologischen Befunderstellung (= psychopathologischer Status) gelegt. Gleichzeitig erfolgen auch differentialdiagnostische Überlegungen, die eventuell noch Vorschläge für weitere somatische Abklärungen nach sich ziehen können. Für die Diagnostik wird immer ein internationales Klassifikationsschema verwendet, in den meisten Fällen ICD-10. Einen weiteren wichtigen Bestandteil der CL-Untersuchung stellt die Therapieempfehlung dar, die sowohl eine psychopharmakologische, psychotherapeutische oder psychosoziale Behandlungsempfehlung beinhalten kann. In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung, dass der Patient ausreichend Information über seine psychische Erkrankung wie auch über adäquate Therapiemöglichkeiten erhält. Zur Realisierung dieser Therapieempfehlungen ist einerseits die Erstellung eines schrift lichen Befundes (mit allen oben erwähnten Elementen) für die zuweisenden somatischen Behandler unbedingt erforderlich, andererseits zeigt sich in der Praxis, dass auch die direkte Information an den Patienten und an seine Angehörigen eine wichtige Voraussetzung ist. Damit CL-Dienste wirklich für alle Beteiligten (Patienten, somatisches Behandlungsteam und CL-Dienstmitarbeiter) zufriedenstel510
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lend funktionieren, ist ein häufiger Informationsaustausch eine grundlegende Voraussetzung. Patienten, die längerfristig stationär behandelt werden müssen bzw. häufiger stationär aufgenommen werden, bedürfen einer regelmäßigen Evaluierung der eingeleiteten therapeutischen Maßnahmen (z. B. Überprüfung und Anpassung der psychopharmakologischen Medikation). Damit die CL-Intervention auch von nachhaltiger Bedeutung für den Patienten sein kann, ist ein gut eingespieltes Schnittstellenmanagement (= Initiierung einer weiterführenden Behandlungskette) im Sinne von Informationsvermittlung und Zuweisung der Patienten zu intramuralen Spezialambulanzen bzw. zu niedergelassenen Fachärzten und Psychotherapeuten im extramuralen Bereich äußerst wichtig. Für die Qualitätssicherung der CL-Dienste ist eine ausführliche Dokumentation mittels eines spezifischen CL-Dokumentationssystems sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der erbrachten Leistungen eine absolute Notwendigkeit.
5.2
Standardvorgehen im Liaisondienst
Prinzipiell ist das Vorgehen im Liaisondienst ähnlich dem im Konsiliardienst, allerdings liegt das Hauptaugenmerk nicht auf dem schrift lichen Befund, sondern auf der Kommunikation direkt mit den somatischen Behandlern oder auf dem interdisziplinären Austausch im Rahmen von psychosozialen Besprechungen oder Fallkonferenzen. Die schrift liche Befunderstellung ist aber von Bedeutung im Bezug auf die weitere Therapieplanung nach der Entlassung (z. B. Festhalten der psychiatrischen Diagnose im Arztbrief).
5.3
Standards in der Aus- und Weiterbildung
Ein wesentliches Element in der Qualitätssicherung von CL-Diensten stellt die unbedingte Notwendigkeit einer ausreichenden und regelmäßig zur Verfügung stehenden Supervisionsmöglichkeit dar. Dabei sind sowohl Einzel- als auch Gruppensupervisionen des Teams unbedingt erforderlich. Darüber hinaus sind CL-Fallkonferenzen überaus hilfreich, bei denen einerseits die Teamstandards definiert und immer wieder überprüft werden, andererseits aber auch die notwendige emotionale gegenseitige Unterstützung und Rückversicherung durch die Mitarbeiter des CL-Teams erfolgt. Durch die Verankerung der CL-Tätigkeit sowohl in der Facharztausbildung als auch in der Ausbildung zum klinischen Psychologen kann ein Basiswissen in der CL-Versorgung garantiert werden. Außerdem hat sich die Etablierung von CL-Ausbildungscurricula als besonders wichtig erwiesen.
511
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5.4 Voraussetzungen und Kenntnisse eines psychiatrisch/ psychotherapeutischen Konsiliararztes Voraussetzungen und Kenntnisse eines psychiatrisch/psychotherapeutischen Konsiliararztes beziehen sich einerseits auf das Wissen über die ursächlichen Zusammenhänge und Interaktionen von organischen und psychischen Erkrankungen. Andererseits ist eine ausgedehnte berufliche Erfahrung von Nutzen, sodass eine sichere psychiatrische Diagnostik vor allem in den Bereichen der depressiven Störungen, der Angststörungen sowie der Suchterkrankungen und der somatoformen Störungen gegeben ist und mögliche Differentialdiagnosen berücksichtigt werden können. Für den richtigen Einsatz von Psychopharmaka sind u. a. Kenntnisse über pharmakologische Interaktionen von großer Bedeutung. Weiters ist die Erfahrung über das Wechselspiel von subjektivem Erleben, Persönlichkeitsstruktur und körperlichen Funktionen sehr wichtig für eine zufriedenstellende klinische Arbeit. Besonders hilfreich erscheint die Fähigkeit, sich schnell auf unterschiedliche Situationen und Menschen einstellen zu können. Dadurch ist auf der Basis von großer Flexibilität und weitreichenden Fachkenntnissen im psychiatrisch/psychotherapeutischen Arbeiten, aber auch in den medizinisch-somatischen Bereichen eine umfassende und sinnvolle Arbeit für die Patienten, aber auch für die somatischen Behandlungsteams möglich.
5.5
Wissenschaftliche Begleitevaluierung
Die psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutische CL-Dienste stellen einen relativ jungen Versorgungsbereich dar, bei dem sich in den letzten Jahren sehr viele Strukturen erst entwickelt haben bzw. noch in Entwicklung sind. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, die Abläufe, aber auch die inhaltlichen Konzepte wissenschaftlicher Begleitevaluierung zu unterziehen und entsprechend den Ergebnissen Adaptierungen vorzunehmen. Ein besonderes Augenmerk liegt zurzeit auf dem Screening, also jene Patienten zu identifizieren, die einer psychiatrisch/psychologisch/psychotherapeutischen Unterstützung besonders bedürfen. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt liegt in der Initiierung der Behandlungskette, sodass der Patient nicht nur während des stationären Aufenthaltes kurzfristig Zugang zu einer psychiatrisch/psychotherapeutischen Unterstützung hat, sondern ihm auch weiterführende Informationen zu den entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten gegeben werden. In diesem Zusammenhang ist die Aufk lärung über die psychische Erkrankung bzw. die damit verbundene Therapiemotivation von besonderer Bedeutung: Dies bedarf noch weiterer wissenschaft licher Evaluierungen. Die Tabelle 6 beinhaltet die Kernelemente der Qualitätssicherung im CL-Dienst.
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Tabelle 6 Kernelemente der Qualitätssicherung im CL-Dienst Standardisiertes Vorgehen im Konsiliardienst Standardisiertes Vorgehen im Liaisondienst Ausbildungs-/Weiterbildungsstandards Definierte Voraussetzungen und Kenntnisseder CL-Dienstmitarbeiter Wissenschaftliche Begleitevaluierung
Fallbeispiele Im Folgenden wird die klinisch-psychologische Behandlung eines 28-jährigen Patienten beschrieben, der an einer somatoformen Störung leidet: Herr H. wurde wegen einer kolorektalen Tumorerkrankung an der Universitätsklinik für Chirurgie (Operation, Chemotherapie) erfolgreich behandelt. Bei drei aufeinanderfolgenden regulären Kontrollterminen an der entsprechenden onkologischen Ambulanz klagt der Patient über ein ihn sehr belastendes schmerzhaftes Ziehen in der linken Bauchgegend. Nachdem trotz intensiver organmedizinischer Abklärung kein somatisches Korrelat der Schmerzen gefunden werden konnte, wurde ein Konsiliardienstmitarbeiter hinzugezogen. Die folgende Behandlung der somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) umfasste 21 Sitzungen, die in meist wöchentlichem Abstand an der Psychoonkologischen Ambulanz stattfanden (Zeitraum: vier Monate). Im Rahmen der anschließenden Behandlung von Herrn H. wurden die Bereiche Diagnostik und Beziehungsaufbau, symptomorientierte Psychotherapie und Maßnahmen zur allgemeinen psychischen Stabilisierung berücksichtigt. Als Ergebnis der klinisch-psychologischen Behandlung kann angegeben werden, dass der Patient die Schmerzen bzw. das Ziehen in der linken Bauchgegend nur noch sehr selten verspürt. Dies ist am ehesten in Zeiten hoher Arbeitsbelastung der Fall. In diesen Situationen ist Herr H. aber mittlerweile gut in der Lage seine Schmerzempfindungen zu kontrollieren und diese entsprechend zu attribuieren. Er wendet dann das erlernte Entspannungstraining an und versucht in seinem täglichen Rhythmus auch bewusst Zeiten des Entspannens und der Erholung einzubauen. Diagnose: Demenz mit deliranter Verwirrtheit Herr R. ist 78 Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in einem Pflegeheim, da er als alleinstehender Witwer ohne Kinder nur mit der Unterstützung seines Neffen, der allerdings nicht im gleichen Ort lebt und nur in größeren zeitlichen Abständen zu Besuch kommen kann, in seiner Wohnung nicht mehr zurechtkam. Im Heim findet er meistens alleine sein Zimmer, weitere Spaziergänge unternimmt er aber nicht mehr. Aufgrund einer fiebrigen Erkältung ist er seit drei Tagen bettlägerig. Da das Fieber in der Nacht stark gestiegen ist und sich der Allgemeinzustand verschlechtert hat, wird Herr R. an der Klinik für Innere Medizin stationär aufgenommen. In der radiologischen
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Untersuchung wird eine ausgeprägte Pneumonie festgestellt und mit einer Antibiotika-Therapie begonnen. Untertags schläft Herr R. viel und tritt mit der Umgebung kaum in Kontakt. Am Nachmittag wird Herr R. zunehmend unruhig, versucht aufzustehen, obwohl er kaum stehen kann und erhält zum eigenen Schutz Bettgitter. Herr R. ist dadurch sehr beunruhigt, fühlt sich eingesperrt und ruft um Hilfe. Der diensthabende Pfleger versucht Herrn R. zu beruhigen, dieser fühlt sich bedroht und wehrt sich, indem er um sich schlägt. Der psychiatrische CL-Dienst wird mit der Bitte um eine Konsilaruntersuchung und Therapieempfehlung beigezogen. In der psychiatrischen Untersuchung ist Herr R. wach und ansprechbar, zeitlich, örtlich und situativ desorientiert, zur Person orientiert, psychomotorisch sehr unruhig, agitiert, eine ausführliche Exploration ist nicht möglich, allerdings wird sofort klar, dass sich der Patient bedroht fühlt, dass er Angst hat, ja sogar um sein Leben fürchtet. Es ist eine stark erhöhte paranoide Reaktionsbereitschaft gegeben, Wahrnehmungsstörungen im Sinne von optischen Halluzinationen sind nicht sicher auszuschließen. Im Rahmen der klinischen Untersuchung und bei Durchsicht der vorliegenden Befunde zeigt sich, dass Herr R. noch fiebert (> 38,5 °) und dass eine leicht bis mäßige Elektrolytentgleisung vorliegt, ansonsten ergeben sich keine pathologischen Hinweise. Die oben geschilderte Außenanamnese wird durch ein Telefonat mit dem Pflegeheim von Herrn R. erhoben. Als Akutintervention wird neben der schon bestehenden internistischen Medikation eine sehr gering dosierte sedierende und anxiolytische Behandlung mit einem atypischen Antipsychotikum und einer ebenso niedrigen Dosis eines Benzodiazepins empfohlen. Gemeinsam mit dem Behandlungsteam werden begleitende unterstützende Maßnahmen – wie die Kontinuität möglichst einer zuständigen Pflegeperson und eine nächtliche Sitzwache – besprochen. Als mittelfristige Maßnahme wird eine Demenzabklärung empfohlen. Nach der Einleitung der genannten Therapie bessert sich das Befinden des sympathischen Patienten, das Fieber ist abgeklungen, die Elektrolytstörung behoben. Diagnose: Alkoholabhängigkeit Der 36-jährige Herr F. wird nach einem ersten epileptischen Anfall vom Notarzt in die Klinik eingeliefert. Die somatischen Untersuchungen (Labor, zerebrales CT, Lebersonographie) ergeben außer einer deutlichen Leberschädigung keine pathologischen Veränderungen. Der beigezogene CL-Psychiater erhebt, dass Herr F. vor vier Tagen den regelmäßigen Alkoholkonsum beendet hat und vom Hausarzt für die ersten Tage der Abstinenz Medikamente verordnet erhielt. Nachdem er sich zunehmend besser fühlte, beendete Herr F. die Einnahme dieser Therapie am dritten alkoholfreien Tag abrupt. Zum Zeitpunkt der psychiatrischen Konsiliaruntersuchung in der Notaufnahme zeigt der Patient eine leichte Entzugssymptomatik. Hinsichtlich seines Alkoholkonsums besteht nur begrenzte Krankheitseinsicht; deutlich ist eine Dissimulationstendenz zu erkennen. Eine Therapiemotivation ist nur eingeschränkt gegeben. Nach einem ausführlichen therapeutischen Gespräch mit dem Schwerpunkt „Therapiemotivation“ kann der Patient eine engmaschige, ambulante Behandlungsstruktur annehmen; gleich-
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zeitig erfolgt nach ausführlicher Aufklärung wiederum eine Medikation mit Benzodiazepinen bis zum Abklingen des akuten Abstinenzsyndroms. Diagnose: Depressive Störung Im Alter von 62 Jahren erleidet Frau G. einen ausgedehnten zerebralen Insult mit hemiparetischer Symptomatik. Die Therapie verläuft schwierig, da immer wieder verschiedenste somatische Komplikationen von Medikamentenunverträglichkeiten bis hin zu rezidivierenden Infekten auftreten. Nach acht Wochen stationärer Behandlung an der Neurologie ist Frau G. deprimiert, weinerlich und nicht zu motivieren, bei den physiotherapeutischen Behandlungen mitzumachen. Nachdem sie bei der Visite äußert, dass Sterben sowieso der bessere Weg für sie sei, wird der Konsiliarpsychiater zugezogen. In der psychiatrischen Untersuchung zeigt sich, dass die Patientin in den letzten vier Wochen kontinuierlich depressive Symptome entwickelte und die Diagnose depressive Episode gestellt werden muss. Nachdem die Patientin bisher noch nie an einer psychischen Störung litt, wird ein ausführliches Gespräch über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten einer depressiven Störung geführt. Bezüglich der Suizidalität lässt sich feststellen, dass keine suizidale Einengung vorliegt, sondern dass die Gedanken ans Sterben Ausdruck von Überforderung und vor allem Angst darstellen. Neben einer medikamentösen Therapie mit einem SSRI wird auch ein regelmäßiges psychotherapeutisches Behandlungskonzept mit ausgeprägter Motivationsarbeit hinsichtlich der neurologischen Rehabilitationstherapie durchgeführt. Frau G. spricht langsam, aber kontinuierlich auf die therapeutischen Interventionen an, sodass nach weiteren 4 Wochen im Akutkrankenhaus eine Verlegung in eine spezifische neurologische Rehabilitationsklinik möglich ist.
6
Erhebung von Patient-Reported Outcomes (PROs) für die medizinische Praxis und Forschung
6.1
Patient-Reported Outcomes (PROs)
In der Vergangenheit war es in weiten Bereichen der Medizin üblich, dass der Gesundheitszustand eines Patienten allein durch den Arzt eingeschätzt bzw. beurteilt wurde. Seit den 1990er Jahren entwickelte sich ein zunehmendes Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Perspektive des Arztes (Fremdeinschätzung) durch eine Selbsteinschätzung durch den Patienten, den sogenannten Patient-Reported Outcome (PRO), zu ergänzen. Diese Selbsteinschätzung ist sowohl für psychosoziale Probleme (Depression, Angst, soziale Unterstützung etc.) als auch somatische Symptome (Schmerz, gastrointestinale Symptome, körperliche Einschränkungen im Alltag, etc.) von zentraler Bedeutung. Insbesondere bei chronisch kranken Patienten (z. B. Onkologie, Kardiologie) ist die Erhebung der Schwere verschiedener Symptome, die durch die Krankheit oder deren Behandlung hervorgerufen werden, ein wesentlicher Bestandteil der Erfassung des Ge515
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sundheitszustandes. Das heißt, neben klassisch messbaren medizinischen Informationen (beispielsweise Blutwerte, Funktionen der Organe oder Herz- und Kreislaufwerte) wird die Erhebung und Auswertung des subjektiven Befindens zunehmend wichtiger. Dies erfolgt in aller Regel mittels entsprechender standardisierter Fragebögen. Diese Instrumente dienen neben der laufenden Therapieevaluierung auch einer wissenschaft lichen Begleitforschung der Effizienz therapeutischer Bemühungen und letztendlich auch der Qualitätssicherung.
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516
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Kapitel 18
Forensische Psychiatrie 1
Forensische Psychiatrie in Österreich Regina Prunnlechner-Neumann, Reinhard Haller
1.1
Einleitung
Die forensische Psychiatrie fi ndet ihre interdisziplinäre Entsprechung im Grenzgebiet von Rechtswissenschaften, Kriminologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie und Medizin. Sie befasst sich einerseits mit Fragen der Begutachtung von Menschen mit psychischen Störungen, andererseits mit der Behandlung von psychisch kranken und gestörten Rechtsbrechern. Neben den traditionellen Aufgaben der Beurteilung von Zurechnungs- bez. Schuldfähigkeit, der Geschäfts-, Testier- und Prozessfähigkeit, der Prognostik und der Beeinträchtigung der Berufs- und Arbeitsfähigkeit durch psychische Störungen sind gutachterliche Fragestellungen zu Sachwalterschaft , Suchtmittelkonsum bzw. Suchtmittelabhängigkeit, KFZ- und Waffentauglichkeit, jugendlicher Reife oder zur Bemessung des Schmerzensgeldes für seelisches Leid zu beantworten. Die forensisch-psychiatrische Forschung liefert nicht nur die wissenschaftlichen Grundlagen der reinen Begutachtungskunde, sondern widmet sich auch den Bereichen Prognostik sowie der forensischen Therapie und Rehabilitation. Einen weiteren, in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses getretenen Bereich nehmen Einschätzung und Management des Aggressionsrisikos von Menschen mit psychischen Störungen ein. Dies ist nicht nur für die Lösung der gutachterlichen Aufgaben, sondern auch für den Umgang mit der von psychiatrischen Patienten ausgehenden Selbst- und Fremdgefährdung von hohem Interesse, und zwar sowohl im forensischen als auch im allgemein-psychiatrischen Setting. Der praktischen Bedeutung entsprechend, werden im Folgenden drei forensischpsychiatrische Schwerpunkte berücksichtigt: 1. Die Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens 2. Die rechtlichen Voraussetzungen für Zwangseinweisung und Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern 3. Wichtige psychiatrierelevante Gesetzesbestimmungen
1.2
Erstellung eines Gutachtens
Im Unterschied zu manchen anderen europäischen Rechtsordnungen, die in der Stellungnahme des Experten nur eine Form des Zeugenbeweises sehen, gilt der Sachverständige und sein Gutachten im österreichischen Verfahrensrecht als eigenständiges Beweismittel, dem eine überragende Beweiskraft zukommt, er ist vor allem aber auch
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ein Helfer des Gerichts, der diesem das für den Erkenntnisprozess nötige Fachwissen verschafft. Während im Zivilverfahren der Gutachter durch das Gericht bestellt wird, ist im Strafverfahren mit der am 1. 1. 2008 in Kraft getretenen grundlegenden Reform des Vorverfahrens eine Änderung erfolgt: Von den ersten kriminalpolizeilichen Ermittlungen bis zum Einbringen der Anklage obliegt der Staatsanwaltschaft die Leitung des Ermittlungsverfahrens, wogegen früher der Untersuchungsrichter diese Rolle innehatte. Psychiatrische Sachverständige werden deshalb von der Staatsanwaltschaft im Rahmen des Vorverfahrens bestellt, während das Gericht dies erst im Rahmen des Hauptverfahrens veranlassen kann. 1.2.1
Durchführung der Begutachtung
Es ist zu raten, den zu Begutachtenden durch ein in neutralem Kuvert verschicktes Schreiben vorzuladen. Neben der Vorstellung des Sachverständigen und Benennung des Gutachtensauftrages sollen Ort der Untersuchung, Termin und voraussichtliche Untersuchungsdauer angeführt werden. Daneben soll die Bitte nach ärztlichen Attesten, Vorbefunden, Gutachten und einem Verzeichnis der eingenommenen Medikamente deponiert werden. Falls Zusatzuntersuchungen (bildgebende Verfahren, psychodiagnostische Testuntersuchungen, EEG, Blut- und Harnabnahme etc.) geplant sind, sollte dies vermerkt sein. Zu Beginn der Begutachtung wird der Proband auf seine Rechte, insbesondere jenes der Verweigerung der Untersuchung, hingewiesen. Sinnvoll sind Informationen über die Rolle des Gutachters als neutraler Gehilfe des Gerichts sowie Erklärungen über die Art der geplanten Untersuchungen sowie Aufk lärung darüber, dass diese nicht – wie in der somatischen Medizin – auf apparativen oder laborchemischen Diagnoseverfahren beruhen. Eine profunde Kenntnis der Aktenlage ist die Basis jeden Gutachtens. Erfahrene Gutachter studieren vor der Untersuchung lediglich die Zusammenfassung des Akteninhaltes, um möglichst vorurteilsfrei ihrem Gutachtensauftrag nachkommen zu können, andere Sachverständige wiederum wollen aber bereits zu Beginn der Untersuchung möglichst umfassend informiert sein, um bei der Exploration zielgerichtet vorgehen zu können. Der psychiatrischen Exploration, die in einer möglichst entspannten Atmosphäre erfolgen soll, kommt ebenso wie der psychopathologischen Befunderhebung zentrale Bedeutung zu. Der Untersucher soll eine neutrale Haltung einnehmen und bemüht sein, das Erhebungsgespräch nicht in eine therapeutische Begegnung umfunktionieren zu lassen. Andererseits darf die Exploration vom Gutachter nicht zum Verhör degradiert werden. Einem Probanden, der intensives Aussprachebedürfnis signalisiert, sollte die freie Rede zugestanden werden, wenngleich die Befragung nach einem festgelegten Schema vorzunehmen ist. Der Untersucher hat dem Probanden respektvoll und mit der nötigen Distanz zu begegnen. Sofern er einen Schreibblock oder ein Diktiergerät benützt, sollte er dies dem zu Untersuchenden zuvor mitteilen.
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Vor der testpsychologischen Untersuchung ist eine differenzierte Aufk lärung über Sinn und Aussagekraft des angewandten Verfahrens erforderlich. Die körperliche Untersuchung hat sich auf das notwendige Ausmaß zu beschränken und soll nach Art, Umfang und Belastung für den Untersuchten dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Bei gutachterlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Suchtgiftgesetz ist oft eine Harnanalyse, manchmal auch eine toxikologische Analyse des Haupthaares erforderlich. Die Methode der Harnabnahme sollte nach einem definitiven Sicherheitsprogramm erfolgen, da Betroffene, die wegen eines Drogendeliktes angezeigt worden sind, nicht selten versuchen, das Ergebnis der Untersuchung zu manipulieren. Fast immer bittet der Untersuchte den Sachverständigen, ihm das Ergebnis seiner Untersuchung mitzuteilen. Dies muss verweigert werden, da eine strenge Gebundenheit gegenüber dem Auftraggeber besteht und eventuell auch Tests noch ausgewertet und ärztliche Befunde eingeholt werden müssen. Der Explorant kann jedoch auf die Möglichkeit hingewiesen werden, die Akten einschließlich des Gutachtens bei Gericht oder über seinen Anwalt einzusehen. 1.2.2 Aufbau eines Gutachtens Das Vorliegen eines schrift lichen Gutachtens erleichtert den Prozessbeteiligten das Verständnis der mündlichen Ausführungen des Gutachters, seine Befragung und die Übertragung seiner Ausführungen in das Urteil sowie in andere Schriftsätze. Ein Gutachten wird nicht an seiner Länge, sondern an seiner Aussagekraft und Exaktheit gemessen. Psychiatrische Gutachten sollen folgenden Aufbau aufweisen: • Adressierung an die auftraggebende Stelle • Personalien des zu Untersuchenden und Aktenzahl • Auftragserteilung und genaue Darlegung der Fragestellung • Untersuchungsgrundlagen • Auszüge aus Akten und medizinischen Unterlagen • Allgemeine Exploration: – Biografie – Familienanamnese – Frühere Krankheiten – Krankheitsanamnese – Schilderung der gutachtensrelevanten Tatbestände • Befunde – Psychopathologischer Befund – Testpsychologie – Somatischer Befund • Zusatzbefunde (Labor, EEG, CT, MRT, Harnscreening etc.) • Gutachterliche Beurteilung • Zusammenfassung
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Die Darstellung der Aktenlage soll kurz und prägnant erfolgen, damit auch für das Gericht nachvollziehbar ist, welche Akteninhalte vom Gutachter als relevant eingestuft wurden. Die Exploration und Anamneseerhebung soll den allgemeinen Richtlinien folgen. Die klinisch-kriminologische Erhebung der Vorgeschichte hat sich darüber hinaus auf folgende Schwerpunkte zu konzentrieren: • Gibt es Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Krankheit oder krankheitswertigen psychischen Störung? • Gibt es Hinweise auf eine Störung der Sozialisation (frühe Verhaltensauff älligkeiten, frühe Delinquenz, Krankheiten bzw. Delinquenz der Eltern)? • Welchen anderen Einflussgrößen war der Untersuchte in seiner Entwicklung ausgesetzt (Peer Group, subkulturelle Orientierung)? • Wie verliefen Partnerbeziehungen und Arbeitsverhältnisse? • Gibt es Hinweise für Substanzmissbrauch? • Gibt es Hinweise auf Persönlichkeitsstörungen? Bei der Tat-, der Vorfall- oder der Beschwerdeschilderung sollte das subjektive Erleben möglichst detailliert erhoben werden. Darüber hinaus muss versucht werden, die zur fraglichen Zeit bestehende Gestimmtheit und das zur Verfügung stehende Maß an Reflexionsmöglichkeit und an Coping-Strategien abzuschätzen. Besonderes Interesse verdienen der Grad einer möglichen Alkoholisierung oder einer Drogen- bzw. einer Medikamenteneinwirkung sowie das Auft reten von spezifischen psychopathologischen Phänomenen. Der somatische Befund hat den Allgemeinzustand und das „Outfit“ des Untersuchten, sein Körpergewicht (wichtig für die Berechnung der Blutalkoholkonzentration!) sowie die Ernährungs- und Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen. Im Einzelnen sollten Herz-, Lungen- und Kreislauff unktionen sowie der Zustand des Abdomens (Leber!) geprüft werden. Bei der neurologischen Untersuchung sind die höheren neurologischen Funktionen, die Gehirnnerven sowie an den Extremitäten Motilität, Tonus, Trophik, Reflexe und Sensibilität wie auch die vegetativen Funktionen zu überprüfen. Der psychopathologische Befund enthält eine Darstellung der psychischen Verfassung des Untersuchten zum Zeitpunkt der Begutachtung (Querschnittsbild). Es empfiehlt sich, am Beginn des psychischen Befundes den Eindruck festzuhalten, den der Gutachter während der Exploration durch freie Verhaltensbeobachtung vom Probanden erhalten hat; das Gleiche gilt für die Art der emotionalen Zuwendung. Der weitere psychopathologische Befund wird nach den allgemeinen Richtlinien erstellt. Der besondere Wert testpsychologischer Befunde liegt in drei Aspekten begründet: 1. der Objektivität wissenschaft licher Tests im engeren Sinn 2. der Nachprüfbarkeit der Befunde durch einen anderen Experten 3. der Möglichkeit des Vergleiches der Leistung eines Individuums über Normwerte durch standardisierte Testmethoden. Der psychiatrische Sachverständige soll nur jene Testverfahren durchführen und auswerten, die er beherrscht. Sofern sich die Notwendigkeit einer umfassenden testpsychologischen Abklärung ergibt, emp-
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fiehlt sich die Einholung eines fachspezifischen Befundes durch einen klinischen Psychologen. 1.2.3
Das mündliche Gutachten
Die Teilnahme an der Hauptverhandlung ermöglicht dem Sachverständigen, sein Gutachten vorzutragen und zu aktualisieren. Er kann somit aktuelle Bezüge zu dem herstellen, was im Verhalten des Angeklagten während der Hauptverhandlung sichtbar geworden ist oder was in seinen Aussagen oder in denen der Zeugen mitgeteilt wurde. Bei dieser Gelegenheit können Fachausdrücke und die zur Anwendung gekommenen Methoden erläutert werden. Der Sachverständige sollte stets auf Distanz zu allen Prozessbeteiligten bedacht sein, er kann aber andererseits auch erwarten, mit der gebührenden Achtung behandelt zu werden.
