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German Pages 359 [361] Year 2022
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Ömer Alkin, Lena Geuer (Hg.) Postkolonialismus und Postmigration
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Ömer Alkin, Lena Geuer (Hg.)
Postkolonialismus und Postmigration
UNRAST
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Die Publikation wurde gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des DFG-Projekts »Ästhetik des Okzidentalismus« (Kurztitel) (Projektnummer 435847492).
Ömer Alkin, Lena Geuer (Hg.) Postkolonialismus und Postmigration 1. Auflage, März 2022 ISBN 978-3-89771-096-2 EISBN 978-3-98684-007-5 © UNRAST-Verlag, Münster 2022 www.unrast-verlag.de | [email protected] Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe) Umschlag: cuore.de Satz: Unrast Verlag, Münster Druck: Multiprint, Kostinbrod
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Inhalt Vorwort Ömer Alkin und Lena Geuer Einleitung
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Leela Gandhi »Wenn dies ein Manifest für postkoloniales Denken wäre…«
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Erol Yildiz Vom Postkolonialen zum Postmigrantischen: Eine neue Topografie des Möglichen
71
Vittoria Borsò Relationale Intensitäten und Zwischenräume. Anmerkungen zur Postmigration
99
Heidrun Friese ›Postmigrantische‹ Gesellschaften. Anmerkungen zur Dekonstruktion eines Begriffs
119
Ömer Alkin Postmigration und Postkolonialismus. Mäandernd-essayistische Überlegungen I
153
Isabell Lorey Die Zeit des ›post‹ ist jetzt. Ver-Nichtung, mindere Sprache und Enteignung
167
Marianne Pieper Postmigrantische Stadt. Koloniale Genealogien und Politiken der Verortung
193
Feben Amara Im Zeichen einer grenzüberschreitenden Kulturproduktion: Das postmigrantische Theater
219
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Burcu Dogramaci Kunst der Postmigration. Widerständige Geschichte(n) im Werkvon Cana Bilir-Meier
241
Mithu Sanyal Gefährdete Körper/Gefährliche Körper. Öffentliche Empathie und Empire
269
Veronika Kourabas und Paul Mecheril Wissen um Rassismus in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen
299
Jolanda Wessel Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
317
Über die Autor*innen
355
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Vorwort
Kolonialismus und Migration sind zwei Phänomene, die sich seit der europäischen Eroberung der ehemaligen Kolonialländer nicht voneinander getrennt betrachten und beschreiben lassen. Die Gestaltung der Narration über die Legitimation der Kolonialisierung sowie über die daraus resultierenden Aus- und Einwanderungsprozesse hat sich im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts mit den politischen und intellektuellen Befreiungs- und Unabhängigkeitskämpfen extrem gewandelt. Dennoch sind rassistische und diskriminierende Einflüsse des Kolonialismus systematisch in gesellschaftlichen Strukturen verankert. Deshalb wird mit den Begriffen ›Postkolonialismus‹ und ›Postmigration‹ nicht nur die Zeit nach der Kolonialisierung oder nach der Migration bezeichnet, vielmehr wird eine zutiefst kritische Perspektive hinsichtlich der (Selbst-)Wahrnehmung und der Reflexion postkolonialer und postmigrantischer Realitäten eingenommen. Während sich neue Episteme, die das Konzept des Postkolonialismus wesentlich geformt haben, bereits ab den 1950er-Jahren mit Schriften von Autor*innen wie u.a. Frantz Fanon, Aimé Césaire, Jacques Derrida, Michel Foucault, Edward Said und ab den 1980er-Jahren mit Gayatri C. Spivak, Nestor García Canclini, Homi K. Bhabha etablierten, hat sich das Konzept zur Postmigration erst in jüngerer Zeit, vor allem im deutschsprachigen Raum, verbreitet. Die Aufgabe des vorliegenden Sammelbandes liegt nun nicht in der Begriffsdefinition beider hier diskutierten Konzepte, vielmehr sollen die Schnittstellen zwischen den theoretischen Ansätzen erforscht werden. Inwiefern können diese Konzepte voneinander lernen, beziehen sich aufeinander oder widersprechen sich womöglich auch an anderen Stellen? Zugleich stellt sich die Frage nach den pragmatischen Dimensionen: Denn wie lässt sich eine postkoloniale und postmigrantische Gesellschaft gestalten? An dieser Stelle möchten wir zunächst den Autor*innen unseres Sammelbandes für ihre scharfe Reflexion, ihre kritischen Analysen und für ihre illustrativen Auseinandersetzungen zu einem in Bereichen der Politik,
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Gesellschaftsforschung und Ästhetik höchstrelevanten Thema herzlich danken. Danken möchten wir auch Iman Attia, die den Kontakt zum Unrast Verlag in Münster hergestellt hat. Dort wurde das Konzept unseres Buches von Anfang an positiv aufgenommen und durch ein sorgfältiges Lektorat tatkräftig unterstützt. Dafür danken wir sehr herzlich. Leela Gandhi hat der Übersetzung ihres Epilogs If This Were a Manifesto for Postcolonial Thinking in der 2019 erschienen Neuauflage ihres Buchs Postcolonial Theory unmittelbar zugestimmt. Wir danken der Autorin und dem Verlag Columbia University Press für die Übertragung der Rechte. Übersetzungsarbeit fordert, neben Sprachkenntnissen, vor allem ein Sprachgefühl. Wir möchten deshalb der Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Friederike Danebrock für ihre umfassende Unterstützung danken und für den scharfen Feinschliff, der den Text rund gemacht hat. Außerdem bedanken wir uns bei der DFG, für die Förderung der Herausgabe im Rahmen des Projekts »Ästhetik des Okzidentalismus« (Kurztitel). Unser Dank gilt nicht zuletzt Hayriye Kapusuz, Gökçe Saatçi und Pauline Hohn für die sorgfältige Erstkorrektur der Texte. Der Sammelband gestaltet sich interdisziplinär und umfasst Beiträge aus der Kunst-, Kultur-, Literatur-, Theater-, Medien- und Erziehungswissenschaft sowie aus der Soziologie und politischen Philosophie. Er richtet sich damit an Leser*innen, die sich dem Spektrum zwischen Postkolonialismus und Postmigration innerhalb ihres Faches, doch auch darüber hinaus widmen möchten. Wir hoffen, dass mit diesem Buch eine Diskussions- und Argumentationsgrundlage geboten wird, die einen lebendigen Austausch anregt. Die Herausgeber*innen Marburg und Dresden, März 2022
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Einleitung
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Ömer Alkin und Lena Geuer
Einleitung
Kolonialismus definiert sich über Regime globaler Bewegungen, wie die von Menschen, Gütern und Dingen. Die postkoloniale Theorie, welche die Kolonialisierung in ihr Forschungszentrum stellt, kann den Kolonialismus in seinen vielfältigen Formen ohne Berücksichtigung globaler Bewegungsformen und so auch ohne Migration nicht angemessen verstehen.1 In der Globalisierung werden (neo)koloniale Machtkonstellationen in Form eines komplexen Netzwerkes fortgeführt, innerhalb dessen Regierungs- und Benachteiligungstechnologien unmenschliche Handlungen ausüben. Derartige Netzwerke zeichnen sich jedoch nicht durch singuläre Bewegungsaktionen aus, sondern umfassen transkulturelle und transnationale Dynamiken. Kolonialismus und Migration stellen vor diesem Hintergrund zwei Begriffe dar, die sich nicht voneinander getrennt betrachten und diskutieren lassen. So ist es kaum verwunderlich, dass die Reichweite der Auseinandersetzungen zum Postkolonialismus fast ausnahmslos im Zusammenhang mit solchen Effekten verhandelt werden, in denen Migrationsumstände besonders wirksam sind. Zwei fatale Annahmen gestalten das vom Kolonialismus in die Welt getragene, westlich geprägte Denken nach wie vor: Die Natur gehöre dem Menschen und der Wert einer menschlichen Identität messe sich nach der Zugehörigkeit zu einer Nation. Damit stehen wir vor einem ökologischen und einem sozialen sowie politischen Problem. Wie die Klimakrise symptomatisch zeigt, sind diese Probleme eng verwachsen: Aus der Kontinuität kolonialer Zustände heraus hat sich der Kapitalismus globalisiert, um weltweit Ressourcen für die westliche Wachstumsgesellschaft auszuschöpfen. Dies 1
Wobei die Forschung die vielfältigen je spezifisch dynamischen Kolonialisierungsformen, die auch weniger dynamischen Bewegungen und damit solche, die scheinbar unter der Migrationsschwelle liegen, ebenfalls berücksichtigt, siehe Castro Varela und Dhawan 2020.
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Ömer Alkin und Lena Geuer
hat die Klimakrise zur Folge, wie der Begriff des Anthropozän unterstreicht. Mit der Kolonialisierung des Globalen Südens und den dadurch in alle Richtungen ausgelösten Migrationsbewegungen gerät im 19. Jahrhundert die Frage nach der Nationalität und damit der ›nationalen Identität‹ in den Fokus. Nicht nur die Klimakrise, sondern eine gesamte Betroffenenkrise, die aus dem Kolonial-Modell erwachsen ist, weisen kontinuierliche Strukturen der Diskriminierung auf. Aus diesem Grund stehen Klima-, Betroffenen- und Migrationskrise im engen Zusammenhang, was die Simultanität jüngster internationaler Bewegungen wie Fridays for Future und Black Lives Matter bestätigen. Vor diesem Hintergrund haben auch hierzulande die Themen der Klimakrise und der politischen Dynamiken und Bewegungen nach Rechts die Gemüter vielfach bewegt. Diskriminierung existiert menschengemacht schon so lange, wie es Menschen gibt. Die Fragen hiernach, wie die meisten anderen auch, tragen so stets die Dimension der Historizität in sich. Dies verlangt danach, sie im Kontext von Systemen und Zeithorizonten abzurufen und zu verhandeln. Aus diesem Grund werden in der intellektuellen und wissenschaftlichen Beschäftigung um jene Fragen der Diskriminierung, Diskurse des Postkolonialismus oder der postkolonialen Theorie als sinnvoll erachtet und finden zunehmend Eingang in weitergehende diskursive Verhandlungsformen. Postkolonial zu denken und dabei über Zustände in der Welt zu reflektieren heißt nämlich, die bestehenden Situationen auf der Welt als historisch gewaltsam entstandene und durch Unrecht erwachsene zu verstehen. Die Einbettung der postkolonialen Theorie in die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hat hierzulande (und wir meinen damit den deutschsprachigen Raum) inzwischen ein beachtliches Ausmaß erfahren, was unserer Beobachtung nach insbesondere auch einer neuen Generation von Wissenschaftler*innen zu verdanken ist, welche die Strukturen globaler gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse erneut kritisieren und grundlegend verändern möchte. Innerhalb der Kultur dieser neuen Generation an Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen tut sich – auch wegen der erläuterten Verschränkungen beider Konzepte – ein weiterer diskursiver Schauplatz auf, nämlich die Verhandlung von ›Postmigration‹. Der Begriff, der in den letzten Jahren eine enorme Vervielfältigungsdynamik entwickelt hat, kursiert hierbei vornehmlich im deutschsprachigen Raum. Meist auch als politisches
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Einleitung
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Label für eine pro-migrantische Haltung verwendet, besticht der Begriff der Postmigration durch vielfältige in ganzen Monografien abgehandelte Auseinandersetzungen, die Themen wie Rassismus (El-Tayeb 2016), Stadt (Yildiz und Berner 2021), Kunst (Gaonkar et al. 2021; Dogramaci und Mersmann 2019), aber auch politische Gesellschaftsentwürfe (Foroutan 2019) fokussieren. Die frühe Stellungnahme zur postkolonialen Theorie in Deutschland geschah oft in Forschungszusammenhängen, die sich mit Fragen um Gender, Migration, Medien und Kunst beschäftigten. Die Soziologin Encarnación Gutiérrez Rodríguez hat die postkoloniale Theorie in Anlehnung an die Verwendungskultur des Begriffs in anderen Ländern als eine Trias aus Feminismus, Marxismus und Poststrukturalismus beschrieben, womit zugleich auch die theoretisch-politische Fundierung des Postkolonialismus deutlich wird (Gutiérrez Rodríguez 2020); gemeinhin gilt der Band Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, in dem dieser und andere diskursrelevante Texte entstanden sind, als ein Wegweiser der postkolonialen Theorie für den deutschsprachigen Raum. Dass der Buchtitel hier gar das Konzept der Migration in seinem Untertitel vor die »postkoloniale Kritik« stellt, macht die Diskursabhängigkeit zwischen beiden Konzepten umso deutlicher (Gutiérrez Rodríguez und Steyerl 2020).
Postkolonialismus und Postmigration: Diskursive Ausgangslagen Inzwischen steht die Verhandlung postkolonialer Theorie in Deutschland auf einem stabilen, publikationstechnisch umfassend aufgebauten Fundament, das der Verdienst zahlreicher Autor*innen und Forscher*innen ist, die wider die tendenziell prekären Diskurs- und systemischen Bedingungen zur Thematik publiziert haben.2 Und auch die Anwendungsmöglichkeiten der postkolonialen Theorie und ihre Eignung im historisch-spezifischen 2
Siehe z.B. Karentzos und Reuter 2012; Castro Varela und Dhawan 2015; Kerner 2021; Göttsche, Dunker und Dürbeck 2017; Silber 2021; Reuter und Villa 2009; Bergermann und Heidenreich 2015 oder beispielsweise die entsprechenden Buchreihen »Post_koloniale Medienwissenschaft« im transcript Verlag oder »Postkoloniale Studien in der Germanistik Band 5«.
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Ömer Alkin und Lena Geuer
Kontext des deutschsprachigen Raums, der sich zu lange der eigenen kolonialen Vergangenheit verwehrte, hat sich erweitert. Zwar streifen die postkoloniale Theorie und die Themen des Postkolonialismus eher noch disziplinär aufgeteilte Lehr- und Forschungsorganisationen, als dass sie auf einer dezidiert eigenen, institutionell verankerten Situation stehen (z.B. gibt es kaum bestehende auf die postkoloniale Theorie zugeschnittene Professuren oder Lehrstühle), doch postkoloniale Theorie und Postkolonialismus haben es mit Blick auf die entstandenen/entstehenden Publikationen und Projekte ins Herz einer umfassenden Diskurs- und Denkkultur geschafft, die darauf aus ist, Herrschaftsverhältnisse zu problematisieren und sich für eine gerechtere Welt einzusetzen. In den vergangenen Jahren hat sich das Konzept der ›Postmigration‹ in verschiedenen begrifflichen Ausprägungen von ›postmigrantisch‹ über ›das Postmigrantische‹ zu einem in der insbesondere deutschsprachigen Akademia sowie im publizistischen Kontext vielbeachteten und gebrauchten Konzept entwickelt. Im deutschsprachigen Raum kursiert der Begriff immer mehr, transzendiert ganze Sparten der Kunst- und Kulturarbeit – oft ohne eine konzeptuelle Konkretisierung oder Referenzierung, sondern vielmehr im Sinne eines Begriffs, der politische Solidarität mit migrantischen Gesellschaftsentwürfen, -subjekten und -realitäten markiert – oder, perfide formuliert, der als modischer Signifikant Anschluss an anti-rassistische, pro-migrantische Haltungen signifiziert.3 Seit seiner Verwendung durch die Intendantin des Ballhaus Theaters an der Naunynstraße, Shermin Langhoff (2011), ist er zu diesem »flottierenden Signifikanten« geworden. ›Postmigration‹ findet oft dann Verwendung, wenn damit eine politische Haltung in Solidarität mit einer Gesellschaftsvision verkündet wird, die durch Migration geprägt ist und in der Zugehörigkeit als nicht ethnischessenzialistisch reserviert angenommen wird. 3
Vor allem lassen sich derartige Tendenzen im Theater beobachten (vgl. Azadeh 2011). Aber auch in der Mode findet das ›Postmigrantische‹ Anwendung (vgl. Gaugele 2019). Auch der 2020 produzierte Coming-of-Age-Film Futur 3 von Faraz Shariat, der vom Spiegel als »postmigrantische Pop-Utopie« definiert wurde, umfasst das ›Postmigrantische‹ (zum Verhältnis von Filmkultur und Postmigration siehe auch die beiden Vorworte von Yildiz und Skrandies in Alkin 2020).
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Einleitung
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Obgleich in beiden Begriffen das ›Post‹ eine kritische und kontraintuitive Markierung setzt, die damit eben nicht Überwindung impliziert (kolonialistischer oder migratorischer Zustände), ist damit noch nicht viel über eine weitergehende Inverhältnissetzung gesagt. Dabei lässt sich ein Verhältnis zwischen beiden Konzepten durchaus festhalten: Die zunehmenden Forschungen zum ›Postmigrantischen‹ haben gemein, dass sie mit dem Konzept auf die Allgegenwärtigkeit und universelle Bedeutsamkeit abheben, die Migration in soziokulturellen Entwicklungen einnimmt. Die Innsbrucker Erziehungswissenschaftler Erol Yildiz und Marc Hill verstehen so unter dem Postmigrantischen »eine Geisteshaltung, eine eigensinnige Praxis der Wissensproduktion. Im Mittelpunkt steht eine kritische Reflexion des restriktiven Umgangs mit Migration und deren Folgen, eine widerständige Haltung gegen hegemoniale gesellschaftliche Verhältnisse« (2018: 8). Der im Diskurs als Begriffsbegründerin bekannt gewordenen Intendantin des Theaters Ballhaus an der Naunynstraße, Shermin Langhoff, »geht es [mit dem Begriff, Ö.A. & L.G] um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen« (Langhoff 2011). Die Soziologin Naika Foroutan definiert in ihren zahlreichen Schriften »postmigrantische Gesellschaften« als jene, in denen mindestens »Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat« (Foroutan 2015). Mit ihrer Kritik an essenzialistischen Modellen von Identität, Raum und Kultur greifen die Überlegungen zur Postmigration auf eine kritische Haltung zurück, die sie insbesondere aus der postkolonialen Theorie entnehmen. Bekannt gewordene Konzepte der postkolonialen Theorie sind u.a. Mimikry (Bhabha), dritter Raum (Bhabha), strategischer Essentialismus (Spivak), Hybridität4 (García Canclini; Bhabha) und kontrapunktische Lesarten (Said)5: 4 5
Nestor García Canclini hat noch vor Homi K. Bhabha den Begriff der »Hybridität« eingeführt, siehe Hybrid Cultures (1989). Die postkoloniale Theorie hat sich ab den 2000er-Jahren verstärkt in den diversen Disziplinen der Wissenschaft durchgesetzt, vgl. Karentzos und Reuter 2012.
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Ömer Alkin und Lena Geuer
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Konzepte, mit deren Hilfe Studien zum Postmigrantischen gegen nationalistische Modelle oder konservative Infragestellungen der Grundsätzlichkeit von Migration in gesellschaftlichen Prozessen argumentieren und vorgehen. Die Künstlerin Tunay Önder und der Politikwissenschaftler Imad Mustafa präsentieren in ihrem Blog Migrantenstadl6 und dem gleichnamigen Buch (Mustafa und Önder 2016) ein Spektrum subversiver Strategien, die sich in ihrer Vielzahl auch in Widerstandskonzepten der postkolonialen Theorie wiederfinden lassen (so z.B. Mimikry). Besonders hat auch der Erziehungswissenschaftler und Soziologe Erol Yildiz die postkoloniale Theorie für die Postmigration in Anschlag gebracht, der in dem Konzept eine Haltung ersieht, die die Universalität der Migration für menschliches Leben und Gesellschaftszustände als selbstverständlich und nicht als ihr Anderes betrachtet; eine Haltung, die das Randständige jenseits der durch den Westen (kolonial) entstandenen Herrschaftszustände (kulturelle Homogenität, Binarismus, Rationalität, Beherrschbarkeit) zur empowernden Sichtbarmachung fokussiert. So stellen für ihn u.a. Gastarbeiter*innen in Deutschland aktive Pionier*innen einer transkulturellen Erneuerungsbewegung und eben nicht, die kulturanderen und zu integrierenden Fremden dar, wie sie die Migrationsforschung lange Zeit entsprechend verhandelte.
Postkolonialismus und Postmigration: Verhältnisbestimmungen? Haben wir einige Verwicklungen zwischen Postkolonialismus und Postmigration kurz angeschnitten, bleibt die Frage nach einer differenzierten Verhandlung der beiden Begriffe bis heute als Forschungsdesiderat bestehen. Unabweisbar zeigt sich, dass das große und weiterhin wirkmächtige Vermächtnis der postkolonialen Theorie, die Diskurse um Postmigration enorm beeinflussen; doch ist Postmigration ein diskursspezifischer Auswuchs der postkolonialen Theorie? Welche Relationalitäten lassen sich produktiv in Anschlag bringen? Dies vorweg: Der Sammelband geht an dieser Stelle von der Beobachtung einer Diskrepanz aus. Einerseits berufen sich aktuelle Konzepte zum 6
http://dasmigrantenstadl.blogspot.com/ (Zuletzt geprüft am 23.11.2021).
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Postmigrantischen auf die postkoloniale Theorie, wenn es darum geht, Methoden und theoretische Ansätze zu entwickeln. Andererseits weisen die Überlegungen zur Postmigration teilweise eine eigenartige Distanz zu den grundsätzlich dekonstruktiven Gesten der postkolonialen Theorie auf. Deutlich macht sich dies beispielsweise in der euphorischen Segnung migrationsgesellschaftlicher Zustände sowie einer scheinbar alternativlosen Sympathie für transkulturelle Konzepte; die sich auch in der postkolonialen Theorie zeigen, wie z.B. im Konzept der »Kreolisierung« von Édouard Glissant7. Daher geht es auch um die Frage, wo beide Konzepte an ihre jeweiligen Grenzen gelangen, wo sie kontraproduktiv für ihre eigenen theoretischen Milieus werden, in denen die Konzepte angewendet werden. Für uns ergibt sich aus den Überlegungen nun folgende Fragestellung: Wie stehen Postkolonialismus und Postmigration zueinander? Inwiefern ändern sich postkolonialtheoretische Perspektiven, wenn Sie für postmigrantische Ansätze nutzbar gemacht werden? Was geht dabei womöglich verloren? Was wiederum kann die postkoloniale Theorie aus postmigrantischen Ansätzen gewinnen und – umgekehrt – die postmigrantischen Ansätze aus der postkolonialen Theorie? Der Sammelband geht diesen Fragen nicht durch theoretisch-konkretisierende Explikationen der Verhältnisse nach, wir erklären hier nicht was Postkolonialismus ist und was Postmigration ist. Vielmehr geht es in den Beiträgen des Buchs um die Verwicklungen der Konzepte, die sich in den Forschungen der Autor*innen sichtbar machen. Einige der Autor*innen forschen seit Jahren zu beiden Begriffen, andere, die seit Jahr(zehnt)en zu Migration forschen, haben durch den Band nun die erste Gelegenheit wahrgenommen, ihr Verhältnis zur Wechselbeziehung beider Konzepte zu ergründen. Der Band tastet sich damit an das Spektrum der Relation beider Begriffe heran – nicht um das Spektrum zu definieren, einzugrenzen oder diskursiv zu beherrschen, sondern um dem Moment seiner Realisierung in Forschungsaktivitäten zu Kunst, Medien und Migration nachzuspüren. Wir argumentieren hier für eine forschungsanalytische Perspektive, die so zugleich auch die Produktivität einer gemeinsam adressierten Fragestellung für künftige Forschungsansätze zum Postmigrantischen vernehmen lässt. 7
Wir danken an dieser Stelle Sophia Prinz für die Erinnerung an das multikulturalistische Konzept von Glissant.
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Ömer Alkin und Lena Geuer
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Oder gar empathischer formuliert: Wir setzen uns für ein Verständnis von Postmigration ein, das dafür argumentiert, den Überhang von Diskussionen und Auseinandersetzungen aufseiten der postkolonialen Theorie durch Inverhältnissetzungen zu Forschungen des Postmigrantischen zu differenzieren. Was kann die postkoloniale Theorie dezidiert aus einem vornehmlich national gespeisten Wissen im deutschsprachigen Raum für sich gewinnen – einem Raum, der sich der Inkorporation durch postkoloniale Kritik lange Zeit versucht hat zu verwehren?8
Die Beiträge Um den Stand der postkolonialen Theorie für den deutschsprachigen Raum abzurufen und dadurch gleichermaßen Aktualisierungen hinzuzufügen, haben wir einen Aufsatz von Leela Gandhi inkludiert. Gandhi hat 2019 ein weitreichendes und diskursspezifizierendes Einführungsbuch zur postkolonialen Theorie in zweiter Auflage herausgebracht (2019), die sie in dieser Neuauflage um einen Epilog (Originaltitel: »If this were a Manifesto for Postcolonial Thinking«, Gandhi 2019) erweitert hat. Diesen Epilog erachten wir aufgrund seiner monumentalen Stoßrichtung und zentralen Diskursverzweigungen als wichtig für den deutschsprachigen Kontext und haben ihn für den Sammelband deshalb übersetzt. In ihrem »Beinahe-Manifest« zum Postkolonialismus versucht Gandhi nicht nur, postkoloniales Denken an sich zu charakterisieren und dessen Leistung zur Beschreibung (wissenschaftlichen) Weltgeschehens zu spezifizieren. Durch eine kultur- und politikwissenschaftlich sowie historisch reich informierte Sicht kann sie darüber hinaus die Verwicklungen postkolonialer Theorie mit akuten monumentalen Fragen verbinden und so zugleich erneuernde und – aufgrund der zuspitzenden Form synoptischer Thesen in Form von Vorschlägen – operable Angebote für ein Weiterdenken der postkolonialen Theorie machen: Ausgang (exit), Passivität, Anarchismus, 8
Denker*innen des 20. Jahrhunderts haben den Begriff der Migration und Theorien über ›das Fremde‹ in ihren kritischen Überlegungen und Theorien stets mit angeführt. So sei auf die Denker*innen der Frankfurter Schule oder die späteren Denker*innen des Poststrukturalismus und Intellektuelle in der Diaspora sowie im Exil verwiesen.
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Einleitung
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Gewaltlosigkeit, Verzicht sind dabei für sie zentrale Kategorien einer postkolonialen Theorie, von denen wir denken, dass sie hierzulande immer wieder Anwendung finden müssten. Wie Gandhis Beitrag zeigt, betrifft die Postkoloniale Theorie Fragen und Herausforderungen der Ökologie und damit auch Fragen nach dem Ende und Anfang eines neuen Menschlichen, nach Planetarität, Ethik und Ontologien in den sich wandelnden globalen Verhältnissen und darüber hinaus. Ökologie ist hier nicht eine aus makroskopischer Größe zu imaginierende Facette der Zukunft des Zusammenlebens, sondern eine Skalierungsgröße zwischen dem Mikroskopischen und Makroskopischen und damit zwischen Mensch und Umwelt, Epistemologie und Ontologie, Natur und Kultur, die diese Begriffe wechselseitig durchschreitet, wie Gandhi eindrücklich in ihrem Aufsatz darlegt. Prangert Gandhi und damit die postkoloniale Theorie diese globalen Verhältnisse an, liegt ein Schwerpunkt der postmigrantischen Auseinandersetzungen in einer Kritik soziologischer Modelle, die den methodischen Nationalismus avisieren – ein Momentum, das im Herzen der »DissemiNation« (Bhabha 2000) und damit der Kritik am Nationalen in der postkolonialen Theorie liegt. So erläutert Erol Yildiz, der den Diskurs um das Postmigrantische maßgeblich prägt, in seinem Beitrag die Verhältnisse zwischen Postmigration und postkolonialer Theorie und spannt einen Weg auf, der vom »Postkolonialen zum Postmigrantischen« und so insgesamt zu einer »neuen Topografie des Möglichen« führt. Yildiz begreift Postmigration als eine Gelegenheit zur Selbstkritik und Einnahme einer epistemologisch erneuernden Forschungshaltung, die Migration und die mit ihr einhergehenden Diskurse und Forschungen zu re-perspektivieren sucht. Für ihn sind demnach Migrant*innen keine zu bemitleidenden, passiven Subalterne, wie sie postkolonialtheoretische Sichten auf die Zustände in Deutschland oftmals noch generiert hatten.9 Dadurch stellt das Postmigrantische etwas dar, das sich zwar vom Postkolonialismus speist, aber sich darin nicht erschöpft und spezifische kritische Implikationen zugunsten einer ›positiven‹ Epistemologie und Ontologie einer inklusiven Migrationsgesellschaft wendet. 9
Auch Nikita Dhawan möchte die Situation von Migrant*innen in Deutschland differenzierter und im globalen Kontext betrachten (2007).
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Ömer Alkin und Lena Geuer
In dem Wunsch nach Umschreibung der Diskurshistorien zu Migration sieht er ein emanzipatives Potenzial der Umgangsweisen mit gesellschaftlichen Verhältnissen begründet. Das Postkoloniale begreift er als einen Ausgangspunkt. Postkoloniale Beschreibungen der Gewordenheiten der Welt ermöglichen zu verstehen, weshalb das Postmigrantische für die Umschreibung von Perspektiven und dieser Verhältnisse erst möglich wird: Eurozentrismuskritik, Kritik am methodischen Nationalismus und am System der Nationalstaaten, Kritik der Historien des Imperialismus und Kolonialismus, Kritik der westlichen Rationalisierungsprojekte, ja, gemeinhin der Weltgeschichte(n), die dezidiert postkoloniale Projekte sind, liefern als Denkzeugnisse und Ausgangspunkte die Grundlagen für jene Argumentation einer Perspektive der Postmigration. Postkolonialismus ist in seiner Sicht genealogisches Fundament. Auch für die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Vittoria Borsò steht die Frage nach der Nation im Raum, deren Narration Migrationsprozesse unsichtbar gemacht habe, um das nationale Konzept von Identität aufrecht zu erhalten. Doch gibt es kein geschlossenes Modell von Identität, welches das ›Eigene‹ bewahren und das ›Fremde‹ verdrängen könne. Borsò bekräftigt ihre These u.a. durch Michel Serres’ Begriff des Parasiten sowie Roberto Espositos Konzept der Immunitas. Anhand dieser Konzepte verdeutlicht sie, dass sich die Auseinandersetzung mit dem ›Außen‹ vielmehr als Lebensnotwendigkeit darstellt: Migration müsse demnach nicht als Krise oder Sonderfall, sondern vielmehr als ein »Normalfall der Herkunft von Kulturen« (S. 100) verhandelt werden. Diese Verhandlung verortet die Autorin im Dazwischen, nämlich auf der »affektiven Grenzzone« (S. 113) zwischen sinnlichen Körpern und materiellen Kulturen. Durch ihr Denken in Affekten nimmt die Autorin die Perspektive der Ästhetik ein und markiert dadurch einen ›blinden Fleck‹ im Ansatz der postkolonialen Theorie. Ihre Analyse stützt sich auf den Roman Black Bazar (2010) des westkongolesischen Schriftstellers Alain Mabanckou, welcher die Metropole Paris in Hinblick auf Prozesse der Migration betrachtet. Hier wird das Leben als sinnlich-materielle, als »somatische Erfahrung des Miteinanders« (S. 112) dem sozialen imaginierten Paris, welches Borsò als »Traum der Elite« (S. 108) entlarvt, nicht bloß gegenübergestellt, sondern im Sinne einer gelebten ›postmigrantischen Gesellschaft‹ erfahrbar gemacht und verhandelt.
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Einleitung
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Für Heidrun Friese werden in der mit dem Postmigrantischen einhergehenden Erneuerungsbewegung vielfältige Aspekte der postkolonialen Kritik verschleiert. In denjenigen Interpretationen von Postmigration, die eine epistemologische Wende sehen, ginge eine Gefahr der Essenzialisierung einher, da unklar würde, ob mit dem Diskurs des Postmigrantischen eine »teleologische« (S. 121) Gesellschaftsanalyse versucht oder normative Gesellschaftsentwürfe entwickelt würden. Der Abgrenzungsgestus, den sowohl eine strategisch essenzialistische Nutzung des Postmigrationsbegriffs gegenüber »Nicht-Migrierten«, der »Dominanzgesellschaft Zugehörigen« mit sich bringt, als auch eine Auslegung, die im Begriff eine Diskurserneuerung überkommener Annahmen sucht, sei problematisch. Denn so werde durch Postmigration eine Binarität erschaffen, die der Begriff als postkolonial inspiriertes machtkritisches Projekt eigentlich erst zu suspendieren suche. Friese schlägt eine Dekonstruktion »herkömmlicher Migrationsforschung« (S. 127) vor, die sich aus Derridas Beschäftigung mit dem Anderen speist. Dies impliziert für sie nicht nur die Kritik an einer überhistorischen (westlichen) Raum- und Zeitlichkeit, sondern Dekonstruktivismus als Unaufhörlichkeit von Kritik, die in Demokratien eingespeist ist. Statt eine neue Ontologie einer Migrationsgesellschaft zu entwerfen, die einen kritischen, binär abgrenzenden Gestus impliziert, fordert sie als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Gesellschaften die Akzeptanz einer Theorie der unauflöslichen Spannung ein, die Aporien gegenüber genauso offen bleibt wie die Verunmöglichung zwischen Sprache und Identität. Ömer Alkin unternimmt in seinen mäandernd-essayistischen Überlegungen Versuche, den Postmigrationsbegriff als strategisches Instrument wissenschaftlicher Praxis zu beschreiben, die sich der Ordnung des Diskurses fügt. Sein Ziel ist es, auf der einen Seite das bestehende Bedeutungsspektrum analytisch zu rekapitulieren. Auf der anderen Seite bettet er so das Konzept in ein Verhältnis zur postkolonialen Theorie ein. Dieses Verhältnis versteht er als familiäre Verwandtschaftsbeziehung, in der der Postkolonialismus das übergeordnete System darstellt. Er plädiert schließlich für eine Produktivmachung von Postmigration als analytische Perspektive, die sich in der Untersuchung des Verhältnisses zu Imperialismen als »monumentalere Zukunft« (S. 162) entwirft, als es bis jetzt der Fall ist.
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Ömer Alkin und Lena Geuer
Auch Isabell Lorey widmet sich kritisch Modellen von insbesondere linearer, phasenmodaler Zeitlichkeit, weil sie darin die Verhinderung von Demokratie und in der Überwindung dieser Zeitlichkeiten zugleich das Potenzial politischen Widerstands sieht. Entlang einer rassismuskritischen Untersuchung der Analysen von Frantz Fanon zum Verhältnis von Sprache, Blick und Entmenschlichung sowie den daran anschließenden Weiterführungen von Fred Moten zeigt Lorey den Zusammenhang von postkolonialem Denken und Prozessen der Andersmachung auf. Hier werden Postkolonialismus und Postmigration miteinander verbunden, auch mit den Analysen von Fanon. Lorey insistiert hier auf der Dimension der Gegenwart, die nicht als ein im »bürgerlichen Historismus« (S. 188) entworfenes Moment zu verstehen ist, genauso wenig wie die Zeitaspekte des Präfixes ›post‹ der beiden zentralen Konzepte von Postkolonialismus und Postmigration nur ein Moment der Überwindung bedeuten. Gegenwart ist für sie vielmehr ein »prozesshaftes Präsens« (ebd.), in welchem politischer Widerstand im Sinne einer humanistischen Ethik überhaupt erst möglich wird. Auch für Marianne Pieper kann sich das Postmigrantische, als postkoloniale Kritik, besonders in rassismuskritischen Auseinandersetzung artikulieren. Anhand des sog. Problemviertels »Phoenix-Viertel« in Hamburg-Harburg verfolgt sie Strategien und rassistische Dynamiken der Ausschließung Migrationsanderer. Allerdings entdeckt sie im Viertel Widerstandspotenzial, das sich besonders auf die nationalkulturelle Essenzialisierung der dortigen Bewohner*innen richtet. Dieses eher unintendierte Potenzial zum Widerstand speise sich aus ›taktischen Aneignungen‹ (S. 210), den Verortungs- und Identifizierungspraktiken der Bewohner*innen – Praktiken, die sich eben nicht im Nationalen, sondern im Lokalen verorten und sich eher prozesshaft, fluid in »Affekten, Empfindungen, Energien und Intensitäten« (S. 212) sowie in der »Qualität der verkörperten Erfahrung von Konnektivität und Kollektivität« (ebd.) realisieren. Postkolonialismus und Postmigration verbinden sich in Piepers prozessontologisch inspirierten Ansätzen zu Perspektivbündnissen, in denen beide Konzepte – wie in nahezu allen Texten – gar nicht getrennt zu betrachten sind. Die Kulturwissenschaftlerin Feben Amara entfaltet am Beispiel des postmigrantischen Theaters eine Diskursgeschichte zum Konzept des
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Postmigrantischen und verwebt diese zugleich mit Kritiken, die sie aus der postkolonialen Theorie entlehnt. Auch für sie ist postkoloniale Theorie dem Postmigrantischen nicht äußerlich. Sie geht auf die Geschichte des Aktivismus von pro-migrantischen Akteur*innen ein und analysiert entlang von spezifischen Theaterproduktionen die postkolonialen und postmigrantischen Produktivitäten, die sie besonders in der Leistung von dekonstruktiven Adressierungen der Themen von Identität und Kultur ersieht. Dabei steht jedoch nicht ein neuer Gesellschaftsentwurf des Postmigrantischen im Vordergrund. Vielmehr geht es um zweierlei: Amara etabliert eine Kritik am Theatersystem, in welcher sie anhand von Theaterstücken, Fragen des postmigrantischen Zusammenlebens untersucht. Sie analysiert, inwiefern sich überhaupt ein postmigrantisches Theater nach Shermin Langhoffs programmatischem Ausruf bereits realisiert hat. Dadurch erörtert Amara sogleich die Möglichkeit einer als postmigrantisch zu bezeichnenden Theaterkultur, statt sie lediglich vorauszusetzen. Zweitens geht es ihr um die Umsetzung von Diversitätskulturen in den Institutionen selbst. Den Diskursen um das Postmigrantische stehe eine Uneingelöstheit ihrer Prinzipien in den institutionellen Strukturen von Kunst und Kultur entgegen, die nur durch Institutionenkritik und machtvoll-praktische Veränderungen (beispielsweise durch die Etablierung eines diverseren Personalapparats) auch in die quantitativ wirksame Umsetzung inhaltlichdiverserer Anliegen führen könne. Burcu Dogramaci hat für den deutschsprachigen Raum als eine der ersten Kunsthistoriker*innen neben der Perspektive der Migration auch das Konzept des ›Postmigrantischen‹ mit der Bildenden Kunst in Verbindung gebracht und dadurch einen neueren kunstwissenschaftlichen Diskurs eingeleitet. In ihrem Aufsatz untersucht Dogramaci anhand der Arbeiten der Künstlerin Cana Bilir-Meier die Artikulation postmigrantischen Denkens und überführt damit die Frage nach der Postmigration in den Bereich der Sichtbar- aber auch Unsichtbarkeiten. Ganz konkret fragt Dogramaci danach, wie sich die Kunst innerhalb einer von der Postmigration beeinflussten »epistemologischen Wende« (S. 242) verortet. Zugleich legt sie durch die Analyse der Arbeiten von Cana Bilir-Meier dar, wie diese Wende künstlerisch mitgestaltet wird. Dadurch, dass die Künstlerin Cana BilirMeier in ihrer Arbeit u.a. auch ihre intime und private Familiengeschichte verhandelt, verschwimmen die Grenzen zwischen künstlerischem Subjekt
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Ömer Alkin und Lena Geuer
und Kunstobjekt sowie zwischen dem Eigenen und dem Fremden, so Dogramaci. Damit wird die Frage nach der Identität von Anfang an auf ihre dichotomische Auslegung hin kritisch überprüft, um nicht innerhalb von Dualismen zu argumentieren, sondern diese vielmehr über das Regime der Sichtbarkeit als solche zu entlarven. Für die Kunstgeschichtsschreibung führt die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Postmigration nicht nur zu theoretischen Neuansätzen, sondern insbesondere auch zu praktischen Transformationen. Denn wie Dogramaci anhand des Beispiels einer Ausstellung von Cana Bilir-Meier im Hamburger Kunstverein darlegt, verändern sich über eine spezifische künstlerische Praxis auch die Begriffsrelationen von ›Kunst und Partizipation‹ sowie ›Kunst und Institution‹. In der Kunst Bilir-Meiers werden Erinnerungen in die Gegenwart transportiert und auch von hier aus verhandelt. Dogramaci weist dementsprechend darauf hin, dass die Arbeit an den Modellen der Historiografie immer auch Selektionsprozessen unterworfen ist, weshalb andere mediale und postmigrantische Narrationen geschaffen werden müssen. Mithu Sanyal betreibt eine scharfe Gegenlesung der Berichterstattung in Deutschland zu Migration, in welcher sie Narrative zwischen ›gefährdeten‹ und ›gefährlichen Körpern‹ einer rassismuskritischen Analyse unterzieht. Während in der nationalen, aber auch internationalen Presse ›fremde Körper‹ häufig als ›gefährliche Körper‹ imaginiert und dargestellt werden, deckt Sanyal die strukturelle Diskriminierung innerhalb der Maschinerie der Meinungsmache auf. Aus »gefährdeten Körpern« (S. 269), wird so – wie sie anhand der Silvesternacht in Köln und dem Phänomen vom »Postkölnialismus« (S. 270) darlegt – ein rassistisches Bild von kategorisch »gefährlichen Körpern« konstituiert und stets aufs Neue rekonstruiert. Die Folgen solcher strukturellen Rassismen und Stigmatisierungen reichen weit über die Grenzen des Lokaljournalismus hinaus, wenn beispielsweise nationale Instanzen wie die Polizei oder auch die Politik in den verschiedenen Diskursen zur Stellungnahme aufgefordert werden. Darüber hinaus zeigt Sanyal, dass Machtpositionen der ›westlichen Kultur‹ gegenüber der vermeintlich anderen, ›islamischen Kultur‹ infrage gestellt werden müssen. Beispielsweise wird die Vorstellung und Aneignung von der sexuellen Revolution als eine »Erfindung des Westens« und damit auch die vom Westen in den globalen Süden transportierte
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Aufklärungspolitik als neokoloniale Geste entlarvt. Anhand zahlreicher, schmerzhafter Beispiele, die das Ausmaß der kritisierten Problematik unterstreichen, legt Sanyal die Krise der »Empathie-Ökonomie« (S. 278) dar. Veronika Kourabas und Paul Mecheril weisen in ihrem Beitrag auf die Gefahr des Begriffs »postmigrantische Gesellschaft« hin, der sich im Konflikt zwischen nationalstaatlichen Interessen und dem politischen Konsens auf eine ›postmigrantische Gegenwart‹ aufzeige. Ausgehend vom Nationalstaat könne es keine ›postmigrantische Gesellschaft‹ geben, da die Einschränkung und Begrenzung von Migration von Anfang an in der Konstitution des Nationalstaates angelegt sei. Indem die Autor*innen zwischen gesellschaftspolitischen und nationalen Interessen differenzieren, plädieren sie zugleich für die weitere Verwendung des Begriffs der ›Migrationsgesellschaften‹, um gesellschaftliche Situationen im Kontext der Migration beschreiben zu können. Für ihre Analyse nehmen die Autor*innen aufgrund der konzeptuellen Ambivalenz im Begriff der ›Postmigration‹ statt einer ›(post)migrantischen‹ vielmehr eine ›rassismustheoretische Perspektive‹ ein. Als eine intellektuelle Vertreterin von Fragen zum Zusammenhang von Kunst, Migration, Postkolonialismus und Biopolitik stehen Hito Steyerl und ihre Arbeiten seit einiger Zeit im Aufmerksamkeitsinteresse künstlerischer, politischer und alltagsmedialer Diskurse. Jolanda Wessel evaluiert das auch wissenschaftliche Schaffen der Künstlerin mit Blick auf die Umsetzungsqualitäten postkolonialer sowie postmigrantischer Diskurse. In ihren, an akuten Gesellschaftsfragen und »Alltagsund Lebenszugewandtheit« (S. 347) orientierten Werken artikulieren sich wissenschaftsprogressive Zugänge wie der Neumaterialismus und Posthumanismus. Dadurch zeigen sich ihre Werke weniger als Illustrations- denn Aktualisierungsmaterial postkolonialer und postmigrantischer Diskurse. Die Diskurshistorie der Postmigration steht noch an ihrem Anfang und sie speist sich aus dem stets aktualisierenden Erbe der postkolonialen Theorie. Die Bündnisse und Relationalitäten zwischen beiden Konzepten sind selbstverständlich so frisch wie die kurze Geschichte der Postmigration selbst. Wie wir weiter oben aufgeführt haben, spielt die Postmigration für die deutschsprachige Situation eine wichtige Rolle und die jungen Diskurshistorien zur Notwendigkeit einer Dekolonialisierung der Welt werden von den Euphorien der Postmigration hoffentlich so profitieren
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Ömer Alkin und Lena Geuer
wie die postnationalen Effekte, die die postkoloniale Theorie einbrachte. Ob die Postmigration ins Feld des Postkolonialismus rückspielbar sein wird bzw. in bestimmte Bereiche auch bereits zurückspielt, bleibt als Forschungsdesiderat für weitere Überlegungen offen. Durch den vorliegenden Sammelband manifestiert sich jedoch bereits an dieser Stelle die Formulierung einer Forderung, die wir hiermit stellen wollen: Es braucht eine postkoloniale und postmigrantische Gesellschaft, die sich als solche begreift und als solche handelt.
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Ömer Alkin und Lena Geuer
Sharifi, Azadeh (2011): Postmigrantisches Theater. Eine neue Agenda für die deutschen Bühnen. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld: transcript. S. 35–45. Silber, Stefan (2021): Postkoloniale Theologien. Eine Einführung. Stuttgart: utb. Villa, Paula-Irene / Reuter, Julia (Hg.) (2015): Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention. Bielefeld: transcript. Yildiz, Erol / Berner, Heiko: Postmigrantische Stadt: Eine neue Topographie des Möglichen. In: Zeitschrift für Migrationsforschung 1 (2021). S. 243–264. Yildiz, Erol / Hill, Marc (Hg.) (2019): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Bielefeld: transcript.
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»Wenn dies ein Manifest für postkoloniales Denken wäre…«
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Leela Gandhi
»Wenn dies ein Manifest für postkoloniales Denken wäre…«1 Einleitung Seit der Veröffentlichung von Edward Saids Orientalismus hat der Postkolonialismus quer durch die Disziplinen hinweg großen Einfluss genommen. Er hat zu transnationalen Erkenntnissen geführt. Er hat auch den Imperialismus ins Zentrum moderner Macht gestellt – als eine Technologie der Schädlichkeit, die nach entsprechendem Einspruch verlangt. Dieser letztgenannte Aspekt, so werde ich im Folgenden argumentieren, etabliert postkoloniales Denken als eine zeitgenössische Philosophie des Verzichts, die mit einem spezifischen Vorschlag für ein unverletztes Leben und eine gewaltlose2 Gemeinschaft einhergeht. Im weiteren Verlauf werde ich eine Bestandsaufnahme der einschlägigen Entwicklungen im Feld vornehmen und meinen Standpunkt in sieben Unterabschnitten darlegen: Assemblage, Verletzung, Exit (Ausgang), Ontologie, Verzicht, Ethik und Ratschläge für Könige. Jeder dieser Unterabschnitte endet mit einem Vorschlag.
Assemblage Das postkoloniale Denken besteht aus heterogenen Elementen ohne interne Gattungshierarchien (wie Repräsentation/Ereignis, Semiotik/Material oder sogar Theorie/Praxis). Was wir stattdessen haben, sind Beziehungen 1
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Der Originaltext auf Englisch ist ein Epilog, den Leela Gandhi für die Neuauflage Ihres Buchs »Introduction to Postcolonial Theory« (2019), Columbia University Press (CUP), verfasst hat. Die Übersetzung ist eine gekürzte Fassung des Textes. Wir danken CUP für die Genehmigung zur Übersetzung und Abdruck. Wir [die Übersetzer*innen] haben uns entschieden, den schwierigen Begriff »noninjuriousness«, welcher wortwörtlich eine ›Nicht-Verletzung‹, bzw. eine ›Unschädlichkeit‹ meint, mit ›Gewaltlosigkeit‹ zu übersetzen. Siehe zu diesem Begriff insbesondere die Ausführungen im Teil zu »Exit – Ausgang«.
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Leela Gandhi
zwischen symmetrischen Figuren in einem Raum der Aushandlung. Verschiebungen der Stimmungslagen oder der Bevölkerung erzeugen immer wieder neue Bedeutungen, z. B. wenn alte disziplinäre Antagonismen enden oder neue archivische Annäherungen entstehen, oder wenn historische oder konzeptuelle Figuren im Feld auftauchen und wieder verschwinden. Es gibt viele Namen für diese Art von Formation: Apparat, Netzwerk, Ensemble, Assemblage und seit kurzem auch Affordanz – was die interaktive Gesamtheit von Subjekt und Objekt, Gedanke und Ding in jeder effektiven Gestaltung beschreibt. In diesem Kontext gefällt mir auch das umgangssprachliche Hindi-Wort jugaad, das sich auf ein behelfsmäßiges Vehikel oder eine Art von sparsamer Technik beziehen kann, die alle zur Verfügung stehenden, begrenzten Ressourcen nutzt. Diese Ressourcen gehören vielleicht nicht zusammen und werden sich, sobald die Arbeit getan ist, wahrscheinlich auflösen. Aber ihre überraschende Kombination ist effektiv (sie bringt etwas zum Laufen) und innovativ (sie baut etwas Neues auf ). Lassen Sie mich im Verlauf kurz auf die drei vorherrschenden Elemente der postkolonialen jugaad oder Assemblage eingehen, die ich im Hinterkopf habe: westliche Selbstkritik, antikoloniale Befreiung und Planetarität.
Westliche Selbstkritik Kritiker*innen behaupten, der Postkolonialismus sei ein umgekehrter Ethnozentrismus, der Europa essenzialisiert und seine historische Heterogenität verflacht habe (vgl. z.B. Chibber 2013; Cooper 2005; Hardt und Negri 2000; Brown 1995). Hier lautet der Vorwurf häufig, dass der Postkolonialismus aus einer Position des radikalen Kulturrelativismus gegen die westliche Moderne predige. Doch häufig wird aus Europa (bzw. aus dem empire) gegen den europäischen Kolonialismus argumentiert. Und die Geschichte des westlichen Anti-Imperialismus ist mindestens so alt wie die des westlichen Imperialismus. Beispielhaft dafür ist hier die Kritik an der Aufklärung, die für den Postkolonialismus als eine Disziplin so wichtig war. Sie setzt an der französischen Aufklärung an und bezieht deren anti-imperialistische Aspekte über ihre gesamte Entwicklung von zwei Jahrhunderten mit ein. Auch die deutsche Gegenaufklärung kann beispielsweise als antikolonial begriffen
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werden. Sie beginnt als eine Forderung nach intellektuellem Pluralismus, der als Reaktion auf die Hegemonie des französischen Szientismus entstanden ist. Diese Gegenaufklärung summiert sich so insgesamt zu einer Reihe von Forderungen nach einem kulturellen Nationalismus, der gegen die territorialisierende Kraft des napoleonischen Revolutionsimperiums in Europa gerichtet ist (vgl. Pocock 1999: 125–139; Berlin 2000; Foucault 1997a: 41–81; Marchand 2009: 38–52). Dezidiert antikoloniale Elemente, die sich auch als solche verstehen (die auch aus heutiger Sicht noch als solche erkennbar sind), treten mit den in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzenden Beiträgen der Frankfurter Schule in die westliche Gegenaufklärungstradition ein. Mit Büchern wie Die Dialektik der Aufklärung, Die Finsternis der Vernunft und Minima Moralia setzten – Saids These aus seinem Orientalismus vorwegnehmend – Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Polemik in Gang, dass ein gewisser Beherrschungswille im Zentrum des westlichen Denkens steht (Adorno und Horkheimer 2002; Horkheimer 1947; Adorno 2006; siehe auch Jay 1996). Diese Hypothese und die Arbeit von Adorno, Horkheimer und Herbert Marcuse hatten einen großen Einfluss auf die entstehende Neue Linke – eine Koalition von Aktivist*innengruppen, radikalen Student*innenbewegungen und öffentlichen intellektuellen Vereinigungen, denen das Verdienst zugesprochen wird, den exklusiven Klassenfokus des orthodoxen Marxismus mit seiner Behauptung, der Imperialismus sei die hartnäckigste Form des modernen Autoritarismus, zu diversifizieren. Die Bewegung der Neuen Linken begann in Europa, um auf dem Höhepunkt der Ära der Entkolonialisierung gegen die sowjetische Unterdrückung der ungarischen Revolution von 1956 und die britische und französische Invasion in der Suez-Zone zu protestieren. Nordamerika griff (im Kontext der kubanischen Revolution) die ›Dritte Welt‹ als ihre cause célèbre auf und konzentrierte sich auf Synergien zwischen Imperialismus und die Ungerechtigkeit der Rassisierung3 sowie auf die staatliche Ein3
Wir haben uns gegen eine Ausschreibung von Rasse und für eine Verwendung des Begriffs Rassisierung entschieden. Zu den Hintergründen dazu siehe: www.geschlecht-und-innovation.at/begriffe/rassisierung_und_ethnisierung/ (Letzter Zugriff: 13.12.2020) [A.d.Ü].
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Leela Gandhi
mischung in Mittel- und Südamerika und in Südost- und Ostasien nach dem Kalten Krieg. Dazu gehörte auch die Bildung von Kollektiven gegen den Vietnamkrieg. Alle Bemühungen der Neuen Linken hatten eine erkenntnistheoretische Dimension mit ausgeprägten gegen-aufklärerischen Zügen und sie betonten die Untrennbarkeit zwischen einer bestimmten Art von Wissen (mechanistisch oder abstrakt oder rationalistisch) und einer bestimmten Art von Herrschaft (umfassend und totalitär).4 Wissenschaftler*innen behaupten, dass für Beweise westlicher Selbstkritik gar nicht bis zur Gegenaufklärung geschaut werden müsse. Viele Aufklärungsphilosoph*innen haben den Aufbau von Imperien unmittelbar als unmenschlich und nicht umsetzbar angegriffen. Aufklärerische Ansätze, die Demokratie als ethisches Unternehmen verstanden, hatten ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf das europäische antikoloniale Denken. Doch worin bestanden sie? Führende Denker*innen des 18. Jahrhunderts, darunter Rousseau, Bentham, Adam Smith und Kant, schlugen vor, dass das republikanische Bürger*innen-Subjekt in dem Maße frei von äußeren Zwängen (der Herrschaft eines anderen) ist, in dem es die Beschränkungen des eigenen Gewissens akzeptiert und sich auf dessen Fragen einlässt: ›Genießen andere die gleichen Freiheiten wie ich? Sind meine Freiheiten für andere schädlich?‹ Diese intime Form der Selbstkritik geht von der Annahme aus, dass auf persönliche Güter und Freiheiten vorläufig verzichtet werden sollte, bis sie aufs Äußerste geteilt werden können.5 […]
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Der junge Benedict Anderson, damals Student in Cambridge, gehörte zu denen, die durch die Proteste während der Suez-Krise zu einer antikolonialen Haltung bewegt wurden. Sein Imagined Communities ist eine Anerkennung antikolonialer Nationalismen. Das Buch offenbart auch die Rolle Südostasiens in der Geschichte der Dekolonisierung und des Neokolonialismus des Kalten Krieges. Zu diesem Thema siehe auch Leow 2016 sowie Bayly und Harper 2007. Schlüsselaussagen für die anglo-amerikanische Neue Linke finden sich u.a. in Thompson 1959; Mills 1961; Hall 2010. Siehe auch During 2007 und Farred 2000. Zur Aufklärung und Anti-Imperialismus siehe außerdem Pitts 2005 und Muthu 2003; siehe auch Todorov 2009 und Balibar 2002; zu ethischer Demokratie siehe Gandhi 2014.
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Antikoloniale Befreiung Postkoloniales Denken greift auch auf antikoloniale Befreiungsbewegungen zurück. Die Netzwerke dieser Bewegungen sind vielschichtig. Sie umfassen Ereignisse wie die haitianische Sklavenrebellion der 1790er-Jahre sowie die asiatischen und afrikanischen Nationalismen Mitte des 20. Jahrhunderts. Dies waren Kämpfe um die Staatsbürger*innenschaft im Kontext des europäischen Imperialismus. Tatsächlich handelte es sich nach Laurent Dubois (2004) um Kämpfe für die Universalisierung der politischen Rechte, die in der französischen »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1789 über Europa hinaus verkündet wurden.6 Auch wenn anti-imperialistische Nationalismen Projekte der Abspaltung (oder der Autonomie) sind, die auf einer radikalen moralischen Differenz zu Europa bestehen, teilen sie sich auf diese Weise eine revolutionäre Geschichte mit Europa und verfeinern diese sogar.7 Diese Befreiungskampagnen sind nicht von Natur aus sektiererisch. Viele von ihnen beteiligten sich am Internationalismus nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und erweiterten seine Reichweite.8 In der Tat haben viele der Kampagnen zu bahnbrechenden Visionen eines Weltkonsortiums geführt. Die wichtigsten Denker*innen der Négritude-Bewegung strebten nach neuartigen Formen der transkontinentalen Verbindung. […] Manifeste dieser Art widersetzen sich dem, was wir eine Logik der Teilung im Herzen des modernen Imperialismus nennen könnten. Sie tun dies durch ein Programm der revolutionären Geselligkeit. Das Ziel besteht 6 7
8
Für eine klar umrissene Darstellung der haitianischen Revolution im Kontext der Französischen Revolution siehe James 1989. Aus einer anderen Perspektive argumentiert Vergès (1999), dass das Fortbestehen aufklärerisch-republikanischer Ideale innerhalb bestimmter antikolonialer Bewegungen mit rassisierten Ängsten über den Wert des Lebens außerhalb der kolonialen Familienromanze zu tun hat. Pedersen zeigt, wie viele koloniale Nationalist*innen die Plattform des Völkerbundes nutzten, um die Brutalitäten der imperialen Herrschaft zu entlarven und die Sache der nationalen Selbstbestimmung voranzutreiben (2015). Mazower (2009) bietet eine vergleichbare Lesart der Schnittmenge zwischen antikolonialem Nationalismus und Internationalismus in der Nachkriegszeit an.
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Leela Gandhi
darin, Gemeinschaften, Religionen und Geografien wieder zu verbinden, die für die Zwecke der imperialen Verwaltung geteilt wurden, und auch Kant erkannte in seinen Wutausbrüchen über Despotismus in Zum ewigen Frieden (2008) das Prinzip an, dass absolute Herrschaft absolute Zwietracht und Misstrauen (den Zusammenbruch affektiver Bindungen) innerhalb einer unterworfenen Bevölkerung erfordert.9 Doch wenn antikoloniale Nationalismen zu Nationalstaaten werden, wenden auch sie sich gegen die Regierten. Das ist das Schicksal von zu vielen Dekolonialisierungsbewegungen. Die Bevölkerung ist wieder einmal entlang der durch ein imperiales Diktat festgelegten Bruchlinien gespalten. Neue Klassifikationen werden geschaffen, um dieser oder jener Gruppe die eigentlichen Privilegien der Staatsbürger*innenschaft zu entziehen. Beispielsweise wurde der australischen Ureinwohner*innenbevölkerung in einem Verfassungsreferendum erst 1967 mit überwältigender Mehrheit die volle Staatsbürger*innenschaft zuerkannt. In solchen Zeiten wird die antikoloniale Befreiung als ein Kampf der Einwohner*innen gegen den einheimischen Imperialismus neu ausgerichtet. Die Teilhaber*innen öffnen das republikanische revolutionäre Projekt erneut – für bürgerliche Tugenden und gegen unbegrenzte Herrschaft – und verweisen auf ihre Anverwandten in den anderen Bewegungen, die auf der ganzen Welt Minderheiten und gefährdete Bevölkerungsgruppen vertreten. Aus diesem Grund ist die globale Geschichte der Bürger*innenrechte für das postkoloniale Denken von Bedeutung. […] Solche Kämpfe enden nicht im Nationalismus, aber sie sind auch nicht strikt anti-nationalistisch. Das liegt daran, dass im Grunde genommen revolutionäre antikoloniale Nationalismen auch Bürger*innenrechtsprojekte sind.
9
Für Arbeiten zur Trennschärfe des Imperialismus siehe Stoler 2010, Steinmetz 2007, Osterhammel 2005. Mitchell (1991) befasst sich mit der epistemologischen Grundlage imperialer Taxonomien. Zu imperialen Kartografien und zur Aufteilung kolonialer Territorien siehe Culcasi 2012, Craib 2009 und Edney 1997. Siehe auch Harley und Laxton 2001.
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Planetarität Eine letzte Kategorie der postkolonialen Assemblage (und das kann ich hier nur andeuten) betrifft das Streben nach einer unparteiischen Gemeinschaft und die Treuhänder*innenschaft gemeinsamer Ressourcen. Sie wird durch den Begriff Planetarität gut beschrieben und umfasst Aspekte aus allen vorhergehenden Kategorien. Planetarische Perspektiven begreifen die Welt als ein integrales Ganzes und nicht als eine Sphäre, die für die Ressourcengewinnung und durch das Profitkalkül der modernen kapitalistischen Globalisierung aufgeteilt werden muss. Der Planet ist kein Besitz, sagen uns führende Denker*innen immer wieder. Er ist ein Geschenk oder eine Leihgabe und, besser noch, ein Heiligtum, in dem Menschen zusammenleben können.10 Ein Denken dieser Art profitiert vom Umweltbewusstsein unserer Zeit. Dessen auffällig postkolonialer Einschlag gibt der zwischenmenschlichen Verantwortung und dem Einvernehmen zwischen den verschiedenen Spezies die gleiche Bedeutung. Dies soll im Folgenden in zwei Genealogien des planetarischen 10 Das Konzept der Planetarität wurde innerhalb der Geisteswissenschaften von Spivak (2003): 7–102 und Miyoshi 2001 in Umlauf gebracht. Für andere Auffassungen siehe Connolly 2017, Elias und Moraru 2015, Heise 2008 und Rockström et al. 2009. Dieses Konzept steht insbesondere im Gegensatz zu und aufbauend auf den Vorschlägen von Weltsystemanalytiker*innen wie Immanuel Wallerstein, die argumentieren, dass sich die moderne Vorstellung von der Welt aus den Systemen der kapitalistischen und proto-kapitalistischen Globalisierung entwickelt hat. Dies beschreibt einen ungleichen, aber dynamischen Austausch (wirtschaftlich, kulturell, politisch usw.) zwischen hegemonialen (oder Zentral-)Regimen und untergeordneten (oder peripheren und semi-peripheren) Regimen, siehe Wallerstein 2004 und Palumbo-Liu et al. 2011. Für frühere prägende Ansätze solcher Ideen siehe Bloch 1953 und Braudel 1980 sowie Lee 2012. Die Überschneidung von planetarischem Denken und Weltsystemanalyse hat zu einer Neubewertung der akademischen Disziplinen Weltgeschichte und Weltliteratur geführt, siehe z. B. Frankopan 2015, Wiesner-Hanks 2015, Osterhammel 2014, Guldi und Armitage 2014, Arrighi 2010, Burbank und Cooper 2010 sowie Liu 2004. Siehe auch Prendergast 2004, Stanford Friedman 2015, Spivak 2013, Apter 2013, Ramazani 2009, Dimock und Buell 2007, Casanova 2004 und Damrosch 2003. Für Perspektiven aus der Soziologie siehe Bhambra 2014 und Steinmetz 2013.
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Denkens ausbuchstabiert werden. Ich verwende den Begriff Genealogie mit Bedacht, um die Arbeit des Zusammentragens von Ressourcen, Traditionen und Tendenzen anzudeuten, die eine Geschichte der Gegenwart ermöglichen und die Vergangenheit aus der Perspektive zeitgenössischer Belange betrachten. Ein (von der Aufklärung inspirierter) Strang des Planetaritätsdiskurses wächst aus der Verteidigung der universellen Anwendbarkeit des Menschenrechtspakts als etwas, das ohne Unterscheidung hinsichtlich irgendeines Aspektes der Herkunft einer Person und in Anerkennung ihrer unveräußerlichen Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht gewährt werden muss. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Ihr Übergang zu einem globalen und ethischen Menschenbild innerhalb der westlichen demokratischen Tradition ist gut dokumentiert (Moyn 2012 und Hunt 2007). Weniger gut dokumentiert ist die Verdichtung zwischen Menschenrechten und antikolonialen Projekten. Vertreter*innen aus der ganzen kolonisierten Welt wurden ernannt, um unter den ursprünglich achtzehn Mitgliedsstaaten der Menschenrechtskommission zu dienen, und ihre Stimme lässt sich in der antikolonialen Gestimmtheit des Dokuments vernehmen. Die unabhängigen Verfassungen mehrerer ehemaliger französischer Kolonien – Algerien, Niger, Kamerun, Tschad, Elfenbeinküste und Senegal – berufen sich auf die AEMR als Charta anstelle der selektiv-universellen Erklärung der Menschen- und Bürger*innenrechte. Viele glaubten, die AEMR setze den Standard für die Anerkennung der nationalen Selbstbestimmung als eine Basis der grundlegenden Menschenrechte. Sie führte auch zu Forderungen nach Gleichheit in Bezug auf die Bewohnbarkeit des Planeten für alle Bevölkerungen. Dies schloss die Gleichheit der grundlegenden Ressourcen (Nahrung, Wasser, Energie) sowie den fairen Zugang zu verfügbaren kulturellen und politischen Lebensformen ein.11 Eine andere Art von Planetarität (eher anti-aufklärerisch inspiriert) ergibt sich aus der Kritik am Anthropozentrismus als Grundlage auch aller 11 Kritische Darstellungen der Geschichte der Menschenrechte mit Relevanz für die Postcolonial Studies sind u. a. Azoulay 2014, Liu 2014, Klose 2013, Burke 2010, Slaughter 2007, Morinsk 1999 und Vadde 2017: 149–181.
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anderen Formen der Herrschaft und sie ergibt sich aus der Fürsprache für nicht-menschliches Leben und der ökologischen Zukunft. Die Diagnose einer neuen geologischen Epoche – des Anthropozäns – macht menschliche Handlungen und Lebensweisen für ein beispielloses Massenaussterben von Arten verantwortlich. Am einen Ende des Spektrums betont diese Darstellung den katastrophalen Gegensatz zwischen dem menschlichen und dem natürlichen Bereich.12 Auf der anderen Seite weist sie auf die Verstrickung von Natur (nicht-menschliche Kollektive) und Kultur (menschliche Kollektive) und das sowohl positive als auch negative Potenzial der menschlichen Umweltgestaltung hin.13 Vor allem Erklärungen der artenübergreifenden Unterwerfung unter dieselben Regime menschlicher Macht (erkenntnistheoretisch, politisch, führungs- und verwaltungstechnisch usw.) führen zu einer umfassenden ökologischen Sichtweise. Einige nehmen eine Neubewertung der imperialen Vergangenheit in Bezug auf ökologische Rückstände vor.14 Andere stellen menschliches Leben, das aus Gründen des Geschlechts, der Rassisierung oder der Armut usw. als weniger menschlich bezeichnet wurde, in den Vordergrund. Die Figur des Nicht-Ganz-Menschlichen, so das Argument, sei ebenso anfällig für Anthropozentrismus wie nichtmenschliche Entitäten, und sie sei mit einer neuen Art von planetarem Humanismus verwandt, die auf einer Übereinkunft zwischen den Spezies, ja sogar auf einer interontologischen Übereinkunft beruhe (zur Ontologie werde ich später in diesem Beitrag noch mehr sagen müssen).15 12 Siehe Davis 2016, Dawson 2016, Harari 2015, Scranton 2015, McNeill und Engelke 2014 sowie Wiseman 2007. 13 Siehe Latour 2017, Morton 2017, Heise 2016, Moore 2016, Lowenhaupt Tsing 2015 und 2017 sowie Descola 2014. 14 Zum environmental turn, wie er sich auf postkoloniales Denken und Anliegen bezieht, siehe zum Beispiel Povinelli 2016, Ghosh 2016, Kohn 2013, Nixon 2011, Chakrabarty 2009, Tiffin 2007 und Davis 2006. Weitere bahnbrechende Arbeiten zur postkolonialen Ökologie sind DeLoughrey und Handley 2011 und 2015. 15 Siehe Wynter 1989, 1994 und 2003 sowie Grusin 2017, Weinstein und Colebrook 2017, Mmembe 2017, McKittrick 2015, Weheliye 2014 und Bouges 2005. Solche Meditationen lehnen sich an Frantz Fanon (1990) und seiner Bezeichnung der Erde als eigentlichem Lebensraum der leidenden Spezies und als
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Demnach ist die postkoloniale Assemblage ein Schauplatz komplexer Interaktionen, die zu inkongruenten Beziehungen und heterogenen Kollektiven führen – realen und imaginären. Diese können winzig klein und lokal (ein Briefwechsel) oder auch von planetarischem Ausmaß sein (die Auseinandersetzung verschiedener Arten im Kontext der geologischen Zeit). Sie können interdisziplinäre Konvergenzen beinhalten, wie z. B. zwischen antiaufklärerischen und planetarischen oder antikolonial-liberalen und aufklärerischen Perspektiven. All das weist auch auf ein intersektionales Prinzip des Imperialismus als Schauplatz sich überschneidender Grausamkeiten und homöostatischer Ungerechtigkeiten hin. Der Anti-Imperialismus übernimmt demgegenüber die damit verbundenen Einheitsprinzipien, sodass demokratische Gleichheit zu Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, zum Ende des Jim Crowismus, zu den Rechten der Arbeiter*innen, zur Gleichheit der Geschlechter, zu einer ökologischen Ethik und so weiter wird.16 Vorschlag #1: Postkoloniales Denken ist eine Assemblage oder jugaad, die intersektionale Beschreibungen von Imperialismus und AntiImperialismus erfordert.
Verletzung Obwohl der Imperialismus nicht auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Taxonomie oder gar die Geschichte beschränkt ist, gibt es präzise Momente, in denen er mit ungewöhnlicher Wucht ausgebrochen ist, vor allem im Schatten der europäischen Moderne.17 Der moderne Imperialismus, der Grund für eine verbesserte Geschichte der Menschheit an. Die Planetaritätstheorie stützt sich auch auf das vergleichbare Konzept der »Geophilosophie« – eine Philosophie, die die Erde als Ausgangspunkt nimmt –, das von Deleuze und Guattari (1996 und 2003) passim entwickelt wurde. Siehe auch Gasché 2014, Bonata und Protevi 2004 sowie Guattari 2014. 16 Die Popularisierung des Konzepts der Intersektionalität wird Crenshaw (1993) zugeschrieben. Für Arbeiten im Postkolonialismus, die intersektionale/ transnationale Perspektiven veranschaulichen, siehe z. B. Lowe 2015, Gilroy 1995 und Gilroy 1991. 17 Es gibt eine aufkeimende Forschung zu vormodernen und auch zu nichtwestlichen Imperialismen. Zu vormodernen westlichen Imperien siehe z. B.
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das postkoloniale Denken dominiert, wird oft als ein Herrschaftszustand beschrieben, in dem die gewohnten Umkehrbarkeiten (d. h. die sich ständig verschiebenden Kräfteverhältnisse) des demokratischen politischen Lebens ins Stocken geraten sind (Guha 1998 und Foucault 1997). Dieser Zustand ist keine Fehlentwicklung – etwas in der Politik Unerreichtes, wie Hannah Arendt einmal über den Totalitarismus sagte (1948). Er ist auch kein Aspekt der rechtlichen Außerkraftsetzung, die in jedem funktionierenden Gemeinwesen Notfall- oder Disziplinarverfahren zulässt (sodass die Versammlungsfreiheit beispielsweise bei einem Aufruhr aufgehoben oder ein*e Täter*in verhaftet werden kann). Das Imperium verlässt sich stattdessen auf zeitliche Inkonsistenz – eine Doppel-Zeit, wie Homi Bhabha sie nennt –, die der politischen Entwicklung einiger Entitäten eine Verzögerung zuschreibt: durch Argumente dahingehend, dass eine bestimmte Untertanenbevölkerung nicht reif für eine partizipatorische Demokratie oder nicht ausreichend in der Freiheit geübt sei, um sich Selbstbestimmung zu verdienen (Bhabha 1990; siehe auch Mehta 1999). Solche Vorbehalte autorisieren auch eine archaische Gegenkultur (eine Vorkehrung für Stillstand) tief im Inneren der Strukturen moderner Regierungsführung. Mit anderen Worten, einer ungleichmäßig egalitären Regierung wird eine ungleichmäßig moderne Regierungsform zugestanden. Diese selektive Immobilisierung der Politik, die es demselben Akteur erlaubt, gleichzeitig in Freiheit und Tyrannei Handel zu treiben (oder Demokratie im Inland und Despotismus im Ausland), bringt eine Ordnung akuter historischer und moralischer Fehleinschätzungen mit sich, die oft mit Bezug auf das Gleichnis der Unterordnung oder die Herr-Knecht-Dialektik in Hegels Phänomenologie erklärt werden. Wenn die Verhandlung der Intersubjektivität zwischen Herr und Knecht zusammenbricht und in einen Todeskampf ausartet, wird der Sklave letztlich am Leben gehalten, aber (wie Achille Mmembe einprägsam bemerkt) in einem Zustand der Verletzung (Mmembe 2003: 21). Diese philosophische Einbildung beMattingly 2011, Dietler 2010, Hurst und Owen 2005, Mignolo 2003, Schwartz 2001, Pagden 2000 sowie Subhramanyam 1993. Arbeiten, die sich mit vormodernen und modernen nicht-westlichen Imperialismen beschäftigen, sind z. B. Amin 2016, Uchida 2014, Chin 2014, Perdue 2009, Pollock 2009, Young 1998 sowie Myers und Peattie 1987.
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schreibt eine Kernprämisse der eigentlichen institutionellen Sklaverei, wie viele argumentiert haben, und auch der Kolonialherrschaft.18 Lassen Sie mich das erklären. Von Foucault haben wir die ungeheure Einsicht, dass es seit dem 18. Jahrhundert einen entscheidenden Wandel in den europäischen Machtvorstellungen gibt: mit der Erkenntnis, dass die Aufgabe des Regierens ebenso sehr in der Verwaltung von Bevölkerungen und Menschen wie von Territorien besteht. […] Von diesem Zeitpunkt an geht es beim Regieren immer weniger um die Zurschaustellung souveräner Macht und mehr um die Erhaltung menschlichen Lebens. […] Gleichzeitig – und im Einklang mit der Doppelzeit des modernen Imperialismus – laufen solche Entwicklungen parallel zu einer anderen verzerrten Biopolitik für Nicht-Staatsbürger*innen und unterworfene Bevölkerungen. Während diese ebenfalls als menschliche und biologische Ressource für den Staat wahrgenommen werden, wird ihre Lebendigkeit durch ein Kalkül instrumenteller Schädigung aufrechterhalten: z. B. durch das Umwandeln eines Sklavenlebens in nicht mehr und nicht weniger als rohe Arbeit, oder durch die Optimierung der Modernisierung eines Territoriums allein zwecks Rohstoffgewinnung – und das mit minimaler Sorge nach menschlicher und ökologischer Zukunft, geschweige denn ihrem Florieren.19 All dies ist allgemein bekannt, wenn auch nur unzureichend anerkannt. Der Punkt, den ich hervorheben möchte, ist ein anderer, wenn auch davon abhängiger. In diesen Milieus und insbesondere an Schauplätzen kolonialer Begegnungen gibt es immer wieder Diskurse der Transformation, in denen Zustände der Verletzung, des instrumentellen Schadens, ja des Leidens selbst zur Grundlage für Austausch und Solidarität zwischen disparaten Akteur*innen werden. Diese Diskurse können vielfältige Formen anneh18 Buck-Morss (2009) setzt sich mit den historischen Bedingungen auseinander, die Hegels Herr-Knecht-Dialektik zugrunde liegen. 19 Studien zur Verletzlichkeit der Institution der Sklaverei und damit verbundener imperialer Systeme sind u.a. Sharpe 2016, Stoler 2016, Wilderson 2010, Giroux 2006, Baucom 2005, Elkins 2005, Hartman 1997 sowie Patterson 1982. Einige dieser Autor*innen greifen auf den Begriff der Biopolitik zurück, während andere ihn weniger nützlich finden. Siehe z. B. Povinelli 2016, und Clough und Willse 2011. Siehe Liu (2009) für eine Diskussion darüber, wie der Diskurs der Verletzung für die postkoloniale Situation von Bedeutung ist.
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men. Es gibt eine bedeutende Transformation des Wissens, zum Beispiel mit einer größeren Aufmerksamkeit für das Leiden als philosophisches Thema. In seinem monumentalen Werk Das Elend der Welt beklagte Pierre Bourdieu einmal, dass die zeitgenössische politische Kultur und die mit ihr einhergehende akademische Sichtweise die Struktur (z. B. abstrakte Modelle der Partizipation oder der Gerechtigkeit) der individuellen Erfahrung so sehr vorzieht, dass sie nicht nur »den kleinen Entbehrungen und der gedämpften Gewalt des Alltagslebens« (Bourdieu 1999: 629) gegenüber blind ist, sondern diesen sogar aktiv feindlich gegenübersteht. Ich weise auf eine Umkehrung dieser Voreingenommenheit hin, nach der es, zumindest in antikolonialen Kreisen, zum eigentlichen Geschäft des Denkens wird, sich mit alltäglicher Sorge aufzuhalten. […] Schon in den 1920er-Jahren trugen transatlantische Netzwerke all dieser Subkulturen, vor allem aber die des religiösen Pazifismus, dazu bei, das auf ahimsa basierende Denken in der lebendigen afroamerikanischen Presse zu verbreiten. Viele indische und europäische Gandhianer – darunter der britische Missionar C. F. Andrews und der radikale Krishnalal Shridharni, der Gandhi auf dem Salzmarsch begleitet hatte – nahmen Kontakt zu afroamerikanischen Gemeindeleiter*innen und Student*innen auf und beteiligten sich an den Aktivitäten des Congress of Racial Equality. Mit dem Busboykott von Montgomery von 1955 als Protest gegen die getrennte Sitzordnung und unter der Führung von Martin Luther King Jr. wurde die Gewaltlosigkeit als eine Grundlage der Bürgerrechtsbewegung in Amerika festgeschrieben (vgl. Kapur 1992). Vorschlag #2: Postkoloniales Denken bietet eine Abrechnung mit verletztem Leben und mit Leidensgemeinschaften sowie eine Vorlage für Gewaltlosigkeit als Lebensweise und Grundlage für Gemeinschaft.
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Exit – Ausgang20 Auf unterschiedliche Weise setzen sich Vorstellungen und Elemente aus der gesamten postkolonialen Assemblage mit Bildern der Unverletzlichkeit und Gewaltlosigkeit [noninjuriousness] auseinander. Diese Vorstellungen bewegen sich zwischen den Anreizen der Inklusivität auf der einen und dem Ausgang [exit] auf der anderen Seite. Die Themen scheinen wesensverwandt zu sein, aber in Wirklichkeit sind sie antagonistisch. In postkolonialen Konzepten geistern verschiedene Idealvorstellungen der Inklusivität herum, wie jene der Hybridität und des Dazwischens, die die formale Unmöglichkeit radikaler Exklusion selbst in den feindlichsten imperialen Begegnungen beschreiben. Sie erzählen davon, wie gegnerische Welten in einem geteilten Milieu von Krieg und Segregation ineinanderfließen; und davon, wie es Überkreuzungen von beiden Seiten sowie neue kulturelle Mutationen gibt, die diese Teilung einschließen. Hier fügt sich das disziplinäre Bündnis des Postkolonialismus mit historisch ausgegrenzten Objekten, Analysemethoden und Lebensformen mit der Begründung ein, dass alles Wissen, dass alles Politik sei und so weiter. Bürgerrechtsbewegungen reaktivieren eingefrorene Aspekte der Politik, indem sie innerhalb des Rechts und des öffentlichen Raums neue Öffnungen sowie neue Formen der Mobilität schaffen. Antikoloniale Nationalismen kämpfen um die Aufnahme in die Weltgemeinschaft souveräner Staaten. Solche Konzepte, die sich mit der Unversöhnlichkeit des Ausschlusses befassen oder disparate Entitäten auf gleicher Augenhöhe behandeln, können einiges aus dem ontologischen Denken schöpfen. Im nächsten Abschnitt werde ich genau beschreiben, was ich mit Ontologie, unserem ersten Thema, meine. Exit zeichnet im postkolonialen Denken einen nicht leicht greifbaren Entwicklungspfad auf. Der Ausgang gehört damit zu den Tropen des Exils, der Diaspora und der Migration, die von den ersten postkolonialen Wissenschaftler*innen bekannt gemacht wurden. Im entferntesten Sinne zeigt sich das Thema innerhalb einer optimistischen Strömung des disziplinä20 Der Originalbegriff »exit« wird im Folgenden mit ›Ausgang‹ übersetzt, an manchen Stellen jedoch mit Begriffen wie ›Austritt‹ oder ›Ausschluss‹ dem inhaltlichen Kontext angepasst. [A.d.Ü.]
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ren Postkolonialismus, der die Totalisierung von Macht zu einer strukturellen Unmöglichkeit erklärt hat. Damit ist gemeint, dass kein Regime, so sehr es dies auch versucht, alle Aspekte des Lebens oder der Zeit vollständig kontrollieren oder Divergenz und Vielfältigkeit verbieten kann. Dass etwas immer entkommt und allgemeine Überlebensgesetze sich der Vereinnahmung entziehen, hören wir von vielen Denker*innen. Das Streben der europäischen Imperien zwischen 1400 und 1900 nach totaler Souveränität wurde nie erreicht, schreibt Lauren Benton. Lokale Formen von Lebensgemeinschaften sind im postkolonialen Großbritannien immer durch den Mainstream der Rassialisierung gerutscht, so Paul Gilroy (vgl. Benton 2010; Gilroy 2005). Ideale des Ausgangs manifestieren sich auch in solchen Handlungen, die sich aktiv der Interessensbefriedigung verweigern, sei es entweder durch eine Norm, eine Hegemonie oder durch einen Zwang bzw. eine Fremdbestimmung. Zu solchen Handlungsweisen gehören ziviler Ungehorsam, Nicht-Kooperation und Nicht-Anpassung, die mit einer vorherrschenden Ordnung brechen. Auch die Marronage, die Sklavenflucht innerhalb der karibischen und amerikanischen Sklavensysteme, ist als einzigartige Praxis der Freiheit und eines erstrebten Aufbruchs in ein neues Leben nennenswert. Sogar der Pazifismus zeugt von Relevanz, insofern Frieden bedeutet, sich aus der Versuchung der negativen Kritik auf eine dritte (oder sogar vierte oder fünfte) Position zu begeben, »um so weit wie möglich den vorherrschenden Bedingungen des Antagonismus zu entkommen«.21 Pazifist*innen haben als angemessene Antwort auf die Verpflichtung zum Krieg lange Zeit die individuelle Fahnenflucht verteidigt. Auch Flüchtlinge, schreibt Sandro Mezzadra, verfolgen ein ähnliches Recht zur Flucht, um aus wirtschaftlichen, politischen oder nicht lebenswürdigen Verhältnissen in eine vermeintliche Sicherheit zu entkommen und einen Neuanfang beginnen zu können. In all diesen Fällen besteht die feste Überzeugung, dass jeder Gesellschaftsvertrag die Option des Entkommens beinhalten muss, um einen besseren Gesellschaftsvertrag schmieden zu können.22 21 Zum Begriff »Marronage«, vgl. u.a.: Price 1996; Roberts 2015; Harney und Moten 2013. 22 Vgl. Mezzadra 1992. Siehe auch: Wittig 1992. Wittigs Verteidigung von Flucht und Fluchtverhalten appelliert an den Bruch des Gesellschaftsvertrags mit einer kategorischen Form von Heterosexualität und damit den ihr
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Fluchtverhalten hat im Mainstream der politischen Theorie jedoch nie einen guten Ruf gehabt. In der Deutschen Ideologie kritisieren zum Beispiel Marx und Engels derartiges Verhalten als vorrevolutionär, vorindustriell und sogar vorpolitisch. Es ist die Handlung von Leibeigenen und Sklaven, schreiben sie, deren einzige Chance auf Freiheit darin besteht, individuell und auf der Suche nach freiwilligen Vereinigungen aus der Knechtschaft zu fliehen. Diese Voreingenommenheit taucht in den Arbeiten von Giorgio Agamben wieder auf. Diejenigen, die von einem Regime entbehrlich gemacht oder auf das ›nackte Leben‹ reduziert werden, können, so Agamben, nur durch den strikt unpolitischen Rekurs der ewigen Flucht oder des Exils vor dieser Gefahr gerettet werden (Marx und Engels 1998: 87–88; Agamben 1998: 183). Aber neben Politik gibt es noch andere disziplinäre Begriffe für die Arbeit des Exils. Ein solcher ist der Begriff der Ethik. Ich werde die Bedeutung der Ethik in der postkolonialen Assemblage später ausführlicher behandeln. Das Stichwort, nach dem ich an dieser Stelle suche, stammt aus Kants wichtigem Essay von 1784, »Was ist Aufklärung« und Foucaults Überlegungen über dieses Werk in seinem Essay von 1975 »Was ist Aufklärung?« [Qu’est-ce que les Lumières?]. Eine Paraphrase dieses kritischen Dialogs ist an dieser Stelle hilfreich und lautet ungefähr wie folgt: Wahre Erleuchtung beinhaltet den Ausgang23 des Menschen aus der Unterwerfung unter die Autorität einer*s Anderen, und Ethik ist die spirituelle Transformation, die wir in diesem Prozess durchlaufen (Kant 2008: 54–55; Foucault 1984: 34). Vorschlag #3: Postkoloniales Denken kann sich als eine Ethik des Aufbruchs zeigen.
zugrunde liegenden Vorstellungen von Geschlecht. Diese These nimmt die breiten Allianzen und Ausstiegsideale der zeitgenössischen Queer-Theorie vorweg und verweist auf einen Aspekt ihrer Anwendung in der postkolonialen Theorie. Vgl. Butler 2010. Siehe auch: Ahmed 2006; Rodriguez 2014; Puar 2000; Eng 2010. 23 Im Originaltext hat die Autorin an dieser Stelle das deutsche Wort »Ausgang« verwendet. [A.d.Ü.].
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Ontologie Das Werk von Martin Heidegger bleibt, auch wenn es umstritten ist, die einflussreichste Darstellung der Ontologie für die zeitgenössische kritische Theorie und bietet deshalb einen wichtigen Anstoß für diese Diskussion. Heidegger (ein selbst ernannter Arzt der Neuzeit) führt viele zeitgenössische Übel auf die Trennung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Welten zurück. Des Weiteren behauptet Heidegger, dass die Instrumentalisierung des Nichtmenschlichen durch den Menschen vor allem auf die übertriebene Bedeutung zurückgeht, die dem anthropozentrischen Subjekt in der westlichen philosophischen Tradition beigemessen wird. Wenn die Dinge für Nicht-Menschen (oder weniger Menschliches) und nicht-intelligente Objekte in diesem konzeptionellen Rahmen schlecht aussehen, sind sie in Wirklichkeit nicht besser für souveräne menschliche Subjekte, die sich in einer Welt ohne Verbündete wiederfinden. Die Ontologie, ein uraltes Konzept, das unter anderem von Heidegger wiederbelebt wurde, bietet ein philosophisches Heilmittel. Sie gibt dem mächtigen, aber mittellosen Subjekt eine neue Möglichkeit, sich eine gemeinsame Substanz – oder ein gemeinsames Sein – mit jedem Aspekt der Welt vorzustellen. Die Risse des modernen Lebens werden nach Heideggers Ansicht kuriert, wenn wir unser Gefühl vom Getrenntsein aufgeben und uns als Teil einer umfassenden und zusammengesetzten Realität begreifen.24 In den letzten Jahren und im Kontext eines verstärkten planetarischen Denkens wurde durch ein Wiederaufleben der Ontologie im akademischen Diskurs – eine ontologische Wende [ontological turn], wie sie auch genannt wird – das Ideal der Inklusivität wieder aufgegriffen. Alle Varianten dieser Wende […] sind in dem Wunsch vereint, die Dinge zu retten […] und die Barrieren zwischen Dingen und Geist zu beseitigen, damit wir alle gemeinsam Dinge oder Objekte oder vibrierende Materie sein können, sicher vor jeder bedrohlichen Externalisierung außerhalb des
24 Siehe beispielsweise Heidegger 1977; für eine Einführung in seine ontologische Philosophie sowie in seine einflussreiche Kritik an der menschlichen Subjektivität siehe auch: Ricœur 1968.
