Pragmantax: Akten des 20. Linguistischen Kolloquiums Braunschweig 1985 3484301716, 9783484301719

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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German Pages 560 Year 1986

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VORWORT
I. UNTERSUCHUNGEN ZUR SYNTAX
Jarmo Korhonen: Valenzvariationen in der deutschen Sprache der Gegenwart. Ein Versuch zur Systematisierung
Werner Abraham: Die Passivdiathese im Deutschen: Typen, Theorie
Ulrich A. Schmidt: Ist die Anordnung der Satzglieder im deutschen Satz tatsächlich keinem konsistenten Schema verpflichtet? Die basic word (besser: phrase) order des Deutschen
Peter Eisenberg: Zum Kontrollproblem im Deutschen: Infinitivkomplemente bei Wahrnehmungsverben
Elisabeth Löbel: Apposition und Quantifizierung
Manford Hanowell: Zum Verhältnis zwischen epistemischen und nichtepistemisehen Modalitäten im Englischen und Deutschen
Bernd Brömser: Aktionsart in Nomina und Nominalen
Eva Leitzke: Transpositionelle Adjektive: Argumente für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Marchand'schen Begriff
Günter Rohdenburg: Eingeschränkt auslaßbare Ergänzungen bei englischen Adjektiven. Vernachlässigte Erscheinungen in der Valenzbeschreibung
Olga Mori: Spanische Verbalperiphrasen mit Gerundium und mögliche deutsche Entsprechungen
Michel Kefer: Ergativität und syntaktische Relationen
Kazimierz A. Sroka: Determinants of conjugational forms in Hungarian
II. SEMANTIK UND LEXIKOLOGIE
Hans Ulrich Boas: Zur Notwendigkeit lexikalischer Lücken
Sabine de Knop: Die Reizfunktion von Gelegenheitskomposita mit Determinanten in Überschriften
Luzian Okon: Le "Supplement au Voyage de Bougainville" de Denis Diderot, Bronislaw Malinowski et la semantique d'Ogden et Richards
III. SPRECHAKTTHEORIE UND GESPRÄCHSANALYSE
Jürgen Graffe: How to promise revisited. Eine Taxonomie kommissiver Sprechakte
Walburga Grabsch: Gegen die Deklarationsthese für explizit performative Äußerungen
Jörg Meibauer: Rhetorische Aufforderungen und Rhetorizität
Heinrich Weber: Klassen von Sprechakten, Sprechaktverben und Sprechakte. Zur Unterscheidung verschiedener Fragestellungen in der Sprechaktforschung
Wolfram Bublitz: Gesprächsthema und thematische Handlungen im Englischen
Mathias Kohl: Zur Rekonstruktion von Sprecherstrategien im Rahmen einer Dialoggrammatik
Kathleen Battke: Sprachliches Verhalten von Student/inn/en an Themenübergangsstellen in Diskussionen
Armin Burkhardt: Abtönungspartikeln und Konversation in Hofmannsthals "Der Schwierige"
IV. VARIETÄTENLINGUISTIK
Monika Krenn: Satz- und textsyntaktische Merkmale englischer medizinischer Fachsprache
Peter Rolf Lutzeier; Gedanken zur individuellen/persönlichen Mehrsprachigkeit
Elisabeth Feldbusch: Geschriebene Sprache. Abriß zu einer Neubestimmung
V. FREMDSPRACHENDIDAKTIK, ERST- UND ZWEITSPRACHENERWERB
Günter Lobin: Sprachmodelle als Lehrstoffmodelle im Fremdsprachenunterricht
Käthi Dorfmüller-Karpusa: Texte bilingualer griechischer Kinder: Stereotype und Einstellungen
Angelika Braun: Ein Modell zur Analyse von Rechtschreibfehlern bei Kindern ausländischer Arbeitnehmer
VI. HISTORISCHES
Wilfried Kürschner: Zur Geschichte der Sprachkultur in Deutschland: Notizen zu Schottelius und Leibniz
Jirina van Leeuwen-Turnovcova: Argot - eine sakrale Sprache?
Wolf-Dieter Heim: Französische Namendeutungen im Mittelalter
Bernd Schneidmüller: Hochmittelalterliche Herrschaft und Begriffsbildung in Nord- und Südfrankreich
Andreas Bomba: "France" in den altfranzösischen Chansons de geste. Sprachgebrauch und Verständnis eines komplexen Begriffs
Karl-Ludwig Müller: LATINUS und ROMANUS als Sprachbezeichnungen im frühen Mittelalter
Theodora Hantos: Wortverbindungen der lateinischen Sprache (aus der staatlichen Sphäre). Wirklichkeit und Wirklichkeitserfassung
VII. SPRACHE UND (ALLGEMEINE) SPRACHWISSENSCHAFT
Claus Gnutzmann: Das Begriffspaar deskriptiv-präskriptiv. Aspekte seiner linguistischen und sprachdidaktischen (Ir)Relevanz
Karl-Hermann Körner: Sprachtypologisches zum Ave Maria, anläßlich Jean-Luc Godard's anstößigen Film(-Titel)s
Emilio Hidalgo-Serna: J.L. Vives' kritische Auslegung der Grammatik in "De causis corruptarum artium" (1531)
Klaus Schubert: Wo die Syntax im Wörterbuch steht. Esperanto als Brückensprache der maschinellen Übersetzung
Rob A. van der Sandt: From presupposition to implicature. A failing reduction
Norbert Reiter: Über die Vermenschlichung der Sprache
Uwe Hinrichs: Begrenzung und Entgrenzung in Sprache und Sprachwissenschaft
Ludger Kaczmarek/Hans Jürgen Wulff: Graphische Modelle in der Sprachwissenschaft
Anton Nova: Expressions of identity
Walter Spöhring: Das Sprachstufenproblem bei der Messung theoretischer Größen in den Sozialwissenschaften
Petra Vollbrecht: Untersuchungen zur Namengebung in ausgewählten Werken Georges Simenons
VIII. ÜBER DIE AUTOREN
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Pragmantax: Akten des 20. Linguistischen Kolloquiums Braunschweig 1985
 3484301716, 9783484301719

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Linguistische Arbeiten

171

Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner

Pragmantax Akten des 20.Linguistischen Kolloquiums Braunschweig 1985 Herausgegeben von Armin Burkhardt und Karl-Hermann Körner

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Pragmantax : Akten d. 20. Linguist. Kolloquiums Braunschweig 1985 / hrsg. von Armin Burkhardt u. Karl-Hermann Körner. - Tübingen : Niemeyer, 1986. (Linguistische Arbeiten ; 171) NE: Burkhardt, Armin [Hrsg.]; Linguistisches Kolloqium (20, 1985, Braunschweig); GT ISBN 3-484-30171-6

ISSN 0344-6727

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany, Druck: Weihen-Druck GmbH, Darmstadt.

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT

IX

I. UNTERSUCHUNGEN ZUR SYNTAX

Jarmo Korhonen: Valenzvariationen in der deutschen Sprache der Gegenwart. Ein Versuch zur Systematisierung Werner Abraham: Die Passivdiathese im Deutschen: Typen, Theorie Ulrich A. Schmidt: Ist die Anordnung der Satzglieder im deutschen Satz tatsächlich keinem konsistenten Schema verpflichtet? Die basic word (besser: phrase) order des Deutschen Peter Eisenberg: Zum Kontrollproblem im Deutschen: Infinitivkomplemente bei Wahrnehmungsverben Elisabeth Löbel: Apposition und Quantifizierung Manford Hanowell: Zum Verhältnis zwischen epistemischen und nicht'epistemischen Modalitäten im Englischen und Deutschen Bernd Brömser: Aktionsart in Nomina und Nominalen Eva Leitzke: Transpositionelle Adjektive: Argumente für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Marchand'sehen Begriff Günter Rohdenburg: Eingeschränkt auslaßbare Ergänzungen bei englischen Adjektiven. Vernachlässigte Erscheinungen in der Valenzbeschreibung Olga Mori: Spanische Verbalperiphrasen mit Gerundium und mögliche deutsche Entsprechungen Michel Kefer: Ergativität und syntaktische Relationen Kazimierz A. Sroka: Determinants of conjugational forms in Hungarian

3 15 25 37 47 61 71 85 97 111 121 133

II. SEMANTIK UND LEXIKOLOGIE

Hans Ulrich Boas: Zur Notwendigkeit lexikalischer Lücken Sabine de Knop: Die Reizfunktion von Gelegenheitskomposita mit Determinanten in Überschriften Luzian Okon: Le "Supplement au Voyage de Bougainville" de Denis Diderot, Bronislaw Malinowski et la semantique d'Ogden et Richards III.

147 159 167

SPRECHAKTTHEORIE UND GESPRÄCHSANALYSE

Jürgen Graffe: How to promise revisited. Eine Taxoncmie kommissiver Sprechakte Walburga Grabsch: Gegen die Deklarationsthese für explizit performative Äußerungen Jörg Meibauer: Rhetorische Aufforderungen und Rhetorizität Heinrich Weber: Klassen von Sprechakten, Sprechaktverben und Sprechakte. Zur Unterscheidung verschiedener Fragestellungen in der Sprechaktforschung Wolfram Bublitz: Gesprächsthema und thematische Handlungen im Englischen

179 189 201 213 225

VI

Mathias Kohl: Zur Rekonstruktion von Sprecherstrategien im Rahmen einer Dialoggrammatik Kathleen Battke: Sprachliches Verhalten von Student/inn/en an Themenübergangsstellen in Diskussionen Armin Burkhardt: Abtönungspartikeln und Konversation in Hofmannsthals "Der Schwierige"

235 247 257

IV. VARIETÄTENLINGUISTIK

Monika Krenn: Satz- und textsyntaktische Merkmale englischer medizinischer Fachsprache Peter Rolf Lutzeier: Gedanken zur individuellen/persönlichen Mehrsprachigkeit Elisabeth Feldbusch: Geschriebene Sprache. Abriß zu einer Neubestimmung

271 283 295

V. FREMDSPRACHENDIDAKTIK, ERST- UND ZWEITSPRACHENERWERB

Günter Lobin: Sprachmodelle als Lehrstoffmodelle im Fremdsprachenunterricht Käthi Dorfmüller-Karpusa: Texte bilingualer griechischer Kinder: Stereotype und Einstellungen Angelika Braun: Ein Modell zur Analyse von Rechtschreibfehlern bei Kindern ausländischer Arbeitnehmer VI.

303 311 321

HISTORISCHES

Wilfried Kürschner: Zur Geschichte der Sprachkultur in Deutschland: Notizen zu Schottelius und Leibniz Jifina van Leeuwen-Tumovcovä: Argot - eine sakrale Sprache? Wolf-Dieter Heim: Französische Namendeutungen im Mittelalter

335 347 357

Bernd Schneidmüller: Hochmittelalterliche Herrschaft und Begriffsbildung in Nord- und Südfrankreich

371

Andreas Bomba: "France" in den altfranzösischen Chansons de geste. Sprachgebrauch und Verständnis eines komplexen Begriffs

383

Karl-Ludwig Müller: LATINUS und ROMANUS als Sprachbezeichnungen im frühen Mittelalter

393

Theodora Hantos: Wortverbindungen der lateinischen Sprache (aus der staatlichen Sphäre). Wirklichkeit und Wirklichkeitserfassung

407

VII. SPRACHE UND (ALLGEMEINE) SPRACHWISSENSCHAFT

Claus Gnutzmann: Das Begriffspaar deskriptiv-präskriptiv. Aspekte seiner linguistischen und sprachdidaktischen (Ir)Relevanz Karl-Hermann Körner: Sprachtypologisches zum Ave Maria, anläßlich Jean-Luc Godard's anstößigen Film(-Titel)s Emilio Hidalgo-Serna: J.L. Vives' kritische Auslegung der Grammatik in "De causis corruptarum artium" (1531)

419 431 437

VII

Klaus Schubert: Wo die Syntax im Wörterbuch steht. Esperanto als Brückensprache der maschinellen Übersetzung Rob A. van der Sandt: From presupposition to implicature. A failing reduction Norbert Reiter: Über die Vermenschlichung der Sprache Uwe Hinrichs: Begrenzung und Entgrenzung in Sprache und Sprachwissenschaft Ludger Kaczmarek/Hans Jürgen Wulff: Graphische Modelle in der Sprachwissenschaft Anton Nova: Expressions of identity Walter Spöhring: Das Sprachstufenproblem bei der Messung theoretischer Größen in den Sozialwissenschaften Petra Vollbrecht: Untersuchungen zur Namengebung in ausgewählten Werken Georges Simenons VIII. ÜBER DIE AUTOREN

449 459 471 477 485 499 511 525 537

VORWORT

Mit diesem Band werden die Beiträge des 20. Linguistischen Kolloquiums vorgelegt, das in der Zeit vom 16. - 20. September 1985 im Lehrerfortbildungsheim Wolfenbüttel stattfand. Anders gesagt: Wir vollziehen hiermit den sowohl sprachliche als auch nonverbale Momente und Elemente umfassenden (Sprech-/ Schreib-)Akt des Vorlegens der Akten des 20. Linguistischen Kolloquiums. Es ist sicher nicht ohne Bedeutung, wenn, anders als in früheren Jahren, ein Band genügt: Der vor 20 Jahren im Umkreis der Universitäten Hamburg und Kiel begonnene Auf- und Umbruch von der traditionellen, vorwiegend historisch orientierten "Sprachwissenschaft" zur synchronistischen, nordamerikanisch (Chomsky) bestimmten "Linguistik", der auch die Einrichtung des alljährlich an einer norddeutschen oder einer ausländischen westeuropäischen Universität (Brüssel, Gent, Kopenhagen, Linz, Nijmegen, Pavia) durchgeführten "Linguistischen Kolloquiums" nach sich zog, steht inzwischen inmitten eines breiten Spektrums ähnlicher Veranstaltungen und Vereinigungen, deren jüngste wohl bisher die "Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft" ist. Nach der Überwindung der Isolation der Transformationsgrammatik und der Öffnung für andere, nicht weniger universallinguistisch ehrgeizige Schulen, Teildisziplinen und Tendenzen (von der linguistischen Pragmatik und der Gesprächsanalyse bis hin zur neubelebten Sprachtypologie) ist eine Phase der innehaltenden Besinnung - besonders deutlich in der Hinwendung zur Wissenschaftsgeschichte, zur Linguistik-Kritik und bei der aktuellen Rückwendung zu umstrittenen Werten und Begriffen wie "Sprachpflege" und "Sprachkultur" sehr willkommen. Jedenfalls spiegelt die Vielfalt und Heterogenität der beim 20. Linguistischen Kolloquium in fast 50 Vorträgen behandelten Themen und Aspekte nach Meinung des Organisators der Tagung (Karl-Hermann Körner) und des Hauptherausgebers (Armin Burkhardt) durchaus die gegenwärtige "Lage der Linguistik". Die Akten des 20. Linguistischen Kolloquiums umfassen insgesamt 47 Beiträge, von denen 43 in deutscher, drei in englischer und einer in französischer Sprache abgefaßt sind. Die Autoren beschäftigen sich mit linguistischen Fragestellungen, die die unterschiedlichsten Sprachen betreffen: Deutsch, Spanisch, Englisch, Französisch, Ungarisch, Italienisch, Walpiri, Japanisch, Madagassisch, Esperanto, und natürlich mit Problemen der Sprachphilosophie und Allgemeinen Sprachwissenschaft. Eine Besonderheit der diesjährigen Kolloquiums-Akten liegt darin, daß der Band diesmal einige Beiträge von Historikern enthält., die sich

mit dem Verhältnis von Sprache und Geschichte befassen, insbesondere mit Fragen der Begriffs- und Namengeschichte. Auch hinsichtlich ihrer Forschungsthemen sind die Beiträge zum 20. Linguistischen Kolloquium sehr unterschiedlich, so daß die Akten der 1985er Tagung

- wie auch die seiner 19 Vorgänger - naturgemäß in sich recht heterogen sein müssen. Aber auch das hat seinen Reiz: Das Linguistische Kolloquium soll in jeder Hinsicht ein offenes Forum sein und bleiben. Die Beiträge beschäftigen sich mit Themen aus den linguistischen Teildisziplinen Syntax, Semantik und Pragmatik. Die Frage war für die Herausgeber nun, wie man die ganze Bandbreite der Sprachwissenschaft in einen Titel zwingt, der noch dazu die früheren weder kopiert noch wiederholt. Den diesjährigen Titel "Pragmantax" fanden wir in einem Aufsatz des amerikanischen Sprachphilosophen und Linguisten John Robert Ross ("Where to do things with words." Cole, Peter/Morgan, Jerry L. (eds.) (1975): Speech Acts. (Syntax and Semantics. Vol. 3.) New York - San Francisco - London: 233-256), der diesen Terminus, im Anschluß an Fillmore, zur Bezeichnung von "mixed components" in der TG verwendet. Das Akü-Wort Pragmantax schien uns der einfachste Weg zu sein, die "mixed components" der KolloquiumsAkten und damit das ganze Spektrum der Sprachwissenschaft begrifflich abzudecken. Aufgrund der thematischen Verschiedenheit der Beiträge erwies es sich auch als schwierig, Etiketten zu finden, unter die sie sich jeweils subsumieren ließen, um dem Band eine Struktur zu geben. Wir entschieden uns für ein Ausgehen von Syntax (I.) und Semantik (II.) über die Pragmatik (Sprechakttheorie und Gesprächsanalyse ( I I I . ) ) , Varietätenlinguistik (IV.) und Fremdsprachendidaktik (V.) hin zu mehreren Arbeiten über (sprach-)historische Fragen (VI.) und einem abschließenden Kapitel "Sprache und (allgemeine) Sprachwissenschaft" (VII.), in dem vor allem sprachtheoretische und methodologische Probleme behandelt werden. Diese Gliederung ist sicher nicht die einzig mögliche. Dank schuldet der Organisator beinahe allen sprachwissenschaftlich oder Sprachunterrichtlich tätigen Instituten der Technischen Universität Braunschweig, einer Universität, deren erst in den letzten anderthalb Jahrzehnten eingerichteten sprachwissenschaftlichen Zweigen die Vergabe des Kolloquiums nach Braunschweig Anerkennung und Ermutigung bedeutet. Diesem ersten internationalen sprachwissenschaftlichen Kongreß werden in Braunschweig nun andere folgen, zu nennen ist dabei vor allem der für 1987 geplante Sprachdidaktikerkongreß. Dank schuldet der Organisator dem harmonischen Zusammenwirken aller Teil-

XI

nehmer, trotz harter Diskussionen, wobei wohl nicht zuletzt das Rahmenprogramn (Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel,die Niedersächsische Landesausstellung "Stadt im Wandel" in Braunschweig) gelegentliche Schärfen der Auseinandersetzung bald wieder vergessen ließ. Dank schulden der Hauptherausgeber und der Organisator auch dem Lehrerfortbildungsheim in Wolfenbüttel, der Wolfenbütteler Stadtverwaltung, der Leitung der Herzog-August-Bibliothek und vor allem dem Volkswagenwerk/Vfolfsburg und der Firma Jägermeister/Wolfenbüttel für ihre finanzielle Förderung. Ganz besonderer Dank gilt Frl. Haika Wagner für ihre Mithilfe bei der Organisation und Durchführung der Tagung. In der Gewißheit, daß 1986 im niederländischen Groningen und 1987 in Berlin der derzeitigen kritischen Besinnungsphase ein sich bereits abzeichnender Aufbruch zu neuen Ufern, mit noch größerer internationaler Beteiligung, folgen wird, bitten die Herausgeber um Nachsicht für manche Unvollkommenheiten - dies gilt besonders für jene für das Linguistische Kolloquium so charakteristischen Beiträge, wo jüngere Wissenschaftier/innen sich erstmalig öffentlich der Diskussion stellen oder wo bisher wenig etablierte Ideen und Thesen gewagt worden sind. Braunschweig, im Januar 1986

Armin Burkhardt Karl-Hermann Körner

I . U N T E R S U C H U N G E N ZUR SYNTAX

VALENZVARIATIONEN IN DER DEUTSCHEN SPRACHE DER GEGENWART

Ein Versuch zur Systematisierung

*

Jarmo Korhonen

1.

Einleitendes

Daß sich die Valenz eines Lexems in unterschiedlicher Weise realisieren kann, ist eine Erscheinung, die in der einschlägigen Literatur nicht selten zum Gegenstand theoretischer Erörterungen gemacht wurde.

Diskutiert wurden vor al-

lem Variationen, die sich auf Anzahl und Form der Ergänzungen beziehen, wobei in der Regel von folgender semantischen Zweiteilung ausgegangen wurde: Die Bedeutung des Lexems bleibt unverändert bzw. verändert sich im Zusammenhang mit Variationen bei den valenzbedingten Bestimmungen. Die meisten Darlegungen zu Valenzveränderungen orientieren sich an einzelnen Lexemklassen (Verben, Adjektiven, Substantiven), anstatt für die Beschreibung in der valenzbedingten Umgebung als abstrahierter Größe, d.h. bei den Ergänzungen unabhängig von verschiedenen Valenzträgerklassen,

-eine gemeinsame Basis anzulegen. Besonders im

Hinblick auf Verben wurden Beschreibungen vorgelegt, in denen ein aktivisches Prädikat einem entsprechenden passivischen

oder reflexivischen

gegenüberge-

stellt und somit ein Diathesenwechsel vorgenommen wurde. Durch ein derartiges Verfahren wurden konverse Konstruktionen erzeugt, die sich in bezug auf Anzahl und Form der Ergänzungen voneinander unterscheiden, 2 wurden dann als Valenzvariationen bezeichnet.

und diese Unterschiede

Im folgenden soll ein Versuch gemacht werden, Grundlagen für eine systematische Klassifizierung von Valenzveränderungen zu entwickeln, indem von variierender Anzahl und Art der Ergänzungen ausgegangen und im Anschluß daran die Bedeutung des Valenzträgers kontrolliert wird. Es wird eine übersichtliche Darstellung angestrebt, die einerseits die drei Valenzträgerklassen Verb, Adjektiv und Substantiv und andererseits den lexikalisch-semantischen Aspekt im Sinne von Bedeutungsvariation konsequent mit einbezieht. Der Begriff der Valenzvariation wird auf je eine Lexemklasse beschränkt, d.h. Valenz wird hier sehr oberflächennah an einzelne Lexemklassen gebunden. Daraus folgt u.a., daß Unterschiede, die sich aus der Zugehörigkeit etymologisch verwandter Lexeme zu verschiedenen Valenzträgerklassen ergeben (z.B. unterschiedliche Repräsentation von Ergänzungen beim Verb danken und beim Substantiv Dank) , unten ohne Berücksichtigung bleiben werden. Ebenso sollen Variationen außer acht bleiben, die innerhalb einer Valenzträgerklasse

auf verschiedene Lexeme zurückgehen,

4

auch wenn diese etwa wortbildungsmäßig oder strukturell eng zusammenhängen (z.

4 B. liefern - beliefern und setzen - in Bewegung setzen). Schließlich soll der Blickwinkel noch dadurch eingeengt werden, daß die drei Valenzträgerklassen jeweils in einer bestinroten syntaktischen Verwendung betrachtet werden. Für die Klasse der Verben bedeutet das eine Beschränkung auf Aktivsätze, wobei auch von den transformationellen Verfahrensweisen der Reflexivierung und Kausativierung (durch lassen als Prädikatsverb) abgesehen werden soll. Adjektive wiederum erscheinen irritier in prädikativem Gebrauch, und Substantive tauchen in nominalen Konstruktionen auf, die hinsichtlich ihrer Satzgliedfunktion bspw. Subjekte sein könnten.

2. Theoretische Grundlagen für eine Systematisierung von Valenzvariationen Variationen in der Valenz von Lexemen lassen sich einmal in bezug auf die Anzahl, zum anderen in bezug auf die Art (Inhalt und Form) der Ergänzungen studieren. Diese unterschiedliche Repräsentation der Valenz eines Lexems, d.h. sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Variation bei der Besetzung der Leerstellen eines Valenzträgers, soll hier als Polyvalenz bezeichnet werden. Für die quantitative Variation gibt es zwei Betrachtungsrichtungen: Die Anzahl der Ergänzungen wird entweder reduziert oder erhöht. Eine Reduktion der Valenz eines Lexems kommt dadurch zustande, daß eine oder mehrere Ergänzungen weggelassen werden. Dabei vertreten die Ergänzungen vorwiegend die Satzgliedklassen Objekt, Adverbial und Prädikativ, wohingegen eine Subjektersparung auf bestimmte Besonderheiten beschränkt ist (sie läßt sich insbesondere in der gesprochenen Sprache, seltener in der geschriebenen Sprache beobachten). Wenn man von kontextuellen Vorkommensbedingungen von Ergänzungen abstrahiert, kann man sagen, daß die quantitative Polyvalenz durch zwei Arten von Ergänzungen ermöglicht wird: obligatorische Ergänzungen, die dann vorliegen, wenn sich aus der Weglassung für den Valenzträger eine neue Bedeutung ergibt, und fakultative Ergänzungen, die weglaßbar sind, ohne daß sich die Bedeutung des Valenzträgers verändert. In ersterem Falle ist also eine bestirmtte lexikalische Bedeutung an eine bestirmite Anzahl von Ergänzungen gebunden, in letzterem dagegen nicht. Im Unterschied zur ValenzVerminderung wurde der Valenzerhöhung in der linguistischen Forschungsliteratur erheblich weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Valenzänderungen auch hier unter dem Gesichtspunkt der Bedeutungsvarianz bzw. -invarianz betrachtet werden können. Bei unveränderter Bedeutung des Valenzträgers ist anstelle der Gesamtheit der Ergänzungen (der Gesamtvalenz) die häufigste Besetzungsart der Leerstellen

5

(die Grundvalenz) zugrundezulegen, und wenn nun das Lexem einmal mit einer höheren Anzahl von Ergänzungen auftritt, kann dies als Valenzerhöhung klassifiziert werden (vgl. z.B. Sie schläft. - Sie schläft einen tiefen Schlaf.). Im Falle einer Bedeutungsveränderung des Valenzträgers wiederum hat man es mit Verben wie brechen, rollen und trocknen (vgl. u.a. Die Wäsche trocknet. - Sie trocknet die Wäsche.) zu tun, bei denen eine Erhöhung der Valenz dadurch hervorgerufen wird, daß das Subjekt des einwertigen Gebrauchs zu einem Akkusativobjekt gemacht und die dabei frei gewordene Subjektstelle für den zweiwertigen Gebrauch anderweitig besetzt wird. Diese Operation könnte als lexeminterne Kausativierung bezeichnet werden, während sich für die Einsetzung des Verbs lassen in den Satz (vgl. Die Sirene heult auf. - Er läßt die Sirene aufheulen. ) die Benennung lexemexterne Kausativierung eignen würde. Auch im Zusammenhang mit einer lexemexternen Kausativierung erhöht sich die Anzahl der Ergänzungen im Satz, zugleich wird aber auch ein Wechsel des Prädikatsverbs bewirkt (oben: aufheulen —> lassen), so daß es sich hier nicht mehr um Änderungen der Valenz eines bestimmten Lexems handelt, die das eigentliche Beschreibungsobjekt des vorliegenden Beitrags ausmachen. - Zur Erläuterung des Wesens der Valenzerhöhung sind weitere Untersuchungen erforderlich. Waren die bisherigen Erörterungen praktisch nur an Verben orientiert, sollte hier in Zukunft auch auf die beiden Klassen Adjektiv und Substantiv eingegangen werden. Da die Valenzerhöhung in bezug auf ihre theoretischen Grundlagen noch nicht hinreichend erforscht worden ist, wird sie in der systematischen Darstellung unten außer acht gelassen. Quantitative Polyvalenz wird somit nur am Beispiel der ValenzVerminderung auszuführen sein. Die qualitative Polyvalenz läßt sich zunächst in einen inhaltlichen und einen formalen Bereich einteilen. Gegenstand der inhaltlichen Variation ist die semantische Klasse von Ergänzungen, die durch Merkmale wie Hum, Abstr usw. gekennzeichnet werden kann. Die inhaltliche Polyvalenz beruht auf Variationen bei einer oder mehreren Ergänzungen, und im Zusammenhang mit den Variationen sind die beiden Möglichkeiten der Veränderlichkeit bzw. Unveränderlichkeit der Valenzträgerbedeutung gegeben. Im formalen Bereich ist eine weitere Zweiteilung möglich, und zwar auf der Basis der Unterscheidung von syntaktischer Klasse und Valenzmarker. Eine auf die syntaktische Klasse der Ergänzung bezogene Variation beinhaltet den Wechsel zwischen Substantiv, Infinitiv, Nebensatz usw., beim Valenzmarker wiederum betrifft die Variation verschiedene Anschlußmöglichkeiten der Ergänzung an den Valenzträger (u.a. durch Kasus, PräQ

position und Korrelat).

Wie die inhaltliche, kann sich auch die formale Po-

lyvalenz jeweils auf bspw. zwei Ergänzungen erstrecken, ebenso kann die Bedeu-

tung des Valenzträgers in Verbindung mit einer Formvariation wechseln oder 9 konstant bleiben. Grundsätzlich wäre es denkbar, bei der Beschreibung der qualitativen Polyvalenz auch vom Wechsel der semantischen bzw. syntaktischen Funktion der Ergänzungen (Tiefenkasus bzw. Satzglieder) auszugehen und im Anschluß daran Variationen im Bereich der semantischen bzw. syntaktischen Klasse und des Valenzmarkers zu ermitteln. Dieses Verfahren würde jedoch in bezug auf Inhalt und Form nicht zu einer gleichmäßigen und einheitlichen Klassifizierung führen, weshalb der klassenorientierten Vorgehensweise der Vorzug zu geben ist. Im Sinne einer größeren Einheitlichkeit wird der Darstellung der formalen Polyvalenz folgendes Prinzip zugrunde gelegt: Berücksichtigt werden nur Variationen, die jeweils bloß eine syntaktische Funktion betreffen. Durch diese Entscheidung werden vor allem die Fälle ausgeschieden, in denen einer Formvariation ein Wechsel der syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt entspricht (vgl. etwa Er friert. - Ihn friert, und Es fehlt an Fachleuten. - Fachleute fehlen. ) . Variationen solcher Art sind auch deshalb nicht in den Vordergrund zu stellen, weil sie oft nicht ohne einen weiteren Wechsel, nämlich einen Numeruswechsel des Prädikats, möglich sind. Für die inhaltliche Polyvalenz hingegen braucht das Prinzip der Beschreibung der formalen Polyvalenz nicht aufrechterhalten zu werden. Das kann in erster Linie dadurch begründet werden, daß hier ein Klassenwechsel viel häufiger mit einem Funktionswechsel verbunden ist als bei der formalen Polyvalenz. 3. Systematische Darstellung verschiedener Aspekte der Polyvalenz Mit Bezug auf die oben besprochenen generellen und spezifischen Bedingungen sollen die verschiedenen Gesichtspunkte der Polyvalenz zuerst in einem Schema festgehalten werden. Es läßt sich ein Diagramm folgender Art skizzieren:

8

Unten sollen nun die einzelnen Gruppen der Polyvalenz durch abstrakte Beschreibungsmittel und konkrete Sprachstrukturen belegt werden. Das Beispielmaterial enthält Konstruktionen, die durch verbale, adjektivische und substantivische Valenzträger konstituiert werden; es wird versucht, jede Gruppe durch Beispiele zu veranschaulichen, die auf der Valenz der genannten Lexemklassen beruhen. Im Falle der quantitativen Polyvalenz wird die Umgebungsvariation durch Strukturmodelle gekennzeichnet, während bei qualitativer Valenz jeweils nur die von der Variation betroffenen Ergänzungen mit ihren formalen und inhaltlichen Eigenschaften aufgeführt werden. Die Variation wird sowohl Strukturmodelle als

auch für

für

Ergänzungen durch einen waagerechten Strich

kenntlich gemacht, fakultative Ergänzungen bzw. Korrelate werden durch runde Klammern markiert, und für die Nullrepräsentation

(d.h. der Valenzträger tritt

ohne Ergänzungen auf) wird das Zeichen 0 verwendet. In theoretischer Hinsicht ist

es keine Seltenheit, daß mehrere Strukturmodelle einem anderen oder im

Rahmen einer Ergänzung mehrere formale oder inhaltliche Realisierungen einer anderen gegenübergestellt werden können. Graphisch ließe sich dieser Sachverhalt dadurch zum Ausdruck bringen, daß innerhalb der betreffenden Modelle bzw. Ergänzungen zwischen den einzelnen Alternativen ein Schrägstrich eingesetzt wird. Wenn bei der nachstehenden Aufstellung auf die Anführung von Alternativen jedoch verzichtet wird, geschieht das aus dem praktischen Grunde, daß die Darstellung auf diese Weise an Übersichtlichkeit gewinnt. - Im Anschluß an die Variationsbeschreibung, die unter Benutzung von Symbolen und Abkürzungen erfolgt, wird die Bedeutung des Valenzträgers erläutert. Hierbei wird eine einfache Paraphrasierungsmethode angewendet: Die Bedeutung wird mittels Wortoder Wortgruppenäquivalenten angegeben. Quantitative Polyvalenz; ohne Bedeutungsveränderung: (1)

vorstellen

Sn+Sa+Sd - Sn+Sa

'jdn. mit jdm. bekannt machen'

Er stellt (uns) den neuen Kollegen vor. (2)

gespannt ~-~ " -- ----"

pS ,. - 0

Das Mädchen ist ( 3)

Geschrei

Sg - 0

'auf etw. neugierig1

( auf den Geburtstag ) gespannt. ' anhaltendes Schreien '

das Geschrei (der Nachbarn) Quantitative Polyvalenz; mit Bedeutungsveränderung: (4) halten Sn+Sa+pADJfür - Sn+Sa 'als etw. ansehen1 - 'festhalten' Er hält das Kind für begabt. - Er hält das Kind. (5)

würdig Sg - 0 'wert1 - 'würdevoll' Der alte Herr ist der Auszeichnung würdig. - Der alte Herr ist würdig.

(6)

Arbeit Sg+pS - Sg 'zweckgerichtete Tätigkeit1 - 'produktives Täan

tigsein1 die Arbeit des Gelehrten an dem Vortrag -

die

Arbeit des Gelehrten

Inhaltliche Polyvalenz; ohne Bedeutungsveränderung: (7) spielen pSmj_t: Hum - Abstr 'nicht ernst nehmen' Er spielt nur mit der Frau. - Er spielt mit der Liebe. (8) (9)

überdrüssig Sg: Hum - Abstr 'jds., einer Sache müde' Sie ist ihrer Freundin überdrüssig. - Sie ist des Lebens überdrüssig. Anhänger Sg: Hum - Abstr 'Gleichgesinnter'

der Anhänger dieses Politikers - der Anhänger des Liberalismus Inhaltliche Polyvalenz; mit Bedeutungsveränderung: (10)

verschlafen

Sa: -Anim - Abstr

'durch

Schlaf

versäumen1

-

'durch

Schlaf überwinden" Sie verschlief den Zug. - Sie verschlief ihre Sorgen. ( 1 1 ) einverstanden pS . : Hum - Abstr 'mit jdm. die gleiche Meinung vertretend' - 'einer Sache zustimmend' Er ist mit dem Vorredner einverstanden. - Er ist mit dem Antrag einverstanden. ( 1 2 ) Ablauf Sg: -Anim - Abstr 'Abfließen 1 - 'Verlauf der Ablauf des Wassers - der Ablauf der Feierstunde Formale Polyvalenz; syntaktische Klasse; ohne Bedeutungsveränderung: (13)

(14)

(15)

freuen Sn - NS, 'Freude bereiten' daß Deine schnelle Genesung freut uns. -

Daß du schnell genesen bist,

freut uns. gewohnt Sa - (es)INF 'etw. als selbstverständlich betrachtend' — ~ —' zu Er ist schwere Arbeit gewohnt. - Er ist (es) gewohnt, schwer zu arbeiten. Zustimmung pS - (dazu)NS., 'Einwilligung' zu daß die Zustimnung~~aer Eltern zur~~0peration des Kindes - die Zustimmung

der Eltern (dazu), daß das Kind operiert wird Formale Polyvalenz; syntaktische Klasse; mit Bedeutungsveränderung: (16) (17)

(18)

lassen Sa - INF 'unterlassen' - 'zulassen' Er läßt das Rauchen. - Er läßt rauchen. aufgelegt ADJ - pS 'in bestimmter Weise gelaunt1 - 'zu ZU

etw.

ge-

launt' Er ist übel aufgelegt. - Er ist zu Üblem aufgelegt. Berufung (dazu)INF - daraufNS 'Lebensaufgabe' - 'Beziehen auf zu daß 1 etw. als Beweis die Berufung der Frau (dazu), geistig Behinderte zu pflegen - die Be-

10 rufung der Frau darauf, daß sie geistig Behinderte pflegt Formale Polyvalenz; Valenzmarker ; ohne Bedeutungsveränderung: ( 1 9 ) verbergen Sd - pS 'verheimlichen' -2— vor Er verbirgt uns etwas. - Er verbirgt etwas vor uns. (20) böse Sd - pSauf _ m j_ t 'feindselig gestimmt1 Er ist seinem Sohn böse. - Er ist auf seinen Sohn böse. - Er ist mit seinem Sohn böse. ( 2 1 ) Eignung pS _ 'Befähigung', 'Tauglichkeit1 die Eignung des ÄbTturienten für das Studium - die Eignung des Abiturienten zum Studium Formale Polyvalenz; Valenzmarker; mit Bedeutungsveränderung: (22) achten Sa - pS ,. 'hochschätzen1 - 'Aufmerksamkeit schenken' * Sie achtet ihren Lehrer. - Sie achtet auf ihren Lehrer.

lieb Sd - pSZU ' jds. Zuneigung besitzend' - 'zu jdm. freundlich1 Die Tochter ist ihm lieb. - Die Tochter ist lieb zu ihm. ( 2 4 ) Werbung pSf.. _ 'Reklame1 - 'Liebesantrag1 die Werbung des jungen Mannes für das Mädchen - die Werbung des jungen Mannes um das Mädchen Im Schema und in den entsprechenden Beispielen werden Anzahl, Inhalt und Form der Ergänzungen streng auseinandergehalten. Die Gestaltung der Beispiele orientiert sich an folgenden Prinzipien: Im Zusammenhang mit der quantitativen Polyvalenz soll sich an den Konstruktionen außer den eliminierten Ergänzungen nichts ändern, bei inhaltlicher Polyvalenz soll die Form der Ergänzungen erhalten bleiben, und im Falle der formalen Polyvalenz sollen, so weit wie möglich, gleiche Lexeme verwendet werden. Neben dieser strikten Differenzierung ist jedoch auch eine Kreuzklassifizierung denkbar, wobei sich anhand der Anzahl und Art der Ergänzungen auf der einen Seite, anhand des Inhalts und der Form der Ergänzungen auf der anderen Seite Subklassen einrichten lassen. Folgende Beispiele aus dem Bereich der Verben sollen dies veranschaulichen: Quantitative, inhaltliche und formale Polyvalenz (syntaktische Klasse); mit Bedeutungsveränderung : (25) schmecken Sn+Sd+ADJ - Sn+pS ; Mod - -Anim; ADJ - pSnach 'einen subjektiv bewerteten Geschmack von sich geben1 - 'einen objektiv feststellbaren Geschmack von sich geben' Der Salat schmeckt ihm gut. - Der Salat schmeckt nach Knoblauch. Quantitative und inhaltliche Polyvalenz; mit Bedeutungsveränderung: (26) versehen Sn+Sa+pS . - Sn+Sa; Sa: Hum - Abstr ' jdn. mit etw. vermit sorgen ' - ' ausüben"1 (23)

_«._^^_

11

Der Geistliche versieht ihn mit den Sterbesakramenten. - Der Geistliche versieht seine Aufgaben. Quantitative und formale Polyvalenz (Valenzmarker); mit Bedeutungsveränderung: (27) schicken Sn-f-Sa+pS - Sn+pSnach; pSan _ nach 'senden' - 'holen lassen" Er schickt einen Gruß an seinen Hausarzt. - Er schickt nach seinem Hausarzt. Inhaltliche und formale Polyvalenz (Valenzmarker); mit Bedeutungsveränderung: (28) brennen -Anim - Abstr; Sa - pS3. U L 'zur Beleuchtung verwenden1 "" " ~ 'etw. inbrünstig ersehnen' Sie brennt zwei Kerzen. - Sie brennt auf Rache. Oben liegt zwar jeweils eine Veränderung der Bedeutung des Valenzträgers vor, es lassen sich aber auch Fälle nachweisen, in denen der Valenzträger seine Bedeutung beibehält. Ebenso trifft die Möglichkeit der Kreuzklassifikation nicht nur auf Verben zu, sondern ist auch bei Adjektiven und Substantiven gegeben. 1

4.

Schlußbemerkungen

In diesem Beitrag kam es mir darauf an, anhand von Beispielen aus dem gegenwärtigen Deutsch zu zeigen, daß sich für Polyvalenz auch bei einer differenzierten Darstellung quantitativer und qualitativer Aspekte eine systematische Klassifikation vornehmen läßt. Systematik heißt hier, daß die Variationen in den valenzbedingten Umgebungen von Lexemen in bezug auf Anzahl, Inhalt und Form beobachtet werden und daß dabei regelmäßig geprüft wird, ob sich eine Variation für den Valenzträger bedeutungsverändernd auswirkt. Darüber hinaus besteht die Systematik darin, daß Valenzvariationen nicht nur für Verben, sondern auch für Adjektive und Substantive konsequent dargelegt werden. Aus Gründen des Raums konnten Fragen der Polyvalenz oben nur am Beispiel der deutschen Gegenwartssprache besprochen werden. Sowohl quantitative als auch qualitative Polyvalenz sind jedoch auch für ältere Stufen des Deutschen, fürs Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutsche, nachweisbar, ja sogar fürs Gotische können verschiedene Arten von Valenzvariationen aufgezeigt werden. Neben dieser historisch-synchronen Polyvalenz gibt es eine diachrone Polyvalenz, die sich auf den Sachverhalt gründet, daß sich valenzbedingte Umgebungen eines Lexems in verschiedenen Sprachstufen quantitativ und/oder qualitativ voneinander unterscheiden. Doch wie die historische Polyvalenz des Deutschen in ihren

12

Einzelheiten zu erfassen ist,

kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Ich

werde auf entsprechende Aspekte an anderer Stelle in naher Zukunft eingehen.

Abkürzungen = Abstraktbezeichnung

-Anim

= unbelebtes Wesen

Hum

= menschliches Wesen

INF

Infinitiv ohne zu

Mod

= Artbestimmung

(es...)INFzu

Infinitiv mit zu,·

es_ usw.

Sn

= Substantiv im Nominativ

Korrelat

Sa

= Substantiv im Akkusativ

als fakultatives = Nebensatz mit daß

Sd

= Substantiv im Dativ

Sg

= Substantiv im Genitiv

als obligatorisches

= Substantiv mit der Prä-

lat

PS

£

position auf usw. ADJ

= Adjektiv

ohne Präposi-

pADJ für

Adjektiv mit der Präpositi-

Abstr

on für

NSdaß daraufNS 'daß

(dazu)NS daß

= Nebensatz

mit

daß; darauf Korre-

= Nebensatz mit daß; dazu als fakultatives Korrelat

tion

Anmerkungen Meine Teilnahme am 20. Linguistischen Kolloquium hat die Alexander von Humboldt-Stiftung (Bonn) ermöglicht, wofür ich ihr an dieser Stelle danken möchte. Dankbar bin ich auch Herrn Helmut Schumacher (IdS, Mannheim), von dem ich nützliche Hinweise für die Formulierung von Beispielen bekommen habe. 1

Vgl. u.a. Erben (1958 / 11.A. 1972: 2 4 8 f f . ) , Starke (1969-1970; 1973: 1 3 9 f f . ) , Heibig/Schenkel (1969 / 5.A. 1980: 6 0 f . ) , Sommerfeldt/Schreiber (1974: 29, 3 1 f f . ; 1977: 28, 3 1 f f . ; 1978: 3 0 2 f f . ) , Korhonen (1977: 178ff.; 1981b: 65f.) und Stepanowa/Helbig (1978: 154f., 159ff., 166ff. f 178).

2

Zu Valenzveränderungen im Zusammenhang mit Passivierung und Reflexivierung vgl. z.B. Heringer (1978: 1 1 8 f f . ) , Heringer/Strecker/Wimmer (1980: 2 2 6 f f . ) , Jantti (1979) und Erben (1984: 3 6 f f . ) . Zur Passivkonversion siehe auch Helbig/Schenkel (1969 / 5.A. 1980: 58), Korhonen (1977: 190ff.) und Stepanowa/ Heibig (1978: 159f.).

3 Diesbezügliche Fragen werden u.a. in Korhonen (1977: 172ff.; 1981a: 5 4 f f . ) , Stepanowa/Helbig (1978: 175f.) und Tarvainen (1983) abgehandelt. 4

Zu Valenzverschiebungen in dieser Hinsicht vgl. bspw. Erben (1984: 91 f f . ) .

5

Ein Bereich der gesprochenen Sprache, wo für die Weglassung des Subjekts günstige Voraussetzungen gegeben sind, ist der Dialog. Darüber hinaus sei jedoch auch an schriftliche Äußerungen wie Bin in der Bibliothek, und Komme in fünf Minuten wieder, (etwa als ZettelInformationen für Kollegen) erinnert. Zur Valenzreduktion vgl. unter neueren Arbeiten u.a. Saeb0 (1984),

13

Heibig ( 1 9 8 5 ) , Sadzinski (1985) und Sadzinski/Weigt (1985). 6

Vgl. Korhonen (1977: 1 9 4 f . ) .

7

In Heringer (1978: 7 4 f f . , 120f.) wird lassen+Infinitiv als komplexes Prädikat eingestuft, und in Her i nger/Strecker/Wimmer (1980: 225) wird von der "Erweiterung des Prädikats mit l a s s " gesprochen. Das bedeutet, daß das ursprüngliche Prädikat als Teil eines neuen Prädikats auftritt und dadurch gewissermaßen einer Valenzerhöhung teilhaftig wird. Im Unterschied dazu vertrete ich die Auffassung, daß lassen ein selbständiges Prädikat darstellt und das Prädikat des zugrundeliegenden Satzes als Infinitivergänzung regiert. Vgl. dazu auch Korhonen (1977: 2 3 9 f f . ) .

8

Zu Valenzmarkern Näheres in Korhonen (1979: 3 f f . ; 1985a: 1 9 5 f f . ) .

9

Es ist möglich, die Termini 'inhaltliche Polyvalenz'und'formale Polyvalenz' auch so zu verwenden, daß man mit ihnen primär auf die Bedeutung des Valenzträgers Bezug nimmt. Siehe dazu Korhonen (1982: 188; 1985b).

10

Vgl. auch Erben (1958 / H.A. 1972: 249; 1984: 8 9 f . ) .

11

Zur formalen Polyvalenz ist noch zu bemerken, daß ein Wechsel der syntaktischen Klasse mit einem Wechsel des Valenzmarkers verbunden sein kann, weil einer bestimmten syntaktischen Klasse oft ganz spezifische Valenzmarker zukommen.

Literatur Erben, Johannes ( 1 9 5 8 ) : Abriß der deutschen Grammatik. Berlin: Akademie-Verlag. 11.A. 1972: Deutsche Grammatik. Ein Abriß. München: Hueber. ( 1 9 8 4 ) : Deutsche Syntax. Eine Einführung. Bern etc.: Lang. Heibig, Gerhard (1985): "Valenz und Kommunikation (Ein Wort zur Diskussion)". Deutsch als Fremdsprache 22: 153-156. / Schenkel, Wolfgang ( 1 9 5 9 ) : Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben. Leipzig: Bibliographisches Institut, 5.A. 1980. Heringer, Hans Jürgen ( 1 9 7 8 ) : Wort für Wort. Interpretation und Grammatik. Stuttgart: Klett-Cotta. / Strecker, Bruno /Wimmer, Rainer ( 1 9 8 0 ) : Syntax. Fragen, Lösungen, Alternativen. München: Fink. Jäntti, Ahti ( 1 9 7 9 ) : "Zum Einfluß einiger grammatischer Kategorien auf die Verbvalenz". Neuphilologische Mitteilungen 80: 358-384. Korhonen, Jarmo ( 1 9 7 7 ) : Studien zu Dependenz, Valenz und Satzmodell. Teil I: Theorie und Praxis der Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Dokumentation, kritische Besprechung, Vorschläge. Bern etc.: Lang. ( 1 9 7 9 ) : Zum morphosyntaktischen Markieren der Valenzbeziehungen im heutigen Deutsch. Oulu: Universität. ( 1 9 8 1 a ) : "Zum Verhältnis von verbaler und nominaler Valenz am Beispiel des heutigen Deutsch". Neuphilologische Mitteilungen 82: 36-59. (1981b): "Zur morphosyntaktischen Variation von valenzbedingten Ergänzungen im Sprachgebrauch Luthers". Wissenschaftliche Konferenz "Kommunikation und Sprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis zum Neuhochdeutschen" 26.-27. September 1980 in Oulu (Finnland). Berlin: Akademie

14

der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft: 6580. (1982): "Satzmodelle im Frühneuhcchdeutschen und im heutigen Deutsch. Ein

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(1984): "Über fakultative Valenz". Deutsche Sprache 12: 97-

Sommerfeldt, Karl-Ernst / Schreiber, Herbert ( 1 9 7 4 ) : Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Adjektive. Leipzig: Bibliographisches Institut. ( 1 9 7 7 ) : Wörterbuch zur Valenz und Distribution der Substantive. Leipzig: Bibliographisches Institut. (1978): "Konkurrierende Konstruktionen in der Substantivgruppe der deutschen Sprache der Gegenwart". Deutsch als Fremdsprache 15: 301-305. Starke, Günter (1969-1970): "Konkurrierende syntaktische Konstruktionen in der deutschen Sprache der Gegenwart. Untersuchungen im Funktionsbereich des Objekts". Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 22: 25-65, 154-195. 23: 53-84, 232-260, 573-589. (1973): "Satzmodelle mit prädikativem Adjektiv im Deutschen". Deutsch als Fremdsprache 10: 138-147. Stepanowa, M.D. / Heibig, Gerhard (1978): Wortarten und das Problem der Valenz in der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig: Bibliographisches Institut. Tarvainen, Kalevi (1983): "Zur valenzmäßigen Beschreibung etymologischer Wortartgruppen". Schildt, Joachim / Viehweger, Dieter (eds.): Die Lexikographie von heute und das Wörterbuch von morgen. Analysen, Probleme, Vorschläge. Berlin: Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft: 216-228.

DIE PASSIVDIATHESE IM DEUTSCHEN: TYPEN, THEORIE

Vferner Abraham

1. Die Theorie anhand des Englischen Es scheint mir uninteressant, Passivierungen in irgendeiner Sprache ohne Bezug auf eine starke syntaktische Theorie beschreiben und erklären zu wollen. Alle Versuche, ihren Eigenschaften in einem allgemeinen, übertheoretischen Sinne gerecht zu werden, müssen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Zudem sollte, wie mir scheint, nicht die Wahl eines bestimmten theoretischen Ansatzes Anlaß für eine Grundsatzdebatte sein, sondern vielmehr die ganz spezifische Frage, welcher Status der Passivierung in dieser bestimmten Theorie zukotmt und wie explizit sie sich einem weiten onpirischen Faktenbereich stellt. Nach Chomskys Rektions- und Bindungstheorie (1981) läßt sich Passivierung im Englischen als ein grundlegend syntaktischer Prozeß mit begleitenden semantischen und morphologischen Charakteristiken erklären. Dieser Proze.3 umfaßt einmal den -Rollenverlust beim Subjekts-NP und zum ändern den Verlust ("die Absorption") der Kasusmarkierung beim direkten Cfojekt (DO). Die Ausgangsstruktur ist die in (1.!.)-(!.3.). (1.1.)

Konstituentenstruktur

[NPJV

(1.2.)

senantische Subkategorisierung

e^AG)

(1.3.)

Kasusstruktur

Nom

2-'lNFL 1 =VP^ INFL 2 =S

AKTIVSTRUKTUR

2

Akk

Die Dethematisierung des Subjekts ist in 2.1.-2.2. dargestellt. Der Rest des Passivierungsmechanismus wird durch zwei generelle Annahmen, nämlich die der positionsbestimmten Konfigurationalität sowie die Annahme des Kasusfilters ("kein NP mit Satzbindung ohne Kasusrealisierung") gesteuert. Da nach der Kasusabsorption beim DO nur mehr die präverbale Position des Subjekts kasuszuweisend (nämlich nominativzuweisend) ist, muß NP- in die neue Subjektposition des Passivs rücken. Man vergleiche ( 2 . 1 . ) - ( 2 . 2 . ) und (3.1.)-(3.3.). (2.1.)

Subkategorisierung

0

(2.2.)

Kasusstruktur

Non

2 0

DETHEMATISIERUNG VON NP KASUSABSORPTION VON NP,

l

16

(3.1.) (3.2.) (3.3.)

Konst . Struktur son . Subkategorisierung Kasusstruktur

NP2

V-ed

2 Nan

by-NP1

PASSIVSTRUKTUR

1 -

2. Der Junktiirrnechanismus der Subjektdethematisierung und des Kasusfilters Ausgehend von (1.) stellen (2.) und (3.) oben den Junktim- oder Zweistuf enmechanisnus für die Erklärung der Passivierung im Englischen dar. Man erinnert sich, Haß dieser Zweistufenmechanismus dem entspricht, was in der Relationsgraranatik die "Rückstufung des Subjekts" (demotion of the subject) bzw. die "Vorstufung des DO" (promotion of the direct object) genannt wird. Der zweite Schritt dieses Mechanismus ist eine Folge des Kasusfilterprinzips ("kein NP ohne Kasuszuweisung"). Im Deutschen nun besteht dieser Junktimprozeß nicht: Man betrachte Pseudopassive (unpersönliche Passive), wo das Subjekt rückgestuft ist

(d.h. die

Verbvalenz ist um die des Subjekt-NPs reduziert), ohne daß überhaupt ein DO vorhanden ist.

Diese Durchbrechung des Zweistufenmechanismus gilt für eine

Reihe von anderen Sprachen ebenso, darunter das Lateinische und das Altgriechische. (4.1.) EINWERTIGES VERB:

Da/Es wurde (von allen Gästen) heftigst getanzt (4.2.) ZWEIWERTIGES VERB MIT GENETIVOBJEKT:

Dessen wurde nie vergessen (4.3.) ZWEIWERTIGES VERB MIT PRÄPOSITIONSOBJEKT:

An soziale Pflichten wird in Holland nicht gerne erinnert In keinem einzigen dieser Fälle nimnt ein DO am Passivierungsprozeß teil. Das rückgestufte Subjekt kann, braucht aber nicht realisiert zu sein. Nach diesem Kriterium der Agensrückstufung unterscheidet sich das unpersönliche Passiv in nichts von normalen Passiv, dag dem Zweistufenmechanismus gehorcht: Es ist ebenso produktiv wie das Passiv mit der Subjektrückstufung und der DO-Vorstufung; es ist an kein soziostratisches Register gebunden, sondern gehört der Normsprache an. Die Erscheinungen dieses Typs sprechen gegen die Annahme einer Passivsyntax, die sich auf Kategorienspuren und deren Definition auf Grund ihrer linearen Stellung gründet. Sie stellen jedoch kein Gegenargument gegen eine analytische syntaktische Erklärung des Passivs M Deutschen dar. Zur Erfüllung dieses Ziels wäre bloß der Junktimcharakter der Subjektrückstufung und der DO-Vorstufung zu lockern. Wenn kein DO vorhanden ist,

dann könnt der Kasusfilter einfach nicht

17

zur Anwendung. Die unpersönliche Passive im Deutschen lassen sich spätestens schon im klassischen Mittelhochdeutschen (etwa im Nibelungenlied) verzeichnen (nach Grosse 1982: 398): (5) es enwart nie geste mere baz gepflegen (Gen.Pl.) 3. Akkusativabsorption "Absorption" ist eine Metapher für die Erscheinung, daß ein Passivpartizip keine Subkategorisierungsvalenz für ein DO im Akkusativ besitzt, d.h. - auf den Zweistufenmechanisraus in (1)-(3) bezogen - daß das in der Subkategorisierung des Passivpartizips nicht mehr aufscheinende Akkusativ-DO, das also seines Kasus beraubt ist,

aufgrund des Kasusfilters jene Argumentstelle übernimmt,

für die ein Kasus, nämlich der Nominativ vorgesehen ist, mit dem rückgestuften Subjekt mit"gewandert"

deren -Rolle jedoch

ist.

Was sich auch genau hinter diesem komplexen Mechanismus der Passivierung verbergen mag,so gibt es im Deutschen Passive, bei denen der Akkusativ "unabsorbiert", d.h. unvorgestuft bleibt. Die folgenden Fälle gehören dem sprechsprachlichen Erscheinungsbereich an. (6.1.)

Es wurde besinnungslos Dämme abgebrochen, Straßen aufgerissen, (Sg.) (Akk.Pl.) (Akk.Pl.) den Straßenasphalt aufgebrochen und riesige Mengen Sperrmüll in (Akk.Sg.) (Akk.Pl.) Kanäle geworfen.

(6.2.)

(Saalordner an der Tür zum Auditorium Maximum) : Es wird jetzt gerade Lyrikgedichte vorgelesen.

(6.1.) und (6.2.) zeigen, daß sich solche "passivischen direkten Objekte" nicht nur bei Imperativischen Äußerungen wie in (7) finden. (7.1.)

Hier wird keine Faxen gemacht!

(7.2.)

Heute wird anständig Zähne geputzt!

Es drängt sich bei den Beispielen in (6) und (7) der Eindruck auf, wir hätten es mit verbinkorporierten DO-NPs zu tun: Dieser Eindruck stützt sich auf etwaige Pausen, wie sie nach besinnungslos, also vor dem [DO + V]-Komplex in (6.1.) zu finden sind.Dies bestätigt sich orthographisch dort, wo man statt der analytischen Satzgliedtrennung die verbkcmpositionale Zusammenschreibung wählt. (8.1.)

analytisches DO: Hier darf nicht Teppiche geklopft/einen Kinderwagen geschoben werden

( 8 . 2 . ) VERBALKOMPOSITION:

18

(8.2.) Hier darf nicht teppichgeklopft/kinderwagengeschoben werden Dies verschiebt natürlich unser Problem nur aus der Basissyntax in das Lexikon bzw. dessen SyntaxStruktur. Wir können auf diesen Punkt noch zurück. Daß dieses passivische DO trotz aller Vorkcrrrnensmarginalität unzweifelhaft als Typus vorhanden ist, läßt sich auch anhand der folgenden Mittelkonstruktionen nachweisen. (9.1.) Da wurde sich heftigst bekriegt. (refl.-Akk.)

(9.2.)

Heute wird sich einmal anständig gewaschen. (refl.-Akk.) Die semantische Lesart von sich in (9.1.) ist natürlich nicht die eines syntaktischen Reflexivs, sondern vielmehr das reziproke Reflexiv. Man vergleiche dazu auch (9.3.), das deswegen ausgeschlossen ist, weil die reflexive Anapher ein Oberflächensubjekt als Antezedensbezug nötig machen würde. Die Gültigkeit dieser Regel ist anhand von (9.4.) und (9.5.) verfolgbar: Dort ist das logische Subjekt in einem rückgestuften Satzglied vorhanden; trotzdem erlaubt es syntaktisch keinen Zugriff für die Koreferenzbedingung der Reflexivanapher. (9.3.) *Es wurde sich selbst gewaschen. (9.4.) *Es wurde sich selbst von den Zöglingen gewaschen. (9.5.) Es wurde von den Zöglingen endlich gründlich Unterhosen gereinigt. Diese Zusanroenstellung von Beispielen könnte zu dem Schluß verleiten, daß zur Beschreibung und Erklärung des Passivs im Deutschen die Absorptionsregel für den Akkusativ völlig fallenzulassen sei, jedenfalls unter dem Einfluß bestimmter extragrammatischer Faktoren. 4. Analytisches Passiv und lexikalisches Passiv Man betrachte noch einmal (9.2.): Die Reflexivanapher läßt sich als lexikalische Einheit mit dem Verb betrachten. Damit liegt unzweifelhaft ein Kandidat für eine lexikalische Interpretation dieses Pseudopassivtyps vor. Die Lesart mit dem Reziprokpronomen dagegen läßt sich nicht in einer solchen Lösungsrichtung unterbringen. Die Gegenüberstellung dieser beiden Lesarten des Reflexivsprononen läßt sich nun (mit Nerbonne 1982: 344ff.) genau für die angedeutete Scheidung zwischen einem lexikalischen und einem syntaktischen Passiv verwenden. Wenn wir nämlich vollen Nutzen aus der distributioneil begründeten Scheidung der Reflexive ziehen, nämlich der Scheidung zwischen syntaktischen (freien) und lexikalischen (nicht-freien) Reflexiven, dann zeigt sich, daß unpersönliche Passive die freien syntaktischen Reflexiva nicht zulassen, lexikalische Formen hingegen sehr wohl.

19

LEXIKALISCHE REFLEXIVft

(10.1.) (10.2.)

Es kann sich nicht dauernd geschämt werden MEDIOPASSIV Glaubt man denn, daß sich hier einfach nur so angeschaut werden kann? REZIPROK (10.3.) Hier wird sich kaum deutlich ausgedrückt werden können DETRANSITIV Das syntaktische, freie Reflexiv ist dagegen ausgeschlossen. Man vergleiche (11) zusätzlich zu (9.3.): über sich kann natürlich nicht durch das Prädikatsverb denken lexikalisch gebunden sein, da es ja von Geschichte abhängt. (11.1.) AKTIV: Sie dachte an eine Geschichte über sich selbst (11.2.) PASSIV: *Es wurde an eine Geschichte über sich gedacht (11.2.) ist nicht akzeptabel, da unpersönliche Passive kein Subjekt bereitstellen, das syntaktisch als Antezedens für die Reflexivanapher in Frage käme. In Übereinstimmung damit erwarten wir nun, daß sich in aktiven Strukturen, die zwischen der reflexiven und der reziproken Lesart homonym sind, ausschließlich die reziproke Lesart des unpersönlichen Passivs zuläßt. Diese Erwartung bestätigt sich, wie (12.2.) zeigt. Man vergleiche dazu auch (9.1.) und (9.2.) oben. (12.1.) Die zwei haben sich nur angeschaut REFLEXIV + REZIPROK (12.2.) Es wurde sich nur angeschaut 0 REZIPROK 5. Komplexe Verbstruktur und Absorption Die Schlußfolgerung in Abschnitt 3. oben lautete, daß die Absorption des DOAkkusativs im deutschen Passiv nicht notwendig stattfindet. Dies bedeutet, daß die Subkategorisierungseigenschaften von Passivpartizipien sich von jenen der aktiven Verbform nicht unterscheiden. Dies steht in klarem Widerspruch zur Prädikationstheorie (Williams 1980, Haider 1983, Hoekstra 1984) und hätte zweifellos weitreichende Folgen für die - und Kasustheorie. Unter der folgenden Annahme jedoch läßt sich das grundlegende Postulat der Absorption ohne Abschwächung aufrechterhalten: dann nämlich wenn wir den erhaltenen DO-Akkusativ als verbinkorporiert betrachten. Der Komplex "DO[+AKK] + ViraSSlV . " ist nicht in der Kategorie V 1 , sondern in V°. Somit bliebe die theoD retische Annahme, daß ein Passivpartizip nur einen strukturellen Kasus, nämlich den externen Subjektnominativ zuweist, unberührt. Um nun zu zeigen, daß das akkusativische direkte Objekt in der Tat verbinkorporiert ist, gehen wir von den spezifischen Distributionseigenschaften der Satzglieder im Deutschen aus: Im Unterschied zu nicht satzgliedhaften Teilen sind Satzglieder weitgehend unabhängig voneinander, was ihre lineare Abfolge

20

betrifft. In diesem Faktenkomplex würden wir also die Voraussage treffen wollen, daß die "passivischen DO-Akkusative" nicht dieselbe lineare Verteilung haben wie andere Satzglieder, sondern daß sie sich vielmehr ausschließlich zusammen mit den passivierten V verschieben lassen. Diese Erwartung bestätigt sich nun (man vergleiche dazu Nerbonne 1982 mit ähnlichen Schlußfolgerungen). (13.1.)

Faxen machen, kann man hier nicht!

(13.2.)

*Faxen kann hier nicht gemacht werden! (Akk.Pl.) (sg.) Faxen können hier nicht gemacht werden! (Ncm.Pl.) (pl.)

(13.3.) (13.4.)

Faxen gemacht kann hier nicht werden!

Man vergleiche hier vor allem (13.2.) mit (13.4.): Wo der DO-Akkusativ vom lexikalischen Prädikatsverb getrennt ist wie in (13.2.), ergibt sich eine nichtakzeptable Abfolge - dies im Unterschied zu (13.4.), wo der DO-Akkusativ direkt beim lexikalischen Prädikat steht. Auch aus Reflexivfügungen läßt sich dieser Schluß ziehen. (13.5.)

Sich selbst hat er damit helfen wollen

(13.6.)

*Sich selbst wurde meist geholfen und niemand anderem.

(13.7.)

Es wurdemeist nurselbst geholfen und niemand anderem.

Was die zwei Verteilungsgruppen zeigen, ist dies: Erstens ist der DO-Akkusativ nur dort im Passiv erhalten, wo er sich nicht vom lexikalischen Partizipnorphem positionell trennt. Mit' anderen Worten, ein solcher Akkusativ hat keinen unabhängigen Status als Satzglied. Man vergleiche (13.2.) und (13.4.). Zum zweiten verhält sich der strukturelle Akkusativ des DOs in (13.1.)-(13.4.) genauso wie der Dativ in (13.5.-7.). Dative jedoch zählen wir wegen der eingeschränkten syntaktischen Disponibilität zu den inhärenten, nicht strukturellen Kasus. Dies führt zu dem Schluß, daß der strukturelle Akkusativ und der lexikalisch inhärente Dativ dieselbe Eigenschaft der Verbinkorporabilität teilen. Zum dritten und wichtigsten für unsere Aroumentation

hier ist der Umstand,

daß das syntaktische Objektreflexiv in (13.7.) akzeptabel ist. Dies ist der beste Garant für die Annahme, daß das Objekt in V° und nicht in V ist, d.h. daß es verbinkorporiert ist. Wäre es nämlich in V - mit anderen Worten: wäre es satzgliedtechnisch frei -, dann hätte es der wichtigen syntaktischen Regel der Subjektverfügbarkeit als Antezedensbeziehung für die Anapher zu gehorchen. Dies würde aber bei Abwesenheit eines solchen Subjekts beim unpersönlichen Passiv zu einer inakzeptablen Version führen.

21

6. Referenzbeschränkungen zur Objektinkorporation Die folgenden Erscheinungen mögen es zweifelhaft erscheinen lassen, daß Objektinkorporation ein honogener syntaktischer Prozeß ist. (14.1.) Es wird jetzt gerade Gedichte vorgelesen (sg.) (Akk.pl.) (14.2.) Gedichte vorgelesen wird jetzt gerade (Akk.pl.) (sg.) (14.3.) Milch eingedickt wird heute keine mehr (14.4.) *Es wird jetzt gerade die letzten Gedichte von Rilke vorgelesen (sg.) (Akk.pl.) (14.5.) *Es wird in diesem Jahr alle Gedichte von Rilke behandelt (sg.) (Akk.pl.) (14.6.) *Es wird heute keinen Hafer mehr zugefüllt (sg.) (Akk.) (14.7.) *Rilkes Gedichte vorgelesen wird jetzt gerade (pl.) (sg.) (14.8.) *Äpfel wird doch nicht mit dem Fischmesser geschält (pl.) (sg.) (14.9.) Äpfel geschält wird doch nicht mit dan Fischmesser (pl.) (sg.) (14.10.) *Einen Apfel geschält wird doch nicht mit dem Fischmesser (Akk.,sg.) (sg.) Sehen wird von den Stellungseigenschaften in (14.2.), (14.3.), (14.4.) ab: Wir haben oben im Anschluß an solche Extrapositionsbeispiele von Inkorporation durch die lexikalische Einheit V gesprochen (vgl. S. 6 ) . Man stelle dagegen (14.8.). Wichtiger sind hier jedoch die Fälle referentieller Einschränkungen: Man betrachte (14.4.)-(14.8.) sowie (14.1O.). Das Akkusativobjekt beim Passiv ist auf den syntaktischen Distributionstyp ohne Artikel- oder Numeraleform beschränkt. Gelockert ist diese distributionelle Einschränkung möglicherweise durch Fälle mit unbestimmten Qualifikator. (14.11.) Es wird offenbar nur solche Waren angeschafft (14.12.) Es wird offenbar nur Waren dieser Fertigung angeschafft (14.13.) Es wird kaum derartige Waren gekauft Die Tatsache, daß die meisten Fälle von definiter oder indefiniter Referentialität bei einem DO-NP sich der Passivität versperren, wogegen das Akkusativ-NP ohne derartige Referenzbeziehung sich mit einem derartigen Passivgenus verträgt, sollte nun nicht dazu verwendet werden, die Erscheinung der Akkusativinkorporation in Zweifel zu ziehen. D.h. man sollte nicht den methodisch bequemen Weg gehen, wegen der eingeschränkten Akkusativ-Passiv-Distribution den in der NP-Morphologie nicht nachweisbaren, aber intuitiv fühlbaren Akkusativ

22

nicht gelten zu lassen. Der Intellektuell interessantere und methodisch sauberere Weg beginnt bei der Einsicht, daß Objektinkorporation ein lexikalischer, vorsyntaktischer Prozeß ist. Lexikalische "Syntaxen" werden sich von basissyntaktischen, allgemein systematischen Syntaxen dadurch unterscheiden, daß die paradigmatische Verfügbarkeit der Objekt-NP eingeschränkt ist. Es ist leicht auszugrenzen, wie dies geschieht: durch Einschränkung der DO-Syntagmatik sowie durch Deindividualisierung und unbestimmte Zählbarkeit der NP im Akkusativ. Diese negative Eigenschaft korreliert starker mit dem Eigenschaftsstatus des intransitiven Prädikats, also [DO + V] o; definite und zählend-individualisierende DO-NPs dagegen sind aufgrund dieser Modifikationsform im Syntagma freier, häufiger austauschbar und deshalb in satzsyntaktischer Beziehung zu V. Wir werden hier nicht von Objektinkorporation sprechen und entsprechend die strukturelle Beziehung zwischen DO-NP und V satzsyntaktisch, also mit [NP + V]yl charakterisieren. Wir sehen also, daß kein Anlaß besteht, daran zu zweifeln,daß der Erscheinungskomplex in (14.) einer systematischen Erklärung zugänglich ist. Ganz im Gegenteil: Das Wechselspiel zwischen dem Pragmatikmodul, das Sätze wie (14.4.14.8. und 14.1O.) ausschließt, und dem Syntaxmodul mit der Objektinkorporation in Passivsätzen verrät deswegen einen systematischen Charakter, weil dort, wo die pragmatischen Faktoren (Zählbarkeit, Definitheit, Individuierung) fehlen, die Syntaxsystematik im Lexikon Erklärungen bereitstellt. So gesehen bildet ein Teil der Lexikonstruktur die Brücke zwischen den zwei divergenten Modulen der Pragmatik und der Satzsyntax. In Abraham 1985. verfolgen wir mögliche Zusammenhänge zwischen der Lexikonorganisation und der Satzsyntax weiter. 7. Schlußfolgerungen In diesem Aufsatz sollte nicht mehr, aber auch nicht weniger gezeigt werden, als daß die Vielfalt der Passiverscheinungen im Deutschen schwer, wenn nicht unmöglich auf der Grundlage der Zweistufentheorie zur Passivierung im Englischen nach den Annahmen von Government and Binding (Chomsky 1981) zu beschreiben ist, Ich habe nicht den Versuch gemacht, für die Passivierung im Deutschen eine umfassende Lösung anzubieten. Es ging vielmehr darum zu zeigen, daß sich verschiedene Erscheinungen im Deutschen dem relativ geschlossenen theoretischen Annahmenkomplex, der für das Englische Gültigkeit hat, entziehen. Trotzdem scheint es mir nicht wünschenswert, die Prinzipien nach (1)-(3) aufzugeben und zwar aus empirischen wie auch aus theoretischen Gründen und völlig unabhängig von der Frage, ob ein Beschreibungsweg nun aus basissyntak-

23

tischen oder lexikalischen Lösungen besteht. Einen solchen Versuch, diese Prinzipien aufrecht zu erhalten, stellt der Umstand, daß ein Passivpartizip eines transitiven Verbs im Deutschen durchaus beim akkusativischen DO stehen kann, auf die schwerste Probe. Wenn wir jedoch,wie angedeutet,bestimttte Typen des DO-Akkusativs nicht mehr als freie durch V° regierte Satzglieder, sondern als V-inkorporiert verstehen, dann läßt sich diese Schwierigkeit umgehen. Der Komplex [DO + V]' ist dann nicht in der Kategorie V , sondern in V°. Dieser VKomplex zeigt alle Eigenschaften einer intransitiven Kategorie. Die verbale Objektinkorporation ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein lexikalischer Prozeß. Die Realisierung der Morphologie des Perfektpartizips hat dabei einem syntaktischen Prozeß wie der Kasusabsorption des logischen Subjekts v o r a u s z u g e h e n , während die Konstituentenbildung zwischen dem DO und V n a c h f o l g t . Dies ist der Grund, warum oberflächlich besehen die Kasusabsorption des logischen Subjekts im Deutschen keine Kasusabsorption des DO-Akkusativs erzwingt. Dies bedeutet natürlich, daß das Denominativierungsprinzip intakt bleibt, weil kein syntaktisch freies DO da ist, welches seine Argumentposition übernehmen muß. Was jedoch nicht intakt bleibt, ist das Junktim des Zweistufentnechanismus. Sonst nämlich wären wir unter Belassung der Prinzipien in (1)-(3) nicht in der Lage, die subjektlosen Passive intransitiver Verben zu erklären. Das Passiv im Deutschen ist also zumindest teilweise ein lexikalischer Prozeß (vgl. Haider 1982 und Nerbonne 1982 zu einer ähnlichen Position). Diese Annahme beläßt uns aber in der Pflicht zu beschreiben und zu erklären, genau wo das Deutsche zwischen einem syntaktischen und einem lexikalischem Passiv trennt, wieso es diese Trennung vorninmt und warum und wo andere verwandte Sprachen wie das Englische und Niederländische dies anders tun. Es ging in diesem Aufsatz darum, erste Schritte zur Beantwortung dieser Frage zu unternehmen.

Literaturverweise Abraham, W. (1985 ) : "Transitivitätskorrelate und ihre formale Einbindung in die Grammatik". Groninger Arbeiten zur germanistischen Linguistik (GAGL) 26: 1-61. (1986): "Linear order in the German middle field". In: W.Abraham/Sj.de Mey (hg.) Topic, focus, and configurationality. (Linguistik Aktuell 4 ) . Amsterdam.

24

Bresnan, J. (1982): "The passive in Lexical Theory". In: J.Bresnan (hg.) The mental representation of grammatical relations. Cambridge, Mass., 3-86. Chomsky, N. (1981): Lectures on Government and Binding. Dordrecht. Grosse, S. (1982): "Syntax". In: Paul/Moser/Schröbler/Grosse, Mittelhochdeutsche Grammatik. Tübingen, 293-510. Haider, H. (1982): "Dependenzen und Konfigurationen". Groninger Arbeiten zur germanistischen Linguistik (GAGL) 21: 1-60. (1983): "The case of German". Groninger Arbeiten zur germanistischen Linguistik (GAGL) 22: 47-100. (1984/1985): "Was zu haben ist und was zu sein hat. Bemerkungen zum Infinitiv". Papiere zur Linguistik 3O/1: 22-36. Hoekstra, T. (1984): Transitivity. Grammatical relations in Government-Binding Theory. Dordrecht. Nerbonne, J.A. (1982): "German impersonal passives: a non-structure preserving lexical rule". In: D.Flickinger/M.Macken/N.Wiegand (hg.) Proceeding of the 1st West Coast Conference on Formal Linguistics. Stanford University, Stanford. Williams, E. (198O): "Predication". Linguistic Inquiry 11: 203-238.