1.3
Rechtliche Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung in psychiatrische Krankenanstalten
Um einem Bürger unserer westlichen Demokratien von Rechts wegen seine persönliche Freiheit zu entziehen, werden zwei Kategorien auff älligen Verhaltens als hinreichender Grund erkannt: 1. Verstöße gegen das Strafrecht, 2. Handlungen, die fehlende geistige Normalität erkennen lassen. Für die letztgenannte Kategorie gelten wiederum zwei relevante Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung: 1. Im wohlverstandenen Interesse des Kranken und damit zu seinem Wohle (Fürsorgegedanke), 2. Zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor den – tatsächlichen oder vermeintlichen – von einem psychischen Kranken ausgehenden Gefahren (Gefahrenabwehr). Zwangseinweisungen in eine psychiatrische Krankenanstalt sind infolgedessen unter zwei verschiedenen Aspekten zulässig: 1. Wenn eine akute psychische Erkrankung von Psychosewertigkeit vorliegt. 2. Wenn die psychische Erkrankung selbst- und fremdaggressives Verhalten befürchten lässt. Das in den westlichen Demokratien verankerte Recht auf Selbstbestimmung findet seine Grenze an den Rechten der anderen. Dem Kranken wird im Interesse der Integrität der Gemeinschaft ein Sonderopfer zugunsten eben dieser Gemeinschaft zugemutet. Das Kriterium der Gefahrenabwehr steht infolge seiner Nähe zu strafrechtlichen Überlegungen im Gegensatz zum Fürsorgegedanken, der die Einweisung und Unter521
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bringung eines psychisch Kranken vor allem als ein Hilfsakt für den Betroffenen sehen möchte. Häufig überschneidet sich jedoch das Moment der Gefahrenabwehr mit dem der Fürsorge, besonders dann, wenn im Rahmen von Suizidtendenzen sich die Gefahr gegen den Kranken selbst richtet. Eine Aufnahme auch gegen den Willen des Betroffenen erscheint sowohl als Maßnahme der Fürsorge wie auch der Gefahrenabwehr gerechtfertigt. Ungelöst jedoch ist das Problem der Selbstbeschädigung und der nicht vorsätzlichen Selbsttötung: Einem Gesunden wird zugebilligt, dass er sich im Rahmen von Konsumgewohnheiten (Alkohol, Nikotin) oder von gefährlichen Sportarten (Motorsport, Boxen, Drachenfl iegen, Klettern etc.) in Lebensgefahr begeben darf oder sich zumindest Verletzungen selbst zufügen oder zufügen lassen kann. Setzt ein psychisch Kranker jedoch sein Leben und seine Gesundheit ähnlichen Gefahren aus, erfüllt er die Voraussetzungen einer Zwangseinweisung oder einer Unterbringung. (Unterbringung bedeutet, dass ein Gerichtsbeschluss für den Verbleib eines Patienten unter geschlossenen Bedingungen vorliegt.) Der psychisch Gesunde bzw. körperlich Kranke genießt hier wesentlich größere Freiheiten, als dem psychisch Kranken zugebilligt werden. Die amtsärztliche bzw. polizeiärztliche Einweisung sowie die gerichtliche Unterbringung eines Patienten sind Zwangsmaßnahmen, die nur in Notsituationen eingesetzt werden dürfen. Unterbringungen von psychisch Kranken in geschlossenen bzw. geschützten Bereichen der psychiatrischen Krankenhäuser können nicht ausnahmslos vermieden werden. Hochgradig psychomotorisch erregte Kranke stellen beispielsweise für sich und für andere ein Gefahrenmoment dar und sind deshalb hilfsbedürftig. Die Zwangseinweisung sowie die Zwangsaufnahme sind in den meisten Staaten gesetzlich geregelt. Die Gesetze sind – der Kompetenzstruktur des staatlichen Gefüges entsprechend – entweder gesamtstaatlich gültig oder von Bundesland zu Bundesland verschieden. 1.3.1
Zur rechtlichen Situation in Österreich
Das Bundesgesetz vom 1. März 1990 über die Unterbringung psychisch Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz – UbG, BGBl 155/1990) regelt bundeseinheitlich die rechtlichen Fragen der Zwangseinweisung in psychiatrische Krankenanstalten und die dort durchzuführende Zwangsanhaltung. Der § 37 des Krankenanstaltengesetzes legt – naheliegend – fest, dass Abteilungen und Sonderkrankenanstalten für Psychiatrie zur Aufnahme psychisch Kranker bestimmt sind. Gemäß § 38 sind Abteilungen und Sonderkrankenanstalten für Psychiatrie grundsätzlich offen zu führen. Nach § 38a dürfen jedoch in Abteilungen und Sonderkrankenanstalten für Psychiatrie geschlossene Bereiche geführt werden. Geschlossene Bereiche dienen ausschließlich der Anhaltung von psychisch Kranken, auf die das Unterbringungsgesetz Anwendung fi ndet. Im § 38b wird festgehalten, dass auch außerhalb geschlossener Bereiche in Abteilungen und Sonderkrankenanstalten für Psychiatrie durch geeignete organisatorische Maßnahmen vorgesorgt werden kann, dass psychisch Kranke Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit nach dem UbG unterworfen werden können.
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Unterbringungsgesetz Der § 1 behandelt den Schutz der Persönlichkeitsrechte psychisch Kranker, die in eine Krankenanstalt aufgenommen werden: Der Schutz eben dieser Rechte ist das zentrale Anliegen des Unterbringungsgesetzes. Der Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes – nämlich Krankenanstalten und Abteilungen für Psychiatrie, in denen Personen in einem geschlossenen Bereich angehalten oder sonst Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden – ist im § 2 dargestellt. Gemäß § 3 darf nur in einer Anstalt untergebracht werden, wer an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb der Anstalt, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann. (Subsidiarität) Unterbringung auf Verlangen Eine Person, bei der die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, darf auf eigenes Verlangen untergebracht werden (§ 4). Das Verlangen muss vor der Aufnahme eigenhändig schrift lich festgehalten werden. Dies hat in Gegenwart des mit der Führung der Abteilung betrauten Arztes (Abteilungsleiter) oder seines Vertreters zu geschehen. Der Abteilungsleiter hat den Aufnahmewerber (Novelle des Unterbringungsgesetzes vom 17. 3. 2010, § 6) zu untersuchen. Dieser darf nur aufgenommen werden, wenn nach dem ärztlichen Zeugnis des Abteilungsleiters die Voraussetzungen der Unterbringung sowie die Einsichts- und Urteilsfähigkeit vorliegen. Das Ergebnis der Untersuchung ist in der Krankengeschichte zu dokumentieren. Das Verlangen kann jederzeit widerrufen werden. Eine Person, für welche ein Sachwalter bestellt ist, darf auf eigenes Verlangen nur untergebracht werden, wenn auch der Sachwalter zustimmt (§ 5). Ein Minderjähriger darf nur auf Verlangen untergebracht werden, wenn auch die Erziehungsberechtigten die Unterbringung verlangen. Unterbringung ohne Verlangen Eine Person darf gegen oder ohne ihren Willen nur dann in eine „psychiatrische Abteilung“ gebracht werden, wenn ein im öffentlichen Sanitätsdienst stehender Arzt oder ein Polizeiarzt sie untersucht hat und bescheinigt, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind berechtigt und verpflichtet, eine Person zu untersuchen, zum Arzt zu bringen oder diesen beizuziehen. Bei Gefahr in Verzug können die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person auch ohne Untersuchung und Bescheinigung in ein Psychiatrisches Krankenhaus bringen (§§ 8–9). § 10: Der Abteilungsleiter hat die betroffene Person unverzüglich zu untersuchen. Sie darf nur aufgenommen werden, wenn nach seinem ärztlichen Zeugnis die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. Das Ergebnis der Untersuchung ist in der Krankengeschichte zu beurkunden. Das ärztliche Zeugnis ist als wesentlicher Bestandteil in den Krankenakten abzulegen. Der Abteilungsleiter hat den aufgenommenen Kranken möglichst rasch über die Gründe der Unterbringung zu unterrichten. Er hat ferner unverzüglich den Patientenanwalt und, wenn der Kranke nicht widerspricht, einen 523
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Angehörigen sowie auf Verlangen des Kranken auch dessen Rechtsbeistand von der Unterbringung zu verständigen (§ 10). Der Verständigung des Patientenanwalts ist eine maschinschrift liche Ausfertigung des ärztlichen Zeugnisses anzuschließen. „Verlangt dies die aufgenommene Person, ihr Vertreter oder der Abteilungsleiter, so hat ein weiterer Facharzt die aufgenommene Person spätestens am Vormittag des auf das Verlangen folgenden Werktags zu untersuchen und ein zweites ärztliches Zeugnis über das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung zu erstellen.“ (§ 10) „Liegen die Voraussetzungen der Unterbringung nach dem zweiten ärztlichen Zeugnis nicht (mehr) vor, so ist die Unterbringung sogleich aufzuheben. Einen maschinschriftliche Ausfertigung des zweiten ärztlichen Zeugnisses ist dem Patientenanwalt unverzüglich zu übermitteln.“ Vertretung des Kranken Der Patientenanwalt ist Vertreter des Kranken für das in diesem Bundesgesetz vorgesehene gerichtliche Verfahren (§ 13). Auch hat er die insbesondere in den §§ 33–39 verankerten Rechte des Patienten wahrzunehmen. Verständigung des Gerichtes und Anhörung des Kranken Wird eine Person ohne Verlangen in ein Psychiatrisches Krankenhaus aufgenommen, so hat der Abteilungsleiter unverzüglich das Gericht darüber zu verständigen (§ 17). Das Gericht hat sich binnen 4 Tagen ab Kenntnis von der Unterbringung einen persönlichen Eindruck vom Kranken im Krankenhaus zu verschaffen. Das Gericht hat Einsicht in die Krankengeschichte zu nehmen sowie den Abteilungsleiter, den Patientenanwalt und einen sonstigen, in der Krankenanstalt anwesenden Vertreter des Kranken zu hören (§ 19). Gelangt das Gericht bei der Anhörung zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, so hat es diese vorläufig für zulässig zu erklären (§ 20) und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die spätestens innerhalb von 14 Tagen nach der Anhörung stattzufi nden hat. Gelangt das Gericht hingegen zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen der Unterbringung nicht vorliegen, so hat es diese für unzulässig zu erklären und die Unterbringung ist aufzuheben, es sei denn, der Abteilungsleiter erhebt gegen den Beschluss Rekurs, dem vom Gericht aufschiebende Wirkung zuerkannt wird. Mündliche Verhandlung Zur mündlichen Verhandlung (§ 22) hat das Gericht einen oder mehrere Sachverständige zu bestellen. Erklärt das Gericht in der mündlichen Verhandlung die Unterbringung für zulässig, so hat es gleichzeitig eine Frist festzusetzen; diese darf 3 Monate ab Beginn der Unterbringung nicht überschreiten. Beschluss Erklärt das Gericht die Unterbringung für unzulässig (§ 26) so ist diese sogleich aufzuheben, es sei denn, der Abteilungsleiter erklärt, dass er gegen den Beschluss Rekurs erhebt und das Gericht erkennt diesen Rekurs sogleich aufschiebende Wirkung zu.
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Rechtsmittel Gegen den Beschluss, mit dem die Unterbringung für unzulässig erklärt wird, kann der Abteilungsleiter innerhalb von 7 Tagen Rekurs erheben (§ 28). Aufhebung der Unterbringung Der Abteilungsleiter hat die Unterbringung jederzeit aufzuheben, wenn deren Voraussetzungen nicht mehr vorliegen und hievon unverzüglich das Gericht und den Vertreter des Kranken zu verständigen (§ 32). Bei der Prüfung, ob die Unterbringung fortzusetzen oder aufzuheben ist, ist abzuwägen, ob die Dauer und Intensität der Freiheitsbeschränkung im Verhältnis zur erforderlichen Gefahrenabwehr angemessen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, ob durch eine zeitlich begrenzte Fortführung der Unterbringung, insbesondere durch einen zu erwartenden und nur im Rahmen der Unterbringung erreichbaren Behandlungsfortschritt, die Wahrscheinlichkeit wesentlich verringert werden kann, dass der Kranke in absehbarer Zeit nach der Aufhebung der Unterbringung neuerlich in seiner Freiheit beschränkt werden muss. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit Diese sind im Einzelfall nur zur entsprechenden Gefahrenabwehr zulässig und dürfen zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen, weiters sind sie vom Arzt anzuordnen, in der Krankengeschichte unter Angabe des Grundes zu beurkunden und unverzüglich dem Vertreter des Kranken mitzuteilen. Ärztliche Behandlung Die Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen erlaubt keine ärztliche Behandlung ohne sein Einverständnis. Die Behandlung selbst wird in den § 35–38 geregelt. Verfügt ein Patient über einen gesetzlichen Vertreter (z. B. einen einstweiligen Sachwalter), ist für eine medikamentöse Behandlung dessen Zustimmung erforderlich. Existiert kein gesetzlicher Vertreter, kann ein Patient gegen seinen Willen nur nach Zustimmung des Gerichtes behandelt werden. Ausnahme ist lediglich Gefahr in Verzug, in welchem Fall von der vorhergehenden Einholung einer gerichtlichen Genehmigung Abstand genommen werden kann, nachträglich aber der gesetzliche Vertreter des Kranken von der Behandlung zu verständigen ist. § 38: Vor der Entscheidung über die Zulässigkeit einer Beschränkung der Bewegungsfreiheit, einer Einschränkung des Verkehrs mit der Außenwelt, einer Beschränkung eines sonstigen Rechts oder über die Zulässigkeit einer ärztlichen Behandlung sowie über die Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung hat sich das Gericht in einer Tagsatzung an Ort und Stelle einen persönlichen Eindruck vom Kranken und dessen Lage zu verschaffen. Zur Tagsatzung hat das Gericht den Vertreter des Kranken und den Abteilungsleiter zu laden; es kann auch einen Sachverständigen beiziehen. § 38: Auf Antrag des Kranken oder seines Vertreters hat das Gericht nachträglich über die Zulässigkeit der Unterbringung, der Beschränkung der Bewegungsfreiheit, der Einschränkung des Verkehrs mit der Außenwelt, der Beschränkung eines sonstigen Rechts oder der ärztlichen Behandlung zu entscheiden, wenn die Unterbringung bereits vor der Entscheidung des Gerichts nach § 20 aufgehoben oder die Beschränkung, Einschränkung oder Behandlung bereits beendet wurde. 525
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Zusammenfassender Kommentar der Novelle des Unterbringungsgesetzes vom 17. 3. 2010 Ein Ziel der Novelle war die Eindämmung des „Drehtüreffekts“, also einer neuerlichen Unterbringung nach kurzer Zeit infolge einer zu frühen Beendigung einer vorangegangenen Aufnahme im geschlossenen Bereich. Dabei gilt es einige Aspekte zu benennen, die bei der Abwägung zwischen dem Ziel der Gefahrenabwehr und dem Eingriff in die Freiheitsrechte des Betroffenen zu berücksichtigen sind. Eine kurzfristige Verlängerung der Unterbringung könnte möglicherweise einen insgesamt geringeren Eingriff in die persönliche Freiheit bedeuten, als die ansonsten zu erwartenden Folgeunterbringungen. Die Stoßrichtung der Novelle richtet sich weniger gegen die bisherige Rechtslage als gegen eine „enge Interpretation“ des Gefährdungsbegriffs. Die Praxis neigte nämlich dazu, die geforderte „Gefährdung“ im Sinne eines „unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts“ („akute Gefährdung“) auszulegen. Deshalb wurden Unterbringungen vielfach aufgehoben, obwohl ein zeitlich etwas weitergespannter Prognosehorizont klargemacht hätte, dass die Schadenswahrscheinlichkeit nach Beendigung der Unterbringung wieder ansteigt. Prognostiziert werden muss, ob „unmittelbar“ oder aber auch „innerhalb eines absehbaren Zeitraums“ (von einigen Wochen bis wenigen Monaten) neuerliche eine Verschlimmerung der Erkrankung mit begleitender ernstlicher und erheblicher Selbst- und/oder Fremdgefährdung eintreten wird. Zwecks Abwehr einer Gefahr werden die Voraussetzungen der Selbst- oder Fremdgefährdung auch für Eingriffe in den Verkehr mit der Außenwelt anwendbar und sind daher auch für Beschränkungen zu beachten. Sie dienen jedoch auch dem Schutz der Rechte anderer Personen in der psychiatrischen Abteilung. Selbst wenn der Eingriff in den Besuchs- und Telefonverkehr durch das Ziel des „Schutzes/Rechte Anderer“ grundsätzlich gedeckt ist, muss er zusätzlich noch „unerlässlich“ und „verhältnismäßig“ sein. Die Voraussetzungen für die medizinische Behandlung Untergebrachter werden durch die Novelle 2010 nicht geändert. Die neue Umschreibung der „besonderen Heilbehandlung“ wird als Synonym für „schwerwiegende Behandlungen“ eingesetzt. Inhaltlich trat dadurch keine Änderung ein. Letztendlich hat die Novelle des Unterbringungsgesetzes durch die Notwendigkeit nur eines Zeugnisses durch den Abteilungsleiter zu einer Entlastung der betroffenen Patienten und der psychiatrischen Krankenhäuser sowie zu einer Verbesserung des Aufnahmemanagements geführt.
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Kompendium der psychiatrischen Rechtskunde
1.4.1
Psychiatrierelevante gesetzliche Bestimmungen in der Republik Österreich
Strafrecht (StGB) Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. StGB (Strafgesetzbuch) § 4: „Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt.“ StGB § 11: „Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einen dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft.“ Das österreichische Recht kennt den Begriff der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ nicht. Wohl aber werden psychische Störungen, die zu einer Beeinträchtigung – jedoch nicht Aufhebung – von Diskretions- und Dispositionsfähigkeit führen, gemäß § 34.1 StGB bei der Strafzumessung berücksichtigt. Sichernde und vorbeugende Maßnahmen Nachdem das neue österreichische Strafgesetz das System der Strafen durch ein System vorbeugender Maßnahmen ergänzt hat, wurde eine Reihe von Bestimmungen in dieses Gesetzeswerk aufgenommen, die helfen sollen, diese Absicht zu verwirklichen. StGB § 21 (1): „Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann er nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11) begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.“ StGB § 21 (2): „Liegt eine solche Befürchtung vor, so ist in eine Anstalt für geistige abnorme Rechtsbrecher auch einzuweisen, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die Unterbringung zugleich mit dem Ausspruch über die Strafe anzuordnen.“ StGB § 22 (1): „Wer dem Missbrauch eines berauschenden Mittels oder Suchtmittels ergeben ist und wegen einer im Rausch oder sonst im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung begangenen strafbaren Handlung oder wegen Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung verurteilt wird, ist vom Gericht in eine Anstalt für entwöhnungsbedürft ige Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung an berauschende Mittel oder Suchtmittel eine mit Strafe
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bedrohte Handlung mit schweren Folgen oder doch mit Strafe bedrohte Handlungen mit nicht bloß leichten Folgen begehen werde.“ Mit dem Strafrechtänderungsgesetz 2001 wurde die Möglichkeit der bedingten Nachsicht von vorbeugenden Maßnahmen geschaffen. Dadurch ist es möglich, dass psychisch gestörte Straftäter, deren Zustand sich bereits während der vorläufigen Anhaltung entscheidend gebessert hat, unter der Erteilung von Weisungen nur bedingt untergebracht werden. Das bedeutet, dass solche forensisch psychiatrische Patienten weisungsgebunden ambulant behandelt werden können. Wenn sie die Weisungen nicht einhalten, müssen sie dem stationären Maßnahmenvollzug zugeführt werden. Die Probezeit bei der bedingten Nachsicht der Unterbringung nach § 21 beträgt zehn Jahre, beim Widerruf sind Verlängerungen möglich. Auch im Fall der bedingten Entlassung aus dem stationären Maßnahmenvollzug werden Weisungen, etwa zur ambulanten psychiatrischen Therapie mit differenziertem Setting erteilt.
Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Rechtes (ABGB) Sachwalterrecht 1984 wurde die seit 1916 gültige Entmündigungsordnung durch das Sachwalterrecht abgelöst. Am 01.07.2007 trat das Sachwalterrechtsänderungsgesetz (SWRÄG) in Kraft . Das SWRÄG verstärkt den Subsidiaritätsgedanken und legt noch größeren Wert auf die Autonomie der Betroffenen. ABGB § 268.(1) Vermag eine volljährige Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist, alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen, so ist ihr auf ihren Antrag oder von Amtswegen dazu ein Sachwalter zu bestellen. (2) Die Bestellung eines Sachwalters ist unzulässig, soweit Angelegenheiten der behinderten Person durch einen anderen gesetzlichen Vertreter oder im Rahmen einer anderen Hilfe besonders in der Familie, in Pflegeeinrichtungen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder im Rahmen sozialer oder psychosozialer Dienste, im erforderlichen Ausmaß besorgt werden. Ein Sachwalter darf auch nicht bestellt werden, soweit durch eine Vollmacht, besonders eine Vorsorgevollmacht, oder eine verbindliche Patientenverfügung für die Besorgung der Angelegenheiten der behinderten Person im erforderlichen Ausmaß vorgesorgt ist. Ein Sachwalter darf nicht nur deshalb bestellt werden, um einen Dritten vor der Verfolgung eines, wenn auch bloß vermeintlichen, Anspruchs zu schützen. (3) Je nach Ausmaß der Behinderung sowie Art und Umfang der zu besorgenden Angelegenheiten, ist der Sachwalter zu betrauen: 1. mit der Besorgung einzelner Angelegenheiten, etwa der Durchsetzung oder der Abwehr eines Anspruchs oder der Abwicklung eines Rechtsgeschäftes, 2. mit der Besorgung eines bestimmten Teiles von Angelegenheiten, etwa der Verwaltung eines Teiles oder des gesamten Vermögens, oder
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3. mit der Besorgung aller Angelegenheiten der behinderten Person, soweit dies unerlässlich ist. Im § 283 (1) wird festgehalten, dass in eine medizinische Behandlung eine behinderte Person, soweit sie einsichts- und urteilsfähig ist, nur selbst einwilligen kann. Trifft dies nicht zu, ist die Zustimmung des Sachwalters erforderlich, dessen Wirkungsbereich die Besorgung dieser Angelegenheit umfasst. § 283 (2) Einer medizinischen Behandlung, die gewöhnlich mit einer schweren oder nachhaltigen Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Persönlichkeit verbunden ist, kann der Sachwalter nur zustimmen, wenn ein vom behandelnden Arzt unabhängiger Arzt in einem ärztlichen Zeugnis bestätigt, dass die behinderte Person nicht über die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt und die Vornahme der Behandlung zur Wahrung ihres Wohles erforderlich ist. Wenn ein solches Zeugnis nicht vorliegt, oder die behinderte Person zu erkennen gibt, dass sie die Behandlung ablehnt, bedarf die Zustimmung des Sachwalters der Genehmigung des Gerichtes. Erteilt der Sachwalter die Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung nicht und wird dadurch das Wohl der behinderten Person gefährdet, so kann das Gericht die Zustimmung des Sachwalters ersetzen oder die Sachwalterschaft einer anderen Person übertragen. § 283 (3) Die Einwilligung der einsichts- und urteilsfähigen behinderten Person, die Zustimmung des Sachwalters und die Entscheidung des Gerichtes sind nicht erforderlich, wenn die Behandlung so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Einwilligung, der Zustimmung oder der gerichtlichen Entscheidung verbundene Aufschub das Leben der behinderten Person gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre. Die Vertretungsbefugnis nächster Angehöriger (§ 284 b) betrifft Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens, solche zur Deckung des Pflegebedarfs, die Zustimmung zu „einfachen“ medizinischen Behandlungen sowie die Verfügungsbefugnis über sämtliche Einkünfte. Der nächste Angehörige hat seine Vertretungsbefugnis vor der Vornahme einer Vertretungshandlung im österreichischen zentralen Vertretungsverzeichnis registrieren zu lassen. Die Vorsorgevollmacht (§ 284 f) soll dazu dienen, zu einem Zeitpunkt, zu welchem noch Geschäfts-, Einsichts-, Urteils- und Äußerungsfähigkeit vorhanden sind, eine Person des Vertrauens als zukünft igen Vertreter zu bestimmen, um so zu einem späteren Zeitpunkt die Bestellung eines Sachwalters zu vermeiden. Die Errichtung einer Vorsorgevollmacht ist an die Mitwirkung dreier unbeteiligter Zeugen bei Fehlen einer eigenhändigen Unterschrift an die Beurkundung durch einen Notar geknüpft. Die Angelegenheiten, zu deren Besorgung die Vollmacht erteilt wird, müssen genau angeführt sein. Im Falle der Ermächtigung des Vorsorgebevollmächtigten zur Zustimmung zu schwerwiegenden medizinischen Behandlungen, zu einem dauerhaften Wohnsitzwechsel (etwa Übersiedelung in ein Pflegeheim) und zu Angelegenheiten der außerordentlichen Wirtschaftsverwaltung muss dies unter ausdrücklicher Bezeichnung der betreffenden Angelegenheiten vor einem Rechtsanwalt, Notar oder bei Gericht festgeschrieben werden.