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Hauses des Seins.25 Solche planetarischen Ontologien, die sich zu philosophisch entwerteten Substanzen hinneigen (z. B. nicht-menschliches Leben und empfindungslose Objekte), werden sehr oft mit dem postkolonialen Denken verglichen. Und dieser Vergleich ist berechtigt. Aber die in den letzten Jahren aufgekommene politische Ontologie war als führender disziplinärer Ansatz für das postkoloniale Anliegen eher ungünstig. Dieses Feld, welches für Debatten über den akademischen Postkolonialismus von entscheidender Bedeutung ist, umfasst verschiedene zeitgenössische Denker*innen und beruht im Kern auf den philosophischen Positionen von Hannah Arendt und Carl Schmitt.26 Diese Tendenzen lassen sich als ein umfassender Links-Heideggerianismus beschreiben, der eine Verlagerung von der Politik, nämlich als Wissenschaft partikulärer Entitäten, diskreter Phänomene, isolierter Problematiken und alltäglicher sozialer Existenzen, hin zum Politischen schafft. Dieser Prozess wird gekennzeichnet durch eine Betonung der aggregativen Aspekte des politischen Lebens, die am besten durch hochgradig objektive Prototypen vermittelt werden können, die sich auf Struktur, Agens, Prozess und Organisation beziehen. Außerdem sind diese Ansätze skeptisch gegenüber politischen Forderungen, die nicht in normativen Begriffen oder ohne Referenz auf subjektive Kriterien ausgedrückt werden können – wie etwa mein Schmerz oder der Schmerz meiner Rasse [race] oder meines Volkes. Diskursrelevante Denker*innen verwenden den Begriff der Demokratie, der als Inbegriff des gemeinschaftlichen politischen Lebens gilt und mehr oder weniger mit dem Begriff des Politischen ausgetauscht werden kann. Denn tatsächlich begreift sich die politische Ontologie als radikale demokratische Theorie. So erheben die Ontolog*innen ihre Haupteinwände gegen das postkoloniale Denken in Anlehnung an die vermeintlichen Grundlagen der Demokratie. Lassen Sie mich dies schematisch darstellen: Vor dem Hintergrund einer fiktiven 25 Schlüsselbegriffe dieser ontologischen Wende beinhalten: Descola 2014; Morton 2013; Harman 2010; Bennett 2010; Meillassoux 2008; Shanks 2007; Barad 2003; Viveiros de Castro 1998. 26 Zur politischen Ontologie, die sich mit dem postkolonialen Denken beschäftigt, siehe u. a. Rancière 2006; Badiou 2003; Žižek 1999; Connolly 1995; Tully 1995; Brown 1995; Laclau und Mouffe 1985. Siehe auch Schmitt 2007; Arendt 2005.
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Unentschiedenheit differenziert die politische Ontologie zwischen einer guten und einer schlechten Ontologie. Die schlechte Ontologie (von einigen Denker*innen irrtümlicherweise als Imperium bezeichnet) ist ein System neokapitalistischer Totalität, das Externalisierungen verbietet und sich auf Differenz stützt. Dies kann in einem sehr konkreten Sinne geschehen, wenn spezifische historische und existenzielle Erfahrungen, wie die Ursprünge der Sklaverei oder die ökologische Krise, in neue Formen des Konsums (Produkte, Kulturerbe, populäre Unterhaltungsgenres und so weiter) umgewandelt werden (siehe u.a. Hardt und Negri 2000). Agambens pessimistische Darstellung der Biopolitik in Homo Sacer gibt uns einen weiteren Hinweis. Sobald das biologische Leben zum Dreh- und Angelpunkt seiner Macht wird, gebe es kein Entrinnen vor dem Staat, zumindest nicht im Rahmen unserer Sterblichkeit, so Agamben. Doch bedenken wir auch eine weitere Problematik. Der moderne Staat ist am souveränsten, wenn er ein Ausnahmerecht ausübt und seine eigenen Gesetze zur Selbsterhaltung gegen einen Aufstand oder im Namen der inneren Sicherheit außer Kraft setzt. Wir sind also gerade dann in einem Regime gefangen und seiner Willkür am meisten ausgeliefert, wenn es uns im Stich lässt und seine versprochene Zuständigkeit für die Erhaltung des Lebens zurücknimmt (Agamben 1998:1–14). Hier gibt es auch noch andere Beispiele. Der frühe Foucault wird in der Aussage, dass es für die moderne Macht kein Außen gäbe, weil diese Macht relational sei und sich dies vor allem in der Anwesenheit engagierter Subjekte zeige, falsch interpretiert. Denn wir dürfen nicht vergessen: Engagement kann die Form von Zustimmung, aber auch von Widerstand annehmen. Die Unterwerfung stützt sich auf im Entstehen begriffene Subjekte und dehnt ihre Reichweite durch sie aus, unabhängig von deren Disposition zur Macht (siehe Foucault 1982; siehe auch Butler 1995). Die Risiken der schlechten Ontologie können jedoch durch die Prophylaxe einer guten Ontologie ausgeglichen werden. In Übereinstimmung mit Heideggers ontologischer Kurierung für die Entfremdungen des modernen Lebens bietet die gute Ontologie an, jene Zeichen zu verbergen, die der Ansporn einer schlechten Ontologie sein können, nämlich: Differenz, Identität, Subjektivität, Getrenntheit. Und sie tut dies durch eine Einladung zur absoluten Innerlichkeit, die aufkommende Formen der Differenz – rekursive Subjektformationen – auflöst, indem sie jedem die Chance gibt,
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das Politische, als Teilhaber*in, freiwillig zu bewohnen und sich selbst im demokratischen Kampf für universelle Güter und Rechte zu vergessen.27 Ein kleiner Widerruf wäre hier angebracht. Die Teilnahme an der ontologischen Demokratie ist nichts für schwache Nerven. Sie erfordert – Nietzsche zufolge, der ein zentraler Denker für die politische Ontologie ist – einen robusten Willen zur Macht, oder die Fähigkeit zu führen und zu gründen. Im Klartext bedeutet dies, dass wir unser Gefühl des Leidens aufgeben müssen; oder die Ansicht, dass es da draußen Schuldige gibt, die für unser Leid verantwortlich sind, genauso wie die Annahme, dass externe Kräfte wie das Gesetz oder der Staat unser Leid wiedergutmachen können. Machtansprüche bauen auf der Erkenntnis auf, dass wir uns nur selbst heilen können, weil wir alle das Politische sind. Diese Prämisse, die für sich genommen verlockend ist, stellt eine wesentliche Modifikation von Heideggers Ontologie und der ontologischen Wende unserer eigenen Zeit dar. Denn diese Systeme streben es an, das souveräne Subjekt der Macht zu rehabilitieren. So zielt die politische Ontologie darauf ab, das abjekte Subjekt der Verletzung zu reformieren. Dies führt für die aktuelle Diskussion zu bedeutenden Implikationen. Die postkoloniale Assemblage steht mutmaßlich im Widerspruch zum Unternehmen der politischen Ontologie, da sie aus historisch marginalisierten Gruppen gebildet wird. Diese sind nicht gewillt und vor allem nicht in der Lage, ihre Bindung an beschränkte Interessen abzulegen, die vom Zentrum aus in die Peripherie gedrängt werden und damit an verdinglichte und nicht assimilierbaren Identitätsformen (schwarz, weiblich, queer, muslimisch usw.) anschließen. Vielmehr sind solche Identitäten an kraftzehrende, verletzende Erinnerungen und Leiden geknüpft, die nur als Kontrast zum Politischen ausgedrückt werden können. Dies geschieht in Forderungen nach mehr Ansprüchen und Schutz, in Anklagen über Ohnmacht und Verletzlichkeit oder in einer Haltung – und hier kommt Nietzsche wieder ins Spiel – des Ressentiments: nämlich jenes Zustands, der sich eher im negativen und reaktiven als im empfänglichen und produktiven Dasein ausdrückt. Kurzum, postkoloniales Denken bedroht die Demokratie, so das Argument, weil es eher Opfer-Außenseiter*innen als 27 Um einen anderen Sichtpunkt auf die Politik im Kontext ihrer Beziehung zu einer guten und schlechten Ontologie zu erhalten, siehe auch: Wolin 1994.
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Investoren-Partizipierende begünstigt.28 Mit dieser Haltung, so argumentiert die politische Soziologin Lois McNay, führt die zeitgenössische radikale demokratische Philosophie das Verbot des sozialen Leids als für die Theorie relevantes Thema wieder ein (vgl. McNay 2014: 28–66. Siehe ebenso Abbas 2010). Um diese komplexen Hindernisse zu überwinden und mit meinen leitenden Behauptungen fortzufahren: Lassen Sie mich vorschlagen, dass die postkoloniale Assemblage uns eine schlüssige Theorie des Leidens liefert, indem sie die Ressourcen des Ausstiegs (aus einem Ort herausgehen oder ihn verlassen) maximiert. Auf diese Weise erhellt sie eine einzigartige Form von Relationen des Ausgangs, die im ethischen Anarchismus begründet ist. Dies ist das Thema der verbleibenden Abschnitte. Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich einige einführende Aspekte beleuchten. Jedes Denken, das von einem oder durch einen Ausgang bestimmt wird, beinhaltet immer auch den Ballast einer provisorischen oder übriggebliebenen ›Restsubjektivität‹ – der von Ontolog*innen am meisten verachtete Zustand. Genauso beinhaltet jeder Akt der Spaltung einen vorläufigen Prozess der Individuation und der Differenz. Dennoch kann das Subjekt, das nach dem Ereignis des Ausgangs entsteht, äußerst anfällig für Kombination und Re-kombination sein (was zugegebenermaßen etwas anderes ist als Aggregation, obwohl es andere mit einbezieht). Heidegger tut gut daran, wenn er protestiert, dass das Ich immer noch auf das Ziehen29 des anderen Selbst oder der Alter-Egos anspringt, selbst nachdem eine robuste Ontologie uns von der Subjektivität geheilt hat, und genau dann, wenn wir denken, dass wir uns in einem undifferenzierten Ganzen verloren haben; im Verlangen nach Verehrung und Liebe, nach 28 Diese Argumente wurden von Brown (1995) entfaltet, vgl. Meister 2012. Die politische Ontologie überschneidet sich mit den jüngsten Debatten zur Identitätspolitik, die einen zentralen Bereich innerhalb der postkolonialen Theorie einnehmen. Zur Übersicht, vgl. Lee 2012; Albertini, Lee, Love, Millner, Parille, Rutkowski und Wagner 2000; Appiah und Gates 1995. Vgl. ebenfalls, Gajarwala 2013. Es wird allgemein angenommen, dass die Identitätspolitik zum Bereich kolonialisierter oder anderweitig unterworfener Entitäten zähle. Zum Imperialismus als Identitätspolitik, vgl. Young 2016; Baucom 1999. 29 Im Originaltext wird für ›Ziehen‹ der Begriff »tug« (dt. Ruck) verwendet. [A.d.Ü.]
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Austauschung und Variation – all das, woraus unnachgiebiges Leben besteht (siehe Raffoul 1998: 218). […] Mit anderen Worten, es gibt keine Vorgabe einer separatistischen oder solipsistischen Subjekt-Identität für diejenigen, die sich entscheiden, das ontologische Setting zu verlassen. Tatsächlich können wir nur als partikulare Subjekte in Beziehungen zu anderen treten, ja, erkennen, dass es andere gibt. Und nur als Subjekte erleben wir die Auseinandersetzung mit der Welt.30 Vorschlag #4: Postkoloniales Denken macht aus der Vertreibung ein Mittel, um nicht-generische Verbindungen mit der Welt zu entwerfen.
Verzicht Wie ich dargelegt habe, ist einigen führenden Denker*innen zufolge die postkoloniale Assemblage dem Politischen unangemessen und abträglich. Dies ist eine wichtige Kritik. Sie gewährt uns einen Blick auf die Fortentwicklung eines maßgeblichen Problems im Kontext des modernen Kolonialismus. Denn größtenteils wird die koloniale politische Philosophie von dem Vorurteil geleitet, dass nichts die Unterscheidung zwischen zivilisiert und nicht-zivilisiert mehr markiert als die Entwicklung politischer Formen. Je robuster diese Formen, desto weiter sind wir von einem Naturzustand entfernt. Primitive Kultur fiele aus verschiedenen, miteinander im Konflikt stehenden Gründen hinter diesen Standard zurück. Ihr fehlen die Mechanismen des Gehorsams oder des Bürgersinns und der kollektiven Verantwortung, wie Bentham feststellt. Darüber hinaus fehlt es nach John Stuart Mill an Freiheit oder der Herrschaft nach den Prinzipien eines universellen Konsenses (Bentham 1988: 40; Mill 2003: 89–96). Interpretationen dieser Art verhindern letztlich den Zugang zum öffentlichen Raum – oder zu dem, was Kant und später Rawls als den öffentlichen Gebrauch der Vernunft beschreiben. Dies bezieht sich auf den Prozess und die Kanäle, durch die spezialisierte moralische Institutionen öffentlich gemacht werden können; sodass sie als umfassende Gesetzgebung nach dem Prinzip der Zustimmung einer plu30 Dies ist eine zentrale Forderung von Spivak. Vgl. Spivak 2000, S. 23–37. Vgl. auch Heller 1990.
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ralistischen Demokratie in den politischen Mainstream integriert werden können (Kant 2008: 55–57; Rawls 1997: 765–766). Durch das Dilemma der kolonialen Gouvernementalität, das ich in dieser Diskussion angedeutet habe, haben jedoch diejenigen ohne Politik keine Politik, solange sie keine Politik haben. Solche Hemmungen – die eigentlich in jeder Situation gelten, in der zivile Freiheiten beschränkt werden – sind seltsamerweise dennoch produktiv. Disartikulierte Einwände (gegen Tyrannei, gegen Ungerechtigkeit) tauchen unter im Reich der Subkultur. Sie eröffnen auch einen alternativen Weg des Verzichts, der eine abgeleitete Form des Ausgangs ist. Verzichte dieser Art können defensiv sein und sich als Tendenz zeigen, vorenthaltene oder unzugängliche Vorteile des politischen Lebens zu verschmähen. Dennoch liefern sie ein Programm zur Zurückweisung von Macht und substanziellen Privilegien. Wie sieht das genau aus? Die Überlegungen, die ich in diesem und im nächsten Abschnitt darlegen werde, sind durch den Aufschwung postsäkularer und ethischer Ansätze in der kritischen Theorie ermöglicht worden. In ihnen wird das Fortbestehen religiöser Anschauungen (die den Glauben betreffen oder aus ihm hervorgehen) in einem vorteilhaften Licht neu bewertet und nicht bloß als Spannungsgebiet globaler Differenzen betrachtet. Vor allem postsäkulare Ansätze treiben dazu an, die mit Religion in Verbindung gebrachten Disziplinen vor dem Hintergrund ihrer fortlaufenden Gültigkeit als Quellen der Erkenntnis zu betrachten. Parallel sagen diese Ansätze Veränderungen von Konventionen und Wissensformen vorher.31 Indirekt 31 Eine wichtige Referenz für Debatten im Post-Säkularismus ist Taylor 2007. Siehe u.a. auch Habermas 2017; Warner, VanAntwerpen und Calhoun 2013; Gorki, Kim, Rorpey und VanAntwerpen 2012; Butler, Habermas, Taylor und West 2011; De Vries 1999. Der Post-Säkularismus stellt die Säkularisierung als ein unvollendetes Projekt dar. Wissenschaftler*innen, die sich vor allem auf das Beispiel des westlichen Christentums berufen, argumentieren, dass es bei der Säkularisierung nicht so sehr um das Ende des Glaubens geht, sondern um dessen Ausbreitung über spezialisierte Institutionen (z. B. die Kirche und der Klerus) und dessen Übertragung in den Alltag sowie in soziale Kontexte. Die einen betonen eher eine immanente als eine transzendente Qualität moderner Glaubenssysteme. Wieder andere verorten mit Rückgriff auf eine ökumenische Sichtweise die Geschichte der Säkularisierung im Hin und Her der
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wird dieses Vorhaben von kongruenten Entwicklungen im gegenwärtigen akademischen Diskurs unterstützt. Ein bemerkenswerter affective turn betont z. B. die Bedeutung von Emotionen, Erfahrungen und allgemein den Stellenwert des Körpers in Hinblick auf die Art und Weise, wie wir gewöhnlich Informationen verarbeiten und die Welt wahrnehmen.32 Demnach verweist der sich bereits seit Langem entwickelnde postkritische Ansatz auf die epistemischen Vorteile von immersiven – statt misstrauischen – Interpretationspraktiken.33 All dies spricht für ein Interesse an der Demokratisierung von Wissen, die für den akademischen Postkolonialismus von historischer Bedeutung ist.34 Darüber hinaus helfen diese Aspekte uns dabei, das charakteristische spirituelle Idiom des postkolonialen Ausgangs und der Gewaltlosigkeit, das wir kolonialen Begegnung. Sie kritisieren säkulare zivilisatorische Missionen, die neue Wissenssysteme und Disziplinen auf Kosten anderer globalisiert haben. Siehe dazu: Chidester 2014; Mahmood 2012; Van der Veer 2011; King 2009; Prasad 2007; Arvamudan 2006; Alter 2004; Masuzawa 2005; Viswanathan 1998; Barucha 1993. Siehe auch: Asad 1993 und 2003. 32 Gregg und Seigworth (2010) bieten einen umfassenden Einblick in den affective turn. Arbeiten, die den erkenntnistheoretischen Wert der Affekttheorie betonen, stammen von Massumi 2017; Ahmed 2015; Cvetkovich 2012; Sedgwick 2003. Für hervorstechende, disziplinübergreifende Beispiele eines affektorientierten Ansatzes siehe auch Berlant 2011; Stewart 2007 und Ngai 2005. Schaefer (2015) kombiniert postsäkulare Ansätze und Affekttheorie, um die religiöse Epistemologie zu beschreiben. 33 Der Begriff ›postkritisch‹ wurde in den 1950er-Jahren von Michael Polanyi eingeführt, um eine subjektive Dimension des Wissens im Kontext der positivistischen Wissenschaftsphilosophie und der Sozialwissenschaften zu beschreiben. Vgl. Polanyi 1974 und Poteat 1985, 1990. Für wiederaufkommende postkritische Perspektiven, siehe Anker und Felski 2017; Felski 2015; Latour 2004. Siehe auch Best und Marcus 2009. Solche Ansätze beziehen Einwände gegen den sogenannten Aufklärungsrationalismus mit ein und sind grundsätzlich dem postkolonialen Denken zugeneigt. Ihr strikter Einwand gegen eine symptomatische und misstrauische Lektüre kann jedoch für frühere Versionen der kolonialen Diskursanalyse hinderlich sein, vgl. Tanoukhi 2016. 34 Die postkoloniale Kritik an verletzenden Aspekten der Wissensproduktion – von Spivak als epistemtische Gewalt bezeichnet – hat ein andauerndes Erbe. Vgl. Fuentes 2018; Kidd, Medina und Pohlhaus Jr. 2017; Santos 2014; Fricker 2010. Vgl. auch Stoler 2009.
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hier betrachten, besser in den Griff zu bekommen, weshalb es sich lohnt, sie im weiteren Verlauf im Auge zu behalten. Lassen Sie mich dies mit einem kurzen Rückblick weiter ausführen. Wie wir gesehen haben, zitiert die politische Ontologie des Öfteren Friedrich Nietzsche, um zwischen dem Willen zur Macht (bzw. der Fähigkeit, ins Politische einzutreten und daran teilzunehmen) und der Opferrolle (bzw. der Situation als Kläger*in außerhalb des Politischen) eine Polemik etablieren zu können.35 Nietzsches eigene Nörgeleien gegen die Ohnmacht sind in seiner umfassenden Kritik der Askese angesiedelt, für die der Begriff Ethik in der zeitgenössischen kritischen Terminologie zu einem Kürzel geworden ist. Nietzsche geht hart mit asketischen Idealen ins Gericht. Er macht sie für eine dekadente Ausprägung des modernen Nihilismus verantwortlich: eine willkürliche Wut auf das Dasein selbst, die im völligen Widerspruch zu seiner eigenen bevorzugten lebensbejahenden und weltbejahenden Philosophie steht. Asketische Ideale, so eine riskante Argumentation Nietzsches, seien die Zuflucht der Unterprivilegierten und der Sklavenmoral. Sie seien eine teuflische Form der Macht, die Leiden verursache und Mächtige zu Todfeinden und Henkern mache. Ungeachtet seiner allgemeinen Feindseligkeit gegenüber der Askese in ihrer europäischen Genealogie findet Nietzsche jedoch einiges, was er in der Geschichte der sogenannten östlichen Askese und vor allem ihrer buddhistischen Ausarbeitung lobt. Die Aufmerksamkeit für den Buddhismus ist nicht überraschend. Er ist eine der frühesten formalen Philosophien der Entsagung und hatte zu seiner Zeit einen überwältigenden globalen Einfluss. Seine Faszination für europäische Orientalist*innen des 19. Jahrhunderts ist ebenfalls bekannt. Nietzsche wurde durch die Arbeit seines engen Freundes Paul Deussen in den Buddhismus eingeführt: ein Professor für komparative Philosophie und Philologie an der Universität Kiel, der den Sanskritnamen Deva-Sena annahm und auch in indischen Kreisen sehr bewundert wurde (vgl. Carus 1913; Vivekananda 2007; Rollmann 1978). In seiner Genealogie der Moral erkennt Nietzsche den Buddhismus als eine Denkform an, die herausragende Themen des westlichen Denkens um mehrere Jahrhunderte antizipiert habe. In einer in diesem Werk viel 35 Vgl. Nietzsche 1968, 1989a, 1989b und 2003.
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zitierten Passage über die Vorteile der Askese für das verdienstvolle Denken beschreibt er die Flucht des Buddha aus der Häuslichkeit (auf der Suche nach Erlösung) als einen Kernpunkt des philosophischen Lebens selbst. Jeder Wunsch nach der Wildnis bringt Freiheit von Lärm und verletztem Ehrgeiz, ganz zu schweigen von ununterbrochenen Arbeitsstunden zwischen zehn und zwölf, schreibt er. Jeder Wunsch nach der Wüste ist ein Ruf nach Schutz vor schlechtem Wetter (vor allem dem eigenen) und eine Form der Selbstbemutterung (vgl. Nietzsche 1989b: 107–110). Mit solchen Überlegungen erfasst Nietzsche intuitiv die Bedeutsamkeit des Ausgangs als geheime Bewegung des Wohlbefindens – und nicht nur der Kasteiung – innerhalb der Entsagungsphilosophien, die zur Zeit des Buddha einen Höhepunkt erreichten. Diese zentrale Entdeckung des Verzichts als umfassende Sorge um das Selbst taucht in der gesamten postkolonialen Assemblage wieder auf, vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere gibt es in vielen Bereichen ein enormes Interesse an der buddhistischen pravrajyā (der freiwilligen Hauslosigkeit) als Ressource für alle, die in einem sozialen und spirituellen Register gegen Herrschaftszustände protestieren und Verletzungen entgehen wollen. […] Vorschlag #5: Zuflucht zu erhalten und zu gewähren, ist im postkolonialen Denken eine logische Konsequenz des Verzichts.
Ethik Durch die ethische Wende [ethical turn] in der kritischen Theorie erhalten Motive des Aufbrechens und des Ausstiegs im Kontext der postkolonialen Assemblage Eintritt in die Netzwerke westlicher Selbstkritik. Dies geht auf eine längere Tradition in der kontinentalen Philosophie zurück, die sich auf das Andere bzw. auf Alterität und ein opferorientiertes Denken stützt, welches durch Hegels Herr-Knecht-Dialektik in vielerlei Hinsicht angeregt wurde. Dieses Denken wird viel mehr von Idealen der Relationalität und Intersubjektivität beherrscht als von Kollektivität oder gar Solidarität. Es beschäftigt sich mit Begriffen der intimen Verantwortung gegenüber Entitäten, die uns angesichts vorherrschender Hierarchien individuell als verletzlich gegenübertreten. Und sie tendieren zur Inklusivität. Jacques
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Derrida etwa sieht in der Gastfreundschaft das exemplarische Modell einer unendlichen Offenheit gegenüber dem Anderen, jedem Anderen, der unangekündigt und unerwartet auftauchen kann. Judith Butler fordert uns auf, uns der Prekarität des Lebens bewusst zu sein, die wir mit anderen teilen. »Loss has made a tenuous ›we‹ of us all«, wie Butler treffend formuliert (Butler 2004: 20).36 Aber vor allem finden wir in der bahnbrechenden Arbeit von Emmanuel Levinas eine Hypothese für das Außen als die eigentliche Sphäre der ethischen Beziehung. Ein solcher Prozess ist konstitutiv anarchisch, um Levinas’ überraschenden Begriff zu verwenden (Levinas 1994: 88–125).37 Er setzt eine rohe Menschlichkeit voraus, die jedem Pakt oder Vertrag vorhergeht und sich deshalb frei gestaltet. Einmal frei (einmal außerhalb), werden wir jedoch in ein wechselseitig abhängiges Leben geworfen, welches sich nirgendwo deutlicher als in der zwischenmenschlichen Dimension des Leidens ausdrückt. Dies ist das wiederkehrende kreative Paradoxon im Herzen des Ausgangs [exit], das ich bisher verfolgt habe. […] Vorschlag #6: Der Anarchismus ist ein verstecktes Element des postkolonialen Denkens.
Ratschläge für Könige In einer Episode aus der Kindheit des Buddha, die von B. R. Ambedkar liebevoll nacherzählt wurde, sagt ein Orakel voraus, dass der junge Prinz mit zweiunddreißig Eigenschaften ausgestattet ist, die ihn entweder zu einem cakravartin (einem Eroberer der Welt, dessen Herrschaft grenzenlos ist) oder zu einem jina (jemand, der das Selbst erobert hat) machen werden (vgl. Ambedkar 2011: 3–6; siehe auch Hardy 1994: 168–189). Das Hauptargument dieser Prophezeiung liegt in der Verallgemeinerbarkeit, die sich in der Wechselwirkung zwischen Welteroberung und Selbstüberwindung als miteinander verbundene Potenzialitäten ausdrückt. Sie 36 »Der Verlust hat aus uns allen ein fragiles ›Wir‹ gemacht.« (Übersetzung des Zitats). Siehe auch Derrida und Dufourmantelle 2000. 37 Um mehr über die Verhandlung des Anarchismus in Levinas Denken zu erfahren, vgl. Verter 2010; Stone 2011.
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zeigt uns, dass Eroberer*innen einen qualitativen Sprung machen und sich in jinas verwandeln können. Es gibt immer ein Ende von Herrschaftszuständen. In Anlehnung an die anarchistischen Predigten […] deutet die Ursprungsgeschichte des Buddha eine mögliche Alternative zur Macht an – für die Mächtigen ebenso wie für die Machtlosen. Und es obliegt oft den Kulturen des Verzichts, vor den Mächtigen die Wahrheit auszusprechen, indem sie Mächtige über die Grenzen ihrer Macht und die Fehler ihrer Wege belehren.38 Buddhas letztendliche Abwendung von der Macht wurde durch die große Gegenkultur des freiwilligen Bettelordens aus seinem eigenen Milieu inspiriert. Aus Foucaults bahnbrechenden Vorlesungen über die Gattungen der parrhesia oder des Wahrheitssagens im Kontext des antiken Entsagungsdenkens lernen wir auch, dass die Person, die den Mächtigen die Wahrheit sagt, gegenüber ihren Adressat*innen bezüglich des materiellen Status und der sozialen Stellung unterlegen ist, wenn auch aus freien Stücken. Dadurch wird ihre Überlegenheit in spiritueller Hinsicht deutlich (vgl. Foucault 2011). Aus dem bisher Gesagtem kommen nun verborgene Tendenzen antikolonialer Befreiungsbewegungen ans Licht. Diese äußern sich in einer Pädagogik für Unterdrücker – oder eben einem Programm, wie wir sagen könnten, in dem die Geknechteten den König*innen Ratschläge erteilen. Es gibt unzählige Beispiele in der Literatur der modernen Dekolonisation (von Fanon, Césaire, Memmi, Du Bois und Gandhi bis zu Ambedkar), die jedem, der es hören will, erklären, dass der Kolonialismus den Kolonisator entmenschlicht, dass alle Parteien in einem Konflikt als Sieger*innen hervorgehen sollten, dass Liebe besser ist als Krieg, oder dass die Souveränen der Erde Bettler*innen und Asket*innen unterlegen sind, und so weiter. Das Ziel, den Eroberer39 vor diesem Hintergrund zu zivilisieren, ist jedoch an die Wahrscheinlichkeit einer weiteren ungeheuerlichen
38 Eine der zahlreichen Quellen für dieses Concetto stammt aus der langen Tradition des Quäker-Pazifismus. Sie wurde von Pazifist*innen der Nachkriegszeit wieder aufgegriffen. Vgl. zum Beispiel Bristol, et al, 1955; Rustin 2012, S. 1–4. 39 Um den historischen Hintergrund zu markieren, wurde hier die männliche Form beibehalten. [A.d.Ü].
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Umkehrung gekoppelt, die sich in den verknüpften Potenzialitäten von Welteroberer und Selbst-Eroberer bündelt. Der Mut, die Wahrheit zu sagen, setzt eine Illusion der Unbestechlichkeit und eine gewisse moralische Hybris voraus. Wir können die Macht nur dann mit Überzeugung anprangern, wenn wir glauben, ihr überlegen zu sein. Und wenn wir von unserem einzigartigen Monopol auf die Wahrheit überzeugt sind. Diese Haltung ist ebenso gefährlich wie notwendig. Denn es besteht immer die Gefahr, dass ein jina, der anfängt, ein Gesetz des Leidens zu schaffen und der dabei vergisst, dass die Wildnis eine Bewegung und kein Territorium ist, zu einem cakravartin (oder Despoten) wird. Vorschlag #7: Postkoloniales Denken funktioniert dann am besten, wenn es als eine unperfekte Anschauung begriffen wird, die unbestimmt, unfertig und rastlos bleibt.
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Vom Postkolonialen zum Postmigrantischen
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Erol Yildiz
Vom Postkolonialen zum Postmigrantischen: Eine neue Topografie des Möglichen
Einleitung Der Begriff ›postmigrantisch‹1, der im wahrsten Sinne des Wortes zunächst so etwas wie »nach der Migration« bedeutet, wurde in jüngster Zeit im deutschsprachigen Raum entwickelt und punktuell im internationalen Kontext rezipiert (exemplarisch: Foroutan 2019; Schramm et al. 2019; Hill und Yildiz 2018; Foroutan et al. 2018; Yildiz 2015). Im akademischen Diskurs tauchen unter dieser Bezeichnung verschiedene Aspekte auf und es werden gesellschaftliche Zusammenhänge thematisiert, die in eine bestimmte Richtung weisen, die grob als gegenhegemoniale Wissensproduktion bezeichnet werden kann. Das Postmigrantische ist kein ›neues‹ Paradigma im klassischen Sinne, auch wenn manche Autor*innen von einem »Ansatz« 1
Der Begriff tauchte erstmals 1995 in einer wissenschaftlichen Arbeit von Baumann und Sunier auf. Die Autor*innen wollten damit die dynamische, bewegliche und nicht-essenzielle Seite von Kultur betonen. In einem weiteren Aufsatz von 1998 verwendet Gerd Baumann erneut den Begriff ›Postmigration‹ und verweist auf spezifische (kulturelle) Praktiken von Jugendlichen in einem Londoner Vorort, die aus der kritischen Auseinandersetzung mit hegemonialen Zuordnungen hervorgehen – als eine Art Selbstethnisierung oder Selbstkulturalisierung. Die Entwicklung und Affirmation einer ›asiatischen‹ Identität und kulturellen Gemeinschaft wird als Antwort auf die Klassifizierung durch andere gesehen (vgl. Baumann 1998: 305–307). Anfang der 2000er-Jahre habe ich in meiner Habilitationsschrift versucht, den Migrationsdiskurs im deutschsprachigen Raum aus einer postkolonialen Perspektive zu thematisieren und Ideen zu entwickeln, die ich in Analogie zum Postkolonialismusdiskurs als »postmigrantisch« bezeichnet habe (vgl. Yildiz 2005: 327–329).
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Erol Yildiz
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sprechen, sondern eine offene Denkweise, aus der heraus historische wie auch aktuelle Entwicklungen neu interpretiert und kontextualisiert werden (vgl. Bojadzijev 2012; Bojadzijev und Römhild 2015). Bevor ich die postmigrantische Grundhaltung beschreibe, möchte ich mich zunächst mit der eurozentrischen Ideologie, die die Wahrnehmung der gesamten Welt und die hegemoniale Geschichtsschreibung bisher maßgeblich geprägt hat, befassen. Dann wende ich mich dem Diskurs des Postkolonialismus zu, den ich für die Diskussion der Migrationsgesellschaften für relevant und nützlich halte. Anschließend werden die Grundgedanken des Postmigrationsdiskurses vorgestellt und ihre Relevanz für eine kritische Migrationsforschung und Gesellschaftsanalyse herausgearbeitet.
Methodologischer Eurozentrismus als erkenntnistheoretische Basis »Diese Gleichsetzung von Weltgeschichte mit der westlichen Welt schließt ein, dass das westliche Geschichtsbewusstsein wesentlich selbst-referentiell war und geblieben ist. […] In einem solchen Verständnis der Welt wurden – und werden – alle anderen Gesellschaften, die sich der Moderne anschließen, darauf festgelegt, ihre Zukünfte im Spiegel westlicher Gegenwart zu entdecken« (Wong 1999: 55).
Eurozentrismus wird als ein Parameter verstanden, nach dem die Verwestlichung der Welt als alternativlos dargestellt wird. »Gesellschaften, die den Stilen und Anforderungen des europäischen Lebens nicht entsprechen, gelten im Entwicklungsprozess des ›modernen Zeitbewusstseins‹ als ›zurückgeblieben«, so Mignolo (2012: 72). Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »eurozentrierten Geographie der Erkenntnis« (ebd.: 161). Es sind Bilder, die das Verhältnis zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Nicht-Westen‹ historisch grundlegend bestimmt haben. Eurozentrische Interpretationen sind nicht nur historische Gebilde, sondern auch in zeitgenössischen öffentlichen Diskursen allgegenwärtig, insbesondere wenn es um Themen wie Migration, Islam oder um das Demokratieverständnis geht. Das eurozentrische Weltbild impliziert, dass die historische Entwicklung, die als charakteristisch für Westeuropa
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Vom Postkolonialen zum Postmigrantischen
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und Nordamerika gilt, ein Konzept ist, an dem die Geschichte anderer Gesellschaften gemessen wird, was zu Möglichkeiten der Abwertung führt und geführt hat. Die Eigenheiten und historischen Differenzen nichtwestlicher Gesellschaften werden in einer Sprache des Mangels beschrieben und als defizitär behandelt (vgl. Conrad und Randeria 2002). Der Rest der Welt erscheint als eine Art »misslungene Kopie des Westens« (Ong 2005: 47). So ist ein europäisches ›Wir‹ zu einem universellen Phänomen avanciert, das dazu dient(e), den ›Anderen‹ ihre Perspektiven und Erfahrungen abzusprechen (Chambers 1996: 154). »Sie schließen alles aus, was Europa nicht eindeutig nachbildet und als europäisch erkannt wird«, wie der französische Romanautor Mathias Enard in einem Interview in der österreichischen Tageszeitung DER STANDARD trefflich formuliert hat (Reif 2016). Dieses binäre Denkkonzept, demzufolge nur westliche Gesellschaften als modern, hochentwickelt und fortschrittlich gelten, während der ›Rest der Welt‹ als traditional, unterentwickelt und zurückgeblieben erscheint, verleiht der Moderne westlicher Provenienz automatisch einen universellen Status. Da die westliche Erfahrung den Maßstab für Normalität und Universalität vorgibt, rücken alle anderen historischen Erfahrungen nur als pathologisch, defizitär und partikular ins Blickfeld (vgl. Arkoun 1992: 263). Die Ausblendung des als anders Wahrgenommenen aus dem universellen ›Wir‹ wurde und wird somit durch die Organisation des europäischen Wissens auch theoretisch festgeschrieben. Wie die gewachsenen Vorstellungen, Weltbilder, Kollektivsymbole entstehen, sich normalisieren und welche Rolle sie spielen, hat Edward Said (1981) in seiner bemerkenswerten Studie über den ›Orientalismus‹ eindrucksvoll gezeigt. Die über den Orient produzierten Texte spiegeln nicht die konkrete Situation vor Ort wider, sondern bringen vielmehr kollektive westliche Fantasien zum Ausdruck.2 Die Formierung solcher Dominanzdiskurse und deren per2
Edward Said untersuchte vor allem das akademische Forschungsfeld des Orientalismus, das sich mit der arabisch-islamischen Welt befasste. Er untersuchte, wie sich die Denkweise ›Orientalismus‹ formierte, die auf ontologischen und epistemologischen Unterscheidungen basierte. »Orientalismus war eine Methode zur Verdinglichung und Essentialisierung des Anderen, vor allem
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manente Reproduktion im Alltag sowie Normalisierung sind Belege dafür, wie die im Westen existierenden imaginären Bilder, fiktiven Geografien, ethnozentrischen und kolonialistischen Haltungen im Umgang mit Migration und postkolonialer Welt eingesetzt werden. Ähnlich argumentiert Mohammed Arkoun: »Der Raum und die Zeit, innerhalb derer sich die kollektiven Wahrnehmungen ausgebildet haben, das eigene Selbstverständnis formuliert wurde, prägende Weltbilder entstanden, sie sind ganz wesentlich von der westlichen Vernunft geprägt und monopolisiert worden, festgeschrieben in einem wissenschaftlichen Diskurs, den der Westen seit dem 18. Jahrhundert geführt, gestaltet und nach außen abgegrenzt hat« (Arkoun 1992: 265).
Die Unterscheidung zwischen ›modern westlichen‹ und ›vormodern traditionellen‹ Gesellschaften erscheint nur ein Aspekt eines ganzen Theoriekomplexes. Die Institutionalisierung dieser binären Denkart ist, wie Conrad und Randeria (2002: 21 f.) gezeigt haben, als eine gesamteuropäische Angelegenheit zu sehen. Entsprechend finden wir nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen, medialen Berichten und politischen Debatten bis heute Begriffe wie ›der Westen‹, ›der Okzident‹, ›das Zentrum‹, ›die Erste Welt‹, ›der Osten‹, ›der Orient‹, ›die Peripherie‹ und ›die Dritte Welt‹, die zur Klassifizierung, Identifizierung und Beschreibung geografischer Räume benutzt werden, wie die folgenden Sätze von Coronil auf den Punkt bringen: »Wenngleich nicht immer ganz klar ist, worauf sich diese Begriffe beziehen, werden sie gebraucht, als existiere eine eindeutige äußere Realität, der sie entsprechen; zumindest haben sie den Effekt, dass sie derartige Illusionen erzeugen« (Coronil 2002: 178).
Diese Form der Repräsentation der ›Anderen‹ ist als europäische Perspektive zu verstehen, um die Weltverhältnisse auf eine bestimmte Weise zu denken, zu ordnen und mit Bedeutungen zu versehen (vgl. Mitchell 2002). Gerade die westlich gedachte Aufklärung ist ein gutes Beispiel dader entwickelten und potentiell mächtigen Anderen, und damit ein Versuch, die tief verankerte Überlegenheit der westlichen Welt zu demonstrieren«, so das Argument von Immanuel Wallerstein (2011: 87).
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für, das europäische Denken als universell zu konzipieren, es als die einzig denkbare Alternative darzustellen und auf diese Weise andere Haltungen und Erfahrungswelten auszublenden. Das binäre Denken von ›uns‹ (Europäern) und den ›Anderen‹ (Nichteuropäern) bestimmte auch, wie sich im europäischen Kontext ein Diskurs über Migration und Integration bildete und wie auf Migrationsprozesse politisch, wissenschaftlich und pädagogisch reagiert wurde. Diese Denkweise, die die Koordinaten der gesellschaftlichen Wahrnehmung definierte, hatte reale soziale Konsequenzen sowohl für das Gesellschaftsverständnis als auch für die betreffenden Menschen vor Ort.
Zur Genealogie des postkolonialen Denkens Die postmigrantische Denkhaltung weist gewisse Analogien zum postkolonialen Diskurs auf, der in letzter Zeit auch im deutschsprachigen Raum verstärkt rezipiert wird (vgl. exemplarisch Castro Varela und Dhawan 2015; Terkessidis 2019). Auch wenn diese Analogie zunächst irritierend wirkt und von einigen Autor*innen kritisiert wird (vgl. Mecheril 2014), lassen sich auf den zweiten Blick gewisse Parallelen erkennen. Ähnlich wie Mark Terkessidis (2019) explizit darauf hingewiesen hat, argumentiere ich, dass postkoloniale Ideen für die Diskussion der Migrationsgesellschaft nützlich sind bzw. aus dieser Perspektive bestimmte Mechanismen und Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können, die bisher eher am Rande diskutiert wurden. Der Postkolonialismus wurde in den 1990er-Jahren entwickelt, um insbesondere das historisch geprägte westliche Denken kritisch zu hinterfragen und alternative Perspektiven aufzuzeigen. Anstatt weiterhin die duale westliche/nicht-westliche Denkweise zu reproduzieren, die im Laufe der Geschichte eine gewisse historische Kontinuität und Normalität produziert hat, konzentriert sich die postkoloniale Perspektive auf die miteinander verwobenen und verflochtenen Geschichten von Kolonisator*innen und Kolonisierten und thematisiert die Folgen des imperialen Systems in der globalisierten Welt. Ein zentraler Punkt innerhalb des Diskurses des Postkolonialismus, der für das postmigrantische Denken relevant ist, ist der intensive Fokus darauf, wie die Kolonisierten auf die Umgangsweisen der Kolonisator*innen reagiert haben, wie religiöse Orientierungen, Sprach-
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praktiken und Wissensformen auf spezifische Weise angeeignet wurden und welche hybriden Lebensweisen und kulturellen und sozialen Räume entstanden sind. Wie Mark Terkessidis betont, macht diese theoretische Perspektive auch andere Formen der Geschichtsschreibung sichtbar, die die Relevanz transnationaler und transkultureller Verflechtungen in den Fokus rücken, Mehrperspektivität explizit betonen und die bis dahin tendenziell disqualifizierten Handlungsstrategien und Erfahrungen der Kolonisierten privilegieren (vgl. Terkessidis 2019: 189–190) Vor allem Kulturhistoriker*innen und Literaturwissenschaftler*innen haben wesentliche Beiträge zur Genealogie der postkolonialen Perspektive geleistet. Zu den wichtigsten Theoretiker*innen zählen vor allem Intellektuelle aus den ehemaligen Kolonien wie Edward W. Said, Gayatri C. Spivak, Homi K. Bhabha, Stuart Hall und Salman Rushdie, die sich kritisch mit der Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus auseinandergesetzt haben. Entscheidende Impulse für den Diskurs des Postkolonialismus lieferte Edward W. Saids Buch Orientalism (1978). Der Begriff ›postkolonial‹ steht sowohl für eine spezifische historische Phase als auch für eine besondere Prägung der theoretischen Betrachtung und analytischen Perspektive. In zeitlicher Hinsicht signalisiert das Präfix ›Post‹ nicht das Ende der kolonialen Herrschaft, also nicht nur den Moment der Unabhängigkeit der ehemals kolonisierten Gesellschaften: »Im Gegenteil: Das Anliegen postkolonialer Ansätze besteht gerade in der Thematisierung des Fortbestehens und Nachwirkens einer Vielzahl von Beziehungsmustern und Effekten kolonialer Herrschaft. Sie sehen die heutige Welt nach wie vor geprägt von imperialen und neokolonialen Herrschaftsverhältnissen und kulturellen Beziehungen, welche die alten Asymmetrien reproduzieren und verfestigen« (Conrad und Randeria 2002: 24).
Koloniale Denkhaltung bezog sich auf einen bestimmten historischen Moment, markierte ein bestimmtes Zeitbewusstsein und bezeichnete immer eine bestimmte Art und Weise, Geschichten zu erzählen und historische Kontinuitäten herzustellen. So haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Konstruktionen wie ›asiatische Mentalität‹, ›europäisches Denken‹, ›europäische Aufklärung‹ oder ›westliche Moderne‹ durchgesetzt und normalisiert, obwohl sie schwer zu fassen sind (vgl. Said 1997: 81). Nach dieser hegemonialen Interpretation erscheint die Weltgeschichte als eine
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westliche Weltgeschichte (vgl. Wong 1999). Auf der Grundlage dieser schematischen Dichotomie der Welt (westlich/nicht-westlich) entwickelte die ›Moderne‹ zunächst ihr Selbstverständnis als ›westliche Moderne‹. Und das dominante ›europäische Denken‹ scheint ohne diesen Vergleich mit und die Abgrenzung von der kolonisierten Welt kaum auskommen zu können (vgl. Nassehi 2003: 43). Wie Stuart Hall in einem berühmten Beitrag zu Recht hervorgehoben hat, bezieht sich der Diskurs des Postkolonialismus jedoch nicht nur auf die postkoloniale Zeit, sondern transzendiert sie auch. Dies beinhaltet sowohl eine zeitliche als auch eine epistemologische Dimension. Für Hall ist die Spannung zwischen dem Epistemologischen und dem Zeitlichen nicht disruptiv, sondern ein produktiver Akt (1997: 238). So haben sich postkoloniale Autor*innen nicht nur intensiv mit kolonialen Verhältnissen und ihren Folgen auseinandergesetzt, sondern auch versucht, die Geschichten der Kolonisierten und Ausgeschlossenen jenseits eurozentrischen Horizonts zu denken (vgl. Conrad und Randeria 2002: 37). Postkoloniale Perspektiven gehen von kolonisierten Territorien und von den marginalisierten Diskursen und Geschichten minoritärer Gruppen aus und dekonstruieren jene ideologischen Diskurse der westlichen Moderne, die von hegemonialer Normalität und eurozentrischem Rationalismus geprägt sind (vgl. Bhabha 2000: 255). Die postkolonialen Ideen verlangen »nach einer radikalen Revision der gesellschaftlichen Zeitlichkeit, in der emergente Geschichten geschrieben und nach der Reartikulation des ›Zeichens‹, in kulturelle Identitäten eingeschrieben werden können« (Bhabha 2000: 256). Die postkoloniale Deutung der Welt bedeutet nach Bhabha, den »liberalen« Begriff kultureller Gemeinschaften, die auf »Konsens und Komplizenschaft« basieren, zu hinterfragen und zu überdenken. Sie macht den Konstruktionscharakter kultureller und politischer Identitäten sichtbar und erkennbar. »Die Zeit für eine ›Assimilation‹ von Minoritäten an holistische und organische Vorstellungen von kulturellen Werten ist endgültig vorbei«, so Homi Bhabha (2000: 261). Eine der Grundideen des postkolonialen Diskurses ist es in diesem Zusammenhang, die Geschichtsschreibung des Kolonialismus von der westlichen Dominanz zu befreien, über die eingespielten Dualismen hinauszugehen und historische Entwicklungen neu und anders zu denken.
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Durch diesen Blick werden andere Kontexte, geteilte Geschichten, Diskontinuitäten, Brüche und marginalisierte Perspektiven ins Bewusstsein gerückt, die deutlich von der bisher dominierenden ›westlichen‹ Normalität abweichen. Mit anderen Worten: Kolonialgeschichte wird aus der Erfahrung und Perspektive der Kolonisierten erzählt. In dieser Sichtweise verweist der Postkolonialismus auf einen konstitutiven »Bruch mit der gesamten historiographischen Großnarrative« (Hall 1997: 232): »In diesem ›postkolonialen‹ Moment tauchten natürlich diese transversalen, transnationalen, transkulturellen Bewegungen, die sich schon immer in die Geschichte der ›Kolonisation‹ eingeschrieben hatten, jedoch von stärker binär ausgerichteten Narrativierungsformen sorgfältig überschrieben worden waren, in neuem Gewand wieder auf und sprengen die angestammten Beziehungen von Herrschaft und Widerstand, die sich den anderen Arten, die Geschichten zu leben und zu erzählen, eingeschrieben hatten« (Hall 1997: 233).
Die Weltverhältnisse aus der postkolonialen Perspektive zu lesen, heißt, ›Grenzfälle‹ und Brüche in den Fokus zu rücken, die uns neue Denkund Erfahrungshorizonte eröffnen. Um diese neue Lesart deutlich zu machen, verwendet Bhabha im metaphorischen Sinn Begriffe wie »Dritter Raum«, »Zwischenräume«, »Spaltungen« oder »Doppelungen« und plädiert dafür, »die kulturelle und historische Hybridität der postkolonialen Welt zum paradigmatischen Ausgangspunkt« (Bhabha 2000: 32) zu nehmen.3 Diese Denkrichtung stellt das klassische Bild von Identität und Kultur als homogenisierende Kraft infrage und bricht die duale Logik von Differenzkategorien wie Schwarz/Weiß, Inländer/Ausländer, Selbst/ Andere. Erst die postkoloniale Perspektive eröffnet Bhabha zufolge einen »dritten Raum«, »in dem die Verwandlung inkommensurabler Differenzen eine Spannung schafft, wie sie für Existenz(weis)en an der Grenze typisch ist« (2000: 326), einen Raum, »in dem die Vergangenheit nicht ursprünglich 3
Auch Diana Wong (1999) schlägt vor, die Situation der »Diaspora« zum Ausgangspunkt der Neukonzeptualisierung von »Kultur« oder »Identität« zu nehmen. Denn Diaspora wird als ein Zwischenraum definiert, in dem jeder gezwungen ist, sich ständig zwischen unterschiedlichen (kulturellen) Kontexten zu bewegen und daraus reflexiv eigene Lebensentwürfe zu formulieren.
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und die Gegenwart nicht einfach ein Übergang ist« (2000: 327). In diesem Zwischenraum lässt sich die Vergangenheit in der Gegenwart auflösen, »so dass die Zukunft (ein weiteres Mal) zu einer offenen Frage wird, statt durch Fixiertheit der Vergangenheit spezifiziert zu sein« (2000: 328). So begeben wir uns in einen Raum, in dem asymmetrische Kräfte, Dissonanzen und das Ungesagte in einer Begegnung aufeinandertreffen, aus der der Westen und seine ›Anderen‹ transformiert hervorgehen werden. Nach Bhabha fordert die Einführung des dritten Raums unser Bild von der historischen Identität der Kultur als homogenisierende Kraft heraus (vgl. Bhabha 2000: 56): »Theoretisch innovativ und politisch entscheidend ist die Notwendigkeit, über Geschichten von Subjektivitäten mit einem Ursprung oder Anfang hinaus zu denken und sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden. Diese ›Zwischen‹-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozess, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen«(Bhabha 1997: 124).
So wird das kolonisierte Subjekt, das in westlichen Gesellschaften als ›defizitäres Wesen‹ gedacht wird, weil es sich in ›Zwischenräumen‹ bewegt sowie ›Grenzbiografien‹ entwirft und nicht eindeutig identifizierbar ist, letztlich zu prototypischer Bewohner*in der Weltgesellschaft. Der Diskurs des Postkolonialismus zwingt uns, einen ethnologischen Blick auf uns selbst im Westen zu werfen: »Vielleicht ist das Neue, auf das der anschwellende Globalisierungsgesang hinweist, der Blick in den Spiegel jener zunächst kolonial unterworfenen Regionen, in dem sich die Kontingenz und das Hybride der eigenen Perspektive im wahrsten Sinne des Wortes reflektiert« (Nassehi 1999: 29).
Erst die grundsätzliche Infragestellung des herkömmlichen hegemonialen Weltbildes eröffnet neue Perspektiven auf die Welt und macht andere Lesarten sichtbar. Die neuen globalen Öffnungsprozesse produzieren andere Praktiken und fordern ein anderes Weltverständnis. Gerade durch Migrationsbewegungen entstehen hybride Konstellationen und Traditionen, die sich nicht in die dominante Sichtweise einpassen lassen,
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weil sie ambivalente und mehrheimische und weltheimische Situationen4 darstellen und weil sie die eingespielten Eindeutigkeiten und Kontinuitäten fragwürdig erscheinen lassen. Wenn also unterschiedliche, zum Teil unvereinbare Weltbilder existieren, erscheint es sinnvoll, von den vielheitlichen und verflochtenen Beziehungen zwischen Gesellschaften, Regionen und Kulturen auszugehen, statt von der Dichotomie zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Rest‹. Dies erfordert eine relationale und transkulturelle Sicht auf die Welt. Nur eine Beobachtungsperspektive, die von binären Codierungen absieht und die Relationalität verwobener und voneinander abhängiger Geschichten und Entwicklungen in den Mittelpunkt stellt, kann sich in die Lage begeben, sowohl die sich gegenseitig konstituierende Natur von ›Tradition‹ und ›Moderne‹ als auch unterschiedliche und manchmal widersprüchliche Interpretationen der Moderne zu erfassen. Auf diese Weise können die Wirkungen verschiedener Akteur*innengruppen, die an komplexen Prozessen der Übertragung, Aneignung und Transformation beteiligt sind, sowie das ›Neue‹, das im Prozess der Interaktion entsteht, in den Fokus gerückt werden. Zudem stellt die sogenannte ›koloniale Moderne‹ nicht, wie oft behauptet, eine bloße Ableitung und Nachahmung des Westens dar. Vielmehr diente die Begegnung mit der westlichen Moderne als Katalysator für eine Entwicklung, die weder Traditionen fortsetzte, noch bestehende westliche Werte, Ideen und Institutionen imitierte, sondern vielmehr neue kulturelle und institutionelle Ideen und Lebensweisen hervorbrachte (vgl. Randeria 1999: 92).
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Die Begriffe ›mehrheimisch‹ und ›weltheimisch‹ bedeuten, dass gesellschaftliche Wandlungs- und Migrationsprozesse konventionelle Konzepte von Heimat infrage stellen und ihre Re-Vision und Neuausrichtung fordern. Durch den Blick auf alltägliche Erfahrungen wird nachvollziehbar, dass transnationale Bezüge und Mehrfachzugehörigkeiten vor Ort zur Normalität gehören (Vgl. Yildiz und Meixner 2021; Yildiz 2021).
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Ideen zum Postmigrantischen Das ›Post‹ im Postmigrantischen bedeutet – ähnlich wie im Diskurs des Postkolonialismus – nicht einfach einen Zustand des ›Danach‹ im Sinne eines eindeutigen chronologischen Prozesses; vielmehr geht es darum, eine andere Genealogie der Migration zu skizzieren und den Gesamtzusammenhang, in den der Migrationsdiskurs mündet, radikal zu überdenken. Eine postmigrantische Lesart der gesellschaftlichen Verhältnisse verweist somit auf eine epistemologische Wende und bedeutet eine radikale Infragestellung des binären Denkens zwischen Migrant*innen und NichtMigrant*innen, das bisher nicht nur die etablierte Migrationsforschung maßgeblich geprägt hat. Es ist eine Idee, die es ermöglicht, ausgetretene Pfade zu verlassen, Diskurse über Migration und Integration neu auszurichten, gesellschaftliche Machtverhältnisse neu zu kontextualisieren und sich von eingespielten Interpretationen zu verabschieden. Das Postmigrantische erscheint dann als eine Denkfigur, die andere Haltungen und Möglichkeiten ans Licht bringt. Es geht nicht um ein »Zurechtrücken«, sondern um ein »Verrücken«, wie es der französische Philosoph und Sinologe François Jullien (2018) in einem anderen Zusammenhang ins Spiel gebracht hat. Im Gegensatz zu gängigen nationalen Narrativen fragt der postmigrantische Diskurs nicht nach den Integrationsleistungen der Menschen, sondern fokussiert auf Prozesse der Entortung und Neuverortung, der Ambiguität und des Grenzdenkens. Gerade der von Bhabha metaphorisch verwendete Begriff des »Dazwischen« erscheint charakteristisch für postmigrantische Situationen und Praktiken zu sein, in denen etablierte nationale Eindeutigkeiten und Kontinuitäten gebrochen werden. Dieser Bruch stellt Dualismen von westlich/nicht-westlich, Inländer*in/Ausländer*in, die bisher die hegemoniale Normalität bestimmt haben, radikal infrage. Stattdessen liegt der Fokus auf produktiven Brüchen, mehrheimischen und transkulturellen Zugehörigkeiten, weltheimischen Verbindungen und verflochtenen Migrationsgeschichten. Der postmigrantische Blick bringt neue Differenzen zum Vorschein, die die gewohnten Differenzordnungen fragwürdig erscheinen lassen, macht die Erfahrung der Migration zum paradigmatischen Ausgangspunkt, stellt die bisher marginalisierten Wissensweisen ins Zentrum, dekonstruiert jene ideologischen Diskurse über Migration und Integration und fordert eine
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radikale Revision der westlich definierten historischen Normalität. Darüber hinaus bedeutet der Perspektivwechsel, dass Phänomene, Entwicklungen und Geschichten, die üblicherweise aus ideologischen Gründen auseinandergehalten werden, nun zusammengedacht werden. Daher bewegt sich das Postmigrantische in geistiger Nähe zur Foucault’schen Genealogie und ideologiekritischen Ansätzen postkolonialer Theorien. Die Idee, Geschichten aus der Perspektive und Erfahrung der Migration zu erzählen, marginalisierte und ignorierte Wissensformen sichtbar zu machen, verweist auf eine widerständige und gegenhegemoniale Praxis, die für das postmigrantische Denken zentral ist, eine Art »kontrapunktische Lesart« (Edward W. Said) sozialer gesellschaftlicher Verhältnisse.5 Die Texte von Said haben gezeigt, wie sich bestimmte historische Kontinuitäten herausbilden, wie bestimmte Wissensformen privilegiert und wie auf diese Weise andere Geschichten und Erfahrungen kaum wahrgenommen werden und unsichtbar bleiben. Gegenlesen bedeutet in diesem Zusammenhang, den Blick auf die Ausgeschlossenen, die Unterdrückten und die Marginalisierten zu richten. Aus dieser Perspektive wird Migration neu gedacht und als eine gesellschaftsbewegende und gesellschaftsgestaltende Kraft verstanden. Das Postmigrantische verweist auf einen Bruch mit der hegemonialen Normalität und ermöglicht es, historische Entwicklungen anders zu denken und eine andere Genealogie der Gegenwart zu skizzieren. Dahinter verbirgt sich zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Wissensproduktion im Migrationskontext, eine Revision dessen, was bisher erzählt und reproduziert worden ist.
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Um die Beziehungen zwischen Konstrukten von Orient und Okzident zu analysieren und gleichzeitig zu unterlaufen, schlug Edward Said (1994: 66) eine kontrapunktische Deutung vor. Dieses ›Gegenlesen‹ bedeutet für das Thema Migration, gesellschaftliche Dominanzverhältnisse aus der Perspektive und Erfahrung von Migration zu betrachten.
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Migration als Perspektive und Migrationsforschung als Gesellschaftsanalyse Migration als Perspektive zu betrachten, bedeutet, sich von einer nach Herkunft sortierten »Migrantologie«, wie Regina Römhild es nennt, zu verabschieden und stattdessen die globalisierten Gesellschaften in den Blick zu nehmen, die ohne Migration kaum denkbar sind. Die Idee des Postmigrantischen bedeutet in diesem Zusammenhang, die herkömmliche Migrationsforschung aus ihrer bisherigen Sonderrolle zu befreien und sie als Gesellschaftsanalyse zu etablieren. Regina Römhild (2015) spricht zu Recht von einer »postmigrantischen Migrationsforschung« und plädiert für eine Forschungsrichtung, in der Migration als Perspektive und nicht als Objekt zu verstehen ist. Demnach verschiebt sich Migration von der Peripherie ins Zentrum und wird als konstitutiv für alle europäische Gesellschaften gesehen: »Was fehlt, ist nicht noch mehr Forschung über Migration, sondern eine von ihr ausgehende reflexive Perspektive, mit der sich neue Einsichten in die umkämpften Schauplätze ›Gesellschaft‹ und ›Kultur‹ gewinnen lassen« (Römhild 2014: 263).
Die postmigrantische Perspektive geht davon aus, dass Migrations- und Mobilitätsbewegungen alle Gesellschaften von Anfang an geprägt haben und in der globalisierten Welt weiterhin prägen, auch wenn dies im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert zu sein scheint. Gesellschaftsgeschichten sind immer auch Migrationsgeschichten. Selbst in alteingesessenen Familien finden wir bei genauerem Hinsehen einen sogenannten »Migrationshintergrund«. Für die meisten Menschen sind Migrationserfahrungen Teil ihrer Familiengeschichte. Forscht man selbst in seiner eigenen Familiengeschichte nach, dann lassen sich stets Vorfahr*innen finden, die von woanders hergekommen oder woanders hingegangen sind. Daher sind alle Gesellschaften, je nach Perspektive, migrantisch, postmigrantisch oder eben mehrheimisch bzw. weltheimisch. Das Postmigrantische fungiert somit als Analysekategorie für soziale Situationen der Mobilität und Vielheit und macht Brüche, Mehrdeutigkeit und marginalisierte Erinnerungen sichtbar, die nicht am Rande der Gesellschaft zu verorten sind, sondern die zentralen gesellschaftlichen
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Verhältnisse ausdrücken. Durch ihre irritierende Wirkung schafft diese Blickverschiebung auch eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Das Postmigrantische versteht sich dann als Kampfbegriff gegen ›Migrantisierung‹ und Ausgrenzung von Menschen, die sich als integraler Bestandteil der Gesellschaft verstehen, gegen einen öffentlichen Diskurs, der Migrationsgeschichten weiterhin als spezifische historische Ausnahmen behandelt und in dem zwischen einheimischer Normalität und migrantischen Konflikten unterschieden wird.
Eine andere Genealogie der Migrationsgeschichte Man kann die Geschichte der Migration auf sehr unterschiedliche Weise erzählen. Welche Geschichten erzählt werden und welche nicht, hängt von unseren Perspektiven ab. Die Angehörigen der ersten Generation, die Anfang der 1960er-Jahre als Gastarbeiter*innen nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz kamen, waren eigentlich die Pioniere der Kosmopolitisierung und Transkulturalisierung in einem konkreten Sinne, auch wenn diese Sichtweise im öffentlichen Diskurs bis heute kaum präsent ist. Sie versuchten, neue Wege, Umwege oder Sonderwege zu finden, um ihr Leben unter unsicheren gesellschaftlichen Bedingungen vor Ort zu gestalten. Die erste Generation war also im wahrsten Sinne des Wortes mobil. Sie waren gezwungen, ihr Leben und ihre Mobilität unter schwierigen Bedingungen zu organisieren und sich eigene Räume zu schaffen. Menschen, die zugewandert sind, bringen Mobilitätserfahrungen mit und haben deshalb einen Vorsprung, weil sie oft diejenigen sind, die mit Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen umgehen können. Im Laufe der Zeit entwickelten die eingewanderten Familien transnationale Verbindungen und Strategien, erwarben transkulturelle Kompetenzen und akkumulierten ein Mobilitätswissen, das situativ für ihre gesellschaftlichen Verortungsprozesse genutzt werden konnte. Angesichts ihrer prekären Lebensverhältnisse und der öffentlichen Abwertung ihrer Lebensweise blieb der sogenannten Gastarbeiter*innengeneration nichts anderes übrig, als sich über die lokalen Grenzen hinaus zu orientieren. Die Bahnhöfe, auf denen man sich in den 1960er-Jahren mit der Hoffnung traf, Neueinwanderer*innen aus den eigenen Herkunftsgebieten zu treffen und Neuigkeiten über Familie und Nachbarschaft aus-
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zutauschen, verwandelten sich in Knotenpunkte transnationaler Bezüge. Dort fanden Begegnungen statt, entstanden neue Verbindungen und Kommunikationsräume. Die Angehörigen der ersten Generation versuchten, unter diesen schwierig sten Lebensbedingungen, zu denen auch der damalige technische Stand der Fernkommunikation gehörte, die Verbindung zu ihren Herkunftsorten aufrecht zu erhalten. Es entstanden neue Formen der Mobilität und neue Infrastrukturen und informelle Netzwerke, die den Nachzug weiterer Personen möglich machten. Durch diese grenzüberschreitenden Netzwerke wurden Transnationalisierungsprozesse in Gang gesetzt und gewissermaßen eine ›Globalisierung von unten‹ vorangetrieben. Solche Mobilitätsgeschichten werden nun von den Nachfolgegenerationen weitererzählt und mit familiären Erfahrungen und Visionen verknüpft. Sie sind Zwischenräume, in denen weltweite Vernetzungen zusammenlaufen und sich zu alltäglichen Kontexten verdichten. Sie sind gewissermaßen »Transtopien« (vgl. Yildiz 2013), die sich gleichzeitig aus Herkunfts- und Ankunftsräumen zusammensetzen. Solche Lokalisierungspraktiken erscheinen aus einer nationalen Perspektive als Defizite und werden folglich marginalisiert und diskriminiert. Dennoch entfalten sie eine innovative Kraft, die für die biografische und räumliche Orientierung der betroffenen Menschen von besonderer Relevanz ist. Ausgehend von der Autonomie und Kraft der Migration plädiert Sabine Hess ebenfalls dafür, Geschichte aus der Perspektive der Migration neu zu erzählen und dabei deren gesellschaftlich bewegende Kraft und Dynamik nicht aus den Augen zu verlieren (vgl. Hess 2015: 49–51). Die Entwicklung von (post)migrantischen Ökonomien in den Städten ist ein markantes Beispiel für diese Alltagspraxis, eine Art sozialer Aufstieg auf ›eigene Rechnung‹. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der zunehmenden Deindustrialisierung Anfang der 1970er-Jahre waren die Gastarbeiter*innen in Europa als erste von Arbeitslosigkeit betroffen. Einige sahen sich zur Rückwanderung gezwungen, andere blieben und versuchten auf andere Weise, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Für viele schien die Selbstständigkeit die einzige Option zu sein. Dafür mussten erhebliche Hürden überwunden werden. Für die meisten Menschen bedeutete die Selbstständigkeit Schutz vor Diskriminierung auf dem offiziellen
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Arbeitsmarkt, zu dem sie kaum oder nur limitierten Zugang hatten, und sie versprach auch eine gewisse Aufwertung ihres sozialen Status. Großstadtquartiere, die von einer (post)migrantischen Migrant*innenökonomie geprägt sind, werden immer wieder als ›Parallelgesellschaften‹, als ›Orte der Desintegration‹ abgewertet. Dabei verfügen sie oft über eine gut funktionierende Infrastruktur, haben mit zahlreichen Unternehmen wirtschaftliche Nischen besetzt und sich so aus eigener Initiative Aufstiegschancen geschaffen (vgl. Yildiz und Mattausch 2009). Da weder die Niederlassung von Gastarbeiter*innen noch ihre wirtschaftliche Integration in die Gesellschaft politisch gewollt war, kann ihre Existenzgründung als ein Akt des ›Ankommens auf eigene Rechnung‹ gesehen werden. Als ökonomische Selbsteingliederung, die unter schwierigen Bedingungen organisiert werden musste und eine Art Überlebensstrategie darstellt, kann sie bereits als Teil einer postmigrantischen Praxis betrachtet werden.
Postmigrantische Lebensentwürfe in Bewegung »Mittlerweile fühle ich mich schon angekommen, weil ich gemerkt habe, dass dieses Dazwischen das ist, was mich ausmacht. Das ist mein Leben. Ich muss nicht probieren, wie meine Eltern zu leben. Oder wie andere Leute, die hier leben. Ich lebe mit beiden Seiten, die mich beeinflussen. Das ist in Ordnung. Man muss sich nicht biegen und brechen, damit man irgendwo dazu passt« (Dino Izic alias Rapper Dynomite, ehemals Flüchtling vor dem Jugoslawienkrieg).6
Mit Blick auf die Nachfolgegenerationen, die selbst nicht zugewandert sind, hat sich in den letzten Jahren der Neologismus ›Migrationshintergrund‹ durchgesetzt. Diejenigen, die mit einem solchen Etikett versehen werden, reagieren oft verärgert auf diese Benennungspraxis. Sie wollen nicht auf einen ›Hintergrund‹ reduziert werden. Mit dieser Benennungspraxis, die oft auch mit der Frage der Zugehörigkeit verbunden ist, findet eine permanente Auseinandersetzung statt, auch wenn die Betreffenden unterschiedlich damit umgehen. 6
Zit. n. Wiener Zeitung, 15./16.02.2020, S. 2. Dino Izic kam als Flüchtling vor dem Jugoslawienkrieg nach Österreich.
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Immer wieder scheinen ›die Einheimischen‹ als selbsternannte Expert*innen in Herkunftsfragen aufzutreten. Anstatt sich mit Antworten zufriedenzugeben, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, versuchen sie hartnäckig, den Befragten und ihren ›wirklichen Wurzeln‹ auf den Grund zu gehen. Bezeichnet sich eine Person, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind, als Kölner*in oder Frankfurter*in, weil sie in dieser Stadt aufgewachsen ist, wird die Antwort als Ausrede oder Ironie interpretiert. Es wird davon auszugehen sein, dass die so Befragten Schwierigkeiten mit ihrer tatsächlichen Herkunft haben und eine ehrliche Antwort vermeiden wollen. Immer wieder findet sich auch die zweite oder dritte Generation in solchen ›Verhörsituationen‹ wieder: »Woher kommst du?«, »Fühlst du dich bei uns wohl?« Oder erstaunt: »Du lebst wie wir«, oder gar lobend: »Du sprichst aber gut Deutsch!« Diese Beispiele deuten darauf hin, dass in solchen Alltagsgesprächen nicht mit Individuen kommuniziert wird, sondern mit den allseits bekannten Klischees. Menschen werden von vornherein als Repräsentant*innen ihrer angeblichen Herkunftskultur verstanden. Eine solche Art der Repräsentationspraxis, die Menschen auf ihre sogenannte Herkunftskultur reduziert, wird von Battaglia (2000: 183 ff.) als »Herkunftsdialog« bezeichnet. Implizit wird dem Gegenüber gesagt, dass er oder sie eigentlich woanders hingehört. Angehörige der postmigrantischen Generation setzen sich mit dem etablierten Migrations- und Integrationsdiskurs auseinander, der die ›Anderen‹ permanent reproduziert und sie zu integrierenden defizitären Objekten macht, und schaffen Gegenbilder und solidarische Haltungen (vgl. Yildiz 2020), wie die folgende Passage von Vina Yun, die der postmigrantischen Generation angehört, prägnant zum Ausdruck bringt: »Wir lassen uns nicht mehr von euch definieren, sondern definieren uns selbst. Doch dieses ›Wir‹ ist nicht einheitlich, sondern basiert auf einer Allianz, die real wird durch kollektive Aktionen, indem wir bestimmte Haltungen und Praktiken ersinnen […]. Uns eint nicht das Schicksal, sondern der gemeinsame Bezug auf eine migrantische Erfahrung und ein marginalisiertes Wissen« (Vina Yun 2019: 7).
Die postmigrantische Generation, die – wie die erste Generation – permanent mit negativen Zuschreibungen konfrontiert ist, ist eher in der Lage,
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mit uneindeutigen, mehrdeutigen und ambivalenten Lebensrealitäten umzugehen und eine »Kultur der Konvivialität« in der postmigrantischen Gesellschaft zu schaffen (vgl. Yildiz und Ohnmacht 2020). Für diese Generation ist das ›Dazwischensein‹ Teil der alltäglichen Normalität und eine Lebensform; es ist eine Art kreativer Desorientierung. Der Autor Feridun Zaimoglu geht spöttisch an solche Herkunftsfragen heran und kontert: »Meine Sippe stammt ursprünglich aus der Krim, sie gehörten zum Volk der kriegerischen Tataren. Die nächste Generation, also meine Eltern sind schon in der Türkei geboren. Und ich bin ein orientalischer Deutscher« (Zaimoglu 2000: 18).
Spott, Ironie und Parodie sind kreative Mittel mit subversiver Wirkung, wie sie zum Beispiel der Name Kanak Attak7 signalisiert – ein loser Zusammenschluss der zweiten und dritten Generation in Deutschland, eine Art soziale Bewegung, die die rassistische Zuschreibung ›Kanake‹ durch ironische Umdeutung in eine positive Selbstdefinition verwandelt. Auf diese Weise werden Räume des Widerstands gegen eine hegemoniale Praxis der Normalisierung geschaffen. Dieser Widerstand besteht in einer kreativen Konfrontation mit dem dominanten Wissen der Dominanzgesellschaft, mit der Absicht, es zu dekonstruieren. Kanak Attak weist alle Formen der Identitätspolitik zurück, die aus einer hegemonialen Benennungspraxis von außen zugeschrieben werden. Kanak Attak bedeutet für das Bündnis eine Frage der Haltung und nicht der Herkunft (vgl. Manifest KanakAttak). In dem Kurzfilm Weißes Ghetto Köln-Lindenthal (2002) von Kanak-TV wird die übliche Wahrnehmung umgekehrt und der als konservativ und ›ausländerfrei‹ bekannte, ›gehobene‹« Stadtteil als ›Problemviertel‹ dargestellt – eben als weißes Ghetto oder Parallelgesellschaft, als Abweichung von der städtischen Normalität. Die Nachbarschaft wurde gefragt, wie 7
Kanak Attak ist ein 1998 gegründeter Zusammenschluss von Menschen, die sich vorgenommen haben, eine neue Haltung zu Migration und Generationen zu etablieren, indem sie die negative Zuschreibung ›Kanake‹ übernehmen und positiv besetzen. Sie bezeichnen sich als anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnten alle Formen von Identitätspolitik ab.
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es ihnen gefällt, in einem solchen »weißen Ghetto« zu leben, und mit welchen Problemen sie sich täglich konfrontiert sehen. Kaum jemand verstand die Frage; sie löste Reaktionen aus, die von Erstaunen über Wut bis hin zu Abwehr reichten. Die Unmündigen aus Mannheim, eine zivilgesellschaftliche Organisation, ist ein weiteres Beispiel für gegenhegemoniale Wissensproduktion und subversiv-ironische Umdeutung. Die Unmündigen versuchen, sich mit ihren zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und ihren unkonventionellen Perspektiven in die Migrations- und Integrationsdebatten einzumischen. Hinter dem Namen verbirgt sich eine Selbstorganisation der zweiten und dritten Generation, deren Hauptanliegen es ist, Diskriminierung und Rassismus zu thematisieren, aufzuarbeiten und zu entlarven. Die Gruppenmitglieder bezeichnen sich selbst als ›unmündig‹, weil ihnen in Deutschland wesentliche Bürger*innenrechte vorenthalten werden und sie sich dadurch als entmündigt sehen. Ihr Selbstverständnis lautet: »Wir sind weder ›Gäste‹, ›Fremde‹ noch ›Ausländer‹: ›Gäste bleiben kein halbes Jahrhundert, ›Fremden‹ begegnet man nicht jeden Tag und ›Ausländer‹ leben im Ausland. Auch der kaschierende Ausdruck ›ausländische Mitbürger‹ kann nicht zur Genüge verschleiern, dass wir politisch unmündig gehaltene Bürger dieses Landes sind« (Die Ünmündigen o.J.).
Eine weitere Möglichkeit, junge Menschen mit Kritik an etablierten Meinungen und veralteten Diskursen und Vorstellungen von Normalität zu erreichen, ist die Musik. Das Geschwisterduo Esra und Enes aus Wien, bekannt als EsRap, nutzt Rap als politisches und emanzipatorisches Ausdrucksmittel und positioniert sich damit gegen überholte und unzeitgemäße Diskurse, die Menschen mit Migrationserfahrungen am Rande der Gesellschaft und nicht als Teil von ihr sehen wollen. EsRap setzen sich in ihren Texten für eine Gesellschaft ein, in der Migration als alltägliches und normales Phänomen verstanden wird. Esra und Enes sind Enkelkinder türkischer ›Gastarbeiter*innen‹ und leben in dritter Generation in Wien. In ihren Texten machen sie deutlich, mit wie vielen Vorurteilen sie im Alltag konfrontiert sind. Ihre Strategie ist es, gegen diese Vorurteile und negativen Zuschreibungen anzusingen und lautstark dagegen zu rappen. Die folgende Passage aus dem Interview mit Esra Özmen in Zeit Online drückt das »Integrationsparadox« (El-Mafaalani 2020) treffend aus:
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»Wenn ich das Wort Integration höre, stellt es mir die Haare auf. Es bedeutet für mich: Du gehörst nicht hierher und musst viel arbeiten, um akzeptiert zu werden. Aber man ist nie genug integriert. Wenn man Deutsch kann, ist es das Kopftuch. Wenn man kein Kopftuch trägt, ist es der Akzent. Wenn man einen Uni-Abschluss hat, ist es der Name. Es bestimmen immer andere, ob ich nun gut genug integriert bin, und bewerten mich Schritt für Schritt.« (Milborn 2020)
Dagegen wehren sie sich, indem sie bewusst und subversiv mit den verschiedensten negativen Zuschreibungen spielen. Des Weiteren nutzen sie Begriffe, die gemeinhin als Beleidigungen gelten und wandeln sie ab, sodass ›Tschusch‹ – ursprünglich eine rassistische Bezeichnung für Minderheiten – zu einer Selbstbeschreibung und Selbstbenennung wird. Sich fortan einfach selbst als ›Tschusch‹ zu bezeichnen und dem Gegenüber so die Deutungshoheit zu nehmen, kann als postmigrantische und gegenhegemoniale Strategie gelesen werden. Im Gegensatz zum öffentlichen Diskurs, der sie zum Integrationsobjekt degradiert und durch Herkunftsdialoge auf einen anderen Ort verweist, zeugen die genannten Beispiele davon, dass sich die Jugendlichen und Erwachsenen der 2. und 3. Generation nicht passiv in eine Opferrolle fügen, sondern gegen Dominanzverhältnisse rebellieren und Gegenbilder schaffen. Solche Alltagsstrategien dienen dazu, sich mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu arrangieren und ihr einen positiven Sinn abzugewinnen. Durch das Erzählen neuer Geschichten und die Umdeutung zugeschriebener negativer Eigenschaften werden einerseits Machtverhältnisse aufgedeckt, andererseits wird die Anerkennung gleichzeitiger und widersprüchlicher Lebensrealitäten gefordert. In diesem Sinne ist das Postmigrantische herrschaftskritisch. Es wirkt politisch provokant und irritierend auf nationale Narrative und Deutungsmuster. Was die Umkehrung negativer Zuschreibungen und ihre ironische Umdeutung betrifft, spricht Stuart Hall von »Transcodierung«. Nach seiner Überzeugung können Bedeutungen nie endgültig fixiert und kontrolliert werden. Transkodierung bedeutet die Aneignung und Umdeutung, kurz gesagt, die Neuinterpretation bestehender Begriffe und Wissensinhalte (vgl. Hall 1994: 158). In den von mir genannten Beispielen wurden Stereotype ironisch inszeniert, binäre Gegensätze auf den Kopf gestellt, indem der marginalisierte Begriff privilegiert wurde, um negative Stereotype durch positive Identifikation zu überwinden.
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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass postmigrantische Alltagspraktiken das Gesicht der Städte prägen. So sind auch Kinder oder Enkel von Gastarbeiter*innen zu Künstler*innen, Musiker*innen, Schriftsteller*innen, Kabarettist*innen, Filmemacher*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, politischen Aktivist*innen und so weiter geworden. Sie haben ein neues Selbstbewusstsein entwickelt und damit auch das Selbstbild und die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft verändert. Sie versuchen, die Migrationsgeschichte ihrer Eltern oder Großeltern, aber auch ihre eigene Lebensgeschichte aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Es werden Bilder jenseits der üblichen Opferrhetorik geschaffen. Gerade der Film scheint in den letzten Jahren zu einer Diskussionsplattform für vielheitliche, mehrheimische und weltoffene Zugehörigkeiten und postmigrantische Themen geworden zu sein. Die postmigrantische Generation hat sich von der sogenannten ›Mitleidskultur‹ verabschiedet. In postmigrantischen Filmen werden zum einen Bilder gegen die hegemoniale Normalität entworfen, zum anderen findet sich ein ironischer Umgang mit ethnischen Klischees und Identifikationen. Eine Art Perspektivwechsel finden wir in dem Film Almanya – Willkommen in Deutschland (2011), in dem die Regisseurin Yasemin Samdereli humorvoll Fragen von Heimat und Zugehörigkeit in einer Familie in Deutschland über drei Generationen hinweg thematisiert. Im Film werden kategoriale Zuordnungen und identitäre Zuschreibungen von außen infrage gestellt und mit klischeehaften Bildern gespielt (vgl. Ege 2014: 9). Auch das postmigrantische Theater in Berlin-Kreuzberg Ballhaus Naunynstraße versteht sich innerhalb der lokalen Theaterlandschaft eher als Bruchstelle und als Gegenentwurf zur ›Hochkultur‹. Das Theaterhaus versteht sich als translokales Theater und sucht nach kreativen Innovationen, Horizonterweiterungen, innovativen Brüchen und margina lisierten Erinnerungen. Laut Schermin Langhoff, die das Selbstverständnis des postmigrantischen Theaters in Berlin wesentlich mitgestaltet hat, geht es bei dem Begriff »postmigrantisch« vor allem um die Geschichten und Perspektiven derer, die keine Migrationserfahrung im klassischen Sinne haben, aber ihren Migrationshintergrund als Wissen und kulturelles Kapital mitbringen. Die im Ballhaus inszenierten Stücke spielen bewusst mit Klischees, stigmatisierenden und ethnisierenden Deutungsmustern.
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Neue Bilder und Deutungen im Kontext von Migration werden sichtbar, postmigrantische Strategien werden als Empowerment-Strategie verstanden. Gängige Begriffe werden bewusst ›transkodiert‹.
Postmigrantische Existenz als Resistenz Auf der Grundlage des bisher Gesagten kann die postmigrantische Lesart als eine widerständige Praxis der Wissensproduktion, als ästhetische, materielle und so auch affektive Interventionen ins praktische Feld beschrieben werden, die neue Möglichkeitsräume für politische Subjektivierungsweisen jenseits hegemonialer Deutungen eröffnen. Das Postmigrantische als kontrapunktische Lektüre historischer wie gegenwärtiger Weltverhältnisse impliziert einen »Bruch mit der gesamten historiographischen Großnarrative« (Hall 1997) und eine »radikale Revision gesellschaftlicher Zeitlichkeit« (Bhabha 2000), einen Bruch, der im Sinne Rancières Dissens produziert, die hegemoniale Ordnung irritiert und die eingeübten Evidenzen kritisch hinterfragt. Postmigrantische Praktiken sind subversive Formen des Widerstands und richten sich gegen hegemoniale Verhältnisse. Durch postmigrantischen Dissens wird die dominante Ordnung infrage gestellt und gestört, oder in den Worten von Rancière: »Der Dissens stellt zugleich die Offensichtlichkeit dessen in Frage, was wahrgenommen wird, denkbar und machbar ist, wie die Aufteilung derer, die fähig sind zu erkennen, zu denken und die Koordinaten der gemeinsamen Welt zu verändern« (2008: 61).
Durch diesen Bruch mit der herrschenden Ordnung kommen marginalisierte Formen des Wissens, Verdrängtes, Ausgegrenztes zum Vorschein. Etablierte Sichtweisen und Ordnungskonzepte geraten dadurch aus den Fugen. In diesem Sinne ist die postmigrantische Subjektivierungsweise als eine Handlungsmöglichkeit zu verstehen. Die Übernahme von zugeschriebenen Eigenschaften oder pejorativen Begriffen und deren Ironisierung (»Wir Kanaken«, »SelbstKanakisierung«, »Die Unmündigen«) ist in dieser Hinsicht als eine subversive Form des Widerstands zu verstehen. Einerseits birgt eine solche Selbstbenennung oder Selbstironisierung die Gefahr, dass die Subjekte wei-
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terhin als die ›Anderen‹ erscheinen. Andererseits ermöglicht diese Praxis der Selbstermächtigung die Einnahme einer Subjektposition, aus der heraus gesprochen und in den dominanten Diskurs interveniert werden kann (vgl. Mouffe 2014). Eine solche ambivalente Situation im Dazwischen kann mit Spivaks Begriff des »strategischen Essentialismus« (1987) theoretisch gefasst werden. Die biografischen Erzählungen, Praktiken, Initiativen und alternativen Räume wie die vorgestellten – Kanak Attak, Die Unmündigen, EsRap oder Postmigrantisches Theater – öffnen den Blick für gesellschaftliche Vielheit, regen zum kritischen Denken an. Als wissenschaftliche, aktivistische oder künstlerische Ausdrucksformen inspirieren sie zu neuen, kreativen und überraschenden Perspektiven und eröffnen eine neue Topografie des Möglichen. Es wird eine andere Genealogie zur hegemonialen Geschichtsschreibung entworfen und auf diese Weise eine andere Repräsentation oder Artikulation von Migration in das kulturelle Archiv und Gedächtnis gebracht. Das Postmigrantische ist eine Denkfigur, die utopisch ist, weil sie die etablierten hegemonialen Wir-Sie-Konstruktionen radikal infrage stellt und irritiert und eine andere Kartografie des Möglichen entwirft. Sie verweist auf ein utopisches Moment, weil es um Veränderungen im etablierten Umgang mit Migration und Weltverhältnis geht.