IST

DIE ANORDNUNG DER S A T Z G L I E D E R IM DEUTSCHEN SATZ TATSÄCHLICH

K E I N E M K O N S I S T E N T E N SCHEMA VERPFLICHTET?

Die basic word (besser: p h r a s e ) order des Deutschen U l r i c h A. Schmidt

Ich habe m e i n e n Vortrag mit e i n e r Frage ü b e r s c h r i e b e n , einer rhetorischen Frage a l l e r d i n g s - Sie d ü r f e n also von mir erwarten, daß ich diese Frage mit e i n e m k l a r e n Nein beantworte und daß ich darlege, wie dieses konsistente Schema nach m e i n e r A u f f a s s u n g zu beschreiben ist. Die in der Ü b e r s c h r i f t f r a g e e n t h a l t e n e Präsupposition, nämlich die B e h a u p t u n g , die Anordnung der Satzglieder im deutschen Satz sei keinem e i n h e i t l i c h e n P r i n z i p v e r p f l i c h t e t , stößt s i c h e r l i c h n i c h t auf a l l s e i t i g e Z u s t i m m u n g . Die F o r m u l i e r u n g , die ich hier gewählt habe, soll a u c h , ich gebe es zu, p r o v o z i e r e n . Lassen Sie m i c h deshalb zunächst e r l ä u t e r n , was in dieser F o r m u l i e r u n g n i c h t gemeint ist: N i c h t g e m e i n t ist zum e i n e n eine A u f f a s s u n g w i e : Die deutsche S a t z g l i e d a n o r d n u n g sei f r e i , sei w i l l k ü r l i c h , sei g a n z dem f r e i e n Belieben des Sprechers oder des Schreibers a n h e i m gestellt. I c h w i l l auch n i c h t die A u f f a s s u n g u n t e r s t ü t z e n , die deutsche S a t z g l i e d a n o r d n u n g e n t z i e h e sich mit ihren hochkomplizierten Stellungsgesetzen e i n e r e x a k t e n linguistischen Beschreibung. Die Frage nach dem " k o n s i s t e n t e n Schema" , welches der Anordnung der Satzglieder im deutschen Satz z u g r u n d e l i e g t , s t e l l t sich auch n i c h t so sehr u n t e r sprachimmanenter Betrachtungsweise - h i e r lassen sich gewisse R e g e l m ä ß i g k e i t e n wie die Verbzweitstellung im sog. H a u p t s a t z und die f i n a l e Verbstellung im sog. Nebensatz als Regeln z i t i e r e n - die Frage nach dem z u g r u n d e l i e g e n d e n Schema stellt sich oder genauer: d r ä n g t sich a u f , wenn man den Blick e r w e i t e r t und mit e i n e r " u n i v e r s a l i s t i -

26

sehen B r i l l e " das Problem der d e u t s c h e n S a t z g l i e d a n o r d n u n g b e t r a c h t e t . Den methodologischen H i n t e r g r u n d für m e i n e Überleg u n g e n b i l d e n also jene u n i v e r s a l i s t i s c h e n F o r s c h u n g e n , d i e m a n unter

dem

Stichwort "word-order-universals"

oder u n t e r

dem

Namen ihres bedeutendsten V e r t r e t e r s und Begründers als "Greenberg-Universalien" führt. Bevor ich aber in die Details gehe, lassen Sie mich e i n i g e Worte zur T e r m i n o l o g i e sagen. II

Greenberg dem

hat

seinen f u n d a m e n t a l e n B e i t r a g ü b e r s c h r i e b e n

T i t e l "Some U n i v e r s a l s of Language w i t h

Particular

mit Refer-

ence to the Order of M e a n i n g f u l Elements" ( 1 9 6 3 ) . Greenberg v e r m e i d e t den Terminus 'word o r d e r ' . Viele seiner N a c h f o l g e r tun d i e s n i c h t ; u n d i c h halte dies f ü r eine b e d a u e r l i c h e A u f w e i c h u n g , denn es geht bei den sog. word-order-universals eben n i c h t um die A n o r d n u n g von W ö r t e r n im S a t z , sondern v i e l m e h r um die A n o r d n u n g von j e n e n E i n h e i t e n , die - u n t e r h a l b des Satzk n o t e n s stehend - zu einem Satz k o m b i n i e r t werden, und das sind nun mal Satzglieder/"phrases" und k e i n e W ö r t e r . D e u t l i c h w i r d dieser terminologische M i ß g r i f f auch in dem z e n t r a l e n Begriff der "basic word order". Gemeint ist h i e r b e i die A n o r d n u n g der d r e i H a u p t i n s t a n z e n d e s 'normalen A u s s a g e s a t z e s 1 , nämlich Subjekt, Prädikat/Verb, Objekt, in normaler S t e l l u n g b z w . normaler Betonung. Auch h i e r hat der Vater der topologischen U n i v e r s a l i e n f o r s c h u n g , Joseph Greenberg, sehr v i e l mehr Gespür gehabt als seine N a c h f o l g e r . Greenberg spricht in seinem prog r a m m a t i s c h e n Beitrag von 1963 durchweg von Basic order. In späteren Beiträgen hat sich der Terminus Basic Word Order breitgemacht, ein, w i e gesagt, terminologisch z u m i n d e s t unbef r i e d i g e n d e r , wenn n i c h t ü b e r h a u p t w i d e r s i n n i g e r A u s d r u c k , denn es

geht ja n i c h t um die Stellung von Wörtern im S a t z ,

sondern

um die Stellung von S a t z g l i e d e r n im Satz. Z u t r e f f e n d wäre also die Bezeichnung Basic Phrase Order. Als Basic Phrase Order ergeben sich, r e i n k o m b i n a t o r i s c h , sechs Typen; a l l e r d i n g s kommen von diesen l e d i g l i c h d r e i vor so Greenberg. Greenbergs U n i v e r s a l e l besagt n ä m l i c h , daß nur

27

jene

drei

Stellungstypen

Sprachen v o r k ä m e n ,

als

Basic

Order

in

natürlichen

in d e n e n das S u b j e k t vor dem O b j e k t s t ü n d e ,

Typen SOV, SVO und VSO. 2

also die Greenberg

s t e l l t auf dieser Basis eine Reihe von

Universalien

implikativen

im Zusammenhang mit anderen topologischen F a k t o r e n

zusammen, insbesondere behandelt er die A b f o l g e : Nomen - A d j e k tiv,

Nomen

- G e n i t i v a t t r i b u t und Nomen - A p p o s i t i o n ,

etwa in

der Form: " With

o v e r w h e l m i n g l y g r e a t e r t h a n chance

frequency,

lan-

guages w i t h normal SOV order are p o s t p o s i t i o n a l . ( U 4 ) " " If

a l a n g u a g e has d o m i n a n t order VSO in d e c l a r a t i v e

tences, it puts i n t e r r o r a t i v e

words or phrases

sen-

first

in

i n t e r r o g a t i v e word q u e s t i o n s j\ . !]( U 1 2 ) " Die

von Greenberg h e r a u s g e s t e l l t e n

sind

deren

Stellungsuniversalien

45) sind aus e i n e m z u g r u n d e g e l e g t e n Corpus von

(es 30

Sprachen g e w o n n e n ; es s i n d z u n ä c h s t s t a t i s t i s c h e Z u s a m m e n h ä n g e , die

Greenberg

in dieser Form

zusammenstellt.

In

aus

implikativen

Universalien

der N a c h f o l g e von Greenberg s i n d verschie-

dene G e n e r a l i s i e r u n g s v e r s u c h e u n t e r n o m m e n worden. nennen

die

Bartsch.

A r b e i t e n von Lehmann sowie die von

In

H i e r sind zu Vennemann

diesen A n s ä t z e n wird d i e I n s t a n z des S u b j e k t s

und in

seiner Bedeutung r e d u z i e r t ; es b l e i b t also nur die Binäropposition VO : OV-Sprachen. Diese beiden G r u n d s t r u k t u r e n werden nach d e m P r i n z i p S a t e l l i t : N u k l e u s ( b e i Vennemann: Operator: Operand) mit den ü b r i g e n wort- und s a t z g l i e d t o p o l o g i s c h e n relevanten,

und

zwar

e b e n f a l l s b i n ä r e n Oppositionen

In diesem Modell ist gefordert,

korreliert.

e i n e sehr große topologische K o n s i s t e n z

eine K o n s i s t e n z ,

die in der W i r k l i c h k e i t nicht er-

reicht w i r d . Bartsch und Vennemann weisen auch auf diese Inkonsistenz h i n , i h r Ausweg: " The answer is of course, that languages change." Das Deutsche ist mitten Ordnung

im

nach d i e s e r K o n z e p t i o n e i n e Sprache,

Übergang zu

einer

b e f i n d e t von angestrebten

h i e r a n v g l . Schmidt d e m n ä c h s t ) .

einer

die sich

u r s p r ü n g l i c h e n SVO-

SVO-Ordnung.

(Kritik

28 III

Auf dem H i n t e r g r u n d der s t e l l u n g s u n i v e r s a l i s t i s c h e n Forschung s t e l l t das Deutsche nun t a t s ä c h l i c h ein besonderes Problem d a r . Denn was ist als Basic Phrase Order des Deutschen a n z u s e t z e n ? Das Phänomen e i n e r u n t e r s c h i e d l i c h e n S a t z g l i e d a n o r d n u n g in Haupt- und N e b e n s a t z , das Phänomen der S a t z k l a m m e r , das Phänomen der " I n v e r s i o n " ... All dies sind Probleme, die das Deutsche, so scheint es, zu e i n e r Ausnahmesprache machen, und interessanterweise ist zwar der Basic Phrase Order des Deutschen v e r s c h i e d e n t l i c h nachgeforscht worden, doch eine communis opinio ist n i c h t f o r m u l i e r t worden. Greenberg hat das Deutsche analog zum Englischen als SVOSprache k l a s s i f i z i e r t , doch hält diese E i n o r d n u n g e i n e r genaueren Ü b e r p r ü f u n g n i c h t stand. Das Deutsche ist, mit sehr unterschiedlichen A r g u m e n t a t i o n e n , sowohl als SVO- als auch als SOVa l s a u c h als VSO-Sprache a n a l y s i e r t worden ( v g l . im e i n z e l n e n dazu Schmidt d e m n ä c h s t ) . Marga Reis, auch wenn sie sich letztl i c h , um des P e n t h o u s e - P r i n z i p s w i l l e n für SOV e n t s c h e i d e t , f a ß t den G e s a m t e i n d r u c k dahingehend zusammen, "daß die deutschen W o r t s t e l l u n g s d a t e n mit jeder u n i v e r s a l e n Ordnungshypothese vereinbar s i n d . " ( 1 9 7 4 : 2 9 9 ) . A. Scaglione n e n n t das Deutsche mit " seinen k o m p l i z i e r t e s t e n Systemen von Wortstellungsregeln" (1982:177) denn auch einen T e s t f a l l , eine wissenschaftliche Herausforderung. Scaglione schlägt als Beschreibungsschema -V- vor, l e t z t l i c h eine K a p i t u l a t i o n vor der Komplexität des bpo des Deutschen. K. P. Langes Ä u ß e r u n g : "German is e v e r y t h i n g : VSO, VOS, SOV and OVS ( u n d s i c h e r l i c h ist auch SVO noch zu n e n n e n ) " läßt fast v e r m u t e n , das Deutsche sei eine Sprache ohne bpho b z w . ohne k l a r e bpho. Genau das ist eines der Ergebnisse der Ü b e r p r ü f u n g des a l t e n Greenberg-samples d u r c h John Hawkins ( 1 9 7 9 ) . Hawkins v e r s u c h t / das System der Greenberg-Universalien zu s t r a f f e n und ihnen ein konsistentes Gefüge zu geben. Ausgangspunkt ist das Postulat: "At each stage in their h i s t o r i c a l e v o l u t i o n , languages remain consistent w i t h synchronic u n i v e r s a l implications." ( 1 9 7 9 : 6 2 0 ) .

29

Hawkins die

baut das System der i m p l i c a t i o n a l u n i v e r s a l e

V e r k n ü p f u n g von j e w e i l s drei Daten noch aus und

durch

kommt

zu

sehr k l a r e n u n i v e r s e l l e n Gesetzen. Aus der Gesamtzahl der topologisch

konsistenten

wenige das

Sprachen

Sprachen - n ä m l i c h z . B .

Chinesische - ganz aus,

sondert

Hawkins

einige

ganz

das Deutsche wie übrigens auch

und zwar mit

dem A r g u m e n t ,

daß

diese Sprachen keine k l a r e bpo besäßen und somit keine i m p l i k a t i v e n Aussagen z u l i e ß e n . Angesichts dieser B e f u n d e k a n n man nun mit A. Frage

erheben:

"Ist

n i c h t etwas f a u l ?

Scaglione die

Könnte es n i c h t s e i n ,

daß das Problem f a l s c h g e s t e l l t ist?" IV

So kommen wir also z u r ü c k auf die Frage nach den im

Deutschen,

g e n a u e r die Frage:

Verhältnissen

Wie behandelt das Deutsche

seine. Topics?Der Topic-Begriff b e z e i c h n e t h i e r S a t z g l i e d e r , die d u r c h ihre E r s t p o s i t i o n im Satz g e k e n n z e i c h n e t s i n d . Es g i b t in der Thema-Rhema-Forschung auch andere A r t e n der Festlegung Thema-Rhema-Topic-Comment,given you usw. oder beispielsweise legung über die B e t o n u n g . terien

Beschreibung.

Fest-

intonatorische Kri-

d e f i n i e r t e n Größen halte ich für relevant in

guistischen Größe,

Auch diese über

von

Der B e g r i f f des Topic ist

der

lin-

h i e r eine

d i e sich a u s s c h l i e ß l i c h a u f j e n e E i n h e i t e n b e z i e h t , d i e

s a t z i n i t i a l stehen und d u r c h ihre s a t z i n i t i a l e Stellung an

den

Prätext anschließen. Daß

Topics

spielen, zum

Thema

das

gerade ist

'Thema

1

für das Deutsche

eine

wichtige

Rolle

abzulesen in einer Fülle von

Untersuchungen

(Luise Lutz) - funktionale

Satzperspektive

gerade für das Deutsche. Thompson und Li haben die indogermanischen Sprachen insgesamt als s u b j e k t - p r o m i n e n t e Sprachen k l a s s i f i z i e r t . Lassen Sie m i c h , um das Problem e i n m a l etwas anders zu b e l e u c h t e n , auf ein

weiteres u n i v e r s e l l e s Modell zu sprechen

auf d i e Thompson-Li-Universalien,

kommen,

Universalien,

a u c h etwas mit Satzglied-Topologie zu tun haben. Li

nämlich

die mittelbar Thompson

haben in ihrem programmatischen Beitrag 1976 darauf

und

hinge-

30

wiesen, daß die Größen ' S u b j e k t ' und 'Topic' n i c h t u n t e r eine Kategorie zu subsumieren s i n d , sondern daß es sich bei diesen um wohl zu u n t e r s c h e i d e n d e Größen h a n d e l t . Thompson und Li stehen damit in der Tradition jener Forscher, die seit H. Weil in F r a n k r e i c h und G. v . d . Gabelentz bzw H. Paul in Deutschland u n t e r s c h i e d l i c h e Dimensionen des Subjektbegriffes unterschieden haben; Sie kennen alle die Paul'sche Terminologie, wonach zwischen grammatischen, logischen und psychologischen S u b j e k t e n zu u n t e r s c h e i d e n ist. Thompson und Li u n t e r s c h e i d e n entsprechend v i e r verschiedene Sprachtypen, nämlich I = subject-prominent-languages II = topic-prominent-languages III = both subject- and topic-prominent-languages IV = neither-topic-nor subject-prominent-languages. Dabei sind die B e z e i c h n u n g e n so zu v e r s t e h e n , daß die entsprechenden Sprachen die S u b j e k t - P r ä d i k a t s - S t r u k t u r b z w . die topic-commsnt-Struktur für den G r u n d b a u p l a n ihrer S a t z b i l d u n g b e n u t z e n . Das C h i n e s i s c h e beispielsweise ist nach Thompson und Li ein typischer Vertreter einer topic-prominenten Sprache. Als das z e n t r a l e Merkmal des Topic g i l t die s a t z i n i t i a l e Position, und damit w i r d auch das topic zu einer topologisch w i c h t i g e n I n s t a n z . Als Subjekte sind in dieser Konzeption Größen zu sehen, die s a t z i n t e r n e B e z i e h u n g e n a u f w e i s e n , nämlich bestimmte Beziehungen zum V e r b / P r ä d i k a t , während topics satzt r a n s z e n d e n t e Größen sind ( " d i s c o u r s e n o t i o n " ) ( 1 9 7 6 : 4 6 6 ) , also t e x t s y n t a k t i s c h e Größen. Es bestehen bestimmte "selectional relations" zwischen S u b j e k t und Verb einerseits und zwischen Topic und Prätext a n d e r e r s e i t s . In diesem Sinne sind Topics zu definieren "als s a t z g l i e d f ö r m i g e Elemente, welche a u f g r u n d ihrer s e l e k t i o n a l e n B e z i e h u n g e n zum P r ä t e x t die V e r b i n d u n g des Satzes mit dem v o r a u f g e h e n d e n Kontext leisten und im Satz zur Basis der Aussage w e r d e n . Das Topic ist das "Scharnier zum Prätext". Topics sind d u r c h s a t z i n i t i a l e Position a se c h a r a k t e r i s i e r t und d a m i t positioneil festgelegt. Es erscheint mir logisch u n z u l ä s s i g , topologische Typen zu u n t e r s c h e i d e n auf der Basis

31

von Größen, sind.

die,

wie der T o p i c - B e g r i f f , topologisch i n v a r i a n t

Man kommt so auf e i n e n logischen Z i r k e l , wenn man Topic-

Sprachen tiert. Grund

als

Sprachen m i t s a t z i n i t i a l e n

Möglicherweise dafür,

Sprachen

daß

rd.

als

in diesem logischen

90% aller von Greenberg

s u b j e k t - i n i t i a l e Sprachen

möglicherweise

Fehler

ein

untersuchten

gedeutet

werden; Reihe

verborgen.

habe meine A u f f a s s u n g an anderer Stelle

nächst)

dargestellt

sen

M o d i f i k a t i o n der

zur

interpre-

sind u n t e r diesen t a t s ä c h l i c h eine ganze

von Topic-Sprachen Ich

liegt

Subjekten

und

bei

dieser

( S c h m i d t dem-

Gelegenheit

v i e r The-

Greenberg-Universalien

formuliert.

Bevor wir auf die Beschreibung des Deutschen kommen,

will

ich

d i e g e n a n n t e n Thesen z u s a m m e n f a s s e n d r e k a p i t u l i e r e n : These l; sistent

Die deutsche S a t z g l i e d s t e l l u n g ist

in sich

kon-

und e i n e m synchron k o n s i s t e n t e n topologischen Prin-

zip verpflichtet. These wird

2:

Die A n o r d n u n g der " m e a n i n g f u l elements"

in

im

manchen Sprachen weniger d u r c h s a t z i n t e r n e

Satz

Größen

(V/S/0) als v i e l m e h r d u r c h t e x t o l o g i s c h e Größen r e g u l i e r t . These 3^: fest

Es g i b t S p r a c h e n , in d e n e n die

Kategorie des Topic

in die basic word order des Satzes eingebaut

die A n o r d n u n g der " m e a n i n g f u l elements" V, S, 0

ist

und

beeinflußt.

Aus der These 3 l e i t e t sich ab: These Jh Im Interesse e i n e r u n i v e r s a l e n Sprachtypologie müssen zwei Subtypen von Sprachen u n t e r s c h i e d e n werden, nämlich

1) Sprachen,

in denen die u n i v e r s e l l e n

Kategorien

Topic-Comment in die bwo des Satzes integriert sind. 2) Sprachen, i n

denen d i e

Topic-Comment

ein

universellen Kategorien

topologisches

Superstratum

über der bwo des Satzes b i l d e n . V

So

kommen

Deutschen,

wir

genauer

seine topics? allen

d a n n zu der

Frage nach

zu der Frage:

den

Verhältnissen

Wie behandelt das

im

Deutsche

- Topics sind u n i v e r s e l l e Größen, es g i b t sie in

Sprachen.

Und daß Topics gerade für das

Deutsche

eine

32

wichtige

Rolle spielen,

suchungen

zum Thema;

perspektive etc. Thompson

ist Thema

abzulesen an der Fülle von Unter(Luise

Lutz)/funktionale

Satz-

gerade für das Deutsche.

und

Li haben die

i n d o g e r m a n i s c h e n Sprachen

ins-

gesamt als subjekt-prominente Sprachen k l a s s i f i z i e r t , e i n e , wie ich meine für das Deutsche zu pauschale E i n o r d n u n g . für die Topologie des Deutschen eine große Rolle auch Vennemann v e r m u t e t , aber anders als Topics

und

bewirken

im Deutschen stets

spielen,

hat

z . B . im E n g l i s c h e n , wo

Topikalisierung selbstverständlich

Topics

Daß Topics

eine

möglich

tiefgreifende

sind, Verän-

derung der Syntax: John, I saw him yesterday. T

S

V

Den Hans ( d e n ) habe ich gestern gesehen. T

Im

(0)

V

S

Deutschen sind die Topics - anders als in

Sprachen,

indogermanischen

den romanischen Sprachen oder dem Englischen

in die Satzsyntax/den S a t z b a u :

in die basic phrase

- fest

order

inte-

g r i e r t . Erst d u r c h diese Form der I n t e g r a t i o n von Topics in die bpho

entsteht

die fürs Deutsche so typische

sog.

Inversion.

Dieses

Marotte der dt. in

Sprachen

und

besondere

auch

morphologisch

syntaktisch zu m a r k i e r e n .

Deutsche

ist

S u b j e k t - als

schreiben

der

Sprache, sondern ein M i t t e l , um das Topic ( d a s

also - entgegen der Analyse von

Li - keine reine topic-prominente

sowohl

demnach keine

wie dem Japanischen m i t u n t e r

m a r k i e r t ist) Das

Phänomen ist

Erscheinung

das

Sprache,

auch topic-prominente

Deutsche als e i n e Sprache,

Thompson

sondern

Sprache. in der das

Wir

eine be-

Subjekt

über die Morphologie m a r k i e r t und p o s i t i o n e l l v a r i a b e l i s t ,

in

der das Topic d u r c h das Phänomen der sog. Inversion s y n t a k t i s c h markiert

ist.

Aufgrund Erstposition

der im

topologischen F i x i e r u n g des

Topics

Satz besteht eine topologische

auf

die

Dominanz

des

Topics über das S u b j e k t . Das Topic b e s i t z t e i n e n M a r k e r , einen externen M a r k e r , nämlich den f i n i t e n Verbbestandteil. Dieses

33

g r e n z t das Topic gegenüber dem Comment e i n e r s e i t s gegenüber dem k o n k u r r i e r e n d e n S u b j e k t a n d e r e r s e i t s k l a r und d e u t l i c h ab. Wir haben also zwei h i e r a r c h i s c h geordnete Ebenen zu u n t e r s c h e i d e n :

t

Comment

Für den F a l l , daß das S u b j e k t g l e i c h z e i t i g das Topic ist, rückt es an die i n i t i a l e P o s i t i o n , g e k e n n z e i c h n e t d u r c h den f i n i t e n Verbteil: Karl hat g e s t e r n ein Buch gelesen. Für den F a l l , daß ein anderes Element, wie z . B . ein Temporaladverb Topic w i r d , r ü c k t das Subjekt ins sog. M i t t e l f e l d , und h i e r g i b t es, wie Lenerz ( 1 9 7 7 ) gezeigt h a t , recht feste Regeln. Im " N o r m a l f a l l " steht im M i t t e l f e l d das S vor 0: Dann hat er M a r i a a n g e r u f e n . topic

Tm

comment

Wir können also die S a t z g l i e d s t e l l u n g des Deutschen beschreiben: Das Deutsche hat eine p r i m ä r e , d . h . d o m i n a n t e Topic + Marker - C o m m e n t - S t r u k t u r und eine - a l l e r d i n g s erst sekundär gültige ( d . h . etwa i n n e r h a l b des Comment-Bereichs gültige SOVStruktur. Wie nun s t e l l t sich der deutsche Nebensatz dazu? N u n , ganz a u s g e z e i c h n e t , würde ich m e i n e n . Gerade die u n t e r s c h i e d l i c h e Typologie von H a u p t s a t z und Nebensatz b i e t e t theoretisch Probleme ( v g l . Ross/Rus und das P e n t h o u s e - P r i n z i p ) . G i r i n hat in ( 1 9 8 4 ) Wert gelegt auf das P r i n z i p der L i q u i d i t ä t - w o r u n t e r u.a. die Ü b e r e i n s t i m m u n g der phrase order in Haupt- und Nebensatz g e m e i n t ist; - und diesem P r i n z i p der R i g i d i t ä t genügt das Deutsche nach unserer S t r u k t u r b e s c h r e i b u n g voll und g a n z . Nebensätze s i n d , um mit Harweg zu sprechen, keine satzw e r t i g e n , sondern im allgemeinen nur s ä t z t e i l w e r t ige Größen.

34

Echte

Nebensätze

können also,

indem sie

den

aussagetheore-

tischen Status von S a t z t e i l e n und n i c h t von Sätzen haben,

auch

keine eigene Topic-Comment-Struktur haben; sie sind l e d i g l i c h Teile einer solchen S t r u k t u r : danach ich ein Buch gelesen. nachdem ich nach Hause habe gekommen war Topic

Tm

Die S a t z g l i e d a n o r d n u n g u n t e r h a l b des Topic-Bereichs ist Deutschen

konsistent:

Mittelfeld, satz,

Sei

es

für

die

also im

Satzgliedordnung

im

sei es für die Satzgliedstellung nach einem Neben-

stets g i l t SOV als sekundäre,

d . h . als von Topic domi-

n i e r t e Abfolge, Wir

können die Topologie des Deutschen also als

kennzeichnen.

Sie

wird d o m i n i e r t d u r c h die I n s t a n z des T o p i c ,

auf einer sekundären Ebene g i l t SOV: Topic V,Tm Comment Erg (S-0) V Topic Tx Vtm

"biplanar"

Comment (S-O-V)

Anmerkungen

1

Vgl. hierzu Schmidt (1986), Scaglione (1981).

2

Weitere Details bei Schmidt (1986).

1. textologische Ebene 2. s a t z i n t e r n e Ebene

35

Literatur 4 l Grach, Erich ( 1963, 1937): Grundgedanken der Deutschen Satzlehre. Darmstadt. Greenberg, Joseph H. (1966): "Some universale of grammar with particular reference to the order of meaningful elements." In: Greenberg, Joseph H.: Universals of Language. Cambridge, Mass.-London. Harweg, Roland (1972): "Zur Textologie der daß-Sätze." In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 39, 77-97. Harweg, Roland (1971): "Zum Verhältnis von Satz, Hauptsatz und Nebensatz." In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 38, 16-46. Hawkins, John A. (1979): "Implicational universale as predictors of word order change." In: Language 55/3, 618-698. Körner, Karl-Hermann (1985): "Zu guter Letzt: Sprachtypologie und Wortstellung (Oder: Wie 'spanisch 1 ist uns z.B. die rumänische Wortstellung?)" In: Kürschner, Wilfried/Vogt, Rüdiger (Hrsg.): Grammatik, Semantik, Textlinguistik. Akten des 19. Linguistischen Kolloquiums Vechta 1984, Band 1. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 241-260. Li, Charles N./Thompson, Sandra (1976): "Subject and topic. A new typology of language." In: Li, Charles N. ( e d . ) : Subject and Topic. New York, 459-489. Lutz, Luise (1981): Zum Thema 'Thema'. Einführung in die Thema-Rhema-Theorie. Hamburg. Reis, Marga (1974): "Syntaktische Hauptsatz-Privilegien und das Problem der deutschen Wortstellung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 2, 299-327. Scaglione, Aldo (1981): Die Theorie der Wortstellung im Deutschen. Stuttgart. Schmidt, Ulrich A. (1986): Impersonalia, Diathesen und die deutsche Satzgliedstellung. Bochum.

ZUM KONTPQLLPROBLEM IM DEUTSCHEN: rNFINITIVKOMPLEMENTE BEI WAHKSEHT-lUNGSVERBENi

Peter Eisenberg

Infinitivkarplemente mit zu wie in 1 und 2 sind subjektlos, sie gewinnen ihren Subjektaktanten meist durch Bezug auf eine der übrigen Ergänzungen des Matrixverbs. Die jeweils gewählte Ergänzung (1) Paula beschließt zu verreisen. (2) a.

Paula droht dem Fritz, nicht zu unterschreiben.

b. Paula zwingt den Fritz, mit der Eisenbahn zu fahren. c. Paula befiehlt dem Fritz, sie mitzunehmen. wird das Indirekte Subjekt zum Infinitiv'genannt. In (1) und (2)a ist das Subjekt des Matrixverbs indirektes Subjekt zum Infinitiv, in (2)b ist es das direkte und in (2)c das indirekte Objekt. In der Literatur zur Grairmatlk der zu-Infinitive bzw. ihrer englischen Äquivalente spricht man meist vom indirekten Subjekt als der KontrollNP und von seiner Bestimmung als dem Kontrollproblem. Einigkeit besteht darüber, daß die Kontrollbeziehungen vollständig nur unter Berücksichtigung von syntaktischer, semantischer und pragmatischer Information erfaßbar sind, aber es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wo der Kern der zu beschreibenden Regularitäten liegt.Während Chomsky - wenn auch zuletzt (1981: 74ff.) anscheinend mehr nolens als volens am seit Rosenbaum 1967 etablierten syntaktisch-konfigurationellen Prinzip festhält, bekennen sich andere Arbeiten vorsichtig (Stechow/Sternefeld 1985: 397ff.) oder dezidiert (Siebert-Ott 1983; 1985) zu einer lexikalisch-semantischen Grundlegung der Kontrolltheorie. Paradefälle aus dem Deutschen sind für Siebert-Ott (1983: 98ff) Verbpaare wie befehlen und anordnen, die trotz unterschiedlicher syntaktischer Valenz gleiches Kontrollverhalten zeigen, eben weil sie bedeutungsverwandt seien. In beiden Sätzen aus (3) ist Subjektkontrolle ausgeschlossen. (3) a. Karl befiehlt dem Paul, über den Prozeß zu informieren, b. Karl ordnet an, über den Prozeß zu informieren. (4) a. Karl befiehlt dem Paul, über den Prozeß informiert zu werden, b. Karl ordnet an, über den Prozeß informiert zu werden.

38

Insbesondere ist Subjektkontrolle auch in (3)b ausgeschlossen, obwohl anordnen gar kein Objekt zuläßt, das als indirektes Subjekt in Frage käme. Setzt man die Komplemente dagegen ins Passiv, so ist bei beiden Verben Subjektkontrolle möglich (4). Noch einen Schritt weiter geht Fanselow (1985: 363f.). Ein Verb wie befehlen habe in der Regel ein Komplement, das eine Handlung bezeichne. Diese Handlung soll van der mit dem Dativobjekt bezeichneten Person vollzogen werden (3a). Die mit befehlen verbundenen Kontrolleigenschaften lassen sich auf diese Weise systematisch charakterisieren. Bezeichnet der zu-Infinitiv nun nicht eine Handlung, die von der im Dativ genannten Person vollzogen werden könnte, so ist die Folge nicht unbedingt, daß ein ungrammatischer Satz entsteht. Vielmehr wird auf eine entsprechende Handlung geschlossen,und entsprechend werden die Kontrollbeziehungen aufgebaut. In 4a bezeichnet das Komplement keine Handlung der geforderten Art. Gemeint ist, daß Karl dem Paul befiehlt, "das Nötigste zu tun", damit Karl (oder Paul) über den Prozeß informiert wird. Die tatsächlich auftretende Kontrollbeziehung sei also nur pragmatisch zu erfassen. Beim ^u-Infinitiv in Objektfunktion sei, so argumentiert Fanselow im Anschluß an eine These von Manzini (1983), grammatisch nur die Tatsache geregelt, daß ein Kantrollelement im Matrixsatz vorhanden ist. Nicht grammatisch geregelt sei, welches Nominal es ist. Die angedeutete Diskussion über die Grundlagen der Kontrollbeziehung soll im folgenden an einem Punkt weitergeführt werden, indem der zuInfinitiv auf andere Kcmplementformen in derselben syntaktischen Funktion bezogen wird. Wir setzen an beim Verhältnis des zu-Infinitivs zum daß-Satz. Eine kleine Gruppe von Verben nimmt den ^u-Infinitiv als Objekt, ohne rlaft diese Position auch mit einem daß-Satz besetzt werden könnte (5). (5) a. Karola wagt, die Tür zu öffnen. b. *"Karola wagt, daß sie die Tür öffnet. c. beabsichtigen, sich weigern, wagen, versäumen, versuchen, zögern.

39

Bis auf versäumen,das besondere Probleme aufwirft, haben die Verben in 5c eine intentionale Bedeutung. Die im Subjekt genannte Person will oder will nicht die im Komplement genannte Handlung ausführen. Ein anderer Handelnder kommt angesichts der Verbbedeutung nicht in Frage, daher wird der daß-Satz nicht gebraucht. Die Exklusivität des zu-Infinitivs geht zusammen mit einer strikten Festlegung auf Subjektkontrolle. Beides gemeinsam paßt gut ins Bild einer lexikalisch-semantischen Fundiertheit der Kontrollbeziehung. Die weitaus meisten Verben mit zu-Infinitiv in Cbjektposition lassen auch einen daß-Satz zu. Bei geeigneter Subjektwahl für den daß-Satz ist das Verhältnis der beiden zueinander häufig paraphrastisch.in den Einzelheiten ist es aber noch analysebedürftig. Ebert (1985) etwa meint, zumindest für bestimmte Verbgruppen Bedeutungsunterschiede festzustellen. Und es ist keineswegs so, daß jeder ^u-Infinitiv durch einen einfachen daß-Satz mit festliegendem Tempus ersetzbar wäre: (6) a. Käthe vergißt, Matthias abzuholen. b. PKäthe vergißt, daß sie Matthias abholt. c. Käthe vergißt, daß sie Matthias abholen wollte. (7) a. Daß du träumst hilft nicht, das Chaos zu beseitigen. b. ?Daß du träumst hilft nicht, daß jemand das Chaos beseitigt. c. Daß du träumst hilft nicht, daß das Chaos beseitigt wird. Warum der daß-Satz in 6 und 7 eine besondere Form hat, kann an dieser Stelle nicht besprochen werden. Unser Interesse gilt einer anderen, sich logisch anschließenden Frage: Gibt es eine dritte Klasse von Verben derart, daß sie keinen ^u-Infinitiv als Objekt nehmen, auch wenn sie in dieser Funktion einen daß-Satz akzeptieren? Gibt es sie, dann liefert sie uns möglicherweise Hinweise auf die besondere Leistung des ^u-Infinitivs und damit auf die Grundlagen der Kontrollbeziehung. Dies kann zumindest dann erwartet werden, wenn es sich bei den 'reinen daßVerben1 um eine semantisch homogene Klasse handelt. Die Frage sollte mit Hilfe der Übersichtswerke zur Verbvalenz beantwortbar sein, jedoch scheinen diese die Klasse der Verben mit zu-Infinitiv generell zu eng zu fassen und damit die der 'reinen daß-Verben' zu weit. So führt Mater (1971) fast 10.00O Verben mit Akkusativobjekt, aber nur etwa 25O mit zu-Infinitiv auf. Das würde bedeuten, daß nur jedes

40

vierzigste transitive Verb als direktes Objekt den jzu-Inf akzeptiert. Stichproben zeigen, daß der Anteil wesentlich höher sein dürfte. Heibig/Schenkel (1975) nennen als transitive Verben mit daß-Objekt, die keinen ^u-Inf nehmen können, zahlreiche Verba sentiendi und Verba dicendi im weiteren Sinne wie die in 8a, b, daneben auch solche aus (8) a. ansehen, nachsehen (plus Dat) , beobachten, erfahren, entdecken; b. antworten, entgegnen, erwidern, wiederholen, anvertrauen, verraten; c. erleben, verdanken, loben, zeigen, klären; anderen seman tischen Feldern wie die in 8c. Tatsächlich lassen aber alle diese Verben ein InfinitLvkomplement zu. Ein ähnliches Resultat liefert das Valenzlexikon von Engel/Schumacher (1978). Allein unter Buchstabe A sind anzutreff enderweise die folgenden als 'reine daßVerben ' aufgeführt : (9) abnehmen (plus Dat) , ansehen (plus Dat) , annehmen, anzeigen, aufschreiben, ausnutzen, ausrechnen. Engelen (1975: 43; 1O1) weist in dieser Gruppe u. a. die zweistelligen in 1Oa und die dreistelligen in 10b aus. (10) a. entdecken, feststellen, herausbekommen , herausfinden, wahrnehmen. b. beweisen, demonstrieren, erklären, verdeutlichen, vergegenwärtigen. Karen Ebert (1985) schließlich führt eine Gruppe von "kognitiven Prädikaten" an, die ihrer Auffassung nach keinen ^u-Inf als Objekt nehmen können, unter ihnen die in 11 a. Von diesen scheint aber (11) a. entdecken, mitteilen, vermuten, wissen. ^ "t~f^£^f^lc"t~ ^ · J» betrogen worden zu sein. vermutet ' nur wissen das Infinitivkomplement tatsächlich auszuschließen, die anderen lassen es zu (11b). Als harter Kern der gesuchten Verbklasse verbleiben nach solchen Abstrichen nur wissen sowie die Verba sentiendi im engeren Sinne ('Wahrnehmungsverben1 ) : (12) sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken, spüren, wissen.

41

Semantisch ist dies Verhalten der Wahrnehmungsverben sofort einsichtig. Ihr direktes Objekt bezeichnet den wahrgenommenen Gegenstand bzw. den wahrgenommenen Sachverhalt. 12 enthält Verben für die fünf Sinne sowie das abstraktere spüren. Zwar ist keineswegs ausgeschlossen, daß die vom Subjekt bezeichnete Person selbst am wahrgenommenen Sachverhalt beteiligt ist. Ein Satz wie Karl hört, daß er auf einen Ast tritt ist weder ungraimiatisch noch auch nur semantisch irgendwie auffällig. Daß er nicht paraphrasierbar ist mit ^Karl hört, auf einen Ast zu treten kann aber so interpretiert werden/ daß mit den Wahrnehmungsverben primär eine Beziehung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem vom Subjekt unabhängigen Sachverhalt bezeichnet wird. Außer mit dem daß-Satz kann das direkte Objekt bei den Wahrnehmungsverben mit einem indirekten Fragesatz besetzt sein: Karl hört, daß/ wo/warum/wen Egon ruft. Die Besetzbarkeit der Objektstelle mit einem daß-Satz und einem indirekten Fragesatz ist ein sicheres Kennzeichen für die Faktizität. Der wahrgenommene (vom daß-Satz bezeichnete) Sachverhalt wird vom Sprecher als zutreffend unterstellt. In engem Zusantnenhang damit ist die Möglichkeit eines sog. ergänzenden wenn-Satzes zu sehen. Als temporaler wie konditionaler Nebensatz ist die primäre Funktion des wenn-Satzes die eines Adverbials wie in 13a: (13) a. Karl hört die Eisenbahn, wenn das Fenster offen ist. b. Karl hört, daß die Eisenbahn vorbeifährt. c. Karl hört, wenn die Eisenbahn vorbeifährt. Bei bestirnten faktiven Verben kann der wenn-Satz aber auch in der Position des direkten Objeks stehen. Er wird hier verwendet, wenn ausdrücklich Nicht-Faktizität signalisiert werden soll (Fabricius-Hansen 198O). Mit 13c ist - im Gegensatz zu 13b - nichts darüber gesagt, ob die Eisenbahn tatsächlich vorbeifährt oder nicht. Bei den weitaus meisten Verben mit ergänzendem wenn-Satz ist dieser an ein Korrelat gebunden, in der Regel an es; (14) a. Emna bedauert, daß du nicht konnist. b. X-Etnma bedauert, wenn du nicht kommst. c. Emma bedauert es, wenn du nicht kannst.

42

Die Obligatorik eines selchen Korrelates könnte der Tatsache geschuldet sein, daß der wenn-Satz "eigentlich1 ein Adverbialsatz ist. Soll er als Objekt fungieren, so benötigt er den Nominalausdruck es zur Einpassung in diese für ihn ungewöhnliche Funktion. Die Wahrnehmungsverben gehören zu den wenigen, bei denen ein Korrelat nicht notwendig ist, sofern der wenn-Satz im Nachfeld steht. Dies Faktum legt die Deutung nahe, daß der ergänzende wenn-Satz bei den Wahrnehmungsverben nicht eine periphere Erscheinung ist, sondern zum Kernbereich ihrer Grammatik gehört. Die Unterscheidung von Faktizität und Nicht-Faktizität spielt für sie eine besondere Rolle. Ein weiteres Merkmal der Wahrnehmungsverben ist die Besetzbarkeit der Objektstelle mit einem wie-Satz, der nicht indirekter Fragesatz sein muß (Eggers 1972; Vater 1976). 15a hat zwei Bedeutungen, die näherungsweise mit 15b und 15c wiedergegeben sind! (15) a. Karl hört, wie Egon kennt. b. Karl hört, auf welche Weise Egon kanmt. c. Karl hört, daß Egon kommt. Mit der Lesung von 15b ist der wie-Satz indirekter Fragesatz, er steht hier in paradigmatischer Beziehung zu den anderen w-Sätzen und zum ob-Satz. Anders bei der Lesung von 15c. Die Beinahe-Paraphrasierbarkeit des daß-Satzes durch einen wie-Satz ist ein Charakteristikum bestürmter Verba dicendi und Verba sentiendi. Bei den Wahrnehmungsverben hat der wie-Satz dem daß-Satz gegenüber ein spezielles Bedeutungselement. Er signalisiert, daß der wahrgenommene Sachverhalt sich gleichzeitig mit dem Wahrnehmungsvorgang abspielt. 15a besagt, daß Karl das Kannen von Egon unmittelbar wahrnimmt, etwa weil Egon Lärm beim Aufschließen der Haustür macht. 15c ist nicht unbedingt an diese Interpretation gebunden. Vater (1976: 22O) spricht davon, daß der wieSatz im Gegensatz zum daß-Satz das semantische Merkmal "koextensiv" hat. Mit dem ergänzenden wie-Satz neben dem daß-Satz ist hier die Signalisierung von unmittelbarer Wahrnehmung grainnatikalisiert. Und dieselbe Funktion hat der Acl. Einmal abgesehen von der Ambiguität des wieSatzes ist 16c jedenfalls eher paraphrastisch zu 16b als zu 16a:

43

(16) a. Karl sieht, daß Egon kommt. b. Karl sieht, wie Egon kommt. c. Karl sieht Egon kommen. Der Acl ist bei den Wahrnehmungsverben möglich mit Ausnahme von schmecken und möglicherweise riechen (Clement 1971: 249f.). Für den Geschmacks- und den Geruchssinn sind die Verbalisierungsmöglichkeiten also in diesem Punkt beschränkt, was möglicherweise mit allgemeineren Beschränkungen der beiden gegenüber den übrigen Wahrnehmungsverben zusammenhängt (Grinm 1966; Weisgerber 1928). Abgesehen von einigen Zweifelsfällen wie heißen mit der obsoleten direktiven Bedeutung (Er heißt dich bleiben) und dem Sonderfall lassen kommt der Acl im Deutschen nur bei den Wahrnehmungsverben vor (Duden 1984: 633). Zu den Zweifelsfällen gehört auch wissen, auf das wir später kurz zurückkomnen. Für die grammatische Analyse des Acl spielt in der neueren Diskussion besonders das Verhältnis von lassen einerseits und den Acl-fähigen Wahrnehmungsverben andererseits eine Rolle, wobei es vor allem darum geht, ob der Acl generell oder bei den Wahrnehmungsverben oder überhaupt nicht als eingebetteter Satz anzusehen ist (Hyvärinen 1984; McKay 1985). Für unseren Zusammenhang ist die Frage der internen Struktur des Acl und seiner Einbettung nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Viel wichtiger ist, daß Acl und zuInfinitiv strikt komplementär verteilt sind. Denn während der zu-Infinitiv bezüglich der Wahl seines Subjektaktanten nicht festgelegt ist, d.h. ihn ebensogut dem Subjekt wie einem Objekt des Matrixverbs entnehmen kann, findet der Acl den Subjektaktanten iimner im Akkusativnominal. Auch wenn umstritten ist, ob dieser Akkusativ als direktes Objekt zum Matrixverb zu gelten hat, dürfte doch inkontrovers sein, daß er in enger paradigmatischer Beziehung zum direkten Objekt steht. Charakteristisch für die Wahrnehmungsverben ist eben das Nebeneinander von Karl hört Egon und Karl hört Egon kommen, wobei die Bedeutung des ersten Satzes in der Regel (wenn auch nichts ausnahmslos) aus der Bedeutung des zweiten folgt. Insgesamt kann der Acl als formal und semantisch Objektorientiert1 bezeichnet werden. Mit seinem Auftreten bei den Wahrnehmungsverben ist die Trennung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Sachverhalt wohl am eindeutigsten grammatikalisiert.

44

Das bisher Besprochene gilt, wenn die Wahrnehmungsverben mit ihrer konkreten, an Sinnliches gebundenen Grundbedeutung verwendet werden. Wie sich ihr Verhalten bei abstrakter ('übertragener') Bedeutung insgesamt ändert, kann nicht im Einzelnen dargelegt werden. Zweifelsfrei ist jedoch, daß sie dann einen ^u-Infinitiv als Objekt akzeptieren: (16) a. Karl sieht, von Emilie hereingelegt worden zu sein. b. Lieselotte hört, den Vertrag nicht bekamen zu haben. c. Helmut fühlt, im ganzen Land anerkannt zu sein. d. Erich spürt, dies nicht mehr lange durchhalten zu können. Intellektuelles Wahrnehmen ist nicht wie sinnliches an die Trennung von Subjekt und wahrgenonrnenem Sachverhalt gebunden. Die Verteilung des ^u-Infinitivs ist hier unndttelbar semantisch fundiert. Was sich angesichts der Verteilung des ^u-Infinitivs auf die Verbparadigmen (Beispiele 5 bis 12) und des unterschiedlichen Kontrollverhaltens der Verben als Prinzip nahelegt, drängt sich angesichts des Verhaltens der Wahrnehmungsverben geradezu auf: Die Regularitäten zur Bestimmung des indirekten Subjekts infinitivischer Komplemente sind lexikalisch-semantisch zu fundieren, etwa auf der Basis einer Theorie über die Verteilung der Aktantenfunktionen. Soweit diese Verteilung zu syntaktischer Kategorisierung führt, wären Kontrollbeziehungen syntaktisch faßbar, und nur wenn eine semantische Rekonstruktion nicht möglich ist, wäre auf eine pragmatische auszuweichen. Nichts gesagt wurde bisher zum Fehlen des ^u-Infinitivs bei wissen. Wie in manch anderer Hinsicht steht wissen mit dieser Eigenschaft unter seinen Bedeutungsverwandten wie sicher sein, vermuten, ahnen, glauben, annehmen allein. Die Bedeutung von wissen ist offenbar konkreter und stärker auf sinnliche Erfahrung bezogen als uns das im allgemeinen bewußt wird. Das Fehlen des ju-Infinitivs in Objektposition zeigt, daß wissen auch synchron etwas von der Bedeutung seines Etymon (dt. weis, lat. vid/vis, idg. *uid) bewahrt hat (Eisenberg 1986: 86ff.).

45

Literatur Chomsky, Noam (1981): Lectures on Government and Binding. Dordrecht: Foris. Fabricus-Hansen, Catherine (198O):"Sogenannte ergänzende wenn-Sätze. Ein Beispiel semantisch-syntaktischer Argumentation." In: Dyhr, MDgens et al. (eds.): Festschrift für Gunnar Beck. Kopenhagen: Inst. f. Germ. Phil., Universität, 16O-188. Clement, Daniele (1971): "Satzeinbettungen nach Verben der Sinneswahrnehmung". In:Wunderlich, Dieter (ed.):Probleme und Fortschritte der Transformationsgraimnatik. München: Hueber, 245-265. Duden (1984): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim usw. Bibl. Inst. (4. Aufl.). Ebert, Karen (1985):"Greek V e les decouvertes de la linguistique et de l'ethnologie modernes dans son petit ouvrage sur Taiti. Et quel est le sens de l 1 ouvrage de Diderot? Tout d'abord, Diderot nous propose une revalorisation du monde dit "sauvage", au detriment du monde civilise, avec toutes les implications, tous les determinismes qu'il comporte. Deuxiemement, il s'agit d'un grand plaidoyer pour la tolerance, entre les civilisations, les nations et, tout simplement, entre les humains. C'est gu'un monde depourvu de tolerance, de comprehension mutuelle, est un monde malheureux, d4prave, inhumain, indigne et injuste. Bref, on dirait que Diderot anticipe le leitmotiv d ' u n chercheur americain contemporain, John Rawls, pour lequel justice signifie a la fois tolerance ("toleration, 1971:215) et fairness (ebd.: 2 2 ) .

Remarques 1

2

3

4

5

Pour Roland Mortier, la pensee de Diderot est une "pensee questionneuse, qui suscite les problemes moins pour les resoudre que pour inquieter et troubler, pour obranler notre confort intellectuel ." ( i g e i j 292). Clyde Kluckhohn fait tout d'abord l'eloge de Bronislaw Malinowski en ces termesi "Malinowski normally documents his 'context of situation' in almost every particular." Mais apres, il fait quelques restrictions sur la methode de Malinowski (1962: 248 f . ) . Robert Lado ( 1 9 5 7 : 1 1 0 ) j " H o w to compare two cultures. 'Culture', as we understand it here, is synonymous with the 'ways of people'." Dell Hymes dit au sujet de la methode de son collegue Joshua A. Fishman: "Professor Fishman discusses the famous 'SapirWhorf hypothesis' on the linguistic form of behavior and world view, ending with a conception of the relation between language and behavior as one of interdependence, rather than any form of oneway domination."(Joshua A. Fishman 1972: F o r e w o r d , p. VI ). Joshua A. Fishman (1972: 122): "Just as an understanding of social-behavior-through-languaqe must depend upon a general theory of society so the unterstanding of language maintenance or language shift must depend on a theory of sociocultural contact and sociocultural change."

174 6

7

Cfr. Hervey 1982, chapitre 2: "Semiotics as a Behavioral Theory". Mais le terme "semiotic" n ' e a t pas uniquement un usage americain, c'est Michael Halliday, en Angleterre, qui utilise le terme egalement. Un contemporain de Diderot donne la definition suivante du drame morait "II [le drame moral] met en action ce qui fatigue toujours en raisonnant." (Nicolas Bricaire de la Dixmorie: 1769: 295).

8

J.B.R. Robinet ( 1 7 6 1 : 144): "Tout meurt avec le corps, disoit le Stolcien/ done Je m'apliquerai ä rendre la vie presente aussi bonne qu'il se peut, par 1'exercice des vertus sociales."

9

Cfr. Kastovsky (1982: Cfr.

28).

aussi Gregory/Carroll (1978: 87).

Bibliographie

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III.

SPRECHAKTTHEORIE UND GESPRACHSANALYSE

HOW TO PROMISE REVISITED

Eine Taxoncmie kotmissiver Sprechakte Jürgen Graffe

1. Vorbemerkungen Ziel meiner Überlegungen ist es, (i) eine Taxoncmie kommissiver Sprechakte zu skizzieren, (ii) allgemeine Charakteristika der Untermuster von KOM4ISSIVA hinsichtlich ihrer Handlungsbedingungen und ihrer Realisierbarkeit in Sprechaktsequenzen aufzuzeigen sowie (iii) exemplarisch einige der Äußerungsformen zu nennen, mit denen man die einzelnen Untertypen realisieren kann. Auf dem Hintergrund der in der Moralphilosophie bestehenden Diskussion zwischen deontischer Logik und utilitaristischer Tradition haben sich in Linguistik und Sprachphilosophie zwei Analysevarianten zur Beschreibung der konstitutiven Eigenschaften eines VERSPRECHENS, des Uritertyps kommissiver Sprechakte par excellence, herausgebildet. VERSPRECHEN gelten zum einen als Übernahmen von Handlungsverpflichtungen, wie es zum Beispiel die Verpflichtungsanalyse Searles (1969) nahelegen würde . Auf der anderen Seite sind sie die sprachlichen Handlungen, bei deren Vollzug, so eine Erwartungsanalyse von VERSPRECHEN, Sp2 allenfalls berechtigte Erwartungen hinsichtlich der von Spl angekündigten Handlungen haben könnte . Eine Erwartungsanalyse allein kann den Begriff des VERSPRECHENS nicht hinreichend erklären, da sie keinen Unterschied zwischen den aus VERSPRECHEN hervorgerufenen Hörererwartungen hinsichtlich einer vom Sprecher zu vollziehenden Handlung macht und den Erwartungen, die sich aus bloßen Absichtsbekundungen gegenüber dem Hörer ergeben; dabei hätte der Sprecher das Recht, seine Meinung hinsichtlich einer von ihm angekündigten Handlung zu ändern . VERSPRECHEN sind also als "undertaking [...] an obligation" (Searle 1969: 178) aufzufassen . 2. Untertypen kommissiver Sprechakte Geht man von einer allgemeinen Definition kommissiver Sprechakte aus und versteht sie in Anlehnung an Searle (1976) als die sprachlichen Handlungen, mit denen sich ein Sprecher auf zukünftiges Handeln festlegt oder sich dazu verpflichtet , könnte man auf der Basis der Kategorien'Erwartung'und'Verpflichtung 'zu einer ersten Einteilung der KONMISSIVA gelangen. Es sind die

180

Sprechhandlungen des kcmnissiven Typs zu unterscheiden, mit denen Spl sich auf zukünftiges Handeln festlegt, ohne daß er sich gegenüber Sp2 verbindlich verpflichtet. Sp2 hat hinsichtlich des Vollzugs der angekündigten Handlung allenfalls Erwartungen, aber kein unmittelbares Interesse daran. Zu diesen Spl-präferierten Untermustern gehören die Typen ABSICHT BEKUNDEN und VORSATZ BEKUNDEN. (1) Morgen fahre ich in die Schweiz. (2) Im nächsten Jahr rauche ich nicht mehr. Demgegenüber sind Sp2-präferierte Untermuster zu unterscheiden, bei denen Sp2 an der im propositionalen Gehalt des Sprechakts angekündigten Handlung sehr wohl ein Interesse hat und bei deren Vollzug Spl sich zum Handeln gegenüber Sp2 verpflichtet. Typische Beispiele für Sp2-präferierte Untermuster sind ANBIETEN, SICH BEREIT ERKLÄREN, VERSPRECHEN oder ZUSAGEN. Im Hinblick darauf, daß das Handlungsmuster VERSPRECHEN als Übernahme einer Handlungsverpflichtung gilt, wobei gleichzeitig das Interesse von Sp2 eine logisch notwendige Voraussetzung für das Vorliegen einer Verpflichtung darstellt, ist zu fragen, woher Spl wissen kann, daß Sp2 den Vollzug der genannten Handlung präferiert. Möglich ist die Übernahme einer Handlungsverpflichtung durch die Realisierung von VERSPRECHEN oder ähnlicher Typen nur, wenn Sp2 vorher sein Interesse durch den Vollzug einer Initialsprechhandlung vom Typ AUFFORDERN zu erkennen gegeben hat. (3a) Sp2: Kannst du in der nächsten Woche meine Hausarbeit schreiben? (3b) Spl: Ja, kann ich wohl machen. KOMMISSIVA wie VERSPRECHEN also, mit denen man unmittelbar Handlungsverpflichtungen eingeht, die also obligationskonstitutierend sind, können nur als sequenzgebundene Sprechhandlungstypen beschrieben werden und sind nicht, wie es z. B. die Analyse Searles (1969) nahelegt, als isolierte Typen sprachlicher Handlungen aufzufassen. Besondere Bedingungen des propositionalen Gehalts des Untermusters, in dem zum einen die Rede von Handlungen ist, die Spl tun will, zum anderen von Handlungen gesprochen wird, die Spl dem Sp2 zu tun erlaubt, machen eine Unterscheidung zwischen voluntativen und permissiven Untertypen erforderlich. Zu den permissiven Typen gehören ERLAUBEN, GESTATTEN und GENEHMIGEN. Spl legt sich bei der Realisierung solcher Handlungsmuster darauf fest, daß er den normalerweise unter Sanktionen stehenden Vollzug einer von Sp2 in Aussicht genommenen Handlung nicht bestrafen wird . Von solchen"obligationskonstituierenden" (sequenzgebundenen) KOMMISSIVA sind die Typen ANBIETEN und SICH BEREIT ERKLÄREN zu unterscheiden, bei denen Spl die Initiative zur Klärung der Präferenz bei Sp2 ergreift. Charakteri-

181

stisch für diese Untermuster ist es, daß Spl in initialer Position den Vollzug einer Handlung ankündigt, von der er vermutet, daß Sp2 daran ein Interesse hat. Im Unterschied zu obligationskonstituierenden Untermustern bedarf es zur vollständigen Etablierung einer Handlungsverpflichtung für Spl entsprechender Reaktionshandlungen von Sp2, die generell als ANNEHMEN aufgefaßt werden können: (4a) Spl: Soll ich morgen die Schwiegermutter zum Flughafen bringen? (4b) Sp2: Ja, mach das. Diese annahmebedingten Untermuster sollen im Unterschied zu den aufforderungsbedingten Typen als"obligationsvorbereitend"bezeichnet werden. Um im folgenden die auf die Abfolge zweier Sprechhandlungen bezogene Analyse der KOMMISSIVA auf weitere Züge in der Sequenz auszudehnen, ist von der Situation auszugehen, in der hinsichtlich der in der Aufforderung genannten Handlung bei Spl und Sp2 anfänglich divergierende Präferenzen bestehen. Sp2 realisiert im ersten Zug eine Aufforderung von Typ symmetrische BITTE, die Spl zunächst ZURÜCKWEIST. Als systematisch mögliche Reaktionsalternative auf einen solchen negativen Bescheid kann Sp2 eine Handlung vom Typ INSISTIEREN vollziehen , um das in der Aufforderung angestrebte Handlungsziel doch noch zu erreichen. Spl gibt dann aufgrund der anfänglich divergierenden Präferenzlage mit Unwillen oder deutlicher Zurückhaltung zu erkennen, daß er in der gewünschten Weise handeln wird. (5a) Sp2: Kannst du mir morgen beim Umzug helfen? (5b) Spl: Nein, ich habe keine Zeit. (5c) Sp2: Aber es ist sehr wichtig für mich. (5d) Spl: Na gut, wenn du unbedingt willst, mache ich es./ (5e) Wenn es unbedingt sein muß, mache ich es. KOMMISSIVA dieses Typs, die erst nach der beschriebenen Vorfeld-Interaktion systematisch realisiert werden können und die hier allgemein als NACHGEBEN bezeichnet werden sollen, sind als"obligationskonzedierende"Untermuster zu verstehen. In einer anderen exemplarischen Sprechsituation wäre davon auszugehen, daß Spl bereits gegenüber Sp2 nach erfolgter Aufforderung das Handlungsmuster VERSPRECHEN realisiert hat. Da Sp2 (aus welchen Gründen auch immer) an der vollständigen Übernahme einer Handlungsverpflichtung durch Spl zweifelt und sich damit zumindest aus seiner Perspektive eine "promiser-promisee relation" (Grant 1949: 361) noch nicht etabliert hat, vollzieht er Handlungen vom Typ BEZWEIFLUNGS- oder VERGEWISSERUNGSFRAGEN. Daraufhin kann Spl dem Sp2 erneut in besonders nachdrücklicher Weise zu erkennen geben, daß dieser sein Handlungsziel erreicht hat. Die folgenden Äußerungsformen stellen die Realisierung einer solchen Sprechhandlungsabfolge dar:

182

(6a) (6b)

Sp2: Bringst du mich in der nächsten Woche zum Flughafen? Spl: Ja, mache ich.

(6c) (6e)

Sp2: Kann ich mich darauf verlassen? Spl: Ja sicher mache ich das./

(6f)

Ja, du kannst dich darauf verlassen./

(6g)

Ja, ich verspreche es dir.

Sprachliche Handlungen dieses Typs, die Spl nach der oben beschriebenen Sprechhandlungsabfolge systematisch realisieren kann und die in dieser Skizze als ZUSICHERN aufgefaßt werden sollen, stellen"obligationsassertierende"Untermuster der KOMMISSIVA dar. Die Äußerungsform 1^ promise bzw. ihr deutschsprachiges Äquivalent ich verspreche es dir kann, so ist anzumerken, nicht zur Realisierung des Handlungsmusters VERSPRECHEN verwendet werden, sondern ist geeignet zum Vollzug eines Musters wie ZUSICHERN in einer problematischen Sprechsituation, wie sie oben charakterisiert wurde . Damit liegt eine Klassifikation der Typen kommissiver Sprechakte vor, die zum einen als Spl-präferierte Untermuster ABSICHT BEKUNDEN und VORSATZ BEKUNDEN bezeichnet werden. Zum anderen werden Sp2-präferierte Untermuster generell in "obligationsvorbereitend"(z. B. ANBIETEN),"-konstituierend"(z. B. VERSPRECHEN) , "-assertierend" (z. B. ZUSICHERN) sowie"-konzedierend"(z. B. NACHGEBEN) unterschieden, um damit ihre Handlungsqualität und Realisierbarkeit in einer Sprechhandlungsabfolge näher zu charakterisieren. Die Mehrzahl der Äußerungsformen zum Vollzug der einzelnen Untertypen komussiver Sprechakte können nach dem von Hindelang (1978) entwickelten System semantischer Muster, das die für AUFFORDERN verwendbaren sprachlichen Mittel nach generellen in der Aufforderungssituation thematisierten Aspekten beschreibt, analysiert werden. Da viele KOMMISSIVA die auf AUFFORDERN bezogenen komplementären Handlungstypen sind

- Spl gibt Sp2 zu erkennen, daß

dieser sein Handlungsziel erreicht hat,- muß das System semantischer Muster erweitert bzw. modifiziert werden, um die Äußerungsformen der KOMMISSIVA danach systematisch beschreiben zu können. Bei der Entwicklung des Systems rekurriert man auf die Handlungsbedingungen des jeweiligen Untertyps und eine Reihe bestimmter satzsemantischer und -grammatischer Eigenschaften der Äußerungsformen, die an die Bedingungen des Untermusters zurückgebunden werden können. Äußerungsformen wie ich will das wohl machen wären demnach dem Muster PRÄFERENZBEKUNDUNG, darf ich Ihnen helfen? dem Muster PERMISSIONSFRAGE zuzuordnen. Das folgende Schema bietet einen Überblick über ein System semantischer Muster zur Beschreibung bestimmter Äußerungsformen von KOMMISSIVA und dessen Ableitung aus den für AUFFORDERN eruierten Dimensionen.

183 Schema 1: Semantische Muster zur Beschreibung von Äußerungsformen

Semantische Muster

Dimensionen für AUFFORDERN

Spl-PRÄFERENZ-

fragen, ob Sp2 will, daß man x-t

Sp2-PRÄFERENZ~~~ FRAGE

fragen, ob Sp2 x-en will

.

PRÄFERENZHINWEIS

sagen, daß Sp2 will, daß man x-t

^PRÄFERENZBEKUNDUNG

sagen, daß man x-en will

KOMPETENZ-"" FRAGE

fragen, ob man x-en kann

KOMPETENZHINWEIS

sagen, daß Sp2 x-en kann

KOMPETENZBEKUNDUNG

sagen, daß man x-en kann

-^'FRAGE PRÄFERENZ -^

PERMISSIONS/FRAGE / PERMISSIONSPERMISSION^HINWEIS


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188

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. dazu Searle (1969: 60) . Vgl. dazu Hundsnurscher (1976: 438). Vgl. Robins (1975: 323). Vgl. Searle (1976: 11). Zu einer ähnlichen Einschätzung des Handlungsmusters ERLAUBEN vgl. Hindelang (1983: 109-110). Zur Analyse der Untermuster des INSISTIERENs vgl. Franke (1983a). Vgl. dazu auch Hundsnurscher (1976: 453) oder Hanfling (1975: 15). Vgl. zum Beispiel Wunderlich (1976: 272 f f . ) . Vgl. Franke (1983b: 237). Vgl. Hundsnurscher (1984: 78).

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GEGEN DIE DEKLARATIONSTHESE FÜR EXPLIZIT PERFOEMATIVE ÄUSSERUNGEN

Walburga Grabsch

1.

Die Problematik explizit performativer Äußerungen wird in der Literatur zur

linguistischen Sprechakttheorie immer noch sehr unterschiedlich behandelt: Neben der traditionellen These, es handele sich bei explizit perforraativen Äußerungen (EPÄn) um wahrheitswertunfähige Äußerungen und bei den durch sie vollzogenen Sprechakten um direkte Sprechakte (Direktheitsthese), wird auch die entgegengesetzte Position vertreten, es handele sich um wahrheitswertfähige Äußerungen und indirekte Sprechakte; und diese Indirektheitsthese begegnet wieder in zwei verschiedenen Ausprägungen: (a) explizit performativ vollzogene Sprechakte als indirekte Sprechakte auf der Basis der sekundären Illokution 'Feststellung1 (Feststellungsthese) oder (b) auf der Basis der sekundären Illokution 'Deklaration' (Deklarationsthese). Ich will mich im vorliegenden Beitrag auf die Diskussion der Deklarationsthese konzentrieren, denn während die Direktheits- und die Feststellungsthese schon vielfach vertreten und kontrovers besprochen wurden (z.B. in Austin 1962 / 1979; Bach 1975; Bierwisch 1980; Grewendorf 1979a und 1979b), wurde die Deklarationsthese m.W. explizit nur von Irene Heim (1977) ausgearbeitet, jedoch wenig diskutiert (vgl. Bartsch 1979), sondern eher stillschweigend akzeptiert. Beispielsweise greift Zaefferer (1979 und 1984) in seinen Analysen auf die Deklarationsthese zurück und wertet Heims These als einen Vorschlag, "der so naheliegend ist, daß man sich fragt, wieso er nicht längst schon Allgemeingut geworden ist" (Zaefferer 1979: 402). Er bezeichnet diese These jedoch mit keinem Wort als das, was sie ist, nämlich ein Indirektheitskonzept für EPÄn. Ich möchte daher die Deklarationsthese kurz charakterisieren und einige Aspekte aufzeigen, die sie m.E. nicht so akzeptabel erscheinen lassen, als daß sie Allgemeingut werden könnte. 2.

Heim setzt sich in ihrer Studie "Zum Verhältnis von Wahrheitsbedingungen-Se-

mantik und Sprechakttheorie" (1977, Zitierung nur nach Seitenzahl) das Ziel, die Wahrheitsbedingungen-Semantik (WS) als einen Bestandteil einer Sprechaktsemantik auszuweisen. Eine mögliche derartige Beziehung könnte nach Heim in der Auffassung der WS als einer Theorie der propositionalen Gehalte von Äußerungen bestehen. Was darunter vorzustellen ist, läßt sich an Beispiel ( 1 ) verdeutlichen: (1) Köln liegt am Rhein. i. durch die WS zugeordnete Proposition: 'daß Köln am Rhein liegt'

190

ii. sprechakttheoretische Beschreibung: assertive illokutionäre Rolle; propositionaler Gehalt: 'daß Köln am Rhein liegt' Das wesentliche Interesse der WS gilt der Beschreibung von Satzbedeutungen durch die Zuweisung von Propositionen, exemplifiziert durch i.. Eine sprechakttheoretische Beschreibung, ii., charakterisiert für die Äußerung (1) eine illokutionäre Rolle, und auch sie weist der Äußerung eine Proposition zu, die im Anschluß an Searle (1969 / 1971: 38-54) der "propositionale Gehalt" des illokutionären Akts genannt wird (auf die Problematik des Searleschen Propositionsbegriffs möchte ich hier nicht eingehen). Da im Fall von ( 1 ) die durch die WS zugeordnete Proposition (WS-Proposition) mit dem propositionalen Gehalt des assertiven Sprechakts, der im normalen Kontext durch (1) vollzogen wird, übereinstimmt, liegt der Gedanke nahe, die WS könnte ein "Teilgebiet" der sprechakttheoretischen Beschreibung sein. Sie wäre verantwortlich für die "Zuweisung speziell der propositionalen Gehalte (unter Vernachlässigung der illokutionären Rollen)" (S.47). Eine Betrachtung der EPA (2) unter demselben Aspekt läßt dieses Konzept jedoch problematisch erscheinen: (2)

Ich verspreche dir, daß ich nie wieder Auto fahre. i. WS-Proposition: 'daß der Sprecher S dem Adressaten H verspricht, daß S nie wieder Auto fährt1 ii. sprechakttheoretische Beschreibung: kcrrmissive illokutionäre Rolle 'Versprechen1; propositionaler Gehalt: 'daß S nie wieder Auto fährt1

Sofern einer EPA wie (2) die WS-Proposition als WS-gemäße Bedeutung zugesprochen werden soll, läßt sich (zunächst) keine Übereinstimmung zwischen der WS-Proposition und dem propositionalen Gehalt von (2) erzielen, wie ein Vergleich von i. und ii. bei (2) zeigt. Allerdings begegnet bei EPÄn doch ein Fall, bei dem die im Sinne der WS als einer Theorie propositionaler Gehalte geforderte Übereinstimmung besteht: die sog. "assertive Lesart" der EPA, die für (2) in Beispiel (3) beschrieben ist: (3)

exemplarischer Kontext: S schreibt gerade einen Brief an H. H kommt hinzu, folgender Dialog entsteht: H: Was tust du da? S: Ich verspreche dir, daß ich nie wieder Auto fahre. i. WS-Proposition: 'daß S H verspricht, daß ...' ii. sprechakttheoretische Beschreibung: assertive Illokution, z.B. 'Bericht'; propositionaler Gehalt: 'daß S H verspricht, daß ...'

Ohne jedoch auf dieses Problem, wie die assertive und die explizit performative Lesart einer und derselben EPA zu vereinbaren sind, näher einzugehen, sucht Heim eine Möglichkeit, nach der auch EPÄn in ihren explizit performativen Lesarten die WS-Propositionen als propositionale Gehalte zugewiesen werden können: Wie kann man z.B. (2) als explizit performatives Versprechen erhalten, der Äußerung aber trotzdem die WS-Proposition als propositionalen Gehalt zuordnen?

191

Da die WS-Proposition natürlich nicht der propositionale Gehalt des Versprechens sein kann, muß sie der propositionale Gehalt eines anderen illokutionären Akts sein, der in einer bestimmten Beziehung zum Versprechen steht. Zur Lösung des Problems greift Heim auf zwei Aspekte zurück, die sie "sprechakttheoretische Grundtatsachen" (S.48) nennt: (a) Eine Äußerung könne mehr als einen propositionalen Gehalt haben. Dieser Aspekt soll ihre These absichern, der EPA könne die WS-Proposition wenigstens als

e i n propositionaler Gehalt neben

einem anderen zukommen, (b) Es gebe viel mehr illokutionäre Rollen als natürlichsprachliche illokutionäre Verben. Dadurch böte sich die Möglichkeit einer illokutionären Rolle für EPÄn, deren propositionaler Gehalt der gewünschten WSProposition entspräche, die nur nicht durch ein natürlichsprachliches illokutionäres Verb zu benennen wäre: "Eine Äußerung mit der W.S.-Proposition, daß ..., explizit performativ vollziehen" (S.49) könnte nach Heim eine solche Illokution sein. Und obwohl Heim diese Illokution als eine "Trivialisierung" (S.49) ansieht, sucht sie dennoch nach einem - griffigeren - Sprechakttyp, der sich für diese Trivialform einsetzen läßt. Heim findet ihn in der Deklaration (S.50-53), die Searle, auf den Heim sich ausdrücklich bezieht, in seiner "Taxonomie" folgendermaßen definiert: Das definierende Merkmal dieser Klasse besteht darin, daß der erfolgreiche Vollzug eines ihrer Elemente eine Korrespondenz von propositionalem Gehalt und Realität zustande bringt; der erfolgreiche Vollzug garantiert, daß der propositionale Gehalt der Welt entspricht. [...] Deklarationen führen allein kraft des Unstands, daß sie erfolgreich vollzogen wurden, eine Änderung im Status oder der Lage desjenigen Gegenstands [...] herbei, über den [.. | gesprochen wird. (Searle 1975b / 1982: 36-37) Heims explizite Deklarationsthese lautet entsprechend: (DT 1)

Jede explizit performative Äußerung ist (unter anderem) eine Deklaration. Als solche hat sie die W.S.-Proposition zum propositionalen Gehalt. (S.52)

Heim rechtfertigt ihre These durch den Vergleich zwischen dem explizit performativen Versprechen (2) und einem deklarativen Akt, der Schenkung (4) - nach Heim eine "typische Deklaration" (S.53): (4)

Dieses Buch gehört dir.

Ihr Vergleich ergibt: Durch die erfolgreiche Äußerung der Schenkung (4) wird der Sachverhalt 'daß dieses Buch H gehört1 hergestellt; er ist allein aufgrund des geglückten Äußerungsvollzuges wahr, somit wird eine Übereinstimmung zwischen dem propositionalen Gehalt und der Realität hergestellt. Wird (2) erfolgreich als Versprechen geäußert, wird der Sachverhalt 'daß S H verspricht, daß S nie wieder Auto fährt1 hergestellt; er ist aufgrund des Äußerungsvollzuges wahr, und dies sei ja gerade das Wesen der EPA: Dadurch, daß S (2) sage, verspreche er es auch, stelle er den Sachverhalt her, daß das Versprechen zustande kenne (S.52-53).

192

Weil also bei EPÄn offenbar in derselben Weise wie bei Deklarationen ein bestimmter Sachverhalt durch die geglückte Äußerung hergestellt wird und dieser Sachverhalt die WS-Proposition der EPA ist, ist es für Heim gerechtfertigt, EPSn als Deklarationen mit den WS-Propositionen als propositionalen Gehalten anzusehen.

Da die hergestellten Sachverhalte genau die durch die performativen Verben

bezeichneten Akte sind (S.53,58), besteht für Heim ein systematisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Deklaration und dem durch das performative Verb benannten Akt: (DT 2)

Gerade w e i l die Äußerung (2) eine Deklaration ist mit dem propositionalen Gehalt, daß [s H] verspricht, nie wieder Auto zu fahren, ist sie auch ein Versprechen, nie wieder Auto zu fahren. Denn eine geglückte Deklaration zeichnet sich ja gerade durch das Wahrmachen ihres propositionalen Gehaltes aus. (S.53)

Die Anlehnung an das Searlesche (1975a / 1982) Indirektheitskonzept ist deutlich zu erkennen, und Heim betrachtet dieses Verhältnis selbst, unter ausdrücklichem Bezug auf Searle,als Indirektheit (S.14-15,53,69). Ihre in (DT 1) und (DT 2) wiedergegebene Deklarationsthese läßt sich also als Indirektheitsthese (DT 3) präzisieren: (DT 3)

3.

Die in den EPÄn durch performative Verben bezeichneten Akte sind indirekte Sprechakte. Sie sind die primären Illokutionen, die auf der Basis der (ihnen allen gemeinsamen) sekundären Illokution 'Deklaration' vollzogen werden.

Auf dem Hintergrund des von Heim angestrebten Konzepts einer zwischen WS und

Sprechakttheorie arbeitsteiligen Beschreibung sprachlicher Daten erscheint Heims Deklarationsthese zunächst durchaus attraktiv. Eine genauere Analyse stößt jedoch auf Probleme, die ihre These unakzeptabel machen. 3.1.