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Geschäfts- und Testierfähigkeit ABGB § 865 bestimmt, dass „Kinder unter 7 Jahren und Personen über 7 Jahre, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben … unfähig sind, ein Versprechen zu machen oder es anzunehmen.“ Ein Geisteskranker hat nach diesem Gesetz „den Gebrauch der Vernunft“ nicht, wobei allerdings bestimmte Einschränkungen bestehen: „Der nur von bestimmten Wahnideen Beherrschte ist außerhalb dieses Gebietes vertragsfähig.“ Ein psychiatrisches Gutachten kann notwendig werden, wenn die Testierfähigkeit einer Person bezweifelt wird. ABGB § 565: „Der Wille des Erblassers muss bestimmt, klar und deutlich erkennbar sein, er muss ferner im Zustand der vollen Besonnenheit, mit Überlegung und Ernst, frei von Zwang, Betrug und wesentlichem Irrtum erklärt werden.“ In den §§ 566–569 AGBG werden Einschränkungen oder Aufhebungen der Testierfähigkeit beschrieben. Diese ist auch bei Personen, die einen Sachwalter benötigen, nicht gegeben. Unter „Testierfähigkeit“ wird die zur Errichtung oder Aufhebung letztwilliger Verfügungen erforderliche Geschäftsfähigkeit verstanden. Diese muss nur beim Testierakt vorhanden sein, was zu beurteilen eine Rechtsfrage ist, zu der allerdings immer wieder auch psychiatrische Sachverständige herangezogen werden. Als Ursache der Unfähigkeit, zu testieren, wird u. a. ein „Mangel der Besonnenheit“ angeführt. Wird bewiesen, dass die genannte Erklärung im Rahmen einer schweren psychiatrischen Erkrankung abgegeben worden ist, ist diese gemäß ABGB § 566 ungültig. Die Testierfähigkeit stellt nach den Kommentaren geringere Anforderungen an die psychischen Funktionen als eine Geschäftsfähigkeit. Sie erfordert nicht den Vollbesitz kognitiver Fähigkeiten und wird nur durch eine Beeinträchtigung ausgeschlossen, welche die Freiheit der Willensentschließung aufhebt. Weitere Aufgaben der forensisch-psychiatrischen Begutachtung ergeben sich im Bereich des Suchtmittelgesetzes (vorliegen einer Suchtmittelgewöhnung, Bestimmung der Art der gesundheitsbezogenen Maßnahme), des Jugendgerichtsgesetzes (Beurteilung des Reifegrades), der Arbeits- und Berufsunfähigkeit, der Invalidität und Minderung der Erwerbstätigkeit, des Pflegegeldgesetzes und – in neuerer Zeit besonders aktuell – der Schmerzensgeldzumessung. Bezüglich dieser speziellen Gutachtensschwerpunkte ist auf die Lehrbücher der forensischen Psychiatrie zu verweisen.
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Weiterführende Literatur Bachner-Foregger H (2006) StGB. Manz Taschenausgabe, 20. Aufl, Stand 1.7.2006. Manz, Wien
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Haller R (2008) Das psychiatrische Gutachten. 2. Aufl. Manz, Wien
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Bundesgesetzblatt (BGBl) (2010) 18. Bundesgesetz: Unterbringungs- und Heimaufenthaltsnovelle 2010.
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Dittrich R, Tades H (2005) Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB), 21. Aufl. Manz, Wien
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Forensische Psychiatrie in Deutschland Norbert Nedopil
Die forensische Psychiatrie ist nach heutigem Verständnis ein Spezialgebiet der Psychiatrie, welches sich mit den fachspezifischen Begutachtungsfragen und mit der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher befasst. Der psychiatrische Gutachter ist ein Dolmetscher, der eigene Erkenntnisse in einer Sprache darbietet, die das Gericht und die Prozessbeteiligten verstehen, sodass diese sie überprüfen und als Grundlage eigener Handlungsschritte verwenden können. Grundsätze der Begutachtung Um rechtliche Entscheidungen zu ermöglichen, ist nach allen entsprechenden Gesetzen ein zwei- oder mehrstufiges Beantwortungsschema zu beachten. Zuerst muss geklärt werden, ob das Ausmaß einer diagnostizierten psychischen Störung ausreicht, um den je nach anzuwendendem Gesetz geforderten juristischen Krankheitsbegriff zu erfüllen. Erst wenn die Antwort auf diese Frage positiv ausfällt, kann die zweite Frage beantwortet werden. Sie lautet: „Welche durch Gesetz oder Rechtsprechung bestimmte Funktionsbeeinträchtigung wird oder wurde durch die Störung bedingt?“ Diese Funktionsbeeinträchtigung wird je nach Gesetzestext unterschiedlich benannt. Die beiden aufeinanderfolgenden Stufen der Beurteilung sind bei allen gutachterlichen Äußerungen zu berücksichtigen. Die Schritte, die bei der gutachterlichen Beantwortung einer Rechtsfrage aufeinander folgen, sind somit: 1. Stellen einer klinischen Diagnose, 2. Subsumption unter einen juristischen Krankheitsbegriff, 3. Quantitative Beschreibung der Funktionsbeeinträchtigung, welche durch die Störung bedingt wurden oder bedingt werden, 4. Benennung der Wahrscheinlichkeit, mit welcher diese Beschreibung zutrifft. Am häufigsten ist der Psychiater, aber auch der praktische Arzt, mit rechtlichen Fragen befasst, welche die rechtliche Fürsorge, die Betreuung und die Unterbringung psychisch Kranker betreffen. Betreuungsrecht In Deutschland regelt das Betreuungsrecht den Umgang mit jenen Menschen, die „aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten nicht ganz oder teilweise zu besorgen“ vermögen (§ 1896 BGB). Darunter sind nach dem Gesetz volljährige Personen zu verstehen, die e) an einer psychischen Krankheit (Psychosen, Abhängigkeitserkrankungen, schweren Neurosen und Persönlichkeitsstörungen) oder f) an einer körperlichen Behinderung oder
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g) an einer geistigen Behinderung (angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzdefizite) oder h) an einer seelischen Behinderung (langfristige psychische Beeinträchtigungen als Folgen psychischer Krankheit auftreten, wie z. B. ein schizophrenes Residuum) leiden (1. Stufe der Beurteilung). Aufgrund der genannten Störung dürfen sie nicht in der Lage sein, einzelne, mehrere oder alle persönlichen Angelegenheiten zu besorgen (Erforderlichkeitsgrundsatz = 2. Stufe der Beurteilung). Das Gesetz setzt eine Hierarchie von Befugnissen und Entscheidungswegen fest, die ein abgestuftes und den jeweiligen Bedürfnissen angepasstes Reagieren ermöglichen sollen. Die Hierarchie, die sich auf das Ausmaß der Behinderung bezieht, sieht als geringsten Eingriff die Einrichtung einer Vollmacht vor (§ 1896 BGB). Einen weitergehenden Schritt stellt die Einrichtung einer Betreuung auf Antrag des Betroffenen dar. Liegt lediglich eine körperliche Behinderung vor, so ist ausschließlich diese Art der Betreuung möglich, es sei denn, der Betreffende kann seinen Willen nicht kundtun (§ 1896 Abs. 1 BGB). Bei psychisch Kranken und bei geistig oder seelisch Behinderten kann auch von Amts wegen, d. h. vom Vormundschaftsgericht, eine Betreuung eingerichtet werden, selbst dann, wenn der zu Betreuende dieser Maßnahme nicht zustimmt. Sie setzt voraus, dass der Betroffene aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung seinen Willen nicht frei bestimmen kann. Der Betreuer darf aber nur für die Aufgabenkreise bestellt werden, in denen eine Betreuung erforderlich ist. Einem Betreuten wird das über ihn im Betreuungsverfahren gefertigte Gutachten in aller Regel bekannt gemacht, in vielen Fällen muss es ihm sogar vollständig zugesandt werden. Lediglich wenn ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden bei der Kenntnisnahme des Gutachteninhalts zu befürchten ist, kann auf eine Unterrichtung des Betreuten verzichtet werden. Vollmacht und Betreuung Nach dem Betreuungsrechtsänderungsgesetz von 1999 hat die Vollmacht besonders in der Stellvertretung für Gesundheitsangelegenheiten erheblich an Gewicht gewonnen. Gleichzeitig wurden Schutzvorschriften erlassen, um ihren Missbrauch zu verhindern. Eine Vollmacht ist die am wenigsten in die Rechte des Patienten eingreifende fürsorgliche Maßnahme. Sie kann auch Einschränkungen enthalten und dadurch die Wünsche des Betroffenen deutlich werden lassen; z. B. den Wunsch nach oder die Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen oder den Wunsch, dass die Schmerzbekämpfung vorrangig vor einer Lebensverlängerung sein müsse oder auch den Wunsch, mit bestimmten Psychopharmaka behandelt zu werden und andere abzulehnen. Derartige schrift lich festgelegte Wünsche werden als Patientenverfügung bezeichnet. 2009 wurde die Patientenverfügung gesetzlich als weitgehend bindende Anweisung für Ärzte und andere Behandler festgeschrieben. Als nächst eingreifendere Maßnahmen sind eine Betreuung auf eigenen Antrag, dann Betreuung auf Anregung von Dritten und schließlich eine Betreuung von Amts wegen im Gesetz vorgesehen.
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Einwilligungsvorbehalt Eine Betreuung und noch weniger eine Vollmacht alleine hindern den Betroffenen, eigenständig seine Angelegenheiten zu regeln. Erst wenn vom Gericht zusätzlich ein Einwilligungsvorbehalt ausgesprochen wird (§ 1903 BGB), ist der Betreute für Handlungen, die unter den Einwilligungsvorbehalt fallen, auf die Zustimmung des Betreuers angewiesen. Ein Einwilligungsvorbehalt darf nur eingerichtet werden, wenn durch die zu erwartenden rechtlichen Handlungen eine erhebliche Gefahr für die betreute Person selbst oder für ihr Vermögen zu befürchten ist. Es war die Absicht des Gesetzgebers, die Bereiche, in denen ein Einwilligungsvorbehalt ausgesprochen wird, so eng wie möglich zu halten. Der Einwilligungsvorbehalt unterliegt ähnlichen rechtlichen Voraussetzungen wie die Geschäftsunfähigkeit, nämlich dass der Betreute seinen Willen aufgrund seiner Krankheit nicht frei äußern kann. Ist ein Patient geschäftsunfähig im Sinne des § 104 BGB, ersetzt die Erklärung des Betreuers jene des Patienten. Ein Einwilligungsvorbehalt ist nicht erforderlich, weil der Betreuer nicht in Entscheidungen des Patienten einwilligen kann, sondern für ihn entscheiden muss. Die Geschäftsunfähigkeit ist jedoch unabhängig von der Betreuungsnotwendigkeit zu klären. Besonderer richterlicher Genehmigungen bedürfen Entscheidungen über den Fernmeldeverkehr oder über die Entgegennahme der Post, die Kündigung eines Mietverhältnisses, eine Wohnungsauflösung oder das Eingehen eines Vertrages, der zu wiederkehrenden Leistungen verpflichtet (§ 1907 BGB). Freiheitsentziehende Maßnahmen können nur mit Zustimmung des Vormundschaftsgerichts durchgeführt werden (§ 1906 BGB). Darunter ist nicht nur die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung, sondern auch ein Freiheitsentzug durch mechanische Vorrichtungen oder Medikamente, die lediglich zur Dämpfung eingesetzt werden, zu verstehen. Die gesetzlichen Vorschriften, die es dem Richter ermöglichen, einer freiheitsentziehenden Maßnahme zuzustimmen, sind relativ begrenzt. Freiheitsentzug (geschlossene Unterbringung) und Freiheitsbeschränkung (z. B. Bauchgurt oder Sedierung) dürfen nach dem Betreuungsrecht nur erfolgen, wenn die Gefahr besteht, dass sich der Patient selbst tötet oder sich erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder wenn eine Untersuchung erfolgen muss, die ohne Beschränkungen des Betreuten nicht durchgeführt werden kann, der Betreute aber nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit dieser Untersuchung zu erkennen. Unterbringung Nach deutschem Recht kann die Freiheit eines Menschen gegen dessen Willen nur durch einen Richter und aufgrund eines Gesetzes entzogen werden (Art. 2 und Art 104 Abs. 2 GG). Unterbringungen dienen der Abwendung von Schaden vom Kranken selber, der Sicherung der Allgemeinheit, aber auch der Ermöglichung von Untersuchungen, um die Notwendigkeit rechtlicher Maßnahmen gegen den Willen eines Kranken, der sich selber oder anderen schaden könnte, zu ergründen. Eine Unterbringung nach dem Zivilrecht (§ 1906 BGB) kann ausschließlich zum Schutz und Wohl des Betroffenen erfolgen, demgegenüber sind nach den Unterbringungsgesetzen und den Gesetzen über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychisch Kranken (PsychKG) freiheitsentziehende Maßnahmen sowohl zum Schutz des Pa534
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tienten wie auch zum Schutz der Allgemeinheit möglich. Die Verweigerung einer ärztlichen, vor allem psychiatrischen und medikamentösen Behandlung rechtfertigt für sich allein eine Unterbringung nicht. Die Unterbringung eines einsichtigen, aber behandlungsunwilligen Patienten ist rechtswidrig. Die Grenzen der staatlichen Zurückhaltung sind dann überschritten, wenn die Krankheit selber die Einsicht in das Kranksein verhindert. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung sind erfüllt bei • Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung, welche zur Einsichtsunfähigkeit in die Notwendigkeit einer Behandlung führt (1. Stufe der Beurteilung) und • Erheblicher Gefährdung der Gesundheit des Betroffenen (2. Stufe der Beurteilung), z. B. – Suizidalität – Verwirrtheit und dadurch bedingte Risiken – Selbstgefährdung durch Unterlassen – Erforderlichkeit medizinischer Behandlung, sofern dadurch ein Gesundheitsschaden nachweislich abgewendet wird und die Erforderlichkeit vom Patienten wegen seiner psychischen Störung nicht eingesehen werden kann. Die Unterbringung muss vom Betreuer veranlasst und vom Betreuungsgericht genehmigt werden. Sollte noch kein Betreuer bestellt sein, kann auch das Gericht die Funktionen des Betreuers übernehmen, bis dieser bestellt wird (§ 1846 BGB). Wenn ein psychisch Kranker andere oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, müssen die landesrechtlichen Unterbringungsgesetze oder PsychKG’s angewendet werden. Die Flexibilität der Behandlung und die Freiräume des Patienten sind bei der landesrechtlichen Unterbringung stärker eingeschränkt als im Rahmen einer Betreuung. Auch hier sind die oben dargestellten Grundsätze der forensischen Vorgehensweise zu berücksichtigen. Die Unterbringung kann sofortig und vorübergehend, aber auch längerfristig (Höchstdauer 2 Jahre) erfolgen. Die sofortige Unterbringung kann umgehend durch die entsprechenden Behörden, die je nach Bundesland unterschiedlich sind, angeordnet werden. Die anordnenden Stellen, ebenso wie die aufnehmenden Einrichtungen sind verpflichtet, die Unterbringung umgehend dem zuständigen Gericht (dem Gericht, in dessen Bezirk die Unterbringungsnotwendigkeit auft rat) anzuzeigen und die richterliche Unterbringung zu beantragen. Die richterliche Anordnung der Unterbringung muss bis zum Abend des der Unterbringung folgenden Tages vorliegen (Ausnahme in Baden-Württemberg, hier ist eine Meldung spätestens nach 3 Tagen erforderlich). Der Richter hat sich persönlich von der Notwendigkeit einer Unterbringung zu überzeugen und kann dies nur unterlassen, wenn dadurch eine Verschlechterung des psychischen Zustandes des Patienten befürchtet wird. Das Gericht ordnet zunächst eine einstweilige Unterbringung von begrenzter Dauer an. Die Unterbringung kann vom Gericht aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens anschließend verlängert werden.
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Für die Beschlussfassung des Gerichts zur Unterbringung ist ein Gutachten erforderlich, in dem insbesondere zur krankheits- oder störungsbedingten Gefährlichkeitsprognose Stellung zu nehmen ist. Es sollte folgende Aspekte umfassen: • Darstellung und Erörterung der Exploration und Untersuchungsbefunde (insb. psychopathologischer Befund) • Klinische Diagnose und deren Auswirkung auf die freie Willensbestimmung in Bezug auf die Unterbringung • Benennung des zutreffenden juristischen Krankheitsbegriffs und der forensisch relevanten Funktionseinschränkung • Risikoeinschätzung (Gefährlichkeitsprognose) aufgrund der klinischen Diagnose, der daraus resultierenden Funktionseinschränkung und der individuellen Situation des Patienten • Ausführungen zur voraussichtlichen Dauer der Unterbringung • Auseinandersetzung mit Alternativen der Unterbringung • Stellungnahme, zu welchem Umfang Gutachten und Gerichtsentscheidung dem Patienten bekannt gemacht werden können Spezielle zivilrechtliche Fragen Weitere zivilrechtliche Fragen an den psychiatrischen Sachverständigen befassen sich mit der Geschäftsunfähigkeit, der Testierunfähigkeit, Einwilligungsunfähigkeit und ganz selten mit der Eheunfähigkeit. Geschäftsunfähigkeit Voraussetzung für Rechtsgeschäfte zwischen Menschen ist die Geschäftsfähigkeit. Sie wird allen Erwachsenen ab Vollendung des 18. Lebensjahres in vollem Umfang zugestanden. Minderjährige bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres sind geschäftsunfähig, sie können keine Rechtsgeschäfte eingehen. Minderjährige über 7 Jahre sind in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt. Sie können rechtliche Verpflichtungen mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters eingehen. Psychische Krankheiten können die Geschäftsfähigkeit aufheben, wenn durch die Krankheit (krankhafte Störung der Geistestätigkeit = 1. Stufe der Beurteilung) eine freie Willensbildung nicht mehr möglich ist (2. Stufe der Beurteilung) (§ 104, Abs. 2 BGB), d. h. der Patient aufgrund einer Krankheit die Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärung nicht erkennen kann oder nicht nach dieser Erkenntnis zu handeln vermag oder wie in der juristischen Literatur häufig formuliert, „wenn er sich nicht mehr von vernünftigen Motiven leiten lassen kann“ oder „seine Entscheidung nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen kann“ (BGH, NJW 1970, 1981). Die Geschäftsfähigkeit kann für alle Geschäfte oder nur für bestimmte Geschäfte aufgehoben sein. Letzteres wird als partielle Geschäftsunfähigkeit bezeichnet (z. B. wenn der Patient im Eifersuchtswahn eine Scheidung begehrt). Geschäftsfähigkeit ist jedoch nicht abhängig vom Schwierigkeitsgrad eines Rechtsgeschäftes, da nach Ansicht der Rechtsprechung eine solche „relative Geschäftsunfähigkeit“ die Rechtssicherheit gefährden würde. Die Geschäftsunfähigkeit muss zur Überzeugung des Gerichtes bewiesen werden, Zweifel reichen hierfür nicht aus. Sie kann aus psychiatrischer Sicht nur angenom536
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men werden, wenn aufgrund einer sicher diagnostizierten Erkrankung das Ausmaß der Symptomatik nachweisbar so ausgeprägt ist, dass die Rechtsgeschäfte wegen der Erkrankung und nicht aufgrund des persönlichen Willens zustande gekommen sind. Da die Frage der Geschäftsunfähigkeit oder der Nichtigkeit einer Willenserklärung häufig im Nachhinein geklärt werden muss, bleibt die Annahme psychischer Beeinträchtigung zum relevanten Zeitpunkt wissenschaft lich gesehen eine Hypothese. Diese Hypothese erhält umso mehr Berechtigung, je klarer das Krankheitsbild erfassbar ist, je gesetzmäßiger der Krankheitsverlauf ist, je häufiger bei einem solchen Krankheitsbild psychopathologische Änderungen auft reten, welche zur Geschäftsunfähigkeit führen und je näher am relevanten Zeitpunkt fachliche Beobachtungen das Vorliegen der entsprechenden psychopathologischen Symptomatik bestätigen können. Testierfähigkeit Die Testierfähigkeit ist eine Unterform der Geschäftsfähigkeit und setzt ebenso wie diese die freie, autonome Willensbestimmung des Erblassers voraus. Allerdings kann bei beschränkter Geschäftsfähigkeit von 16-Jährigen ein Testament errichtet werden, wenn diese von einem Notar beraten werden. Testierfähigkeit erfordert, dass der Erblasser 1. weiß, dass er ein Testament errichtet; 2. den Inhalt der letztwilligen Verfügung kennt; 3. bei der Erstellung nicht dem Einfluss Dritter erliegt; 4. seinen letzten Willen formulieren kann; 5. die Tragweite seiner Bestimmungen in wirtschaft licher und persönlicher Hinsicht erfassen kann; 6. die sittliche Berechtigung seiner Verfügung beurteilen kann. Testierunfähigkeit kann weder partiell (nur einen Bereich betreffend) noch relativ (von der Schwierigkeit des Testaments abhängig) sein. Sie bezieht sich immer auf den Zeitpunkt der Testamentserstellung. An den Beweis der Testierunfähigkeit werden genauso strenge Maßstäbe gelegt wie an den Beweis der Geschäft sunfähigkeit. Einwilligungsunfähigkeit Ein Patient kann einer Behandlung nur rechtswirksam zustimmen, wenn er über die Behandlung aufgeklärt und einwilligungsfähig ist. Die Frage der Einwilligungsfähigkeit hat in den letzten Jahren international zunehmend an Bedeutung gewonnen. Einwilligungsfähigkeit unterscheidet sich von Geschäftsfähigkeit dadurch, dass Letztere nicht relativiert werden kann. Sie ist entweder vorhanden oder nicht, also nicht von der Komplexität eines Rechtsgeschäftes abhängig. Einwilligungsfähigkeit ist hingegen relativ zu betrachten. Einwilligungsunfähigkeit ist nicht im Gesetz, sondern im Rahmen der Rechtsprechung des Arztrechtes definiert. Wie bei allen vergleichbaren Rechtsbegriffen ist dem erwachsenen Menschen Einwilligungsfähigkeit zu unterstellen. Sie ist anzunehmen, falls Einwilligungsunfähigkeit nicht besteht. Einwilligungsunfähigkeit kann folgendermaßen definiert werden (Nedopil et al., 1999):
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„Einwilligungsunfähig ist derjenige, der wegen Minderjährigkeit, psychischer Krankheit oder geistiger Behinderung [1. Stufe] unfähig ist, den für die Entscheidung relevanten Sachverhalten zu verstehen (Verständnis) ihn im Hinblick auf seine gegenwärtige Situation und die sich daraus ergebenden Folgen und Risiken zu verarbeiten (Verarbeitung) zu erfassen, welchen Wert die betroffenen Interessen für ihn haben und unter welchen Alternativen er wählen kann [wichtig ist die Bezugnahme auf die – nicht durch Krankheit verzerrte – Werthaltung des Betroffenen] (Bewertung) die Fähigkeit, den eigenen Willen auf der Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation zu bestimmen (Bestimmbarkeit des Willens). [2. Stufe].“
Strafrecht Im Strafrecht werden Psychiater im Wesentlichen zu Folgendem befragt: • den Voraussetzungen für aufgehobene oder verminderte Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB); • der Reifebeurteilung von Jugendlichen und Heranwachsenden (§§ 3, 105 JGG); • der Sozial- und Kriminalprognose bei psychisch kranken Rechtsbrechern, die in einer Maßregel der Besserung und Sicherung eingewiesen oder aus ihr entlassen werden sollen (§§ 63, 64, 66, 66a, 66b, 67d StGB); • der Rückfallprognose bei langjährig untergebrachten Häftlingen, wenn z. B. eine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung, aus lebenslanger Haft oder bei bestimmten Delikten aus einer mehrjährigen Haftstrafe (§ 57, 57 1 StGB) erwogen wird; • der Glaubhaft igkeit von Zeugenaussagen; • der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher. Schuldunfähigkeit Nach deutschem Recht ist derjenige schuldunfähig, der „bei Begehung einer Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“ (§ 20 StGB). Wenn seine Fähigkeit, „das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist“ (§ 21 StGB) kann er vom Gericht als vermindert schuldfähig beurteilt werden. Aufgabe des gutachtenden Psychiaters ist es vor allen Dingen, die medizinischen und psychologischen Einbußen aufzuzeigen, welche die Schuldfähigkeit beeinflussen können. Hierzu hat er zunächst eine psychiatrische Diagnose zu stellen und sie dann einem der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuzuordnen (1. Stufe der Beurteilung). Dies erfolgt nach dem nachstehenden nur historisch zu verstehenden Schema: Der Begriff „Krankhafte seelische Störung“ umfasst alle Erkrankungen und Störungen, bei denen nach traditioneller Auffassung entweder eine organische Ursache bekannt ist, oder aber eine solche Ursache vermutet wird. Hierzu werden gezählt: körperlich begründbare (exogene) Psychosen, schizophrene und affektive Psychosen, degenerative Gehirnerkrankungen, toxisch oder traumatisch bedingte Durchgangs538
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syndrome (z. B. Alkoholrausch oder Drogen- bzw. Medikamentenintoxikation), epileptische Erkrankungen, genetisch bedingte Erkrankungen (z. B. Down-Syndrom). Das Merkmal „Tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ bezieht sich auf Bewusstseinsveränderungen, die bei einem ansonsten gesunden Menschen auft reten können, aber in extremen Belastungssituationen im Sinn einer akuten Belastungsreaktion zu einer erheblichen Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit führen. Unter dem Eingangsmerkmal „Schwachsinn“ sind alle angeborenen Störungen der Intelligenz zusammengefasst. Bei dem unglücklich gewählten Begriff „Schwere andere seelische Abartigkeit“ handelt es sich um einen Sammelbegriff, unter dem alle Störungen, die nicht den ersten drei Merkmalen zugeordnet werden können, zusammengefasst werden, insbesondere die Persönlichkeitsstörungen, die neurotischen Störungen, die sexuellen Verhaltensabweichungen, aber auch die chronischen Missbrauchsformen. Bei diesem Begriff ist die quantitative Begrenzung durch das Adjektiv „schwere“ besonders bedeutsam. Die Funktionsbeeinträchtigungen (2. Stufe der Beurteilung) Einsichtsunfähigkeit besteht, wenn die kognitiven Funktionen nicht ausreichen, das Unrecht eines Handelns zu erkennen. Sofern Einsichtsfähigkeit besteht, muss geprüft werden, ob sich der Täter entsprechend seiner Einsicht hat steuern können. Zu einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit führen in der Regel massive Einbußen der voluntativen Fähigkeiten, die zu einem Handlungsentwurf beitragen. Die von verschiedenen Wissenschaft lern vorgetragenen Kriterien und Definitionsvorschläge sind vielfältig, eine allgemein verbindliche, knappe und praktisch anwendbare Definition der Steuerungsfähigkeit gibt es nicht. Voraussetzungen für verminderte Schuldfähigkeit Die gleichen Eingangsmerkmale, die zur Schuldunfähigkeit führen, können nach § 21 StGB auch eine verminderte Schuldfähigkeit des Täters bedingen. Er ist zwar dann schuldfähig; er wird in aller Regel auch zu einer Strafe verurteilt, diese kann jedoch vom Gericht gemildert werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 21 StGB ist, dass der Täter bei Begehung der Tat in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war, eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist rechtlich nicht relevant. Jugendrecht Beim Jugendlichen (14- bis 17-jährig) und Heranwachsenden (18- bis 21-jährig) werden durch das Jugendgerichtsgesetz (JGG) besondere Abweichungen und Ergänzungen des Strafrechtes vorgenommen, die u. U. auch eine besondere psychiatrische Beurteilung erforderlich machen. Bei Jugendlichen muss die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausdrücklich festgestellt werden (§ 3 JGG), bei Heranwachsenden beurteilt das Gericht den Täter nach Jugendstrafrecht, wenn es sich entweder um ein jugendtypisches Delikt oder um einen Menschen handelt, der eher einem Jugendlichen als einem Erwachsenen gleicht. Der Psychiater muss hierbei prüfen, ob der Täter die sog. „Entwicklungsaufgaben“ schon bewältigt hat oder noch nicht. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat Kriterienkataloge entwickelt, nach denen die Zuordnung erleichtert werden soll. Sie sind in der Praxis 539
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jedoch häufig unbefriedigend, sodass einerseits eine genaue Zuordnung des einzelnen Betroffenen als Jugendlicher oder als Erwachsener häufig schwer gelingt. Nach der Rechtsprechung muss der Sachverständige vor allem dazu Stellung nehmen, inwieweit ggf. erkennbare seelische Entwicklungsauff älligkeiten noch durch den Reifungsprozess ausgeglichen werden können oder schon Kennzeichen einer stabilen Persönlichkeitsstörung sind. Maßregelvollzug Als Maßregelvollzug werden jene Maßnahmen bezeichnet, die vom Gericht neben einer Strafe ausgesprochen werden können, um präventiv das Rückfallrisiko eines Verurteilten zu minimieren. Zu ihnen gehören: • Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), die angeordnet werden kann, wenn die Schuldfähigkeit aufgrund einer Erkrankung oder Störung aufgehoben oder erheblich vermindert war (§§ 20 oder 21 StGB) und aufgrund der Störung weitere erhebliche Delikte zu erwarten sind. Das Ziel der psychiatrischen Maßregeln wird mit den Begriffen Besserung und Sicherung umrissen. Sicherung sollte somit vor allem auch bedeuten, dass die zum Risiko gewordene psychiatrische Störung so behandelt werden kann, dass eine künftige Gefährdung der Allgemeinheit vermieden wird. Aber auch dann, wenn therapeutische Bemühungen erfolglos bleiben, behält der Maßregelvollzug die Aufgabe der Sicherung. • Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), die unabhängig von der Feststellung der §§ 20 und 21 StGB angeordnet werden soll, wenn aufgrund einer Substanzabhängigkeit weitere Straftaten wahrscheinlich sind und hinreichend konkrete Aussichten auf Erfolg der Behandlung bestehen. • Die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), die bei schuldfähigen Tätern zusätzlich zu einer Strafe, u. ggf. zusätzlich zu einer anderen Maßregel angeordnet werden kann. Sie wird bei sog. Hangtätern angewandt, bei denen auch nach einer Strafverbüßung weitere erhebliche Straftaten wahrscheinlich sind. Die Sicherungsverwahrung kann nach § 66a auch vorbehalten werden, wenn die diagnostische und prognostische Einschätzung zum Zeitpunkt der Verurteilung noch zu unsicher ist. Die Entscheidung muss dann am Ende der Strafverbußung vom Gericht getroffen werden. Einweisung und Entlassung aus der Maßregel hängen in den meisten Fällen von der Rückfallprognose ab. Derartige Prognosen gehören zu den schwierigsten Aufgaben, die an psychiatrische Sachverständige herangetragen werden. Prognosen in der forensischen Psychiatrie Die frühere Literatur kannte drei unterschiedliche Methoden, mit welchen die Kriminalprognose erarbeitet werden kann: 1. Die intuitive Methode: Ihrer bedienen sich die Richter, die aufgrund ihres theoretischen Allgemeinwissens und ihrer subjektiven Erfahrung in kurzer Zeit entscheiden müssen, welche Strafe oder welche Art der Strafverschonung aufgrund des Deliktes und der Persönlichkeit eines Täters gerechtfertigt oder sinnvoll erscheint.