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Erol Yildiz
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Relationale Intensitäten und Zwischenräume
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Vittoria Borsò
Relationale Intensitäten und Zwischenräume. Anmerkungen zur Postmigration
Postmigration: Interaktion statt Integration In den letzten Jahren hat sich in der Wissenschaft und im öffentlichen Diskurs das Konzept des Postmigrantischen als politischer Begriff etabliert, mit dem die aktuelle Pluralität der deutschen Identität und eine veränderte Vorstellung von Integration betont wurde. Wurde das Thema zunächst sozial- und bildungswissenschaftlich behandelt (Foroutan 2016, 2019; Foroutan, Karakayali und Spielhaus 2018), so erfährt der Begriff »postmigrantisch« nun eine Extension in Bezug auf allgemeine Lebensstile in einer globalisierten Welt (Hill und Yildiz 2018). Das Präfix ›Post‹ will darauf hinweisen, dass nach der Einwanderungswelle der Jahrtausendwende die Anwesenheit von Migrant*innen zum normalen Zustand von Kulturen geworden ist (Hill 2021) und die Trennung oder gar Polarisierung zwischen ›Haupt- und Migrant*innenkulturen‹ nicht mehr den konkreten, multiversen Bedingungen von Gesellschaften entspricht. Doch die Anwesenheit von Migrant*innen sollte zur Normalität gehören. Diese Normalität nur auf die jüngsten Migrant*innen- und Flüchtlingsströme zurückführen zu wollen, würde indes zu kurz greifen. Die Genealogie moderner Staaten zeigt vielmehr, dass ihre Herkunft auf Migrationsprozessen basiert. Die Entstehung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert machte diese Prozesse durch homogene Gründungsmythen unsichtbar und Migration zu einer Gefahr, die sich in der Wende zum 21. Jahrhundert scheinbar verschärfte. Die Destabilisierungsprozesse nationaler und transnationaler Weltordnung nennt man heute zwar Systemkrisen; mit diesem Begriff geht man aber noch vom alten Standpunkt geschlossener Systeme aus und verkennt, dass Transformationen und Resilienzen von Kulturen erst aus dem Kontakt mit dem Fremden möglich werden. Eine solche Verkennung, oder gar eine
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Vittoria Borsò
Exklusion, liegt potenziell auch im Begriff von ›Parallelgesellschaft‹, der ein Nebeneinander von migrantischen Communitys und Mehrheitsgesellschaft suggeriert. Konzeptuell impliziert Parallelgesellschaft eine Frontstellung von sozialen Systemen und abgespalteten Rändern mit religiösen, ethnischen, schichtspezifischen Merkmalen oder von Identitäten und impliziert deshalb Ab- bzw. Ausgrenzungen. Diese erfolgen auch in aktuellen politischen Debatten über mehr oder weniger gelungene Integration von Migrant*innen, heißt doch Integration etymologisch die Wiederherstellung eines Ganzen, d.h. Einheit, Ganzheit, Geschlossenheit, und ist damit ein exkludierendes Konzept. Polarisierungen angesichts einer angenommenen gesellschaftlichen Einheit etwaiger Mehrheitskulturen sind aber nachträgliche Konfigurationen des Kulturellen und Sozialen und erst diese Polarisierungen verursachen Hierarchien und pejorative Konnotationen von sozialen Phänomenen. Betrachtet man Genealogien moderner Staaten, so kann man nicht von Einheit, Ganzheit, Geschlossenheit ausgehen; man muss vielmehr Migrationen als Normalfall der Herkunft von Kulturen annehmen. Gesellschaften oder Kulturen sind keine vorgegebenen Substanzen. Vielmehr werden sie durch Praktiken und Relationen erst gemacht. Sie entstehen im offenen Feld von Verhandlungen, wobei sich Ordnungen durch Normierung und diskursive Macht bilden, die gleichzeitig von ParaKonfigurationen begleitet sind. Nach der Ethymologie von παρά (pará »bei, neben«) stehen diese Konfigurationen in Verbindung mit der dominanten Ordnung und nehmen Teil an ihrer Entwicklung. Diese Koexistenz könnte mit dem Begriff »parasitär« im Sinne von Michel Serres bezeichnet werden, sind doch Parasiten die Bedingung für die Dynamik eines Systems, denn im Sinne der biologischen Metapher zeigt Serres, dass das System degeneriert, wenn das Innere des Systems zur Interaktion mit dem Außen nicht fähig ist. So analysiert auch der italienische Philosoph Roberto Esposito die politischen Entgleisungsprozesse, die in der Geschichte des 20. Jahrhundert zur Katastrophe der Shoah geführt haben, im Sinne einer autoimmunen Degeneration, die stattfindet, wenn sich politische Systeme gegen das Außen versperren (Esposito 2002; Borsò 2014). Analog zu biologischer Immunität muss auch die nationale Gesellschaft Immunität als eine Aushandlung zwischen Identität und Alterität begreifen und sich öffnen, denn erst die Öffnung zum Anderen lässt Transformationsprozesse zu, die das System
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stärken. Wir müssen unser Denken an eine multilineare, polyglotte Realität anpassen, und diese war und ist eine Chance. Unter den Stimmen, die im 20. Jahrhundert auf die Bedeutung von Migration für die Vitalität von Kulturen und Gesellschaften hingewiesen haben, hat Vilém Flusser in seiner Autobiografie (Bodenlos, 1992) und in Von der Freiheit des Migranten (1994) die Migration als einen Zustand von Kreativität beschrieben, die dann einsetzt, wenn man nicht mehr unter dem Bann des heimatlichen Ursprungs steht, wenn man also die Wurzeln zum alten Territorium abgeschnitten hat und frei ist zu »prozessieren«, nämlich die unbekannten Daten einer neuen Umwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Heimat ist zwar ein positiv konnotierter Begriff, der mit Wärme, Sensibilität und Bindungen zu tun hat. Die Sesshaftigkeit transformiert jedoch die Bindungen in Fesseln und die Wärme in Watte, die den Menschen umgibt und ihn anästhesiert, also für Sensibilität und Sinnlichkeit unempfindlich macht. Nicht zufällig entdeckt man das Potenzial der Heimat erst dann, wenn man sich von ihren Fesseln befreit hat und aus der Ferne zurückschaut. Die Kreativität der Migrant*innen besteht in der gewonnenen Freiheit, mit Sensibilität, d.h. ästhetisch, neue Daten zu neuen Lebensformen zu produzieren und Bindungen mit der neuen Umwelt einzugehen. Erst dann kann die Dynamik des Lebens frei gestaltet werden. Eine postmigrantische Gesellschaft impliziert eine Öffnung zu dieser Freiheit, die mit den ehemaligen Migrant*innen ins Land gekommen ist. Die von den Medien verstärkten Diskurse zur ›Migrationskrise‹ des beginnenden Jahrtausends vertiefen diese Krise, indem sie für die ›Normalität‹ von Migration blind machen und den zahlenmäßigen Anstieg von Arbeitsmigrant*innen und Flüchtlingen als das Symptom einer bedrohten Welt darstellen. Darin mag die Zäsur unserer Zeit liegen: Aus der Freiheit der Migrant*innen ist die Wunde einer verletzten Welt geworden, deren Narben weder mit Fundamentalismus noch mit christlichem Erbarmen – was nur die Kehrseite der Medaille ist –, aber auch nicht mit postkolonialen Utopien zu heilen sind. In einem postmigrantischen Zeitalter geben Autor*innen wie Sevgi Emine Özdamar, May Ayim, Deniz Utlu, Semra Ertan oder Max Czollek Impulse, die das Zusammenleben als Chance für die Entwicklung gemeinsamer, materieller Alltagspraktiken und vor allem für eine veränderte Wahrnehmung des gemeinsamen Raums jenseits von Exklusionen und Polarisierungen begreifen.
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Vittoria Borsò
Auch die Forschung hat das Thema aufgegriffen und als einen der Schwerpunkte die Transformation von Städten ins Zentrum gestellt. Dabei folgt sie mit Verzögerung den Künsten, die die komplexe Dynamik urbanen Lebens und Zusammenlebens in einer Umwelt beschreiben, deren Gesicht Migrant*innen schon längst verändert haben. Der 2009 bei Edition du Seuil erschienene, 2010 in der Übersetzung von Andreas Münzner auf Deutsch publizierte Roman Black Bazar des westkongolesischen Schriftstellers Alain Mabanckou, Professor für Französische Literatur an der UCLA, zeigt deutlich eine derartige seismografische Funktion von Literatur. Er zeigt einerseits die Normalität postmigrantischen urbanen Lebens, aber auch, dass eine derartige Normalität immer noch vom kolonialistischen Denken durchzogen ist, einem Denken, das sowohl Täter*innen als auch Opfer der Kolonialisierung übernehmen. Es geht in diesem Roman um Paris, das im Fluss der Migrationen zum Treffpunkt verschiedener »scapes« (Appadurai 1996), also Landschaften, wird, die das Zentrum der Stadt durchqueren und neu anordnen. Das alte Paris, dessen Identität durch die Renaissance-Künste und durch die Aufklärung geprägt ist, ist nun die Metropole von Migration. Black Bazar heißt der Roman, den der autobiografische Erzähler zu schreiben beginnt, nachdem er erfährt, dass seine junge Familie zerstört ist. Die Analogie zum ersten großen Roman der Moderne, Les Fauxmonnayeurs von André Gide (1925), geht weiter als nur die mise en abyme des Romans.1 Der Erzähler beginnt das Schreiben, weil der von ihm erlittene Bruch mit der Identität keine neue Ordnung möglich macht. Bei Gide wird die genealogische Unreinheit zu einer fundamentalen Unbestimmtheit der Sprache, die eine essenzialistische Entscheidung zwischen wahr und falsch nicht mehr zulässt. Bei Mabanckou betrifft dieser Bruch die Familie als Figuration einer kolonialen Identität in der Gemeinschaft der europäischen Metropole im postmigrantischen Zeitalter. Nach dem Zusammenbruch der Familiengeschichte dieser Migrant*innen im ersten Kapitel werden in der Retrospektive die Spannungen zwischen Metropole und Kolonie, ihre Asymmetrien und Essenzialismen, Exklusionen und Inklusionen erzählt, 1
Der auf André Gide zurückgehende Begriff bezieht sich auf die Selbstreferenzialität des Kunstwerkes (Dällenbach 1977).
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deren sich der Protagonist bewusst wird, als er nach dem Bruch mit Couleur d’Origine keinen ›eigenen‹ Ort mehr hat. So wird er in seinem eigenen ›Haus‹ von der Bedrohung des Fremden überfallen. Der Roman beginnt tatsächlich mit einem Alptraum, einer Übertragung der Fremderfahrung in das Narrativ eines afrikanischen Ursprungsmythos, nachdem es die Pygmäen des Gabun waren, die den Menschen die Zivilisation brachten. Die Entfremdung macht sich im Alptraum am double bind kolonialisierter Subjekte bemerkbar, die den Kolonisator hassen und seine Kultur begehren. Die Emanzipation von diesem Ort findet später nicht durch eine spekulative Arbeit, sondern erst dadurch statt, dass sich der Protagonist als Kolonialsubjekt von seiner mentalen Abhängigkeit von der Hauptkultur befreit und sich der Magie affektiver Relationen hingibt: der Liebe zur Französin Sarah. Ihr wechselseitiges Begehren zeigt für Französ*innen wie für Migrant*innen die ontologische Unmöglichkeit, dass Subjekte souverän und unabhängig von der Magie des ›Anderen‹ leben können. Und erst dann, am Ende eines langen Prozesses und auch am Ende des Buchs, verliert der Protagonist den Status eines Kolonialsubjekts. Im Laufe dieses Prozesses ereignet sich eine Immersion in das soziale Imaginäre des Protagonisten und seiner Mitmenschen, Immigranten aus allen Teilen der Welt, die sich in Jip’s Bar begegnen. Die Krise im Prolog und die Lösung der Krise im Epilog (nach anderthalb Jahren) umrahmen diese Immersion in die imaginären Welten von Paris als Stadt von Migrant*innen. Es sind die scapes, die durch die verschiedenen Flüsse der Migration, aber auch durch die globalen Medien, das soziale Imaginäre der französischen Metropole konstituieren und neben den Chancen auch die Probleme postmigrantischer Gesellschaften aufzeigen. Ein solcher Konflikt liegt beispielsweise in den Grenzen des Postkolonialismus, der die alten Antagonismen umkehrt und sich lediglich gegen den Westen richtet.
Paris als Metropole der Postmigration Die Verstrickung in postkolonialen Antagonismen
Der Protagonist dieses Romans ist ein halbherziger Antiheld, eine Art Resonanzkasten kolonialistischer und antikolonialistischer Diskurse. Der Diskurs dieses autobiografischen Erzählers ist unmarkiert. Er ist die indif-
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ferente Wiedergabe des Redens in der Hauptstadt der Immigrant*innen. Wie vor einem unbeteiligten Mitschreibegerät demontieren sich vor den Augen und Ohren des Protagonisten Paradiesmythen wie auch deren Kehrseite, Fremdenhass. Die Intensität des Letzteren zeigt sich in der Angst vor panoptischer Kontrolle und Ausgrenzung, vor einem Zustand als homo sacer, demonstriert vor den Augen der gesamten Republik. So fühlt sich der Protagonist ständig von den Worten »trou« und »sécu« umgeben, als wäre er eines der ›Objekte‹, auf die man in FS-Interviews zeigt und für die Probleme der Nation verantwortlich macht (etwa Ausnutzen der sozialen Strukturen). Verfolgt ist er auch von Hippocrate, einem assimilierten karibischen Einwanderer, der sämtliche Migrant*innen, die eine dunklere Hautfarbe als er selbst haben, mit wilden rassistischen Tiraden beschimpft. Überall spürt man latente Gewalt gegen die Migrant*innen, die jeden Augenblick ausbrechen kann, ohne dass man weiß woher. Die umgekehrte Richtung der Gewalt, nämlich die pauschale Schuldzuweisung gegenüber dem Westen durch die Migrant*innen, ist ebenso die Regel. Ihre Vision bleibt kolonialistisch, was sich am Beispiel des arabischen Ladenbesitzers (L‘arabe du coin) zeigt, der sich als Afrikaner eine »Unité africaine du Guide éclairé Mouammar Kadhafi« wünscht. Erstens kehrt sie nur die Asymmetrie um (als Gründer der Menschenrasse sollen die Afrikaner*innen nun die dekadenten Europäer*innen retten), zweitens geht sie zwar quer durch den Mittelmeerraum und verbindet Europa und Afrika in einem gemeinsamen Raum, ohne jedoch die ausgrenzende Matrix zu verlassen. Denn die vorgeschlagene Gemeinschaft von Mittelmeerländern aus Europa und Afrika grenzt ihrerseits chinesische und pakistanische Händler*innen aus. Diese ideologische Landschaft (ideoscape) im postkolonialen Gewand versetzt den Kolonialismus lediglich in eine neue Allianz von Ausgrenzungen. Les Halles, eine der Hauptattraktionen der Pariser Metropole, wird somit zum unsichtbaren Zentrum kolonialistischer Diskurse aus jeder Richtung. Als Metonymie der Region Île-de-France ist Les Halles also auch das Zentrum arabisch-muslimischen Lebens in Europa geworden. Weniger sichtbar ist die afrokubanische Gemeinschaft, die sich um das Jip’s, die afrokubanische Bar in der das Viertel der Les Halles durchquerenden Rue Saint-Denis, versammelt. In der Bar und den umliegenden Geschäften von Araber*innen und Chines*innen finden die Gespräche mit den anderen Migrant*innen statt. Am assimilierten ›Autokolonialismus‹, der
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in diesen Gesprächen durchschimmert, erkennt man den Schaden kolonialer Einschreibungen in die gebleichten, zugerichteten Körper der Migrant*innen. Paris wird also zum Ort der Austragung der Konflikte in den Kolonien, den Ursprungsländern dieser Migrant*innen. Alle Figuren setzen aktiv den Kreislauf von Ausgrenzungen, Verletzungen und Gewalt fort, wenngleich sie durch ›neue Identitäten‹ Auswege aus ihm suchen. Besonders interessant ist die Sackgasse des métissage, einer Theorie, die vom Schriftsteller Roger Le Franco-Ivorien verkörpert wird (Mabanckou 2009: 75). Dieser Roman zeigt die Falle des lange als Lösung für das Zusammenleben von Kulturen verstandenen Begriffs der Mestizierung. Denn Kulturmischungen bedeuten hier Bleichung der Seele und Verlust der Ressource der Ethnie, eine Ressource, auf die schon Stuart Hall im Sinne des Ortes verwies, von dem aus einer spricht (Hall 1994). Zitiert wird z.B. auch L’Afrique fantôme, der Reisebericht von Michel Leiris (1934), jedoch so, dass Leiris' Unternehmen, die Ethnografie durch Aufdeckung des eigenen kolonialen Blickes zu kritisieren, umgekehrt wird: Der kolonialistische Diskurs wird von den Opfern der Kolonisation übernommen, führt doch die Suche nach ›eigener‹ kultureller Authentizität zur Selbstexotisierung. Métissage ist nichts anderes als die Assimilation eines eurozentrischen, touristischen Blicks. Am Protagonisten, »un amateur de Weston et des costumes du foubourg Saint-Honoré« (Mabanckou 2009: 76), Residenz des Präsidenten und der Haute Couture von Paris, erprobt der Text die in postkolonialen Theorien als Widerstand geltende Mimikry der europäischen Lebensstile und stellt sie auf die Probe der postmigrantischen Metropole. Der Protagonist versucht die Mimesis der Haute Couture von Paris, wenn er als ›Sapeur‹ eine alte kongolesische Praktik anwendet2, aber auch die Mimikry erweist sich als unzureichend. Der Roman stellt die postkoloniale Theorie insgesamt auf die Probe der Praxis und deckt ihren eigenen blinden Fleck auf. 2
SAPE: Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes. Die kulturelle Praktik des Sapeurs entstand in Afrika als eine Art Mimesis am Fremden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bei Ankunft der Franzosen im Kongo die Jugend der ethnischen Gruppe der für die Franzosen arbeitenden Bakongo den Mythos der Pariser Eleganz kreierte. Grenard André Matsoua war der erste Kongolese, der 1922 aus Paris wie ein genuiner Franzose zurückkam.
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Vittoria Borsò
Die Suche nach einer Verortung in der postmigrantischen Gesellschaft von Paris erweist sich bis zum Ende des zweiten Romanteils als schwierig, da der Protagonist als Assimilierter noch vom Kolonialismus abhängig ist. Erst mit der Sprache und in der Sprache, die im dritten Teil des Romans zentral wird, kann der Erzähler kulturell produktiv werden. Zunächst wird ihm bewusst, wie sehr die (französische) Sprache Gewalt gegen Menschengruppen ausüben kann, und erst dann, wenn er mit sprachlicher Kombinatorik die sprachliche Ordnung ent-essenzialisiert und die Arbitrarität der Sprache erkennt, wird ihm auch die Arbitrarität der Zuschreibungen von Eigenschaften sichtbar, die die Politik von Gender, ›Rassen‹, Nationen bestimmen. Erst jetzt kann er am haitianischen Exil-Schriftsteller Louis-Philippe Dalember die Kreativität der Migrant*innen im Sinne Flussers erkennen und sich von kolonialistischen und revanchistischen Einschreibungen befreien. So ist er in der Lage, den Schritt in einen neuen Raum zu vollziehen. In diesem Raum erkennt er das Potenzial der Ambiance, des Milieus als Ort, der durch Interaktionen und Subjektivierungen stets neu produziert wird. Für den Migranten bekommt diese abstrakte Idee konkretes Leben, wenn sie bei der letzten Begegnung im Roman, der Begegnung mit Sarah, zu einer materiellen Erfahrung wird. Damit setzt auch ein furioser Schreibrhythmus ein. Sarah ist eine Französin. Sie ist Fotografin von Alltagsszenen mit Schwarzen in den Bars von Chateau-Rouge und Chateau-d’eau (248). Verschiebungen auf dem Weg der Normalität: Die Schrift und das Leben
Die Migrant*innen im Paris des 21. Jahrhunderts sind im Netz des kolonialistischen Ausrichtens der Körper verstrickt – dies zeigt eindringlich die erste Hälfte des Romans. Erst eine Grenzerfahrung mit Sarah, der Intellektuellen, Malerin und Fotografin, Tochter von »gens bien«, macht die »Annahme des Lebens« als materielle Lebenserfahrung möglich. Sarah entgrenzt die koloniale Ordnung, in dem der Erzähler gefangen ist, und befreit ihn von seinem kolonialisierten Imaginären. Sarah verlangt, dass er lernt, sich in seiner Haut wohl zu fühlen. Erst hier entkommt der Protagonist der Spirale der Einschreibungen von Schwarz und Weiß, von glatten, weichen oder krausen Haaren. So werden Farben, Haare und Körper zum Material der eigenen Performance, die die materialisierten
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Körpereinschreibungen aufs Spiel setzen können. Aber auch die Französin, die in der Kneipe erscheint, als sie auf der Suche nach »extravaganten« Gestalten schwarzer Männer ist, übt bei der Begegnung mit dem Körper des Protagonisten eine ethnografische Distanz aus. Diese Urszene ethnografischer Landnahme des Körpers transformiert sich jedoch, als der Protagonist seinen eigenen Körper, mediatisiert durch den begehrenden Blick der Fotografin, ästhetisch erfährt – eine Blickkonstellation, die ihn vom kolonialistischen Bann und sie vom Exotismus befreit. Diese Urszene strahlt auf den postmigrantischen Raum aus und verändert die Perspektive. Denn die ›ästhetische Lust‹ entgrenzt das Regime der Sinne und dieses verändert die Landschaft der Metropole, weil hier der Freiraum des Schreibens endlich einen Ort finden kann. Sarah initiiert den Protagonisten zur französischen Literatur. Allerdings sind es neben Gedichten von Henri Michaux (Mabanckou 2009: 261) allesamt belgische Schriftsteller*innen, die Sarah dem Protagonisten »verschreibt« und die ihn in einen anderen Ort, in den freien Raum der Schrift einführen: Maurice Materlinck, Béatrix Beck und die dann von ihm selbst entdeckte Amélie Nothomb. Mit belgischen Schriftsteller*innen ist er in Paris angekommen – es ist aber ein deterritorialisiertes Paris. Zusammenfassend gilt es hervorzuheben, dass Les Halles in diesem Roman die Gegenwart unterschiedlicher Landschaften mit einer Diversität von Positionen verkörpert, die die Metropole durchqueren. Die Persistenz der Biomacht des Kolonialismus als Einschreibung in die Körper von Französinnen, Franzosen und Migrant*innen verschärft soziale Polarisierungen auch und gerade in der heterogenen Cosmopolis des 21. Jahrhunderts, die, wie Edward Soja festgestellt hat, zur Brutstätte für die Formation neuer Machtgeografien wird (Soja 2000: 202). Der Roman führt somit zur Hinterfragung von Raummodellen, die sich in den sogenannten ›postkolonialen‹ Kulturstudien als komplexe Anordnungen gleichsam utopisch anpreisen. Dazu könnte die Utopie eines Afrika umfassenden Mittelmeerraums (Arabe du coin) oder der vielgepriesene Zwischenraum hybrider Formationen gehören. Dieser Roman zeigt, dass auch all diese Formationen von kolonialistischen Verletzungen beschädigt und in diesen gefangen sein können. Demgegenüber ermöglichen ästhetische Prozesse der Malerei, Fotografie oder der Schrift Entgrenzungen, Subjektivierungen und Anbindungen an den Anderen. Erst das Schreiben bringt die Landschaften
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in Bewegung und produziert die Deterritorialisierungseffekte, die Appadurai durch die disjunktive und differenzielle Kombination der scapes schon im sozialen Imaginären als gegeben ansieht (Appadurai 1995: 36–37). Im Raum der Schrift besinnt sich der Schriftsteller auf die lokale Verortung, doch ist die Geste des Schreibens nicht mehr exkludierend, sondern verbindend. Die Lokalität antwortet hier auf die energetische Anrufung der Welt. Die Ästhetik ist im Roman von Mabanckou darüber hinaus auch der Weg zu einem Regime des Sinnlichen jenseits kolonialistischer Biomacht. Denn in der ästhetischen Erfahrung des Schreibens können biopolitische Materialisierungen entgrenzt werden. Der Körper erfährt sich als Medium der Nähe und der Interaktion. Der Roman von Mabanckou zeigt die Ambivalenz einer postmigrantischen Metropole. Als klassische Metropole besteht Paris längst nur noch im sozialen Imaginären und als Traum der Elite, während das urbane Leben in Wirklichkeit vom Trauma der Kolonialgeschichte durchzogen ist. Vom fortdauernden Kolonialismus gezeichnete Migrant*innen aus den ehemaligen Kolonien bewohnen nicht nur die Banlieues. Zwar ist im heutigen Paris die Spaltung zwischen Metropole und Banlieue durch die Migrant*innenströme noch radikaler – eine Entwicklung, die Edward Soja »Exopolis« nennt –, doch Henri Lefebvres Anspruch der Banlieues, nämlich das Recht, in der Stadt zu wohnen, (Lefebvre 1968), hat sich in postmigrantischen Gesellschaften in einer schizophrenen Weise bewahrheitet. Denn die kolonialistische Vergangenheit ist heute in der Weltmetropole Paris allgegenwärtig. Aus der Metropole ist eine »Metropolarität« geworden (Soja 1997: 269), wie die biopolitische Einschreibung in den Körpern und im Imaginären von Migrant*innen zeigt, die Les Halles bewohnen. In der Inszenierung dieses Imaginären im Roman von Mackanbou bohrt sich im Zentrum von Paris eine »Abweichungsheterotopie« ein, die – wie Gefängnisse oder Krankenhäuser – die Fiktionalität und den Widersinn von Utopien des urbanen Lebens bewusst macht (Foucault 1990: 40). Eine Chance besteht in dem, was ich – in Ergänzung der auf das soziale Imaginäre bezogenen Typologie von Appadurai – ästhetische Landschaften (aesthetic scapes) genannt habe (Borsò 2012). Erst materiell-sinnliche Landschaften, die sich bei Mabanckou im Prozess des Schreibens ereignen, entgrenzen die ideoscapes, mediascapes und ethnospaces, die die Materialisierung eines kolonialen Imaginären vertiefen und sich auf der
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Haut der Migrant*innen einschreiben. Erst die Kombinatorik der Schrift zersplittert die dichotome – ja rassistische – Anordnung des Raums und gibt der Diversität von singulären Subjekten eine Stätte, damit sie den Raum bewohnen können. In der topologischen Dynamik der Schrift kommen die ideoscapes des Kolonialismus in Bewegung. Diese Bewegung ist zwar für die phantasmatische Identität der Metropole beunruhigend, doch erst sie – so zeigt dieser Roman – macht den Raum der postmigrantischen Metropole lebbar.
Das Denken der Normalität von Migration Porosität von Grenzziehungen
In seiner Eröffnung der Unesco-Tagung von 1997 geht der in Algerien geborene französisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida auf den Essay »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) ein, in welchem Immanuel Kant schon Ende des 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit internationaler Institutionen imaginiert, die aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also 150 Jahre später, tatsächlich gegründet werden (Derrida 1997: 13). Kants Imagination eines vereinten Europas, das sich auf einen einzigen, nämlich den griechisch-römischen Ursprung bezieht und universalistisch führend sei, sollte man nicht als eurozentrischen Gestus abtun, denn diese Hegemonie tritt heute in der Gestalt der politischen Ökonomie eines globalen Kapitalismus auf. Derrida warnt vor der Wiederkehr eines vermeintlichen monokulturellen Ursprungs und fordert plurale Begründungen des Denkens (ebd.: 37). Diese Warnung ist heute in Zeiten der Postmigration wieder dringend, ist doch die Dialektik von Eigenem und Fremdem als Reaktion auf die verstärkten Migrationen erneut die Basis eines kolonialistischen bzw. neokolonialistischen Denkens (ebd.: 32), in welchem Nation und Identität als Leitbegriffe des Sozialen gelten. Wenn Derrida 1997 daran erinnerte, dass unsere Verantwortung international ist, müssen wir heute noch weiter gehen und die Grundlage nationalen Denkens hinterfragen: Es sind die Grenzen, die im vereinten Europa gefallen waren und nun, mit den sog. Flüchtlings- und Migrationsströmen, nationale Identitäten von Neuem schützen sollen. Entgegen der nationalen Identitätsfiktionen haben wir aber mit den Flüchtlingen materiell erfahren,
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dass die Grenzen porös sind, dass Innen und Außen ineinanderlaufen. Die Fragilität der nicht mehr zu ›verteidigenden‹ Außengrenzen des vereinten Europas konfrontiert uns damit, dass das Leben der Menschen im Außen uns hier und jetzt tangiert. Wir erfahren buchstäblich an unserem Leib die Wirksamkeit von Thesen, die den »spatial turn« und die transkulturelle Verfasstheit von Raum begründet haben, nämlich, dass sich Grenzen nicht durch Linien, sondern durch Zonen, einem Dazwischen, das zugleich trennt und verbindet (De Certeau 1980), definieren. Dadurch transfromieren sich Kulturen stets wechselseitig (Welsch 1997). Zwischen den Kulturen ist eine Schwelle. Die ›Schwelle‹ ist in der Tektonik der Kultur wie der Grundbalken des Hauses, der als tragender Bauteil unter der Türöffnung durchläuft.3 Schwelle ist also jener das Haus tragende Übergang, der durch das grenzsetzende Tor durchgeht. Selbst bei geschlossenen Toren erzeugt die Schwelle eine latente Liminalität. Erst die politische Macht des Triumphators macht aus der latenten Zone des Durchgangs eine Grenzlinie und eine Trennung zwischen denjenigen, die Anspruch auf Raum haben, und denjenigen, wie die Flüchtlinge, die sich in einem a-topischen Zustand, ohne Recht auf Raum, befinden. Was den Raum betrifft, hat Walter Benjamin in der Passagenarbeit Feststellungen gemacht, die für unsere Fragestellung weiterführend sind: »Schwelle und Grenze sind schärfstens zu unterscheiden. Die Schwelle ist eine Zone. Und zwar eine Zone des Überganges. Wandel, Übergang, Fliehen [?] liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutungen hat die Etymologie nicht zu übergehen, anderseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen Sachverhalt festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht hat« (GS V, S. 1025).
Im Wort »Fliehen« mitten im Eintrag Benjamins, blitzt jene Grenze auf, die in seinem Lebensskript den Tod bedeuten wird (Port Bou an der spanisch-französischen Grenze). Das Zitat und die Biografie von Benjamin 3
»›Schwelle‹ bezeichnet also den ›Grundbalken‹ des Hauses, der als tragender Bauteil auch unter der Türöffnung durchlief«. Duden (1963): Das Herkunftswörterbuch. Eine Etymologie der deutschen Sprache. Bd,. 7 Günther Drosdowski, Paul Grebe et al, in Fortführung der »Etymologie der neuhochdeutschen Sprache« von Konrad Duden. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag.
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antizipieren die heutige geopolitische Situation, bei der wir vor immer mehr sich schließenden Grenzen und notwendigen Übergängen stehen, ohne dass die Politik eine Antwort darauf findet. Benjamin gibt uns weitere raumtheoretische Hinweise, die das Fundament der Raumtheorie berühren, wenn er im selben Fragment die »Zweideutigkeit der Passagen als eine Zweideutigkeit des Raumes« (GS V: 1050) bezeichnet. Grenzen und Schwellen stellen tatsächlich die Zweideutigkeit des Raums dar. Denn wie vor sich verzweigende Pfaden, muss man sich entscheiden, welchen Weg man im Raum geht und wie man sich in diesem positioniert, ob man schließende Grenzen oder öffnende Schwellen vor sich sieht bzw. überhaupt erst zeichnet. Nach dem sogenannten spatial turn wissen wir tatsächlich, dass der Raum nicht vorgegeben ›ist‹, sondern durch uns produziert wird, durch unsere Handlungen, unsere Positionierungen im Raum, unsere Blicke auf den Raum. Grenzen oder Übergänge sind zwei unterschiedliche Konfigurationen des Raums, welche sich in der europäischen Geschichte diskontinuierlich verwirklicht haben. Sie haben sich abgewechselt und/ oder miteinander verflochten. Mit der Schwelle verweist also Benjamin auf die Funktion der Grenze als limen, als Übergang und damit auf die Liminalität, die die limes, d.h. die Grenzen, latent oder explizit begleitet. Es ist die Zone von Kontakten, die Zone, in der das Außen mit dem Inneren in Verbindung tritt und einen gemeinsamen Raum produziert. Hier steht das Gegenüber nicht in einem abgeriegelten Außen, sondern es wirkt direkt im Inneren mit. Als anthropologisches Konzept beschreibt Liminalität den Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben. Wenn sich Subjekte von habitualisierten Normen lösen, so sind sie auf das Gegenüber angewiesen. Sie werden von der Umwelt ›affektiert‹ und von dem angesprochen, das sie umgibt; sei es eine Landschaft oder humane wie nicht-humane Akteure. Erst so entwickeln sie andere Formen von Sozialität. Hier finden wir also eine ethisch-politische Funktion des Denkens vom Dazwischen, das den dynamischen Status von Normen und andere Weisen von Normalität durch die postmigrantische Gesellschaft erfahren lässt. Das Dazwischen verbindet uns mit verschiedenen Umwelten, die uns ansprechen können. Liminalität hat dabei ein Affekt- und Bindungspotenzial, fördert eine Ökologie der Praktiken (Stengers 2005) und birgt damit die Chance einer friedlichen Sozialität.
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Affektbindung: Das Potenzial postmigrantischer Gesellschaften Entgegen der klassischen Philosophie, die die Affekte als eine Vorform von Emotionen betrachtet, sind Affekt und Emotion voneinander zu unterscheiden. Affekte setzen materiell-körperliche Energien in Bewegung, sind nicht durch Bilder repräsentierbar. Während also die Emotion eine kulturell kodifizierte Form ist, steht der Affekt in Verbindung mit somatischen Regungen. Emotionen adressieren das Bewusstsein, Affekte dagegen den Körper. Ein derartiges Verständnis von Affekten, das heute mit den Namen von Gilles Deleuze und seiner Lektüre von Spinoza (Deleuze 1988) sowie mit Brian Massumi (1995), einem der bedeutenden Weiterdenker von Deleuze, verbunden ist, lässt sich auch etymologisch begründen, wie Bernhard Waldenfels in seiner responsiven Phänomenologie zeigt (2005: 31). Affekt kommt von ›afficere‹ (›ad-ficere‹ = stimmen, anregen), einem Kompositum von ›af-‹ (›ad‹ im Sinne von ›zu, hin‹) und ›facere‹ (in Zusammensetzungen ›ficere‹, ›tun, machen‹). Etwas kommt auf das Subjekt zu und affiziert es körperlich. Deleuze unterscheidet Affektion als Zustand des affizierten Körpers und Affekt im Sinne des Übergangs von einem Zustand in einen anderen in Folge der Regungen des affizierten Körpers (1988: 65). Affekte und Affektion sind Prozesse der Berührung und des Übergangs. Sie sind ein Drittes neben Körper und Bewusstsein, eine unbestimmte, sich zwischen Körpern einstellende Intensität. Affekt hat deshalb mit Liminalität zu tun. Liminalität ist die affektive Grenzzone, die sich aus der dividuellen Natur des Menschen ergibt. (Massumi 1995: 88). Dividuum ist das Gegenteil vom Individuum, das Unteilbare. Jeder Mensch ist teilbar, hat eine Heterogenese und besitzt deshalb mehrere Anschlussstellen zum Anderen, zu den Anderen, auch denjenigen, die fremd erscheinen. Liminalität impliziert schließlich auch einen Wechsel von Distanz zur Nähe, von globalen zu singulären Existenzen, vom substanziellen Sein zum Werden, von wesenhaften Qualitäten zu Praktiken, vom Spirituellen zum Materiellen, d.h. zu somatischen Erfahrungen des Miteinanders. Darüber hinaus impliziert Liminialität ein Apriori von Relationalität aller Wesen im Raum und geht weiter als politische Konzepte transnationaler Interaktion, die lediglich eine Politik der Prävention von Gewalt darstellen. Denn, als autonome Fähigkeit von Körpern, mit anderen Körpern in Kontakt zu
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kommen, sind Affekte gegen das separierende und hierarchisierende Regime von schließenden Grenzen potenziell widerständig. Durch das eröffnete Dazwischen hat der Affekt somit ein Sozialitätspotenzial und eine ökologische Relevanz, und dies begründet auch die politische Relevanz einer Ästhetik der Affekte, die gegen die Politik des sog. Postfaktischen wirken kann (Massumi 2002). Affekte implizieren ontologisch eine Verflüssigung von Differenzen zwischen Wesen und Formen des Seins. Dagegen interpretiert das Identitätsdenken diese körperlichen Übergänge im Sinne einer bedrohlichen Alterität, die zerstört werden muss. Hier wird vielleicht auch klar, dass »affektive Grenzzonen« ein Weg zur Überwindung einer Geopolitik sein können, die Räume nach Herkunft, Religion, Tradition voneinander trennt. Massumi weist darauf hin, dass für Affekte noch kein wissenschaftliches Vokabular besteht, aber die Literatur und die Künste zeigen uns die Wirkkraft derartiger Intensitäten. Liminalität und Affektion sind eine Alternative zu Grenzen, und diese Alternative ist die Chance einer postmigrantischen Gesellschaft. Denn ein solches Bindungspotenzial ist für das Gelingen des Zusammenlebens in postmigrantischen Gesellschaften unabdinglich. Postmigrantisch Denken bedeutet vor allem auch, die topologische Dynamik des Raums zu reflektieren (Deleuze 1987). Theorievorschläge im Anschluss an den mobility turn, woran Migrationen prominent beteiligt sind, können für eine postmigrantische Betrachtung des Raums weiterführend sein. Als Operatoren von Mobilität (wie z.B. Fahrten bzw. Reisen, Exil, Asylsuche) sind Migrationen auch an Medien der Bewegung (Verkehrsmittel wie Automobil, Bus, Zug, Flugzeug, aber auch Kino, z.B. road movies), an ihre Chronotopoi (Flughäfen, Autobahnen, Metropolen, Touristendörfer, Migranten-Container, Grenzregionen) und Ästhetiken (filmischer Diskurs, Installationen, Schrift etc.) beteiligt und machen den Ort »transitorisch«. So sind Migrant*innen auch Mediator*innen transitorischer Raumfiguren, die zwar auch in postkolonialen Theorien von zentraler Bedeutung sind, etwa der ›Zwischenraum‹ (in-between, entre-lieu, entre-lugar, third space, tercer espacio, dazwischen) und die Heterotopie. Im postmigrantischen Sinne können und sollen diese Figuren ohne die geopolitischen Polarisierungen zwischen postkolonialen und sog. westlichen, hegemonialen Epistemologien verstanden werden. Infolge des Aufeinandertreffens von Differenzen und ihrer Interaktionen entstehen diese Figuren vielmehr
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Vittoria Borsò
auch und gerade innerhalb hegemonialer Gesellschaften. Anders aber als bei der postkolonialen Euphorie bezüglich des hybriden oder heterotopen Raums als Gegenmodell zum Raum der Macht, ist die Qualität des transitorischen Raums offen im Sinne der hier besprochenen Doppelseitigkeit der Grenze. Der Raum postmigrantischer Gesellschaften kann oszillieren zwischen vorübergehenden Zuständen und gegenwärtiger Dauer, zwischen Vergehen und Sich-materiell-am-Ort-Binden, zwischen spatio-temporaler Fluidität und Persistenz bzw. Konsistenz der konkreten Situation. Er ist ein Übergangsraum auf Dauer und deshalb auch auf Dauer zur Veränderung fähig. Es entsteht eine dynamische Zeit-Raum-Relation und auch eine körperliche Erfahrung von Instabilität, die affektiv und motivational für Transformationen öffnen kann, allerdings unter der Bedingung, dass man gegenüber der liminalen Affektion aisthetisch, d.h. sinnlich, empfänglich ist – eine Bedingung, die, anders als in postkolonialen Theorien, in allen Gesellschaften und Kulturen potenziell besteht. Die Spannung zwischen Mobilität und Verortung, die dem Raum die Eigenschaft des Transitorischen verleiht, lässt auch die Bipolarität zwischen Nomadismus und Territorialität hinter sich, und dies ist die Bedingung für die Normalität von Migrationsgesellschaften. Der transitorische Raum hebt also den Gegensatz zwischen Mobilität und locus auf – ein Gegensatz, der in Analogie zum temporalen Anachronismus als räumlicher ›Anachorismus‹ bezeichnet werden kann (Cresswell 2006: 55). Der Ort wird dabei zum Ereignis einer Beziehung, Öffnung und Veränderung (Cresswell 2004). Dabei sind Affektintensitäten die Bedingung für Bindungen und darauf aufbauend für Öffnung und Veränderung, so die Hauptthese der vorangehenden Reflexionen in Erweiterung der Beobachtungen der mobility studies. Eine an postkolonialen Positionen angelehnte Kritik von hegemonialen Verhältnissen, die Migrant*innen und Leitkulturen voneinander trennen, reicht gewiss nicht aus (Hill und Yildiz 2018: 8). Eine postmigrantische Gesellschaft kann nur dann resiliente Gemeinschaften bilden, wenn sie zum Raum von Ereignissen affektiver Relationalität wird und damit auch der Öffnung und Veränderung. Es müssen also institutionelle Bedingungen bestehen bzw. aufgebaut werden, die es erlauben, dass Migrant*innen und (!) sog. Einheimische mit den je eigenen sinnlich-materiellen, d.h aisthetischen Praktiken und einer Offenheit für affektive Bindungen an diesen Ereignissen gleichermaßen beteiligt sein können.
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Relationale Intensitäten und Zwischenräume
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›Postmigrantische‹ Gesellschaften
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Heidrun Friese
›Postmigrantische‹ Gesellschaften. Anmerkungen zur Dekonstruktion eines Begriffs »Ich würde also […] nur einen einzigen Imperativ vorschlagen, aber der wird kategorisch und unbedingt sein: Niemals Politik machen.« Michel Foucault (2006: 17) »Wenn es theoretische Ereignisse gibt, die eine Institution prägen, dann müssen sie die formlose Form einer Monstrosität haben, das heißt, sie können vorerst nicht erkannt und legitimiert werden, noch weniger programmiert, angekündigt oder auf irgendeine Weise antizipiert.« Jacques Derrida (1997: 35)
Zur Problematik1 »Europäische Gesellschaften sind postmigrantische Gesellschaften geworden, die durch und durch von Erfahrungen und Effekten des Kommens, Gehens und Bleibens gekennzeichnet sind«, so Regina Römhild (2017: 69, Übersetzung und Hervorh. H.F.).2 Der Abkehr von »Forschung über Migration (»research about migration«) soll daher eine »migrationsbasierte Perspektive« »a migration-based perspective« folgen, die »neue Einblicke in die umstrittenen Schauplätze von ›Gesellschaft‹ und ›Kultur‹« her vorbringt: »I understand this shift in perspective as a fundamental change of course towards a postmigrant migration research.« (ebd. 2017: 70, Hervorh.H.F.). Nun zeichnet sich der dermaßen gefasste Begriff durch eine grundsätzliche Spannung aus: Der Rekurs auf migrantische 1 2
Für Kommentare bedanke ich mich herzlich bei Robert Birnbauer, Katrin Linde, Marcus Nolden und Madeleine Sauer. »European societies have become postmigrant societies that are characaterised through and through by the experiences and effects of coming, going and staying«. Der Begriff lässt sich zu den Arbeiten von Gerd Baumann und Thijl Sunier (1995) zurückverfolgen.
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Heidrun Friese
Erfahrung zielt einmal auf eine spezifische Erfahrung (als ob diese aus einem authentischen Ursprung schöpfen könnte), zum anderen wird migrantische Erfahrung generalisiert und soll so für eine Gesellschaftsanalyse nutzbar gemacht werden. Auch muss gefragt werden, ob (nicht nur) europäische Gesellschaften nicht immer schon durch »Kommen, Gehen und Bleiben« gekennzeichnet waren, kann man fragen, ob eine »migrationsbasierte« Perspektive nicht auch Forschung über Migration darstellt (eben »migration research«), die angestrebte Perspektivenumkehr dann eben auch eine Form der Erzählung ist, die von dem regiert wird, was sie verkehren, »radikal« erneuern und wenden möchte: »Für eine radikale Erneuerung […] erscheint uns deshalb eine Ausdehnung des Begriffs interessanter, die den engen Kreis der Migrationsmarkierten überschreitet zugunsten der Konzeption einer postmigrantischen Gesellschaft, die alle zu ›Betroffenen‹ der Migration und zu GestalterInnen der dadurch konstituierten Verhältnisse erklärt. Diese Wendung schließt an einen erweiterten Gebrauch des Postkolonialen an, der sich ebenfalls auf die Gesellschaft richtet, die in ihrer historischen Entwicklung wie ihrer zeitgenössischen Verfasstheit als kolonial konstituiert verstanden wird – während ein engeres Verständnis den Begriff allein auf (ehemals) kolonialisierte Personengruppen und Gesellschaften bezieht« (Bojadžijev und Römhild 2014: 18-19, Herv. H.F.).
Diese Geste soll Neuerung erwirken, etwas Altes, Abgenutztes soll ersetzt, eine Wende, eine umwälzende Veränderung eingeleitet werden. Was bringt die Erneuerung (›radikal‹), die Wende, die Peripetie gesellschaftlichen Dramas, der Umschlag, der Einschnitt in das Gegenwärtige? Ist diese nicht immer schon dem Stand der Dinge eingeschrieben? Oder soll mit der Erneuerung nahezu Vergessenes wieder in Erinnerung gebracht werden? Ein Wendepunkt markiert immer auch eine Grenze, doch was genau markiert den Wendepunkt, die Flucht nach vorn, den neuen Anfang? Welcher Anfang, welcher Anfang als Wendepunkt und wohin dehnt sich der Begriff an diesem Wendepunkt aus und überschreitet einen »engen Kreis«? Das, was vorher partikular war, wird verallgemeinert, geht alle an, bezieht sich auf alle, widerfährt allen, macht alle bestürzt: »Alle«, so wird erklärt, sind von Migration »betroffen« und schaffen gesellschaftliche Verhältnisse. Doch sind tatsächlich ›alle‹ gleichermaßen ›betroffen‹ – und das nicht nur im Hinblick auf staatsbürgerliche Rechte und Privilegien, die eben nicht allen
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›Postmigrantische‹ Gesellschaften
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zustehen – und wurden gesellschaftliche Verhältnisse vor dieser Wende nicht von allen geschaffen? Welcher ›radikale‹ Anfang schließt an, gar an das Postkoloniale? Ein radikaler Anfang, der anschließt? Was ist ein anschließender Anfang, der sich auf ein Danach beruft und deutlich macht, dass das zweite Wortelement – ›migrantisch‹ – nicht mehr relevant sein soll? Für Naika Foroutan sind »Kern einer postmigrantischen Analyse« gesellschaftliche Konflikte um »Anerkennung, Chancengerechtigkeit und Teilhabe« (2019: 14).3 »Eine Gesellschaft«, so Foroutan weiter, »die normativ die Hierarchisierung in Etablierte und Außenseiter nicht nur ächtet, sondern aktiv in Frage stellt und angreift – indem sie Anerkennungspolitiken zum zentralen Ausgangspunkt ihrer Selbstbeschreibung macht und die binäre Codierung in ›Migranten und Einheimische‹ für aufgelöst erklärt, kann als postmigrantische Gesellschaft bezeichnet werden« (Foroutan 2019: 18).
Undeutlich bleibt, ob postmigrantische Gesellschaft eine empirisch gesättigte Gesellschaftsanalyse kennzeichnet oder im Gegenteil, teleologisch ausgerichtet, als normative Forderung an Gesellschaft herangetragen wird – das hieße dann jedoch, dass derzeitige Gesellschaften kaum als postmigrantisch bezeichnet werden könnten. Folgen wir Erol Yildiz soll – in Anlehnung an Edward Said – der »kontrapunktische Blick auf Migration […] postmigrantisch genannt werden. Diese Perspektive steht »in geistiger Nähe zur Foucault'schen Genealogie oder zu ideologiekritischen Ansätzen postkolonialen Theorie. Etablierte Gewissheiten werden gegen den Strich gelesen, hegemoniale Vorstellungen aus der Perspektive und Erfahrung von Migranten dekonstruiert« (Yildiz 2017: 19, Hervorh. i.O.). Noch unabhängig von der Frage, ob migrantische Perspektiven und Erfahrungen hegemoniale, verallgemeinerte Vorstellungen ›dekonstruieren‹ (können), zeigt sich erneut die grundlegende 3
Auch hier wird – vorgeblich – ›dekonstruiert‹: »Die Kopplung der Identitätsfrage an die Zahl der Migrant*innen bzw. Menschen muslimischen oder anderen Glaubens ist ein kausaler Trugschluss, der sich nicht nur am Beispiel der – relativ zur Gesamtbevölkerung – geringen Zahl der Muslime in Deutschland dekonstruieren ließe« (2019:13, Hervorh. H.F.). Es bleibt zu fragen, warum hier Dekonstruktion ins Feld geführt wird, wenn Richtigstellung, Einspruch oder Widerspruch gemeint sind.
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Heidrun Friese
Spannung, denn einmal sollen ja partikulare Erfahrungen, partikulares Erleben in den Blick kommen, die dann generalisiert werden, um für Gesellschaftsanalyse überhaupt erst fruchtbar gemacht werden zu können, und zugleich betont die Emphase, mit der die migrantischen Erfahrungen ins Spiel kommen das, was doch ›ideologiekritisch‹ befragt werden soll. Zudem: wie und wodurch bestimmt sich ein ›Kern‹, wie Zentralität? Die »Idee der Postmigration« bedeutet »zunächst, die Geschichte der Migration neu zu erzählen und das gesamte Feld der Migration radikal neu zu denken, und zwar indem die Perspektiven derer eingenommen werden, die Migrationsprozesse direkt oder indirekt erlebt haben«, die »Idee, Geschichte aus der Perspektive und Erfahrung von Migration zu erzählen und dabei marginalisierte Wissensarten sichtbar zu machen, ist für ein postmigrantisches Konzept von zentraler Bedeutung« (Yildiz 2014: 21, Hervorh. H.F.). Auch hier die Geste der radikalen Erneuerung – doch bereits Michel Foucault ging es ja darum, die »unterworfenen Wissen«, »lokale, unzusammenhängende, disqualifizierte, nicht legitimierte Wissen gegen die theoretische Einheitsinstanz ins Spiel zu bringen« (2001: 21–23). Doch noch unabhängig von der Frage, ob »die Geschichte der Migration« dermaßen in einem Allgemeinen eingeschlossen, überhaupt erzählbar sein könnte (wer erzählt?) – postkoloniale Ansätze wurden nicht müde zu betonen, dass nicht die Geschichte des Kolonialismus weitergeschrieben werden sollte, sondern die historisch jeweils unterschiedlichen kolonialen Konstellationen in den Blick kommen müssen. Weitgehend undeutlich bleibt, was ›Idee‹ hier anzeigen soll (ein der Sprache vorgängiges, ein vorsprachlich Gegebenes?), auch zeigt der Versuch der ›Sichtbarmachung‹ des vermeintlich gesellschaftlichen Unsichtbaren ein doch reichlich ›klassisches‹ Verständnis von Wissenschaft, das an das westliche Primat des Sehens als Erkenntnismittel gebunden ist.4 Zu fragen bleibt auch, warum der vorgeschlagenen Perspektivenumkehr das Attribut ›radikal‹ zugeschrieben wird. Was also ist mit die Migration/die 4
Auf die Ambivalenz der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit von Geflüchteten habe ich an anderer Stelle aufmerksam gemacht (Friese 2017:66). Bereits Hannah Arendt hat gezeigt, dass revolutionärer Impetus, die Sichtbarmachung der Armen und deren Forderungen nach Anerkennung sich historisch entwickeln mussten.
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›Postmigrantische‹ Gesellschaften
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Migrationserfahrung gemeint, was mit Sichtbarkeit, was mit Idee, was mit radikal, was mit zentral? »Postmigrantische Migrationsforschung«, so wird betont, »plädiert für eine Forschungsrichtung, in der Migration als Perspektive, nicht als Gegenstand begriffen wird […] Das ›Postmigrantische‹ fungiert damit als eine Analysekategorie für eine soziale Situation von Mobilität und Diversität, macht Brüche, Mehrdeutigkeit und marginalisierte Erinnerungen sichtbar, die nicht am Rande der Gesellschaft anzusiedeln sind, sondern die zentralen gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck bringen« (Yildiz 2014: 22).
Nun hatten bereits die Ansätze einer Demokratisierung von Geschichtsschreibung, die Geschichte von ›unten‹, die Oral History u.a. durch die Frauenbewegung und die von Raphael Samuel geprägte Bewegung History Workshop in den 1960-1980ern sich diesem Anliegen gewidmet, marginalisierte Perspektiven in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und sich dezidiert als Teil politischer Bewegung verstanden (Samuel 1981; vgl. History Workshop 2012). ›Geschichte‹ wurde nicht länger als Einheit verstanden, sondern pluralisiert, fragmentalisiert und zugleich wurden experimentelle Schreibformen ausgelotet, die nicht lediglich unterschiedliche, lokale Temporalitäten darstellten, sondern sie für die Geschichtsschreibung nutzen wollten (Friese 1995, 1996). Zugleich wurde das Archiv und seine Aufzeichnungssysteme herrschaftskritisch in den Blick genommen. Erinnert sei in diesem Kontext auch an die transdisziplinären Arbeiten des New Historicism, der New Cultural History oder des Cultural Materialism (Gallagher und Greeblatt 2000; Veeser 1989, 1994; Hunt 1989; Branningan 1998), die auch marxistische, postkoloniale Theorieelemente aufnahmen und, mehr oder minder deutlich an Michel Foucault und Edward Said orientiert, machtvolle Diskurse, lokale und marginalisierte Wissensformen adressierten. Auch die in diesem Zeitraum entstehenden Cultural Studies haben sich, besonders in Auseinandersetzung mit Karl Marx und Antonio Gramsci, dezidiert sozialtheoretisch verortet und als Teil gesellschaftlicher Bewegungen gesehen (allerdings weitgehend auf den paternalistischen Gestus verzichtet, den Marginalisierten eine ›Stimme‹ geben zu wollen).5 Auch 5
»Das Postmigrantische«, so Yildiz weiter, »präsentiert also die Stimmen und Erfahrungen der Migration, greift marginalisierte Deutungen auf, wirkt irritierend auf nationale Erzählungen, stellt das gängige Differenzdenken
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Heidrun Friese
hatte die Writing Culture-Debatte vehement grundsätzliche Fragen von Repräsentation nicht nur im anthropologischen Diskurs aufgeworfen und auf die ihm inhärenten Machtbeziehungen hingewiesen. Zugleich machten (historische) Perspektiven auf die konstitutiven entanglements (Mintz 1986; Conrad und Randeira 2002), die »histoires croisées« (Werner und Zimmermann 2004) von Gesellschaften aufmerksam und öffneten den Weg für ein Verständnis von multiplen Modernen. »In der Bezeichnung ›postmigrantisch‹ wird nun der irrige Eindruck erweckt, diese Phänomene und angemessene Formen seiner Darstellung und Vertretung kämen erst mit der postmigrantischen Wende ins Spiel«, so Paul Mecheril (2014: 111). »Shermin Langhoff, the founding artistic director of the Ballhaus, explains that ›postmigrant‹ means that we critically question the production and reception of stories about migration and about migrants which have been available up to now and that we view and produce these stories anew, inviting a new reception« (Stewart 2017: 56, siehe auch die Beiträge im Journal of Aesthetics & Culture 2017).
Paul Mecheril hat dementsprechend vorgeschlagen, »auf den Ausdruck ›postmigrantisch‹ zu verzichten« (Mecheril 2014:108). Die vorgebrachte »Kritik des nationalstaatlichen Integrationsdispositivs«, die »Kritik der Defizitperspektive auf Migration«, die »Kritik der Reduktion migrationsgesellschaftlicher Wirklichkeit auf (klassische) Einwanderung« und schließlich die »Kritik der Repräsentationsverhältnisse« (2014: 108–110) ist zwar notwendig und berechtigt, dennoch: »Irreführend daran ist die infrage. Es versteht sich als eine politische Perspektive, die auch subversive, ironische Praktiken einschließt und in ihrer Umkehrung provokant auf hegemoniale Verhältnisse wirkt« (Yildiz 2014: 23). Wir können und müssen uns – nicht nur im Rekurs auf Spivak (1988) fragen – wer, wie die Stimmen, die Erfahrungen der Migration repräsentieren möchte. Zugleich sind die von Yildiz im weiteren nachgezeichneten Strategien von Angehörigen der ersten und zweiten Gastarbeitergeneration dann doch erstaunlich konform mit transnationalen Perspektiven und nicht unbedingt geeignet, ›Irritationen‹ zu erzeugen oder hegemoniale Erzählungen und Verortungen zu destabilisieren. Der Term ›postmigrantisch‹ schreibt dann transnationale Ansätze weiter und zeigt sich als rhetorische Geste.
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›Postmigrantische‹ Gesellschaften
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Suggestion, migrantische Phänomene gehörten empirisch eher einer nach wie vor zwar wirksamen, aber eben vergangenen Vergangenheit an; gefährlich ist die normative Botschaft, das Migrantische sei etwas, von dem sich abzusetzen angeraten sei« (Mecheril 2014: 111).6 Die unterschiedlichen Versionen, die einmal Kultur, Kämpfe um Anerkennung oder Repräsentationen im Blick haben, teilen sich eine Gemeinsamkeit, wenn sie eine Perspektivenumkehr fordern, Geschichte aus der Perspektive ›der‹ Migranten ›neu‹ erzählt werden soll und hegemoniale Narrative infrage stellen wollen. Zugleich kann man fragen, warum diese Perspektiven von binären Begrifflichkeiten – Zentralität vs. Marginalität, Theorie vs. Erfahrung – geleitet werden und auch eine gewisse epistemologische Leichtigkeit deutlich machen, die annimmt, mit der Hinzufügung des Präfixes ›Post‹ ließen sich migrantische Perspektiven beschreiben oder Migrationsforschung ›dekonstruieren‹. Vor diesem Hintergrund wird das Präfix ›Post‹ in postmigrantischen Perspektiven tatsächlich mehr als erklärungsbedürftig und müssen die hergestellten Parallelen oder eben auch die Differenzen zu poststrukturalen/postkolonialen und Entwürfe der ›Dekonstruktionen‹ in den Blick genommen und expliziert werden, sollen sie nicht als ›Label‹ (›new‹ oder ›post‹) und/oder als das erscheinen, was Jacques Derrida schlicht »Ellenbogentaktik« genannt hat, mit dem ein »alte[r] Drache« überwunden und ein »neues Zeitalter« angekündigt werden sollen (Derrida 1997: 14).7 Auch und gerade postkoloniale Perspektiven haben die großen Erzählungen der Moderne verschoben und dezentriert, nach denen sich die Moderne durch Vernunft, Autonomie und Demokratie konstituiert, und fragen, was diese Erzählungen ausschließen, um sich etablieren zu können. Gegen die ›Großen Erzählungen‹ der Moderne haben sie vielmehr 6 7
Zum Begriff und seiner Kritik vgl. u.a. Baumann und Sunier 1995; Petersen, Schramm und Wiegand 2019; Heidenreich 2015; El-Tayeb 2016. Derrida weiter zu »Theorietiteln« wie »new« und »post«, die »den Rückfall in ein Stratagem verdeutlichen, das darin besteht, das Neue zu dekretieren, indem man ihm geradewegs das Etikett ›neu‹ anhängt (für alle, die noch nicht daran selbst gedacht haben), oder aber genau das für altmodisch und außer Gebrauch zu erklären, dem man ein ›post‹ voranstellt und das man von da an für nichtssagend hält« (1997: 23–24).
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Heidrun Friese
deutlich gemacht, dass der Kolonialismus als zentrale »Einschreibung die Moderne« gesehen werden muss (Hall 2002) und Theorien der Moderne auf Auslassungen und Ausschlüssen beruhen: Rassismus und Sklaverei (Gilroy 1993). In dieser Sicht haben sich die historischen Konflikte zwischen Kolonisierten, Kolonisatoren und lokalen Eliten verschoben, sie sind uneindeutig geworden, finden sich innerhalb der formal ›unabhängig‹ gewordenen Staaten, zeigen den Wandel globaler Beziehungen und »komplexe Neuinszenierungen« (Hall 2002: 228), mit denen eindeutige (kulturelle) Identitäten verwischt werden und miteinander verflochtene Signifikationsprozesse und Positionierungen in den Blick kommen können, die sich binären Logiken – Opfer/Täter, Kolonisierte/ Kolonisatoren et cetera – entziehen. Zugleich wird »die Spur des [kolonisierten] Anderen« in der »prekären Subjektivität« (Spivak 1988: 281)8 europäischer Kolonisatoren und der Erzählungen der europäischen Moderne deutlich, denn »die beunruhigende Präsenz dieser anderen hat immer schon imperiale Aspirationen verstört und ständiges Übersehen gefordert« (Comaroff/Comaroff 2012: 116; Friese 2020: 151).9 Zugleich konnten hier Perspektiven entwickelt werden, die sowohl eine historische als auch epistemologische Dezentrierung entfalten und mit denen deutlich wurde, dass die europäische Moderne von den Rändern, den Grenzen her gedacht werden muss, die zugleich vielfältige Modernen und unterschiedliche koloniale Situationen zusammenbinden. Damit wird auch der Ort soziokultureller imaginaires einem Innen und Außen undeutlich, kann, ja muss Denken sich an diesen Rändern aufhalten, eine »doppelte Kritik« (Mignolo 2000: 87; Khatibi 1985, 2019), die Praxis eines »epistemischen Ungehorsams« (Mignolo 2009, 2012) entfalten, Zeiten und Geschichten von ihren jeweiligen Rändern und Ausschlüssen her erfassen. Gemeinsam ist die Suche nach möglichen Ressourcen, die diese prekäre Situierung, das »andere Denken« (Abdelkebir Khatibi), eine (epistemologische) »Kreolisierung« (Édouard Glissant) erlauben, die »Kolonialität der Macht« (Anibal Quijanos, vgl. Quintero und 8 9
Im Original: »the trace of [the colonized] Other« in der »precarious subjectivity«. Im Original: »the unsettling presence of those others has always troubled imperial aspirations, demanding constant oversight«.
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Garbe 2013), die »Transmodernität« (Enrique Dussel) anzeigen und Europa, das vermeintliche paradigmatische Zentrum, »provinzialisieren« (Chakrabarty 2000; Mignolo 2000a: 87, 2010, 2011; Friese 2014: 42, Friese 2020: 150–151). Vor dem weit verzweigten theoretischen Hintergrund bleibt die Spezifizität des ›postmigrantischen Projekts‹ tatsächlich undeutlich und zeugt oftmals von theoretischer Unterkomplexität, wenn zum einen Subjektivitäten und zum anderen eine analytische Perspektive und/oder eine Gesellschaftsanalyse ins Spiel gebracht werden. Im Weiteren soll daher ausgelotet werden, welche Ressourcen dem Denken von Mobilitäten in heutigen Zeiten zur Verfügung stehen, um die ›Dekonstruktion‹ herkömmlicher Migrationsforschung zu versuchen. In einem ersten Schritt soll also kurz an die unterschiedlichen Bedeutungen des Präfixes ›Post‹ im Kontext von Theorien der Moderne und Sozial- und Kulturtheorien erinnert werden. Wenn wir uns über die unterschiedlichen Bedeutungen des Präfixes ›Post‹ hinaus fragen, auf welche Ressourcen dekonstruktivistisches Entwürfe zurückgreifen können, dann um danach zu fragen, welche »Positionen« (Derrida 1981) zur Verfügung stehen, um Kolonialität, Mobilität und Gesellschaft in Beziehung zu bringen und diese für mögliche Politiken – zu unterscheiden von dem Politischen – fruchtbar zu machen. In einem zweiten Schritt soll daher – in Anlehnung an Jacques Derrida10 – deutlich werden, wie Identität, die Sprache des Anderen, (die Aporien von) Souveränität und Gastfreundschaft für solche Entwürfe fruchtbar gemacht werden könnten, die dann aber auch Begriffe des Postmigrantischen betreffen. Um erste Anhaltspunkte zu gewinnen, werde ich hier also kurz versuchen, die eben skizzierten postkolonialen Perspektiven und Derridas Beschäftigung mit dem Anderen, der anderen Sprache und Gastfreundschaft zu verbinden. 10 Derrida macht darauf aufmerksam, dass den »Namen von Autoren […] keinerlei substantielle Bedeutung« zukommt. »Man würde es sich zu leicht machen, wenn man annähme, dass ›Descartes‹ ›Leibnitz‹, ›Rousseau‹, ›Hegel‹ usw. Autorennamen sind, also die Urheber von Bewegungen oder Verschiebungen, die damit bezeichnet würden. Der indikativistische Wert, den wir ihnen zuweisen, ist primär der Name eines Problems« (Derrida 1983: 176).
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Zum Präfix ›Post‹ Im Kontext von poststrukturalistischen, postmodernen Perspektiven verweist das Präfix in Postkoloniale Studien auf unterschiedliche Fragen, die historische, epistemologische Dimensionen umfassen, damit auch auf politische Praktiken zielen und mögliche Ressourcen des Denkens und der Praxis des Denkens als Praxis eröffnen. Angesprochen sind also historische Konstellationen, dann epistemologische und sozialtheoretische Fragen im Hinblick auf die Moderne/n und schließlich die Frage nach möglichen politischen Verortungen. Diesen Perspektiven eingeschrieben sind Spannungen, die u.a. Universalismus und Partikularität, Differenz und Alterität adressieren und unterschiedlich bearbeiten. Diese Positionen richten sich zunächst gegen despotische geschichtsphilosophische Versionen, die an einem linearen und teleologischen Zeitverständnis ausgerichtet sind und die (mehr oder minder gesetzmäßig) verstandene historische Entwicklungslinien und Fortschrittsannahmen von Gesellschaften postulieren, an denen sich alles auszurichten habe. Doch weder ist identisches Handeln denkbar, wäre es dann doch in Begriffen zeitloser Ewigkeit zu denken, noch – und das ist das erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Erbe – bewegt sich Handeln und Geschichte in einer homogenen Zeit. Wenn Kant Zeit ›subjektiviert‹ und in der apriorischen Anschauung verankert, die als (transzendentale) Form ja je schon vor der Geschichte liegt, und wenn Hegel Geschichte im teleologischen Begriff des Fortschritts einrichtet, dann sind damit genau die Annahmen gekennzeichnet, die diese Verfahren durchaus immer noch begründen und ausmachen. Partikularität, also je schon geschichtliches Handeln (ebenso wie historische Erkenntnis) ist hier also immer schon in der – vermeintlichen – Universalität einer einheitlichen, identischen Zeit einverleibt. Was diesen Verfahren eingeschrieben ist, ist zugleich das Konstrukt einer allgemeinen Geschichte, in der die Partikularität sich dann als ein Moment ebendieser darstellt, um in ihrer Allgemeinheit, der Identität aufzugehen. Die Einheit der Allgemeinheit, der gemeinsamen Struktur, ist die Einheit der Zeit und damit die Geschichtslosigkeit. Denn nicht Geschichte, also je historisches Handeln und historische Praktiken, begründet die Zeit(en), sondern umgekehrt, das Allgemeine soll das
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Handeln bestimmen (vgl. Friese 2004: 125).11 Es ist offensichtlich, dass in einem solchen Denken die Teilung »the West and Rest« (Hall 2019) in der Formation der Modernen zentral ist und gerade auf konstitutiven Ausschlüssen und spezifischen Repräsentationen beruht, die diese absichern sollen. Mit Edward W. Said werden »Kulturen« als »heterogen«, »miteinander verstrickt« gesehen12 und nicht nur Homi K. Bhabha hat auf die Macht solcher Geschichtskonzeptionen und die Ambivalenz der Temporalität der westlichen Moderne verwiesen, eine Revision – die Unterbrechung von Zeit- und Geschichtskonzeptionen – gefordert (Bhabha 1991, 1994) und im dynamischen, hybriden »Dritten Raum« als dem Raum dieser Inskriptionen verortet. »Postcoloniality, for its part, is a salutary reminder of the persistant›neo-colonial‹ relation within the ›new‹ world order and the multi-national divisons of labour. Such a perspective enables the authentication of histories of exploitation and the evolution of strategies of resistance. Beyond this, however, postcolonial critique bears witness to those countries and communities […] constituted, if I may coin a phrase, ›otherwise than modernity‹. Such cultures of a postcolonial contra-modernity may be contingent to modernity, discontinuous or in contention with it, resistant to its oppressive assimilationist technologies; but they also deploy the cultural hybridity of their borderline conditions to ›translate‹, and therefore, reinscribe, the social imaginary of both metropolis and modernity« (Bhabha 1994: 6).
Gegen die Beschwörung allumfassender Machtkontexte erlaubt der sich eröffnende Zwischenraum, der »Dritte Raum« (Bhabha 1994: 102–123), dann widerständige Praktiken: 11 Auch die unterschiedlichen Versuche der Historisierung und Kontextualisierung anthropologischer Erkenntnis haben sich lange Zeit ja kaum von diesen Paradigmen befreit. Zugleich wurden gesellschaftliche Formationen auf einer unabweisbaren Entwicklungsskala verortet und dem unlinearen Fortschrittsparadigma eingeschrieben und als ›Völker ohne Geschichte‹, ›tribal‹, ›frühkapitalistisch‹ oder ›vormodern‹ kategorisiert und dem raumzeitlichen Othering (Fabian 1983, 1990) unterworfen (Friese 2004: 125). 12 »all cultures are involved in one another; none is single and pure, all are hybrid, heterogenous, extraordinarily differentiated, and unmonolithic« (Said: 1994: xxv).
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»The power of the postcolonial translation of modernity rests in its performative, deformative structure that does not simply revalue the ›contents‹ of cultural tradition, or transpose values ›cross-‹ or multiculturally […] it is to introduce another locus of. inscription and intervention, another hybrid, ›inappropriate‹ enunciative site, through that temporal split or time-lag – […] for the signification of postcolonial agency, and the differences. In culture and power that constitute its social condition of enunciation: the temporal caesura, which is also the historically transformative moment, when a lagged space opens up in-between the intersubjective reality of signs« (Bhabha 1991: 199–200).
Neben einer Verschiebung des Zeit- und Geschichtsverständnisses ›der‹ Moderne (vgl. auch Escobar 1995; Hall und Giebeo 1992) kommt auch und gerade die Produktion von Wissen, also Ontologien und epistemologische Problematiken in den Blick, die sich zu einer Matrix, zu einer Geopolitik der Macht verbinden, Erkenntnis und Rationalität definieren, kontrollieren und damit sowohl Subjektivitäten als auch raum-zeitliche Differenzen hervorbringen. »Once upon a time scholars assumed that the knowing subject in the disciplines is transparent, disincorporated from the known and untouched by the geo-political configuration of the world in which people are racially ranked and regions are racially configured. From a detached and neutral point of observation (that Colombian philosopher Santiago Castro-Gómez describes as the hubris of the zero point), the knowing subject maps the world and its problems, classifies people and projects into what is good for them. Today that assumption is no longer tenable, although there are still many believers. At stake is indeed the question of racism and epistemology. […] The need for political and epistemic de-linking here comes to the fore, as well as decolonializing and de-colonial knowledges, necessary steps for imagining and building democratic, just, and non- imperial/colonial societies. Geo-politics of knowledge goes hand in hand with geo-politics of knowing« (Mignolo 2009: 1).
Damit zeigt sich die mythisch-märchenhafte Struktur epistemologischer Versionen, die Erkenntnis, Wissen und Klassifikationssysteme als losgelöst von historischen, gesellschaftlichen Konfigurationen und den ihnen ein-
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geschriebenen Machtbeziehungen und geopolitischen Konstellationen sehen.13 Koloniale Dominanz ist also nicht nur ökonomisch, Kolonialität bedeutet auch und gerade die »colonization of the imagination of the dominated; that is, it acts in the interior of that imagination, in a sense, it is a part of it« (Quijano 2007: 169; vgl. Memmi 1973). Demgegenüber gilt es, die Kräfte jeweiliger kolonialer Machtbeziehungen, ihrer Transformationen und gegenwärtiger Artikulationen zu untersuchen und durch die Verwebung von Theorie und Praxis, lokaler Geschichten und globaler, kapitalistischer Entwicklungen dekoloniale Möglichkeiten deutlich zu eröffnen.14 Walter Mignolo untersucht nicht nur die großen Erzählungen der westlichen Moderne und ihrer Auslassungen, ihr Vergessen der sie konstituierenden kolonialen Gräuel, er fordert nicht nur »epistemischen Ungehorsam und Ent–koppelung von der Magie der Westlichen Idee der Moderne« 13 Ähnlich auch Quijano: »The colonizers also imposed a mystified image of their own patterns of producing knowledge and meaning« (Quijano 2007: 169). Der universalisierte epistemologische Dualismus, die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Vernunft und Natur, beruht einerseits auf Abwesenheit und Objektivierung, andererseits auf der Vorstellung von Gesellschaft als Totalität (ebd.: 176–177). Dagegen ist »epistemological decolonization, as decoloniality, […] needed to clear the way for new intercultural communication, for an interchange of experiences and meanings, as the basis of another rationality which may legitimately pretend to some universality. Nothing is less rational, finally, than the pretension that the specific cosmic vision of a particular ethnie should be taken as universal rationality, even if such an ethnie is called Western Europe because this is actually pretend to impose a provincialism as universalism« (ebd.: 177). 14 Daraus folgt zugleich die Notwendigkeit eine »kritischen Kosmopolitismus« (Mignolo 2000b), der sowohl die Verkürzungen des christlichen Kosmopolitismus und des »emanzipatorischen Kosmopolitismus« (ebd.: 723), als auch den kritischen Kosmopolitismus von imperialistischen und neoliberalen »global designs« abgrenzt (2000: 723): »Critical cosmopolitanism, in the last analysis, emerges precisely as the need to discover other options beyond both benevolent recognition (Taylor […]) and humanitarian pleas for inclusion (Habermas […]). Thus, while cosmopolitan projects are critical from inside modernity itself, critical cosmopolitanism comprises projects located in the exteriority and issuing forth from the colonial difference« (Mignolo 2000b: 733).
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(Mignolo 2009: 3),15 sondern die Nutzung von Ressourcen, die dekolonialem Denken und Leben zur Verfügung stehen; und damit muss die »postmoderne Kritik der Totalität […] um eine Kritik am modernen Totalitätsbegriff aus der Perspektive der Kolonialität ergänzt werden« (Mignolo 2012: 2). Dieses Grenzdenken beruft sich auf Enrique Dussels Begriff der »Transmoderne« und die sie konstituierende »Exteriorität«, d.h. die exteriorisierten Spuren innerhalb der Kolonialität, der Moderne (ebd.: 191), welche die Geo- und Körperpolitiken des modernen eurozentrischen Diskurses durchkreuzen und verschüttete Erkenntnispotenziale artikulieren. »By exteriority I do not mean something lying untouched beyond capitalism and modernity, but the outside that is needed by the inside. Thus, exteriority is indeed the borderland seen from the perspective of those ›to be included‹, as they have no other option« (Mignolo 2000: 724). Ein solches Grenzdenken »aims to make a contribution to growing processes of de-coloniality around the world. My humble claim is that geo- and body-politics of knowledge has been hidden from the self-serving interests of Western epistemology and that a task of de-colonial thinking is the unveiling of epistemic silences of Western epistemology and affirming the epistemic rights of the racially devalued, and de-colonial options to allow the silences to build arguments to confront those who take ‘originality’ as the ultimate criterion for the final judgement« (Mignolo 2009: 4).
Wenn die Kolonialität des Wissens, der Macht, des Selbst und die »GeoPolitiken, Körper-Politiken des Wissens und die koloniale epistemische Differenz« (ebd.: 7) in den Blick kommen,16 dann fordert diese Perspektive eine doppelte Geste, nämlich »ein Denken, das von beiden Traditionen ausgeht und gleichzeitig eines, das von keinen der beiden ausgeht« (Mignolo 15 Im Original: »epistemic disobedience and de-linking from the magic of the Western idea of modernity«. Zur näheren Bestimmung von »Delinking«, vgl. Mignolo 2007. 16 Im Original: »geo-politics, body-politics of knowledge and the colonial epistemic difference«. Auf die »Geopolitik des Wissens« haben beispielsweise auch Partha Chatterjee (1993, 1998) und Kwasi Wiredu (1998, 2002) aufmerksam gemacht.
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2000: 67)17, sie verlangt eine epistemologische »Kreolisierung« (Glissant: 1992) und ein Denken an und von der Grenze. Doppeltes Denken wird dann möglich, wenn »unterschiedliche lokale Geschichten und ihre besonderen Machtbeziehungen« (Mignolo 2000: 67) in den Blick genommen werden,18 die Expansion des »Weltsystems« und »die parallele Konstruktion seiner Vorstellungswelten sowohl von Innen als auch von Aussen« betrachtet werden (ebd.: 64). Es geht also um »durchkreuzen« statt »begründen« und damit um eine Kritik der Westlichen Moderne aus der Perspektive der »Kolonialität« (ebd.: 70), die die Beziehungen zwischen lokalen Geschichten und »globalen Entwürfen« auslotet. Das »andere Denken«, die doppelte Kritik an eurozentrischen, orientalistischen und lokalen ethnozentrischen, essenzialisierenden Diskursen und der Nostalgie nach einem Ursprung, beruft sich auf Abdelkébir Khatibis ›lokale Geschichte‹. Dieses Denken an der Grenze entwickelt seine Ressourcen aber vor allem auch im Kontext der Gruppe ›Modernität/Kolonialität/ 17 Im Original: »to think from both traditions and, at the same time, from neither of them«. 18 Interkulturalität – das sei hier en passant angemerkt – ist hier nicht zu verstehen im Sinne herkömmlicher Fassungen interkultureller Kommunikation und deren utilitaristischem Fokus auf ›Kompetenzen‹, Selbstoptimierung und ökonomischen Strategien, die Kolonialität als a/politische »Leerstelle« sieht (Friese 2020), sie wird auch nicht verstanden im Sinne eines (funktionalen) Multikulturalismus oder des ›Dialogs‹ von Kulturen. Interkulturalität ist vielmehr Teil dekolonialer sozialer Bewegungen und ihrer Praxis, Komponente der politischen und epistemischen Kämpfe der Dekolonialität. Sie zielt auf eine andere soziale Ordnung, auf die Transformation politischer und ökonomischer Konfigurationen: »As an Ecuadorian social activist once said, ›interculturality is simply the possibility of life, of an alternative life-project that profoundly questions the instrumental irrational logic of capitalism in these times‹« (Walsh 2018: 57). Interkulturalität, »its challenge, proposition, process, and project are to transform, reconceptualize, and refound structures and institutions in ways that put in equitable (but still conflictive) relation diverse cultural logics, practices, and ways of knowing, thinking, acting, being, and living. Interculturality, in this sense, suggests a permanent and active process of negotiation and interrelation in which difference does not disappear« (Walsh 2018: 59). Vgl. auch Mignolo und Schiwy 2003, zum interkulturellen Dialog auch Dussel 2013: 164–182.
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Dekolonialität‹ (Proyecto Modernidad/Colonialidad/Descolonialidad) um Anibal Quijano, Catherine Walsh, Arturo Escobar (Mignolo/Walsh 2018). Es greift Enrique Dussels »Philosophie der Befreiung« (1989), die »De-Struktion« (Schelskorn 1992: 31–33) und das schon erwähnte Konzept der »Transmodernität« auf, die zugleich auch die wichtige Rolle der europäischen Peripherie betonen und sich auf Immanuel Wallersteins Dependenztheorie und kritische Theorie beziehen. Transmoderne bedeutet hier »den Versuch der Befreiung«, die Affirmation der »negierten«, »missachteten kulturellen Momente«, die sich außerhalb der Moderne befinden, die für eine »interne Kritik« genutzt werden, die »Bikulturalität« der an den »Grenzen« lebenden Kritiker voraussetzt und nicht nur eine »entkolonialisierte, sondern wirklich neuartige« trans-moderne Kultur hervorbringt (Dussel 2013: 180–181). Transmodernität verweist also auf ein Jenseits der westlichen Moderne und speist sich aus den Möglichkeiten der Exterorität. Dussel rekurriert mit dem Begriff ›Exteriorität‹ auf Emmanuel Lévinas, der auf den irreduzibel Anderen verweist und Verantwortung fordert.19 Diese Philosophie der Befreiung, diese Befreiungsethik, entspringt nicht einer ursprünglichen, von der Moderne unberührten ursprünglichen, authentischen Reinheit: »Der Dialog wird also zwischen den kritischen Schöpfern der eigenen Kulturen geführt. Weder modern noch postmodern ist er streng ›trans-modern‹, denn 19 Folgen wir Emmanuel Lévinas, wird das Selbe durch den Anderen infrage gestellt, durch die Alterität dessen, was nicht auf das Selbe zurückgeführt werden kann, durch das, was sich immer schon der kognitiven Erfassung entzieht. Ethik ist dann Kritik, die kritische Infragestellung des Selbst und kognitiver Anstrengung, Alterität auf das Selbst zu reduzieren (Lévinas 1971: 323). Das Ethische in diesem Sinne ist daher Exteriorität, also das, was nicht auf das Selbe reduziert werden kann und im Antlitz offenbar wird: »Das Sein ist Exteriorität, die Ausübung seines Seins besteht in der Exteriorität« (»L’être est extériorité: l’exercise même de son être consiste en l’extériorité« (ebd.: 323). Daher auch die Ablehnung von totalisierenden, totalitären Politiken, die Domination durch Politik und die Totalisierung von Gesellschaft, verlieren diese doch Differenz, das Ethische aus den Augen, das eben Verantwortung, die partikulare Verantwortung für den Anderen fordert. Ethik ist also nicht das andere der Politik, sondern gerade diese Beziehung fordert gerechte Politik.
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[…] die schöpferische Anstrengung [geht] nicht vom Inneren der Moderne aus, sondern von ihrer Exteriorität, oder besser, sogar von ›dem, was ihr angrenzt‹. Die Exteriorität ist keine reine Negativität. Sie ist die Positivität einer Tradition, die von der Moderne distinkt ist« (Dussel 2013: 181).
Dussel zielt auch auf eine »Wiedereinsetzung« Lateinamerikas in die Philosophie sowie die »weltweite Geopolitik (2013: 21–22) und führt neben Debatten mit Jürgen Habermaas und Hans-Otto Apel auch solche mit Paul Ricoeur, Gianni Vattimo, Richard Rorty und Charles Taylor (Dussel: 1996). »Auch in der geläufigen Interpretation, die wir widerlegen möchten, entspringt die Moderne einem gewissen ›Ort‹ und einer gewissen ›Zeit‹. Eine geopolitische ›Verschiebung‹ dieses ›Orts‹ und dieser ›Zeit‹ bedeutet zugleich eine ›philosophische‹, thematische und paradigmatische Verschiebung« (Dussel 2013: 22).
Diese Perspektiven teilen das Anliegen, die Moderne/n von den ›Rändern‹, von den Grenzen/an den Grenzen her zu denken, mögliche Ressourcen für dieses »andere Denken« (Khatibi) zu erurieren und damit Europa, die universalen Ansprüche (und die in diesen liegenden Legitimationen), seine Epistemologien, Machtbeziehungen neu zu verhandeln: »The ›value‹ of modernity is not located a priori, in the passive fact of an epochal event or ideas – of progress, civility, the law – but has to be negotiated within the ›enunciative‹ present of the discourse« (Bhabha 1994: 347). Es geht damit um die Ambivalenzen post/kolonialer Beziehungen und gegenseitiger Verwicklungen und damit auch um das, was Dipesh Chakrabarty (2000) die »Provinzialisierung Europas« genannt hat. Auch und gerade Abdelkebir Khatibi (2007, 2008, 2019) hat sich – u.a. in Auseinandersetzung mit Jacques Derrida, auf den gleich zurückzukommen sein wird20 – mit der Frage nach den Möglichkeiten eines anderen 20 Diese Verbindung ist mehr als deutlich, so hatten Édouard Glissant und David Wills 1992 eine Konferenz organisiert, an der auch Jacques Derrida teilnahm. Dessen Vortrag mündet dann in dem Text Le Monolinguisme de l’Autre (1996), mit dem er die Auseinandersetzung mit seinem Freund Abdelkebir Khatibi und der Frage nach der (Mutter)Sprache weiterführt. Beziehungen gibt es auch zu Roland Barthes, der, wie er selber sagt, Khatibi eine Kritik am Universalismus der Semiologie und die Einsicht in die Heterologie der Spra-
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Denkens und der Notwendigkeit einer »doppelten Kritik« (1985) im Zeichen der De-kolonisierung des Denkens und der Generation von Wissen beschäftigt. Khatibis Anliegen ist nicht nur die »Desorientierung des Orientalismus« (2019), sondern auch und gerade »to project a radical orientalism rooted in a textuality which opens up and unravels the imperialist matrix« (Wolf 1994: 59). Die doppelte Kritik zielt zugleich auf das »Westliche Erbe und unsere überaus theologischen, überaus charismatischen und überaus patriarchalen Erbschaften« (Khatibi 2019: 2),21 die doppelte Geste richtet sich zugleich sowohl gegen koloniale Historiografie als auch prä-koloniale Nostalgie. »Fanon’s call, [Come, then, comrades, the European game has finally ended; we must find something different (Fanon 1963: 311, Anm.H.F.)] in its very generosity, was the reaction of the humiliated during the colonial era, which is never done with decolonizing itself, and his critique of the West […] was still caught in resentment and in a simplified Hegelianism—in the Sartrean manner. And we are still asking ourselves: Which West are we talking about? Which West opposed to ourselves, in ourselves? Who is ›ourselves‹ in decolonization?« (Khatibi 2019: 4).22 che verdankt: »Nach und nach wird mir deutlich, wie sehr das semiologische Unternehmen, an dem ich teilgenommen habe und noch teilnehme, in den Kategorien des Universellen gefangen geblieben ist, die im Westen seit Aristoteles alle Methoden regeln. Die Struktur des Zeichens befragend, habe ich unschuldig postuliert, dass diese Struktur eine Allgemeinheit zeigt und eine Identität bestätigt.« Es gilt daher »für uns eine heterologische Sprache zu entwickeln, ein Sammelsurium von Differenzen, […] die uns ›dezentrieren‹ können.« Im Original: »Peu à peu, j e me rends compte combien l'entreprise sémiologique, à laquelle j'ai participé et participe encore, est restée prisonnière des catégories de l'Universel, qui règlent, en Occident, depuis Aristote, toute méthode. En interrogeant la structure des signes, je postulais innocemment que cette structure démontrait une généralité, confirmait une identité.« Es gilt also, »à inventer pour nous une langue ›hétérologique‹, un ›ramassis‹ de différences […] nous pouvons nous ›décentrer‹« (Barthes 1997: 121–123). 21 Im Original: »Western legacy and of our very theological, very charismatic, and very patriarchal heritage«. 22 Für eine Kritik an Khatibi, vgl. Sajed (2019), die aus eher marxistischer Sicht den Vorwurf erhebt, Khatibi setze koloniale Gräuel und brutale neoliberale
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Gegen das »ungeheuerliche System der Wiederholung« (ebd.: 4) wird Dekolonisierung, das andere Denken , zur »dekonstruktiven Praxis der Differenz« (Wolf 1994: 58): »If therefore the West inhabits our innermost being, not as an absolute and devastating exteriority, nor as an eternal dominion, but really as a difference, a conglomerate of differences to be placed as such in every thought of difference and wherever it may come from; if therefore the West (thus named and thus situated) is not the reaction to an uncalculated distress, then everything remains to be thought – silent questions that endure in us« (Khatibi 2019: 2–3).
Das andere Denken kann nicht auf eine Rückbesinnung, eine Rückkehr, einen (mythischen) Ursprung oder eine gleichfalls mythische Gegenerzählung zielen, »[o]ther-thought – that of nonreturn to the inertia of the foundations of our being. Here Maghreb designates the name of this gap, this nonreturn to the model of its religion and theology (no matter how well-disguised they may be under revolutionary ideologies), a nonreturn that can shake, in theory and in practice, the foundations of Maghrebi societies in their yet unformulated constitution by the critique that should disrupt it. This other-thought is posed before the great questions that shake our world today, where the planetary deployment of the sciences, techniques, and strategies makes way« (ebd.: 2–3).
Auch wenn es keinen Weg zurück gibt, eröffnet die Unmöglichkeit doch eine Möglichkeit: »Yet we, the Third World, can take a third path: neither reason nor unreason as thought by the West as a whole, but a kind of double subversion that, by giving itself the power of speech and action, sets to work in an intractable difference« (Khatibi 2019: 28).
Die doppelte Subversion umfasst also die westliche Metaphysik und Universalisierungen ebenso wie das arabisch-islamische, theologisch-nationalistische Projekt. Eine der Fragen Khatibis ist damit auch und gerade die Frage nach der Sprache der Dekolonisierung, des anderen Denkens, also Ausbeutung mit lokalen internen Hierarchien gleich. Sie folgt damit der konventionellen Kritik an der ›Textualisierung‹ von gesellschaftlichen Verhältnissen in dekonstruktiven Entwürfen.