Die Deklarationsthese erfüllt ihre wesentliche Funktion in der Begründung

der WS als einer Theorie propositionaler Gehalte, was Heim übrigens letztendlich selbst als "Unding" (S.72) bezeichnet. Aus der Sicht der Direktheitsthese könnte man einerseits -

überspitzt - sagen, daß um der WS willen ein direkter Sprech-

akt zu einem indirekten gemacht werden soll. Aus der Perspektive der Feststellungsthese muß es mit Recht problematisch erscheinen, daß z.B. die Feststellungsillokution oder eine andere assertive Rolle als Kandidat für die Sekundärillokution nicht in Betracht gezogen wird. Gründe für ihre Berücksichtigung finden sich darin, daß auch sie die WS-Propositionen als propositionale Gehalte haben, daß der Deklarativsatztyp als Indikator assertiver Sprechakte gilt,und in der assertiven Lesart einer EPA wie ( 2 ) . Es bedürfte somit mindestens einer Argumentation, die - notwendigerweise in der Auseinandersetzung mit der Feststellungsthese - die Deklaration als den Favoriten von zwei zunächst offenbar gleichbe-

193

rechtigten Alternativen herausstellt. Eine solche Argumentation fehlt völlig. 3.2.

Indem Heim das Problem der EPÄn von den propositionalen Gehalten her an-

geht, stößt sie auf Hindernisse. Diese geben indes ihrerseits Aufschluß über Schwachstellen des Searleschen Deklarationsbegriffs, und sie lassen eine genauere Analyse der Deklaration nötig erscheinen, bevor sie zum Fundament eines Indirektheitskonzepts erklärt wird: Beispielsweise bereitet Heim die "Identifikation propositionaler Gehalte", speziell von Deklarationen (S.54-59)f Schwierigkeiten: Wie gelangt man von (5) (5)

Ich exkonnuniziere Sie.

zum propositionalen Gehalt der Exkonmunikation "daß die Mitgliedschaft von H in der Kirche beendet ist1 (S.54)? Dabei übernintnt Heim mit Selbstverständlichkeit Searles Ansicht, Deklarationen h ä t t e n propositionale Gehalte. Es wäre jedoch denkbar, Deklarationen als Sprechakte ohne propositionale Gehalte anzusehen, denn nicht nur Äußerungen wie ( 6 ) , sondern auch solche wie (7) und (7a) müssen als Sprechakte ohne propositionale Gehalte betrachtet werden, und die Parallele zwischen (5) und (7a) ist kaum zu bestreiten: (6)

Verflixt!

(7) Grüß dich! (7a) Ich grüß dich! Die störende Konsequenz einer solchen Auffassung für die Deklarationsthese

ist

offensichtlich. 3.3. Ein weiteres Problem stellt sich mit dem Begriff 'Wahrmachen des propositionalen Gehalts', und zwar in zweifacher Hinsicht. Einerseits verwendet Heim die Schenkung (4) als Paradebeispiel, um das deklarationstypische Wahrmachen des propositionalen Gehalts - durch den geglückten "Äußerungsvollzug" selbst - zu demonstrieren. Doch (4) belegt dieses Wahrmachen gar nicht, weil (4) in dieser Hinsicht gar keine "typische Deklaration" ist: (4) ist keine 'Schenkung1, die nur aufgrund des geglückten Äußerungsvollzugs ein neues Besitzverhältnis als Sachverhalt herstellt, da dieses erst durch das Akzeptieren von H zustande kommt. (4) ist infolgedessen als 'Schenkungsversuch1 zu interpretieren und muß einem besonderen Deklarationsuntertyp zugerechnet werden. Andererseits stellt sich die Frage, was es z.B. in bezug auf (2) überhaupt bedeutet, daß der Sachverhalt 'daß S H verspricht, daß ...' wahr gemacht wird. Heim sagt immer wieder, der Sachverhalt 'Versprechen' würde wahr gemacht, es sei durch die Deklaration wahr, daß S etwas verspricht/"versprochen hat" (S.60). Diese Formulierungen können eigentlich nur bedeuten, daß S eine erfolgreiche Versprechenshandlung ausgeführt hat und eine Verpflichtung gegenüber H eingegan-

194

gen ist, denn versprochen h a t man nur dann etwas, wenn das Versprechen erfolgreich war. Das hieße aber, daß der durch Deklaration hergestellte Sachverhalt ein erfolgreiches Versprechen sein müßte. Doch eine Deklaration kann einen solchen Sachverhalt gar nicht herstellen, da ein Versprechen erst erfolgreich im Sinn von 'Versprechen-Haben' ist, wenn H den Versprechensversuch (2) akzeptiert. (2) ist mithin kein "Versprechen", sondern ein Versprechensversuch, und sein Erfolg hängt nicht allein von dem geglückten Äußerungsvollzug ab. Davon abgesehen ergäben sich auch Probleme bei mißglückten Versprechensversuchen. Wäre (2) eine Deklaration, die den Sachverhalt 'Versprechen1/'Versprechen-Haben' herstellte, dann dürfte ein mißglücktes Versprechen gar nicht vorkommen. Oder wollte man das Mißglücken erklären, indem man sagte: "Der Sachverhalt wurde nicht hergestellt, also war die Äußerung auch keine Deklaration!" ? Dies widerspräche auch dem durch (DT 3) postulierten Status der Deklaration als Sekundär- und Mbrmalillokution (vgl. 3 . 4 . ) . Man könnte bestenfalls sagen, im Fall eines mißglückten Versprechens sei die Deklaration selbst mißglückt. Dann müßten aber entsprechende Bedingungen angegeben werden, was m.E. nur zu weiteren Problemen führt. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, daß (2) als Versprechensversuch nicht nur in dem von Heim genannten Sinn (Etablieren einer Obligation) erfolgreich ist, sondern daß sich der Erfolg/Mißerfolg genaugenommen auf verschiedene Ebenen bezieht: die Verständnis-, Akzeptierens- und Erfüllensebene. Eine Deklaration könnte im Fall von (2) aber auf keiner der Ebenen einen erfolgreichen Versprechensversuch als Sachverhalt herstellen, was anhand einer genaueren Prüfung der nachfolgenden Formulierungen auf ihre Herstellbarkeit durch Deklaration deutlich wird: (2) ist eine sekundäre Deklaration und stellt somit ihren propositionalen Gehalt 'daß S versucht, H zu versprechen, daß ...' als Sachverhalt her. Sie stellt den propositionalen Gehalt 'daß H versteht, daß S versucht ...'/'daß H den Versprechensversuch akzeptiert"/'daß S die entstandene Obligation erfüllt1 als Sachverhalt her. Ungeachtet des Unstands, daß es unklar wäre, warum (2) als Deklaration diese propositionalen Gehalte haben sollte, entsprächen sie auch - entgegen (DT 1) nicht der WS-Proposition von ( 2 ) . Die Urodefinition "die Deklaration stellt den Sachverhalt '(erfolgreicher) Versprechensversuch1 her" böte demnach keinen realen Ausweg. Andererseits würde es auch nicht helfen, diesen Sachverhalt als 'in Erfolgshinsicht unbestimmter Versprechensversuch' aufzufassen, um so einen möglichen Mißerfolg mit einzukalkulieren, weil 'Deklaration' in diesem Fall m.E. nicht mehr bedeutete als der bloße Sprechaktbegriff. 3.4.

Heim parallelisiert die angeblich typische Deklaration (4) und die EPA (2)

unter zwei verschiedenen Aspekten. Diese Parallelisierungen führen zu einander

195

widersprechenden Ergebnissen, so daß Heims Ansatz selbst Anzeichen für das (DT 3) entgegengesetzte Indirektheitsverhältnis birgt. Die i n h a l t l i c h e Parallele (Verbindung stiftendes Monent: Wahrmachen des propositionalen Gehalts) führt Heim zu ihrer erklärten Deklarationsthese, (DT 1) - (DT 3). Die zweite, f o r m a l e

Parallele zwischen (2) und (4)

lautet: Beide sind "implizite Deklarationen" (S.63). Diese Parallele gilt es nun zu erklären. Bei Heim bedeutet 'impliziter Sprechakt1 nur, daß die durch die Äußerung vollzogene Illokution nicht explizit ist, Verb in der Äußerung manifestiert ist. 'unexplizit

1

nicht explizit durch ein performatives 'Implizit' bedeutet mithin nicht mehr als

(dieser Begriff wird im weiteren bevorzugt verwendet, um Mißver-

ständnisse zu vermeiden). Ihr Begriff des impliziten Sprechakts unterscheidet sich scmit nicht von den Austinschen Termini 'impliziter1 oder 'primär performativer Sprechakt', und auch Heims Vergleichsbeispiele entsprechen formal völlig den bei Austin verwendeten Äußerungen (Austin 1962 / 1979: 89-93): (11)

Ich schenke dir das Buch.

Ein Vergleich zwischen (4) und dem explizit performativen Gegenstück (11) zeigt, daß die deklarative Schenkungsrolle bei (4) im Gegensatz zu (11) nicht explizit durch ein performatives Verb in der Äußerung verankert ist,

so daß (4) als eine

unexplizite oder "implizite Deklaration" gegenüber (11) gelten kann. In demselben Sinn wie (4) stellt nun nach Heim auch die EPA (2) eine "implizite Deklaration" dar, denn auch in ihr ist die Deklarationsillokution offensichtlich nicht durch ein performatives Verb gekennzeichnet. Sie ist unexplizit - obwohl es nach Heim für die EPA kein explizit performatives deklaratives Gegenstück gibt (S.61-

64). Unter Voraussetzung dieses undifferenzierten Begriffs der Implizitheit als bloßer Unexplizitheit kann Heim die Parallele zwischen (2) und (4) als "impliziten Deklarationen" behaupten. Doch eine genauere Analyse der Beispiele zeigt, daß nur dieser unspezifische Begriff diese Parallele erlaubt und daß er über tiefgreifende Probleme hinwegtäuscht: Bei aufmerksamer Betrachtung der als "impliziter Sprechakt" bezeichneten Äußerung (4) erweist sich erstens, daß Heims Verständnis von Implizitheit als bloßer Unexplizitheit zu ungenau ist, als daß dieser Begriff die Daten des Beispiels adäquat erfassen könnte. Die Äußerung ist nämlich zweifach unexplizit, weist zwei verschiedene Bezüge von 'unexplizit' auf, so daß zwei Unexplizitheitsbegriffe unterschieden werden müssen: Der erste Begriff ergibt sich, wenn für (4) ein normaler Kontext vorausgesetzt wird (z.B.: H kann sich nicht daran erinnern, welches von 2 Büchern ihm

196

gehört, welches er geliehen hat; er befragt S; S antwortet, auf eins der Bücher weisend, mit ( 4 ) ) . Wenn (4) in einem normalen Kontext geäußert wird, ist die in diesem Kontext aufgrund der Semantik von Deklarativsätzen zu erwartende Illokution ("Normalillokution") eine assertive, z.B. Feststellung. In diesem Kontext und mit dieser Illokution geäußert, wäre (4) ein direkter Sprechakt. Da die Feststellungsrolle nicht durch ein performatives Verb in der Äußerung benannt ist,

kann (4) als eine unexplizite Feststellung gelten. Es handelt sich, da die

Normalillokution betroffen ist,

um so etwas wie "illokutionäre Vagheit" hin-

sichtlich der speziellen assertiven Polle, die der Deklarativsatzäußerung als Normalillokution zukommt - 'Unexplizitheit der Normalillokution/im Sinn von illokutionärer Vagheit' - (vgl. Sokeland 1980: 34). ( 4 ) , in der Funktion einer Schenkungsdeklaration geäußert, ist natürlich auch unexplizit, wie oben beschrieben. Unexplizitheit kann nun in diesem Fall aber einerseits nicht als illokutionäre Vagheit aufgefaßt werden, da die Normalillokution von (4) nicht die deklarative, sondern eine assertive ist.

Andererseits

greift Austins und Heims undifferenzierter Unexplizitheitsbegriff dennoch zu kurz, denn als Schenkung ist ein i n d i r e k t e r

(4) nicht ein undifferenziert unexpliziter, sondern

Sprechakt: Die unexplizite deklarative Schenkungsrolle

ist die primäre Illokution der Äußerung, die indirekt auf der Basis der illokutionär vagen assertiven Sekundärillokution vollzogen wird; die Sekundärillokution ist also identisch mit der Normalillokution (vgl. Searle 1975a / 1982: 54). Unexplizitheit betrifft in diesem Fall also gerade nicht die Normalillokution, sondern es handelt sich um 'Unexplizitheit der primären Illokution' in einem indirekten Sprechakt. Unter der Voraussetzung dieser differenzierten Unexplizitheitsbegriffe zeigt eine Analyse der Beispiele zweitens, daß eine Parallele zwischen EPÄn und Deklarationen der Form (4) als "impliziten Deklarationen" gar nicht besteht, weil für beide je ein anderer Unexplizitheitsbegriff relevant

ist:

Erklärt man Deklarationen der Form (4) zum Muster der "impliziten Deklarationen", so ergibt sich aus folgendem Grund keine Parallele. Entsprechend den gerade beschriebenen Unexplizitheitsverhältnissen der Äußerung (4) muß 'implizit1 in bezug auf die deklarative Illokution als 'Unexplizitheit der primären Illokution "Deklaration1' interpretiert werden, weil (4) als Schenkung ein indirekter Sprechakt ist und die unexplizite deklarative Schenkungsillokution die Primärillokution dieses indirekten Sprechakts ist. Wenn nun EPÄn wie (2) in derselben Weise "implizite Deklarationen" sein sollen, dann muß auch hier derselbe Begriff zugrunde gelegt werden, das heißt, auch hier müßte 'Unexplizitheit der primären Illokution 'Deklaration1' gegeben sein. Dann müßte indes die Deklaration konse-

197

quenterweise die primäre Illokution der EPA sein; und folglich wären EPÄn wie (2) dann genau wie (4) i n d i r e k t e

Deklarationen. - Eben dies Indirekt-

heitsverhältnis widerspricht dem in (DT 3) postulierten Indirektheitskonzept der Deklarationsthese! Erklärt man umgekehrt die EPA zum Muster der "impliziten Deklaration", so ergibt sich wiederum keine Parallele, weil die in (DT 3) angenommene sekundäre Deklarationsillokution der EPA kein Pendant in der Schenkungsdeklaration (4) findet: (4) hat als Schenkung eine deklarative Primärillokution, während die sekundäre Illokution assertiv

ist.

Das bedeutet: Entweder besteht gar keine Parallele zwischen EPÄn und Deklarationen der Form (4) als "impliziten Deklarationen", dann könnte - sofern von anderen Kritikpunkten abgesehen wird - das Indirektheitsverhältnis (DT 3) beibehalten werden. Oder aber beide Äußerungen sind "implizite Deklarationen" im Sinn von 'Unexplizitheit der primären Illokution 'Deklaration11, dann müßte jedoch das (DT 3) widersprechende Indirektheitsverhältnis angenommen werden. Es gibt allerdings drittens Argumente dafür, daß EPÄn weder "implizite Deklarationen" im Sinne von 'indirekten Deklarationen1 noch überhaupt Deklarationen im Sinne von (DT 3), also sekundäre Deklarationen sein können: Gegen den letzten Aspekt läßt sich folgendes vorbringen: Entsprechend dem Searleschen Indirektheitskonzept (1975a / 1982: 54), das Heim zugrunde legt, stimmen die Sekundärillokutionen indirekter Sprechakte mit den Normalillokutionen der Äußerungen überein. Wie in (DT 3) dargestellt, soll nach Heim die Deklaration die Sekundärillokution der Äußerung (2) sein, was gleichzeitig bedeutet, daß einer EPA die Deklaration als Normalillokution zukcmmen müßte. Der Begriff der Normalillokution wird nun bestimmt als die in einem normalen Kontext aufgrund der Semantik des Satztyps erwartbare Illokution. Bei (4) zeigte sich in der Analyse, daß (4) eine assertive Normalillokution hat, weil die a s s e r t i v e

Illokution gerade die in einem normalen Kontext aufgrund der Semantik von

D e k l a r a t i v s ä t z e n

zu erwartende ist.

Eine EPA unterscheidet sich

jedoch hinsichtlich ihres Satztyps prinzipiell nicht von ( 4 ) , auch sie ist eine Deklarativsatzäußerung. Unter dieser Voraussetzung kann der EPA aber die Deklaration gar nicht als Normalillokution zugesprochen werden, sondern auch sie muß eine assertive Normalillokution haben. Infolgedessen kann die Deklaration auch nicht die Sekundärillokution der EPA sein. Das heißt, (DT 3) kann nicht zutreffen,

EPÄn können nicht die indirekten Vollzüge der durch die performativen Ver-

ben benannten Akte auf der Basis der Deklaration sein. Sofern also EPÄn wie (2) überhaupt "implizite Deklarationen" sein sollen, kamt nur das umgekehrte Indirektheitsverhältnis in Frage, sie müßten indirekte Deklarationen sein.

198

Dieses Indirektheitsverhältnis wäre allerdings völlig sinnlos, was leicht einzusehen ist, wenn man die Deklarations- und Versprechensrolle von (2) entsprechend in (DT 2) einsetzt: Gerade w e i l die Äußerung (2) ein Versprechen ist mit dem propositionalen Gehalt 'daß S nie wieder Auto fährt 1 , ist sie auch eine Deklaration mit dem propositionalen Gehalt 'daß S H verspricht, daß ...'. Könnte die indirekte primäre Deklarationsillokution ihre eigene Sekundärillokution etwa als Sachverhalt herstellen, d.h. einen Sachverhalt herstellen, der schon besteht und auch bestehen muß (Veil"), damit die Deklaration überhaupt erfolgreich sein kann? Dies bedeutet im Endeffekt: EPÄn wie (2), die nicht - wie (5) - der Deklarationsklasse angehören, können überhaupt keine Deklarationen sein; sie sind weder indirekte Deklarationen, noch haben sie eine deklarative Sekundärillokution. EPÄn der Deklarationsklasse wie (5), die Heim unbegründet von den übrigen EPÄn abspaltet, können als Deklarationen nur indirekt sein, da auch sie als Deklarativsatzäußerungen eine assertive Normalillokution tragen. (DT 1) - (DT 3) können nicht zutreffen. 3.5. Desweiteren ist die assertive Lesart von EPÄn ein Argument gegen die Deklarationsthese: Würde man entsprechend (DT 3) der EPA (2) die Deklaration als Sekundär- und damit Normalillokution zusprechen und würde man - wie in 3.3. erörtert - annehmen, daß sie entweder (a) ihren propositionalen Gehalt in der von Heim beschriebenen Weise wahr machte, also ein erfolgreiches Versprechen herstellte, oder aber daß sie (b) entsprechend der schwächeren Version nur den (erfolgsmäßig bestimnten oder unbestinmten) Versprechensversuch als Sachverhalt herstellte, dann dürfte es gar keine assertive Lesart der EPA geben, (3) wäre unmöglich. Als Normalillokution müßte die Deklaration der Äußerung nämlich immer zukamen, so daß auch immer diese Sachverhalte durch die Äußerung hergestellt werden müßten. Doch S vollzieht im Fall der assertiven Lesart weder einen Versprechensversuch noch gar ein Versprechen. Un die assertive Lesart in Heims Deklarationsthese zu integrieren, könnte man höchstens annehmen, daß einer EPA zwei Normalillokutionen zukommen, eine für die assertive und eine für die explizit performative Lesart. Aber ich sehe nicht, wie eine solche Annahme theoretisch legitimiert werden könnte. 3.6. Letzten Endes und unabhängig von den bisherigen Kritikpunkten ist die Deklarationsthese auch deshalb nicht haltbar, weil d i e Deklaration als Fundament eines Indirektheitskonzepts ungeeignet ist. Es ist völlig unklar, was es bedeuten soll, daß S den Akt 'Deklaration, daß S H verspricht ...' vollzieht.

199 1

'Deklaration

ist kein Sprechakt, sondern ein Sanmelbegriff für eine heterogene

Sprechakt k l a s s e: Schenkungen, Taufen, Gerichtsurteile usw. Sie zeichnen sich alle durch verschiedenste Glückensbedingungen aus, und die einzigen gemeinsamen Merkmale der Searleschen Deklarationsklasse sind m.E. das Herstellen eines bestimmten Sachverhalts und die Voraussetzung gewisser legitimierender, extralinguistischer Institutionen (auch in diesem letzten Punkt liegt ein Problem der Deklarationsthese). Heims Ansatz verdeckt dieses Problem, indem sie sich auf die sog. Grundtatsache beruft, es könne mehr illokutionäre Rollen als Verben geben. Eine solche Argumentation greift letzten Endes aber nicht: Auch wenn es sehr spezifische Handlungstypen gibt, so müssen sie doch wenigstens beschrieben werden, und zwar durch Glückensbedingungen, Handlungstypen unterscheidende Kriterien usw. 4.

Aus den vorangegangenen Problemerörterungen (vgl. Grabsch 1984) ziehe ich

daher den Schluß, daß ein Indirektheitskonzept für EPÄn auf der Basis der Deklaration nicht möglich ist,

bevor nicht genauere Analysen über die Deklarations-

klasse und einen bestimmten, für EPÄn relevanten Deklarationstyp vorliegen. Aber auch eine solche Spezifizierung könnte die Deklarationsthese nicht attraktiver machen, da die in 3.4. und 3.5. genannten Probleme nicht automatisch mitgelöst sind. Insgesamt scheint mir daher die Deklarationsthese keine angemessene Lösung der Problematik der EP&i und keine reale Alternative zur Feststellungsthese zu sein. Dieses Fazit bedeutet jedoch kein automatisches Plädoyer für die Feststellungsthese, da diese in jedem Fall unabhängig empirisch zu rechtfertigen wäre.

Anmerkung Ich danke herzlich Jürgen Lenerz, Jörg Meibauer und Marga Reis für Anregungen und Verbesserungsvorschläge; Jürgen Rössler für sonstige Hilfe.

Literatur Austin, J.L. (1962): How to do Things with Words. Oxford. - Übers.: Zur Theorie der Sprechakte. (How to do things with Words). Stuttgart, 2.A. 1979. Bach, K. (1975): "Performatives are statements too". Philosophical Studies 28: 229-236. / Harnish, R.M. (1979): Linguistic Oorrmunication and Speech Acts. Cambridge (Mass.) etc.. Bartsch, R. (1979): "Die Rolle von pragmatischen Korrektheitsbedingungen bei der Interpretation von Äußerungen". Grewendorf (ed.): 217-243.

200

Bierwisch, M. (1980): "Semantic structure and illocutionary force". Searle, J.R./ Kiefer, F. / Bierwisch, M. (eds.) (1980): Speech Act Theory and Pragmatics. Dordrecht. Grabsch, W. (1984): Überlegungen zum Problem eines illokutionären Basisindikators neben dem Satztyp. (ünveröffentl. Staatsexamensarbeit Köln). Grewendorf, G. (ed.) (1979): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt ( M . ) .

(1979a): "Haben explizit performative Äußerungen einen Wahrheitswert?". Grewendorf (ed.): 175-196. (1979b): "Explizit performative Äußerungen und Feststellungen". Grewendorf (ed.): 197-216. Heim, I. (1977): Zum Verhältnis von Wahrheitsbedingungen-Semantik und Sprechakttheorie. SFB 99, Linguistik, Universität Konstanz. Searle, J.R. (1969): Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge. - übers.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt (M.) 1971. (1975a): "Indirect speech acts". Cole, P. / Morgan, J. (eds.) (1975): Syntax and semantics. Ill: Speech Acts. New York etc.: 59-82. - Ubers.: "Indirekte Sprechakte". Searle (1982): 51-79. (1975b): "A taxonomy of illocutionary acts". Gunderson, K. (ed.) (1975): Language, Mind and Knowledge. Minnesota Studies in the Philosophy of Science. VII. Minneapolis: 344-369. - Übers.: "Eine Taxonomie illokutionärer Akte". Searle (1982): 17-50. (1982): Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Frankfurt (M.). Sökeland, W. (1980): Indirektheit von Sprechhandlungen. Eine linguistische Untersuchung. Tübingen. Zaefferer, D. (1979): "Sprechakttypen in einer Montague-Grammatik. Ein modelltheoretischer Ansatz zur Behandlung illokutionärer Rollen". Grewendorf (ed.): 386-417. (1984): Frageausdrücke und Fragen im Deutschen. Zu ihrer Syntax, Semantik und Pragmatik. München.

RHETORISCHE AUFFORDERUNGEN UND RHETORIZITÄT

Jörg Meibauer

1.

Man vergleiche folgende Sätze: (1) (2) (3)

Wer will denn noch Kohlen holen? Zeig mir e i n e n , der noch Kohlen holen will. Ich möchte d e n sehen, der noch Kohlen holen will.

In (1) handelt es sich um einen W-Interrogativsatz, in (2) um einen Imperativsatz und in (3) um einen Deklarativsatz. Alle drei Sätze können unter geeigneten kontextuellen Umständen dazu verwendet werden, die gleiche Behauptung aufzustellen, nämlich (4)

Niemand will mehr Kohlen holen.

Damit liegt in (1) und (2) eine Zuordnung von Satzmodus und Sprechakttyp vor, die den Erwartungen über eine "normale" Zuordnung nicht entspricht. Wir würden erwarten, daß Interrogativsätze dazu verwendet werden, Fragen zu stellen; Imperativsätze dazu, Aufforderungen zu realisieren. Ich will, unter Adaption einer Definition des Sprechakts von Bierwisch (1980), folgenden Aufbau eines Sprechakts annehmen: (5)

sä = < ins, p, t, < pt, syn, sem > m, et, sät »

Ich gehe davon aus, daß ein Sprechakt sä eine Inskription ins ist, die von einem Sprecher oder Hörer p zu einem Zeitpunkt t mit einer linguistischen Struktur versehen wird, die als phonetische Struktur pt, syntaktische Struktur syn und semantische Struktur sem aufgeschlüsselt werden kann. Jeder Sprechakt sä hat eine ftußerungsbedeutung m und ist von einem bestimmten Sprechakttyp sät. Schließlich findet jeder Sprechakt in einem Kontext et statt. Nehmen wir als Beispiel den W-Interrogativsatz Wer will das? Sein Satzmodus ist phonetisch durch das fallende Tonmuster, syntaktisch durch die Zweitstellung des finiten Verbs, semantisch durch den erotetischen Typ und den charakteristischen propositionalen Gehalt, einen Prädikatsbegriff, fixiert. Intonation und Verbstellung sind, wie an diesem Beispiel zu sehen ist,

keine hinreichenden

Kriterien zur Abgrenzung der Satztypen, so daß der Semantik eine entscheidende Rolle zukommt. Ich will daher annehmen, daß sem im Falle des Interrogativ-Satzmodus gleich < qu, pc > ist

und daß qu eine modusvereinheitlichende Funktion zukommt. Dane-

ben legt qu die Beantwortungsbedingung für den W-Interrogativsatz fest, über deren Erfüllung aber nur in einem Kontext entschieden werden kann. Wer und das

202

sind referentielle Variablen, die bei einer echten Antwort spezifiziert werden müssen; dies kann nur auf der Ebene der Äußerungsbedeutung geschehen. Nun kann der Kontext entweder neutral oder nicht-neutral sein. Wenn der Kontext neutral ist, so daß nur Informationen über kontextabhängige Referenz von wer, das und eventuell die kontextabhängige Bedeutungswsise von wollen zulässig sind, würde man die Äußerung unseres Beispielsatzes als die Ausführung einer Informationsfrage begreifen. Wir können also festhalten: (6) m (ctn) = < sat.jp, m 1 > Dabei steht et für den neutralen Kontext, sät™ für den Sprechakttyp'Informationsfrage', und m 1 steht für den Inhalt der Äußerungsbedeutung. Wenn nun der Kontext nicht-neutral ist, d.h. Hintergrundwissen, Wissen über Interaktionszusammenhänge, Motivationsstrukturen etc. bei der Sprechakttypenzuweisung eine unabdingbare Rolle spielen, wird eine Zuordnung von Satzmodus und Sprechakttyp möglich, die von der im neutralen Kontext erwartbaren Zuordnung abweicht: Es liegt dann ein indirekter Sprechakt vor. In einem nicht-neutralen Kontext kann z.B. die Äußerung Wer will das? als eine indirekte Behauptung 'Niemand will das.' oder 'Alle wollen das.' verstanden werden. Ich bezeichne die Äußerungen von ( 1 ) - ( 3 ) , wann damit die Behauptung (4) verknüpft ist, als'rhetorische Ergänzungsfrage",'rhetorische Aufforderung"und "rhetorische Behauptung". Rhetorizität ist, so habe ich in Meibauer (1986) dargelegt, eine spezifische Zuordnung von Satzmodus zum Sprechakttyp "Behauptung" und damit ein strukturierter Teilbereich sprachlicher Indirektheit. Ich möchte mich im folgenden auf einige Probleme bei der Behandlung rhetorischer Aufforderungen konzentrieren. Doch zunächst noch ein Wort zu rhetorischen Behauptungen. In (3) liegt, so läßt sich argumentieren, genauso eine Behauptung vor wie in ( 4 ) . Warum dann von"Tndirektheit"sprechen? Offenbar betrifft die Indirektheit hier nur m 1 , so daß wir für den nicht-neutralen Kontext ebenfalls eine veränderte Äußerungsbedeutung m ' ' annehmen müssen. Im Falle der rhetorischen Frage und der rhetorischen Aufforderung sind beide Komponenten von der Umdeutung betroffen, da ihre propositionalen Gehalte im Gegensatz zu dem der Behauptung "offen" sind. 2. Bei der Analyse rhetorischer Aufforderungen auf der Grundlage des oben skizzierten Verständnisses sprachlicher Indirektheit sind wir dringend darauf angewiesen, die linguistische Struktur des Imperativsatzmodus zu bestimmen. Ich kann hier nicht im Detail auf die damit verbundenen Probleme eingehen und möchte daher nur auf die Arbeiten von Fries (1983) und Wunderlich (1984) ver-

203

weisen. Ein paar Bemerkungen sollen genügen. Wir können davon ausgehen, daß der Imperativsatzmodus bestürmt wird durch Intonation, Verbmorphologie, Verbstellung, Vorkonmen eines Subjektausdrucks, Modalpartikel- bzw. Modalwortselektion und die Imperativsemantik. Imperativsätze haben ein fallendes Tonmuster. Nur für die 2. PS. Sg. existiert ein eigener Imperativ-Verbmodus, u.z. ist dieser bei ablautenden Verben mit dem Präsensstamra der 2. PS. Sg. Ind. identisch, während bei nicht-ablautenden die Form dem Präsensstaitm der 1. PS. Sg. Ind. entspricht. Bei den fehlenden Formen des Imperativ-Verbmodus-Paradignas bedient man sich des Konjunktiv Präsens, d.h. der 3. PS. Sg., der 1. PS. Pl. (Adhortativ) und der 3. PS. Pl. (Sie-Imperativ). Ferner wird die 2. PS. Pl. Ind. benutzt. Bei der Kopula sein ist zu beachten, daß hier - anders als bei den Vollverben - im Plural kein Synkretismus mit den Formen des Indikativs vorliegt. Die Duden-Grammatik (1984: 175) weist auf die "umgangssprachliche" Variante des Sie-Imperativs mit der Kopula hin, bei der die entsprechende Indikativform gewählt wird, vgl. Sind Sie still! Meines Wissens ist auch beim Adhortativ die Indikativform gebräuchlich, vgl. etwa Sind wir mal nicht soi. Probleme des Adhortativs und Sie-Imperativs werden bei Matzel / Ulvestad (1977) eingehend diskutiert. Imperativsätze kommen mit Verberststellung und mit Verbzweitstellung vor, und sie treten mit oder ohne Subjektausdruck auf: (7a) Halt (d u) den Mund! (Tb) D u halt den Mund! In (Tb) wird der Subjektausdruck der 2. PS. hervorgehoben, und dies in zweierlei Hinsicht: intonatorisch und durch die Vorfeldstellung. Man kann hier von einer Topikalisierung ausgehen. Wie Engel (197T: 222ff.) zeigt, ist das Vorfeld bei Imperativsätzen in der Regel unbesetzt; allerdings kommen bestimmte Angaben wie so, nun, dann, jetzt gelegentlich vor. Topikalisiert werden können auch Objekt-NPs, vgl. etwa Den Hund laß bitte in Ruhe! Als typische Modalpartikelselektion für Imperativsätze gelten doch, halt, nur, bloß, aber, auch, eben, ja, mal, schon (vgl. Heibig 19TT). Nach Heibig (1981: 9) kommen Modalwörter nicht in Imperativsätzen vor. Wie bei den anderen Satztypen können auch beim Imperativsatztyp Homonymien entstehen. Ein Satz wie Ihr holt mir Kaffee, kann nur auf der semantischen Ebene, d.h. aufgrund einer imperativsemantischen Repräsentation, von einem Deklarativsatz unterschieden werden. Analog dazu können etwa sog. Echo-Entscheidungsfragen wie Fritz liebt Nastassja? nur aufgrund der Interrogativsemantik von Deklarativsätzen abgegrenzt werden.

204

3. Ich möchte im folgenden untersuchen, ob und inwiefern ein Satztyp zum Imperativsatzmodus zu rechnen ist, der in den folgenden Belegen rhetorischer Aufforderungen zu finden ist: (8a) Man versuche mal, für einen Kinderfilm einen Kran zu bekennen, um zum Beispiel zu zeigen, wie die Gesellschaft auf die Kinder herunterschaut: unmöglich, den Kran braucht der Sport oder Herr Rosenthal. (ZEIT 49/ 1984: 33) (8b) Man nenne mir den Industrieboß, der es allen Menschen zum Zwecke der Erholung zu gestatten hat, auf der Dachterrasse seines 25stöckigen Verwaltungsgebäudes spazieren zu gehen. (ZEIT 38/ 1983: 16) Die "Nähe" von (8a) zum Imperativsatzmodus verdeutlicht ein unstrittiger Beleg wie (9): (9) "Mit diesem hochtechnisierten Gerät, das wir hier bedienen müssen", sagt der Hauptmann, "hätte der alte Kommißton bald seine Grenzen erreicht. Versuchen Sie mal, mit einer Kompanie, in der nur auf Befehl gearbeitet wird, einen Funkleitstand der modernen Generation zum Funktionieren zu bringen." (ZEIT 2/ 1985: 39) Grundsätzlich bestehen bei der Analyse des Typs 'indef. Pronomen + Verb in der 3. PS. Sg. Konj. Präs. + (mal)' zwei Optionen: Es kann sich um einen Deklarativsatz handeln oder um einen Imperativsatz. Wenn es sich um einen Imperativsatz handelt, muß es dafür einschlägige Argumente geben. Wenn es sich formal um einen Deklarativsatz handelt, gibt es noch die Möglichkeit, diesen Typ aufgrund seiner Semantik dem Imperativsatzmodus zuzurechnen. Windfuhr (1967) hat sich mit dem hier interessierenden Fall befaßt. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß sich die 3. PS. Sg. Konj. Präs, dem Imperativparadigma angegliedert habe. Folgende Daten sind ausschlaggebend: (10a) Einer nehme den Schraubverschluß. (10b) Nehme einer den Schraubverschluß. (10c) Man nehme den Schraubverschluß. (10d) *Nehme man den Schraubverschluß. (11a) Komme was will. (11b) Nimm sich wer will. (11c) Kaum mal einer her. Die Beispiele (10a) vs. (10b) zeigen, daß der Verbstellung keine entscheidende diagnostische Funktion zukommt; allerdings darf man nicht im Mittelfeld stehen, während einer durchaus im Vorfeld stehen kann. Anstelle des indefiniten Subjektausdrucks kann auch ein Satz stehen, wie (11a) zeigt. Entscheidendes Gewicht kommt nun Fällen wie (11b) zu, für die folgendes gilt: (12) i. Es liegt keine Endung auf /t/ vor, daher handelt es sich nicht um die 3. PS. Sg. Ind. Präs. ii. Es muß sich um die 3. PS. Sg. handeln, da diese Form mit S oder NP (bzw. Pro-NP) konstruiert werden kann.

205

iii. iv.

Es kann sich nicht um die 3. PS. Sg. Konj. Präs, handeln, da Ablaut vorliegt. Folglich muß 3. PS. Sg. Imp. vorliegen. Diese Form ist identisch mit der 2. PS. Sg. Imp.

Wie diese ablautenden Formen seien auch nicht-ablautende Formen mit /e/-Verlust zu beurteilen, vgl. (11c). Beide Formen alternieren, wie an folgenden Belegen gezeigt werden kann: (13a)

(13b)

Bemerkenswert: Das Kunstwerk hinter dem Arbeitstisch (Foto rechts) ist selbstgemacht aus Nessel, Wandfarbe und Autolack. Sag einer, daß Juristen keine Phantasie haben! (Brigitte 15/ 1984: 174) Im Jahr darauf sollte das Drama in dem Fassbinder-Band "Stücke 3" bei Suhrkamp erscheinen, doch der Verlag stoppte die Auslieferung, nachdem Joachim Fest in der "FAZ" interveniert hatte. Sage noch jemand, die Presse sei machtlos. Denn bis heute ist "Der Müll, die Stadt und der Tod" (abgesehen von Daniel Schmids Verfilmung "Schatten der Engel") nicht aufgeführt worden. (SPIEGEL 38/ 1984: 139)

Windfuhr (1967: 93) merkt dazu an, daß in seinem Idiolekt die /e/-haltige Form eine Empfehlung bezeichne, die /e/-lose hingegen eine konkrete Aufforderung. Das Ergebnis der Argumentation von Windfuhr (1967) ist, daß man den Übergang der 3. PS. Sg. Konj. Präs, ins Imperativparadigma als vollzogen ansehen kann, so daß also die drei Formen komme / nehme, komm und nimm gleichermaßen den Status einer 3. PS. Sg. Imp. hätten. Wichter (1978: 160f) vertritt gegen Windfuhr (1967) die Auffassung, daß es nur e i n e Form des Typs nimm, gib, wirf etc. gebe, und zwar die der 2. PS. Sg. Imp. Die von Windfuhr (1967) angeführten Beispiele seien nur in einer Sprechsituation möglich, in der der Aufgeforderte direkt angeredet werde. Nur in einer solchen Situation könne man sagen Gib mir mal einer sein Buch!, sonst müsse es heißen Einer soll mir mal sein Buch geben. Dem ist insoweit zuzustimmen, als bei Nicht-Anwasenheit·des Adressaten wohl kaum eine direkte Aufforderung ausgesprochen wird; dies scheint jedoch eine pragmatisch zu fassende Bedingung für direkte Aufforderungen zu sein und berechtigt nicht zu der Annahme, daß Imperativsätze semantisch immer einen Adressaten in der 2. PS. Sg. verlangen. Auch bleibt Wichter (1978) eine Erklärung schuldig, warum Formen der 2. PS. Sg. mit Subjektsätzen, Nominalphrasen etc. konstruiert werden können und auch die entsprechende Kongruenz des Possessivpronomens vorliegt. Neben den erörterten verbmorphologischen Argumenten für den Imperativischen Status von Konstruktionen des Typs (8) gibt Windfuhr (1967) noch ein semantisches Argument an. Man könne nämlich Sätze der Art (14a) leicht in solche der Art (14b) - die zweifelsfrei Imperativischen Charakter haben - umwandeln:

206

(14a) Man nehme ein Ei. (14b) Ein Ei nehmen. Ob allerdings Sätze vom Typ (14b) die Imperativsemantik erhalten sollten, ist für Fries (1983: 220f) fraglich. Er gibt zu bedenken, daß (a) die infiniten Typen auch mit [+WH]-Markierung (wie sie Fries (1983) für Interrogativsätze vorsieht) vorkamen können, (b) typische Imperativsätze idiomatische Wendungen zulassen (Geht alle zum Teufel! vs. *Alle zum Teufel gehen!), (c) typische Imperativsätze normalerweise dazu ungeeignet seien, "allgemein verbindliche Handlungsanweisungen" (220) auszudrücken; dies komme jedoch bei den infiniten Typen häufig vor. Dennoch konstatiert Fries (1983: 221) eine starke Tendenz dieser Formen zur logischen Form von Imperativsätzen. Femer ist zu beachten, daß die von Windfuhr (1967) erwähnte Umwandlung nicht immer gut möglich ist: Bei komplexen Sätzen scheint die Länge des Nebensatzes für die Akzeptabilität eine Rolle zu spielen, und komplexe Sätze, deren Nebensätze im Nachfeld stehen, scheinen akzeptabler zu sein als solche, deren Nebensätze im Vorfeld stehen. Die Zurechnung der nicht-ablautenden 3. PS. Sg. Konj. Präs, zum Imperativparadigma bleibt problematisch, und es ist auch kein Verfahren zur weiteren Überprüfung der Hypothese von Windfuhr (1967) denkbar. Wenn wir daher die Konstruktion vom Typ (8) zum Imperativsatzmodus rechnen wollen, müssen wir dies durch die Zuweisung der semantischen Repräsentation für den Imperativsatzmodus tun. Falls man sich dafür entscheiden würde, die fraglichen Konstruktionen als Deklarativsätze einzustufen, müßte man die entsprechenden Äußerungen als rhetorische Behauptungen betrachten - ein intuitiv wenig befriedigendes Ergebnis. Weitere Möglichkeiten bieten sich, wenn man wie Näf (1984: 35) einen eigenen Satztyp "Debitivsatz" postuliert. Seine Klassifikation ist allerdings rein verbmodusorientiert, während ich einen Zugang, der möglichst alle satzmodusfixierenden Merkmale korrelativ berücksichtigt, bevorzuge. Dabei mag es durchaus Spielräume bei der Satztypenklassifikation geben, die es aber durch empirische und theoretische Überlegungen einzuschränken gilt. 4. Die für Imperativsätze typischen Modalpartikeln mal und doch kommen auch häufig in rhetorisch gebrauchten Imperativsätzen vor. Ich will hier knapp auf die Frage eingehen, welchen Beitrag zur Interpretation der Äußerung als "rhetorisch", d.h. als indirekte Behauptung, sie leisten. Schwierigkeiten bei der Bedeutungs- bzw. Funktionsbestimmung von mal als Modalpartikel enstehen aus der Homonymie mit dem Temporaladverb. Lindner (1983: 138ff) nimmt sogar eine dreifache Homonymie an; sie unterscheidet

207

zwischen dem Teitporaladverb ('irgendwann einmal'), dem Frequentativ ('ein Mal 1 ) und der Modalpartikel ('einmal, als Möglichkeit unter anderen1). Daß die modale Lesart "keine Fiktion" sei, zeige sich u.a. daran, daß sie nur in bestaunten Umgebungen vorkommen dürfe. So ist für Lindner (1983: 142f.) der Satz Geh mal zum Arzt, modal zu interpretieren, da das Verb gehen eine Handlung bezeichnet, zu der der Adressat sich "aus freiem Willen entscheiden kann" (143); anders dagegen in der Äußerung Na denn siegt mal schönI. Ich sehe allerdings nicht, warum es sich in dem letztgenannten Beispiel um das Temporaladverb oder das Frequentativ mal handeln sollte; eher ist das Vorkommen eines statischen Verbs (vgl. dazu den folgenden Abschnitt) in einem Imperativsatz Indiz für die rhetorische Lesart. Es gehört zu den definierenden Eigenschaften einer rhetorischen Aufforderung, daß der Sprecher von dem Angesprochenen nicht erwartet, daß er der Aufforderung nachkommt; vielmehr erwartet der Sprecher, daß der Adressat dazu nicht willens oder in der Lage ist.

Es spricht daher nichts gegen eine

Modalpartikel-Lesart für das mal in rhetorischen Aufforderungen. Als eine wesentliche Bestimmung der Funktionsbeschreibung für mal nennt Lindner (1983: 148), daß der Sprecher

von dem oder den Aktanten die Ratifi-

zierung des Interaktionsschemas F "erwartet oder unterstellt". Dies ist nun, wie wir gerade gesehen haben, bei rhetorischen Aufforderungen nicht der Fall, so daß sich die Darstellung der Funktionen von mal in Form von Verwendungsbedingungen als problematisch erweist. Imperativsätze haben Erfüllungsbedingungen, und in diesen Bedingungen muß ausgedrückt werden, "daß eine Aufforderung nicht als befolgt gilt, wenn die betreffende Handlung irgendwann in der Zukunft erfolgt, sondern sie muß in einer adäquaten Zeitspanne nach dem Äußerungsakt erfolgen." (Wunderlich 1976: 152) Wenn es nun so ist, daß die Modalpartikel mal eine gewisse Beliebigkeit des Ausführungszeitpunktes (vgl. Franck 1980) signalisiert und damit mildernd oder abschwächend wirkt (vgl. Bublitz 1978) , kann ihr Vorkommen in rhetorischen Aufforderungen nicht verwundern: Der Sprecher verlangt hier ohnehin nicht die Ausführung einer Handlung durch den Adressaten. Auf der anderen Seite gibt es rhetorische Aufforderungen, die sich nur schlecht mit mal vertragen, vgl. (15a) in einer Situation, in der sich zwei miteinander streiten,und (15b) in einer Situation, in der der Sprecher die Antwort auf eine Frage nicht weiß: (15a) (15b)

Schlagt euch *mal! Frag mich *mal was Leichteres l

Möglicherweise kann man diese Fälle so erklären, daß (a) die hier unmittelbar in der Interaktionssituation erwartete Reaktion - mit dem Streit bzw. dem Fragen aufzuhören - der durch mal signalisierten "Beliebigkeit des Ausfuhrungs-

208

Zeitpunktes" zuwiderläuft und (b) die aggressive Tendenz dieser rhetorischen Aufforderungen (mit der indirekten Behauptung "Es ist sinnlos, sich zu streiten. ' bzw. "Es ist sinnlos, diese Frage zu stellen.1) der konstatierten "mildernden", "abschwächenden" Eigenschaft von mal entgegensteht. Kein Zweifel, beim jetzigen Forschungsstand müssen diese Überlegungen spekulativ bleiben. Typisch für die Modalpartikel doch ist nach Lindner (1983: 196) , daß der Sprecher an den Adressaten appelliert, "sein Zustandsbild in den relevanten Punkten an das seine anzugleichen, d.h. sich an dem Bild des Sprechers zu orientieren und entsprechende Folgerungen für das eigene Verhalten zu ziehen." (Vgl. auch Bublitz 1978: 103ff.) ;Franck 1980: 175ff.) Diese Charakterisierung trifft auch für die folgenden Belege rhetorischer Aufforderungen zu: (16a) Nur noch Stürmer Uli Egen (wie der Trainer aus Füssen stammend) wurde nicht persönlich von Weisenbach angeheuert. Aber ausgerechnet der Sohn des deutschen Altinternationalen forderte am Sonntag bei der 1:6-Schlappe in Rosenheim keß "Dann spiel' doch selbst", als Weisenbach Kritik übte. (Kölner Stadt-Anzeiger = KStA 236, 183: 12) (16b) "Zieh Jupp", feuerte ein Zuschauer beim Rundstreckenrennen seinen Star an. Der antwortete trocken: "Fahr doch selber mit". Das allerdings war kaum möglich: Der schon etwas angesäuselte Radsportfan am Straßenrand hielt in der linken Hand eine Bratwurst und in der rechten ein Kölschglas. (KStA 105/ 1984: 6) In (16a) ist die rhetorische Aufforderung eine Reaktion auf Kritik, in (16b) eine Reaktion auf eine Aufforderung, also eine rhetorische Gegenaufforderung. Dabei mag der Sprecher Jupp in (16b) die Aufforderung des Zuschauers als einen Vorwurf aufgefaßt haben. In Maibauer (1986) habe ich zwischen "rhetorizitätserzeugenden und rhetorizitätsverstärkenden'Ausdrucksmitteln unterschieden. Rhetorizitätserzeugend sind z.B. die Modalpartikeln schon und auch in Ergänzungsfragesätzen, vielleicht in Entscheidungsfragesätzen. Dagegen ist z.B. denn oder etwa rhetorizitätsverstärkend, denn diese Modalpartikeln bewirken nicht die rhetorische Lesart, können sie aber intensivieren, wenn Rhetorizität einmal als vorhanden angenommen wird. In diesem Sinne sind die Modalpartikeln mal und doch in rhetorischen Aufforderungen rhetorizitätsverstärkend. 5. Imperativsätze kommen auch in SatzVerknüpfungen vor, und zwar immer in der p-Position (p, q sei die Abfolge der Konjunkte), vgl. (17a) Studiere Linguistik und dein Platz in der Computerindustrie ist rHr sicher. (17b) *Dein Platz in der Computerindustrie ist dir sicher und studiere Linguistik.

209

Es handelt sich daher um eine asymmetrische Konjunktion (vgl. Schmerling 1975). Wunderlich (1984: 102f) geht davon aus, daß eine intuitive Äquivalenz zwischen Sätzen vom Typ (17a) und solchen vom Typ (17a') bestehe, wobei das p-Konjunkt als Antezedens eines Konditionals aufzufassen (17a')

sei:

Wenn du Linguistik studierst, ist dir dein Platz in der Computerindustrie sicher.

Bemerkenswert an dieser Umformung ist,

daß offenbar der Imperativsatz nicht im

Sinne einer direkten Aufforderung interpretiert wird, etwa in folgendem Sinne: (17a'')

Der Sprecher fordert den Angesprochenen auf, Linguistik zu studieren, und sagt voraus, daß der Angesprochene nach beendetem Studium einen Platz in der Computerindustrie erhält.

Wenn p aber nichtwörtlich interpretiert wird, liegt es nahe, wenigstens in manchen Fällen (d.h. in unserem Beispiel, wo (17a'') keine angemessene Interpretation für (17a) darstellt) einen rhetorischen Gebrauch anzunehmen. Zu fragen ist daher, welche Faktoren im einzelnen eine rhetorische Lesart für die p-Konjunkte bedingen und wie eine angemessene Paraphrase für die rhetorische Interpretation der gesamten Satzverknüpfung zu lauten hätte. Ibanez (1977: 233) legt folgende Klassifikation imperativischer Konditionalsätze vor: (18)

(19a) (19b) (19c)

Typ 1: +statisches Verb, -spezifizierte Bezugsperson, -impositiv Typ 2: -statisches Verb, ^spezifizierte Bezugsperson, +impositiv Typ 3: -statisches Verb, -spezifizierte Bezugsperson, -impositiv Besitze Vermögen und das Finanzamt nimmt es dir weg. (Typ 1) Arbeite und du wirst bezahlt. (Typ 2) Kürze die Diäten der Abgeordneten und du wirst sehen, wie schon am folgenden Tage die Korruption floriert. (Typ 3)

Gute Kandidaten für die rhetorische Interpretation sind die nicht-impositiven (= nicht- direktiven) Typen 1 und 2. Dem Typ 1 entsprechende Fälle werden in der Literatur oft genannt: (20a) (20b)

Gerate in die Hände der Polizei und du wirst dein blaues Wunder erleben. (Wunderlich 1984: 102) Gefalle einem Weib und du wirst nicht wieder frei kommen. (Wunderlich 1984: 102)

Daneben scheint es jedoch Fälle wie Sei mal 150 kg schwer und du weißt, wie mir zumute ist, (vgl. Reis 1982: 186) zu geben, bei denen zwar ein statisches Verb (Nicht-Handlungsverb) vorliegt, aber dennoch eine Bezugsperson spezifiziert ist. Das von Ibanez aufgestellte "pragmatische Postulat": (21)

Ist der Angeredete nicht in der Lage, bei der durch das Verb bezeichneten Handlung als Agens zu fungieren, so repräsentiert die zugrundeliegende Proform ein unspezifiziertes Agens. (1977: 234)

trägt dem Fall nicht Rechnung, daß eine Handlung in einer eigens als geeignet beschaffen vorgestellten (möglichen) Welt und durch eine in der aktualen Welt

210

bezeichnete Fersen als durchführbar betrachtet wird. In diesen Fällen spielt wohl als zusätzliche pragmatische Bedingung für die rhetorische Interpretation eine Rolle, daß der Sprecher annimrtt oder weiß, daß die bezeichnete Handlung nicht im Interesse des Hörers ist: Im q-Konjunkt wird dann die unangenehme Folge genannt, die ein entsprechendes Verhalten faktisch zeitigen würde. Zum Typ 2 möchte ich folgendes bemerken: Meines Erachtens gibt es auch hier die Möglichkeit einer Interpretation mit unspezifiziertem Subjekt, so daß man paraphrasieren könnte: 'Jeder, der arbeitet, wird bezahlt.' Und dies wäre gewiß keine Anweisung, sondern eine Art indirekter Behauptung. Vgl. dazu folgende rhetorische Sätze, bei denen die gleiche Umdeutung vorliegt: (22a) Wer wird nicht bezahlt, wenn er arbeitet? (22b) Ich möchte d e n sehen, der nicht bezahlt wird, wenn er arbeitet. (22c) Zeig mir e i n e n , der nicht bezahlt wird, wenn er arbeitet. Wenn ineine Vermutung richtig ist, könnte man folgern, daß Unspezifiziertheit bzw. Unspezifizierbarkeit der Bezugsperson ein wichtiger Faktor für die Auslösung der rhetorischen Interpretation ist. Man beachte, daß auch in den Sätzen unter (22) mit Hilfe der Ausdrücke wer, den, einen die Spezifizierung eines Individuums verlangt wird. Beim Typ 3 schließlich scheint es, worauf Ibaßez (1977: 234) selbst aufmerksam macht, auch eine Lesart mit spezifizierter Bezugsperson zu geben; wir müssen uns z.B. vorstellen, daß der Angesprochene in der Lage wäre, die Kürzung der Abgeordnetendiäten zu bewirken. Hier spielt dann wieder eine Rolle, ob der Sprecher weiß oder annimmt, daß der Angesprochene die erwähnte Konsequenz negativ bewertet. Deutlicher wird der Typ 3, wenn man Beispiele wählt, die zwar ein Handlungsverb aufweisen, bei denen die Imperativproposition aber aus prinzipiellen Gründen (jedenfalls in der aktualen Welt) nicht erfüllbar ist, vgl.: (23) Trag dein Herz auf der rechten Seite und du giltst als medizinisches Wunder. (Haftka 1982: 178) In diesem Fall mag umgekehrt sogar die Konsequenz als positiv bewertet werden. Für alle die Fälle, in denen der Sprecher annimmt, daß der Hörer den in der q-Position ausgedrückten Sachverhalt nicht herbeiführen will oder negativ bewertet, bietet sich als Paraphrase die Formulierung 'Es hat keinen Sinn, X anzustreben1 an. So würde sich für Komm nach Köln und du siehst den stinkigsten Fluß Europas. (Fries 1983: 91) die Lesart 'Es hat keinen Sinn, nach Köln zu kommen (wenn du stinkige Flüsse nicht magst)1 ergeben. Eine ähnliche Paraphrase benötigt man, um das Gemeinte rhetorischer warum / weshalb / wozu-Fragen wiederzugeben, vgl. etwa Warum nach Köln kommen? Diese Zusammenhänge und auch die Bezüge zu entsprechenden Satzverknüpfungen

211

mit oder (vgl. Ibafiez 1977 und Wunderlich 1984) gilt es noch weiter zu erforschen. Hier kam es mir zunächst nur darauf an zu zeigen, daß eine rein konditionale Paraphrase nicht das Gemeinte von Satzverknüpfungen mit einer rhetorischen Aufforderung (die meiner Auffassung nach assertiv interpretiert werden muß) in der p-Position wiederzugeben vermag. 6.

Nehmen wir einmal an, der Sprechakttyp'Aufforderung'könne in der von Searle

(1971: 100) vorgeschlagenen Weise definiert werden: (24) AUFFORDERN Regel des propositionalen Gehalts

Zukünftige Handlung A von H

Einleitungsregeln

1. H ist in der Lage, A zu tun. S glaubt, daß H in der Lage ist, A zu tun. 2. Es ist sowohl für S als auch für H nicht offensichtlich, daß H bei normalem Verlauf der Ereignisse A aus eigenem Antrieb tun wird.

Regel der Aufrichtigkeit

S wünscht, daß H A tut.

Wesentliche Regel

Gilt als ein Versuch, H dazu zu bringen, A zu tun.

Dann wird klar, daß rhetorische Aufforderungen keine echten Aufforderungen sein können. Bei einer rhetorischen Aufforderung treffen nämlich die wesentliche Regel, die Aufrichtigkeitsregel· und die Einleitungsregeln nicht zu. Anders mit den Regel für Behauptungen, die auf (4) als Interpretation von (2) zutreffen. Während ich auf der einen Seite rhetorische Aufforderungen als einen Aspekt des Gesamtphänomens Rhetorizität ansehe und damit davon ausgehe, daß es nicht so etwas wie einen Sprechakttyp 'rhetorische Aufforderung1 gibt, sehe ich auf rier anderen Seite keinen Grund, einen Satztyp 'rhetorischer Imperativsatz' zu postulieren. Dies deshalb, weil zu vermuten ist, daß rhetorische Aufforderungen in Form aller unterscheidbaren Imperativsatztypen vorkommen können. Einen genauen Nachweis kann ich an dieser Stelle nicht führen, doch seien wenigstens die wichtigsten Typen hier in rhetorischer Verwendung aufgeführt: (25a) (25b) (25c) (25d) (25e)

Mach (d u) das erst mal nach! Macht (i h r) das erst mal nach! Machen Sie das erst mal nach! Machen wir das erst mal nach! Erst mal nachmachen!

212

LITERATUR

Bierwisch, M. (1980): "Semantic structure and illocutionary force In: Searle, J.R. / Kiefer, F. / Bierwisch, M. (eds.)(1980): Speech Act Theory and Pragmatics. Dordrecht, 1-35. Bublitz, W. (1978): Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung im Deutschen und Englischen. Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Pragmatik der deutschen Modalpartikeln und ihrer englischen Entsprechungen. Tübingen. Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (1984). Herausgegeben und bearbeitet von Günther Drosdowski. Mannheim/Wien/Zürich: Bibl. Inst., 4. Aufl. Engel, U. (1977): Syntax der deutschen Gegenwartssprache. Berlin. Franck, D. (1980): Grammatik und Konversation. Königstein/Ts. Fries, N. (1983): Syntaktische und semantische Studien zum frei verwendeten Infinitiv und zu verwandten Erscheinungen im Deutschen. Tübingen. Haftka, B. (1982): "Zur semantischen Charakteristik von ürperativpropositionen." Linguistische Studien 99, 178-186. Heibig, G. (1977): "Partikeln als illokutive Indikatoren im Dialog." Deutsch als Fremdsprache 1, 30-44. Helbig, G. (1981): "Die deutschen Modalwörter im Lichte der modernen Forschung." Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 1, 5-29. Ibanez, R. (1977) : "über die Beziehungen zwischen Grairtnatik und Pragmatik: Konversationspostulate auf dem Gebiet der Konditionalität und Imperativität." Folia Linguistica 10, 223-248. Lindner, K. (1983): Sprachliches Handeln bei Vorschulkindern. Studien zur Organisation von Interaktion. Tübingen. Matzel, K. / Ulvestad, B. (1978): "Zum Adhortativ und Sie-Imperativ." Sprachwissenschaft 3, 146-184. Meibauer, J. (1986): Rhetorische Fragen. Tübingen. Näf, A. (1984): "Satzarten und Äußerungsarten im Deutschen. Vorschläge zur Begriff sfassung und Terminologie."Zeitschrift für germanistische Linguistik 12, 21-44. Reis, M. (1982): "Zum Subjektbegriff im Deutschen." In: Abraham, W. (ed.): Satzglieder im Deutschen. Vorschläge zur syntaktischen, semantischen und pragmatischen Fundierung. Tübingen, 171-211. Searle, J.R. (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt/M. Schmerling, S.F. (1975): "Asymmetrie conjunction and rules of conversation." In: Cole, P. / Morgan, J.L. (eds.): Syntax and Semantics, Vol. 3. Speech Acts. New York / London /Toronto, 211-231. Wichter, S. (1978): Probleme des Modusbegriffs im Deutschen. Tübingen. Windfuhr, G. (1967): "Strukturelle Verschiebung: Konjunktiv Präsens und Imperativ im heutigen Deutsch." Linguistics 36, 84-99. Wunderlich, D. (1976) : Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt/M. Wunderlich, D. (1984): "Was sind Aufforderungssätze?" In: Stickel, G. (ed.): Pragmatik in der Graramatik. Jahrbuch 1983 des Instituts für deutsche. Sprache. Düsseldorf: Schwärm, 92-117.

KLASSEN VON SPRECHAKTEN, SPRECHAKTVERBEN UND SPRECHAKTE

Zur Unterscheidung verschiedener Fragestellungen in der Sprechaktforschung Heinrich Weber

1.

Am Beispiel des Versprechens geht Searle der Frage nach, unter welchen Be-

dingungen ein illokutionärer Akt mittels der Äußerung eines gegebenen Satzes erfolgreich und vollständig vollzogen wird. Zunächst stellt er die Bedingungen auf, unter denen man durch die aufrichtige Äußerung eines Satzes ein wahrhaftiges und vollständiges Versprechen gibt; dann leitet er aus diesen Bedingungen Regeln ab "für den Gebrauch eines jeden Mittels V, das als Indikator des Versprechens dient" (Searle 1971: 97). Er sieht also eine eindeutige wechselseitige Entsprechung zwischen dem Versprechen als solchem, den sprachlichen Mitteln zur Indikation des Versprechens und den konkreten individuellen Versprechen, die in der Kommunikation tatsächlich vollzogen werden. Searles Analyse zielt auf die "Natur" des Versprechens (1971: 86) und idealisiert ihren Gegenstand; was dieser Analyse nicht entspricht, wird als "Randfall", "Grenzfall" oder Abweichung "von den paradigmatischen Fällen des Versprechens" betrachtet (1971: 86). Ob man dieses idealisierte Modell akzeptieren kann, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man die Randfälle, Grenzfälle und Abweichungen bewertet. Im folgenden soll argumentiert werden, daß die von Searle als marginal betrachteten Fälle eher der Normalfall sind, sein "paradigmatischer Fall" aber ein Grenzfall, und daß das Modell durch ein anderes ersetzt werden muß, wenn es dem Zusammenhang zwischen der "Natur" von Sprechakten, den sprachlichen Mitteln zu ihrer Kennzeichnung und den individuell vollzogenen Sprechakten in der Rede gerecht werden will. 2.

In einem Forschungsbericht weist Meibauer (1985) zu Recht darauf hin, daß

Searles Art der Sprechaktanalyse zwar Schule gemacht habe, daß aber ihre Voraussetzungen, nämlich die Zuweisung der Sprechakte zur "langue" und das damit zusammenhängende Prinzip der Ausdrückbarkeit "nicht besonders problematisiert" worden seien (1985: 35). Es scheint darum sinnvoll, mit der Diskussion hier einzusetzen. Nach Searle beansprucht die Sprachphilosophie, daß ihre Schlüsse über "Wahrheit", "Behauptung", "Versprechen" u.a. für jede Sprache gelten, in der so etwas vorkommt. Es gehe "nicht um einzelne Sprachen wie Französisch, Englisch oder Suaheli, sondern um die Sprache" (1971: 13). An anderer Stelle sagt er: "Illoku-

214 tionen gehören zur Sprache und nicht zu einzelnen Sprachen." (1979: 18) Searle identifiziert jedoch die "Sprache" (im Gegensatz zu den "Sprachen") mit der "langue" im Sinne de Saussures, wenn er die Zuweisung der Sprechakte zur "parole" ablehnt und behauptet, "daß es sich bei einer adäquaten Untersuchung von Sprechakten um ej_ne Untersuchung der

l a n g u e

handelt." (1971: 32) Diese Identi-

fikation ist jedoch aus folgenden Gründen höchst problematisch: 2.1.

Nach de Saussure entspricht der Begriff "langue" einer einzelnen Sprache

wie Englisch, Französisch usw. und nicht der "Sprache", für die er den Terminus "langage" verwendet: "[Die 'langue1] ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Pede [faculte du langage] und ein Ineinandergreifen [ensemble] notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen." (1916 / 1967: 11) Searle bezieht aber die Sprechakte gerade nicht auf die als Konventionen in sozialen Körperschaften aufgefaßten Einzelsprachen. 2.2.

Bierwisch (1980) hebt zu Recht hervor, daß Searle die grundlegende Unter-

scheidung zwischen Sprache und Kommunikation verschleiere. Er weist darauf hin, daß einerseits die Sprache nicht nur zur Kommunikation verwendet werde, sondern z.B. auch als Mittel des Denkens oder als Gedächtnisstütze, und daß andererseits die Kommunikation nicht bloß auf Sprache gegründet sei, sondern daß es auch nichtsprachliche Handlungen gebe, die dieselbe illokutionäre Kraft und denselben propositionalen Gehalt hätten wie Sprechakte. Er sieht in der sozialen Interaktion, zu der die Kommunikation gehöre, ein vom dem sprachlichen unterschiedenes Wissenssystem mit weitgehend unabhängigen Prinzipien und Regeln wirksam (198O: 2-3). Nach de Saussure gehört die Kommunikation als "Kreislauf des Sprechens" ("zwei Personen, A und B, welche sich unterreden") zwar zur "Gesamtheit der menschlichen Rede [ensemble du langage]", jedoch nicht zur "langue", die als Teilgebiet aus dieser Gesamtheit ausgegrenzt wird (1916 / 1967: 13-14). 2.3.

Die einzelnen Sprachen können zwar in ihrem grammatischen und lexikalischen

System zwischen verschiedenen Sprechakten unterscheiden. Die grammatische Unterscheidung der Sprechakte durch die Satzarten "Aussagesatz","Fragesatz", "Befehlssatz" und eventuell "Wunschsatz", die z.B. das Deutsche kennt, ist aber sehr weitmaschig, vor allem wenn man bedenkt, daß der Aussagesatz als merkmallose Form praktisch für alle Sprechakte eintreten kann. Die lexikalische Unterscheidung durch die sprechaktbezeichnenden Verben wird nur selten zur Ausführung von Sprechakten genutzt; die explizit performative Formel, von der Searle ausgeht, ist eher eine Randerscheinung. Die sprechaktbezeichnenden Verben dienen haupt-

215

sächlich der Beschreibung oder Interpretation von Sprechakten anderer. Sehr oft verzichtet man auf eine explizite Charakterisierung und überläßt das Verständnis der Intuition. Man kann jede direkte Rede mit sagen einleiten, einem Verb, das gegenüber den verschiedenen Sprechakten - abgesehen vielleicht von fragen - neutral ist;

die Unterscheidung von Sprechakten mittels Verben wie

behaupten, versprechen, drohen, bitten usw. ist hier zwar möglich, aber keinesfalls nötig. Für das Französische hat Körner (1977: 155ff.) gezeigt, daß erst seit dem 19. Jh. speziellere Verben als dire zur Einleitung der direkten Rede verwendet werden, d.h. die illokutionäre Rolle einer Äußerung genauer spezifiziert wird. Er hält diese Spezifizierung für redundant: "Ein spezieller Teil der mit der Rede gegebenen Information über Inhalt und Ausdruck wird im. Redeverb gedoppelt." (1977: 165) Es besteht darum Grund zu der Annahme, daß die illokutionäre Rolle einer Äußerung mit den Mitteln einer "langue" zwar mehr oder weniger genau unterschieden werden kann, aber im Normalfall nicht unterschieden zu werden braucht und auch nicht unterschieden wird, keinesfalls aber unterschieden werden muß. 2.4.

Searle begründet seine Behauptung, die Untersuchung von Sprechakten sei

eine Untersuchung der "langue", mit dem"Prinzip der Ausdrückbarkeit". Dieses Prinzip, das für seine "Argumentation von großer Wichtigkeit" ist (1971: 3 4 ) , besagt, "daß man alles, was man meinen kann, auch sagen kann" (1971: 32). Wir brauchen hier nicht zu diskutieren, ob dieses Prinzip durch die Feststellung, es sei "analytisch wahr", hinreichend begründet ist;

immerhin gibt es so etwas

wie einen Unsagbarkeitstopos. Jedenfalls ist es, wenn es gilt, kein Prinzip der "langue",

sondern ein Prinzip des "langage". Denn in der Formulierung Searles

beinhaltet es, daß es "prinzipiell[··J keine Schranken [gibt], die es unmöglich machten, eine unzureichende Sprache zu erweitern oder das Gemeinte in einer reicheren auszudrücken." (1971:32) "Unzureichend" oder "reich" ist eine Einzelsprache; die Erweiterung einer "langue" oder der Übergang in eine andere "langue" ist dagegen Teil der menschlichen Sprachfähigkeit, die die Fähigkeit einschließt, "langues" zu schaffen und zu verändern. Als Prinzip des "langage" ermöglicht das Prinzip der Ausdrückbarkeit, Erdachtes oder Erkanntes dadurch auszudrücken, daß man neue sprachliche Einheiten und Regeln, d.h. "langue" schafft, sei es, daß man eine vorhandene Sprache erweitert (z.B. durch wissenschaftliche Terminologien), sei es, daß man für besondere Zwecke eine neue Sprache schafft (z.B. die logischen Sprachen). In diesem Sinn wendet Searle tatsächlich das Prinzip der Ausdrückbarkeit an, wenn er auf eine bisher unbekannte Weise Sprechakte analysiert, definiert und klassifiziert sowie

216

zur Bezeichnung seiner Erkenntnisse neue Termini schafft. Dies ist jedoch nicht Beschreibung, sondern Überwindung der "langue" mit dem Ziel, den "langage" als den Gegenstand der Untersuchung genauer zu erfassen. 2.5.

Da Searle das Prinzip der Ausdrückbarkeit als Prinzip der "langue" betrach-

tet, kann er das Sagbare überhaupt mit dem identifizieren, was durch eine Einzelsprache selbst gesagt warden kann. Obwohl er sieht, daß vielfach nicht die Satzbedeutung allein den konkreten Sprechakt bestimmt, da man mehr meinen kann, als man sagt, schließt er den einen Grenzfall aus, bei dem die Satzbedeutung den konkreten Sprechakt überhaupt nicht bestimmt (man vergleiche das Beispiel des amerikanischen Soldaten, der sich mit den Worten Kennst du das Land ... als Deutscher ausgeben will - 1971: 70-71), und setzt den anderen Grenzfall, bei dem die Satzbedeutung den konkreten Sprechakt vollständig bestürmt, zur Norm: "Deshalb ist im Prinzip jeder Sprechakt, den man vollzieht oder vollziehen könnte, durch einen gegebenen Satz (oder durch eine gegebene Reihe von Sätzen) eindeutig bestimmbar." (1971: 32-33) Er muß aber zwei Einschränkungen machen, nämlich daß "der Sprecher aufrichtig spricht" und daß "der Zusammenhang passend ist".

Aufrichtigkeit und Situationskontext sind aber keine Kategorien der Ein-

zelsprache, sondern des Sprechens bzw. der Kommunikation. Da er diese Einschränkungen nicht näher diskutiert, kann er folgern: "Aus diesen Gründen ist die Untersuchung der Bedeutung von Sätzen nicht grundsätzlich verschieden von einer Untersuchung der Sprechakte. Richtig verstanden handelt es sich in beiden Fällen um die gleiche Untersuchung." (1971: 33) Die Identifizierung der Sprechakt- mit der Bedeutungsanalyse hat zur Folge, daß Searle sich auf die Beschreibung des "expliziten Versprechens" beschränken muß (1971: 86), daß er in Bedingung 8 (1971: 93) annehmen muß, der Sprecher wolle sein Ziel ausschließlich mittels der Bedeutungen einer Einzelsprache erreichen,und daß er in Bedingung 9 (1971: 94) eine Einzelsprache unterstellen muß, die in ihrer Bedeutungsstruktur genau den von ihm postulierten Sprechakt ausdrücken kann. 2.6.

Die konkreten Sprechakte liegen irgendwo zwischen den oben genannten Grenz-

fällen. Wollte man beispielsweise versprechen, die Erstausgabe von "Speech Acts" einer bestürmten Person zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort auf eine bestimmte Weise zu übergeben, so könnte man dies - jeweils einen passenden Zusammenhang vorausgesetzt - entweder dadurch tun, daß man mit dem Kopf nickt oder daß man Ja.', Er bekommt sein Buch, Ich gebe ihm das Buch auf dem Bahnhof in den Zug oder Ich verspreche

dir, daß ich deinem Freund Hans Müller Searles

217 "Speech Acts" von 1969 morgen früh um sieben auf dem Hauptbahnhof in den Zug nach Stuttgart geben werde sagt.

Der vollzogene Sprechakt ist nicht nur eine Funktion der Satzbedeutung, sondern eine Funktion aus mehreren Faktoren (z.B. Alltagswissen, Kenntnis der Interaktionsbeziehung) , von denen die Satzbedeutung nur einer ist.

Der Umfang der

"Versprachlichung" des Sprechakts, d.h. seiner "Darstellung" (vgl. Bühler 1934 in der Interpretation von Coseriu 198O: 65-68) kann dabei variieren vom bloß mimisch-gestischen, aber noch nicht einzelsprachlichen Ausdruck über einzelsprachliche Einheiten mit globaler Bedeutung (z.B. das Satzwort ja) bis hin zu sehr komplexen syntaktischen Strukturen. Die vollständige Versprachlichung ist beim Versprechen vielleicht gar nicht möglich, da selbst die explizit performative Formel ich verspreche dir hiermit nicht eindeutig genug ist,

weil sie

auch für Drohungen und Versicherungen verwendet werden kann und weil man diese Verwendungen nicht von vornherein als inkorrekt ausschließen kann. Realisiert ist der von Searle beschriebene Grenzfall vielleicht in institutionalisierten Sprechakten wie dem Diensteid der Beamten, dessen Wortlaut gemäß der Forderung von Bedingung 9 (1971: 94) "korrekt und aufrichtig dann und nur dann geäußert wird", wenn eine Vereidigung stattfindet. Die Eidesformel ist aber nur insofern "langue", als sie mittels Einheiten und Regeln des Deutschen gebildet wird. Als Äußerung, mit der man den Sprechakt "Diensteid" vollzieht, ist sie aber nicht aufgrund der "langue" Deutsch auf diesen Sprechakt eindeutig bezogen, sondern weil sie ein gesetzlich fixierter Text ist

(LBG § 7 1 ) , der jeweils

wiederholt werden muß. Das Sprechen einer Sprache besteht aber im allgemeinen nicht darin, fixierte Texte zu wiederholen. 3.

Daß Searle die Sprechakte der "langue" zuweist, könnte mit einer Unklarheit

im "langue"-Begriff bei de Saussure selbst zusammenhängen. Denn de Saussure sieht in der "langue" nicht nur die Konventionen einer Sprachgemeinschaft zur Ausübung der Sprachfähigkeit (vgl. 2.1. oben), sondern gibt noch eine andere Erklärung: "La langue est pour nous le langage moins la parole. Elle est l'ensemble des liabitudes linguistiques qui permettent a un sujet de comprendre et de se faire comprendre." (1916 / 1976: 112) Nach dieser Auffassung ist die "parole" nichts anderes als die Realisierung einer "langue". Ähnlich ist das Verhältnis von Kompetenz und Performanz bei Chomsky zu sehen, der sich hier ausdrücklich auf de Saussure beruft (Chomsky 1969: 14). Zwischen der "langue" als "langage moins parole" und der "langue" als sozialer Einrichtung besteht jedoch ein gewisser Widerspruch. Im einen Fall enthält die "langue" a l l e Gewohnheiten oder Regelmäßigkeiten, die in der "parole"

218

auftreten, und zwar unabhängig davon, ob sie allen Menschen gemeinsam und darum universell sind, ob sie einzelsprachlich sind oder ob sie gar individualsprachlich sind. Im anderen Fall enthält die "langue" nur die

b e s o n d e r e n

Konventionen, mit denen eine Sprachgemeinschaft die Ausübung der universellen Sprachfähigkeit geregelt hat. Diese Schwierigkeit scheint bereits dem Verfasser der deutschen Übersetzung aufgefallen zu sein, der Elle est l'ensemble ... auf die "parole" bezieht und nicht auf die "langue": "Die Sprache ist für uns die menschliche Rede abzüglich des Sprechens. Es [!] ist die Gesamtheit der sprachlichen Gewohnheiten, welche es dem Individuum gestatten, zu verstehen und sich verständlich zu machen." (1916 /

1967: 91) Das Problem, um das es uns hier geht, besteht also darin, ob die "langues" alles umfassen, was für das Sprechen nötig ist,

d.h. ob sie zu einem mehr oder

weniger großen Teil universell sind, oder ob sie nur das enthalten, was für eine Sprachgemeinschaft eigentümlich ist,

d.h. ob sie ihrer Natur nach verschie-

den voneinander sind. Searle hat sich nun stillschweigend der ersten Interpretation angeschlossen, einer Interpretation, die - wie wir gesehen haben - in bezug auf die Sprechakte zu Schwierigkeiten führt. Die andere Interpretation ist zuerst 1955 von Coseriu formuliert worden: "[...] das Sprechen ist nichb von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache vom Sprechen. Das deswegen, weil Sprache konkret nur Sprechen, Tätigkeit ist und weil das Sprechen weiter als die Sprache reicht. Denn während die Sprache ganz im Sprechen steckt, geht das Sprechen nicht ganz in der Sprache auf." (1955 / 1975: 258) In Ausarbeitung dieser Interpretation hat Coseriu eine Sprachtheorie vorgeschlagen, nach der dem konkreten Sprechen keine einheitliche Sprachkompetenz, sondern vielmehr drei verschiedene Schichten des sprachlichen Wissens zugrunde liegen (Coseriu 198O: 5-9, Coseriu 1984): (1) Die allgemeine Sprachkonpetenz umfaßt das Wissen, das allem menschlichen Sprechen gemeinsam ist, d.h. dem "langage" angehört. Dieses Wissen ermöglicht es, in Übereinstimmung mit dem Denken und der Wirklichkeit zu sprechen sowie das Sprechen anderer danach zu beurteilen, ob es kohärent und kongruent ist. Sein Inhaltsaspekt ist die Bezeichnung, d.h. der Bezug zur Wirklichkeit (Referenz) . (2) Die einzelsprachliche Kompetenz besteht in dem Wissen darüber, wie in einer Sprachgemeinschaft Ausdrücke gebildet und Inhalte unterschieden werden. Dieses Wissen erlaubt, das Sprechen anderer als "korrekt" oder "nicht korrekt" zu bewerten. Der einzelsprachliche Inhaltsaspekt ist die Bedeutung, d.h. der durch die sprachlichen Ausdrücke selbst unterschiedene und abgegrenzte Inhalt.