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2. Die statistische Methode: Sie basiert auf empirischen Untersuchungen, die jene Faktoren ermittelten, die statistisch mit hoher Rückfälligkeit korrelieren oder von Experten als Indikatoren für hohe Rückfälligkeit angesehen werden. 3. Die klinische Methode: Bei ihr wird aufgrund der sorgfältigen biografischen Anamneseerhebung, einschließlich der Krankheits- und Delinquenzanamnese, von der Vergangenheit über die derzeitige Situation auf die Zukunft extrapoliert. Seit etwa 1990 entstanden neue Forschungsaktivitäten, die versuchten, unter Berücksichtigung der methodischen Schwächen der Untersuchungen der 50er- und 60erJahre den Zusammenhängen zwischen Gewalttätigkeit oder Sexualdelinquenz und psychischen Krankheiten nachzugehen. Aufgrund dieser Untersuchungen und der dabei entwickelten Instrumente wurden die Vorhersagetechniken verfeinert und jenen Risikovorhersagen angeglichen, die z. B. im Versicherungswesen Anwendung finden. Sie heißen aus diesem Grunde auch „actuarial predictions“. Damit sind kriterienorientierte Vorhersagetechniken gemeint, bei denen nicht nur die einzelnen Variablen zuverlässig erhebbar sein müssen, sondern darüber hinaus die Abschätzung der verschiedenen Variablen einer sorgfältigen und methodisch ausgefeilten Abwägung und Verrechnung unterworfen wird, um zu einem Vorhersagemodell zu gelangen. Während früher die Fragen der Risikoeinschätzung lauteten: „Wer wird rückfällig?“, „Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird der Rückfall eintreffen?“ und „Welche Risikofaktoren können wir im Einzelfall identifizieren?“, sollte heute die Frage differenzierter folgendermaßen formuliert werden: „Wer wird wann, unter welchen Umständen, mit welchem Delikt rückfällig, und wie können wir es verhindern?“ (Nedopil, 2005) Die differenzierte Fragestellung hat auch eine differenzierte Methodik der Begutachtung zur Folge. Bei einer solchen Methodik kann zwischen drei verschiedenen Konzepten unterschieden werden: 1. ein idiographisches Konzept, bei welchem eingeschliffene individuelle Verhaltensmuster, die ein Wiederauftreten des Verhaltens wahrscheinlich machen, zur Grundlage der Beurteilung gemacht werden. Derartige eingeschliffene Verhaltensweisen, die zu oft wiederkehrendem Fehlverhalten führen, sind allerdings selten. Häufig wird deswegen ein 2. nomothetisches Konzept verfolgt, bei dem empirische Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Untersuchungen auf den Einzelfall angewandt werden. Dieses Konzept ist die Grundlage der heute gängigen empirisch begründeten Prognoseinstrumente. Mittlerweile gibt es eine Reihe von operationalisierten Merkmalslisten, die diese Risikofaktoren erfassen (Übersicht Nedopil, 2005). Dieses Konzept allein reicht jedoch häufig nicht aus und ermöglicht kaum eine Individualprognose. Hierzu kann 3. ein hypothesengeleitetes Konzept dienen, das auf der Entwicklung einer individuellen Hypothese zur Delinquenzgenese beruht. Dabei müssen die spezifischen Risikofaktoren, die der Hypothese zugrunde liegen, identifiziert werden. Hierzu bieten die Prognoseinstrumente eine wertvolle Hilfe. Anschließend müssen das Fortbestehen der Risikofaktoren im Einzelfall, ihre aktuelle Relevanz und ggf. ihre Kompensation durch protektive Faktoren überprüft werden. Damit wird die
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Prognoseerarbeitung zu einem Prozess, der auch die Anwendung empirischen Wissens für den Einzelfall möglich macht.
Weiterführende Literatur Für Begutachtungen der Schuldfähigkeit (Boet ticher et al. 2005) und der Rückfallprognose (Boetticher et al. 2006) hat eine Arbeitsgruppe beim BGH Mindestanforderungen zusammengestellt, die zunehmend mehr von den Gerichten beachtet werden. Boetticher A, Nedopil N, Bosinski HAG, Saß H (2005) Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. Neue Zeitschrift für Strafrecht, 25, 57–63 Boetticher A, Kröber H-L, Müller-Isberner R, Müller-Metz R, Wolf T (2006) Mindestanforderungen für Prognosegutachten. Neue Zeitschrift für Strafrecht, 26(10), 537–544 Nedopil N (2005) Prognosen in der forensischen Psychiatrie – ein Handbuch für die Praxis. Pabst Science Publisher, Lengerich
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Nedopil N, Aldenhoff J, Amelung K, Eich FX, Fritze J, Maier W et al (1999) Einwilligungsfähigkeit bei klinischen Prüfungen – Stellungnahme der Arbeitsgruppe „Ethische und Rechtliche Fragen“ der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP). Pharmakopsychiatry, 32, I–IV Nedopil N (2007) Forensische Psychiatrie. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart, New York
Kapitel 19
Glossar psychiatrischer und psychopathologischer Fachausdrücke Hartmann Hinterhuber Das Glossar beschränkt sich auf jene Begriffe, die zum Verständnis des vorliegenden Textes notwendig sind: Es erhebt infolgedessen nicht den Anspruch auf eine lexikografi sche Vollständigkeit. Bei manchen Definitionen werden psychische Störungen aufgeführt, bei denen das jeweils beschriebene Symptom am häufigsten ist. Es muss jedoch immer berücksichtigt werden, dass das Symptom auch bei anderen Störungen auft reten kann. Im Sinne einer Vereinheitlichung der psychiatrischen Terminologie basieren Teile des Glossars auf der ICD-10.
• Abwertung: Ein Mechanismus, bei dem die Person in übertriebener Weise negative Eigenschaften auf sich selbst oder andere überträgt, also sich selbst oder andere ungerechtfertigt abwertet. Absencen Kurz währende Bewusstseinsstörungen mit • Ausagieren: Ein Mechanismus, bei dem die Person ohne Reflexion oder ohne BerückAmnesie bei epileptischen Erkrankungen. sichtigung möglicher negativer Folgewirkungen handelt. Abstinenzsyndrom, Entzugssyndrom Komplex aus körperlichen (vegetativen) und • Autistisches Fantasieren: Ein Mechanismus, bei dem die betroffene Person in übermäpsychischen Symptomen nach dem Absetzen ßiges Tagträumen verfällt, anstatt ihre Propsychotroper Substanzen (Alkohol, Drogen, bleme durch direktes und effektives HanMedikamente). deln oder das Zurückgreifen auf soziale Kontakte zu lösen. Abulie Krankhaftes Unvermögen, Entscheidungen • Dissoziation: Teilweise oder vollständige Entkoppelung von psychischen und körzu treffen oder Entschlüsse durchzuführen. perlichen Funktionen. • Idealisierung: Ein Mechanismus, bei dem Abwehr, Abwehrmechanismen die Person in übertriebener Weise positive Gesamtheit aller (unbewussten) psychischen Eigenschaften auf sich selbst oder andere Regulierungsvorgänge, die dazu dienen, bezieht, also sich selbst oder andere ungenicht akzeptable oder unlustbetonte Affekte, rechtfertigt aufwertet. Wünsche oder Bedürfnisse vom Bewusstsein fernzuhalten und das Ich gegen Gefahren zu • Identifikation: Ein Mechanismus, der eine größtmögliche Ähnlichkeit mit einer andeschützen, die ihm von der Realität, der Triebren Person oder eine Angleichung an Obstärke oder von den Über-Ich-Strukturen jekte anstrebt. drohen. Abwehrmechanismen haben auch adaptive • Intellektualisierung: Ausflucht in abstraktintellektualisierende ArgumentationsweiFunktionen. Reifere Formen (beispielsweisen, um störende Gefühle zu vermeiden. se die Verdrängung) können von unreiferen (beispielsweise die Projektion oder die Ver- • Isolierung: Ein Mechanismus, bei dem der Betroffene nicht in der Lage ist, außer den leugnung) unterschieden werden. Ablenkbarkeit Die Aufmerksamkeit wird auf unbedeutende oder unwichtige äußere Reize abgelenkt.
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kognitiven auch die affektiven Komponenten eines Erlebnisses zu erfahren, da der Affekt aus dem Bewusstsein ferngehalten wird. Passive Aggression: Ein Mechanismus, bei dem die Person in indirekter Weise und nicht offensichtlich Aggressionen gegenüber anderen äußert. Projektion: Das Ängstigende wird anderen Objekten unterstellt und dort bekämpft. Rationalisierung: Logisch-rationale Begründung von Handlungen, deren zugrunde liegendes triebhaft-unbewusstes Motiv aus moralischen Gründen nicht akzeptiert werden kann („vorgeschobene Motive“). Reaktionsbildung: Ein Mechanismus, bei dem die Person ihre eigenen, von ihr selbst oder von der Gesellschaft nicht akzeptierten Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle durch entgegengesetzte ersetzt. Regression: Zurückgehen auf eine frühere Entwicklungsphase der Ich-Funktion (z. B. Trotzverhalten), der Befriedigungsform (z. B. Esslust) oder der Beziehungsmuster (z. B. mütterliche Versorgung). Repression: Ein Mechanismus, bei dem die Person sich störender Wünsche, Gefühle, Gedanken oder Erfahrungen nicht mehr bewusst ist, beziehungsweise unfähig ist, sich an sie zu erinnern. Es ist zu unterscheiden zwischen der unbewussten Repression und der bewussten Unterdrückung (s. u.). Somatisierung: Umwandlung psychischer Konflikte in körperliche Symptome. Spaltung: Ein Mechanismus, bei dem die Person sich selbst oder andere als entweder vollkommen gut oder schlecht sieht. Dabei ist sie nicht in der Lage, positive und negative Eigenschaften des Selbst oder anderer in ein geschlossenes Bild zu integrieren. Oft idealisiert und wertet die Person alternierend die anderen oder sich selbst ab bzw. auf. Ungeschehen machen: Ein Mechanismus, bei dem die Person sich in Verhaltensweisen engagiert, die vorangegangene negative Gedanken, Gefühle oder Aktionen ungeschehen machen sollen.
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• Unterdrückung: Ein Mechanismus, bei dem die Person absichtlich die Gedanken über störende Gefühle, Wünsche und Erfahrungen unterdrückt. Im Unterschied zur Repression ist die Unterdrückung ein bewusster Vorgang. • Verleugnung: Ein Mechanismus, bei dem die Person es nicht schafft, Aspekte der äußeren Realität anzuerkennen. • Verschiebung: Das Ängstigende wird einem Objekt zugeschoben, das vermieden werden kann. • Verdrängung: Nicht akzeptable Triebwünsche und Impulse werden in das Unbewusste abgedrängt. • Wendung gegen die eigene Person: Ein Mechanismus, bei dem Patienten eigentlich nach außen gerichtete aggressive Verhaltensweisen gegen sich selbst richten, beispielsweise in Form einer Selbstverletzung. Affekt Intensive und heft ige, aber kurze Zeit währende Gefühlsregung, in der Regel verbunden mit beobachtbaren körperlichen Symptomen wie Schwitzen, Gesichtsrötung, verändertem Muskeltonus, weit aufgerissenen Augen. Geläufige Beispiele für Affekte sind Zorn, Wut, Hass, Ärger, Traurigkeit sowie Freude und Euphorie. Die Begriffe „Emotion“ und „Stimmung“ beziehen sich auf einen tief greifenden und andauernden Gefühlszustand. Der Ausdruck des Affektes ist sowohl innerhalb einer definierten Gesellschaftsstruktur als auch zwischen verschiedenen Kulturen unterschiedlich. Er schließt eine Mitbeteiligung der Mimik, Gestik und der Stimmführung ein. Der Bereich des Affektes kann als breit (normal), eingeschränkt (eingeengt), abgestumpft oder flach bezeichnet werden. Der eingeschränkte Affekt ist durch deutliche Verminderung von Umfang und Intensität des affektiven Ausdrucks charakterisiert. Das Spektrum der gezeigten Gefühle ist vermindert (Affektarmut). Beim abgestumpften Affekt ist die affektive Ausdrucksfähigkeit in ihrer Intensität stark vermindert.
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Beim flachen Affekt fehlen fast gänzlich die Merkmale des affektiven Ausdrucks, im Allgemeinen ist die Stimmung indifferent, das Gesicht unbewegt (Affektverflachung). Ein Affekt ist inadäquat, wenn bei einer Person ein deutlicher Widerspruch zwischen Inhalt und Form der Mitteilung besteht. Ein Affekt ist labil, wenn er durch wiederholte, schnelle und abrupte Wechsel gekennzeichnet ist: Eine Affektlabilität tritt entweder spontan auf oder wird von außen gesteuert. Die fehlende Beherrschung von Affektäußerungen wird als Affektdurchlässigkeit bzw. Affektinkontinenz bezeichnet: Affekte können bei geringfügigen Anlässen überschießen. Bei der Affektstarre ist die affektive Modulationsfähigkeit vermindert. Der Betroffene verharrt in bestimmten Stimmungs- oder Affektlagen. Affektivität Zusammenfassender Begriff für Affekte, Emotionen, Gefühle und Stimmungen. Aggravation Beabsichtigte und zweckgerichtete Akzentuierung reell existierender Symptome.
Affektivität – Amentielles Syndrom
Agrammatismus Verlust der Fähigkeit, für bestimmte Gedanken den zutreffenden Ausdruck zu fi nden. Agraphie Verlust der Fähigkeit zu schreiben. Akalkulie Verlust der Fähigkeit zu rechnen. Akathisie Quälende Unruhe mit Bewegungsdrang. Akinese Bewegungsarmut bis zur Bewegungslosigkeit. Akoasmen Siehe akustische Halluzinationen. Alexie Verlust der Fähigkeit den Sinn von Geschriebenem zu erfassen. Alexithymie Unfähigkeit, Gefühle bei sich oder anderen wahrzunehmen und in Worte zu kleiden.
Ambitendenz Gleichzeitiges Bestehen entgegengesetzter Aggressivität Störung der Impulskontrolle mit Gewalttätig- Willensimpulse. keit und gesteigerter Angriffslust. Ambivalenz Gleichzeitiges Bestehen widersprüchlicher Agitiertheit, Agitation Motorische Unruhe bei gesteigerter innerer Gefühle, Vorstellungen, Wünsche, Intentionen und Impulse. Die Ambivalenz wird meisErregung. tens als quälend erlebt. Siehe auch Psychomotorische Erregung. Amentielles Syndrom Im Gefolge von organischen Erkrankungen akut auft retende traumhafte Verwirrtheit mit illusionärer oder halluzinatorischer Verfälschung bzw. Fragmentierung der WahrnehAgoraphobie – „Platzangst“ Angst vor Situationen (freie Plätze, Straßen, mung und motorischer Unruhe. Vorherrschend sind Inkohärenz, RatlosigMenschenansammlungen, Reisen), die gefürchtet und/oder vermieden werden, häufig keit und Störung der Orientierung. in Verbindung mit einer Panikstörung. Agnosie Unfähigkeit, Wahrgenommenes bei intakten Sinnesorganen zu erkennen.
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Amimie – Anpassungsstörung
Definitionen unterscheiden Angst von Furcht insofern, als sich Angst auf unbekannte Gefahren bezieht, während mit Furcht die Reaktion auf bewusst erkannte, äußere Bedrohungen und Gefahren bezeichnet wird. Die Manifestationen von Angst und Furcht sind Amnesie Unterschiedlich ausgeprägte Gedächtnisstö- jedoch dieselben: motorische Anspannung, rung für Erlebnisinhalte aller Modalitäten, vegetative Hyperaktivität, besorgte ErwarGedächtnisdomänen und Gedächtnisinhalte. tung, erhöhte Wachheit und gespannte AufBesonders betroffen ist das episodische Ge- merksamkeit. Angst kann sich auf ein Objekt, eine Situdächtnis, selten das prozedurale. • Retrograde Amnesie: Erinnerungslücke für ation oder Tätigkeit beziehen, die vermieden die vor dem Schädel-Hirn-Trauma liegen- wird (Phobie), kann aber auch ungerichtet sein (frei flottierende Angst). Sie kann in abde Zeit. • Anterograde Amnesie: Erinnerungslücke grenzbaren Episoden plötzlich auft reten und für die nach dem Schädel-Hirn-Trauma lie- von körperlichen Symptomen begleitet sein (Panikattacken). Wenn die Angst sich auf gende Zeit. • Dissoziative Amnesie: Unvollständige und körperliche Symptome bezieht und die Sorselektive Gedächtnisstörung, die sich häu- ge oder die Überzeugung besteht, an einer Krankheit zu leiden, so handelt es sich um fig auf traumatische Ereignisse bezieht. • Globale Amnesie: Vollständiger Verlust des eine Hypochondrie. autobiografischen Wissens und der personalen Identität in Verbindung mit zeitlich Angststörungen Die verschiedenen Manifestationsformen der begrenzter anterograder Amnesie. Der Begriff wird oft auch zur Definition Angst beeinträchtigen den Lebensentwurf des schwerster irreversibler Amnesien nach Betroffenen, sie führen zu subjektiven Behinbilateraler limbisch-dienzephaler Schädi- derungen und zu Störungen im Verhalten, in der Motorik und im somatisch-vegetativen gung verwendet. • Partielle Amnesie: Im Rahmen von akuter Bereich. Dieser Begriff vereint die Panikbzw. posttraumatischer Belastungsstörung störung, die Phobien und die generalisierte auft retende Gedächtnisstörung, die jedoch Angststörung. nur bestimmte Ereignisse, Situationen oder Anhedonie Aspekte von Episoden umfasst. Beeinträchtigung bis Verlust der Lebensfreude. Anale Phase Nach S. Freud zweite psychosexuelle Entwicklungsphase zwischen dem 2. und 4. Le- Anorexie bensjahr: Entwicklung von Ordnung und Essstörung im Sinne einer reduzierten NahSauberkeit, von Selbstbestimmung und rungsaufnahme bei Körperschemastörung und ausgeprägter Angst vor einer GewichtsSelbstbeherrschung. zunahme. Body-Mass-Index ≤ 17,5. Anankasmus Zwanghaft igkeit im Denken und/oder Han- Anpassungsstörung Nach ICD-10 psychische Störung als Reaktion deln. auf einmalig auft retende oder fortbestehende belastende Ereignisse wie Trennung, TrauerAngst Das Gefühl von Besorgnis, Spannung oder fälle oder Arbeitsverlust. Das subjektive LeiUnbehagen, das aus der Erwartung einer Be- den und die emotionalen Beeinträchtigungen drohung oder einer Gefahr resultiert. Manche Amimie Fehlen der Mimik als pathologischer Zustand. Unmöglichkeit sich in Mimik (und Gestik) auszudrücken.
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behindern die sozialen Funktionen und Leistungen. Der Begriff „Anpassungsstörung“ hat den alten Terminus „reaktive Depression“ abgelöst. Antipsychiatrie Politisch motivierte Strömung, die sich gegen die klassische Psychiatrie, besonders gegen deren biologisch-somatische Theorien richtet.
Antipsychiatrie – Automutilation
nen Themen haben gar nichts oder nur wenig miteinander zu tun, ohne dass dies dem Sprecher bewusst wird: Aussagen, denen ein sinnvoller, logischer Zusammenhang fehlt, stehen nebeneinander. Der Betreffende springt von einem Bezugsrahmen zum anderen. Bei schwerer Assoziationslockerung wird die Sprache inkohärent. Assoziationslockerung kommt besonders im Rahmen von schizophrenen Störungen und von manischen Episoden vor. Der Begriff wird im Allgemeinen nicht für den abrupten Themenwechsel bei stark beschleunigtem bzw. ununterbrochenem Redefluss benutzt (vgl. hierzu „Ideenflucht“).
Antrieb Antrieb ist die von Willensleistungen weitgehend unabhängige Kraft, die alle psychischen Funktionen bewegt. Dem erkennbaren Aktivitätsniveau entsprechend werden folgende Asthenie Antriebsstörungen unterschieden: • Antriebsarmut: Mangel an Energie, Initiati- Unfähigkeit zu größeren psychischen oder physischen Anstrengungen. ve und Aktivität. • Antriebshemmung: Die dem Betroffenen eigene Energie, Initiative und Aktivität Auffassungsfähigkeit Die Fähigkeit, Wahrnehmungen in deren Bewird als beeinträchtigt erlebt. • Antriebssteigerung: Geordnete und ziel- deutung zu begreifen und mit vorausgegangegerichtete Zunahme an Energie, Initiative nen Erfahrungen zu verbinden. und Aktivität. Aufmerksamkeit Die Fähigkeit, sich anhaltend auf eine AufApathie Fehlen spontaner Aktivität, Teilnahmslosig- gabe oder Tätigkeit zu konzentrieren. Eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit kann keit. sich in der Schwierigkeit äußern, begonnene Aufgaben abzuschließen, in leichter AblenkAphasie Sprachstörungen, die nicht durch eine Beein- barkeit oder in einem geringen Konzentraträchtigung der Sprachwerkzeuge, sondern tionsvermögen. durch eine umschriebene Läsion des ZNS verAutogenes Training ursacht werden. Die von J. H. Schultz entwickelte Form der Autosuggestion im Sinne einer „konzentratiApraxie Unfähigkeit, Handlungen trotz erhaltener ven Selbstentspannung“. körperlicher Funktionen zu planen und ausAutomatismen zuführen. Automatische Handlungsabläufe, die vom Betroffenen nicht intendiert werden. Arbeitstherapie Anwendung von strukturierter Arbeit als theAutomutilation rapeutisches Hilfsmittel. Selbstverletzung, häufig im Sinne einer Spannungsabfuhr. Assoziationslockerung Ein Denken, bei dem die Sprache durch den sprunghaften Wechsel von einem Thema zum anderen gekennzeichnet ist. Die verschiede-
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Befehlsautomatie – Compliance
B Befehlsautomatie Abnorme Bereitschaft, unreflektiert „automatisch“ Befehlen zu entsprechen. Symptom bei schizophrenen Störungen. Belastungsreaktion Reaktion auf außergewöhnliche körperliche und/oder psychische Belastungen, die die individuelle und kulturelle Norm überschreiten. Benommenheit Leichtester Grad der Bewusstseinstrübung im Sinne einer erschwerten Auffassung und eines verlangsamten Denkablaufes. Berufstraining Summe von Maßnahmen, die psychisch Behinderten den (Wieder-)Eintritt in das Berufsleben ermöglichen. Beschäftigungstherapie Anwendung von handwerklicher Arbeit und künstlerisch-kreativer Gestaltung als therapeutisches Hilfsmittel im Sinne der Aktivierung schöpferischer Kräfte und der Förderung von Eigeninitiative. Betreutes Wohnen Konkretes Hilfsangebot zur Integration in gemeinschaft liche Lebensformen.
Bewusstseinsstörungen Beeinträchtigung des Bewusstseinsgrades (Bewusstseinsminderung), die von Benommenheit bis zur Aufhebung des Bewusstseins reichen kann (Somnolenz, Sopor, Koma). • Bewusstseinseinengung: Fokussierung des Denkens, Fühlens und Wollens auf wenige Themen. • Bewusstseinstrübung: Störung, verschiedene Aspekte der eigenen Person und der umgebenden Welt zu verstehen und folgerichtig zu handeln. • Bewusstseinsverschiebung/Bewusstseinserweiterung: Gefühl erhöhter Wachheit und gesteigerter Erlebnisqualitäten im Sinne einer erhöhten Intensitäts- und Helligkeitswahrnehmung, oft verbunden mit bizarrem, ungewöhnlichem Verhalten, das der Situation, den jeweiligen kulturellen Traditionen und dem sozialen Standard nicht angepasst ist. Beziehungsidee Betroffene beziehen grundsätzlich Ereignisse und Gegenstände, aber auch Personen der unmittelbaren Umgebung auf sich. Im Unterschied zum Beziehungswahn wird bei der Beziehungsidee nicht unumstößlich an dieser Vorstellung festgehalten. Borderline-Störung Emotional instabile Persönlichkeit mit unklaren und gestörten Präferenzen, Zielen und Selbstwahrnehmungen.