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der Sprache des ›Eigenen‹, der ›Muttersprache‹ und der des Anderen, der ›Fremdsprache‹. Dekolonisierung ist immer schon »bi-lingue« (Khatibi 1983), also »a space in which body and language, voice and writing, feminine and masculine sexualities, native and foreign languages, hegemonic and marginalized cultures mingle without merging to form a new unity« (Woodhull 1993: ix). Dieses kritische Denken markiert den »Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt« (Khatibi 2007: 11), es unterbricht, zielt auf den Bruch mit binären Oppositionen, es verweist auf den Bruch. Maghreb bezeichnet also keine feststehende Identität, sondern verweist auf die Differenz, die Unabgeschlossenheit, auf das Kommende, auf das, was mit Derrida gesprochen, kommt, so wie Europa immer nur als kommendes Europa gedacht werden kann (Derrida 1992; dazu Friese 2006).23 Derrida spricht die Pflicht doppelter Kritik im Kontext seiner Überlegungen zu Europa an: Es ist also Pflicht, »›theoretisch und praktisch‹ unermüdlich einen totalitären Dogmatismus zu kritisieren, der unter dem Vorwand, dem Kapital ein Ende zu bereiten, die Demokratie und das europäische Erbe zerstört hat, andererseits, die Religion des Kapitals kritisch zu hinterfragen, die ihren eigenen Dogmatismus unter neuen Gesichtern etabliert, Gesichtern, die zu identifizieren wir erst noch lernen müssen. Die Zukunft hängt von dieser doppelten Kritik ab; ohne sie wird es keine Zukunft geben« (Derrida 1992: 56–57).
Diese Pflicht trifft ebenfalls eine doppelte Kritik, denn »[d]ieselbe Pflicht diktiert uns, die Tugend dieser Kritik, die Tugend der Idee der Kritik, die Tugend der kritischen Tradition zu pflegen, sie allerdings auch, jenseits der Kritik und der Frage, zum Gegenstand einer dekonstruktivem Genealogie zu machen, die ihr Wesen denkt und über sie hinausgeht, ohne sie aufs Spiel zu setzen« (ebd.: 57). 23 Auch ›Demokratie‹ erscheint nicht als Begriff, Kennzeichen, Ausweis der westlichen Moderne, sondern als »etwas, was noch gedacht werden muß und was noch im Kommen bleibt […] Gemeint ist eine Demokratie die sich durch die Struktur des Versprechens ausweisen muß – und folglich durch das Gedächtnis dessen, was hier und jetzt zukunftsträchtig ist.« (Derrida 1992: 57; vgl. Derrida 2003: 11).
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Es gilt also, sich auf das hin zu öffnen, »was nie europäisch gewesen ist und was nie europäisch sein wird« (ebd.: 56). Diese Öffnung auf das andere, die Ent-Identifizierung schließt eine erneute Sammlung einer Identität aus und vollzieht sich im Entzug, der Unmöglichkeit von Identität: »Man soll oder man muß zu Hütern einer bestimmten Vorstellung von Europa werden, einer Differenz Europas, doch eines Europas, das gerade darin besteht, daß es sich nicht in seiner eigenen Identität verschließt und daß es sich beispielhaft auf jenes zubewegt, was es nicht selber ist, das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das andere des Kaps« (ebd.: 25).
Das Paradoxon des Universellen (ebd.: 52–53) und seiner unauflösbaren Antinomien verpflichtet zur Achtung von Minderheit und Singularität, der »Allgemeinheit und Universalität des formalen Rechts« und zugleich zum »Widerstand gegen Rassismus, Nationalismus und Fremdenhaß« (ebd.: 57). »Es gibt keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selbst als Kultur ohne Kultur – ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen, ohne eine Kultur des doppelten Genitivs und des Von-sich-selber-sich Unterscheidens, des Unterscheidens, das mit einem Selbst einhergeht [différence à soi]« (ebd.: 13).
Nicht mit sich identisch zu sein, zeigt nicht nur Differenz an, sondern auch und gerade die Unmöglichkeit, bei sich selbst zu Hause zu sein, als autonomes Subjekt oder Kultur souverän zu sein: »Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist« (ebd.: 12).24 Sie zeigt die »impossibility for an identity to be closed on itself, on the inside of its proper interiority, or on its coincidence with itself. The irreducibility of spacing is the irreducibility of the other« (Derrida 1981: 93). »Ich dachte immer, dass das, was den Namen ›Dekonstruktion trägt, eine radikale Form der Dekolonisierung‹ des westlich genannten Denkens ist. Das habe ich lang schon geschrieben und [mit meinem Namen] unterzeichnet«, so Khatibi in einem an Derrida gerichteten »offenen Brief«
24 Für eine pointierte Lektüre, vgl. Dallmayr 2009: 125–128.
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(Khatibi 2007: 34)25 und in Auseinandersetzung mit Derridas Feststellung »[i]ch habe nur eine Sprache und die gehört nicht mir« (Derrida 1996: 13).26
Der Andere, Gastfreundschaft Jacques Derrida hat sich bekanntlich verwundert über die Konjunkturen des Begriffes ›Dekonstruktion‹ geäußert: »[Deconstruction] is a word I have never liked and whose fortune has disagreably surprised me« (Derrida zit.n. Royle 2003: 23).27 Dekonstruktion lässt sich nicht in einen ›ismus‹ pressen, eine Definition, in eine Lesart oder Methode, sie vollzieht sich vielmehr als das, was geschieht oder stattfindet (Derrida 1997: 37, Royle 2003: 24): »[I]ch sage oft, Dekonstruktion ist das, was stattfindet« (Derrida und Ferraris 1997: 58).28 In diesem Sinne verlangt die »›Rationalität‹« die Destruktion, De-Strukturierung, »Destruierung und, wenn nicht die Zerschlagung«, so doch die »De-Sedimentierung«, die »Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegen« (Derrida 1983: 23). Dekonstruktion entfaltet sich als De-Platzierung, der Verschiebung einer Frage, sie geschieht in De-Zentrierung von Sprache, Diskursen, Identitäten, Institutionen: »Deconstruction interferes with solid structures, ›material‹ institutions, and not only with discourses or signifying representations.« Sie ist »immer« von Analyse und Kritik un25 Im Original: »J’ai toujours pensé que ce qui porte le nom ›deconstruction‹ est une forme radical de ›décolonisation‹ de la pensée dit occidentale. Je l’ai écrit et signé il y a longtemps«. 26 Im Original: »[j]e n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne«. 27 Zum Einfluss von Derrida in den Postcolonial Studies, der u.a. über Spivak als Übersetzerin von Derrida hergestellt wurde, vgl. Angermüller und Bellina 2012. 28 Im Original: »dico spesso che la decostruzione è ciò che avviene«. Bereits Heidegger hatte deutlich gemacht, dass die »Destruktion […] ebensowenig den negativen Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition« hat. »Sie soll umgekehrt diese in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt immer, in ihren Grenzen abstecken […] Die Destruktion will aber nicht die Vergangenheit in Nichtigkeit begraben, sie hat positive Absicht; ihre negative Funktion bleibt unausdrücklich und indirekt« (Heidegger 1984: 22, 23).
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terschieden (Derrida 1987: 19). Dekonstruktion greift nicht nur formale, semantische Strukturen an, sondern auch die Bedingungen von Praxis, die sozialen, ökonomischen, politischen Strukturen (ebd.) Ein solches Geschehen ist keinesfalls neutral: »Why engage in a work of deconstruction, rather than leave things the way they are, etc.? Nothing here, without a ›show of force‹ somewhere. Deconstruction, I have insisted, is not neutral. It intervenes. I am not sure that the imperative of taking a position in philosophy has so regularly been considered ›scandalous‹ in the history of metaphysics, whether one considers this position-taking to be implicit or declared« (Derrida 1981: 93).29
Deutlich wurde das bereits eben im Hinblick auf Kultur, Identität und Sprache, der Sprache, die ich spreche, die aber nicht die meine ist. Damit stellt sich aber erneut die Frage, in welcher Sprache ›postmigrantische Erfahrungen‹ – von denen bereits die Rede war – erzählt werden soll(t)en, gehört Sprache doch nicht den Sprechenden, ist ihnen nicht zu eigen. Und zugleich stellt sich die Frage nach Übersetzung: »For the notion of translation we would have to substitute a notion of transformation: a regulated transformation of one language by another, of one text by another« (ebd.: 20). Nun ist auch deutlich geworden, dass Texte in und durch Lücken, Auslassungen, Ergänzungen, Verschiebungen, Spuren, das unaufhaltsame, unendliche »Spiel der Signifikanten« sich konstituieren (Derrida 1983, 1992) und so scheinbar sichere begriffliche Architekturen und Begründungsmuster destabilisieren – von denen Fassungen des PostMigrantischen nicht ausgenommen sind. Auch Gastfreundschaft, die Aufnahme eines Anderen, Gastfreundschaft als Sprache des Anderen, fordert die »Wiedererfindung der Sprache« (»il faut que […] le langage se réinvente«, Derrida 1999: 113), einer Sprache, die sich immer einzigartig einem singulären Anderen zuwendet und die 29 Diese schließt die Dekonstruktion der Opposition Theorie/Praxis ein, denn die »opposition praxis/theoria […] may no longer simply govern our definition of practice. For this reason too, systematic deconstruction cannot be a simply theoretical or simply negative operation. We must be on guard indefinitely against the ›reappropriation‹ of the value ›practice‹. Now what can the ›efficacity‹ of all this work, all this deconstructive practice, be on the ›contemporary ideological scene‹?« (Derrida 1981: 90).
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zugleich Sprache transformiert und durchkreuzt,30 einer Sprache, welche die juristischen und politischen Bestimmung erfasst und Verantwortung trägt. Verantwortung als Antwort auf einen Anderen ist im Sinne von Emmanuel Lévinas »die intersubjektive Beziehung«, »eine nicht-symmetrische Beziehung […]«, in der ich »verantwortlich für den Anderen [bin], ohne Gegenseitigkeit zu erwarten (1992: 75). Verantwortlichkeit ist ein »Für-den Anderen« (ebd.: 73), für das ich »selbst verantwortlich« bin und das mich zur Geisel des Anderen macht. Subjektivität konstituiert sich in dieser Bewegung ebenso, wie Gerechtigkeit an diese Verantwortlichkeit gebunden ist. In diesem Sinne ist die Forderung nach unbedingter Gastfreundschaft der absolute ethische Anspruch, einen je singulären Anderen aufzunehmen. »Absolute Gastfreundschaft«, wie Jacques Derrida sie entwirft, verlangt die Verpflichtung zu bedingungsloser Aufnahme eines Anderen, sie verlangt, ihn »bei mir« (chez moi) aufzunehmen, ihm einen Ort zu ›geben‹ (donner lieu), ohne nach »Identität, Name, Pass, Arbeitsfähigkeit oder Herkunft« zu fragen. Diese bedingungslose, fraglose Aufnahme bricht mit den konventionalisierten Gesetzen der Gastfreundschaft, sie verlangt also weder nach einem gegenseitigen Pakt noch die Identifizierung in einem Namen (Derrida und Dufourmantelle 1997: 29). Absolute Gastfreundschaft – die auf Identifizierung verzichtet ( wie die Gabe, Reziprozität suspendiert, um Gabe zu sein) und jenseits der Ordnung des Rechts, seiner Anwendung, eines Urteils liegt und also zur Figur einer immer erst zukünftigen und un30 Diese Sprache de-zentriert ›meine‹ Sprache, ›meine‹ Identität: »Meine Sprache ist immer die des Anderen, nicht nur weil ich sie geerbt habe, sondern auch, weil der fremde Gast sie mir zurückgegeben hat. Das ist eine Gelegenheit der Aneignung meines ›Eigenen‹. Also vertauschen sich die Orte des Einladenden und des Eingeladenen. Das ist dann denen unerträglich, die glauben, sie könnten zu Hause, unter sich sein, vor und außerhalb der Ankunft des Fremden zu Hause und mit sich selbst identisch«. Im Original: »Ma langue est toujours la langue de l‘autre, non seulement parce que j‘en hérite mais aussi parce que l‘hôte étranger me la redonne. Il est une chance d’appropriation de mon ›propre‹. Ainsi les places de l’invitant et de l’invité s’échangent-elles. C’est d’ailleurs ce qui est insupportable à ceux qui croient pouvoir être euxmêmes chez eux, identiques à eux-mêmes, avant et en dehors de la venue de l’étranger« (Derrida 1999: 117).
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erfüllten Gastfreundschaft wird – bricht mit dem Recht, den nationalstaatlichen Gesetzen und seinen Regelungen, die Gastfreundschaft bedingen und einschränken. Ihre Bedingungslosigkeit dynamisiert zwar Handeln und hält politische Entscheidung in Bewegung, ohne jedoch eine regulative Idee (im Sinne Kants) oder ein normatives Kontinuum einzusetzen, einen normativen Horizont anzuzeigen, der die Erfüllung der Forderung garantierte, denn sie bleibt, wie Derrida bemerkt, dem Recht stets ebenso fremd wie Gerechtigkeit dem Recht, auch wenn diese doch untrennbar aneinander gebunden sind (Derrida und Dufourmantelle 1997: 29). Die Beziehung zwischen absoluter Gastfreundschaft, der Bedingung der Möglichkeit von Gastfreundschaft und den sie einschränkenden nationalstaatlichen Gesetzen und Regelungen, die eben jene Bedingungslosigkeit aushöhlen und pervertieren, kann in dieser Fassung dann Gegenstand politischer Aushandlung werden (Friese 2014: 87–88).31 Doch Migrationspolitiken und -gesetze müssen sich an dem Gesetz absoluter Gastfreundschaft ausrichten. Nun trägt Gastfreundschaft, Hospitalität, nicht nur Émile Benveniste (1973) hat daran erinnert,32 eine Kontamination, eine Ambivalenz in sich, die bereits etymologisch im Wortpaar hostis/hospes, also Freund und Feind, zum Ausdruck kommt und die Derrida treffend als Hostipitality (2000) bezeichnet. Sie ist damit in eine weitere Spannung zwischen Hospitalität und 31 Ich berufe mich hier auf meine Arbeiten zu Gastfreundschaft (Friese 2003, 2010, 2014, 2019). 32 In seiner Untersuchung des »Vokabulars der indo-europäischen Institutionen« weist Émile Benveniste (1973) den lateinischen Bezeichnungen für ›Gast‹, nämlich hostis und hospes unterschiedliche Bedeutungsfelder zu. Der Verweis gilt einmal für den »Herren des Hauses«, der jedoch, gleich dem despótēs (lat. dominus), durchaus nicht über Unterworfene herrscht, sondern vielmehr die Identität der Haushalts- und Familiengruppe verkörpert und zugleich auch ipsissimus, also er selbst, »Meister seines Selbst und seines Geistes« ist –, aber eben durchaus nicht »Herr seines Gastes«. Zum anderen verweist die ursprüngliche Bedeutung von hostis auch auf den, der in einer »kompensatorischen Beziehung« steht, eine Gabe erwidert und damit eine bindende, gegenseitige Beziehung herstellt. Zugleich war diese Bedeutung auch an munus, eine Ehrenstellung, die zur Gegengabe verpflichtete, und mutuus, einen wechselseitig bindenden Kontrakt, gebunden. So kann der immunis dann zum ingratus werden, welcher eine Leistung nicht erwidert (Benveniste 1973: 79; Friese 2014: 54–55).
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Hostilität eingebunden (einen Antagonismus, der auch das Politische dort regiert, wo der Andere nicht als Freund, sondern als Feind gekennzeichnet ist). Doch selbst dort, wo nicht Hostilität diese Beziehung bestimmt, ist die gastfreundschaftliche Beziehung asymmetrisch, denn sie verweist, auch darauf hat Benveniste hingewiesen, auf einen Hausherren, einen Wirt, auf die Autorität eines Wirtes, auf oikos und Hauswirtschaft (daran gebunden, das Wort Wirtschaft), auf einen Ort, eine Stadt, eine Nation, »thus limiting the gift proffered and making of this limitation, namely, the being-oneself in one’s own home, the condition of the gift and of hospitality« (Derrida 2000: 4). Das ist die »aporia, of both the constitution and the implosion of the concept of hospitality […] Hospitality is a self-contradictory concept and experience which can only self-destruct put otherwise, produce itself as impossible, only be possible on the condition of its impossibility or protect itself from itself, auto-immunize itself in some way, which is to say, deconstruct itself – precisely – in being put into practice« (ebd.: 4–5).
Zugleich verweist Hospitalität auf das Paradox der Demokratie, die sowohl einschließend als auch ausschließend ist, sie verweist auf das genuin undemokratische Moment, in dem eine politische Gemeinschaft, ein demos, sich als solche, als autonom und gesetzgebend konstituiert. Das »demokratische Paradox« (Mouffe 2013) von Mitgliedschaft und Ausschluss zeigt dann zugleich die Spannung zwischen Universalismus und Partikularität, universalen (Menschen-)Rechten und Staatsbürgerschaft, die dem Gesetz der Gastfreundschaft unweigerlich Grenzen vorschreiben, die nationalstaatlich verfasst sind und die »westfälische Grammatik« (Benhabib 2004) ausbuchstabieren (Friese 2014: 89, 200–201; 2019).33 33 Mit dieser Grammatik ist, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (Friese 2014: 86), nationale Souveränität an ein begrenztes nationales Territorium gebunden, an die Spannung zwischen dem Prinzip der Nichteinmischung und universell gültigen Prinzipien, die Spannungen zwischen Mitgliedschaft, Zugehörigkeit und Ausschluss qua Geburt, zwischen Universalismus und Partikularität, zwischen ethisch-moralischer Verpflichtung und verwaltetem Recht, dem Territorialstaat und dem Weltbürgerrecht. Diese bestimmen auch die jüngsten Diskussionen um die »Rechte der Anderen« (Benhabib 2004), die Forderungen an Gastfreundschaft, Gerechtigkeit und die daran gebun-
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In diesem Sinne sind demokratische Gesellschaften in der Tat immer schon von den Spannungen nationalstaatlich verfasster Ordnungen, dem Paradox der Demokratie und den »Grenzen der Gastfreundschaft« (Friese 2014) ›betroffen‹ – allerdings in einem anderen Sinne, als postmigrantische Perspektiven dies konstatieren. Wenn diese eben angezeigten Ressourcen, mobile Gesellschaften in den Blick zu nehmen, genutzt werden sollen, dann müssen sich der Forschung diese Spannungen und Aporien, die Möglichkeiten der Dekonstruktion eingeschrieben haben, die Sprache, Identität (des autonomen Subjektes, des Staates, der Nation) unmöglich machen.
denen ethischen Dilemmata, die von Liberalismus und Kommunitarismus, den Versionen eines erneuerten Kosmopolitismus und den Perspektiven der Dekonstruktion unterschiedlich bearbeitet werden.
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Postmigration und Postkolonialismus
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Ömer Alkin
Postmigration und Postkolonialismus. Mäandernd-essayistische Überlegungen I
Vorausschickung Zunächst lohnt es, ein paar Vorausschickungen zur wissenschaftlichen Arbeit mit Begriffen und Neologismen zu machen, die alle, die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlich studieren oder studiert haben, irgendwie und irgendwoher schon kennen; teils allgemeine Gedanken, die es erlauben sollen, das Konzept des Postmigrantischen für eine produktive(re) Nutzung in vielfältigen Milieus vorzunehmen. In diesen Überlegungen steckt aber auch die Gelegenheit, diese Nutzung als eine Kritik und (von mir vorgenommene) perfide Sichtbarmachung von pro-migrantischen Positionen zu verstehen, die in den Akteur*innen, die den Begriff ›postmigrantisch‹ gebrauchen, so etwas wie Rollenspieler*innen sehen; die ihn normativ und im Bewusstsein seiner medialen Strahlkraft und Verführung gebrauchen, um (zurecht) die nationalistischen, eurozentrischen Strukturen zum Bröckeln zu bringen, sie zu ändern.1 Doch diese Begriffsverwendungen, also die Entwicklung von Neologismen wie beispielsweise ›Postmigration‹, als Ausnahmefall einer eigentlich verbreiteten wissenschaftlichen Begriffspraxis sowie -strategie zu werten, wäre fatal und nicht fair: Fast jeder Begriff, muss irgendwann ja einmal ein Neologismus gewesen sein. Oder um die Kritik an dem ›Rollenspiel‹ mit Neologismen weiter zu relativieren: Erinnern wir uns hier nur einmal an Ludwig Wittgensteins Theorie des »Sprachspiels« (Wittgenstein 2003). Es kann also nicht sein, die Strategien zum Sprachspiel des Postmigrantischen als manipulative, weil normativ und strategisch ein1
Es gehört zu den grundlegenden Einsichten der Diskurstheorie, dass der Diskurs umso stärker wächst, umso mehr er zu tilgen versucht wird (vgl. Butler 2001).
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Ömer Alkin
gesetzte zu verstehen, die gegen politisch-konservative, nationalistische Ansätze argumentieren. Sprachspiele gehören immer schon zum Kulturellen dazu, die Bedeutungen ergeben sich im Spiel. Das Sprachspiel um das Postmigrantische (wie viele andere wissenschaftliche Sprachspiele auch) hat als Wissenschaftsbegriff einige Finten und Besonderheiten, Postmigration bringt nämlich eine Modalität des Angriffs und der Absetzung. Diese – und auch die Verwendung von Begriffen – als Souveränitätskampf sichtbar zu machen, erachte ich als produktiv. Der Essay versucht demnach, die Beschäftigung mit dem Konzept ›Postmigration‹ kritisch zu reflektieren, dabei besonders auch in seine Verunsicherungen in seinem Gebrauch zu intervenieren. Denn der Begriff erlaubt keine Selbstsicherheit, die produktiv in dem Sinne wäre, dass die Wissenschaft damit analytisch eindeutig umgehen könnte. Postmigration ist ein politisch-strategischer Begriff, kein strenges wissenschaftliches Werkzeug. Ist der Begriff ein Theoriewerkzeug kann er das nur in dem Sinne sein, wie er sich seinem Diskursumfeld verdankt, das im Postkolonialismus, oder eher in Postkolonialismen, besteht. Das ist die These. Demnach ist der Postkolonialismus eine Art ›große Familie‹ und die Postmigration eine Art Freizügler*in, die*der sich in einem bestimmten Umfeld (zumeist deutschsprachig) auf die Reise begeben hat, in die allzu bekannten Probleme zu intervenieren. Postmigration ist produktiv, provokant, vielschichtig, unbestimmt, politisierend. Aber der Begriff ist – wie jeder Fachbegriff – auch ein Souveränitätsinstrument. Diesen letzten Teil möchten die Ausführungen nicht weniger betonen als die Möglichkeiten des Postmigrantischen fürs Soziale und Kulturelle; und in der Folge davon, einige weiterführende strategische Überlegungen zur Zukunft des Konzepts anstellen. Und die letzte Vorausschickung in diesem Absatz soll eine vorsichtige, grobe Definition sein: Postmigration wird hier zuerst verstanden als ein Begriff zur Beschreibung von komplexen Migrationszusammenhängen, die über das Ereignis der Migration hinausgehen und deren Folgen implizieren. Mit der breiten Stoßrichtung dieser Definition können nun einige Gedanken im Anschluss an oben genannte Vorausschickungen vorgenommen werden.
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Postmigration und Postkolonialismus
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Zum Umgang mit neuen, ambigen Begriffen: Souveränität und Postmigration ›Post‹-Begriffe fungieren als Diskursbegriffe einer zumeist intellektuelleren Auseinandersetzung. Sie werden bearbeitet, publik gemacht, präsentiert; also verwendet und wie ein Ding behandelt, dessen Verbreitung Öffentlichkeitsarbeit bedarf. Begriffe und ihre Erfinder*innen sind demnach nicht weniger Werbetreibende und Produkte als solche, die wir aus der Soziosphäre des Einkaufs samt Verkäufer*innen, Käufer*innen, Läden und Handelswaren kennen. Von diesem Umstand lassen sich die Diskurse zum ›Postmigrantischen‹ nicht ausnehmen. Die Verwendung im Feuilleton, also auch in Zeitschriften und Zeitungen, aber auch in den anderen sog. ›Medien‹ ist zugleich ein Handeln, das den Begriff im Sinne kapitallogischen Denkens in die Ökonomie der Ordnung des Diskurses einspeist. Dies ist zum einen aufklärerisch gemeint, aber auch kommerziell. Dieser kommerzielle Aspekt kann auch positiv gewendet werden, im Sinne davon, diesen Umstand für den Begriff des Postmigrantischen als Chance zu sehen: Die Fülle der ›Post‹-Begriffe ist immens2, sodass eine Philosophie des ›post‹ schon überfällig scheint. Begriffe, deren Geschichte keine allzu große Historie hinter sich haben, lassen sich in ihrer Unbestimmtheit nämlich durch Diskursarbeit noch in Richtungen kalibrieren. Begriffe, die sich des Präfixes ›post‹ bedienen, haben diese Kalibrierbarkeit in der Vergangenheit oft noch lange mit sich gebracht oder tun dies immer noch – zumeist durch die Ambivalenz, die das relative Präfix ›post‹ im Sinne von ›nach‹ mit sich bringt. Die Antwort zur Frage ›Wie arrangiert dieses Nach das Verhältnis der drei großen phasenmodal-zeitlichen Größen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?‹ wird immer anders, aber fast nie im Sinne einer Überwindung artikuliert: Post-Begriffe meinen keine harte Trennung von ›vor‹ und ›danach‹, sondern eine Relationalität, die auf eine komplexere Art und Weise ausgerichtet ist. Diese Komplexität hat zugleich eine performative Funktion. 2
Zugleich wurde sie schon angedacht, wie z.B. in Lyotards Überlegungen zur Postmoderne (2019).
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Ömer Alkin
Die Beschäftigung mit ›Post‹-Begriffen verspricht scheinbar immer ein Bewusstsein über die Vergangenheit und Zukunft: Postmoderne, Posthumanismus, Postkolonialismus, Postmigration sind metadiskursive Begriffe, mit denen sich auch diskursiv-materiell arbeiten oder nachdenken lässt. Das scheint sogar so möglich, dass – je nachdem welche Richtung und entsprechende Überwindung damit angezeigt ist – der diskursiv-materielle Ausgangspunkt (Moderne, Kolonialismus, Migration) schon als überholt markiert werden kann. Wer sich mit beispielsweise Postkolonialismus beschäftigt, scheint irgendwie, auch wenn sie*er das bestreitet oder gerade den Ort des Sprechens als involviert denkt, immer schon aus einem Raum des Jenseits oder der historischen Exteriorität zu sprechen: Dieser Raum der Exteriorität ist verbürgt durch das reinlich-materielle Umfeld des Papiers sowie der Materialität, auf dem die ästhetisch vereinheitlicht arrangierten Buchstaben als materiell-ästhetische Dimension zu sehen sind (und am Computerbildschirm sowie der Ästhetik des Textverarbeitungsprogramms macht sich dies besonders deutlich). Oder aber die sprechende Person verfügt über materiell-mediale Verhältnisse sowie Möglichkeiten, sich damit in den medialen Konfigurationen auseinandersetzen zu können. Die Beschäftigung mit Postmigration ist also auch hier nichts anderes als das, was die Beschäftigung mit Begriffen auch andernorts ist: ein Spiel, wie vorher schon ausgeführt, aber ein Spiel von Begriffssouveränen, die über die (im)materiell-diskursiven Möglichkeiten verfügen. So ließe sich für den hier im Zentrum stehenden Begriff ›Postmigration‹ von einer Deutungshoheit aufseiten der Diskursbeherrschenden sprechen, die zumeist Wissenschaftler*innen sind. Die Souveränität im Umgang mit dem Konzept kann sich für Außenstehende demnach nur durch Arbeit am Konzept ergeben, hier: aus einer Konzeptkartierung, die mensch für sich selbst erarbeitet/sich selbst antut. Bedeutet also, den Diskurs mitproduzieren zu können, über die materiellen Verhältnisse der Produktion zu verfügen, dann ist davon auszugehen, dass auch die Wissenschaftskultur als eine wertschöpfende Kultur dasteht. Neue Konzepte wie ›Postmigration‹ sind darin wie Heilsversprechen, sie erlauben Weggang, die Möglichkeit, sich von der Last der erdrückenden Historie zu befreien. Das überhebliche Präfix ›post‹ ist Reinigungs- und Erneuerungsritual vom Ballast des Vergangenen in einem. Und dies vollzieht sich nicht (!) im Umgang mit dem Vergangenem (do Mar Castro Varela
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Postmigration und Postkolonialismus
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und Dhawan 2020: 8), sondern im Umgang mit dem Diskursüberhang zur eigenen kritischen Position, die damit eingenommen wird. Wer ›Postmigration‹ als ein Moment versteht, das darin etwas Neues erblickt, kann sich so der Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit zuvor Dagewesenem auf eine Weise entziehen, die den Begriffsnutzenden im schier unendlichen Diskursuniversum Operationalität ermöglicht. Strategien der ›Provinzialisierung‹ zu verwenden, bedeutet also auch, die historische Diskursaufsammlung zu provinzialisieren, um handlungsfähig zu bleiben.
Eine kurze Einführung zur Postmigration Naika Foroutan, die den Begriff ›Postmigration‹ seit Jahren konturiert, hat in ihrem Buch Die postmigrantische Gesellschaft eine bedeutungsvolle Kartierung des Begriffs schon vorgelegt (2021: 16–74). Zugleich ordnet sie Postmigration demokratietheoretisch ein, indem sie für Pluralität als Konstituens demokratischer Systeme argumentiert. Erol Yildiz und Marc Hill stellen einen anderen Umgang mit dem Begriff her, indem sie von einem machtvollen Status Quo der Migrationsforschung und der entsprechenden Diskurse ausgehen. So verstehen sie das Konzept als epistemologische Widerstandspraxis, die sich für die unnachgiebige Produktivität von Migration einsetzt (2018; siehe auch Beitrag von Yildiz hier im Band). Regina Römhild und Manuela Bojadžijev wiederum erkennen das souveräne Moment des Konzepts aufseiten von Wissenschaftler*innen an und begegnen der Problematik durch das Insistieren auf eine (anthropologische) Forschung, die nicht über, sondern mit Migrant*innen stattfindet (2014). Der Begriff der ›Postmigration‹ verfügt demnach über eine deskriptive und eine normative Dimension. Deskriptiv ist er dort, wo er Zustände beschreibt, in denen die Migration in ihren Dimensionen und Konsequenzen adressiert ist. Postmigrantisch beschreibt hier einen Zustand, in der der kulturelle Zusammenhang viel mehr als das Resultat der zumeist (groß-)elterlichen internationalen Migrationen oder gar früherer Elterngenerationen ist. Migration ist in diesem Zusammenhang keine essenzielle kulturelle Triebfeder mehr, sondern eine komplexe zeitliche Verwicklung von Ereignissen, Erfahrungen und Fremdbestimmungen. In dieser Verwendung auf
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Einzelsubjekte, im Sinne von Fremdbezeichnung, liegt die eine normative Dimension des Konzepts begründet. Eine Migrationszuschreibung basiert im Falle von Fremdzuschreibungen auf dem Mechanismus des othering, denn Migration oder eine postmigrantische Situation lässt sich nur bedingt fremdidentifizieren, insofern es sich um eine biografische Verwicklung ohne eindeutige indexikalische Marker handelt. Es braucht also eine Annahmentextur, die in solchen Fällen oft rassistisch begründet ist, denn die Marker werden an phänotypischen oder anderen äußeren Merkmalen von Menschengruppen identifiziert und in abgrenzende Relation zu einer nationalistischen, scheinbar nicht-migrantischen Norm gesetzt (siehe Kourabas und Mecheril im Band). Die andere normative Dimension liegt darin, dass ›postmigrantisch‹ eine Zukunftsvision beschreibt oder ein identitätslogisches Moment des Empowering, denn der Begriff wird im deutschsprachigen Raum auch im Sinne eines »strategischen Essentialismus« (Spivak) verwendet: Als Postmigrant*innen deklarieren sich all jene, die sich ihrer von außen vorgenommenen, integrativ gemeinten Adressierung durch z.B. othering mittels der Verwendung dieses Begriffs widersetzen wollen. Postmigrant*innen und postmigrantisch sind demnach all jene, die sich den rassialisierenden, andersmachenden Prozessen, die vielschichtig verbürgt sind (methodischer Nationalismus, nationalistische Systeme, Integrationsdispositive), entziehen und sich in eigens erwählte Repräsentationszustände oder -räume begeben. Sie wollen nicht fremdbestimmte Migrant*innen sein, sondern selbstbestimmte Postmigrant*innen (die den Diskurs/die Diskurse um sie kennen). Wer die Souveränität besitzt, sich so zu labeln, verfügt über intellektuelle wie soziale Kapazitäten bzw. Mobilitäten, dies zu tun. Postmigration ist ein Diskursbegriff, den mensch kennen muss, und widerspricht damit der horizontalen empowernden Effektivität, die damit behauptet wird, insofern er eher Nischen- und Spezialbegriff und kein Alltagsbegriff ist. Wie sehr die Ordnung des wissenschaftlichen Diskurses von der kulturellen Verwendung abseits dieser Ordnungen differiert, zeigt sich im türkischdeutschen Migrationskontext. Gemeinhin ist der türkische Begriff göç, also ›Migration‹, an sich in türkischsprachigen, migrantischen Kreisen wenig populär und hat keinen Ort im allgemeinen Sprachgebrauch und dient fast gar nicht zur Selbstbeschreibung. Diskurse über Migrant*innen
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und Diskurse der Migrant*innen klaffen auseinander. So schreibt auch der Kultur- und Literaturwissenschaftler Özkan Ezli im Kontext eines Beitrags für das Migazin zur ›Interkulturellen Woche‹: »In der Forschung und im Feuilleton beliebte Begriffe wie Transkulturalität, Postmigration und Hybridität werden hier nicht helfen, weil, wie die Geschäftsführerin des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses, Friederike Ekol, pointiert festhält, ›die Interkulturelle Woche weder eine Forschungs- noch eine Feuilleton-Veranstaltung‹ sei« (04.10.2021).
Auch an anderer Stelle wird der Begriff ›postmigrantisch‹ in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen normativ verwendet, aber aufbauend auf analytisch-kritischen Beobachtungen kultureller Komplexität. Dort, wo ein diverser Gesellschaftsentwurf imaginiert wird, der die faktische NichtAnerkennung des postmigrantischen Zustands als getilgt und die postmigrantische Situation als anerkannt annimmt, herrschen ›postmigrantische Visionen‹. Eine postmigrantische Gesellschaft ist demnach eine solche, deren Handeln, Denken, Wahrnehmen und deren Strukturen durch einen Modus gestaltet ist, der die Migration als Konstituens schon lebt. Postmigrantische Ansichten argumentieren, die normativen Modelle des Nationalismus ad acta zu legen und im Migratorischen einen grundlegenden, gesellschaftskonstitutiven Moment zu sehen. Migration ist nicht das Andere, sondern eigentlich der Normalfall, der in Verfahren der Andersmachung und Verfremdung als Bedrohung erzeugt wurde und wird. Erol Yildiz’ und Marc Hills Visionen sind solche normativen Entwürfe, die die epistemologischen Widerstände auf Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsebene ansetzen: Die postmigrantische Gesellschaft ist eine, die den Status Quo zugunsten einer pro-migrantischen Re-Perspektivierung hinter sich lässt. Die Forschungsprojekte zur Postmigration von Römhild, Yildiz, Foroutan & Co. stellen also Widerstandsprojekte dar. Die Frage im Kontext von Empowerment und Hegemoniekritik ist, welche empowernden Effekte sie für das Feld der Wissenschaft darstellen, innerhalb dessen sie operieren. Die Bilanz für den Begriff des ›Postmigrantischen‹ bleibt angesichts der Ambiguitäten und eben jener fehlenden Trennschärfe insbesondere auch zum Postkolonialismus etwas ernüchternd. Zugleich bieten diese Ambiguitäten auch Chancen.
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Ömer Alkin
Verwandtschaftsbeziehungen Der Diskurs ums Postmigrantische wuchert. Doch geht es im Begriff wirklich nur um die Anerkennung der Migration als eigentliche, alternative Realität zum Nationalistischen? Liegen die Gründe für den Erfolg zumindest in Kunst- und Kulturbetrieb nicht auch in der Form der exotistischen Einverleibung von Migrationsanderen? ›Postmigration‹ oder andere Begriffe folgen neoliberalen Verwertungslogiken der Medien und der Wissenschaft, sie sind nicht verwoben mit den alltagskulturellen Milieus. Insofern die Postmigrationsdiskurse dies nicht mitdenken, stehen sie in einem Raum, der eine Ambivalenz zur postkolonialen Theorie trägt. Zu denken ist hier an die Konzeptionen der Subalternität und damit an die Subalternen, denen der Postmigrationsdiskurs aus einer Betroffenenposition beistehen möchte. Im Postmigrationsdiskurs wird die Betroffenheit mit dem Postmigrantischen im Sinne eines positiven Empowerment zu tilgen versucht. Die Subalternen sollen sprechen: In der Sprache der Beherrschenden, aber mit Selbstbezeichnungen, die sie als in die Ordnung integrierte Subjekte verstehen. Während Subalternität eine analytische Modalität im Sinne der Dekonstruktion bildet, ist das Postmigrantische eine diskurswiderständige, aber zugleich selbstessenzialisierende Praxis, die Migrationsdiskurse als basale Problemursache betrachtet. Während Subalternität also eine globalere Analysematrix darstellt, ist das Postmigrantische eine solche, die den rassialisierenden Migrationsdiskurs benötigt, um gegen ihn argumentieren zu können. Während die Ordnung des Machtdiskurses aufseiten der postkolonialen Theorie als kritische Bezugsgröße fungiert, steht aufseiten des Postmigrantischen die Ordnung des Migrationsdiskurses im Zentrum. Woran zeigt sich dann überhaupt die behauptete Nähe der Konzepte ›Postmigration‹ und ›Postkolonialismus‹ (Foroutan 2021: 53–54)? Stellen wir uns ein postmigrantisches Handbuch von herrschaftskritischen Widerstandspraktiken vor, würde es sich sicherlich als Einmaleins der Postkolonialen Theorie lesen lassen: »Mimikry« (Bhabha 2000: 125–136), »Hybridität« (ebd., 165–167), »strategischer Essentialismus« (Spivak 1996: 159), »kontrapunktische Lesart« (Said 1994: 66). All diese Konzepte verweisen auf den aktivistischen Charakter der Postmigration, die er in seinen verschiedenen Ausprägungen einfordert. Sie alle operieren
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auf der Grundlage eines Gegenbildes, das sich aneignet (Mimikry), unterläuft (Hybridität), sichtbar entgegentritt (strategischer Essentialismus) sowie invers umdeutend gelesen wird (kontrapunktische Lesarten). Sie alle finden Eingang in die Konzepte derjenigen, die sich der Postmigration zentral widmen (Foroutan, Yildiz, Hill, Römhild oder auch Fatima El-Tayeb). So gesehen ist Postmigration ein Widerstandsprojekt im Sinne der DissemiNation (Bhabha) und damit schon eng verschränkt mit Anliegen der postkolonialen Theorie. Die Kolonien sind nicht mehr in immobileren Arrangements zu finden, sondern in vielfältigen nekro- wie biopolitischen (Mbembe 2011; Lemke 2007) Assemblagen, die die Arrangements des Lebens, der Institutionen und Ereignisse durchziehen. Der Kolonialismus beschreibt eine topologische Figur, die Raum, Sub jektivitäten, Bewegung und Zeit aufruft. Insofern Mi gration durch exakt jene Parameter konstituiert ist, bestehen also konzeptuelle Verwandtschaftsbeziehungen auch auf semantischer Ebene. Diese Verwandtschaftsbeziehungen bestehen in der Konfiguration zwischen Menschen, Strukturen, Institutionen und historischen Settings. Gewalt, Unterdrückung, Rassialisierung, Hegemonialisierung stellen Elemente der nationalistischen oder imperialistischen Herrschaftssicherung und -durchsetzung dar, die sowohl Postmigration als auch Postkolonialismus adressieren. Beiden ist inhärent, dass sie gegen Strukturen ankämpfen, die sich im Grunde als aufgeklärt annehmen, dieses aber nur um Preis von contra-migrantischen oder contra-nativen und damit mörderischen und gewaltvollen Dynamiken durchzusetzen vermögen: Die ›Dritte Welt‹ ist der »Postkolonie« (Mbembe 2020; vgl. do Mar Castro Varela und Dhawan 2020: 26) gewichen, das ›Einwanderungsland‹ der »postmigrantischen Gesellschaft«.3 Vielleicht ließe sich diese Verhältnissetzung aber auch chiastisch verkehren: Ist nicht Postkoloniale Theorie immer schon Migrationstheorie gewesen? Welches Surplus lässt sich also durch die Konzeptaufnahme im Vergleich zu jener Situation erreichen, die ohne das Konzept des Postmigrantischen für die postkoloniale Theorie bestünde? Spuren zu den 3
Nikita Dhawan argumentiert zurecht, die Dimensionen der Gewalt und Subalternität angemessen zu relativieren, wenn europäische Binnen- und globale Ausbeutungsverhältnisse in Relation zueinander gestellt werden (2007).
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Ömer Alkin
Antworten auf diese Fragen liegen in der Frage nach der Herausforderung des Postmigrationsdiskurses begründet, die ich als Forderung nach monumentaleren Perspektiven zusammenfassen möchte.
Für eine monumentalere Zukunft der Postmigration Kolonialismus und Migration sind komplexe theoretische Figuren und somit immer schon in einen Raum überstellt, in dem die diskursive Bezugnahme hinter der diskurshistorischen Aufsammlung der Konzepte stehen muss. Der Souveränitätsverlust ist also auch Effekt eines Diskursüberhangs und damit einer Medienkultur der Wissensgesellschaft. Problematisch werden Perspektiven zur Postmigration dort, wo sie sich vom Gegebenen absetzen, also jene Strukturen ad acta legen, die, ohne dass es den Begriff gab, schon jenes zu leisten ermöglichten, was der Begriff zu bezeichnen sucht. Diese Gesten tragen eine historische Vergessenheit in sich, die die Bindungen, auch zum Postkolonialen, abkappen. Vieles, was sich die Diskurse zur Postmigration anmaßen, adressieren kulturwissenschaftliche Fragen schon seit Jahrzehnten. Die Wirkradien beider Konzepte sind zudem verschieden: Während der Postkolonialismus globale Verwicklungen adressiert, scheint Postmigration eine regionale Angelegenheit (D-A-CH-Raum) zu sein, die auf die integrationsdispositiven (Mecheril 2014), aber auch rassistischen Defizite jener Länder spezifisch abhebt. Zwar rufen beide ›Post‹-Begriffe monumentale Gegenkonzepte auf, wie den Eurozentrismus oder den Nationalismus, aber das Postmigrantische grast in heimischen Gefilden und bleibt in seiner migrantischen Konstitution zurück. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es zu sehr noch die Soziologien oder die lokalen Kunstbetriebe sind, die das Postmigrantische in ihre Projekte einflechten. Dort wo es Ausnahmen gibt (Thomas et al. 2019), bildet sich der globale Gestus erst langsam aus. In der Idee der Postmigration ist eine neoliberale Verwertungslogik enthalten, insofern sie sich der Status quo des wirtschaftlichen Systems nicht annimmt und im Sinne einer ästhetisierenden Postkolonialität (Diversität) für strategischen Essenzialismus einsteht und zudem die regionale oder nationale Idee (der Postmigrationsdiskurs ist zumeist ein nationaler Binnendiskurs) zulasten ihrer Globalisierung vernachlässigt. Die glokalisierendenAdressierungsdynamiken der Postmigrations-Theoretiker*innen schulden bis heute ihr Globalisierungsversprechen. Darin liegt die Möglichkeit, der großen
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Familie des ›Postkolonialismus‹ nicht nur symbolisch, sondern auch produktiv zur Seite zu stehen. Die Chance für die Postmigrations-Forschung besteht darin, ihre monumentale Reichweite im Globalen selbstbewusst zu ergründen – in Unterstützung des Postkolonialismus oder aber auch nicht. Der Erfolg des Begriffs wird sich an seinem Nachleben bemessen lassen. Derzeit steckt das Konzept noch mitten im Leben, probieren sich Akteur*innen an ihm aus und ergründen seine Wirksamkeit in den praktischen Feldern von Wissenschaft, Kunst, Politik. Er ist genauso migrantischlabil wie die realen Felder, denen er seine textuelle Materialität verleiht. Dies ist die produktive Seite der strategischen Finten seiner Begriffssouveränen. Er entfaltet seine Kraft dort, wo die Bezüge auf ihn sich in Richtung Monumentalität vervielfältigen. Monumental meint hier, die Arbeit an den Hegemonien aus der eigenkulturellen Entwicklungsdynamik (deutschsprachiger Raum) selbstbewusst als globale Arbeit zu verstehen; nicht in der Entwicklung einer konzeptionellen Begriffsschärfung, die alles Dagewesene hinter sich lässt oder das Konzept bändigt; vielmehr in einer produktiven Reflexion, die die bestehenden Strukturen würdigt und sie als rhizomatischanknüpfendes Verflechtungsmoment versteht. Doch wie kann die monumentale Seite der Postmigration aktiviert werden: indem sie ihre Herausforderung global adressiert. Global zu adressieren, ist das »Empire«, welchem die Regierungsform des Imperialismus entspricht und die Edward Said schon prominent adressierte (1994); und am ehesten noch findet sich das Postmigrantische entsprechend in den »Multituden« (Hardt und Negri 2004), weil auch die Vielheit konzeptionell die Eigenschaften der Pluralität in sich trägt, die das Postmigrantische als normatives Konzept für sich veranschlagt (Foroutan 2021). Multitude und Empire (Hardt und Negri 2002) bedeuten, dass das Postmigrantische sich im Kontext des Postkolonialismus aufbauen lassen muss und dass es so in die globalen Verflechtungen eingebunden werden kann. Für das Postmigrantische klingt das nach einem großen Kampf: Doch nicht die Kämpfe werden groß, sondern nur die Welt, auf der es kämpft. Um es auf einen Wunsch zu bringen: Das nächste Projekt könnte ›Postmigration und Imperialismus‹ heißen.4 Es wird Zeit, dass die postkoloni4
Die hier aufgerufenen Überlegungen werde ich im Jahrbuch Exilforschung 2022, das von Bettina Bannasch, Doerte Bischoff und Burcu Dogramaci
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Ömer Alkin
ale Theorie sich ausruht und das Spiel ›David gegen Goliath‹ eine Weile der Postmigration überlässt, bis sie sich dazwischenschaltet oder in den kleinen Stein transformiert, der sich dergestalt zwischen die ›Augen‹ des ›Imperialismus‹ schleudern lässt.
herausgegeben wird, im Themenfeld ›Postmigration und Exil‹ weiterführen.
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Ömer Alkin
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Die Zeit des ›post‹ ist jetzt
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Isabell Lorey
Die Zeit des ›post‹ ist jetzt. Ver-Nichtung, mindere Sprache und Enteignung
Einleitung Stuart Hall macht in seinem Essay Wann gab es ›das Postkoloniale‹? von 1996 klar, dass das die falsche Frage ist (Hall 2002; Lorey 2012). Das Postkoloniale hat keine festumrissene Zeit und keinen spezifischen Ort, es bezeichnet weder eine in der Vergangenheit liegende Periodisierung einer Epoche nach dem Ende des Kolonialismus, noch beschränkt es sich auf das Territorium der Kolonien. Gerade umgekehrt interveniert das von Hall propagierte Verständnis des Postkolonialen in binäre Aufteilungen in ›hier‹ und ›dort‹, ›damals‹ und ›heute‹ und bricht sie auf. Nicht alle Gesellschaften sind auf die gleiche Weise postkolonial, aber alle sind in postkoloniale Geschichten verwickelt. Das ›Postkoloniale‹ lässt sich nicht auf ehemalige Kolonien begrenzen; es ist zugleich unauslöschlich in die kolonialen Metropolen eingeschrieben: Beide haben unauflöslich verschränkte Geschichten (vgl. Conrad et al. 2013). Jede »Rückkehr zu einem reinen und unverfälschten Ursprung« (Hall 2002: 226) ist ebenso unmöglich wie abgegrenzte homogene kollektive Identitäten, autonome Ökonomien, Kulturen und Nationen. Mit einer postkolonialen Perspektive geraten die unhintergehbaren globalen Verflechtungen in den Blick, ohne Differenzen und Hierarchisierungen zu übersehen. Hall betont, dass die seit dem 15. Jahrhundert von Europa ausgehende Kolonisierung »transnationale und transkulturelle ›globale‹ Prozesse« in Gang gesetzt hat, die bis heute nicht einfach kontinuierlich verlaufen, sondern unterbrochen, gleichzeitig und verwoben. Diese Verstrickungen werden in der europäischen Geschichtsschreibung der bürgerlich-kapitalistischen Moderne allerdings noch immer weitgehend ignoriert. Die Konstruktion einer »alleinige[n],
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homogene[n], leere[n] (westlichen) Zeit« (ebd.: 233)1 macht die »Vielfalt der quer verlaufenden, dezentralen kulturellen Verbindungen, Bewegungen, Migrationen« (ebd.: 229) unsichtbar. Nur so kann Migration immer wieder als neu hereinbrechendes Ereignis behauptet werden. Diese historistische Perspektive der Ignoranz, in der die gewaltvollen und auch kraftvollen Geschichten der Bewegung und der Vielfalt marginalisiert werden, bricht die postkoloniale Perspektive auf und rückt sie ins Zentrum ihrer Analyse. Sie geht von der Kolonisierung als bis heute maßgeblichem welthistorischem Geschehen aus, dessen Herrschaftsverhältnisse, Denkmuster und Erfahrungsweisen nach wie vor diskontinuierlich aktualisiert werden und ohne deren Analyse kein Verständnis der Gegenwart möglich ist. Die Konstruktion europäischer ›Anderer‹, die abgewertet, diskriminiert und durch das Absprechen des Existenzrechts entmenschlicht werden, bestimmt bis heute die Migrations- und Grenzregime in Europa und die verschiedenen »Konjunkturen des Rassismus« (Demirović und Bojadžijev 2002; Aradau et al. 2020; Arendt 2019). Achille Mbembe hat in seiner Schrift Postkolonie deutlich gemacht, dass die westliche philosophische und politische Tradition »lange die Existenz jedes ›Selbst‹ außerhalb des eigenen abgelehnt« (Mbembe 2020: 40) hat. Durch Zuschreibung von Einfachheit und Primitivität ist vor allem Afrika »zum Universum schlechthin von Unvollständigem, Verstümmelten und nicht zu Ende Geführtem« gemacht worden; »seine Geschichte reduziert sich auf eine Abfolge von erfolglosen Versuchen im Rahmen seiner Suche nach ›dem Menschen‹.« (Ebd.: 39) In universalisierender Manier hat sich ›der weiße Mann‹ der abendländischen Moderne als einzig vollkommener Mensch gesetzt, was er seinen konstitutiven Anderen abspricht zu sein, um sich als überlegen zu behaupten. Die Aberkennung des Menschseins ist nicht nur ein zentraler Topos postkolonialer Analyse, sondern durchzieht auch rassistische Denk- und Handlungsmuster gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen. Auf das vor allem mit Stuart Hall skizzierte Verständnis des Präfixes ›post‹ stützt sich über weite Strecken auch die Diskussion zum Begriff des ›Postmigrantischen‹. Auch hier meint ›post‹ nicht einfach ein zeit1
Hall spielt hier auf Walter Benjamin (1974) und seine materialistische Kritik des bürgerlichen Historismus inmitten des NS-Faschismus an.
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liches Danach, keine Periodisierung und keine Abgrenzungen von einer abgeschlossenen Vergangenheit. Keine Identität soll damit bezeichnet werden, sondern ein Perspektivwechsel, der die binäre Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund aufbrechen will, Eindeutigkeiten und Kontinuitäten infrage stellt und von Einwanderungsgesellschaften ausgeht, die nicht in nebeneinander existierende kulturelle Identitäten aufgeteilt werden können. Migration ist unabgrenzbar immanent. In einer postmigrantischen Gesellschaft wird sie als Normalität verstanden, nicht als etwas Bedrohliches oder als Ausnahme, auch wenn diese Gesellschaften nach wie vor von institutionellem und alltäglichem Rassismus geprägt sind (Espahangizi et al. 2016; Yildiz 2018: 20–21). Aufgrund der Überschreitung von territorialen Grenzen und jenen der Zugehörigkeit produzieren die Bewegungen der Migration in ihrer Autonomie als politische Praxis Vielfältigkeit inmitten von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen und lassen zugleich neue Aushandlungsprozesse von Zugehörigkeit und Gleichheit entstehen. Diese Gesellschaften als postmigrantisch zu bezeichnen, eröffnet die Möglichkeit, vor allem auf die gemeinsamen Widerstände gegen Abwertung, Ausgrenzung und Diskriminierung zu schauen und eine Gegenwart in den Blick zu nehmen, die von den Kämpfen ausgeht (Foroutan et al. 2018, darin vor allem Stjepandić und Karakayali 2018; Römhild 2018; Karakayali und Mecheril 2018). Es sind antirassistische Kämpfe »postmigrantischer Allianzen« (Stjepandić und Karakayali 2018) und Solidaritäten von Personen mit und ohne Migrationsgeschichte, jenseits von Identitätspolitik. »Es gibt immer auch Erfahrung, die man nicht gesammelt hat. Wenn es aber so weit geht, dass Menschen nicht nur Ablehnung erfahren, sondern ihnen das Existenzrecht abgesprochen wird, dann ist das eine Bedrohung für alle Menschen« (Verein DeutschPlus zit. nach Stjepandić und Karakayali 2018: 246; siehe auch Gessen 2020; Arendt 2019). Das Existenzrecht als Mensch abgesprochen zu bekommen, gehört zur Erfahrung von Rassismus, auch ohne die Erfahrung der Migration. Für viele Bürger*innen in Europa ist entmenschlichender Rassismus Teil einer erzwungenen Alltäglichkeit, ebenso in den USA, wie sich nicht zuletzt angesichts anhaltender Polizeigewalt zeigt. Durch die Morde an jungen US-amerikanischen Schwarzen im Frühjahr 2020 scheint ein Funke entfacht, für den es seit langer Zeit unentwegt Anlässe gegeben hätte, ein
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Funke, der antirassistische Kämpfe in der Gegenwart befeuert, die die Kraft haben, die Ignoranz und das Negieren von Rassismus in einer weißen Dominanzgesellschaft immer weiter aufzubrechen. Dazu braucht es nach wie vor Auseinandersetzungen darüber, auf welcher Gewalt und VerNichtung weiße Überlegenheit fußt, wie fundamental und alltäglich die Entmenschlichung ist, mit der wir alle leben. Mit einer Genealogie zu postkolonialen und postmigrantischen Diskursen möchte ich im Folgenden vor allem mit Frantz Fanon und Fred Moten zeigen, welches Gewicht Sprache in den Strategien der Entmenschlichung spielt und was aus einer neuen Sprache des Nichts erwachsen kann. Um von den Kämpfen in der Jetztzeit (Benjamin [1940] 1974; Lorey 2020) ausgehen zu können, ist zudem die Kritik des linearen Zeitverständnisses notwendig, das dem modernen bürgerlich-kapitalistischen Historismus und seinen Erzählungen von Entwicklung und Fortschritt zugrunde liegt und die Erfindungs- und Widerstandskraft der heterogenen Multitude immer wieder unsichtbar macht.
No Humans Involved Seit den 1980er-Jahren benutzte die Polizei von Los Angeles im Zusammenhang mit Morden an als Sexarbeiter*innen, Bandenmitgliedern und Drogenabhängigen Identifizierten, die zumeist schwarz und arm waren, das Akronym N.H.I.: ›No humans involved‹. So auch als Rodney King am 3. März 1991 brutal von mehreren nicht-schwarzen Polizisten zusammengeschlagen wurde. Gestoppt wegen Trunkenheit am Steuer, versuchte er zu flüchten und wurde von den Polizisten weiter mit Stockschlägen und Tritten malträtiert, als er sich schon nicht mehr wehrte – insgesamt zwölf Minuten lang. Unbemerkt dokumentierte ein Anwohner mit seiner Videokamera die Polizeigewalt gegen den schwarzen jungen Mann und erstmals gelangten Bilder von solchen alltäglichen Übergriffen an die Öffentlichkeit. Rodney King überlebte den Angriff und vier Polizisten wurden wegen Körperverletzung und übermäßigen Gewalteinsatzes angeklagt, doch von einer überwiegend aus Weißen bestehenden Jury im April 1992 freigesprochen. Sofort breiteten sich Proteste in der Stadt aus. Sie dauerten sechs Tage, 63 Menschen starben, 2.400 wurden verletzt (vgl. Langer 2020).
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Zwei Jahre später erinnerte Sylvia Wynter in ihrem Text »›No Humans Involved‹: An Open Letter to My Collegues« an die rassistische Einstellung des damaligen Polizeichefs von Los Angeles, der den Tod junger schwarzer Männer aufgrund des speziellen Würgegriffs der Polizei damit erklärte, »dass schwarze Männer etwas Abnormales mit ihren Luftröhren« hätten (Wynter 1994: 42).2 Bevor Eric Garner am 17. Juli 2014 durch den Würgegriff eines weißen Polizisten in Staten Island, New York, das Bewusstsein verlor, sagte er elf Mal – zu sehen auf einem Amateurvideo – »I can’t breathe«. Eine Grand Jury entschied, den Polizisten nicht anzuklagen.3 Am 25. Mai 2020 kniete ein weißer Polizist in Minneapolis für fast neun Minuten auf dem Nacken des mit Handschellen gefesselten George Floyd, der mehrmals »I can’t breathe« hervorbrachte, bevor er, seines Atems beraubt, starb. Die letzten drei Minuten war er bereits regungslos.4 George Floyd wurde inmitten der ersten Hochphase der Covid-19-Pandemie wegen Besitzes einer gefälschten Dollarnote verhaftet, einem Vergehen, das oft armen Niedriglohnarbeitenden angelastet wird. Er wurde ermordet inmitten der Pandemie, in der in den USA überproportional viele Schwarze starben. »Das Coronavirus hat eine Schneise durch die schwarzen Gemeinschaften geschlagen. So werden die tief verwurzelten sozialen Ungleichheiten, aufgrund deren [sic!] die Afroamerikaner*innen für die Seuche am anfälligsten wurden, noch verstärkt. Wenn jemals infrage stand, ob arme und gering verdienende Schwarze entbehrlich sind, ist dies nun offensichtlich« (Taylor 2020).5 2
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Darryl Gates war von 1978-1992 Polizeichef von Los Angeles und bekannt für seinen paramilitärischen Ansatz bei Strafverfolgungen. Ihm wurde ein Großteil der Schuld an den Ausschreitungen im April 1992 zugeschrieben, danach wurde er pensioniert. Ebenso wenig wurde der weiße Polizist, der am 8. August 2014 den unbewaffneten Michael Brown in Ferguson mit 12 Schüssen tötete, zur Rechenschaft gezogen, was massive und anhaltende Proteste gegen Polizeigewalt auslöste. Im Juni 2020 verbieten mehrere US-Staaten (Minnesota, Kalifornien, New York) den polizeilichen Würgegriff. Immer wieder wurde Afroamerikaner*innen Behandlungen verweigert, weil Ärzte oder Pfleger*innen ihren Symptomen nicht glaubten. Im Gegensatz dazu wurde die hohe Sterblichkeit an Covid-19 nicht selten mit der selbstverschuldeten schlechten Gesundheit von Afroamerikaner*innen begründet,
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Nach dem Tod von George Floyd entstand die größte Protestwelle seit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre: eine massive Stärkung der Black-Lives-Matter-Bewegung. An vielen Orten der Welt wird seitdem massiv und wiederkehrend gegen alltäglichen und strukturellen Rassismus demonstriert. Im Zuge der Covid-19-Pandemie wird erneut offensichtlich, dass nicht alle Leben gleichermaßen geschützt werden, dass Gesundheit und Sicherheit nicht unabhängig sind von Klassismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie.6 Es ist nicht möglich, die Polizeigewalt gegenüber Schwarzen als Einzelfälle zu betrachten. Institutioneller und alltäglicher Rassismus ist wie Misogynie und Homophobie nicht durch Reformen zu beenden. Sie sind bürgerlichkapitalistischen Gesellschaften systemisch eingeschrieben und konstitutiv für sich überlegen wähnende Formen von Weißsein und Männlichkeit, die auf Gewalt, Entmenschlichung und Ver-Nichtung basieren (vgl. Gago 2018, Wilderson 2020);
Entwicklung und Entmenschlichung In Nordamerika uneingeschränkt als Mensch zu gelten, ist vornehmlich das Privileg von Weißen euroamerikanischer Herkunft, mit College-Abschluss und aus den Mittelklassevorstädten, so Sylvia Wynter in »No Humans Involved«. In dieser Logik des Un*Menschlichen werden die arbeitslosen, häufig die Schule abbrechenden jungen schwarzen Männer aus den Innenstädten als »lack of human« (Wynter 1994: 43), als ›anormal‹ und damit als komplementär Andere*s des nordamerikanischen weißen Menschen positioniert. Ihnen wird nicht nur die Fähigkeit abgesprochen, etwas moralisch Wertvolles zur nationalen Gemeinschaft beitragen zu
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das heißt mit der Markierung ›abnormer‹ nicht-weißer Körper aufgrund vermeintlich ungesunder Lebensweisen. »Allein in den letzten paar Wochen gab es den auf Video aufgenommenen Mord an Ahmaud Arbery (23.2.20) in Georgia (er wurde von Weißen erschossen, als er unbewaffnet joggte), die hinterhältige Erschießung von Breonna Taylor (13.3.20, nachts in ihrer Wohnung. Sie war Notfallsanitäterin) durch die Polizei von Louisville und die Ermordung von Tony McDade (27.5.20), einem schwarzen Transmann, durch Polizisten in Tallahassee, Florida« (Taylor 2020).
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können; sie werden aus der schützenswerten Gemeinschaft ausgeschlossen und gelten immer weniger als Menschen, sondern als eine Art Alien »who were, as if it were, of a different species« (Wynter 1994: 45, siehe auch Eshun 2018). Wynter betont, dass seit den 1960er-Jahren die Zuschreibung des Nicht-Menschlichen in den USA nicht zu trennen ist von einer Klassenfrage, die auch arme, arbeitslose und geringverdienende Weiße betreffen kann. Es sind die extrem Prekarisierten, denen abgesprochen wird, zur dominanten Norm des weißen Mittelschichts-Menschlichen zu gehören. Die Kategorie des ›Menschen‹ umfasst keineswegs automatisch alle menschlichen Lebewesen, sie ist vielmehr zutiefst rassifiziert und ökonomisch hierarchisiert. Die strukturelle Rassifizierung des Menschen ist bis zur völligen Negation des Menschlichen eine entscheidende Prämisse der europäischen westlichen Moderne und den sich in diesem Zuge herausbildenden Wissensordnungen und Denkweisen. Sylvia Wynter zufolge hat sich das seit dem 19. Jahrhundert dominante westlich-bürgerliche Modell des Menschen im »liberalen Monohumanismus« (Wynter und McKittrick 2015: 14) als homo oeconomicus artikuliert, als spezifisch kapitalistische Form der Individualisierung, die sich auf eine »biozentrische« Wissensordnung stützt.7 In dieser Ordnung wird der Mensch in erster Linie als ein natürlich biologischer Organismus verstanden. »[O]ur present system of knowledge is based on the premise, that human is, like all purely biological species, a natural organism; or, the human is defined biocentrically and therefore exists, as such, in a relationship of pure continuity with other living beings« (ebd.: 16–17). Im Jahr 1874 stellte der Mediziner und Zoologe Ernst Haeckel einen evolutionsbiologischen Zusammenhang zwischen Ontogenese und Phylogenese fest, eine biogenetische Beziehung zwischen der individuellen Entwicklung eines Lebewesens und der Genese aller Organismen, was die Erforschung der DNA als genetisches Prinzip bestätigt hat. Diese Perspektive auf den Menschen als rein biogenetischer Organismus ermöglicht die Klassifizierung einzelner Menschen oder Gruppen »as naturally selected (i.e., eugenic) and naturally dysselected (i.e.,
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Die Grundlage hierfür ist seit dem 16. Jahrhundert die Entmenschlichung durch die Verstrickung von Kapitalismus und Sklaverei (vgl. Robinson 1983; Linebaugh 1982).
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dysgenic8) beings« (ebd.: 17). Erst in einem zweiten Schritt entsteht in diesem Verständnis des Menschen Sprache und ›Kultur‹. Werden im Unterschied dazu Menschen als »hybrid beings« betrachtet, sowohl als bios als auch als sprachbegabte und kulturelle Wesen, wie Wynter in Anlehnung an Frantz Fanon (2016) und Aimé Césaire (1990) vorschlägt, können sie nicht mehr einfach in biogenetischer Weise skaliert werden (Wynter und McKittrick 2015: 17–18).9 Mit dem Fokus auf Sprache und Poesie bricht Césaire Wynter zufolge das westlich-weiße biozentrische Wissensparadigma auf, das keine alternativen Modelle anderer Gesellschaften und Religionen duldet. Es ist ein Paradigma, das allem, was es als ›anders‹ klassifiziert, eine geringere bis gar keine Entwicklung von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ zuschreibt sowie das (vollwertige) Menschsein abspricht, um sich selbst als Norm zu setzen. Die damit einhergehende Aufteilung in entwickelte und weniger oder unterentwickelte Bevölkerungsgruppen und Staaten negiert (über die kolonialen Unabhängigkeitskämpfe seit den 1950er-Jahren hinaus), dass die vormals Kolonisierten im Zuge einer imperialistischen Politik untergeordnet, soziokulturell dominiert und wirtschaftlich ausgebeutet wurden. Zugleich bedeutet die Behauptung einer linearen Entwicklung nach westlich-weißem Vorbild für all diejenigen, die nicht dementsprechend als ›zivilisiert‹ betrachtet werden, zuallererst zu einem vollwertigen Menschen werden zu müssen. Es bedeutete nicht, ein Mensch zu sein, es bedeutete (noch) nicht Mensch zu sein, und damit noch nicht homo oeconomicus, noch nicht einer Klasse anzugehören – »as if it is the class of classes of being human itself« (ebd.: 20).10 Es ist die Aufforderung an alle nicht euroamerikanisch8
Als ›dysgenisch‹ wurden in der Evolutionstheorie das Erbgut verschlechternde Faktoren bezeichnet. Es ist ein Begriff, der aus der wissenschaftlich unsinnigen Konstruktion vermeintlich unterschiedlich hierarchisierter ›Rassen‹ entstammt, an deren Spitze die zivilisierte und am weitesten ›entwickelte‹ arische ›Rasse‹ stehen soll. 9 Césaire ([1946] 1990) schlägt in seinem Vortrag »Poetry and Knowledge«, den er 1946 im Rahmen einer Konferenz auf Haiti gehalten hat, eine neue hybride Wissenschaft des Wortes (mythoi) vor, die der ›Natur‹ als bios primär ist. 10 In dieser Logik beschreibt Saidiya Hartman (1997) die Aufforderung nach der Abschaffung der Sklaverei, zu einem freien Subjekt zu werden und damit
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weißen Menschen, sich zum Menschen zu ent-unterentwickeln (ebd.)11, die Negation zu negieren: sich aus der Ent-Nichtung zu befreien.
Die Analyse des A/Normalen Frantz Fanon stellt 1952, inmitten des algerischen kolonialen Befreiungskampfes, mit seiner Schrift Peau noire, masques blancs (Schwarze Haut, weiße Masken) diese Logik der Entmenschlichung grundlegend infrage. Er betrachtet die eurozentrische Idee von Entwicklung aus der Perspektive des Psychologen und Aktivisten. In einer zentralen Textpassage kritisiert Fanon, dass Sigmund Freud mit der Psychoanalyse zwar betont habe, dass statt der Phylogenese der »individuelle Faktor« und damit »die ontogenetische Perspektive« im Zentrum stehe (Fanon 2016: 11). Doch liegt dieser Perspektive unausgesprochen die Analyse weißer Subjekte in der Kernfamilie zugrunde, ohne deren Verwobenheit mit Sklaverei und Kolonialismus herauszuarbeiten. Um allerdings die »Entfremdung [aliénation] des Schwarzen« (ebd.) aufgrund weißer Entmenschlichung zu erklären, ist eine Fokussierung auf das einzelne Individuum mit seinem familiären Umfeld nicht ausreichend. Die Entfremdung des Schwarzen ist »kein individuelles Problem […]. Neben der Phylogenese und der Ontogenese gibt es die Soziogenese. […] Doch im Gegensatz zu den biochemischen Prozessen entzieht sich die Gesellschaft nicht dem Einfluss des Menschen. Der Mensch ist das, wodurch die Gesellschaft zum Sein gelangt.« (Ebd.) Entmenschlichung ist menschengemacht und hat mit ›Natur‹ oder Biologie nichts zu tun. In Gesellschaften erst entstehen rassifizierende Hierarchisierungen, die abgeschafft werden müssen. Kolonisierende Politiken basieren auf rassifizierenden Unterscheidungen aufgrund wissenschaftlich-ideologischer Kategorisierungen, durch Sprache und Sprechweisen sowie durch Ideen von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹, mittels derer das ›weiße Subjekt‹ überhaupt erst zu einem vermeintlich überlegenen erhoben wird, das ohne die Unterordnung von Menschen und Ökologien nicht existieren, seine Position nicht halten kann. Die Erfahrung, nicht als (richtiger) Mensch zu gelten, ist ohne die spezifisch bürgerlichzum vertragsfähigen homo oeconomicus (vgl. auch Lorey 2020). 11 Wynter spricht von »become un-underdeveloped«.
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kapitalistische Ideologie von Weißsein nicht möglich. »Denn der Schwarze ist nicht mehr nur schwarz, sondern er steht dem Weißen gegenüber« (Ebd.: 93-94). Er macht die Erfahrung, schwarz zu sein, in der Interaktion mit dem Weißen. Fanon beschreibt in Schwarze Haut, weiße Masken aus der schwarzen Erfahrung heraus ein »doppeltes Bewusstsein« (Du Bois 2018): zugleich als ›normaler‹ und als ›anormaler‹ Mensch zu gelten; als aus der Mittelklasse stammender, hochgebildeter französischer Arzt und Intellektueller und als entmenschlichter Schwarzer von den Antillen. Mit der Erfahrung als »hybrider Mensch« (Wynter und McKittrick 2015: 27, 29) traut Fanon der dominanten Ordnung des Wissens nicht. Erst aufgrund seiner rassifizierten Positionierung ist er dazu gezwungen und in der Lage, einen Blick ›von unten‹ auf die westlich-weiße, als universal behauptete Wissensordnung zu artikulieren. Es ist die Perspektive des Devianten, des Anormalen und des Nicht-Menschlichen, des Unter-Grunds, der Unterseite. Sie beschreibt das Negierte der vertrautesten Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen, deren ideologische und materialisierte Determiniertheit durch weiße Überlegenheitsfantasien schwerlich reflektiert werden und als selbstverständlich und normal erscheinen. Fanon bewahrt in seiner Analyse die »hybride« Wahrnehmung des A/Normalen. Er will weder weiß noch schwarz werden, weder normalisierter Franzose, noch entwicklungsbedürftiger Kolonisierter. Auch die Vorstellung einer Verschmelzung beider Positionierungen zu einem ›wahren Selbst‹ lehnte er ab: »Der Weiße ist in seine Weißheit eingesperrt. Der Schwarze in seine Schwarzheit« (Fanon 2016: 10). Gerade die Parallelität der Wahrnehmung kann die Brutalität der Entmenschlichung, die durch Rassismus entsteht, vor Augen führen. Fanon ist davon überzeugt, dass aus der von Weißen gemachten gesellschaftlichen Ordnung, die sich auf Unterordnung und behauptete Minderwertigkeit der Anormalen stützt und somit allererst »affektive Anomalien aufdecken kann«, zugleich die Kraft der »totalen Zerstörung dieses kranken Universums« erwächst (ebd.). Es geht ihm um »die wirkliche Beseitigung der Entfremdung des Schwarzen« durch die »Bewusstwerdung der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit« (ebd.: 11) und damit nicht nur um die Delegitimierung des homo oeconomicus, sondern um das Beenden der kolonisierenden westlich-weißen globalen Gesellschaftsordnung. »Eine wirkliche Aufhebung der Entfremdung
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kann es erst dann geben, wenn die Dinge, im allermaterialistischsten Sinn, wieder an ihrem Platz stehen werden« (Ebd.: 12). Ohne auf eine »mystische Vergangenheit« (ebd.: 14) Bezug zu nehmen, will Fanon Schwarze und Weiße »dazu bewegen, die jämmerliche Livrée, die [uns] viele Jahrhunderte des Unverständnisses geschneidert haben, energisch abzuschütteln« (ebd.: 13). Nur mit einer nicht rassifizierten und nicht biologistisch-identitären Vorstellung von Schwarzsein kann der moderne Begriff des Menschen verabschiedet und ein neuer Begriff des Humanen entfaltet werden, der sich dem Mehr-als-Menschlichen öffnet und seine Beziehungen zu Ökologien reflektiert: »[E]s geht wirklich darum, den Menschen fallen zu lassen« (Ebd.: 9).
Minderes Sprechen Die Livrée, die in vielen Jahrhunderten des Nicht-Verstehens und der Zuschreibungen geschneidert wurde, entsteht in großem Maße durch Sprache und Blick. Sprechen heißt, so Fanon, »imstande sein, sich einer bestimmten Syntax zu bedienen, über die Morphologie dieser oder jener Sprache zu verfügen, vor allem aber, eine Kultur auf sich zu nehmen, die Last einer Zivilisation zu tragen« (ebd.: 15). Immer wieder führt Fanon die Bedeutung der Sprache und des Sprechverhaltens kolonisierter Menschen exemplarisch an der Figur des Antillaners aus, der von dem französischen Überseegebiet Martinique in die koloniale Metropole migriert und gelegentlich an seinen Herkunftsort zurückkehrt. Er will Französisch sprechen, wie es in Frankreich als normal gilt, ohne die akzenthafte Aussprache eines Martiniquaners, der das r nicht deutlich ausspricht, sondern verschluckt. Denn die mindere Aussprache verrät, woher er kommt, dass er in Frankreich nicht ›von hier‹ ist, nicht dazugehört, nicht normal ist. Der »schwarze Antillaner« versucht, so gut er kann, sich der französischen (Aus-)Sprache und Ausdrucksweise zu bemächtigen und sich damit der Zivilisiertheit und dem »wahren Menschen« anzunähern und »desto weißer« zu werden (ebd.: 16). Diese habituellen Praxen von sprachlichkulturellem Weiß-Werden sind Selbstsituierungen der Distanz und der Verleugnung des Schwarzseins, so Fanon, und nichts anderes als Ausdruck eines »Minderwertigkeitskomplex[es]« (vgl. ebd.). Die Nachahmung des weißen ›kultivierten‹ Sprechens kommt »dem verbissenen Bemühen, Diktion zu werden« (ebd.: 18, Herv. i. O.), gleich
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und entspricht der Angst, keine Kultur zu haben, wenn eine*r ein minderes Französisch spricht. Anstatt – so lässt sich mit Deleuze und Guattari sagen – sich positiv auf die Vielsprachigkeit des Französischen selbst zu beziehen: »Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden, von der eigenen Sprache kleinen, minderen oder intensiven Gebrauch machen, das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung finden, die Regionen der sprachlichen Dritten Welt, durch die eine Sprache entkommt, eine Verkettung sich schließt« (Deleuze und Guattari 1976: 38–39).
Doch den minderen Gebrauch der Sprache zu affirmieren, ist nicht einfach. Ein »Mensch, der die Sprache besitzt, besitzt auch die Welt, die diese Sprache ausdrückt und impliziert«, erklärt Fanon (2016: 16) das Begehren nach Diktion. Durch die Migration aus der Kolonie in die Metropole der Sprache soll sich der Minderwertigkeitskomplex auflösen, was er aber keineswegs tut. Denn der Komplex entsteht gerade, »weil die lokale kulturelle Eigenart zu Grabe getragen wurde« (ebd.). Was bleibt, so scheint es, ist nicht der kraftvolle Gebrauch der minderen Sprache, sondern die Ausrichtung auf die nationale Sprache der kolonialen Metropole. Der Migrierende will Diktion werden, weil er, so Fanons Analyse, »das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache« (Deleuze und Guattari 1976: 38–39) nicht mehr entgegenstellen kann. Bereits diejenigen, die sich auf Martinique bloß mit der Migration befassen, wissen von der Abwertung ihres Sprechens in der Metropole der weißen Norm, wo es die Intellektuellen der ›kultivierten‹ Sprache als »göttliches Gurren« (Fanon 2016: 17) bezeichnen. Es sind eher Laute als Worte, die dem Kreolischen, der martiniquanischen Alltagssprache, zugestanden werden. Ausgehend von einer naturalisierten Monolingualität der Standardsprache wird das Vernakulare des Kreolischen als Geräusch diskreditiert, nahe an Tierlauten. Die nationale Sprachgrenze muss offensichtlich durch den Ausschluss des Vernakularen aufrechterhalten werden (vgl. Buden 2020). In Reaktion auf diese Sprachherrschaft beginnt der migrationswillige Martiniquaner bereits ›zu Hause‹ damit, seine Stimme zu trainieren und das Kreolische zu verlernen: »Die gewöhnlich heisere Stimme lässt ein inneres Säuseln ahnen«; auch der Gang wird »schwebender« (Fanon 2016: 17). Die »Bourgeoisie der Antillen« spricht das
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Kreolische ohnehin nur »im Umgang mit ihren Domestiken« (ebd.). Auch in der Schule wird die Verachtung des Kreolischen vermittelt. Schon in der Kolonie ist die ›wahre‹ Kultur- und Zivilisationssprache ein Instrument der Bildung und der Klassendistinktion in der Tradition des europäischen Bürger*innentums, das sich als ›weiße Rasse‹ (Foucault 1983: 141–144; Wynter 2006: 127) selbst erfunden hat. Die Normsprache bedeutet Besitz der »Welt, die diese Sprache ausdrückt« (Fanon 2016: 16). Die Fähigkeit abgesprochen zu bekommen, sie ›richtig‹ sprechen zu können, produziert einen Minderwertigkeitskomplex, der aus der Selbst-Enteignung der »lokalen kulturellen Eigenart«, dem Verlernen des vernakularen Kreolischen herrührt. Das Französischsprechen der Martiniquaner*innen ist für Fanon ein Symptom der kolonialen Situation. Immer wieder führt er die biologistische Phylogenese der »Wissenschaften vom Menschen« vor Augen, die Schwarzen »Inferiorität« (ebd.: 27) und verminderte Intelligenz unterstellt und durch die lineare »Entwicklung des Affen zum Menschen« (ebd.: 15) Unterlegenheit und mangelnde Zivilisiertheit bescheinigt. Die kolonialen eurozentrischen Wissenschaften diskreditieren das Kreolische als gesprochene Sprache des Augenblicks, als Gerede ohne Geschichte von Schrift und Grammatik, als bloße Oralität und damit auch als minderwertige Weise der Überlieferung. Im Kampf gegen Unterdrückung erscheint die Affirmation als mindere Sprache unmöglich. »Man sagt, dass der Schwarze das ›Palaver‹ liebt, und wenn ich selbst das Wort ›Palaver‹ ausspreche, sehe ich eine jauchzende Kinderschar, die der Welt sinnlose Wörter, Heiterkeiten zuruft […]. Der Schwarze liebt das Palaver, und es ist kein weiter Weg zu jenem neuen Satz: der Schwarze ist nur ein Kind. Hier haben die Psychoanalytiker leichtes Spiel und der Terminus Oralität ist schnell auf den Lippen« (Ebd.: 24, Herv. i. O.).12
Diese Zuschreibung einer bloß infantilen Sprachfähigkeit und mangelnder Historizität aufgrund der Alltagssprache des Kreolischen korrespondiert mit der bewusst grammatikalisch falschen Ansprache des Weißen gegenüber einem Schwarzen – ganz so als spräche ein Erwachsener mit einem Kind. 12 Zur Unterstellung einer mangelnden Kultur und einer fehlenden »langen geschichtlichen Vergangenheit« siehe auch Fanon 2016: 31.
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Fanon erzählt von einem Priester, der auf einer Wallfahrt einen Studenten erblickt und zu ihm sagt: »›Warum du haben verlassen große Savanne und kommen mit uns?‹ Der so Angesprochene gab eine sehr höfliche Antwort, und der Verlegene in dieser Geschichte war nicht der junge Deserteur der Savanne« (Ebd.: 28). Es gibt im Französischen ein Wort für dieses rassistisch-infantilisierende arglistige Sprechen, das die Weißen als die Sprache der Schwarzen behaupten: »petit-nègre«, eine gebrochene Sprache von Gebrochenen, ein grammatikalisch und phonetisch unsauberes Kauderwelsch. »Zu einem [Schwarzen] ›petit-nègre‹ sprechen heißt, ihn zu verletzen […]; diese Ungeniertheit, diese Lässigkeit, diese Leichtfertigkeit, mit der man ihn festnagelt, ihn gefangen nimmt, ihn primitivisiert, ist verletzend.
Wenn derjenige, der einen Farbigen oder einen Araber auf ›petit-nègre‹ anredet, in seinem Verhalten nicht einen Makel, ein Laster erkennt, dann hat er niemals nachgedacht. […] ›Petit-nègre‹ sprechen heißt, folgenden Gedanken ausdrücken: ›Bleib du, wo du bist‹« (Ebd.: 29-30). ›Geh zurück, du wirst hier nie gleich sein, sondern immer fremd bleiben.‹ Auch mit einem perfekten Französisch oder einer anderen kolonialen Sprache ist es bis heute nicht möglich dazuzugehören. »Ob er will oder nicht, der [Schwarze] muss die Livrée anziehen, die der Weiße ihm geschneidert hat« (Ebd.: 31). Nach wie vor hat »der Europäer eine ganz bestimmte Vorstellung vom Schwarzen […], und es gibt nichts Empörenderes als die Worte: ›Seit wann sind Sie in Frankreich? Sie sprechen gut Französisch‹« (Ebd.: 32).
Der weiße Blick Die rassistische Diskriminierung und Entfremdung geschieht nicht allein über die Sprache, sondern ist untrennbar mit dem weißen Blick verbunden, mit der Rasterung von Physiognomie und der Hierarchisierung von Hauttönen. In unausgesprochener Anlehnung an Fanon beschreibt Toni Morrison in ihrem ersten Roman Sehr blaue Augen den weißen Blick:
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»Irgendwo zwischen Netzhaut und Objekt, zwischen Blicken und Sehen, ziehen seine Augen sich zurück, zögern, bleiben in der Schwebe. An einem festen Punkt in Zeit und Raum spürt er, dass die Anstrengung eines Blickes sich nicht lohnt. Er sieht sie nicht, weil es für ihn da nichts zu sehen gibt. Wie kann ein fünfzigjähriger weißer Emigrant und Ladenbesitzer […] ein kleines schwarzes Mädchen sehen? Nichts in seinem Leben hat ihn auch nur andeutungsweise darauf vorbereitet, dass diese Großtat möglich, geschweige denn wünschenswert oder notwendig wäre.
›Jah?‹ Sie blickt zu ihm auf und sieht Leere [vacuum], wo Neugier wohnen sollte. Und noch etwas. Das totale Fehlen der Anerkennung [human recognition] des anderen – die eisige Isoliertheit. […] Und doch ist diese Leere ihr nicht neu. Sie hat eine Schärfe, irgendwo ganz unten lauert der Ekel. Sie hat ihn in den Augen aller Weißen lauern sehen. Also. Der Ekel muss ihr gelten, ihrer Schwärze [blackness]« (Morrison 2013: 59-60, Herv. i. O.). Nicht immer ist der*die Schwarze mit dem weißen Blick konfrontiert, der (sie) nicht(s) sieht. Ihm zu begegnen ist schockierend, schreibt Fanon. Es ist ein hereinbrechendes Ereignis, ein Augenblick, in dem die Minderwertigkeit und Ver-Nichtung über den Blick des weißen Anderen führt, ein Augenblick, der die unmittelbare Erfahrung des Negiert-Werdens bedeutet: »Und dann geschah es, dass wir dem weißen Blick begegneten. Eine ungewohnte Schwere beklemmte uns. Die wirkliche Welt machte uns unseren Anteil streitig. In der weißen Welt stößt der Farbige auf Schwierigkeiten bei der Herausbildung seines Körperschemas. Die Erkenntnis ist eine rein negierende Tätigkeit« (Fanon 2016: 94).
Der schwarze Körper ist umgeben von »sicherer Unsicherheit« (ebd.). Prekarität ist ihm gewiss. »›Mama, schau doch, der N[…] da, ich hab’ Angst!‹ Angst! Angst! Man fing also an, sich vor mir zu fürchten. […] Ich ging auf den anderen zu …, und der andere verflüchtigte sich, feindselig, aber nicht greifbar, durchsichtig, abwesend. Der Ekel … Ich war verantwortlich für meinen Körper, auch verantwortlich für meine Rasse, meine Vorfahren. Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze [noirceur], meine ethnischen Merkmale und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe« (Ebd.: 95–96).
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Schwarze werden durch den weißen Blick allein für die Geschichte ihrer »versklavten, gelynchten Vorfahren« (ebd.: 96) verantwortlich gemacht: der weiße Rassismus entschuldet seine Gräueltaten durch die Überantwortung an die Nachfahren der Versklavten. Doch Fanon verschuldet sich bewusst gegenüber seinen Ahn*innen, so wie es nach ihm auch Toni Morrison, Octavia Butler, Denise Ferreira da Silva, Fred Moten und viele andere Denker*innen der Radical Black Tradition getan haben: »[I]ch beschloss, diese Vergangenheit auf mich zu nehmen. Auf der universellen Ebene des Intellekts verstand ich diese Verwandtschaft – ich war ein Enkel von Sklaven« (ebd., vgl. auch Morrison 1994 und 2007; Butler 2016; da Silva 2017; Moten 2013).
Die Sprache des Schiffs »The most magnificent drama in the last thousand years of human history is the transportation of ten million human beings out of the dark beauty of their mother continent into the newfound Eldorado of the West« (Du Bois 1998: 757; Linebaugh 1982: 107), schreibt W.E.B Du Bois. Die Schiffe brachten die Versklavten zu den Plantagen, Manufakturen und Haushalten ihrer neuen Bestimmungsorte. Es wurde darauf geachtet, dass sie aus verschiedenen Gegenden und mit verschiedenen Sprachen in den Laderäumen zusammengepfercht waren, was nicht nur die Kommunikation untereinander massiv erschweren sollte, sondern auch das gemeinsame Agieren. Doch trotz dieser Hürden sprachen die Versklavten miteinander und entwickelten, so Peter Linebaugh, eine eigene Sprache: »A combination of first, nautical English, second, the ›sabir‹ of the Mediterranean, third, the hermetic-like can't talk of the ›underworld‹, and fourth, West African grammatical construction, produced the ›pidgin English‹ that became in the tumultuous years of the slave trade the language of the African coast. […] Where people had to understand each other pidgin English was the lingua franca of the sea and of the frontier. Inasmuch as all who came to the New World did so after months at sea, pidgin or its maritime and popular cognates became the medium of transmission for expressing the new social realities. […] Pidgin became an instrument, like the drum or the fiddle, of communication among the oppressed: scorned and not easy understood by ›polite‹ Society« (Linebaugh 1982: 110–111; vgl. auch Linebaugh und Rediker 2008).