219

(3) Die Textkompetenz umfaßt das Wissen darüber, wie man in bestimmten Situationen für bestimmte Zwecke Texte gestaltet und interpretiert. Dieses Wissen erlaubt die Bewertung des Sprechens anderer als "angemessen oder "nicht angemessen". Sein Inhaltsaspekt ist der Sinn, der die "Illokutionen" der Sprechakttheorie einschließt. Daß die Sprachkompetenz mehrschichtig ist,

wird inzwisehen auch von Autoren

gesehen, die auf der Sprachtheorie Chomskys aufbauen. So unterscheidet Bierwisch (198O, 1983) drei verschiedene, bei kommunikativen Sprechakten zusammenwirkende Kenntnissystenne, nämlich (1) das sprachliche Kenntnissystem, das Lautstrukturen mittels syntaktischer Strukturen auf semantische Strukturen bezieht und die sprachliche Bedeutung eines Ausdrucks generiert, (2) das konzeptuelle Kenntnissystem, das das begriffliche Wissen umfaßt und dem sprachlichen Ausdruck eine Äußerungsbedeutung zuweist, indem es ihn auf einen Kontext bezieht, (3) das noch weitgehend unbekannte - Kenntnissystem, das sich auf die soziale Interaktion bezieht und die Äußerungsbedeutung mit der Kommunikationssituation in Beziehung setzt, um aus beidem den kommunikativen Sinn abzuleiten. Die Unterscheidungen Bierwischs decken sich zwar nicht mit denen Coserius, weisen aber in die gleiche Richtung. Die Details können hier nicht diskutiert werden. Erkennt man die Mehrschichtigkeit der Kompetenz an, so kann die "langue" als Einzelsprache nicht "langage moins parole" sein, wie de Saussure - und mit ihm Searle - noch meinte. Vielmehr beinhaltet sie nur noch einen Teil der Kompetenz, die im Sprechen realisiert wird. Innerhalb der mehrschichtigen Kompetenz ist das Wissen, das das Bilden und Verstehen von Sprechakten ermöglicht, primär ein Wissen darüber, wie man Texte bildet und versteht, bzw. ein Wissen über soziale Interaktion. Bierwisch nimmt diese Einsicht zum Anlaß, die Sprechakttheorie aus der Sprachtheorie auszuschließen und der Kommunikationstheorie zuzuweisen. Dies ist insofern inkonsequent, als er die Sprachtheorie nicht auf die Theorie der Einzelsprache reduziert, sondern das konzeptuelle Kenntnissystem mit einbezieht. Geht man aber über die Einzelsprache hinaus, so besteht kein Grund, den Bezug der Sprache zum Denken und zur Welt gegenüber dem Bezug der Sprache zum Sprecher und zum Hörer hervorzuheben. Welt und Gesellschaft sind nämlich gleichermaßen konstitutiv für die Sprache als "langage". Außerdem gehören Sprechakte in gewissem Sinne auch zum Wissen über die Welt, weil die Kommunikation ein Teil der Welt ist und genauso wie andere Teile (z.B. konkrete Gegenstände, nichtsprachliche Handlungen) einer begrifflichen Erfassung zugänglich ist,

sobald man sie nicht bloß praktisch vollzieht, sondern zum Gegen-

stand wissenschaftlicher

Reflexion macht. Die Fähigkeit, Sprechakte begrifflich

220

zu unterscheiden, ist aber Teil der allgemeinen Sprachkompetenz. Daß die Sprechakte insofern mit der einzelsprachlichen Kompetenz zusammenhängen, als die Einzelsprachen grammatische und lexikalische Mittel zur Kennzeichnung von Sprechakten ausgebildet haben, kann als unbestritten gelten. 4.

Da die Untersuchung von Sprechakten weder mit der Untersuchung einer "langue"

zu identifizieren ist noch allein einer Untersuchung der sozialen Interaktion zugewiesen werden kann, müssen alle drei Schichten der sprachlichen Kompetenz berücksichtigt werden. Allerdings ist die Fragestellung auf jeder Ebene eine andere (vgl. Coseriu 1980: 8-9): 4.1.

Die Ebene der allgemeinen Sprachkompetenz ist die Ebene, auf der die Be-

griffe gebildet und unterschieden werden, mit denen wir die Wirklichkeit - und damit auch die Wirklichkeit der Kommunikation - erfassen, d.h. die Ebene der Definition und Klassifikation von Sprechakten. Daß wir solche Begriffe bilden können, beruht auf der menschlichen Sprachfähigkeit. Welche Begriffe wir bilden, hängt beim unreflektierten Sprechen von der "langue" ab, die wir gelernt haben. Es ist jedoch möglich, die in einer "langue" vorgegebene Einteilung zu überwinden, indem man neue Begriffe für bestimmte, z.B. für wissenschaftliche Zwecke bildet und benennt, exakt definiert und dadurch rechtfertigt, daß man sie auf allgemeinere Prinzipien zurückführt. Man schafft damit eine neue "langue" für diesen Teilbereich oder erweitert eine vorhandene "langue" um eine wissenschaftliche Terminologie. Begriffsbildungen, die mit einer Typologie von Sprechakten vergleichbar sind, hat es schon vor der Sprechakttheorie gegeben. Aristoteles hat in der "Rhetorik" die Gattungen der öffentlichen Rede u.a. nach den Sprechaktklassen unterschieden, die in ihnen vorherrschen, und damit Sprechakte auf Textsorten bezogen: "Die Gattung der beratenden Rede hat Zuraten oder Abraten zur Aufgabe; [...] Die Gattung der Gerichtsrede beinhaltet entweder Anklage oder Verteidigung; [...] Die Gattung der Prunkrede behandelt entweder Lob oder Tadel." (1980:21) Karl Bühler unterscheidet in seinem "Organonmodell" drei Grundfunktionen des sprachlichen Zeichens, nämlich "Kundgabe" oder "Ausdruck", "Auslösung" oder Appell" und "Darstellung" (1918; 1934: 24-33). Eine Unklarheit bei dem Begriff "Darstellung" hat Coseriu (1980: 65-68) beseitigt, indem er zwischen der "Darstellung" als einer Funktion des sprachlichen Zeichens unabhängig von seiner Verwendung (was der "Bedeutung" entspricht) und dem "Bericht" als einer Funktion der Zeichenverwendung unterscheidet, die auf der gleichen Ebene wie "Ausdruck" und "Appell" liegt.

221

Die Sprechaktklassifikation von Austin (1972: 163-8O), die fünf Klassen mehr intuitiv als begrifflich exakt abgrenzt, ist von Searle (1979) dadurch verbessert worden, daß er als Klassifikationskriterien den Zweck, die Wort-Welt-Ausrichtung und den ausgedrückten Seelenzustand explizit heranzieht. Allerdings weist auch Searles Klassifikation noch Unvollkommenheiten auf, weil er z.B. die institutionelle Deklaration nicht systematisch von den in der Alltagskonmunikation frei gebildeten Sprechakten trennt und weil er Direktive und Komrissive nach seinen Kriterien nur schwer auseinanderhalten kann. Trennt man die institutionsgebundenen Deklarationen von den übrigen Sprechaktklassen (vgl. Bach/Harnish 1979) und faßt die Direktive und Konmissive unter dem Gesichtspunkt zusammen, daß sie für den Hörer bzw. für den Sprecher den Charakter eines "Appells" haben, so erweist sich Bühlers "Qrganonmodell" als ein der Sprechaktklassifikation zugrunde liegendes Prinzip. Zieht man außerdem das traditionelle Schema der Seelenkräfte "Denken", "Fühlen" und "Wollen" heran, so erhält man eine allgemeinste Klassifikation, die durch jedes der drei Prinzipien Searles zu rechtfertigen und damit dreifach abgesichert wäre: Zweck

Wort-Welt-Ausrichtung

Seelenzustand

Kundgabe / Ausdruck

keine, da subjektiv

Fühlen

Auslösung / Appell

Welt auf Wort

Wollen

Bericht (Darstellung)

Wort auf Welt

Denken

Wie diese allgemeinsten Klassen zu subklassifizieren sind, kann hier nicht diskutiert werden. Eine Sprechaktklassifikation ist nicht nur zur Klassifikation von konkreten Sprechakten geeignet, sondern auch - in lexikographischer Hinsicht - als ein Begriffssystem, das als Grundlage eines onomasiologischen Wörterbuches für diesen Teilbereich dienen kann. Ungeachtet der mehreren Rezensenten aufgefallenen Mängel ist es sicher ein Verdienst von Ballmer und Brennenstuhl (1981), ein solches Wörterbuch für das Englische vorgelegt zu haben. Die Frage, ob man Sprechakte oder Verben klassifiziert hat (Meibauer 1982), ist müßig, da ein solches Begriffssystem mit universellem Anspruch sowohl an die beschriebene "langue" wie an die konkreten Sprechakte der "parole" von außen herangetragen wird. In dieser Hinsicht ist es aber "prinzipiell unabhängig" (Meibauer 1982: 141) nicht nur von der Semantik der Sprechaktverben, sondern auch von den konkreten Sprechakten. Es könnte nämlich denkmögliche Sprechakte definieren, die in der "parole" nicht auftreten. So ist der Sprechakt "verhexen" zwar denkbar und unterscheidbar (er wird im Deutschen durch dieses Wort unterschieden), kann aber in der "parole" nach dem heutigen Stand des Wissens gar nicht realisiert werden.

222

4.2.

Die Ebene der einzelsprachlichen Kompetenz ist die Ebene der grammati-

schen und lexikalischen Mittel, die in einer bestimmten Einzelsprache aus den möglichen Unterscheidungen ausgewählt werden, um Sprechakte anzuzeigen oder zu benennen. Wie oben schon gesagt, ist die Unterscheidung von Sprechakten mit grammatischen Mitteln im Deutschen nicht obligatorisch, weil für alle Sprechakte der markmallose Aassagesatz stehen kann. Andererseits wird der Sprechakt 'fragen1 in der Grammatik des Deutschen sehr wohl unterschieden, obwohl er auf der

all-

gemeinen Ebene nur eine Subklasse der Appelle oder Direktive darstellt. Die einzelsprachliche Grammatik klassifiziert also anders, als ein universelles System wie das von Bühler oder Searle erwarten ließe. Das gleiche gilt für das Lexikon: Die allgemeinsten Redeverben sagen, sprechen, reden, fragen beziehen sich ihrer Bedeutung nach nicht auf allgemeinste Sprechaktklassen eines universellen Systems, sondern - ungeachtet aller Überschneidungen in der Verwendung - eher auf den Inhalt (sagen, daß ...; Verbalsubstantiv Aussage anstelle von Sage, das lexikalisch isoliert ist), auf die verwendete "langue" (deutsch sprechen; Substantiv spräche) und auf die Kommunikation (miteinander reden; Substantiv Rede). Nur das Verb fragen grenzt eine Klasse von Sprechakten eindeutig ab. Die spezielleren Redeverben können aufgrund ihrer Bedeutung auch auf nicht-sprachliche Handlungen angewandt werden. Um zu bitten, zu drohen oder zu warnen, muß man nicht unbedingt etwas sagen. Man kann um Mitnahme bitten, indem man am Straßenrand winkt; eine Regierung kann drohen, indem sie Truppen an der Grenze zusammenziehen läßt; man kann warnen, indem man die Stirn in Falten legt usw. Auffallend ist,

daß viele

Verben primär nicht-sprachliche und erst sekundär sprachliche Handlungen bezeichnen. Das Verb feststellen kann sich z.B. auf eine Tätigkeit an Gegenständen im Raum (einen Hebel feststellen), auf eine Wahrnehmung (Rostschäden

fest-

stellen) oder auf eine Sprechhandlung beziehen (feststellen, daß ...); die Bildung aus fest und stellen ist auch in synchronischer Hinsicht noch durchsichtig. Die semantische Beschreibung von Sprechaktverben hätte zum Ziel, die Unterscheidungen herauszuarbeiten, die durch die Verben als Einheiten mit Ausdruck und Bedeutung gemacht werden; eine solche Beschreibung darf nicht verwechselt werden mit einer onomasiologischen Beschreibung wie bei Ballmer/Brennenstuhl (1981). Vier Gesichtspunkte wären zu berücksichtigen: (1) Wortfelder, z.B. sagen, sprechen, reden fragen; bitten, auffordern,

befeh-

len usw. (2) Wortbildung, z.B. zusagen, ansagen, vorsagen, nachsagen; zusprechen, ab-

223 sprechen, vorsprechen, nachsprechen usw. (3) Übertragungen, z.B. abschlagen, anbohren, antippen, einflechten, festlegen, feststellen,

einwerfen,

untermauern usw.

(4) Syntaktische Konstruktionen, z.B. Valenz, Ergänzungssätze, direkte und indirekte Rede usw. Eine solche Beschreibung könnte zwar die Frage nach der "Natur" von Sprechakten nicht beantworten, sie könnte aber einiges über die Eigenschaften des Deutschen oder einer anderen Sprache herausarbeiten, was in den bisherigen sprechakttheoretischen Untersuchungen zu kurz gekommen 4.3.

Die Ebene der

ist.

extkoI petenz ist die Ebene der Bildung und der Interpre-

tation konkreter individueller Sprechakte und der Verfahren, die dabei angewandt werden. Auf dieser Ebene wäre zu zeigen, wie Weltkenntnis, Sprachkenntnis, Kenntnis der Interaktionssituation u.a. zusammenwirken müssen, damit ein bestimmter Sinn (eine bestimmte Illokution) ausgedrückt und verstanden wird. Wahrscheinlich sind die verschiedenen Vorschläge zur Analyse indirekter Sprechakte hier einzuordnen und als Verfahren der Textkonstitution und -interpretation zu rekonstruieren. Denn nicht nur die indirekten Sprechakte sind interpretationsbedürftig. Man muß auch einen direkten Sprechakt in einen Welt- und Interaktionskontext einordnen, um ihn als solchen verstehen zu können. . In der Alltagskommunikation interpretiert man intuitiv und charakterisiert das Ergebnis der Interpretation z.B. durch ein Sprechaktverb (er hat etwas versprochen, behauptet, erzählt; er hat mit etwas gedroht; er hat vor etwas gewarnt usw.). Eine wissenschaftliche Interpretation sollte dagegen die Kriterien angeben können, auf denen sie beruht. Das Ergebnis der Interpretation könnte darin bestehen, daß man zeigt, warum ein konkreter Sprechakt unter eine der Klassen subsumiert werden kann, die auf der allgemeinen Ebene definiert worden sind. Ein analoges Verfahren liegt der Rechtsprechung zugrunde. Im Strafprozeß geht es z.B. auch darum, ob eine individuelle Handlung unter einen Straftatbestand subsumiert werden kann. Es versteht sich von selbst, daß die Subsumption um so zuverlässiger

ist,

je besser man die Umstände kennt, unter denen ein Sprechakt vollzogen worden ist.

So muß man beispielsweise einiges über die politischen Verhältnisse wissen,

um zu erkennen, daß der Sprechakt Bonn liegt am Rhein, vollzogen vom Bundeskanzler in einer öffentlichen Rede, als Zurückweisung von Beeinflussungsversuchen aus München zu interpretieren

ist.

224

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GESPRÄCHSTHEMA UND THEMATISCHE HANDLUNGEN IM ENGLISCHEN Wolfram Bublitz

1.

In meinen folgenden Ausführungen möchte ich m i c h mit den M ö g l i c h k e i t e n der

Bestimmung und Beschreibung von Gesprächsthemen und den damit zusammenhängenden, von mir so genannten "thematischen H a n d l u n g s m u s t e r n " b e s c h ä f t i g e n ,

zu denen ich

EIN THEMA E I N F Ü H R E N , EIN THEMA WECHSELN, VON EINEM THEMA ABSCHWEIFEN, EIN THEMA VERSCHIEBEN, EIN THEMA ABBRECHEN und EIN THEMA BEENDEN z ä h l e . Meine Überlegungen beruhen auf den V e r h ä l t n i s s e n , die ich in einer bestimmten Gesprächsart vorgefunden habe: Es h a n d e l t s i c h um den Typ des a l l t ä g l i c h e n , g e w ö h n l i c h e n und zwanglosen e n g l i s c h e n Gesprächs, das den H a u p t t e i l der von S v a r t v i k / Q u i r k (Io8o) vorgelegten Sammlung ausmacht. Anhand der Angaben der Herausgeber und anhand eigener A n a l y s e n der T r a n s k r i p t i o n e n kann man die dort dokumentierte V a r i a n t e des gesprochenen E n g l i s c h folgendermaßen e i n g r e n z e n : Es sind E x e m p l a r e des spontanen und w e c h s e l s e i t i g in i n f o r m e l l e n S i t u a t i o nen von Angesicht zu Angesicht geführten und ( z u m e i s t ) ohne Wissen der Beteil i g t e n aufgenommenen Gesprächs zwischen mindestens zwei und höchstens v i e r erwachsenen und in der Regel a k a d e m i s c h g e b i l d e t e n B r i t e n . 2. Mir s c h e i n t , daß in gesprächsanalytischen Arbeiten die Klage über die S c h w i e r i g k e i t , e i n e D e f i n i t i o n von Gesprächsthema zu f o r m u l i e r e n ( u n d sodann zu f o r m a l i s i e r e n ) bereits zum Topos geworden ist. Hinter dieser K l a g e steht offenbar die V o r s t e l l u n g , daß es s i c h bei dem Gesprächsthema um eine o b j e k t i v gegebene, i n v a r i a n t e und dem Text inhärente Größe h a n d e l e , die z . B . durch eine s i m p l e A d d i t i o n der (den Ä u ß e r u n g e n ) z u g r u n d e l i e g e n d e n P r o p o s i t i o nen mit anschließender Kondensierung auf eine e i n z i g e Proposition wiedergegeben werden k ö n n e . Nähert man s i c h mit dieser V o r s t e l l u n g den T r a n s k r i p t i o n e n authentischer A l l t a g s g e s p r ä c h e , so ergeben s i c h in der Tat recht h ä u f i g S c h w i e r i g k e i t e n : So k a n n es vorkommen, a) daß verschiedene Betrachter zu u n t e r s c h i e d l i c h e n Ergebnissen kommen, d . h . u n t e r s c h i e d l i c h e P r o p o s i t i o n e n als Themapropositionen aus dem Text herausf i l tern; b) daß der Betrachter z u n ä c h s t davon a u s g e h t , daß Tl das Thema eines Abs c h n i t t s ist, dem f o l g e n d e n Text jedoch entnehmen muß, daß die Gesprächst e i l n e h m e r selbst n i c h t Tl, sondern T2 als Thema ansehen, d . h . bisher über T2 und n i c h t über Tl gesprochen haben;

226

c) daß der Betrachter erkennt, daß sich sogar die Gesprächsteilnehmer selbst über die Themabestimmung u n e i n i g s i n d , d . h . es kann vorkommen, daß zur K l ä r u n g dieser Frage die T e i l n e h m e r die Feststellung des Themas "zur Sprache bringen", a l s o "thematisieren". Die Beobachtung, daß Themen Texten n i c h t in g l e i c h e r Weise zukommen, mit ihnen erkennbar verbunden und l e i c h t nennbar s i n d wie etwa l e x i k a l i s c h e Bedeutungen Lexemen, kann man n a t ü r l i c h b e k l a g e n . Man s o l l t e aber n i c h t vor dem v e r m e i n t l i c h e n thematischen Chaos in Alltagsgesprächen r e s i g n i e r e n , sondern die H e u r i s t i k der Beschreibung dem Objekt der Beschreibung anpassen. Dabei bietet es sich an, als analysierender Beobachter ä h n l i c h vorzugehen wie die Gesprächsteilnehmer, wenn sie sich e x p l i z i t über die Bestimmung des b i s h e r i gen Themas verständigen, indem sie dem vorangegangenen Redeabschnitt ein Thema z u s c h r e i b e n . Die Bestimmung des Themas ist gerade für den a n a l y s i e r e n den Beobachter, der den Folgetext und a l s o das aus den R e a k t i o n e n e r s c h l i e ß bare Verständnis der B e t e i l i g t e n selbst h e r a n z i e h e n k a n n , eine Sache des interpretativen Zuschreibens. Zum Zwecke der Beschreibung der Gesprächsthemen scheint mir ein solches i n t e r p r e t a t i v e s , verstehendes Verfahren, das auf den Grundsätzen der soziologisch orientierten a m e r i k a n i s c h e n Konversationsanalyse aufbauen s o l l t e , geeignet zu s e i n . Indem ich die G e s p r ä c h s t r a n s k r i p t i o n e n beschreibe, i n t e r p r e t i e r e ich sie, d . h . ich gehe zunächst von meinem Verständnis als g l e i c h s a m im n a c h h i n e i n t e i l n e h m e n d e r Beobachter aus und ordne dem Gesprächsganzen und seinen T e i l e n Sprecher- und H ö r e r r o l l e n , Sprechereinstell u n g e n , Sprechhandlungsmuster, I n h a l t e und Themen sowie Kohärenz zu. A l s analysierender Beobachter, der sein Wissen über Sprache und Sprachverwendung an den Text heranträgt und f o r t l a u f e n d die aus dem Verstehensprozeß resultierenden Produkte an den verfügbaren Daten überprüft, befinde ich m i c h p r i n z i p i e l l in keiner anderen Lage als der teilnehmende Gesprächspartner. Auch er erreicht auf i n t e r p r e t a t i v e m , erschließendem, zuschreibendem Weg eine oft nur v o r l ä u f i g e , an den folgenden Reaktionen der Partner zu überprüfende und insofern noch subjektive Lesart. Für ihr Verständnis stützen s i c h T e i l n e h m e r wie Beobachter auf die i h n e n zur Verfügung stehenden Datenmengen, die s i c h n a t ü r l i c h n i c h t decken, wohl aber überschneiden. Neben den s p r a c h l i c h e n b e s i t z t der Teilnehmer auch Kenntnisse über die n i c h t - s p r a c h l i c h e n k o n t e x t u e l l e n und S i t u a t i o n e l l e n I n f o r m a t i o n e n und darüber h i n a u s über die Gesprächsumstände im weitesten Sinne, etwa über E i g e n a r t e n eines Partners. Diese k a n n der Beobachter n i c h t oder nur in b e s c h r ä n k t e m Umfang aus den T r a n s k r i p t i o n e n herauslesen Dafür vermag er jedoch, wie e r w ä h n t , dem Folgetext das V e r s t ä n d n i s der reagierenden Gesprächsteilnehmer zu entnehmen, das dem Teilnehmer selbst im

227

A u g e n b l i c k n i c h t u n b e d i n g t bekannt sein muß. U n t e r s c h i e d l i c h e Themaverständnisse der a n a l y s i e r e n d e n Beobachter können zum e i n e n auf u n t e r s c h i e d l i c h e K e n n t n i s s e des Kontexts, der S i t u a t i o n und des mit den I n t e r a g i e r e n d e n get e i l t e n und gemeinsamen Wissens z u r ü c k z u f ü h r e n s e i n , zum anderen aber auch auf u n t e r s c h i e d l i c h e E r k e n n t n i s i n t e r e s s e n . Diese können auch ausschlaggebend d a f ü r sein, daß G e s p r ä c h s t e i l n e h m e r selbst u n t e r s c h i e d l i c h e Themaschwerpunkte setzen, so daß sie im n a c h h i n e i n auf Anfrage n i c h t d e c k u n g s g l e i c h e Themabestimmungen geben; darauf komme ich z u r ü c k . Das m e t h o d i s c h k o n t r o l l i e r t e V e r f a h r e n der T h e m a b e s c h r e i b u n g , das den eben genannten G r u n d s ä t z e n v e r p f l i c h t e t ist, müßte an u m f a n g r e i c h e n B e i s p i e l texten o vorgeführt werden, aus Raumgründen beschränke ich mich auf e i n e n A b s c h n i t t : (1) ß [ . . . ] t e l l us a [...] good f i l m to go and see w e ' v e heard that Front Page was f r i g h t f u l l y funny c yes B but w e ' v e missed it we c a n ' t f i n d where i t ' s on now it was on in R i c h mond l a s t week i t ' s gone I ' v e looked in the E v e n i n g Standard and I c a n ' t f i n d it for love or money c oh it p r o b a b l y i s n ' t in that case A what about other f i l m s B w h a t ' s a decent f i l m to go and see / 8 Z e i l e n mit mehreren Vorschlägen und Kommentaren über FilmeJ A [...] that l o v e l y cinema in V i c t o r i a have you been to it the Biograph C oh yes no no I h a v e n ' t Jo has ves A what was it 1 ike d oh it was i n c r e d i b l e you you went in and Z2o Z e i l e n über das K i n o 'The Biographl7 c »m a l s o Blood for D r a c u l a needs to be seen B are you sure c a l s o Shampoo /14 Zeilen über weitere F i l m e und über eine K i n o z e i t s c h r i f t J A yes it must be a real l a b o u r to produce t h a t / ^ = f i l m magazine./ c t h a t ' s why it cost twenty twenty p ZeilenJ c I d o n ' t buy them every week l i k e I used to when the price was reasonable d yes t h a t ' s rather hard oh J u l e s et Jim oh sob sob c oh C h r i s t d yes I tried to go and see t h a t and there was a queue stretching h a l f way bac.k to B u c k i n g h a m Palace from the ICA Z e i l e n m i t weiteren F i l m v o r s c h l ä g e n J A oh d a r l i n g l e t ' s go and see Young F r a n k e n s t e i n [ . . . ] B no d a r l i n g why d o n ' t you go and see Shampoo because i t ' s a s h a r p satire on sex and p o l i t i c s in both America and Hollywood /f4 ZeilenJ it h a s G o l d i e Hawn a n d J u l i e C h r i s t i e A oh oh w e l l if it has G o l d i e Hawn I'm g o i n g to get into that tomorrow n i g h t {,..] ß> Zeilen7 B i t ' s not worth going all t h a t way [...] i t ' s rather a bore i s n ' t it just have to w a i t u n t i l f i l m s come to R i c h m o n d

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A out in the suburbs you know we tend to stick to ourselves very much d what do you get on your local cinemas B we get[...J ( S v a r t v i k / Q u i r k 198o: 628 ff.) Worum geht es in diesem Gesprächsstück? Es scheint mir s i n n v o l l zu sein, zunächst zu überlegen, wie die Frage nach dem Thema f o r m u l i e r t werden k a n n . Ein nach (1) neu Hinzutretender k a n n fragen: What have you been t a l k i n g about? . What are you t a l k i n g about? oder W h a t ' s so funny? A l s Antworten sind die folgenden Varianten denkbar: (2) (A) B I said to C: "tell us a good f i l m to go and see w e ' v e heard that Front Page was f r i g h t f u l l y f u n n y " , and c s a i d : "yes", and I s a i d : "but we've missed . . . " , ... (B) B At f i r s t I MADE A REQUEST for c to tell us a f i l m worth seeing and ASKED c whether Front Page was a funny f i l m by TELLING him that we've heard that Front Page was a funny f i l m . Then c AGREED that Front Page was a funny f i l m . Then . . . (C) B At f i r s t we were CONSIDERING w h i c h f i l m s to go and see and then d was TELLING us about a v i s i t to the Biograph and then we were CONSIDERING more f i l m s worth seeing and then we were DISCUSSING t h i s f i l m magazine, its pros and cons, and then, again, we were CONSIDERING some more f i l m s to go and see and f i n a l l y A and I were REPORTING on /oder: TELLING about/ our local c i n e m a s . (D) B We have been C O N S I D E R I N G w h i c h f i l m s to go and see and in that connection d has TOLD us an amusing story about a v i s i t to the Biograph and - just before you came in - A and I have been COMPLAINING about our local c i n e m a s . (Ea) B At f i r s t we have been t a l k i n g about f i l m s and then about a cinema and then about more films and then about a cinema and then about a f i l m m a g a z i n e .and then about more f i l m s and f i n a l l y about our local cinema. (Eb) B We have been t a l k i n g about ( w h i c h ) f i l m s (to go and see) and cinemas and f i l m m a g a z i n e s . (F) B We have been t a l k i n g about f i l m s . (G) B F i l m s , f i l m m a g a z i n e s , c i n e m a s . (H) B F i l m s . Die Alternativen geben in abnehmender A u s f ü h r l i c h k e i t von (A) bis (H) wieder, was worüber gesagt wurde. Es ist u n w a h r s c h e i n l i c h , daß (A) nach (1) und der entsprechenden Frage gewählt w i r d ; als neu Hinzukommender w i l l man wissen, was worüber u n g e f ä h r und n i c h t w ö r t l i c h gesagt wurde. W i r d dies n i c h t ausd r ü c k l i c h verlangt, z . B . von der Antwort eines Zeugen vor Gericht über einen (auch mitangehörten) Wortwechsel, ist eine Wiedergabe der Wörter wie in (A) u n p r a k t i k a b e l ( I c a n ' t remember , That would take too much time) und vor a l l e m n i c h t im Sinne des Fragenden. Denn die wörtliche Wiedergabe trennt weder Wesentliches und Mitteilenswertes von Unwesentlichem und N i c h t - M i t t e i lenswertem, noch g i b t sie die Themen e x p l i z i t an. Es b l e i b t dem Fragenden überlassen, das zu tun, was er e i g e n t l i c h vom Befragten erbeten hatte: das Erschließen der Themen aus diesem Text. Ja, man muß noch einen Schritt weiter gehen: Fragt jemand What have you been t a l k i n g about? reicht u . U . die Auf-

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l i s t u n g der Themengegenstände a l l e i n (wie in ( E ) ) als Antwort n i c h t aus - und zwar dann n i c h t , wenn über die angegebenen Gegenstände mit wechselnden Sprechhandlungen gesprochen wurde. In (E) werden die Themengegenstände zwar n i c h t wie in (G) ohne Prädikationen a u f g e l i s t e t , doch we have been t a l k i n g about ist das neutralste Muster einer Themapräsentation und -wiedergäbe, in dem noch ein S p r e c h h a n d l u n g s a u s d r u c k e n t h a l t e n ist. Es ist damit auch das nichtssagendste: Mit TALK wird dem Hörer etwas m i t g e t e i l t , was er bereits weiß. Insofern s i n d ( G ) u n d ( E b ) (ohne d e n Z e i t f a k t o r w i e i n ( E a ) ) i n i h r e m Informationswert g l e i c h , und das heißt h i e r : g l e i c h i n f o r m a t i o n s a r m . In der Regel wird als v o l l s t ä n d i g e Antwort n i c h t nur eine Liste der Themengegenstände, sondern auch der damit verbundenen Sprechhandlungen erwartet. Und dies ist besonders dann der F a l l , wenn über die Gegenstände kontrovers oder auf andere Weise a u f f a l l e n d und damit m i t t e i l e n s w e r t gesprochen wurde. Die Angabe der Sprechhandlungen und der Themengegenstände k a n n wie in (B) d e t a i l lierter oder wie in (C) und (D) weniger d e t a i l l i e r t sein. In (B) bis (D) werden Paraphrasen e i n z e l n e r Gesprächspassagen gegeben, mit denen sowohl eine Abstraktion vom t a t s ä c h l i c h Geäußerten als auch eine Interpretation der Sprechhandlungen vorgenommen w i r d . So kommt das Wort complain aus (D) im Text selber gar n i c h t vor. Kompakte Paraphrasen sind ein geeignetes M i t t e l , um n i c h t n u r a u f N a c h f r a g e n h i n , sondern auch a l s A n k ü n d i g u n g e n ( z . B . T i t e l ) im v o r h i n e i n oder als Zusammenfassungen im n a c h h i n e i n das Thema eines Gesprächs (oder einer anderen Textart) anzugeben. Der Grad der Kompaktheit nimmt v o n ( B ) b i s ( 3 ) k o n t i n u i e r l i c h z u , b i s m i t F i l m s i n ( H ) eine äußerste Verkürzung erreicht ist. Kompakte Paraphrasen wie in (F) bis (H) s i n d trotz ihrer Informationsarmut g e b r ä u c h l i c h e r als weniger kompakte wie in ( C ) . Auch in (B) w i r d p a r a p h r a s i e r t , a l l e r d i n g s zu d e t a i l l i e r t , als daß dadurch die Themastruktur des Gesprächs erfaßt werden könnte. Geht man davon aus, daß der Fragende nur wissen w i l l , worüber gesprochen wurde, weil er sich am Gespräch b e t e i l i g e n und Themen aufnehmen und ergänzen möchte, dann enthält eine angemessene Antwort sowohl die Angabe der Themengegenstände als auch die der damit verbundenen komplexen S p r e c h h a n d l u n g e n wie in ( D ) . (Die E i n h a l t u n g der ungefähren z e i t l i c h e n Abfolge s c h e i n t dabei zwar n i c h t u n a b d i n g b a r , wohl aber n a h e l i e g e n d zu s e i n . ) Mit "Thema" beziehe ich mich sowohl auf das Worüber, den 'Gegenstand', als auch auf die damit verbundene s p r a c h l i c h H a n d l u n g . Diese V e r b i n d u n g v o l l z i e h e ich in der Themabeschreibung nach, indem ich in paraphrasierender Form das S p r e c h h a n d l u n g s m u s t e r mit dem Themagegenstand als Objekt einer P r ä p o s i t i o n a l p h r a s e mit about oder als Ergänzung eines mit that oder whether e i n g e l e i t e t e n Konstituentensatzes nenne. F r i t z (1982: 211),

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von dem ich den Terminus "Gegenstand" übernehme, schreibt d a z u : Mit verschiedenen Arten von Ergänzungen nimmt man Bezug auf verschiedene Arten von Gegenständen, die das Thema [...] sein können. Zu diesen Gegenständen gehö'ren Personen ebenso wie Sachverhalte. Auf die Personen wird mit Eigennamen oder Kennzeichnungen Bezug genommen auf die Sachverhalte b z w . die Propositionen [...] mit daß- Ergänzungen [...]. Ich beschreibe aber n i c h t nur die Sprechhandlung, sondern auch den Themagegenstand als das Ergebnis eines Deutungs- und Zuschreibungsprozesses. Er ist k e i n e im Kontext unveränderbare Größe, die diesem G e s p r ä c h ( s s t ü c k ) unabhängig vom themafeststellenden, themareferierenden und damit themaverstehenden Subjekt zukommt. W i r d der Themagegenstand a l l e i n , wie in ( H ) , angegeben, so versteht ihn der Fragende (entsprechend der mit der Ergänzungsfrage What have you been t a l k i n g about? gesetzten Leerstelle) als Ergänzung, die er dem neutralen, also a l l g e m e i n e n und merkmalarmen Sprechhandlungsmuster TALK (wie auch in ( G ) ) zuordnet. Spreche ich von "Thema" ( a l s Ausdruck meiner Beschreibungssprache) und gebe nur den Themagegenstand an, so l i e g t stets eine Verkürzung vor, da das immer präsente neutrale Muster TALK n i c h t eigens erwähnt zu werden braucht. Festzuhalten b l e i b t , daß die Themabeschreibung (neben der Nennung des Handlungsmusters) entweder eine Proposition oder ein e i n z e l n e s Nomen oder einen komplexen n o m i n a l e n Ausdruck umfaßt. Die obligatorische Gleichsetzung des Gesprächsthemas mit einer Proposition, die gelegentlich vorgenommen w i r d , lehne ich daher ab. Entscheidend ist, daß die l e x i k a l i sche oder propositionale Paraphrase des Themas als Ergänzung innerhalb des e i n h e i t l i c h formulierbaren Satzrahmens W e have been t a l k i n g a b o u t (the fact t h a t / t h e question w h e t h e r ) . . . vorkommt. Auf diese Weise w i r d die in der Forschung e i n h e l l i g vertretene A n s i c h t erfaßt, daß sich in der Themabeschreibung die "aboutness" ( d a s "Worüber") des Texts s p i e g e l n müsse. Ich fasse zusammen: "Thema eines G e s p r ä c h s ( s t ü c k s ) " verstehe ich als das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses, bei dem ein (Thema-)Gegenstand einem komplexen Sprechhandlungsmuster zugeordnet wird. Weder dem Themagegenstand noch dem Sprechhandlungsmuster müssen im Text gleichlautende Prädikate, Argumente oder Propositionen entsprechen; das Thema ist nicht mit einzelnen Redebeiträgen (oder Teilen davon) i d e n t i s c h , sondern eine davon unterscheidbare und ihnen übergeordnete Größe (an denen sie gemessen und bewertet werden können - g l e i c h s a m auf ihre "Thematreue" h i n ) . Sie bindet die Aufmerksamkeit der Gesprächsteilnehmer und g i b t den Rahmen für die I n h a l t e ihrer Beiträge vor. Anders als dies gelegentlich getan w i r d , setze ich also "Thema" und "(Thema-)Gegenstand" n i c h t g l e i c h , sondern beziehe das Sprechhandlungsmuster, durch dessen Realisierung der Gegenstand erst "zur Sprache gebracht wird", mit e i n , bezeichne demnach mit "Thema" die Verbindung von Sprechhandlung und

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ihr zugeordnetem Redegegenstand. Bei i h r e r n a c h t r ä g l i c h e n Beschreibung können beide interpretatorisch bedingten Schwankungen unterliegen. Die Themabeschreibung w i r d als kompakte Paraphrase f o r m u l i e r t , wobei sich der Grad der Kompaktheit primär nach der Auffassung des Paraphrasierenden vom Interesse des Adressaten und sekundär nach seinem eigenen Interesse richtet. Themaverständnis und Themabeschreibung sind nicht ins Belieben des Verstehenden gestellt, sondern hängen von Faktoren ab, die auch anderen a k t i v e n oder beobachtenden T e i l nehmern p r i n z i p i e l l z u g ä n g l i c h sind ( s i e h t man von Ausnahmen ab, die das gemeinsame Wissen betreffen) und sich aus dem s p r a c h l i c h e n sowie dem s i t u a t i v e n Kontext ergeben. 3. Die Bestimmung des Gesprächsthemas ist n a t ü r l i c h die Voraussetzung für die Beschreibung der damit verbundenen "thematischen Handlungen". N i c h t selten a l l e r d i n g s w i r d durch die R e a l i s i e r u n g eines thematischen H a n d l u n g s m u sters das Thema in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, indem man es z . B . mit Wendungen wie l e t ' s stop t a l k i n g / q u a r r e l l i n g / c o m p l a i n i n g about ... and turn to . . . oder d o n ' t change the subject but . . . s p e z i f i z i e r t , "zur Sprache bringt" ( g l e i c h s a m " t h e m a t i s i e r t " ) . Der Umgang mit dem Thema, seine Handhabung durch die Teilnehmer, k u r z : die thematischen Handlungen,können für das V e r s t ä n d n i s des Gehörten, vor a l l e m aber für die Themabestimmung durch den analysierenden Beobachter wichtige H i l f s m i t t e l sein und insofern die Menge der oben genannten Daten für die Themazuschreibung erweitern. Zu den thematischen Handlungen zähle ich INTRODUCING A TOPIC ( E I N THEMA EINFÜHREN), CHANGING A TOPIC ( E I N THEMA W E C H S E L N ) , DIGRESSING FROM A TOPIC (VON EINEM THEMA ABSCHWEIFEN), SHIFTING A TOPIC ( E I N THEMA V E R S C H I E B E N ) , BREAKING OFF A TOPIC ( E I N THEMA ABBRECHEN) und CLOSING A TOPIC ( E I N THEMA B E E N D E N ) . Es handelt sich um komplexe Handlungen, d . h . sie können nur mit H i l f e anderer Handlungen vollzogen werden, wobei mich hier nur die s p r a c h l i c h e n Muster beschäftigen. So FÜHRT ein Sprecher EIN THEMA E I N , indem er FRAGT, ob ... oder indem er BERICHTET über ... oder indem er VORSCHLÄGT, daß ... usw. Auf g l e i c h e W e i se werden die anderen thematischen Handlungen vollzogen. Auch mit T would l i k e to change the subject oder I d o n ' t want to t a l k about t h i s any longer werden die thematischen Muster CHANGING A TOPIC sowie CLOSING A TOPIC nur über die S p r e c h h a n d l u n g s m u s t e r ANKÜNDIGEN oder FESTSTELLEN r e a l i s i e r t . Die komplexen thematischen H a n d l u n g s m u s t e r sind also in "Huckepack"-Manier an andere (elementare) Sprechhandlungsmuster gebunden, was sich durch eine indemoder daourcii-daß- R e l a t i o n erfassen läßt. Die von mir analysierten thematischen H a n d l u n g e n haben auf u n t e r s c h i e d l i c h e

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Weise a l l e mit der Veränderung des a u g e n b l i c k l i c h e n bzw. b i s h e r i g e n Themas zu tun: Es gibt in den Alltagsgesprächen drei typische Gelegenheiten, bei denen der Sprecher auf ein Thema zu sprechen kommt, das n i c h t oder nur t e i l w e i s e das Thema der Voräußerung ist: a) Zu Beginn eines Gesprächs FÜHRT er nach vorbereitenden Wortwechseln, in denen P r ä l i m i n a r h a n d l u n g e n ( w i e SICH NACH DER GESUNDHEIT, DEM WOHLBEFINDEN, DER F A M I L I E , DEN GESCHÄFTEN ERKUNDIGEN; E I N E SITZGELEGENHEIT, EIN GETRÄNK ANBIETEN; KOMPLIMENTE ÜBER K L E I D U N G , F R I S U R , AUSSEHEN, E I N R I C H T U N G MACHEN) vollzogen werden, DAS erste THEMA E I N ; b) im Gesprächsverlauf WECHSELT er DAS b i s h e r i g e THEMA, indem er es BEENDET oder auch ABBRICHT und durch ein neues ersetzt, dieses .also E I N F Ü H R T ; denkbar ist auch, daß DAS THEMA l e d i g l i c h VERSCHOBEN W I R D , was einer subt i l e r e n Form des Themawechsels entsprechen k a n n ; c) nach einer ABSCHWEIFUNG, an deren Beginn e b e n f a l l s ein THEMAWECHSEL steht, oder einer anderen Art von Unterbrechung oder Störung im Gesprächsablauf nimmt er ein früheres Thema wieder a u f , FÜHRT es demnach WIEDER E I N . Diese Veränderungen der thematischen L i n i e - oder anders gesagt, diese E i n g r i f f e in den g l e i c h f ö r m i g e n t h e m a t i s c h e n Gesprächsverlauf werden mit H i l f e der a n g e f ü h r t e n thematischen H a n d l u n g s m u s t e r r e a l i s i e r t . Dabei scheinen sich die Teilnehmer auch an die drei folgenden P r i n z i p i e n zu h a l t e n : a) Die G e s p r ä c h s t e i l n e h m e r w e c h s e l n in der Regel das a u g e n b l i c k l i c h e Thema n i c h t ohne guten G r u n d . b) Die Gesprächsteilnehmer sind in der Regel bestrebt, das a u g e n b l i c k l i c h e Thema zu einem g e m e i n s a m herbeigeführten und g e b i l l i g t e n Ende zu b r i n g e n . c) Die Veränderung des bisherigen Themas w i r d in der Regel e i n v e r n e h m l i c h herbeigeführt. Gesprächsregeln v e r h i n d e r n , daß Themen von jedem T e i l n e h m e r , zu jedem Zeitp u n k t und u . U . zu jedem Gegenstand b e i i e b i g eingeführt werden und damit das b i s h e r i g e Thema beendet w i r d . Die Wahl des Themagegenstands ist zwar, mit E i n s c h r ä n k u n g e n , im P r i n z i p f r e i , doch über Z e i t p u n k t der Themaveränderung und die verändernde Person verständigen s i c h die B e t e i l i g t e n a u s d r ü c k l i c h oder s t i l l s c h w e i g e n d . Sie stimmen sich über diese M o d a l i t ä t e n ab und s t e l l e n E i n v e r n e h m l i c h k e i t darüber her, daß die für den Wechsel notwendigen Voraussetzungen e r f ü l l t s i n d . Geschieht diese K o n s e n s f i n d u n g e x p l i z i t , dann werden Äußerungen wie have you a n y t h i n g to add to . . . , s h a l l we turn to another subject verwendet. Dies ist in den vorliegenden AI Itagsgesprä'cheh der sehr seltene A u s n a h m e f a l l . In der Regel s i g n a l i s i e r e n die T e i l n e h m e r i h r e Bereitschaft zum Themawechsel i m p l i z i t und vergewissern sich ebenso i m p l i z i t der

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Bereitschaft ihrer Partner. So w i r d ein Thema g e w ö h n l i c h erst dann gewechselt, wenn jeder Teilnehmer bereit ist, das bisherige zu beenden ( w e i l er n i c h t s mehr dazu sagen w i l l oder k a n n ) , und jeder Sprecher weiß, daß auch seine Partner dazu bereit s i n d ; dies g i l t nur dann n i c h t , wenn ein Thema eigenmächtig abgebrochen, beendet oder etwa von ihm abgeschweift w i r d . In diesen F ä l l e n sanktionieren die anderen Teilnehmer dieses Vorgehen nur dann, wenn es der Sprecher begründet oder die Gründe o f f e n k u n d i g s i n d ; auf diese Weise wird im n a c h h i n e i n die E i n v e r n e h m l i c h k e i t in der Themahandhabung wieder h e r g e s t e l l t . Die Beobachtung, daß die thematischen H a n d l u n g s m u s t e r zu ihrer erfolgreichen R e a l i s i e r u n g der zumindest s t i l l s c h w e i g e n d e n Sanktionierung bedürfen und daß somit auch die Festlegung eines Gesprächsthemas der E i n v e r n e h m l i c h k e i t bed a r f , s p r i c h t für den hier eingeschlagenen Weg, Themen und thematische Handl u n g s m u s t e r aus dem Verständnis n i c h t nur des a u g e n b l i c k l i c h e n Redewechsels, sondern gerade auch des folgenden Texts z u z u s c h r e i b e n . Auch im Gespräch bringen die e i n z e l n e n Sprecher h ä u f i g Gegenstände i h r e r Wahl und ihres Interesses ein, die i h n e n geeignet e r s c h e i n e n , zu Themengegenständen zu werden. Doch zu Themengegenständen werden sie erst, wenn auch die Gesprächspartner i h n e n d i e sen Status z u b i l l i g e n , d . h . entweder selbst darauf eingehen, Redebeiträge dazu zu l e i s t e n , oder wenn sie zumindest dem Sprecher zu verstehen geben, daß sie ihn in seiner Rede dazu gewähren lassen werden. Vom Z e i t p u n k t ihres V o l l z u g s aus betrachtet - und bei K e n n t n i s der Rede nur bis zu diesem Zeitp u n k t -, kann einer Sprechhandlung ein thematisches Handlungsmuster n i c h t zugeschrieben werden. Dies ist stets erst im n a c h h i n e i n a u f g r u n d eines Verständnisses m ö g l i c h , zu dem T e i l n e h m e r wie analysierende Beobachter nur über ihre K e n n t n i s des weiteren G e s p r ä c h s v e r l a u f s und der daraus zu erschließenden R a t i f i z i e r u n g durch die Partner gelangen. Zwar g i b t es e i n i g e wenige M i t t e l , die bereits zum Z e i t p u n k t i h r e r Äußerung die I n t e r p r e t a t i o n nahelegen, der Sprecher strebe die Veränderung des bisherigen Themas an; ob sie ihm aber gel i n g t , k a n n zu diesem Z e i t p u n k t n i c h t vorhergesagt werden. Dies bestätigt die angegebene enge V e r b i n d u n g zwischen der Bestimmung der thematischen H a n d l u n g s muster und der des Themas, die sich wechselseitig bedingen.

Anmerkungen Eine etwas genauere Beschreibung der a n a l y s i e r t e n Gesprächssorte findet sich in B u b l i t z (1985). Im folgenden steht Thema stets für 'Gesprächsthema' ( u n d n i c h t für ' S a t z - ' oder ' Ä u ß e r u n g s t h e m a ' ) .

234

In B u b l i t z (1985) habe ich a u s f ü h r l i c h e Analysen auch längerer Gesprächsausschnitte vorgelegt. In (1) habe ich s ä m t l i c h e T r a n s k r i p t i o n s z e i c h e n , die für den Zweck dieses Vertrags u n e r h e b l i c h sind, weggelassen. Die Wörter topic und subject kommen n i c h t in diesen Fragen, sondern nur in solchen vor, die sich auf k o n t r o l l i e r t e Gespräche beziehen. A n s t e l l e von "Paraphrase" oder "reduzierte Paraphrase" (Dressler 1972: 18) s i n d auch die Begriffe "Berichtssatz" ( F r i t z 1982: 211) oder "einfacher oder komplexer Basis-Satz" (Dressler 1972: 17) vorgeschlagen worden. S. z . B . Ochs K e e n a n / S c h i e f f e l i n (1976: 338) und die K r i t i k daran von Fritz (1982: 2o8 ff.) und Bayer (198o: 216). Themendefinitionen s t e l l e n gewöhnlich einen Zusammenhang mit dieser "aboutness"-Relation her, s. z . B . Maynard (198o: 263), Bayer (198o: 215 f.) Carlson (1983: 237 ff.) und a l l g e m e i n zum Gesprächsthema Brown/Yule (1983).

Literatur Bayer, 0. (198o): " D i s k u r s t h e m e n . " W e i g a n d , E. / Tschauder, G. ( e d s . ) : Perspektive: textintern. Tübingen: Niemeyer,213-224. Brown, G. / Y u l e , G. (1983): Discourse A n a l y s i s . Cambridge: U n i v e r s i t y Press, B u b l i t z , W. (1985): E i n m ü t i g k e i t im e n g l i s c h e n Alltagsgespräch: Thema und thematische H a n d l u n g e n , Hörersignale und ( n i c h t - ) b e s t ä t i g e n d e reaktive Redebeiträge. Trier (masch. H a b i l . s c h r i f t ) . Carlson, L. (1983): D i a l o g u e Games. An Approach to Discourse A n a l y s i s . Dordrecht: R e i d e l . Dressler, W. (1972): E i n f ü h r u n g in die T e x t l i n g u i s t i k . Tübingen: Niemeyer. F r i t z , G. (1982): Kohärenz. Grundfragen der l i n g u i s t i s c h e n K o m m u n i k a t i o n s analyse. T ü b i n g e n : N a r r . Maynard, D. (198o): "Placement of topic changes in conversation-" Semiotica 3o:263-29o. Ochs Keenan, E. / S c h i e f f e l i n , B . B . (1976): "Topic as a discourse notion: A study of t o p i c in the conversations of c h i l d r e n and a d u l t s . " L i , C . N . ( e d . ) : Subject and Topic. New York: Academic Press, 337-384. S v a r t v i k , J. / Q u i r k , R. ( e d s . ) (198o): A Corpus of E n g l i s h Conversation. Lund: G l e e r u p .

ZUR REKONSTRUKTION VON SPRECHERSTRATEGIEN IM RAHMEN EINER DIALOGGRAM^ATIK Mathias Kohl

1.

Einleitung

Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dem Problem der Rekonstruktion von Sprecherstrategien im Bereich der Gesprächsanalyse. Es wird ein Verfahren skizziert, mit dessen Hilfe der spezifische Verlauf eines Gesprächs z.T. als Ergebnis strategischer Überlegungen der Sprecher interpretiert werden kann. Bevor die Anwendbarkeit dieser Methode anhand einer Beispielanalyse aufgezeigt wird, soll zunächst ein für diese Bedürfnisse zugeschnittener Strategiebegriff vorgeschlagen und der gesprächsanalytische Rahmen umrissen werden, innerhalb dessen die Rekonstruktion erfolgen soll. 2.

Strategiebegriff

Als Einstieg in die hier zu diskutierende Problematik möge das folgende Beispiel dienen: Angenorrmen, ein Sprecher

(Spx) beabsichtige, eine ihm naheste-

hende Person (Spy) von dem Entschluß abzubringen, eine längere Auslandsreise anzutreten, so kann er dies auf unterschiedliche Art und Weise versuchen. Selbst wenn er sich dabei auf den Einsatz sprachlicher Mittel beschränken will, stehen ihm inner noch vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung: Er kann sie bitten, ihm zuliebe auf die Reise zu verzichten; er kann ihr drohen, indem er für den Fall, daß der Plan nicht aufgegeben wird, den Vollzug von Handlungen in Aussicht stellt, von denen er anninmt, daß Spy sie negativ bewertet; er kann Spy warnen, indem er auf Gefahren hinweist, die mit der Reise verbunden sind; etc. Spx befindet sich somit in einer Situation, in der sich ihm das Problem stellt, welche Handlungsalternativen er vollziehen soll, d.h. welche geeignet erscheinen, den präferierten Zielzustand (den Verzicht von Spy auf den Auslandsaufenthalt) herbeizuführen. Dieses Problem der Auswahl und der Kombination von Mitteln, die im Sinne der Handlungsziele wirkungsvoll sind, soll als strategisches Problem betrachtet werden. An welchen Kriterien kann eine solche Auswahl nun orientiert sein? Zur Klärung dieser Frage soll auf den konzeptuellen Rahmen der Entscheidungstheorie 2 zurückgegriffen werden. Gemäß dieser Theorie besteht eine Möglichkeit zur1 rationalen Auswahl von Handlungen aus einem zur Verfügung stehenden Handlungspotential, vereinfacht ausgedrückt, darin, die wahrscheinlichen Folgen der Alter-

236

nativen zu ermitteln und zu bewerten. Es müssen sonit die Fragen beantwortet werden, zu welchen Folgen der Vollzug der einzelnen Handlungen vermutlich führen wird und ob dag Eintreten dieser Folgen im Interesse des Handelnden ist oder nicht, d.h. ob die Folgen der Erreichung des präferierten Ziels förderlich oder hinderlich sind. Eine rationale Entscheidung eines Handelnden liegt dann vor, wenn er die Handlungsalternativen vollzieht, die ihm hinsichtlich seines Ziels den größten Nutzen bringen, deren wahrscheinliche Folgen also entweder mit dem erstrebten Ziel identisch oder zumindest kompatibel sind. Eine solche Reflexion über die Folgen einer Handlung kann m.E. nun auf 4 sprachliches Handeln übertragen werden. Zu klären ist dabei zunächst, was unter den Folgen einer Sprechhandlung verstanden werden soll und ob ein Sprecher in der Lage ist,

die wahrscheinlichen Folgen seiner Handlungen zu er-

mitteln. In dan hier interessierenden Zusammenhang kommen als Folgen einer sprachlichen Handlung in erster Linie die sprachlichen Reaktionshandlungen des Gesprächspartners in Betracht, vor allem die, mit denen er sich eindeutig für oder gegen das Kommunikationsziel des Sprechers entscheidet. Wie kann nun ein Sprecher diese Folgen ermitteln? Es ist davon auszugehen, daß jeder Sprecher über ein ausgeprägtes soziales und kommunikatives Wissen verfügt - vergleichbar etwa dem "Image" im Sinne von Miller/Galanter/Prihram (1960: 17f.) - das ihn, unter Hinzunahme seines speziellen Wissens über den Gesprächspartner, dessen Motive, Absichten, Werte- und Normensysteme etc.

in die Lage versetzt,

die wahrscheinlichen Reaktionshandlungen des Gesprächspartners zu antizipieren. Aufgrund der Antzipation der Reaktionen kann er dann die Handlungen vollziehen, von denen er sich einen positiven Bescheid und damit eine Erreichung seines KommunikationsZiels oder zumindest eine hinsichtlich seines Ziels indifferente Reaktion verspricht, und diejenigen unterlassen, die zu einer Gefährdung der Zielerreichung, einem negativen Bescheid also, beitragen könnten. Ein solches Handeln, das an den wahrscheinlichen Reaktionshandlungen des Gesprächspartners orientiert ist und sie in den Planungsprozeß zur Zielerreichung mit einbezieht, soll im folgenden als 'strategisches sprachliches Handeln" bezeichnet werden.

Es kann als Resultat strategischer Überlegungen aufgefaßt

werden, die dadurch gekennzeichnet sind, daß ein Sprecher für die Handlungsalternativen, die ihm zur Erreichung eines bestimmten Ziels offenstehen, die wahrscheinlichen Reaktionen des Gesprächspartners antizipiert und sich für die Alternative entscheidet, deren wahrscheinliche Folge seinem Kommunikationsziel möglichst nahe könnt. Von einer Rekonstruktion von Sprecherstrategien soll dann gesprochen werden,

237

wenn es gelingt, Äußerungen In authentischen Gesprächen als Resultat solcher Überlegungen zu interpretieren, d.h. wenn der subjektiv rationale, von Wissensstand des Sprechers abhängige Entscheidungsprozeß nachgezeichnet werden g kann.

Eine solche Rekonstruktion im Rahmen der Gesprächsanalyse ist

jedoch

an bestirmte Voraussetzungen zurückgebunden. Da Strategien nur auf dem Hintergrund von Komminikationszielen rekonstruiert werden können, muß zum einen eine funktionale Analyse authentischer Gespräche erfolgen. Äußerungsformen müssen somit als Handlungen bestimmter Art identifiziert und der Zusammenhang zwischen ihnen, m.a.W.: ihre Gerichtetheit auf die Realisierung kommunikativer Ziele, muß herausgearbeitet werden. Zum anderen benötigt man einen Überblick über das einem Sprecher zur Verfügung stehende Handlungspotential, aus dem auf der Grundlage strategischer Überlegungen eine bestimmte Handlung ausgewählt worden ist.

Ein gesprächsanalytisches Verfahren, das als"Dialoggram-

11

matik bezeichnet wird und das in der Lage ist, diese Voraussetzungen zu schaf9 fen, soll im folgenden skizziert werden. 3.

Gesprächsanalytischer Rahmen

Im Bereich der Gesprächsanalyse ist es sinnvoll, drei Beschreibungsebenen zu unterscheiden: 1. die Ebene der Strukturbeschreibung von Gesprächstypen, 2. die Ebene der funktionalen Analyse authentischer Gespräche und 3. die Ebene der Rekonstruktion von Sprecherstrategien, wobei der Beschreibungsversuch auf einer höheren Ebene die Beschreibung auf den jeweils unteren Ebenen notwendig voraussetzt. Die Beschreibung eines Gesprächstyps geht von einer Bestimmung der Zielstruktur aus, d.h. es werden aus dem komplexen primären Kommunikationsziel, zu dessen Erreichung alle Gespräche des Typs dienen, die Teilziele deduziert, die ihrerseits notwendige Bedingungen für die Erreichung des primären Ziels darstellen. Es wird angenontnen, daß die sprachlichen Handlungen, die die Interaktionspartner zur Erreichung dieser Ziele vollziehen können, in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen, der in Form von Seguenzmustern rekonstruiert werden kann. Diese Sequenzmuster bilden die Grobstruktur eines Gesprächstyps ab. Die Binnenstruktur der Sequenzmuster wird ermittelt, indem von den jeweiligen initiierenden Sprechakten einer Sequenz ausgegangen wird und die spezifischen Reaktionsmöglichkeiten der Gesprächsteilnehmer in den nächsten Zügen der Sequenz bestimmt werden. Dieser Zusammenhang läßt sich schematisch etwa folgendermaßen darstellen:

238

Schema 1: Allgemeine Struktur von Gesprächstypen 10

Auf der Grundlage einer solchen Beschreibung der konstitutiven Merkmale von Gesprächstypen läßt sich nun die Struktur authentischer Gespräche herausarbeiten. Da man sich im Vorfeld praktischer Analyse über die für einen Gesprächstyp spezifischen kommunikativen Ziele der Interaktanten und die Möglichkeiten zu ihrer Erreichung einen Überblick verschafft hat, lassen sich Äußerungen in authentischen Gesprächen als Vollzug bestintttter Handlungen interpretieren, und Äußerungsfolgen können als Realisierung von Sequenzmustern rekonstruiert werden. Auf diese Weise ist es möglich, die zielabhängige Grundstruktur authentischer Gespräche zu explizieren, d.h. es kann nachgezeichnet werden, mit welchen Äußerungsfolgen welche kommunikativen (Teil-)Ziele erstrebt werden und wann ein Zielwechsel erfolgt, d.h. wann eine Äußerung realisiert wird, die als Initiierung eines neuen Sequenzmusters interpretiert werden kann. Auf der Basis einer solchen Analyse können nun Sprecherstrategien rekonstruiert werden, d.h. der spezifische Verlauf eines Gesprächs, vor allem die Reihenfolge, in der die Teilziele erstrebt werden, kann als Ergebnis strategischer Überlegungen interpretiert werden. Dies soll anhand eines Beispiel12 textes aus einem religiösen Bekehrungsgespräch gezeigt werden. 4. Beispielanalyse Bekehrungsgespräche sind Interaktionen, die von einem Bekehrenden Spx mit dem Ziel initiiert werden, seinem Gesprächspartner, dem zu Bekehrenden Spy, die existentielle Notwendigkeit einer Religiosität p zu vermitteln. Zur Herbeifüh-

239

rung dieses Ziels ist das Erreichen der drei Teilziele der Destruktion (Spy muß die Beschränktheit seiner jetzigen Lebensform erkennen), der Faszination (Spy muß von der religiösen Lebensform p fasziniert sein) und der Konviktion (Spy muß von der Gültigkeit der Grundaussagen von p überzeugt sein) erforderlich. Mit diesen Teilzielen korrelieren das Defizit-Aufdeckungs-, das Faszinations- und das assertorische Sequenzmuster, während zur Erreichung des primären Konrtunikationsziels das appellative Sequenzmuster dient. Da der der Analyse zugrundegelegte Gesprächsausschnitt im wesentlichen als Realisierung eines assertorischen Sequenzmusters betrachtet wird, soll dessen interne Struktur, die in Schema 2 dargestellt ist, kurz erörtert werden: Schema 2: Binnenstruktur des assertorischen Sequenzmusters HZISpx

HZ2Spy

HZ3Spx

WAHRSCHEINLICHK. BESTREITEN GEGENVORHERSAGE

WIEDERHOLUNG von HZ1

EXISTENZANGRIFF

Assertorische Sequenzen sind an das Teilziel der Konviktion zurückgebunden und können u.a. durch religiöse PROPHEZEIUNGEN initiiert werden, die dem Ziel dienen,

den zu Bekehrenden Spy von dem Eintreten des prophezeiten Ereignisses zu

überzeugen. Im zweiten Zug der Sequenz kann Spy der PROPHEZEIUNG entweder ZUSTIMMEN oder ihr WIDERSPRECHEN. Ein Widerspruch kann vollzogen werden, indem die WAHRSCHEINLICHKEIT des Eintretens des prophezeiten Ereignisses BESTRITTEN oder eine GEGENVÖRHERSAGE vollzogen wird, deren propositionaler Gehalt mit dem der PROPHEZEIUNG logisch unvereinbar ist. Enthält die PROPHEZEIUNG eine

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referentielle Präsupposition, die ein religiöses Objekt betrifft, kann der zu Bekehrende zudem einen "EXISTENZ-ANGRIFF" (Fritz 1982: 163) vollziehen, d.h. die Existenz des Referenzobjekts bestreiten und damit der Aussage jeglichen Wahrheitswert absprechen. Im Anschluß an solche negativen Bescheide hinsichtlich seines Handlungsziels bieten sich Spx zwei prinzipielle Möglichkeiten der Reaktion. Zum einen kann er RESIGNIEREN und von einer weiteren Verfolgung des Teilziels absehen, zum anderen kann er das Teilziel weiterhin zu erreichen versuchen und INSISTIEREN . Das Spektrum der Möglichkeiten dazu reicht von einer eventuell stilistisch leicht variierten WIEDERHOLUNG der PROPHEZEIUNG bis hin zum Versuch, sie zu begründen, was in diesem Fall nur heißen kann, Indizien anzuführen, die das Eintreten des prophezeiten Ereignisses wahrscheinlicher erscheinen lassen. So kann Spx beispielsweise auf ERKENNTNISQUELLEN VERWEISEN, denen er das Wissen um das prohezeite Ereignis entnommen hat, er kann auf AUTORITÄTEN VERWEISEN, die ebenfalls von dem Eintreten der Prophezeiung überzeugt sind, und er kann, wenn das Ereignis nicht in allzu entfernter Zukunft stattfinden soll, empirische Sachverhalte anführen (auf EMPIRIE VERWEISEN), die als Vorboten der Prophezeiung gedeutet werden können. Bis zu diesem Punkt ist die Beschreibung noch auf der ersten Analyseebene angesiedelt. Im folgenden soll nun die zweite Ebene beschritten und anhand des Beispieltextes (1) die Struktur eines authentischen Gesprächsausschnitts 14 herausgearbeitet werden (1)

1Spx-: wie lange diese Prüfung ist das wissen wir nicht es steht nur ( ( . . . ) ) es wird eine Prüfung sein .. die Menschen . die in dieser Prüfung abfallen vom Glauben von der Anbetung an Gott die werden vernichtet die ((sterben)) den zweiten Tod den ewiglichen Tod .. danach wird Satan vernichtet ( ( ) ) er wird wirklich vernichtet und das Böse damit auch vernichtet .. und dann werden die Menschen . die leben . Gott ewig ( ( . . . . ) ) leben 2Spy : ja das hört sich ja alles ganz toll an ne und wenn ich daran glauben könnte wäre ich ja auch . unheimlich glück|— lieh ne aber das hört sich für mich so *— 3Spx.: das hört sich eigentlich äh an 4Spy : so phantastisch an 5Spx.: ja äthiopisch äh äh utopisch utopisch das ist richtig 6Spy : das kann ich einfach nicht mehr glauben 7Spx1: nein das brauchst du ja auch gar nicht von heute auf morgen zu glauben . ich hätte das wahrscheinlich auch nicht getan . kann man auch gar nicht glauben wenn man äh bisher sieht was jetzt realistisch in der Welt ist r—8Spx~: die Regierungen harn ja *—9Spx1: das kann man sich gar nicht vorstellen daß es einen Gott gibt der das mal beseitigen wird lOSpx»: ich mein wenn man jetzt mal die menschlichen Regierungen betrachtet da is ja keine wo man sagen kann das is . äh

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äh optimal ne . das is is ka kann auch keiner das äh abstreiten das also der Mensch äh hat es wirklich nicht geschafft mal hundert Jahre Frieden zu halten auf der Erde ne Wortbeitrag 1 von Spx1 stellt den Abschluß einer komplexen religiösen PROPHEZEIUNG dar, in der eine Folge von Ereignissen vorhergesagt wird. Gegenstand der PROPHEZEIUNG ist, kurz gesagt, ein Eingreifen Gottes in den Ablauf der Welt. In Wortbeitrag 2 von Spy wird nun der prophezeite Sachverhalt zunächst positiv bewertet (das hört sich ja alles ganz toll an) ; gleichzeitig deutet sich jedoch ein WIDERSPRUCH, nämlich ein BESTREITEN der WAHRSCHEINLICHKEIT des Eintretens der Ereignisse an. Dies wird auf der Ebene der Äußerungsform deutlich durch den Gebrauch des Konjunktivs in Wortbeitrag 2 und des Adjektivs phantastisch im Sinne von unglaubhaft in Wortbeitrag 4. In Wortbeitrag 6 schließlich wird der WIDERSPRUCH explizit vollzogen (das kann ich einfach nicht mehr glauben). Auffällig ist nun, daß Spx1 in Wortbeitrag 3 Spy unterbricht, um deren Satz zu vervollständigen. Da ihm jedoch ein passender Begriff zu fehlen scheint, bietet sich Spy die Möglichkeit, ihren Turn in 4 zu beenden, bevor dann Spx1 in Wortbeitrag 5 ihren WIDERSPRUCH hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Eintretens der Prophezeiung bestätigt. Das heißt im Zusammenhang einer assertorischen Sequenz nichts anderes, als daß er RESIGNIERT und das Ziel, Spy von der Gültigkeit der Prophezeiung zu überzeugen, nicht weiter verfolgt. Diese Zielzurücknahme ist auch Gegenstand der Wörtbeiträge 7 und 9, wobei die Zurücknahme in 7 mit einer Einschränkung versehen ist (das brauchst du auch gar nicht von heute auf morgen ^u glauben), in 9 jedoch explizit vollzogen wird (das kann man sich gar nicht vorstellen daß es einen Gott gibt der das mal beseitigen wird). Dieser Wortbeitrag ist insofern interessant, als die Zielzurücknahme über den von Spy vollzogenen WIDERSPRUCH hinausgeht. Während Spy nicht zum Ausdruck gebracht hat, daß sie die Existenz eines Gottes leugnet, d.h. keine Handlungen nach dem Muster EXISTENZ-ANGRIFF vollzogen hat, weist Spx1 in 9 darauf hin, daß auch die Existenz eines Gottes nicht vorstellbar sei. Die Zurücknahme betrifft somit auch das Referenzobjekt der in der PROPHEZEIUNG ausgedrückten Proposition. Wortbeitrag 10 von Spx„ stellt m.E. nun eine Zäsur innerhalb des Gesprächsausschnitts dar. Mit dieser Äußerung wird nicht mehr das Ziel erstrebt, Spy von der Gültigkeit einer religiösen Aussage zu überzeugen, sondern die zu Bekehrende wird auf Defizite hingewiesen. Mit Wortbeitrag 10 wird somit eine Defizit-Auf deckungs-Sequenz initiiert, wobei die Äußerung als Vollzug einer DEFIZIT-KONSTATIERUNG hinsichtlich der sozialen Struktur und Organisation mensch-

242

lieber Gesellschaft aufgefaßt werden kann. Will man nun die Ergebnisse dieser zweiten Analyseebene zusammenfassen, so ergibt sich folgendes Bild: Der vorliegende Gesprächsausschnitt stellt bis einschließlich Wbrtbeitrag 9 die Realisierung eines assertorischen Sequenzmusters dar. Es wird initiiert durch eine religiöse PROPHEZEIUNG, deren WAHRSCHEINLICHKEIT von Spy BEITRITTEN wird, worauf Spx.. RESIGNIERT. Im Anschluß an diese Zurücknahme des Komminikationsziels wird von Spx_ eine Defizit-Aufdeckungs-Sequenz initiiert. Läßt sich nun, um schließlich die relevante Frage der dritten Analyseebene zu beantworten, dieser spezifische Gesprächsverlauf als Ergebnis strategischer Überlegungen interpretieren? Bezogen auf die sprachlichen Handlungen der Bekehrenden soll in diesem Zusammenhang geklärt werden, ob die Zielzurücknahme und die Initiierung einer Defizit-Aufdeckungs-Sequenz im Sinne und auf der Basis des anfangs skizzierten Strategiekonzepts plausibel gemacht werden können. Hinsichtlich der Zielaufgabe in den Wortbeiträgen 3, 5, 7 und 9 ist zunächst zu fragen, welche Alternativen den Bekehrenden zur Verfügung gestanden hätten. Obwohl zur Stützung einer religiösen PROPHEZEIUNG keine intersubjektiv überzeugenden Argumente angeführt werden können, hat die Ausdifferenzierung der Binnenstruktur des assertorischen Sequenzmusters jedoch gezeigt, daß für die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des vorhergesagten Ereignisses durchaus hätte argumentiert werden können. Von dieser potentiellen Handlungsalternative machen die Bekehrenden jedoch keinen Gebrauch. Der Verzicht darauf und damit die Zielaufgabe läßt sich m.E. nun folgendermaßen rekonstruieren: Die Bekehrenden wissen, daß sie, würden sie auf der Gültigkeit der religiösen PROPHEZEIUNG INSISTIEREN, lediglich Indizien zu ihrer Stützung anführen könnten. Aus dem bisherigen (hier nicht transkribierten) Gesprächsverlauf mußten sie des weiteren den Eindruck gewinnen, es mit einer rational operierenden Gesprächspartnerin zu tun zu haben, da sie häufiger von Spy unterbrochen und auf logische Widersprüche in ihren Ausführungen hingewiesen wurden. Auf der Grundlage dieser Information können sie vermuten, daß ihre Interaktionspartnerin sich kaum durch Indizien wird überzeugen lassen, d.h. sie müssen annehmen, daß sie auch den zur Stützung angeführten Argumenten widersprechen oder ihnen den Status stützender Argumente absprechen wird. Der Vollzug dieser Handlungsaltemative würde somit nichts zur Erreichung des von den Bekehrenden erstrebten Teilziels beitragen. Weiterhin wissen Spx.. und Spx,,, daß im Anschluß an eine religiöse PROPHEZEIUNG ein EXISTENZ-ANGRIFF vollzogen werden kann, mit dem die Existenz des Referenzobjekts, in diesem Fall des religiösen Objekts Gott, bestritten wird.

243

Vollzieht ein Zu-Bekehrender eine Handlung nach diesem Muster, so erübrigt sich für den Bekehrenden jede weitere Argumentation zur Stützung der PROPHEZEIUNG. Genau ein solcher EXISTENZ-ANGRIFF wird m.E. nun von den Bekehrenden erwartet. Für diese Interpretation spricht, daß die von Spx1 vollzogene Zielzurücknahnie in 9 auch die Existenz des Referenzobjekts betrifft, d.h. daß etwas zurückgenarmen wird, was bis dahin, einschließlich der nicht transkribierten Wbrtbeiträge, von Spy nicht bestritten worden ist. Aufgrund ihrer Einschätzung der Gesprächspartnerin gehen Spx1 und Spx» m.E. davon aus, daß bei Fortführung der assertorischen Sequenz mit einem EXISTENZ-ANGRIFF zu rechnen wäre. Diese sprachliche Handlung wird antizipiert, und es wird durch die von Spx_ initiierte Defizit-Aufdeckungs-Sequenz der Versuch untemormen, den EXISTENZANGRIFF vorzeitig zu entkräften, indem durch den Verweis auf die offensichtliche Unzulänglichkeit der Organisation menschlicher Gesellschaft für die Notwendigkeit der Existenz eines Gottes argumentiert wird. Auf der dritten, der strategischen Beschreibungsebene, läßt sich der Gesprächsausschnitt somit als eine kurzzeitige Zielaufgabe seitens der Bekehrenden interpretieren. Sie ist begründet durch die Erwartung eines EXISTENZ-ANGRIFFS und die daraus resultierende Einsicht, daß das kcnrounikative Teilziel der Konviktion augenblicklich nicht erreicht werden kann. Zur Schaffung der dazu notwendigen Voraussetzungen dient die anschließend initiierte DefizitAufdeckungs-Sequenz . 5. Abschließende Bemerkungen Die hier umrissenen, vorläufigen Überlegungen zur Rekonstruktion von Sprecherstrategien basieren auf der Annahme, daß strategisches sprachliches Handeln als Resultat eines Entscheidungsprozesses aufgefaßt werden kann. Interaktanten handeln dann strategisch, wenn sie für ihre sprachlichen Handlungsmöglichkeiten die erwartbaren Reaktionen der Gesprächspartner ermitteln und sich für die Handlungsalternative entscheiden, deren wahrscheinliche Folge mit dem erstrebten Handlungsziel am ehesten kompatibel ist. Da es sich hier um eine subjektiv rationale Entscheidung handelt, steht sie einer Rekonstruktion im Rahmen der Gesprächsanalyse offen. Es wurde gezeigt, daß auf der Basis einer vorgängigen Strukturbeschreibung von Gesprächstypen und einer funktionalen Analyse authentischer Gespräche der spezifische Verlauf dieser Gespräche, d.h. in erster Linie die Reihenfolge, in der die notwendigen Teilziele angestrebt werden, als Ergebnis strategischer Überlegungen interpretiert werden kann.