Bewegungsstereotypien Gleichförmig sind wiederholende Bewegungsabläufe, die nicht durch äußere Reize Bulimie Attacken von unkontrollierter, unmäßiger ausgelöst sind. Nahrungsaufnahme bei krankhaftem Heißhunger mit nachfolgendem Erbrechen. Bewusstsein Das „Wachbewusstsein“ ist nach K. Jaspers das „Ganze des augenblicklichen Seelenlebens“. Nach Ch. Scharfetter ist Bewusstsein C das bewusste Sein, also das Wissen um die Identität des eigenen Subjekts und der Per- Compliance sönlichkeit in den verschiedenen Zeitabläufen Bereitschaft des Patienten, ärztliche Empfeh(Ich-Bewusstsein). lungen, Verordnungen und Maßnahmen zu befolgen.
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Coping-Strategien – Depersonalisation
Denken, magisches Coping-Strategien Die Summe aller Verhaltensweisen, die die Der Betreffende glaubt, dass seine Gedanken, individuelle Auseinandersetzung mit Be- Worte oder Handlungen auf eine besondelastungssituationen und deren Bewältigung re Weise, die den Gesetzen von Ursache und Wirkung widerspricht, von anderen beeinkennzeichnen. flusst werden. Magisches Denken kann Teil von Beziehungsideen sein, es kann aber auch wahnhaftes Ausmaß erreichen. Es kann bei D Kindern und bei Menschen in primordialen Kulturen beobachtet werden. Als pathologiDämmerzustand Zustand veränderten Bewusstseins im Sinne sches Phänomen findet es sich bei Patienten einer Einengung des Bewusstseinsfeldes mit mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung, ausschließlicher Ausrichtung auf bestimmtes schizophrenen Psychosen und Zwangsstöinneres Erleben. Die Aufmerksamkeit ist be- rungen. einträchtigt. Denkstörung Störung des Denkprozesses, des DenkinhalDebilität Veralteter Ausdruck für leichte intellektuelle tes und/oder der Verknüpfung der einzelnen Denkakte. Denkstörungen können die Form Minderbegabung. und den Inhalt des Denkens betreffen. • Formale Denkstörung: Die Denkstörungen Déjà-vu-Erlebnis betreffen die Geschwindigkeit, den Ablauf Vermeintliche Vertrautheit mit einer Situoder die logische Struktur des Denkens. ation. Der Betroffene ist überzeugt, etwas Das Denken kann somit beschleunigt, verschon gesehen, gehört oder erlebt zu haben. langsamt oder gehemmt sein. Die Störung des Denkablaufes führt zu umständlichem, Delirantes Syndrom perseverierendem oder eingeengtem DenOrganisches Psychosyndrom bei akuten körken bzw. zur Denksperrung. Die Störung perlichen Erkrankungen, das mit Störungen der logischen Struktur ist gekennzeichdes Bewusstseins, der Aufmerksamkeit, des net durch eine Lockerung der Assoziation, Denkens und der Wahrnehmung sowie der durch Alliterationen und Begriffszerfall, Psychomotorik einhergeht. Halluzinatorische durch Ideenflucht und Inkohärenz sowie Erlebnisse und vegetative Störungen können durch Klangassoziationen und Neologisauft reten. men. • Inhaltliche Denkstörung: Die Themen des Demenz Denkens sind im Sinne einer veränderten In späteren Lebensabschnitten auft retende Realitätswahrnehmung bzw. eines beeinIntelligenzminderung. trächtigten Urteilsvermögens gestört. Daraus resultieren überwertige Ideen oder Denken, unlogisches Wahnvorstellungen. Der Denkvorgang einer Person enthält eindeutige Widersprüche. Aus gegebenen Sachverhalten werden falsche Schlussfolgerungen Depersonalisation gezogen. Es kann zu wahnhaften Überzeu- Störung des einheitlichen Erlebens und der Wahrnehmung des Selbst bzw. der Person. gungen führen oder sich daraus ableiten. Unlogisches Denken tritt auch bei Perso- Die Person kommt sich kurzfristig oder annen ohne psychische Störungen, vor allem bei haltend fremd, unwirklich, verändert und uneinheitlich vor. Übermüdung oder Ablenkung auf.
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Depravation – Echolalie
Depravation Veränderung bis Verlust der sittlichen und moralischen Verhaltensweisen besonders im Rahmen von Abhängigkeitserkrankungen. Depressivität Zustand gedrückter Stimmung und negativ getönter Befindlichkeit. Deprivation 1. Mangel an förderlichen Sinnesreizen 2. Psychophysischer Entwicklungsrückstand bei fehlender Bezugsperson Derealisation Personen, Gegenstände und die den Betroffenen umgebende Welt erscheinen fremdartig, unwirklich oder verändert. Die Umwelt wirkt bedrohlich, sonderbar oder gespenstisch. Desorientiertheit Verwirrung bezüglich Datum oder Tageszeit, des Aufenthaltsortes oder der Identität. Desorientiertheit ist typisch für organisch bedingte psychische Störungen (Delir oder Demenz). Devianz Normabweichendes Verhalten. Diagnose Der Begriff bezeichnet den Vorgang der Identifi kation einer bestimmten psychischen oder körperlichen Störung, mit dem Ziel, eine optimale Therapieführung planen zu können.
gesund gesehen werden wollen. Häufig bei suizidgefährdeten depressiv Erkrankten. Dissozialität Durch Missachtung der Regeln des sozialen Zusammenlebens gekennzeichnete Verhaltensauff älligkeit. Distanzlosigkeit Unangemessenes zwischenmenschliches Verhalten mit unpassender Vertraulichkeit und Verlust konventioneller Normen. Doppelte Buchführung Nebeneinander von Realität und Wahn bei schizophrenen Störungen. Durchgangssyndrom Reversibles organisches Psychosyndrom ohne Bewusstseinsstörung. Dysphorie Missmutig-gereizte Verstimmtheit. Dyssomnie Nach ICD-10 primär psychisch bedingte Störung der Dauer, der Qualität und des Zeitpunktes des Schlafes aufgrund von emotionalen Ursachen. Die Dyssomnien werden in Insomnie, Hypersomnie und in Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus eingeteilt. Die ICSD-2 verwendet die Sammelbezeichnung für primäre Schlafstörungen nicht.
Dysthymie Anhaltende Affektstörung im Sinne einer Dipsomanie, Quartalstrunksucht, chronischen oder regelmäßig wiederkehrenperiodische Trunksucht den milden (subklinischen) Depression ohne Wiederholt, oft periodisch auft retender exzes- hypomanische Episoden. Die symptomfreien siver Alkoholkonsum bei (weitgehender) zwi- Intervalle dauern nur wenige Tage oder Woschenzeitlicher Abstinenz. Häufig im Rah- chen an. men von zyklisch auft retenden psychischen Verstimmungszuständen. E Dissimulation Bewusstes Verringern oder Verbergen von Echolalie bestehenden körperlichen oder psychischen Mechanisches, unreflektiertes Nachsprechen Krankheitssymptomen bei Patienten, die als von Wörtern oder Sätzen anderer Personen. Echolalie kommt als Ausdruck einer Ich-
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Identitätsstörung bei Schizophrenien (Katatonie), bei organisch bedingten psychischen Störungen und bei schweren Entwicklungshemmungen vor. Physiologisch ist das Nachsprechen im Rahmen der kindlichen Sprachentwicklung (9. bis 12. Lebensmonat), in der vorgesprochene Laute und Wörter vom Kind wiederholt werden. Echopraxie Nachahmung von Bewegungen, Gebärden und Haltungen eines anderen, meist des Untersuchers. Echopsychose, Flash-back, Nachhallpsychose Spontanes Wiederauft reten einer psychotischen Episode nach einem Horror-Trip im drogenfreien Intervall.
Echopraxie – Funktionelle Störungen
und künstlerisch-kreatives Gestalten die Eigeninitiative der Patienten fördern und schöpferische Kräfte aktivieren sowie tagesstrukturierend und gemeinschaftsbildend wirken. Euphorie Zustand der Übersteigerung des Wohlbefi ndens, der Heiterkeit und der Vitalgefühle.
F Familientherapie Form der Psychotherapie, bei der die Familie als Ganzes in den therapeutischen Prozess einbezogen wird. Fokaltherapie Form der Kurzpsychotherapie, die sich auf die Arbeit an einem definierten Problem beschränkt.
Elektrokonvulsionstherapie (ECT) Künstlich induzierte zerebrale Krampfanfälle als Behandlungsverfahren der therapieresistenten schweren depressiven Störung und der Fremdbeeinflussung perniziösen Katatonie. Wahnhaftes Erleben der Induktion und/oder Es wird zwischen unilateraler und bilatera- Kontrolle der Gedanken, Gefühle, Wahrnehler Anwendung unterschieden. mungen und Handlungen durch andere Menschen oder Mächte. Empathie Einfühlendes Verständnis. Fatigue Chronisches Müdigkeitssyndrom. AndauernEmotion de deutliche Leistungseinbuße durch körperGefühlszustand, Gemütsbewegung (siehe Af- liche wie psychische Erschöpfung. Hohe Kofekt). morbidität mit Angststörungen, depressiven Erkrankungen und Fibromyalgiesyndrom. Enuresis Unwillkürliches bzw. unbeabsichtigtes Harn- Fugue lassen. Eine biologische Ursache liegt nicht Fluchtartiger Ausbruch aus der gewohnten vor. Umgebung. Episode Abgegrenzter Zeitraum, in dem eine psychische Störung besteht. Der Begriff „Episode“ ersetzt den in der Vergangenheit gebrauchten Terminus „Phase“.
Funktionelle Störungen Durch psychische und psychosoziale Belastungsmomente ausgelöste Beschwerden in bestimmten Organsystemen ohne körperliche Ursache.
Ergotherapie Zusammenfassender Begriff aller Behandlungsformen, die durch handwerkliche Arbeit
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Gedächtnis – Halluzination
G
Gedankenentzug Gewissheit, dass die eigenen Gedanken weggenommen oder entzogen werden.
Gedächtnis Fähigkeit des ZNS, Informationen zu speichern und im Bedarfsfall wieder abzurufen. Gefühl Das Gedächtnis besteht als Teil der Infor- Grundbefindlichkeit des Erlebens. Zustände mationsverarbeitung aus den Komponenten des Ich, die durch die Eigenschaft des AngeAufnahme, Entschlüsselung, Verarbeitung nehmen oder Unangenehmen gekennzeichund Behalten von Informationen sowie Ab- net sind. (K. Schneider) Dazu gehören z. B. ruff ähigkeit alter und neuer Inhalte. Im Ge- Freude, Ärger und Mitleid. Durch Gefühle dächtnis sind das Wissen des Menschen über kann das Wollen und Handeln des Menschen kontextbezogene, persönliche Erlebnisse und kurzfristig oder andauernd beeinflusst werErfahrungen sowie kontextunabhängige Fak- den. ten und motorische Fähigkeiten und FertigGenitale Phase keiten gespeichert. Den Aufarbeitungsschritten entsprechend Nach S. Freud jene Entwicklungsphase, in der wird zwischen einem „sensorischen Gedächt- sich die Sexualität der reifen Persönlichkeit nis“, einem „Arbeits- und Kurzzeitgedächt- entwickelt. nis“ sowie einem „Langzeitgedächtnis“ unterschieden. Letzteres wird in ein deklaratives Gereiztheit bzw. explizites Gedächtnis und ein nicht-de- Bereitschaft zu aggressiv getönten, affektiven klaratives bzw. implizites Gedächtnis einge- Ausbrüchen. teilt. Das deklarative Gedächtnis speichert die durch Lernen erworbenen bewussten Erinne- Größenideen rungen an Gegebenheiten und Fähigkeiten Krankhaft übersteigertes Selbstwertgefühl bezüglich der eigenen Macht, des eigenen (semantisches und episodisches Gedächtnis). Das nicht-deklarative Gedächtnis speichert Wissens oder der Bedeutung der eigenen Peralle durch implizites Lernen erworbenen un- son. In extremen Fällen kann die Größenidee bewussten motorischen Fertigkeiten und ein wahnhaftes Ausmaß annehmen (z. B. die Handlungsabläufe (prozedurales Gedächtnis). wahnhafte Überzeugung, Herrscher der Welt zu sein). Gedankenabreißen Plötzlicher Abbruch eines sonst flüssigen Ge- Grübeln Andauernde Beschäftigung mit wenigen, undankenganges ohne erkennbaren Grund. angenehmen Gedanken. Gedankenausbreitung Der Betroffene ist überzeugt, dass andere H Menschen Anteil an seinen Gedanken haben und somit auch wüssten, was er denke. Halluzinogene Gedankendrängen Chemische Substanzen, die einen psychoseGefühl, unter dem übermächtigen Druck vie- ähnlichen Zustand auslösen können. ler Einfälle oder wiederkehrender Gedanken Halluzination zu stehen. Sinneswahrnehmung ohne äußere Stimulation des betreffenden Sinnesorgans. Eine Gedankeneingebung Der Betroffene empfindet seine Gedanken Halluzination besitzt für den Betroffenen die und Vorstellungen als von außen eingegeben, Echtheit oder Gültigkeit einer realen, äußeren Wahrnehmung. beeinflusst, gemacht oder manipuliert.
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Die Interpretation der halluzinatorischen Wahrnehmungen durch den Betroffenen kann wahnhaft sein. Halluzinationen zeigen das Bestehen einer psychotischen Beeinträchtigung nur dann an, wenn sie mit erheblichen Beeinträchtigungen der Realitätskontrolle verbunden sind (vgl. „psychotisch“). Der Begriff „Halluzination“ wird in der Regel nicht für Wahrnehmungen im Traum, beim Einschlafen (hypnagog) oder beim Aufwachen (hypnopomp) angewendet. Halluzinationen müssen von Illusionen (siehe dort), die Fehlwahrnehmungen oder Fehldeutungen eines real existierenden äußeren Reizes darstellen, unterschieden werden sowie von normalen, ungewöhnlich lebhaft empfundenen Denkprozessen abgrenzbar sein. Halluzinationen können ein Sinnesgebiet (einfache Halluzinationen) oder mehrere (kombinierte Halluzinationen, Synästhesien) betreffen. Passagere halluzinatorische Erfahrungen kommen auch bei Personen ohne psychische Störungen vor. Die Einteilung erfolgt nach Sinnesgebieten. • Akustische Halluzinationen: Der Gehörsinn ist das am häufigsten von Halluzinationen betroffene Sinnesgebiet. Einfache Geräuschwahrnehmungen verschiedenster Intensität (Akoasmen) werden von einer differenzierten Wahrnehmung von Stimmen unterschieden (Phoneme). Bei Akoasmen handelt es sich oft um elementare Eindrücke wie Donnergrollen, Kettenrasseln oder „Sphärenklänge“. Akustische Halluzinationen können in Form dialogisierender, imperativer, beschimpfender und handlungsbegleitender Stimmen auft reten, häufig ist auch das Lautwerden eigener Gedanken. • Coenästhetische Halluzinationen: Leibeshalluzinationen betreffen den gesamten Körper oder bestimmte Teile davon und können in bizarrer Vielfalt auft reten. Typisch sind umschriebene Schmerzsensationen, Veränderungen an Organen (verwesendes Gedärm, ehernes Herz, geschrumpftes Gehirn), das Fühlen von Fremdkörpern (implantierte Sender, nagende Schlangen) oder physikalische
Halluzination – Halluzination
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Sensationen (Strahlen, Elektrisierungen). Hierher gehören auch Veränderungen körperlicher Merkmale, Bewegungserlebnisse (kinästhetische Sensationen) sowie Levitations- und Elevationsphänomene. Extrakampine Halluzinationen: Unter dieser seltenen Wahrnehmungsstörung wird das Sehen einer Gestalt außerhalb des Gesichtsfeldes verstanden. Gustatorische Halluzinationen: Geschmackshalluzinationen, meist unangenehmer Natur. Körperbezogene Halluzinationen: Halluzinationen, die mit der Wahrnehmung eines körperlichen Vorgangs im Organismus einhergehen. Eine körperbezogene Halluzination ist nur dann mit Sicherheit festzustellen, wenn eine wahnhafte Annahme einer körperlichen Erkrankung vorliegt. Auch muss sie von hypochondrischen Störungen unterschieden werden oder von der Übersteigerung normaler körperlicher Empfindungen sowie von einer taktilen Halluzination, bei der sich die Empfindung zumeist auf die Haut bezieht. Olfaktorische Halluzinationen, Geruchshalluzinationen: Der Betroffene riecht Gase oder ist überzeugt, das Essen sei verändert. Die Halluzinationen des Geruchssinnes sind klinisch oft nicht von den Geschmackshalluzinationen zu unterscheiden, ebenso sind sie nicht eindeutig von illusionären Verkennungen abgrenzbar. Wahrnehmungsstörungen, die den Geruchsund Geschmackssinn betreffen, zeichnen sich häufig auch durch primär diesen Sinnesgebieten nicht zugängliche Qualitäten aus (Riechen von Strahlen oder Radiowellen, Schmecken objektiv geschmackloser Substanzen). Manche Personen sind auch davon überzeugt, einen unangenehmen Körpergeruch auszuströmen. Treten Geruchshalluzinationen anfallsweise auf, ist dies kennzeichnend für Uncinatus-Anfälle (Anfälle, die im vorderen Temporallappenbereich ausgelöst werden, v. a. im Uncus des Gyrus hippocampalis).
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Hebephrenie – Hysterie
• Optische Halluzinationen: Visuelle Trugwahrnehmungen reichen von der subjektiven Wahrnehmung elementarer, undifferenzierter Eindrücke wie Lichtblitze oder Farbenspiele (Photome, Photopsien) über strukturierte Bilder (Menschen oder Gegenstände: Morphopsien) bis hin zu komplexen szenischen Abläufen (z. B. Faschingsumzug, Gerichtsverhandlung). Als Vision wird die Wahrnehmung unbewegter, häufig farbenprächtiger und detailreicher Bilder bezeichnet. Auf optischen Halluzinationen beruht auch das Phänomen der Personenverkennung. • Stimmungsinkongruente Halluzinationen: vgl. stimmungsinkongruente psychotische Merkmale. • Stimmungskongruente Halluzinationen: vgl. stimmungskongruente psychotische Merkmale. • Taktile Halluzinationen, haptische Halluzinationen: Eine Halluzination mit dem Gefühl, berührt zu werden. Fast immer ist dieses Symptom mit einer wahnhaften Interpretation der Empfindung verbunden. Eine spezielle taktile Halluzination ist die Formicatio, das Gefühl, dass sich etwas auf oder unterhalb der Haut bewege. Formicatio kommt beim Alkoholentzugsdelir und in der Entzugsphase der Kokainintoxikation vor. Auch der Dermatozoenwahn ist hierher zu rechnen. Schmerzhafte taktile Halluzinationen sind von der somatoformen Schmerzstörung zu unterscheiden, bei der keine wahnhafte Interpretation besteht.
tes Verlangen nach Anerkennung sowie durch theatralisches Verhalten charakterisiert ist. Horror-Trip (Bad Trip) Mit Angst- und Panikzuständen einhergehender Drogenrausch, besonders bei Einnahme von LSD. Hospitalismus, Institutionalismus Summe von psychischen, organischen und sozialen Folgen der Langzeitaufnahme in wenig aktivierender Heim- oder Krankenhausatmosphäre. Hyperkinese Gesteigerte Bewegungsaktivität bei psychomotorischer Unruhe. Hypersomnie Gesteigertes Schlafbedürfnis während des Tages. Hyperthym Heiter-oberflächliches Verhalten an der Grenze zur Hypomanie. Hypochondrie, hypochondrische Störung Unbegründete Angst vor körperlichen Erkrankungen, verbunden mit gesteigerter Selbstbeobachtung und Überbewertung von organbezogenen Wahrnehmungen. Hypnose Durch Suggestion induzierter schlafähnlicher Zustand mit erhöhter Beeinflussbarkeit.
Hebephrenie Im Jugendalter auft retende Form der Schizophrenien.
Hypomanie Leichter Ausbildungsgrad einer manischen Episode.
Herzangstsyndrom, Herzphobie Attackenartig auft retende inadäquate Angst und Überzeugung, an einer Herzerkrankung zu leiden oder an einem Herztod zu sterben.
Hyposomnie Eingeschränktes, unzureichendes Schlafverhalten.
Histrionische Persönlichkeit Persönlichkeitsstörung, die durch Egozentrizität, gesteigertes Geltungsbedürfnis und ste-
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Hysterie s. Histrionische Persönlichkeit
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Ideenflucht – Inzest
I Ideenflucht Ideenflucht äußert sich in einem ständigen, beschleunigten Redefluss. Der Betroffene wechselt abrupt von einem Thema zum nächsten, da er auf ablenkende Reize in seiner Umgebung reagiert oder Wörter rein assoziativ aufgrund ihres ähnlichen Klanges oder ihrer ähnlichen Bedeutung verknüpft (Wortspiele). Das ursprüngliche Ziel des Denkens kann verloren gehen. In schweren Fällen erscheint die Sprache unzusammenhängend (inkohärent). Ideenflucht wird am häufigsten in manischen Episoden beobachtet, kommt aber auch bei organisch bedingten psychischen Störungen, bei Schizophrenien und gelegentlich bei akuten Belastungsreaktionen vor. Identität Erleben der inneren Einheit einer Person im Zeitverlauf. Störungen der Ichhaftigkeit des Erlebens bestehen bei den Schizophrenien, bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung und bei der Identitätsstörung. Idiotie Veralteter Ausdruck für den schwersten Grad der intellektuellen Behinderung mit Bildungsunfähigkeit. Illusion Fehlwahrnehmung eines realen äußeren Reizes. Im Gegensatz zur Halluzination ist ein Wahrnehmungsgegenstand vorhanden, der jedoch subjektiv umgedeutet wird. Imbezillität Veralteter Ausdruck für einen mittleren Grad der intellektuellen Behinderung. Impulskontrolle Willentliche Steuerung und Beherrschung von Wünschen und Regungen.
hinderungen und deren uneingeschränkte Teilnahme am gesellschaft lichen Leben und Lernen. Inkohärenz Das Denken und Sprechen des Betroffenen verliert für den Untersucher den verständlichen Zusammenhang. Typisch sind ein Mangel an logischem und sinnvollem Zusammenhang zwischen Wörtern, Satzteilen und Sätzen, ein exzessiver Gebrauch von unvollständigen Sätzen, ein Aufzählen zahlreicher Belanglosigkeiten und abrupter Themenwechsel sowie eine verkehrte Grammatik Der Begriff ist nicht anzuwenden, wenn die Sprachauff älligkeit auf eine Aphasie zurückgeführt werden kann. Insomnie (Schlaflosigkeit) Insomnie ist ein Zustandsbild mit ungenügender Dauer oder Qualität des Schlafs. Es bestehen starke individuelle Abweichungen von der allgemein als normal geltenden Schlafdauer. Schlafgestörte Personen klagen am häufigsten über Einschlafstörungen, gefolgt von Durchschlafstörungen und morgendlichem Früherwachen. Institutionalismus s. Hospitalismus Insuffizienzgefühle Das Gefühl, unfähig und minderwertig zu sein. Introspektion Fähigkeit zur Selbstbeobachtung zum Zwecke der Selbsterkenntnis. Introversion Der Innenwelt und dem geistigen Leben zugewandtes Denken. Inzest Sexuelle Beziehung zwischen nahen Verwandten.
Inklusion Achtung und Wertschätzung aller Menschen, unabhängig von Beeinträchtigungen und Be-
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Inzidenz – Konversionsstörung
Inzidenz Das Neuauft reten definierter Störungen oder Krankheiten innerhalb einer Bevölkerungsgruppe.
K
Kleptomanie Pathologisches Stehlen, häufig verbunden mit Lustgewinn. Kognitive Therapie Psychotherapeutisches Verfahren, das durch kognitive Mittel eine Neubewertung und somit eine Veränderung des gestörten Verhaltens anstrebt.
Katathymie Veränderung psychischer Inhalte durch Erlebnisse, die starke Affekte wecken: Wahrneh- Konfabulation mungen, Erinnerungen oder Denkvorgänge Erfinden von Fakten oder Ereignissen als werden unter dem Einfluss von Wunschbil- Antwort auf Fragen nach Vorgängen, an die sich der Betroffene wegen seiner Gedächtnisdern verfälscht. störungen nicht erinnert. Konfabulationen unterscheiden sich von Lügen insofern, als Katatones Verhalten, Katatonie Ausgeprägte psychomotorische Störung, die keine absichtliche Täuschung versucht wird. zwischen Erregung und Erstarrung wechseln Konfabulation ist bei der Amnesie (s. dort) häufig. kann. • Katatone Erregung: Gesteigerte, ziellose motorische Aktivität, die nicht von äuße- Konsiliar- und Liaison-Psychiatrie Die Konsiliar- und Liaison-Psychiatrie ist jeren Stimuli beeinflusst wird. • Katalepsie und katatone Flexibilitas cerea: nes Teilgebiet der Psychiatrie, das Patienten Die Glieder des Betreffenden lassen sich in (eines Allgemeinkrankenhauses) mit psyjede Stellung bringen und bleiben so (Hal- chischen Störungen berät und spezielle diatungsstereotypien). Wird ein Glied passiv gnostische und therapeutische Maßnahmen bewegt, erscheint es dem Untersucher wie empfiehlt. Darüber hinaus koordiniert sie die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psyformbares Wachs. • Katatoner Negativismus: Widerstand gegen chiatern, Ärzten und Pflegepersonal in somaalle Aufforderungen oder Versuche, etwas tischen Krankenhausabteilungen. Der Psyzu unternehmen. Der Betroffene macht das chiater supervidiert die Tätigkeit der Ärzte und des Pflegepersonals der organmediziniGegenteil von dem, was verlangt wird. • Katatone Rigidität: Beibehalten einer rigi- schen Abteilungen mit dem Ziel einer patientengerechten Betreuung und einer verbesserden Haltung. • Katatones Haltungsverharren: Einnahme ten psychiatrischen Grundversorgung. Die einer unangemessenen oder bizarren Hal- Psychiater nehmen an Visiten und Stationsbesprechungen teil und übernehmen psychotung über lange Zeit. • Katatoner Stupor: Fehlende Reaktion auf pharmakologische und/oder (kurz-)psychodie Umgebung und verminderte Spontan- therapeutische Interventionen. aktivität. Die Umwelt wird jedoch wahrgeKontamination nommen. Verschmelzung von zwei oder mehreren Wörtern zu einem neuen Begriff. Katharsis Läuterung durch Abreagieren von Gefühlen. Konversionsstörung Das ICD-10 spricht von dissoziativen StörunKlaustrophobie Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen, gen. Konversionsstörungen bzw. dissoziative Störungen bestehen in einer deutlichen Beengen Räumen. einträchtigung einer motorischen oder senso-
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Konzentration – Mutismus
rischen Funktion bei objektiv nicht nachweisbarer körperlicher Erkrankung. Es liegt eine nahe zeitliche Verbindung zu traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen vor.
M Makropsie/Mikropsie Gegenstände werden entweder größer oder kleiner wahrgenommen.
Manie Konzentration Euphorische Stimmungslage und angehoAktive Hinwendung der Aufmerksamkeit auf bener Antrieb im Rahmen einer affektiven einen bestimmten Bewusstseinsinhalt bei Störung. In Wortverbindungen (z. B. Kleptogleichzeitiger Ausblendung anderer Informa- manie) in der Bedeutung von „suchtartigem tionen. Verhalten“ verwendet. Konzentrationsstörung Störung der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit ausdauernd einer bestimmten Tätigkeit oder einem definierten Sachverhalt zuzuwenden. Koprolalie, „Kotsprache“ Zwanghaftes Aussprechen vulgärer Worte, häufig beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Korsakow-Syndrom Amnestisches Psychosyndrom mit Desorientiertheit, Merkschwäche und Konfabulationen.