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Pidgin wurde in der Melange aus Fachsprachen und lokalen, vernakularen Sprachen zu einer lingua franca des Meeres und der Grenze, mit der die neuen sozialen Realitäten kommunizierbar gemacht wurden. Auf dem Schiff aus verschiedenen Traditionen und Orten zusammengedrängt, begann die heterogene Multitude – inklusive der »motley crew« der Seeleute – durch Improvisation und Anpassung sich wechselseitig zu übersetzen und miteinander zu sprechen. Es entstand eine erfinderische Antwort auf die trennenden Herrschaftsstrategien des Sklavenhandels: eine gemeinsame mindere Sprache, und zugleich »the breeding ground of rebels, […] an extraordinary forcing house of internationalism« (Linebaugh 1982: 112; Mezzadra und Neilson 2013: 275). Die Vielsprachigkeit in einer Sprache wie dem Pidgin ist aus traditioneller linguistischer Perspektive nicht wahrnehmbar, denn es gilt schlicht als unsaubere, vereinfachte »Vermittlersprache« (Linebaugh und Rediker 2008: 168; Linebaugh 1982: 111), entstanden aus einer multilingualen Situation. Auch Fanon beschreibt das Kreolische als »ein Mittelding [moyen terme] zwischen ›Petit-nègre‹ und Französisch« (Fanon 2016: 17), eine gesprochene Sprache der Kolonie. Als Ding in der Mitte, zwischen dem infantilisierenden Sprechen und der normalisierten ›Kultur‹-Sprache versteht er das kreolische Sprechen nicht als eine Sprache der Kultur; in der Mitte ist das Kreolische bloß vermittelndes Sprechen. Dabei ist die Heterogenität jenen Sprachen, die – einst selbst vernakular und lokal – im Kontext nationaler Staatenbildung zum einheitlichen Standard erklärt wurden, stets immanent (Glissant 1997; Buden 2020; Anderson 2005). Fanons Fokus liegt nicht auf der Untersuchung dieser Heterogenität, sondern auf ihrer Diskreditierung und Ver-Nichtung durch die gewaltvolle Anrufung des zum Gipfel der ›Kultur‹ erhobenen Standards. Ihn interessiert die »grundlegende Bedeutung« von Sprache im kolonialen Kontext, um die »Dimension für-den-anderen des farbigen Menschen« zu analysieren; »[d]enn sprechen heißt, absolut für den anderen existieren« (Fanon 2016: 15, Herv.i.O.). Es geht um ›richtiges‹ Sprechen, das in vollem Umfang die Anerkennung als Mensch verspricht: »Sprechen heißt, sich einer bestimmten Syntax zu bedienen, […] eine Kultur auf sich zu nehmen, die Last einer Zivilisation zu tragen« (ebd.), eine Bürde, die – entsprechend der in den Standard eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse – in Gänze nur der ›weiße Mann‹ zu tragen in der Lage ist. »Der Schwarze« befinde
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sich dagegen in einer »Zone des Nicht-Seins« (ebd.: 8). Die »bestimmte Syntax«, von der Fanon spricht, bezieht sich allein auf die dominante Syntax der Sprachnorm, nicht auf jene des Kreolischen. Zusammen mit dem Palaver und dem »Petit-nègre« verharrt das Kreolische in der negativen Abweichung zum Standard, ohne selbst genauer studiert zu werden. Fred Moten (2013) hat in seinem Text »Blackness and Nothingness« die von Fanon beschriebenen ›ungenügenden‹ Sprechweisen in die unmittelbare Nähe des minderen Schiffs-Pidgin gerückt. Diesen Sprechweisen mangelt es nicht einfach an einer Syntax. Mit ihren »bestimmten syntaktischen Strukturen« (Linebaugh und Rediker 2008: 168) weisen sie vielmehr sowohl die standardisierte Syntax, als auch die damit verbundenen Normen von Kultur und Zivilisation zurück. Pidgin ist eine Sprache in Bewegung, eine improvisierende und experimentelle Praxis der Verständigung, die eine poetische Sprachalternative darstellt (vgl. Moten 2013: 759). Fanon entgeht die Kraft dieser Improvisation, denn er setzt die Normsprache primär, nicht die minderen Sprachen der Kolonisierung und der Schiffspassagen. Er analysiert das schwarze Begehren nach dem Standard und sieht in erster Linie die Verletzung, die der »weiße Gebrauch des ›Petitnègre‹« (ebd.: 761) und damit die gehässige Imitation des Pidgin verursacht: Es bedeutet, nicht zuhören, nicht wahrnehmen, nicht anerkennen. Der gebildete Diffamierte will ein perfektes Französisch sprechen, um der Infantilisierung zu entgehen. Doch es ist das permanente ›Versagen‹, dieses Nichts-richtig-Sagen, diese Sprache der Ver-Nichtung, das die koloniale Situation umgibt und durchzieht. Aus der Perspektive der Dominanz ist die Klassifizierung als Wahnsinn oder soziale Psychose schnell zur Hand. Und gerade aufgrund dieser unterstellten Diagnose versteht Fanon das von der Norm abweichende Pidgin als einsperrendes Sprechen. Das Gefängnis entsteht durch die weiße Brutalität, darauf reduziert zu werden, nicht (›richtig‹) zu sprechen und so entmenschlicht zu werden: »dem Menschen einzureden, dass er nichts, absolut nichts ist und dass er mit jenem Narzissmus Schluss machen muss, der ihn glauben lässt, er unterscheide sich von den anderen ›Tieren‹« (Fanon 2016: 20).
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Absolut nichts Was bedeutet es aber, das Feld des »absolut nichts«, den Bereich jenseits des Seins, bewusst zu wählen und zu bewohnen, diese Zone des Nicht-Seins, jene Gegend, der die gebildeten Rückkehrenden sowie das Bürger*innentum in den Kolonien mittels gutem Französisch entkommen wollen, und doch unaufhörlich zur Erfahrung des Nicht-Standards, des Anormalen gezwungen werden (vgl. Moten 2013: 765)? Was bedeutet es, vom Unwillen zum Selbstbewusstsein, von diesem »Neben-sich-selbst-Sein des Schwarz-Seins« auszugehen (Harney und Moten 2016: 117-118)? Fanon schreibt, es gehe darum, den Schwarzen »von sich selbst zu befreien« (2016: 8), von dem Selbst, das er nicht sein und das er nicht haben kann, dem gegenüber er aber eine Nicht-Position okkupiert. Vom »absolut nichts« auszugehen, so Moten, bedeutet nicht zuletzt, die Infantilisierung zu affirmieren und das Improvisieren und Experimentieren des Pidgin zu studieren (vgl. Moten 2013: 761). Das Palaver ist ein »Laboratorium«, ein »linguistisches Experimentieren« (ebd.). Diese lingua franca ist nicht an Eigentum gebunden und kann nicht besessen werden, eine Sprache, die nicht zu eigen gemacht werden kann und kein Selbst manifestiert. Sie wird in der schonungslosen Vielfalt der Sozialität und Solidarität andauernd aufs Neue vertäut (vgl. ebd.: 760). Es ist die mindere Sprache der vielfältigen Multitude, sie ist ohne Identität und niemand kann mit ihr beschrieben oder identifiziert werden: eine gemeinsame Sprache – eine Sprache des Gemeinsamen. Wenn das Improvisieren im Sprachlabor eine Genealogie in den Laderaum des Schiffs aufweist, taugt es dann, um sich vom Selbst zu emanzipieren, oder affirmiert es nicht stets Einsperrung und Entmenschlichung (vgl. auch ebd.: 770)? Fanon, der die Dinge ergründet, wird selbst zum Ding unter Dingen, verdinglicht und entfremdet, Selbst und Ding zugleich, spürt er wie die Schwere des weißen Blicks den schwarzen Anteil streitig macht (vgl. Fanon 2016: 93–94). Und genau dieses »doppelte Bewusstsein«, als Analytiker und als Objekt, ermöglicht eine paraontologische Perspektive, so Moten, eine Perspektive jenseits des Seins, ohne Ontologie und vor dem Sein als dessen Bedingung. Es wird unmöglich, ein Selbst im Sinne eines Subjekts zu sein, das dem Ding gegenübertritt und es beherrscht. Diese
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Perspektive wendet sich vom Besitzindividualismus ab, gemäß dem das Selbst sich und die Sprache besitzt, als Subjekt souverän und autonom ist und damit Eigentümer*in von (zu) Dingen (Gemachten) sein kann. Keinem Nihilismus wird hier das Wort geredet, sondern einer poetischen Sozialität, einem ästhetischen Optimismus, der aus der absoluten Negation entsteht. Es sind Praxen einer revolutionären Wendung: »[T]he process of revolutionary transubstantiation that begins with the experience of the nonnative’s nonreturn to the village and to the consensual exsense of its social speech, where and by way of which we study what it is to live in what is called dispossession« (Moten 2013: 772). »Absolut nichts« ist mit der Enteignung nicht abwesend, es existiert, es hat eine »bewegende Präsenz« (Harney und Moten 2016: 114). In dieser Gegenwärtigkeit wird es als Einzelnes negiert, es kann weder zum Einen werden noch zum Einen gehören. Es lässt sich nicht vereinzeln, nicht abtrennen. Es bleibt verbunden und verschuldet, ohne Eigenes, weniger und mehr als eins: wechselseitig unvollständig in einem Feld von Sozialität, Berührung, Solidarität und verbindender Sorge. In dieser Enge der Verbundenheit und der Affizierung von Sprachen und Körpern ereignet sich das umfassende Abfallen von einer weißen Idee des Menschen. In der ungeschützten und unabgeschlossenen Vielfältigkeit der Multitude entfalten sich neue Praxen eines Humanen, das jenseits des (Mensch-)Seins inmitten von Umgebung ist. Aus der Perspektive eines neuen ökologischen Humanen sind allein die Besitzenden, die Bourgeoisie Europas, entmenschlicht, wie bereits Aimé Césaire deutlich gemacht hat, denn sie haben die »Wurzeln der Vielfalt« (Césaire 2017: 88) ausgerissen. Es ist die weiße bürgerliche Gesellschaft, die »irgendwo den Menschen getötet hat« und »noch heute diese Entmenschlichung rationell organisiert« (Fanon 2016: 196). In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist die lineare Entwicklung der Ontogenese, der Zivilisation und Kultur mit der Idee der linearen, progressiven Geschichte der Sieger verwoben, mit einem Zeitverständnis, das nur eine fortschreitende Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denkbar erscheinen lässt, die die Kämpfe gegen diese Herrschaftsverhältnisse unsichtbar macht. Doch aus dem Nichts und dem Nirgends dieser Verhältnisse entfaltet sich die neue politische Gegenwart, die Jetztzeit der Kämpfe. Das bewegte, nicht identitäre politische Präsens kehrt nicht
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zu einer ursprünglichen Vergangenheit zurück, sondern erwächst aus den Kämpfen der Jetztzeit (Lorey 2020), die ein Interesse daran haben, das »kranke Universum«, von dem Fanon spricht, zu zerstören.
Die Zeit des ›post‹ ist jetzt In der Kritik der Rückkehr zu einem Ursprung und dem Aufbrechen von binärem Denken haben postkoloniale und postmigrantische Theorien starke genealogische Linien zu Fanons Analyse. Die Fokussierung auf eine politische Gegenwart der Kämpfe verbindet sich mit einem postkolonialen Ansatz, wie ihn Stuart Hall (1994: 18) vertritt, sowie mit postmigrantischen Ansätzen, die aus identitätskritischen politischen Zusammenhängen erwachsen sind (u.a. Karakayali und Mecheril 2018, Stjepandić und Karakayali 2018, movements 2016). Die Forderungen nach Normalisierung und Anerkennung von Migration in der Einwanderungsgesellschaft können nicht ausreichen, um die Dynamiken der Entmenschlichung und Ver-Nichtung abzuschaffen. Am Ende von Schwarze Haut, weiße Masken betont Fanon, dass die Kämpfe gegen Entfremdung und Enteignung, »gegen Ausbeutung, Elend und Hunger« (2016: 190) in der Gegenwart stattfinden, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Er präzisiert seine am Beginn des Buches geäußerte Bemerkung, dass seine Analyse der »Zone des NichtSeins« nicht ohne eine Positionierung »in der Zeitlichkeit« (ebd.: 13) zu verstehen ist. Das Verhältnis zur Vergangenheit ist keines, das einen Ursprung sucht oder ein mit Ausbeutung und Entfremdung überlagertes Gewesenes entdeckt. Gerade die Praxis, »in der Gegenwart zu sprechen und zu denken« (ebd.: 190), in der minderen Sprache des Gemeinsamen, die die entmenschlichende Gesellschaft als kultur- und geschichtslos diskreditiert, unterstreicht den notwendigen Fokus auf die Jetztzeit der Kämpfe. Nur in der politischen Gegenwart kann »die homogene und leere Zeit« (Benjamin 1974: 701; vgl. auch Hall 1996: 233; Cusicanqui 2018: 77) des Fortschritts, die Zeit der Sieger (vgl. Benjamin 1974: 696) aufgebrochen werden. Die Entfremdung der Schwarzen als auch der Weißen aufzuheben, ist nur möglich, wenn man sich nicht in die Vergangenheit einsperren lässt (vgl. Fanon 2016: 191), in eine Ursprungsvergangenheit,
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die den Zugang zu den Kämpfen der Gegenwart verwehrt (vgl. auch Cusicanqui 2018: 81).13 Zugleich ist auch eine Flucht in die Zukunft einer besseren Welt unmöglich, denn die nachkommende Welt soll nicht vorbereitet werden (vgl. Fanon 2016: 13). Wird die Gegenwart nicht wie im bürgerlichen Historismus als ein kurzer Moment oder Augenblick verstanden, der den Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft markiert, lässt sie sich als ausgedehntes, prozesshaftes Präsens denken, das mit dem Fokus auf die Jetztzeit der Kämpfe zu einer politischen Gegenwart wird (Lorey 2020). Fanon lehnt jeden Determinismus und jede Linearität von Zeitlichkeit ab. Entfremdung lässt sich nur durch die Weigerung aufheben, »die Gegenwart als endgültig anzusehen« (Fanon 2016: 192). Diese Kämpfe in der Jetztzeit finden statt, weil es »in mehrerer Hinsicht ›ganz einfach‹ unmöglich wurde, zu atmen« (ebd.). Doch auch in der Ablehnung der Linearität sind Bezüge zu Vergangenem notwendig: Es geht darum, »mit einer bestimmten Vergangenheit solidarisch zu sein«, die Verwandtschaft mit der Sklaverei auf sich zu nehmen und sich gegenüber den fernen und nahen Nächsten zu verpflichten, mit aller »Kraft dafür zu kämpfen, dass es nie wieder unterdrückte Völker gibt« (ebd.: 193, siehe auch 96). Diese Verpflichtung geschieht »als Mensch«, dem das Recht zugestanden wird, »vom anderen ein menschliches Verhalten zu verlangen« (ebd.: 195).
13 Fanon betont immer wieder: »Die Vergangenheit ist in keiner Weise geeignet, mich in der Gegenwart zu leiten. […] Ich mache mich zum Menschen keiner Vergangenheit« (2016: 190 und 192).
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Isabell Lorey
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Postmigrantische Stadt
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Marianne Pieper
Postmigrantische Stadt. Koloniale Genealogien und Politiken der Verortung
»Jede Abfolge verbrannte scheinbar alles, was vorher war, und doch wurde in Wirklichkeit keine einzige [Spur] ausgelöscht.« Thomas de Quincey (2003: 150)
Einleitung »Es gibt Orte, die sollte man früh verlassen, wenn man noch etwas vorhat im Leben«, warnt der Schriftsteller und Satiriker Heinz Strunk (2004), der in Hamburg-Harburg aufgewachsen ist. Hamburg-Harburgs »Problemkiez Phoenix-Viertel«1 steht für viele ähnlich diskreditierte urbane Räume von Köln-Chorweiler bis Berlin-Neukölln: Sie sind gleichzeitig Stätten postmigrantischer Vielheit und neuer Politiken der Verortung wie auch rassistisch stigmatisiertes und marginalisiertes Terrain. Das gründerzeitliche Arbeiter*innenwohnviertel wurde nach der angrenzenden Phoenix AG benannt, einer teilweise noch bis heute ansässigen, im Zeichen kolonialer Expansion gegründeten Gummi-Fabrik. Es entstand zwischen 1870 und 1890, um vor allem den Beschäftigten der PhoenixWerke und einer Jute-Fabrik Wohnraum zu bieten (Siedloff 2008: 15). Dank seiner günstigen Lage zur Harburger Innenstadt und zum Harburger Stadtpark galt es einst als Viertel mit hoher Lebensqualität. Aufgrund mangelnder Sanierungsmaßnahmen nach 1945 und des Niedergangs der Industrie seit den 1970er-Jahren verließen viele ehemalige Bewohner*innen das Viertel und Menschen mit sehr niedrigem Einkommen siedelten sich 1
So die öffentliche Selbstdarstellung: https://www.hamburg.de/stadtteile/ harburg/ (17.04.2021).
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an. Im Jahr 2005 wurde das Quartier schließlich zum Sanierungsgebiet erklärt. Aufwertungsmaßnahmen im Rahmen von Stadtentwicklung konnten das Image des Viertels nicht nachhaltig verbessern. Nach wie vor prägen phantasmatische Projektionen des »Ghettos«, Politiken der »urbanen Paniken« (Ronneberger und Tsianos 2009) und assimilatorisch konnotierte Integrationsimperative gegenüber eingewanderten Bewohner*innen und ihren Nachkommen die Außenperspektive des Quartiers. Allerdings sind Orte wie das Phoenix-Viertel auch Schauplätze konflikthafter Verhandlungen, in denen hegemoniale, universalisierende Imaginationen und Behauptungen zur Bedeutsamkeit des Ortes und der Verortung infrage gestellt werden und sich verschieben (Massey 2007: 72). Dies dokumentiert die Sicht der Bewohner*innen, die im Gegensatz zum »Ghetto-Diskurs« (Yildiz 2014) ein differenzierteres Bild vom inneren Potenzial des Viertels zeichnen. Daher werden am Beispiel des Hamburger Bezirks Harburg und vor allem des Phoenix-Viertels einige Ausschnitte dieses konfliktuösen Terrains beleuchtet.2 Zunächst versucht dieser Beitrag jedoch, die sich überlagernden Spuren kolonialer Ausbeutung und der Migrationsbewegungen zu entziffern. Diese bilden den – zumeist ausgeblendeten, »vergessenen« und zugleich immer noch wirkmächtigen – Kontext von Politiken der Verortung (post-)migrantischer Bewohner*innen des Bezirks.
Koloniale Spuren – koloniale Amnesie und Ausblendung der Migrationsgeschichte Hamburg-Harburg, ein an der Süderelbe gelegener Bezirk Hamburgs, und das in seinem Zentrum gelegene Phoenix-Viertel besitzen eine jahrhundertlange, bis in die Gegenwart hineinreichende Migrationsgeschichte. Dieser Stadtteil trägt zudem deutliche Spuren des Kolonialismus, der weiter zurückreicht als in die offizielle Kolonialära des Deutschen Kaiserreichs von 1884 bis 1918.
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Es handelt sich um Ausschnitte aus einer ethnografischen Studie zur »Postmigrantischen Stadt«, die im Sinne einer »multi-sited-ethnography« (Marcus 2009) den Akteur*innen, den Diskursen und den Affekten folgt.
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Meilenstein für den Aufschwung, der die bis 1939 eigenständige Stadt Harburg binnen kurzer Zeit in den Rang eines bedeutenden Industriestandortes katapultierte, bildete ab 1856 die massenhafte Verwertung kolonial erbeuteter Rohstoffe wie Kautschuk, Jute, Palmkern- und Kokosöl (vgl. Uhlmann 2008: 1). Vor allem die Kautschukverarbeitung in der ersten Hartkautschukfabrik Deutschlands und in den ab 1872 als VereinigtenGummiwaren-Fabriken Harburg-Wien firmierenden späteren PhoenixWerken sowie die 1883 gegründete Jutefabrik, die aus indischen und pakistanischen Rohstoffen Säcke und Packstoffe für die Kautschuk- und Palmölindustrie herstellte, begründeten gewaltiges industrielles und städtisches Wachstum und eine enorme Prosperität. Entsprechend wuchs die Bevölkerung der Stadt von 5.000 Einwohner*innen um 1850 auf 50.000 um 1900 (Siedloff 2008: 14). Die Geschichte und Stadtentwicklung sowie die Aufstiegsgeschichte Harburgs zu einem bedeutenden europäischen Industriestandort ist daher nicht anders zu interpretieren als aus der Perspektive globaler kolonialer Ausbeutung und der Kämpfe gegen Ausplünderung und Versklavung in Regionen West- und Ostafrikas sowie Südostasiens und Südamerikas. Flankiert wurde die koloniale Expansion durch die Entsendung von Truppen nach Übersee. Ausgebildet auf den Exerzierplätzen Harburgs, waren sie zum Beispiel an der blutigen Niederschlagung antikolonialer Aufstände und an den Völkermorden in Ostafrika, Südwestafrika und China beteiligt (Uhlmann 2008: 3; Möhle 1999). Bemerkenswert ist indes, dass im offiziellen Narrativ der Stadtgeschichte die gesamte Kolonialgeschichte, die massenhafte koloniale Zwangsarbeit, Versklavung und Ausplünderung, das Leid der Menschen – wie zum Beispiel auf den Palmölplantagen in Benin oder in Kamerun – ebenso ausgeblendet bleiben wie die Kämpfe gegen die koloniale Unterdrückung (vgl. ebd.: 47–49). Zwar sind die Spuren des steingewordenen Profits im Stadtbild und in Bauwerken zum Teil noch präsent, so verweisen z.B. einige Straßennamen auf die Geschichte der kolonialen Verstrickung. Die transnationale Ausbeutung als Movens der Stadtentwicklung indes unterliegt einer kollektiven kolonialen Amnesie. Das eurozentrische Narrativ der Stadtgeschichte feiert stattdessen okzidentale unternehmerische Initiative, kaufmännisches Geschick und Fleiß und bagatellisiert die koloniale Geschichte als »Seehandel« (Ellermeyer 1988: 171) oder
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verschweigt sie ganz (z.B. Merkel und Suchowa 2017). Auch die gesamte Migrationsgeschichte fällt ebenfalls der Ausblendung anheim. So gleichen Städte und städtische Quartiere – wie Hamburg-Harburg – Palimpsesten, abgeriebenen und wieder neu beschrifteten Pergamenten: Zwar wird das Vorhergegangene abgewaschen und abgeschabt und durch eine jeweils neue Ära wieder überschrieben. Gleichwohl bleiben Artefakte und Diskurse vorheriger Epochen als Relikte und Spuren präsent. Ihre Entstehung und Genealogien indes werden dem kollektiven Vergessen anheimgegeben, überlagert und ausgelöscht. Sie bilden das Verdrängte und doch Anwesende im kollektiven Gedächtnis und in der Konstituierung einer hegemonialen – fiktiven – monokulturellen kollektiven Identität und eines imaginären ›Wir‹, das nur durch den Ausschluss, die Verwerfung, Abwertung und das Verschweigen der Leistung, der Ausbeutung und der Kämpfe der als ›anders‹ Konstituierten seine Überlegenheit zu behaupten sucht. Insofern besitzt der Kolonialismus neben seinen historischen ökonomischen bzw. materiellen Folgen auch unhintergehbare epistemische Effekte. Diese manifestieren sich in Mustern der Segregation, die, seinerzeit zur Legitimation der Kolonialherrschaft verfestigt, von der inkommensurablen Alterität jener Bevölkerungen und ›Kulturen‹ ausgingen. Sie haben sich bis heute in der Migrationsgesellschaft als Konstruktion und Essenzialisierung kultureller Unterschiede erhalten. Daher bedarf es einer »kontrapunktischen Lesart« (Said 1994: 66), die in den Erzählungen urbaner (und nationaler) Entwicklung die Aussparungen, das Verschweigen oder die »Verwerfung« (Lacan 2016: 296) erkennt: Diese projiziert die kolonialen Signifikanten in einen Außenraum, sodass eine Fixierung der nationalen Identität und der urbanen Geschichte stattfindet, die diese als exklusiv okzidental konnotiert (Mezzadra 2004: 219). Deshalb gilt es, das eurozentrische Masternarrativ zu dekolonisieren, um zu zeigen, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung großer Metropolen und die Expansion urbaner Räume vielfach massenhafter kolonialer Ausplünderung sowie der Leistung zugewanderter Menschen – und mithin der Migration – verdankt. Ein Sichtbarmachen der Kolonial- und Migrationsgeschichte der Stadt zielt nicht nur darauf, die eurozentrische Historiografie zu »provinzialisieren« (Chakrabarty 2000), sondern auch die zähe Kontinuität kolonialer Diskurse und okzidentaler Superioritätsvorstellungen in den Problematisierungen städtischer Verhältnisse im Zusammenhang mit Migration und vor allem
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die Kämpfe dagegen sichtbar zu machen. Denn bei der Feststellung einer schlichten Kontinuität dieser rassistischen Zäsur und der permanenten Präsenz von Alterität im historischen Kontinuum der Macht zu verharren, bedeutet, die veränderlichen Muster gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und anti-rassistischer Kämpfe auszublenden, in denen Rassismus seine Gestalt wandelt und fortlaufend neue Konjunkturen hervorbringt. Diese Kämpfe folgen nicht immer den großen Gesten des Aufstands. Es sind vielmehr die oft molekularen, unscheinbaren Akte auf der Ebene des Alltags. Diese ereignen sich in den verkörperten Erfahrungen, in – oft ephemeren – Prozessen und Politiken der Verortung. Sie stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags: Denn die Bewegungen der Migration haben eine weitreichende Pluralisierung der Gesellschaft und die Selbstverständlichkeit der Existenz »postnationaler« (Pieper, Panagiotidis und Tsianos 2011: 194) oder »postmigrantischer« (Yildiz 2018; Fouroutan 2018) Subjekte erzeugt. Anders als noch in den rassistischen Ausgrenzungspolitiken gegenüber einer migrantischen Minorität der 1990er-Jahre wird vor allem in urbanen Räumen deutlich, dass sich angesichts des einwanderungsbedingten demografischen Wandels das Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und (ehemals) marginalisierter Vielfalt umkehrt. Hier entsteht das Spannungsfeld, auf dem vehemente, affektiv geladene Definitionskämpfe um die Behauptung monokultureller Hegemonie sich einer zunehmend selbstbewusst agierenden postnationalen Vielheit mit internationaler Migrationsgeschichte gegenübersehen, die eine gleichberechtigte Anerkennung einklagt – wie an Beispielen aus dem Phoenix-Viertel gezeigt wird.
Das gefährliche Milieu – der Ghettodiskurs – urbane Paniken Die gegenwärtige Außenwahrnehmung des Phoenix-Viertels ist vom Bildrepertoire und den Narrativen eines »Ghetto-Diskurses« (Ronneberger und Tsianos 2009: 145) geprägt. Als wirkmächtige Wissensproduktion stößt er auf breite Resonanz und scheint als ›Wahrheit‹ aus dem Archiv des kollektiven Gedächtnisses jederzeit abrufbar. Obwohl das Ghetto als sozialer Raumtypus in deutschen Städten nicht existiert (Wacquant 2006: 139), grassiert das ›Ghetto‹, ›die Bronx‹ oder analog ›der Problemkiez‹ als hegemoniale Raummetapher in politischen und institutionellen Pro-
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blematisierungen, medialen Repräsentationen und sicherheitspolitischen Debatten. Im Ghettodiskurs artikuliert sich eine »epistemische Gewalt« (Spivak 1988: 70), die andere Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen des Viertels marginalisiert oder auslöscht. Alarmistische Mediendarstellungen – wie in der regionalen Yellow Press – operieren mit affektiven Technologien der Angsterzeugung und befeuern Sicherheits- und Moralpaniken, so wie in diesem Artikel mit der Überschrift »Gewalt, Drogen und Armut: Harburgs härtester Kiez: Das Phoenix-Viertel«: »Gewalt auf der Straße, Drogen-Kriminalität, zwielichtige Zocker-Buden, Alkoholiker-Treffs und zwei Salafisten-Moscheen: Das Phoenix-Viertel, einst stolzes Harburger Arbeiter-Quartier, ist mit das härteste Pflaster der Stadt ( …) Drei Türken sollen zwei Kosovo-Albaner angegriffen haben. Ein Mann (32) stirbt später in einer Klinik, sein 36-jähriger Bruder kommt lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus. Angeblich ging’s um Drogengelder« (Morgenpost 17.11.2014).
Die Konstruktion des Viertels als Sammelbecken ›sozialer Pathologien‹ erfolgt synchron mit dem Verweis auf einen hohen Anteil migrantischer Bevölkerung und der Unterstellung einer gleichsam von außen eingeschleppten, durch Einwanderung importierten, durch ›Fremde‹ verkörperten Kriminalität: Als privilegierte Figur des Ghettodiskurses fungiert nicht einfach ›der Migrant‹/›die Migrantin‹, sondern der*die kriminelle – wahlweise bedrohlich islamistische oder sexuell übergriffige – Migrant*in. Das Imaginäre des Viertels erscheint als »Bühne apokalyptischer Dystopien« (Hess und Moser 2009: 18) als ›sozialer Brennpunkt‹ mit wachsendem Gefährdungspotenzial. Im Zusammenspiel von Elementen einer urban underclass-Debatte sowie einer biopolitischen Kartierung des Raums, die Anzahl und Herkunft von ›Migrant*innen‹ auch noch der dritten Generation registriert, findet ein »affective attunement« (Massumi 2005: 40) statt. Dies erzeugt die affektive Kontur eines panischen Raums und »urbaner Paniken« (Ronneberger und Tsianos 2009). In seiner Studie Folk Devils and Moral Panics (1987) beschreibt Stanley Cohen urbane Moralpaniken als elitäre Initiativen zur autoritären Bewältigung sozialen Wandels. In diesem Zusammenhang aktualisieren gouvernementale Logiken der Sicherheitsdiskurse, ordnungspolitische Debatten und Maßnahmen die
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rassistische Spaltung zwischen einem vorgeblich bedrohten hegemonialen ›Wir‹ und den vermeintlich von außen kommenden ›Gefährdern‹. Trotz der jahrhundertelangen Erfahrung mit Migration in der Geschichte der Stadt und des Viertels besteht die Marginalisierung von Eingewanderten und ihrer Nachfahr*innen der zweiten und dritten Generation fort. Thematisiert werden – wie bereits seit den 1960er- und 70er-Jahren angesichts diskursiver Ereignisse beständig aktualisiert – vorgebliche ›Grenzen der Integrationsfähigkeit‹ sowie die vermeintlich ›mangelnde Integrationsbereitschaft‹ und die gefährliche kulturelle Differenz einer oft bereits seit Generationen ansässigen Bevölkerung, die immer noch als ›Andere‹, ›Türken‹, ›Migranten‹ oder ›gewaltbereite und Drogen konsumierende oder sexualisierte Gewalt ausübende Jugendliche mit Migrationshintergrund‹ kategorisiert werden. In Gruppendiskussionen und Interviews im gesamten Bezirk Harburg zeichnet sich ab, dass die generalisierende Verknüpfung eines imaginierten Einwanderungsproblems mit einer Bedrohung durch Kriminalität, Drogenkonsum und sexualisierte Gewalt durch jugendliche männliche Migranten vor allem bei einer bestimmten Personengruppe Resonanz findet. Es handelt sich hierbei um Personen, die sich der hegemonialen Bevölkerungsgruppe zurechnen, oft weit entfernt vom Phoenix-Viertel leben und zumeist nicht über eigene Erfahrungen mit Menschen aus dem Quartier oder mit Übergriffen verfügen. Hier zeigt sich zudem eine starke Tendenz, Fehlplanungen der Stadtentwicklung und generelle urbane Strukturprobleme in ein Migrationsproblem umzucodieren.
Die Binnenperspektive des Viertels Für die Bewohner*innen, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland eingewandert sind, markieren marginalisierende Diskurse und beständig an sie adressierte Integrationsforderungen sowie Erfahrungen mit Ausgrenzung und Rassismus immer wieder Momente gesellschaftlich produzierter Nicht-Zugehörigkeit. Es wäre allerdings simplifizierend und verkürzend, die Situation in einer postkolonialen und postmigrantischen Stadt ausschließlich unter dem Aspekt von Differenzen, Konfliktlinien und klaren Grenzziehungen zu analysieren. Vielmehr geht es um jene, unter restriktiven Bedingungen entwickelten – oft mikropolitischen – Kämpfe und
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Politiken der Verortung, Lebensstrategien und Praxen der Solidarität, die die etablierten Differenzauffassungen und Ausschlusspraktiken irritieren, diese fragwürdig erscheinen lassen und Fluchtlinien einer neuen urbanen Perspektive beschreiben. Sie markieren das Terrain der postmigrantischen Stadt.
Moralische Kreuzzüge und die Disziplinierung rassifizierter ›Anderer‹ Allerdings erzeugt das »affektive attunement« (Massumi 2005: 40) der immer wieder aktualisierten und erneut modulierten urbanen Moralpaniken auch bei einigen Bewohner*innen des Viertels eine Resonanz. Sie adaptieren die hegemoniale Bewertungsmatrix, übersetzen sie aber in interne Hierarchisierungs- und Differenzierungspraxen, um die generalisierende Konstruktion des marginalisierten Viertels zu relativieren und eigene potenzielle Stigmatisierung abzuwehren. Als zentrales Manöver fungiert die Konstruktion einer vermeintlichen ›Versursachergruppe der Rufschädiger‹ im Innern des Quartiers. Diskurselemente des jahrhundertealten Antiziganismus/Antiromanismus werden mobilisiert, um durch eine affektiv aufgeladene Skandalisierung des Verhaltens, die so ethnisierten Akteur*innen im Sinne einer ›zivilisatorischen Mission‹ zu disziplinieren. Patrick Joyce (2003) verweist in seiner historischen Studie zum Verhältnis von Liberalismus und britischen Städten des 19. Jahrhunderts auf die gouvernementale Funktion von Moralpaniken, die zur Selbstaktivierung städtischer Eliten führen, die sich als disziplinierende, ›zivilisatorische Reformeliten‹ gerieren. Die Produktivität von Moralpaniken ist hier jedoch nicht einfach als ideologisches Hegemonieprojekt zu verstehen; sie funktionieren vielmehr zugleich als Feld einer rassistischen Assemblage3. In dieser assoziieren sich diskursive Fragmente mit korrespondierenden 3
Der Begriff bezieht sich auf die von Deleuze und Guattari (1992: 325) entworfene Vorstellung eines agencements (ungenau übersetzt: Assemblage) als bewegliche und emergente Verkettung von menschlichen und nichtmenschlichen Körpern, Affekten, Begehren, Intensitäten, Dingen, Architekturen, Diskursen und Technologien der Macht, die sowohl durch stratifizierende territorialisierende Linien als auch deterritorialisierende Fluchtlinien gekennzeichnet ist.
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Affektproduktionen4 und erzeugen affektive Intensitäten, die im urbanen Raum zirkulieren und sowohl die deviante Gruppe konstituieren, als auch die Stimmungen gegen diese modulieren. Verschiedene Bewohner*innen agieren als selbstermächtigte Protagonist*innen eines affektgeladenen moralischen Kreuzzugs im zivilisatorischen Projekt zur Disziplinierung devianter Subjektivitäten: So mobilisiert beispielsweise Renate Schubert5, die nach der Wende Anfang der 1990-Jahre aus einem der östlichen Bundesländer zugewandert ist und seitdem in Harburg lebt, die überkommenen antiromanistischen Diskursproduktionen von inkommensurabler Fremdheit, »Arbeitsscheu« und Bettelei, gepaart mit Verwahrlosung und exzessivem Lebensstil: »Rumänen und /äh/ Z[Wort], die nur Krawall machen und trinken« und »Müll vor den Türen« liegen ließen, seien verantwortlich für den Ruf des Viertels. Demgegenüber grenzt sie »die Deutschen« (zu denen sie sich selbst zählt) und »die ordentlichen Ausländischen« ab, die einer Arbeit nachgingen und so mit einer Arbeitsethik im Geist des Kapitalismus kompatibel sind. Damit verschieben sich die Koordinaten des generalisierenden ›Ghettodiskurses‹, indem die Moralpaniken und affektiven Intensitäten vom vermeintlich devianten, panischen, exzeptionellen Raum auf die Konstruktion einer kleinen angeblich devianten Minderheitengruppe uneinholbar ›Fremder‹ und ›integrationsverweigernder Migranten‹ im Innern umgelenkt werden. Dieses Muster kann auch als Abwehr generalisierender rassifizierender Konstruktionen fungieren: So übernimmt Napo Mensah (19 Jahre alt), der sich als Person of Color positioniert, die Perspektive des hegemonialen Diskurses und konstruiert eine ethnisierte Gruppe der Rufschädiger*innen: »Ja, ich denke mal, das Phoenix-Viertel wird oft so in der Außenwelt so’n bisschen schlecht dargestellt. Irgendwo kann ich das verstehen. Um mich herum 4
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Unter Affekt verstehen Deleuze und Guattari (1992: 349–351) die Fähigkeit von Körpern, affiziert zu werden und zu affizieren. Dies beschreibt eine »präpersonale« – gleichsam vorbewusste – Intensität im Übergang von einem Erfahrungszustand eines Körpers zu einem anderen, sodass »Affekt für den Körper wie für den Geist eine Vermehrung oder Verminderung des Tätigkeitsvermögens einschließt« (Deleuze 1988: 65). Alle Personen sind anonymisiert.
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wohnen nur Z[Wort], sagen wir, Serben und Bulgaren und so, und es gibt viele, die sich nicht gut benehmen.«
Er beschreibt eine Szene hoher affektiver Intensität, in der er einer Gruppe Jugendlicher der von ihm ethnisierten Minderheit gegenübertritt, um diese moralisch zu disziplinieren: »Da bin ich dann so laut und aggressiv geworden und meinte: ›Ey, was ist los mit euch. Weil wegen euch werden wir Ausländer alle gleich abgestempelt. Wenn ihr Scheiße baut, heißt das nicht, das ihr Scheiße baut, sondern: ›Guck mal, die Ausländer an.‹«
Hier zeigt sich eine spezifische Ambivalenz: Einerseits positioniert sich Napo im Kollektiv der »Ausländer«, das sich einer generalisierenden hegemonialen rassistischen Diskreditierung gegenübersieht. Andererseits versucht er, das generalisierende Stigma abzuwenden und ihm zu entgehen, indem er sich mit den Bewertungsmustern des urbanen Mainstreams identifiziert und als »moral cruisader« (Cohen 1987) agiert. Durch diese Rolle werden jedoch zugleich seine eigenen eventuellen Forderungen nach sozialer Ankerkennung und Inklusion gleichsam stillgestellt: Anstatt den ausgrenzenden Rassismus der Dominanzgesellschaft zu problematisieren, betreibt er die moralische Disziplinierung der ethnisierten, als deviant markierten Gruppe.
Affektive Konnektivität – transversale Solidarität Zugleich betonen nahezu alle Befragten, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind, geradezu ostentativ eine hohe Identifikation mit dem territorial stigmatisierten Stadtteil.6 Dieser erhält in ihren Schilderungen eine völlig andere affektive Kontur. Anstelle der Skandalisierung des ›panischen Raumes‹ beschreiben sie eine spezifische Atmosphäre der Vertrautheit. Es entsteht das Bild eines Raumes spezifischer Intensität, in dem Affekte, d.h. jene fluiden Kräfte, die zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern zirkulieren, Formen von Verbundenheit und Kollektivität erzeugen. 6
Zu ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf stigmatisierte Viertel kommen auch Yildiz 2013: 149; Yildiz 2016.
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So empfinden viele Bewohner*innen das Quartier als »kleines Dorf« – wie zum Beispiel der Kioskbetreiber Murat Aslan7 (25), der im PhoenixViertel aufgewachsen ist und dort wohnt. Es sei eine »Gemeinschaft« vorhanden, man kenne und helfe sich gegenseitig. Vor mehr als zwanzig Jahren seien viele Menschen aus der Türkei und Griechenland aus anderen Stadtteilen hierhergezogen, so wie seine Familie. Generell gäbe es jetzt im Viertel durch weitere Migration »ein gemischtes Publikum« mit vielen eingewanderten Familien und vielen verschiedenen Sprachen. Wie Murat Aslan berichten auch andere Interviewte von solidarischen Personen und Netzwerken im Viertel. So haben sich um verschiedene unterstützende Personen – wie einige Lehrer*innen, einen Fußballcoach oder andere engagierte Menschen – Intensitätszonen8 transversaler Solidarität gebildet. In diesen wird Hilfe in vielen Lebensbereichen geboten, um die Position der marginalisierten Migrant*innen zu verlassen und rassistische Hierarchien der Teilung von Arbeit, Wohlstand und sozialer Anerkennung zu unterlaufen. Hier zeigen sich Formen der Verantwortlichkeit und Fürsorge, die mit den sonst üblichen familialen Implikationen brechen. Die spanische Aktivistinnen-Gruppe der Precarias a la Deriva (2005: 218) spricht von »affektiver Virtuosität« als einer solchen Form der Fürsorge, die als »ethisches Element« (ebd. 218) der Empathie, als affektive Verbindung fungiert. Diese Formen transversaler Solidarität im urbanen Raum sind das Antidot gegen die vielfältigen rassistischen Grenzziehungen in der postmigrantischen Stadt. Zwar beklagen einige – wie Murat Aslan – die Präsenz von Drogendealer*innen und Alkoholabhängigen im Viertel, ebenso wie Diebstähle und Einbrüche. Aber anders als in der Außenwahrnehmung charakterisieren die interviewten Bewohner*innen das Viertel nicht generalisierend als ›gefährlichen Raum‹. Vielmehr betonen sie die spezifische positive Atmosphäre des Viertels und eines belebten Platzes, der mit einem Spiel7 8
Alle Namen wurden zu Anonymisierungszwecken verändert. Intensitätszonen sind Sphären spezifischer interaktiver und affektiver Dichte, die sich um einzelne Personen oder – oft informelle – Gruppen gebildet haben. Hier entstehen Formen der Solidarität und Inklusivität, die Vorstellungen von Herkunft und Zugehörigkeit durchkreuzen und Unterstützung anbieten.
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und einem Bolzplatz verbunden ist und im Sommer als Picknickplatz für Familien, als Treffpunkt und Ort der Begegnung für Jung und Alt genutzt wird. Einige sprechen vom »mediterranen Flair« oder »Piazza-Feeling« dieses urbanen Ortes, der allerdings im sicherheits- und ordnungspolitischen Diskurs als ›Drogenumschlagplatz‹, ›kriminalitätsbelasteter Ort‹ und interventionsbedürftiges Milieu gehandelt wird. Für die Bewohner*innen indes sind es vor allem die nicht unmittelbar repräsentierbaren positiven – affektiven – Qualitäten dieses Ortes, des Viertels und des Stadtteils, die ihnen ein Gefühl der Verbundenheit, Zugehörigkeit und eines entspannten akzeptierenden Raumes (Kontextes/ Milieus) vermitteln, in dem Vielheit – jenseits kulturrassistischer Abwertung – als alltägliche Selbstverständlichkeit gelebt wird: »Das ist relativ egal, aus welchem Land man kommt, woanders als in Harburg zu wohnen. Niemals! Du bist einfach hier, du kannst einfach lächeln und musst nicht Angst haben, dass dich draußen einer anguckt und denkt: ›Von wegen, Scheiß-Moslem‹ (Eniz, Teilnehmer einer Berufseingliederungsmaßnahme 22 Jahre alt).
Unbeschwertheit und das akzeptierende Klima in der Interaktion charakterisieren aus der Sicht der Bewohner*innen die besondere Qualität dieses urbanen Raums. Die Repräsentation des Quartiers als Ghetto und die beständige Affektmodulation der urbanen Paniken, die das Viertel stigmatisieren, bleiben zwar weiterhin virulent. Denn deren Effekte strahlen auf die Bewohner*innen ab, wenn sie sich zum Beispiel um Jobs bewerben oder nach ihrer Herkunft aus dem Stadtviertel klassifiziert werden. Die Interviewten unterlaufen jedoch diese »Ordnung des Diskurses« (Foucault 1991). Sie mobilisieren demgegenüber ihre verkörperte alltägliche Erfahrung von Vertrautheit im Viertel. Ihre Darstellungen affektiver Intensitäten und einer spezifischen Qualität von Verbundenheit und des »Gemeinsamen« (Hardt und Negri 2010: 164) bewegen sich gleichsam an der Schwelle von Symbolischem und Repräsentativem, wenn die Interviewten sie mit automatisch ausgelösten, unwillkürlichen körperlichen Reaktionen (»du musst einfach lächeln«) oder mit emotional aufgeladenen Metaphern (»sweet home«) umschreiben – wie im folgenden Zitat aus einer Gruppendiskussion:
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»Harburg hat zwar einen schlechten Ruf. Ich finde nicht zu Recht, weil das mein Zuhause ist. Wenn ich außerhalb Harburgs bin und abends wiederkomme, dann fühle ich mich so ›home sweet home‹, weil ich finde, die Vielfalt macht es halt für mich aus. Wir leben alle zusammen und sind zufrieden damit. Ich denke, dass es nicht krimineller ist als andere Gegenden oder was so für Vorurteile herrschen. Ich kenne ganz viele andere Jugendliche hier, die ihre Schule machen und studieren« (Hamsa, 19, Schüler).
Solche Momente der verkörperten Erfahrungen des urbanen Raumes artikulieren nicht nur das Begehren, rassistischen Konstruktionen und den Prozessen des Otherings zu entgehen, die ihnen auch in der zweiten oder dritten Generation noch die inferiore Subjektposition der diskreditierten Migrant*innen, der nicht Zugehörigen, zuweisen. Auch lassen sie sich nicht einfach als taktisch mystifizierende oder idyllisierende Umdeutungen des als marginalisiert stigmatisierten Viertels interpretieren. Vielmehr eröffnen die verkörperten Erfahrungen auch den Blick auf jene molekularen, unwahrnehmbaren Politiken, in denen alternative Modi einer »Post-Otherness« (Ndikung und Römhild 2013: 214) und Räume einer »exzessiven Soziabilität« (Pieper, Panagiotidis und Tsianos 2011: 210) entstehen und eine »neue urbane Selbstverständlichkeit« (Yildiz 2016: 5) im Werden begriffen ist und bereits gelebt wird. Allerdings sind die Kämpfe um Verortung und Anerkennung noch nicht ausgestanden – wie die folgenden Beispiele zeigen.
Integrationsimperative, Politiken souveräner Selbstbehauptung und das »Lachen der Medusa« Während die katastrophistischen Szenarien ethnisierter Parallelwelten des Ghettodiskurses und der urbanen Paniken als verräumlichte Variante des Integrationsparadigmas fungieren, sehen sich postmigrantische Bewohner*innen urbaner Räume auch mit einer individualisierten Spielart konfrontiert, die ihnen außerhalb ihres vertrauten Viertels immer wieder begegnet: Der Unterstellung mangelnder Integration. Dabei taucht der Integrationsimperativ als diffuse Bringschuld auf, die an die ›Zuwanderungsbevölkerung‹ – auch in der zweiten oder dritten Generation – die Aufforderung adressiert, sich in die bestehende hegemo-
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niale Gesellschaft und die ›Leitkultur‹ einzufügen und sich anzupassen. Die Frage gleicher Rechte und Partizipationschancen hingegen bleibt eigentümlich unterbelichtet. Die ethnografische Studie zeigt, dass der Integrationsimperativ eine gouvernementale Technologie darstellt, über die sich eine Reorganisation rassistischer Machtverhältnisse etabliert hat, die in die Breite der Gesellschaft hinein diffundiert ist. Hier operiert ein »postliberaler Rassismus« (Pieper et al. 2011: 194), der wesentlich fluider funktioniert als der traditionelle, auf naturalisierende Kategorien rekurrierende biologistische *Rasse*begriff oder ein »differenzialistischer Rassismus« (Balibar 1990: 29), der sich auf die Trope der irreduziblen Unvereinbarkeit von ›Kulturen‹ beruft. Die Praxen eines postliberalistischen Rassismus lassen sich nicht nur über binäre Differenzierung oder Prozesse der Exklusion bestimmen, sondern primär über neuartige Prozesse einer limitierten oder differenziellen Inklusion, bei der beispielsweise der »leere Signifikant« (Laclau 2010: 65) »Integration« zur Messlatte gerät, die beliebig kalibriert werden kann. Dabei adaptiert postliberaler Rassismus den Diskurs demokratischer Rechte und operiert mittels Aneignung egalitärer Theoreme – wie z.B. des Feminismus oder einer neolaizistischen Anti-Religiosität, um sich der Rhetorik von Emanzipation und Aufklärung zu bedienen. In diesem Zusammenhang wartet die multifunktional gewordene und immer wieder aktualisierte »Projektionsfläche Orient« (Brunner, Dietze und Wenzel 2009: 11) mit verschiedenen Konstruktionen auf. Im wahrheitsstiftenden Macht-Wissen-Komplex des postliberalen Rassismus avancierte nicht nur der homophobe oder sexualisierte Gewalt ausübende junge ›muslimische Mann‹ zur emblematischen Figur eines vermeintlich archaischen Geschlechterregimes. Auch die Kopftuch tragende Frau wird zum Mastersignifikanten von Differenz, Rückständigkeit und Unterdrückung. Sie gilt als ambulante Verkörperung von Integrationsverweigerung und Emanzipationsdefizit, die disziplinierende Interventionen auf den Plan ruft. So erzählt Ceyda Inan (42 Jahre, Leiterin einer pädagogischen Einrichtung; sie trägt ein Kopftuch) in einer Gruppendiskussion folgende Situation. Sie begleitet ihren Vater, der in den 1970er-Jahren als Arbeitsmigrant eingewandert ist, in eine Arztpraxis, die zum Austragungsort konfligierender Aushandlungsprozesse wird:
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»Zu mir sagte der Arzt: ›Warum spricht Ihr Vater kein Deutsch?‹ Ich sag; ›Wissen Sie was, damals gab‘s keine Deutschkurse. Die mussten direkt arbeiten.‹ Und dies und jenes und hab‘ ihm das erklärt. Sagt der Arzt: ›Fühlen Sie sich denn integriert hier?‹ Ich sag: ›Natürlich fühl‘ ich mich integriert. Ich bin hier geboren. Ich wohne hier, ich hab‘ hier meinen Beruf.‹ ›Nee, ich find Sie sind überhaupt nicht integriert.‹ Ich sag’: ›Hä? Aber ich fühl mich integriert.‹ Sagt er: ›Dürfen Sie denn überhaupt einen Freund haben?‹ Ich sag: ›Wieso? Ich bin doch verheiratet.‹ Und dann hab‘ ich erstmal furchtbar gelacht.«
In diesem »Culture-Talk« (Mamdani 2005: 17) wird das Stück Stoff – ungeachtet seiner Bedeutung für dessen Trägerin – zum Symbol irreduzibler Differenz und zur Chiffre für die rückständige Geschlechterordnung einer als homogen imaginierten ›islamischen Kultur‹ erklärt. Die Szene offenbart Relikte einer vergeschlechtlichten kolonialen Matrix der Macht, die sich im Topos der Frau als ›Andere‹ und in der (post-)kolonialen Trope der ›fremden Frau‹ als zu disziplinierendes Objekt zivilisatorischer Mission durch ein überlegenes okzidentales männliches Subjekt artikulieren. Ein bornierter Abwehrgestus ignoriert die längst vollzogene »Selbsteingliederung« (Terkessidis 2018: 21), um Ceyda Inan als zurückgebliebene, orientalisierte fremde Frau zu konstruieren. Die Rhetorik von Emanzipation und Integration dient zugleich der Inszenierung zivilisatorischer Überlegenheit eines okzidentalen Sexualitätsregimes mittels kontrafaktischer Imagination einer bereits vollendeten Emanzipation von Frauen der ›Mehrheitsgesellschaft‹. Hier artikuliert sich der identitätsstiftende postliberale Rassismus einer sich als aufgeklärt gerierenden weißen Mittelschicht, die eine »okzidentalistische ÜberlegenheitsDividende« (Dietze 2019: 119) aus einer als monolithisch interpretierten Geschlechterordnung ›des Islam‹ bezieht. Dieser Rassismus erhält seine Überzeugungskraft aus der »Leitdifferenz des Okzidentalismus« (Dietze 2009: 24) und einer phantasmatischen Produktion von überlegener Freiheit und Emanzipation, die sich mit einer neo-laizistischen Anti-Religiosität paart und rassistische Konstruktionen auch für Angehörige einer vermeintlich »postfaschistisch-geläuterten« (Dietze 2009: 32) Bildungselite der hegemonialen Gesellschaft vertretbar macht. Der darin zum Ausdruck kommende Gestus ist auch als präventive Bearbeitung eines drohenden Hegemonieverlustes interpretierbar, die
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darauf abzielt, sich mittels einer okzidentalistischen Selbsterhöhung der eigenen Überlegenheit zu versichern. Denn diese erweist sich angesichts eines migrationsbedingten demografischen Wandels zu einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft und der längst nach ihren eigenen Spielregeln selbsteingegliederten Postmigrant*innen zunehmend als prekär. Es ist der Versuch, Postmigrant*innen gleichsam wieder ›auf ihren Platz‹ auf dem unteren Niveau der sozialen Hierarchien von Arbeit, sozialem Status und Wohlstand zu verweisen. Dieser Überlegenheitsgestus weist eine doppelte Zeitlichkeit auf: Er ist gleichzeitig als Relikt kolonialer Expansionen und einer »Orientalisierung« und als Effekt der vielfältigen Kämpfe gegen Rassismus interpretierbar, in denen Migrant*innen immer wieder kollektive Ansprüche auf gleiche Rechte einforderten, die »mit dem Integrationsimperativ gleichsam desartikuliert« (Bojadžijev 2018: 7) wurden. Allerdings gelingt diese Strategie nicht. Dies zeigt sich nicht nur an der offensiven und souveränen Selbstbehauptung, mit der Ceyda Inan den Vorwurf mangelnder Integration kontert. Sie präsentiert sich zudem nicht als passives Opfer rassistischer okzidentalistischer Abgrenzungsstrategien. Angesichts der Arroganz dieses Machtgebarens besteht ihre Antwort nicht darin, in Resignation zu verfallen oder ihre Diskriminierung zu beklagen, sondern in Gelächter. Sie lacht, weil sich das Machtverhältnis hier entblößt hat und der sich als aufgeklärt gerierende männliche Angehörige einer monokulturellen okzidentalen Mittelschicht durch seine phantasmatische Projektion selbst kompromittiert. Es ist »das Lachen der Medusa« (Cixous 2013) das gleichsam die »Oberfläche erschüttert und die Dialektik des Selben und des Anderen enthüllt« (Butler 1991: 155). Dieses Gelächter ist ein wissendes, das die Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen begleitet: »Wir lachen, weil wir erkennen, was ihre Schwäche für unsere Zukunft bedeutet: die Befreiung von der Subordination der [zugemuteten; M.P.] Identität« (Hardt und Negri 2010: 389). Ceyda behauptet souverän ihren Platz in der Gesellschaft. Die Evidenz ihrer Integration lässt sie nicht nach Maßstäben eines okzidentalen Überlegenheitsdiskurses und einer rückwärtsgewandten Integrationsrhetorik bewerten. Sie bezieht sich auf ihre eigene Einschätzung und ihr Gefühl und entgegnet dem Arzt: »Ich sag‘: Wissen Sie was, ich fühl‘ mich hier zu Hause. Worüber muss ich noch diskutieren?« Damit unterbricht sie die Strategie, die
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sie an den Ort der marginalisierten Fremden fesseln soll und wendet sich ab. Esteban Muños hat solche Praxen des Abwendens als »politics of disidentification« (Muños 1999: 31) beschrieben, zu der minorisierte Subjekte Zuflucht nehmen, um handlungsfähig zu bleiben. Im Gegensatz dazu verkörpert Ceyda Inan jedoch eine wachsende Gruppe postmigrantischer Vielheit – gewissermaßen eine ehemals minorisierte Minderheit –, die auf die panischen Abwehrkämpfe monokultureller Hegemonie mit einer ExitStrategie antwortet. Exit oder »Exodus« kann als Desertieren aus inakzeptablen politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen beschrieben werden, das von dem Begehren nach besseren Lebensmöglichkeiten getrieben ist (Hardt und Negri 2010: 177). Vielfach sind es eher die unheroischen kleinen Akte alltäglicher Praxen, die als molekulare Politiken (Deleuze und Guattari 1992: 293) Fluchtlinien einer Transformation beschreiben, ohne dass der Ort gewechselt werden muss. Wie Paolo Virno (2005: 82) anmerkt, bezeichnet der Exit kein passives Verhältnis. Vielmehr verändere das Sich-Entziehen die Rahmenbedingungen, statt diese als unveränderlichen Horizont zu akzeptieren; im anonymen (kollektiven) Abtrünningwerden, ließen sich die Spielregeln bestehender Ordnungen unterminieren. Ceyda Inan hat die Spielregeln des rassistischen Diskurses längst dechiffriert, dessen Signifikanten auf der Äquivalenzkette von ›Rassialisierung‹ über Ethnisierung und Kopftuch zu Haarfarbe und Integrationsdefizit gleiten und immer neue Formen der differenziellen Inklusion ausprägen: »Ich sag‘ zu ihm: Was soll denn noch passieren? Ich kann auch das Kopftuch ablegen, aber dann ist es die Haarfarbe, was ja auch viele berichten, die dunkle Haarfarbe.« Damit identifiziert sie den Integrationsimperativ als Abgrenzungstechnologie und eignet ihn sich zugleich intrigant an, um das Spiel mitzuspielen und die Regeln zu variieren: Sie kehrt den Integrationsimperativ um und wendet ihn gegen die sich als überlegen und emanzipiert gerierende monokulturelle Gesellschaft, um deren Rückständigkeit angesichts der Faktizität einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft zu demaskieren: »Integration. Von uns wird immer Integration erwartet und ich finde, die Deutschen sollten sich jetzt auch mal auf den Weg machen und sich mal integrieren.« In einer solchen Umkehrung des Integrationsimperativs und der Aufforderung, ihre Leistungen und ihre mehrfachzugehörige, postnationale Lebensweise sowie die Faktizität der Migrationsgesellschaft anzuerkennen, die sich nicht schlicht dem
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Dogma monokultureller Anpassung fügt, liegt ein Moment immanenter Transgression, der das rassistische Machtverhältnis unterbricht.
Komplexe Geografien der Verortung Die Selbstverortungen der Interviewten, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind, folgen zumeist nicht dem Muster eines mono-ethnonationalen Zuordnungssystems. Zwar tauchen Selbstpositionierungen, die auf Eindeutigkeit angelegt sind und mit binären Oppositionen operieren (»wir Ausländer« vs. »die Deutschen«) vielfach dort auf, wo für ein heterogenes (post-)migrantisches Kollektiv gesprochen wird und politische sowie individuelle Rechte eingefordert und soziale Grenzziehungen und Diskriminierungsformen skandalisiert werden: Auf die Frage, warum sie sich trotz deutscher Staatsangehörigkeit als »Ausländerin« positioniere, antwortet Esra, die häufig Menschen mit oder ohne Migrationserfahrung zu Behörden und Ämtern begleitet: »Ich bin nicht deutsch oder türkisch oder wie auch immer. Aber dadurch, dass ich Ausländer ja oft vertrete, bin ich dann schon Ausländerin.« Diese Gleichzeitigkeit einer Unvereinbarkeit von Identifizierungen deutet evtl. darauf hin, dass sich Residuen des rassifizierenden bzw. ethnisch-essenzialisierenden hegemonialen Diskurses in die Selbstpositionierungen eingelagert haben. Allerdings können sie eher als »strategischer Essenzialismus« (Spivak 1990) gelesen werden, der darin besteht, sich in einem politischen, vermachteten Feld essenzialisierende Markierungen und ausgrenzende (rassistisch konnotierte) Begriffe – wie ›Ausländerin‹ – taktisch anzueignen. Darin liegt das Potenzial, einen Ort des Sprechens zu schaffen und Sichtbarkeit herzustellen, Gehör zu finden und politische Rechte und Teilhabe einzufordern, um sich gleichzeitig den homogenisierenden Identitätslogiken zu entziehen. Denn selbst wenn die Interviewten einen deutschen Pass besitzen, bezeichnet sich kaum jemand von ihnen als ›deutsch‹. Sie positionieren sich auch nicht – wie die Migrationsforschung der Vergangenheit behauptete, die von einem Begriff von Nationalstaat oder Kultur als homogenem Containern ausging – ›zwischen den Kulturen‹. Die Befragten der zweiten und dritten Generation kreieren eine neue Komplexität von Identifizierungen und Positionierungen. Sie verorten sich gleichsam in ei-
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nem »Darüber hinaus« (Bhabha 1997: 127), das identitäre Fixierungen an den Nationalstaat und dessen assimilatorische Politiken unterläuft. Vielfach taucht als erste Identifizierung eine lokale Verortung als Hamburger*in oder als Harburger*in auf, die auf eine gefühlte oder affektive Evidenz der Zugehörigkeit sowie auf die verkörperte Erfahrung einer biografischen Verbundenheit mit der Stadt bzw. dem Stadtteil rekurriert. Gleichzeitig schreibt sich die Migrationsgeschichte der Familie in ihre Selbstpositionierungen ein, weil sie von der dominanten Gesellschaft immer wieder auf die Position als Fremde, nicht Zugehörige zurückgeworfen werden: »Ich bin hier großgeworden und nicht in der Türkei. Ich fühle mich als Hamburgerin, nicht als Südländerin. Die Türkei ist nicht mein Land, wo ich großgeworden bin. Ich bin hier großgeworden, egal, wie ich aussehe. Ich kenn‘ nichts anderes, meine Familie ist auch hier (…). Natürlich ist die Türkei ein Teil von mir. Aber das sind so die Erinnerungen, die Träume, wenn man überlegt, ob man dahin zurück gehen will« (Sena 43, Krankenschwester).
Das Herkunftsland der Eltern figuriert hier nicht als territorialer Ursprungsort, sondern als Erinnerung an die ganz frühe Kindheit, Urlaubserfahrungen, aber vor allem als utopische Imagination und möglicher Fluchtpunkt eines alternativen biografischen Entwurfs. Während die Elterngeneration oft Muster transnationaler, zirkulärer Mobilität lebt und zwischen dem Herkunfts- und dem Migrationsland pendelt, betonen die Interviewten eher ihre lokale Ortsgebundenheit. Ihre transnationalen Bezüge beruhen auf den Migrationsnetzwerken der Familie und auf Kontakten zu ihren Kindern, von denen viele im Ausland studieren, wegen interessanter Jobangebote ausgewandert sind oder weil sie das rassistische Klima in Deutschland als unerträglich empfanden. Der Bezug zum Herkunftsland der Eltern oder Großeltern besteht in temporären Mobilitätsformen – wie Verwandtenbesuchen und Urlaubsreisen. Einige Interviewpartner*innen haben zwar Wohnungen zu Urlaubszwecken z.B. in der Türkei erworben, verfolgen damit aber nicht das Ziel einer ReMigration. »Ich bleib hier in Harburg. Ich bin hier heimisch. Ich hab‘ meine Kindheit und Jugend hier verbracht. Ich bin halt gerne hier. Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich immer irgendwelche Leute, die ich kenn’. Das ist schön. Das ist
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nicht, weil es hier so wunderschön ist, sondern einfach weil man hier zu Hause ist. Ja. Harburg und Deutschland und dieser Mischmasch ist eigentlich alles für mich. Und ich will auch nicht immer sagen: ›Ich bin nicht Türkin und ich bin nicht dies und das. Ich bin halt Esra.‹ ((lacht). Ich gehör dazu. Das ist so. Ich bin hier glücklich.«
Es sind Affekte, Empfindungen, Energien und Intensitäten, die in den Begegnungen entstehen und eine spezifische Qualität der verkörperten Erfahrung von Konnektivität und Kollektivität in den zirkulierenden Intensitäten des urbanen Raumes erzeugen, die eher körperlich wahrgenommen und in der kognitiven Übersetzung auf der individuellen Ebene als Gefühl nur diffusen sprachlichen Ausdruck finden: »Ich fühl’ mich hier wohl«, »ich bin hier zu Hause«. Andere Interviewpartner*innen positionieren sich beispielsweise als »echt Harburger Jung« oder sogar im lokalen Idiom als »Harburger Deern«. Diese lokalisierten affektiven Identifizierungen beinhalten keineswegs, dass eine ›deutsche Identität‹ übernommen wird (ähnlich: Römhild 2011). Harburg ist für die Interviewten ein Stadtteil der trans- und postnationalen Vielheit (»Mischmasch«), in dem sie soziale und herkunftsbezogene Heterogenität als alltagsweltliche Selbstverständlichkeit erfahren und sich darin zu Hause fühlen. Es ist eine Form der sozialen – affektiven – Beheimatung, ein selbstbewusstes Sich-Platzieren, ein »Angekommen-Sein«, das in die hermetischen Geografien singulärer Zugehörigkeit interveniert und souverän das Territorium für eine eigensinnige Identifizierung beansprucht, die die Narrative der Monokultur ethno-nationaler Zuordnungsraster ebenso durchquert wie das Konzept der ›Mehrfachzugehörigkeit‹. Darin äußert sich die Weigerung, die zugemuteten nationalen Identitäten zu ratifizieren, der Versuch, ihnen zu entfliehen, um sich als etwas ›Eigenes‹« zu positionieren. Anstelle von Identität könnte hier von den Fluchtlinien einer sich ankündigenden »Konvivialität« (Gilroy 2004: xi) gesprochen werden, in der Verschiedenheit nicht mehr nach rassistischen Logiken gelebt wird. Statt von Identität, Herkunft oder Gruppenzugehörigkeit wäre hier die Idee der Singularität (Deleuze und Guattari 1992; Hardt und Negri 2010: 345–347) angemessen. Singularitäten können nur in Beziehungen gedacht werden und beziehen ihre Existenz und ihre Definition durch andere Singularitäten, die die Gesellschaft bilden. Eine Singularität ist eine Mannigfaltigkeit inner-
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halb ihrer selbst. Zudem befinden sich Singularitäten in einem ständigen Prozess des Werdens und Anderswerdens – ihre innere Mannigfaltigkeit ist dauerhaft in Transformation. Die Muster der Verortung verweisen auf die Potenzialität einer urbanen Zukunft, in der kulturelle oder nationale Herkunftsklassifikationen aus dem Archiv hegemonialer Grenz-Rhetoriken obsolet werden. Hier deutet sich die Vision einer postmigrantischen Polis an, in der der Blick auf das Jetzt gerichtet ist und es nur darauf ankommt, in diesem Moment anwesend zu sein und eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.
Fazit Die Situation der postmigrantischen Gesellschaft, die Präsenz postnationaler Subjekte sowie die unübersehbaren und beständigen Bewegungen von Migration dokumentieren das Scheitern der überkommenen Konstruktion des Nationalstaats. Damit ist der Rekurs auf kollektive Identitäten, die sich aus den phantasmatischen Imaginationen und Narrationen einer gemeinsamen »Herkunft« oder »Kultur« (Anderson 1991) speisen, nachhaltig obsolet geworden – sowohl auf der Ebene der Konstituierung nationaler Identitäten als auch auf der Ebene subjektiver Politiken der Verortung. Dies dokumentieren die molekularen Kämpfe, in denen sich postnationale Singularitäten – allen hegemonialen »Identitätspaniken« (Hardt und Negri 2010: 35) und vielfältigen Grenzziehungen zum Trotz – einer urbanen Gesellschaft der Vielen zuwenden. Hier formt sich – wie in Harburg bzw. im Phoenix-Viertel – ein transformatorisches Potenzial, das im Begriff ist, das rassistische Projekt zu evakuieren, und zwar durch die alternativen Modi einer Post-Otherness (Ndikung und Römhild 2013: 214), d.h. jene Momente, in denen dominante Grenzziehungspraktiken und Hierarchien kurzfristig entmachtet werden, und durch die initiale Weigerung, die hegemoniale monokulturelle Ordnung und deren Überlegenheitsgestus zu ratifizieren. In diesem Zusammenhang dürfte das Sichtbarmachen der kolonialen Genealogien und die Anerkennung der Geschichte(n) der Migration als konstitutive Elemente postkolonialer und postmigrantischer Stadt und Gesellschaft eine heilsame Kur gegen die panischen Abwehrbewegungen und den Phantomschmerz des Hegemonie- und Superioritätsverlustes sein.
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Das postmigrantische Theater
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Feben Amara
Im Zeichen einer grenzüberschreitenden Kulturproduktion: Das postmigrantische Theater »[…], wenn wir Grenzen überschreiten, uns vom zugewiesenen Ort entfernen. Das bedeutet in vielen Fällen, gegen einengende, von »Rassen«-, Geschlechts- und Klassenherrschaft errichtete Schranken anzurennen. […] Werden wir uns innerhalb komplexer und sich ständig verschiebender Machtbeziehungen auf die Seite der Kolonialisierungsmentalität stellen? Oder bleiben wir bei den Unterdrückten auf der Seite des politischen Widerstands stehen, bereit, unsere Art des Sehens, des theoretischen Arbeitens und des Kulturschaffens auf jenes revolutionäre Bemühen auszurichten, das Raum schafft für den unbegrenzten Zugang zur Freude und der Macht des Wissens, für eine Transformation?« (Hooks 1996: 145).
Kultur: Eine begrenzte Idee… Vor der ›anderen‹ Ethnie und der ›anderen‹ Nationalität scheint der Verweis auf ihre ›andere‹ Kultur der wohl unumstrittenste Grund zu sein, um Migrant*innen und migrantisierte1 Menschen zu problematisieren. In dieser Art des Migrationsdiskurses bietet der Rekurs auf Kultur eine unverfängliche Begründung, die unterschiedlichen Ordnungen und Praktiken der betreffenden Gruppen gesellschaftlich zu isolieren oder mit Forderungen nach Integration zu verknüpfen. Vielen mag beispielsweise die Anrufung 1
Der Begriff ›Migrantisierung‹ soll im Zusammenhang dieses Texts auf die diskursiven Praxen verweisen, mit denen Menschen ohne eigene Migrationserfahrungen aufgrund ihres Erscheinungsbildes, ihrer Sprachfähigkeiten oder anderer kultureller Merkmale als vermeintliche Migrant*innen markiert und in die politische Diskussion um Migration eingeschlossen werden. Kontextabhängig kann der Begriff jedoch auch eine emanzipatorische Bedeutung entfalten wie beispielsweise in der Forderung einer »Migrantisierung der Geschichtsschreibung« (siehe dazu u.a. Falk 2019).
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Feben Amara
einer »deutschen Leitkultur« und die Warnung vor »Überfremdung« durch die rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) bekannt sein. Wirkmächtig zeigen sich aber auch ähnliche Rhetoriken des politisch konservativen Lagers, aus dessen Reihen – zumal mit Regierungsbeteiligung – verkündet wird, die Migrationsfrage sei »die Mutter aller politischen Probleme«.2 Im gegenwärtigen politischen Gebrauch der Kultur wird wahrnehmbar, was aus kosmopolitischer Perspektive längst überkommen erscheint: Kultur wird als begrenztes, unbewegliches Konstrukt produziert und für die Inszenierung einer national-territorialen Einheit ge- und missbraucht. Diese (Ver-)Wendung der Kultur können wir im deutschen Kontext durch aufgekommene Konzepte wie die »Kulturnation« (Meinecke 1962: 10) oder den allgemein gebräuchlichen Begriff der ›deutschen Leitkultur‹ beobachten. Diese Begriffsverwendung erklärt sowohl die konzeptuelle Nähe zur Nation und verdeutlicht die politische Funktionalisierung der Kultur. Weiten wir den Blick, können wir die Hinwendung und Vereinnahmung des kulturellen Dispositivs als globales, machtvolles Manöver erkennen, das sich insbesondere durch das imperial-kolonialistische Projekt und in den Nationen Europas institutionalisierte. Im universalistischen Paradigma der französischen Revolution schien der Kolonialismus gerade da seine Rechtfertigung zu finden, wo es um die Missionierung und ›Kultivierung‹ der ›Anderen‹ ging und damit eine perfide Rechtfertigung für die Machtergreifung und Ausbeutung lieferte.3 Ein Metanarrativ im Feld der Kultur, so lernen wir von Ernest Gellner, ermöglichte letztlich auch die Entwicklung europäischer Nationalstaaten (Gellner 1983:18). Diese ›Nationalkulturen‹ fußen auf Sprache, Religion, Traditionen oder Sitten, greifen auf ethnisierende und rassifizierende Markierungen wie die ›gleiche Herkunft‹ oder das ›gleiche Blut‹ eines hervorgehobenen ›Volkes‹ zu 2
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Der zitierte Ausspruch entstammt einer Rede des damaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU) bei einem Treffen der CSU-Landesgruppe (2018) und wurde medial vielfach thematisiert. Susan Buck-Morss fasst diesen Zusammenhang in ihrem Buch Hegel und Haiti wie folgt zusammen: »Dieses Paradox, der Diskurs der Freiheit auf der einen, die Praxis der Sklaverei auf der anderen Seite, ist typisch für eine ganze Reihe westlicher Nationen, die nacheinander innerhalb der frühmodernen globalen Ökonomie die Vorherrschaft innehatten« (2011: 42).
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oder entwerfen einen historischen Moment (›die Geburtsstunde‹) als das Kernereignis ihrer Entstehung. Kultur ist hier als symbolische Ordnung und Grenzziehung zu begreifen, die im Weiteren auch die physischen Grenzen zu anderen Nationalstaaten konstituiert. In Fortsetzung der kolonialistischen Legitimierungsstrategie wird gleichzeitig ein Abseitiges, Fremdes und Anderes hergestellt: Die Behauptung einer kulturell-zivilisatorischen Superiorität der Herrschenden, in der die Aufteilung und Herrschaft (divide et impera) über die zu kolonisierenden Menschen eine Berechtigung fand, wird auf das nationalstaatliche Gefüge übertragen, in dem die im Äußeren als auch im Inneren seiner territorialen Grenzen als different markierten Menschen untergeordnet und hierarchisiert werden. Die von den dominierenden kulturellen Vorstellungen abweichenden Existenzen werden im Umkehrschluss für disruptiv, peripher und/oder minoritär erklärt (vgl. Hamann, et al. 2018: 276). Dabei ist die Manifestierung kultureller Beherrschung und die Abgrenzung zu anderen Kulturen historisch betrachtet gerade da wirksam geworden, wo sie durch ihre dienlichen kulturellen Artikulationen und Produktionen unterstützt wurde. Benedict Anderson, der US-amerikanische Nationalismusforscher, der gemeinhin durch das Buch Imagined Communities (deutscher Titel: Die Erfindung der Nation) bekannt wurde und Nationen als eben diese vorgestellten Gemeinschaften dekonstruierte, schlägt deshalb vor: »Nationalism has to be understood, by aligning it not with self consciously held political ideologies, but with large cultural systems that preceded it, out of which – as well as against which – it came into being« (2006: 12). Mit einem besonderen Fokus auf den Komplex, den er »Printkapitalismus« nennt, beschreibt Anderson Nationalismen als Produkte eines großen Kultursystems. Erst durch die technische Reproduzierbarkeit medialer Erzeugnisse, deren Verbreitung auch zu der Entwicklung von Denk- und Sprachstandards beitrug, sei es Nationalismen gelungen, einen kollektiven Körper zu schaffen, der durch eine gemeinsame kulturelle Identität getragen wird. Doch in der These Andersons klingt bereits an, was im Weiteren von besonderem Interesse sein soll: die Entstehung und das Fortbestehen einer Nation – als auch der nationalen Kultur und Identität – findet in kulturellen Praktiken und Produktionen auch ihre Opponenten. Gerade durch die Anderen und Ausgeschlossenen – in- und außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen –, also durch diejenigen, die beispielsweise die Grenzen
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zu passieren versuchen, eine andere Sprache sprechen oder eine andere politische Gesinnung haben, werden gegen-hegemoniale Artikulationen gefunden, die die vermeintlich beständige, nationale Kultur herausfordern und anfechten. Der »gefährlichen Idee« (Wolf 1993), die Kultur im Zusammenhang von Nationalismen, insbesondere in den faschistoiden Beherrschungen des Kulturpositivs darstellt, sind somit gleichzeitig gewisse Potenziale des Widerstands inhärent. In Folge der konfliktreichen kulturellen Begegnungen der kolonialen Ära, die unsere Gegenwart immer noch grundlegend mitbestimmen, sollten wir Kultur deshalb als »ein Modus gesellschaftlicher Aushandlung, umkämpftes diskursives Feld und praktiziertes Politikum« (vgl. Römhild 2015: 40) verstehen, in dem Ordnungen, Praktiken und Bedeutungen kontinuierlich verändert werden. Während die Kulturproduktion also durchaus als Komplizin der nationalen Erzählungen folkloristischer Einheit und identitärer Zusammengehörigkeit gelten muss, so sollten wir gleichzeitig auch für die Möglichkeit der Autorisierung anderer Erzählungen und Identitäten aufmerksam sein, die durch ästhetische Praktiken möglich werden. Diejenigen, die in den Reminiszenzen eines starken, nationalkulturellen Bewusstseins verharren, diese anrufen und zu (re-)konstruieren versuchen, treffen allerorts auf die postkoloniale Konsequenz einer migratorischen Kultur.
In Bewegung: Kultur(-produktion) postkolonial Die transkontinentalen Kontakträume des Kolonialismus, in denen (versklavende und versklavte) Menschen, Güter und Ideen zirkulierten, sind die Genealogien der transnationalen Migration, Fluchtbewegungen und Mobilität sowie der multinationalen Arbeitsteilung von heute (vgl. Rodriguez 2012: 17). Das Leben in diesen »postkolonialen Zuständen« (ebd.) macht eine Revision des Kulturbegriffs, die Deplatzierung, Umorientierung, Begegnungen und Kreationsprozesse sich kreuzender Subjekte und Gemeinschaften einschließt, notwendiger denn je. Eine »rettende Kritik« (Bolz 1985) ereilte den Begriff der Kultur aus der disziplinübergreifenden Forschungsperspektive der in den 1960er-Jahren – dem Jahrzehnt der Dekolonisierung – im anglophonen Raum gegründeten Cultural Studies. Diese rückt zunehmend eine kulturelle Bedeutungsgemeinschaft in den Fokus, die auf Repräsentationssystemen und signifiying practices
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(»bedeutungsgebende Praxen«) basieren statt auf essenzialistischen Identitätsmerkmalen (vgl. Hall 1997: 1–2). Ein Forschungsschwerpunkt dieser neuartigen Wissenschaft ist es, kulturelle Bedeutungsgemeinschaften zu hinterfragen und Bedeutungsproduktionen aufzubrechen, die in ihrer klassifizierenden und kategorisierenden Funktion Unterschiede zwischen den Kulturen betonen, diese gegeneinander ausspielen oder versäumen, innerhalb hegemonialer Machtansprüche und (post-)kolonialer Verhältnisse kritisch zu reflektieren. Der kritisch-reflexive Impetus der Cultural Studies legte somit nicht nur den Blick auf das komplexe und dynamische Gefüge frei, in dem Kultur(-produktion) und Macht verwoben sind, er ebnete auch die Analyse der widerständigen kulturellen Artikulationen entgegen dominierender Positionen, die durch postkoloniale Kritiker*innen fokussiert werden: »Statt auf den Mainstream fokussieren sich postkoloniale Kritiker*innen auf die unterrepräsentierten und kodierten Äußerungen marginalisierter Subjekte. Sie sind bestrebt, gerade jene Perspektiven und Themen aufzuwerten, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Platz beanspruchen dürfen. Dadurch unterstützen sie das Deplatzierte und Verdrängte bei seinem Kampf, der Vielfalt seiner uneinheitlichen Stimmen und unsichtbar gemachten Geschichten Geltung zu verschaffen. […] Statt ethnisch-nationaler und kultureller Grenzen gewannen Prozesse der Grenzüberschreitung an Bedeutung« (Nghi Ha 2016: 42).
Doch nicht nur die Prozesse der Grenzüberschreitung gewinnen immer mehr an Bedeutung, sondern auch die Subjekte und Praktiken, die diese bewerkstelligen. Migrant*innen, Schutzsuchende und Vertriebene und die (Überlebens-)Strategien, mit denen sie die Grenzüberschreitung in produktive Umdeutungen und Vermischungen kultureller Repräsentationen und Identitäten transformieren, geraten in das Blickfeld der Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang versorgt uns insbesondere das Werk des Literatur wissenschaftlers Homi Bhabha mit neuen Epistemen und analytischen Begriffen. Das allgegenwärtige Konzept der Hybridität, in das er die kulturelle Grenzlage des*r Migrant*in zu überführen versucht (Bhabha 2000: 9) wird von einem neuen Verständnis kultureller Differenz begleitet, das in Bhabhas Deutung einer in kulturellen Interaktionen entstehenden, wechselseitigen Infragestellung gleichkommt. Im Zusammenhang hybrider
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Identitäten gehört zudem das Konzept der Mimikry, in das verschiedene Ausformungen ›kultureller Tarnung‹ und imaginativer Identifikation münden, zu den weitreichendsten Ergebnissen dieses Denkens. In The Location of Culture (Verortung der Kultur) erklärt Bhabha Migrant*innen, Schutzsuchende und Vertriebene zu Grenzgänger*innen, denen das Potenzial der kulturellen Übersetzung innewohnt (2000: 3). Diese kulturellen Übersetzungen seien schwierige, agonistische Verhandlungsprozesse, die zu Konflikten führen könnten und das Risiko der Fehlübersetzung trügen, die jedoch gleichzeitig die Herausbildung neuer hybrider Identitäten und Kulturen beförderten (vgl. Varela, Dhawan 2015: 259). Diese würden im Zwischenraum (auch: dritter Raum), der die Grenzlage nach Bhabha darstellt, und in dem sich Migrant*innen, Schutzsuchende und Vertriebene »hier und dort, überall, fort/da, hin und her, vor und zurück« (Bhabha 2000: 2) bewegten, entstehen. Auch wenn die Begriffe der Grenze und Grenzbewegungen nahelegen, hiermit könnten primär physische Überschreitungen der nationalstaatlichen Demarkationslinien gemeint sein, so wird darüber hinaus auch eindeutig auf die identitätsbezogenen Vorgänge und sozialen Praktiken der Migrant*innen verwiesen, die mit ihren Lebensrealitäten als marginalisierte Minderheiten nach erfolgter Einwanderung zusammenhängen. Ihre Existenzen werden zur Quelle eines gegen-hegemonialen Kultur-Begriffs erklärt, der durch Fluidität und Erfindungsgeist bestimmt wird und das Streben nach Beständigkeit und Kohärenz der nationalen Kultur zusehends untergräbt: »An dieser Stelle muss ich der vox populi Gehör verschaffen: einer weitgehend verschwiegenen Tradition des Volkes aus dem ›Dorf‹ der wandernden Menschen – Akteure des Kolonialismus und des Postkolonialismus, der Migranten, der Minoritäten –, die nicht mit einbezogen werden in das Heim der nationalen Kultur und ihren einstimmigen Diskurs, sondern selbst die Zeichen einer sich verschiebenden Grenze sind, welche die Grenzziehungen der modernen Nation verfremdet. […] Sie bringen zum Ausdruck, daß die Idee der ›erfundenen Gemeinschaft‹ der Nation ein letales Dasein führt; die ausgeleierten Metaphern vom strahlenden nationalen Leben zirkulieren nun in jener anderen Geschichte von den Einreisegenehmigungen, den Reisepässen und den Erteilungen der Arbeitserlaubnis […]« (Bhabha 2000: 245).
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Mit Homi Bhabha begegnen wir einem postkolonialen Denker, der die Rekonfiguration der Kultur abseits der Nation als ein von der Präsenz postkolonialer Migrant*innen abhängiges Unterfangen versteht. In ihren individuellen und gruppenbezogenen Übersetzungspraxen, die die Konfrontation mit dem neuen Kontext notwendig macht, erkennt er aufrührerische Akte, die sich der nationalen Rahmung zwangsläufig entziehen. Gleichzeitig wird durch Bhabha die Befähigung zur selbstbewussten kulturellen Handlung von Migrant*innen fragwürdig, entwirft er sie selbst doch als »Zeichen«, dem Gehör verschafft werden müsste; als ein von Vertretung abhängiges, menschliches Symbol. In einer anderen Textstelle verhärtet sich dieser Verdacht in Bezug auf einen türkischen Gastarbeiter. Als »Doppelgänger« und »Automaton« wird dieser von Bhabha skizziert, als Fremder »dessen sprachlose Präsenz eine archaische Angst oder Agressivität […] hervorruft […]« (Bhabha 2000: 247). Was hier zugunsten der Metaphorik eines letztlich generalisierten und stummen Anderen verschluckt wird, sind neben den Spezifika der lokalen postkolonialen Gegebenheiten auch die sich selbstverortenden kulturellen Produktionen von Migrant*innen und Migrantisierten. So wird noch im Jahr 1994, also 39 Jahre nach dem Ankommen der ersten Gastarbeiter*innen in Deutschland, ein Bild ihrer hilflosen Subalternität perpetuiert (vgl. Steyerl 2002). Obwohl Bhabha die Markierung niederschwelligen Widerstands bemühte, liegen seinen Analysen nur die hegemonialen Repräsentationen und Diskurse der (anglophonen literarischen) Hochkultur zugrunde.4 Den fortschreitenden Kämpfen und gelungenen Besetzungen migrantischer und minorisierter Selbstorganisation kann er deshalb nicht gerecht werden. Was wir jedoch von Bhabha mitnehmen können, ist, »den Status von Grenzgängern und zugewanderten Bevölkerungsgruppen gegen den Begriff einer reinen nationalen Kultur zu verstehen« (Göktürk 2000). Diese werden erst durch die Einordnung der verschiedenen kulturellen Produktionen in die jeweiligen postkolonialen Kontexte erfassbar und bedürfen somit der Betrachtung der lokal spezifischen Bedingungen ihrer Herstellung (vgl. Steyerl 2002). 4
Beispielhaft kann hier die vor einigen Zeilen zitierte Beschreibung eines Gastarbeiters gelten. Diese basiert auf den Erläuterungen aus der Novelle A Seventh Man von John Berger (2010: 246).
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Aus der Perspektive der Kulturarbeit wird im Umkehrschluss die Entwendung, Anpassung oder Reformulierung der aus dem postkolonialen Repertoire stammenden Konzepte notwendig. Infolgedessen treffen wir auf divergierende Konzepte wie das Postmigrantische Theater, das zwar im Zeichen eines postkolonialen Grenzgängertums steht, dieses aber in einem lokalspezifischen Zusammenhang besetzt.