244

In einem nächsten Schritt ist es nun erforderlich, das Erkenntnisinteresse über Einzelfallanalysen hinaus auf die Beschreibung allgemeiner Zusammenhänge zu richten, z.B. auf die Erfassung typischer strategischer Muster cder auf die Formulierung strategischer Maximen

. Zur Erreichung dieser Ziele wird es

notwendig sein, eine größere Anzahl von faktischen Gesprächen eines Typs auf der strategischen Analyseebene zu beschreiben und die dort gewonnenen Erkenntnisse zu einer systematischen Entfaltung möglicher Informationskonstellationen zwischen den Gesprächspartnern in Beziehung zu setzen. Für bestürmte typische Konstellationen könnten dann generelle Aussagen über dort angewandte Strategien formuliert werden.

Anmerkungen 1

Voraussetzung für strategisches Handeln ist somit, daß ein Handelnder auf kein Mittel zurückgreifen kann, das, eventuell im Rahmen gesellschaftlicher Normen, Konventionen oder Institutionen, zu einer i.d.R. problemlosen Zielerreichung führt. Im übrigen beschränkt sich die Diskussion hier auf das Problem der Auswahl von Handlungsalternativen. Der Aspekt der Wahl einer bestimmten Äußerungsform zur Realisierung eines Handlungsmusters bleibt weitgehend unberücksichtigt.

2

Zur Darstellung entscheidungstheoretischer Grundlagen vgl. Luce/Raiffa (1957) und Jeffrey (1967). Anwendungsbezogene -Aspekte der Entscheidungstheorie werden u.a. in Arrow (19"84) diskutiert.

3

Probleme, die sich aus der Annahme sogenannter Mehrfachziele oder multidimensionaler Präferenzen ergeben, sollen vorerst nicht berücksichtigt werden. Vgl. dazu Huber (1977),

4 Vgl. dazu auch Ossner (1985). 5 Art und Umfang des notwendigen Wissens über den Gesprächspartner können in Abhängigkeit z.B. von Kamtunikationszielen, Gesprächskonstellationen etc. variieren. Reicht dieses Wissen in einem speziellen Fall nicht aus, um die Reaktionshandlungen einigermaßen begründet antizipieren zu können, kann es durch den Einsatz spezifischer Frage-Sequenzen im Verlauf des Diskurses erworben werden. Strategisches Handeln umfaßt somit nicht nur die Entscheidung bei gegebener Information, sondern auch die aktive Beschaffung von Information. 6 Damit ist nicht gesagt, daß die tatsächlichen Hörerreaktionen in jedem Fall zutreffend voraussagbar sind. Vgl. hierzu und allgemein zum Problem der Antizipation möglicher Hörerreaktionen Zimmermann (1984). 7

Die Orientierung am Katmunikationspartner als spezifisches Kennzeichen strategischer Interaktion wird eingehend bei Goffman (1969: 82ff.) diskutiert.

8 Dabei handelt es sich natürlich um ein Erklärungskonstrukt, d.h. es wird keine Aussage darüber getroffen, ob in den Fällen, in denen Strategien rekonstruiert worden sind, die Sprecher tatsächlich derartige Überlegungen angestellt haben.

245

9

Eine detaillierte Darlegung findet sich in Franke (1985) und Kohl (1985). Zu den theoretischen Grundannahmen dieses Verfahrens vgl. Hundsnurscher (1980).

10 Die Abkürzungen "HMISpx" etc. innerhalb der Binnenstruktur der Sequenzmuster sind zu lesen als "Handlungszug 1, vollziehbar von Sprecher x". 11 Ein ähnliches funktional orientiertes Analyseverfahren wird in Techtmeier (1984) dargelegt. 12 Zur ausführlichen Strukturbeschreibung dieses Gesprächstyps vgl. Kohl (1985) 13 Vgl. hierzu die Beschreibung der Untermuster BEKRÄFTIGEN und BETEUERN des Musters INSISTIEREN in Franke (1983: 256ff.). 14 Dieser Ausschnitt entstammt einem Gespräch, an dam drei Teilnehmer beteiligt waren: zwei Bekehrende (Mitglieder der Jehovas Zeugen, Spx.. und Spx_) und eine Studentin (Spy). Das Gespräch fand in der Wohnung der Studentin statt. Von Wortbeitrag 1 ist hier legiglich der Abschluß, von Wortbeitrag 1O nur der Beginn transkribiert. Für die Transkription gelten folgende Konventionen: ( ( . . . ) ) = unverständliche Stelle; ((sterben)) = unsichere Transkription; .. , ... = Pausen unterschiedlicher Länge; Q = simultanes Sprechen. 15 Mit der Erfassung strategischer Muster von Verhörenden beschäftigt sich Holly (1981). Nachteilig an dieser Analyse ist jedoch, daß die Kriterien, nach denen bestimmte Handlungsmuster als strategisch betrachtet werden und andere nicht, ungenannt bleiben. 16 Vgl. dazu Fritz (1977).

Literatur Arrow, Kenneth J. (1984): Individual Choice under Certainty and Uncertainty. Oxford: Blackwell. Franke, Wilhelm (1983): INSISTIEREN. Eine linguistische Analyse. Göppingen: Kummerle. (1985): "Das Verkaufs-/Einkaufsgespräch. Entwicklung eines dialoggrammatischen Beschreibungskonzepts." Wirkendes Wort 1: 53-72. Fritz, Gerd (1977): "Strategische Maximen für sprachliche Interaktion." Baumgärtner, Klaus (ed.): Sprachliches Handeln. Heidelberg: Quelle & Meyer, 47-68. (1982): Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kcmmunikationsanalyse. Tübingen: Narr. Goffman, Erving (1969): Strategie Interaction. Philadelphia: University of Philadelphia Press. Holly, Werner (1981): "Der doppelte Boden in Verhören. Sprachliche Strategien von Verhörenden." Frier, Wolfgang (ed.): Pragmatik. Theorie und Praxis. Amsterdam: Editions Rodopi, 275-319. Huber, Oswald (1977): Zur Logik multidimensionaler Präferenzen in der Entscheidungstheorie. Berlin: Duncker & Humblot.

246

Hundsnurscher, Franz (198O): "Konversationsanalyse versus Dialoggrammatik." Rupp, Heinz / Roioff, Hans-Gert (eds.): Akten des 6. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 198O. II. Bern etc.: Lang, 89-95. Jeffrey, Richard C. (1967) : Logik der Entscheidungen. Wien etc.: Oldenbourg. Kohl, Mathias (1985): "Skizze einer dialoggrammatischen Analyse religiöser Bekehrungsgespräche." Kürschner, Wilfried / Vogt, Rüdiger (eds.): Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres. Akten des 19. Linguistischen Kolloquiums Vechta 1984. II. Tübingen: Niemeyer, 223-232. Levy, David M. (1979): "Communicative goals and strategies: between discourse and syntax." Givon, Talmy (ed.): Syntax and Semantics 12: Discourse and Syntax. New York etc. Academic Press, 183-210. Luce, R. Duncan / Raiffa, Howard (1957): Games and Decisions. Introduction and Critical Survey. New York etc.: Holt, Rinehart & Winston. Ossner, Jakob (1985): Konvention und Strategie. Die Interpretation von Äußerungen im Rahmen einer Sprechakttheorie. Tübingen: Niemeyer. Zimmermann, Klaus (1984): "Die Antizipation möglicher Rezipientenreaktionen als Prinzip der Kotittunikation." Rosengren, Inger (ed.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1984. Stockholm: Almqvist & Wiksell, 131-158.

SPRACHLICHES VERHALTEN VON STUDENT/INN/EN AN THEMENÜBERGANGSSTELLEN IN DISKUSSIONEN

Kathleen Battke

1. Das Thema "Thema" Thema wurde bisher überwiegend textlinguistisch behandelt; erst die Konversationsanalyse schenkte auch der Dynamik der Themenentwicklung und ihrer Bedeutung für Gespräche Beachtung. So stellt z.B. Franck (1980) fest, "daß das Einführen, Durchsetzen und Wechseln des Themas verbunden ist mit Interessen der Teilnehmer [...].Das Themenmanagement ist darum auch einer der wichtigsten Indikatoren für die konversationelle Geschicklichkeit und Dominanz der Interaktanten".(Franck 1980: 71) Das klingt einleuchtend - dennoch ist es offensichtlich bisher schwierig, "Thema" so klar zu definieren und im konkreten Fall so einzugrenzen, daß es als aussagekräftiger Untersuchungsgegenstand handhabbar wird. Leisten auch die Arbeiten z.B. von Schank Pionierarbeit bezüglich der Aufgabe, das Thema von Gesprächen konversationsanalytischer Herangehensweise zugänglich zu machen, indem sie die Leistung des Themas für die Interaktion untersuchen, so spiegeln doch Definitionsversuche wie "Thema ist das, was zwischen zwei Themenwechseln liegt" (Schank 1981) noch viel von der Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Thema wider. Ob es überhaupt möglich bzw. sinnvoll ist,"Thema"zu definieren, zieht Müller (1984) in Zweifel, indem er die "Überwindung einer unzureichend an 'semantischen' Fragestellungen im engeren Sinne geknüpften Themadefinition" fordert (Müller 1984: lol) und"Thema"eher als "ein auch durch den Situationellen Rahmen eingegrenztes soziales Produkt der kooperativen Zentrierung auf einen dominanten Aspekt" (Müller 1984: loo) verstanden wissen will. Zwar ist der semantische Aspekt sicher nicht weniger wichtig, trotzdem habe auch ich mich in meiner Untersuchung auf die Unsicherheit dessen, was "Thema" überhaupt ist, eingelassen und mich den interaktiven Elementen der Themenbehandlung zugewandt. 2. Management an Themenübergangsstellen An unter kritischer Hinzuziehung verschiedener von Schank (1981) und Bliesener/Nothdurft (1978) aufgestellter Kriterien herausgefilterten Themenübergangsstellen wurde versucht, Strategien der Gesprächsteilnehrner/innen bezüg-

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lieh Themenkontrolle aufzuzeigen. Solche Schaltstellen sind zur Untersuchung besonders geeignet, weil durch die dort geforderten gesteigerten Anstrengungen der Interaktant/inn/en zur Lösung des Problems "Themenwechsel" Versuche der Einflußnahme auf andere bzw. auf das Gespräch besonders deutlich hervortreten müßten. Ein weiteres Interesse lag darin, zu beobachten, ob sich bei der Anwendung solcher Strategien qualitative und/oder quantitative Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen. Die aus meinem Material herausgefilterten achtundvierzig Themenübergangsstellen lassen sich in die drei Elemente des Themenwechsels zerlegen: Beendigung (des alten Themas) - Initiierung (des neuen Themas) - Reaktion. Für jedes dieser drei Elemente bieten sich verschiedene Realisierungsmöglichkeiten an, die sich nach dem Grad der Kooperativität hierarchisieren lassen. Ich habe mich in meiner Analyse zunächst auf die Initiierungen konzentriert, für die sich die folgenden Typen: Frage - Verständnisproblem - Statement - expliziter Vorschlag feststellen ließen. 3. Die Themeninitiierung Unter der Fragestellung 'Vie lassen sich Initiierungen im Hinblick auf Themenkontrolle und Machtausübung beurteilen? Was ist eine Ngute' , was eine 'schlechte' Initiierung? Was ist es, was eine Initiierung gelingen läßt?" wurde ein Fragebogen erarbeitet, der vier Aspekte enthält, die bei der Einschätzung von Initiierungen eine Rolle spielen könnten. Der Fragebogen ist als Versuch gedacht, Kriterien zur Bewertung von Initiierungen zu erstellen, d. h. es sollte eine zu erwartende Hierarchie bezüglich der Erfolgschancen einer Initiierung sichtbar werden. Würde die Einschätzung der Initiierungen per Fragebogen durch nicht am jeweiligen Gespräch Beteiligte mit der im Gespräch korrespondieren, könnte das ein Schritt zum Verständnis von Durchsetzungsstrategien bei der Themeneinführung und ein Hinweis auf ein mögliches QieäDeztfcflichss kommunikatives Wissen sein (Fragebogen s. nächste Seite). Zunächst erstellte ich selbst eine Rangfolge aller 48 Initiierungen; das gleiche wurde dann zum Vergleich von zwei Kommilitoninnen durchgeführt. Die Beurteilungen stimmten erstaunlich überein, d. h. bei allen drei Ranglisten tauchten dieselben Initiierungen am oberen bzw. am unteren Ende der Skala auf. Meine weiteren Untersuchungen stützen sich auf die jeweils drei am höchsten und am niedrigsten bewerteten Initiierungen. Um die Wertigkeit einer solchen Einschätzung zu überprüfen, setzte ich die Bewertung der Initiierung in Beziehung zu verschiedenen anderen Faktoren, und

249

Fragebogen 1.1. Erscheint dir die Initiierung in Anbetracht des vorher Behandelten sehr einleuchtend=l, logisch=2, einigermaßen nachvollziehbar=3, als Bruch=4 ? (sowohl auf inhaltlichen Anschluß als auch auf Anschlußformeln wie und das hängt jetzt wieder damit zusamnen achten!) 2. Erscheint dir die Initiierung sehr gut durchdacht=l, durchdacht=2, kaum durchdacht=3, konfus=4 ? ("durchdacht" meint hier "geplant"; ich könnte auch fragen, ob du die Initiierung auf Anhieb verstanden hast oder nicht. Achten auf Satzbau, Strukturierungsformeln wie und daraus folgt dann) 3. Hat die Initiierung dein Interesse am vorgeschlagenen Thema sehr stark=l, stark=2, mäßig=3, gar nicht=4 geweckt? (achten auf Formeln, die Aufmerksaiikeit wecken sollen, wie eins find ich ja ganz verrückt) II.

Weißt du nach der Initiierung sehr viel=l, einiges=2, wenig=3, nichts=4 über die eigene Meinung der/des Initiierenden zu dem von ihr/ihm vorgeschlagenen Thema? (achten auf Bewertungen wie das find ich ja toll und auf Formeln wie ich würde das so sehen)

III. Fühlst du dich absolut=l, stark=2, nicht sonderlich=3, gar nicht=4 verpflichtet, auf die Initiierung zu reagieren? (d.h. hättest du das Gefühl, die/den Initiierende/n vor den Kopf zu stoßen, wenn du nicht reagieren würdest? Achten auf direkte Anrede wie was sagst du denn dazu, verschiedene Typen von Sprechakten wie Frage, Aufforderung etc.) IV.

Fühlst du dich in deinen inhaltlichen Reaktionsmöglichkeiten auf die Initiierung total=l, stark=2, wenig=3, gar nicht=4 eingeschränkt? (achten auf: wie genau ist das Thema umrissen, z.B. Bitte um Klärung eines bestimmten Begriffs vs. Stellungnahme zu allgemeinpolitischen Fragen; sind Reaktionswünsche in der Initiierung ausgedrückt, z.B. kann mir das mal einer nur ganz kurz erklären)

250

zwar

- ihrem Gelingen, 9 - der Stellung des/der Initiierenden im Gespräch , - dem Geschlecht des/der Initiierenden , - der Position der Initiierung im Gespräch. Bei allen diesen Punkten ließen sich interessante Zusammenhänge feststellen. 4.

Wie initiiert man ein Thema erfolgreich?

Der Zusammenhang zwischen der Bewertung der Initiierung und ihrem Gelingen z.B. stellt sich so dar, daß die drei am höchsten bewerteten Initiierungen alle gelingen: (1) Ml [dann hab ich erstma ne Frage . an dich weil du ja gesacht hast . Ml [·: du seist in in der Fachschaft . Konzentrationsmaßnahmen . was Ml [wird darunter verstanden M2 L kann ich dir erzählen et gibt Bereiche ( . . . ) (2) Ml nee würdes könntest du das denn . finanziell sagn wa ma du müßtest Ml 'jetz . dafür bezahlen würdeste das machen ja a glaub ich nich M2 (3) M2 hm . ich weiß nich also . ich mein hier steht ja auch FragestelM2 lung 9 wat was für Auswirkungen für dich persönlich und auf die M2 "Atmosphäre an der Uni hat das ne ich weiß nich du bis jetz zwei M2 "Jahre an er Uni oder schon länger ja wie empfindest du das F2 ja bis du schon bis Ml Ml "du schon länger hier? ich bin neu hier ne auch ich bin ja ja wie wie M2 mhm F2 M2 [empfindet ihr das da so also wenn ihr jetz von der ich weiß nich M2 [was ihr vorher gemacht habt ob ihr nur Schule gemacht habt oder M2 [irgendwas anders also ich find die find die Atmosphäre hier an er Uni F2 L F2 [teilweise ziemlich abtötend . ( . . . ) Die drei am niedrigsten bewerteten dagegen mißlingen:

(4)

F2 vielleicht sollten wir den anderen Artikel nochma lesen hm Ml ja simer Ml [bei dem gleichen Problem wat wa eben besprochen haben . (5) Fl könnten ja noch was zur letzten Frage sagen M ja okay ((4 s)) ich M bin seit fünf Tagen hier (dachen)) ich hab nur da ich hab nur daF2 ich auch ich desgleichen M [ran gemerkt daß hier unten die Plakate aufgebaut haben das war' M [alles . mehr hab ich davon noch nich jemerkt . (6) F [mhm so ma vielleicht auch ma einfach über das Lehrangebot was saF [gen denn Ml L ich weiß et nich

251

Da die Kriterien "eigene Meinung der/des Initiierenden" bzw. "inhaltliche Einschränkung der Reaktion" offensichtlich an keinem Skalenende eine Rolle spielen, bleibt als unterscheidendes Merkmal die Verpflichtung zur Reaktion. Hier fällt nun besonders die starke formale Ähnlichkeit der Initiierungen untereinander auf: Die drei "besten" Initiierungen sind alle direkte Fragen, die drei "schlechtesten" explizite Vorschläge. Eine Frage etabliert dadurch, daß sie den ersten Teil eines adjacency pair bildet und also eine Antwort fordert, eine starke Obligation gegenüber den Gesprächsteilnehmer/inne/n. Diese Verpflichtung wird hier noch dadurch verstärkt, daß alle drei Initiierungen Fragen an eine/n bestimmte/n Gesprächsteilnehmer/in sind. Die "schlechten" Initiierungen sind Vorschläge, die keine konkrete Verpflichtung zur Reaktion etablieren, sondern offensichtlich noch eine zusätzliche Hürde dergestalt aufbauen, daß die anderen Teilnehmer/innen erst den Vorschlag akzeptieren müssen, bevor das Gespräch inhaltlich weitergehen kann; es handelt sich also um einen metakoninunikativen Akt. Zu ihrer geringen Verbindlichkeit tragen weiterhin Unsicherheitsmarker wie Konjunktive und die Verwendung von vielleicht bei. Die Bewertung der beiden Initiierungsformen wird besonders interessant im Zusammenhang mit dem von Sacks/Schegloff/Jefferson (1974) erarbeiteten turntaking-Modell. Danach gibt es zur Organisation des Sprecherwechsels drei Regeln; die erste ist eine "Muß"-Bestiinnung: If the turn-so-far is so constructed as to involve the use of a 'current speaker selects next'technique, then the party so selected has rights, and is o b l i g e d , to take next turn to speak [...] [Hervorhebung nicht im Original! ; die beiden anderen sind "Kann"-Bestiinnungen: If the turn-so-far is so constructed as not to involve the use of a 'current speaker selects next'technique, self-selection for next speakership m a y , b u t n e e d n o t , b e instituted [.. .j.UHervorhebung nicht im Original] If the turn-so-far is so constructed as not to involve the use of a 'current speaker selects next'technique, then current speaker m a y , b u t n e e d n o t , continue, unless another self-selects. [Hervorhebung nicht im Original] (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 13) Nach meinen Beobachtungen ist der Einsatz der llMuß"-Bestimmung, also die verbindliche Verpflichtung zur Reaktion, bei der Themeneinführung besonders erfolgreich. Die von Sacks/Schegloff/Jefferson behauptete Dominanz der ersten Regel über die beiden anderen könnte also in eine Präferenz für diese Methode zur Themeninitiierung umformuliert werden.

252

5. Wer initiiert wo wie? Der interessanteste Zusammenhang deutet sich an zwischen der Bewertung der Initiierung, ihrer Position im Gespräch und dem Geschlecht der/des Initiierenden. Dieser Zusanmenhang stellt sich folgendermaßen dar: Gesprächskrise - "schlechte" Initiierung - Initiierende/r: weiblich (7)

F2 [ ( . . . ) und dann harn se ihre Elite . weil sie weil die ändern F2 Cabgeschossen werden ((16 s)) mein das is klar wenn man . irF2 [gendeine Aufgabe in einer bestimmten Zeit und auch mit ganz F2 Ebestürmten nämlich wenigen Mitteln schaffen muß . daß man F2 [ also . . ja mehr dafür arbeiten muß ne . und aufgrund der so F2 [dieser Mehrarbeit einfach auch zwangsläufig bessere LeistunF2 gen erbringen muß ne M mm tja ( ( l min 55 s Pause)) ((Vorschlag zur VL VL Fortsetzung der Diskussion)) M tja ein Freiwilliger Fl rede (dachen)) (dachen)) ((8 s ) ) Fl könnten ja noch was zur letzten Frage sagen Anormale'Beendigung - "gute" Initiierung - Initiierende/r: männlich (8)

Ml L ( · · · ) nee aber auf jeden Fall is das . . echt n Schritt n groMl ~ßer Schritt zurück . auf jeden Fall . (dachen)) Fl ja klar M2 : jetz M2 sin wa glaub ich da wo wir angefangen haben das is ein großer Ml könntest du das denn M2 Schritt zurück auf jeden Fall Ml nee würdes könntest du das denn Ml . finanziell sagn wa ma du müßtest jetz . dafür bezahlen würd-

Ml fste das machen Mit anderen Worten, die am positivsten bewerteten Initiierungen fügen sich in den Gesprächsablauf ein, erscheinen eher nach gemeinschaftlicher Beendigung oder zumindest nach gemeinsamer Bereitschaft zum Themenwechsel - in meinem Beispiel (8) nach einem gemeinsamen Resümee - und werden von Männern gemacht. Die am negativsten bewerteten Initiierungen folgen auf Krisensituationen, die das Gespräch mehr oder weniger in Gefahr brachten - in meinem Beispiel (7) eine extrem starke Flaute -, und stammen von Frauen. Daraus läßt sich folgendes schließen: - Je kritischer die Situation an einer Themenübergangsstelle, desto schwieriger ist es, ein neues Thema 'locker' einzubringen, umso mehr Ausdrücklichkeit ist erforderlich. Die Grundlage, auf der das Gespräch stattfindet, gerät ins Wanken und muß neu vereinbart bzw. wieder gefestigt werden. Der explizite Vorschlag eines neuen Themas ist dazu theoretisch gut geeignet, weil er diese

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neue Vereinbarung unter Einbeziehung aller Beteiligten ermöglicht; andererseits ist er im praktischen Gespräch wenig erfolgreich - er wird abgelehnt und negativ bewertet. Dies mag auch daran liegen, daß die Vorschläge zum Teil offensichtliche Notstopfen sind, die weniger eine inhaltliche Weiterführung darstellen,als vielmehr das Gespräch wieder in Gang bringen sollen und daher schwerlich das Interesse am vorgeschlagenen Thema zu wecken vermögen. Doch zeigt sich an den expliziten Vorschlägen, daß es Initiierungsarten gibt, die kooperativ sind (d.h. sie lassen den Partner/inne/n Optionen offen, beziehen sie in den Aushandlungsprozeß ein), die aber in der konkreten Situation, die hier stark von Angespanntheit und offensichtlich auch Konkurrenz geprägt ist, keine Chance haben. Hier wären noch genauere Beurteilungsraster zu entwickeln, die die Diskrepanz zwischen Idealisierung und Realität von Gesprächen besser auffangen. - Das Geschlecht der Teilnehmenden wird alleine dadurch zum wichtigen Faktor, daß die "besten" Initiierungen von Männern, die "schlechtesten" von Frauen stammen. Hier scheint sich die Annahme zu bestätigen, daß Männer und Frauen unterschiedliche sprachliche Mittel zur Themeninitiierung verwenden; Männer erfolgversprechende Fragen, Frauen mißerfolgsträchtige explizite Vorschläge. Dieses Ergebnis deutet in die Richtung, daß Männer sich eher in dominanten, verpflichtenden sprachlichen Mustern zu Hause fühlen, Frauen dagegen stärker zu unterstützenden, kooperativen, Macht abgebenden greifen. So auch Klann: Studenten argumentieren eher abgrenzend, kontrovers, Studentinnen eher kooperativ, und durchaus selbstbewußt. (Klann 1978) Unterstützt wird diese Beobachtung durch die oben ausgeführten Zusammenhänge mit dem turn-taking-Modell von Sacks/Schegloff/Jefferson (1974): Männer machen stärker von der ersten Regel, der "Muß"-Bestimmung Gebrauch, Frauen dagegen von den "Kann"-Bestimmungen der zweiten und dritten Regel. Frauen nehmen an kritischen Stellen die Arbeit auf sich, das Gespräch wieder in Gang zu bringen oder einen Konflikt abzuwenden; daß diese Aufgabe auch für sie selbst im Vordergrund steht, machen die zum Teil inhaltlich schwammigen und desinteressiert vorgetragenen Vorschläge deutlich. Auch das Undankbare dieser Arbeit wird sichtbar; die meisten Vorschläge wurden abgelehnt - und zwar von Männern. Meist mußten die Initiantinnen noch einmal ansetzen, da ihr Vorschlag mißachtet bzw. unterbrochen wurde und das Gespräch erneut zu versanden drohte. Ihre Gesprächsarbeit wird also nicht nur nicht honoriert, sondern noch zusätzlich erschwert. Doch die Aufgabe wird pflichtbewußt erfüllt - die Initiierende redet so lange weiter, bis die Krise weit genug zurückliegt und einer ihrer Gesprächspartner, nachdem sie entweder durch ausdrückliche Ableh-

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nung ihres Vorschlages oder durch ausbleibende Hörersignale zum Schweigen gebracht wurde, mit eigenen Ideen fortfährt. Auf der Grundlage der untersuchten Gespräche halte ich folgende Thesen für vertretbar: - Es scheint ein konniunikatives Wissen darüber zu geben, welche Initiierungsart erfolgversprechend ist und welche nicht; - je kritischer die Situation im Gespräch, desto explizitere Methoden werden zur Themeninitiierung gewählt; - je kritischer die Situation im Gespräch, desto aktiver werden Frauen bei der Initiierung von Themen; - Männer und Frauen verwenden zur Lösung des Problems "Themeninitiierung" unterschiedliche sprachliche Mittel; - Frauen verwenden kooperativere Methoden zur Themeninitiierung, Männer dominantere; - Männer führen mit Initiierungen Themen ein, Frauen "benutzen" Initiierungen gleichzeitig bzw. überwiegend zur Beziehungsarbeit und zum Krisenmanagement. 6. Reaktionen und Beendigungen Eine erste Bestätigung haben diese Thesen zur Themeninitiierung auch durch Beobachtungen bei Reaktionen und Beendigungen erhalten: 6.1. Reaktionen - Frauen sind beim Reagieren auf Initiierungen aktiver als beim Initiieren und sogar leicht aktiver als Männer; - Frauen reagieren leicht häufiger responsiv als Männer; - Männer reagieren häufiger teil- und nonresponsiv als Frauen; - Männer und Frauen akzeptieren etwa gleich viele Themen, wobei Männer leicht häufiger zustimmen, Frauen häufiger neutrale, aufschiebende Reaktionen zeigen; - Männer lehnen häufiger Themen ab als Frauen; - Frauen verwenden beim Ablehnen von Themen kooperativere Methoden als Männer. 6.2.. Beend igungen - Männer sind häufiger an Beendigungen beteiligt als Frauen; - Frauen verwenden kooperativere Methoden zur Beendigung von Themen

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(Zusammenfassung, Resümee) als Männer, die überwiegend an Beendigungen durch Konflikte beteiligt sind. 7. Ausblick Diese Untersuchung versteht sich als ein Beitrag zum Verständnis der konversationeilen und interaktiven Bedeutung von Themeninitiierungsstrategien unter besonderer Berücksichtigung des Faktors "Geschlecht". Ein notwendiger und naheliegender nächster Schritt ist es, auf der Basis dieser Analyse die konkreten sprachlichen Mittel zu untersuchen, mit denen die jeweilige Wirkung speziell bei den verschiedenen Initiierungsarten erzielt wird. Eine weitere Untersuchung wird sich mit der Frage des Status zu beschäftigen haben. Es war nämlich zu beobachten, daß trotz der deutlichen Aufgabenteilung im Gespräch - der Mann steuert und kontrolliert, die Frau koordiniert und repariert -, die die Benutzung verschiedener Register begründet, die gleichen sprachlichen Mittel je nach Geschlecht unterschiedlich erfolgreich sind; so werden die beiden einzigen expliziten Vorschläge von Männern problemlos akzeptiert - und zwar von Frauen. Es deutet sich also hier an, daß Männer sich auch mit an sich weniger erfolgsträchtigen sprachlichen Mitteln besser durchsetzen können. Hier müßte der Faktor'Status"mit einbezogen werden, denn wie z.B. Siebert-Ott (1985) an der Verwendung von tag-questions zeigt, benutzen gerade Statushöhere oft Strategien, die als Ausdruck von Unsicherheit gelten. Zu überprüfen wäre also, ob sich der unterschiedliche Erfolg derselben Initiierungsart auf das Geschlecht als Statusfaktor zurückführen läßt.

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Anmerkungen 1 Das untersuchte Material besteht aus 8 Diskussionen zwischen 17 und 38 Minuten Länge, an denen 10 Studenten und 18 Studentinnen teilnahmen. Die Gespräche fanden in Dreier- und Vierergruppen an der Universität zu einem von mir vorgegebenen Thema statt. 2 Gebildet aus Redemenge, turn-Länge, Hörersignalen, nonverbalen Aktivitäten und Anzahl der versuchten bzw. gelungenen Initiierungen. 3 Wobei gesagt werden muß, daß beide Kommilitoninnen bei der Bewertung der Initiierungen nicht wußten, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammten. 4 Zur geschlechtsverbundenen Verwendung von Fragen als Themeninitiierungsmethode vgl. auch Fishman 1984. 5 Die Häufung von Initiierungen, die von Frauen stammen, am unteren Ende der Skala erhält zusätzliches Gewicht angesichts der Tatsache, daß Frauen im Schnitt wesentlich weniger Themen initiieren als Männer (1,3 : 2,5).

Literatur Bliesener, Thomas / Nothdurft, Werner (1978): Episodenschwellen und Zwischenfälle. Zur Dynamik der Gesprächsorganisation. IKP-Forschungsberichte I, 70. Hamburg: Buske. Fishman, Pamela (1984): "Macht und Ohnmacht in Paargesprächen." In: TrömelPlötz, Senta (ed.): Gewalt durch Sprache. Frankfurt/Main: Fischer 127-140. Franck, Dorothea (1980): Grammatik und Konversation. Königstein/Taunus. Klann, Gisela (1978): "Weibliche Sprache - Identität, Sprache und Kommunikation von Frauen." OBST 8: 9-62. Müller, Klaus (1984): Rahmenanalyse des Dialogs. Aspekte des SprachverStehens in Alltagssituationen. Tübingen: Narr. Sacks, Harvey / Schegloff, Emmanuel / Jefferson, Gail (1974): "A simplest systematics for the organization of turn-taking for conversation." In: Schenkein, Jim (ed.): Studies in the Organization of Conversational Interaction. New York, 7-55. Schank, Gerd (1976):"Zur Binnensegmentierung natürlicher Dialoge." In: Berens, Franz-Josef / Jäger, Karl-Heinz / Schank, Gerd / Schwitalla, Johannes (eds.): Projekt Dialogstrukturen. Heutiges Deutsch 12. München. — (1981): Untersuchungen zum Ablauf natürlicher Dialoge. Heutiges Deutsch 1/14. München:Hueber. Siebert-Ott, Gesa Mären (1985): "Tag-questions: Zu ihrer gesprächssteuernden Funktion." In: Kürschner, W. / Vogt, R. (eds.): Sprachtheorie, Pragmatik und Interdisziplinäres. II. Tübingen, 233-243.

ABTÖNUNGSPARTIKELN UND KONVERSATION IN HOFMANNSTHALS "DER SCHWIERIGE" Armin Burkhardt

1. Zur Funktion von Abtönungspartikeln Abtönungspartikeln sind Mittel des Vollzugs präsuppositionaler Akte, die sich jeweils beschreiben lassen als die tatsächliche Illokution einer Äußerung begleitende, zusätzliche Behauptungen mit eigener Proposition, welche sich freilich in der Regel auf die Proposition der sie enthaltenden Äußerung oder auf Teile davon bezieht: Sie sind Mitte], des Sprechers, dem Hörer eigene Einschätzungen der Situation bzw. von dessen Wissensstand anzuzeigen. So präsupponiert z.B. die Modalpartikel denn, daß die sie enthaltende Fragehandlung des Sprechers an eine vorausgegangene verbale oder non-verbale Handlung des Adressaten oder an Elemente der Sprechsituation anknüpft, während eigentlich eine solche situative Einbettung gerade verneint (vgl. dazu König 1977: 118 f f . ) . Ja gibt die pragmatische Präsupposition zu erkennen, daß der Sprecher meint, der in der Proposition seiner Äußerung beschriebene Sachverhalt sei ihm und dem oder den Adressaten bekannt, mal dagegen gibt die Sprechereinschätzung zu erkennen, daß es sich bei der Handlung des Hörers, zu der dieser aufgefordert wird, nur um eine kleine Gefälligkeit handelt, deren Ausführung wahrscheinlich keine nennenswerte Mühe bereiten wird. "Konsensus-konstitutives", unbetontes doch (Lütten 1979) in Aussage- und Aufforderungssätzen ließe sich paraphrasieren mit 'im Gegensatz zu dem, was du den Anschein machst zu tun oder zu denken" und besitzt, Sekiguchi zufolge, als Funktion oder Bedeutung eine dialektische Präsupposition (vgl. 1977: 6 f f . ) . Doch beinhaltet eine aus der Verneinung zurückkehrende Bejahung. Die Aufforderung Schreib doch mall ließe sich danach z.B. wie folgt paraphrasieren : 'ich fordere dich hiermit auf (bitte dich) zu schreiben und präsupponiere: (a) du erweckst derzeit nicht den Anschein, schreiben zu wollen,

(b) du sollst es aber nach meinem Wunsch tun, (c) du wirst es sicher auch tun, d.h. meinem Wunsch nachkommen, und (d) nach meiner Einschätzung handelt es sich dabei nur um eine geringe Mühe 1 . Die Beispielparaphrase zeigt, daß der Satz nach meiner Interpretation als eine Konjunktion von Illokution und Proposition (bzw. bei manchen Typen indirekter Sprechakte von "Basisillokution" und "-proposition" sowie "tatsächlicher" Illo-

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kution und Proposition) mit einer oder mehreren pragmatischen Präsuppositionen ist, deren Proposition jeweils die Basisproposition oder Elemente davon enthält. (Vgl. zu alledem Burkhardt 1982, 1982a und 1984) Halt und eben, die von Lütten ebenfalls zu den "Konsensus-konstitutiva" gerechnet werden - wobei halt als süddeutsch-österreichische Variante von norddeutsch eben gilt (und umgekehrt) - vollziehen die Sprecherpräsupposition "wir alle wissen, es ist eine unumstößliche Tatsache, daß p' und sind insofern, wie Held richtig schreibt, "Ausdruck des Sichabfindens mit einer unmittelbar evidenten, unabänderlichen Situation" (1981: 254). Halt gibt ebenso wie eben ein Signal, daß an dieser Stelle nicht weitergefragt werden kann bzw. nicht weitergefragt werden soll. Es ist insofern auch ein Appell an die Dezenz des Gesprächspartners - ein für das Zustandekommen von Konversation eminent wichtiger Aspekt; dies muß in besonderer Weise für eine Komödie gelten, deren "schwierige" Hauptfigur mehrfach von der "Indezenz" aller menschlichen Rede spricht (vgl. z.B. 11,14 und III, 14). In ganz ähnlicher Weise gibt abtönendes einfach - wie etwa in der Äußerung Ich hatte einfach keine Lust - die Sprecherannahme kund, es sei für beide Parteien offensichtlich, daß es fUr p keinen besonderen, benennbaren Grund gebe. Auch einfach in der beschriebenen Funktion, das hier als Modalpartikel verstanden wird, obwohl es oft (gerade auch wegen seiner nach ihrer grammatischen Bildung als adverbial aufgefaßten Entsprechungen in anderen Sprachen; vgl. z.B. engl. simply und ital. semplicemente) eher zu den Adverbien gerechnet wird, gibt zu verstehen, daß ein Nachfragen durch den Hörer an dieser Stelle entweder nicht sinnvoll oder nicht erwünscht ist. Abtönungspartikeln dienen auf der gesprächspragmatischen Ebene (die Franck sinnigerweise die "konversationeile11 nennt; vgl. 1980: 114 f f . ) der Gesprächssteuerung oder, wie im Falle von halt/eben und einfach, geben Hinweise darauf, welche Sätze der Sprecher als unhintergehbare Tatsachenbehauptungen ansieht. 2. Konversation in Hofmannsthals "Der Schwierige" Axel Hübler hat in seinem Aufsatz "Zur 'Konversation' in Hofmannsthals Der Schwierige" (1980) "die Konversation im Schwierigen als Epiphänomen eines aufgrund der Saturiertheit niedrigen Achievement Need des Wiener Adels" interpretiert, "das zu dem gezeigten historischen Zeitpunkt der Komödie in Disproportion zur Geschichte geraten ist" (ebd.: 139 f . ) . Hübler hat zum ändern verdeutlicht, mit Hilfe welcher Mittel sich Konversation im "Schwierigen" realisiert, aufgrund welcher Merkmale die Dialoge in Hofmannsthals Komödie als Konversation bestimmt werden können und welche Kriterien im Stück selbst von den Figuren für

259

das Vorliegen "echter" Konversation genannt werden. Aus alledern ergibt sich schließlich Hüblers Bestimmung: ''Konversation ist der Stil, der - in offensichtlichem Gegensatz beispielsweise zur Unterhaltung, die ihre Absichtsfülle auslebt - das Absichtsvolle als absichtslos erscheinen läßt." (Ebd.: 119) Der Konversationsstil verlangt es, seine Absichten - wo sie überhaupt vorhanden sind - auf so raffinierte Weise zu kaschieren, daß sie im Miteinandersprechen - wie zufällig und indirekt - doch realisiert werden können. Sinn der Konversation ist es, durch formal ansprechendes Reden den Partnerkontakt möglichst lange und auf angenehme Weise aufrecht zu erhalten; hier soll nicht der "Geschäftston11 (II, 1 ) subjektiver Interessen herrschen oder der Wille zur Selbstdarstellung, sondern die Sprechenden und Hörenden sollen sich ihrem jeweiligen Du gegenüber aufgeschlossen zeigen, denn sobald das Von-sich-selbst-Reden um jeden Preis völlig die Haltung des Hörens und Aufnehmens verdrängt und Sprechen kein Antwort suchendes Hinwenden mehr ist, geht der Sinn echter "Konversation" verloren, nämlich das "dem ändern das Stichwort bringen". (Wittmann 1966: 145) Diese Haltung ist es, die Graf Altenwyl in der Kommunikation seiner Zeit vermißt, wenn er die "Direktheit" der jungen Leute anprangert (II, 1). Und zuvor hatte es geheißen: ALTENWYL: Zu meiner Zeit hat man einen ganz anderen Maßstab an die Konversation angelegt. Man hat doch etwas auf eine schöne Replik gegeben, man hat sich ins Zeug gelegt, um brillant zu sein. EDINE: Ich sag: wenn ich Konversation mach, will ich doch woanders hingeführt werden. Ich will doch heraus aus der Banalität. Ich will doch wohintransportiert werden! (II, 1 ) Ohne bereits an dieser Stelle zu sehr auf die Funktionen der Abtönungspartikeln in Hofmannsthals Text eingehen zu wollen, ist es doch (sie!) interessant zu beobachten, wie in dieser kurzen Passage gleich viermal das abtönende doch dazu benutzt wird, die Möglichkeit einer gegenteiligen Meinung zu unterstellen, zugleich den Glauben an den Konsens zu signalisieren, trotzdem Zustimmung zu fordern und sich von der der eigenen entgegengesetzten Auffassung akzentuiert (aber im Satz unbetont) zu distanzieren, die in diesem Fall eben gerade eine Konversationshaltung im Sinne des "gewissen Zielbewußten in der Unterhaltung" (II, 1 ) beinhaltet. Hans Karl, der "Mann ohne Absicht" - so kennzeichnet ihn Hofmannsthals ursprünglicher Titel für das Lustspiel (vgl. dazu Wittmann 1966: 141) -, der eben dadurch zum "Schwierigen" wird, daß er sich gegen seine eigenen Interessen und gegen seine eigene reservierte Haltung der Sprache und der "Konfusionen" hervorbringenden Konversation auf die konversationeile Verwirklichung der Interessen anderer einläßt, macht seine Auffassung von der "echten" Konversation noch etwas deutlicher, wenn er über den Clown Furlani sagt:

260

Alle ändern lassen sich von einer Absicht leiten und schauen nicht rechts und nicht links, ja, sie atmen kaum, bis sie ihre Absicht erreicht haben: darin besteht eben ihr Trick. Er aber tut scheinbar nichts mit Absicht er geht amtier auf die Absicht der ändern ein. (II, 1 ) Dieses Auf-die-Absichten-der-andern-Eingehen ist nicht nur das konstitutive Prinzip "echter" Konversation, sondern es kennzeichnet den entscheidenden Wesenszug Hans Karls und seines Handelns im Stück, der ihn schließlich auch folgerichtig in "Schwierigkeiten" bringt. Die im Verlauf der Kcmödienhandlung schließlich am meisten unter dieser Absichtslosigkeit oder -Vergessenheit Hans Karls leidende Helene bekundet Verständnis für dessen Sympathie für Furlani und fügt hinzu: "Ich find alles, wo man die Absicht merkt, die dahintersteckt, ein bißl vulgär." (II, 1 ) Ironischerweise ist es an dieser Stelle gerade Hans Karl, der Absichten hat - wenn auch die seiner Schwester. Er formuliert dies auf die für das Lustspiel gattungstypische, objektiv-ironische und doppeldeutige Weise: "Oho, heute bin ich selber mit Absichten geladen, und diese Absichten beziehen sich auf Sie, Gräfin Helene." (II, 1) Gerade weil Hans Karl keine Absichten verfolgt oder jedenfalls doch nicht seine eigenen, darum wird er einerseits der Exponent perfekten Konversierens, gerät aber andererseits in die "Schwierigkeit", seine "Absichten" auf Helene und damit sein Lebensglück zu verfehlen: Nur weil Helene so feinfühlig ist,

die Schilderung seiner "Ehe"

mit ihr im Moment seiner Verschüttung und sein Adieu in II, 1 als äußerst kaschierte, ihm selbst kaum bewußte Liebeserklärung zu deuten, und außerdem später den Mut aufbringt, ihm ihre Liebe zu gestehen, kann es schließlich im dritten Akt zu einem Happy-End kommen. Ähnlich wie für Hübler wird auch für Gerhard Bauer in der Konversation das Hinhalten zum "Selbstzweck": "Im Reden sowie im Reden über das Reden wird die Zeit des Beisammenseins zugleich erfüllt und ausgekostet." (1977: 230) Dies gilt zumal für die "meta"konversationellen Dialoge im "Schwierigen". Die Hauptverfahren der Konversation, so Bauer weiter, seien dabei: Wiederholung und Variation, Rückgriff auf frühere oder andere Unterhaltungen, das freie ziellose Kreisen der Themen und Thesen, die alle der Erhaltung und Verlängerung des Beisammenseins im Reden dienten (vgl. ebd.: 230). An anderer Stelle seiner Arbeit schreibt er: Die Formulierungen werden, ebenso wie die Konversationsthemen und -meinungen, als ein Wert an sich behandelt. Nicht weil ein Ausdruck sachlich besonders zutreffend ist, sondern weil er besonders 'gewagt1 ist im Sinne des Witzes oder Spiels mit den Gegenständen, wird er bewundert und wiederholt oder weitergetrieben. Da jeder Sprecher mit einem ungefähren Verständnis der anderen zufrieden ist und meist auch unerwartete Weiterdeutungen akzeptiert, kommt es trotz vieler objektiver Mißverständnisse kaum zur Situation des eklatanten Mißverstehens. (Ebd.: 97)

261

Nun ist "Der Schwierige" von nichts so voll wie von Mißverständnissen der verschiedensten Art und Schwere, und es sind für Hans Karl gerade die Konversationen, die "die heillosesten Konfusionen" (III, 14) anrichten. Dies zeigt nicht zuletzt sein eigener Fall, insofern es einerseits gerade sein mehr oder weniger bewußter Verzicht auf das Verfolgen eigener Absichten ist, der einige Konfusionen stiftet und beinahe die Annäherung der beiden Liebenden verhindert. Andererseits ist es wiederum eben diese konversationelle Absichtslosigkeit, das Zurückstellen persönlicher Interessen, die es ihm, dem radikalen Sprachskeptiker, allererst im Adieu ermöglicht - gewissermaßen in fremdem Interesse - seine imtimsten Gefühle in der Schilderung seiner Vision einer Ehe mit Helene im Augenblick seiner Verschüttung und damit seine "wahren Absichten" zu offenbaren. Insofern ist es zum einen paradoxerweise gerade seine Absichtslosigkeit, die seinen Interessen dient, und zum ändern - und ebenso paradox - gerade die Konversationsform, die für ihn, den Schwierigen, das eigentliche Gespräch erst möglich macht. Und er "bouleversiert", nach seinen eigenen Worten (II, 14) Helene nicht dadurch, daß er - gegen die Konversationsregel - "peroriert", sondern durch "absichtslose", aber zu persönliche Ansprache. Der sprachskeptische "Mann ohne Absicht", der das "Geschäft" der Werbung für seinen Neffen Stani übernommen hat, muß am Ende die soziale Notwendigkeit der Sprache einsehen, wird von Helene durch die Aussprache hindurchgeführt: "Denn durchs Reden kennt ja alles auf der Welt zustande." (II, 14) "Der Schwierige gelangt erst dann zur Ruhe in sich selbst, wenn das Ich im Medium der Sprache durch das Du gegangen ist." (Wittmann 1966: 167) Die Liebe muß sich, um eine dauerhafte Beziehung zu etablieren, der Sprache anvertrauen. Die wahre Konversation im Sinne des "Schwierigen" ist weder "Geschäft" noch "Geschwätz", sondern "Aussprache" und "Gespräch"; sie zahlt nicht mit dem "Papiergeld des täglichen Verkehrs" (I, 12), sondern mit dem "Gold" persönlichen Sprechens auf ein Du hin (vgl. dazu auch Wittmann 1966: 147 ff. und 160 f f . ) . 3. Die Rolle der Abtönungspartikeln im "Schwierigen" Konversation verlangt größtmögliche Zurückhaltung im Hinblick auf die Artikulation der eigenen Interessen und Geschicklichkeit im Umgang mit der Sprache (vgl. dazu auch Bauer 1977: 28). Form und Wirkung sind in der Konversation wichtiger als ihr Gegenstand (vgl. ebd.: 193 f f . ) . Das - zumindest vordergründige - Fehlen von Interesse wird nicht selten mit Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit erkauft. Insofern ist Hans Karls kritische Haltung gegenüber einem "Schwall von Worten [...], von denen mir jedes einzelne geradezu indezent erscheint" (III, 14), durchaus berechtigt.

262

Als eine Möglichkeit des Erzielens der konversationstypischen "pragmatischen Zurückhaltung" nennt Hübler auch den Gebrauch des abtönenden ja, wie es im Stück besonders häufig von Hans Karl benutzt werde (was sicher so nicht zutrifft). Dieses ja, so Hübler, präsupponiert, d.h. setzt stillschweigend voraus die Kenntnis des propositionalen Gehalts der jeweiligen Äußerung. Entgegen der generellen Auffassung, der gemäß ein der Presupposition äquivalenter Tatbestand die Vorbedingung für das Gelingen der Präsupposition ist, scheint im vorliegenden Konversationsfall ein anderer Sachverhalt gegeben. [ ] Die mit dem "ja"-Partikel verbundene Präsupposition kann insoweit zu einer Form des Understatements werden; sie hat dann ihrerseits gerade zur Präsupposition, daß nicht bekannt ist, was scheinbar als bekannt vorausgesetzt wird. Der strategische Wert für Hans Karl besteht konkret also darin, ins Wort zu kommen, wie von ungefähr, ohne die Grellheit der Neuigkeit und ohne die Indezenz einer Exponierung. (1980: 133) Das letztere gilt natürlich nicht nur für Hans Karl, sondern für alle dramatis personae. Die Funktion des abtönenden ja_ wird jedoch von Hübler ungerechtfertigterweise auf eine eher periphere Variante dieser Partikel eingeengt, die Reiter als "perfide" bezeichnet hat, weil mit ihrer Hilfe dem Hörer ein Wissen unterstellt werden kann, von dem für den Sprecher bereits klar ist, daß er es nicht besitzt, um ihm durch das Erkennen dieser Präsupposition und seines tatsächliNicht-Wissens seine Unkenntnis nur umso deutlicher zu demonstrieren; zu einer solchen "Perfidie" ist das abtönende ja. wegen der in ihm enthaltenen Unterstellung allgemeiner oder doch zumindest wechselseitiger Bekanntheit des betreffenden Sachverhalts besonders gut geeignet (vgl. dazu Reiter 1980: 345 f.; Burkhardt 1982b: 355; in einer Anmerkung weist auch Hübler auf diese Erklärung hin, s. 1980: 141 f., Anm. 12).

Im "Schwierigen" allerdings dient das ja^ überwiegend dem Stiften von Übereinstimmung durch eine Art Kompliment: Wahrend das Unterstellen eines selbstverständlichen Wissens zu "perfiden" Weise des Beleidigens werden kann, wenn das entsprechende Wissen offensichtlich nicht vorliegt, so wird es im Gegenteil zum Kompliment, wenn ein sehr ungewöhnlicher, nur wenigen bekannter Wissenssatz oder ein besonderes Bildungswissen als bekannt unterstellt wird - auch wenn es de facto nicht vorhanden ist -, weil der Sprecher so anzeigt, daß er dem Adressaten zumindest eine hohe Einschätzung seiner Kenntisse und Fähigkeiten entgegenbringt. Wichtig für die Hörerinterpretation ist dabei auch, ob dieser dem Sprecher besondere Arroganz bzw. Herablassung oder vielmehr Zuneigung und Respekt unterstellt. Partikeln, "kcmnunikative Funktionswörter", können auch zur Personencharakteristik eingesetzt werden, indem sie gleichsam als Erkennungsmerkmal der sie häufig gebrauchenden Personen fungieren: So ist es z.B. in Irmtraud Morgners

263

"Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz", wo ein Herr Salman durch sein "Widerspruch unterstellendes" gesprächsschrittbeendigendes Gliederungs-ja_ gekennzeichnet wird (vgl. 1976: 561 f f . ) . Ähnlich ist es aber auch in Hofmannsthals Stück, wo an einigen Stellen der berühmte Mann" sein für ihn typisches, unwirsches, "sichtlich verstimmtes" "Hm." brummt (vgl. II, 2; für einige ähnliche Charakterisierungsbeispiele bei Dürrenmatt vgl. Betten 1980: 211). Im "Schwierigen" ist es aber auch Hans Karl selbst, der, ständig mit der Tendenz zur vorsichtigen Zurücknahme des Gesagten sprechend, durch die überaus häufige Verwendung Übereinstimmung unterstellender Abtönungspartikeln charakterisiert wird (vgl. dazu auch Held 1981: 255) - und nicht allein durch das ja, auf das Hübler verweist. An anderer Stelle wurde versucht zu zeigen, wie die Abtönungspartikeln, indem sie die Vorannahmen der dramatis personae offenlegen, in Dramendialogen u.a. der Stützung der Exposition dienen können (vgl. Burkhardt 1984). Auch und gerade "Der Schwierige" ließe sich sehr gut im Hinblick auf den Aufbau einer Exposition mit Hilfe der Präsuppositionen vollziehenden Abtönungspartikeln untersuchen. Dies zeigt sich unter anderem in der überaus häufigen Verwendung des abtönenden doch in der ersten Szene. Bei einem Konversationsstück, in dem es eine Hauptaufgabe der Figuren sein muß, den Gesprächskontakt aufrecht zu erhalten, artige Repliken zu machen und Übereinstimmung zu erzielen bzw. zumindest zu suggerieren, kann es nicht überraschen, wenn gerade hier die "Konsensus-konstitutiva" unter den Abtönungspartikeln eine überragende Rolle spielen, auch in quantitativer Hinsicht. Vorkommen von halt (eben), doch, jji und einfach sind sehr zahlreich; diese Partikeln erscheinen gehäuft an markanten Stellen im Text, und das hat gute, konzeptionelle Gründe. Häufigkeit, stilistischer Wert und strategische Bedeutung der konsensuskonstitutiven Modalpartikeln werden z.B. deutlich in dem folgenden Dialog zwischen Hans Karl und seiner Schwester Crescence: HANS KARL: Ich gratulier dir zu deinem Sohn, Crescence. Ich bin sicher, daß du immer viel Freud an ihm erleben wirst. CRESCENCE: Aber - pour revenir ä nos moutons, Herr Gott, wenn man durchgemacht hat, was du durchgemacht hast, und sich dabei benommen hat, als wenn es nichts wäre HANS KARL geniert; Das hat doch jeder getan! CRESCENCE: Ah, pardon, jeder nicht. Aber da hätte ich doch geglaubt, daß man seine Hypochondrien überwunden haben könnte! HANS KARL: Die vor den Leuten in einem Salon hab ich halt noch immer. Eine Soiree ist mir ein Graus, ich kann mir halt nicht helfen. Ich begreife noch allenfalls, daß sich Leute finden, die ein Haus machen, aber nicht, daß es welche gibt, die hingehen. CRESCENCE: Also wovor fürchtest du dich? Das muß sich doch diskutieren lassen. Langweilen dich die alten Leut? HANS KARL: Ah, die sind ja charmant, die sind so artig.

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CRESCENCE: Oder gehen dir die Jungen auf die Nerven? HANS KARL: Gegen die hab ich gar nichts. Aber die Sache selber ist mir halt so eine horreur, weißt du, das Ganze, das Ganze ist so ein unentwirrbarer Knäuel von Mißverständnissen. Ah, diese chronischen Mißverständnisse! CRESCENCE: Nach allem, was du draußen durchgemacht hast, ist mir das eben unbegreiflich, daß man da nicht abgehärtet ist. HANS KARL: Crescence, das macht einen ja nicht weniger empfindlich, sondern mehr. Wieso verstehst du das nicht? Mir können über eine Dummheit die Tränen in die Augen kommen - oder es wird mir heiß vor g&ie über eine ganze Kleinigkeit, über eine Nuance, die kein Mensch merkt, oder es passiert mir, daß ich ganz laut sag, was ich mir denk - das sind doch unmögliche Zustand, um unter Leut zu gehen. Ich kann dir gar nicht definieren, aber es ist stärker als ich. Aufrichtig gestanden: ich habe vor zwei Stunden Auftrag gegeben, bei Altenwyls abzusagen. Vielleicht eine andere Soiree, nächstens, aber die nicht. (I, ,3; Hervorhebungen vom Verf.) Zwar läßt sich die Zuschreibung des Gebrauchs bestimmter Partikeln nicht auf einzelne Figuren im Stück beschränken - jeder benutzt letztlich alle möglichen Abtönungsvarianten -, in dieser Passage zeigt sich aber ganz deutlich, wie Hans Karl sich mit Hilfe des abtönenden halt mehrfach auf die Unhinterfragbarkeit einer Proposition zurückzieht, während Crescence, die die Motive für seine Abneigung gegen Soireen zu ergründen versucht, ihm mit Hilfe des doch zweimal die Möglichkeit einer von der ihren abweichenden Auffassung unterstellt: 'im Gegensatz zu dem, was du anzunehmen scheinst, hätte ich geglaubt, daß man seine Hypochondrien überwunden haben könnte1 bzw. 'im Gegensatz zu dem, was du anzunehmen scheinst, muß sich das (nämlich die ablehnende Haltung ihres Bruders zur Konversation der Soireen) diskutieren lassen'. Es ist interessant zu sehen, wie Crescence in dem Augenblick, wo sie zu direkt und persönlich zu werden droht, das Anredepronomen du durch das unpersönliche man ersetzt. Seine Abneigung gegen die mit dem Makel "chronischer Mißverständnisse" behafteten Soireekonversationen, in denen das Eigentliche nie zur Sprache kommen kann, vermag Hans Karl nur anhand einer relativ abstrakten Schilderung seiner Gefühle des Unwohlseins und seiner Furcht vor Fauxpas vage zu beschreiben: Sie sind nicht "definierbar", seine Ablehnung, seine Empfindung der "Indezenz" allen Sprechens sind "stärker als

ich",

er "kann sich [...] nicht helfen". Diese Unhinterfragbarkeit seines Krankseins an der Konversation wird unterstützt durch die Verwendung von halt, das eben dies ausdrückt. Während doch die Möglichkeit eines Dissenses einräumt, aber zugleich negiert bzw. zustimmende Reaktion des Partners fordert, und ja ein 'wir wissen beide, daß die Proposition meines Satzes wahr ist1 oder 'du weißt schon, wie ich's meine' ausdrückt, signalisiert halt (und in gleicher Weise eben), daß der in der Proposition zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt eine unumstößliche und im einzelnen auch nicht weiter begründbare Tatsache ist,und legt so dem Hörer nahe,

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auf weiteres Nachfragen zu verzichten. Halt und eben präsupponieren: 'jeder kennt die unumstößliche Tatsache, daß 1 p . Gerade diese beiden Partikeln sind daher zum Stiften von Übereinstimmung besonders gut geeignet, weil sie außer dem Konsens selbst noch unterstellen, daß der thematisierte Sachverhalt auf von den Interaktanten unabhängige Weise existiert, also suggerieren, daß diese selbst keinerlei Einfluß auf ihn haben. Dies zeigt sich besonders deutlich in einer Passage, in der die durch halt bereits ausgedrückte Notwendigkeit selber noch eigens explizit ausgedrückt wird . Hans Karl sagt in II, 10 zu Antoinette: [...]/ es gibt halt auch eine Notwendigkeit, die wählt uns von Augenblick zu Augenblick, die geht ganz leise, ganz dicht am Herzen vorbei und doch so schneidend scharf wie ein Schwert. Ohne die wäre da draußen kein Leben mehr gewesen, sondern nur ein tierisches Dahintaumeln. Und die gleiche Notwendigkeit gibts halt auch zwischen Männern und Frauen - wo die ist, da ist ein Zueinandermüssen und Verzeihung und Versöhnung und Beeinanderbleiben. (Hervorhebungen vom Verf.) Dies ist gegen die nur "im Moment" lebende (vgl. II, 10) Antoinette gesagt, deren Lebensprinzip der "Zufall" ist, der alles "zueinander)agt und auseinanderjagt" (ebd.; vgl. dazu auch Wittmann 1966: 154 f f . ) , während die "Notwendigkeit" am Ende gerade Helene und Hans Karl zusammenführt. Jedenfalls wird in der zitierten Passage der in den durch Unterstreichung hervorgehobenen Sätzen ohnehin schon vorhandene Ausdruck von (in der Regel) externer Notwendigkeit durch das eingefügte halt noch verstärkt; unliebsame Nachfragen werden ausgeschlossen: "Das halt", so schreibt L. Spillner in seiner Schrift "Bairisch für Urlauber", gehört zum Wortschatz des unaufdringlichen Menschen." (Zit. nach Held 1981: 250.) Aber nicht nur der schwierige Hans Karl, der sich scheut, das wirklich Wichtige klar und deutlich auszusprechen, benutzt diese überlegenen äußeren Zwang z.B. durch Gesetze oder gesellschaftliche Regeln - präsupponierende Partikel, sondern neben der schon zitierten Crescence z.B. auch Antoinette, wie der folgende Dialogbeitrag beweist: ANTOINETTE: Ja, wir leben halt nicht nur wie die gewissen Fliegen von Morgen bis zur Nacht. Wir sind halt am nächsten Tag auch noch da. Das paßt euch halt schlecht, solchen wie du einer bist. (II, 10; Hervorhebungen vom Verf.) Das Wesentliche, das Persönliche, die konkrete Empfindung oder Sehweise läßt sich mit Hilfe des abstrakten Mediums Sprache nicht sagen (es muß aber doch, wie das Beispiel der nicht ganz einfachen Annäherung zwischen Helene und Hans Karl beweist, wenn im zwischenmenschlichen Bereich etwas bewirkt werden soll, durch die Sprache hindurch). Halt - das hier sinnigerweise wie ein Stop-Schild fungiert - ist ein Signal, daß ein solcher Punkt des Nicht-mehr-explizit-Machen-Könnens und damit letztlich des Versagens der Sprache als Kommunikations-

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mittel erreicht ist.

Insofern hat Held recht, wenn sie schreibt, der Sprecher

appelliere mit halt an das Entgegenkamen des Partners und des Publikums, "die eigentliche Information über die Worte hinweg zu verstehen" (1981: 261 ). Halt präsupponiert also einerseits die Sprechermeinung, daß es sich bei dem durch die fragliche Proposition ausgedrückten Sachverhalt um eine unumstößliche, nichthintergeh- oder ignorierbare Tatsache handele, andererseits aber legt sie, ähnlich wie das ja, ein "du weißt schon, was ich meine, ich brauche (oder möchte) es dir nicht genauer erklären1 nahe und gibt damit im Grunde eine Form der Unmittelbarkeit, des Seins-bei einem anderen kund. Insofern halt also gerade das Versagen der Sprache markiert und doch einen Weg zeigt, wie dieses Versagen überwunden werden könnte, nämlich durch Rekurs auf ein eigenes Wissen oer Empfinden, wird halt im "Schwierigen" - aber auch, wie Held zeigen kann, bei Schnitzler - zur Konversationspartikel par excellence und nicht zuletzt zum unverzichtbaren Ausdrucksmittel des sprachkritischen "Manns ohne Absichten". Indem halt einerseits Grenzsignal für mögliche Zudringlichkeit ist,

anderer-

seits aber auch an das unmittelbare Verstehen zwischen den Kaimunikationspartnern appelliert, ist es abstrakt und konkret zugleich. In bezug auf Hofmannsthals Hauptfigur drückt Held dies so aus: Die Partikel halt gliedert sich [...] ganz subtil in den absichtslosen Ausdruck Hans Karls ein, wo alles schwebende Nuance, grenzenlose Implikation bleibt, deren wirkliche Aussage nur Helene durch das Feingefühl der Liebe erfahren kann. Allen anderen kommunikationstaktischen Personen gegenüber verschließt sich Hans Karl nur noch mehr in Resignation und unverstandener Überlegenheit . (1981: 259) Halt ist insofern charakteristisch für Hofmannsthals Konversationsstück, als es zum einen mithilft, den unverbindlich-allgemeinen Konversationscharakter zu erzeugen, und zum ändern den Weg anzeigt, diese unverbindliche Allgemeinheit durch die Unmittelbarkeit der persönlichen Zuwendung zu überwinden. Das ist es wohl, was Held mit der "Doppelbödigkeit der Partikel halt" (ebd.: 253 f f . ) meint. Halt drückt gewußte Notwendigkeit aus, ia und doch rekurrieren dagegen auf geteiltes Wissen, signalisieren Gemeinsamkeit. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, wenn in II,

10 (Hans Karls Gespräch mit Antoinette, bei dem er versucht,

sie mit ihrem Mann auszusöhnen) die Partikel halt dominiert, während in der zum vermeintlich endgültigen Adieu führenden Aussprache mit Helene (II, 14) häufig Sätze mit ja_ und doch auftreten. Gegenüber der befrandsfcai, als ganz dem "Zufall" ergeben charakterisierten Antoinette muß vom Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit die Rede sein: Aus dem "Sumpf" des Zufalls hilft nur die Besinnung auf ein "Institut", "das aus dem Zufälligen und Unreinen das Notwendige, das Bleibende und das Gültige macht: die Ehe". Nur wo nicht allgemein und abstrakt über

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Gesetzmäßigkeiten und soziale Beziehungen geredet, sondern persönlich gesprochen wird, treten in der Konversation mit Antoinette ja und doch auf: ANTOINETTE: [...]

So sagen Sie doch was!

HANS KARL leise; Aber ich hab ja alles so lieb. Es war ja so schön. L. . .J HANS KARL: Es war ja so schon! ANTOINETTE: [...] Sie insultieren mich ja_ in einem fort. ANTOINETTE: [...] Sie sind ja_ fürchterlich. HANS KARL: Zu einem Adieu ist kein Anlaß, denn es war ja nie etwas zwischen mir und ihr. HANS KARL: [...] Sei Sie gut mit dem Ado. ANTOINETTE: Mit dem kann ich nicht gut sein. HANS KARL: Sie kann mit jedem. ANTOINETTE sanft: Kari, insultier Er mich doch nicht. HANS KARL: Versteh Sie doch, wie ich meine. ANTOINETTE: Ich versteh Ihn ja sonst immer gut. (II, 10) Halt dagegen signalisiert den Sprecherwunsch nach unmittelbarem Verstehen gerade dadurch, daß es die Grenze des Sagbaren, also letztlich gerade auch kommunikativ-pragmatische Schranken markiert. Während in II,

10 ja und doch zwar nicht

selten sind, aber nur an Stellen deutlich persönlicher Zuwendung erscheinen, werden sie in der Aussprache mit Helene naturgemäß zum durchgängigen Prinzip; sie finden sich daher auch an Stellen, an denen deutlich von allgemeinen Regeln oder Notwendigkeiten die Rede . HANS KARL: [...]

ist:

Durchs Reden kommt ja_ alles auf der Welt zustande.

HANS KARL: [...] ja wirklich, Helene, heiraten Sie den Stani, er möchte so gern, und Ihnen kann ja gar nichts passieren. Sie sind ja unzerstörbar, das steht ja deutlich in Ihrem Gesicht geschrieben. L. . -J HANS KARL: Aber nein, an Ihnen ist ja nicht die Schönheit das Entscheidende, sondern etwas ganz anderes: in Ihnen liegt das Notwendige.

HANS KARL: [...] Denn daß man jemandem adieu sagen muß, dahinter versteckt sich jjj was. HELENE: Was denn? HANS KARL: Da muß man ja. sehr zu jemandem gehören und doch nicht ganz zu ihm gehören dürfen. (II, 14; Hervorhebungen bei allen Textbeispielen vom Verf.) Der Unterschied zwischen halt/eben auf der einen und jci bzw. doch auf der anderen Seite besteht halt/eben/ja/doch darin, daß halt und eben ein allgemeines, weil Notwendigkeiten umfassendes, ja und doch dagegen ein beiden Gesprächspartnern g e m e i n s a m e s Wissen präsupponieren. Auch hier zeigt sich wieder einmal überaus deutlich, daß die durch die Gesprächsanalyse inspirierte linguistische Partikelforschung durchaus in der Lage ist, ihren Beitrag zur Mikroanalyse natürlicher und literarischer Dialoge zu leisten und damit auch "der Literaturwissenschaft einen Teil ihrer Willkürlichkeit" zu nehmen (vgl. Beiersdorf/Schöttker 1978: 518).

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IV. VARIETATENLINGUISTIK

SATZ- U N D T E X T S Y N T A K T I S C H E M E R K M A L E E N G L I S C H E R M E D I Z I N I S C H E R FACHSPRACHE Monika K r e n n

1.

Zum G e g e n s t a n d der U n t e r s u c h u n g

Mit " m e d i z i n i s c h e r F a c h s p r a c h e " i s t

keineswegs unmißverständlich

e i n b e s t i m m t e r F o r s c h u n g s g e g e n s t a n d e r f a ß t . . F ü r eine Festlegung d e s B e g r i f f s "Fachsprache" e r s c h e i n e n m i r z w e i A s p e k t e w i c h t i g , die in A b h ä n g i g k e i t v o n e i n a n d e r gesehen w e r d e n m ü s s e n : 1) Die F a c h s p r a c h e ist Teil e i n e s g e s a m t s p r a c h l i c h e n S y s t e m s , d e s s e n M i t t e l und V e r f a h r e n in einer s p e z i f i s c h e n Weise geb r a u c h t w e r d e n , wobei i m B e r e i c h des L e x i k o n s teilweise a u c h 2)

eigene S u b s y s t e m e entwickelt w e r d e n , u n d die F a c h s p r a c h e ist an b e s t i m m t e V e r w e n d u n g s s i t u a t i o n e n , Sender-Empfänger-Konstellationen und K o m m u n i k a t i o n s z i e l e ge-

bunden. Die Fachsprache schlechthin gibt es n a t ü r l i c h nicht. Eine D i f f e r e n z i e r u n g n a c h Fächern i s t

ebenso e r f o r d e r l i c h w i e eine U n t e r -

g l i e d e r u n g nach K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n oder T e x t s o r t e n . F ü r l e t z tere w u r d e n M o d e l l e e n t w i c k e l t , die e n t w e d e r eine H i e r a r c h i e von Stilebenen a n n e h m e n oder T y p e n d e r f a c h s p r a c h l i c h e n K o m m u n i k a t i on als M e r k m a l s k o m b i n a t i o n e n d e f i n i e r e n (vgl. Hahn 1983: 7 2 f f . ; f ü r eine G l i e d e r u n g m e d i z i n i s c h e r F a c h s p r a c h e vgl. L ö n i n g 1 9 8 1 ) . Die z w e i t e A l t e r n a t i v e scheint mir die g e e i g n e t e r e zu sein. Ein v o l l s t ä n d i g e s B e s c h r e i b u n g s m o d e l l kann ich hier n i c h t entwickeln.

E b e n s o w e n i g kann ich ein b r e i t e r e s S p e k t r u m an m e d i -

zinischen Diskursen berücksichtigen. Die Grundlage meiner Unters u c h u n g e n bilden z e h n F a c h t e x t e , a u s g e w ä h l t aus der für eine medizinische Dissertation zum Phosphatstoffwechsel der roten B l u t k ö r p e r c h e n z u s a m m e n g e t r a g e n e n L i t e r a t u r . Es handelt sich um sechs e x p e r i m e n t e l l e A r b e i t e n ( A 1 - 6 ) m i t s c h e m a t i s i e r t e m Texta u f b a u und vier w e i t e r e Texte (B1-/0 mit U b e r b l i c k s c h a r a k t e r , aber u n t e r s c h i e d l i c h a b s t r a k t e m N i v e a u ( f ü r g e n a u e r e Angaben siehe A n h a n g ) . Ich g e h e davon a u s , daß es sich um M a n i f e s t a t i o nen

e i n e s

G r u n d t y p s f a c h l i c h e r K o m m u n i k a t i o n handelt.

N i c h t nur w ü r d e man alle T e x t e in e i n e m i n t u i t i v e n G a t t u n g s v e r -

272

Verständnis als " w i s s e n s c h a f t l i c h e A r t i k e l " ansehen, sie weisen auch sehr ähnliche p r a g m a t i s c h e C h a r a k t e r i s t i k a a u f . Eine Beschreibung des K o r p u s aus pragmatischer Perspektive f i n d e t sich in Form eines D i a g r a m m s im A n h a n g . Die v e r w e n d e t e n P a r a m e t e r werden mit dem A n s p r u c h a u f g e s t e l l t , in ein u m f a s s e n d e r e s Glied e r u n g s m o d e l l eingehen zu k ö n n e n . Im f o l g e n d e n b e s c h ä f t i g e ich mich ausschließlich mit grammatikalischen Aspekten m e i n e s K o r p u s , spare also auch lexikalische G e s i c h t s p u n k t e bewußt a u s , v e r s u c h e aber, wo i m m e r m ö g l i c h , B e z ü g e z w i s c h e n Form und Funktion a u f z u decken. 2.

A s p e k t e der Verbalphrase

Eine Frage, die nicht nur aus l e x i k o l o g i s c h e r , sondern auch aus syntaktischer Sicht i n t e r e s s i e r t , ist,

ob die Fachsprache eine

t l b e r r e p r ä s e n t a t i o n b e s t i m m t e r Verben oder Verbklassen a u f w e i s t . Dabei gilt es auch, die These von der E n t v e r b a l i s i e r u n g und Desemantisierung des Verbs in der Fachsprache zu ü b e r p r ü f e n (vgl. Beier 1980: 6 6 f f . ; Benes" 1981: 1 9 2 f f . ) . Sog. F u n k t i o n s v e r b f ü g u n gen, b e s t e h e n d aus b e d e u t u n g s l e e r e n Verben und d e v e r b a l e n Nomina. ( z . B . to set a. limit t o ) scheinen im Englischen selten zu sein. Dagegen k r i s t a l l i s i e r t sich eine Klasse von V e r b e n h e r a u s , die t r o t z wenig s p e z i f i s c h e r Bedeutung semantisch selbständig und mit Nomina f r e i k o m b i n i e r b a r sind. Sie b e z e i c h n e n e l e m e n t a r e Sachverhalte wie 1) q u a n t i t a t i v e und q u a l i t a t i v e V e r ä n d e r u n g e n , z . B . to i n c r e a s e , 2)

to enhance, to accelerate, to r e d u c e , to impair, to inhibit; K a u s a l i t ä t , z . B . to result in, to e n s u e , to i n d u c e ;

3)

Vergleich, z . B . to correlate w i t h , to vary w i t h , to d i f f e r ;

4)

"Offenbarung",

z . B . to bring o u t , to e x e m p l i f y , to i n d i c a t e .

Es läßt sich zeigen, daß diese Verben teilweise Sinnrelationen k o n s t i t u i e r e n , die in der Alltagssprache d u r c h ' c l o s e d - s y s t e m i t e m s ' a u s g e d r ü c k t w e r d e n . Sie sollten daher in einer f a c h s p r a c h lichen G r a m m a t i k B e r ü c k s i c h t i g u n g f i n d e n .

So t r e t e n etwa in Bei-

spiel ( 1 a / b ) bei Umwandlung in g e m e i n s p r a c h l i c h e Syntax grammatische Relationen, zutage. (la)

zwei

eine q u a n t i t a t i v e und eine t e m p o r a l e ,

S u p e r i m p o s i t i o n o f r e s p i r a t o r y alkalosis r a t e d t h e u t i l i z a t i o n o f P,..

a c c e l e -

273 (Ib)

W h e n r e s p i r a t o r y alkalosis o c c u r r e d , m o r e was u s e d .

P..