Manierismen Theatralisch-gekünstelte, unnatürliche Verhaltensweisen. Melancholie Historisch als Synonym für depressive Syndrome verwendet. Metamorphopsie Gegenstände werden in Farbe und Form verändert wahrgenommen.
L
Minussymptomatik – Negativsymptomatik Affekt- und Sprachverarmung, sozialer Rückzug und Apathie im Verlauf schizophrener Erkrankungen.
Latenzperiode Entwicklungsperiode vor dem Beginn der Pubertät.
Monopolar Im Verlauf einer affektiven Störung treten nur idente Episoden auf.
Libido Das Verlangen nach sexueller Beziehung. In der psychoanalytischen Literatur jene psychische Energie, die jeden Trieb begleitet.
Motorische Unruhe Ziellose und ungerichtete Aktivität.
Liebeswahn Wahnhafte Überzeugung, von einer anderen Person geliebt zu werden. Logorrhö Übermäßig verstärkter Redefluss.
Münchhausen-Syndrom Die Betroffenen erfinden lebhafte Beschwerden, um eine Einweisung in ein Krankenhaus zu erreichen, ohne selbst schmerzhafte diagnostische Eingriffe und Operationen zu scheuen. Das Krankenhaus wird meist unvermittelt verlassen. Mutismus Wortkargheit bis hin zum Nichtsprechen.
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Nachschwankungen – Orientierung
N Nachschwankungen Gering ausgeprägtes Stimmungstief nach einer manischen Episode bzw. ein Stimmungshoch nach einer depressiven. Nachtklinik Form der teilstationären Behandlung, bei der die therapeutischen Aktivitäten in den Abendstunden erfolgen und die Patienten in der Klinik übernachten, tagsüber aber den gewohnten Beschäft igungen nachgehen. Narkolepsie Anfallsweise auft retender, unüberwindbarer Schlafzwang, der häufig mit affektivem Tonusverlust der Muskulatur (Kataplexie) verbunden ist.
nicht unmittelbar verständlich, der Sinngehalt ist nicht nachvollziehbar. Neurasthenie Durch Anlage oder äußere Einflüsse bedingte Schwäche oder Erschöpfung (historischer Begriff ). Neuropsychiatrie Der Begriff kennzeichnet das Verständnis für die Neurobiologie von Verhaltensänderungen und für psychiatrische Syndrome, die auf der Basis von definierbaren Hirnfunktionsstörungen auft reten. Neurotransmitter Botenstoffe, die an den Nervenendigungen freigesetzt werden.
Narzissmus O Begriff aus der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, wonach die ganze Libido dem Oligophrenie Angeborene Intelligenzdefizite. Ich zugewendet wird. Durch die übermäßige Selbstliebe ist die Beziehungsfähigkeit deutlich gestört. In Omnipotenzgefühle kränkenden Situationen ist die Selbstwertre- Überzeugung, eine absolute Machtfülle zu gulation erschwert. Das Einfühlungsvermö- besitzen. gen ist herabgesetzt. Das grandiose Gefühl der eigenen Wichtigkeit führt zu Egozentrik Orale Phase und zu einem anhaltenden Wunsch nach Be- Erste frühkindliche Entwicklungsphase, wunderung. Antisoziale Verhaltensweisen durch Inbesitznahme gekennzeichnet. sind häufig: In der malignen Ausprägung herrschen Hass, Sadismus und intensive Ag- Organische Psychosyndrome Psychische Erkrankungen, die ätiologisch gressionen vor. entweder unmittelbar in einer Schädigung des Gehirns oder mittelbar in einer durch Negativismus Auf Aufforderung wird unreflektiert das Krankheiten anderer Organe bzw. durch Systemerkrankungen hervorgerufenen FunkGegenteil des Verlangten getan. tionsstörungen des Gehirns begründet sind. Negativsymptomatik Siehe Minussymptomatik. Orientierung Die Orientierung umfasst die Summe der Fähigkeiten, sich in der Zeit, im Raum und in Neologismen Erfindung neuer Worte oder Verwendung der persönlichen Situation zurechtzufi nden. bekannter Worte, denen eine neue Bedeu- Orientierungsstörungen können im Rahmen tung gegeben wird. Die Wortneubildungen der psychiatrischen Exploration festgestellt entsprechen nicht den traditionellen sprach- werden oder erschließen sich aus dem Verhallichen Konventionen und sind in der Regel ten des Betroffenen.
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Palimpseste – Pareidolien
Die zeitliche Orientierung wird durch die Paramimie Frage nach dem Datum geprüft. Die örtliche Affekte und mimisches Verhalten stimmen Orientierung ist die Fähigkeit, den gegenwär- nicht überein. tigen Ort sowie die entsprechende Situation zu erkennen und zu definieren. Die Orientie- Paranoia rung zur Person ist das Wissen um biografi- Systematisierter Wahn. sche Zusammenhänge. Paranoide Vorstellungen Chronische, systematische Vorstellung von Beziehungs- oder Verfolgungsthemen, deren P Intensität jedoch geringer ist als beim Wahn. Beziehungsideen enthalten häufig paranoide Palimpseste Erinnerungslücken bei Abhängigkeitserkran- Vorstellungen. kungen, besonders beim Alkoholismus. Paraphasie Form einer Sprachstörung, bei der Worte Panikattacken Zeitlich begrenzte Perioden mit plötzlich ein- oder Buchstaben verwechselt werden. setzender, intensiver Angst, häufig verbunden mit Gefühlen eines drohenden Unheils. Paraphilie Während der Attacken bestehen Symptome Alle Formen sexueller Befriedigung, die an wie Atemnot, Palpitationen, Brustschmerzen, außergewöhnliche Bedingungen geknüpft Beklemmungen, Erstickungsängste und das sind. Gefühl, das Leben, den Verstand oder die BeParasomnie herrschung zu verlieren. Panikattacken sind charakteristisch für die Abnorme Erscheinungen (Schlafwandeln, Panikstörung, können aber auch bei der So- nächtliches Aufschrecken, Albträume), die matisierungsstörung, bei der Depression und während des Schlafes oder an der Schwelle zwischen Wachheit und Schlaf auft reten. bei Schizophrenien vorkommen. Parakinesen Abnorme, komplexe Bewegungsmuster, die die Gestik und Mimik, oft auch die Sprache betreffen. Als psychomotorische Störungen umfassen die Parakinesen den Automatismus, die Stereotypie und die Katalepsie.
Parasuizid Suizidversuch, früher häufig im Rahmen eines primär demonstrativ-appellativen Verhaltens gesehen. Parathymie Die Affekte des Kranken stimmen nicht mit dem Inhalt des gegenwärtigen Erlebens überein.
Paralyse, progressive Zur Demenz führende (parenchymatöse) Form der Neurolues im Spätstadium der Syphilis mit charakteristischen neurologischen Pareidolien Symptomen. Pathologisch-anatomisch han- Von Pareidolien spricht man, wenn Sinnesdelt es sich um eine chronisch progrediente eindrücke verändert erscheinen: Der reale Meningoenzephalitis des Großhirns, vor al- Wahrnehmungsgegenstand imponiert farbilem des Frontalhirns mit Untergang von Ner- ger, größer oder kleiner als er in der Realität venzellen und typischen histologischen Ver- ist und erscheint verzerrt. Als Pareidolie wird beispielsweise eine fehlerhafte Interpretation änderungen an den Gefäßen. bzw. eine fantastische Ausgestaltung eines Tapetenmusters bezeichnet.
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Parkinsonoid – Prävention
Parkinsonoid Medikamentös bedingtes, reversibles Parkinson-Syndrom. Pavor nocturnus Plötzliches Aufwachen in panischer Angst verbunden mit lautem Aufschreien. Perseveration Ständige Wiederholung von Worten, Ideen oder Themen. Dem Betroffenen fällt es schwer, von einem Thema oder Gedanken zum nächstfolgenden zu kommen, er verharrt bei einem einmal formulierten Sachverhalt. Perseveration kommt häufig bei organisch bedingten psychischen Störungen vor.
Phobie Eine anhaltende, unbegründete Angst vor bestimmten Gegenständen, Tätigkeiten oder Situationen, welche den überwältigenden Wunsch hervorrufen, das gefürchtete Objekt, die Tätigkeit oder Situation (phobischen Stimulus) zu vermeiden. Im Unterschied zur Angst ist die Phobie immer auf ganz bestimmte Situationen oder Objekte in der Umwelt gerichtet (z. B. Klaustrophobie, Agoraphobie, s. dort). Auch wenn der Betroffene einsieht, dass seine Angst unbegründet ist, meidet er dennoch die gefürchtete Situation oder das gefürchtete Objekt. Phoneme Akustische Halluzinationen.
Persönlichkeit Gesamtheit der psychischen Eigenschaften Phototherapie – Lichttherapie und Verhaltensweisen, die dem Menschen Zur Behandlung der saisonalen Depression seine unverwechselbare, charakteristische eingesetztes biologisch aktives Licht. Individualität verleihen. Die Persönlichkeitsmerkmale sind weitgehend stabil und über- Pickwick-Syndrom dauern lange Zeiträume. Biologische, psy- Tagsüber bestehender Einschlafzwang mit chische und soziale Einflüsse bestimmen die kurz anhaltenden Schlafperioden in VerbinAusformung der jeweiligen Persönlichkeits- dung mit Fettleibigkeit und Hypoventilation (Periodenatmung im Schlaf). struktur. Polytoxikomanie Persönlichkeitsstörungen Die Zeit überdauernde, tief verankerte Ver- Abhängigkeit von mehreren Suchtstoffen. haltensmuster, die sich in unangepassten, starren Reaktionen manifestieren und sich Poriomanie von der gesellschaft lichen Durchschnitts- Impulshandlung mit dranghaftem Weglaufen. norm unterscheiden. Persönlichkeitsstörungen äußern sich in sub- Prävalenz jektiven Beschwerden und/oder in mangel- Die Häufigkeit definierter Störungen oder Krankheiten innerhalb einer Bevölkerungshafter sozialer Anpassung. gruppe. Phallische Phase Letztes Stadium der frühkindlichen Sexual- Prävention entwicklung. Die Geschlechtsorgane werden • Primäre Prävention: Maßnahmen zur Senkung der Inzidenz von Krankheitsfällen zu erogenen Zonen. durch die Kontrolle oder das Ausschalten von pathogenen Faktoren, durch Erhöhung Phase der Widerstandsfähigkeit des Menschen Abgegrenzter Zeitraum, in dem eine psygegenüber schädigenden Umwelteinflüssen chische Störung besteht. Der Begriff „Phase“ und durch entsprechende Veränderung der wird heute durch „Episode“ ersetzt. Umgebung. Die Ziele der primären Präven-
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Primärer Krankheitsgewinn – Psychotherapie
tion decken sich weitgehend mit jenen der dingungen psychischer Erkrankungen innerhalb einer definierten Population beschäft igt. Psychohygiene. • Sekundäre Prävention: Maßnahmen zur Verringerung der Prävalenz von Erkran- Psychoanalyse kungsfällen und zur Beeinflussung des Von S. Freud begründete Methode, die sich Krankheitsverlaufes mit dem Ziel, Erkran- auf die Aufdeckung unverarbeiteter bzw. unkungen möglichst früh zu erfassen und bewusster Wünsche und Konflikte bezieht. Folgeerkrankungen und Rückfälle zu verPsychomotorische Erregung (Agitiertheit) hüten. • Tertiäre Prävention: Maßnahmen zur Ver- Übermäßige motorische Aktivität, gewöhnminderung der Prävalenz von Behinderun- lich unproduktiv und sich ständig wiedergen durch Entwicklung geeigneter rehabili- holend. Schwere Agitiertheit wird oft von Schreien oder lautem Jammern begleitet. Der tativer Erfahrung. Terminus sollte nur gebraucht werden, wenn objektive Belege (z. B. Umherlaufen, Zappeln, Primärer Krankheitsgewinn Vorteile, die aus einer Erkrankung abgeleitet Händeringen) vorhanden sind. werden können. Psychomotorische Verlangsamung Sichtbare allgemeine Verlangsamung der körProdromalstadium Frühe Anzeichen oder Symptome einer Stö- perlichen Reaktionen, Bewegungen und des Sprechens. rung. Psychosomatik Der Terminus „Psychosomatik“ bezeichnet eine Krankheitslehre, die sowohl psychische Einflüsse auf körperliche Vorgänge als auch Auswirkungen körperlicher Erkrankungen Pseudodemenz Störungen, die einer Demenz ähnlich, aber auf psychische Prozesse berücksichtigt. Der nicht Folge einer organischen Hirnerkran- Begriff „Psychosomatische Medizin“ wird kung sind. Pseudodemenz kommt bei Episo- heute häufig synonym mit „Konsiliar- und Liden einer Depression vor und muss von einer aisonpsychiatrie“ verwendet. vorgetäuschten Störung (Ganser-Syndrom) Psychotherapie unterschieden werden. Oberbegriff für alle Formen der Behandlung von psychischen Störungen mit psycholoPseudohalluzinationen Sinneseindrücke, die einer realen Wahr- gischen Mitteln. Da die Psychotherapie auf nehmung entbehren, jedoch als Trugwahr- unterschiedliche theoretische Vorstellungen nehmung erkannt werden. Zwischen Hallu- aufbaut, kann folgende Einteilung erfolgen: zinationen und Pseudohalluzinationen sind • Psychoanalytisch orientierte Psychotherapie: Analytische Psychotherapie (Psychofließende Übergänge möglich. analyse nach Freud, analytische Psychologie nach Jung, Individualpsychologie nach Pseudoneurasthenisches Syndrom Adler), katathym imaginative PsychotheraHerabgesetzte Belastbarkeit verbunden mit pie. Schwäche und Reizbarkeit bei organischen • Humanistisch-existenzialistische PsychoErkrankungen. therapie: Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie, Logotherapie, Psychodrama. Psychiatrische Epidemiologie Forschungsrichtung, die sich mit der Untersu- • Systemische Psychotherapie: Systemische Familientherapie. chung der Häufigkeit und der Entstehungsbe-
Progressive Muskelrelaxation Von Jacobson entwickelte Methode der Entspannung.
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Psychotisch – Reizüberflutungstherapie
• Verhaltenstherapie: Kognitive Verhaltenstherapie, dialektisch-behaviorale Therapie. • Körperorientierte Psychotherapie: • Expressive Therapieformen: Tanztherapie, Musiktherapie. Nach dem Behandlungssetting wird zwischen Einzel- und Gruppenpsychotherapie bzw. zwischen Kurz- und Langzeittherapie unterschieden.
Recovery Das Recovery-Modell versucht, das Genesungspotenzial von Menschen mit psychischen Störungen zu unterstützen. Wiedergesundung wird als persönlicher Prozess gesehen, grundlegend dafür ist das Erlangen und die Erhaltung der Hoff nung, genauso wie eine sichere sozioökonomische Basis, fördernde zwischenmenschliche Beziehungen, Empowerment und soziale Integration. Darüber hinaus vermittelt Recovery den Patienten Problemlösungskompetenz und Lebenssinn.
Psychotisch Der Begriff bezeichnet eine schwere Beeinträchtigung der Realitätskontrolle und die Schaff ung einer neuen Realität. Die Bezeich- Rededrang nung „psychotisch“ wird verwendet, um das Vermehrtes und beschleunigtes Sprechen, das Verhalten einer Person zu einem bestimmten kaum oder nicht zu unterbrechen ist. In der Zeitpunkt zu beschreiben oder eine psychi- Regel spricht der Betroffene auch laut und emphatisch, vielfach ohne eine äußere Stimusche Störung zu kennzeichnen. Ein direkter Hinweis für psychotisches lierung und spricht selbst dann weiter, wenn Verhalten ist das Vorhandensein von Wahn- niemand zuhört. Rededrang kommt am häufigsten in maphänomenen oder Halluzinationen. Der Begriff „psychotisch“ trifft auch zu, wenn das nischen Episoden vor, aber auch bei einigen Verhalten einer Person ausgeprägt desorgani- organisch bedingten psychischen Störungen, siert ist, sodass auf eine gestörte Realitätskon- bei Depressionen mit psychomotorischer Erregung, schizophrenen Störungen und geletrolle geschlossen werden kann. gentlich auch bei akuten Belastungsreaktionen. Pyromanie Pathologische Brandstiftung. Rehabilitation • Psychiatrische: Summe aller Maßnahmen, die eine psychisch beeinträchtigte Person R in die Lage versetzt, ihr Leben in einem möglichst normalen sozialen Kontext zu Rapport leben. Gefühlsmäßiger Kontakt zwischen Therapeut • Berufliche: Summe aller Maßnahmen, die und Patient. dazu dienen, eine weitgehende und dauerhafte Wiedereingliederung des Patienten in Raptus den Arbeitsprozess zu erreichen. Unvermittelt auft retender Erregungszustand mit aggressiven Durchbrüchen bei psychi- • Soziale: Summe aller Maßnahmen, die dazu dienen, durch allgemeine Aktivieschen Störungen. rung und Training der sozialen Fertigkeiten eine selbstständige und sinnerfülte Ratlosigkeit Lebensführung bei psychisch Kranken zu Der Patient begreift seine Situation und seine ermöglichen. Umgebung nicht und fi ndet sich stimmungsmäßig nicht mehr zurecht. Er versteht nicht, was mit ihm geschieht und wirkt auf den Be- Reizüberflutungstherapie Methode der Verhaltenstherapie, bei der der obachter verwundert und hilflos. Patient dem angstauslösenden Reiz so lange
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maximal ausgesetzt wird, bis die Angst verschwindet. Residualzustand Störungen bzw. Veränderungen, die nach der Remission der floriden Symptomatik einer Erkrankung dauerhaft fortbestehen.
Residualzustand – Sozialpsychiatrie
Eine ätiologische Heterogenität mit gemeinsamer psychopathologischer Endstrecke ist anzunehmen. Schlafstörung Siehe Insomnie.
Schub Veraltete Bezeichnung für eine einzelne Resilienz Widerstandskraft eines Menschen, negativen Krankheitsepisode im Rahmen einer schizoEinflüssen standzuhalten, ohne eine psychi- phrenen Störung. sche Beeinträchtigung zu entwickeln. Sektorisierung, Regionalisierung Errichtung von therapeutischen Einrichtungen in geografisch definierten, kleinen VerS sorgungsregionen, die die Verantwortung für die psychiatrische Therapie und RehabilitaSchizoaffektive Störung Psychose, die zeitgleich oder nacheinander tion der dort lebenden Bevölkerung übernehRadikale sowohl einer schizophrenen als auch men. einer affektiven Symptomatik beinhaltet. Somatoform Körperliches Beschwerdebild, für das keine Schizoid Persönlichkeitseigenschaften, die zum Teil ausreichenden organischen Befunde erhoben der Symptomatik schizophrener Störungen werden können. verwandt sind. Die Betroffenen wirken emotional kühl und distanziert, haben wenig In- Somatopsychische Erkrankung teresse an mitmenschlichen Kontakten und Primär körperliche Erkrankung, in deren sind mit Fantasien und in sich gekehrten Be- Verlauf es sekundär zu psychischen Störungen kommt. trachtungen beschäft igt. Schizophasie Auffallende Sprachstörung, bei der der Inhalt völlig zerfallen, die Form noch gut erhalten ist. Die schizophasischen Äußerungen sind oft situationsabhängig, erscheinen bizarr, umständlich oder pathetisch und sind schwer verständlich. Schizophrenie Psychose mit charakteristischem, phänomenologisch oft sehr vielgestaltigem psychopathologischem Erscheinungsbild wie Assoziations- und Affektivitätsstörungen, Ambivalenz und Autismus. Wahnideen, psychomotorische Störungen und Halluzinationen ergänzen die Symptomatik. Bewusstsein, Intelligenz und Orientierungsfähigkeit sind nicht beeinträchtigt.
Somnambulismus Schlafwandeln. Somnolenz Form der Bewusstseinsverminderung: Der Patient ist schläfrig, aber weckbar. Sopor Form der Bewusstseinsminderung: Der Patient schläft und ist nur durch starke Reize für kurze Zeit weckbar. Sozialpsychiatrie Gesamtheit aller Präventiv-, Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen, die es einem Individuum ermöglichen, innerhalb seines sozialen Umfeldes ein weitgehend sinnerfülltes und nutzbringendes Leben zu führen.
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Soziotherapie – Stimmung
Die Sozialpsychiatrie erforscht darüber hinaus alle Faktoren, die die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen beeinflussen. Soziotherapie Psychiatrische Behandlungsformen, die sich um die Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Gestaltung der Umweltfaktoren bemühen. Sperrung Unterbrechung im Redefluss, bevor ein Gedanke zu Ende ist. Nach einem Schweigen von nur wenigen Sekunden oder aber auch Minuten sagt der Betreffende, dass er sich nicht mehr erinnern kann, was er gesagt hat oder sagen wollte. Von einer Sperrung soll nur dann gesprochen werden, wenn der Betreffende spontan beschreibt, den Gedanken verloren zu haben, oder wenn er auf eine diesbezügliche Frage seine Redepause damit begründet. Spielen, pathologisches Psychische Abhängigkeit von kommerziellen Glücksspielen mit kaum kontrollierbarem Drang im Sinne einer süchtigen Entwicklung. Trotz schwerwiegender psychosozialer Konsequenzen beherrscht das Glücksspiel das Leben der Betroffenen. Häufig ist der Verfall von beruflichen und familiären Werten. Sprachverarmung Einschränkung der Sprachäußerung in einem Ausmaße, das spontanes Reden und Antworten auf Fragen nur noch schwer gelingt. Ist die Sprachverarmung ausgeprägt, so sind die Antworten einsilbig und manche Fragen bleiben unbeantwortet. Sprachverarmung kommt häufig vor bei Schizophrenie, Episoden einer Depression und organisch bedingten psychischen Störungen wie Demenz. Stereotypie Sprachliche oder motorische Äußerungen, die über längere Zeit hinweg in gleicher Form wiederholt werden.
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Stigma Unreflektierte Vorurteile und/oder negative soziale Stereotype, die Menschen mit psychischer Erkrankung entgegengebracht werden. Mit dem Stigma ist auch ein Statusverlust der Betroffenen verbunden. Die Stigmatisierung führt zu Ausgrenzung und Diskriminierung. Stimmung Eine tiefgreifende und anhaltende Emotion, die in hohem Grade die Wahrnehmung der Welt durch den Betroffenen färbt. Typische Beispiele für Stimmung: Depression, Euphorie und Angst. • Dysphorische Stimmung: Eine unangenehme Stimmung, z. B. eine Depression verbunden mit Ängstlichkeit und Reizbarkeit. In der deutschsprachigen Psychopathologie wird unter Dysphorie eine gereizte Verstimmtheit verstanden. • Gehobene Stimmung: Eine bessere Stimmung als gewohnt; dies muss nicht unbedingt krankhaft sein. • Euphorische Stimmung: Eine krankhaft gehobene Gestimmtheit mit übertriebenem Wohlbefinden. Während sich eine Person in einer (normalen) gehobenen Stimmung etwa als „in guter Laune“, „sehr glücklich“ oder „vergnügt“ charakterisiert, bezeichnet sich eine Person mit euphorischer Stimmung als „in den Wolken schwebend“, „im Himmel“, „ekstatisch“ oder sagt von sich: „Ich bin high!“ • Euthyme Stimmung: Stimmung im „normalen“ Bereich: Dies setzt das Fehlen von Depression oder Euphorie voraus. • Expansive (überschwängliche) Stimmung: Mangel an Zurückhaltung beim Ausdruck von Gefühlen, oft mit Überbewertung der eigenen Bedeutung und Wichtigkeit. In der Regel besteht auch eine gehobene oder euphorische Stimmung. • Reizbare Stimmung: Inneres Spannungsgefühl mit der Tendenz, sich leicht zum Zorn reizen zu lassen.
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Stimmungskongruente psychotische Merkmale – Tenazität
Stimmungskongruente psychotische zidalität bewegt sich auf einem Kontinuum Merkmale von passiven bis zu aktiven Todeswünschen. Wahnphänomene oder Halluzinationen, deren Inhalt vollständig zu einer depressiven Symbiontische Psychose, Folie-à-deux oder manischen Stimmung passt. Wenn die Aus dem sehr engen und ständigen ZusamStimmung depressiv ist, beinhalten Hallu- mensein zweier Personen erwachsende Psyzinationen oder Wahnphänomene etwa die chose. Ein primär „Gesunder“ wird von eigene Unzulänglichkeit, Schuld, Krankheit einem „Kranken“ induziert, sodass beide das und eine „verdiente“ Bestrafung oder den Wahnerleben teilen. eigenen Tod. Ist die Stimmung manisch, so beinhalten Wahnphänomene oder Halluzi- Symptom nationen eine enorme Steigerung des Selbst- Manifestation eines pathologischen Zustanwertgefühls, der Einschätzung der eigenen des. Obwohl der Ausdruck gelegentlich nur Macht und der Bedeutung der eigenen Per- für die subjektiven Beschwerden verwendet sönlichkeit. Oft wird eine besondere Bezie- wird, bezeichnet „Symptom“ im allgemeinen hung zu Gott oder einer berühmten Persön- Sprachgebrauch auch die objektiven Zeichen lichkeit angenommen. eines pathologischen Zustandes. Stimmungsinkongruente psychotische Merkmale Wahnphänomene oder Halluzinationen, deren Inhalt nicht im Einklang mit der depressiven oder manischen Stimmung steht. Stupor Psychomotorische Erstarrung. Subdepressiv Bezeichnung für leichte depressive Verstimmungszustände. Submanisch Bezeichnung für leichtere manische Zustände. Sucht Körperliche und/oder psychische Abhängigkeit von psychotropen Substanzen.
Syndrom Eine Gruppe von Symptomen, die zusammen auft reten und einen identifi zierbaren psychopathologischen Zustand ausmachen. Der Ausdruck „Syndrom“ ist weniger spezifisch als „Störung“ oder „Krankheit“. Der Begriff „Krankheit“ schließt im Allgemeinen eine bestimmte Ätiologie oder einen pathophysiologischen Prozess ein. Systemische Therapie Form der Psychotherapie, die versucht, die Regeln der sozialen Systeme auf Familie, Schule oder Berufswelt zu verstehen und diese zu beeinflussen.
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Tagesklinik Suggestion Teilstationäre Einrichtungen, bei der die PaTechnik der Beeinflussung eines Menschen tienten während des Tages eine umfassenmit den Zielen, bestimmte Gedanken, Gefüh- de Behandlung erfahren, die Nacht und das le oder Vorstellungen zu übernehmen. Wochenende jedoch in der gewohnten Umgebung verbringen. Suizid, Suizidversuch Unter Suizid wird die absichtliche Selbsttö- Tenazität tung verstanden. Fähigkeit, die Aufmerksamkeit ständig auf Beim Suizidversuch kann das suizidale einen Gegenstand zu richten. Verhalten Ausdruck des Wunsches nach vermehrter Zuwendung oder Ruhe sein. Die Sui-
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Testierfähigkeit – Überwertige Idee
Testierfähigkeit Fähigkeit, rechtsgültig Verträge abzufassen.
Trance Hypnoseähnlicher Zustand mit Entrückung und Einengung des Bewusstseins.