Das (Post-)Migrantische wird besetzt Deutschland kann auf eine lange Geschichte der Migration zurückblicken. Dennoch wird sie oft erst mit der ab 1955 einsetzenden Einwanderung der sogenannten Gastarbeiter*innen in Verbindung gebracht (Nghi Ha 2012: 56). Vorstellbar wäre durchaus auch eine frühere Datierung, die das dunkle Kapitel deutscher Kolonialherrschaft heranzieht und damit auf die frühe Präsenz Schwarzer Menschen aus den Kolonien verweist (vgl. Ayim 2020: 27). Im selben Zusammenhang wäre es schlüssig, die Zeit der Migration von Arbeiter*innen aus den polnischen Gebieten ÖsterreichUngarns und Russlands, die von Kaiser Wilhelm II. in Reaktion auf die deutsche Auswanderung in die Kolonien rekrutiert wurden, als möglichen Startpunkt in Erwägung zu ziehen (vgl. Nghi Ha 2008). Nachdruck verleihen soll diese Aufzählung der langen Tradition migrationsgesellschaftlicher Zustände in Deutschland. Gastarbeiter*innen stehen folglich exemplarisch für eine Reihe von Migrant*innen, die als ›Arbeitskräfte auf Zeit‹ nach Deutschland kamen und blieben. Neben ihnen müsste auf die unzähligen Fluchtbewegungen verwiesen werden, die als fortlaufendes Resultat eines postkolonialen und kapitalistischen Nord-Süd-Gefälles nach Deutschland führten. Der gängige Verweis auf die nun 65 Jahre zurückliegende Einwanderung von Menschen aus u.a. Italien, Griechenland, der Türkei, Jugoslawien, Vietnam, Polen und Mosambik mag statt des Beginns der Einwanderung nach Deutschland dennoch einen anderen Zeitpunkt kenntlich machen.5 Er zeigt den Moment an, in dem ›das Migrantische‹ in das gesellschaftliche Bewusstsein eintritt und die epistemische Bewegung 5
Um vollständig zu sein, müsste diese Aufzählung die Anwerbeabkommen mit Spanien und Portugal (BRD), Polen und Ungarn (DDR) sowie die Einwanderung auf Basis der sogenannten sozialistischen Bruderhilfen aus Angola,
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beginnt, die in den noch jungen Ausruf eines postmigrantischen Theaters mündete. Das Ausmaß, in der die kulturelle Differenz der Gastarbeiter*innen debattiert und institutionalisiert wurde, spricht für eine besondere Ausgangslage der Konstitution migrantischer kultureller Produktionen. Denn während das ursprüngliche Konzept einer zeitbasierten Arbeitsmigration die Teilhabe der Gastarbeiter*innen an den gesellschaftsrelevanten Bereichen abseits der wirtschaftlichen Produktion für überflüssig erklärte, wurden mit ihrem neuen Status als ›ausländische Mitbürger*innen‹ auch die politisch und zivilgesellschaftlich weitreichenden Forderungen nach kultureller Integration laut. Der Anstieg integrationspolitischer Maßnahmen lässt sich in einen direkten Zusammenhang mit der Niederlassung ehemaliger Gastarbeiter*innen bringen, der kulturalistisch argumentierte Integrationsdruck traf jedoch sowohl ›alte‹ als auch ›neue‹ Migrant*innen. Diese wehrten sich in verschiedenen Zusammensetzungen kultureller und politischer Selbstorganisierung und beriefen sich auf das Recht auf Selbstbestimmung, Teilhabe und Repräsentation.6 Dem Paradigmenwechsel der letzten 20 Jahre, vom Migrantischen zum Postmigrantischen, gehen diese wichtigen Auseinandersetzungen an den Schnittstellen von Gesellschaftsanalyse, künstlerisch-kultureller Produktion und politischer Artikulation voraus, die nicht zuletzt auch den Weg für die Etablierung des sogenannten postmigrantischen Theaters ebneten.7
Kuba, Nicaragua und dem Jemen einbeziehen. Im Text wurden lediglich die stärksten Einwanderungsgruppen erwähnt. 6 Einen interessanten Einblick in die Anfänge migrantischer Selbstorganisation enthält das Buch Der lange Marsch der Migration. Die Anfänge der migrantischen Selbstorganisation in Nachkriegsdeutschland (Scharenberg 2020), dem es diesen Beitrag ergänzend gelingt, ein differenziertes Bild der communityspezifischen Situationen in Ost- und Westdeutschland nachzuzeichnen. 7 In Die windige Internationale (Bojadžijev 2012) wird von einem Beispiel erzählt, das genannte Verschränkungen besonders sichtbar macht. Dort wird von der Aktion eines Kreuzberger Arbeiter- und Straßentheaters berichtet, das 1970 ein Stück aufführte, in dem die Arbeitsvermittlung mit der Praxis von Sklavenhändlern verglichen wurde: »Die Schauspieler verteilten auf den Straßen ein Flugblatt, in welchem sie u.a. forderten: Aufenthaltsgenehmi-
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Zu einer Quelle dieser ›neuen Agenda‹ erklärt die Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi die migrantisch geprägte Theaterarbeit des Theater an der Ruhr und der Bühne der Kulturen – Arkadaş Theater (vgl. Sharifi 2011: 36) in den 1980er-Jahren. Laut Sharifi hätten diese Projekte »das Theater mit seiner universellen Sprache, die verbale und nonverbale Elemente enthält, […] als eine Möglichkeit aufgefasst, einen weitreichenden Dialog der Kulturen zu führen, bei dem sprachliche und kulturelle Differenzen ästhetisch dargestellt werden« (ebd.). Darüber hinaus habe man es sich zur Aufgabe gemacht, ein »interkulturelles Konzept« zu etablieren, dass durch die Künstler*innen, Mitarbeiter*innen und die Bühnensprache getragen wird (ebd.: 37). Das Theater wird hier vor allem als dialogischer Raum entdeckt, in dem ein Austausch unter verschiedenen migrantischen Theaterkünstler*innen und ›mit‹ einem (deutschen) Publikum unter veränderten Prämissen und mit anderen Ausdrucksformen möglich wird. Die prekäre Situation, die das Schaffen der migrantischen Kulturschaffenden bedingt, beispielsweise die Arbeit in der freien Szene, da institutionelle Räume kulturpolitisch nicht vorgesehen sind, lernen wir dabei als Ausgangslage des Migrantischen kennen. Über die Bedingungen des Migrantischen hinaus, werden uns gleichzeitig etwaige Überlegungen zu einer möglichen Operationalisierung des Migrantischen mitgegeben. Sharifi macht auf spezifische Artikulationen aufmerksam, die aus dem designierten Zwischenraum von ›Herkunfts- und Ankunftskultur‹ stammen, die den damaligen Migrationsdiskurs prägten. In dieser Rahmung waren es häufig sich auf inter- und bikulturelle Positionierungen berufende Kulturschaffende, die sich um die Reflexion der geteilten Identität oder ihrer Migrationserfahrungen bemühten. Erst später, und so beschreibt es die Autorin in Hinblick auf ein postmigrantisches Theater, würde der integrative Dialog zwischen Nationalitäten und Kulturen den künstlerischen Formulierungen »entgrenzter Geschichten« (Sharifi 2011: 38) weichen. Um diese Entwicklungslinie nachzuzeichnen, lohnt sich eine Perspektive, die nicht nur einen späteren Zeitpunkt in der Theatergeschichte aufsucht, sondern auch nach einem anderen Zugang zu den Institutionen und Praxen des Theaters. gungen und rechtliche Gleichstellung bei Arbeit, Lohn und Sozialleistungen, Schließung der Verleihfirmen« (Bojadžijev 2012: 130).
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Besetzung aus der Bewegung »[I]ndem wir in den Bereich der Kultur vordringen, besetzen und politisieren wir einen Bereich, der auch in dieser Zeit Kanaken ihre Arbeit nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Sexy, hybrid, bereichernd, erfolgreich, so sollen die Ghettokids aus Kreuzberg die Vorzeigekanaken der Berliner Republik sein. Wir jedoch kommen nicht nur aus Kreuzberg, sondern von überall und lassen uns nicht anpassen oder vorschreiben, wie unser Feld auszusehen hat« (Heidenreich 2015: 123-124).
So formulierte Aljoscha Zinflou, Schauspieler und Mitstreiter des antirassistischen Netzwerks Kanak Attak, die Notwendigkeit der Besetzung des kulturellen Felds, im Rahmen der Lese- und Soundtour VIP:KANAK der beiden Autoren Imran Ayata und Feridun Zaimoglu im Jahr 2000 (ebd.). Bereits zwei Jahre zuvor hatte sich der aktivistische Zusammenschluss Kanak Attak gegründet, der seinen Namen Zaimoglus Buch Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) verdankte und auch darüber hinaus ein enges Verhältnis zu künstlerischen Zusammenhängen und Praxen pflegte; angefangen mit der 2001 initiierten Veranstaltung des Netzwerks dieser Song gehört uns an der Volksbühne in Berlin, die aus Vorträgen, DJ-Sets, Diskussionen, kommentierten Filmausschnitten und der »OpelPitbullAutoput«-Revue bestand und dabei die Geschichte(n) der Migration mit Fokus auf die Dynamiken der Kämpfe zeigte (vgl. Heidenreich 2013: 349). Diese, im Rahmen der Revue, auch performativ ausgelegte Beschäftigung mit widerständigen, migrantischen Perspektiven und die fortlaufende Anwendung künstlerischer Strategien in anderen Formaten führten zu einem öffentlichen Kopfzerbrechen über die disziplinäre Einordnung der Gruppe (vgl. ebd). Die Irritation von Ein- und Zuordnungen, so erfahren wir aus dem 1998 veröffentlichen Manifest von Kanak Attak, war jedoch Bestandteil der politischen Absicht. Nicht nur sollten die Grenzen von Kunst und Politik bewusst überschritten und spielerisch aufgelöst, sondern auch identitätsüberschreitende Solidaritäten anvisiert werden: »Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ›Identitäten‹ hinweg. […] Kanak Attak bietet eine Plattorm für Kanaken aus den ver-
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schiedenen gesellschaftlichen Bereichen, denen die Leier vom Leben zwischen zwei Stühlen zum Hals raushängt und die auch den Quatsch vom lässigen Zappen zwischen den Kulturen für windigen Pomokram [›Postmodernenkram‹] halten. Kanak Attak will die Zuweisung von ethnischen Identitäten und Rollen, das ›Wir‹ und ›Die‹ durchbrechen. Und weil Kanak Attak eine Frage der Haltung und nicht der Herkunft oder Papiere ist, sind auch Nicht-Migranten und Deutsche der xten-Generation mit bei der Sache. […] Dennoch: Wir treten an, eine neue Haltung von Migranten aller Generationen auf die Bühne zu bringen« (Kanak Attak 1998).
Es werden in diesem Selbstverständnis mindestens zwei miteinander verwobene Interventionen in den Begriff des Migrantischen bis dato erkennbar. Einerseits expandiert das Migrantische, erweitert den Kontext der Arbeitsmigration um den des Exils und der Diaspora, fordert nun aber auch Menschen auf, die keine eigene Migrationserfahrung gemacht haben, sich für eine antirassistische und antinationale Vision der Gesellschaft einzusetzen (ebd.). Daran angelehnt wird das Migrantische in einer repräsentationskritischen Weise besetzt, die anstelle binärer Identitätskonstruktion oder interkultureller Konzepte den kreativen und politischen Akt des Überdie-Grenze-hinweg-Gehens zum Fundament nimmt.8 Mit der nun schon vielfach zitierten Medienkulturwissenschaftlerin und ebenfalls Mitglied des mittlerweile aufgelösten Bündnisses, Nanna Heidenreich, wird darüber hinaus die unmittelbare Nähe zwischen den Strategien der Migration und den ästhetischen Praxen der Grenzüberschreitung sichtbar. Denn »die Listen und Taktiken (im Sinne de Certeaus) [besitzen] in der Migration künstlerische Schaffensqualität – Maskierungen und Erzählungen beispielsweise –, Kunst kann selbst zur Migrationsstrategie werden« (Heidenreich 2015: 133). Auch mag die 8
Etwa zeitgleich mit Kanak Attak haben sich auch andere Bündnisse und Gruppen mit verlagerten, aber anschlussfähigen Schwerpunkten formiert. Erwähnen möchte ich hier insbesondere den Arbeitskreis Wi(e)dersprache, der sich als Forum für Migrantinnen, Schwarze und jüdische Frauen verstand und sich der kritischen Auseinandersetzung mit Kulturrezeption und -kanon widmete (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2012: 32). Des Weiteren aber auch kein Mensch ist Illegal, das sich als bundesweites Netzwerk antirassistischer Gruppen ebenfalls 1997 bei der documenta X in Kassel gründete (vgl. Heidenreich 2015: 122)
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Konzeption der Grenzüberschreitung durch Homi Bhabha in Erinnerung gerufen werden. Insbesondere das Konzept der Mimikry, das die »ironisierende, parodierende Imitation eines vorhergehenden (kolonialen) Diskurses« einschließt (Grimm 1997: 42), können wir in den alltagspraktischen Strategien wie Code-Switching und der Selbstethnisierung von Migrant*innen wiederfinden, aber auch in der Aneignung und künstlerischen Umdeutung des Begriffs ›Kanake‹ lässt es sich wiedererkennen.9Als im Jahr 2001 das Video Philharmonie Köln – 40 Jahre Einwanderung anlässlich des vermeintlichen Jubiläums 40-jähriger Einwanderung in der Kölner Philharmonie entstand, waren eben genau diese Strategien vor und hinter der Kamera präsent: »Dort [in der Philharmonie] rückte eine kleine Kanak-Attak-Truppe mit Kamera und Mikrofon an und wurde tatsächlich unangemeldet und ohne Eintrittskarten als Presse hereingelassen, weil sie für Vertreter/-innen eines türkischen Fernsehsenders gehalten wurden […] ein Sekt trinkendes Paar [wurde] mit der Tatsache konfrontiert, dass sie hier schon wieder nur von Kanaken bedient werden würden, und wie sie das denn fänden angesichts des Anlasses der Feierstunde […]« (Heidenreich 2013: 357).
Wichtig erscheint mir die Herleitung eines ›anderen‹ migrantischen Wirkens am Theater – das eines politisch-aktivistischen Schaffens, das sich der Mittel des Theaters ermächtigt, vor allem aus drei Gründen. Erstens wurde das Theater als Teil der sogenannten Hochkultur und eines von einer weißen, bildungsbürgerlichen Teil-Gesellschaft dominierten Raumes verstanden, dessen klassistische und rassistische Strukturiertheit auf die hierarchischen Ordnungen der Gesellschaft verweist und dort konkret anfechtbar wird. Zweitens wird dieses mehrdimensionale Unterfangen durch die Kreuzung mit anderen Räumen, Disziplinen und einem erweiterten Kreis an Verbündeten erreicht und materialisiert sich in eigenen konter9
Mit dem Soziologen Erol Yildiz lassen sich Selbstethnisierung und CodeSwitching als Reaktionen gegen hegemoniale Benennungspraxen deuten und müssen demnach als politische Strategien verstanden werden. Er stellt sie in einen direkten Zusammenhang mit dem von Stuart Hall geprägten Begriff der ›Transkodierung‹, der nach Yildiz die Umkehrung negativer Zuschreibungen und deren ironische Umdeutung beschreibt (Hill und Yildiz 2014: 31).
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kulturellen Produktionen. Drittens wird nun auch aus einem ästhetischen Blickwinkel die Aneignung theatraler Räume und Institutionen durch migrantisierte und minorisierte Menschen plausibel. Nicht nur ließen sich die (Überlebens-)Praxen der Migration mit denen des darstellenden Spiels in Theater und Film produktiv zusammenführen, darüber hinaus sollte der Kampf um Repräsentation, der in einem doppelten Sinn das Ringen um (politische) Vertretung und die eigene Darstellungspraxis beschreibt, wortwörtlich auf die Bühne getragen werden.
Das postmigrantische Theater Als Shermin Langhoff 2008 die künstlerische Leitung des Ballhaus Naunynstraße in Berlin übernimmt, erscheint mit ihr eine neue, hauseigene Programmatik auf der Bildfläche: Die kleine Spielstätte in Kreuzberg soll fortan postmigrantisches Theater sein und auch machen. Langhoff, die in den Jahren zuvor bereits mit den Veranstaltungsreihen X Wohnungen (Leitung im Jahr 2004) und beyond belonging (gegründet 2006) am Theater HAU Hebbel am Ufer in Berlin bekannt wurde, legte damit eine neue Programmatik für das Off-Theater fest. Die begriffliche Intervention, die bereits in anderen diskursiven Formaten Einsatz gefunden hatte, begründete die Namensgeberin zunächst mit der Ausnahmeerscheinung, die Theaterkünstler*innen mit Migrationshintergrund, trotz gegenläufiger gesellschaftlicher Realität, in den deutschen Theatern darstellten.10 Dieser Zustand würde die künstlerische Auseinandersetzung mit den politischen Kampfbegriffen ›Migration‹ und ›Integration‹ enorm erschweren (vgl. Langhoff 2011: o.S.). Zeigen würde sich dies in der klischierten und sensationalistischen Darstellung von Migrant*innen, die in den Stoffen und Stücken sichtbar würde. Durch das vornehmlich weiße und männliche Personal sowie die Besetzungspolitik der Theater würden diese fragwürdigen Präsentationen wiederum erklärbar (ebd.). Hier sollten nun endlich Migrant*innen und ihre Nachfahren, aber auch Exilant*innen und diasporische Communitys, 10 Zuvor wurde der Begriff bereits bei einem von Gió di Sera initiierten SalonAbend mit dem Namen »KANAKWOOD – Salon für Postmigranten Vibes (2003) im Kunstraum Kreuzberg benutzt (Langhoff 2018: 305).
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hinter und auf den Bühnen sowie im Publikum einen Platz erhalten und das nicht im Rahmen eines ›Migrantentheaters‹ oder als oberflächliches Diversitätsmanagement, sondern als selbstverständliche Akteur*innen und Adressat*innen der institutionell geförderten Theaterlandschaft. Das Ballhaus Naunynstraße wurde damit zur institutionellen Antwort auf den über den Theaterkontext hinaus diagnostizierten Problem- und Defizitdiskurs ›Migration‹, der auch Menschen abschätzig markierte, die selbst gar keine Migrationserfahrungen mehr gemacht hatten (vgl. Römhild und Bojadžijev 2014:18). Zudem wollten sich die Protagonist*innen des Ballhaus Naunynstraße mit denjenigen gemein machen, die im Sinne einer antirassistischen und antifaschistischen Vision bereits an »einer postmigrantischen Position arbeiteten, ohne sie so zu benennen« (Langhoff 2018: 304), und formierten sich entlang der vorausgegangenen (Theater-)Praxen des aktivistischen Netzwerks ›Kanak Attak‹ und an der Volksbühne Berlin, die dabei noch dezidiert den Referenzrahmen der Migration wählten.11 Das Affix ›Post‹, das sich nun an den Begriff der Migration anschmiegte, wurde in diesem Sinne zunächst mit mindestens zwei Bedeutungsdimensionen belegt. In Hinblick auf eine theatrale Setzung sollte es schwerpunktmäßig »um Geschichten und Perspektiven derer [gehen], die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen« (Langhoff 2011: o.S.). Somit begab sich das postmigrantische Theater – wie auch eben jene anderen kulturellen Artikulationen, die sich in einer Post-Situation verorteten – in eine fortschreibende Auseinandersetzung mit dem ihr zentralen Begriff der Migration. Postmigration sollte demnach eine politische Vision andeuten, in der Migration als konstitutives Faktum der Gesellschaft anerkannt wird. Somit umfasst das postmigrantische Theater seit Beginn mehr als ein kulturpolitisches Konzept zur Diversifizierung aller Ebenen des Theaters. Denn »man will kein politisches Vorzeigeprojekt sein, sondern ein künstlerisch begehrtes Theater« (Langhoff 2018: 308–309) und die radikale Neu-Erzählung der Geschichte der Migration von dem Bemühen begleiten, den Kanon der Zukunft zu gestalten. Angestrebt wird demnach 11 In den Jahren 2001 und 2002 arbeitete Langhoff selbst mit Kanak Attak in der Volksbühne Berlin zusammen. (Langhoff 2018: 304).
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die Sichtbarmachung der fatalen und zerstörerischen Begegnungen mit der deutschen Leitkultur und die Darstellung transformatorischer und zukunftsweisender Geschichte(n), Identitäten und Praktiken abseits von Binaritäten oder Grenzen mit den Mitteln des Theaters, wie wohl auch eines der Repertoirestücke des postmigrantischen Theaters zeigt. Denn als im Jahr 2011 das Stück Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje im Ballhaus Naunynstraße Premiere feiert, wird dieses als Materialisierung einer postmigrantischen Theaterpraxis behandelt und rezipiert. Verrücktes Blut erzählt von einer Lehrerin (gespielt von Sesede Terziyan), die versucht, einer Klasse disziplinloser, migrantischer Schüler*innen das Werk Friedrich Schillers und die Vorstellung eines aufklärerischen, humanistischen Theaters näherzubringen, im Laufe des Unterrichts aber an die Grenzen der eigenen Ideale gerät. Als in einer Auseinandersetzung um den Rucksack eines Schülers plötzlich eine Pistole zu Boden fällt, reißt die gefrustete Lehrerin die Waffe an sich und ergreift die Chance, die Schüler*innen durch die Androhung von Gewalt zum Aufsagen der Texte zu bewegen. Dabei entfesselt sich in der Situation der Geiselnahme eine auch sprachlich ungehaltene Auseinandersetzung um die mit Rassismen besetzten Vorstellungen über türkisch- und arabischsprachige Menschen; Rassismen, deren Wurzeln auch im selektiven Humanismus der europäischen Aufklärung liegen. Das Stück endet mit einer Offenbarung der Lehrerin, die gesteht, selbst türkische Wurzeln zu haben und mit dem Statement, dass Selbsthass wohl auch keine Lösung sei. Das im Kontext der ›Sarazzin-Debatte‹ entstandene Schauspiel entgegnet der öffentlichen Diskussion um den Integrationswillen von Muslimen mit einer komplexen Persiflage. Es handelt sich keineswegs um eine »›AmokKomödie‹ über den Aufprall der Kulturen« (DER SPIEGEL 2011, aus Bpb 2011), sondern vielmehr um die der Gesellschaft immanenten (Selbst-) Bildnisse und die Widersprüche und Ambivalenzen, die sie umgeben. Dabei geht Verrücktes Blut durchaus humorvoll und ironisch vor, kann aber letztlich als Genre-Kombination aus Komödie und Tragödie beschrieben werden, die dem Wandel der Charaktere nachvollzogen ist. Seit der Uraufführung von Verrücktes Blut ist viel passiert. Shermin Langhoff wechselte 2013 in die Intendanz des renommierten Maxim Gorki Theaters und ›das Postmigrantische‹ avancierte zu einem medienübergreifenden Label für translokale und transdisziplinäre Positionen zwischen und
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Das postmigrantische Theater
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in Wissenschaft, politischem Aktivismus und künstlerischer Praxis. Auch entfaltete sich das differenzierte, wenn auch nicht widerspruchslose, sozialanalytische Paradigma der ›postmigrantischen Gesellschaft‹.12 Dieser von der Sozial- und Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan ausformulierte Begriff geht nicht von einer überkommenen oder beendeten Migration aus, sondern macht »Migration zum Ausgangspunkt des Denkens«, von dem gleichzeitig aber auch »über den Migrationsmoment hinaus[geblickt]« werden soll (Foroutan 2018: 15). Eine Umkehrung des Blickes ist währenddessen in der theaterimmanenten Beschäftigung zu beobachten, wo die Inhalte und Stoffe hinsichtlich der postkolonialen Vorbedingungen und Kontinuitäten der Migration erweitert und herrschende Repräsentationen, Diskriminierungen und Ausschlüsse aus dezidiert queerer, jüdischer oder Schwarzer Perspektive dekonstruiert werden. Neben dem Stück The Trip (2015) des Theatermachers Anis Hamdoum, in dem es um die Flucht vor dem Krieg in Syrien geht, reiht sich nun auch eine Theaterarbeit wie die von Anta Helena Recke inszenierte »Schwarzkopie« des Stücks MITTELREICH (2017) in den postmigrantisch imaginierten Zukunftskanon ein. Beide Stücke werden bereits auf den angesehenen Bühnen deutscher Stadttheater gezeigt. Dass sich das ursprüngliche Anliegen eines strukturellen Wandels in der deutschen Theaterlandschaft jedoch nicht erübrigt hat, weiß die Theatermacherin Recke dennoch einzuschätzen, nach der es »nur ganz wenige Institutionen und Menschen in Machtpositionen [gibt], die wirklich Lust haben, sich fundamental zu hinterfragen, ein echtes Interesse daran, sich zu verändern«. Im Theaterbetrieb sehe das dann so aus, dass es in den Ensembles größerer Städte »heute immer jemanden mit einem türkischen Namen« gebe, »[a]ber wirklich braune Leute? Die gibt es eigentlich nicht. Außer am Gorki-Theater und Ballhaus Naunynstraße in Berlin natürlich. Aber das muss dann auch so heißen und als postmigrantisch gelabelt werden« 12 Als ein Kritiker des ›Postmigrantischen‹ soll hier der Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril erwähnt werden, der zwar die dem Begriff immanente Kritik befürwortet, dem Begriff selbst aber eine fragwürdige Absetzbewegung zum Migrantischen zuschreibt, in der sich »die Abfälligkeit der sich als nichtmigrantisch imaginierenden, symbolischen Mehrheit« wiederholt (Mecheril 2014: 111).
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(Der Freitag 2017). Denn die vielfältige Repräsentation auf der Bühne geht nicht notwendigerweise mit der Beseitigung struktureller Ungleichheiten hinter der Bühne einher. Viel öfter bleibt es bei einem ›Darstellen‹ von Diversität und dem Nischendasein derjenigen Räume, die sich aus marginalisierten Positionen zusammensetzen. Ähnlich verhält es sich mit dem Label ›postmigrantisches Theater‹, das gegenwärtig den Status einer, wenn auch prominenten und institutionalisierten, Nische innehat. Doch das postmigrantische Theater arbeitet hartnäckig daran, sich nicht nur als Nische aufzulösen, sondern auch als Begriff überflüssig zu werden (Terziyan 2019: 8 und 16). Dabei steht es in der Tradition eines disziplinund praxisübergreifenden Wirkens in den deutschen Theatern sowie über die gesamtgesellschaftlich herrschenden Differenz- und Identitätslogiken hinaus. In diesem Sinne stellt sich der 4. Berliner Herbstsalon DEHEIMATIZE IT! (2019) am Berliner Maxim Gorki Theater die Frage, wie andere Zugehörigkeiten abseits der Nation denkbar werden können, und begibt sich in eine von Künstler*innen, Kurator*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen begleitete Suchbewegung nach den solidarischen Praktiken unserer Zeit. Mit einer ähnlichen Setzung schließt sich der dezentrale Kongress Tage der Jüdisch Muslimischen Leitkultur (2020) an, der nach der Rolle künstlerischer Praxen in der Etablierung eines postmigrantischen Antifaschismus fragt und dafür die migrantischen, Schwarzen und jüdischen Perspektiven auf die Zeit vor und nach dem Mauerfall befragt. So zeigt sich letztlich, wozu die identitären, ästhetischen und diskursiven Grenzüberschreitungen als Teil des postmigrantischen Theaters dienen: um neue Netzwerke, Gemeinschaften und Formen entgegen nationalkultureller Ausschlüsse zu ermöglichen.
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Das postmigrantische Theater
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Kunst der Postmigration
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Burcu Dogramaci
Kunst der Postmigration. Widerständige Geschichte(n) im Werk von Cana Bilir-Meier
Unerzähltes, Ungehörtes, Unerhörtes, Unbequemes1 Cana Bilir-Meier verleiht unsichtbaren Geschichten, Bildern und Menschen mit künstlerischen Mitteln Präsenz, die in Schulbüchern, Lehrbüchern, Museen kaum vorkommen, für die es keine oder nur wenige Erinnerungsorte gibt. Sie gibt Stimmen und schriftlichen Reflexionen Raum, sie erinnert an Alltagshandeln wie auch an gewaltvolle Ereignisse, ohne mediale Berichterstattungen zu verstärken. Vielmehr setzt ihre Kritik bei der vereinfachenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Migration an, die allzu lange aus Perspektive einer vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft formuliert wurde. Migrantisches Wissen, plurale Perspektiven und Überlieferungen bilden die Basis für ihre Videos, Installationen und Zeichnungen. Besonders wichtig ist die Entgrenzung zwischen dem künstlerischen Subjekt und dem Objekt, über das gearbeitet wird. Damit tangiert sie einen neuralgischen Punkt der Forschung zu Migration. Denn mit der Forschungs- und künstlerischen Perspektive auf Migrant*innen und ihr Handeln können diese zu passiven Gegenständen werden, bleiben das Andere einer Gesellschaft, sind nicht autochthon oder deutsch, sondern migrantisch. Indem Cana Bilir-Meier ihr eigenes Wissen einspeist, familiäre Themen zum Ausgangspunkt macht, Verwandte und Freunde als Erinnerungsreferenzen oder Akteur*innen einbezieht, verwischt sie die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Ihre Arbeit bleibt dennoch keinem biografi1
Dieser Beitrag bildet die Fortführung und Aktualisierung einer Auseinandersetzung mit Cana Bilir-Meiers Arbeiten, die für den 2020 publizierten Katalog Cana Bilir-Meier. Düşler Ülkesi (Kunstverein in Hamburg) entstanden ist. Ich danke Cana Bilir-Meier herzlich für ihre beständige Auskunftsbereitschaft und Zugewandtheit.
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schen Erzählen verhaftet, sondern formuliert gesellschaftspolitische Fragen, wie sie auch die Bedingungen und Ästhetiken künstlerischer Produktionen im Zeichen einer postmigrantischen Gesellschaft thematisiert. Und obwohl Rassismus- und Gewalterfahrung einen steten Grundton in ihren Werken geben, argumentiert die Künstlerin nie defensiv, sondern gibt ihren Akteur*innen Haltung und Handlungsmacht. Cana Bilir-Meiers Kunstpraxis dient in diesem Beitrag als Ausgangspunkt, um den Konnex Kunst und Postmigration zu konturieren und zu diskutieren. Die Soziologin Naika Foroutan (2018: 15) bezeichnet das Postmigrantische als Analyseperspektive, die den Akt der Migration neu verhandelt und sich mit gesellschaftlichen Konflikten, Narrativen, Identitätspolitiken, sozialen und politischen Veränderungsprozessen auseinandersetzt. Ähnlich wie Postkolonialismus sei Postmigration auch gegen Ungleichheit, asymmetrische Machtverhältnisse und Rassismus gerichtet. Doch wie verortet sich Kunst innerhalb dieser postmigrantischen »epistemologischen Wende«? (Yildiz und Hill 2018: 7). In einem Essay beschreibt der Kurator Tobias Peper eindrücklich, wie sich sein Selbstverständnis innerhalb der Institution Kunst – ihren Räumen, Produzent*innen, Publikum, Diskursen – in Auseinandersetzung mit Cana Bilir-Meiers Kunstpraxis veränderte. Im Jahr 2019 organisierte er eine Einzelausstellung der Künstlerin am Kunstverein in Hamburg und erkundete gemeinsam mit ihr und auf ihren ausdrücklichen Wunsch die Stadt, ihre Geschichte(n), Initiativen, Bewohner*innen, geleitet von einem besonderen Interesse an ausgeblendeten oder ungehörten Geschichten rassistischer Übergriffe. Aus diesen Erkundungen entstand ein Beiprogramm, das nicht nur im Kunstverein stattfand, der zentral in der Hamburger Innenstadt gelegen ist; sondern es wurden Stadtspaziergänge (auch zu Schauplätzen rassistischer Gewalt) organisiert, ebenso fanden dezentral Aktivitäten in Stadtteilarchiven und -zentren statt. Das Ergebnis dieser Öffnung hin zu anderen Stadtteilen und einem Publikum, das nicht zu den regelmäßigen Besucher*innen des Kunstvereins zählt, führte den Kurator zu folgender Beobachtung: Zeigte zu Eröffnung und Veranstaltungen ein »größtenteils nie dagewesenes Publikum« Präsenz, das sich aus diversen Stadt-Communitys speiste, »war der Anteil des Stammpublikums des Kunstvereins an den Veranstaltungen so gut wie nicht vorhanden« (Peper 2020: 67). Dies führte Peper zu einem Nachdenken über Inklusion und
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Exklusion, Grenzen der Akzeptanz und Wahrnehmungsbereitschaft im Kunstbetrieb. Zudem kam Peper auch zur Einsicht einer notwendigen kritischen Selbstbefragung von Kunst- und Kulturinstitutionen in Deutschland: Wie divers sind diese tatsächlich mit Blick auf Programm, Künstler*innen, Mitarbeiter*innen und Publikum? Und wie können die bürgerlichen Institutionen Museum oder Kunstverein ihre identitätsstiftende Aufgabe in einer durch Migration konstituierten Gesellschaft erfüllen?2 Diese Überlegungen zeigen, dass Cana Bilir-Meiers Arbeiten und ihre künstlerische Praxis gesellschafts- und kunstpolitische Fragen gleichermaßen adressieren und in einem postmigrantischen Kontext zu positionieren sind.
Kunst (in) der postmigrantischen Gesellschaft: Cana Bilir-Meier im Kontext Postmigration ist ein Konzept, das von einer durch Migration konstituierten Gesellschaft ausgeht und Migrant*innen ihre Stimmen (zurück)gibt, damit Migrationsgeschichte aus der Perspektive der Akteur*innen geschrieben, aber auch asymmetrische Machtverhältnisse, Rassismus und Rassifizierung benannt werden können (Foroutan 2019; Römhild 2015; Yildiz 2015). Zugleich tritt der Begriff für eine inklusive Gesellschaft ein, in der binäre Antagonismen wie ›Migrant‹ oder ›Nicht-Migrant‹ überwunden werden (Gaugele 2019: 397–399). Dies meint etwa auch, dass Schauspielerinnen mit familiärer Migrationserfahrung nicht analog ihrer Physiognomie oder Herkunft besetzt werden, sondern, dass sie alles spielen können. Wenngleich die Begriffsbildung ›Postmigration‹ oder ›postmigrantisch‹ in die 2000er2
Cana Bilir-Meier war selbst Teil einer Debatte, in der es um institutionellen Ausschluss und Rassismus ging: Bei einem Künstlergespräch mit dem ehemaligen Museumsdirektor Kaspar König in den Münchner Kammerspielen (2018) wurde sie von König mit Äußerungen gegen migrantische Menschen konfrontiert, woraufhin ihr die künstlerische Leistung abgesprochen wurde. Die Künstlerin wehrte sich u.a. mit der Beteiligung an dem Protestbrief We are sick of it. Siehe dazu: Cana Bilir-Meier und Behrang Samsami 2019; Lorch 2018. Videoaufzeichnung des Gesprächs in den Kammerspielen auf https://vimeo.com/300969522 (25.10.2021). Zur Reaktion der Künstlerin auf ihrem Facebook-Account siehe https://www.facebook.com/canasophie/ posts/10155907149997717 (25.10.2021).
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Jahre zurückweist und eng mit den Aktivitäten der Theaterintendantin Shermin Langhoff verbunden ist, lassen sich bereits in den 1990er-Jahren künstlerische und kuratorische Ansätze als postmigrantisch avant la lettre identifizieren: Die Aktionen des künstlerisch-politischen Bündnisses Kanak Attak seit den 1990er-Jahren markierten einen Perspektivwechsel, indem widerständige Positionen sichtbar gemacht, Migrant*innen Handlungsmacht zugestanden und die Individualisierung von Migrationserfahrung betont wurde. Kanak Attak publizierte programmatische Texte, stellte sich gegen Rassismus und Verdrängung und zog unerzählte Migrationsgeschichte und -gegenwart ins Rampenlicht – etwa in der Kanak History Revue in der Berliner Volksbühne 2001 (Heidenreich 2013; Dogramaci 2017).3Migrationsgeschichte wurde etwa als Historie widerständigen Agierens erzählt und damit alternative Narrative jenseits von dichotomischen Opfer- und Täterperspektiven formuliert, die bis heute das öffentliche Sprechen über Migration bestimmen. Einerseits werden Migrant*innen in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Medien- und Politsprache als Verlierer der Gesellschaft mit geringer Bildung und mangelnden Aufstiegschancen bezeichnet. Andererseits sind sie auch die sozialen Problemgruppen, das heißt potenziell gewaltbereit, machistisch, islamistisch, radikal und übergriffig (Möller 2010: 18).4 In den 2000er-Jahren thematisierten Ausstellungen wie Projekt Migration im Kölnischen Kunstverein (2005) oder Crossing Munich in München (2009) die Pluralität und Diversität migrantischer Erfahrungen, verwoben Oral History, private Fotografien und künstlerische Projekte von/zu Migrant*innen, um eine »Perspektive der Migration« (Hess 2013: 118) einzunehmen und zu vermitteln.5 Innerhalb möglicher Beiträge zu einer postmigrantischen Kunst(geschichte) haben Cana Bilir-Meiers Arbeiten eine gewichtige Stimme. Die 3 4
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Zum Selbstverständnis von Kanak Attak siehe taz (1999: 12). Siehe dazu beispielhaft nicht nur Titelgeschichten der Zeitschrift Der Spiegel aus den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart (u.a. Der Spiegel 16/1997 mit dem Titelthema Gefährlich fremd. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft), nicht nur Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab (2010), sondern auch die stereotypen Auftritte von Schauspielern nichtdeutscher Herkunft im deutschen Fernsehen und Kino bis in die jüngere Gegenwart. Zu den genannten Ausstellungen siehe Projekt Migration. Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2005.
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materiellen Quellen für ihre künstlerische Praxis sind oft Archive, private Nachlässe, Ego-Dokumente oder Oral History, das heißt das Gespräch mit Zeitzeug*innen oder aber die Nutzung von Ton- und Filmdokumenten (siehe Bilir-Meier und Samsami 2019). In ihren Video- und Audioarbeiten bringt sie das Material in eine neue Ordnung und in einen Dialog. Mit Werken wie Semra Ertan oder Foundation Stone zieht sie Akteur*innen der bundesdeutschen (Kunst-)Geschichte und Protagonist*innen der Einwanderung nach Deutschland aus dem Dunkel der Vergangenheit in die Gegenwart. In die Räume der Kunst bringt sie Geschichten, die bisweilen nur einer spezifischen Community bekannt sind. Cana Bilir-Meiers Arbeiten fügen dem Zeitstrahl der deutschen Geschichte Daten hinzu, die nicht oder nur wenig im öffentlichen Bewusstsein stehen: Auf den 6. Oktober 1967 datiert die geplante Grundsteinlegung für die erste bayerische Moschee in München-Freimann und markiert den Bau eines Werks zweier türkischstämmiger Baukünstler*innen der deutschen Nachkriegsmoderne; am 22. Juli 2016 wurden neun Jugendliche migrantischer Herkunft von einem rechtsradikalen Täter erschossen; am 24. Mai 1982 verbrannte sich eine Frau, um ein Zeichen gegen Ausländerhass zu setzen. Diese drei Ereignisse sind nicht miteinander vergleichbar, sie thematisieren Selbstverbrennung und Rassismus, erinnern den Anteil migrantischer Künstler*innen und Architekt*innen an der deutschen Architekturgeschichte, sie verhandeln das Leben von Jugendlichen in Deutschland vor der Folie eines extremistischen Attentates. In ihren künstlerischen Forschungen und den daraus resultierenden Arbeiten destilliert Cana Bilir-Meier aus dem Kollektiven das Individuelle und lässt zugleich in den konkreten Einzelerzählungen Geschichte in Erscheinung treten (Güleç und Bilir-Meier 2018: 34).6 Zugleich wird in ihren Arbeit offensiv artikuliert, was jede künstlerische Arbeit und jede Geschichtserzählung prägt: die 6
Dazu auch Ayşe Güleç und Cana Bilir-Meier in einem Gespräch in der Zeitschrift Camera Austria, in dem es heißt: »Es geht natürlich um das Persönliche, ich möchte aber keine einzelnen Geschichten erzählen, sondern mich interessiert, wie eine kollektive Geschichte erzählt werden kann, die dennoch persönlich und intim ist« (Bilir-Meier) oder »Am Beispiel von konkreten Geschichten und Geschehnissen ist es möglich, kollektiv erlebte Erfahrungen als Geschichte zu erzählen – auch weil diese Entscheidung es ermöglicht, ein Gegennarrativ zu entwickeln« (Güleç und Bilir-Meier 2018: 34).
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Perspektive ihrer Urheber*innen, denn der Blick auf Zeiten und Ereignisse ist nie neutral, sondern eine Perspektive aus dem lebendigem Auge. BilirMeiers Multimedia-Arbeiten sind allerdings weniger dem Gedenken oder der Wiedergutmachung gewidmet als vielmehr aktivierende und subjektive Auseinandersetzungen. Ihre Thematisierung von rassistischer Gewalt und ihren Folgen belässt das Individuum nie im Opfer-Status. Bilir-Meiers Projekte zu Migration, Migrant*innen und ihren Geschichten sind von einem politischen Verständnis geprägt. Über ihre Arbeit zur Freimann-Moschee in München und ihren vergessenen Architekt*innen schreibt die Künstlerin: »In einer ›Gesellschaft der Vielen‹ (Tribunal NSU-Komplex auflösen) brauchen wir auch die Geschichte[n] der Vielen. Die Moschee ist ein historisch aufgeladener Ort, an dem sich Geschichten über politische Instrumentalisierung von Religion, das Bedürfnis nach einem spirituellen Raum und dessen architektonische Gestaltung bis heute überlagern. Das Projekt ›Grundstein‹ ist eine Recherchearbeit, die unterschiedliche Erzählstränge aufnimmt und das migrantisch situierte Wissen, die migrantischen Geschichten, Positionen und Perspektiven sichtbar machen will« (Bilir-Meier 2018).
Selbst in gemeinschaftlich geschriebenen Texten wie Wikipedia bleibt es allzu oft bei eindimensionalen Zugängen. In dem Online-Lexikon hat Semra Ertan einen eigenen kurzen Eintrag, ist aber auch Bestandteil des Lemmas ›Selbstverbrennung‹, wo sie unter Fällen in Deutschland aufgeführt ist.7 Ihr Name findet sich in dem Artikel in Nachbarschaft zu anderen – auch politisch motivierten – Freitoden. Ihr komplexes Leben, ihre schriftstellerische Arbeit und ihre Fremdheitserfahrungen bleiben hinter dem kurzen Eintrag unsichtbar. Cana Bilir-Meiers Werke haben nicht den Anspruch auf lexikalische Sachlichkeit. Sie verweigern eine Vogelschau auf ein Leben, Werk, Bauwerk oder Ereignis, der Blick bleibt fragmentiert, prismatisch und ist subjektiv geprägt. Damit bekennt sich Bilir-Meier zu einer Unüberschaubarkeit, zu einem Gehen auf unsicherem Grund, einem zersplitterten Sprechen und Denken. 7 https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstverbrennung#Fälle_in_Deutschland (25.10.2021); https://de.wikipedia.org/wiki/Semra_Ertan (26.10.2020).
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Kunst- und Architekturgeschichte: Über Leerstellen Die Grundsteinlegung der Freimann-Moschee in München fand am 6. Oktober 1967 statt, doch nicht der Grundstein, sondern ein symbolischer Marmorstein wurde verlegt. Etwa 50 Jahre danach brachte Cana Bilir-Meier den Grundstein in einem performativen Akt innerhalb des Festivals Public Art Munich am 26. Mai 2018 in die Moschee zurück
Cana Bilir-Meier, Foundation Stone, 2017, Multimedia-Installation, Fotografie Grundstein (© Cana Bilir-Meier).
Zurück ging die späte Grundsteinlegung auf die künstlerische Recherche Bilir-Meiers nach den Hintergründen und Kontexten des Bauvorhabens, vor allem aber auch nach den Urheber*innen selbst, dem Architekten Osman Edip Gürel und der Innenarchitektin Necla Gürel, die bislang kaum in der deutschen oder in der lokalen Baugeschichte vorkommen. Cana Bilir-Meiers Foundation Stone ist eine Rekonstruktionsarbeit, die Wunden und die Nahtstellen zwischen Gegenwart und Vergangenheit sichtbar, Fragen und Leerstellen bestehen lässt. Ihr künstlerisches Forschungsprojekt ist keine Zeitreise in die 1960er-Jahre, sondern folgt den Spuren aus der Gegenwart heraus. Zugleich aber bietet ihre Arbeit einen wichtigen Ansatz, um Modelle der Historiografie zu hinterfragen. Geschichtsschreibung tritt nicht als ›objektive‹ Wahrheit in Erscheinung, vielmehr ist Erinnerung und das öffentliche Gedächtnis einem Selektionsprozess unterworfen. Auch neue Forschungsinteressen und -erkenntnisse modellieren die Wahrnehmung
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auf einen Gegenstand. So thematisierten gleich zwei Publikationen im Jahr 2011 die Freimann-Moschee im Fadenkreuz politischer Interessen und im Kontext der Instrumentalisierung des politischen Islam; das Architektenpaar selbst fand nur marginal Erwähnung (vgl. Johnson 2011; Meining 2011). Überhaupt ist es erstaunlich, dass Osman Edip Gürel (1925–1984) und Necla Gürel (1926–2007) als bedeutende Architekt*innen der Münchner Nachkriegsjahrzehnte kaum bekannt geworden und sogar in Vergessenheit geraten sind. Seit 1955 hielt sich das Paar in München auf. Gürel verantwortete unter anderem den Umbau des gehobenen türkischen Restaurants »Istanbul« am Oskar-von-Miller-Ring in München. Besonders in Schwabing, wo er ein eigenes Architekturbüro führte, war Gürel für die Planung von Gebäuden wie der Rudolf-Steiner-Schule und des Theaters Leo 17 in der Leopoldstraße verantwortlich. Zudem entwarf er das Gebäude des türkischen Generalkonsulates und erhielt 1966 den Auftrag für die Moschee in München-Freimann (Bilir-Meier 2018). Diese wurde als moderner Stahlbetonbau mit zeltartiger Kuppel und großen Fensterelementen verwirklicht. Die Innengestaltung sollte durch Necla Gürel verwirklicht werden, die an der Akademie der Bildenden Künste in München Bildhauerei studiert hatte. Doch wurden ihre Planungen in der 1972 eröffneten Moschee aus finanziellen Gründen nicht ausgeführt (ebd.). Für ihre Recherchen arbeitete Cana Bilir-Meier eng mit den Töchtern des Architektenpaares zusammen, die ihre eigenen Perspektiven auf das Leben und Wirken der Eltern vermittelten. Diese familialen Erinnerungen geben einen wichtigen Rahmen für Foundation Stone. In einer Broschüre, einer Audio-Installation (2018) und einem Film (2019) bilden die Geschichten der Töchter Hürdem und Zerender Gürel einen Zugang zur Moschee. So erzählen die beiden von ihren Eltern, ihrer eigenen Kindheit und Jugend, Prozessen der Ablösung und dem Leben mit/in zwei Sprachen, Kulturen und Lebenswelten. Sie berichten, wie sich die Eltern in das München der 1950erund 1960er-Jahre einlebten und später aus wirtschaftlichen Gründen oder Heimweh in die Türkei zurückgingen. Bilir-Meiers Audioinstallation verknüpfte die Stimmen der Töchter auf Zeit mit dem Gebäude, das wiederum Ergebnis und Ausdruck der Bautätigkeit ihrer Eltern ist. In das Projekt einbezogen ist auch die Mutter Cana Bilir-Meiers, die Münchner Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Zühal Bilir-
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Meier. Sie ergänzt die Erzählungen der Architektentöchter um die Perspektive einer Expertin, die Ratschläge für die Erziehung heranwachsender Jugendlicher in migrantischen Communitys artikuliert. Offensiv führt Cana Bilir-Meier die Rekonstruktionsarbeit als subjektbezogenen künstlerischen Akt in ihre Arbeit mit ein; im Film vermittelt sich die Sichtweise der Künstlerin auf das Vorhaben, indem ihr Schattenriss beim Filmen auf der Außenhaut des Gebäudes erscheint. Sie filmt sich beim Gang über das Gelände der Moschee oder beim Anfertigen ihrer Frottagen: an die Architektur wird ein Blatt Papier gelegt und diese mit Kreide auf das Papier durchgerieben. Dadurch eignet sich Cana Bilir-Meier den Bau künstlerisch an; die körperliche Arbeit des Abzeichnens bringt zugleich die Architektur und die künstlerische Geste zusammen. In ihrem Projekt Foundation Stone ist Bilir-Meier Urheberin des Films als auch Akteurin im Dialog mit der Architektur, den Zeitzeuginnen und Nachkommen, den Archiv- und Pressematerialien. Mit der Einzelerzählung zur Freimann-Moschee praktiziert die Künstlerin eine Geschichtsschreibung der Singularitäten im Sinne des Philosophen Jacques Rancière: »Die Geschichte existiert nicht als ein an der zeitlichen Entwicklung orientierter Ablauf, sie existiert quer über die singulären Formen von Historizität: singuläre Weisen, von denen die Aufteilungen des Sichtbaren und des Sagbaren, die Verteilungen der Modi sinnlicher Erfahrung, die Beziehungen zwischen dem Leben und seinen Formen der Symbolisierung verschoben werden. Es kann für mich nur eine Geschichte der Singularitäten geben« (Rancière 2008: 68–69) .
Rancière lässt die Vielheit der Singularitäten zu oder macht sie sogar zur Bedingung einer komplexen Geschichtsschreibung. Gegen die Verengung auf eine Singularität richtet sich auch die Künstlerin und Kunstarbeiterin belit sağ im Gespräch mit Cana Bilir-Meier, wenn sie betont: »Das heißt, nicht zulassen, dass eine Erzählung singulär wird, auch nicht, um sie durch eine andere Erzählung zu ersetzen, sondern um die Dinge zu verkomplizieren, weil diese Erzählungen, diese Leben immer vielschichtig sind« (sağ 2020: 143). Aus der Addition der Einzelgeschichten kann somit eine vielstimmige Historie entstehen, die mehr ist als eine einzige mögliche Erzählung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Cana Bilir-Meiers Arbeit das komplizierte Verhältnis von Geschichte und Geschichtsschreibung thematisiert, welche allzu oft auf wenige Perspektiven verengt sind.
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Ein Anschlag: Gewalt, Erinnern und Vergessen Der rassistische Anschlag eines 18-Jährigen am Olympia Einkaufszentrum in München wurde von den Ermittlern als Amoklauf eingeordnet. Der Täter erschoss im Juli 2016 neun Jugendliche, verletzte fünf weitere und tötete sich dann selbst. Die Erschossenen stammten aus Familien mit Migrationserfahrung, die meisten waren Jugendliche. Es starben Armela Segashi, Can Leyla, Choussein Daitzik, Dijamant »Dimo« Zabërgja, Guiliano-Josef Kollmann, Janos Roberto Rafael, Sabina Sulaj, Selçuk Kılıç und Sevda Dağ. Obgleich die rechtsextreme Gesinnung des Täters rasch bekannt wurde, bezeichneten die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt die Tat als Amoklauf und gaben vor allem Mobbing und eine psychische Erkrankung als Ursachen an (Wehner 2016). Im Abschlussbericht heißt es am 17. März 2017: »Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er bei dem Amoklauf die einzelnen Opfer gezielt ausgewählt hat. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war« (Landeskriminalamt 2017).8 Es fällt jedoch auf, dass die Opfer sehr wohl nach physischen Merkmalen ausgesucht wurden, da allesamt eine südosteuropäische Herkunft aufwiesen. Im März 2018 jedoch stufte das Bundesamt für Justiz das Geschehen als extremistische Tat ein.9 Über den Täter, seine iranische Herkunft, seinen Hass und seine Sozialisierung in rechten Foren erfuhr die Öffentlichkeit mehr Details als über die neun Ermordeten. In Cana Bilir-Meiers Super 8-Film This Makes Me Want to Predict the Past (2019) ist der Anschlag ein Ausgangspunkt, um sich den Lebenswelten, Träumen, Ängsten und Wünschen migrantischer Jugendlicher zu nähern. Diese Perspektive zeigt zurück auf die ermordeten jungen Menschen, die am 22. Juli 2016 ums Leben kamen. Doch ist der Film der Gegenwart und Zukunft von Jugendlichen gewidmet, deren Eltern oder Großeltern aus einem anderen Land nach München kamen. Bilir-Meier begleitete Jugendliche mit der Kamera auf ihren Wegen durch das Olympia8 9
Siehe auch https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/armela-sehashi/, wo die Namen der Opfer aufgeführt sind ( 30.10.2020). https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/olympia-einkaufszentrum-muenchener-amoklauf-extremismus-einstufung-bundesbehoerde. (30.10.2020).
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Einkaufszentrum, widmete sich ihren Wünschen und Hoffnungen, ihren Alpträumen und Ängsten.
Cana Bilir-Meier: This Makes Me Want to Predict the Past, 2019, Super-8-Film, 17 min. (© Cana Bilir-Meier).
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Dabei entwickelt This Makes Me Want to Predict the Past einen komplexen Dialog zwischen verschiedenen Zeitebenen und Ereignissen: Der Titel des Films basiert auf Kommentaren, die YouTube-User*innen unter das Musikvideo Redbone des afroamerikanischen Musikers Childish Gambino (Donald Glover) stellten und in denen sie zukünftige Handlungen, Wünsche und Sehnsüchte formulierten wie »This makes me want to arrest the police«, »This makes me want to tell my boss to ›get a job‹« oder eben »This makes me want to predict the past«. Zudem stellen die beiden jungen Frauen Sosuna Yıldız und Aleyna Osmanoğlu, die Cana Bilir-Meier durch das Einkaufszentrum begleitet, Szenenfotos des Münchner Kinder- und Jugendtheaterstücks Düşler Ülkesi (Land der Träume) von 1982 nach, das wiederum Alltagsepisoden von Arbeitsmigrant*innen re-inszenierte. Zur Premiere erhielt die Theatergruppe eine Bombendrohung. Cana Bilir-Meier hat einen direkten Bezug zu dem Theaterstück Düşler Ülkesi, weil ihre Mutter Zühal Bilir-Meier als Sozialpädagogin und Regieassistenz mitgearbeitet und ihre Diplomarbeit über diese Inszenierung verfasst hatte.10 This Makes Me Want to Predict the Past basiert also auf diversen historischen und zeitgenössischen Kontexten und adressiert grundlegende Fragen: Wenn sich Rassismus durch Hass auf Kollektive oder Gruppen nährt, wie lässt sich diesen die Stimme, das Gesicht, die individuelle Identität im öffentlichen Sprechen zurückgeben? Wie werden aus ›den‹ Migrant*innen, Muslim*innen, Geflüchteten und Opfern des Anschlags Individuen mit Namen, subjektive Erinnerungen und Träume? Am Ort selbst arbeitete Cana Bilir-Meier mit der künstlerischen Methode der Frottage: Das Olympia Einkaufszentrum wurde von ihr durch das Auflegen von Papier und mit Kreide abgerieben, erfasst, angeeignet. Diese Methode, die bereits in dem Projekt zur Freimann-Moschee zum Tragen kam, ist Teil einer künstlerisch »dichte[n] Beschreibung« (Clifford Geertz 1983), bei der die Forschenden sich selbst und ihre Methoden in die Interpretation aufnehmen. Die Frottagen sind Abdrücke der Architektur und eines traumatischen Schauplatzes, der wie ein Vexierbild erscheint: zugleich ein Tatort und ein Ort, an dem sich junge Migrant*innen gern
10 Siehe dazuhttps://www.kunstverein.de/download/CBM_BOOKLET_FI NAL.pdf. (27.10.2020).
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und häufig aufhalten (und deshalb im Umkehrschluss vermutlich auch das Ziel des Attentäters waren).
Ein Menschenleben: Poesie und Selbsttötung Im Schaufenster des St. Pauli-Stadtarchivs finden sich Bücher, Fotografien und Dokumente, die auf das Leben und Wirken der Lyrikerin Semra Ertan verweisen.
Schaufenster des St. Pauli Archivs mit Ausstellung zu Semra Ertan, 2019 (© Cana Bilir-Meier).
Die Schaufensterausstellung macht einen Kontext für die Lyrik Semra Ertans auf, die sich am frühen Morgen des 24. Mai 1982 in Hamburg St.-Pauli selbst verbrannte. Der Freitod der Dichterin, Dolmetscherin und Bauzeichnerin Semra Ertan in Hamburg, einer Alevitin arabischer Herkunft aus der Türkei, legt sich über ein komplexes Leben. Das Ende ist aber auch ein Beginn, ein Ausgangspunkt der Recherche, um die losen Enden eines Lebens und Nachlebens aufzunehmen und zu verknüpfen. In einem Schrank ihrer Großeltern, Vehbiye Bilir und Gani Bilir, fand Cana Bilir-Meier Notizen zur Familiengeschichte und Tonaufnahmen von Familienmitgliedern. Darunter war auch eine Kassette mit einem Interview, das ihre Großeltern nach dem Tod ihrer Tochter Semra Ertan gegeben hatten. Dieser familiäre Zugang war der Beginn einer Spurensuche, die Ertan
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als private und als öffentliche Figur der Zeitgeschichte identifiziert. Und darüber hinaus ihr umfangreiches und zugleich weitgehend unbekanntes poetisches Werk ins Verhältnis setzt zur Person.
Cana Bilir-Meier: Semra Ertan, 2013, HD-Video. 7:30 min. (© Cana Bilir-Meier).
Ertan ist nicht auf die Figur der Märtyrerin oder des Opfers festgeschrieben: ihre Selbstverbrennung am frühen Morgen des 24. Mai 198211 in Hamburg auf offener Straße kann als Ausdruck eines widerständigen 11 Neue Recherchen bei der Vorbereitung der Ausstellung Cana Bilir-Meier. Düşler Ülkesi im Kunstverein in Hamburg ergaben, dass die Selbstverbrennung Semra Ertans nicht, wie bisher angenommen, am 26.5.1982 geschah, sondern zwei Tage früher.
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Handelns gegen Ausländerhass gedeutet werden. Die Tat kündigte Semra Ertan in einem Anruf beim Norddeutschen Rundfunk an und las dort ihr Gedicht Mein Name ist Ausländer vor (vgl. Bilir-Meier 2017: 11). 1982, im Jahr von Ertans Suizid, publizierte Rolf Meinhardt seine Dokumentation Ausländerfeindlichkeit, in dem er für 1981 »sprunghaft angestiegenen Ressentiments gegenüber Ausländern« (Meinhardt 1982: 1) diagnostizierte. Meinhardts Buch ist eine Sammlung von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, in denen Ressentiments, Hetze, Gewalt, aber auch Alltagsrassismus überdeutlich werden. Die Textsammlung versammelt Publiziertes von Mitte 1981 bis April 1982, um aufzuzeigen, wie sich in kürzester Zeit der Ton verschärfte. Sein Vorwort beginnt Meinhardt mit dem Satz: »Sie schreien ›Feuer!‹ und gießen, zunehmend unverhohlener, Benzin in die Flammen. In der Zeit ökonomischen Niedergangs und eines drohenden ökologischen und militärischen Kollaps (sic!) haben Demagogen Hochkonjunktur« (ebd.). Nur zwei Monate, nachdem Meinhardt sein Vorwort verfasste, übergoss sich Semra Ertan mit Benzin, zündete sich an und verbrannte. Die Parallelen zwischen dem Ereignis der Selbstverbrennung und der Dokumentation Meinhardts zum Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1981 und 1982 sind evident. Dennoch ist Ertan in der Perspektive Cana Bilir-Meiers eben nicht nur ein Opfer und auch keine typische Protagonistin der Gastarbeitermigration der 1970er-Jahre. Sie ist vielmehr ein Individuum mit einer eigenen Agenda, einem Leben, zu dem die Poesie genauso dazugehörte wie der Widerstand gegen Rassismus und Ausgrenzung. Bilir-Meiers Film Semra Ertan (2013) beginnt mit den Worten der Schriftstellerin: Das Wort ›Unheimlich‹ in der Handschrift Ertans markiert den Anfang des Films und stammt aus einem ihrer Gedichte, in dem es heißt: »Wenn sie sagt/Sie sei unheimlich/Glücklich/Heißt es/Dass sie heimlich/Unglücklich ist/Weil sie/Kein Heim hat.« Ertan verknüpft das Heim und damit auch latent die Heimat mit Glück und Unglück. Aus dem »etwas ist unheimlich« wird »sie sei unheimlich«, was ein Nicht-heimisch-Werden evoziert. Die Person, von der Ertan in der dritten Person spricht, findet keinen vertrauten Raum. Worte und Handschriften verweisen auf die unverwechselbare Identität der Autorin, und der Film gibt damit der Urheberin der Worte in ihrer eigenen Schrift einen Raum. Damit wird das Sprechen über eine Person
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Cana Bilir-Meier: Semra Ertan, 2013, HD-Video. 7:30 min. (© Cana Bilir-Meier).
zum Sprechen der Person. Cana Bilir-Meier verleiht ihrer Protagonistin damit eine Handlungsmacht über ihre Rezeption. Sie spricht, und nicht der Film spricht über sie. Die Annäherung Cana Bilir-Meiers an ihre Tante wird betont, wenn sie im Film aus einem Liebesgedicht ihrer Tante liest. Mit ihrer Stimme wird das Œuvre der Schriftstellerin erneut vergegenwärtigt, wobei der Blick der Kamera über das Notizbuch Ertans streift. Wir lesen die türkischen Sätze, während die Stimme der Künstlerin das Gedicht auf Deutsch spricht. Unweigerlich wird die bilinguale und transkulturelle Eigenart eines Schaffens deutlich, formuliert sich das Mäandern und Wandern zwischen Sprachen und Erinnerungen. Die Gleichzeitigkeit von Verschiedenem existiert auch im Familienarchiv zu Ertan selbst, in dem Cana Bilir-Meier neben Zeitungsartikeln, Gedichten, Notizen, Briefen auch eine Heiratsurkunde, ein Attest oder Deutschübungen fand (vgl. Bilir-Meier 2015: 11). Im Archiv bildet sich die Vielschichtigkeit der Persönlichkeit ab, die nicht nur Schriftstellerin, nicht nur Migrantin, nicht nur Deutschlernende war. Diese pluralen Zugänge werden im öffentlichen Sprechen über Migrierende, Geflüchtete, Fremde viel zu häufig auf eine enge Spur gebracht, damit prototypisch oder stereotyp über das Andere oder die Anderen geschrieben, gesprochen und geurteilt werden kann. Wie das funktioniert, zeigt sich in der Berichterstattung zu Semra Ertan. In Semra Ertan werden kurze Szenen aus einer Fernsehsendung des WDR montiert, die Betroffenheit über den »Tod einer Türkin« formuliert, aber
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ihren Namen ungenannt lässt (ebd.: 12–13). Indem Bilir-Meier die Sendung in ihren Film schneidet, stellt sie dem Wort der Schriftstellerin die oberflächliche Rezeption gegenüber. Sie gibt derjenigen, über die berichtet wird, das erste Wort. Bei ihren Recherchen konnte die Künstlerin eruieren, dass 1982 ein Musikstück für Semra Ertan komponiert worden war. Dieses Oktett von Enjott Schneider ist ebenfalls im Film zu hören. Somit wird Semra Ertan zu einer Collage von Materialien aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Autor*innen, mit polyphonen Stimmen, in der aber diejenige der Dichterin stets hörbar bleibt und nicht von anderen Stimmen überlagert wird. Wichtig ist dabei, dass der Film nie die Perspektive der Künstlerin verschleiert, sondern sich stets als Rekonstruktion und Konstruktion zu erkennen gibt. Zu sehen ist, wie sich Cana Bilir-Meier lesend und recherchierend über Ordner, Notizbücher und Fotografien einen Zugang zu Semra Ertan erarbeitet. Damit ist die Gegenwart der Künstlerin im Augenblick der Rekonstruktion eines Schaffens und Lebens im Film präsent. Bilir-Meiers Film behauptet nicht, ein abgeschlossenes, wahrhaftiges Werk zu sein. Die Fragmente, die in ihm zusammengeführt werden, bieten sich für eine wiederholte Lektüre an und fordern von den Rezipierenden, stets aufs Neue zusammengesetzt zu werden. Eine zweisprachige Edition der Gedichte Semra Ertans unter dem Titel Mein Name ist Ausländer / Benim Adım Yabancı. Gedichte / Şiirler (edition assemblage, 2020) in der gemeinsamen Herausgeberschaft von Cana Bilir-Meier und Zühal Bilir-Meier, Schwester von Semra Ertan und Mutter der Künstlerin, macht das Werk der Dichterin umfangreich zugänglich.
Für einen postmigrantischen Paradigmenwechsel Über die Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland wurde lange Zeit als Geschichte der Opfer oder der Täter geschrieben, Momente des Widerstands sind nur selten thematisiert: Integration oder Integrationsunwilligkeit, Arbeitsmarkt und Bildung oder Segregation waren und sind dominante Themen des öffentlichen Sprechens und Schreibens über Migration (vgl. Hahn 2012: 15; Hess 2015: 49–64). Drei Bücher aus den 1980er-Jahren geben einen verengten Blick auf Migrant*innen wieder; sie stammen aus einer Zeit, als ›Gastarbeiter*innen‹ längst Teil des bundesdeutschen Alltags geworden waren und dennoch als die Anderen
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der Gesellschaft wahrgenommen wurden. In diesen Publikationen wird über die »Problemlage der Ausländerbeschäftigung« (Herbert 1986: 220) geschrieben, die »Wohnsituation und Ghettoisierung« (Unger 1980: 113) (in einem Zusammenhang genannt) kritisiert und in den Kontext »Ausländerproblematik« (ebd.: 116) gestellt oder alternativ die »Segregation ausländischer Familien« in der »Einwanderungskolonie« (Heckmann 1981: 208) diagnostiziert. Allen Büchern ist gemein, dass sie über eine Personengruppe sprechen, die selbst keine Stimme erhält. ›Die‹ Ausländer oder Migrant*innen erscheinen allzu oft als homogene Masse, die Probleme bereitet oder Schwierigkeiten hat. Auf dieser vereinfachenden Sicht auf Migration gründen Formate wie die Gerichtssendung Richter Alexander Hold, die im Nachmittagsfernsehen der frühen 2000er-Jahre lief und auf frei erfundenen Fällen basiert. Für ihr Video Best court/En iyi mahkeme/Bestes Gericht (2017) sichtete Cana BilirMeier gemeinsam mit ihrer Cousine Lale Yılmaz Folgen der pseudo-dokumentarischen Gerichtsserie, in denen Letztgenannte als Darstellerin auftrat. So war sie als verschleppte Putzfrau in der Episode »Zerplatze Träume« und »Endlich die Wahrheit« (Sendetermine 2003–2017) zu sehen, war die verschleppte Tochter in »Zwangsheirat« (Sendetermine 2006–2016) und
Cana Bilir-Meier: Best court/En iyi mahkeme/Bestes Gericht, 2017/2019, Video, 2 Teile: 3 und 5 min. (© Cana Bilir-Meier).
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die bedrohte Freundin in »Wo ist Özlem?« (Sendetermine 2008–2016).12 In dem Video sind Sequenzen aus der Sendung zusammengeschnitten, in welchen der Richter, Verteidiger*innen und Staatsanwält*innen in sachlicher Sprache mitunter blutrünstige Taten beschreiben. ›Die Ausländer‹ treten in tumultartigen, emotionalen Szenen in Erscheinung, in denen erregt Türkisch gesprochen wird. Sie sind Gemüsehändler, Reinigungskräfte, sind Verschleierte, Unterdrückte, Erboste, Wütende, Rachsüchtige. Sie sind in Alexander Hold die Antipoden eines auf Bildung und Zivilisiertheit basierenden Rechtssystems. Auf die Stereotypisierung der Sendung blicken Cana Bilir-Meier und Lale Yılmaz aus zeitlicher Distanz, sie sehen konzentriert auf den Bildschirm, lachen mal amüsiert, mal blicken sie konsterniert auf das Schauspiel.
Cana Bilir-Meier: Best court/En iyi mahkeme/Bestes Gericht, 2017/2019, Video, 2 Teile: 3 und 5 min. (© Cana Bilir-Meier).
Immer wieder werden die beiden aus kurzer Distanz im Nahbild frontal gezeigt, wobei die Zuschauer*innen nicht sehen können, was die beiden erblicken. Die Inhalte der Sendung überliefern sich nur im Zusammenschnitt durch Bilir-Meier. So wird das Video von der Perspektive der beiden Frauen getragen. Yılmaz, die in der Sendung auf die Figur der entmündigten Frauen wortwörtlich ›verrichtet‹ war, blickt als autonomes Subjekt auf diese Fernsehepisoden. 12 Siehe dazu https://www.kunstverein.de/download/CBM_BOOKLET_FI NAL.pdf. (27.10.2020). S. 6.
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Eindimensionale Sendungen wie Richter Alexander Hold führen vor Augen, wie stereotyp und rassistisch Fernsehen argumentiert/e. In der ausdauernden und visuellen Wiederholung zementierten sich nicht nur institutionelle Rassismen, sondern auch gesellschaftliche Vorurteile. Best court/En iyi mahkeme/Bestes Gericht (2017) entstand im Kontext des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« (siehe Bilir-Meier, sağ und Karaca 2020: 141), das migrantische Erfahrung in den Mittelpunkt rückte und ein Zusammenschluss von Aktivistinnen, Migrant*innengruppen und den Familien der Opfer der Serientäter des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) war.13 Die in Cana Bilir-Meiers Video enthaltenen Referenzen sind nicht als einfache Zusammenhänge zu verstehen, sie sind oft nur lose verbunden oder verweisen aus der Ferne aufeinander. Dabei steht jede Aktion oder Tat nicht ohne Kontext in der Geschichte. Aus dem Archiv ihrer und unserer Erinnerungen formuliert Cana Bilir-Meier viele parallele oder alternative Erzählungen, die aufzeigen, dass es keine Deutungshoheit von Geschichte gibt. Wie differenziert sich die Künstlerin mit ihren Themen und Akteur*innen auseinandersetzt, zeigt ihr Porträt der Schriftstellerin Ronya Othmann. Die Autorin wurde 2019 für den Bachmann-Preis nominiert und Cana BilirMeier drehte in diesem Kontext einen kurzen analogen 16mm-Film (2‘30‘‘) für den Fernsehsender 3sat/ZDF. Die Kameraführung lag bei Lichun Tseng, die bereits für Bilir-Meiers Film This makes me want to predict the past (2019) zu dem Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum mit ihr zusammengearbeitet hatte. Die Kamera filmt Othmann in ihrer Wohnung, zeigt sie beim Lesen und Schreiben, folgt ihr in den Stadtraum. Othmann spricht, ist aber nicht zu hören. Sanft streicht das Kameraauge über ihr Haar, verweilt bei einer Blume, sieht in ein Buch und auf die Tasten ihres Laptops. Manchmal wird dem Bild die Farbe – ohnehin seltsam blass 13 Zu den rassistischen Morden des NSU gibt es mittlerweile eine rege Publikationstätigkeit. Aus der Reihe künstlerischer Auseinandersetzungen mit den rassistischen Taten des NSU möchte ich hier zwei (auch postmigrantische) Positionen aus der Perspektive der Opferfamilien exponieren: Christine Umpfenbachs Theaterstück Urteile am Münchner Residenztheater (2014) und Aysun Bademsoys Dokumentarfilm Spuren – Die Opfer des NSU (2019). Siehe Önder, Umpfenbach und Mortazavi 2016.
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– entzogen, wirkt der Film überbelichtet, sodass das Porträt nur noch wie ein Erinnerungsbild anmutet.
Cana Bilir-Meier: Porträt Ronya Othmann, 2019, 1-Kanal-Video, 2:30 min. (© Cana Bilir-Meier).
Diese filmische Auseinandersetzung mit der Schriftstellerin findet ihr Äquivalent in dem Text Vierundsiebzig, den Ronya Othmann für den Bachmann-Preis einreichte. In diesem Text schreibt Othmann über den Völkermord des Islamischen Staats an den irakischen Jesiden (Ezîden) und schildert einen Besuch bei ihrer Familie in Shingal, wo sie von Details der grausamen Taten des IS erfährt. Immer wieder wird in dem Text die Sprachlosigkeit der Zeitzeug*innen ob dieser Erlebnisse erwähnt, und auch die Ich-Erzählerin formuliert ihre Unfähigkeit, diese in Worte fassen zu können: »Vieles von dem, was ich schreibe, hat keine Ordnung. Sätze, Worte, die abbrechen, im Nichts verlaufen. Ich füge zusammen. Dass etwas mit Großbuchstaben anfängt und mit einem Punkt endet. Dazwischen ein Komma vielleicht, ein Halbsatz, der sich auf das eben Gesagte bezieht. Wieder Großbuchstaben, Subjekt, Verb, Objekt bis zum nächsten Punkt. Absatz für Absatz. Ich habe keine Sprache, in der ich schreibe. Ich habe meine Reise in Dokumentenordnern auf meinem Laptop gespeichert, die Tonaufnahmen auf meinem Handy« (Othmann 2020: 223).
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Dieser Sprachlosigkeit steht der Text gegenüber, der in Worte fasst, was unaussprechbar ist. Und den Worten des Textes wiederum begegnete die Jury des Bachmann-Preises in Klagenfurt mit Sprachlosigkeit und tat sich schwer, ein (ästhetisches) Urteil über Othmanns Text zu fällen.14 Es liegt nahe, dass in dieser Einschätzung nicht nur der gewaltvolle Inhalt einfloss, sondern auch die Herkunft der Autorin, die selbst Jesidin ist und damit vermutlich als zu involviert wahrgenommen wurde. Es spricht für sich, dass Ronya Othmann bei den Jury-Preisen leer ausging, schließlich aber den Publikumspreis erhielt.15 Im Film von Cana Bilir-Meier steht der Sprachlosigkeit in Othmanns Text eine Vielzahl an Bildern gegenüber, die auf der Nachstellung existierender Fotoaufnahmen aus den von der Schriftstellerin genutzten sozialen Medien basieren.16 Erinnerung an bereits Geschehenes formuliert sich in der Re-Inszenierung und Vergegenwärtigung des eigenen Lebens, wobei das Subjekt der Autorin die Macht über die eigene Inszenierung behält. Den vielen Zuschreibungen von Gesellschaft, und auch jenen der Jury des Bachmann-Preises, an die Autorin steht die Selbstbestimmung über ihr Bild und ihre Texte gegenüber. Der Film schließt mit einer Geste des SelfEmpowerments und zeigt Ronya Othmann inmitten ihrer Freund*innen und als Teil eines sozialen Verbunds. Die sich im filmischen Porträt zu Othmann formulierende Selbstermächtigung kann eng mit dem Konzept Postmigration zusammengeführt werden: Die Begriffsbildung ›postmigrantisch‹ war bereits ein Akt des SelfLabeling: 2006 fand das erste von Shermin Langhoff kuratierte postmigrantische Festival am Hebbel am Ufer in Berlin mit dem Titel Beyond Belonging: Migration2 statt. Im Programm heißt es: »Jenseits des aktuell dominanten Integrations-Diskurses und konstruierter Zugehörigkeiten sowie des so oft auf Herkunft reduzierenden, alltäglichen Rassismus in Teilen der Kulturund Medienindustrie wollen wir den Künstlern und Künstlerinnen aus Film, Literatur, bildender Kunst, Musik u.a. das Forum Theater öffnen.«17 Seit 14 15 16 17
Vgl. https://bachmannpreis.orf.at/v2/stories/2987619/ (28.10.2020). https://www.swr.de/swr2/literatur/article-swr-11766.html (28.10.2020). Hinweis von Cana Bilir-Meier an Burcu Dogramaci, E-Mail vom 30.10.2020. http://www.archiv.hebbel-am-ufer.de/media/Beyond_Belonging01.pdf (26.10.2020).
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2008 leitete Langhoff das Ballhaus Naunynstraße explizit als postmigrantisches Theater und äußert sich zu der Agenda rückblickend: »Es gibt kaum dramatische Texte, die Geschichten, Erfahrungen und Diskurse auf diesem Feld narrativ beschreiben und ideologiekritisch reflektieren könnten. Der Ist-Zustand zementiert die Wahrnehmung als ›Andere‹ leider öfter, als er sie bricht. Wo der Themenkomplex Migration nicht per se ausgespart wird, erfolgt oft eine sensationalistische Verwertung von Klischees. […] Wir haben uns das Label ›postmigrantisch‹ gegeben, weil wir mit dem oben beschriebenen Zustand brechen wollten. Gleichzeitig geht es um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht ›postmigrantisch‹ in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft« (Langhoff 2011).
Somit unterscheidet sich die ›postmigrantische Literatur‹ von scheinbar ähnlichen Konzepten wie »interkulturelle Literatur« (Joachimsthaler 2019: 19), »Gastarbeiter-Literatur« (Hamm 1988: 198), »Migrantenliteratur« (Heinze 1986) oder »Chamisso-Literatur« (Faure 2015: 51) wie auch von Bindestrich-Bezeichnungen (deutsch-türkisch, deutsch-italienisch), die als Fremdzuschreibungen allesamt eine Differenz bezeichneten bzw. noch immer bezeichnen: Sie verdeutlichen, dass Texte von Autoren nicht-deutscher Herkunft als das Andere der deutschen Literatur gefasst werden. Inzwischen hat der Terminus ›postmigrantisch‹ eine eigene Geschichte durchlebt und ist längst zum gern und häufig verwendeten Begriff der Forschung geworden. Wichtig ist, eine kritische Reflexion des Begriffs, seiner Bedeutungen und Anwendungen beizubehalten, damit er nicht zum Feigenblatt wird. Für die Zukunft wäre es interessant, die postmigrantische Perspektive auf eine neue Fokussierung der Geschichte jenseits der Zeit der Arbeitsmigration zu beziehen. Denn postmigrantisch waren deutsche Metropolen bereits in den 1920er-Jahren: Berlin war mit seinen diversen Communitys längst eine von Migration geprägte Gesellschaft mit russischen Geflüchteten, jüdischen Vierteln, internationalen queeren Bewohnern, die hier mehr Freiheit als in ihren Herkunftsländern fanden – siehe einen ihrer bekanntesten Akteure, den britischen Schriftsteller Christopher Isherwood mit seinem Roman »Goodbye Berlin« (siehe Dogramaci 2018). Die Machtübernahme der Nationalsozialisten führte zu einem Exodus politi-
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scher und jüdischer Verfolgter, zu einer Reinigung von Gesellschaft, die sich nach 1945 wieder diversifizierte, so etwa durch Displaced Persons. Seit den 1950er-Jahren führten die Anwerbeabkommen und die Arbeitsmigration zu einer Heterogenität der Gesellschaft. Selbstverständlich ist dies keine lineare Geschichte, sondern sie besteht aus vielen Brüchen und Leerstellen. Postmigrantische Künstler*innen wie Cana Bilir-Meier könnten mit ihren Ansätzen der Dekonstruktion hegemonialer Narrative einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, eine andere Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts zu erzählen. Die Kunst der Gegenwart kann nicht nur die Vergangenheit neu perspektivieren und dem Unsichtbaren zur Sichtbarkeit verhelfen, sondern sie gestaltet stets die Art und Weise, wie in der Zukunft an zurückliegende Epochen und ihre Geschichten erinnert werden wird.
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Burcu Dogramaci
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Gefährdete Körper/Gefährliche Körper
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Mithu Sanyal
Gefährdete Körper/Gefährliche Körper. Öffentliche Empathie und Empire
Einleitung: Rassistische Körperbilder im Postkölnialismus Vor kurzem googelte ich ›sexy Bärte‹, was man halt so macht, wenn man eigentlich etwas anderes machen sollte. Alle Bildergebnisse zeigten weiße, höchstwahrscheinlich nicht-muslimische Männer. Dieselben Bärte bei braunen oder Schwarzen Männern dagegen gelten als Zeichen für eine radikale Gesinnung und können (in unterschiedlichen Situationen?) dazu führen, dass die Polizei gerufen wird. Wie am 04.06.2019, als zehn Muslime am Kölner Hauptbahnhof von der Polizei überwältigt wurden, weil sie – okay, nicht nur Bärte – sondern noch dazu »lange Gewänder und Westen trugen« (RP Online 2019). Daraufhin schrieb ich einen offenen Brief in der taz: »Liebe Kölner Polizei, haben Sie sich für den Einsatz letzten Dienstag bei den unschuldig am Boden fixierten Männern entschuldigt? Wenn ja, danke! Wenn nein, bitte holen Sie das so schnell wie möglich nach. Eine öffentliche Entschuldigung würde ebenfalls eine Menge zur Vertrauensbildung beitragen. Und Vertrauen können wir alle gerade dringend gebrauchen. Auch die Passanten, die Sie alarmiert haben, weil ihnen der Anblick von Männern, die feierliche Kleidung zum Ende des Ramadans trugen, Angst machte. Dafür muss ich Mitverantwortung übernehmen, weil wir als ›Medien Muslime‹, die ihrer Religionsfreiheit nachgehen, ständig als Bedrohung darstellt werden. Und [dies gilt auch für] Leute, die einfach nur so aussehen, wie wir uns Muslime vorstellen, sprich: braun. Doch bloß, weil wir Blödsinn machen, müssen Sie das nicht auch tun. »Aber die Männer haben doch ›Allahu akbar‹ gerufen.« Vermeintlich! Und sogar wenn: ›Allahu akbar‹ ist so alltäglich wie ›mein Gott‹ und das könnten wir wissen, wenn wir miteinander reden würden. Apropos Reden: Haben Sie nicht ein wenig Spielraum, bevor Sie Menschen mit Handschellen auf dem Boden festhalten? Wie wäre es erst mal mit freundlich nachfragen, was los ist? Denn, seien wir
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Mithu Sanyal
ehrlich, wir können kaum von Gefahr im Verzug sprechen. Dieses Jahr gab es in Deutschland 13 terroristische Anschläge – in Bottrop und Essen – die jedoch alle islamfeindlich motiviert waren. Letztes Jahr: Zero. Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden ist, höher als von einem terroristischen Anschlag betroffen zu sein. Nachdem Sie, wie zu erwarten, keine Bomben bei den gefesselten Männern gefunden haben, teilten Sie uns mit, dass zu keinem Zeitpunkt ›eine Gefahr für die Bevölkerung bestanden hat‹ (RP Online 2019). Was für eine Erleichterung! Also, was haben Sie daraufhin getan? Den jungen Männern aufgeholfen und sie ihre Züge erreichen lassen? Fast: die Mitteilung geht weiter »wir wissen aber noch nicht, ob die Männer ungefährlich sind« (ebd.). Doch, genau das haben Sie gerade gesagt! ›der Staatsschutz ist eingeschalten‹ Wie bitte??? ›sie werden noch befragt‹ (ebd.). Es gibt ein englisches Sprichwort: ›Wenn man sich selbst ein Loch gegraben hat, sollte man nicht noch tiefer schaufeln.‹ Lieber Polizeipräsident Uwe Jacob, wenn sie zurückweisen, dass dieses Handeln von ›Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geprägt war‹, übersetze ich mir das so, dass es nicht bewusst rassistisch war. Dann lassen Sie ihre Beamten doch bitte schulen. Wenn Sie nicht wissen bei wem, gebe ich Ihnen gerne Adressen. Doch vor allem: Laden Sie den Zentralrat der Muslime ein, die zu Recht entsetzt sind, und überlegen Sie zusammen, wie wir verhindern, dass so etwas wieder passiert. Weil der Kölner mein liebster Hauptbahnhof ist. Weil der öffentliche Raum uns allen gehört. Weil Angst Monster gebiert« (Sanyal 2019).
Daraufhin bekam ich zahlreiche Mails, auch von reflektierten, antirassistischen Freund*innen: »Dass die Polizei schließlich handeln müsse. Was wäre, wenn etwas passiert wäre? Die Männer hätten das bedenken [müssen] und sich entsprechend verhalten sollen – in der aktuellen Situation.« Mehr zu »sich entsprechend verhalten« folgt an späterer Stelle. Mit »der aktuellen Situation« war natürlich die Ära des ›PostKölnialismus‹ gemeint – nach den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht in Köln. Sie wissen schon. Aber was wissen wir wirklich über die sexuellen Übergriffe an Silvester 2015/16 in Köln? Nachdem eine über 100-köpfige Sonderkommission der Polizei monatelang alle Daten ausgewertet hatte, fasste der investigative Journalist und Medienkritiker Walter van Rossum ihre Ergebnisse im Deutschlandfunk zusammen:
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»Es stehen ca. 1.200 Anzeigen im Raum. Der größte Teil betrifft Handydiebstahl oder ähnliche kleinkriminelle Delikte, bei ca. 500 Anzeigen geht es um Sexualdelikte. Allerdings muss man da differenzieren. Es hat keinen einzigen Fall von erzwungenem Geschlechtsverkehr gegeben – auch wenn man kürzlich noch versucht hat, zwei Fälle nachzuliefern. Bei 21 Anzeigen geht es um Vergewaltigung als Form sexueller Nötigung. In diesen Fällen sollen etwa Finger in die Geschlechtsteile eingeführt worden sein. Bei dem Gros der Anzeigen von Sexualdelikten handelt es sich um 470 Fälle von sogenannter sexueller Beleidigung – also Handlungen, die im Volksmund etwa ›Grabschen‹ heißen« (van Rossum 2016).
Die Reaktion darauf, dass es 1.179 Vergewaltigungen weniger waren als befürchtet, löste kaum Erleichterung aus, was nun nicht überraschend ist. Von Rossum wurde Verharmlosung und Schlimmeres vorgeworfen, als hätte er sich die Zahlen selbst ausgedacht und nicht vom BKA erhalten. Dabei gibt es keine Mindestgrenze, ab der man Vergewaltigungen ernst nehmen muss. Auch 21 sind schrecklich. Und bloß weil die Gesetzgebung ›Grabschen‹ Silvester 2015/16 noch nicht als Sexualverbrechen klassifizierte, bedeutet das noch lange nicht, dass es von den Betroffenen lediglich als Beleidigung, so der damalige Straftatbestand, empfunden wurde. Doch steht damit Köln nicht mehr als das einzigartige Ereignis da, als der Wendepunkt, nach dem alles anders geworden ist. Sondern es wird vergleichbar mit anderen Großveranstaltungen, bei denen – vor allem unter Alkoholeinfluss – sexuelle Übergriffe stattfinden, beispielsweise Oktoberfesten (Wagner 2018). Und das ist jetzt keine Verharmlosung meinerseits, sondern der Aufruf, sich an einen runden Tisch zu setzen, um gemeinsam über Prävention zu reden. Stattdessen redet inzwischen nicht mehr nur die Neue Rechte davon, dass Menschen aus ›der muslimischen Welt‹ ein Problem für die Gleichberechtigung in Deutschland darstellten, (ohne klarzumachen, was genau damit gemeint sein soll: 28 arabische Länder mit sehr unterschiedlichen Staatssystemen?). So schrieb Alice Schwarzer in ihrem Buch Der Schock. Die Silvesternacht in Köln: »Männer, die fanatische Anhänger des Scharia-Islams sind … . An diesem Abend setzten sie eine für sie ganz einfache Waffe ein. Die sexuelle Gewalt. Sexuelle Gewalt ist eine traditionelle Kriegswaffe … [,] eine Waffe der Islamisten
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im Kampf gegen den Westen und die westliche Gleichberechtigung der Frau« (Schwarzer 2016: 16–17).
Das sind starke Thesen – Waren die Männer Anhänger des SchariaIslams? Was genau ist der Scharia-Islam? Kann man die Übergriffe auf der Domplatte mit Kriegshandlungen vergleichen? Ist der Westen, wer auch immer der Westen ist, gleichberechtigter als … der Osten? –, so starke Thesen, dass sie belegt werden müssten, was hier jedoch nicht geschieht. Ebensowenig wie ihre Aussage: »Schon vor 15, 20 Jahren hat ein leitender Kölner Polizeibeamter mir anvertraut: ›70 bis 80 Prozent aller Vergewaltiger in Köln sind Türken‹« (ebd.: 28). Schwarzer fügt hinzu, dass jener Polizeibeamte sich das nicht wagen würde, öffentlich zu sagen, weil er sonst des Rassismus beschuldigt würde. Warum er es dann der stadtbekannten Journalistin Alice Schwarzer verriet, bleibt nebulös. Zusammengefasst sind die Kernpunkte von Schwarzers Argumentation: – Die Täter der Silvesternacht »verband anscheinend nur eines: Sie waren ›Nordafrikaner oder Araber‹, also Muslime. Und das wird auch die Basis gewesen sein, auf der sie sich verständigt haben« (ebd.: 17–18). Von dort aus kommt sie übergangslos zu den Islamisten, die »die größten Frauenhasser weltweit« (ebd.: 21) sind und diesen Frauenhass nach Deutschland importieren. – Und zwar zu welchem Zweck? »Sie kämpfen für eine GeschlechterApartheit – was das Gegenteil von Gleichberechtigung ist« (ebd.: 31). Damit macht Alice Schwarzer aus individuellen Übergriffen einen Krieg der muslimischen Männer gegen die westlichen Frauen. Und wenn wir gegen Geschlechter-Apartheit sind – so legt das Buch nahe –, dann müssen wir zurückschlagen. Und wenn man eine Rhetorik des Krieges verwendet, dann folgt der Militarisierung der Worte früher oder später eine Militarisierung der Politik.