Die Rolle des Passivs ist in der F a c h s p r a c h e n f o r s c h u n g ausgiebig diskutiert worden (vgl. Beier 1980: 7 6 f f . } Benes" 1981: 1 9 5 f f . ) . Es ist das w i c h t i g s t e , wenn auch n i c h t e i n z i g e M i t t e l zum Zweck der H e r a u s s t e l l u n g der Sache unter H i n t a n s t e l l u n g der P e r s o n . Zu G e b r a u c h und H ä u f i g k e i t des Passivs sind d i f f e r e n z i e rende B e o b a c h t u n g e n dringend e r f o r d e r l i c h . m e i n e s Korpus (A2 und B4.) auf sämtliche

Ich habe zwei Texte

Vorkommen von f i n i t e n

V e r b e n hin u n t e r s u c h t und dabei unter E i n s c h l u ß von Zustandspassiv und N c I - K o n s t r u k t i o n e n ( z . B . is reported to be) !>k% P a s s i v f o r m e n g e f u n d e n . Der U n t e r s c h i e d ist und T e i l t e x t f u n k t i o n e n z u r ü c k z u f ü h r e n . B4 ist

3% vs.

auf T e x t a u f b a u d u r c h g ä n g i g er-

örternd ( D i s k u s s i o n von biochemischen V o r g ä n g e n , K r a n k h e i t s b i l dern und B e h a n d l u n g s m e t h o d e n ) und weist eine g l e i c h m ä ß i g e Dist r i b u t i o n von Passivforroen a u f . A2 ist nach dem Schema "Introd u c t i o n - M a t e r i a l s and M e t h o d s - R e s u l t s - Discussion" geglied e r t . Die P a s s i v f o r m e n k o n z e n t r i e r e n sich im 2. K a p i t e l ( A n t e i l 13%}, dem Bericht ü b e r die E x p e r i m e n t e . D e r a r t i g e K o r r e l a t i o n e n z w i s c h e n sprachlicher Form und t e x t u eller F u n k t i o n sollten weiter e r f o r s c h t w e r d e n . Sie sind auch im Bereich der M o d a l i t ä t n a c h w e i s b a r . Modale A u s d r ü c k e erscheinen in den -Texten a u s s c h l i e ß l i c h im l e t z t e n , " d i s c u s s i o n " betitelten P a r a g r a p h e n , in dem auf Probleme des A n s a t z e s , Alternativen und k ü n f t i g e P e r s p e k t i v e n eingegangen wird, m i t h i n dort, wo E i n s c h r ä n k u n g e n zur G e l t u n g der a u s g e d r ü c k t e n Sachverhalte n ö t i g sind. 3.

A s p e k t e der N o m i n a l p h r a s e

Die N o m i n a l p h r a s e n in m e i n e m K o r p u s k ö n n t e n b e z ü g l i c h ihrer Komp o n e n t e n 'Ueterminer'V'modif ier" und "head" u n t e r s u c h t w e r d e n . Das in der Forschung am m e i s t e n b e a c h t e t e C h a r a k t e r i s t i k u m sind die k o m p l e x e n A t t r i b u i e r u n g s s t r u k t u r e n (vgl. Beier 1980: 6 3 f f . ; BeneS 1981: 2 0 2 f f . ) . Eine k u r z e A n m e r k u n g z u m A r t i k e l g e b r a u c h scheint mir aber von I n t e r e s s e zu sein. Der A r t i k e l f e h l t o f t , wo er von einer g e m e i n s p r a c h l i c h e n N o r m verlangt w i r d : b e i N o m i n a m i t s p e z i f i z i e r e n d e m M o d i f i k a t o r sowie bei z ä h l b a r e n S u b s t a n t i v e n . B e i de Fälle werden in Beispiel (2) i l l u s t r i e r t .

274 (2)

0 r e t e n t i o n of inorganic p h o s p h a t e by 0 m u s c l e d e s p i t e h y p o p h o s p h a t e m i a r e p r e s e n t s a f u n d a m e n t a l , vital p r o cess to m a i n t a i n cellular i n t e g r i t y .

Als p r ä m o d i f i z i e r e n d e A u s d r ü c k e stehen i m E n g l i s c h e n A d j e k t i ve und Substantive zur V e r f ü g u n g , die auch in R e i h u n g v o r k o m m e n oder in sich komplex sein k ö n n e n . Bei A d j e k t i v e n ist

eine rela-

tionale im Gegensatz "zu einer q u a l i f i z i e r e n d e n Funktion sehr häufig.

Bei gleichzeitiger Inanspruchnahme mehrerer Prämodifi-

zierungsmöglichkeiten können äußerst komplexe Nominalphrasen e n t s t e h e n , in denen die B e z i e h u n g e n z w i s c h e n den Teilen nur durch Sachwissen a u f g e s c h l ü s s e l t w e r d e n k ö n n e n . U n t e r ( 3 a - f ) f i n d e n sich Beispiele f ü r v e r s c h i e d e n e p r ä m o d i f i z i e r e n d e S t r u k t u r e n , d i e aber n i c h t alle m ö g l i c h e n K o m b i n a t i o n e n a u s s c h ö p f e n : ( 3 a ) a c u t e , severe h y p o p h o s p h a t e m i a (qualifizierende Adjektive) (3b)

an a d e n i n e - c o n t a i n i n g solution t h e expected r e d u c e d P . c o n c e n t r a t i o n s ( a d j e k t i v i s c h gebrauchte Partizipien)

(3c)

central n e r v o u s s y s t e m c o m p l i c a t i o n s (nominaler M o d i f i k a t o r )

(3d)

red cell survival m e a s u r e m e n t s (nominale M o d i f i k a t o r e n m i t interner A b h ä n g i g k e i t )

(3e)

the c h e m o t a c t i c , p h a g o c y t i c and b a c t e r i c i d a l a c t i v i t y of g r a n u l o c y t e s (relationale A d j e k t i v e i n R e i h u n g )

(3f)

a renal t u b u l a r r e a b s o r p t i v e d e f e c t ( r e l a t i o n a l e A d j e k t i v e mit interner Abhängigkeit: a def e c t in the r e a b s o r p t i o n (of p h o s p h a t e ) by the renal tubule)

V i e l f ä l t i g e r und in sich noch k o m p l e x e r sind p o s t m o d i f i z i e r e n d e A u s d r ü c k e , d i e unter ( 4 a - d ) z u s a m m e n g e s t e l l t sind. V o m Sprachsystem her tut sich eine Fülle von s t r u k t u r e l l e n M ö g l i c h k e i t e n a u f , wenn die v e r s c h i e d e n e n M i t t e l r e k u r r e n t in d i v e r s e n Abhängigkeitsbeziehungen genutzt werden unter Einbeziehung der Präm o d i f i k a t i o n . In einer a l l t a g s s p r a c h l i c h e n G e b r a u c h s n o r m bilden sehr u m f a n g r e i c h e N o m i n a l p h r a s e n die A u s n a h m e , n i c h t so in der Fachsprache. Dort w e r d e n sie

in hoher F r e q u e n z im Sinne der Öko-

nomie der Darstellung verwendet. Nichtsdestoweniger können sie eine H ü r d e für das V e r s t e h e n d a r s t e l l e n , vor allem für den N i c h t - M u t t e r s p r a c h l e r . Eine f a c h s p r a c h l i c h e G r a m m a t i k sollte daher einer Behandlung der k o m p l e x e n N o m i n a l p h r a s e b e s o n d e r e s Gewicht schenken.

275 (4a)

s y m p t o m s c o m p a t i b l e with a m e t a b o l i c e n c e p h a l o p a t h y (erweitertes A d j e k t i v )

(4.b)

metabolically depleted cells that had lost lipid (finiter Relativsatz) p a t i e n t s being t r e a t e d f o r d i a b e t i c k e t o a c i d o s i s red cells p r e p a r e d f r o m blood collected in CPDA-1 ( P a r t i z i p i e n a l s Ersatz f ü r R e l a t i v s ä t z e )

(4.c)

(4d)

4.

a f i v e f o l d to t e n f o l d a c c e l e r a t i o n in r a t e of disappearance of labeled p l a t e l e t s f r o m blood the clinical i m p o r t a n c e of the P ^ Q of t r a n s f e r r e d blood to the e f f e c t i v e n e s s of the d e l i v e r y of oxygen to the t i s s u e s of an hypoxic p a t i e n t ( _ o f - G e n i t i v e und andere p r ä p o s i t i o n a l e A n s c h l ü s s e in teils sequentieller, teils hierarchischer Abhängigkeit voneinander)

Satzstrukturen

A u s s a g e n zur S a t z k o m p l e x i t ä t bewegen sich in der e i n s c h l ä g i g e n L i t e r a t u r z w i s c h e n den e x t r e m e n P o s i t i o n e n , wonach die che eine k o m p l i z i e r t e

Fachspra-

Syntax a u f w e i s e o d e r aber durch einfache

S a t z s t r u k t u r e n c h a r a k t e r i s i e r t sei

(vgl. Beier 1980: 5 5 f f . i Beneä

1981: 1 8 9 f f . ; S c h e f e 1981: 3 6 4 f f . ) . B e m e r k e n s w e r t e r w e i s e lassen sich beide Behauptungen sogar an einem b e s c h r ä n k t e n K o r p u s n a c h w e i s e n . Um solchen Thesen den C h a r a k t e r der Beliebigkeit zu nehm e n , m ü s s e n Faktoren d e r D i f f e r e n z i e r u n g e i n g e f ü h r t werden. K o m p l e x i t ä t kann e i n e r s e i t s den Bauplan der n o m i n a l e n und präpositionalen Phrasen, andererseits den Bauplan des g a n z e n Satzes samt E i n b e t t u n g s s t r u k t u r e n b e t r e f f e n . T h e o r e t i s c h sind so vier A u s p r ä g u n g e n s y n t a k t i s c h e r K o m p l e x i t ä t d e n k b a r , wie in dem folgenden D i a g r a m m d a r g e s t e l l t : Phrasenkomplexität

Satzkomplexität

Stiltyp I

-

-

Stiltyp II

-

+

Stiltyp III

+

-

Stiltyp IV

+

+

Typ I ist zu v e r s t e h e n als Stil, der d u r c h n i c h t - e r w e i t e r t e H a u p t s ä t z e und e i n f a c h e nominale Glieder g e k e n n z e i c h n e t ist. Er ist

in den

-Texten in b e s c h r e i b e n d e n und b e r i c h t e n d e n Passagen

276

üblich. Typ II ist als d u r c h g e h e n d e r Stil in m e i n e m K o r p u s praktisch nicht e x i s t e n t . Zum Zweck der V e r s p r a c h l i c h u n g komplexer Sachverhalte - und dies t r i f f t für e r ö r t e r n d e Texte und Textabschnitte zu - wird in der F a c h s p r a c h e , im Gegensatz zur Gemeinsprache, zunächst nicht das S a t z m u s t e r , sondern die Phrase

er-

w e i t e r t , was Stiltyp .III a u s m a c h t . So kann ein simples SVO-pattern zu einem Satz von b e t r ä c h t l i c h e r Länge und V i e l s c h i c h t i g keit ausgeweitet w e r d e n , wie Beispiel (5) zeigt: (5)

The d e v e l o p m e n t of persistent m y e l i n f o r m e x t e n s i o n s f r o m the membranes of cells exposed to shear as d e m o n s t r a t e d by Hochmuth and Mohandas also suggests the existence of such i n t r a m e m b r a n e cross links, which, if r u p t u r e d , would result in p l a s t i c d e f o r m a t i o n .

Wenn das Potential der N o m i n a l i s i e r u n g und A t t r i b u i e r u n g g e s c h ö p f t ist,

aus-

wird auf R e i h u n g und Einbettung von Sätzen zu-

r ü c k g e g r i f f e n , was Typ IV zur Folge hat. Einen besonders hohen Grad syntaktischer K o m p l e x i t ä t weisen die Texte B1-2 a u f , die im Gegensatz zu B3-4 rein t h e o r e t i s c h sind und im G e g e n s a t z zu A 1 - 6 keinem v o r g e f e r t i g t e n T e x t m u s t e r f o l g e n .

Angesichts der besonde-

ren V e r h ä l t n i s s e in der Fachsprache sind die B e g r i f f e

"einfacher

Satz" und "komplexer Satz" von z w e i f e l h a f t e m A u s s a g e w e r t . Als Maß für die syntaktische Komplexität könnte die K o n z e n t r a t i o n von h e r a b g e s t u f t e n P r ä d i k a t i o n e n

in der Einheit "Satz" g e l t e n .

Beispiel (6) etwa, das zwar e x t r e m , aber für Text B1 nicht unt y p i s c h ist,

enthält m i n d e s t e n s 20 P r ä d i k a t i o n e n , d a r u n t e r 8 fi-

nite Verben, 5 i n f i n i t e Formen und 7 deverbale A b l e i t u n g e n . (6)

Just when there was renewed discussion in the US a b o u t , the advisability of taking a d v a n t a g e of the e x t e n s i o n ^ of survival of A C D - s t o r e d human red cells which could be provided by the use of a d e n i n e , investigators discovered that DPG in the c o n c e n t r a t i o n normally p r e s e n t in the human red cell, has a p r o f o u n d i n f l u e n c e on the affinity of hemoglobin for o x y g e n , to such a degree that without DPG the oxygen dissociation c u r v e is shifted so faivto the l e f t in the d i r e c t i o n . « o f an increased binding to hemoglobin that it., could be p r e d i c t y g ed that if such a situation o c c u r r e d in vivo it would greatly decrease the capacity of the red cell to unload oxygen at the partial p r e s s u r e s usually p r e s e n t in the m i c r o c i r c u l a t i o n of the t i s s u e s .

Unter den E i n b e t t u n g s s t r u k t u r e n werde ich hier Nominal- und Adverbialsätze sowie I n f i n i t i v e u n b e r ü c k s i c h t i g t lassen, da sie weder ü b e r r e p r ä s e n t i e r t sind

noch in ihrer Verwendung von der

277 Gemeinsprache abweichen. Besonderer Erwähnung bedarf die

ing-

Form. Sie k o m m t als V e r b a l s u b s t a n t i v , " g e r u n d " und P a r t i z i p v o r . F a c h s p r a c h e n t y p i s c h s c h e i n e n G e r u n d i e n zu s e i n , die d u r c h by eingeleitet sind sowie solche in A b h ä n g i g k e i t von e i n e r s e k u n dären P r ä p o s i t i o n : (7a)

H y p o p h o s p h a t e m i a i m p a i r s g r a n u l o c y t i c f u n c t i o n b y disr u p t i n g ATP s y n t h e s i s . (7b) H y p o p h o s p h a t e m i a o c c u r s as a r e s u l t of s y n t h e s i z i n g protoplasm. H ä u f i g e r als das "gerund"ist das P r ä s e n s p a r t i z i p , u n d zwar am S a t z e n d e , z u m A u s d r u c k eines B e g l e i t u m s t a n d s o d e r e i n e r F o l g e , mit oder ohne eigenes S u b j e k t : (8a)

Serum c o n c e n t r a t i o n s f e l l r e a c h i n g t h e lowest v a l u e L · · ] .

(8b)

The plasma p h o s p h a t e c o n c e n t r a t i o n in man is u n d e r physiological c o n t r o l t h e level being largely d e t e r mined by [...].

In der Fachsprache weit v e r b r e i t e t , wenn a u c h von der n o r m a t i v e n G r a m m a t i k a n g e p r a n g e r t , ist

das sog. "unattached

participle"

(vgl. Quirk et al. 1972: 7 5 7 ) , d . h . P a r t i z i p i e n , d e r e n S u b j e k t weder m i t d e m S a t z s u b j e k t i d e n t i s c h noch eigens a u s g e d r ü c k t ist. (9a)

High 2,3 DPG levels were obtained using the m e t h o d d e s c r i b e d by £ · ·3 ·

(9b)

A f t e r t r a n s f u s i o n t h e abnormal c o m p o n e n t d i s a p p e a r s s u g g e s t i n g that the f r a g i l e c o m p o n e n t £ . . ] .

Es z e i g t s i c h , daß das S u b j e k t e n t w e d e r eine h a n d e l n d e Person i s t , auf deren N e n n u n g es nicht a n k o m m t ( z . B . in dem h ä u f i g vork o m m e n d e n u s i n g ) oder daß ein v o r a n g e g a n g e n e r Satz oder T e x t t e i l i m p l i z i t e s S u b j e k t i s t ( z . B . i n ebenso h ä u f i g v o r k o m m e n d e m s u g g e s t i n g , indicating u . a . ) . Aus d i d a k t i s c h e r Sicht v e r d i e n e n " g e r u n d " u n d P a r t i z i p z u g l e i c h wegen ihrer F r e q u e n z und auf Grund cer D i f f e r e n z e n zum D e u t schen b e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t . A s p e k t e der P h r a s e n - und Satzk o m p l e x i t ä t sollten im U n t e r r i c h t wohl z u n ä c h s t g e t r e n n t , dann gekoppelt e r a r b e i t e t w e r d e n . Dabei kann die P r o g r e s s i o n

den an-

gedeuteten Unterschieden zwischen Textsorten folgen. Ziel

ist

die Entwicklung bewußtgemachter Verstehensstrategien, die die A u f s c h l ü s s e l u n g der v i e l s c h i c h t i g e n P r ä d i k a t i o n s h i e r a r c h i e n im Fachtext erlauben.

278

5.

Textstrukturen

Die U n t e r s u c h u n g von F a c h s p r a c h e auf T e x t s t r u k t u r e n hin ist t r o t z z u n e h m e n d e n I n t e r e s s e s i m m e r noch nicht sehr weit f o r t g e s c h r i t t e n (vgl. aber Trimble 1985). Zu w ü n s c h e n wäre u . a . Erforschung

globaler Textbaupläne, d.h.

eine

Aspekte der Gliederung

e i n s c h l i e ß l i c h Ü b e r s c h r i f t e n , B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Text und Abs t r a c t , E i n f l u ß v o n P u b l i k a t i o n s k o n v e n t i o n e n etc.

Aufgedeckt

w e r d e n m ü ß t e n auch t y p i s c h e A r g u m e n t a t i o n s s t r u k t u r e n u n d A b f o l gen von T e x t f u n k t i o n e n . E r k e n n t n i s s e ü b e r die R h e t o r i k des Facht e x t e s w ä r e n v o n hohem p r a k t i s c h e n N u t z e n , n i c h t n u r f ü r

die

D i d a k t i k , sondern auch f ü r d a s a u t o m a t i s c h e " i n f o r m a t i o n r e t r i e -

val". Über der U n t e r s u c h u n g von M a k r o s t r u k t u r e n

sollten o b e r f l ä c h -

liche s y n t a k t i s c h e M e r k m a l e n i c h t v e r n a c h l ä s s i g t w e r d e n . I c h w e r d e k u r z a u f K o n n e k t o r e n , d i e s e l b s t ä n d i g e Sätze v e r k n ü p f e n , und P r o f o r m e n e i n g e h e n . Die D i c h t e an K o n n e k t o r e n ist

in m e i n e m K o r p u s n i c h t beson-

ders h o c h ; in b e s c h r e i b e n d e n und b e r i c h t e n d e n P a s s a g e n , in denen von der Sache her eine lokale oder t e m p o r a l e O r d n u n g g e g e b e n ist, sind sie n i c h t zu f i n d e n . In e r ö r t e r n d e n Texten und T e x t t e i l e n t r e t e n K o n n e k t o r e n a u f z u m A u s d r u c k additiver ( i n a d d i t i o n , f u r thermore,

similarly), kontrastiver (in contrast, however, never-

theless ) und kausaler ( t h u s , t h e r e f o r e , as a c o n s e q u e n c e ) Relat i o n e n . Es s c h e i n t , daß s a t z ü b e r g r e i f e n d nur solche l o g i s c h e n Beziehungen markiert werden, die nicht außersprachlich evident sind b z w . die nicht innerhalb der k o m p l e x e n NP und des k o m p l e x e n Satzes v e r b a l i s i e r t w e r d e n ( k ö n n e n ) . Ein w i c h t i g e s M i t t e l der K o h ä s i o n , a u c h im F a c h t e x t , s i n d

Pro-

f o r m e n . Es sollte ein U n t e r s c h i e d g e m a c h t werden z w i s c h e n solchen F o r m e n , die auf O b j e k t e im w e i t e r e n Sinne v e r w e i s e n , die a l s solche b e r e i t s e i n g e f ü h r t s i n d , u n d a n d e r e n , d i e k o m p l e x e Sachverhalte erst v e r g e g e n s t ä n d l i c h e n . Die bloße V e r w e i s f u n k t i o n kann d u r c h eine k a t e g o r i s i e r e n d e F u n k t i o n ü b e r l a g e r t w e r d e n . Dazu d i e Beispiele u n t e r ( 1 0 ) . (10a)

£ ..] as red blood cell c o n c e n t r a t i o n s of 2,3 d i p h o s p h o g l y c e r a t e and a d e n o s i n e t r i p h o s p h a t e were not m e a s u r e d . Itis t h e s e o r g a n i c i n t r a c e l l u l ar c o m p o u n d s that a r e o f i m p o r t a n c e i n £ · · ] · (Objektverweis mit kategorisierender Funktion)

279

(10b)

P50 i n c r e a s e s [j . .] and then has no f u r t h e r e f f e c t [...]. T h i s is i n a g r e e m e n t w i t h e x p e r i m e n t s u s i n g H b solutions. (vergegenständlichender Verweis) ( I 0 c ) 2,3 DPG i n f l u e n c e s the shape as well as the p o s i t i o n o f t h e whole blood oxygen e q u i l i b r i u m c u r v e ( O E C ) . T h e i m p o r t a n c e o f t h i s e f f e c t [···](vergegenständlichender Verweis mit kategorisierender Funktion) V e r g e g e n s t ä n d l i c h e n d e V e r w e i s e haben eine w i c h t i g e F u n k t i o n : Sie m a c h e n b e r e i t s g e ä u ß e r t e I n f o r m a t i o n d u r c h eine A r t a d - h o c - I v a m e n r e f e r e n z f ä h i g (vgl. K r e n n 1985: 8 7 f f . ) . B e s t i m m t e v e r w e i s e n d e A u s d r ü c k e k o m m e n i r n F a c h t e x t r e k u r r e n t v o r : neben alleinstehendem this ( k e i n t h a t ! ) these o b s e r v a t i o n s / r e s u i t s / d a t a / f i n d i n g s , t h i s p h e n o m e n o n / c o n d i t i o n / e f f e c t / m e c h a n i s m u . a . . Sie sind für das F o r t s c h r e i t e n des T e x t v e r s t e h e n s von B e d e u t u n g , da sie zugleich zurückverweisen und Ansatzpunkt für neue Prädikationen s i n d . Im U n t e r r i c h t lassen sie sich sinnvoll in V e r s t ä n d n i s t e s t s einbeziehen. 6.

A b s c h l i e ß e n d e Bemerkung

Mein Ziel war es, in aller K ü r z e auf einige A s p e k t e der w i s s e n schaftlichen Fachsprache aufmerksam zu machen, die trotz beachtlicher Forschungsergebnisse noch eingehender Untersuchungen b e d ü r f e n . I n s b e s o n d e r e s t e h t eine d i d a k t i s c h e A u f b e r e i t u n g noch aus. Die im e n g l i s c h s p r a c h i g e n Raum e r s c h i e n e n e n L e h r b ü c h e r z i e len n i c h t auf das V e r s t e h e n w i s s e n s c h a f t l i c h e r L i t e r a t u r ab,sondern enthalten v i e l m e h r p o p u l ä r w i s s e n s c h a f t l i c h e T e x t e , d i e gerade nicht für die theoretische Fachsprache typische syntaktische K e n n z e i c h e n a u f w e i s e n i u n d wählen G r a m m a t i k ü b u n g e n o f f e n b a r z u f ä l l i g a u s . Hier b e s t e h t ein echter M a n g e l an N a c h s c h l a g e - und Ü b u n g s b ü c h e r n z u r f a c h s p r a c h l i c h e n englischen G r a m m a t i k ( e i n s c h l i e ß l i c h der t h e o r e t i s c h e n F u n d i e r u n g ) und dies bei w a c h s e n dem Bedarf an F a c h e n g l i s c h k e n n t n i s s e n in allen W i s s e n s c h a f t s zweigen !

280

Literatur B e i e r , Rudolf ( 1 9 8 0 ) : Englische Fachsprache. Stuttgart etc.: Kohlhammer. Denes', Eduard ( 1 9 8 1 ) : "Die formale Struktur der w i s s e n s c h a f t lichen Fachsprachen in syntaktischer Hinsicht." Bungarten ( e d . ) : 185-212. Bungarten, Theo ( e d . ) ( 1 9 8 1 ) : W i s s e n s c h a f t s s p r a c h e . Beiträge zur M e t h o d o l o g i e , t h e o r e t i s c h e n Fundierung und D e s k r i p t i o n . München: Fink. Hahn, Walter von ( 1 9 8 3 ) : F a c h k o m m u n i k a t i o n . E n t w i c k l u n g - Linguistische K o n z e p t e - Betriebliche Beispiele. Berlin e t c . : de G r u y t e r . K r e n n , Monika ( 1 9 8 5 ) : Probleme der Diskursanalyse im Englischen. Verweise mit this, that, it und V e r w a n d t e s . Tübingen: Narr. Lb'ning, Petra ( 1 9 8 1 ) : "Zur m e d i z i n i s c h e n Fachsprache. Stilistische Gliederung und Textanalysen." M u t t e r s p r a c h e 91:79-92. Quirk, Randolph / Greenbaum, Sydney / L e e c h , G e o f f r e y / Svartvik, Jan ( 1 9 7 2 ) : A Grammar of C o n t e m p o r a r y English. London: Longman. S c h e f e , Peter ( 1 9 8 1 ) : "Zur F u n k t i o n a l i t ä t d e r W i s s e n s c h a f t s sprache - Am Beispiel der M e d i z i n . " Bungarten ( e d . ) : 356371. T r i m b l e , Louis ( 1 9 8 5 ) : English for Science and Technology. A Discourse A p p r o a c h . C a m b r i d g e : Cambridge U n i v e r s i t y Press.

281 Anhang Ü b e r s i c h t über d a s K o r p u s

A1-6

e x p e r i m e n t e l l e Arbeiten in h o c h s p e z i a l i s i e r t e n F a c h z e i t s c h r i f t e n und K o n g r e ß a k t e n

B1-2

U b e r b l i c k s a r t i k e l in K o n g r e ß a k t e n

B3-4

U b e r b l i c k s a r t i k e l in Z e i t s c h r i f t e n , die sich an ein breiteres m e d i z i n i s c h e s P u b l i k u m wenden

Pragmatische Artikel"

Medium

Charakterisierung der Textsorte "wissenschaftlicher Grundtyp

Subtypen

gedrucktes Wort, zeitlich-räumliche Distanz nahezu unbegrenzt

zur Veröffentlichung abgefaßt (A2-6, B3-4) zu V o r t r a g und V e r ö f f e n t lichung abgefaßt ( A 1 , B1-2)

Sender

hochspezialisierter Wissenschaftler, häufig Autorenkollektiv

Empfänger

großer, anonymer A d r e s s a t e n k r e i s von F a c h l e u t e n , Wissensrückstand unterschiedlich

Funktion

Inf'ormationsvermittlung Teilfunktionen: Beschreibung ( B S ) Bericht ( B R ) Erörterung ( E ) Instruktion ( l )

S p e z i a l i s t e n auf dem Gebiet (A1-6, B 1 - 3 ) Nicht-Spezialisten auf dem G e b i e t , P r a k t i k e r (B1.3.4) BS - BR - E ( A 1 - 6 ) primär E ( B 1 ) BS - E ( B 2 )

BS - E - I ( B 3 - 4 ) u.a.

Rahmenbedingungen

Einbettung in wissenschaftliche Zeitschrift oder K o n g r e ß a k t e n , Publikationskonventionen

Konstellationen

stark v o r s t r u k t u r i e r t e r Textaufbau (A1-6) schwach v o r s t r u k t u r i e r t e r Textaufbau (B1-4)

GEDANKEN ZUR INDIVIDUELLEN/PERSÖNLICHEN MEHRSPRACHIGKEIT Peter Rolf Lutzeier

Unser Sohn Thomas, der mit 4,5 Jahren zum ersten Male allein von Berlin nach Stuttgart flog, um bei seinen Großeltern in Stuttgart eine Woche zu verbringen, sagte nach seiner Rückkehr zu mir (Englisch ist bei uns die Familiensprache): (1) Daddy, you must speak Stuttgarterish to me. learn it.

I want to

Anlaß für diese Bitte waren wohl kaum Verständnisschwierigkeiten im normalen Umgang mit den Großeltern, denn die hatte es früher auch nicht gegeben, sondern der innige Wunsch, ein Buch vorgelesen bekommen zu können, das er während seines Aufenthaltes geschenkt bekommen hatte, aber nicht verstehen konnte, denn es handelte über die beiden Werbefiguren "Pferdle" und "Äffle" des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart, die auf Schwäbisch miteinander blödeln. "Stuttgarterish", wie er es nannte, war eine neue Sprache, die er neben den Sprachen "German" und "English", die er nach seinem eigenen Verständnis spricht, lernen wollte. Diese Episode weist schlaglichtartig auf zwei Punkte hin, um die es mir in meinem Beitrag gehen wird: einmal, der Situation des Individuums in den Sprachgemeinschaften, in denen es sich bewegt, Beachtung zu schenken,und zum anderen, die Einstellung des Individuums zu seinen Sprachen, den damit verbundenen Kulturen und seinem Sprachvermögen zu berücksichtigen. Die Notwendigkeiten dafür sollen in erster Linie durch theoretische Überlegungen einsichtig gemacht werden. Eine Sprachgemeinschaft sollte wohl aus Menschen bestehen, die etwas Gemeinsames aufweisen. Das angenommene Gemeinsame - die jeweilige natürliche Sprache - erweist sich jedoch als Idealisierung des Linguisten. Dieser Idealisierung kann noch nicht einmal der Status eines theoretischen Konstrukts zugesprochen werden, da wir für keine dieser Sprachen eine vollständige Spezifikation haben. Die nun eventuell empfohlene Rede von Varianten in einer

284

Sprachgemeinschaft h i l f t leider auch nicht weiter, da es sich ja allesamt um Varianten einer Sprache handeln muß, damit also der Bezug auf die Idealisierung nicht vermieden ist. dagegen den Menschen zu, dann ist

Wenden wir uns

bereits mit dem einzelnen Sprach-

teilnehmer ein konkreter Ausgangspunkt für den Begriff meinschaft

gegeben: Der Sprachteilnehmer

Sprachge-

produziert verbale und

schriftliche Äußerungen, die vom Linguisten einem (weitgehend) autonomen Idiolektsystem zugeordnet werden können, und seine Erfahrungen in mehr oder weniger geglückten Kommunikationsversuchen mit anderen Sprachteilnehmern können vom Linguisten durch Urteile über Ähnlichkeiten zwischen den beteiligten Idiolektsystemen untermauert werden.

Diese Idiolektsysteme mit ihrer wichtigen Eigenschaft,

die

Möglichkeit der sprachlichen Variation beim einzelnen Individuum zu erfassen,

sind natürlich ebenfalls Idealisierungen, aber die hier-

für empirisch ermittelbaren Äußerungen stellen eine wertvolle Grundlage sowohl für realitätsnahe Teilspezifikationen solcher Systeme als auch für die Ähnlichkeitsurteile zwischen den Systemen dar.

Das beim einzelnen Sprachteilnehmer

aus persönlichen Erfah-

rungen im alltäglichen Umgang mit anderen Sprachteilnehmern resultierende Gefühl, einer Sprachgemeinschaft anzugehören - was die (individuell gesetzte) Klammer einer jeden Sprachgemeinschaft macht

aus-

-,kann schließlich vom Linguisten meist mit einer aus den

beteiligten, untereinander als ausreichend ähnlich angesehenen Idiolektsystemen abstrahierten natürlichen Sprache in Verbindung gebracht werden.

Somit fanden wir doch eine Bestätigung für

gerne vorgenommene Orientierung am Begriff des Begriffes

'Sprache

1

die

zur Erklärung

'Sprachgemeinschaft'; aber nur, indem wir die Vor-

gabe einer Sprache als bloße Setzung aufgaben und uns um den zelnen Sprachteilnehmer

ein-

mit seinen Erfahrungen aus der mit ihm in

Kontakt tretenden menschlichen Umwelt kümmerten (vgl. Figur 1 ) . Es liegt damit nahe, auch für die Erfassung des Begriffes 'mehrsprachige Sprachgemeinschaft 1 einen Zugang über die Individuen zu versuchen. Unter einer mehrsprachigen Sprachgemeinschaft kann eine solche Gemeinschaft verstanden werden, für die es mehrere natürliche Sprachen gibt, von denen jedes Mitglied jeder

die-

ser Sprachen zuordenbare Idiolekte für seine Kommunikation benützen kann, wobei jedes mit den Idiolekten verbundene Idiolektsystem höchstens für eine dieser Sprachen als Abstraktionsgrundlage

dient.

285

Figur 1: Idealisiertes Bild der Beziehungen zwischen Realität und linguistischer Beschreibung Sprachgemeinschaft haben das Gefühl dazuzugehören

SP,

SP,

(natürliche) Sprache

1

I

SP

I Erfahrungen: Kommunikation untereinander relativ einfach

Realität

II

sind mit linguistischen Kriterien zuordenbar ID

II

I

Ähnlichkeitsbeziehungen untereinander

vom Linguisten zu bewerkstelligen

SP ... Sprecher, ID ... Idiolektsystem

Selbstverständlich kann das einzelne Mitglied noch weitere Idiolekte beherrschen. Deshalb kann sich auch eine zunächst einzelsprachlich festgelegte Sprachgemeinschaft im nachhinein sehr wohl als mehrsprachige Sprachgemeinschaft in unserem Sinne herausstellen. Da in der Politik in erster Linie Staaten oder Nationen zählen, werden auch in dem als politische Entscheidungshilfe verstandenen Bereich der Mehirsprachigkeitsforschung meist diese Begriffe für eine erste Festlegung von Gemeinschaften ausgewählt. So gewonnene mehrsprachige Staaten oder Nationen müssen natürlich noch lange nicht aus mehrsprachigen oder jeweils die gleichen Sprachen involvierenden mehrsprachigen Individuen zusammengesetzt sein; ein be4 kanntes Beispiel bildet die vielsprachige Sowjetunion. Also ergibt sich bei dieser durchaus legitimen Praxis des Vorgehens über den Staats- bzw. Nationsbegriff eine noch viel stärkere Notwendigkeit, die Gegebenheiten beim einzelnen Individuum zu beachten. ist

Eine Erklärung des Begriffes 'individuelle Mehrsprachigkeit 1 somit gefragt. Mit den bisherigen Erfahrungen liegt folgende

vorläufige Festlegung nahe: Ein Individuum ist mehrsprachig, falls es über mehrere Idiolekte verfügt, deren Idiolektsysteme untereinander verschiedenen natürlichen Sprachen zuordenbar sind. Es wird also hierbei etwas beim Einzelnen Anzusiedelndes - die Idiolekte -

286

auf etwas vom Linguisten Abstrahiertes - die natürlichen Sprachen - bezogen.

Damit ist

über das letztere eine von vielen Linguisten

erwünschte, rein sprachliche Instanz als ein Entscheidungskriterium eingeführt.

Aber welcher Zugang steht dem Linguisten zu den eben-

falls aufzuweisenden Idiolektsystemen o f f e n ?

Als naheliegende

Antwort drängt sich a u f : der Zugang über die Erfassung des wohl vorzufindenden mehrsprachigen Verhaltens beim jeweiligen Individuum.

Steht diese Antwort jedoch mit der bisherigen Erfahrung in

der individuellen Mehrsprachigkeitsforschung in Einklang? Eine ganze Reihe von mehr oder weniger phantasievollen Mehrsprachigkeitstests sind bekannt, die zuverlässige und meßbare Aussagen über die mehrsprachigen Fähigkeiten beim Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen eines Individuums erlauben sollen.

Hier-

zu zählen: 1. Das Aufstellen von Wortlisten aus einem gegebenen semantischen Bereich, wie etwa 'Haustiere', oder als spontane Assoziationen zu einem vorgegebenen Wort, wie etwa Abendessen, oder als erkennbare Wörter aus einem längeren Unsinnswort, wie etwa laufeuerennt. 2. Das Beschreiben von Szenen in

vorgelegten

Bildern und Zeichnungen oder von vorgespielten Szenen.

3. Das

Lesen und Übersetzen von ausgewählten Texten oder das Lesen von in verschiedenen Sprachen möglichen Graphemfolgen, wie etwa sport. 4. Das Nacherzählen von eirtzel- oder gemischtsprachigen Texten. Über diese Art von Tests läßt sich folgendes sagen: Einmal verlangen sie von dem die Tests durchführenden Linguisten eine gehörige Portion an Kenntnissen über die Lebensumstände der zu untersuchenden Individuen, denn nur eine dazu passende Auswahl von semantischen Bereichen, Szenen und Texten wird verwertbare Resultate erbringen.

Damit können aber ein und dieselben Tests höchstens

zum Vergleich zwischen Individuen aus einer jeweils relativ eng zu fassenden Gruppe herangezogen werden.

Zum ändern legen

die

Tests erwartbare Unterschiede zwischen den die verschiedenen natürlichen Sprachen betreffenden Idiolektsystemen beim einzelnen Individuum o f f e n .

Daraus ergeben sich Hinweise für die jeweils

zelidiolektal zu sehenden Variantenstrukturen. wählter

ein-

Bei sinnvoll ge-

(semantischer) Relativierung werden somit Präferenzen und

Unterschiede in den sprachlichen Möglichkeiten des einzelnen Individuums deutlich, man wird aber außer in anfänglichen Lernsituationen selten zu sinnvollen absoluten Dominanzaussagen zwischen

287

den einzelnen Idiolektsystemen kommen.

Dies heißt aber, daß uns

der Versuch, die Ergebnisse für die einzelnen

Idiolektsysteme

des Individuums zu einem Gesamtmaß aufzurechnen, verwehrt ist, denn eine alle Unterschiede einebnende Maßzahl kann ja für das mehrsprachige Verhalten des Individuums nicht aussagekräftig sein, sondern höchstens der Vergleich der aus den Tests abstrahierten Variantenstrukturen der einzelnen Idiolektsysteme.

Es gibt

dann auch für den im absoluten Sinne gemeinten Vergleich des mehrsprachigen Verhaltens selbst zwischen den Individuen einer kleinen Gruppe keine Grundlage mehr. Diesen nun insgesamt ermittelten Relativierungszwang für die Mehrsprachigkeitstests möchte ich keineswegs als Nachteil dieser Tests verbuchen.

Wir dürfen

für die Erscheinung der Mehrsprachigkeit schlicht nichts anderes erwarten: Der soziale Antrieb des Mit-anderen-Menschen-in-Kontakttreten-Wollens ist

das entscheidende Moment für das Erlernen und

Aufrechterhalten der einzelnen Idiolekte beim jeweiligen Individuum.

Dadurch sind in den jeweiligen Idiolekten die für das In-

dividuum relevanten Lebensumstände verankert. lich variieren, ist

Da jene

offensicht-

dies der entscheidende Punkt, an dem die Ver-

gleichbarkeit über größere Gruppen hinweg scheitern m u ß . Immerhin, zur Bestätigung des mehrsprachigen Verhaltens eines Individuums können die Tests herangezogen werden. Das Fehlen irgendeines festen Maßstabes zur Ermittlung des mehrsprachigen Verhaltens mag allerdings unliebsame Folgen haben: Zwingt es uns etwa zur Anerkennung der Mehrsprachigkeit bei

je-

dem noch so minimalen Ergebnis bezüglich einzelner Idiolekte? Man ist sich wahrscheinlich noch einig, dem deutschsprachigen K i n d , das im deutschen Kindergarten einige englische Kinderlieder lernt, die Zweisprachigkeit abzusprechen. Wir können hier auf den reinen Automatismus verweisen, bei dem die englischsprachigen Äußerungen des Kindes als Ganze

noch stark situationsgebunden

auftreten,

ein eigenständiges Umgehen mit dem sprachlichen Material o f f e n sichtlich nicht erfolgt. Schwieriger wird die Entscheidung bereits bei einem f ü n f j ä h r i g e n

deutschen Kind, das nach bisherigem A u f -

wachsen in fast ausschließlich rein deutschsprachiger Umgebung die Vorschule einer deutsch-amerikanischen Gemeinschaftsschule, wie etwa die John-F.-Kennedy-Schule in Berlin, besucht, dort neben anderen deutschen Kindern den ständigen Umgang mit gleichalterigen

288

amerikanischen Kindern hat, vom Lehrer auf Deutsch und Englisch angesprochen wird und darüber hinaus laufend dazu ermutigt wird, beim Spielen und Singen erlernte englische Phrasen auch im Gespräch der Kinder untereinander

zu verwenden.

In diesem Fall

könnte ich mir sehr wohl vorstellen, daß man von zwei solchen Schulkindern, die sich in ihrem mit den Tests erfaßbaren zweisprachigen Verhalten während des Untersuchungszeitraumes nicht unterschieden, dennoch eines als bereits zweisprachig und das andere als noch nicht zweisprachig einstufen möchte. Die Zustimmung oder Ablehnung dieser von mir erwünschten Möglichkeit wird davon abhängen, wie man das Verhältnis zwischen mehrsprachigem Verhalten und Mehrsprachigkeit sieht. Ein mehrsprachiges Verhalten, bei dem ein eigenständiges Umgehen mit dem sprachlichen Material a u f t r i t t , sollte mit Mehrsprachigkeit etwas zu tun haben.

Allerdings hat sich bereits im Zusammenhang mit

den Mehrsprachigkeitstests erwiesen, daß Mehrsprachigkeit sich nicht im mehrsprachigen Verhalten erschöpfen kann: Größere Untersuchungen mit einer ganzen Batterie von Tests ergänzen nämlich normalerweise diese Tests sowohl mit einem Fragebogen über den Hintergrund des Erwerbs und Gebrauchs der einzelnen Sprachen als auch mit einem Fragebogen über die persönliche

Selbsteinschätzung

der sprachlichen Fähigkeiten. Dabei stellt sich nun im Gegensatz zu den Hintergrundsinformationen die jeweilige, angenommen subjektive Selbsteinschätzung des Einzelnen, neben der Lesegeschwindigkeit bei unbekannten Texten, als bestes Instrument der Voraussage für den sich aus den Tests insgesamt ergebenden Gesamto eindruck über das zu erwartende mehrsprachige Verhalten heraus. Die Fähigkeit zur geforderten

Selbsteinschätzung ist

weiligen Individuum untrennbar verbunden.

mit dem je-

Verlangt ist

letztlich

die Beurteilung einer bestimmten Eigenschaft der jeweiligen Person - nämlich der Eigenschaft "Mehrsprachigkeit".

Die erwiesene

und für manche vielleicht verblüffende Voraussagekraft dieser persönlichen Beurteilung im Hinblick auf das mit den angenommen objektiven Tests zu Ermittelnde - das mehrsprachige Verhalten - deutet

auf folgenden wichtigen Zusammenhang hin: Das tatsächliche

mehrsprachige Verhalten muß Ausfluß von der in der Persönlichkeit verankerten Mehrsprachigkeit sein.

Bis zu diesem Punkt erinnert

die vorgenommene Differenzierung an eine Kompetenz-Performanz-Un-

289

terscheidung. Dieser Vergleich ist auch durchaus statthaft: Denken wir z . B . an eine Person, deren Mehrsprachigkeit in ihrer augenblicklichen Umgebung nicht a u f f ä l l t , einfach weil es niemand anderen gibt, der die entsprechenden Sprachen sprechen oder verstehen könnte. In diesem Lebensabschnitt wäre dann die Mehrsprachigkeit einzig eine potentielle Fähigkeit oder Disposition, die nicht zum Tragen kommen kann. "individuelle Mehrsprachigkeit" stellte sich nach unseren bisherigen Überlegungen als eine Eigenschaft heraus, die als Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums mit diesem Individuum zu tun hat und damit auch, selbst bei vergleichbarem mehrsprachigen Verhalten, nicht einfach auf andere übertragen werden kann. Mit diesem Ergebnis sollte die vorhin erwähnte Möglichkeit einer unterschiedlichen Zuspräche der Zweisprachigkeit bei Kindern in einer gemischten Schule verständlich sein. über die ermittelte Kompetenzbedingung hinaus, scheint mir aber die "Mehrsprachigkeit" noch folgendes zu fordern: Um von "Mehrsprachigkeit" reden zu· können, muß die mehrsprachige Kompetenz vom Individuum als entscheidender Teil seiner Persönlichkeit angesehen und akzeptiert werden. Zwei Erscheinungen möchte ich zur Unterstützung dieser These anführen: 1. Insgesamt starke Persönlichkeiten, die sich mit sich und mit einem bestimmten Lebensraum voll und für sie selbst in erschöpfender Weise identifizieren können, scheren anderen kulturellen Bereichen zuordenbare Sprachen meist alle über ein und denselben Kamm, indem deren Auso spräche keinen Zweifel über die Herkunft des Individuums läßt. In einem solchen Fall steht das Individuum sozusagen nicht mit seiner Persönlichkeit "hinter 11 diesen Sprachen,und die sprachlichen Äußerungen haben eher Zitatcharakter - ein deutlicher Fall, bei dem mehrsprachiges Verhalten nicht mit Mehrsprachigkeit in meinem Sinne einhergehen würde. Der Erwerb und das Akzeptieren einer weiteren Sprache, im Sinne einer Zunahme an Mehrsprachigkeit, verlangt ein " Loslassen" von Teilen der bisherigen Persönlichkeit. Bei meinem erwähnten Beispiel der deutschen Vorschulkinder in einer deutsch-amerikanischen Schule sehe ich deshalb auch die Frage, inwieweit das Kind bereit ist, eine positive Einstellung zum Amerikanischen zu gewinnen, als entscheidendes Kriterium für seine Chance an, zweisprachig zu werden. 2. Ein-

290

wanderer, die auf ihre Abstammung noch Wert legen, gebrauchen Landsleuten gegenüber, selbst in der Sprache ihrer neuen Umgebung, häufig heimatsprachliche Ausdrücke.

Die individuelle Mehrsprachig-

keit wird hier bewußt für die Bekräftigung der ethnischen Identität oder aus Gründen der Präzision eingesetzt.

Vermutlich wird

die Mehrsprachigkeit .in diesen Fällen nicht verloren gehen, solange das Individuum sich noch der ursprünglichen Heimat verbunden fühlt.

Auch hier nimmt also die Einstellung des Individuums zu

den verschiedenen Sprachen und die Frage, ob das Individuum seine Herkunft als Teil seiner Persönlichkeit anerkennt und sozusagen behalten möchte, entscheidenden E i n f l u ß auf die Entwicklung der individuellen Mehrsprachigkeit. Dies alles kann natürlich nur zur Geltung kommen, f a l l s das Individuum zunächst über Idiolekte verfügt, die unterschiedlichen natürlichen Sprachen zuordenbar sind. Aus diesem Grunde war meine anfängliche Kompetenzforderung nicht überflüssig. Sie muß jedoch in dem soeben ermittelten wichtigen Punkt ergänzt werden: "individuelle Mehrsprachigkeit"

ist die Eigenschaft, eine positi-

ve Einstellung zu der Fähigkeit zu haben, über einige, verschiedenen natürlichen Sprachen zuordenbare

Idiolekte verfügen zu kön-

nen. Sie verlangt somit einen bestimmten mentalen Zustand

, der

mit einer Persönlichkeit einhergeht, die eine gewisse Flexibilität, Offenheit und aufrichtiges Interesse Neuem - insbesondere neuen Sprachen und den damit verbundenen Kulturen - gegenüber aufweist, "individuelle Mehrsprachigkeit"

erweist sich also in erster Linie

als eine Frage an die Persönlichkeit des untersuchten Individuums. An diesem Punkt angelangt, können wir von nun an auch im echten Sinne des Wortes von einer "persönlichen Mehrsprachigkeit reden. Die vorgeschlagene Festlegung beinhaltet nun auch, es dem Urteil des Individuums zu überlassen, was es als Variante eines bereits bestehenden Idiolekts ansieht und was es als Variante eines neu zu entwickelnden Idiolekts ansieht.

Das Setzen eines Idiolekts

als Klammer einer bestimmten Variantenstruktur in Abgrenzung von anderen Idiolekten gestehen wir den einzelnen Individuen zu. In diesem Sinne bestand in meiner Eingangsepisode der Erwerb von "Stuttgarterish" für Thomas zu diesem Zeitpunkt in einer Erweiterung seiner Mehrsprachigkeit.

Wir erfassen mit der gefundenen

Formulierung zur Mehrsprachigkeit ebenfalls die weithin akzep-

291

tierte Dynamik des B e g r i f f e s . 1 4

Sowohl Einstellungen bestimmten

Sprachen und damit verbundenen Kulturen gegenüber als auch das Bewußtsein über das Ausmaß der Verschiedenheit von Varianten kann variieren, woraus gemäß meiner Festlegung eine Änderung in der weiligen Mehrsprachigkeit

je-

und auf längere Sicht im mehrsprachigen

Verhalten auf erklärliche Weise resultieren wird. Was bedeuten diese Ergebnisse für uns als Linguisten?

Um den

durch die Mehrsprachigkeit besonders deutlich werdenden Erscheinungen gerecht zu werden, brauchen wir so elementare Begriffe wie 'Sprache' und 'Sprachgemeinschaft' noch lange nicht aufzugeben. Sie haben in einer auf das Individuum konzentrierten Fundierung durchaus ihre Existenzberechtigung.

Bei der individuellen Mehr-

sprachigkeit erwies es sich als Problem, wie die durch Mehrsprachigkeitstests erfolgende

Beschreibung von außen der inneren Rea-

lität auf die Spur kommen kann.

Da die Ermittlung einer letztlich

persönlichen Mehrsprachigkeit gefordert war - wir stellten Ansprüche an die Persönlichkeit und an die Einstellung zur Kompetenz

-,

muß vom Linguisten ein Interesse an der jeweiligen Persönlichkeit des zu untersuchenden Individuums vorausgesetzt werden.

Dies

ist

auf den ersten Blick eine sicherlich mühsamere Aufgabe als der normale linguistische Alltag, auf den zweiten Blick verspricht es vielleicht tiefere Einsichten in den Stellenwert der Sprache für das Umgehen mit dem jeweiligen Lebensraum des Menschen und damit auch eine bessere Grundlage für eine allgemeine Sprachtheorie.

Anmerkungen 1

Das Vorhandensein einer natürlichen Sprache als Bezugspunkt des somit relationalen Begriffes 'Variante' wird auch von Wandruszka (1982: 337) hervorgehoben.

2

Das kommunale Bewußtsein beim Einzelnen wird in Malherbe ( 1 9 6 9 : 43) erwähnt. Am entschiedensten wird jedoch die Bedeutung des Bewußtseins der Zugehörigkeit von Pride ( 1 9 7 1 : 64) und von Wandruszka ( 1 9 8 2 : 3 4 1 ) vertreten.

3

Einen solchen Ausgangspunkt wählt z . B . Kloss ( 1 9 6 6 : 7) für nen lesenswerten Überblick.

4

Vgl. auch den Begriff "Verwaltungsmehrsprachigkeit" bei Haarmann (1980: 4 3 f . ) .

5

Als Beispiel für die Anwendung einiger dieser Tests sei auf Raith ( 1 9 8 2 : 85) und Pfaff/Borde/Kohen/Mügge ( 1 9 8 5 ) verwiesen.

sei-

292

6

Bereits Macnamara ( 1 9 6 9 : 8O) bemerkte, daß die zu erwartenden Unterschiede ein gemeinsames Aufrechnen verbieten.

7

Sprache als soziales Phänomen ist teilweise Thema in Lutzeier (1985) . Vgl. hierzu Fishmann/Cooper ( 1 9 6 9 : 281) und Macnamara ( 1 9 6 9 : 86 - 9 O ) . Die Möglichkeit der Bedeutung der Aussprache für die Identitätsfindung wird in Oksaar (1983: 32) angesprochen. Diese Erscheinung wird bereits von Gumperz/Hernandez ( 1 9 6 9 : 5) hervorgehoben. "Zweisprachigkeit" als mentaler Zustand erscheint in Kielhöfer/ Jonekeit ( 1 9 8 3 : 11) angedeutet. Vgl. auch meine Besprechung Lutzeier ( 1 9 8 6 ) . Die Beobachtung von P f a f f (198O: 3 8 3 ) , daß ausländische Arbeiter in West-Berlin, die in politischen oder geschäftlichen Organisationen aktiv sind, ausgezeichnetes Deutsch sprechen, paßt hierzu. Eine Meinung, die auch von Vildomec ( 1 9 6 3 : 1 8 4 ) und Wandruszka ( 1 9 8 2 : 3 4 1 ) geteilt wird. Vgl. Francescato ( 1 9 8 1 : 9 O ) , Oksaar (1983: 21) und Denison (1984: 7).

9 10 11

12

13 14

Literatur Denison, Norman ( 1 9 8 4 ) : "Spracherwerb in mehrsprachiger Umgebung." Oksaar, Eis ( e d . ) : Spracherwerb - Sprachkontakt - Sprachkonflikt. Berlin: d e Gruyter: 1 - 2 9 . Fishman, Joshua A./Cooper, Robert L. ( 1 9 6 9 ) : "Alternative measures of bilingualism." Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 8: 276 - 2 8 2 . Francescato, Guiseppe ( 1 9 8 1 ) : "On the problem of the isolated bilingual." Meid, Wolfgang/Heller, Karin ( e d . ) : Sprachkontakt. Als Ursache von Veränderungen der Sprach- und Bewußtseinsstruktur. Eine Sammlung von Studien zur sprachlichen Interferenz. Innsbruck: Institut für Sprachwissenschaft, 89 - 96. Gumperz, John J./Hernandez, Edward M. ( 1 9 6 9 ) : Cognitive Aspects of Bilingual Communication. Working Paper 28. Berkeley: University of California. Haarmann, Harald ( 1 9 8 0 ) : Multilingualismus ( 1 ) . Probleme der Systematik und Typologie. Tübingen: Narr. Kelly, Louis G. ( e d . ) ( 1 9 6 9 ) : Description and Measurement of Bilingualism: An International Seminar,University of Moncton June 6-14, 1 9 6 7 . Toronto: University of Toronto. Kielhöfer, Bernd/Jonekeit, Sylvie ( 1 9 8 3 ) : Zweisprachige Kindererziehung. Tübingen: Stauffenberg.

293

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Wandruszka, Mario ( 1 9 8 2 ) : "Variation, Variable, Variabilität, Variante, Varietät." Heinz, Sieglinde/Wandruszka, Ulrich ( e d s . ) ; Fakten und Theorien. Beiträge zur romanischen und allgemeinen Sprachwissenschaft. Festschrift für Helmut Stimm zum 65. Geburtstag. Tübingen: Narr, 335 - 3 4 2 .

GESCHRIEBENE SPRACHE

Abriß zu einer Neubestimmung Elisabeth Feldbusch

Es gilt als Bestandteil der opinio communis in der Sprachwissenschaft, daß die geschriebene Sprache allein zu dem Zweck besteht, die gesprochene Sprache abzubilden. Diese Abbildbehauptung hat ihre theoretische Grundlage in der Bestimnung des Verhältnisses von Geschriebenem und Gesprochenem als Abhängigkeitsverhältnis.

Die Bestimnung des Abhängigkeitsverhältnisses ist ein Dogma, das nicht begründet, geschweige denn bewiesen wird. Das Abhängigkeitsdogma beruht auf der absoluten Trennung von geschriebener Sprache als "Schrift" und von gesprochener Sprache als "Sprache" einerseits, der Gleichsetzung von Geschriebenem und Gesprochenem andererseits. Die gegensätzlichen Definitionen bleiben unaufgelöst nebeneinander stehen und werden ohne Rücksicht auf ihre Widersprüchlichkeit je nach Bedarf herangezogen, um daraus das Abhängigkeitsdogma zu konstruieren. Das Abhängigkeitsdogma wird scheinbar durch die Vergleiche geschriebener und gesprochener Sprache unterstützt, die insgesamt in dichotcmische Charakterisierungen wie echt vs. unecht, dem Menschen eigen vs. vom Menschen geschaffen , aktiv vs. passiv, natürlich vs. künstlich u.a. münden und in Metaphern wie Kleid bzw. Verkleidung für den Körper, Fotografie für das Gesicht, Schale für den Kern gipfeln. Die Dichotcmien sind als Beleg für das Abhängigkeitsdogma unbrauchbar, da sie ihrerseits auf dem Abhängigkeitsdogma aufbauen. Die Dichotomien sind in sich nicht stimmig. Sie beruhen auf Konstruktionen, die systenatisch unterschiedliche Ebenen des geschriebenen und des gesprochenen Kommunikationsprozesses miteinander vergleichen. Abhängigkeitsdogma und Dichotcmien stehen im Widerspruch zur Sprachwirklichkeit.

296

Sprachwissenschaftliche Arbeiten, die von der Sprachwirklichkeit ausgehen, geraten in Widerspruch zum Abhängigkeitsdogma. Sie entwickeln ihrerseits Ansätze über die opinio comunis hinaus. Bis heute sind jedoch auch solche Arbeiten, die über die Dogmen hinausgreifen, in den Widersprüchen

steckengeblieben, da sie das zugrundeliegende

Abhängigkeitsdogma nicht konsequent ablehnen. Allenfalls wird vereinzelt die Forderung aufgestellt, das Geschriebene als eigenständige Existenzform von Sprache zu betrachten. Die funktionale Untersuchung der geschriebenen Sprache .verlangt^ über die Systembetrachtung hinaus,die Einbeziehung ihrer Wirkungen und Ursachen. Unter Zugrundelegung der historischen Bedingtheit führen sie von den heutigen vielfältigen Verflechtungen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zu der Frage nach den ursprünglichen Bedingungen und Ursachen für die Herausbildung der geschriebenen Sprache. Die Entstehung und Ausbreitung der geschriebenen Sprache erfolgt

nicht

zufällig oder beliebig. Sie vollzieht sich unter je konkret-historischen Bedingungen als Antwort auf die spezifischen gesellschaftlichen und, darin eingeschlossen, individuellen, kommunikativen und kognitiven Bedürfnisse

in je

spezifischen Verwendungsbereichen. Die geschriebene Sprache beginnt dort, wo, wie in den sog. Vorstufen der Schrift und der Entwicklung der Schrift etwa in Mesopotamien, neben das Handeln mit den Dingen selbst das Operieren mit handhabbaren Repräsentanten wie Gegenständen, Anordnungen und Formungen von Materialien und von auf Gegenständen geschriebenen bild- und formenhaften Zeichen tritt. Die geschriebenen Repräsentanten für reale Gegenstände und Sachverhalte ermöglichen die Abbildung gegenwärtiger und vergangener Realität sowie,durch Operieren mit den Zeichen,die Projektion künftiger möglicher Entwicklungen. Aufgrund der Dauerhaftigkeit der geschriebenen Zeichen und ihrer relativen Selbständigkeit gegenüber ihren Produzenten und Adressaten schaffen ihre Repräsentations-, Kombinations- und Schöpfungsleistungen neue Möglichkeiten für die Entwicklung gesellschaftlicher Kommunikation und Erkenntnisgewinnung sowie deren wechselseitiges Zusammenwirken. In ihrer Entwicklung und Ausbreitung bleibt es die Grundfunktion der ge-

297

schriebenen Sprache, die Realität für die Erkenntnisgewinnung, den Informationsaustausch und den Planungsprozeß in einer bereits verarbeiteten, abstrakten Form zur Verfügung zu stellen. Die geschriebene deutsche Sprache ist ein Beispiel für einen relativ jungen Zweig der Entwicklung und Ausbreitung geschriebener Sprache. Ihre Entstehung resultiert aus der unzulänglichen Funktionsfähigkeit des ebenfalls geschriebenen Latein für den werdenden deutschen Sprachraum. Soweit möglich, wurde in der althochdeutschen Zeit auf das jahrhundertelang in den verschiedensten Verwendungsbereichen erprobte System der geschriebenen lateinischen Sprache zurückgegriffen; wo die geschriebene lateinische Sprache infolge ihrer sozial äußerst begrenzten Verteilung nicht ausreichte, bildete sich daneben die geschriebene deutsche Sprache heraus. Schon die ersten Übersetzungshilfen und Übersetzungen geschriebener lateinischer Texte in geschriebene deutsche Texte standen in spezifischen neuen Funktioriszusanmenhängen, die sich aus den politischen, ökonomischen, organisatorischen und bewußtseinsmäßigen Bedürfnissen des aufstrebenden Großreiches der Karolinger ergaben, llu das sich stark vergrößernde, aber noch in jeder Beziehung zersplitterte Reich zu vereinheitlichen und zu vereinen, sollte die christliche Religion für alle Bewohner des Reiches eine einheitliche Wahrheit, ein einheitliches Weltbild, einen einheitlichen Maßstab für richtiges Verhalten und Handeln und eine einheitliche öffentliche Ordnung bereitstellen. Über ein vielseitig verzweigtes Funktionsnetz hat die geschriebene deutsche Sprache wesentlich dazu beigetragen, daß dieses gesellschaftspolitische Ziel im Verlaufe des Mittelalters in hohem Grade erreicht worden ist. Sie ermöglichte die Trennung der Komponenten des Kcmmunikationsaktes und schuf eine hochgradige überschaubarkeit des Sprachmaterials und der Inhalte. Im Zusammenhang ergaben diese Leistungen qualitativ neue Möglichkeiten der Kommunikation und des geistigen Operierens. Gezielt geplante Textproduktion, Vervielfältigung, großräumige Verbreitung und langfristige Archivierung sowie einheitliche intensive Textrezeption und -reproduktion, über die entsprechende Vermittlung selbst bei der Masse der schriftuhkundigen Bevölkerung, sind Resultate dieser neuen Qualitäten. Sie gewährleisten die konnunikativen und kognitiven Voraussetzungen für eine überall im Großreich einheitliche Konsolidierung und Stabilisierung des Christentums.

298

Gleichzeitig bedeutete die Herausbildung der geschriebenen deutschen Sprache die Schaffung eines qualitativ neuen, auf Einheitlichkeit ausgerichteten Sprachsystems. Zusanrnen mit den religiösen Inhalten fand das neue Sprachsystem ebenso wie diese durch das Funktionsgefüge des Geschriebenen überall im Reich Verbreitung und erlangte langfristig normativen Charakter. Damit legte die geschriebene deutsche Sprache koramunikativ und kognitiv die Grundlage für eine tiefgreifende bewußtseinsmäßige und sprachliche Vereinheitlichung des werdenden deutschen Sprachraumes weit über das politische Bestehen des Karolingerreiches hinaus. Sowohl in Mesopotamien zur Zeit der Entstehung der Keilschrift als auch im germanischen Sprachraum zur althochdeutschen Zeit basieren gesellschaftliche Organisation, wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Bewußtseinsbildung und sprachliche Entwicklung wesentlich auf den Möglichkeiten geschriebensprachlichen Zeichengebrauchs. Ebenso wie jene Errungenschaften ist die geschriebene Sprache zwar den jeweils konkret-historischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen unterworfen und kann von ihnen mißbraucht werden, in ihrer Allgemeinheit als Werkzeug weist sie jedoch intner auch über diese hinaus. Die Geschichte der geschriebenen Sprache läßt von den bekannten Anfängen bis heute eine Entwicklung ihrer inneren und äußeren Formen, ihrer Verwendungsbereiche und ihrer Funktionen nachvollziehen, die sich als ein gesellschaftlich bedingter Faktor nicht automatisch, autonom und bruchlos darstellt, jedoch ihre wesensmäßige Eigenheit, die Repräsentation der Realität, bis heute bewahrt. Bis heute ist die geschriebene Sprache eigenständiger sprachlicher Ausdruck gesellschaftlicher Realität und ihrer geistigen Verarbeitung. Das Wesen und die Grundzüge der Entwicklung geschriebener Sprache lassen sich ohne Berücksichtigung gesprochener Sprache erklären. Ihre Funktionsbereiche sind spezifisch geschriebensprachlich. Der Zusammenhang des Geschriebenen mit dem Gesprochenen beruht darauf, daß beide als von Menschen geschaffene und historisch veränderliche Mittel zur Kcrtmunikation und Erkenntnis die Gattung Sprache maßgeblich konstituieren, indem sie dasselbe Denken zum Ausdruck bringen und auf dieselbe Realität referieren.

299

Es gibt Ansätze zur geschriebenen Sprache, die darüber hinaus keine oder allenfalls marginale Parallelen zur gesprochenen Sprache aufweisen. Zwischen einer Reihe von zur gleichen Zeit und im gleichen Raum geschriebenen und gesprochenen Sprachen sind auf der Grundlage dieses Zusanmenhanges strukturelle Parallelisierungen vorgenommen worden. Für die weitere Entwicklung sowohl der geschriebenen als auch der gesprochenen Sprachen sind diese Parallelisierungen von tiefgreifender Konsequenz. Sie sind jedoch keineswegs als Definiens der geschriebenen Sprache inhärent. Die Angleichung beider Existenzformen von Sprache vollzieht sich in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Präferenzen, deren gegensätzliche Pole ihren Ausdruck in den Forderungen "Sprich, wie du schreibst!" und "Schreibe, wie du sprichst!" finden. Keine der Präferenzen stellt die grundsätzliche Eigenständigkeit einer der beiden Existenzformen in Frage. Daß sich viele geschriebene bzw. gesprochene Sprachen in ihrer Entwicklung wichtige Prinzipien der jeweils anderen sprachlichen Existenzform nutzbar gemacht haben, hat methodisch-ökonomische Gründe. Parallele Strukturen dienen der Erleichterung des Sprachlernens sowie der Schaffung neuer Möglichkeiten der Kommunikation und der geistigen Verarbeitung durch die mühelose Kombination der beiden Existenzformen von Sprache. Die Untersuchung der historischen, gesellschaftlichen und sprachlichen Zusammenhänge, in denen die Parallelisierung von gesprochener und geschriebener Sprache jeweils eine neue Qualität erreichte, macht offenkundig, daß die gesprochene Sprache das Wesen der geschriebenen Sprache nicht verändert. Angleichung der Strukturen von gesprochener und geschriebener Sprache ändern nichts daran, daß das Geschriebene als Repräsentant von Gegenständen, Sachverhalten und deren geistiger Verarbeitung fungiert. Die Übernahme eines Schriftsystems in einen anderen Sprachraum und die damit einhergehende Angleichung an die dort gebräuchliche gesprochene Sprache geschieht nicht, um die gesprochene Sprache zu fixieren und für eventuelle spätere Sprachforscher nachvollziehbar zu machen, sondern um bestimmte I n h a l t e verfügbar und handhabbar zum Ausdruck zu bringen. So ist es heute möglich, z.B. althochdeutsche Schriftzeugnisse zu lesen und ihren Inhalt ohne Einschränkung zu verstehen, auch wenn die Aussprache

300

der jeweils entsprechenden Laute nur begrenzt angegeben werden kann. Ebenso ist es prinzipiell möglich, den Umgang mit jeglicher, auch alphabetischen geschriebenen Sprache zu erlernen, ohne die entsprechende gesprochene Sprache zu beherrschen; ein Lernprozeß, der vor allem deshalb so schwierig erscheint, weil er das Erlernen zum einen sämtlicher Zuordnungen der Zeichen bzw. Zeichenkonbinationen zu deren Bedeutungen, zwei anderen aller Kombinationsregeln als Ausdruck der zugrundeliegenden Gedankenstruktur erfordert. Das Erlernen dieser Zuordnungen ist jedoch Voraussetzung jedes Erlernens einer neuen Sprache. Auch das Erlernen des Schreibens der Muttersprache setzt die Kenntnis dieser Zuordnungen voraus, die als wesentlicher Bestandteil des Primärspracherwerbs gelernt wird. Es gibt auch heute Schriftsysteme, die sich kaum bzw. gar nicht am Gesprochenen orientieren, da sie anderen Anforderungen als dem möglichst ökoncmischen Kenntniserwerb ihrer Bedeutungen genügen müssen. Dazu gehören vor allem mathematische und logische Zeichensysteme, Begriffsschriften und die immer weitere Verbreitung findenden Computersprachen, sowie Zeichensysteme für elektronische Lesegeräte, deren Elemente mittlerweile nahezu jede Warenverpackung zieren. Die Existenz von Schriftsystemen außerhalb des Einflußbereiches der gesprochenen Sprache und die Übereinstimmung von deren Wesenheit mit der Eigenheit der den gesprochenen Sprachen eher angeglichenen geschriebenen Sprachen, die in ihren gemeinsamen Grundfunktionen zum Ausdruck kommen, beweisen die grundsätzliche Uriabhängigkeit der geschriebenen Sprache gegenüber der gesprochenen Sprache.

Anmerkung 1

Die Ausführung der Neubestimmung s. in Feldbusch (1985).

Literatur Feldbusch, Elisabeth (1985): Geschriebene Sprache. Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie. Berlin. New York: de Gruyter.

V. FREMDSPRACHENDIDAKTIK, ERST- UND ZWEITSPRACHENERWERB

SPRACHMDDELLE ALS LEHRSTOFFMODELLE IM FREMDSPRAOiUNTERRICHT

Günter Lobin

1. Die Verwendung von Lehrstoffmodellen im Unterricht Im Schulunterricht werden Lehrstoffmodelle häufig und in unterschiedlicher Weise von Lehrern eingesetzt. Dies geschieht ausschließlich in nichtsprachlichen Fächern wie z.B. in Physik, Chemie/ Biologie, Geographie In diesen Fächern hat die Nutzung von Lehrstoffmodellen bereits eine lange Tradition. Zu nennen sind beispielsweise das Skelett im Biologieunterricht, das Molekular-Modell der Aminosäuren im Chemieunterricht oder der Globus im Geographieunterricht. Sie werden benutzt, um den Schülern das Verstehen der Wirklichkeit (die - und nicht das Modell - ja der eigentliche Lehrstoff ist)

zu er-

leichtern. Lehrstoffmodelle dienen dem didaktischen Prinzip, zunächst einfache Sachverhalte verstehbar zu machen, um dann schrittweise zu den komplexeren Sachverhalten überzugehen. 2. Die Merkmale des allgemeinen Modellbegriffs Der Modellhegriff wird in unterschiedlicher Weise verwendet. Un Mißverständnisse zu vermeiden, ist es erforderlich, kurz darauf einzugehen. Stachowiak (1973, 129) stellt fest, daß das Wort Modell

sowohl als Abbild oder Vorbild

von etwas als auch als eine Repräsentation eines bestimmten Originals verwendet wird. Nach Stachowiak (1973, 131 ff) lassen sich 3 Hauptmerkmale des allgemeinen Modellbegriffs angeben A b b i l d u n g s m e r k m a l : Modelle sind stets Modelle von etwas, nämlich Abbildungen, Repräsentationen, natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können; V e r k ü r z u n g s m e r k m a l : Modelle erfassen im allgemeinen nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals, sondern nur solche, die den jeweiligen Modellschaffern und/oder Modellbenutzern relevant erscheinen; P r a g m a t i s c h e s M e r k m a l : Modelle sind ihren Originalen nicht eindeutig zugeordnet. Sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion a) für bestimmte erkennende und/oder handelnde, modellbenutzende Subjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und c) unter Einschränkung auf bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen. Diese drei Merkmale verdeutlichen den Zweck von Modellbildungen, nämlich die "Enge des Bewußtseins" zu überwinden. Sie dienen sowohl der Erkenntnisgewin-

304

nung als auch der Erkenntnisvermittlung über die Wirklichkeit bzw. die Originale. 3. Zur Legitimation von Lehrstoffmodellen im Fremdsprachunterricht

(FU)

Im schulischen Fremdsprachunterricht geht es um die Vermittlung von ethnischen Sprachen als den "Originalen". Aufgabe dieses Unterrichts ist nicht die spielerische Beschäftigung mit der Sprache, sondern es soll ein bestimmtes Sprachkönnen fkormtunikative Konpetenz") erreicht werden. Nach Auffassung nicht weniger Lehrer bleibt dieses Bemühen oft ohne den erhofften Erfolg. Geklagt wird u.a. über die mangelnde Lernmotivation und Unlust der Schüler, Leistungsausfälle, ungeeignete Lehrbücher, mangelnde Sprechfähigkeit. Mit zahlreichen Maßnahmen wurde versucht, die bestehenden Mängel abzustellen, um einen besseren Unterrichtserfolg zu erzielen. Zu diesen Maßnahmen zählten u.a. AbWahlmöglichkeiten von FU für leistungsschwache Schüler, Änderung der Unterrichtsmethoden und der Lehrziele. Selbst die Versuche mit dem sog. Frühfremdsprachunterricht brachten keine überzeugenden Vorteile (Zeiteinsparung oder im Endergebnis höheres Sprachkönnen). Wenn die durchgeführten Maßnahmen nicht zum gewünschten Erfolg führten, dann wäre zu prüfen, ob Sprachmodelle, die vor dem Erlernen der ethnischen Sprache unterrichtet werden, zu einer Verbesserung bzw. leichteren Erlernbarkeit von verschiedenen Fremdsprachen durch Transfer führen. Diese Sprachmodelle sollten auch geeignet sein, die anschließende Wahl der zu lernenden Fremdsprache zu erleichtern (falls mehr als eine angeboten werden sollte). 4. Welche Sprachmodelle erfüllen diese Voraussetzungen? Die Schwierigkeiten beim Erlernen von ethnischen Sprachen führten in Verbindung mit der Idee der Völkerverständigung zur Entwicklung zahlreicher Sprachmodelle, die heute überwiegend in Vergessenheit geraten sind. Janton (1978, 1O ff.) nennt zahlreiche Beispiele von Modellen der Sprachen Latein (Latino sine flexione), Griechisch (Apolema), Englisch (Basic, Anglic), Französisch (Francesium), Spanisch (Nuove Roman) und Deutsch (Weltdeutsch, Wede). Diese "Vereinfachungen" der jeweiligen ethnischen Sprache helfen weder die Sprachenwahl zu erleichtem, noch eignen sie sich dazu, das Erlernen s c h i e d e n e r

ver-

fremder Nationalsprachen zu erleichtern (außer evtl.

beim Lernen des Originals selbst - jedoch liegen keine Erfahrungen über den Nutzen eines solchen Lehrstoffmodells für das Erlernen des betreffenden Originals vor).

305 Auch hofften die Autoren der zahlreichen Plansprachenprojekte (einige Hundert) vergeblich auf die breite Verwendung ihrer Sprache, obwohl sie ihre Sprache in der Regel nicht in Anlehnung an e i n e bestirnte lebende Sprache entwickelten. Diese "Mischsprach"-Projekte lassen sich in solche mit schematisierender und naturalistischer Tendenz einteilen. Die Autoren versuchten vor allem, durch eine möglichst weitgehende Ausnahitefreiheit grammatischer Itegeln und durch aus den natürlichen Sprachen entlehnte oder übernommsne Lexeme, eine Sprache zu schaffen, die für Menschen verschiedener Muttersprachen leichter zu erlernen sei als eine Nationalsprache. Zu nennen sind u.a. Volapük, Internacia Lingvo (ILo), Occidental, Novial, Interlingua, Neo. Sicherlich erfüllen mehrere dieser Plansprachen die Bedingungen eines Sprachmodells europäischer Sprachen. Da aber von den genannten Plansprachen (außer Volapük) nur die Internacia Lingvo Esperanto (ILo) noch heute von mehr als 1 Million (Schätzungen reichen bis 1O Millionen/Pei: 16 Millionen) Menschen auf der ganzen Welt gesprochen wird und eine umfangreiche Literatur in dieser Sprache existiert, soll im folgenden an dieser Sprache untersucht werden, ob sie als Sprachmodell für die zu unterrichtenden Fremdsprachen anzusehen ist. 5. Ist die ILo ein geeignetes Sprachmodell? Als geeignetes Modell (west-)europäischer Sprachen müßte die ILo die Modelleigenschaften i.S. unserer Definition bezüglich dieser Sprachen besitzen. Zu untersuchen sind 5.1. die phonetischen und grafischen, 5.2. die granmatischen und 5.3. die lexikalischen Eigenschaften der ILo

(Siehe dazu auch: R. Schulz

1985). 5.1. Graphische und phonetische Eigenschaften. Wie die meisten europäischen Sprachen verwendet die ILo lateinische Schriftzeichen und zusätzlich noch einige Buchstaben mit diakritischen Zeichen (c, g, R, 5, i, u). Das Alphabet besteht aus 28 Buchstaben, für die Groß- und Kleinschreibung vorgesehen ist. Den Buchstaben sind bestirnrite Laute zugeordnet, die ohne Ausnahme gelten. "Da jedem Graphen nur ein Phonem entspricht, kommt die Orthographie einer absoluten phonologischen Darstellung nahe" (Blanke 1981: 2O). In den graphischen und phonetischen Eigenschaften der ILo finden sich wesentliche Eigenschaften der Originalsprachen und bestätigen ihren Modellcharakter.