Theory of Mind Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen Transitivismus mit dem Ziel, deren Wahrnehmungen, Ab- Die besonders bei schizophrenen Patienten sichten und Gedanken zu verstehen. Deut- vorkommende Überzeugung, dass andere, liche Defizite finden sich bei Persönlich- vorzüglich Familienangehörige oder nahe keitsstörungen mit Gemütsarmut sowie bei Bezugspersonen an einer psychiatrischen Erverschiedenen Formen des Autismus. Der krankung leiden würden, sie selbst aber geVerlust der Empathie scheint in Zusammen- sund wären. hang mit Veränderungen im Bereich der Spiegelneurone zu stehen. Transkranielle Magnetstimulation, rTMS Schmerzfreies Stimulationsverfahren zur BeTherapeutische Gemeinschaft handlung depressiver Syndrome durch maTherapeuten und Pflegepersonal leben und gnetisch induzierte elektrische Ströme. Derarbeiten mit Patienten mit dem Ziel zusam- zeit noch als experimentelle Therapieform zu men, den Betroffenen die Wiedereingliede- betrachten. rung in die Gesellschaft zu erleichtern und Transsexualität soziale Kompetenz aufzubauen. Anhaltender Wunsch, die Geschlechtszugehörigkeit zu ändern. Tic Gleichförmig wiederkehrende, rasche, unTransvestismus willkürliche Muskelbewegung. Tendenz, die Kleidung des anderen Geschlechtes zu tragen, um zeitweilig die ZugeTiefe Hirnstimulation Elektrische Stimulation tiefer Kerngebiete des hörigkeit zu diesem zu erleben. Gehirns (Nucleus subthalamicus, caudatus und accumbens) durch beidseits stereotak- Trichotillomanie tisch eingebrachte Elektroden, die mit einem Zwanghaftes Ausreißen von Haaren. implantierten Stimulator verbunden sind. In der Neurologie etabliertes reversibles und variables Verfahren zur Behandlung von BeU wegungsstörungen. In der Psychiatrie als experimentelle Therapie bei therapieresistenten Übertragung Formen der Depression, des Tourette-Syn- Projektion kindlicher Wünsche, Gefühle und droms und von Zwangsstörungen nur unter Einstellungen auf den Therapeuten. strengster Indikationsstellung angewandt. Überwertige Idee Tiefenpsychologie Einer Idee wird affektiv eine große Bedeutung Alle psychologischen Denk- und Handlungs- zugemessen, die das Denken und Handeln ansätze, die auf die Psychoanalyse zurück- des Betroffenen beherrscht. Überwertige Gegehen bzw. alle jene psychotherapeutischen danken sind subjektive Überzeugungen (JasVerfahren, welche die Wirksamkeit des Unbe- pers), die stark affektbesetzt sind und sich aus wussten zu ergründen und therapeutisch zu der Lebensgeschichte erklären lassen. Überbeeinflussen versuchen. wertige Ideen werden von den Betroffenen als wahr und objektiv richtig erachtet.
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Umständlichkeit – Vorbeireden
Umständlichkeit Mit diesem Begriff wird eine indirekte und verzögerte Redeweise bezeichnet, die den Kern der Aussage durch unnötige minutiöse Details und viele Einfügungen verfehlt. Umständliche Antworten oder Aussagen werden um viele Minuten verlängert, wenn der Sprecher nicht unterbrochen oder aufgefordert wird, zum zentralen Punkt seiner Aussage zu kommen. Die Unterscheidung zwischen Assoziationslockerung und Umständlichkeit kann erschwert sein. Im ersten Fall besteht eine mangelnde Verbindung zwischen den Sätzen, im letzteren haben die Sätze dagegen immer eine sinnvolle Verbindung. Bei der Assoziationslockerung geht der ursprüngliche Sinn verloren, während sich der Sprecher bei Umständlichkeit des ursprünglichen Kerns seiner Aussage, des Ziels oder des Themas bewusst ist und den Faden nicht verliert. Umständlichkeit kommt häufig bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung vor, aber auch bei vielen Menschen ohne psychische Störungen.
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Verhaltenstherapie Aufbauend auf empirisch überprüfter Störungsdiagnostik und individueller Problemanalyse strebt die Verhaltenstherapie eine systematische Verbesserung der zu behandelnden psychischen Problematik an. Die Verhaltenstherapie ist stark erlebnis- und handlungsorientiert. Da die Verhaltenstherapie vermehrt kognitive Ansätze berücksichtigt (Einstellungen, innere Motivation, etc.) wird sie heute als „Kognitive Verhaltenstherapie“ bezeichnet. Verkennung Synonym für Illusion. Verwirrtheit Form der qualitativen Bewusstseinsstörung. Neben der Bewusstseinstrübung ist die Symptomatik durch ausgeprägte Inkohärenz, Halluzinationen und Wahnphänomene sowie durch Erinnerungsfälschung und Desorientiertheit gekennzeichnet. Vorkommen im Rahmen von organisch begründbaren psychischen Störungen. Verworrenheit Formale Denkstörung bei klarem Bewusstsein mit Verlust des logischen Gedankenganges. Im Rahmen einer schizophrenen Störung spricht man von einem „verworrenen zerfahrenen Denken“, im Rahmen einer Manie von einem „verworrenen ideenflüchtigen Denken“.
Vagusstimulation, Nervus-vagus-Stimulation Elektrische Stimulation des linken Nervus vagus durch einen subkutan implantierten Schrittmacher bei therapieresistenter Depression. Das Hauptindikationsgebiet ist in der Vigilanz Neurologie die Behandlung von therapiere- Wachheit bzw. Bereitschaft zu hoher Aufsistenten generalisierten motorischen Anfäl- merksamkeitsleistung. len ohne resezierbaren Fokus. Vigiltität Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf neue ObVerarmung des Sprachinhaltes Redeweise, die zwar hinsichtlich der Menge jekte zu fokussieren. ausreicht, aber wegen Unbestimmtheit, leerer Wiederholungen, Stereotypien oder obskurer Vorbeireden Redewendungen wenig Informationen ent- Der Betroffene geht nicht auf Fragen ein und bringt etwas inhaltlich anderes vor, obwohl hält. ersichtlich ist, dass er die Fragen verstanden hat. Verbigeration Stereotype Wiederholung von Wörtern und Sätzen.
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Vulnerabilität – Wahn
Vulnerabilität Verletzbarkeit im Sinne einer individuell unterschiedlichen Bereitschaft für das Auftreten psychischer Störungen.
W • Wahn Ein Wahn wird definiert als Fehlbeurteilung der Realität, die mit unkorrigierbarer und erfahrungsunabhängiger Gewissheit auftritt. Diese Fehlbeurteilung wird fest beibehalten trotz abweichender Ansichten fast aller anderen Personen und trotz aller unwiderlegbaren und klaren Beweise des Gegenteils. Diese Überzeugung wird nicht von den Angehörigen derselben Kultur geteilt. Der Wahn muss von einer überwertigen Idee (s. dort) unterschieden werden. Bei der überwertigen Idee wird zwar an einer unbegründeten Überzeugung oder Idee festgehalten, jedoch nicht so starr, wie dies beim Wahn der Fall ist. Formal wird ein Wahn durch folgende Elemente aufgebaut: • Anmutungserlebnisse: Der Betroffene beginnt, die Realität verändert wahrzunehmen. • Wahneinfälle: Unvermitteltes Auft reten von wahnhaften Vorstellungen. • Wahngedanken: Wahnhafte Meinungen verdichten sich zu Überzeugungen. • Wahnstimmung: Der verändert erlebten Welt wird eine neue Bedeutung zugemessen und diese in Beziehung zum eigenen Leben gesetzt. • Wahnwahrnehmung: Reale Sinneswahrnehmungen erhalten eine abnorme Bedeutung, indem sie wahnhaft interpretiert werden. • Wahndynamik: Der Betroffene nimmt emotional Anteil am Wahn und gestaltet diesen weiter aus. Wahnphänomene werden nach ihrem Inhalt unterschieden. Die häufigsten sind: • Beziehungswahn: Der Betroffene glaubt, dass Ereignisse, Gegenstände oder Personen in der unmittelbaren Umgebung für
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ihn eine besondere und ungewöhnliche, meist schädliche oder negative Bedeutung haben. Wenn der Beziehungswahn darin besteht, dass der Betroffene glaubt, verfolgt zu werden oder in der Umwelt ständig Anzeichen für die Bedrohung seiner Person sieht, liegt ein Verfolgungswahn vor. Bizarrer Wahn: Eine falsche Überzeugung, die im kulturellen Umfeld des Betroffenen als völlig unverständlich bezeichnet wird. Eifersuchtswahn: Die krankhafte Überzeugung, vom Partner betrogen oder hintergangen zu werden. Größenwahn: Der Betroffene hat ein übertriebenes Selbstwertgefühl, glaubt, über erhöhte Machtkompetenzen und Kenntnisse zu verfügen oder erfährt eine Identitätserweiterung. Das kann sich an religiösen, körperbezogenen oder anderen Themen zeigen. Körperbezogener Wahn: Ein Wahn, dessen Hauptinhalt sich auf die Funktionsfähigkeit des Körpers bezieht. Es handelt sich hier um eine wahnhafte Selbstüberschätzung des eigenen Körpers. Liebeswahn: (siehe dort) Nihilistischer Wahn: Der Wahn bezieht sich entweder auf die Nichtexistenz der eigenen Person oder von Teilen davon, oder auf die Nichtexistenz anderer Personen oder der Welt als Ganzes. Stimmungskongruenter Wahn: siehe stimmungskongruente psychotische Merkmale. Stimmungsinkongruenter Wahn: siehe stimmungsinkongruente psychotische Merkmale. Verarmungswahn: Der Wahn, dass der Betroffene allen oder fast allen materiellen Besitzes beraubt ist oder werden wird. Verfolgungswahn: Wahn mit dem zentralen Thema, dass eine Person angegriffen, belagert, betrogen oder verfolgt wird oder Gegenstand einer Verschwörung ist. Wahnphänomene der Beeinflussung und des „Gemachten“: Hierbei werden Empfi ndungen, Impulse, Gedanken und Tätigkeiten nicht als vom Betroffenen selbst ausgehend erlebt, sondern als von einer äußeren Macht aufgezwungen.
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Wahn, dysthymer – Zyklothymie
Zoophobie Wahn, dysthymer Eine der affektiven Grundstimmung nicht Phobische Angst vor Tieren. entsprechende Wahnentwicklung (beispielsweise ein Verfolgungswahn im Rahmen einer Zwangsgedanken Anhaltend wiederkehrende, unsinnige, sich depressiven Episode). gegen inneren Widerstand aufdrängende Ichfremde Ideen, Gedanken, Vorstellungen oder Wahn, synthymer Der Wahninhalt und der der zugrunde lie- Impulse, die nicht als freiwillig hervorgegenden Erkrankung charakteristische Affekt bracht, sondern vielmehr als in das Bewusststimmen überein. Beispiele sind der Schuld- sein eindringende Ideen erlebt werden. Bei wahn im Rahmen einer Depression, der Grö- Unterdrückung tritt Angst auf. Zwangsgedanken sind charakteristisch für ßenwahn bei einer manischen Störung. die Zwangsstörung, können aber auch bei Schizophrenie vorkommen. Wahrnehmungsstörungen Der Begriff „Wahrnehmungsstörung“ schließt Halluzinationen, Pseudohalluzinationen, il- Zwangshandlung lusionäre Verkennungen und Pareidolien Wiederholtes und nicht zielgerichtetes Ver(s. u.) sowie im weiteren Sinn auch Wahrneh- halten, das aufgrund einer Zwangsidee in stereotyper Weise ausgeführt wird. Das Verhalmungsveränderungen ein. ten ist nicht zielgerichtet, sondern dient dazu, zukünft ig Gegebenheiten zu verhüten oder Wahrnehmungsveränderungen Diese Störungen werden unter „Derealisati- herbeizuführen. Die Handlung steht jedoch ons- und Depersonalisationsphänomene“ be- in keinem realistischen Zusammenhang mit den Ereignissen, die sie verhüten oder herbeisprochen. führen soll. Die Ausführung der Handlung kann eine Widerstand Begriff aus der psychoanalytischen Psycho- gewisse Erleichterung und Spannungsreduktherapie: Abneigung gegen die Bewusstma- tion bewirken. Zwangshandlungen sind für die Zwangschung unbewusster psychischer Inhalte. störung charakteristisch. Wort- und Klangassoziationen Redeweise, bei welcher der Klang und weniger Zwei-Zügel-Therapie der Sinn die Wortwahl bestimmen, manch- Gleichzeitige Behandlung mit Antipsychotika mal mit Reimen und Wortspielen. Der Begriff und Antidepressiva. wird nur für Manifestationen eines krankhaften Zustandes verwendet, nicht zur Beschrei- Zyklothymia Instabilität der Stimmung mit Perioden leichbung von kindlichen Reimwortspielen. Wort- und Klangassoziationen werden am ter Depression und angehobener Stimmung. häufigsten bei Schizophrenie und submaniZyklothymie schen Episoden beobachtet. Historischer Begriff für manisch-depressive Erkrankungen (bipolare affektive Psychosen). Z Zerfahrenheit Sprunghafter, dissoziierter Gedankengang, bei dem die logischen und assoziativen Verknüpfungen fehlen. Synonym für Inkohärenz.
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Sachverzeichnis A Abhängigkeitssyndrom 54 Ablenkbarkeit 543 Abnorme Erlebnisreaktionen 381 Abnorme Persönlichkeit 294 Absencen 543 Abstinenz 62 Abstinenzfähigkeit 65, 83 Abstinenzorientierte Therapie 66 Abstinenzregel 441 Abstinenzsyndrom 543 Abulie 543 Abwehrmechanismen 441, 543 Acamprosat 74 Actuarial predictions 541 ADHD 336 Adipositas 263 Ätiologie 263 Bariatrische Therapie 265 Formen 264 Medikamentöse Therapie 265 Multifaktorelle Genese 263 Adler, Alfred 324, 442 Änderung des Essverhaltens 264 Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung 307 Ärztliches Zeugnis (UbG) 524 Affekt 8, 375, 544 Affektinkontinenz 375 Affektlabilität 375 Affektregulation 56 Affektverflachung 115 Affektivität 545 Aggravation 545 Aggression 400, 401, 431, 434, 436 Bewegungseinschränkung 436 Deeskalation 436 Management 434, 436 Medikamentöse Behandlung 436 Prävention 434 Risikofaktoren 434, 435 Aggressivität 72, 545 Agitiertheit 163, 436, 545 Medikamentöse Behandlung 436 Agnosie 365, 545
Agoraphobie 203, 545 Agrammatismus 545 Agranulozytose 134 Agraphie 545 Aichhorn, August 324 AIDS-Demenz 381 Akalkulie 545 Akathisie 137, 177, 545 Akinese 545 Akkomodationsstörungen 177 Akoasmen 545 Akute Belastungsreaktion 220 Phasen 220 Symptome 220 Therapie 221 Akute organische Psychosyndrome 22 Akuter Erregungszustand 433 Akutes amnestisches Syndrom 32 Akute vorübergehende psychotische Störung 150 Albträume 400 Alexie 545 Alexithymie 545 Algopareunie 275 Alkohol 70 Gefährdungsgrenze 70 Harmlosigkeitsgrenze 70 Alkoholabhängigkeit 73 Stationäre Entwöhnungstherapie 73 Alkoholdemenz 77 Alkoholhalluzinose 76 Alkoholintoxikation 72 Symptome 72 Therapeutische Maßnahmen 73 Alkohol- und Drogenrausch 32 Pathologischer 32 Allgemeine Psychotherapie 457 Alprazolam 87 Alternativpsychosen 45 Altersdepression 387 Alterskrankheiten 356 Angststörung 385 Depression 386 Komorbidität 385 Konfliktreaktionen 390 Langzeitpflege 356
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Sachverzeichnis
Multimorbidität 390 Neurotische Störungen 390 Paranoide Phänomene 391 Paranoid-halluzinatorische Phänomene 390 Schlafstörungen 392 Stützende Maßnahmen 358 Suizidgefährdung 386 Alterungsprozess 355 Alzheimer-Erkrankung 358, 370 Mit präsenilem Beginn 366 Therapie 370 Ambitendenz 545 Ambivalenz 115, 545 Amentielles Syndrom 545 Amimie 546 Amnesie 34, 546 Amnestisches Syndrom 35, 76 Amphetamin 92 Amygdala 125 Anabole Steroide 104 Analgetika-Kopfschmerz 104 Analytische Psychologie 442 Anamneseerhebung 6, 520 Anankasmus 546 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung 309 Angehörigenarbeit 57, 69 Angehörigenbetreuung 358 Angst 344, 546 Angstkonfrontationsmethode 446 Angststörung 35, 164, 198, 337, 386 Aufrechterhaltende Faktoren 201 Auslöser 201 Diagnose 199 Generalisierte 35 Kennzeichen 199 Multidimensionaler Behandlungsansatz 386 Nicht pharmakologische Therapieformen 209 Persönlichkeitsstruktur 206 Supportive Techniken 207 Therapie 207 Anhaltende affektive Störungen 153 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung 240 Anhedonie 115, 546 Anonyme Alkoholiker 68
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Anorexia nervosa 249, 251, 252, 253, 254, 256 Anpassungsstörung 225, 546 Ätiologie 227 Auslöser 226 Definition 225 Formen 226 Therapie 228 Verlauf 228 Antidementiva 371, 372, 382 Antidepressiva 38, 89, 92, 93, 102, 103, 108, 131, 147, 148, 156, 173, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 186, 190, 191, 193, 207, 208, 209, 217, 225, 229, 235, 244, 257, 261, 270, 272, 287, 290, 291, 319, 332, 333, 336, 350, 379, 382, 383, 386, 389, 390, 393, 402, 413, 416, 417, 420, 424, 509, 569 Antiepileptika 46, 179 Antipsychiatrie 547 Antipsychotika 39, 40, 46, 72, 76, 86, 89, 96, 97, 112, 126, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 144, 145, 147, 148, 150, 157, 179, 186, 187, 190, 193, 194, 208, 209, 225, 270, 287, 291, 313, 319, 320, 332, 336, 340, 342, 349, 373, 379, 380, 382, 383, 389, 390, 393, 402, 416, 417, 427, 428, 433, 435, 437, 438, 505, 186 Atypische 132 Hochpotente 132 Klassische 132 Niederpotente 132 Antrieb 8, 547 Steigerung 402 Verminderung 162 Antriebsstörung 8 Anxiolyse 179 Apathie 547 Aphasie 547 Appetitstörung 164, 340 Apraxie 365, 547 Arbeitslosigkeit 470 Arbeitstherapie 547 Arbeits- und Berufsunfähigkeit 463, 530 Arc de cercle 199 Archetyp 442 Aripiprazol 193, 349 Asperger-Syndrom 334, 335 Assertive Community Treatment 468 Assoziation 441 Assoziationsanalyse 124
Sachverzeichnis
Assoziationslockerung 547 Asthenie 547 Atomoxetin 340 Auffassungsfähigkeit 547 Aufmerksamkeit 547 Aufmerksamkeits-Belastungs-Test von Pauli 14 Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom 80 Aufmerksamkeitsleistung 8 Aufmerksamkeitsstörungen 26, 379 Aura 45 Autismus, frühkindlicher 334 Autoaggressivität 342 Autogene Psychotherapie 454 Autogenes Training 98, 210, 418, 454, 547 Automatismen 547 Automutilation 547 Autonome Willensbestimmung 537 Availability 399 B Bandura, Albert 445 BDNF 160, 176 Beck, A. T. 446 Befehlsautomatie 548 Befindlichkeitsstörungen 237 Begleittherapie 377 Behavior Therapy 445 Beikonsum 82 Belastungsreaktionen 219, 548 Belastungsstörungen 219 Belohnungssystem 55 Benommenheit 548 Benzodiazepine 40, 155, 208, 332 Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten 415 Berne, Eric 444 Berufstraining 548 Beschäft igungstherapie 548 Besondere Heilbehandlung 526 Beta-Blocker 209 Betreutes Wohnen 548 Betreuungsgericht 535 Bewegungsstereotypien 548 Bewusstsein 8, 24, 548 Einengung 25 Erweiterung 26 Trübung 21, 25 Verschiebung 26 Bewusstseinsstörungen 24, 25, 26, 548
Qualitative 25 Quantitative 25 Beziehungsidee 548 Bibliotherapie 98 Bilanzsuizid 396 Binge-Eating-Störung 264 Bioenergetische Analyse 454 Biofeedback 210, 455 Biologische Psychiatrie 2 Biologisches Altern 353 Bipolare Störung Bipolar-I-Störung (BP-I) 153 Bipolar-II-Störung (BP-II) 171 Birnbaum, Ferdinand 324 Borderline-Persönlichkeits-Inventar von Leichsenring 16 Borderline-Persönlichkeitsstörung 77, 301, 306, 548 BPSD 373 Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) 160 Bruch, Hilde 250 Bruxismus 423 Bulimia nervosa 176, 258, 259, 260 Bulimie 548 Buprenorphin 82 Bupropion 98 Burn-out 498, 505 C CAMP-Responsive-Element-Bindingproteine (CREB) 159 Cannabinoide 84 Carbamazepin 189 Carbohydrat-defizientes Transferrin (CDT) 71 Case Management 468 Charakter 293, 305 Charakterneurose 299 Chlorpromazin 130 Cholesterin 399 Cholinesterase-Hemmer 40, 373, 374 Chorea Huntington 383 Clozapin 131, 336, 402 Cluster A-Persönlichkeitsstörung 305 Cluster B-Persönlichkeitsstörung 306 Cluster C-Persönlichkeitsstörung 307 Co-Abhängigkeit 69 Coca-Strauch 90
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Sachverzeichnis
Comenius 324 Coping-Strategien 158, 549 Corticotropin Releasing Factor (CRF) 176 Corticotropin Releasing Hormon (CRH) 160 Counseling Psychology 439 Crack 90 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit 383 Crisp, Arthur 250 D DALY 154 Dämmerzustand 45, 549 Debilität 549 Deeskalation 434 Déjà-vu-Erlebnisse 45, 549 Delir 26, 28, 29, 363 Delirantes Syndrom 549 Delirium tremens 75 Delta-9-Tetra-Hydro-Cannabinol (THC) 84 Demenz 353, 358, 549 Alzheimer 357, 358, 361 Dementia Lacunaris 374 Frontotemporale 377 Mixed Dementia 377 Primär degenerative 366 Vaskuläre 374 Demenzkranke 373 Umgang mit 373 Denken 549 Magisches 549 Störung 549 Unlogisches 549 Denkstörungen 8, 114 Formale 8, 114 Inhaltliche 8, 114 Depersonalisation 232, 549 Depotantipsychotika 135 Depravation 550 Depression 26, 165, 353 Episoden 153 Herbst/Winter-Depression 166 Larvierte 165 Maskierte 165 Saisonal abhängige 166 Suizidalität 387 Depressionsinventar von Beck 17 Depressive Pseudodemenz 163, 388 Depressives Zeitalter 155
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Deprivation 347, 550 Derealisation 232, 550 Designerdrogen 100 Desmopressin 350 Desorientiertheit 550 Devianz 281, 550 Dezentralisierung psychiatrischer Versorgungsstrukturen 468 Diagnostik 5, 12 Operationalisierbare 5 Psychometrische 12 Testpsychologische 12 Dialektisch-Behaviorale Therapie 447 Diät 252, 253, 256 Diazepam 87 Dimensionaler Ansatz 112, 296 Dipsomanie 550 Discontinuation syndrome 177 Diskriminierung 465, 483 Dispositionsgene 158 Dissimulation 550 Dissozialität 550 Dissoziative Störungen 230, 232 Dissoziative Bewegungsstörungen 233 Dissoziative Fugue 232 Dissoziative Identitätsstörung 232 Dissoziative Krampfanfälle 232 Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen 232 Distanzlosigkeit 550 Disulfiram 74 Diuretikamissbrauch 40 Dopamin 126, 156 Hypothese 126 Rezeptoren 131 Double-Bind-Theorie 128, 465 Durchgangssyndrome 21, 33, 550 Depressive 33 Dysphorische 33 Paranoid-halluzinatorische 33 Durchschlafstörungen 393 Durkheim, Emilie 403 Dynamische Einengung 401 Dysfunktionale kognitive Stile 304 Dysfunktionale Netzwerkregulation 159 Dyskinesie 137 Dysmorphophobie 240 Dyspareunie 275 Dysphasie 366
Sachverzeichnis
Dysphorie Dyspraxie Dyssomnie Dysthymia Dysthymie
169, 550 366 408, 550 153 550 E
Echolalie 334, 550 Echopraxie 117, 551 Echopsychose 551 Ecstasy 93 ECT 176, 182, 551 EEG 126, 362 Effektivität von Psychotherapie 456 Eifersuchtswahn 76 Einschlafstörungen 392 Einsichtsunfähigkeit 539 Einwilligungsunfähigkeit 537 Ejaculatio deficiens 275 Praecox 275 Retrograda 275 Elektrischer Pulsgenerator 184 Elektrokonvulsionstherapie (Elektrokrampftherapie, ECT) 182, 389 Elektromagnetische Induktion 183 Elternberatung 337 Emotionale-Kompetenz-Fragebogen von Rindermann 18 Empathie 450, 551 Empowerment 485 Endogenomorph 161 Endokrinologische Störung 137, 139 Enkopresis 350 Entbindung 289, 290, 291 Entspannungsverfahren 210, 418, 440 Entwicklungsneurobiologische Hypothese 158 Entwicklungspsychologie 325 Entwicklungsstörungen 338 Entwöhnungsbehandlung 65, 66 Entzugsbehandlung 64, 75 Entzugserscheinung 59 Entzugssyndrom 543 Entzündungshypothese 160 Enuresis 350, 551 Epilepsie 41 Epilepsieassoziierte depressive Verstimmungen 43 Epileptische Wesensänderung 42
Epilepsieassoziierte psychiatrische Störungen 46 Depressive Verstimmungen 33, 43 Epileptische Wesensänderung 42 Schizophreniforme Psychosen 44 Eppendorfer Schizophrenie-Inventar von Maß 16 Erektionsstörung 270, 273 Ergotherapie 551 Erikson, Milton H. 443 Erlernte Hilfslosigkeit 159 Erstkontakt und Frühintervention 62, 63 Erwartungsangst 202 Es 441 Essattacken 258 Essstörung 546 Ethylglucuroid (ETG) 71 Euphorie 551 Euphorische Manie 169 Exekutivfunktionen 14 Exhibitionismus 284 Existenzanalyse 450 Expositionsverfahren 209 Extrapyramidal-motorische Störungen 39, 72, 131, 132, 136, 137, 138, 336, 343, 437, 438 Eye Movement Desensitization and Reprocessing 224 F Facial Emotional Expression Labeling Test von Kessler et al. 18 Familientherapie 142, 339, 452, 551 Analytisch orientierte 452 Erfahrungszentrierte 452 Strukturelle 453 Fatigue 551 Fetales Alkoholsyndrom (FAS) 78 Fetischismus 283 Fetischistischer Transvestitismus 284 Flash-Back 86, 96 Flexibilitas cerea 433 Flüchtige Lösungsmittel 99 Flunitrazepam 87 Focusing 450 Fokaltherapie 551 Folie á deux 150 Forensische Psychiatrie in Deutschland 532 Begutachtung 532 Betreuer 535
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Sachverzeichnis