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Von der ›harmlosen Kopftuchträgerin‹ zur Gegnerin der Demokratie?! Wie der Westen die sexuelle Revolution rassistisch denkt Wie eine solche Militarisierung der Politik aussehen kann, zeigte Terre des Femmes am 20.05.2017. Auf der Mitfrauenversammlung wurde ein Antrag verabschiedet, der Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle seitdem dazu verpflichtet, Lobbyarbeit für ein Gesetz zu machen, das es Minderjährigen verbieten soll, mit Kopftuch in die Öffentlichkeit zu treten – besser bekannt als das Verbot des Kinder- oder Kita-Kopftuchs. Bloß tragen Kinder in Kitas nur selten Kopftücher, es sei denn, sie spielen die Jungfrau Maria im Krippenspiel. In der Regel wird das Kopftuch erst mit dem Einsetzen der Regel angelegt, wenn es denn angelegt wird. Doch hört sich ›KinderKopftuch‹ deutlich bedrohlicher an als ›Kopftuch von Jugendlichen‹. Die Erklärung von Terre des Femmes lautete, das Kopftuch markiere Mädchen: »als Verführerinnen, die ihre Reize vor den Männern zu verbergen haben […] Diese Geschlechter-Apartheid [sic!] und die grundsätzlich damit einhergehenden menschenrechtswidrigen Denk-, Verhaltens- und Erziehungsmuster verstoßen gegen das Recht junger Menschen auf eine gleichgestellte Entwicklung. […] Die Verschleierung bedeutet nicht nur eine ›harmlose‹ religiöse Bedeckung des Kopfes, sondern stellt eine physische und psychische Abgrenzung zwischen Innenwelt und Gesamtgesellschaft dar. So stellen Eltern ihre verschleierten Töchter außerhalb der Wertegemeinschaft der Gesamtgesellschaft, die auf den allgemeinen Menschenrechten basiert, insbesondere der Gleichberechtigung der Geschlechter« (Terre des Femmes 2017).
Auch hier lohnt es sich, die zentralen Thesen zusammenzufassen: – Wenn das Kopftuch kein »harmloses« religiöses Symbol ist, richtet es offensichtlich ›Harm‹ – auf Deutsch: Schaden, Verletzung – an. – Und zwar gegen die Demokratie. – Deshalb sind Kopftuch und Demokratie nicht vereinbar. – Ebenso wenig wie Kopftuch und Menschenrechte vereinbar sind. Sollten diese Thesen stimmen, müssten wir in der Tat vehement gegen das Kopftuch sein. Allerdings gibt es mehr als genug Studien, die Terre des Femmes geflissentlich ignoriert, nämlich dass Muslimas, die das Kopftuch tragen,
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eben nicht dem Bild der unterdrückten Opferfrau entsprechen, sondern mehrheitlich selbstbewusste Frauen sind ( Jessen und von WilamowitzMoellendorff 2006). Das Kopftuch hat viele verschiedene Bedeutungen für seine Trägerinnen und es gibt sehr unterschiedliche Gründe, es zu tragen. Die Studie Muslimisches Leben in Deutschland zählt auf: Es kann religiöse Bedeutungen haben, aber auch politischer Protest gegen Rassismus, Kolonialismus und eurozentristische Feminismusverständnisse sein. WorkshopTeilnehmerinnen erzählen, dass sie es gerade jetzt wichtig finden, das Kopftuch zu tragen, um muslimisches Leben in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, aber auch, um das Islambild zu ›korrigieren‹ und sich – als gebildete, freundliche, emanzipierte etc. und zugleich gläubige Muslima zu zeigen. Einige der Mädchen und Frauen beschreiben das Kopftuch auch als Schutz gegen Sexualisierung und Sexismus. »Zwang oder Erwartungen von anderen wurden nur selten als Motiv genannt« (Mediendienst Integration 2019: 90). Doch Terre des Femmes Weigerung, die Selbstauskünfte von Frauen mit Kopftüchern ernst zu nehmen – ja Frauen mit Kopftüchern überhaupt als Subjekte ernst zu nehmen und nicht nur als Objekte, die gerettet werden müssen –, ist nicht das einzige Problem an ihrer Forderung nach einem Kopftuchverbot für Minderjährige. Auch ihre Vorstellung von Rettung, ob die zu Rettenden das wollen oder nicht, enthüllt einen erschreckenden Paternalismus. Auf der Mitfrauenversammlung wurde konkretisiert, dass mit einem Verbot des Kopftuchs in der Öffentlichkeit gemeint war »sobald sie auf die Straße tritt« (Sanyal 2017). Und sollte ein muslimisches Mädchen doch mit Kopftuch das Haus verlassen, dann erklärt Terre des Femmes, dass »Geldstrafen in solchen Fällen sehr effektiv« seien. Besonders interessant war der siebte Punkt ihres Positionspapiers: »Deshalb sind wir der Ansicht, dass das von uns geforderte Verbot bis zum Erreichen der Volljährigkeit gelten sollte, obwohl in Deutschland die Religionsmündigkeit ab 14 Jahren gesetzlich festgelegt ist« (Sanyal 2017). Daraufhin traten 30 Terre des Femmes Mitfrauen aus dem Verein aus und wandten sich mit einem offenen Brief an die Presse: »Wir denken, dass Kleidervorschriften auch in Zwangssituationen nicht helfen. Ein solches Verbot schürt anti-muslimischen Rassismus und gesellschaftliche Ausgrenzung der betroffenen Mädchen. Es stigmatisiert die Eltern von Kopftuchträger*innen pauschal als Täter*innen, ihre Familien als ›integrations-
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unwillig‹ und die Mädchen selbst als unselbstständig und unterdrückt« (Feminismen ohne Grenzen 2017).
Der Soziologie-Professor Ali Rattansi prägte dafür den Ausdruck der »strong incompatibility thesis« (Rattansi 2011: 44) – der außerordentlichen Unvereinbarkeitsthese –, in der die ›migrantische Opfer-Frau‹ zum Gegenentwurf der befreiten Westlerin wird. Bevor die Frage des Kopftuchs und des Islams die Medien monopolisierte, waren die erschütterndsten Beispiele für die tief verwurzelte Frauenfeindlichkeit ›anderer Kulturen‹ die Mitgiftmorde in Indien, bei denen Ehefrauen mit Kerosin übergossen und angezündet werden und ihr Tod danach als Haushaltsunfall ausgegeben wird. Allerdings handelt es sich dabei um ein entsetzliches Verbrechen und nicht um eine kulturelle Praxis: »Viele indische Theoretiker*innen haben darauf hingewiesen, dass es stattdessen eine passendere Analogie wäre, Mitgiftmorde mit häuslicher Gewalt zu vergleichen, und zwar spezifisch mit den Morden im Kontext von häuslicher Gewalt in Amerika. Die Philosophin Uma Narayan hat berechnet, dass die Tode als Folge häuslicher Gewalt statistisch ein ebenso signifikantes soziales Problem in den Vereinigten Staaten sind wie die Mitgiftmorde in Indien. Doch nur eines dieser beiden Probleme wird als Anzeichen von kultureller Rückständigkeit betrachtet. ›Die verbrennen ihre Frauen dort‹ im Gegensatz zu ›Wir erschießen unsere Frauen hier‹« (Volpp 2001: 1187).
Dabei ist Kultur ja kein Kult, sondern komplex, heterogen und widersprüchlich und einem ständigen Prozess der Veränderung und Verhandlung unterworfen. Doch wird das zugunsten der binären Unterscheidung von freiem Willen (»The West«) versus Traditionstreue (»The Rest«) (Rattansi 2011: 47) übersehen. Auch in der Debatte nach der Silvesternacht 2015/16 ging es schwerpunktmäßig um die vermeintliche ›Kultur‹ der Täter. Während nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA niemand Angst vor amerikanischen Tourist*innen hatte, die ihre ›Kultur‹ nach Deutschland importieren und allen Frauen direkt an der ›Pussy grabschen‹ würden. Und das ist ja auch richtig so. Umgekehrt titelte Die Welt ›nach Silvester‹ jedoch selbstverständlich: »Migration importiert archaisches Frauenbild« (Ghadban 2016). Und fragte wenige Tage später die ehemalige Femen Aktivistin Zana Ramadani in einem Interview ernsthaft: »Wie ist es, als
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muslimisches Einwandererkind von einer freien Gesellschaft umgeben zu sein?« Ramadani antwortete: »Na ja, viele nehmen die freie Gesellschaft ja gar nicht wahr« (Spoerr 2016). Die Frage der freien Sexualität ist so wichtig, weil das Narrativ, dass der Westen dem (Nahen) Osten und globalen Süden die Freiheit bringen würde, nicht mehr wirklich glaubwürdig ist. Deshalb wurde es durch das Narrativ ersetzt, der Westen bringe die ›sexuelle Freiheit‹, sprich: die Gleichberechtigung der Frau, LGBTI-Rechte und nackte Haut in der Öffentlichkeit. Ja, dass der Westen die freie Sexualität erst mit der sexuellen Revolution erfunden habe. Entsprechend zeigt eine Google-Bildersuche ›sexuelle Revolution‹ auch nahezu nur Bilder weißer Menschen sowie das Cover von Seyran Ates Buch Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Nach dem Motto: ›Wir haben – die brauchen‹.
Die Flüchtlingskrise: Über eine rassistische Empathie-Ökonomie Knapp zwei Wochen nach ›Silvester in Köln‹ veröffentlichte das französische Satiremagazin Charlie Hebdo einen Cartoon mit einer Zeichnung des berühmten Fotos der Leiche des zweijährigen Alan Kurdi, der im September des Vorjahres bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken war. Daneben stand die Frage: »Was wäre aus dem kleinen Aylan geworden, wenn er erwachsen geworden wäre?« Der Name des ertrunkenen Kindes wurde ursprünglich falsch als Aylan kolportiert. Die Antwort gab eine Zeichnung, auf der junge migrantische Männern mit Schweinenasen schreiende blonde Frauen jagen: »Arschgrapscher in Deutschland« (Riss 2016). Der Journalist Stephan Maus erklärte im Stern, der Zeichner Laurent Sourisseau, genannt Riss, sei kein Rassist, sondern wolle auf Rassismus aufmerksam machen, es handele sich bei der Karikatur um eine Parodie der Berichterstattung über Geflüchtete. Eine Satire, die so leicht missverstanden werden konnte, weil die gesellschaftliche Stimmung erschreckend damit übereinstimmte. Die ›Debatte über sexualisierte Gewalt‹ war zu einer ›Debatte über Geflüchtete‹ geworden. Abschiebungen, auch in Krisengebiete wie Afghanistan, wurden damit gerechtfertigt, dass es sich bei den Abge-
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schobenen um »Gefährder und Sexualstraftäter« handle (Reuters Staff 2017). Dass Abschiebungen von Menschen, die gegen das Sexualstrafrecht verstoßen, schneller möglich sind, wurde im Sommer 2016 mit der Änderung der §177 im Strafgesetzbuch verankert. Gleichzeitig wurde §184i neu hinzugefügt, nach welchem nun auch ›sexuelle Belästigung‹ – also das, was bis dahin nur als Beleidigung galt und nach Silvester für so viel Empörung gesorgt hatte – zu einem Straftatbestandteil macht. Bei der Debatte im Bundestag kritisierte Halina Wawzyniak von der Linken, dass »nun ein aufgedrängter Zungenkuss schon zu einer Abschiebung in Kriegsgebiete führen kann« – natürlich nur, wenn der*die Täter*in keinen deutschen Pass hat. Bereits kurz nach der Silvesternacht schrieb die Publizistin Hilal Sezgin in der Zeit: »[Z]um Thema Abschiebung möchte ich all die spontanen oder auch dauerhaften Feminist*innen, die dieser Tage eine noch härtere Abschreckungspolitik fordern, einmal fragen: Wollt ihr solche Männer, die versuchen, sexuelle Gewalt sogar gegen einen soliden westlichen Rechtsstaat durchzusetzen, etwa wieder zurück zu ›ihren‹ Frauen schicken? Falls tatsächlich auch Syrer unter den Grapschern und Vergewaltigern wären: Ist das wirklich euer Verständnis von Frauensolidarität, solche Männer in ein Bürgerkriegsgebiet zurückzusenden, wo wir doch wissen, dass alle Formen von Kriegen, Bürgerkriegen und Aufständen sexuelle Gewalt noch um ein Vielfaches anwachsen lassen?« (Sezgin 2016).
Es ist bekannt, dass die Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, auf der Flucht exponentiell in die Höhe schnellt. Teresa Rodriguez von dem UN Development Fund for Women wies schon 2006 darauf hin: »Vergewaltigung ist so häufig geworden, dass viele Frauen die Pille oder Gestagen-Spritzen nehmen, bevor sie ihre Heimat verlassen, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Einige betrachten das bereits als den ›Preis‹, den sie bezahlen müssen, um die Grenze [überqueren zu können]« (Pérez 2008: 141). Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, bestätigte 2016, dass »sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen in allen Flüchtlingsunterkünften passieren« und zwar durch andere Flüchtlinge, Sicherheitsleute und sogar ehrenamtlichen Helfer*innen (Kluin 2016). Trotzdem erhalten diese Opfer nicht annähernd so viel öffentliche Anteilnahme wie die ›Opfer der Übergriffe in der Silvesternacht‹.
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Mithu Sanyal
Als ich eine Kolumne in der taz über die Seenotrettungsboote schrieb, die in den Häfen festgehalten, und über die Seenotretter*innen, die als Schlepper*innen angeklagt wurden, quoll die Kommentarspalte über. Menschen erklärten mir aufgeregt, warum dies alles seine Richtigkeit habe: »Die Rettung ist mit einkalkuliert. Wenn dies nicht mehr geschieht, werden sich weniger Menschen diesem Risiko aussetzen« (Sanyal 2018). Die Kriminalisierung der Retter*innen wurde als notwendige Abschreckung für die Flüchtenden gerechtfertigt. Abschreckung durch Ertrinken lassen? Echt jetzt? Wir haben es hier mit einer ›Empathie-Ökonomie‹ zu tun, in welcher bestimmte Menschen/Körper mehr Anteilnahme, Mitgefühl und schlicht Aufmerksamkeit bekommen als andere – und im Gegenzug dazu weniger Misstrauen, Kontrolle und Überwachung. Während andere Menschen/ Körper weniger bis kein Mitgefühl einfordern können, weil sie nicht als gefährdet, sondern als gefährlich wahrgenommen werden. Dies beschreibt Judith Butler mit dem Begriff der »Betrauerbarkeit« (Butler 2017). Um welche Körper trauern wir und welche Körper sind auch noch im Tod für uns bedrohlich und damit jenseits unseres Mitgefühls? Hinzu werden Menschen/Körper auch ganz schamlos als gefährlich konstruiert und stigmatisiert, wie bei dem Hashtag #120dezibel. Das ist die Lautstärke der Taschenalarme, die inzwischen angeblich jede Frau bei sich tragen würde, wenn sie das Haus verlässt, aus Angst davor, von Migranten vergewaltigt zu werden. Die Identitäre Bewegung (IB) mobilisiert unter diesem Hashtag mit dem Slogan »Wir sind nicht sicher, weil ihr euch weigert, unsere Grenzen zu sichern« (Frankfurter Rundschau 2018). Wenn die Grenzen des weiblichen Körpers mit den Grenzen Deutschlands verschmelzen, dann ist das Feminismus von rechts. Aber halt! Ist das Feminismus? Die Soziologin Sara Farris hat dafür den Begriff ›Femonationalismus‹ geprägt, der dann auftaucht, wenn feministische Argumentationen usurpiert werden, um rassistische Ziele zu rechtfertigen (Farris 2017). In diesem Fall das Ziel, Migration einzugrenzen. Allerdings nur bestimmte Migration. Denn Migration ist ja keineswegs hauptsächlich männlich. Vor der sogenannten Flüchtlingskrise stellten Frauen in den EU-Mitgliedsstaaten nach Schätzungen sogar mehr als die Hälfte der Migrant*innen. Nur wird darüber kaum geredet. Und warum wird darüber kaum geredet? Weil ein großer Teil von ihnen in einem einzi-
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gen Wirtschaftszweig arbeitet: der Care-Industrie. Das heißt Putzen, Kinder betreuen, Alte pflegen, vor allem Alte pflegen. Der häusliche Pflegesektor würde ohne Migration zusammenbrechen (Lutz 2018). Und nicht alle sind legal hier. Deshalb haben wir in Deutschland eine brillante Lösung gefunden: Die staatliche Spezialeinheit für den Umgang mit der Arbeit undokumentierter Migrant*innen kümmert sich schlicht nicht um diesen Bereich. Und EU-Staaten wie Italien haben direkt eine Amnestie für illegale Migrantinnen erlassen, die als Pflegekräfte oder Hausangestellte arbeiten (Farris 2021). Die Mails, die ich nach meinem offenen Brief in der taz bekommen hatte, ließen mich nicht los. Wie konnte es sein, dass antirassistische Absender*innen das eindeutig rassistische Verhalten der Polizei nicht als solches erkannten? Aber hauptsächlich wegen der Formulierung: »die Männer […] hätten [das] bedenken [müssen] und sich entsprechend verhalten sollen«. Was sollte das bedeuten? Schließlich ist ›arabisch oder nordafrikanisch auszusehen‹ kein Verhalten, das man einfach so ändern kann. Und damit wären wir bei dem anderen Silvester, nämlich Silvester 2016/17. Die Polizei gab sie sich alle Mühe, dass ihr nicht noch einmal political correctness vorgeworfen werden konnte, wie nach dem ersten Silvester, als sie sich so verhalten hatte, wie Expert*innen es immer fordern: Abwarten, keine voreiligen Statements machen, vor allem nicht zu vermeintlichen Nationalität der Täter, und sich erst äußern, wenn die Situation angemessen analysiert wurde. Im Folgejahr war von Zurückhaltung keine Spur. Stattdessen wurde der Kölner Hauptbahnhof bis auf zwei Ausgänge geschlossen: die Guten ins Töpfchen, respektive auf die Domplatte, die Schlechten in den Polizeikessel. Und ›schlecht‹ waren natürlich diejenigen, die das Pech hatten, so auszusehen wie ich, wenn ich ein Mann wäre. Dieses Vorgehen hieß früher Gesichtskontrolle, heute Racial Profiling und ist in Deutschland verboten. Also wurde der erste Polizeibericht, nach dem Menschen aufgrund ihres Aussehens kontrolliert wurden (und zwar 2.500 Kontrollen von 674 Personen, was bedeutet, dass jeder rund vier Mal dran war?), im Nachhinein revidiert: Die Männer seien aggressiv gewesen. Als die Grünen-Chefin Simone Peter fragte, ob das verhältnismäßig gewesen sei, erntete sie einen Shitstorm (Die Welt 2017). »Ich bin sprachlos über so viel Dummheit, Naivität und Staatsverachtung«, kommentierten
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Mithu Sanyal
Trolle auf ihrer Facebook-Seite und echoten damit die BILD, die online getitelt hatte Dumm, dümmer GRÜFRI. GRÜFRI ist das Akronym für »GRÜn-Fundamentalistisch-Realitätsfremde-Intensivschwätzerin« (BILD 2017). Es ist immer interessant, wenn Beleidigungen so kryptisch sind, dass sie eine Übersetzung brauchen. Das Ergebnis war, dass Peter sich entschuldigen musste. Allerdings hatte es noch ein anderes Akronym gegeben, und zwar von der Polizei selbst in ihrem berüchtigten Tweet aus der Silvesternacht: »#PolizeiNRW #Silvester2016 #SicherInKöln: Am HBF werden derzeit mehrere hundert Nafris überprüft. Infos folgen« (Polizei NRW K 2016). Die Info, die hätte folgen sollen, war, dass Nafri eine herabwürdigende Gruppenbezeichnung ist. Abgesehen davon war der Tweet schlicht falsch. Kontrolliert wurden nicht mehrere Hundert Nafris, sondern mehrere Hundert Menschen mit dunklen Haaren. Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass die Profiler*innen keineswegs wussten, wer genau ihrem Profil entsprach. Die »rund 2.000 Nordafrikaner«, die an Silvester nach Köln geströmt sein sollten, entpuppten sich als Iraker, Syrer und … Deutsche. Doch sogar, wenn sie aus Marokko oder Algerien gekommen wären, wären sie damit noch lange keine ›Nafris‹ gewesen. Denn dies ist keineswegs die Abkürzung für Nordafrikaner, sondern steht für ›Nordafrikanischer Intensivtäter‹. Und alle Menschen, die kontrolliert wurden, durch die Bank als Intensivtäter zu bezeichnen, zeigt, dass die Polizei eben nicht unvoreingenommen war, sondern dass es in der Tat Vorverurteilungen gab. Simone Peter hatte mit ihrer Kritik also durchaus einen relevanten Punkt angesprochen. Denn Racial Profiling, oder auch schlicht die Tatsache, Menschen in besonderer und besonders gefährlicher Form wahrzunehmen, weil sie nun einmal aussehen, wie sie aussehen, hat natürlich Folgen – für diejenigen, die geprofiled werden. Es macht etwas mit dir, wenn du ständig dem Verdacht ausgesetzt bist, dass du etwas – irgendetwas – falsch machen könntest. Carolin Emcke, die 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, schreibt: »Wer zum ersten Mal von der Polizei ohne erkennbaren Grund kontrolliert wird, dem mag das unbequem sein, aber der oder die nimmt das hin ohne Unmut. Wer aber wieder und wieder grundlos behelligt wird, wer sich wieder
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und wieder ausweisen muss, wer wieder und wieder Körperkontrollen über sich ergehen lassen muss, für den oder die wird aus einer zufälligen Unannehmlichkeit systematische Kränkung« (Emcke 2016: 98).
Und die Polizei war nicht allein mit ihrem Generalverdacht. Die Zeitungen schlugen in dieselbe Kerbe. Die Süddeutsche Zeitung fragte fassungslos: »Warum kamen an Silvester wieder viele Nordafrikaner nach Köln?« (Bolmer 2017), der Merkur formulierte es so: »Warum kamen wieder so viele Nordafrikaner nach Köln?« (Merkur 2017), der Tagesspiegel so: »Die Kölner Polizei steht vor der ungelösten Frage, warum so viele Nordafrikaner an Silvester nach Köln kamen. War das eine Provokation?« (Ringelstein und Scheffer 2017). Auf die naheliegende Antwort: zum Silvesterfeiern – schließlich versteht sich Köln als die Feiermetropole Deutschlands – kamen die Journalist*innen nicht. Die FAZ titelte stattdessen, dass die Nordafrikaner »auf einen Tanz mit der Staatsmacht« (Burger 2017) gekommen seien. Der CDUInnenexperte Armin Schuster spach von einer »Machtprobe« (ebd.). Dabei ist nach Köln zu kommen, gar nicht verboten. Das sah der Journalist TillReimer Stoldt anders und schrieb in der Welt, alleine die Anwesenheit der »junge[n] arabische[n] und mittelasiatische[n] Männer« (Stoldt 2017) sei untragbar, »es geht darum, der deutschen Öffentlichkeit eine drohende Zumutung zu ersparen: den Verdacht, da werde fast schon eine Art Wallfahrtsort des orientalisch getönten Sexismus’ errichtet« (ebd.). Alice Schwarzer brachte die Vorverurteilungen mit ihrer Prognose auf die Spitze: »Wäre die Polizei diesmal nicht von Anfang an konsequent eingeschritten, wären wieder Hunderte Frauen mit sexueller Gewalt aus dem öffentlichen Raum verjagt […] worden« (Burger 2017). Die Beweise dafür? Die Männer sahen aus, wie sie halt aussahen und befanden sich im öffentlichen – also theoretisch für alle frei zugänglichen – Raum. Das zeigt, dass es hier nicht um Verhalten ging, sondern um Sein. Sollten die Männer, die im Polizeikessel landeten, etwa einen Abend lang keine Nordafrikaner sein, oder zumindest so aussehen, wie sich die Polizei Nordafrikaner vorstellt, und sich im Sinne des white-facing Clownsmasken schminken? Die aktuelle Großerzählung, dass bestimmte Menschen eine Bedrohung darstellen, und zwar dort draußen, in dem Raum, den wir uns alle teilen, führt zu der reflexartigen Reaktion, sie aus diesem Raum entfernen zu wollen. Man sollte rassistische Sprüche nicht wiederholen, schließlich füttert
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Mithu Sanyal
das die Aufmerksamkeitsmaschine, doch über manches muss man einfach reden, wie über die skandalöse Aussage von Innenminister Horst Seehofer: »Die Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme« (Quadbeck-Maak und Bröcker 2018). Wie bitte? Auch die des Rentenlochs und dass wir keine effektive Mietbremse haben und der §219a noch immer nicht abgeschafft ist? Das ist, als würde der Chef des Sozialamtes sagen: Arme Menschen sind Verbrecher. Oder als würde die Direktorin einer Schule sagen: Kinder sind alle blöd und stören hier nur. Deshalb ist es erst einmal eine Überraschung, dass Deutschland so sicher ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Entgegen allen Informationen steigt Kriminalität eben nicht an, sondern geht zurück, sogar Gewaltverbrechen, sogar durch Migrant*innen verübte Gewaltverbrechen – wie sogar Seehofer selbst im Mai 2019 im Bundestag bestätigen musste, auch wenn er sich dabei anhörte, als hätte er einen Storch verschluckt. Oder eine Beatrix von Storch (AfD), die im Folgemonat in einem Interview mit der BBC behauptete, das läge nur daran, dass weniger Fahrräder gestohlen würden. Morde und Vergewaltigungen würden mehr und mehr. Die Statistiken sprechen eine andere Sprache. Wir leben historisch und geografisch an einem der sichersten Orte der Welt. Herzlichen Glückwunsch. Doch auch Menschen, die keine phantasmagorische Bedrohung zu Propagandazwecken aufrechterhalten, berichten über ein gesteigertes Gefühl von Angst und Unsicherheit. Warum? Das Max-Plank-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht erklärt dies mit einer Generalisierungsthese, die knapp zusammengefasst besagt: Je mehr soziale Ängste, Zukunfts- und Existenzängste es in einer Gesellschaft gibt, desto mehr Angst vor Kriminalität gibt es auch. Es ist nun einmal deutlich einfacher, sich einen Menschen vorzustellen, der einem etwas/Geld/Wohnraum/ Sicherheit streitig macht, als ein gesichtsloses Staatsgebilde. Und zurzeit stellen wir uns diesen Menschen wieder einmal mit dunklen Haaren und dunklen Absichten vor. Und zwar nicht individuell, sondern als Gruppe: Osten gegen Westen, ›ihr misogynes Frauenbild‹ gegen ›unsere Werte‹. Doch wenn Muslim*innen als Bedrohung für ›unsere Werte‹ wahrgenommen werden, wäre es das Mindeste zu wissen, was genau diese Werte sein sollen. In der Regel lautet die Antwort in etwa so: Die westliche Zivilisation wurde in der Antike von den Griechen begründet, deren Wissen wurde dann an die Römer weitergegeben und von diesen an die Europäer. Oder kürzer:
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»Von Plato zur Nato« (Gress 2004). Der Haken daran ist nur, dass diese Kultur von der muslimischen Welt ja geteilt wird. Die klassischen antiken Texte, auf denen unsere Renaissance basiert, wären für immer verloren gewesen, wenn sie nicht ins Arabische übersetzt und während des gesamten Mittelalters dort aufbewahrt worden wären.1 Und sogar der Begriff ›Flüchtlingskrise‹ hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Denn die Zahl der Geflüchteten ist weltweit keineswegs dramatisch angestiegen. 2015, auf dem Höhepunkt der vielbeschworenen Krise, waren es nicht mehr als Anfang der 1990er. Die erschreckende Zahl von über 65 Millionen kommt zu rund zwei Dritteln durch die Binnenvertriebenen zustande, von denen es in der Tat viel, viel mehr gibt als zuvor. Hier ist es angebracht von Krise zu sprechen, nämlich von der Krise für diese Menschen, die von humanitärer Hilfe viel seltener erreicht werden und es nahezu nie über eine internationale Grenze schaffen. Die Zahl der Geflüchteten, die in Deutschland ankommt, ist dagegen in der deutschen Geschichte keineswegs einmalig. Das Einzige, was von Einmaligkeit zeugt, ist die Sicherheit, nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU.
Internationale Terrorismusdebatte: Wie Rassismus institutionalisiert wird Das oben Gesagte gilt übrigens auch für Terror, der seit 1988 extrem rückläufig ist. Und zwar trotz des Anschlags auf Charlie Hebdo 2015 und der Selbstmordattentate in Brüssel 2016 und des Terroranschlags in Manchester 2017, wie man jedes Jahr den Ergebnissen des Global Terrorism Index des Institutes for Economics and Peace in London entnehmen kann. Dennoch steht Innere Sicherheit ganz oben auf der Agenda. So kam nach dem Terroranschlag in Manchester nahezu kein Artikel ohne den Hinweis aus, dass der 22-jährige Täter dem britischen Geheimdienst bekannt war. Laut der BBC sollen bereits vor Jahren Freunde Salman Abedis eine Anti-TerrorHotline angerufen und den Verdacht geäußert haben, er würde sich radikalisieren. Haben die Behörden also geschlampt? Müssen wir ab jetzt entschiedener reagieren, um Tragödien wie die in Manchester zu verhindern? 1
Diese aus dem Griechischen ins Arabische übersetzten Texte nennen sich ›Graeco-Arabica‹.
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Die Antwort ist, dass diese Anrufe keineswegs die Ausnahme sind, sondern zu Tausenden eingehen. Jedes Jahr (vgl. Taylor 2021). Gibt es entsprechend Tausende Terrorist*innen? Jedes Jahr? Natürlich nicht. Was es gibt, ist Prevent, das Programm zur Früherkennung von Menschen, die Gefahr laufen »in den Terrorismus abzugleiten« (Nabulsi 2017: 27–28). England und Wales führten Prevent 2003 ein, weil sie Terroranschläge als Reaktion auf ihren Einmarsch in den Irak befürchteten. Nach dem Ende des Golfkriegs wurde das Programm mehrfach überarbeitet und beinhaltet inzwischen, dass Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und sogar Kindergärtner*innen dazu angehalten werden, nach Warnsignalen bei ihren Schutzbefohlenen Ausschau zu halten. Diese Warnzeichen beinhalten: Depressionen, Probleme mit der Familie oder dem Umfeld, keine Freund*innen, neue Freund*innen, ein geringes Selbstwertgefühl, Jugendliche*r zu sein, sich zu fragen, wohin man gehört, sich mit Religion zu beschäftigen, sich ungerecht behandelt zu fühlen, schon einmal im Gefängnis gewesen zu sein, Migrationserfahrungen zu haben, Rassismuserfahrungen zu haben, Krieg im Herkunftsland und so weiter. All das sind natürlich keine Straftaten. Doch werden sie als (möglicher) Ausdruck einer Ideologie gewertet und damit als »gewaltfreier Extremismus« (ebd.: 27), der sich zu »gewaltsamem Extremismus« (ebd.) entwickeln könnte, besser bekannt als die Conveyor-Belt-Theory. Nach dem Motto: Wer einmal auf dem Fließband ist, wird automatisch weitergetragen, bis es knallt. Noch perfider ist die Iceberg-Theory des Chefs der ressortübergreifenden Koordinationsgruppe zur Terrorismusbekämpfung des Pazifikkommandos, Colonel Cardinal (Hoffmann 2008). Laut Cardinal schwimmen Islamist*innen wie Eisberge in einem Meer von moderaten Muslim*innen und würden dadurch nicht nur schwerer zu erkennen, sondern überhaupt erst ermöglicht – so wie Eisberge das kalte Wasser um sie herum brauchen, weil sie sonst schmelzen. Unnötig zu erwähnen, dass keine dieser Theorien von der modernen Extremismus-Forschung unterstützt wird. Trotzdem ist die Zahl der Prevent-Meldungen in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, während gleichzeitig das Alter der Angezeigten sinkt. Jede Woche werden in Großbritannien 60 Kinder angezeigt, einige von ihnen jünger als 9 Jahre. Die Politologin Karma Nabulsi berichtet von einem syrischen Jungen, der
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im Kindergarten ständig Bilder der Flugzeuge malte, deren Bomben seine Familie zur Flucht gezwungen hatten. Anstatt dem traumatisierten Kind Hilfe anzubieten, riefen die Kindergärtnerinnen die Polizei (Nabulsi 2017: 27). Diese Geschichte ist keine Ausnahme. Mehr als eine halbe Million Brit*innen haben inzwischen ein Prevent Training durchlaufen, um potenzielle Extremist*innen schneller herausfiltern, orten, finden (?) zu können. Das sind noch keine Stasi-Ausmaße, aber es geht ja auch nicht darum, dass jeder jeden bespitzeln soll, sondern nur weiße Brit*innen, nicht-weiße Brit*innen. Denn obwohl rechtsextreme Angriffe seit 2014 um 250% angestiegen sind (ZDF 2020), sind nur eine Handvoll Rechtsextremer unter den Tausenden von Prevent Verdachtsfällen. Im Radar der Sicherheitsbehörden sowie der Öffentlichkeit befinden sich vordringlich muslimische Männer und Jungen – wie der Chirurg Naveed Yasin, der verdächtigt wurde, ein Terrorist zu sein, als er nach einer kurzen Nacht wieder zurück auf dem Weg ins Salford Royal Hospital in Manchester war, wo er 48 lange Stunden die Verletzten des Anschlags versorgt hatte (Chandler 2017). Der Anlass für den Verdacht? Seine Hautfarbe. In Deutschland verglich der Publizist Jürgen Todenhöfer die Todesopfer durch rechten mit denen durch islamistischen Terror. Nun ist diese Gegenüberstellung bereits unzulänglich, da islamistischer Terror ja durchaus als rechtsextrem bezeichnet werden kann. Sogar dabei sind wir rassistisch: Echter Rechtsextremismus muss weiß sein. Jürgen Todenhöfer bezog sich auf Zahlen der Antonio Amadeus Stiftung – die seit 1990 208 durch Rechtsextreme getötete Menschen in Deutschland zählt – und des Verfassungsschutzes, der im selben Zeitraum 15 durch Islamisten verursachte Morde meldet. Lassen sich diese Zahlen vergleichen? Nicht wirklich. Aber sie legen zumindest ein dringlicheres Handeln gegen Rechten Terror nahe. Theoretisch. Stattdessen wurde 2019, nur wenige Tage nachdem der CDU-Abgeordnete Walter Lübcke durch den Rechtsextremen Stefan Ernst ermordet worden war, das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland geändert, um Menschen mit Doppelpass, die sich einer Terrormiliz – gemeint ist der IS und nicht etwa Nordkreuz oder der Hannibal-Komplex – anschließen, ausbürgern zu können. Der Schutz vor den wenigen IS-Kämpfer*innen, die pro Jahr zurückkehren wollen und mit denen die Sicherheitsbehörden nach eigener Aussage ohne Probleme
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Mithu Sanyal
klarkommen, ist dabei deutlich geringer als die verheerende Botschaft an die Gesellschaft, dass Menschen mit Doppelpass gefährlich sind, und zwar gefährlicher als andere, weshalb die AfD sofort forderte, auch weitere kriminelle ›Ausländer‹ rauszuschmeißen – während natürlich niemand auf die Idee kam, Stefan Ernst den deutschen Pass zu entziehen. Die Macromedia Hochschule legte 2019 eine Studie für den Mediendienst Integration vor, die den Zusammenhang zwischen Herkunft und Kriminalität klar verneinte, wohl aber einen Zusammenhang zwischen Herkunft und Nennung von Namen der Tatverdächtigen. So wurden in 2,9% der Zeitungsberichte der Name von ›deutschen‹ Verdächtigen genannt, aber in 41,2% der Berichte der Name von – wie die Studie sie nannte – ›ausländischen‹ Verdächtigen (Pross 2019).2 Wobei es interessant wäre, weiter zu untersuchen, ob zu diesen Deutschen auch Menschen mit Namen wie Mithu Sanyal gehören und zu den ›Ausländern‹ Menschen mit Namen wie Boris Johnson. Die Kriminologin Sandra Bucerius, die den Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität an klassischen Einwanderungsländern wie Kanada untersucht, kommt sogar zu dem Ergebnis, dass Immigration die nationalen Kriminalitätsraten tendenziell senkt (Bucerius und Tonry 2019). Es kann dann in der zweiten Generation zu einem Anstieg der Kriminalität kommen – und zwar bei mangelnder sozialer Integration. Ihr Fazit ist, neben einer Willkommenskultur braucht es auch eine Willkommensstruktur. Die Philosophin Michele MoodyAdams spricht von der Notwendigkeit von civic trust (zivilem Vertrauen): Dass Institutionen wie beispielsweise die Polizei allen Mitgliedern der Gesellschaft in derselben Form Vertrauen schenken – nicht ohne Grund ist die Unschuldsvermutung, bis ein Verbrechen nachgewiesen ist, eine der zentralen demokratischen Errungenschaften –, aber auch, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft Institutionen wie beispielsweise der Polizei vertrauen können.
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Die hier von Jennifer Pross dargelegten Studien resultieren aus der Expertise und den Studienergebnissen von Thomas Hestermann.
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Rassistische Gewalt: Eine postmigrantische Rassismuskritik Wie erschüttert dieses Vertrauen ist, zeigte sich nach dem Mord an George Floyd in den USA. Der Schwarze Familienvater starb, nachdem der weiße Polizist Derek Chauvin ihm acht Minuten lang sein Knie auf den Hals gedrückt hatte, obwohl Floyd zu diesem Zeitpunkt bereits mit Handschellen fixiert auf dem Boden lag, obwohl er mehrfach sagte, dass er nicht atmen konnte, obwohl er um sein Leben flehte, obwohl er die letzten drei dieser Minuten bewusstlos war. Weltweit gingen Menschen unter dem Motto black lives matter auf die Straßen. So auch in Deutschland. Auch wenn die Situation in Deutschland keineswegs mit der in Amerika vergleichbar ist, gibt es auch hier Tode durch Polizeigewalt. So wurde der in Deutschland lebende Sierra-Leoner Oury Jalloh am 07.01.2005 in einer Gewahrsamszelle im Polizeirevier Dessau-Roßlau, an Händen und Füßen gefesselt, verbrannt. Bis heute besteht die Polizei darauf, er habe Selbstmord begangen. An Händen und Füßen gefesselt? Das Verfahren gegen die beteiligten Polizisten wurde eingestellt und wird bis heute nicht wieder aufgenommen. Oury Jallohs ist der bekannteste Fall, doch keineswegs der einzige. Am 17.09.2018 starb der Syrer Amad A. bei einem Brand in einer Zelle der Justizvollzugsanstalt Kleve, wo er aufgrund einer – höchstwahrscheinlich absichtlichen – Verwechslung monatelang unschuldig im Gefängnis saß. Amad A. war mit einem Mann aus Mali verwechselt worden, der weder denselben Namen hatte, noch ihm auch nur ansatzweise ähnlichsah. Was die Polizeibeamt*innen unschwer festgestellt hätten, wenn sie nach der Festnahme die Fotos der beiden Männer miteinander verglichen hätten. Ein Fall solcher Tragik, dass er nur eine Ausnahme sein kann. Doch dann stellte sich heraus, dass in NRW zu diesem Zeitpunkt noch zwei weitere Männer aufgrund von Verwechslungen im Gefängnis saßen. Beide hatten einen sichtbaren Migrationshintergrund. Das Vertrauen in die Polizei als ›Freund und Helfer‹ ist dünn – in bestimmten Teilen der Bevölkerung. Und vertrauensbildende Maßnahmen wie die Herausgabe der NSU-Akten lassen auf sich warten. Die Morde des Nationalsozialistischen Untergrundes, kurz NSU, sind bis heute ein solches Politikum, weil die Polizei, da die Opfer aus der Türkei kamen, daraus schloss, dass die Täter*innen ebenfalls türkischstämmig sein müssten und alle Anzeichen ignorierten, dass es sich hier um rassistisch motivierte
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Mithu Sanyal
Verbrechen handelte. Die Presse sprach nur von ›Döner-Morden‹, die befasste Polizeikommission nannte sie ›Mordserie Bosporus‹. Und bis heute würden trauernde Familienmitglieder als Drogenhändler*innen verdächtigt, wenn sich der NSU 2011 nicht selbst enttarnt hätte. 2020 war das Jahr, in dem auch in Deutschland mehr und mehr Videos von Polizeieinsätzen mit Gewalt gegen BIPOCs auf sozialen Medien geteilt wurden. Dazu kamen: Datenabfragen und Drohmails gegen linksliberale Personen (Anwält*innen, Politiker*innen, Kabarettist*innen), ein veritabler »NaziSkandal« bei der Polizei Hessen, den sogar der hessische Innenminister Beuth einräumte, indem er ein »rechtes Netzwerk« innerhalb der Polizei für möglich hielt (Zeit Online 2020b), sowie die Aufdeckung zahlreicher polizeiinterner Chatgruppen, in denen u. a. Inhalte gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geteilt wurden (Feltes und Plank 2020: 1). Das Mittagsmagazin fragte: »Wie will Bundesinnenminister Seehofer den Staat künftig besser vor Nazis in Uniform schützen?« (Mittagsmagazin 2020). Kurzzeitig stand sogar die Frage nach der Abschaffung der Polizei im Raum (McMinn 2020). Doch dann erschien am 15.06.2020 eine Kolumne der Journalistin Hengameh Yaghoobifarah in der taz. Unter dem Titel All cops are berufsunfähig spekulierte sie darüber, was passieren würde, »falls die Polizei abgeschafft wird, der Kapitalismus aber nicht« (Yaghoobifarah 2020), und kam zu dem Schluss: Polizisten könnten bei der Müllabfuhr arbeiten, aber nicht mit Schlüssel zu den Häusern, um die Tonnen abzuholen, »sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten« (ebd.). Dieser mit Absicht ambivalente Satz sorgte für massive Kritik, kollegiale so wie … andere. Die CSU tweetete: »Die hässliche Fratze der hasserfüllten Linken in Deutschland zeigt sich« (Die Welt 2020) und legte ein Foto von Yaghoobifarah über die Ausschreitungen und Plünderungen im Juni 2020 in Stuttgart nach einer Drogenkontrolle. Der Tweet wurde nach Protesten gelöscht und die CSU entschuldigte sich, doch dafür kündigte Horst Seehofer danach an, er werde Anzeige gegen die Kolumnistin erstatten als Innenminister – also nicht etwa als Privatperson, sondern qua seines Amtes. Die Anzeige des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen das satirische Gedicht Schmähkritik von Jan Böhmermann stellte einen
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vergleichbaren Fall dar. Nur dass Horst Seehofer damals die Bestrebungen unterstützte, den Sonderparagrafen über eine Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter abzuschaffen, und sich die deutsche Öffentlichkeit einig war, dass die Strafanzeige eine untragbare Einschränkung der Pressefreiheit darstellt. Und zwar egal wie schlecht Böhmermanns Gedicht war. Schließlich handelte es sich hier nicht um Anzeige vor dem Sprachrat, um bessere Metaphern zu verwenden, sondern um den Versuch, Kritiker*innen den Mund zu verbieten. Hunderte Kulturschaffende schrieben einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und forderten sie auf, Seehofers Anzeige zu unterbinden. Trotzdem erhielt Yaghoobifarah deutlich weniger öffentliches Mitgefühl als Böhmermann. Vor allem erhielten die Polizist*innen, die sich durch ihren Text angegriffen fühlen könnten, deutlich mehr öffentliches Mitgefühl als die BIPOCs, die nachweislich rassistisch behandelt worden waren. In der Folge verlagerte sich die Debatte um Vorurteilsstrukturen innerhalb der Polizei zu einer Debatte um Vorurteile gegenüber der Polizei. »Statt über Black Lives Matter diskutieren wir über die Frage, wie man die deutsche Polizei vor randalierenden ›Ausländern‹ in Stuttgart schützen soll«, kommentierte die Journalistin Ferda Ataman (Ataman 2020). Denn auch Horst Seehofer hatte die Kolumne direkt mit den Ausschreitungen in Stuttgart in Verbindung gebracht: »Eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen, genauso wie wir es jetzt in Stuttgart gesehen haben« (Thorwarth 2020). Zwar lässt sich seine Argumentation, die Kolumne fordere, dass Polizisten auf der Müllhalde entsorgt werden sollten, in dieser Form nicht in Yaghoobifarahs Text finden, was jedoch stimmt ist, dass hier ein empathieloser Blick nicht auf ›die Anderen‹, sondern auf ›die Polizei‹ geworfen wird. Der Journalist Patrick Bahners führt aus: »Die Autor*in dreht den Spieß um. Angehörige von Minderheiten […] machen die Erfahrung, dass sie der Polizei verdächtig sind, egal was sie tun. […] Also zeigt Hengameh Yaghoobifarah den Polizisten, wie das ist, wenn man einem Verdacht ausgesetzt ist, gegen den man sich nicht verteidigen kann« (Bahners 2020).
Und die Polizei fühlt sich davon – zu Recht, finde ich – verletzt und sogar bedroht. Die logische Folge davon sollte eine Auseinandersetzung mit
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Entmenschlichungen in der eigenen Sprache sein, bei der Polizei – #Nafris – ebenso wie bei Horst Seehofer, der schon mal bei Karnevalsreden erklärt, er würde »die Zuwanderung in das deutsche Sozialsystem bis zur letzten Patrone verhindern« (Tagesspiegel 2011). Schließlich ist eine Kolumnistin in der Regel nicht bewaffnet und hat kein Gewaltmonopol, die Polizei jedoch schon. Trotzdem wehrte sich Horst Seehofer mit Händen und Füßen gegen eine unabhängige Rassismusstudie der Polizei. Der aktuelle Stand ist, dass die Studie nun von der Deutschen Hochschule der Polizei durchgeführt werden soll und schwerpunktmäßig Arbeitszufriedenheit von Polizist*innen untersuchen soll, sowie »bestehende Hilfsangebote für durch Gewalt oder extreme Arbeitsbelastung betroffene Polizeibeamte zu identifizieren und Konzepte für die effektivere Ausgestaltung zu entwerfen« (Zeit Online 2020a). Das ist mit Sicherheit eine wichtige Studie, es ist aber nicht die geforderte Rassismusstudie, auch wenn Rassismus irgendwo auch vorkommt. Ich kann mir Seehofers Abwehr nur so erklären, dass er Rassismus als aktive, bewusste Handlungen von ›bösen Menschen‹ versteht und nicht als Struktur, die auf der unterschiedlichen Wahrnehmung von Menschen basiert und zu unterschiedlicher Behandlung führt. Und dass dies der Fall ist, belegen zahlreiche Studien, wie die der Uni Bochum zum Thema Körperverletzung im Amt, nach der Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund deutlich häufiger Diskriminierungserfahrungen – etwa bei verdachtsunabhängigen Personenkontrollen – machen als weiße Deutsche. Nebenbei werden sie auch nachweislich signifikant häufiger verdachtsunabhängig kontrolliert. Dem gegenüber kam die Studie zu dem Ergebnis: »Polizisten nehmen ihr Verhalten häufig als nicht diskriminierend wahr« (Hauck 2020). Dieses Problem ist nicht auf die Polizei beschränkt, auch Journalist*innen haben häufig ein zu geringes Bewusstsein für den unbewussten Rassismus in ihren Texten. So kritisiert Ferda Ataman die Form, wie über Black Lives Matter berichtet wurde: »Viele, die fleißig über Rassismus diskutierten, glänzten dabei durch komplette Unwissenheit und semantische Schnitzer. Anne Will sprach von einem ›Rassenproblem‹. Der Blogger Nasir Ahmad hat nachgeschaut, wie viele Medien den Begriff ›Rassenunruhen‹ verwendet haben. Ergebnis: fast alle – von NZZ bis Zeit Online« (Ataman 2020). Und noch etwas ist frappierend: Die Black-LivesMatter-Bewegung begann, nachdem der unbewaffnete Teenager Tayvon
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Martin von dem Polizisten George Zimmermann erschossen worden war. Die erste BLM-Demonstration fand nach der Erschießung des Schülers Michael Brown durch den Polizisten Darren Willson statt. Auch Michael Brown war unbewaffnet. Trotzdem insistierten die Polizist*innen darauf, aus Notwehr gehandelt zu haben. Sie alle sprachen von ihrer großen Angst, sogar wenn der Schwarze Verdächtige mit erhobenen Händen von ihnen wegging, wie Terrence Crutcher, der 2016 von der Polizistin Betty Shelby erschossen wurde. Ihre Erklärung: »I’ve never been so scared […] I thought he was going to kill me« (Menakem 2017: 121). Entweder lügen sie alle, dann brauchen wir dringend eine Rassismusstudie. Oder sie sagen die Wahrheit, dann brauchen wir erst recht dringend eine solche Studie. International. Und hier hatte sogar Horst Seehofer Recht, als er eine Rassismusstudie, die sich allein auf die Polizei bezieht, ablehnte. Nur fuhr er dann natürlich fort: »Es wird keine Studie geben, die sich mit Unterstellungen und Vorwürfen gegen die Polizei richtet.« (Bundesministerium des Inneren 2020) Denn natürlich ist die Polizei nicht die einzige Institution, die zu große Befugnisse hat, um die Augen vor ihrem strukturellen Rassismus verschließen zu können. Am 26.04.2019 starb der Kameruner William Tonou-Mbobda, nachdem er von Sicherheitsbeamte*innen des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf überwältigt worden war. Sein Verbrechen? Er wollte ein Medikament nicht einnehmen. In Deutschland gilt die ›zwangsweise Gabe eines Medikaments‹ als besonders schwerwiegender Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Augenzeug*innen berichten, wie TonouMbobda, der nichtsahnend vor der Klinik auf einer Bank gesessen hatte, von Sicherheitsdienst-Mitarbeiter*innen auf den Boden geworfen und am Boden fixiert – also gefesselt – wurde, während ein weiterer Sicherheitsbeamter ihm immer wieder das Knie in Rücken und Nieren rammte. So steht es in dem offenen Brief, mit dem die Black Community sich an die Öffentlichkeit wandte und ein Ende der rassistischen Praxis des Uniklinikums Eppendorf kurz UKE forderte. Das UKE sah das anders und reagierte mit dem Statement: »Rassismus hat im UKE keinen Platz. Wir stehen im UKE konsequent für Toleranz« (Gritti 2019). Wie bitte? Wir mögen keinen Rassismus, also können wir auch nicht rassistisch sein. Was ist denn das für eine Argumentation? Es ist dieselbe
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Argumentation, mit der Horst Seehofer die Rassismusstudie der Polizei ursprünglich abgelehnt hatte: »Weder die Polizeigesetze des Bundes noch die einschlägigen Vorschriften und Erlasse erlauben eine solche Ungleichbehandlung von Personen« (Leitlein 2020). Sprich: Rassismus ist verboten, also gibt es keinen Rassismus. Nur bräuchten wir dann auch keine Polizei, weil Verbrechen ja auch verboten sind. Unsere Vorstellung von Rassismus kann man auf die Formel bringen: Rassismus sei etwas, was einzelne Menschen halt individuell so machen; dass diesen Leuten vollkommen bewusst ist, dass sie rassistisch handeln; und sie absichtlich gemein zu Menschen sind, die sie als irgendwie anders wahrnehmen. Bloß ist der wenigste Rassismus individuell, bewusst und absichtlich. Studien belegen, dass Schwarze Menschen unverhältnismäßig häufiger als aggressiv wahrgenommen werden. Dass Menschen sie schneller – und das heißt viel schneller – als gefährlich einschätzen als weiße und deshalb auch härter gegen sie vorgehen. Nicht-Weiße Menschen bekommen seltener einen Job, seltener eine Wohnung und seltener eine gute medizinische Behandlung. Der offene Brief der Black Community Hamburg endet damit, dass ihnen: »eher mit tödlicher Gewalt als mit Mitgefühl begegnet wird« (Gritti 2019). Sogar das Wissen über Krankheitssymptome auf nicht-weißer Haut ist schlicht nicht vorhanden, sodass Ärzt*innen nicht darauf achten können, weil sie sie nicht kennen. Wie verändert sich die Farbe des Gesichts bei einem Infarkt? Wie manifestieren sich Allergien? Anzeichen für innere Blutungen oder Vergiftungen? Keine Ahnung. Abbildungen in medizinischen Büchern zeigen Symptome nur auf weißer Haut, weshalb der Medizinstudent Malone Mukwende ein Handbuch mit dem Titel Mind The Gap. A Handbook of Clinical Signs in Black and Brown skin herausgegeben hat – und zwar im Jahr 2020! Das Gegenteil von ›rassistisch‹ ist nicht, ›nicht rassistisch‹, sondern ›anti-rassistisch‹ zu sein, erklärt der Historiker und Gründungsdirektor des Anti Racist Research and Policy Center der American University Ibram X. Kendi (Kendi 2021).3 Denn wenn wir Rassismus einfach nur ableh3
Vgl. hierzu auch den TED-Talk The difference between not being ›not racist‹ and anti-rascist von Kendi: https://www.ted.com/talks/ibram_x_
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nen, bleibt dadurch die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit dieser Strukturen aus. Antirassismus dagegen geht von der Analyse aus, dass wir in einem Gesellschaftssystem aufgewachsen sind, das auf rassifizierten Hierarchien basiert – auf der Ausbeutung anderer Länder durch Kolonialismus, auf rassistischen Menschenbildern, die unsere Philosophie durchdringen usw. (Goldberg 2004) – deshalb wäre es höchst verwunderlich, wenn ein Gesellschaftszweig davon frei bliebe, als wäre er abgeschnitten vom Rest der Wissensproduktion. Dass gerade in allen gesellschaftlichen Bereichen – Polizei, Wissenschaft, Kultur – Vorwürfe von Rassismus laut werden, ist nicht ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft immer rassistischer wird, sondern dass wir beginnen, uns mit diesen Strukturen auseinanderzusetzen. Und zwar als Gesellschaft. Es geht nicht darum, sich anzustrengen, so nette Menschen wie möglich zu werden. Spoiler: Selbstverpflichtungen funktionieren nahezu nie, weil dabei jede*r das Rad selbst erfinden und es, um im Bild zu bleiben, durch eine Welt aus Quadern rollen muss. Selbstverpflichtungen sind im besten Fall Selbstüberforderungen – im schlechtesten Fall sind sie leere Worte. Was wir brauchen, ist eine Institutionalisierung von anti-rassistischem Wissen sowie einer anti-rassistischen Praxis, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen. Das entspricht übrigens auch den Forderungen des Europarats, der von Deutschland aktive Maßnahmen gegen Rassismus verlangt, allem voran mehr »Aufklärungsarbeit in Institutionen« und die Verankerung von Rassismuskritik in die »Bildungsgesetze und in die Lehrpläne« (Zeit Online 2020). Dadurch gewinnen in letzter Instanz alle, weil es weder erstrebenswert ist, ein gefährlicher Körper zu sein, noch ein gefährdeter Körper.
kendi_the_difference_between_being_not_racist_and_antiracist/ transcript?language=en#t-1751 (15.12.2021).
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Mithu Sanyal
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Wissen um Rassismus in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen
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Veronika Kourabas und Paul Mecheril
Wissen um Rassismus in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen
Einleitung Gegenwärtig besitzen 26% der Menschen in Deutschland einen sog. Migrationshintergrund, bei Kindern ist die Zahl noch höher, hier sind es mit 40% fast die Hälfte aller Einwohner*innen (vgl. Foroutan 2021). Deutschland ist eine Migrationsgesellschaft, das ist keine abstrakte Vorstellung, sondern alltägliche Realität. Migrationsbewegungen verweisen auf eine grundlegende, menschliche Praxis und kennzeichnen nahezu alle historischen Epochen weltweit; sie prägen die Gegenwart und mit großer Wahrscheinlichkeit die Zukunft. Zugleich – und dies ist Teil der umkämpften, sich wandelnden migrationsgesellschaftlichen Wirklichkeit – kommt es bei der gesellschaftlichen, politischen, aber auch wissenschaftlichen Thematisierung von Migrations- und Fluchtbewegungen in Deutschland immer wieder zu politischen, medialen und gesellschaftlichen Reaktionen und diagnostischen Einschätzungen, die Überraschung, Überforderung und Bedrohungs- und Krisenentwicklungen in den Vordergrund stellen. Flucht- und Migrationsbewegungen werden dabei als Ausnahme- und Katastrophenfälle imaginiert und inszeniert, die dadurch symbolisch aus der gesellschaftlichen Normalität und Realität ausgegliedert werden. Im Folgenden werden wir einige Überlegungen anführen, um zu erläutern, warum wir diese gesellschaftliche Situation nicht im Ausdruck der ›postmigrantischen Gesellschaft‹ fassen, sondern vielmehr dafür plädieren, den Ausdruck ›Migrationsgesellschaft‹ zu verwenden. Der vorliegende Beitrag widmet sich, auf diesen Überlegungen aufbauend, in kritischreflexiver Weise den Auseinandersetzungen mit und über Rassismus im migrationsgesellschaftlichen Deutschland und schließt mit einem rassismuskritischen Ausblick.
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Veronika Kourabas und Paul Mecheril
Deutschland postmigrantisch? Der Ausdruck ›postmigrantisch‹ hat Karriere gemacht. Er findet in wissenschaftlichen, künstlerischen wie auch politischen Zusammenhangen Verwendung und steht für eine Art Modernisierung und Reformulierung des kulturellen Sprechens über Migrationsgesellschaftlichkeit. Als ›postmigrantisch‹ wird dabei zum Beispiel ein Prozess bezeichnet, »in welchem Zugehörigkeiten, nationale (kollektive) Identitäten, Partizipation und Chancengerechtigkeit postmigrantisch, also nachdem die Migration erfolgt und nun von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist, nachverhandelt und neu justiert werden« (Foroutan 2015).
Mit der Bezeichnung ›postmigrantisch‹ lassen sich folglich jene Gesellschaften kennzeichnen, in denen eine »heterogene Grundstruktur politisch anerkannt worden ist (›Deutschland ist ein Einwanderungsland‹) – ungeachtet der Tatsache, ob diese Transformation positiv oder negativ bewertet wird« (ebd.). Als zwei weitere zentrale Kennzeichnen führt Naika Foroutan an, dass zum einen in postmigrantischen Gesellschaften »Einwanderung und Auswanderung als Phänomene erkannt werden, die das Land massiv prägen und die diskutiert, reguliert und ausgehandelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können«, und zum anderen, dass »Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat« (ebd., Herv.i.O.). Wenngleich die Aussage, dass Migration gegenwärtig »von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist«, auf eine wichtige politische und wissenschaftliche Entwicklung und Zäsur der grundsätzlichen Anerkennung migrationsgesellschaftlicher Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands verweist, reproduziert die Aussage zugleich die offizielle politische Rhetorik, die einerseits ›Weltoffenheit‹ propagiert (vgl. Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat 2020) und hierbei darauf verweist, dass Deutschland fraglos ein von Migration geprägtes Land sei und die andererseits bestimmte Formen der Flucht/Migration als nicht-anerkennbare Bewegungen
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von Menschen über Grenzen verhandelt. Der Gegenwartskontext ist somit durch die Gleichzeitigkeit der bundes- und landespolitischen Programmatik einer Praxis der Anerkennung migrationsgesellschaftlicher Realität einerseits sowie der Einschränkung bis Unterbindung von Fluchtund Migrationsbewegungen andererseits gekennzeichnet. Insbesondere die Bewegung außereuropäischer Migrant*innen und Geflüchteter, deren Recht(sanspruch) auf Bewegung durch Kriminalisierung, Illegalisierung, Dämonisierung sowie eine transnationalstaatlich organisierte Abschiebe-, Inhaftierungs- und Rückweisungspraxis im Zuge eines Europäischen Grenzregimes verunmöglicht wird, wird dabei in besonders intensiver Weise unterbunden und als von außen stammendes Problem externalisiert. Mit der Beteuerung, dass Migration politisch anerkannt sei, geht das Modell der ›postmigrantischen Gesellschaft‹ konzeptionell1 mit der Unterschätzung des Umstands einher, dass die nationalstaatliche Ordnung Bewegungen von Menschen über Grenzen hinweg verfolgt, verhindert und auch dämonisiert, was nicht bloß Ausdruck dessen ist, dass manche politischen Lager ›migrationsfeindlicher‹ sind als andere, sondern vielmehr als konstitutiver Teil der (gegenwärtigen) Logik des Nationalstaates zu begreifen ist.
Postmigration, ›Rasse‹ und Nationalstaatlichkeit Mit der Bezeichnung ›postmigrantisch‹ wird weiter in den Vordergrund gerückt, »dass es nicht um Migration selbst geht, sondern um gesellschaftspolitische Aushandlungen, die nach der Migration erfolgen, die hinter der Migrationsfrage verdeckt werden und die über die Migration hinaus weisen. Konkreter: es geht hier nicht mehr darum, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, sondern wie dieses Einwanderungsland gestaltet wird« (Foroutan 2019: 19, Herv.i.O.).
Wenn wir diese Formulierung methodologisch als eine Art Diskursfragment betrachten, dann drängt sich der Eindruck auf, dass der Diskurs um 1
Es geht uns hier allein um eine Kritik der konzeptionellen Logik des Ausdrucks ›postmigrantisch‹. Für die Analysen und die intellektuelle Praxis seiner Protagonist*innen ist diese Kritik nicht zwangsläufig zutreffend.
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Postmigration mit zwei bedeutsamen und sich ergänzenden Verkürzungen operiert: a) Gesellschaftsanalyse wird vornehmlich in der Einheit des Nationalstaates betrieben und entsprechend sind gesellschaftspolitische Vorschläge überwiegend auf diese Einheit fokussiert, b) Migration wird aus der Perspektive des Nationalstaats und nicht etwa aus der Perspektive Grenzen überschreitender Subjekte als Aufgabe zur Gestaltung der Migrationsgesellschaft verstanden. Dies hat zur Folge, dass die Vielfalt der Bewegungen der Subjekte im transnationalen, globalen Raum aus der binär angelegten Perspektive des Nationalstaates2 entworfen und damit grundlegend eingeschränkt wird. Mit dieser Beschränkung auf die Perspektive des Nationalstaats wird der Diskurs um Postmigration und die aus diesem Diskurs resultierende, postmigrantische Analyseperspektive nicht nur anschlussfähig an die nationalstaatliche Ordnung, sondern steht in Gefahr, deren Hegemonie zu stabilisieren. Die Wirksamkeit und Beharrlichkeit der an Rassekonstruktionen anschließenden und diese bestärkenden sozialen Unterscheidungsformen ist charakteristisch für nationalstaatlich verfasste Gesellschaftsformen. Die Europäische Nationenpraxis konnte sich nur durch die faktische und symbolische Instrumentalisierung und Vergegenständlichung anders Imaginierter und Bezeichneter vollziehen. In besonders klarer Weise hat dies David Theo Goldberg (2002) herausgearbeitet, der zeigt, wie die Genese und Verfasstheit moderner Staatlichkeit von Rassekonstruktionen vermittelt wird. Das Vorstellungsbild und die Praxisform ›Rasse‹ stellen nach Goldberg einen essenziellen Bestandteil der epistemischen, philosophischen und materiellen Entwicklung des modernen Nationalstaats und seiner gegenwärtigen Gouvernementalität dar. Die Institution des Nationalstaates benötigt das Phantasma der territorialisierten Nation und produziert es zugleich. Das imaginäre Zentrum des Nationalstaats ist die 2
Kennzeichnend und konstitutiv für die Zugehörigkeitspraxis nationalstaatlicher Ordnungssysteme ist die von allen Nationalstaaten getragene Absicht der weitgehenden Verhinderung von Mehrstaatigkeit und der Vereindeutigung von Zugehörigkeitsverhältnissen. Die nationalstaatliche Ordnung ist darauf angewiesen, dass eine klassifikatorische Gewissheit geschaffen wird, zum Beispiel und vor allem im Hinblick auf die moderne Frage, wer Bürger*in eines Landes ist und wer nicht.
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Nation als vergemeinschaftete Einheit. Sie bleibt jedoch unerreichbar und imaginär (vgl. Anderson 1987). Die Konstitution des individuellen oder kollektiven Subjekts bedarf des Bezugs auf eine*n als Andere*n erkannte*n und phantasierte*n Andere*n. Der*die Andere ist konstitutiv immer schon Teil des Selbst und das Subjekt mithin grundlegend de-zentriert (vgl. Hall 1999). Postkoloniale Theoretiker*innen haben in Aufnahme der Kritik am cartesianischen, voluntaristisch und selbst-identisch gedachten Subjekt der Aufklärung und europäischen Moderne darauf hingewiesen, dass diese*r Andere nicht eine abstrakte, ahistorische und apolitische Figur, sondern immer auch ein spezifische*r Andere*r ist. Denn Subjektwerdung und -bildung vollzieht sich immer in konkreten Macht- und Herrschaftsverhältnissen und das hat reale Konsequenzen für die jeweiligen Subjekte. Das heißt, dass individuelle und kollektive Subjektbildung sich nicht nur immer in Beziehung zum*zur Anderen vollzieht, sondern dass diese Beziehung auch immer in historisch-spezifischen Kontexten und damit verbundenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verortet ist (vgl. Bhabha 2000). Das Wir des europäischen Nationalstaates ist ein Wir, das sich durch Abgrenzung konstituieren kann, und diese Abgrenzung ist strukturell mit der Abwertung der imaginierten Anderen verbunden (Goldberg 2002), da erst die Abwertung der Anderen die Höherwertigkeit des Wir garantiert und damit den Sinn ausweist, warum je ich mich diesem Wir verpflichte und zugehörig fühle. In diesem Zusammenhang stellen Rassekonstruktionen – die mit ›Rasse‹-Äquivalenzen wie Kultur, Religion, Ethnizität operieren – probate Mittel dar, die Vorstellung des Wir und den Glauben an dieses Wir zu bekräftigen. Dies gilt insbesondere in Zeiten der Krise des Wir. Je bedeutsamer die Schwierigkeit der Bestimmung der Grenze wird, desto attraktiver wird die phantasmatische Absicherung und Iteration des Wir (vgl. Kourabas und Mecheril 2021). Diese Gewaltdimension wird mit der Analysekategorie der postmigrantischen Gesellschaft auch aufgrund einer indirekten Affirmation des Nationalstaates eher unterschätzt (vgl. genauer Çiçek und Mecheril 2020). Wir wählen daher eine rassismustheoretische Perspektive, wenn wir den migrationsgesellschaftlichen Kontext im Hinblick darauf befragen, ob und wie Rassismus und damit einhergehende Wissensbestände und Erfahrungen verhandelt werden.
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Veronika Kourabas und Paul Mecheril –
Wissen um Rassismus in Deutschland Das Fundament des Rassismus ist ein flexibles, historisch und kontextuell variables System von Erklärungen für die vermeintliche Angemessenheit von Unterscheidungen von Menschen, die auf Rassekonstruktionen basieren und diese zugleich hervorbringen. Diese ideologisch-diskursive Sinndeutung und Rechtfertigungspraxis ist in der Lage, die Welt und die Erfahrungen, die Einzelne in ihr machen, in relativ simplen Schemata nicht nur zu erklären, sondern sie zugleich zu plausibilisieren. Rassismus operiert mit dem Code der ›Rassen‹, wobei ›Rasse‹ eine nicht zuletzt im Zuge des Kolonialismus in der europäischen Moderne auftauchende Erfindung ist. In Rassekonstruktionen werden Körper und auch bestimmte Symbole (›Akzent‹, Kopftuch) als Hinweise auf relativ stabile Mentalitäten ausgegeben, die aus kollektiven Zugehörigkeiten resultieren. Hierbei führen Rassekonstruktionen einen Unterschied zwischen einem natio-ethnokulturell kodierten ›Wir‹ und einem ›Nicht-Wir‹ ein, wobei dem ›Wir‹ eine höhere Stellung und Wertigkeit zugeschrieben wird. Der Körper, die Sprache, die Kleidung der Anderen zeigt dabei ihre vermeintliche, natioethno-kulturelle Rückständigkeit an. Diese Rückständigkeitskonstruktion, die zumeist eine Defizitunterstellung auf der Ebene von ›Geist‹ (Ratio, Verstand, Vernünftigkeit) beinhaltet, geht mit der Unterstellung einer rückständigen Körpernähe (Trieb, Genuss, Unzuverlässigkeit) einher und ist zugleich Voraussetzung für exotisierende Projektionen. Rassismus ist eine nicht notwendig absichtliche Praxis der Selbstaufwertung durch die phantasmatische Erfindung der Anderen und ihre Degradierung. Im deutschsprachigen Diskurs war und ist der Rassismusbegriff trotz einer langsamen Etablierung rassismustheoretischer und rassismuskritischer Forschungsperspektiven (vgl. u.a. Demirović und Bojadžijev 2002; Fereidooni und El 2017; Mecheril und Melter 2011; Terkessidis 2004) noch immer keine selbstverständliche Analyseperspektive zur Untersuchung alltäglicher, gewöhnlicher Gesellschaftsverhältnisse. Wird Rassismus etwa ausschließlich mit dem Nationalsozialismus verknüpft, wird die Tatsache verkannt, dass Rassismus in Deutschland auch bereits vor dem Nationalsozialismus nicht zuletzt zur Zeit des deutschen Kolonialismus als ideologischer Diskurs und alltägliche Handlungspraxis
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bedeutsam war. Ein Verständnis von Deutschland als postkoloniale Gesellschaft ist im bundesdeutschen Diskurs jedoch noch vergleichsweise jung und findet erst in den letzten Jahren Eingang in breitere wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten (vgl. u.a. Castro Varela und Dhawan 2015; El-Tayeb 2016). Ein postkolonial orientiertes Denken verfolgt weder den Anspruch, Herrschaftsverhältnisse und die Zeit des Kolonialismus exakt datierbar zu machen, noch deren ungebrochenes und unverändertes Fortdauern in aktuellen politischen Systemen zu konstatieren oder aber von dem Ende kolonialer Strukturen auszugehen. Vielmehr sind postkoloniale Perspektiven durch ein »Denken an der Grenze« (Hall 1997: 219) charakterisiert, das den Prozess des »›doppelte[n] Einschreiben[s]‹ (double inscription) […] über das klar geschiedene Innen-Außen-Territorium des Kolonialsystems hinausführt« (Hall 1997: 227). Dadurch wird nicht die dem Kolonialismus eingeschriebene Trennung des Innen und Außen nivelliert, noch deren tiefgreifende Bedeutung für kolonialisierende und kolonialisierte Gesellschaften in der Vergangenheit oder in ihrem Gegenwartsbezug in Abrede gestellt. Eine postkoloniale Perspektive fasst hingegen »›Kolonialisation‹ als Teil eines im Wesentlichen transnationalen und transkulturellen, ›globalen‹ Prozess neu – und bewirkt ein von Dezentrierung, Diaspora-Erfahrung oder ›Globalität‹ geprägtes Umschreiben der früheren imperialen Großgeschichten mit der Nation als Zentrum. Sein theoretischer Nutzen liegt demnach genau in seiner Ablehnung der Perspektive des ›hier‹ und ›dort‹, ›damals‹ und ›heute‹, ›Inland‹ und ›Ausland‹« (Hall 1997: 227).
Mit dieser theoretischen Perspektive auf die komplexe Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Effekte politisch-formal beendeter kolonialer Herrschaft verbindet sich in postkolonialen Ansätzen das Interesse, die Nachwirkungen kolonialer Denk-, Handlungs- und Empfindungsstrukturen zu fassen und damit auch die konstitutive Verwobenheit der ehemals kolonialisierenden wie der kolonialisierten Gesellschaften in der Gegenwart zum Gegenstand zu machen (vgl. Hall 1997: 226; vgl. auch Ha 2009). Es leuchtet ein, dass Rassismus weder in seiner nationalsozialistischen Reinheits- und Vernichtungsprogrammatik noch in seiner kolonialistischen
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Form als systematische, imperialistische Gewalt- und Ausbeutungspolitik die gegenwärtige Realität Deutschlands prägt und diese damit nicht durch einen »programmatischen Staatsrassismus« (Messerschmidt 2015: 3) gekennzeichnet ist. Dennoch sind rassistische und koloniale Strukturen als (dis-)kontinuierliche Nachwirkung in Deutschlands Gegenwart wirksam (vgl. Messerschmidt 2007; 2009). In diesem dis-kontinuierlichen Nachwirkungsverhältnis tritt Rassismus nicht immer als direkte und nachvollziehbare Tat in Erscheinung, sondern vollzieht sich überwiegend als normalisierte Wissens- und Unterscheidungspraxis, die aber zugleich – das haben nicht nur, aber gerade auch die Morde in Hanau im Jahr 2020 und die mehrjährige rassistische Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) von 2000 bis 2006 gezeigt – immer wieder im Modus einer physischen und direkten, lebensbedrohlichen Gewalt in der Bundesrepublik ausagiert wurde und wird. Die Thematisierung von Rassismus unterliegt damit einerseits einer »stets wieder überraschende[n] Vergesslichkeit« (Herv.i.O.), die auch als ein »[p]athisches Vergessen« (Dahmer 2020: 9, Herv.i.O.) greifbar wird. Andererseits lässt sich in den letzten Jahren eine erhöhte Sensibilität in der bundesdeutschen Gegenwart ausmachen, die erstens mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für an Rassekonstruktionen anschließende und diese vermittelnde Praktiken reagiert, zweitens mit der öffentlichen Artikulation von Kritik an diesen rassistischen Praktiken einhergeht und Rassismus als strukturelles Problem ernst(er) nimmt, ein Sprechen über Rassismus zunehmend ermöglicht sowie mediale, politische und auch wissenschaftliche Formen der Individualisierung, De-Thematisierung und Bagatellisierung identifiziert und kritisch zurückweist. Dass der Rassismusbegriff seit etwa zwei Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum verstärkt als Analyseperspektive nicht allein der Vergangenheit, sondern der Gegenwart Beachtung findet, hat im Wesentlichen drei Gründe. a. Zunächst hängt dies damit zusammen, dass die begrifflich-theoretischen Grenzen der gesellschaftlich, politisch wie medial überwiegend verwendeten Begriffe ›Fremdenfeindlichkeit‹, ›Ausländerfeindlichkeit‹ und ›Rechtsextremismus‹ deutlich geworden sind und die mit ihnen verbundenen Analysen und Handlungsempfehlungen nur eingeschränkt Wirkung erzielen konnten. Auch die von wissenschaftlichen
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sowie zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eingebrachte Kritik an den als unzureichend eingeschätzten Begriffen haben Anklang gefunden. b. Zweitens muss der Bezug auf den Rassismusbegriff im deutschsprachigen Raum auch vor dem Hintergrund verstanden werden, dass durch Internationalisierung und Europäisierung die gebräuchliche Analyseperspektive Rassismus verstärkt auch in Deutschland üblich geworden ist: nicht erst seit der transnationalen Bewegung »Black Lives Matter«, seither aber besonders intensiv. Hierfür waren und sind Postcolonial Studies und Critical Race Theory nicht nur in epistemischer und erkenntnispolitischer Hinsicht zentrale Impulsgeber*innen (vgl. Ha 2009: 267). c. Drittens hat sich durch die Umstellung des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland auf ein eher republikanisches Staatsbürger*innenschaftskonzept zu Beginn des 21. Jahrhunderts und aufgrund der erst damit einsetzenden, offiziellen Anerkennung der gesellschaftlichen Migrationstatsache die gesellschaftliche Wirklichkeit in einer nicht zu unterschätzenden Weise gewandelt. Die Konjunktur des Rassismus seither ist durchaus als Einsatz dafür zu verstehen, die vornehmlich abstammungsbezogen verfasste Ordnung der Vergangenheit wiederherzustellen, in der Migrationsandere als legitim ge-brauchbare Arbeitskraft ›auf Zeit‹ galten (vgl. Kourabas 2021). Zugleich ist nach langen Kämpfen nicht zuletzt migrantischer Akteur*innen für ein modernisiertes Staatsbürger*innenschaftskonzept auch ein gesellschaftlicher Zusammenhang entstanden, in dem zunehmend insbesondere rassistisch diskreditierbare Subjekte diese Realität der Diskreditierung, der Herabwürdigung und Gewalt zum Thema machen und Strukturen und Räume in Politik, Wissenschaft und Kultur schaffen, in denen Rassismus als gewöhnliches Macht- und Herrschaftsverhältnis problematisiert wird. Das öffentliche Bewusstsein wandelt sich auch und gerade deshalb, weil rassistisch belangbare Subjekte ihr Wissen um die rassistisch strukturierten gesellschaftlichen Verhältnisse mehr und mehr einbringen (können); in mikropolitischen und alltäglichen Zusammenhängen wie auch in öffentlichen Kontexten. Zugleich stößt dieses Einbringen und Einschreiben von Wissen über Rassismus in Deutschland auf Grenzen und ist nach wie vor umkämpft.
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Erfahrungen und Wissen über Rassismus in der Migrationsgesellschaft Während »rassistisches Wissen« (Terkessidis 2004: 91–93.; vgl. auch Goldberg 2001) im hegemonialen Diskurs latent verortet ist und nicht nur artikuliert, sondern auch sozial wirksam platziert und ›verstanden‹ wird, kann das Wissen über Rassismus in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen zwar als sozial geteilter Erfahrungs- und Wissensraum verstanden werden. Aufgrund seines nicht-hegemonialen Status gründet er jedoch nicht in dieser Weise auf einer gesellschaftlich geteilten Akzeptanz, wie es bei rassistischem Wissen der Fall ist. Das Wissen um die Alltäglichkeit natio-ethno-kulturell kodierter Differenzierung und ihrer Beteiligung an der Genese einer rassistisch strukturierten Realität und der ihr innewohnenden Gefahren ist nicht zuletzt jenen, die rassistisch belang- und diskreditierbar sind, bekannt. So zeigen Eva Georg und Olivia Sarma (2019) sowie Ayşe Güleç und Lee Hielscher (2015: 146–148) mit Bezug auf die rassistische Mord- und Anschlagsserie des NSU selbst sowie im Hinblick auf die polizeiliche Ermittlungsarbeit und die mediale und gesellschaftliche Verhandlung der Ereignisse, dass das Wissen über die rassistisch motivierten Anschläge den Angehörigen der ermordeten Personen sowie migrantisch situierten Menschen in Deutschland lange bekannt war.3 Es handelt sich dabei nicht nur um ein kognitives Wissen, sondern zugleich um eine unmittelbare, »leiblich, situierte Erfahrung« (Kahveci und Sarp 2017: 39). Juliane Karakayali, Çagri Kahveci, Doris Liebscher und Carl Melchers führen in diesem Zusammenhang weiter an, dass Angehörige der Opfer schon jahrelang vor der offiziellen Aufdeckung des rechten Terrornetzwerks Rassismus als Mordmotiv vermuteten (2017: 16) und dies »wussten […], weil sie über ein Erfahrungswissen über Rassismus verfügen« (Karakayali et al. 2017: 30). 3
Dieses Wissen mündete u.a. in die Forderung »Kein 10. Opfer!«, der nach der Ermordung von Halit Yozgat am 6. April 2006 in Form eines sog. Schweigemarschs am 6. Mai 2006 von rund 4.000 Menschen in Kassel Ausdruck verliehen wurde. Dieser Marsch wurde von den Angehörigen und Freund*innen der Familie Yozgat sowie unter Beteiligung der Angehörigen der durch den NSU ermordeten Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık initiiert (vgl. NSUWatch 2014).
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Dieses Erfahrungswissen wird auch als »migrantisch situiertes Wissen« (Güleç und Schaffer 2017: 58; Hielscher 2016; Perinelli 2017: 145), als »Wissen der Migranten über Rassismus« (Terkessidis 2004: 115–117) oder auch als »gemeinsam geteiltes, migrantisches Wissen« (Güleç und Hielscher 2015: 146) bezeichnet. Allgemeiner kann hier von dem Wissen rassistisch diskreditierbarer Subjekte gesprochen werden, das u.a. das Wissen von Schwarzen Deutschen, Sinti*zze und Rom*nja sowie sich als muslimisch selbstbezeichnenden Personen als verkörpertes Wissen beinhaltet und das auf Rassismus stärkende Strukturen, Routinen, Optionen bezogen ist, die in medialen, politischen, organisationalen oder interaktiven Arrangements eine signifikante Rolle spielen können. Das Wissen über Rassismus war hierbei lange Zeit nur begrenzt in dominanzkulturell geprägten Zusammenhängen vermittelbar und mitteilbar und ist es nach wie vor. Wissensartikulationen sind dabei mit einer »rassistische[n] Ignoranz« (Güleç/Schaffer 2017: 78) und einem strukturellen »Übersehen« (Önder 2014, Herv.i.O.) konfrontiert, wie die Autor*innen im Hinblick auf den Umgang mit dem NSU festhalten. Demnach ist das »Nicht-Hören und Nicht-Wahrnehmen der rassistischen Dimensionen der Morde« mit dem Begriff einer »Ignoranz« nicht hinreichend erfasst, sondern ist vielmehr als »Ausdruck eines hegemonialen Hörens« (Güleç und Hielscher 2015: 147) zu begreifen. Dieses strukturelle Übersehen von Wissen und hegemonialem Hören wurde beispielsweise in der polizeilichen Ermittlungsarbeit, aber auch in der medialen Berichterstattung im Zuge des NSU allzu deutlich, in der nicht nur auf sekundärer Ebene Rassismuserfahrungen4 bei den Angehörigen der Opfer produziert, Hinweise auf Täter*innen und Netzwerkstrukturen und das Motiv Rassismus der Befragten nicht ernst genommen und weiterverfolgt wurden und damit auch die Aufdeckung des NSU und die Ermordung weiterer Personen verhindert wurde. Darüber hinaus gelang es nicht, Wissen 4
Als primäre Rassismuserfahrung wird die Erfahrung rassistischer Diskreditierung bezeichnet. Als sekundäre Rassismuserfahrung wird der Umstand bezeichnet, dass erstens die Wirklichkeit primärer Rassismuserfahrungen bestritten und zweitens die Wahrnehmung, Erfahrung und das Wissen der Person, die die Erfahrung artikuliert, herabgewürdigt, relativiert und infrage gestellt wird (vgl. Atali-Timmer und Mecheril 2015; Çiçek et. al 2015: 146).
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über Rassismus als legitimen und bedeutsamen Teil der migrationsgesellschaftlichen Realität Deutschlands anzuerkennen. Das Wissen über Rassismus, das in den genannten Erfahrungen und Wissensbeständen exemplarisch zum Ausdruck kommt, kann – um ein ›Werkzeug‹ von Michel Foucault aufzugreifen – als eine Form der unterdrückten Wissensart verstanden werden. Als »unterdrückte Wissensarten« bezeichnet Foucault (1978: 60) »eine ganze Reihe von Wissensarten, die als nicht sachgerecht oder als unzureichend ausgearbeitet disqualifiziert wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie, unterhalb des erforderlichen Wissens- oder Wissenschaftlichkeitsniveaus rangierende Wissensarten«. Deshalb gilt es, jenes Wissen, das aus Erfahrung gewonnen werden kann und insbesondere von Rassismus erfahrenden und damit zugleich rassismuserfahrenen5 Subjekten in rassistisch vermittelten Verhältnissen artikuliert wurde und wird, nicht nur als Forschungsgegenstand zu verstehen, sondern es vielmehr selbst als Ort und Geschehen einer erfahrungsbezogenen Produktion von Wissen über gesellschaftliche Verhältnisse in diachroner und synchroner Perspektive zu begreifen und es im Sinne einer Theoriebildung über von rassistischen Unterscheidungen vermittelte Wirklichkeit auf der Ebene von Gesellschaft, Organisation und Interaktion zu untersuchen und zu nutzen. Ein erfahrungs- und wissensbezogenes Sprechen über Rassismus ist mit der Abwehr aufgrund einer vagen, aber wirksamen Angst konfrontiert, ungewollt in die Beteiligung und Reproduktion rassistischer Ordnungen involviert zu sein. Für jene, die von rassistischen Praktiken direkt oder indirekt profitieren – etwa weil sie öffentliche Orte aufsuchen können, ohne in Bezug auf Hautfarbe und Herkunft angesprochen, verdächtigt oder angegriffen zu werden – und die keinen familiären Kontext besitzen, in dem rassistische Erfahrungen zu einem geteilten Wissensbestand zählen, ist die Weigerung, über Rassismus zu sprechen mit der Aussicht verbunden, die eigene, privilegierte Position in einem historisch entstandenen und in die Gegenwart tradierten System der Ungleichheit unangetastet und dadurch weiter wirksam sein zu lassen. Die Nicht-Thematisierung von Rassismus im 5
Mit dem Begriff ›rassismuserfahrene Subjekte‹ gelingt es Maureen M. Eggers (2013: 4–5.), auf ein erfahrungsbezogenes Wissen von rassifizierten Subjekten hinzuweisen.
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eigenen Nahbereich und dem eigenen professionellen Tätigkeitsfeld (sei es Schule, Verwaltung oder Polizei) ist ein potenzielles Mittel der Bewahrung von Privilegien, aber auch des Erhalts des eigenen, positiv verstandenen, zuweilen sakralisierten Selbstbildes, das nicht nur das einzelner Subjekte meint, sondern auch ein gesellschaftlich geteiltes Selbstbild umfasst. Bei jenen, die Rassismuserfahrungen machen und über ein zumindest implizites Wissen über Rassismus verfügen, stellt Rassismus ebenfalls nicht ohne Weiteres ein Thema dar, das offen und insofern unproblematisch behandelt werden könnte. Hier ist die Schwierigkeit des Sprechens über Rassismus und Rassismuserfahrungen jedoch anders gelagert. Das Gewahr-Werden der eigenen rassistischen Diskreditierbarkeit kann mit einer Ernüchterung im Hinblick auf die eigene gesellschaftliche Position verbunden und auch etwa mit Erinnerungen an schmerzvolle Erfahrungen verknüpft sein. Die Selbst-Aufklärung über die eigene symbolische Degradierung ist schmerzhaft und zugleich mit der möglichen Gefahr der Nichtanerkennung, der Bagatellisierung und der Infragestellung der erzählten Erfahrungen verbunden und somit ein nach wie vor risikoreiches und umkämpftes Unterfangen. Zugleich ermöglicht das Wissen über Rassismus jedoch auch einen konjunktiven, zuweilen auch kommunikativ geteilten Sozialraum, in dem das Wissen über Funktionsweisen und Erfahrungen von rassistischen Sprechweisen, Praktiken und institutionellen Strukturen (vgl. Güleç 2015: 146, 149) sozial und solidarisierend wirksam werden kann.