306

5.2.

Grammatische Eigenschaften.

Ebenso wie die ethnischen Sprachen verwendet die ILo Wortarten, wie Artikel (la = 'der, die, das'), Substantiv 'gut'),Adverb 'eins'),Verben

( hundo = 'Hund'),Adjektiv

1

(bele = 'schön ),Prononen 1

(yi = 'du'),Numerale

(vidi = ' sehen ) und Präpositionen

(bona = (unu =

(al = 'zu, auf'). Außerdem

kennt die IIo u.a. Deklination, Konjugation, Steigerung, Verneinung, zusammengesetzte Zeiten, Partizipien und damit wesentliche grammatische Erscheinungsformen europäischer Sprachen. Auch wenn die Regelmäßigkeit und Einfachheit der syntaktischen Mittel zur Kennzeichnung dieser Phänomene einen deutlichen Unterschied zu ihren Originalen darstellen, so zeigen sich gerade hier deutlich wichtige strukturelle Phänomene der Nationalsprachen. 5.3.

Lexikalische Eigenschaften.

Die Lexeme der ILo zeigen besonders deutlich die Nähe zu ethnischen Sprachen. So besteht die Lexik aus nicht reduzierbaren Grundeinheiten (Wbrtwurzeln, Grundmorphemen), die zu etwa 75% den romanischen Sprachen, zu 20% den germanischen und der Rest verschiedenen Sprachen entnommen sind (Janton 1978: 45). Außerdem finden sich zahlreiche sog. Internationalismen, die in den ethnischen Sprachen auch verwendet werden. Die ILo kann aufgrund ihrer Eigenschaften als Sprachmodell i.S. unserer Modelldefinition verschiedener europäischer Sprachen angesehen werden. Sie ist zudem eine voll funktionsfähige Sprache, wie die Originale auch. 6. Ist die ILo als Lehrstoffmodell für den Fremdsprachenunterricht geeignet? Die Eignung der ILo als Sprachmodell bedeutet noch nicht zwangsläufig die Eignung als LehrStoffmode11. Dies ist erst dann der Fall, wenn u.a. bestimmte undurchsichtige Strukturen der Originale so transparent gemacht, komplexe Zusammenhänge verdeutlicht oder Widersprüche in Originalen aufgezeigt werden können, daß dadurch eine Lemerleichterung bewirkt wird. Die Plansprache ILo eignet sich als didaktisches Lehrstoffmodell, wenn sie (Frank 1976) - "wesentliche grammatische Strukturen[...]durch einfachste syntaktische Mittel hervorhebt", - "sämtliche Zufallsabweichungen von einem Grundmuster strikt vermeidet", - "die getrennte Bewältigung von Schwierigkeiten erlaubt". Dies soll in den folgenden Abschnitten untersucht werden.

307

6.1.

Als syntaktische Mittel zur Kennzeichnung von Wortarten verwendet die

ILo am Wortende für: Substantive (i.Sg.) -o, Verben (Inf.) -i, Adverbien -e, Adjektive -a. Die Zeitform der Verben ist erkennbar im Präsens durch -äs, im Präteritum durch -is und im Futur durch -os am Wortende. Die Deklination erfolgt durch Präpositionen und die Nominativform des Substantivs. Eine Ausnahme bildet der Akkusativ, der durch ein angefügtes -n an den Nominativ gekennzeichnet ist.

Possessivpronomen werden durch das Anfügen von -a an das Per-

sonalpronomen gebildet. 6.2.

Das Lernen ethnischer Sprachen wird häufig erschwert durch zahlreiche

Ausnahmen von der Regel. Dies ist bei der ILo nicht der Fall. So ist z.B. die grammatische Rolle eines Wortes (Wortart, Kasus, Zeit) inmer an der typischen Endung erkennbar. Die Regelmäßigkeit wird u.a. auch sichtbar bei den Pronomen und Proncmialadverbien, die nach einem einheitlichen Schema gebildet werden. Dies ist bei natürlichen Sprachen, z.B. bei den sog. W-Wörtern im Deutschen oder bei den Verneinungen im Russischen, häufig nur noch ansatzweise erkennbar. Die ausnahmefreie Anwendung von Regeln gilt auch für die Numeralia, wo Ordnungszahlen durch Anfügen des Buchstaben -a an die Grundzahl, die Bruchzahlen durch Anfügen der Endung -ono an die Grundzahl und die Vervielfältigungszahlen durch Anfügen von -obla an die Grundzahl gebildet werden. Die regelmäßige Betonung der Wörter auf der vorletzten Silbe erspart im Falle der ILo das Lernen der zahlreichen zu beachtenden Betonungsgesetze und deren Ausnahmen, die in den natürlichen Sprachen einen nicht geringen zusätzlichen Lernaufwand erfordern. 6.3.

In den ethnischen Sprachen bereitet es häufig Schwierigkeiten, Einzel-

aspekte zu vermitteln, weil dabei gleichzeitig andere Aspekte mitbedacht werden müssen; z.B. ändert sich oft die Wortwurzel bei verschiedenen Zeitformen (to go, went, gone) oder bei den Steigerungsformen (good, better) oder bei der Deklination (she, her), was die Kenntnis der Präpositionen, des Numerals, des Geschlechts und vieler Ausnahmen erfordert. Dies ist bei der ILo nicht der Fall. So sind bei den genannten grammatischen Phänomenen keine neuen Lexeme zu lernen. Es genügt die Kenntnis der Wortwurzel plus der entsprechenden syntaktischen Mittel, um die grammatischen Formen richtig anzuwenden. Der für die Benutzung der Sprache erforderliche Wortschatz kann relativ gering bleiben, weil in Verbindung mit in ihrer Bedeutung feststehenden Affixen und Suffixen der Wortschatz schnell vervielfacht werden kann (bona = 'gut1 ;malbona = 'schlecht').

308

Insgesamt eignet sich die ILo auch als Lehrstoffmodell für die im FU zu lernenden Sprachen, weil sie Sprachstrukturen transparent macht, die in den Originalen häufig nicht erkennbar sind. 7. Erleichtert das Erlernen der ILo das nachfolgende Lernen ethnischer Fremdsprachen? Die Verwendung der ILo als Lehrstoffmodell im Fremdsprachenunterricht ist offenbar nur dann sinnvoll, wenn aufgrund von Transferwirkungen das Erlernen von Fremdsprachen erleichtert wird. Um dies empirisch zu untersuchen, wurden im 3. und 4. Grundschuljähr wöchentlich 2 Stunden ILo-ünterricht erteilt. Dies geschah mit Hilfe audiovisueller Lehrprograitme und durch normalen personalen Unterricht. Die Teilnahme war freiwillig und mußte außerhalb schulischer Verantwortung erfolgen. Im 5. und 6. Schuljahr wurden diese Schüler (bzw. ein Teil dieser Schüler) im Fach Englisch (1. Fremdsprache) mehrmals getestet. Dies geschah jeweils zu Beginn des 5. Schuljahrs und dann zu den jeweiligen Zeugniszeitpunkten. Eingesetzt wurden 3 Subtests des Diagnostischen Leistungstests von Doye/Lüttge (1977). Die Kontrollgruppe bildeten jeweils die Mitschüler der gleichen Klasse, die nicht an diesem ILo-Unterricht teilgenatmen hatten. Es zeigte sich, daß insbesondere beim Testteil "Sätze umformen" die Gymnasial-Schüler mit zweijährigem ILo-Unterridit signifikant (p = 1O%) bessere Leistungen aufwiesen als Ihre Mitschüler. Dies läßt auf das Bewirken von sog. latenten oder Strukturtransfer schließen. Die Auswirkungen anderer, die Leistung beeinflussender Faktoren, wie Intelligenz und Geschlecht, wurden mit Hilfe varianzanalytischer Verfahren korrigiert. Dies war notwendig, um festzustellen, ob die Leistungsunterschiede auf den ILo-Unterricht zurückzuführen sind. Aufgrund des Ergebnisses ist festzustellen, daß das Erlernen der ILo das nachfolgende Erlernen von Englisch erleichtert. Untersuchungen im englischsprachigen Raum bestätigen den Transfer für das Erlernen von Französisch. Es ist zu hoffen, daß weitere detaillierte Untersuchungen unter besseren (nämlich der Schulwirklichkeit entsprechenden) Bedingungen durchgeführt werden können.

309

Literatur Blanke, Detlev (1981): Plansprache und Nationalsprache. Linguistische Studien. Reihe A. Berlin: Akademie der Wissenschaften der DDR. Doye, Peter / Lüttge, D. (1977): Diagnostischer Leistungstest Englisch 5-6. Braunschweig: Westermann. Frank, Helmar (1976): "Sprachorientierungsunterricht nach dem Paderborner Modell." aula 2. Janton, Pierre (1978): Einführung in die Esperantologie. Hildesheim: Olms. Schulz, Richard (1985): Ein optimales Sprachmodell: die INTERNACTA LINGVO. In: Kürschner, Vogt (Hrsg.): Akten des 19. Linguistischen Kolloquiums. Vechta 1984, Bd. 2. Tübingen: Niemeyer. Stachowiak, Herbert (1973): Allgemeine Modelltheorie. Wien etc.: Springer.

TEXTE BILINGUALER GRIECHISCHER KINDER: STEREOTYPE UND EINSTELLUNGEN Käthi Dorfmüller-Karpusa

1.

Stereotype und Einstellungen

Aus sprachphilosophischer Sicht ist ein Stereotyp eine konventionelle Idee darüber, wie ein Objekt aussieht, handelt oder ist (Putnam sind Stereotype kognitive Strukturen,deren Funktion es ist, mene Welt zu strukturieren (Zimbardo 1975). Jedem

1975). Demnach die wahrgenom-

Objekt ordnet

stimmte Sprachgemeinschaft ein bestimmtes Stereotyp

zu. In

menhang werden mit'bbjekte" Klassen von Objekten/Personen stereotypen Merkmale von einem Objekt

können selbst

eine be-

diesem Zusambezeichnet. Die

innerhalb derselben

Sprachgemeinschaft je nach Informationsgrad und Kontext variieren. So z.B. obwohl ein stereotypes Merkmal von "Wasser" die Eigenschaft ist, daß der Siedepunkt bei 100 C liegt, ist dieser um einige Grad C niedriger auf jedem höheren Berg, wo der Luftdruck kleiner ist. Ein anderes Beispiel ist das

Stereotyp

"Medikament",

dem wir entsprechend unseren Bedürfnissen

1

Merkmale wie "heilbringend , schmerzstillend'u.a.

zuschreiben.Andererseits

sind Medikamente meist toxische Substanzen, denen man aus physiologischer Sicht

Merkmale

wie 'tödlich', gefährlich' u.a. zuschreibt.

Sprachgemeinschaft wird das Stereotyp

"Medikament" je

In derselben

nach Wissensstand,

Bedürfnissen und Standpunkt verschiedene Merkmale aufweisen. sollte man zwischen Stereotypen Fachwissen über

das betreffende

von Experten,

die über

Objekt verfügen,

Nach Petöfi

ein ausgedehntes

und solchen von nicht-

Experten unterscheiden. Der Unterschied zwischen den einen und den anderen ist allerdings ein gradueller (Petöfi 1983). Handelt es sich bei dem Objekt um soziale oder ethnische

Gruppen, dann

spricht man von "Sozialstereotypen '. Diese

unterscheiden sich

Stereotypen nicht nur durch die Natur des

Objekts, sondern

daß sie in der Regel mit Emotionen beladen sind. Dies ist der

verschiedenartigen Beziehungen

oder minder involviert ist den betreffenden Gruppen

zwischen Gruppen,

und die zu bestimmten

von anderen

auch dadurch, eine Konsequenz

in die

jeder mehr

Einstellungen gegenüber

führen. Einstellungen wiederum werden

plexere Konstrukte angesehen, die aus einer kognitiven,

als kom-

einer emotionalen

und einer handlungsbezcgenen Komponente bestehen. In der Literatur ist die Abgrenzung zwischen"Stereotypen"und "Einstellungen"nicht immer eindeutig.

312

Hier werden diese Begriffe folgendermaßen verwendet:"Stereotype" sind kognitive Strukturen und sollen mit der kognitiven lungen" identifiziert eigenen Gruppe

werden.

Insbesondere

sind

die

gegenüber von besonderer Bedeutung,

defensive Funktion zur Stützung der eigenen stellungen

Komponente der

anderen Gruppen

oder Subgruppen

eigene Identität von der der

"Einstel-

Einstellungen der

denn sie

haben eine

Identität. Analog

haben Ein-

gegenüber die

"anderen" abzugrenzen.

Funktion, die

Einstellungen setzen

Stereotype voraus und Stereotype führen zu Einstellungen. D.T. Campbell betont, daß bei schiede aufweisen, eben diese

Völkern in

Kontakt, die

größere Unter-

Unterschiede stereotypisiert

werden (Camp-

bell 1967). Die wesentliche Stereotypendeterminante ist hauptsächlich

die-

se Differenz, die bei jeder soziokulturellen Gruppe den Standard bestimmt, von dem aus deviante

Merkmale der

"anderen" beobachtet,

registriert und

sberaotypisiert werden. Eine weitere ebenso wichtige Stereotypendeterminante ist die Relevanz eines bestimmten

Merkmals für

Person/Gruppe. Aus diesem Grunde wird sich nur durch wenige, deutlich deviante

die stereotypisierende

häufig beobachtet, und/oder für

daß Stereotype

die stereotypisie-

rende Gruppe relevante Merkmale manifestieren. Dies unterscheidet auch das Stereotyp eines Objekts von seiner Intension. Dies entspricht der Auffassung von H.-J.

Eikmeyer und H. Rieser:

"Linguistic meanings

intensions and stereotypes" (Eikmeyer/Rieser

1983). Somit

consist of

übernimmt das

Stereotyp den emotiven Anteil der Bedeutung.

2.

Vorgehensweise und Korpus

In dieser Arbeit gehe ich davon aus, daß Stereotype und Einstellungen, die sich in Texten manifestieren, durch eine linguistische Analyse beschrieben werden können (Quasthoff 1973). In sozialpsychologisch orientierten Untersuchungen werden in der Regel zu diesem Zweck Interviews

oder Fragebögen

verwendet, in denen Versuchspersonen sich zu bestimmten Fragen äußern sollen. Durch diese Verfahren wird die Versuchsperson verpflichtet, sich zu einer bestimmten Frage zu verhalten, und somit können die Antworten verglichen

und durch

Anwendung statistischer

Methoden quantitative

Aussagen gemacht werden. Will man mehr und auch Unerwartetes aus einer Befragung erfahren, so muß die Versuchsperson spontan

zu Wort

kommen. Ge-

nauer gesagt, erwarte ich von weniger gesteuerten Äußerungen eine bessere Möglichkeit, einen Einblick in die Stereotypisierungsprozesse und in die

313

daraus resultierende Einstellungen zu gewinnen. Das herangezogene Korpus besteht aus 130 Texten bilingualer/bikultureller griechischer Kinder. Es handelt sich um 12-13jährige Kinder,

die län-

gere Zeit in der Bundesrepublick leben und zweisprachig aufwachsen. Griechisch ist die Sprache der Familie und Deutsch

die Sprache der Umgebung.

Zur Zeit besuchen sie die griechische Schule,und ihre Deutschunterricht Antwort

auf die

konstituiert.

Die Texte,

Frage "Worin

Texte haben

sie im

deren Handlungsschema

unterscheiden sich

die Deutschen

als

von den

Griechen?" und "Wie fühle ich mich als griechisches Kind in Deutschland?" betrachtet wird, liefern nützliches Material in bezug auf die obengenannte Zielsetzung.

Unmittelbare Adressaten dieser

Texte waren

ihre deutschen

Deutschlehrer.

3.

Stereotype Merkmale

In diesem Abschnitt

werde ich

mich mit

beschäftigen, die die Kinder in ihren den

Deutschen

den Inhalten

Texten von den zwei

und den Griechen, vermitteln.

Gruppen zu charakterisieren,kann man beobachten, einer

großen

Anzahl

der

können paarweise in eine

Texte immer

der Beschreibungen

Bei ihrem Versuch, beide daß gewisse Merkmale in

wieder vorkommen.

antonyme Relation

Gruppen, d.h.

Diese Merkmale

gesetzt werden

und konstitu-

ieren gewissermaßen eine Skala, an der entlang die' zwei Gruppen gruppen lokalisiert werden. Im wesentlichen handelt

es sich

Paare: Griechen

Deutsche

fröhlich

ernst

gastfreundlich

ernst

gastfreundlich

kalt nicht gastfreundlich

-

ausländerfeindlich sauber pünktlich

-

umweltfreundlich

nicht gesetzhörig

gesetzhörig

nicht zuverlässig

zuverlässig

oder Subum folgende

314

Neben den

eindeutigen Antonymen

in bezug

auf einen

semantischen Aspekt

wie "gesetzhörig - nicht gesetzhörig", "zuverlässig - nicht zuverlässig" verwenden die Kinder auch Paare wie "gastfreundlich - kalt", die sich scheinbar

auf

keinen bestimmten

semantischen Aspekt

beziehen (Lutzeier

1982). Das Kind assoziiert "gastfreundlich" mit "warm", da für ihn/sie das Merkmal

"gastfreundlich"

"warm" ausgedrückt wird,

u.a.

eine Komponente,

die durch

die Metapher

enthält. Der entsprechende Aspekt

könnte etwa,

ebenfalls metaphorisch, als "Wärmegrad der interpersonellen Beziehungen" formuliert werden. Dadurch bringt das Kind zum Ausdruck, daß für ihn/sie dieser semantische Aspekt ist.

für die

Ähnlich verhält es sich

jeweilige

Gruppe von größerer Relevanz

mit der Relation "gastfreundlich

wobei "Stimmung" der entsprechende Aspekt zu sein scheint. Einige Merkmale werden lediglich der "anderen" Gruppe ordnet, wobei die eigene Gruppe nur implizit

auf der

beiden Polen eingeordnet wird. Während in vielen

- ernst",

explizit zuge-

Werteskala zwischen

Fällen die

Kinder beide

Gruppen bei den entgegengesetzten Polen der jeweiligen Skala lokalisieren, wird manchmal eine abgestufte

Lokalisierung impliziert.

Wenn beispiels-

weise ein Kind schreibt, die Deutschen seien sauber, so meint er/sie nicht die Griechen seien schmutzig, sondern sie werden drigeren Grad der betreffenden Skala eingestuft.

dadurch auf einem nieMan kann vermuten, daß

während das Merkmal "sauber" zum Heterostereotyp "Deutsche" nicht der Fall bei dem Autostereotyp "Griechen" steht das Stereotyp "Griechen" aus bestimmten

ist.

gehört, dies

Anders

gesagt, be-

Merkmalen, unter

denen der

semantische Aspekt "Sauberkeit" irrelevant ist. Beim Betrachten dieser Liste kann man feststellen, daß die eigene Gruppe oft indirekt durch die Stereotypisierung der "anderen" Konturen gewinnt (Barth 1969). So wird beispielweise lediglich impliziert, die Griechen seien unpünktlich, unzuverlässig

bzw. nicht

im gleichen

wie die Deutschen, nicht umweltfreundlich u.a. hervor, daß die

Aus diesem

Autostereotypisierung weitgehend

stereotypisierung ist. Prozesse der

Autostereotypisierung dort

Vergleich geht

eine Folge der Hetero-

Eine ähnliche Analyse von Texten

der, die in Griechenland leben, liefert Hinweise chenden

Grad zuverlässig

griechischer Kin-

dafür, daß die entspreweniger fortgeschritten

sind. Wahrscheinlich fehlen dort die "anderen", an denen man sich profilieren kann. Eine weitere Feststellung läßt sich über

eine Klassifizierung

der von

den Kindern gewählten Merkmale machen. Anhand der Merkmale der ersten Klasse kommen von den Kindern empfundene Bedürfnisse zum Ausdruck, d.h.

315

das Verlangen

nach intensiveren

interpersonellen Beziehungen.

Dies wird

von H.C. Triandis folgendermaßen beschrieben: "Greeks prefer much more intimacy in their interpersonal relationships, they like to 'get close' to people. Their relationships with their friends are more close and supportive than is the case for Americans." (Triandis 1971). Die Merkmale also, die zu der Stereotypisierung der "anderen" führen, sind für die Kinder von Relevanz, denn sie entstehen

aus Bedürfnissen,

welche innerhalb

der ei-

genen Gruppe besser erfüllt werden. Bezüglich der zweiten Klasse

von Merkmalen

liegt es

nahe anzunehmen,

daß diese aus der unmittelbaren Umgebung übernommen wurden, da sie für das kindliche Wohlbefinden nicht von so großer Relevanz sein können. Das Relevanzkriterium gilt insofern auch für diesen Fall, die Relevanz sollte hier jedoch bei den Erwachsenen gesucht werden. Man könnte die

Frage stellen,

ob sie aus heterostereotypischen Merkmalen der eigenen Gruppe stammen oder aus autostereotypisehen Merkmale der "anderen", die akzeptiert wurden, oder auch ob aus heterostereotypischen

der "anderen",

die rückblen-

dend ihre eigene Stereotypisierung bewirken. Eine vierte Möglichkeit wären die projezierten autostereotypisehen Merkmale, d.h. wie die Kinder glauben, von den "anderen" betrachtet zu werden. Im Zusammenhang mit zessen sprechen W.E. Fthenakis et

al. von der Übernahme

solchen Pro-

eines negativen

Selbstbildes (Fthenakis et al. 1985). Es ist nicht einfach und oft nicht möglich, den Ursprung gewisser Merkmale zu bestimmen. Einen Einblick in solche Entstehungsprozesse können

die Texte

liefern, nicht

nur aufgrund

des Inhalts, sondern auch aufgrund der Art der Beschreibung. Denn besonders bei Kindern bringt die Art der Beschreibung

oft und

auch Unbeabsichtig-

tes zutage (Dorfmüller-Karpusa 1984).

4.

Manifestation von Einstellungen in Texten

Im folgenden werden Textausschnitte herangezogen, anhand derer die kulturbedingten Kommunikationsprobleme und, als Folge Einstellungen analysiert werden. In fast allen schäftigen sich die Kinder ausführlich mit

davon, die Entstehung von Texten dieses Korpus be-

"interpersonellen Beziehungen"

und insbesondere mit der Gruppe der deutschen Kinder. Der ausschnitt illustriert mehrere interessante Aspekte: (1)

folgende Text-

Deutschland gefällt mir sehr, aber nur wenn die Deutschen zu mir gut

316

sind, z.B. wenn ich mit einem deutschen Jungen spiele und dabei knalle ich ihm ausversehen eine, dann fühle ich mich als ein Fremder. In

dieser

Äußerung

wird

von dem Kind

ein Beispiel

scheinbar von dem vorher Gesagten nicht ableitbar ist. nektiv

z.B. hat

in diesem Fall hauptsächlich

herangezogen, das Das Erklärungskon-

die Funktion,

eine all-

gemeine Aussage mit der Beschreibung einer konkreten Situation zu verknüpfen. In beiden Teilen jedoch kommen Gefühle des

Kindes zum Ausdruck, die

unter bestimmten Bedingungen zustande kommen. Beim Spielen sind die Unterschiede zwischen beiden Gruppen aufgehoben. Hier

jedoch wird

eine Situa-

tion beschrieben, in der durch das eigene schlechte Gewissen ohne Reaktion der "anderen" eine Trennlinie empfunden wird. Zusammenhang von einer "wir/sie seits

sind

Dichotomisierung" {Barth

Streitereien innerhalb

liegen jedoch

auf der

Barth spricht

einer Gruppe

interpersonellen Ebene.

sich der Konflikt im Bewußtsein

in ähnlichem

1969). Anderer-

selbstverständlich, sie In diesem

des Kindes von der

Fall verlagert

interpersonellen auf

die Intergruppen-Ebene. Zu bemerken ist

noch, daß der Ausdruck

aber auch in den meisten Texten

"Fremder" in

dieser Äußerung

abhängig vom Kontext dieser

Stereotyp mit überwiegend negativen Merkmalen ist. Dies gilt Maße

bei

dem Stereotyp

"Ausländer", das, wie folgendes

striert, ein Heterostereotyp

der "anderen"

mit explizit

Kinder ein in stärkerem

Beispiel demonnegativen Merk-

malen dieser Gruppe gegenüber ist. (2)

Manchmal sind da Jungen, die mir sagen "blöder Ausländer".

Der entsprechende Ausdruck "

Ausländer1 hat

"'Fremder,

schen überwiegend positive Merkmale und der vollkommen inkompatibel. Es ist nicht

Modifikator "blöd"

so sehr

das das Kind als störend empfindet, sondern

im Griechi-

das Schimpfwort

ist damit für sich,

vielmehr die

implizierte Re-

lation, "Ausländer seien blöd", und zwar beschrieben durch

eine inkompati-

ble Konfiguration.

Dies zwingt

das Kind,

sein Stereotyp

"Ausländer" zu modifizieren und von dem griechischen "

"Fremder" bzw. " zu differen-

zieren . Aus dem folgenden Textausschnitt eines anderen

Kindes geht

deutlich her-

vor, daß die negativen Merkmale des Stereotyps "Ausländer" registriert und internalisiert wurden:

317

(3)

[..] manchmal merkt man garnicht, daß man Ausländer

ist.

Im folgenden Textausschnitt (4)

Mit denen [mit den griechischen Kindern} fühle ich mich nicht so fremd wie mit den Deutschen, denn sie sprechen die gleiche Sprache, haben die gleichen Gewohnheiten.

wird eine Erklärung in Form einer

kausalen Relation

für das

Fremder zu sein" gegeben. Von den zwei Argumenten dieser

Gefühl "ein

Relation, "glei-

che Sprache" und "gleiche Gewohnheiten" fungiert das zweite ebenfalls als k Erklärung des ersten. Denn die deutsche Sprache hat sich das Kind offensichtlich weitgehend angeignet, die differenzierten Merkmale von Stereotypen jedoch, die der Ausdruck von nicht "gleichen Gewohnheiten" ist, werden als Störungsfaktor für die Kommunikation implizit beschrieben. "Gewohnheiten"

rechnet

das Kind

auch unterschiedliche

zwei Kulturen. Die eigene Gruppe erscheint

in diesem

Zu den

Denkschemata der Textausschnitt für

das Kind als das adäquate Komnunikations- und Interaktionsforum. Es folgen einige weitere Textausschnitte, die die Probleme der Verständigung aufgrund der Verschiebung der Stereotype verdeutlichen. (5)

In Griechenland kann ich mich mit den Kindern viel besser verständigen.

(6)

Mit einigen deutschen Kindern können wir uns verstehen.

(7)

Wenn ich mit einem Deutschen spiele, und er ist

zu mir wie ein

Freund, dann spiele ich mit ihm ganz schön, und wir können uns verstehen. Die Reaktion der Kinder auf die

erschwerte Kommunikation

nimmt häufig

zwei unterschiedliche Formen an: (a) Die Beschreibung von eigenen, meist negativen, seelischen und mentalen Zuständen/ wie in folgenden Textausschnitten : (8)

Ich

fühle mich wie ein Kind, das garnicht ist.

(9)

gut. Ich fühle mich nicht wohl hier, wenn ich mit deutschen Kindern spreche, denke ich, ich sage alles falsch.

(10) Die deutschen Kinder ärgern mich immer.

Es ist mir nicht so

318

Ersichtlich wird aus diesen Texten die eminente Rolle der Realisierung der Komnunikationsfähigkeit für das Wohlbefinden der Kinder dieses Alters, (b) Die Beschreibung von negativen Merkmalen, die den "anderen" zugeordnet werden und die nicht so sehr die Stereotypisierung der "anderen", als vielmehr entsprechende Einstellungen deutlich zum Ausdruck bringen: (11) Manche deutsche Kinder sind sehr gemein und sie wollen gar nicht mit mir spielen, weil ich eine Ausländerin bin. (12) Die deutschen Kinder sind echt gemein. Wenn sie ein ausländisches Kind sehen, lachen sie die Ausländer aus. (13) Die deutschen Kinder sind manchmal richtig gemein. Nur weil [wenn] ein Kind aus einem anderen Land kommt, reden sie nicht mit ihm oder sie motzen. In allen drei Textausschnitten wird den "anderen" das Merkmal "gemein",und zwar durch die Modifikatoren "sehr", "echt"

und "richtig"

Form,zugeordnet. Auf der anderen Seite wird in (11) fene

Gruppe wieder

eingeschränkt ("manche",

in verstärkter

und (13) die betrof-

"manchmal"). In

allen drei

Fällen wird das Urteil begründet, und zwar durch die reale oder projizierte Verweigerung der erwünschten Kommunikation durch die "anderen".Das vage und für die

Kindersprache spezifische

Merkmal "gemein"

bringt Einstellungen

der Produzenten zum Ausdruck, die als Reaktion zu dem ebenso vagen "blöd", aber auch zu allen anderen Signalen negativer

Einstellungen, konstituiert

wurden. Aus den Texten geht hervor, daß die Einstellungen beider Gruppen, die aufgrund von unmittelbarem Kontakt und folglich von eigenen Erlebnissen entstanden sind, generell einen Mangel

an Kommunikation

haben. Obwohl beide Gruppen eine gemeinsame Sprache sprechen,

zum Ursprung nämlich die

deutsche, führen kulturell bedingte Unterschiede ihrer Stereotype zu einem Kommunikationsdefizit und als Folge davon zu negativen Einstellungen.

5. Abschließende Bemerkungen In diesem Beitrag habe

ich versucht,

den Zusammenhang

von Einstellungen

und deren kognitiven Komponente!, d.h. Stereotypen, anhand von Texten bilingualer Kinder zu demonstrieren. Stereotypisierungsprozesse stellen besonders wichtige Lernprozesse dar, die beim Kultur mehr oder minder

Einstellen auf

erfolgreich stattfinden.

eine zweite

Die bilinguale/bikultu-

319

relle Situation

wird von den Kindern

auf verschiedene

Arten bewältigt.

Entweder werden Stereotype der "anderen" übernommen und die Stereotype der Muttersprache verdrängt^ oder unterschiedliche Sterotypsysteme koexistieren parallel, oder aber auch die tradierten

Streotype werden

festgehalten. Letztere Reaktion scheint für die

fast unverändert

Gruppe dieser

Kinder re-

präsentativ zu sein. Obwohl sie die Sprache ihrer Umgebung relativ gut beherrschen, betrachten und beschreiben sie ihre

Unweit aufgrund

von Denk-

schemata, die durch ihre erste Sprache geprägt wurden. Diese

eher negati-

ven Beobachtungen widersprechen nicht den positiven Folgen

des Bilingua-

lismus wie sie u.a. S. Ben-Zeev 1976· Lüdi/Py

1984). Trotz

und G.

Lüdi/B. Py

der geschilderten

beschreiben (Ben-Zeev

kategorisierenden Funktion

der ersten Srache ist es wohl möglich, die Sprache

der "anderen"

sich so

anzueignen, daß man sich darin auch "wohl fühlt".

Anmerkungen 1 Diese Arbeit ist im Rahmen eines Projekts der Universität Bielefeld von Prof. Gert Rickheit entstanden. 2

An dieser Stelle möchte ich den Lehrern und Studenten des Neugriechischen Barbara Koch, Andrea Pilz und Robert Pohl, die mir den Zugang zu den Kindertexten ermöglichten, meinen Dank aussprechen.

Literatur Ballmer, Thomas, T./Pinkai, Manfred (1983): Approaching Vagueness, (eds.) Amsterdam: Eisevier Science Publishers. Barth, F. (1969): Ethnic Groups and Boundaries. London: Allen und Unwin. Ben-Zeev, S. (1976): "Influence of bilingualism on cognitive development and cognitive strategy." Papers and Reports on Child Language Development 12: 39-46. Campbell, Donald T. (1967): "Stereotypes and the perception of group differences." American Psychologist 22: 817-829. Dorfmiiller-Karpusa, Käthi (1984): "Muttersprachliche Texte bilingualer Kinder." Info DaF 3: 52-64. Eikmeyer, Hans-Jürgen / Rieser, Hannes (1983): "A formal theory of context dependence and context change." Ballmer / Pinkal (eds.): 131-188. Fthenakis, Wassilios E. / Sonner, Adelheid / Thrul, Rosemarie / Walbiner, Waltraut (1985): Bilingual-bikulturelle Entwicklung des Kindes. Ein Handbuch für Psychologen, Pädagogen und Linguisten. München: Hueber.

320

Lüdi, Georges / Py, Bernard (1984): Zweisprachig durch Migration. Einführung in die Erforschung der Mehrsprachigkeit am Beispiel zweier Zuwanderergruppen in Neuenburg (Schweiz). Tübingen: Niemeyer. Lutzeier, Peter R. (1982): "The notion of lexical field and its application to English nouns of financial income." Lingua 56: 1-42. Petöfi, Janos S. (1983): "Some aspects of the structure of a lexicon entry." Lessico Intelletuale Europeo "Spiritus". Putnam, Hilary 215-271.

(1975): "The Meaning of 'Meaning'." Putnam (ed.):

Putnam, Hilary (ed.) (1975): Mind, Language and Reality. Philosophical Papers, V. II. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press. Quasthoff, Uta (1973): Soziales Vorurteil und Kontnunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Frankfurt/M.: Athenäum. Triandis, Charalambos H. (1971): Attitude and Attitude Change. New York: Wiley. Zimbardo, Philip G. (1975): Psychology and Life. Glenview Illinois: Scott, Foresman & Co. (9th ed.).

EIN MODELL ZUR ANALYSE VOR RECOTSCHREIBFEHLERN BEI KINDERN AUSLÄNDISCHER ARBEITNEHMER

Angelika Braun

0. Einleitung Dieser Beitrag geht zurück auf konkrete Erfahrungen mit dem Unterrichtsfach "Deutsch" bei Kindern ausländischer Arbeitnehmer. Hier ist immer wieder zu beobachten, daß die Redrtschreibleistungen ausländischer Schüler, vor allem im Diktat, katastrophal sind. In gemischten Schulklassen bleiben diese Kinder scheinbar hoffnungslos und in einer dem Lehrer nicht ininer erklärlichen Weise hinter den Leistungen ihrer deutschen Mitschüler zurück, obwohl der mündliche Ausdruck oft zufriedenstellend ist. Dies mag der liberale Pädagoge nicht besonders alarmierend finden, solange die Kinder sozial gut integriert sind, es sorgt aber im Formalismus unseres Ausbildungssystems für unüberwindliche Hürden, da nicht nur die Schulnoten, sondern auch Entscheidungen über eine Beschäftigung oder gar Einbürgerung abhängig gemacht werden von der Rechtschreibleistung. Die Diktatsituation stellt daher vielleicht vom soziologischen Standpunkt betrachtet kein spannendes Kapitel im Bereich der schulischen Probleme ausländischer Kinder dar - für den Linguisten, den Phonetiker zumal, ist sie es auf alle Fälle. Ziel der wissenschaftlichen Bemühungen sollte es sein, dem Lehrer Mittel an die Hand zu geben, die Fehler in ihren Ursachen zu erkennen und diejenigen übungsformen auszuwählen, die den Bedürfnissen der Kinder entgegenkommen, indem sie gezielt auf deren sprachliche Situation (d.h. ihre Erstsprache) ausgerichtet sind. Im folgenden wird an einem Beispiel erläutert, wie solch ein Modell funktionieren und was es leisten kann. 1. Theoretische Grundlagen des Modells Für die Analyse von Fehlern, zumal Pechtschreibfehlem, drängt sich die kontrastive Vorgehensweise geradezu auf. Dieser rein linguistische Ansatz kann besonders für die Diktatsituation guten Gewissens verwendet werden, da Inhalte, Syntax und Morphologie vorgegeben sind. Wenn hier also das Problem mit den Mitteln der kontrastiven Linguistik angegangen wird, so bedeutet dies weder, daß ich sie in allen Stadien des Spracherwerbs und auf allen linguistischen Strukturebenen für am besten geeignet hielte im Umgang mit Fehlern,

322

noch, daß mit ihrer Hilfe

a l l e Normverstöße erklärt werden könnten.

Sie hat jedoch unbestrittene Qualitäten in bezug auf Fehlerdiagnose wie auch ihre Prophylaxe speziell auf der Ebene der Laute, um die es im vorliegenden Fall geht. In diesem Bereich kann

ihr explikatives Potential am besten ge-

nutzt werden, da über die Phonem- und Allophonbereiche der in Frage kommenden Sprachen im Vergleich beispielsweise zu Syntax und Semantik große Klarheit und Einigkeit herrscht, ihre Grundlagen mithin unumstritten sind. Wenn im folgenden kontrastiv vorgegangen wird, so impliziert dies die Billigung bestürmter Grundannahmen der sprachvergleichenden Methode, daß nämlich Erst- und Zweitspracherwerb unterschiedlichen Bedingungen unterliegen, daß weiterhin eine große Zahl von Nannverstößen in der Zielsprache aus dem System der Erstsprache erklärbar sind (i.e. die sog. Interferenzen), daß schließlich aus dem Vergleich der beteiligten Sprachen Ubungsformen entwickelt werden können, um die Fehler gezielt zu minimieren. - Solche Binsenweisheiten der kontrastiven Linguistik können und brauchen hier nicht weiter ausgeführt zu werden; sie wurden rekapituliert, da sie die Grundlage für die folgenden Überlegungen bilden. 2.

Die Diktatsituation

Bevor das hier verwendete Modell zur Fehleranalyse erläutert wird, ist es notwendig, näher auf die Situation des Diktats einzugehen. Auf den ersten Blick scheint alles ganz einfach: Der Lehrer diktiert (spricht), und die Schüler schreiben das Diktierte auf. Die Fehler, die sie dabei machen, sind Schreib- oder Rechtschreibfehler. In dieser Überlegung stecken natürlich speziell bezogen auf die Situation ausländischer Kinder - etliche Denkfehler, denn die Schüler schreiben gerade nicht das D i k t i e r t e auf, sondern das G e h ö r t e

, d.h. das, was sie perzipiert und - in den meisten Fäl-

len - verstanden haben. Dieses Hören vollzieht sich aber nicht unabhängig von der Muttersprache insofern, als sowohl unbekannte Laute als auch ungewohnte Lautkombinationen durch den Wahrnehmungsapparat quasi gefiltert und auf die mit der Erstsprache erworbenen Kategorien reduziert werden. Dies 4 zieht in der Regel auch falsche Schreibung nach sich. Wenn ein Schüler beispielsweise aus seiner Muttersprache die auditive Unterscheidung von [ J ] und L s J nicht kennt, wird er Wörter wie Masche und Masse so lange falsch schreiben (verwechseln), bis er gelernt hat, diese zusätzliche Differenzierung bei der Lautproduktion selbst zu treffen und zu hören. Dabei führt jedoch nicht jede Asymmetrie zwischen den Phonemsystemen der beteiligten Sprachen zu einem Fehler. Probleme treten vielmehr meist nur dann auf, wenn die

323

Zielsprache an einer bestimmten Stelle komplizierter ist als die Erstsprache. Den umgekehrten Fall bemerken wir in der Regel gar nicht. So wird beispielsweise das Fehlen gerundeter Vorderzungenvokale wie /y/ und / ( im Englischen kaum einem deutschen Schüler so schmerzlich bewußt wie das zusätzliche Auftreten der dentalen Frikative / / und /&/. Da das Phonemsystem des Deutschen - besonders im Bereich der Vokale - komplizierter ist als die meisten "Gastarbeitersprachen", sind die Probleme gleichsam vorprogrammiert. Die oben genannte Art von Fehlern, die auf einzelsprachspezifischen Hörmustern beruhen, hat mit der Schreibung nicht unmittelbar zu tun. Ich nenne sie daher H ö r f e h l e r .- Hat der Schüler nun alles so gehört, wie es dem Lautsystem der Zielsprache entspricht, sei es, weil keine Abweichungen von L1 bestanden, sei es, weil er seine Hörgewohnheiten bereits angepaßt hat, so ist es immer noch ein weiter Weg bis zum geschriebenen Wort. Dazu bedarf es nämlich der Umsetzung des im Kopf gespeicherten Lautbildes in eine Folge von Buchstaben. Auch die Regeln für die Verschriftung sind aber einzelsprachabhängig, mithin anfällig für Interferenzen. So kann man bespielsweise das deutsche Phonem /s/ schreiben als < s>, < ss> oder wie in Mast, Masse oder Maße. Das Türkische kennt das gleiche Phonem, schreibt aber ausschließlich . (Auch dieses Beispiel ist nicht willkürlich herausgegriffen, sondern das Deutsche ist wiederum komplizierter als die meisten anderen involvierten Sprachen, weil die Schreibung oft historische Sprachzustände reflektiert und nur bedingt eine Abbildung der gesprochenen Laute darstellt.) Solche Fehler, die nicht aus unterschiedlichen Hörgewohnheiten, sondern aus unterschiedlichen VerschriftungsregeLn resultieren, nenne ich U m s e tz u n g s f e h l e r . Mit ihnen sind aber noch nicht alle Aspekte der Diktatsituation erfaßt, denn viele Schüler kennen aus ihrer Muttersprache ein anderes Alphabet als das lateinische. Diese Gruppe, u.a. die Griechen, auch ein Teil der Jugoslawen (Serben) , muß beim Diktat zusätzlich transliterieren, d.h. den Wechsel von einem Schriftsystem in ein anderes vollziehen. Dies scheint auf den ersten Blick trivial, ist es jedoch keineswegs, wenn man bedenkt, daß verschiedene Alphabete unterschiedliche distinktive Eigenschaften besitzen. Das lateinische System legt z.B. großen Wert auf Rechts-links-Markierung (vgl. vs. ; vs.

) sowie Ober- im Gegensatz zu Unterlängen (vgl. < d > v s . ; vs. < y > ) . Diese Elemente spielen im griechischen Alphabet keine so wichtige Rolle, was bei griechischen Schülern zu ansonsten völlig unerklärlichen Fehlern wie für bunt führt. Dazu kommt für viele mit dem lateinischen Alphabet im Prinzip vertraute Schüler der Erwerb neuer Zeichen wie .

324

Zusammenfassend ist also festzustellen, daß das Diktat dem ausländischen Schüler nicht e i n e n Vermittlungsschritt abverlangt, sondern mindestens zwei, oft sogar drei. Abb. 1 verdeutlicht diesen Sachverhalt, wobei sich im gleichen Medium vollziehende Schritte horizontal, mit einem Kanalwechsel verbundene hingegen vertikal angeordnet sind. SPRECHER (Lehrer)

HÖREN

HÖRER (Schüler)

UMSETZEN

SCHREIBER.

SCHREIBER-

(Schüler)

(Schüler)

TRANSLITERIEREN

Abb. 1: Vermittlungsschritte beim Schreiben von Diktaten 3.

Ein Modell zur Fehlerkategorisierung

Es ist möglich und für die wissenschaftliche Analyse auch sinnvoll, die drei Fehlergruppen weiter aufzuschlüsseln.

So können Hörfehler entstehen durch

(a) Asyirmetrien zwischen den beteiligten durch Asymmetrien in der und (c) durch

P h o n e m s y s t e m e n , (b)

R e a l i s i e r u n g ein und desselben Phonems

K o m b i n a t i o n s asyninetrien, die auf unterschiedli-

chen Zulässigkeiten der Lautfolge beruhen. Zu (a) : Dieser Fall liegt vor, wenn L2 ein Phonem besitzt, das L., nicht aufweist. Als Beispiel kann das oben bereits geschilderte Auftreten dentaler Frikative im Englischen gelten, das für deutsche Schüler ungewohnt ist und daher bei diesen

zu Schwierigkeiten führt.

Zu (b): Dieser Fall liegt beispielsweise vor bei der uvularen Aussprache des Phonems /r/ im Deutschen. Türken ist diese /r/-Realisierung unbekannt (sie sprechen stets alveolares [ r ] oder [ r ] ) ? daher wird sie als Variante des türkischen Phonems /( / (phonetisch ein velarer Frikativ), des sog. yumusak-g, interpretiert. Zu (c): Ein klassisches Beispiel für diesen Fall stellt die Konsonantenhäufung im Deutschen dar. In Wörtern wie (du) schimpfst [ J impf st]

325

folgen in einer Silbe fünf Konsonanten ohne vokalisches Zwischenglied. Diese Art der Silbenstruktur ist beispielsweise im Türkischen nicht erlaubt, was zu Strategien wie der Insertion von Sproßvokalen, Deletion von Teilen der Konsonantengruppe oder zur Vertauschung der konsonantischen Glieder führt. Diese Beispiele zeigen, daß Hörfehler längst nicht nur durch Unterschiede in den beteiligten Phonemsystemen bedingt sein können und daß folglich eine kontrastive Analyse, die sich in einem Vergleich der Phoneminventare erschöpft, zwangsläufig zu kurz greifen maß. Auch Umsetzungsfehler lassen sich unterteilen, und zwar in solche mit L.Interferenz und solche mit L„-Interferenz. Ein Beispiel für den ersten Fall wäre die Schreibung "schön1 seitens eines Engländers (i.e. er verwendet eine in L., korrekte, in L2 jedoch unmögliche Verschriftung eines Phonems) . Der zweite Fall wird verkörpert durch Schreibungen wie 'schön' seitens eines Engländers, Türken o.a. (i.e. es wurde eine in L., unmögliche (bzw. nicht existente), in L-Zwar prinzipiell mögliche, im konkreten Fall aber unzutreffende Verschriftung eines Lautes gewählt). Die zuletzt angesprochene Fehlergruppe umfaßt die sog. hyperkorrekten Schreibungen oder falschen Analogien, die auch deutschen Schülern unterlaufen, und ist damit die einzige, die bei Deutschen und Ausländern gleiche Strategien der Behebung erlaubt. Auch bei Transliterationsfehlem können L..- oder L_-Interferenzen eine Rolle spielen. So könnte beispielsweise ein Grieche (L..-Interferenz) oder *< bas > (L„-Interferenz) schreiben anstelle von - 'das. i* Vor allem für die Gruppe der Hörfehler sind sehr elaborierte Systematiken entwickelt worden, so von Uriel Weinreich die ausgezeichnete, aber wenig beachtete Ergänzung seiner "Languages in Contact" (Weinreich 1957), aber auch die m.E. weniger gelungene, weil mit Termini der historischen Linguistik wie "Phonemzusanmenfall", "Phonemspaltung" etc. operierende von Aleksander Szulc (1973). Um die nähere Beschreibung der Umsetzungs- oder gar Transliterationsfehler hat man sich bislang weit weniger gekümmert. Diese Systematiken können hier nicht ausführlich kommentiert oder ergänzt werden. Allgemein gilt jedoch, daß sie sich in theoretisch-phonologischen Überlegungen erschöpfen und nur selten praktisch-quantitativ überprüft werden. Für die Praxis des Lehrers in Schule und Hochschule könnt es aber darauf an, ein einfach zu handhabendes Mittel zur Verfügung zu haben, mit dessen Hilfe sich die Fehlergruppen trennen lassen, denn es muß wohl kaum besonders betont werden, daß die jeweiligen Fehlerkategorien unterschiedlicher Übungs-

326

formen bedürfen. Diese Notwendigkeit tritt besonders deutlich zutage bei Fehlern, die oberflächlich ähnlich oder gleich erscheinen, in Wirklichkeit jedoch verschiedene Ursachen haben. Ein Beispiel aus mainem Material: Zwei * Schüler schreiben das Wort ärgerlich falsch - ein Türke schreibt ergerlieh, * ein Portugiese hingegen ärgelich. Im ersten Fall handelt es sich um einen Umsetzungsfehler (es wurde die im Deutschen für den Laut / / prinzipiell mögliche, im konkreten Fall jedoch unzutreffende Schreibung statt gewählt), im zweiten dagegen um einen Hörfehler (vokalisierte /r/-Aussprag ehe ist Portugiesen unbekannt und wird daher nicht als solche wahrgenommen). Wie soll aber nun der Lehrer diese feinen Unterscheidungen schnell und sicher treffen können? Die pragmatische Lösung ist weit weniger kompliziert, als man im Anschluß an das oben Gesagte vermuten könnte, Zunächst könnt es darauf an, die Hörfehler von den übrigen zu scheiden, um Hör- und Schreibübungen getrennt planen zu können. Hierzu steht auf der Basis psychophonetischer und hirnphysiologischer Erkenntnisse über den engen Zusammenhang von Sprech- und Hörvermögen ein relativ einfaches Mittel zur Verfügung, nämlich eine Prüfung der Aussprache des betreffenden Schülers. Ist er in der Lage, das fragliche Wort bzw. den Laut korrekt zu produzieren, so kann davon ausgegangen werden, daß er ihn auch korrekt perzipiert. Die Berechtigung dieser Annahme zeigt sich gleichsam ex negative an Untersuchungen mit sprachgestörten Kindern, bei denen man bei genau den Lauten, die sie fehlerhaft aussprag chen, auch Perzeptionsprobleme feststellte (L. McReynolds et al. 1975). Ist ein Fehler als Hörfehler erkannt, so hilft ein Vergleich der Phoneminventare einschließlich der Aussprachekonventionen sowie der wichtigsten Kcnibinationsregeln, eine exaktere Diagnose zu stellen. Spricht der Schüler das fragliche Wort hingegen korrekt aus, findet man durch einen Vergleich der jeweiligen Verschriftungskonventionen meist schnell heraus, wo der Umsetzungsfehler liegt. Bei Kindern mit nicht-lateinischem Alphabet in der Erstsprache kann ein Vergleich der Zeichen Transliterationsfehler offenbaren. Die für diese Arbeitsschritte erforderlichen ohrenphonetischen Grundkenntnisse sind relativ schnell zu vermitteln und sollten zum festen Bestandteil der Lehrerausbildung werden. 4. Anwendung des Modells: Ein Beispiel aus der Praxis Das hier vorgestellte Analysemcdell wurde praktisch erprobt anhand von neun Diktaten aus der siebten Klasse einer Wetzlarer Gesamtschule, um zu ermitteln, wie groß der Prozentsatz der erklärbaren Fehler ist und wie sich die

327

Verteilung der Fehler auf die verschiedenen Typen darstellt. Untersucht wurden Diktate von Schülern mit den Muttersprachen Türkisch ( 6 ) , Portugiesisch (2) und Griechisch ( 1 ) . Das Diktat wurde im Rahmen des Regelunterrichts geschrieben, war also nicht speziell auf die Belange dieser Untersuchung abgestellt. Abb. 2 zeigt eines der analysierten Diktate (T4), um einen Eindruck von Art und Zahl der Fehler zu vermitteln. In Tabelle 1 sind die Fehler nach Kategorien aufgeschlüsselt, wobei die Untergruppen (gekennzeichnet durch Kleinbuchstaben) den oben getroffenen Differenzierungen entsprechen. Tabelle 2 zeigt die prozentualen Anteile der Fehlertypen an der Gesamtzahl der Fehler. Abb. 3 schlüsselt diese Daten nach der Fehlerzahl auf, um die einzelsprachunabhängige Verteilung der Fehlertypen zu dokumentieren.

i

JJ

&

MVT ' Äff**

ft

fytMAlntfft

JLf»

*

'*

ohj. Abb. 2: Diktat T4

T1

T2

T3

T4

T5

T6

P1

P2

G1

Hörf. a

5

8

1

1

7

10

2

0

Hörf. b Hörf. c

4

5

3

0 2

0

4

8

0

1

9

0 1

0

1

Fehlertyp

3

15

12

28

4

3

1

12

27

3

0

Umsf. a

1

3

1

3

4

12

7

0 3

2

Umsf. b

0 5

4

12

0 7

0 6

Umsf. gesamt

5

15

8

5

3

6

15

7

6

nicht erklärt

7

7

3

3

1

5

11

1

1

Hörf. gesamt

0

328

Fehler gesamt

T1

T2

T3

T4

T5

T6

P1

P2

G1

24

50

15

11

5

23

53

11

7

T = türkische Schüler P = portugiesische Schüler G = griechischer Schüler Tabelle 1: Anzahl der Fehler (absolut) nach Typen Fehlertyp

T1

T2

T3

T4

T5

T6

P1

P2

G1

Hörfehler Ums. fehler nicht erklärt

50 21 29

56

27

27

20

52

51

28

30

53

46

60

26

28

63

0 86

14

20

27

20

22

21

9

14

Tabelle 2: Fehler in Prozent der Gesamtfehlerzahl

Fehler absolut 56 -

52 48 44 40 36 32 28 24 20 16 12 -

8 4 0 -

T1

P1 Hörfehler

T6

T3

P2

| Umsetzungsfehler

T4 l

G1

T5

l nicht erklärter Fehler

Abb. 3: Verteilung der Fehler (absolut) auf die verschiedenen Typen

329

Als Ergebnisse lassen sich folgende Tendenzen formulieren: - Wahrend die Qualität, d. h. die konkrete Ausprägung der Fehler von der Erstsprache der Schüler abhängig ist,

bleibt das quantitative Verhältnis

zwischen Hör- und Umsetzungsfehlem bei allen Schülern gleichen Kenntnisstandes in etwa konstant (vgl. Abb, 3). - Das Verhältnis zwischen Hörfehlem und Unsetzungsfehlem ändert sich in Abhängigkeit von der Gesamtfehlerzahl, d. h. dem Kenntnisstand des Schülers. Bei schwachen Schülern beträgt es ca. 2:1 zugunsten der Hörfehler, bei fortgeschrittenen ist die Relation etwa umgekehrt. - Knapp 2O% der Fehler lassen sich mit Hilfe des Modells nicht unmittelbar erklären. Sie können resultieren aus so heterogenen Faktoren wie speziellen Eigenheiten des Vorsprechers (z.B. denasale Aussprache bei Erkältung), Abschreiben, L,-Einfluß, aber auch Hemmungen bei der Verwendung ungewohnter Buchstaben wie < ä> oder < ß>, der vielzitierten Flüchtigkeit etc. Der Prozentsatz der nicht erklärbaren Fehler verringert sich bei wachsendem Kenntnisstand der Schüler. Dieser Befund hat für die Unterrichtspraxis zur Konsequenz, daß bei schwachen Schülern inmer zunächst - einzelsprachspezifische - Hörübungen zur Lautdiskrimination und -Identifikation im Vordergrund stehen sollten, bevor mit dem Schreibtraining begonnen wird. Die umgekehrte Reihenfolge wäre wenig sinnvoll, da "richtiges" Schreiben der Zielsprache das richtige Hören voraussetzt. Eine weitere Konsequenz besteht in der Erkenntnis, daß es zunächst unsinnig ist,

ausländische und deutsche Schüler im Rechtschreibunterricht zu-

sanmenzufassen, da sich nur in einem Teilbereich der Unsetzungsfehler die Probleme ähneln. Aus den hier angestellten Überlegungen kann man nach meiner Meinung das Fazit ziehen, daß das kontrastive Vorgehen großen explikativen Wert für die Praxis besitzt, daß jedoch seine Anwendung nur zum Erfolg führen kann, wenn der Unterricht nicht nur auf die Erstsprache der Schüler, sondern mitunter sogar auf deren individuellen Kenntnisstand abhebt. Sie zeigt überdies, daß Rechtschreibung nicht nur eine Frage richtigen Schreibens, sondern zuvorderst eine Frage richtigen Hörens ist.

Dies gilt im übrigen gleichermaßen für aus-

ländische Schüler wie für deutsche Schüler mit einem Dialekt als Erstsprache und betrifft damit einen wesentlich größeren Personenkreis, als zunächst vermutet werden könnte. Wenn die Realität in diesem Punkt hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, so ist dies mithin allein auf die Unterrichtsbedingungen an den Schulen zurückzuführen; kontrastive Phonetik und Phonologie zeigen mehr Möglichkeiten auf, als bislang genutzt werden können.

330

Anmerkungen 1

In diesem Zusammenhang sei erinnert an ein Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz von 24.5.1985 (Az 9k97/84), das es für Rechtens erklärte, einem Syrer auf Grund seiner schlechten Rechtschreihkenntnisse die deutsche Staatsbürgerschaft zu verweigern.

2 Dieses Postulat der sog. "starken Ausprägung" der kontrastiven Analyse (Rein 1983: 94) mußte sehr schnell aufgegeben werden. Diejenigen Fehler jedoch, die mittels kontrastiver Verfahren erklärt werden können, stellen die vom linguistischen Standpunkt wichtigsten und interessantesten dar. 3 Vgl. zur Einführung z.B Weinreich (1953), Lade (1957), Rein (1983) oder Nickel (1972). 4 Dies tritt besonders kraß zutage, wenn die Schüler eines oder mehrere Wörter nicht kennen. Sie sind dann gezwungen, "nach Gehör" zu schreiben und können damit evtl. vorhandenes Wissen über die - aus ihrer Sicht eigenartige - Schreibung eines Wortes nicht verwenden. 5 Weinreich (1957) nennt dies over- bzw. underdifferentiation. 6

Bereits bestehende Systematiken weisen z.T. weitere Kategorien auf. So diskutiert z.B. Rein (1983) in Anlehnung an Kufner (1971) phonetische Fehler. Sie spielen hier jedoch keine Rolle, da es sich bei ihnen ausschließlich um geringfügige Abweichungen der Aussprache handelt, die aber keine Konsequenzen für Verständlichkeit oder Schreibung mit sich bringen.

7 Griechische Schüler hätten dieses Problem beispielsweise nicht, da auch das Griechische die Phoneme / / und / / kennt. Hier wird wieder einmal deutlich, daß die Mehrzahl der auftretenden Fehler einzelsprachspezifischer Natur sind und man sich folglich davor hüten sollte, die sprachlichen Schwierigkeiten ausländischer Schüler mit dem Deutschen über einen Kamm zu scheren. 8

Der türkische Schüler hat dies offenbar bereits gelernt. Das kontrastive Vorgehen sollte sich daher nicht auf eine Betrachtung der Nonwerstöße beschränken, denn es vermag gleichermaßen Auskunft zu geben über bereits Gelerntes.

9

Bei Erwachsenen scheint dieser Zusammenhang nur noch bedingt zu gelten (vgl. Goto 1971), aber dies braucht hier nicht weiter zu interessieren.

10 Dies stellte insofern einen Nachteil dar, als nicht alle Phoneme des Deutschen mit ihren unterschiedlichen Verschriftungsmöglichkeiten gezielt eingebaut waren und daher über die kontrastiven Überlegungen hinaus keine quantitativen Aussagen etwa zur Häufigkeit der Fehler pro Phonem möglich sind.

Literatur Goto, Hironu (1971) : "Auditory perception by normal Japanese adults of the 1 sounds and 'r'." Neuropsychologia 9:317-323, Kufner, Herbert L. (1971): Kontrastive Phonologie deutsch-englisch. Stuttgart: Klett.

331

Lado, Robert (1957): Linguistics Across Cultures. Applied Linguistics for Language Teachers. Ann Arbor: The University of Michigan Press. Nickel, Gerhard (ed.) (1972): Reader zur kontrastiven Linguistik. Frankfurt am Main: Athenäum. McReynolds, L.V. / Kohn, J. /Williams, G.G. (1975): "Articulatory-defective children's discrimination of their production errors." Journal of Speech and Hearing Disorders 40:327-338. Rein, Kurt (1983): Einführung in die kontrastive Linguistik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Szulc, Aleksander (1973): "Die Haupttypen der phonischen Interferenz." Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Katmunikationsforschung 26: 111-119. Weinreich, Uriel (1953): Languages in Contact. New York: Publications of the Linguistic Circle of New York. 2. u. folgende Aufl. Den Haag: Mouton. (1957): "On the description of phonic interference ." Word 13:1-11.

VI. HISTORISCHES

ZUR GESCHICHTE DER SPRACHKULTUR IN DEUTSCHLAND: NOTIZEN ZU SCHOTTELIUS UND LEIBNIZ*

Wilfried Kürschner

Wenn wir in der Sprachwissenschaft etwas Ähnliches hätten wie Broder Carstensens Verzeichnis der Wörter des Jahres, wäre in dieser Hitliste der Begriffe seit zwei, drei Jahren die "Sprachkultur" ganz weit oben zu finden. Sie ist in aller Munde, hat den engeren akademischen Bereich verlassen und ist im letzten Jahr sogar zum Thema einer Titelgeschichte eines bekannten Hamburger Nachrichtenmagazins geworden: "Deutsch: Ächz, Würg" lautete der Titel, und im Untertitel erfuhr der Leser: "Eine Industrienation verlernt ihre Sprache" ("Der Spiegel" 28/1984, 9.7.1984). Mit dem Begriff "Sprachkultur" ist also zumindest in der öffentlichen Meinung - die Vorstellung von Sprachverschluderung, Sprachverfall, Sprachuntergang verknüpft. Diesen gelte es zu wehren wenn es denn noch möglich ist -, und Sprachkultur wird verstanden als leuchtendes Gegenbild zu den herrschenden schlechten Zuständen. Der Zufall will es, daß morgen nachmittag an diesem Ort ein Preis verliehen wird, der mit unserem Thema in engem inhaltlichem Zusammenhang steht. Morgen erhält Martin Wagenschein den Wissenschaftspreis der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache . Wagenschein ist der zweite Preisträger; 1984 wurde der Preis dem Freiburger Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger verliehen. Ich nenne den Namen der Stiftung noch einmal: "Henning-KaufmannStiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache". "Sprachpflege", "Sprachreinheit" - lange Zeit Begriffe, die der Linguist kaum in den Mund zu nehmen wagte, geschweige denn als ernst zu nehmendes Forschungsgebiet betrachten durfte, jedenfalls der Linguist, der durch die strenge Schule des Deskriptivismus gegangen war. Auch die Erinnerung an Abschnitte der Geschichte, zumal der deutschen Geschichte, in denen diese Begriffe eine unheilvolle Wirkung entfachten, war und ist nicht dazu angetan, sie bedenkenlos in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Ich erinnere an die Fremdwortstürmer, die Puristen, die zu wechselnden Zeiten mit dem Lexikon Sprachpolitik betrieben, Politik mit der Sprache und durch die Sprache. Solche Art von Sprachpflege ist wohl derzeit nicht gemeint; auch der Rückgriff auf die ursprünglich tschechische Begriffsbildung "Sprachkultur" - sie bezeichnete ein wichtiges Forschungsgebiet innerhalb der Prager Schule - deutet wahrscheinlich darauf hin, daß man als Wissenschaftler, der sich mit den hierhergehörenden Fragen be-

336

schäftigt, nicht in die Reihe deutschtümelnder Sprachpfleger gestellt werden möchte. Der Begriff "Sprachkultur" ist noch unscharf, und ich möchte an dieser Stelle den bereits zahlreich vorliegenden Definitionsversuchen keinen weite2 ren hinzufügen. Ich möchte vielmehr, wie mein Thema es verlangt, einige Streiflichter werfen auf die Geschichte der Beschäftigung mit der deutschen Sprache, und zwar auf solche Werke, in denen es um das geht, was wir jetzt mit dem Terminus "Sprachkultur" bezeichnen. Die Auswahl dieser Werke ist willkürlich erfolgt - sie ist bestimmt vom Ort, an dem das Linguistische Kolloquium in diesem Jahr stattfindet, genauer noch von der Bibliothek, in der wir uns heute abend treffen. Hier waren Justus Georg Schottelius und Gottfried Wilhelm Leibniz tätig; und sie haben - Schottelius ganz zentral, Leibniz unter vielem anderem - zu unserem Thema geschrieben. Nicht recht fündig wurde ich beim großen Wolfenbütteler Bibliothekar Gotthold Ephraim Lessing. (Dafür dürfen wir nachher in seinem ehemaligen Wohnhaus die Wolfenbütteler Gastfreundschaft und Weinkultur genießen.) Von Lessing liegen an längeren sprachlich-grammatischen Arbeiten lediglich "Beiträge zu einem deutschen Glossarium" und "Grammatisch-kritische Anmerkungen" vor, die zwar in Einzelheiten interessant sind, im ganzen aber zur Frage der Einschätzung der deutschen Sprache und des Sprachgebrauchs der Deutschen wenig hergeben. So beschränke ich mich denn im folgenden auf Schottelius und Leibniz, greife aber zu Beginn auf eine der ersten überlieferten Äußerungen über Eigenschaften des Deutschen zurück. In der Zuschrift an Erzbischof Liutbert von Mainz, die Otfrid von Weißenburg seinem Evangelienbuch voranstellt, findet sich die oft, aber meist unvollständig zitierte Stelle: Huius enim linguae [i.e. theotiscae] barbaries, ut est inculta et indisciplinabilis, atque insueta capi regulari, freno grarrmaticae artis, sie etiam in multis dictis scriptu est propter literarum aut congeriem aut incognitam sonoritatem difficilis. (Braune/Ebbinghaus 1979: 95) In meiner freien Übersetzung: 'Die Roheit dieser Sprache [d.h. des Deutschen] nämlich, ungepflegt und unbezähmbar wie sie ist und nicht daran gewöhnt, sich vom Zügel der Grammatik in Regeln fassen zu lassen, [zeigt sich auch daran,] daß die Schreibung in vielen Wörtern wegen der Häufung von Lauten/Buchstaben oder eines nicht erkennbaren Wohlklanges schwierig ist.' Hier sind um das Jahr 870 die Töne angeschlagen, die die Entwicklung der deutschen Sprache begleiten sollten: Ihr wird barbaries, Roheit, Wildheit, Unkultur angelastet, sie sei inculta, ungepflegt, unkultiviert und indisciplinabilis, unbezähmbar, nicht zu zügeln, insbesondere nicht in die Zügel grammatischer Regeln zu fas-

337

sen. Was für die Sprache insgesamt gelte, zeige sich besonders im Bereich der Schreibung. Genau dieser Bereich ist es, der auch gegenwärtig (natürlich unter geänderten Gegebenheiten) in der öffentlichen Diskussion die stärkste Beachtung findet: In dem vorhin erwähnten "Spiegel"-Artikel geht es in der Hauptsache um den vermeintlichen oder tatsächlich gegebenen Rückgang der Rechtschreibkenntnisse. Rechtschreibkultur wird mit Sprachkultur gleichgesetzt. Und von Sprachkultur redet man dann, wenn Sprachunkultur diagnostiziert wird. Neben diesem Grundstrom der Beurteilung des Deutschen gibt es aber einen zweiten, entgegengesetzten, zumindest relativierenden. Schottelius ist Repräsentant einer insgesamt positiven, ja zum Teil überschwenglichen Beurteilung des Deutschen. Zwar mischt sich bei ihm auch Kritisches ein, aber doch in der Weise, daß der Sprache bescheinigt wird, sie habe ein hohes Niveau bereits erreicht, sei aber in bestimmter Hinsicht noch verbesserbar. Schwankender dagegen ist das Bild, das Leibniz sich vom Deutschen macht. Hören wir, der Chronologie folgend, zunächst Schottelius. 1663 erscheint sein wichtigstes Werk, die "Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache".

Auf dem Titelblatt wird in barocker Weise dem Leser angekündigt, was

er erwarten darf: Zuvörderst Auskunft über "Uhrankunft/ Uhraltertuhm/ Reinlichkeit/ Eigenschaft/ Vermögen/ Unvergleichlichkeit/ Grundrichtigkeit"

die-

ser Sprache, sodann Belehrung über "die Verdoppelung/ Ableitung/ die Einleitung/ Nahmwörter/ Authores vom Teutschen Wesen und Teutscher Sprache/ von der verteutschung/ Item die Stammwörter der Teutschen Sprache samt der Erklärung und derogleichen viel merkwürdige Sachen". Letzteres geht hier ziemlich durcheinander und gibt den Inhalt der Schotteischen Grammatik nur unsystematisch und auszugsweise an. Der engere grammatische Bereich, der den weitaus größten Raum des Werkes einnimmt, soll uns hier nicht weiter interessieren, wir wollen uns auf einige der unmittelbar nach dem Haupttitel genannten Eigenschaften, die der Urankunft, des Uraltertums usw. der deutschen Hauptsprache, konzentrieren. Diese Eigenschaften beschreibt und erläutert Schottelius in den zehn "Lobreden", mit denen die "Ausführliche Arbeit" beginnt. Sprachlob also ist Schotteis Absicht, nicht Sprachklage, wie wir sie in Otfrids Bemerkungen kennengelernt haben. Negative Urteile über das Deutsche sind Schottelius zwar bekannt, doch stammen sie - so heißt es in der Zusammenfassung der zweiten Lobrede - von Ausländern. Ihnen stellt unser Autor die Zeugnisse "vieler hoher/ vortreflicher und gelahrter Männer/ die sie von jhrer Teutschen MutterSprache getahn/ und dazu angemahnt haben" gegenüber, "samt Widerlegung des

338

irrigen Uhrteihls und Deuteley/ so unterschiedliche vornehme Ausländer in jhren Schriften über die Teutsche Sprache hinterlassen" (14): Etliche Ausländer halten die Teutschen in jhren Schriften (was jhre Sprache betrift) für grobe brunmende Leute/ die mit röstigen Worten daher grummen/ und mit harten Geleute von sich knarren: ja schreiben etzliehe öffentlich/ die Teutsche Sprache hette nur ein tausent Worter in sich/ derer acht hundert von Griechen/ Hebreern und Lateinern erbettelt/ und ungefehr zwey hundert grobe Teutsche Wörter daselbst verhanden weren/ und helt man diese Hauptsprache/ als die nicht könne verstanden/ noch von anderen recht erlernet/ oder einige Lieblichkeit darin aufgebracht werden [ . . . ] . (Aus der Vorrede zur ersten Ausgabe [unter dem Titel "Teutsche Sprachkunst ...", 164l], abgedruckt in der "Ausführlichen Arbeit", o.S.) Schottelius hält dagegen, daß "die uhralte HaubtSprache der Teutschen/ eine von den allerwortreichesten/ an sich wollautend/ rein/ dabeneben prächtig und mächtig/ und also volkommen sey" (16), und untermauert dies im Stil der Zeit durch eine Fülle von Autoritätenzitaten. Wichtig sind hier nochmals die Prädikate, die Schottelius der deutschen Sprache zuspricht und die wir im einzelnen betrachten wollen. Das Deutsche ist für ihn eine "HaubtSprache". Was ist das, eine Hauptsprache? Der Terminus bezeichnet im 16. und 17. Jahrhundert die beiden klassischen Sprachen, Griechisch und Lateinisch, sowie das Hebräische. In den Kreis dieser drei Sprachen wird das Deutsche als ebenbürtig eingereiht und eine Entwicklung mitvollzogen, die die anderen großen westeuropäischen Sprachen schon früher durchgemacht haben: die Emanzipation vom Lateinischen. Wie wird nun die Eigenschaft des Deutschen, Hauptsprache zu sein, begründet? Zum einen, wie wir bereits hörten, dadurch, daß anerkannte Autoritäten zitiert werden, zum anderen aber dadurch, daß weitere Qualitäten des Deutschen nachgewiesen werden: darunter Urankunft und Uraltertum. Schottelius ist davon überzeugt, daß das Deutsche direkt auf die von Gott an Adam vermittelte Ursprache zurückgeht. Diese Ursprache sei anläßlich des Turmbaus zu Babel einer Verwirrung unterzogen worden, als deren Ergebnis 69 Sprachen entstanden. Eine davon, die "alte Celtische oder Teutsche Sprache", sei von Ascenas, einem Abkömmling Adams, nach Europa gebracht worden, wo die Ascaniter die Länder besiedelten, "die wir jetzund Teutschland/ Frankreich/ Spanien/ Engelland/ Schottland/ Norwegen/ Lapland/ Schweden/ Dennemark/ Tracien und Illirien heissen" ( 3 4 ) . Das "vornehmste[...] Haubtgeschlecht[...] der Gelten" (35) seien die Deutschen gewesen, die das Celtische am reinsten bewahrt hätten. Dies werde daran deutlich, daß das Deutsche die "Stammwörter", die "Haubtendungen der abgeleiteten" Wörter und die "Doppelungsarten hat/ helt und verwahret/ welche vormals in der alten Teutschen Sprache bekant/ üb- und bräuchlich gewesen" ( 4 2 ) . Hier wird also von Schottelius ganz in Übereinstim-

339

raung mit dem Denken seiner Zeit der Wert der deutschen Sprache mit ihrem angenotmenen hohen Alter begründet, genauer: damit, daß sie adamitischen Ursprungs sei. Aus der Menge der Abkömmlinge des Celtischen ragt sie für Schottelius dadurch hervor, daß sie dessen angenommene Eigenheiten am reinsten bewahrt hat. Diese Eigenheiten erblickt Schottelius im lexikalischen Bereich Stammwörter und Wbrtbildungsverfahren -, in einem Bereich also, der dem naiven Sprachbewußtsein als der wesentlichste erscheint: Sprache verstanden als Wortvorrat, als Nomenklaturschätz, der dazu dient, die Dinge der Welt zu benennen. Dies ist die Vorstellung des Alten Testaments - 1. Mose 2, 19-2Ga: Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen. (Luther-Bibel, revidierte Fassung von 1984) Hierauf niirmt Schottelius Bezug, wenn er die "allervollenkommeste Ertzsprache" anspricht, "welche dem Adam gegeben/ und nach welcher der Adam alle Dinge/ und zwar nach jhrer rechten Eigenschaft benähmet hat" , ( 3 3 ) . Diese Qualität der Benennung der Dinge gemäß ihrer Natur - und eben nicht arbiträr - hat sich für Schottelius auf das Deutsche-vererbt, das damit auch in diesem Punkt dem Lateinischen und Griechischen ebenbürtig ist. Hinsichtlich der Physei-TheseiFrage schließt er sich also der Position der Analogisten an: Es ist eine alte StreitFrage/ Ob die Wörter von Natur oder Kur/ oder/ ob sie wilkührlich oder natürlich weren/ jhrem Uhrsprunge nach. Viele Philosophi haben geschlossen/ was die Grichsche und Lateinische Wörter betrift/ daß selbige nicht aus einer ungefährlichen/ sondern aus sonderbarer Kraft uü tieffer Vernunft einer Natur entstanden weren [...]. Und Plato hat gesagt/ daß selbiges geschehen were/ [... ] durch ein über=Menschliches Vermögen Wir müssen auch ein solches gleichmessig von unserer Muttersprache halten/ die auch an diese Probe zuheben/ und Gegentritt zuhalten vermag. (64) Damit erfüllt das Deutsche für Schottelius auch in diesem Punkt die Anforderungen, die bezüglich der Stammwörter an eine Sprache gestellt werden: Der Stammwörter untadelhafte Vollkommenheit in einer jeden Sprache wird zweiffels ohn diese seyn: 1. Daß sie in jhren eigenen Natürlichen/ und nicht in frönden Letteren bestehen: 2. Daß sie wollauten/ und jhr Ding eigentlich ausdrükken: 3. Daß jhre Anzahl völlig und gnugsam sey: 4. Daß sie von sich reichlich auswachsen und herleiten lassen/ was nötig ist: 5. Daß sie allerley Bindungen/ Doppelungen und artige Zusammenfügungen leiten. (50f.) Punkt 2 dieser Liste habe ich gerade schon erläutert; ich möchte noch kurz auf Punkt 3 eingehen, auf die These von der Vollständigkeit des Wortschatzes.