Betreuungsrecht 532 Einstweilige Unterbringung 535 Einwilligungsvorbehalt 534 Freiheitsentziehende Maßnahme 534 Gewalttätigkeit 541 Glaubhaft igkeit 538 Gutachten 536 Jugendrecht 539 Körperliche Behinderung 532 Maßregelvollzug 540 Prognosen 540 Reifebeurteilung 538 Rückfallprognose 538, 540 Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) 538 Schuldunfähigkeit 538 Sexualdelinquenz 541 Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) 540 Sozial- und Kriminalprognose 538 Unterbringung 534, 540 Verminderte Schuldfähigkeit 539 Vollmacht und Betreuung 533 Vormundschaftsgericht 533 Forensische Psychiatrie in Österreich 2, 517 Anhörung 524 Begutachtung 518 Mündliches Gutachten 521 Psychiatrische Exploration 518 Psychopathologischer Befund 520 Rechte 518 Schrift liches Gutachten 519 Testpsychologischer Befund 520 Unterbringung auf Verlangen 523 Unterbringung ohne Verlangen 523 Formdeuteverfahren nach Rorschach 17 Frankl, Viktor E. 450 Freiburger Persönlichkeits-Inventar 16 Freitod 395, 396, 403 Fremdaggressives Verhalten 435 Fremdbeeinflussung 551 Fremdgefährdung 72 Freud, Anna 324 Freud, Sigmund 128, 197, 439, 552, 561 Freudlosigkeit 162 Frotteurismus 286 Frühwarnzeichen 122 5-Hydroxy-Indol-Essigsäure (5-HIES) 399 Fugue 551 Funktionale Gesundheit 478 Fürsorgegedanke 521
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Fütterstörung
351 G
GABA 127, 157 Galaktorrhoe 131 Gamma-Glutamyl-Transferase (GGT) 71 Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB) 102 Gedächtnis 552 Gedächtnisfunktionen 8, 34 Gedächtnisstörung 32, 35, 546 Gedeihstörung 347 Gefahrenabwehr 521 Gefühl 552 Gefühl von Gefühllosigkeit 162 Gegenübertragung 163, 402, 441 Gemeindenähe 467 Gemeindepsychiatrischer Verbund 490, 491 Gemischte Episode 170 Generalisierte Angststörung 176, 205 Genetische Diagnostik 362 Gesamtbehandlungsplan 332 Geschäfts- und Testierfähigkeit 530 Geschäftsunfähigkeit 536 Geschlechtsdifferenzielle Perspektive 297 Geschlechtsidentität 279 Gesprächsführung 63 Gesprächspsychotherapie 449 Gestalttherapie 451 Gesundheitsräume 81 Gewichtsphobie 252 Glutamat 157 Glutamathypothese 127 Goethe, Johann Wolfgang 399 Größenideen 48, 552 Grübeln 552 Grundsymptome 111 Gruppensetting 67 Gutachten 517 Gynäkomastie 131 H Halluzinationen 8, 26, 34, 36, 76, 115, 161, 420, 552 Halluzinogene 94, 552 Haloperidol 131, 336 Haltequote 81 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene 14, 15
Sachverzeichnis
Hebephrene Schizophrenie 120, 554 Heilpädagogik 324 Henseler, Heinz 395, 403 Herzphobie 554 High-Expressed-Emotion 128, 483 Hippocampus 125 Hirndurchblutung 374 Hirnfunktionsstörungen 23, 37 Hirnventrikel 125 Histrionische Persönlichkeitsstörung 164, 240 Hoff mann, Heinrich 336 Hoff nungslosigkeit 163, 399, 400 Holothyme Wahnphänomene 389 Homosexualität 399 Horrortrip 96 Hospitalismus 554 Humanistische Verfahren 440 Hungergefühl 253, 258 Hyperaktivitätssyndrom 80, 336 Hyperästhetisch-emotioneller Schwächezustand 40 Hyperhidrosis 177 Hyperkinese 554 Hyperprolaktinämie 343 Hypersomnie 410, 554 Hypnose 98, 210, 443, 554 Hypnotika 39, 87, 415 Hypnotische Trance 443 Hypochondrie 164, 239, 554 Hypomanische Episode 169 Hyposomnie 554 Hypothalamus 176 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse (HHN-Achse) 160 Hysterie siehe Histrionische Persönlichkeitsstörung I Iatrogenes Stigma 484 ICF (Internationale Klassifi kation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) 476 Ich 441 Ich-Erleben 8 Ich-Störungen 116 Ideenflucht 555 Identität 555 Idiographisches Konzept 541
Illusion 555 Illusionäre Verkennung 8 Imagination 98, 443 Imbalance-Hypothese 157 Impulsivität 336 Impulskontrolle 555 Impulskontrollstörung 306 Individualpsychologie 442 Induzierte wahnhafte Störung 150 Infantizid 290 Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit 14 Inkohärenz 555 Insomnie 410 Institutionalismus 554 Insuffizienzgefühle 163 Integrative Ätiologiemodelle 299 Intelligenzminderung 8 Intelligenztests 15 Interessenverlust 162 International Personality Disorder Examination nach Loranger 309 Interpersonelle Psychotherapie (IPT) 456 Introspektion 555 Introversion 555 Inzest 555 J Jacobson, Edmund 455 Jaspers’sche Schichtenregel 174 Jetlag-Syndrom 423 Johanniskraut 178 Jugendgerichtsgesetz 530 Jung, Carl Gustav 128, 442 K Kardiovaskuläre Störungen 137 Katalepsie 117 Kataplexie 420 Katathymie 556 Katathym imaginative Psychotherapie Katatone Schizophrenie 120 Katatonie, maligne (perniziöse) 433 Katechol-O-Methyl-Transferase (COMT) 158 Kategorialer Ansatz 295 Katharsis 556 Ketamin 101
444
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Kindling-Effekt 167 Klassifi kationssysteme 4 Klaustrophobie 556 Kleine-Levin-Syndrom 420 Kleptomanie 556 Klientenzentrierte Psychotherapie 449 Klinisch-kriminologische Erhebung 520 Koffein 94 Kognition 163 Kognitiv-behaviorales Modell 56 Kognitive Beeinträchtigungen 46, 77, 357, 363, 365 Kognitive Schemata 303 Kognitives Umstrukturieren 446 Kognitive Theorie (Beck) 159 Kognitive Therapieverfahren 210 Kognitive Verhaltenstherapie 141 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze 445 Kokain 90 Komorbidität 168, 206, 232, 254, 261, 399 kompensatorische Verhaltensweisen 258 Komplexleistungsprogramm 490 Komplizierte Trauer 226 Konditionierung Klassische 445 Operante 445 Konfabulation 556 Konflikt 197 Kongruenz 450 Konkordanzraten 158 Konsiliarpsychiatrie 497 Konstitutive Transkriptionsfaktoren (KTF) 159 Kontrollierter Konsum 67 Kontrollverlust 59 Konversionsstörungen 230, 556 Konzentrationsleistung 8 Kopplungsanalyse 124 Koprolalie 348, 557 Körperbau 294 Körperdysmorphe Störung 240 Körperkritik 256 Körperorientierte Verfahren 440, 454 Körperschema 252 Körperschemastörung 103 Korsakow-Syndrom 32, 35 Kraepelin, Emil 153 Krankheitsbegriff 2
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Medizinischer 2 Persönlichkeitsbezogener 3 Subjektiver 2 Krankheitseinsicht 8 Krankheitsgefühl 8 Krankheitsgewinn 201 Krisenintervention 74, 402 Kritiklosigkeit 41 Kuhn, Roland 175 Kurztherapie 456 Kustodiale Maßnahmen 401 L Lamotrigin 193 Lancashire Quality of Life Profile 17 Latenzzeit 176 Lebensqualität 17, 463 Leistungstests 13 Leitdroge 51 Lerntheoretische Verfahren 440 Lewy-Körperchen-Demenz 379 Therapie 380 Liaisonpsychiatrie 497 Libido 164, 557 Lichttherapie 185 Liebeswahn 557 Linehan, Marsha M. 447 Liquordiagnostik 362 Lithium 186, 187, 402 Loading dose 188 Logotherapie 450 Longitudinalstudien 311 Lorazepam 87 Low-Dose-Dependency 88 Lowen, Alexander 454 LSD 94 M Machtstreben 442 Magnetresonanztomografie 361 Maligne Regression 163 Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS) 139 Manisch-depressives Kranksein 153 Manische Episoden 153 Manische Erkrankungen 389 MAO-Inhibitoren 178 MAS ICD-10 326
Sachverzeichnis
Maturing out 58 MDMA 93 Mehrdimensionalität 389 Melatonin 176, 417 Membranhypothese 127 Merkfähigkeitsstörung 41 Metabolische Nebenwirkungen 194 Methadon 82 Methylamphetamin 92 Methylphenidat 92, 339, 420 Miktionsstörungen 177 Mild Cognitive Impairment (MCI) 357 Milieubedingungen 55 Milieutherapie 314 Minderwertigkeitsgefühl 442 Minnesota-Multiphasic-PersonalityInventory von Hathaway und McKinley 16 Minuchin, Salvador 453 Mischbildhafte Symptome 48 Modafinil 420 Modell-Lernen 445 Monoaminerge Transmittersysteme 157 Monoamin-Mangel-Hypothese 156, 176 Morbus Binswanger 374 Morbus Huntington 382 Morbus Parkinson 380 Moreno, Jacov Levi 451 Morgenpessimum 161, 163 Morphin 82 Mortalitätsrisiko 168 Motivationsziele 61 Multiaxiale Klassifi kation 324 Multiinfarktdemenz 374 Multimorbidität 355 Multiple Persönlichkeitsstörung 232 Multipler Substanzgebrauch 100 Münchner Verbaler Gedächtnistest von Ilmberger 14 Mutismus 117, 346, 557 Elektiver 346 Mutter-Kind-Beziehung 290, 291 Mutter-Kind-Stationen 291 N Nachsorge 67 Naltrexon 74, 336 Napping 427 Narkolepsie 420, 558
Narzissmus 399, 401, 403, 558 Nekrophilie 286 Neo-Fünf-Faktoren-Inventar von Borkenau und Ostendorf 16 Nervenzelldegeneration 382 Nervus-vagus-Stimulation (VNS) 184 Neurasthenie 246 Neurofeedback 339 Neurofibrillen 368 Neuroglia 125 Neuronale Plastizität 160 Neuroneogenese 176 Neuropsychiatrie 558 Neuropsychologische Diagnostik 77, 361 Neuropsychologische Verfahren 14 Neuropsychotherapie 458 Neurorehabilitation 377 Neurose 197, 198 Neurotransmitter 70, 102, 126, 127, 157, 176, 207, 214, 263, 306, 307, 382, 558 Neurotrophine 159 Nidotherapie 314 Niederschwellige Angebote 68 Night-Eating-Syndrom 264 Nihilismus 163 Nikotin 97 Nikotinentzug 399 NMDA-Rezeptoren 157 Non-REM-Schlaf 424 Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) 156, 176, 177, 340 Noradrenerges Transmittersystem 369 Novophobie 114 Nucleus accumbens 55 Nucleus coeruleus 406 O Objektivität 13 Obstipation 177 Off-Label-Indikation 39, 332 Olanzapin 193, 336, 349 Oligophrenien 363 Omega-3-Fettsäure 336, 339 OPD-2 308 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik 308 Opioid-Antagonist 336 Opioide 79 Orgasmusstörung 274
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Sachverzeichnis
Osteopenie 253 Osteoporose 253 Overeaters 264 Oxazepam 87 P Pädophilie 283 Panikattacke 559 Panikstörung 35, 176, 204 Paradoxe Reaktionen 38 Paralyse 559 Paramimie 117 Paranoia 149 Paranoide Schizophrenie 120 Paraphilie 281 Paraphrenes Syndrom 149 Parasomnie 408 Parasuizid 395, 396, 397, 399, 403, 559 Parathymie 114 Parkinsonsyndrom 137, 379 Partialentzug 65 Partieller Schlafentzug 186 Patientenanwalt 523 Patientenverfügung 533 Pavor nocturnus 424 Pawlow, Iwan Petrowitsch 445 PCL-R (Psychopathy ChecklistRevised) 309 Pearls, Frederic Solomon 451 Pelvipathie 276 Peptide 160 Periodische Myoklonien 415 Personenorientierter Behandlungsansatz 490 Personenzentrierte Psychotherapie 449 Persönlichkeit 293 Persönlichkeitstests 16 Perversion 281 Pflegefamilie 341 Phasenprophylaxe 189, 191 Phencyclidin 101 Phobie 202, 204 Spezifische 204 Pica 351 Placebo 177, 194 Platzangst 545 Poltern 351 Polysomnografie 414 Polytoxiomanie 100
580
Positivsymptome 120 Posthypnotische Suggestion 444 Postnatale Depression 289 Postpartum Blues 289, 290 Postschizophrene Depression 121 Posttraumatische Belastungsstörung 176, 221 Posttraumatische Verbitterungsstörung 227 Präcox-Gefühl 115 Prädelir 75 Prämenstruelles Syndrom 176 Präsuizidales Syndrom 401 Präventionsforschung 58 Priapismus 274 Primärpersönlichkeit 7 Prionerkrankung 383 Progressive Muskelrelaxation 210, 418, 455 Progressiver Matrizentest nach Raven 15 Projektive Verfahren 17 Prolaktin 131 Prototypische Perspektive 295 Pseudodemenzen 363 Pseudohalluzination 34, 115 Psychiatrische Epidemiologie 462 Psychiatrischer Notfall 431 Psychiatrisch-psychotherapeutisches Krisenmanagement 313 Psychodrama 451 Psychodynamisches Modell 299 Psychodynamisch imaginative Traumatherapie 224 Psychoedukation 66, 141, 142, 235, 261, 315, 339, 448, 488, 509 Psychologische Behandlung und Beratung 439 Psychologische Trainingsprogramme 15 Psychomotorische Anfälle 420 Psychopathische Persönlichkeit 293, 294 Psychosomatik 561 Psychosoziale Betreuung 42 Psychosyndrome 21, 22, 26 Akute organische 22, 26 Chronische organische 22 Frontobasale 37 Frontokonvexe 37
Sachverzeichnis
Psychotherapie 130, 140, 167, 173, 175, 180, 181, 195, 199, 207, 209, 211, 217, 219, 235, 245, 257, 312, 313, 314, 316, 317, 320, 323, 324, 333, 350, 353, 389, 390, 439, 440, 443, 450, 454, 456, 457, 551, 561, 565, 569 Interpersonelle 180, 389 Psychotherapiegesetz 440 Psychotrope Substanzen 51 PTSD 221 Puerperalpsychose 289, 290, 291 Q Quartalstrinker 73 Quetiapin 193, 336, 349 R Rauchen 398, 399, 400 Rauschzustand 72 Reaktionen auf schwere Belastungen 219 Recht auf Psychotherapie 389 Recht auf Selbstbestimmung 521 Recovery 485, 487 Recurrent Brief Depression 165 Reformziele 467 Rehabilitation 462, 488, 562 Berufliche 489, 494 Medizinische 488 Soziale 489, 493 Reizbarkeit 30, 164 Reizkonfrontation 210 Relapse 74 Reliabilität 13 Remission 175 REM-Latenzzeit 428 REM-Schlaf 407, 428 Repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 183 Resilienz 485 Resozialisierung 462 Restless-Legs-Syndrom 414, 417, 419 Rett-Syndrom 334 Richter, Horst-Eberhard 452 Ringel, Erwin 401, 403 Risikoeinschätzung 541 Risikofaktoren 255, 464, 465 Risperidon 131, 343, 349 Risperidon Depot 193 Rogers, Carl R. 449
Röhrensehen 401 Rorschach 17 Rückfallsregelung 66 Rückfallsvorbeugung 73 Rumination 351 Russell, Gerald 250 S Sachwalterrecht 528 SAD 166 Sadomasochismus 285 Salutogenese 324 Satir, Virginia 452 Schädel-Hirn-Trauma 41 Schädlicher Gebrauch 52 Schematherapeutische Ansätze 446 Schichtarbeitersyndrom 422 Schichtenregel nach Jaspers 4 Schizoaffektive Störung 48, 118, 146, 147 Schizophasie 114 Schizophrene Residualsyndrome 123, 363 Schizophrenia simplex 121 Schizophrenie 4, 16, 20, 87, 97, 111, 112, 118, 119, 120, 121, 130, 140, 141, 151, 160, 170, 174, 200, 216, 258, 279, 280, 283, 310, 356, 432, 433, 435, 464, 465, 471, 483, 488, 495, 563, 564, 569 Schizotype Störung 148 Schizotypische Persönlichkeitsstörung 305 Schlafapnoe 414, 419 Schlafedukation 418 Schlafentzug 176, 186, 428 Schlafstörungen 156, 163, 165, 166, 177, 178, 340, 392, 408 Mit Angstträumen 423 Schlaft herapie 428 Schlaft runkenheit 419 Schlaf-Wach-Zyklus 185 Schlafwandeln 425 Schlankheitsideal 260 Schmerz 176 Schmerzensgeldzumessung 530 Schmerzsyndrom 103 Schnüffeln 99 Schuldfähigkeit/-unfähigkeit 527 Schuldgefühle 164 Schultz, Johannes H. 454 Schutz der Persönlichkeitsrechte 523 Schwachsinn 539
581
Sachverzeichnis
Sedativa 87 Sekretin 336 Sekundärprophylaxe 377 Selbstbeschädigung 522 Selbstgefährdung 72 Selbsthilfe 67, 68, 491 Selbst induziertes Erbrechen 259 Selbstmanagement 98, 448 Selbststigmatisierung 484 Selbsttötung siehe Suizid Selbstwertgefühl 164, 203 Selvini Palazzoli, Mara 250 Sensation Seeking 56 Serotonerges System (5-HT-System) 127 Serotonin 43, 156, 176, 398, 399 Wiederaufnahmehemmer siehe SSRI Sexualberatung 277 Sexualisierte Gewalterfahrung 79 Sexualität/Sexualstörungen 266 Sexualtherapie 278 Sharp-Wave-Komplexe 384 Sichernde und vorbeugende Maßnahmen 527 Sinnfindung 450 Skinner, Burrhus Frederic 445 Slip 73 Smart Drug 95 Social Psychiatry 462 Sodomie 286 Somatische Basisbehandlung 37 Somatisches Syndrom 161 Somatisierung 164 Somatisierungsstörung 238 Somatoforme Störungen 236 Somnambulismus 425 Soziale Desintegriertheit 400 Soziale Einflussfaktoren 461 Soziale Kognition 118 Soziale Phobie 203 Sozialer Konsum 51 Soziales Umfeld 353 Sozialphobie 176 Sozialpsychiatrie 1, 461, 462 Entstehung 461 Sozialpsychiatrischer Dienst 492 Sozialpsychiatrische Rehabilitation 142 Soziologisches Modell 304 Spaltentechnik 447 Spätschizophrenie 122, 390
582
SPECT-Untersuchung 361 Spezifische Phobien 204 Spiegeltrinker 73 Spiel, Otto 324 Spritzen-Automaten 81 Spritzentausch 81 SSRI 39, 43, 156, 177, 179, 181, 190, 208, 218, 247, 319, 320, 332, 336, 343, 386, 413, 515 Standardisierte Interviews 5 State-Trait-Angstinventar von Laux et al. 17 Stereotype Bewegungsstörung 351 Steuerungsfähigkeit 539 Stierlin, Helm 452 Stigma 465, 483 Stigmatisierung 155, 397, 399, 466 Stillen 290, 291 Stiller Rückzug 365 Stimmung 153 Stimmungslage 8, 33, 43, 44, 107, 242, 274, 290, 375, 380, 406, 421, 426, 446, 557 Stimmungsstabilisatoren 157, 187, 189, 190, 191, 193 Stimulanzien 336, 337 Stimuluskontrolle 418 Störungsorientierte Psychotherapien 315 Stottern 351 Streetwork 81 Strukturiertes Klinisches Interview zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen (SCID-II) 309 Strukturmodell 197 Stupor 34, 116, 163, 433 Substanzabhängigkeit 337 Substanz P (SP) 160 Substitutionsbehandlung 67, 81, 98 Sucht 52 Suchthilfesystem 62 Suchtmittelgesetz 81, 530 Suchtpersönlichkeit 57 Suggestibilität 443 Suicidal behavior 395 Suicidal ideation 395 Suizid 256, 392, 395, 396, 397, 522, 565 Altruistischer 396 Erhöhtes Risiko 392 Risikofaktoren 395, 398, 399, 400 Suizidales Verhalten 332, 396, 398 Suizidalität 48, 163, 398, 399, 400, 401, 402 Latente 48
Sachverzeichnis
Suizidäußerung 400, 401 Suizidgedanken 396, 398, 400, 401, 402 Suizidprävention (primär, sekundär, tertiär) 401, 402 Suizidrate 397, 398, 399 Suizidversuch 395, 399, 400, 401 Sulpirid 131, 349 Supported Employment 494 Supportive Maßnahmen 142 Symptome ersten und zweiten Ranges 111 Systematische Desensibilisierung 210, 446 Systemische Paartherapie 453 Systemische Verfahren 440 Systemisch-kybernetische Modelle 57 T Tabak 97 Tachykardie 177, 340 Tagesklinik 314 Tagesrhythmik 161 Temperament 293, 305 Temporallappenepilepsie 32 Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung von Zimmermann und Fimm 15 Test d-2 nach Brickenkamp 14 Testgüterkriterien 13 Testierfähigkeit 530, 537 Tetrazyklika 178 Theory of Mind 118, 306, 566 Therapeut-Patient-Beziehung 441 Therapieresistente Depression 182 Tiaprid 349 Tic 566 Tiefe Gehirnstimulation (Deep Brain Stimulation – DBS) 184 Tiefenpsychologische Modelle 56 Tiefenpsychologische (psychoanalytische) Verfahren 440 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung 539 Todeswünsche 400 Tourette-Syndrom 349 Trail-Making-Test B von Reitan 14 Trait-Merkmal 117 Tranquilizer 39, 75, 87, 107, 204, 211, 415 Transaktionsanalyse 444 Transaminase 138 Transsexualität 280 Transtheoretisches Motivationsmodell 60 Traumamodell 301
Traumarbeit 443 Trennungsangst 345 Triadisches System 4 Triazolam 87 Trierer Alkoholismusinventar von Funke 17 Triptane 177 Trizyklische Antidepressiva (TZA) 177, 178 Trunksucht 550 Tryptophan 156, 289 Tryptophan-Depletion 176 Turm von Hanoi 14 Typ-I-Syndrom 112 Typ-II-Syndrom 112 U Überaktivität 336 Übertragung 441 Über-Ich 441 Unbewusstes Kollektives 442 Undifferenzierte Schizophrenie 121 Undifferenzierte somatoforme Störung Unipolare Störung 153 Unterbringung 401 Auf Verlangen 523 Ohne Verlangen 523 Unterbringungsgesetz 522 Untergewicht 251, 252
238
V Vaginismus 275 Validität 13 Valproat 47, 147, 181, 187, 188, 189, 190, 191, 192 Vegetative Symptome 138 Ventrales Tegmentum 55 Verarmung 164 Verbale Aggression 435 Verbale Gedächtnisfunktionen 14 Verbindliche Patientenverfügung 528 Verhaltensmedizin 448 Verhaltensmodifi kation 335 Verhaltensstörungen im Wochenbett 289 Verhaltenstherapie 180 Vermeidungsverhalten 202, 204 Versorgungsrelevanz 298 Versündigung 164
583
Sachverzeichnis
Vertretungsbefugnis nächster Angehöriger 529 Verwirrtheitszustände 30, 381 Vigilanz 8 Visuelle Halluzinationen 379 Visueller Gedächtnistest von Benton 14 Visuelles Gedächtnis 14 Visuell-räumliche Fähigkeiten 14 Vollremission 175 Vorhersagetechniken 541 Vorsorgevollmacht 528, 529 Voyeurismus 285 Vulnerabilität 337 Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell 130, 490 W Wachanfälle 420 Wachstumsstörung 347 Wachtherapie 428 Wahn 36, 114 Wahnentwicklung 391 Wahnhafte Störung 149 Wahnideen 161 Wahnphänomene 31 Wernicke-Enzephalopathie 76 Werther-Effekt 399, 400 Widerstand 441 Willi, Jürg 453
584
Wisconsin Card Sorting Test 15 Wochenbett 289, 290, 291 Wohnsitzlosigkeit 471 Wolfersdorf, Manfred 395, 403 Y Young, Jeff rey E.
446 Z
Zahlen-Verbindungs-Test von Oswald und Roth 14 Zappelphilipp 336 Zigarettenkonsum 398, 399 Ziprasidon 336, 349 Zirkadiane Rhythmen 185 Zolpidem 39 Z-Substanzen 415 Zwangsanhaltung 522 Zwangseinweisung 521, 522 Zwangsgedanken 212 Zwangshandlungen 212 Zwangsmaßnahmen 522 Zwangsstörungen 176, 212 Zwei-Zügel-Therapie 179 Zwölf-Schritte-Programm 68 Zyklothymia 153 Zytoarchitektonik 125 Zytokinhypothese 160
Autorenverzeichnis Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Aichhorn Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie I Paracelsus Medizinische Universität Salzburg Christian-Doppler-Klinik Ignaz-Harrer-Straße 79 5020 Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Eberhard A. Deisenhammer Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Univ.-Prof. Dr. W. Wolfgang Fleischhacker Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Biologische Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Verena Günther Department für Psychiatrie und Psychotherapie Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Ass.-Prof. Dr. Brigitte Hackenberg Klinisches Kompetenzzentrum für Psychosomatik der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Wien Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich E-Mail: [email protected]
Prim. Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Haring Landeskrankenhaus Hall in Tirol Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie B Milser Straße 10 6060 Hall in Tirol, Österreich E-Mail: [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Armand Hausmann Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Em. o. Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Assoz. Prof. PD Dr. Alex Hofer Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Biologische Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Univ.-Doz. Dr. Bernhard Holzner Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Biologische Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]
Prim. Ao. Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller Stift ung Krankenhaus Maria Ebene Maria Ebene 17 6820 Frastanz, Österreich E-Mail: [email protected]
585
o. Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer Universitätsklinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich E-Mail: [email protected]
Prim. Ao. Univ.-Prof. Dr. Josef Marksteiner Landeskrankenhaus Hall Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie A Milser Straße 10 6060 Hall in Tirol, Österreich E-Mail: [email protected]
Ao. Univ.-Prof. Dr. Johann Kinzl Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]
Ao. Univ.-Prof. Dr. Sergei Mechtcheriakov Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]
OÄ Dr. Claudia Kohl Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Biologische Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] o. Univ.-Prof. Dr. Ilse Kryspin-Exner Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung Universität Wien Liebiggasse 5 1010 Wien, Österreich E-Mail: [email protected] Prim. Ao. Univ.-Prof. Dr. Martin Kurz Landesnervenklinik Sigmund Freud Graz Zentrum für Suchtmedizin Wagner-Jauregg-Platz 1 8053 Graz, Österreich E-Mail: [email protected] Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara MangwethMatzek Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]
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Ao. Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Norbert Nedopil Abteilung für Forensische Psychiatrie Psychiatrische Klinik Klinikum Innenstadt der Universität München Nußbaumstraße 7 80336 München, Deutschland E-Mail: [email protected] OÄ Dr. Regina Prunnlechner Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Maria Rettenbacher Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Biologische Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Dipl.-Psych. Wulf Rössler Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Militärstraße. 8 8021 Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]
Ao. Univ.-Prof. Dr. Barbara Sperner-Unterweger Department für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik für Biologische Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]
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