340

In der vierten Lobrede erläutert Schottelius diesen Punkt - entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - nur kurz: Was diese Eigenschaft angeht, so hat sie für ihn

in der Teutschen Sprache jhren Beweistuhm. Es gehöret aber ein solches einem Lexico zu/ und kan es in einer kurtzen Rede nicht erzehlet werden: Es ist gnug/ alhie angedeutet haben/ daß die Zahl deroselben sich auff etliche Tausend erstrekke/ und gewißlich keiner Sprache leichtlich zuvorgebe/ sondern zuvorgehe. (65) Mit Stairniwörtern allein wird sich die Benennungsfunktion einer Sprache allerdings kaum ausfüllen lassen, und Schottelius weist daher zu Recht auf die wortschatzerweiternde Rolle der Wortbildungsverfahren hin: Dieses ist auch in Teutscher Sprache sonderlich zu wissen/ daß im Fall ein eintzeles Stamwort nicht verbanden/ in Betracht/ die Anzahl der eintzelen Dinge fast unendlich in der Natur ist/ man dennoch durch Zusammenfügung zweyer/ dreyer oder mehr Wörter ein Wort machen/ und also gründlich und wollautend ein jedes Ding aussprechen könne [...]. (65) Ich muß hier abbrechen und zusammenfassen. Das Deutsche, so könnte man in moderner Terminologie sagen, hat in Schotteis Augen bereits einen hohen Stand der Sprachkultur erreicht oder, genauer gesagt: von Anfang an, aufgrund

sei-

ner Herkunft besessen. Und: "Das Deutsche" oder "die Sprache" wird, wiederum modern gesprochen, im Saussureschen Sinn als Langue, als Sprachsystem verstanden. Die Anlagen, die Vorgaben für die Sprecher sind von hoher Qualität. Wenn dennoch sprachliche Mängel festzustellen und zu beklagen sind, so handelt es sich um Mängel im Sprachgebrauch, in der Parole: Eine mangelhafte unliebliche Rede kan nicht auf ein mangelendes Vermögen der Sprache/ sonderen auf den Mangel des Sprechers wol zeigen. (146) Dies führt Schottelius in der neunten Lobrede aus, und in dieser und der letzten, der zehnten Lobrede kommt er auf die Unzulänglichkeiten in der Handhabung der deutschen Sprache im ganzen zu sprechen, nicht ohne jeweils Heilmittel zu nennen. Den Sprachgebrauch, soweit er ihn historisch zu überblicken vermag, schätzt Schottelius negativ ein: Die Teutsche Sprache hat bishero solche Ausübungsart vornemlich gehabt/ daß ein jeder nach eigener Freiheit/ die Wörter darin geendet/ gestaltet/ geschrieben und geredt/ [... ] auch deroselben Redarten und natürliches Vermögen/ guten Theils dahinten gelassen und öfters verdrungen und verzwungen/ durch ausländische Flikkereien/ nach allen misbräuchlichen Einfallen: Welches ja warlich kein richtiges Mittel seyn kan/ die Muttersprache zu jhrer angebornen Zier/ und rechter Gewisheit völlig zubringen. Es ist zwar jedem vergönt zu parliren und zu concipiren etwas nach seinem humor und alomodo manier, aber deswegen muß nicht verboten seyn/ unsere so hochherrliehe/ reiche/ reine Teutsche Sprache aus den Quellen und Gründen der Teutschen Sprache/ wie die Griechen die Griechische Sprache aus der Griechischen/ die Lateiner die Lateinische Sprache aus der Lateinischen erhoben und ausgeübt/ auch zuerheben und auszuüben [...]. (144)

341

Und dieses zu leisten: das Deutsche aus seinen Quellen und Gründen zu erheben, das heißt: die Nonnen zu ermitteln und festzulegen und danach dafür zu sorgen, daß normgerecht gesprochen, und das heißt vor allem: normgerecht geschrieben wird - dies ist für Schottelius die Aufgabe des Grammatikers. Er unterscheidet zwischen "Alltagsgebrauch"

( 1 4 4 ) , "Alltagsrede", "Pöbelgebrauch"

(168) einerseits und der "Sprache selbst" (144, 168) andererseits. Und es geht ihm als Grammatiker um letzteres, um die Sprache selbst, um einen Sprachgebrauch, der auf reflektierter Kenntnis der Sprache beruht. Er unterscheidet zwischen dem bloßen Können einer Sprache und dem wissenschaftlich

begründeten

Kennen dieser Sprache. Das Kennenlernen setzt Schottelius gleich mit dem eigentlichen Erlernen dieser Sprache. Ich zitiere ein letztes Mal: Also ist ein grosser Unterscheid Teutsch reden oder verstehen können/ und hinwieder/ der Teutschen Sprache gründlich kündig und mächtig zuseyn: Weil der altages Gebrauch von wiegen an eingeflösset/ und durch sich selbst angenommen; Die Sprache aber/ mit nichten anders/ als durch kunstmessige Anleitung un erforderten Fleiß und Nachsinnen/ erlernet wird. (168) Kultivierung des Sprachgebrauchs besteht also in der Loslösung vom Alltagsgebrauch, besteht in der Übernahme einer Einheits- oder Hochsprache und kann nicht vonstatten gehen ohne kunstmäßige Anleitung, das heißt: ohne grammatische Unterweisung. Damit ist ein Aufgabenfeld des Deutschunterrichts umschrieben, wenn auch Schottelius, dem damaligen Stand des Schulwesens entsprechend, Unterrichtliehe Fragen und Konsequenzen seiner Auffassungen kaum anspricht. Die Zeit drängt, und ich muß Schottelius verlassen. Wie gesagt, seine "Ausführliche Arbeit" war 1663 erschienen (Schottel starb 1676). Zwanzig Jahre später etwa schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz, der Philosoph, der Universalgelehrte, eine Schrift mit dem Titel "Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben, samt beigefügtem Vorschlag einer deutschgesinnten Gesellschaft". Veröffentlicht wurde diese Schrift allerdings erst 1846. Eine zweite Schrift gehört ebenfalls in unseren Rahmen: "Unvorgreifliehe Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache", entstanden um 17OO, erstmals publiziert 1717, ein Jahr nach Leibniz' Tod. Die beiden Aufsätze sind seit kurzem, herausgegeben von Uwe Pörksen (1983), in einer Reclam-Ausgabe leicht verfügbar. Wie nicht anders zu erwarten, greift Leibniz - in der allgemeinen Sprachwissenschaft eher bekannt als Anreger einer Mathesis universalis denn als

Sprachkritiker - auf Ideen des Schottelius zurück, setzt aber eigene Akzente und Schwerpunkte.

4

Ich kann hier wieder nur auf einige Punkte zu sprechen kom-

342

men, beschränke mich auch auf die früher entstandene Schrift, die "Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben" und empfehle die beiden Werkchen zu rascher, teils amüsanter, teils betroffen machender Lektüre. Im Vergleich zur Grundstiitinung in Schotteis Lobreden ist Leibniz1 Bild von der deutschen Sprache deutlich düsterer. Wenn man den Titel der "Ermahnung an die Deutschen" nicht kennte, hätte man als Leser fast bis zur Mitte Mühe, Thema und Absicht dieser Schrift zu bestimmen. Leibniz setzt patriotisch gestimmt ein: Es ist gewiß, daß nächst der Ehre Gottes einem jeden tugendhaften Menschen die Wohlfahrt und der Ruhm seines Vaterlandes billig am meisten zu Gemüte gehen soll [...]. (47) Er spricht von einem "Vorhaben" ( 4 8 ) , mit dem er seinen Anteil zur Hebung von Wohlfahrt und Ruhm seines Landes leisten möchte. Die Denkfigur ist folgende: Auf allen Gebieten - der physischen Ausstattung, der politischen Verfassung und so weiter - steht Deutschland, wenn man es recht betrachtet, in vorzüglichem Stande da, wobei gewisse Mängel und Schwächen zuzugeben sind. Diese zu beheben ist Aufgabe des Staates. Darüber hinaus sind "noch einige Kleinigkeiten" ( 5 6 ) zu erledigen, und zwar von Privatpersonen, nicht vom Staat, nicht von den Regierungen, die mit Höherem beschäftigt sind. Was für eine Kleinigkeit Leibniz im Sinn hat, läßt er, wie gesagt, nicht sogleich erkennen, vielmehr läßt er den Leser raten, gibt ihm Möglichkeiten vor, um sie wieder zu verwerfen. Geht es ihm zum Beispiel etwa um die "Verbesserung des Schulwesens und der Universitäten" (56)? Obwohl hier einiges im argen liegt: Nein. Beweis: Dieser Bereich kann sich selber helfen, denn "die Professoren und andere, deren Beruf ist die Jugend zu unterweisen", sind "auf eine harte Weise angegriffen" worden, wobei die Angreifer nicht bedacht haben, daß unter ihnen [i.e. den Professoren] viele wohlverdiente Leute [sind], die mehrenteils tun, soviel in ihren Kräften, und sich's sauer genug werden lassen, zuzeiten auch ihre wohlmeinenden Gedanken nicht zu Werk richten können, weil ihnen Gelegenheit, Gönner, Mittel gemangelt, die Hände durch Statuten oder durch ihre Kollegen gebunden gewesen, und sonst viele Hindernisse, darüber sie selbst klagen, im Wege gestanden. Man soll also vielmehr ihnen zu helfen, als sie zu beschimpfen und zu verkleinern oder ihnen einzugreifen trachten. Es ist deshalb gegenwärtiges Vorhaben dahin gar nicht gerichtet. (56f.) Erst allmählich schält sich heraus, worum es Leibniz zu tun ist: um eine aus patriotischen Gründen gebotene Hebung der Sprachkultur. Leibniz argumentiert stets in der Weise, daß er sich entweder auf die Verhältnisse im Ausland, besonders in Frankreich und Italien, bezieht, die dort einen höheren Stand erreicht hätten, mit dein Deutschland gleichzuziehen habe. Ein Beispiel: "Gemütslust" (59) ist für Leibniz unter anderem durch "annehmliche Gedanken" zu er-

343

langen. Wie erreicht man sie? Leibniz: "Gute Gedanken" pflegen sowohl von Lesen der Bücher, worin Lust und Nutzen, als auch Besuchung solcher Gesellschaft, wo man etwas Ersprießliches hören und auch anbringen kann, zu entstehen [...]; deren beides in Deutschland also wohl nicht eingerichtet, wie es sein könnte und bei den Ausländern gespürt wird. Maßen [ . . . ] wenig rechtschaffene Bücher vorhanden, so in deutscher Sprache geschrieben [sind] und den rechten Schmack oder Saft haben, welchen einige andere Völker in ihren Schriften so wohl zu unterscheiden wissen. ( 5 9 f . ) Oder aber Leibniz argumentiert in der Weise, daß er auf gefährliche und verderbliche Folgen ausländischen sprachlichen Einflusses aufmerksam macht. Wiederum ein Beispiel: Die Sprache gilt Leibniz "gleichsam als ein heller Spiegel des Verstandes" ( 6 7 ) . Wenn sie nun nicht ausgebildet ist, werden die, so etwa einen ungemeinen durchdringenden Geist haben und das, was sie suchen, nicht zu Haus, sondern auf ihren Reisen und in ihren Büchern bei Welschen und Franzosen finden, gleichsam einen Ekel vor den deutschen Schriften bekommen und nur das Fremde lieben und hochschätzen, auch kaum glauben wollen, daß unsre Sprache und unser Volk eines Besseren fähig seien. So sind wir also in den Dingen, die den Verstand betreffen, bereits in eine Sklaverei geraten und werden durch unsre Blindheit gezwungen, unsre Art zu leben, zu reden, zu schreiben, ja sogar zu denken, nach fremdem Willen einzurichten. ( 6 3 f . ) Dies sind aus heutiger Sicht schon keine bloß patriotischen Töne mehr, sie streifen vielmehr den Bereich des Nationalistisch-Chauvinistischen. Man höre noch das Folgende, gesperrt Gedruckte: Daß die H e i l i g e S c h r i f t in i r g e n d e i n e r S p r a c h e in der Welt besser als in D e u t s c h l a u t e n k ö n n e , kann ich mir gar n i c h t e i n b i l d e n ; so oft ich auch die Offenbarung im Deutschen lese, werde i c h n o c h w e i t m e h r e n t z ü c k t , als wenn ich den V i r g i l selbst lese, der doch mein Leibbuch ist [...].(7O) Man täte Leibniz aber wohl doch Unrecht, wollte man ihn nationalistisch vereinnahmen. Denn es geht ihm ja nicht darum, in sprachimperialistischer Weise das Deutsche über die anderen Sprachen zu setzen. Ihm geht es vielmehr darum, den kulturellen Rückstand, den Deutschland besonders gegenüber Frankreich auch in sprachlichen Dingen aufweist, aufzuholen. Dies ist für ihn nicht durch Übernahme oder gar Imitation des Fremden zu erreichen, sondern durch Betonen und Wertschätzen des Eigenen, wodurch eine selbstbewußte Begegnung mit dem Fremden wieder möglich wird. Bemerkenswert scheint mir die Sprachauffassung zu sein, die uns hier entgegentritt. Sie geht weit über das hinaus, was den engeren Bereich der Grammatik umfaßt. Das, was wir heute "Pragmatik" nennen, wird von dieser Auffassung mitumfaßt, das Verhältnis von Sprache und Denken, Sprache und Kultur, Sprache und Ästhetik wird angesprochen. Die Verwobenheit der Sprache in alle mensch-

344

liehen Bezüge wird anerkannt. Und doch bleibt das Bild, das Leibniz von Deutschen seiner Zeit entwirft, merkwürdig unkonturiert. Das hängt sicher damit zusammen, daß seine Beschreibung gleichzeitig zu eng und zu weit ist.

Zu eng

insofern, als nur bestimmte sprachliche Manifestationen, nämlich geschriebene und gedruckte Texte, Gegenstand der Analyse und Kritik sind. Zu weit insofern, als aus dem Befund dieser Texte weitreichende Generalisierungen über den Zustand der Sprache abgeleitet werden, die in ihrer Pauschalität und Undifferenziertheit nicht zu überzeugen vermögen. Wenn man dies mit der gegenwärtigen Sprachkulturdiskussion vergleicht, so wird, wie ich meine, deutlich, daß in ganz ähnlichen Mustern argumentiert wird. Materiale Grundlage der Kritik sind in erster Linie geschriebene Texte; fast ausschließlich betrachtet wird deren orthographische Seite. Hier werden mehr oder weniger starke Abweichungen von der Norm, die ja für diesen Bereich besonders leicht zu ermitteln ist, festgestellt, und dieser Befund wird übertragen auf den Grad der Sprachbeherrschung insgesamt. Geradezu paradigmatisch zeigt sich dies bei der anfangs erwähnten "Spiegel"-Geschichte: Im Innern des Heftes lautet die Nebenüberschrift: "Die westdeutsche Industriegesellschaft verliert ihre Schriftkultur". Auf dem Titelblatt wird aus "Schriftkultur11 "Sprache": "Eine Industrienation verlernt ihre Sprache" ist dort zu lesen. Aufgabe der Sprachwissenschaft ist es meines Erachtens nun, hier klärend und wohl auch dämpfend einzugreifen. Klärend insofern, als der Gesamtkomplex "deutsche Sprache" in einzelne Schichten zu zerlegen ist,

die zunächst jeweils für sich zu betrachten und zu be-

schreiben sind. Rückschlüsse vom Grad der Beherrschung der Elemente einer Schicht, etwa der orthographischen, auf andere Schichten oder gar auf die Qualität der Sprachbeherrschung insgesamt können nur mit größter Vorsicht vorgenommen werden oder müssen unterbleiben. Und genau so vorsichtig ist beim Schließen von Sprachvermögen, von Sprachbesitz auf Kulturbesitz zu verfahren. Die Zusammenhänge sind hier viel zu wenig geklärt, als daß sichere Korrelationen behauptet werden dürften.Insofern, meine ich, sollten Sprachwissenschaftler hier dämpfend wirken und vor voreiligen Schlüssen warnen. Dies ist um so dringlicher, als das Thema "Sprachkultur" die Grenzen der innerfachlichen Diskussion überschreitet und eine der wenigen sprachwissenschaftlichen Fragen von öffentlichem Interesse ist.

Die Fachwissenschaft ist gefordert,·

und es ist erfreulich, festzustellen, daß sie sich des Themas"Sprachkultur" erneut anzunehmen beginnt.

345

Anmerkungen * Im Rahmen des Linguistischen Kolloquiums am 17.9.1985 in der AugusteerHalle der Herzog-August-Bibliothek Wblfenbüttel gehaltener öffentlicher Vortrag. 1 Näheres dazu bei Schmitz (1984). 2 Einen der differenziertesten Versuche der Begriffsbestimmung bieten Härtung et al. (1984). 3 Leider ist der von Wolfgang Hecht 1967 herausgegebene Nachdruck nicht mehr erhältlich. In einer Zeit erneuter, vermehrter Hinwendung zur Wissenschaftsgeschichte der Linguistik wäre ein Neudruck dringend erwünscht. 4 Man vergleiche dazu Schmarsow (1877).

Literatur Braune, Wilhelm (1979): Althochdeutsches Lesebuch. Bearbeitet von Ernst A. Ebbinghaus. Tübingen: Niemeyer, 16. Aufl. Härtung, Wolfdietrich / Ising, Erika / Kempcke, Günther / Ludwig, KlausDieter / Motsch, Wolfgang / Techtmeier, Bärbel / Viehweger, Dieter / Wurzel, Wolfgang Ullrich (1984): "Thesen zur Sprachkultur." Zeitschrift für Germanistik 5: 389-400. Pörksen, Uwe (ed.) (1983): Gottfried Wilhelm Leibniz. Unvorgreifliehe Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. Zwei Aufsätze. Stuttgart: Reclam. Schmarsow, August (1877): Leibniz und Schottelius. Die unvorgreifliehen Gedanken. Straßburg: Trübner. Schmitz, G. (1984): "Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache." Deutsche Sprache 12: 382. Schottelius, Justus Georg (1663): Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig: Gh. F. Zilliger. - Nachdruck: Tübingen: Niemeyer (1967 ).

ARGOT - EINE SAKRALE SPRACHE? Jifina van Leeuwen-Turnovcova

Die Bezeichnung "Argot" verwende ich für jene Soziolekte, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen europäischen Sprachbereichen als "cant", "calao", "germania", "gergo", "lingua furbesca", "argot", "jargon", "Rotwelsch", "hantyrka", "hlatnaja muzyka", "ofenskij jazyk" u.a. bekannt sind. Zum soziolinguistischen Status des Argot nur folgendes: Argot ist eine besondere Sondersprache. Als solche 1)

e r f ü l l t es 2 Funktionen:

Wie die übrigen Fachsprachen entspringt es den erwerbsmäßigen Bedürfnissen

einer Gruppe; 2)

Im Unterschied zu den gängigen Fachsprachen ist es ein intentional einge-

setztes Mittel der gruppeninternen Kommunikation bzw. der gruppenexternen Nichtkommunikation. Aus der besonderen Stellung der artgotverwendenden Gruppen gegenüber der Hauptgesellschaft ergeben sich die Eigentümlichkeiten,

die den Status von Argot

als besondere Sondersprache ausmachen. Es sind: 1)

der von der lexikalischen Umwandlung b e t r o f f e n e Objektbereich;

2)

die Identifizierurigsfunktion, die die Argot-Verwendung endogen und exogen

leistet; 3)

die semantische Undurchsichtigkeit der Lexik.

Heute gilt Argot als Idiom von sozial deklassierten Gruppen, v . a . der der Kriminellen und des ihnen nahestehenden Milieus. Das war es aber nicht immer. Im 19.Jh. sehen wir unter den Argot-Sprechern neben den professionellen Kriminellen, den Hehlern und den Dirnen auch ambulante Händler, ambulante Handwerker (Handwerksburschen, Scherenschleifer, Kesselflicker, Zinngießer), ambulante Saisonarbeiter (Maurer, Hanf- und Flachssammler), in schläger, Hutwalker, Schneider, Töpfer

Rußland ferner Wollen-

sowie die professionellen Bettler, die

sogenannten "lirniki", "starcy", "dedy", "krestovniki". 1 Im 18. und 17.Jh. sind es neben den Kriminellen v . a . die fahrenden Leute, die Briganten und die professionellen Bettler ; im 16. und 15.Jh. die professionellen Bettler, die fahrenden Leute, die Briganten und Vaganten. Diese Auflistung macht deutlich, daß die Zusammensetzung der Gruppen der Argot-

348

Sprecher im Laufe der Zeit stark variiert.

Sie ist

in der Neuzeit am hetero-

gensten. Diese Beobachtung f ü h r t mich zu folgender Annahme: 1)

Das Argot der Neuzeit ist

funktional mit dem des Mittelalters nicht iden-

tisch. 2)

Das Argot des Mittelalters ist mit puren soziologischen Kriterien nicht zu

erklären. Parallel mit der Erweiterung der argotverwendenden Gruppen zum 19.Jh. hin beobachten wir ein Anwachsen fremdsprachiger Entlehnungen. Zu den alten Lexikspendern treten das Jiddische und das Zigeunerische hinzu, im 18. und 19.Jh. 2 werden diese beiden Sprachen mit dem Rotwelsch schlechthin gleichgesetzt. Die Heterogenisierung der argotverwendenden Gruppen hat ihre sozio-historischen Ursachen. Es sind: die Pauperisierung der Bevölkerung im Laufe der industriellen Revolution, die Flucht der Landbevölkerung in die expandierenden Städte, der Untergang der mittelalterlichen Korporationen

sowie diverse Ver-

folgungswellen. Diese Veränderungen schlagen sich einerseits in der konstatierten Zunahme der argotsprechenden Gruppen nieder, andererseits darin, daß das Argot selbst einige Merkmale einbüßt, die seine Existenz als exklusive Sprache exklusiver Gruppen ausmachten. Unter derartigen Merkmalen verstehe ich die sakrale, initiationsartige Funktion des Argot, die zusammen mit weiteren Ritualen (etwa A u f nahmeriten) zur Herstellung und Aufrechterhaltung einer Gruppenidentität trug. Die mittelalterlichen Argot-Sprecher

bei-

gehören nämlich nicht nur sozial

deklassierten, sondern sozial stigmatisierten Gruppen an. Dies will ich weiter unten ausführen. Die Kerngruppe der deutschen Argotsprecher

bestand im Mittelalter aus Verbre-

chern und Bettlern. Dafür sprechen die Bezeichnungen "Spitzbuhensprache", "Rotwelsch". "Rotwelsch" geht auf

rotten

- 'betteln 1 zurück. Als "welsche" galten

die romanischen, allgemein alle unverständlichen Sprachen. "Für das Volk war der Begriff des Welsch-Sprechens auch mit dem wählen, dem Walisch, dem italienischen, dem fremden Händler verbunden"(Wolf 1956^9). Die Übereinstimmung und Dichotomie zwischen dem Krämerwelsch/Kauderwelsch ( kaudern

ist 'Zwischenhandel

treiben'), dem Krämerlatein und dem Argot der gesellschaftlichen Randgruppen 4 bleibt während der verfolgbaren Geschichte des Argot bestehen. Wenn desgleichen die englische Gaunersprache sowohl als thieve's latin, Diebeslatein, wie auch pedlar's french, Krämerfranzösisch, und die tschechische Diebessprache hantyrka auch als kramarska rec, Krämerspräche, bezeichnet werden, dann ist das mehr als eine nur sprachliche Übereinstimmung. Es bezeugt vielmehr die frühe Zugehörigkeit der herumziehenden Händler zum Kreis der Rotwelschsprecher. (Wolf 1956:10).

349

Lt. Wolf findet sich die älteste Nachricht über diese Sprache 1475 bei Mathias von Kemnat. Er schreibt, die Landfahrer würden ihre Sprache "Rotwelsch" oder "Keimisch" nennen. Der "Keim" ist der Jude. Seit Karl d. Großen wurde der deutsche

Fernhandel vorwiegend von jüdischen Kaufleuten betriehen. In ottonischen

Urkunden

sind

"judeus" und "mercator" gleichbedeutend. "Keimisch" ist

als

'kaufmännisch' aufzufassen. Mir scheint,

daß

es

sich hier um eine Gleichsetzung der ethnischen bzw.

kulturellen und professionellen Sphäre handelt, die auch später ihre Parallelen hat. Der Händler ist aber zunächst der Jude. Der Jude ist der Nicht-Christ, der Anti-Christ. Auch er - in seiner religiösen und berufsmäßigen Zugehörigkeit e r f ä h r t das Los der übrigen gesellschaftlichen "outcasts". Solche "outcasts" sind im Mittelalter keineswegs die berufsmäßigen

Krimi-

nellen oder die Bettler allein. Zu den Stigmatisierten gehören zahlreiche Ber u f e , die durchaus "nutzstiftende

Organe des Volkskörpers" (Danckert 1979:9)

sind, wie Leineweber, Müller, Bader usw. Soweit sie ihren Beruf kollektiv betreiben, gehören sie zu den Argot-Sprechern. Der ökonomische Status solcher Gruppen möchte sich mehr oder weniger von dem der "ehrlichen" Berufe unterschieden haben. Ihre gesellschaftliche Stellung war aber nicht die einer niedrig eingestuften

Kaste, sondern die der Befleck-

ten, der Bemakelten. Nicht nur der Kontakt mit diesen bemakelten Personen,

son-

dern bereits die Berührung ihrer "unehrlichen" Werkzeuge" konnte den Ausschluß aus der Zunft zur Folge haben. War der Kontakt unvermeidlich, bedurfte es komplizierter Rituale, um die sakrale Befleckung zu annullieren. In seinem Buch "Von unehrlichen Leuten" beschreibt Otto Beneke 1889 folgende Berufe als "unehrlich": - die Hirten, Schäfer, Müller; - Spielleute aller Art ( K ä m p f e r , Gaukler, Musikanten, Schauspieler); - Staats- und Gemeindediener (Zöllner, Totengräber, Bettelvögte, Nachtwächter); - Schergen, Gerichts- und Polizeidiener; - Scharfrichter und seine Gesellen (Abdecker, Schinder); - und Leineweber. Lt. Danckert(1979) galten ferner Hundshautgerber, Sauschneider, Schornsteinfeger, Töpfer, Ziegler neben den Bettlern und den fahrenden Frauen als "unehrlich". Die oben aufgezählten Berufe lassen sich folgendermaßen einteilen: 1)

Berufe, die mit dem Töten und Bestatten von Menschen und Tieren zu tun haben,

sowie solche, die Reste von getöteten domestizierten Tieren verarbeiten;

350

2)

Berufe, die die leibliche Pflege des Menschen zur Aufgabe haben und die

Sphäre seiner Sexualität berühren (von den Badern über Marktschreier bis hin zu den Prostituierten); 3)

Berufe, die primäre Rohstoffe wie Erde, Leinen verarbeiten ;

4)

Berufe, die das negative Charisma alter kultischer Spiele tragen und gegen

das christliche Brauchtum verstoßen (alle Arten von Spielleuten). Juristisch waren alle Mitglieder dieser Berufsgruppen rechts- und standeslos,

deshalb auch unehrlich.

Die Ausdrücke "unehrlich" und "ehrlich" hatten [...] einen ganz anderen Sinngehalt und Umfang als heute, einen sakral-magischen Kern, Q··]· Das alt- und mittelhochdeutsche "era", "ere" bedeutete u.a. auch ' G n a d e ' , 'Gab e ' , 'Scheu', 'Friede'. Noch ältere idg. Wurzelformen besagen (so viel wie): ' E h r f u r c h t 1 , 'Scheu', 'Verehrung 1 . (Danckert 1979:15). Rechtlosigkeit bedeutete nicht die Ausstoßung aus dem allgemeinen Rechtsschutz, f ü h r t e also nicht notwendig zur Friedlosigkeit.

Sie bedeutete den Verlust der

durch die Standeszugehörigkeit bedingten Rechte, also die juristische Festschreibung der Standeslosigkeit. Obwohl unter dem Schutz des Strafrechts stehend, hatte der Rechtlose keinen Anspruch auf Wergeid. Ihm stand nur eine symbolische Scheinbuße zu. So d u r f t e etwa der beleidigte Spielmann nur den Schatten seines Beleidigers schlagen. Die Unehrlichkeit ist,

wie aus diesen Ausführungen deutlich w i r d , eine kultur-

historische Kategorie. Sie hat nichts mit der Verwechslung von "Mein" und "Dein" zu tun. Vielmehr ist sie eine verspätete Folge der sozio-kulturellen Umwälzung, die die Sippengesellschaften im Verlauf der Völkerwanderung und während der Etablierung des Feudalismus erlebt haben. Wesentlich dabei war der Einfluß der neuen Religion, die alte heidnische Bräuche dämonisiert hatte. Von dieser Dämonisierung waren v.a. die Sphären der Lebenserschaffung und der Lebensvernichtung in ihrer zyklischen V e r k n ü p f u n g und allgemein die der Fruchtbarkeit b e t r o f f e n sowie die der ehemaligen kultischen Zeremonien,

die im Volksbrauchtum eine do-

minante Rolle gespielt haben und deren Bewahrer die Spielleute waren. Sie - die Spielleute - waren zeitweise sogar aus der religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen. Den von Berufs

(und folglich auch von Geburts)

wegen Standes-

losen - den Söhnen der Müller, Bader, Leineweher und aller anderen "unehrlichen" Berufsgruppen - war die"Ehrlichmachung"durch die Aufnahme in eine Zunft versagt. Die Leineweber, Töpfer, Ziegler

sowie die Schmiede (die bezeichnenderweise

nicht als "unehrlich" galten, sofern sie seßhaft waren und demselben Ethnikum wie die Hauptgesellschaft angehört hatten) hatten mit einer magisch besetzten Umwandlung der Natur zu tun. Ihren Frauen wird regelmäßig Prostitution nachgesagt.

351

Nicht die Unterschlagung eines StoffStückes, sondern die geheimnisvolle Beschäftigung mit dem Mysterium der Erschaffung ist der Grund für die - nun dämonisierte- E h r f u r c h t . Viele aus den genannten Berufssparten galten einerseits als erfahrene Mediziner, andererseits als heimliche Hexer. Die Anschuldigungen speisten sich aus einer verdeckten urtümlichen Heiligkeit, die durch den Glaubenswechsel "verdrängt", entstellt und dämonisiert worden war und dennoch - nun in verzerrQ

ter Gestalt - weiterwirkte.

Zu fragen bleibt, warum diese Umkehrung, die Un-

ehrlichsprechung, so spät kommt: Sie erreicht ihren Gipfel zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert. Warum bestand sie nicht von Beginn der christlichen Mission an? Mir scheint, daß die Stigmatisierung erst einsetzt, als die expansive und quantitative christliche Mission abgeschlossen

w a r . Das Bekehrungsinteresse

konzentrierte sich seit dem späten Mittelalter auf die innere Mission, auf die Liquidation des heidnischen vorchristlichen Brauchtums. Wenn wir so wollen, haben wir hier eine gesellschaftspolitische Abrechnung mit jenen sakralen Elementen, die durch die neue Religion nicht integriert werden konnten. Diese Abrechnung ist nicht allein die Angelegenheit der Kirche. Sie wird von der Gesellschaft - den staatlichen/fürstlichen Autoritäten sowie den selbstverwalteten Körperschaften - betrieben.Das Mittelalter ist extrem korporativ. Die Gruppenzugehörigkeit ist eine Lebensnotwendigkeit. Alles organisiert sich in Gruppen; die Gilden und Z ü n f t e übernehmen dabei die Rolle alter Sippenverbän— de, alter Nachbarschaften und Schwurgemeinschaften.

Sie setzen praktisch das

System der Altersklassen f o r t und tragen zu einer gruppenmäßigen Umschichtung der Gesellschaft

bei. Die Gruppenzugehörigkeit bedeutet gleichzeitig eine Ab-

grenzung. Diese Abgrenzung wird auch auf die Juden und die Zigeuner ausgedehnt. In der Soziolinguistik sind die Argot-Gruppen als Mitglieder eines sozial deklassierten Milieus beschrieben worden. Diese Beschreibung reicht aber nicht aus, um die Besonderheiten der mittelalterlichen "outcasts" zu erfassen.

Zieht

man nun die kulturanthropologischen Konnotate der Argot-Gruppen in Betracht, findet man einen Berührungspunkt mit den Sonder- und Geheimsprachen der archaischen Gesellschaften. In jenen wie in diesen f ü h r t die Stigmatisierung regelmäßig

zum Zusammenschluß der Stigmatisierten. Sie wird zum Zeichen eigener 12 Identität. Die Sprache spielt in dieser Situation eine enorme Rolle. Sie ist

das Band, welches die Gruppenidentität stützt. Es treten Rituale hinzu, die wir auch aus anderen Bereichen kennen - Aufnahmeriten sind ja auch in den Zünften ... 1 . . 13 üblich. Die Frage, ob Argot eine spontane oder eine künstliche Sprache ist, ist viel diskutiert worden. Die Lexik spricht für beiderlei. Der Umstand aber, daß wir

352

im Argot - und ganz besonders im Argot einer noch nicht erwähnten Gruppe: der Kinder - regelmäßig kombinierte Lautumstellungen antreffen , spricht für eine gewollte Verstellung. Im Kinderargot sieht man gerne den naturgegebenen spielerischen Trieb wirken.

In Wirklichkeit handelt es sich auch hier um eine sozial

bedingte Sondersprache. Die Kinder sind (wie die Frauen) keine Mitglieder der Hauptgesellschaft. Auch ihr Argot ist ein Identitätsmittel. Der österreichische Ethnograph Richard Lasch bestimmt 3 Momente als wesentlich für die Herausbildung von Sondersprachen.

Es sind das ökonomische, das soziale

und das religiöse Moment. Das ökonomische mit dem religiösen ist

an der Heraus-

bildung von Jäger- und Fischersprachen beteiligt, das soziale und ökonomische an der Etablierung von Frauensprachen. Bei der Herausbildung von Priester- und Geheimbundsprachen wirken das religiöse und soziale Moment gemeinsam. So auch hier. Lt. van Gennep (1908:327ff) entspricht der Grad der sprachlichen Spezialisierung dem der beruflichen. Vom Maße der Spezialisierung oder allgemein der Absonderung und von der Art der Einbindung der ausgeübten Tätigkeit in den Bereich des Sakralen oder Profanen hängt das Maß der sprachlichen Absonderung ab. Zeugnis solcher Spezialisierung ist die sakrale Verwendung von toten Sprachen zu kultischen Zwecken.

Die Sprache der anerkannten Berufe steht der Gemein-

sprache am nächsten. Je größer die K l u f t , desto größer der Abstand der Gruppenvon der Gemeinsprache. Beim Argot geht die allgemeine Stigmatisierung mit der ökonomischen Spezialisierung einher und determiniert vollständig die soziale Existenz der genannten Gruppen. Deshalb deckt der von der lexikalischen Umwandlung betroffene Objektbereich nicht nur die ökonomische Sphäre ab, sondern erstreckt sich auf alle wesentlichen Lebensbereiche. Zumindest für das mittelalterliche Argot scheint mir die Annahme gerechtfertigt, daß es sich um eine

Sprache handelt, die sakrale Konnotate trägt. Solche

Konnotate sind übrigens noch im 19.Jh. deutlich. So verwenden etwa die Saisonarbeiter, über die von Wartburg (19395381) berichtet, ihr Idiom erst, wenn sie die Avignon-Brücke überschritten haben. Die sakralen Konnotate sind an der Haltung zum Sakralen ersichtlich: Ein Tabu verbietet die Weitergabe der ArgotKenntnisse an Nichteingeweihte, die Erlernung von Argot hat eine initiationsartige Bedeutung. Eine des Argot unkundige Person kann sich nicht als Gruppenmitglied ausweisen. Aus dem Frankreich des 16. und 17. Jh. wird über die systematische Erlernung 18 bzw. Schaffung des Argot berichtet. Auch im England des 16. Jh. spielt die Erschaf-

353

fung einer Geheimsprache die Rolle eines Ubergangsritus. Die französischen Coquillarden, mit denen Fran?ois Villon Umgang pflegte, sollen zeitweise 500 bis 1000 Mitglieder gezählt haben. Ein Zeugnis von 1628, geschrieben von Olivier Chareau: "Le jargon de l'argot reforme",spricht von der Gründung einer 19 Gaunerzunft, von künstlicher Sprache und Aufnahmeriten. In Frankreich sowie in Spanien unterscheidet man 2 historisch nachfolgende Argot-Schichten. Das alte englische "kennick", eine niedere Art des "cant" soll im wesentlichen seine keltischen Bestandteile aus der "shelta"-Sprache geschöpft haben. Dieses Idiom soll bis 1845 völlig unbekannt gewesen sein; es war das Idiom der wandernden Iren, die bis zur Verbreitung des Eisenbahnverkehrs in Großbritannien extrem geschlossene Korporationen bildeten und von denen angenommen wird, sie seien Nachkommen der frühen Bronze-Schmiede. Das Schmiedehandwerk ist ein a priori 20 , i sakrales. Das Sakrale liegt nicht im Gegenstand selbst, sondern in der Haltung zu ihm in unserem Falle in der Haltung zu der Sondersprache. Die Zeugnisse über das alte Argot sind rar. Man sieht zwar die prekäre Stellung der mittelalterlichen 2l Argot-Sprecher, versucht sie aber lediglich soziologisch zu erfassen. Argot wird als ein Idiom gesehen, das weder in die Kategorie der Fachsprachen, noch in die der Gruppensprachen paßt.

In der Undurchsichtigkeit der Lexik sieht

man eine gewollte Gesellschaftsbekämpfung. Die Verbindung mit den aus der Ethnologie bekannten Geheimsprachen scheint verlorengegangen zu sein. Ich glaube, sie ist gerade in der sakral-magischen Stigmatisierung der mittelalterlichen Gruppen zu suchen. Diese Stigmatisierung wirkt sich in zwei Richtungen aus:

Sie wird von der stigmatisierten Gruppe aufgegriffen und mit

entsprechend umgekehrter Wertung zum Identifikations-

und Identitätsmerkmal

gemacht. Die Verwendung von Argot wird zum Zeichen der Andersartigkeit, der Überlegenheit. Nicht zufällig heißt das deutsche "henese Fleck" die 'schöne Sprache 1 , das "Schlausmen"der sauerländischen Sensenhändler die 'kluge Sprache', das oberdeutsche "Jenisch" die 'weise Sprache', das "loddekolisch" der Karels22 berger Händler die 'heilige Sprache' .

Anmerkungen 1

Vgl. Dauzat(1917:7ff.) ; Stumme(1903); v . W a r t b u r g ( 1939); Zirmunskij(1936); Jagic(1896).

2

Lt. Lerch(1976:149) enthielt das Rotwelsch des Liber Vagatorum(1510) etwa 10% hebräische Entlehnungen. Im 19.Jh. weist das Manische in Gießen, das der oberdeutschen jenischen Argot-Gruppe zugerechnet w i r d , neben etwa 11,'

354

jiddischen auch 70% zigeunerische Entlehnungen a u f . 3

Lt. Arnold(1958) geht der Zustrom der Vaganten in Deutschland im 17.Jh. einerseits auf die Zigeunerverfolgungen in Frankreich unter Ludwig dem X I V . z u r ü c k , andererseits auf den Zustrom der Zigeuner vom Balkan. Auf die im 19.Jh. entstandene Symbiose des Argot mit der niederen Umgangssprache der Städte macht z.B. Sainean(1920) aufmerksam. Trost(1935) hebt die Überna'-T.e der Argotismen in die Sprache der Prager Boheme in den 20er Jahren des 20.Jh. hervor.

4

Vgl. Wolf(1956:10).

5

Vgl. W o l f ( e b d . ) .

6

"Rotwelsch ist nicht auf das eigentliche Gaunertum beschränkt, nicht nur auf die Diebe und Räuber, Bettler und Vagabunden, sondern auch alle die Gewerbe, die im Mittelalter als u n e h r l i c h gebrandmarkt wurden [.. .] wie Hausierer, Marktschreier,fahrend Volk, Spielleute, Scharfrichter, Abdecker und Totengräber kannten das Rotwelsche, so wie es heute außer den Gaunern und Landstreichern, den Dirnen und Zuhältern die Handwerksburschen und in verschiedenen Gegenden die Hausierer [. .. ] noch sprechen."(Schirmer 1913:10). "Scharfrichter-, Abdecker-, Schindersprache [1.813 in Leipzig aufgezeichnet] stimmt mit dem Rotwelschen voll ü b e r e i n , nur benutzten sie manche Ausdrücke in b e r u f l i c h eingeengter Bedeutung."(Wolf 1954:290).

7

Das Mittelalter unterscheidet 3 Stufen verminderter R e c h t s f ä h i g k e i t : (1) die Gerichtsunfähigkeit (der B e t r o f f e n e kann keinen Leugnungseid leisten und nicht als Zeuge vor Gericht aussagen), (2) die E r b u n f ä h i g k e i t (der Betroffene kann nicht als Erbe e i n t r e t e n ) , (3) die Friedlosigkeit. Lediglich die Friedlosigkeit bedeutete den absoluten Verlust aller Rechte. Friedlos w a r , wer sein Leben und Blut verwirkt hat - er konnte jederzeit s t r a f l o s erschlagen werden.

8

Der Vorwurf der Prostitution ist fast 'durchweg mit dem der Unehrlichkeit verbunden. Entweder w i r f t man den Ehefrauen der Mitglieder der unehrlichen Ber u f e die Prostitution v o r , o d e r man weist den unehrlichen Z ü n f t e n die Aufsicht über die Bordelle zu und verabscheut sie reflexiv d a f ü r . Als Heiden gelten die Fahrenden allemal. Noch Ende des 19.Jh. galten den Seßhaften lt. Arnold (1958:34) die fahrenden Hausierer als Heiden, von denen man sich fernhalten muß. An der emotionalen Abneigung gegen die Schinder, Totengräber und gewisse Staatsdiener, wie Polizei oder Gefängniswärter,hat sich nicht viel geä n d e r t . Nur scheint ihr Grund rationaler geworden zu sein.

9

Vgl. Danckert(1979;18). Danckert geht der Umkehrung der sakral-magischen Vorstellungen nach und schildert sehr überzeugend die mittelalterliche Dämonisierung der "unehrlichen" Werte.

10

Vgl. hierzu die sehr aufschlußreiche Arbeit von Cordt(1984).

11

Die k i r c h l i c h e Judengesetzgebung am Ende des Hochmittelalters (3. Laterankonzil 1179 und 1215) f ü h r t e zur vollständigen Isolierung tums innerhalb der christlichen Welt und das Verbot christlicher Die Gesetzgebung gegen die Zigeuner setzt dagegen erst im 16.Jh. geuner erschienen in Europa erst im 15.Jh.

12

Die Umwandlung des Magisch-Sakralen ins Dämonische, die wir hier beobachten k ö n n e n , w i r d begleitet von der V e r f o l g u n g der personifizierten Dämonen in Gestalt der Hexer und Hexen.

13

Es gibt kein G r u n d , den raren Quellen des M i t t e l a l t e r s , die von der Z u n f t und der Sprache der Verbrecher b e r i c h t e n , nicht zu glauben. Aufnahmeriten etwa, die zweifellos eine d i r e k t e Fortsetzung der alten heidnischen Über-

und 4. des JudenBerufe. an. Die Zi-

355

gangsriten sind und von der Kirche geduldet wurden, obwohl sie gegen vieles verstießen, was die Kirche propagierte, wurden im Mittelalter von jeder Zunft praktiziert. In verwässerter Form sind sie bis heute erhalten geblieben. Zu den historischen Initiationsriten der Zünfte vgl. Kohn(1922). 14

Die mechanische Umstellung b e t r i f f t folgende Verfahren: Metathese, Epenthese, Aphärese, Anagram, Assimilation, Dissimilation, Agglutination, Apoklope, Reduplikation und verschiedene Kombinationen dieser Verfahren.

15 Vgl. Lasch (1907:161), aber auch Oberpfalzer(1934:207). 16

Lasch(1907:92ff).

17

Dies ist der Fall mit Sanskrit in Indien, mit Latein in den katholischen Ländern, mit Altkirchenslawisch in der Orthodoxen Kirche. Vgl. van Gennep (1908:329).

18 Vgl. Stein(1974). 19

Vgl. v.Wartburg(1939:377).

20

Vgl. Leland(1889:14f).

21

Eine Ausnahme bildet Graf(1974), der eine solche Verbindung zumindest postuliert, ihr aber nicht nachgeht.

22

Vgl. Etymologie bei Stumme(1903) ; Wolf(1956).

Literatur Arnold,H.(1958): Vaganten, Komödianten, Fieranten und Briganten. Stuttgart. Beneke,0.(1889): Von unehrlichen Leuten. Berlin. Cordt,E.(1984): Die Gilden, Ursprung und Wesen. Göppingen. Danckert,W.(1979): Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe. Bern u. München. Dauzat,A.(1917): Les argots de metiers franco-provencaux. Paris. G r a f , H . J . ( 1 9 7 4 ) : Der Henese Fleck. Eine alte Geheimsprache der Kiepenträger aus Breyell am linken Niederrhein. Kempen. Gennep, A. van (1908): "Essai d ' u n e theorie des langues speciales." Revue des etudes ethnographiques et sociologiques 6-7Jagic, V. (1896): "Die Geheimsprachen bei den Slaven." Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien. Kohn, E. (1922): "Die Initiationsriten der historischen Berufsstände." ßernf e l d , S. '(ed.): Vom Gemeinschaftsleben der Jugend. Leipzig/Zürich/Wien. Lasch, R. (1907): "Über Sondersprachen und ihre Entstehung." Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 37. Leland, Ch. G. (1889/1967): "History of English slang." Barrere, A./Leland, Ch. G. (eds.): Dictionary of Slang, Jargon and Cant. Detroit. Lerch, H. G. (1976): Das Manische in Gießen. Die Geheimsprache einer gesellschaftlichen Randgruppe, ihre Geschichte und ihre soziologischen Hintergründe. Gießen.

356

Oberpfalzer, F. (1934): "Argot a slangy." aeskoslovenska vlastiveda III. Praha. Sainean, L. (1920): Le langage parisien au XIX siecle. Paris. Schirmer, A. (1913): "Die Erforschung der deutschen Sondersprachen." GermanischRomanische Monatsschrift 5. Stein, A.L. (1974): L'Ecologie del'Argot ancien. Paris. Stumme, H. (1903): Über die deutsche Gaunersprache und andere Geheimsprachen. Leipzig. Trost, P. (1934): "0 prazskem argotizovänt." Slovo a slovesnost 1. Wartburg, W. von (1939): "Vom Ursprung und Wesen des Argot." Germanisch-Romanische Monatsschrift 18. Wolf, S.A. (1954): "Zur Geschichte des Rotwelschen und seiner Erforschung." Muttersprache 64. (1956): "Aus der Geschichte des Rotwelschen und seiner Erforschung." Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. Mannheim. Zirmunskij, V . M . (1936): "Professional'naja leksika, zargony, argo." Nacional'nyi jazyk i social'nye dialekty. Leningrad.

FRANZÖSISCHE NAMEMDEUTUNGEN IM MITTELALTER

Wolf-Dieter Heim

Ernst Förstemann (1852: 1-2) eröffnete Band 1 der "Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen" mit einem grundlegenden Aufsatz "Ueber deutsche Volksetymologie". Darin forderte er, eine '"geschichte der etymologie'" zu verfassen, um eine verachtete Geistesübung zur Wissenschaft zu erheben. "Drei Richtungen etymologischer thaetigkeit" wollte er in dem Werk unterschieden wissen: "die volksthuemliche, die gelehrte und die wissenschaftliche etymologie; die erste ist die älteste und niedrigste, die dritte die neuste und hoechste stufe". Der Neologismus "Volksetymologie" blieb umstritten, anerkannt wurde der Gegenstand (Baidinger 1973: 7, Anm.), der nicht nur Beachtung bei Linguisten verdient (Grau 1938: 24) Trotz Isidors berühmter "Etymologiarum libri" war der Begriff volkssprachigen Autoren im MA. kaum geläufig (Zumthor 1958: 881-86). Ferner noch lag es ihnen, Wortgeschichte systematisch zu ergründen. Diglossische Schriftgelehrte rom. Länder wußten ihre intuitive Kenntnis der Lautregeln folgerichtiger Worterklärung nicht dienstbar zu machen. 1.

Die Volksetymologie

verfolgt - von Kalauern abgesehen - praktische Ziele. Sie will unverständliche Wörter und EN. oder nur Bestandteile davon verdeutlichen, indem sie anstößige Sprachelemente geläufigen angleicht. Dabei geht sie meist gewaltsam, ohne Rücksicht darauf vor, ob die Neubildung sinnvoll und der Sache angemessen ist

(Bal-

dinger 1964: 42-43). EN. entstammen oft fremden Sprachen oder alten, teils untergegangenen, teils stark gewandelten Schichten der eigenen Sprache. Sie werden daher häufig willkürlich verändert. Abgeschiedene Namen für Personen und Völker, Orte und Länder, die volksetymologisch der lebenden Sprache eingegliedert werden, erhalten verbindliche Gestalt. Vermeintlich besserer Schreibungen wegen brachte nicht erst die Neuzeit Kanzlei- oder Beamtenetynologien hervor. In Antike und MA. waren sich Autoren der Kluft zwischen gesprochener und geschriebener Sprache bewußt. Daher zögerten sie mitunter, Wörter und EN. aus unnormierten in orthographisch geregelte Sprachen zu übernehmen. Griechen und Römer verwarfen angeblich aus Purismus barbarische EN., wenn sie nicht an ein

358

Wort der Schriftsprache anklangen (Lambrino 1958: 83-84). D. Gelehrte der karolingischen Renaissance scheuten sich davor, frk. verba inculta oder germ. EN. in lt.

Texten zu erwähnen. Vorbehalte gegenüber unvermeidlichen volkssprachigen

Ausdrücken zeigen sich auch darin,daß diese mit stehenden Wendungen in lt. Urkunden eingeführt wurden. Einfallsreiche fr. Dichter übersprangen Stationen weiter Reisen, sei es mit Absicht, sei es aus Unwissenheit (Wilke 191O: 5-6). Rutebeuf (77-84_) aus Paris, der eine lt. Vita von der hl. Elisabeth in fr. Verse übertrug, gestand, unverzüglich würde er die Ehrenmänner benennen, die den Lebenswandel der frommen Dame prüften, wären sie nicht Alemant. D. ON. unterdrückte er stillschweigend; den Titel lantgravius hielt er (495, 84b, 1231) für einen EN.; schließlich stellte er (2159-68) sich als bescheidener Dichter vor: [...]mes Rustebues / Est ausi rüdes coime uns bues (Tobler 1894: 229) . Die Vermittlerrolle, die Lt. als ökumenische Sprache des Abendlands besaß, trübte Romanen den Blick für Sprachunterschiede. Sie glaubten, EN. jeder Herkunft hätten sich genauso verändert wie ihre Muttersprache gegenüber dem Lt. Nach lt. trans - fr. tres trugen kluniazensische I-ßnche Transbertus für germ. *thras-berht, afr. Tresbert (Morlet 1968/72: I,74a) in ihre Totenbücher ein (Synopse 1982: 291b, T 65). Vor -s- vermeintlich ausgefallenes -n- zu ersetzen, war üblich: Amaugin(s) (L 25; F 12b) für

amal-gis, Ansancion (L 50) statt As-

cension. Hyperkorrekturen, die lehren, daß Lautregeln schematisch angewandt wurden, begünstigten Irrtümer. Aus dem ON. Senlis, lt.

Silvanectes ging über

Saint Lis (L 614; F 295a) (Girbert de) Saint Lin (L 286) hervor. 1.1.

Welche Vorstellung sich im MA. mit einem RN. verband, ist oft nicht mehr

nachzuvollziehen. Manche bezeugen mitunter den Wunsch, lt. halt zu verleihen. Sulpicius glichen sie lt.

RN. christlichen Ge-

supplex an, um Sup(p)licius (Syn-

opse 1982: 282a, S 127) zu bilden, danach auch Sup(p)licia (Morlet 1968/72: 109a)

II,

(saint) Souplice (L 625; Fass 1887: 481) und davon abgeleitete ON. (Lon-

gnon 192O/29: § 947, 2070). In Dichtungen fallen umgeformte RN. bekannter Personen besonders auf. Unter dem Einfluß von lt. stand aus Balthazar·Baptisart (L 6 7 ) ; lt. F 146a) und lt.

baptisma und germ, -hard ent-

natalis rief Noel für Noe (L 487;

psalmum Psalemon statt Salomon (L 596; F 168a) hervor.

Auch eine Volksetymologie unterliegt der Sprachgeschichte, die beachtet sein will. An der Forderung scheiterte Leo Jordan (1905a: 103-O4), der .sich von MDUSket (1666-67: Carles Martiaus fu apieles, / Pour you que de Sougnant fu nes) dazu verleiten ließ, Charles Martel als Sorgenkind darzustellen. Nicht seiner Schlagkraft, wie mit. Werke erklärten (DC V,290c-291b, VII,204b: Tudites), son-

359

dem der historischen Tatsache, daß er von einer Konkubine geboren wurde, verdanke er nunirehr seinen Beinamen. Den Nebensinn 'souci' erhielt märtel erst im 16. Jh. unter it. Einfluß (FEW VI/1,314a). Von Carolus, dessen RN. von lt. carrus abgeleitet wurde, erzählt die Legende, er sei nicht im Ehebett, sondern auf einem Karren gezeugt worden. Estout, lt. Estultus (Pseudo-Turpin 1965: Z. 1525) zu hänseln (Kalbow 1913: 68) war leichtes Spiel, sind doch frk. stolt, afr. estout und lt. stultus ursprungsverwandt (FEW XVII,245b-246a). RN., die mit Mal-, Mau- aus germ, oder ar. Elementen (Kunitzsch 198O: 353, Arm. 11) beginnen, wurden Gaunern (Beckmann: 1973: 156) und Sarrasins (Herman 1969: 43O) beigelegt, weil sie an lt. malus erinnerten. Gegner der Christen tragen in afr. Epen nicht nur orientalische, sondern auch rom. und germ. RN., darunter,nach Maurice Broens (1961 / 1965/66), got. Anthroponyme hohen Alters. Aus Benennungen, die sich für Morgenländer scheinbar nicht eignen, stellten Dimitri Scheludko (1922: 480-84 / 1927: 31-33/ 1928: 278-80) und Paul Kunitzsch (1972) anhand historischer Kreuzzugsüberlieferungen ar. RN. wieder her. 1.2. An ON. und VN. ist das Wirken der Volksetymologie auch nur zu beweisen, wenn ihre eigentliche Geltung trotz Umdeutung und Umgestaltung noch durchscheint. Abbeville, lt. Abbatis villa wurde zu Albeville, Aubeville (L 2 ) . Bordeu (Bordel), Bordeaux lockt als Stadt der Unzucht (Tobler 1894: 196-97) sogar Roland an (Pseudo-Turpin 197O: Z . 289,2-15). Ein gleichnamiges Schloß im Loiret nannten verschämte Mönche Malum talentum (Longnon 1920/29: § 27O8) . Während heute Wörter undEN., auch wenn sie ihrer Form und Herkunft nach ibereinstimmen,getrennt werden (Hofler 1954: 28-29), wurden sie früher naiv assoziiert. Der Anknüpfungspunkt an eine tatsächliche oder vermeintliche Wirklichkeit ist oft verborgen. Warum bellen Chenelex in der Chanson de Jerusalem (7431)? Wieso trägt der hl. Christophorus de genere Cananeo in alten Darstellungen einen Hundskopf (Knobloch 1968: 242)? Darauf gibt die Legende von einem hl. Makarios Antwort:"[ ..] terram Chananaeorum [...] qui ab aliis Cynocephali dicuntur [...]" (Meyer 1878: 4 4 4 ) . Lt. canis und sagenhafte Hundsköpfige (Metz 1981: 118-19) inspirierten die Künstler. Mit Haut Assis (L 328) , einer typischen Volksetymologie ohne Sinn, sind Angehörige einer moslimischen Sekte gemeint, die wegen ihrer Meuchelmorde so gefürchtet waren, daß aus ihrer ar. Benennung 'Haschischleute1, fr. assassin entstand (FEW XIX,69a-b). Avers in Roland (3242) wurde lange unbesehen auf räuberische Awaren bezogen. Der Dichter wird den nur ihm bekannten VN. ebenso wie den der Hums (Roland 3254), Huns, der nur zweimal be-

360

legt ist (L 347; F 253b), bei Eginhard (38: £..] Avares sive Hunos [.!]) gelesen und dabei vielleicht an lt. avarus, afr. aver (FEW I,187a) oder lt. adversus, afr. avers (FEW I,42a, XXIV,198b-199a) gedacht haben. Alfred Noyer-Weidner (1968: 381-95) verglich Avers mit gent averse (Roland 2630, 2922, 3295) und sah darin eine Phantasiebenennung für Gottesfeinde ohne historische Reminiszenz , so daß der VN. in die folgende Gruppe einzureihen wäre. 2.

"Redende Namen" (Dornseiff 1940)

weisen auf ein Merkmal des Benannten hin. Sie können, müssen aber nicht,auf echten EN. beruhen und unterscheiden sich dadurch, nicht immer klar, von volksetymologisch ausgelegten Namen. 2.1. Dichter waren im MA. nicht nur überzeugt: nomen est onen, sondern schlössen auch vom Äußeren eines Menschen auf dessen Charakter. Noyer-Weidner (1969) beobachtete, daß Sarrasins und ihre Welt im Roland meist in dunklen Farben geschildert wurden. Dafür gab nicht nur der Teint der Morgenländer und ihrer afrikanischen Verbündeten den Ausschlag, sondern auch ihr teuflisches Wesen. Einer ihrer Götzen, dem Kaiser Nero Pate stand , und einige seiner Anbeter heißen Noiron (d'Enfer) (L 488). Ebenso spielen die RN. Moradas, Morant, Marin (L 469-70, 473; F 140b) aus lt. maurus (Sainean 1925/3O: 111,372), Brunamon(t) 6 , Brunanor, Maubrun (L 119, 442) aus frk. brun auf Aussehen und Eigenschaften derer an, die für Ausgeburten der Hölle gehalten wurden (Sainean 1925/3O: 429): Q

Barat(r)on , Lucifer, Orcanas (L 68, 407, 501; F 148a). Christen heißen jedoch auch Brun, öfter Maurant (L 119, 469-7O; F 36b-37a, 14Ob) und teilen sich mit ihren Feinden RN. wie Blanc(h)and(r)in, Clar(I)el (L 99, 148, 149; F 3Oa, 49a), die an Helle, frk. blank, lt.

clarus, gemahnen (Sainean 1925/3O: 11,428,

III,

373), in Dichtung und Wirklichkeit (Rajna 1889: 11, 43-44; Rosellini 1958: 257) Christen tragen vergleichsweise selten redende Namen, in Romanen eher noch als in Epen. In Frauennamen gelangen Schönheit und Eleganz zum Ausdruck: BlanQ

If)

cheflor , Blonde Eschavie , Flor de Lys (L 100, 101, 220; F 30b, 78a). Bei Männam spiegelt sich in RN. ihr Temperament. Bienassis heißt ein träger Kantor (L 97), ein flinker Knappe Galopin (DC IV,19b; L 251; F 85a), dessen Name heute einen Strolch bezeichnet. 2.2. ON. durchsichtiger Bildung sind schwer einzuschätzen. Auch wenn sie in Atlanten nicht zu finden sind, können sie aus echten ON. hervorgegangen sein: Tere Certeine (Roland 856) aus Cerdagne12, Tere Maiur (Roland 600, 818, 952,

361

1532, 1667, 1784) aus einer ar. Bezeichnimg für Frankreich . Noyer-Weidner (1971) lenkte den Blick auf den Gegensatz Berg - Tal, der im Roland die Lebensräume der Christen und Heiden nach deren Nähe oder Ferne zu Gott trennt. Auch in anderen Epen trifft es oft zu, daß sich Götzendiener aus däirmrigen Niederungen, Christen von lichten Anhöhen hersagen, eingekehrt schmachtet Gaudin, ein Gefolgsmann Huedons de Langres, in Val Dolour (L 264), während Marsilie in Sar14 raguce, ki est en une muntaigne , über clere Espaigne la bele (Roland £, 16) herrscht. 3.

"Das schöpferische Mißverständnis" (Knobloch 1968: 237-38)

legt Wörtern und EN. Geltungen bei, die von dem eigentlichen Sprachgebrauch abweichen. Es wurde im MA. einerseits durch Vielsprachigkeit, andererseits durch die Kontinuität des Lt. begünstigt, die den Wandel der Lebenswirklichkeit während des Übergangs von der Antike zur Neuzeit weder zum Ausdruck noch zu Bewußt sein kommen ließ. Man war an unterschiedliche Namen(sformen) für Personen sowie Völker, Orte und Länder gewöhnt und schreckte nicht davor zurück, EN. ganz ooer teilweise zu übersetzen. EN. wurden auf dreifache Weise verkannt, indem sie 1. eine neue, ihnen ursprünglich fremde Geltung erhielten, 2. als Wörter aufgefaßt oder an ihre Stelle Appellative gesetzt und 3. von Menschen auf Orte oder umgekehrt übertragen wurden. 3.1.1. Viele Ortsnamen wurden aufgrund von Lesefehlern verwechselt. Wegen der Homonymie der fr. ON. für Vienne und Wien stieg Graf Raoul de Vienne (L 548) zum due d'Autriche (Voretzsch 1900: 392, § LXXXIX) auf. Unter Osteriche ist Lorraine , Autriche (L 507; F 201a), außerdem eine Stadt , vielleicht Asturica 17 , Astorga,oder Civitas Austriae, Cividale del Friuli, zu verstehen. 3.1.2. Der VN. der Burgunder bot sich nicht nur zur Auslegung (Bollnow 1968: 17), sondern auch zur Verwechslung mit mit. Castellanus an, so daß sich hinter der Epengestalt Sanson de Borgoigne (L 601), die die Geschichte verschweigt, ein wohlbezeugter Sancho von Kastilien verbergen könnte. Franken und Burgunder hätten alle Römer in Gallien getötet (Ewig 1958: 648). So löste sich das Rätsel, wo die früheren Landesbewohner geblieben waren. Die Frage nach der zeitgemäßen Benennung noch als Germanen bekannter Goten, die ebenfalls verschwunden waren, erfuhr viele Antworten. Teutonic!, Ihioie, Allemands, vermutlich auch Daci, Danois und Ardennois,soll das untergegangene Volk nunmehr heißen 18 , dessen Name zudem offenbar als Wort mißdeutet wurde.

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3.2.1. Gilemer l'Esoot, / Sire fu de Irlande une terre ou mers clot 19 , begehrt gegen Charlemagne auf: "[. J Ainz irai en ma terre ou (I 1 ) on claimme deu Got[...]" (Saisn 378a, 389, Hs L) . Wollte er statt wirrer Worte sagen: '[...] wo man sich Gote nennt 1 , um seinem gekränkten Stolz einem Franken gegenüber scharf Ausdruck zu verleihen? In Paris entstand 1215/16 eine Kompilation lt. Geschichtsbücher, deren Autor auch einen VN. verkannte. Er fühlte sich durch Cesar, le valet mau ceint, an Philippe (II Auguste) erinnert, der als valet mau pingnie zu bezeichnen sei, weil ihm in der Jugend stets die Haare zu Bergestanden (FetR 1,18, Z. 29-3O). Der Vergleich erklärt sich dadurch, daß Bewohner der Antiken Gallia comata, karolingisehen Neustria zwischen Seine und Loire (Ewig 1958: 597) im Afr. Herupois (L 341; F 233b, 253b) 'Struppige' hießen . Nustricus wurde Ende des 9. Jh. der Kapetinger Odo genannt (Lugge 1960: 162) und sein Nachfahr, Graf Philippe de Boulogne, noch im 13. Jh. coens Hureis (Dialogue 9) , guens Hurepiaus (Mousket 28331, II,796b-797b). Der Irrtum, Prinz Philippe aus dem Herupe sei ungekämmt gewesen, erhellt den eigentlichen Sinn einer Aussage, die Nicole Gilles 1492 traf: Bis zum 12. Jh. hätten sich Nachkommen der Gallier und Franken durch ihre Haartracht voneinander unterschieden (Bodmer 1963: 96, Anm. 26) . 3.2.2. Zahlreich sind fremde Titel als .: neben lantgravius Umformungen von 21 ar. 'Kalif . Nach ar. 'Ritter' benennen sich ein König von Hongrie und einige 22 Sarrasins Alfaris oder Aufart . Zwischen RN. und Appellativ schwankte magarites, ein gr. Wort ar. Ursprungs. Es galt zunächst ersten Anhängern und adligen Vorkämpfern mohammedanischen Glaubens,später allen Neubekehrten. In ihnen sahen 23 Christen Abtrünnige und Piratenführer. Ein edler, stattlicher Maure heißt in Roland (955, 1310, 1311) Margariz; (fei) Margari(s) wird einer der Gegner König Louis1 (III) in Gormont (442, 436, 451, 462, 585, 628) gescholten. Selten erwähnte Puil( Dants (L 540; F 288a) , Apuliens verdanken ihren Platz in Kreuzzugsepen vielleicht einer Verwechslung ihres VN. mit mit. pullanus (DC VI,562c), afr. poulain (TL VII,1370-71), lt. in Syrien ansässigen Christen, die sich wegen andersartiger Bedürfnisse und Jewohnheiten mit nur vorübergehend anwesenden Kreuzrittern entzweiten (Morgan 1979). 3.3. Ethnika, Anthroponyme, Orts- und Ländernamen vertauschten Dichter nicht nur aus Unverstand. Sie wollten Vorstellungen beschwören, die sich mit EN. verbanden. Leutices, slav. Wilzen im heutigen Mecklenburg, die Karl der Gr. vergebens zu unterwerfen versucht hatte, blieben Franzosen in übler Erinnerung. Sie nannten den Seneschall eines heidnischen Königs, Sarrasins allgemein, eine Stadt und ein Reich in deren Gewalt Lutis (L 4O9-10; F 264a-b). Viele Territo-

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torien wurden einst nach Hauptorten, im untergehenden frk. Gesamtreich sogar Volksteile und deren Wohngebiete,nach Herrschern benannt, Bräuche, die auf kaum bekannte Länder und fast geschichtslose Völker übertragen wurden. Hinzu kam der Glaube, Städte und Völker hätten Gründer und Urväter gleichen oder ähnlichen Namens. An ihm nährten sich Lokal- und Herkunftssagen. 4.

"Etynologie als Denkform" (Curtius 1948 / 5.A. 1965: 486-90)

entspringt dem Wunsch nach ursächlichem Zusammenhang zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem. Sie versucht, aufgrund der Anstöße, die von der Sprache ausgehen, die Welt zu deuten, und dient, auf EN. angewandt, oft eigenem oder fremdem Lobpreis. Der fr. Renaissancegelehrte Etienne Pasquier durchschaute sie als superstition et rapports des mots (Klippe! 1936: 6 1 ) . Damit meinte er, "daß hier in methodisch unzulässiger Weise Wörter zu einander in Beziehung gesetzt werden, die in Wahrheit nicht mit einander zusamnEnhängen" (Heisig 1974: 447, vgl. 445). 4.1.

Cer wallon. Dichter Adenet le Roi (Berte 234-42) feierte Naimon als Grün24 der seiner mutmaßlichen Vaterstadt Namur , fläm. Namen, obwohl der berühmteste

Kronrat Charlemagnes nach afr. Überlieferung aus Baviere (L 479-80)statt Bayonne 4.2.

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, nach mhd. aus Armenien stammen soll (Spohn 1971: 196; Grau

1938: 2 1 ) .

Germ. Völker, besonders Franken, waren bestrebt, sich Ehrenplätze im abge-

schlossenen Weltbild der Bibel und Antike zu verschaffen (Bollnow 1968: 17). Hermann Bollnow (1968: 20) und Frantisek Graus (1975: 79-8O) hielten die Landnahme für den Hauptaspekt in Ursprungssagen germ. Stämme. Theodisci gaben sich bald, nachdem sie als Gemeinschaft erkannt worden waren, als Teutonic! aus (Weisgerber 1936 / 1951) . Dazu wird sie nicht nur die Weihe bewogen haben, die Teutones durch Sprache und Geschichte der Römer genossen, sondern auch ein urtümliches Bedürfnis nach gesicherter Abstammung; ebenso die Franken, die sich von Troia und ihren VN. von einem Häuptling oder gr. und lt.

Wortern hersagten.

Später schied sich die gentilizische Denkweise früherer Wandervölker am Rhein von Raumvorstellungen, die rom. Franken, erst recht Franzosen als unabänderliche Ordnung empfanden (Sprandel 1957: 111, 113, 115). Germani, die weniger

ih-

res VN. (Klippe! 1936: 50) als der Gemeinsamkeiten wegen zu Geschwistern der Franken berufen waren, arteten so als Deutsche zu Erbfeinden der Franzosen aus. Die Sprache trifft an dem Verhängnis keine Schuld. Sie beflügelt Gedanken ebenso, wie sie sie entlarvt. "Redende Namen", "schöpferische

Mißverständnisse",

"Etymologie als Denkform" sind keine literarischen Phänomene ferner Vergangen-

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heit, sie bestehen in aufgeklärter Gegenwart fort. Der Suggestivkraft der Sprache wußten sich Priester (Bertholet 194O) und Dichter (Deroy 1959) seit altersher zu bedienen; Philosophen (Wandruszka 1958) , Politiker und Ideologen (Betz 1963) eifern ihnen nach, alle aber werden sie von Illusionisten moderner Werbekunst übertroffen.

Anmerkungen 1 Darauf wies Jordan (1905a: 111 / 1905b: 357) selbst hin, auch Fass (1887: 481); vgl. die lt. RN. auf -olus, besonders Ferreolus (Morlet 1968/72: II, 51b) zu lt. ferrum. 2 Kunitzsch (1980: 352, Amr,. 3) übte nicht nur an Broens, sondern zusammen mit Sainean (1925/30: 111,371-75) auch an Scheludko Kritik. 3 Vgl. un aumacour, Butor, Danebur d'Averse, Aversiere (L 61, 124, 169), Averse_ (F 201b) für Sarrasins, eine Stadt und ein Reich in deren Gewalt. 4 Dagegen Metz (1981: 107, 112): "wohl die 'Awaren'". 5 Dazu Gothein (1927: 47-48); vgl. "Noirons li Arabis" (Comparetti 1941 / 2.A. 1955: 190-97) und zum Symbolgehalt der Farbe noir (Ott 1899: 19-33). 6 Nach Kalbcw (1913: 163) und Broens (1961: 171) aus got. Brunirounds; der RN. ist in got. und ahd. Namenbüchern nicht belegt, wurde aber von Rajna (1889: 56-57) und Rosellini (1958: 257) in Italien auch für Christen nacngewiesen. 7 Bruns heißt im Roland (3225) ein heidnisches Volk; vgl. dazu Noyer-Weidner (1969: 37-38), l\fetz (1981: 106) und zur Farbe brun Ott (1889: 61-69). 8 Unter Einfluß von afr. baratos (FEW IX,331a) 'trügerisch1? Vgl. (un Sarrazin) Abisme (Roland 1470, 1498) und dazu Noyer-Weidner (1969: 23-24). 9 Nach Rajna (1889: 64) und Rosellini (1958: 227) als RN. in Italien bezeugt. 10 Zu afr. eschevi (FEW XVH,95a-b) 'wohlgestaltet1; vgl. die RN. Biaute, Biendoit-plaire, Blonde Esmeree (F 29b, 31b). 11 Zu fr. galoper (FEW XVII,485a, 486a, Anm. 1); vgl. Jordan (19O5a: 113-114), Michaelsson (1952). 12 So zuletzt Bruger (1982); Richthofen (1957: 566/72); anders Aebischer (1963/ 1964: 58): "c'est le terrain solide, qui porte £.]", im Unterschied zu Uferund Küstenstreifen; nur ein damit vergleichbarer Beleg findet sich in TL (11,131, Z. 52): elme certain; vgl. Minis (1947: 67). 13 So Walker (1979/8O: 125-29), dagegen FEW (VI/1,59b): "das grösste (mächtigste) von allen ländern". Richthofen (1957: 566): "Gebiet der Hochpyrenäen im Gegensatz zu der vorgelagerten tere Certeine". In afr. Wörter- und Namenbüchern erscheint maior (TL V,931-32) in Verbindung mit zahlreichen Ortsund Ländernamen, Terre Maio(u)r (L 42O; F 303b) auch für heidnische Länder. 14 Muntaigne wurde als Hispanismus oder wörtlich Bergland und schließlich von Noyer-Weidner (1979: 314, 317) als "Symbol heidnischer Hybris" und zugleich Entschuldigung für Charlemagnes Scheitern vor Saragosse erklärt. 15 Austrie, c'on dist Osterlke (Mousket 1422, vgl. 1256); [...] paus d'Ostrich, qui at proprement nom Austrie selonc le latin [7..] (Myreur 239); roy Priant

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d'Osteriche (Klippel 1936: 38). A Osteriche (!..] (Auberi 17,23); [...] en_la (grant) chite d'Osterriche [ ..] (Richars 4331, 5333); [...] Ostrich sole-it eistre la principal citeit d'Austrie, et la prits-ilh (= le rengne) le nom de Austrie (Myreur 222). Austurice statt Asturicae schon in Hs. B aus dem 9./10. Jh. von Eginhard (44/46); vgl. afr. Ostorge für eine "ville d'Espagne" (F 281a). Lt. und apoit. (abourg. und apr.) Fassungen des Pseudo-Turpin (1965: Z. 161162 / 197O: Z. 268.9-10) erzählen von reges galli et imperatores theutonici, li roi de France [...] e li empereor de Tiois (dafür auch de Alemaigne, d'Alamanha), die vor Charlemagne zur Eroberung nach Espagne zogen; damit können nur merowingische Könige, Childebert und Chlotar sowie got. Herrscher gemeint gewesen sein. Der mutmaßliche Gote Ogier trägt als Beiname nicht nur Danus, Dacus (!) im Lt. oder le Danois, de Danemarche (L 495-96; F 147a) im Afr., sondern auch l'Aleman, d'Alemagne (Entree 9669, 5816, 10146) und Ardennois (Fass 1887: 481-82). Sone (Sone 2091) rühmt sich eines non d'Alemaigne, der nur für Goten bezeugt ist. Wie der lt. CN. Britonia, Mondonedo (Galicien) mit (Grande) Bretagne (Richthof en 1960: 35) könnte der der Nachbarstadt, Iria (Flavia), El Padrcn mit Irlande verwechselt worden sein. Aus germ. (?) *hüra (FEW IV,515b); vgl. zum Namen: Rohnström (1896: 135-36), zum Gebiet: Longnon (1875: 9-10). Mit dem Wort in sp., al-, augali(f)e, und ar. Form, calife (FEW XIX,64a; Nasser 1966: 180, § 5, 188, § 13, 237, § 86),korrespondieren die Namen (V) Augalie, Calife, Galifre (L 57, 128, 251; F 40a). Aus ar. al-färls (? Nasser 1966: 213, § 49) oder aus dem ar. RN. al-Fahri (? Scheludko 1922: 481), keinesfalls aus germ. *alb-hari, -hard (Kalbow 1913: 71, 129) leiten sich Alfaris, Aufari(e)n, Aufar(t) (L 19, 56) her; vgl. dazu afr. aufarain (TL 1,667) . Die lange Auseinandersetzung mit Wort und Namen wurde wohl von Kahane/Kahane (196O) abgeschlossen. Afr. margari (TL V,1158-59), Margari mit unetymologischem -r- erklärt sich entweder durch den Einfluß von gr. Margarita (Rajna 1885: 419-20) oder von Margaritos (von Brindisi), dem RN. (woher?) eines berühmten Seehelden des 3. Kreuzzugs (FEW VI/1,22b), dessen Ausstrahlung nach Meyer (vgl. Rajna 1885: 419, Anm. 1) auch die zweite Wortbedeutung 'admiral1 hervorrief. Der Name ist sowohl für Heiden (L 432; F 131a) als auch für Christen (Rajna 1889: 16-17; Rosellini 1958: 259) belegt. Das Wort erläuterte Mousket (14129-34) : £..] Et Gormons l' (= Ysenbart) a bien bien retenu, / Pour gou que biaus bacelers fu; / Mais Dieu li a fait renoiier. / Mais moult en ot son euer mari, / Si le clama le Margari. (Tobler: 1894: 231). Dazu Aebischer (1956). zu einer anderen Herleitung: Rousseau (1939). Nach Hämel (1955: 14) wurde duxBaione durch einen "einfachen Lesefehler" im"Pseudo-Turpin von Compostela"zu dux Baiouarie. Vgl. Klippel (1936), Heißig (1974) und Poujol (1957) mit weiteren Literaturangaben . Rosenstock-Huessy (1957: 15) unterschied bei Namen für Personen und Gemeinschaften drei Aspekte: "Selbstbezeichnung", "Anrede", "Erwähnung", und warnte davor zu verkennen, wie stark sie VN. bestimmen: "Sobald der dreidimensionale Kraftstromcharakter der Namen zu dem punktuellen Gebrauch der bloßen Worte umgedeutet wird, sobald also Selbstbezeichnung, Anrede und Erwähnung für ein und dasselbe gelten, tritt ein Kurzschluß*in der Völkergeschichte ein, der mit dem Namen 'Nationalismus1 recht ungenügend ausgelegt wird."

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