Rassismuskritischer Ausblick Der Einbezug jener Erfahrungen, die in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen von Rassismus unmittelbar und mittelbar benachteiligten und belangten Subjekten erwachsen, und ihr Wissen um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Erfahrungen bedingen, sind für eine Analyse und Kritik von Rassismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sowie für rassismustheoretische Perspektiven in grundlegender Hinsicht bedeutsam. Es ist für die Auseinandersetzung mit der migrationsgesellschaftlichen Realität zentral, dieses nach wie nur gegen große Widerstände und Strategien der Entwertung artikulierbare Wissen, das eng mit der Erfahrung von Rassismus (primäre Rassismuserfahrung), aber auch der
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Herabwürdigung der Artikulation von entsprechenden Erfahrungen (sekundäre Rassismuserfahrung) verbunden ist, mit Blick auf historische und gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse zu rekonstruieren und herauszuarbeiten. Die Herausarbeitung der ideologisch-diskursiven Wirkweise von Rassismus als gesellschaftlich normalisiertes Wissen hat mit Fokus auf die Taten sowie den Umgang mit den Taten des NSU exemplarisch gezeigt, dass sich Rassismus als Teil der migrationsgesellschaftlichen Realität Deutschlands nicht nur auf einer physischen Ebene der Gewalt zeigt, sondern zugleich auch »auf einer diskursiven Ebene, indem rassistische Tathintergründe nicht in Erwägung gezogen werden, Ermittlungen sich gegen die Geschädigten richten und rassistische Überzeugungen entpolitisiert werden« (Güleç und Hielscher 2015: 144). Das Artikulieren und (Mit-)Teilen von Wissen über Rassismus stellt vor diesem Hintergrund einen Akt der nicht nur individuellen, sondern zugleich kollektiven und politischen Selbstermächtigung im Sinne einer gesellschaftlichen Hörbarmachung und Aufforderung dar, die die Prozesse des »Silencing« (Güleç 2018; vgl. auch Güleç und Schaffer 2017: 75) und des strukturellen Übersehens und Überhörens anfechten und durchbrechen. Damit wird auf der symbolisch-diskursiven Ebene an der Umarbeitung und Reduzierung rassistisch wirksamen Wissens und entsprechender Institutionalisierungen gearbeitet und zugleich die Wiedererlangung einer intelligiblen Sprecher*innenposition (mikro)politisch eingefordert und umgesetzt. Diese Bewegung geht über das einzelne Subjekt hinaus, da das Teilen, Anerkennen und Zitieren dieses Wissens nicht eine Singularität ist, sondern sie »als multiple Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus, die zur Geschichte einer migrantischen Gesellschaft in Deutschland gehören« (Güleç und Hielscher 2015: 154), generelle gesellschaftliche Muster erkenn- und kritisierbar machen. Die Wirksamkeit an Rassekonstruktionen anschließender und diese bestärkenden Unterscheidungen von Menschen kann nur erkannt und gemindert werden, wenn über sie gesprochen wird. Es bedarf hierfür neben der Anerkennung von theoretisiertem und erfahrungsbezogen gewonnenem Wissen über Rassismus auch einer offenen, von »Freundlichkeit gegenüber Fehlbarkeiten« (Goel 2020) getragenen Reflexion institutioneller Zusammenhänge wie alltäglicher Sprech- und Handlungsweisen, die zugleich um die Verletzbarkeit durch rassistische Praktiken weiß.
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Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
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Jolanda Wessel
Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
Einleitung Hito Steyerl zählt derzeit zu den populärsten Figuren im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Sie schreibt Essays, hält Vorträge und produziert Filme und Videos. In ihren schriftlichen und filmischen Arbeiten berührt sie eine Vielzahl der Konflikte und Krisen des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts, darunter Neoliberalismus, Kapitalismus, Globalisierung und Digitalisierung, Feminismus, den Care-Sektor und Social Housing sowie die fortschreitende Technisierung aller Lebensbereiche. Über die Diskurse um Rassismus, Postkolonialismus und Migration, an welchen sie sich mit ihren Arbeiten beteiligt, vermerkt sie: »[…] ein diffuses Spektrum von Situationen entsteht, die in ihrer Interaktion weder allein mit den Paradigmen der Kolonialismusforschung noch der Migrationsforschung, noch der Antisemitismus- oder Genozidforschung, noch bereits existierenden postkolonialen Ansätzen zu erfassen sind« (Postkolonialismus und Biopolitik 2012: 49).1
In der Folge überschneiden und vermischen sich in ihren ethisch-ästhetischen Arbeiten alle diese Themenfelder unter dem Anliegen, die grundlegenden sozialen Fragen und Belange der Gegenwart zu bearbeiten. Der vorliegende Aufsatz untersucht Hito Steyerls oft enigmatische und zugleich überfordernden Arbeiten und künstlerischen Praktiken im Kontext des Diskursfeldes von Postkolonialismus und Postmigration. Anhand 1
Die Autorin untersucht Hito Steyerls Essays, Performance-Lectures und Video-Arbeiten als gleichwertige künstlerische Äußerungen. Dementsprechend wird im Folgenden, für die text- und sprachbasierten Arbeiten dieselbe Form der Werkangabe genutzt wie für die audio-visuellen Arbeiten.
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Jolanda Wessel
verschiedener thematischer Zugriffe in Form kurzer Unterkapitel sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Steyerls diverse Anknüpfungspunkte an diese Themenkomplexe zusammengetragen werden, um vielmehr ein Kaleidoskop ihrer vielschichtigen Herangehensweise aufzufächern und somit einen Eindruck ihrer engagierten künstlerischen Praxis zu vermitteln. Dabei werden gleichermaßen audiovisuelle, wie text- und sprachbasierte Arbeiten Steyerls zur Veranschaulichung hinzugezogen, die als künstlerischforschende Äußerungen produktiv ineinandergreifen. Insbesondere durch die Berücksichtigung ihrer textbasierten Arbeiten ist kaum zu vermeiden, Steyerl dabei also immer wieder auch mit Steyerl zu lesen, um daraufhin die hier gebotene kritische Distanz von neuem einzunehmen. Grob angelegt ist der Aufsatz in zwei ineinandergreifende Hälften, die ihrerseits durch kurze Kapitel untergliedert sind. Die erste Hälfte beschäftigt sich mit dem für eine Dokumentaristin eigentlich ungewöhnlichen KunstKontext und dessen Verstrickungen in globale ökonomische und kriegerische Konflikte. Zu Beginn wird dabei auf Steyerls frühe Bestrebungen eingegangen, postkolonialen Diskursen als lokale conjunctures [»Umstände«, »Zusammentreffen«] auch in Deutschland ein Echo zu verschaffen. Mittlerweile vornehmlich im Kunst-Kontext rezipiert, werden daraufhin institutionskritische Aspekte als auch Steyerls Selbstverortung und -inszenierung in diesem Feld diskutiert. Die nächsten beiden Unterkapitel sind Steyerls Analyse medialer Formate, deren Apparaturen und ihrem daraus resultierenden Umgang mit solchen gewidmet. Die zweite Hälfte des Aufsatzes arbeitet Hito Steyerls materialistische Herangehensweise an das Dokumentarische heraus, durch die Orte, Objekte im Allgemeinen und Bilder im Besonderen als Zeugnissen ihrer jeweiligen realen Bedingungen erkennbar werden. Anhand der Versammlung dreier neuartiger Sprachen, Spamsoc, Scammen und dem Internationalen Diskolatein, die als Resultate zeitgenössischer globaler Dynamiken an verschiedenen Stellen in ihren Essays Erwähnung finden, wird daran anknüpfend gezeigt, inwiefern sich dieser materialistisch-dokumentaristische Zugriff gleichfalls auf immaterielle Phänomene übertragen lässt. Ein weiteres Unterkapitel widmet sich jener zunächst befremdlichen, in ihrem Schreiben und Sprechen wiederholt anzutreffenden Analogie von Bildern und Menschen, welche sich ebenso auf diese ihre materialistische Perspektive zurückführen lässt.
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Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
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Übergreifend wird als gemeinsames Merkmal aller zur Sprache kommenden Inhalte, Praktiken und Arbeiten immer wieder auf Steyerls spezifische Strategie verwiesen, in einem plötzlichen Wendemoment ihre zunächst kritische Analyse in eine affirmativ-konstruktive Vision zu verwandeln und damit die Kunst als eine soziale Praxis ins Spiel zu bringen.
Lokale conjunctures Hito Steyerls Offenheit und Empfänglichkeit gegenüber aktuellen Bewegungen und Ereignissen, seien sie gesellschaftlicher, technologischer oder politischer Art, richten sich anfänglich noch vor allem auf den deutschsprachigen Raum. »Can the Subaltern speak German?«, trägt sie Gayatri Spivaks Frage weiter (Spricht die Subalterne deutsch? Eine postkoloniale Kritik 2016: 83) und befasst sich in den ersten Jahren ihres kreativen Schaffens hauptsächlich mit Migration, Rassismus und Antisemitismus im wiedervereinigten Deutschland. Es ist ihr Bestreben, postkoloniale Theorien auch in Deutschland geltend zu machen, denn »[e]inen maßgeblichen deutschen Beitrag zur Geschichte der Kolonisation kann nur verneinen, wer solche ökonomischen und politischen Zusammenhänge außer Acht lässt. Auch heute sind Migrationsbewegungen nur zum geringen Teil voluntaristisch inspiriert, bewegen sich aber im Kontext eines sich zunehmend globalisierenden Weltmarkts« (ebd.: 83).
Steyerl thematisiert die von der Normalität verdeckte Gewaltgeschichte, deren vielschichtige (post)koloniale und rassistische Strukturen innerhalb Deutschlands aus einer intersektionalen Perspektive2 heraus. Sicherlich befördern persönliche Erfahrungen als eine in München geborene deutschjapanische Künstlerin Steyerls großes Interesse an diesen Diskursen. Dabei nutzt sie postkoloniale Theorien nicht als Schablonen, sondern entwickelt eine eigene »[…] unakademische und außerordentlich produktive Art und Weise […]« (Terkessidis 2020: 43), selbige auf Deutschland zu beziehen. In 2
Als Intersektionalität wird die »[…] Verschränkung verschiedener Ungleichheit generierender Strukturkategorien verstanden« (Carolin Küppers, https://gender-glossar.de/i/item/25-intersektionalitaet, zuletzt besucht 28.04.2021).
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Jolanda Wessel
jüngster Zeit kritisiert Steyerl im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung die plötzliche Empörung der Deutschen an einem Rassismus im Ausland, während den Geschehnissen im eigenen Land, beispielsweise rund um die NSU-Morde, weitaus weniger Aufmerksamkeit zuteil kommt (Steyerl und Terkessidis 2020). Gleichwohl verschiebt sich über die Dauer ihres Schaffens hinweg der (geografische) Ausgangspunkt für Steyerls künstlerische Arbeit selbst allmählich weg von Deutschland. Von nun an treten weitere Gegenden wie der Balkan, Israel und das türkisch-irakischen Grenzgebiet in ihren Blick. »Die Unterschiede zwischen den verschiedenen lokalen ›conjunctures‹ von Postkolonialität müssen also in einer lokal spezifischen Analyse ermittelt werden«, schreibt sie (ebd.: 82). Anhand ausgiebiger Recherchearbeiten und persönlicher Verbindungslinien, die sie zurückverfolgt, legt Steyerl globale Machtverhältnisse offen, welche sich je ortsspezifisch in einer anderen postkolonialen Situation verwirklichen. Doch auch während jener Ausflüge in andere Länder und Gegenden der Welt versucht sie stets, sowohl deutsche als auch ihre eigenen Verwicklungen in die jeweils wirksamen kolonialen oder globalen Strukturen freizulegen. Als ein Beispiel sei Steyerls Video-Trilogie über den gewaltsamen Tod ihrer Jugendfreundin Andrea Wolf herangezogen, die als PKK-Guerilla in Kurdistan kämpfte. Darin heißt es: »A mixed zone is created where the boundaries of war blurr in indefinition« (November 2003: Min. 15). Weil die deutsche die türkische Regierung und damit indirekt auch deren Kampf gegen die kurdische Autonomiebewegung materiell unterstützt, ist »Curdistan […] not only there but here [in Berlin]« (ebd.: Min. 7) und »Germany is in Curdistan« (ebd.: Min. 15). Somit erweisen sich im Verlauf ihrer Nachforschungen viele der in Steyerls Arbeiten thematisierten Orte als mit Deutschland unmittelbar verbunden und (nun in einem metageografischen Sinn) doch weniger weit entfernt als zunächst angenommen. Jüngst zeigen ihre Arbeiten aufgrund der brisanten Vereinigung von neoliberalem Kapitalismus und fortschreitender Technisierung ein großes Interesse auch an posthumanen Fragestellungen. Ohne in Technophobie zu verfallen, ist und bleibt die Frage nach dem Menschen als sozialem, verleiblichtem, realitätsverbundenem und damit verantwortlichem Wesen die zentrale in Steyerls Schaffens. Zeitgleich wendet sie sich mit ihrer neusten Video-Installation SocialSim (2020) erneut dem Wiedererstarken rassistischer und nationalistischer Tendenzen in Deutschland zu.
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Selbstverortung und -inszenierung im Kunstfeld Obgleich als Dokumentarfilmerin und Philosophin ausgebildet, werden auch Hito Steyerl und ihre filmischen wie textbasierten Arbeiten mittlerweile dem Kunst-Kontext zugeordnet. Der Rezeptionsort für ihre audiovisuellen Arbeiten ist das Museum. Diese Verortung birgt für ihr engagiertes Werk gleichermaßen Gefahren wie Potenziale. Steyerl diagnostiziert selbst: »[Die z]eitgenössische Kunst wird ermöglicht durch das neoliberale Kapital plus Internet, Biennalen, Kunstmessen, parallel dazu gestrickter Geschichten und zunehmende Einkommensungleichheit. Zu ergänzen wären noch asymmetrische Kriegsführung […], Immobilienspekulation, Steuerflucht, Geldwäsche und deregulierte Finanzmärkte« (Duty Free Art 2018: 86).
Von lokalen Dokumentarfilm-Festivals ist sie mit ihren Film- und Videoarbeiten in die Ausstellungshallen der größten Museen und Biennalen eingezogen, von der Peripherie der Kunstszene in deren Zentrum gerückt. Wie jedes andere vielbeachtete zeitgenössische Werk riskiert dementsprechend auch ihre Arbeit, in den Horizont der Kanonisierung und Elitenbildung eingelassen zu werden und somit neokoloniale und kapitalistische Bestrebungen zu befördern, anstatt, wie eigentlich intendiert, zu durchkreuzen. Doch weder ist sie bestrebt, dem Kunstbetrieb den Rücken zu kehren, noch ignoriert Steyerl dessen offensichtliche Verwicklungen in solche Strukturen. Sie spricht vielmehr von einer bewussten Entscheidung für eine kritische Intervention aus dessen Inneren heraus: »[…] in my case I made the decision after finding myself in this feedback-loop again not to withdraw from theses spaces because they are connected to military violence and gentrifications in the most blatant way. But rather on the contrary to try to show this piece [Video Abstract] in every single space […] this battlefield is connected to« (Is the Museum a Battlefield? 2013: Min. 35).3 3
»[…] nachdem ich mich in dieser Rückkoppelungs-Schleife wiederfand, traf ich für mich selbst die Entscheidung, mich nicht aus diesen Bereichen, die ganz unverhohlen mit militärischer Gewalt und Gentrifizierung verbunden sind, zurückzuziehen. Im Gegenteil wollte ich versuchen, diese Arbeit [Video Abstract] an jedem einzelnen Ort zu zeigen, mit dem dieses Schlachtfeld verbunden ist« (Übersetzung der Autorin).
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Auch wenn die Institutionskritik durch Kunstschaffende kein neues Phänomen ist, zeigt sich am Beispiel Steyerls, dass eine solche Kritik vom Kunstbetrieb selbst heute geradezu erwünscht scheint. »Curators asked me to adress the political in art today« (Rules of Engagement 2014), beginnt Steyerl eine ihrer Lectures. Durch seine vielgestaltigen Kollaborationen mit und Abhängigkeiten von neoliberalen Märkten befindet sich das institutionelle Kunstsystem mittlerweile in einer Authentizitätskrise, ist es verfangen in Widersprüchlichkeiten. Um zu neuer Legitimation und Glaubwürdigkeit zu gelangen, ohne dabei seine profitablen Strukturen antasten zu müssen, benötigt es Persönlichkeiten und institutionskritische Kunstwerke wie jene Steyerls. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die Idee eines Künstler*innengenies, der Steyerl mit Der Terror des totalen Daseins ein ganzes Kapitel in ihrer letzten Publikation widmet. Sie beklagt: »Zusätzlich zur Lieferung von Werken müssen Künstler […] heutzutage vielfältige Zusatzleistungen erbringen […]. Das Künstlergespräch ist wichtiger als die Vorführung, der Live-Vortrag wichtiger als der Text, die Begegnung mit dem Künstler wichtiger als die mit dem Werk. […] Der Künstler muss präsent sein […]. Künstlerische Tätigkeit wird als permanente Präsenz neu definiert« (Der Terror des totalen Daseins 2018: 30).
Als Gründe führt sie finanziellen Profit und das Internet an. Denn Präsenz lässt sich im Zeitalter der dem Internet geschuldeten »Fernpräsenz« leicht zu Geld machen (vgl. ebd.: 31–32). Ihre Diagnose hält Steyerl jedoch keinesfalls davon ab, dieses Spiel mitzuspielen. Im Gegenteil nutzt sie bewusst die Möglichkeiten der Selbstinszenierung. Strategisch entzieht sie sich dabei jeder Eindeutigkeit, indem sie zwischen diversen Identitäten und Rollen hin- und herwechselt: der der Künstlerin, der Dokumentaristin, der Theoretikerin. Hinzu kommen unter anderem ihre Rollen als Frau4, als Deutsche mit ›Migrationshintergrund‹ und Mutter5. Darüber hinaus tritt sie selbst 4 5
Am Ende ihrer Videoarbeit Lovely Andrea bezeichnet Steyerl sich selbst als Feministin. Ansonsten kommt dieser Begriff innerhalb ihres Werkes kaum vor. In einigen Videoarbeiten ist Steyerls Tochter zu sehen, die, wie den Abspännen zu entnehmen ist, außerdem an zahlreichen Produktionen inhaltlich beteiligt ist.
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in zahlreichen ihrer Filme und Videos auf, spielt sich dabei selbst oder performt in verschiedenen Figuren, womit ihre privaten, öffentlichen und künstlerischen Rollen zu verschwimmen beginnen. Alle diese verschiedenen Kategorien und Facetten gehen auf in einer oszillierenden, multiperspektivischen und intersektionalen Position. Immer sie selbst, bleibt sie doch unerkannt. Den Gipfel vielgestaltiger Selbstinszenierung bilden ihre Vorträge, die bislang als Performance-Lectures betitelt werden. In dieser Bezeichnung enthalten, ist mit der prozessualen öffentlichen Rede, neben einer künstlerischen Dimension, zugleich auch eine politische Seite. Ihre Vorträge heben Hito Steyerl als eine Künstlerin und Theoretikerin hervor, deren Wirken auf progressive politische Veränderung der Gesellschaft ausgerichtet ist. Der Kurator Marius Babias formuliert treffend: »Der auf der Bühne agierende, zwischen Sprache, Bild und Bewegung vermittelnde Körper der Künstlerin verwandelt sich bei diesen Auftritten in ein post-aufklärerisches Projektil« (Babias 2016).
Hito Steyerl bei ihrer Lecture Mission Accomplished: Belanciege
Weiter kann ihr strategisches Spiel mit diversen Rollen auch als die Suche nach einer Haltung interpretiert werden, die weder Richtigkeit noch Eindeutigkeit für sich beansprucht und deshalb immer wieder nach einem Perspektivwechsel verlangt. Im Rahmen eines vom Maxim Gorki Theater 2019 als »politische Intervention« deklarierten Auftritts stellt Steyerl erstmals offen und vor einem Publikum eine politisch motivierte Forderung:
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den Rückzug der türkischen Truppen aus Syrien sowie die Einstellung der Waffenlieferung durch die deutsche Regierung an die Türkei. Bis dato verlangt sie außerdem nach einem Ausstellungsstopp ihrer filmischen Arbeiten in den staatlichen Sammlungen. Ihre Worte fallen im Vergleich zu ihren üblichen Vorträgen ungewöhnlich scharf und explizit aus. Sie fällt hier aus ihrer sonst ausgesprochen beherrschten Haltung heraus und zeigt sich auf einer sehr persönlichen Ebene betroffen.6 Bei aller (Selbst-)Reflexion ist die Gefahr der Kollaboration mit den kritisierten Systemen letztlich schwer aufzulösen. Byung-Chul Han spricht von einer »Anästhesierung der Kunst« (Han 2020: 11), wenn »Moral und Gefälligkeit […] sich in einer gelungenen Symbiose [treffen]« (ebd.). Anstatt einen oppositionellen Kontrapunkt, eine Warte der Kritik auszubilden, wird die Kunst, inklusive der von ihr potenziell ausgehenden Bedrohung und Radikalität, in den Mainstream eingespeist und von ihm verschlungen. Die Frage ist, ob am Ende nicht auch die engagierten Arbeiten Steyerls im kapitalgetriebenen Kunstsystem der Verharmlosung, Gefälligkeit und damit Bedeutungslosigkeit anheimfallen oder wie sie dieser Gefahr möglicherweise entgegenwirkt?
Militarisierung der Kunst Mit ihrem Erfolg in der Kunstszene beginnt Hito Steyerl dieses neue Umfeld in ihren Arbeiten thematisch aufzugreifen. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Geschichte, Rolle und Einbettung der Institution ›Museum‹ in ökonomische Zusammenhänge und Zwänge beginnt. Dabei konzentriert Steyerl sich vor allem auf die militärisch-industrielle Ausbeutung der Kunst wie des Museums. Sie betrachtet und analysiert Letzteres unter anderem als Ort von Öffentlichkeit, als »Schlachtfeld« (Is the Museum a Battlefield? 2013), »Arsenal« (Ein Panzer auf einem Podest 2018: 7), »Flüchtlingslager« (Duty Free Art 2018: 85), »Freilager« (ebd.: 87) und »Fabrik« (Ist das Museum eine Fabrik? 2016). Auch verweist sie auf die Einpassung zeitgenössischer Museen in die Parameter von Nationen und entwickelt Überlegungen zu einem Neudenken von Institutionen der Kunst (vgl. Ein Panzer auf dem Podest 2018: 7). 6
Auftritt: https://www.youtube.com/watch?v=UZcqUknNepg, (08.03.2021).
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Weil sie eine allgemeine »Militarisierung des Kunstraums« (Art as Occupation 2012) beobachtet, welche sich beispielsweise im Einsatz ehemaliger Militärs als Museums-Securities und der Beschäftigung von auf das Söldnertum zurückgehenden Freelancern im Kulturbetrieb zeigt (vgl. ebd.; Guards 2012), zieht sie für ihre letzte Publikation Duty Free Art den »globalen Bürgerkrieg« überdies im Untertitel heran. Sie schreibt: »Während die internationale Biennale die aktive Form der Kunst für den Globalisierungsgedanken des späten 20. Jahrhunderts war, sind die Äquivalente im Zeitalter einer globalisierenden Stasis und plötzlich aufpoppender NatodrahtGrenzzäune das Kunstfreilager und der terrorfeste Hochsicherheitsbunker« (Ein Panzer auf dem Podest 2018: 11–12).
Besonders deutlich prangert Steyerl die Zusammenhänge von Kunst, Krieg und Kapitalismus in ihrem Vortrag Is a Museum a Battlefield? (2013) an.
Ex-Militär als Museumswärter im Art Institut of Chicago
Tatsächlich findet sie während der hierfür betriebenen Recherche heraus, dass die Kugeln, welche ihre Jugendfreundin Andrea Wolf töteten, von einem Waffenhersteller produziert wurden, der als Sponsor eben jenes
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Museums fungiert, in welchem ihre Videoarbeit Abstract ausgestellt ist. So materialisieren sich auch in Steyerls Arbeiten selbst die paradoxen Verstrickungen geopolitischer und ästhetischer Verhältnisse, werden ansichtig und erkennbar. Trotz dieser ihrer Erkenntnisse sind ihre Film- und Videoarbeiten bislang dem musealen Kontext verhaftet, was in nicht unerheblichem Maß an Fragen der Finanzierung ihrer Videos und deren aufwendiger Installation liegen mag. Eine (erneute) Verschiebung des Rezeptionsortes ihrer filmischen Arbeiten jenseits einer institutionellen Rahmung würde deren emanzipatorischen Gehalt dagegen verstärken und zudem Steyerls wiederholter Forderung nach alternativen Öffentlichkeiten entgegenkommen. Ludger Schwarte stellt fest, dass »[j]e etablierter ein Ort ist, mit kulturellen und ökonomischen Filtern abgeschirmt, desto weniger kann er als öffentlich gelten. […] denn Öffentlichkeit ist immer eine Außenseite, eine Versammlung von Außenseitern« (Schwarte 2019: 36).
Biopolitische Projektoren Betrachtet man das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration, dürfen jene Programme und Technologien nicht außer Acht gelassen werden, derer sich Regierungen als Mittel der Kontrolle bedienen, während immer mehr Künstler*innen sie als Werkzeuge der Bildgenerierung nutzen. Steyerl bedient beide Seiten: Zum einen erforscht sie den biopolitischen Einsatz solcher Technologien inhaltlich in ihren Arbeiten, zum anderen setzt sie selbige für ihre audiovisuellen Arbeiten ein und führt auf diese Weise vor, wie Bilder und Krieg, Virtualität und Realität verschwimmen. Paradoxerweise werden digitale Bilderzeugnisse trotz des Wissens um ihre Manipulierbarkeit weiterhin als Garanten für Objektivität und Evidenz und somit als Repräsentationen von Realität behandelt. Bilder und deren Auflösung bestimmen, was sichtbar ist und somit überhaupt als existent angesehen wird (How Not To Be Seen. A Fucking Didactic Educational .Mov File 2013: Min 1). Kameras im Allgemeinen entsprechen laut Steyerl damit nicht länger Rekordern, sondern sozialen Projektoren (vgl. Proxy Politics 2015), insofern sie über Programme (Algorithmen) funktionieren, die in ihrer Struktur und Logik einer politischen Agenda folgen. (»The grammar of cinema follows the grammar of battle« (Abstract 2012: Min. 1:24).) Daraus resultierende
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Bilderzeugnisse müssen als wirkmächtige wirklichkeitskonstruierende und -konstituierende Agenten ernstgenommen werden. Wiederholt verweist Steyerl auch auf die Analogie und Verwandtschaft von Kameratechnik und Waffen. Als prägnantes Beispiel kann ihre Videoarbeit Abstract herangezogen werden, die aus einem zweigeteilten Bildschirm besteht, deren dialektische Bilder als shot (»Schuss«) und countershot (»Gegenschuss«) betitelt werden und somit auf die dialogische Filmtechnik des Schuss-Gegenschuss rekurrieren (»This is a shot«, »This is a countershot«, Abstract 2012). Die Zweideutigkeit des Wortes shot sticht im Kontext der hier thematisierten Ermordung von Steyerls Jugendfreundin Andrea Wolf hervor. An anderer Stelle bezeichnet Steyerl die architektonische Neuplanung einer durch den Krieg zerstörten Altstadt mit Hilfe und in Form digitaler
Hito Steyerl schießt zurück
Renderings als »Vertreibung durch Tilgung oder genauer Ersetzung«: »Überblendungen löschen ein Bild, indem sie ein anderes einschieben und das alte aus dem Blickfeld drängen. Sie eliminieren die ursprüngliche Bevölkerung, die Gebäude, die gewählten Vertreter und Eigentumsrechte visuell, um den Raum zu ›lichten‹ und ihn mit einer genehmeren Bevölkerung zu füllen, einer kulturell homogeneren Stadtlandschaft, einer auf Linie gebrachten Verwaltung und angepassten Hauseigentümern« (Wie man Menschen tötet: ein Designproblem 2018: 21).
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Das digitale Rendering der Neuplanung entspricht der kriegerischen Zerstörung jener kurdischen Stadt im Bild, deren Auslöschung auf diese Weise virtuell wiederholt wird.
Vertreibung und »Bereinigung« durch Krieg und digitale Renderings
Damit werden Krieg und Vertreibung zu einem »Problem of Design« (ebd.), zu einem Design des Tötens, zu einem Krieg auch der Bilder. In einer anverwandelnden Bewegung integriert Steyerl jedoch selbst solche Renderings und Simulationen zur visuellen Formulierung konstruktiver und utopischer Visionen in ihre Arbeiten, zum Beispiel um Vergangenes, wie den Turm von Babel, oder Zukünftiges, wie einen Paradiesgarten, ansichtig werden zu lassen.
Rendering des Turms zu Babel
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Eine entscheidende Rolle im Kontext der Übertragung computerbasierter Programme auf reale Situationen und Menschen spielt wiederholt das gaming (»Videospielen«) in Steyerls Arbeiten. Sie zeigt, wie weit in Computerspielen Wirklichkeit und Simulation, besonders im Kontext gegenwärtiger Kriege und zeitgenössischer Arbeit, ineinanderfallen. In dem Video-Environment Factory of the Sun (2015) wird jede Bewegung der forced labour (versklavte Arbeiter) in einem Motion-Capture-Studio7 erfasst und in Energie umgewandelt.
Versklavter Tanz-Arbeiter im Motion Capture Studio
Zu Anfang warnt das Spiel: »THIS IS NOT A GAME. THIS IS REALITY« (Factory of the sun 2015: Min. 4), während die Protagonistin Julia verkündet: »[…] you will not be able to play this game it will play you« (ebd.). An anderer Stelle beschäftigt sich Steyerl mit dem Bosnienkrieg und der darauffolgenden Grenzziehung zu Herzegowina. Sie erläutert, wie die neue Grenze mithilfe militärischer 3D-Simulationen, den Vorläufern des gaming, von einem U.S. amerikanischen High-TechAuditorium aus festgelegt worden ist (vgl. Gerippte Realität: Blinde Flecken und zertrümmerte Daten in 3D 2018: 204–205). Hier erschafft ein Videospiel eine konkrete Wirklichkeit. Ein vergleichbarer Vorgang, der zunächst nicht visuell basiert ist, sondern prognostisch angelegt, findet sich in der Anwendung von algorithmischen 7
Motion Capture ist ein Verfahren zur Erfassung von Bewegungen, die anschließend durch einen Computer weiterverarbeitet werden können.
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Programmen auf Bevölkerungen. Dabei handelt es sich um eine Form des Regierens, welche auf dem Einsatz mathematischer Formeln basiert. Anhand errechneter Wahrscheinlichkeiten – nicht empirischer Begebenheiten – werden Daten generiert, welche ohne Überprüfung als Faktizitäten akzeptiert und als Basis für weitreichende politische Entscheidungen genutzt werden.8 Komplexität und Uneindeutigkeit werden negiert und das Leben notwendigerweise in mathematische Formeln gezwängt. Die durchaus ästhetischen Qualitäten solcher Algorithmen erweisen sich in der Regel als destruktiv gegenüber Lebewesen und deren Umwelt. Als »Social Scores […] wirken [sie] sich auf das wirkliche Leben wirklicher Menschen aus, indem sie durch Ranking, Filterung und Klassifikationen soziale Hierarchien sowohl neu formatieren als auch radikalisieren« (Ein Meer von Daten: Apophänie und Muster( fehl)erkennung 2018: 68). Doch weiß Steyerl selbst solchen biopolitischen Projektionen wiederum einen dokumentarischen Wert abzugewinnen: Hat man erst einmal erkannt, dass die maschinell generierten Modelle nicht mit der Realität identisch sind, enthüllen diese ihre ideologisch motivierten Programmierungen (vgl. ebd.: 69). In jüngster Vergangenheit verwendet Steyerl selbst Algorithmen für ihre Projekte. Für ihr neustes Video-Environement SocialSim (2020) nutzt
Polizei-Avatare tanzen, animiert von rassistischen Straftaten
8
Als Beispiel sei auf die computergenerierten Modelle zum Infektionsgeschehen in der Corona-Krise in Deutschland verwiesen, deren Prognosen als Grundlage für die tiefgreifenden Maßnahmen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung getroffen wurden.
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sie Echtzeit-Daten zu rassistisch motivierten Straftaten in Deutschland, um gerenderte, grobschlächtige Polizei-Avatare in Tanzbewegungen zu versetzen. Gemeinsam mit Grant Passmore entwickelt sie 2015 als Antwort auf Donald Trumps abschreckende Immigrationspolitik das humoristisch-soziale Modell eines Einwanderungssystems (Plattform for Political mathematics. Insane mathematics in public policy 2015). Und anstatt deren Potenzial auf »schöpferische Zerstörung« (Wie man Menschen tötet: ein Designproblem 2018: 22–23) zur Entfaltung kommen zu lassen, programmiert sie mit ihrer Arbeit Power Plants (2019) eine KI als Regenerationsprogramm, welche das Wachstum ruraler Pflanzen voraussagt, welche darüber hinaus antikapitalistische Kräfte besitzen und als heilende Kräuter gegen autokratische Regime und toxische Dynamiken in sozialen Medien fungieren.
Virtuelle Vegetation mit heilenden Kräften
Hito Steyerl kommt den von ihr kritisierten Technologien in einer einverleibenden Doppelbewegung mit deren eigenen Mitteln bei. Erst hinterfragt sie die zum Einsatz kommenden Werkzeuge, Medien und Formate, ebenso wie
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deren Bilderzeugnisse, als mächtige politische Akteure, die als solche fundamentalen Einfluss auf die Realität nehmen, nutzt diese daraufhin jedoch für ihre eigenen Arbeiten. Dieses Vorgehen lässt sich als eine Wendestrategie fassen, mit der Steyerl durch konstruktive Anverwandlung produktiv macht, was zuvor als destruktiv von ihr analysiert wurde.
Formale Dekonstruktion Jenseits ihres vorab beschriebenen anverwandelnden Einsatzes politisch geprägter Bildmittel haben Steyerls Erkenntnisse zu Letzteren weitere formale Konsequenzen für die Gestaltung ihrer Arbeiten. Um »[…] hegemoniale Repräsentationstechniken zu unterlaufen […]« (Rodriguez 2012: 26), greift Steyerl in ihrer ästhetischen Praxis deshalb auf zahlreiche dekonstruktivistische Strategien zurück. Denn, fragt sie, »[b]edeutet eine konventionelle Form nicht eine mimetische Anschmiegung an die Verhältnisse, deren Kritik zu leisten wäre […]?« (Die Artikulation des Protestes 2016: 31). Wie gelingt es Steyerl, die dokumentarischen Formen und Bildtechnologien inhärenten Machtstrukturen weiter zu destabilisieren und ihre inhaltliche Kritik durch formale Gestaltung zu unterstützen? Zunächst verweigert Steyerl sich einer eindeutigen Praxis und Kategorisierung ihrer Arbeiten indem sie zwischen den Praktiken des Schreibens, Vortragens und Filmens hin- und herspringt und alle drei Formate ineinander übergehen lässt. Sie umgeht simple Abbildungen und arbeitet mit zahlreichen visuellen Verfremdungstechniken – wie kaleidoskopischen Effekten, verschwommenen, unscharfen oder verpixelten Bildern –, die ständig jeden Anspruch auf Repräsentation oder Richtigkeit ins Ungewisse ziehen. Auch bricht sie mit Darstellungskonventionen, indem sie ihr filmisches Equipment oder gleich das gesamte Produktionsset ins Bild lässt und somit den Akt des Zeigens und Ausstellens exponiert. Ähnliches vollzieht sich in ihren Texten, wenn plötzliche Unterbrechungen die Leser*innen auf die Konstruiertheit und damit Anfechtbarkeit des gedruckten Wortes hinweisen: »WARNHINWEIS: DIES IST DAS EINZIGE FREI ERFUNDENE KAPITEL DIESES VORTRAGS« (Duty Free Art 2018: 95). Durch den Wechsel zwischen verschiedenen Erzählstilen erwirkt sie auch für die Rezeption ihrer Videos und Essays eine Multiperspektivität,
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welche sich gegen den vermeintlich einzig ›richtigen‹ Standpunkt und damit eine hegemoniale Wissensproduktion wendet. Ihre VideoEnvironments und Installationen, die sich parallel auf mehreren Bildschirmen im Raum ver- und aufteilen, überfordern ihr Publikum, das sich aufgrund der schieren Dauer und Anzahl der filmischen Arbeiten weder einen Überblick noch daran anknüpfend ein abschließendes Urteil zu bilden vermag. Stattdessen ermöglichen sie diverse Lesarten und öffnen die Rezeption für zahlreiche neue Assoziationen und Querverbindungen. Durch die Hybridisierung zweier Raummodelle in ihren Ausstellungen unterläuft Steyerl dabei sowohl »[d]ie angebliche souveräne und autonome Subjektivität […]« (White Cube und Black Box. Kunst und Kino 2008: 120), welche der White Cube auf Seiten der Rezipient*innen produziert, als auch […] das raumzeitliche Modell der Black Box […], in der […] das Publikum tendenziell durch zeitbasierte Narrative entmachtet […]« (ebd.) wird. Die Rezipient*innen ihrer Ausstellungen bilden vielmehr eine lose Menge aus, deren Individuen jedoch nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Power Plants wachsen über Monitore und Gestänge durch den Ausstellungsraum
Auch ihre Lectures, die einen konstitutiven Teil im Steyerl'schen Œuvre bilden und als Vorträge unmittelbar an das anwesende Publikum gerichtet sind, adressieren dieses als ein involviertes und damit ebenfalls verantwortliches. Zugleich bilden sie den Höhepunkt ihrer Selbstkritik- und -reflexion, weil diese, als Performances gedacht, über den Künstlerinnen-Körper ver-
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mittelt werden. Immer wieder ist sie selbst in ihren Filmen und Videos zu sehen, ihre Stimme aus dem Off zu hören9, und verfasst sie ihre Essays passagenweise aus der ›Ich‹-Perspektive. Die rege Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen befördert das diskursive Moment ihrer Arbeiten weiter, wobei ins Auge fällt, dass an solchen Kooperationen wiederholt dieselben Personen beteiligt sind. Die Frage ist, ob durch dieses eingespielte Umfeld die je anvisierten Diskurse nicht unweigerlich eine ähnliche und einvernehmliche Richtung nehmen müssen?
Lecture mit Giorgi Gago Gagoshidze und Miloš Trakilović
Besondere Aufmerksamkeit widmet Steyerl sowohl praktisch als auch theoretisch der Montagetechnik. Wie die Gegenwart selbst bilden ihre schriftlichen, mündlichen und filmischen Arbeiten komplizierte, teils knallbunte Gebilde voller Querverbindungen und Überblendungen. In ihrem Essay Die Artikulation des Protests (2002) reflektiert sie die Bedingungen filmischer Repräsentation und diskutiert die Montage in diesem Kontext als wirkmächtiges (künstlerisches) Werkzeug von politischer Tragweite. Sie erläutert, inwiefern die filmische Organisation und Anordnung von Bildern einerseits als formaler Ausdruck der ihnen jeweils zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ökonomischen Produktionsprozesse und politischen Strukturen betrachtet werden muss und andererseits die Bilder durch die Art ihrer Verkettung und Kombination neue Bedeutungen 9
Siehe Unterkapitel Selbstverortung und -inszenierung im Kunstfeld.
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produzieren, welche wiederum unmittelbaren Einfluss auf die gegebene Umstände nehmen. »Welche Bewegung der politischen Montage ergibt also […] eine oppositionelle Artikulation […]? […] Welche Montage zwischen Bildern/Elementen ließe sich vorstellen, die zwischen und abseits dieser beiden ein Anderes entstehen lässt […]« (Die Artikulation des Protests 2002: 31), fragt Steyerl am Schluss. In der essayistischen Gestaltung ihrer eigenen Arbeiten, die bereits Antwortversuche auf jene Fragen darstellen, sucht sie nach Alternativen der Kombination und Organisation von Bildern, um variable Bedeutungen und Sichtweisen zu ermöglichen. Dabei erlaubt ihr der essayistische Modus ihrer sowohl text- als auch filmbasierten Arbeiten non-lineare Bewegungen, Sprünge und Auslassungen und bietet durch seine Anlage zum Fragmentarischen zahlreiche potenzielle Anknüpfungs- und Erweiterungsstellen. Deren Narration entwickelt Steyerl als Diskussionen, die jeden Gegenstand mehrfach wenden, übersetzen, neu deuten und kontextualisieren. Nichts scheint festgelegt, alle Inhalte bleiben dynamisch, können jederzeit die Richtung ändern. Jede Perspektive hat ihre Berechtigung, ohne letztlich einen Anspruch auf Richtigkeit zu erheben. Dabei verwandelt sich Logik in Humor. Widersprüche dürfen bestehen bleiben. Immer wieder, besonders in Zeiten, die verstärkt als prekär und undurchdringlich empfunden werden, greifen Kunst und Dokumentation ineinander, verquicken sich ästhetische mit ethischen, künstlerische mit dokumentarischen Ansätze. Nachdem im ersten Teil dieses Aufsatzes der Fokus auf der Verortung Hito Steyerls und ihres Œuvre im Kontext der Kunst und den damit einhergehenden Verstrickungen in globale und kriegerische Konflikten lag, konzentriert sich der zweite Teil, wiederum vor dem Hintergrund postkolonialer und postmigrantischer Diskurse, auf eine spezifische Herangehensweise der Künstlerin an das Dokumentarische. Dabei wird die Kunst als Möglichkeit sozialen Engagements befragt.
Materialistische Dokumentarismen Der »Einfluss der neoliberalen Hegemonie über die dokumentarische Artikulation […]« (Warum Dokumentarismus und warum jetzt? 2007: 45) lässt Steyerl Dokumente jeglicher Art zunächst als »Knotenpunkte von Machtwissen« (ebd.: 49) beschreiben, die, wenn auch nicht auf inhaltlicher, so doch auf formaler Ebene, autoritäre Strukturen eher weiter verstärken, als
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diese zu dekonstruieren. »[D]ie Krise der dokumentarischen Form selbst ist es, durch die sich die Resultate von Globalisierung ausdrücken« (ebd.: 47), diagnostiziert sie. Wahrheit ist für sie allein in deren materieller Gestalt zu finden (vgl. A Thing Like You and Me 2012: 51). Auf diese Weise kann Steyerl innerhalb einer materialistischen Auffassung der Welt allen Dingen auf deren materieller Ebene dokumentarischen Wert abgewinnen. Eine ähnliche Herangehensweise kultiviert sie auch in Bezug auf die Schauplätze ihrer Erzählungen, welche die Ausgangspunkte ihrer dokumentarischen Nachforschungen und Arbeiten bilden. Wo Rodriguez im gemeinsamen Buch von einem »postkoloniale[n] Chronotop« (Rodriguez 2012: 29) schreibt, verwendet Hito Steyerl den Begriff des »Palimpsest« für einen Ort oder eine Situation, der oder die durch »mehrere Schichtungen von Geschichte« konstituiert ist und deren »Verbindung […] in verschiedenen Formen von Biopolitik« liegt (Postkolonialismus und Biopolitik 2012: 39). Gerade zu Beginn ihres Schaffens entwickelt sie ihre Filme und Videos ausgehend von spezifischen Orten, wie dem Potsdamer Platz in Berlin, dem Dorf Babenhausen in Hessen, der ehemaligen Botschaft von Somalia in Brüssel oder auch ausgehend von einzelnen jüdischen Grabstätten und Gedenksteinen gegen Rassismus.
Das Haus einer jüdischen Familie in Babenhausen wird wiederholt Ziel rechtsradikaler Übergriffe
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Derartige Plätze bezeichnet Steyerl, als »mixed territories« (November 2003). Gemeint sind Orte der Überlagerung von alten und neuen Geschichten, welche geformt und konstituiert sind durch die verschiedenen Konstellationen und Kräfte »[…] einer ebenso postkolonialen, postnationalsozialistischen, postsozialistischen wie von mehreren aufeinander folgenden Regimes von Migration, Emigration und Genozid gekennzeichneten Situation […]« (Postkolonialismus und Biopolitik 2012: 39). Beispielsweise erzählt sie in ihrem Film Die leere Mitte (1998) die Geschichte des urbanen Zentrums Berlins von der Kolonialzeit über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die DDR bis zur Wiedervereinigung anhand seiner architektonischen Bauten und Brachen nach. Die Orte sind nicht allein Schauplatz dieser Ereignisse, sondern funktionieren gleich Fossilien als Träger widerstreitender Kräfte. Eine vergleichbare Herangehensweise zeigt sich auch an einzelne Objekte oder (Produktions-) Prozesse, die ebenso wie vor Ihnen spezifische Orte zu Protagonisten ihrer Erzählungen werden. Es wird deutlich, dass für Steyerl »[…] in jeder realen Situation die Oberfläche den Stempel der politischen, materiellen, gesellschaftlichen, technischen und affektiven Kräfte, die sie formen« (Gerippte Realität: Blinde Flecken und zertrümmerte Daten in 3D 2018: 209), trägt. Alle Entitäten begegnen ihr »[…] as nodes, in which the tensions of a historical moment materialize […]« (ebd.: 55).10 Gleich Fossilien kondensieren in jedem Ding produktive Kräfte, ebenso wie Zerstörung und Verfall. »Sie sind wie Festplatten, die nicht nur ihre eigene Geschichte speichern, sondern auch die Geschichte ihrer Beziehungen zur Welt« (Missing People: Entanglement, Superposition, and Exhumation as Sites of Indeterminacy 2012: 146, Übersetzung J. W.). Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die Videoarbeit In Free Fall (2010) verwiesen, in welcher Steyerl den Recyclingprozess von Flugzeugtrümmern nachvollzieht: Ausrangierte Flugzeuge werden für Spezialeffekte in Actionfilmen genutzt, die dabei entstehenden Trümmer eingeschmolzen und für die Herstellung von CD-Rohlingen verwertet, auf die wiederum Raubkopien eben jener Actionfilme gebrannt werden. Anhand der Untersuchung solcher (historisch geprägter) Oberflächen und der Rückverfolgung ihrer Bewegungen durch 10 »[…] als Knoten, in welchen die Spannungen eines historischen Augenblicks sich materialisieren […]« (Übersetzung J. W.).
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die Welt versucht Steyerl sich mit Sergej Tretjakov an einer »Biographie des Dings« (Tretjakov 1972: 81ff ) und gelangt auf diese Weise zu einer materialistischen Erzählung der Gegenwart.
Der biografische Werdegang von Flugzeugtrümmern
Hito Steyerls materialistischer Zugriff auf Orte und Objekte lässt sich des Weiteren auch für ihr Verständnis von (dokumentarischen) Bildern feststellen. Wie weiter oben erläutert, begreift Steyerl Letztere nicht (länger) als Repräsentationen von Wirklichkeit. Aufgrund unzähliger Copy&PasteVorgänge nimmt die Auflösung digitaler Bilder stetig ab und ihre Unschärfe11 stetig zu. Anstatt dies als Mangel zu interpretieren, erkennt sie solche »armen Bilder« (In Verteidigung des armen Bildes 2009) als Zeugnisse jenes spezifischen Umgangs mit zeitgenössischen Bildern in einer Bilderwelt. »Ihre Situation sagt viel mehr aus als der Inhalt oder die Erscheinungsform der Bilder als solcher: Sie macht die Bedingungen ihrer Marginalisierung sichtbar, die Konstellationen der gesellschaftlichen Kräfte, die zu ihrer Verbreitung im Internet als arme Bilder führt« (ebd. 19). In diesem ihrem prekären Zustand spiegeln arme Bilder, auch ohne wiedererkennbaren Referenten schließlich doch die Wirklichkeit wider. Unzählige Male kopiert und um die ganze Welt geschickt, formen und konstituieren sie darüber hinaus un-
11 Sie dazu Steyerls Essay Die dokumentarische Unschärferelation. Was ist Dokumentarismus? (2008).
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sere Gegenwart auf entscheidende Art und Weise. Steyerl schreibt über die agency (Handlungsmacht) der Entität Bild12 in ihrer letzten Publikation »[Es] ist deutlich geworden, dass Bilder […] Verknotungen von Energie und Materie [sind], die über verschiedene Träger wandern und Menschen, Landschaften, politische Maßnahmen und Gesellschaftssysteme formen und beeinflussen. Sie haben eine unheimliche Fähigkeit erworben, sich fortzupflanzen, zu verwandeln und zu aktivieren. […] Daten, Klänge und Bilder gehen nun regelmäßig über die Bildschirme hinaus und in einen anderen Materiezustand über« (Ist das Internet tot? 2018: 151–152).
Spamsoc, Scammen und das Internationale Diskolatein Als prägnantes Beispiel für eine der zahlreichen materialistisch-dokumentarischen Erzählungen, die sich durch Hito Steyerls Arbeiten ranken, werden im Folgenden Spamsoc, Scammen sowie das Internationale Diskolatein herangezogen. Dabei handelt es sich um drei verschiedene zeitgenössische Sprachphänomene, anhand deren Zustandes Steyerl soziale Problematiken, Globalisierungs- und Kapitalismusgewalten (buchstäblich) nachzuvollziehen sucht (vgl. Boenzi 2010). Alle drei sind von kulturellen Konflikten gezeichnet und lassen sich zugleich als aussagekräftige Dokumente mit gesellschaftspolitischer Bedeutung lesen. Mit Spamsoc betitelt Steyerl die sprachlich fehlerhaften Beschriftungen der Cover(-Hüllen) raubkopierter DVDs aus China, teils auch aus Mexiko und Süd-Asien, deren »[…] texts are made in complete look-a-like English; others earnestly translate some weirdo action film plots to conform to Confucio-socialist morals or historico-materialist sensibilities, others copy Wikipedia entries, or simply use Babelfish to create their blurbs« (Notes about Spamsoc 2006).13 12 z.B. Bredekamp 2015. 13 »[…] Texte in einem Doppelgänger-Englisch verfasst sind; andere übersetzen leidenschaftlich komische Actionfilm-Handlungen, um sie an eine sozialistische Konfuzius-Moral oder historisch-materialistische Empfindsamkeiten anzupassen, andere kopieren Wikipedia-Einträge oder nutzen einfach Babelfish für ihre Klappentexte« (Übersetzung J. W.).
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Dieses linguistische Phänomen spiegelt für Steyerl verschiedenste Spannungen wider: »[…] conflicts over intellectual property rights, gendered and casualized labor, notions of cultural heritage and value as well as the rhetoric of the war against terror rip through jolly and exuberant movie synopses and wreak havoc« (ebd.).14 Spamsoc ist ein Produkt der Globalisierung und wird bei Steyerl zu einem Dokument der Gegenwart. Dagegen werden beim sogenannten Scammen (Vorschussbetrug), im Rahmen von online stattfindenden Liebesbetrügereien, vorgefertigte Textkörper zu Proxys (Stellvertreter*innen) von Online-Chatpartner*innen. Ziel ist es, dem jeweiligen Scamm-Opfer eine Romanze vorzugaukeln, um es zu gegebenem Zeitpunkt davon überzeugen zu können, eine in einer vermeintlichen Notsituation dringend benötigte Geldsumme zu überweisen. »Wie wäre diese literarische Form der Täuschung im Kontext einer globalen und politischen Ökonomie zu verstehen, die auf digitalen Trennlinien und ungleicher Entwicklung beruht?« (Ihr Name war Esperanza 2018: 133), fragt Steyerl. Weil beim Scammen organisierte Gruppen aus ehemals kolonisierten Ländern Europäer*innen auszunehmen versuchen, verweist sie auf die hinter dem Scammen vermutete »[…] Idee, die durch koloniale Ausbeutung zusammengerafften Reichtümer wiederzuerlangen« (ebd.: 134). Wie Spamsoc ist Scammen damit sowohl Folge als auch Produkt der Gegenwart, lässt sich wiederum als ein Dokument handhaben und zur Erkenntnisgenerierung nutzen. Eine dritte Sprache, welche bei Steyerl Erwähnung findet, stellt das von ihr kreierte Internationale Diskolatein dar, wiederrum zurückgehend auf das sogenannte International Art English (IAE). In Kunstszene und -markt wurde Englisch zur offiziellen Sprache erkoren. IAE dient als Bezeichnung für das vereinfachte, fehlerhafte Englisch, das dabei herausgekommen ist, in Presse- und Wandtexten zum Einsatz kommt und weltweit von schlechtbezahlten »Kunstarbeitern« gesprochen wird (vgl. Internationales Diskolatein 2018: 141). Die bereits erwähnten Verwicklungen von Kunstbetrieb, 14 »[…] Konflikte über intellektuelle Eigentumsrechte, gegenderte und Gelegenheitsarbeit, Vorstellungen von kulturellem Erbe und Wert sowie die Rhetorik des Krieges gegen den Terror; sie alle fegen durch vergnügte und überschwängliche Filmübersichten und richten verheerenden Schaden an« (Übersetzung J. W.).
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Kriegen und Kapitalismus bringen Steyerl zu der Behauptung, das IAE werde zur Maskierung dieser Zusammenhänge eingesetzt (vgl. ebd.: 145.). Trotz aller Kritik kann sie das International Art English in eine positive Version seiner selbst wandeln: in das Internationale Diskolatein. »Es ist eine Sprache, die ihre digitale Verbreitung, ihre Komposition und Gemachtheit miteinkalkuliert. Das ist die Vorlage für die Sprache, in der ich kommunizieren möchte, eine Sprache, die nicht durch ehemals imperiale, neuerdings globale Körperschaften überwacht wird und auch nicht durch nationale Statistiken – eine Sprache, die Fragen von Zirkulation, Arbeit und Privilegien aufnimmt und sich ihnen stellt […]« (ebd.: 149). Alle diese Sprachen tragen für die Künstlerin die Aussicht auf zukünftige demokratische Öffentlichkeiten in sich, die jenseits sozialer Klassen und nationaler sowie geografischer Zuordnungen verortet sind, und beinhalten somit zugleich das Potenzial auf Kreativität und Protest. Dementsprechend plädiert sie – sich selbst eingeschlossen – für ein Mehr, nicht Weniger an entfremdeter Sprache (vgl. ebd.: 148). Allerdings bleibt anzumerken, dass Steyerl ihre Essays bereits seit ihrer zweiten Publikation in der Regel zunächst auf Englisch verfasst. Dabei bedient sie sich keinesfalls jenes gebrochenen Internationalen Diskolateins, sondern verfügt im Gegenteil, genau wie in ihren Vorträgen über eine äußerst eloquente und wortgewandte Ausdrucksweise. Die Ausstellung ihrer Power Plants in Berlin 2019 bleibt eine sprachliche Ausnahme: Dort setzt sie in jenen virtuellen Schriftzügen, welche den Ausstellungsraum durchziehen, dem weitverbreiteten Irrtum des Englischen als einer Lingua Franca, unter anderem das Türkische als eine der in der deutschen Hauptstadt am weitesten verbreiteten Sprachen entgegen.
Marginalisierte Bilder, marginalisierte Menschen Die vorausgehenden Beobachtungen zu Hito Steyerls materialistischdokumentaristischer Herangehensweise haben gezeigt, wie anhand jedes Ortes, jedes Objekts, jedes Bildes, jeder Verfassheit einer Situation andere Wahrheiten verfügbar werden, als möglicherweise zuvor erwartetet. Diese wiederkehrenden Enthüllungen eines stets vorhandenen dokumentarischen Potenzials erweisen sich als konstruktive Wendemomente innerhalb ihrer jeweiligen Kritik oder Narration.
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Daran anknüpfend stellt sich schließlich die Frage nach dem Menschen innerhalb jener weitverzweigten und dynamischen »[…] Verflechtungen von […] unzähligen unfertigen Konfigurationen aus Orten, Zeiten, Materien, Bedeutungen« (Haraway 2019: 9). Nachdem, insbesondere im Kontext der Frage nach Repräsentation, Emanzipation lange mit Subjektwerdung gleichgesetzt wurde, Subjekt sein aber ohnehin immer auch bedeutet, den bestehenden Machtverhältnissen unterworfen zu sein (»The subject is always already subjected«, A Thing Like You and Me 2012: 50), schlägt Steyerl eine Selbstverdinglichung und damit implizit die Aufhebung der Grenze zwischen Subjekten und Objekten vor: »How about siding with the object for a change? […] Why not be a thing? An object without a subject? A thing among other things?« (ebd.: 50)15. Mit diesen antibinären Gedanken zum Verhältnis von Subjekt und Objekt steht sie Theorien des Spekulativen Realismus und Neomaterialismus nahe. Deren Vertreter*innen »[…] lenk[en] unsere Aufmerksamkeit von der Subjekt-Objekt-Korrelation und der Privilegierung des Menschen auf die Achse der Objektbeziehung« ( Joselit 2014: 124). Danach kann nicht länger die Rede sein von menschlichen Subjekten, welche sich vor einem Hintergrund passiver Objekte bewegen, die ihnen stets zu Händen sind. Auch kann »[…] die Korrelation zwischen Mensch und Objekt anderen Relationen, wie zum Beispiel jenen zwischen Objekten selbst, nicht übergeordnet werden […]« (ebd.: 122). Der Mensch, nun selbst Objekt, taucht ein in jenes dynamische Kräftefeld vernetzter, (un)belebter Objekte. Es erscheint, als fänden solche kritisch-posthumanistischen Theorien ihre unmittelbare Umsetzung in der inhaltlichen und formalen Gestaltung von Steyerls filmischen Arbeiten: Ebenso wie deren Protagonist*innen, seien es nun Objekte, Bilder oder Menschen, in Liquidity Inc. (2014) von globalen Kapitalwinden erfasst und durch die Welt gewirbelt werden oder, wie in In Free Fall (2010) und Mission Accomplished: Belanciege (2019) in ökonomische Produktionsprozesse eingebunden sind, werden in der Gestaltung ihrer Videos Personen und Gegenstände aller Art gleichermaßen optischen Verfremdungseffekten unterworfen16 und sind von (visueller) Fragmentierung und Auflösung betroffen. 15 Siehe auch den Beitrag von Isabell Lorey in diesem Band. 16 Siehe Unterkapitel Dekonstruktion.
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Ein Terrorist moderiert den globalen Waren- und Krisen-Wetterbericht
Neben ihrem Vorschlag einer anzustrebenden Objektifizierung des Anthropos spielt auch Steyerls Bildtheorie eine entscheidende Rolle innerhalb ihres Nachdenkens über den Menschen. In ihrem Essay In Verteidigung des armen Bildes beschreibt sie eine »Klassengesellschaft der Bilder« (In Verteidigung des armen Bildes 2016: 20), für deren Entstehen sie, neben der Digitalisierung und Umgestaltung der Medienproduktion im Neoliberalismus, die »[…] postsozialen und postkolonialen Umstrukturierungen von Nationalstaaten, deren Kulturen und deren Archiven […]« (ebd.) als Ursachen anführt. »Das arme Bild ist […] ein Lumpenproletarier in der Klassengesellschaft der Erscheinungen. […] Das arme Bild ist die illegitime fünfte Generation eines Originalbildes. Seine Abstammung ist dubios. […] Es widersetzt sich oft der Einordnung in ein Erbe, eine nationale Kultur oder dem Urheberrecht. […] Arme Bilder sind die Verdammten des Bildschirms von heute […]. Sie zeugen von der gewaltsamen Entortung, […] von ihrer Beschleunigung und Zirkulation innerhalb der Teufelskreise des audiovisuellen Kapitalismus« (ebd.: 17).
Für die Leser*innen transportieren diese Worte mindestens eine Doppeldeutigkeit – oder sogar die Behauptung eines engen, interdependenten Verhältnisses zwischen Menschen und Bildern. Nachdem bereits Steyerls materialistische Auffassung von Bildern herausgearbeitet wurde, entsteht nun der Eindruck von Bildern als möglichen Stellvertretern von Menschen, manchmal sogar von einem Ineinanderfallen beider. Wenn Steyerl ihre
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Publikation in Nachfolge Frantz Fanons17 The Wretched of the Screen (2012) betitelt und von solchen »armen Bildern« als ausgestoßene »[…] Reisende[…] in einem digitalen Niemandsland […]« (ebd.: 24) spricht, welche »manchmal unterwegs sogar ihren Namen und ihren Abspanntitel verlieren« (ebd.), lesen sich diese Sätze, als sei implizit die Rede von immigrierten, geflüchteten oder ausgestoßenen Menschen. An anderer Stelle beschäftigt sich Steyerl mit »image-spam people« (The Spam of the Earth: Withdrawal from Representation 2012: 173). Gemeint sind die digital verbesserten, makellosen, bloß menschenähnlichen Kreaturen in der Werbung. Die chirurgisch und digital verbesserten Models werden zu Bildern des Hyperkapitalismus, welche die Wünsche und Träume der Menschen ansprechen sollen, um so den Konsum anzuregen. Doch aufgrund deren gegenwärtig riesiger Masse und weiter Verbreitung landet der Großteil als spam of the earth missachtet in den Spam-Ordnern der Posteingänge. Erneut nimmt Steyerls Kritik hier eine Wende: Insbesondere in Hinblick auf die Krise der Repräsentation sieht sie Chancen und Potenziale in einem Zusammendenken von Bildern und Menschen. Sie wendet ein: »But if image spam were actually much more than a tool of ideological and affective indoctrination? What if actual people […] had actually chosen to desert this kind of portrayal? What if image spam thus became a record of a widespread refusal, a withdrawal of people from representation?« (ebd.: 165).18
Wenn die einzige Form, visuell repräsentiert werden zu können, derzeit eine negative ist (vgl. ebd.: 172) und Repräsentation aufgrund umfassender Überwachung ohnehin als ein zu vermeidendes Übel gelten muss19, 17 Fanon, Frantz (1961): The Wretched of the Earth. New York: Grove Press. 18 »Aber wenn (Bild-)Spam tatsächlich mehr wäre als ein Werkzeug ideologischer und affektiver Indoktrinierung? Was, wenn wahrhaftige Menschen […] tatsächlich die Wahl getroffen hätten, diese Art der Darstellung hinter sich zu lassen? Was, wenn (Bild-) Spam auf diese Weise die Aufzeichnung einer umfassenden Weigerung geworden wäre, ein Rückzug der Menschen aus der Repräsentation?« (ÜdA). 19 Mit ihrer Video-Arbeit How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File 2013 kreiert Steyerl eine humoristische Anleitung, mit Vorschlägen, auf verschiedene Weise unsichtbar zu werden.
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Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
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bieten uns die image-spam people als unsere Vertreter*innen, laut Steyerl, eine Deckung und somit die Möglichkeit, der Überwachung zu entkommen (vgl. The Spam of the Earth: Withdrawal from Representation 2012: 173). Aber Steyerls Optimismus in Hinsicht eines Zusammendenkens von Bildern und Menschen geht noch weiter. Sie schlägt vor, das Re-Editing von Bildern in der Postproduktion des Filmemachens ganz einfach auf ein Re-Editing von Körpern zu übertragen. »If a part of the body is cut we can recompose a new body with these cut-off pieces, a body that combines the bones of the dead and the folly of the natural bodies of the living. […] We can reedit the parts that were cut – whole countries, populations, even whole parts of the world, of films and videos that have been cut and censored because they do not conform to ideas of economic viability and efficiency. We can edit them into incoherent, artifical, and alternative political bodies« (Cut! Reproduction and Recombination 2012: 187).20
Ihr Vorschlag einer Übertragung und Anwendung der kreativen Nachbearbeitung von Bildern auf tatsächliche humanitäre Krisen und soziale Konflikte erscheint zunächst euphemistisch bis zynisch. Abschließend soll jedoch überlegt werden, unter welchen Bedingungen (Steyerls) Kunst als Lösung gesellschaftlicher Problematiken und somit als soziale Intervention in Betracht gezogen werden kann.
Künstlerische Wendestrategie Auch Hito Steyerl gehört als arrivierte Künstlerin (mittlerweile) der kulturell privilegierten westlichen Elite an. Doch übernimmt sie nicht einfach deren Theoreme und Schablonen, sondern etabliert eine eigene interdisziplinäre, multimediale Vorgehensweise, die ein anderes, differen20 »Wenn ein Teil des Körpers abgeschnitten wird, können wir einen neuen Körper aus diesen abgeschnitten Stücken zusammensetzen, einen Körper, der die Knochen der Toten und die Torheiten der natürlichen Körper der Lebenden kombiniert. […] Wir können die abgeschnitten Teile neu bearbeiten – ganze Länder, Bevölkerungen, sogar ganze Weltteile aus Filmen und Videos, die geschnitten und zensiert wurden, weil sie nicht den Ideen ökonomischer Durchführbarkeit und Effizienz entsprechen. Wir können sie als inkohärente, künstliche und alternative politische Körper aufbereiten« (Übersetzung J. W.).
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ziertes Denken der Welt und ihrer Dinge ermöglichen will. Ihr Schreiben, Vortragen und Filmen machen das Soziale als Gegenstand und Ziel ihres Handelns auf andere Weise verfügbar, als die Politik oder rein wissenschaftliche Diskurse dies vermögen (vgl. Bhabha 2000: 35). Sie nutzt die Kunst, um Unsichtbares und Abstraktes sichtbar und konkret werden zu lassen und einen ethisch-ästhetischen Bilderdiskurs zu kreieren. Schon allein durch ihre derzeitige Popularität ist jedoch auch Steyerl gefangen in Konventionen, wird hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Interessen und den machtvollen neoliberalen Strukturen der Kunstszene. Ihre Arbeiten (ver-)stören oder brüskieren nicht, brechen keine Tabus. Im Gegenteil unterhalten sie ihr Publikum auf poppige, hippe Art. Durch den Einsatz von Disco-Musik werden sie mitunter zu tanzbarer Kunst, in der jede Radikalität dem Einvernehmen weicht. Erst in der tiefergreifenden Auseinandersetzung treten die aufklärerischen und emanzipatorischen Potenziale ihrer Kunst hervor. Dagegen beweist die fortdauernde Aktualität auch ihrer frühen Arbeiten einen Grad an Reflexion und Weitblick, der es ihr offensichtlich ermöglicht, eine immer komplexere gesellschaftliche Situation erfassen und vermitteln zu können. Ohne Botschaften oder Handlungsimperative zu formulieren, traktieren ihren Arbeiten unser Bewusstsein und machen uns aufmerksam für unsere gesellschaftliche Umwelt. Eben darin liegt der Wert ihres Schaffens: Jene Dualitäten, Unvereinbarkeiten und Spannungen, welche die Gegenwart konstituieren ansichtig werden zu lassen. Steyerls alternative Art des Dokumentierens besteht in einem »[…] schwierige[n] Vorgang des Verbindens, Suchens und Ordnens« (Terkessidis 2020: 42) aus der komplexen »[…] Gemengelage aus Angelegenheit, Anliegen, Gegenstand und Ursache« (ebd.) heraus. Ihre »[ä]sthetischen Praktiken ermessen […] das Ungenaue, handeln im Ungefähren […]« (Henke 2020: 53) und heben unverfügbare Leerstellen und Zwischenräume hervor. Auf diese Weise entstehen komplexe, welthaltige Bild- und Sprachmontagen, die auf die unauflösbaren Verbundenheiten, Abhängigkeiten und Verwicklungen aller Vorkommnisse, Entitäten und Geschehnisse verweisen und damit alternative Betrachtungen der Gegenwart anbieten. Nicht mimetischen Repräsentationen, sondern kontrastreichen Bildern wie denen Steyerls gelingt es, ein dermaßen prekäres und verworrenes Zeitalter (noch) zu erfassen.
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Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
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Trotz der von ihr thematisierten, oft problematischen bis erschütternden Inhalte vermittelt Steyerl, ähnlich neomaterialistischen und posthumanistischen Denker*innen wie Donna Haraway oder Rosi Braidotti, eine affirmative Haltung gegenüber der Gegenwart, insofern sie daran interessiert ist durch ihre Kritik des Gegebenen letztlich dessen Veränderung zu bewirken. Wie vorangehend beschrieben, verfolgt und kultiviert sie dabei eine Strategie, die auf Anverwandlung und Wendemomenten basiert. Innerhalb des Spannungsverlaufs ihrer Argumentationsketten kehrt sie eine zuvor problematisierte Situation diskursiv in ein konstruktives Potenzial um. Jede dieser künstlerischen Anverwandlungen oder Wenden mündet in einen unerwarteten, zukunftsorientierten Vorschlag. Ihre Alltags- und Lebenszugewandtheit verwandelt den Raum der Kunst in ein Forum »[…] des Experimentierens mit Weltzugängen […]« (Schwarte 2019: 32). Die Voraussetzung, um die Option einer Regeneration oder Lösung gesellschaftlicher Krisen und Konflikte durch und mit Hilfe der Kunst ernstnehmen zu können, ist jene Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit als eine Zone des Transits und permanenten Austauschs zu denken. Durch die Negation einer Hierarchisierung verschiedener Wirklichkeiten bleibt der Raum der Fiktion und Kunst zur Realität hin offen. Auf diese Weise lassen sich die darin entworfenen Projekte als kreative Lösungsansätze betrachten, deren genuine Potenziale als Kunstwerke in einer spezifischen Situation fruchtbargemacht werden könnten. Gemeint ist nicht die unmittelbare Umsetzung künstlerischer Visionen. Bereits die Anerkennung einer (wenn auch noch so geringen) Wahrscheinlichkeit des Realisierungspotenzials eines Entwurfs oder Vorschlags sorgt dafür ihn auf die eine oder andere Weise in Sein zu bringen und die Kunst geht über in ein Handeln. Erst wenn das Unverfügbare jeder Kunst bestehen bleiben darf (vgl. Rosa 2020), wenn Widersprüche nicht aufgelöst werden müssen, entfalten Kunst-Auswege, wie solche, die bei Steyerl zu finden sind ihre Dynamik. Dann erlangt »[…] etwas, das noch nicht ist oder sein konnte, Realität […]« (Schwarte 2019: 47) und die algorithmisch gesteuerte Ruderalvegetation21 der Power Pants (2019) kann als animierte Projektion ihre heilbringenden Kräfte in ver21 Unter Ruderalvegetation versteht man diejenigen Pflanzen, welche auf vom Menschen überprägten, jedoch brachliegenden Gebieten wachsen und so den Boden erneut fruchtbar für nachfolgende Pflanzenarten machen.
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ödeten Gebieten verbreiten. Auch entkommen wir der flächendeckenden Überwachung mit Hilfe virtueller Camouflage (How Not To Be Seen. A Fucking Didactic Educational .Mov File 2013) und jede*r von uns vermag nach Is a Museum a Battlefield? (2013), den Flug todbringender Geschosse mit Hilfe seines/ihres Smartphones ohne Schwierigkeit umzuleiten und somit zahlreiche Leben zu retten.
Hito Steyerl verschwindet unter virtueller Camouflage
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Das Werk Hito Steyerls im Kontext von Postkolonialismus und Postmigration
Filme/Videos/Video-Installationen Die Leere Mitte, 1998 Normality 1-X, 1999 November, 2003 Universal Embassy, 2004 Der Bau, 2009 In Free Fall, 2010 Guards, 2012 Abstract, 2012 Is the Museum a Battlefield? 2013 How Not To Be Seen. A Fucking Didactic Educational .Mov File, 2013 Liquidity Inc., 2014 The Tower, 2015 Factory of the Sun, 2015 Robots today, 2016 ExtraSpaceCraft, 2016 This is the future, 2019 Power Plants, 2019 Drill, 2019 Mission Accomplished: Belanciege, 2019 SocialSim, 2020
Performance-Lectures Art as Occupation, Berlin, 2012 Is the Museum a Battlefield? Istanbul Biennal, 2013 Rules of Engagement, New Dehli, 2014 Proxy Politics, o.O., 2015 A Problem of Design, o.O., 2015 Plattform for Political mathematics. Insane mathematics in public policy mit Grant Passmore, o.O., 2015
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Publikationen Steyerl, Hito (2008): Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien: Turia & Kant. Daraus zitierte Essays: Die dokumentarische Unschärferelation. Was ist Dokumentarismus? S. 7–17 White Cube und Black Box. Kunst und Kino S. 116–128 Steyerl, Hito (2012): The Wretched of the Screen. Berlin: Sternberg Press. Daraus zitierte Essays: A Thing Like You and Me S. 46–59 Missing People: Entanglement, Superposition, and Exhumation as Sites of Indeterminacy S. 138–159 The Spam of the Earth: Withdrawal from Representation S. 160–175 Cut! Reproduction and Recombination S. 176–190 Babias, Marius (Hg.) (2016): Hito Steyerl. Jenseits der Repräsentation/Beyond Representation. Essays 1999–2009. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Daraus zitierte Essays: In Verteidigung des armen Bildes S. 17–24 Die Artikulation des Protestes S. 25–31 Spricht die Subalterne Deutsch? Postkoloniale Kritik S. 80–83 Ist das Museum eine Fabrik? S. 107–114 Steyerl, Hito (2018): Duty Free Art. Kunst in Zeiten des globalen Bürgerkriegs. Zürich: Diaphanes. Daraus zitierte Essays: Ein Panzer auf dem Podest S. 7–15 Wie man Menschen tötet: ein Designproblem S. 17–27 Der Terror des totalen Daseins S. 29–38 Ein Meer von Daten: Apophänie und Muster(fehl)erkennung S. 55–69 Duty Free Art S. 83–108 Ihr Name war Esperanza S. 123–140 Internationales Diskolatein S. 141–149 Ist das Internet tot? S. 151–160 Reden wir über Faschismus S. 181–190 Wenn du kein Brot hast, iss Kunst! Moderne Kunst und derivative Faschismen S. 191–200 Gerippte Realität: Blinde Flecken und zertrümmerte Daten in 3D S. 201– 215
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Einzelne Artikel/Essays Steyerl, Hito (2006): Notes About Spamsoc. Version # 1. In: Pages Magazine. https://www.pagesmagazine.net/en/articles/notes-about-spamsoc (23.02.2020). Steyerl, Hito (2007): Warum Dokumentarismus und warum jetzt? In: Grazer Kunstverein et al. (Hg.): Es ist schwer das Reale zu berühren. Frankfurt a.M.: Revolver. S. 43–50. Steyerl, Hito (2012): Postkolonialismus und Biopolitik. In: Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster: Unrast. S. 38–55. Steyerl, Hito / Terkessidis, Mark: Die Wahrnehmungsschwelle. In: DIE ZEIT (7. Januar 2021). Hamburg.
Literatur- und Quellenverzeichnis Babias, Marius (2016): Vorwort. In: Marius Babias (Hg.): Hito Steyerl. Jenseits der Repräsentation/Beyond Representation. Essays 1999–2009. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Boenzi, Francesca (2010): Do You Speak Spamsoc?: Hito Steyerl. In: Mousse 23. https://francescaboenzi.tumblr.com/post/45991505727/do-you-speakspamsoc-hito-steyerl. Bredekamp, Horst (2015): Der Bildakt. Berlin: Wagenbach. Gutiérrez Rodriguez, Encarnación (2012): Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik. In: Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster: Unrast. S. 17–37. Han, Byung-Chul (2020): Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Berlin: Matthes & Seitz. Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Henke, Silvia et al. (2020): Manifest der Künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter. Zürich: Diaphanes. Joselit, David (2018): Body Bags. In: Susanne Pfeffer (Hg.): Speculations on Anonymous Materials. Köln: Buchhandlung Walther König. S. 122–127. Rosa, Hartmut (2020): Unverfügbarkeit. Wien und Salzburg: Suhrkamp. ciolino, Elaine et al.: 21 Days in Dayton. In: New York Times (23. November 1995). New York. Terkessidis, Mark (2020): Das Archiv der vergessenen Anliegen. Die frühen Filme Hito Steyerls als alternative Dokumentationen. In: Florian Ebner et al. (Hg.): Hito Steyerl. I Will Survive. Leipzig: Spector books. S. 41–47.
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Tretjakov, Sergej (1972): Die Arbeit des Schriftstellers. In: Heiner Boehncke (Hg.): Aufsätze Reportagen Porträts. Reinbek bei Hamburg: rororo.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Hito Steyerl MISSION ACCOMPLISHED: BELANCIEGE, 2019 3 channel HD video (color, sound), environment Duration: 47:23 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © The Artists & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 2 Hito Steyerl Guards, 2012 DV, single channel HD, video shown on free standing screen Duration: 20 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 3 Hito Steyerl Abstract, 2012 Two-channel HD video with sound, environment Duration: 7:30 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 4 Hito Steyerl Robots Today, 2016 Single channel HD video file Duration: 8:02 min (as part of Hell Yeah We Fuck Die, 2016, video installation, environment) Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021
Abb. 5 Hito Steyerl The Tower, 2015 3 channel video installation, HD video (color, sound), environment Duration: 6:55 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 6 Hito Steyerl SocialSim, 2020 Single channel HD video and live computer simulation Dancing Mania Duration: 18:19 min (single channel) Dancing Mania duration variable Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 7 Hito Steyerl Factory of the Sun, 2015 Single channel high definition video environment, luminescent LED grid, beach chairs Duration: 23 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 8 Exhibition view: Hito Steyerl, Power Plants, Serpentine Galleries, London, 2019 Serpentine Galleries AR application design by Ayham Ghraowi, developed by Ivaylo Getov, Luxloop Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Photo © 2019 readsreads.info
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: ASH Berlin Do, Feb 15th 2024, 22:05 354 Abb. 9 Exhibition view: Hito Steyerl, Power Plants, Serpentine Galleries, London, 2019 Serpentine Galleries AR application design by Ayham Ghraowi, developed by Ivaylo Getov, Luxloop Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Photo © 2019 readsreads.info
Abb. 13 Hito Steyerl Liquidity Inc., 2014 HD video file, single channel in architectural environment Duration: 30:15 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021
Abb. 10 Giorgi Gago Gagoshidze, Hito Steyerl and Miloš Trakilović MISSION ACCOMPLISHED: BELANCIEGE, 2019 3 channel HD video (color, sound), environment Duration: 47:23 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © The Artists & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021
Abb. 14 Hito Steyerl How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File, 2013 Single channel high definition digital video and sound in architectural environment. Duration: 15:52 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021
Abb. 11 Hito Steyerl Babenhausen, 1997 Beta SP (color, sound) Duration: 4:04 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021 Abb. 12 Hito Steyerl In Free Fall, 2010 Video HDV, 32‘, single channel, sound, color Duration: 33:43 min Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin © Hito Steyerl & VG Bild-Kunst, Bonn, 2021
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Jolanda Wessel – Das Werk Hito Steyerls …
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Über die Autor*innen
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Über die Autor*innen
Ömer Alkin ist Professor für Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Hochschule Niederrhein. Leiter des DFGForschungsprojekts »Ästhetik des Okzidentalismus« (Kurztitel). Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten ist er im Bereich interkulturelle Bildung sowie digitales Lernen tätig. Forschungsinteressen sind: Film, kulturelle Bildung, Migration, Islam in audiovisueller Kultur, Rassismus, Okzidentalismus, Postmigration. Zuletzt erschienen: »Moscheen in Bewegung. Interdisziplinäre Perspektiven auf muslimische Kultstätten der Migration« (2021, hg. m. Mehmet Bayrak und Rauf Ceylan) DeGruyter; »Postmigrant Media Futures«, in: NECSUS Autumn #2021. Demnächst erscheint: hg. m. Jiré Emine Gözen und Nelly Y. Pinkrah: 26. Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM): »X | Kein Lagebericht«, Thema Rassismus. Feben Amara ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und medien- und disziplinübergreifend an den Schnittstellen von Textproduktion, Vermittlung und künstlerischer Intervention tätig. Sie war u.a. Teil des Chorus, dem Kunstvermittlungsprogramm der documenta 14 (2017) und arbeitete als Redakteurin des Project Space Festivals: When the hunger starts (2019). Darüber hinaus ist sie Mitglied des Fasia Jansen Chors und in unterschiedlichen politischen Zusammenhängen aktiv. In ihrer wissenschaftlichen Forschung untersucht sie künstlerisch-kulturelle Produktionen als Teil translokaler Widerstands- und Organisierungspraxen. Ihre aktuellen Schwerpunktthemen sind Dekolonisierung, Migration, Antirassismus und die Ästhetiken des Politischen. Vittoria Borsò ist emeritierte Professorin für romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Literaturwissenschaftlerin hat zahlreiche Publikationen in deutscher, englischer, italienischer und spanischer Sprache veröffentlicht und war als Forschungsstipendiatin und Gastprofessorin an mehreren Universitäten in den USA (u.a. Stanford University, UC Santa
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Über die Autor*innen
Barbara, UC Texas) sowie in Mexiko, Argentinien, Spanien und Italien tätig. Sie forscht zur romanischen Literatur der Moderne sowie zur iberoamerikanischen Literatur mit einem Schwerpunkt auf der Kultur- und Literaturgeschichte Mexikos. Jüngere Forschungsprojekte setzen sich mit Fragen zur Biopolitik, zum Italian Thought sowie mit Gedächtnistheorien im Spannungsverhältnis zwischen Kultur- und Neurowissenschaften auseinander. Burcu Dogramaci ist Professorin für Kunstgeschichte an der LudwigMaximilians-Universität München. Sie forscht und publiziert zur Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart mit einem Schwerpunkt auf Exil, Flucht, Migration, Geschichte und Theorie der Fotografie, Architektur, Urbanität, Mode, Geschichte der Kunstgeschichte, Live Art. Sie leitet das ERC-Projekt METROMOD zu sechs globalen Städten als Fluchtorte emigrierter Künstler*innen der Moderne (https://metromod.net). Seit 2021 ist sie Co-Direktorin des Käte Hamburger Kollegs »Dis:konnektivität in Globalisierungsprozessen«. Neuere Publikationen sind: »Arrival Cities. Migrating Artists and New Metropolitan Topographies in the 20th Century«, (2020) Leuven, hg. m. M. Hetschold et al., open access; »Handbook of Art and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges« (2019) Berlin/Boston, hg. mit B. Mersmann). Heidrun Friese ist Kultur- und Sozialanthropologin und Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz. Ihre Forschungsinteressen umfassen soziale und politische Theorien, postkoloniale Perspektiven, (kulturelle) Identitäten, Grenzen und transnationale Praktiken, Freundschaft und Gastfreundschaft, Mobilität und digitale Anthropologie. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. »Flüchtlinge: Opfer - Bedrohung – Helden. Zur politischen Imagination des Fremden « (2017) und »Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage« (2014). Leela Gandhi ist Professorin für Geisteswissenschaften und Englisch an der Brown University. Die Literatur- und Kulturtheoretikerin lehrte an der University of Chicago, der Delhi University und der La Trobe University und hatte Gastprofessuren in Australien, Dänemark,
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Über die Autor*innen
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Indien, Italien und dem Iran inne. Gandhi ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Postcolonial Studies, Vorstandsmitglied von Postcolonial Text und Senior Fellow der School of Criticism and Theory an der Cornell University. Zu ihren Veröffentlichungen gehören »Postcolonial Theory« (Revised Edition, 2019), »The Common Cause« (2015), »Affective Communities« (2006) und »Measures of Home: Selected Poems« (2000). Derzeit schreibt sie an einem genreübergreifenden Werk über moderne Gewaltlosigkeit. Lena Geuer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstund Musikwissenschaft der TU Dresden und lehrt transkulturelle Kunstgeschichte, postkoloniale Theorie und global art studies mit einem regionalen Schwerpunkt auf Kunst und visuelle Kulturen in Lateinamerika. In ihrem Postdoc-Forschungsprojekt »Ästhetik des Verzichts« untersucht sie das Verhältnis von Kunst und Ökologie anhand ästhetischer Formen des Verzichts. Die Kunstwissenschaftlerin promovierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Rahmen des Graduiertenkollegs ›Materialität und Produktion‹. Im August 2022 erscheint ihre Monografie »Arte argentino – Ästhetik und Identitätsnarrative in der argentinischen Kunst. Ausgewählte Arbeiten von Marta Minujín und Luis Felipe Noé« im transcript Verlag. Veronika Kourabas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG 10: Migrationspädagogik und Rassismuskritik an der Universität Bielefeld. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Rassismustheorie und Rassismuskritik, historische und gegenwartsbezogene Diskurse über Migration, Geschlechtertheorie und intersektionale Analysen sowie (selbst-)reflexive Zugänge für pädagogisches Denken und Handeln in der Migrationsgesellschaft. Isabell Lorey ist politische Theoretikerin, Professorin für Queer Studies an der Kunsthochschule für Medien Köln und arbeitet für die Publikationsplattform transversal (transversal.at). Monografien: »Figuren des Immunen« (2011); »Immer Ärger mit dem Subjekt« (1996/2017); »Die Regierung der Prekären« (2012/32020), »Demokratie im Präsens« (2020). Viele Bücher und Texte sind in mehrere Sprachen übersetzt. Aktuelle Aufsätze: »Precarization and Care-Citizenship«,
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Über die Autor*innen
Griffith Law Review, 2020: 27 (4); »The Constituent Power of the Multitud«, Journal of International Political Theory, 2019: 15 (1); »Die Zeit ist (nicht) aus den Fugen. Queere Zeitlichkeit und konstituierende Immunisierung«, in: Deuber-Mankowsky/Hanke/Michaelsen (Hg.), Queeres Kino / Queere Ästhetiken als Dokumentationen des Prekären, Berlin 2021; »Corona Effects: After Prevention, Just In Time: Digitalization and Contact Phobias«, in: Kohlhuber/Leistert (Hg.), Hamburg Maschine revisited: Artistic and Critical Investigations into Our Digital Condition, Hamburg 2022. Paul Mecheril ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld (AG 10: Migrationspädagogik und Rassismuskritik). Der Erziehungswissenschaftler promovierte in Psychologie mit einer Arbeit über das sprachliche Geschehen in Psychotherapiegesprächen, die Habilitation in Erziehungswissenschaft widmete sich dem Phänomen der (Mehrfach)Zugehörigkeiten in der Migrationsgesellschaft. Mecheril beschäftigt sich u.a. mit methodologischen und methodischen Fragen interpretativer (Forschungs-)Praxis, pädagogischer Professionalität, migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen, Macht und Bildung. Marianne Pieper ist emeritierte Professorin des Fachbereichs Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Gender, Queer und Postcolonial Studies, Kritische Rassismus-, Migrations- und Ableismusforschung sowie Sozialtheorie und Methoden qualitativer empirischer Sozialforschung. Sie hat zahlreiche empirische Forschungsprojekte durchgeführt: Zum Beispiel untersuchte sie im Rahmen des EU-Projekts MIG@NET gemeinsam mit Wissenschaftler*innen von sieben europäischen Universitäten digitale Vernetzungsprozesse in der Migration. In einem inklusiven EU-Projekt zu »Ableism & Racism in the Labour Market« analysierte sie gemeinsam mit behinderten und nicht-behinderten Wissenschaftler*innen die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Migrationsgeschichte, die als behindert markiert wurden. Weitere Forschungs- und Publikationsschwerpunkte bilden u.a. poststrukturalistische und postoperaistische bzw. postmarxistische Theorien, Affekttheorien, Fragen von Prekarität oder nicht-konventionellen Lebensformen.
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Über die Autor*innen
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Mithu M. Sanyal ist als Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin für verschiedene Medieneinrichtungen tätig. Darunter zählt u.a. der WDR, SWR, Spiegel, die Bundeszentrale für politische Bildung, The Guardian, ZEIT, taz und das Missy Magazine. Sie hat die Sachbücher »Vulva« (Wagenbach) und »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« (Nautilus, mit dem Preis ›Geisteswissenschaften international‹ ausgezeichnet) publiziert. Ihr Debütroman »Identitti« (2021, Hanser) wurde mit dem Ernst Bloch Preis und dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Jolanda Wessel forscht in ihrer Dissertation zum künstlerischen Werk Hito Steyerls. Sie ist Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und lehrt an der Hochschule Düsseldorf. Zuvor studierte sie Kunstgeschichte in Freiburg i. Br., Paris und Düsseldorf. Erol Yildiz ist Professor für den Lehr- und Forschungsbereich »Migration und Bildung« an der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den postmigrantischen Studien, Migration, Urbanität und Vielheit. Ausgewählte Publikationen sind: »Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht« (2013), Bielefeld; »Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft« (2015 Bielefeld, hg. mit Marc Hill); »Postmigrantische Visionen« (2018), Bielefeld, hg. mit Marc Hill.
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Hito Steyerl & Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.)
Spricht die Subalterne deutsch?
Migration und postkoloniale Kritik 3. Auflage | 304 Seiten | 18 € ISBN 978-3-89771-425-0
Diagnosen und Kritiken vor dem Hintergrund der kolonialen Geschichte Europas und der aktuellen Migrationsregime Der Band beleuchtet die Auswirkungen, die postkoloniale Konzepte für das Verständnis und die Transformation der Realität von Migrant*innen und Angehörigen von Minderheiten im Post-Wiedervereinigungs-Deutschland haben – einer Realität, die durch die massive Zunahme rassistischer und antisemitischer Gewaltbereitschaft in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft geprägt ist. »Erfreulicherweise suchen die Autor*innen die postkolonialen Ausgrenzungsmechanismen nicht allein in ›hegemonialer Symbolik‹ und in ›diskursiven Diktaten‹, sondern verstehen sie ›auch als Ausdruck materieller und ökonomischer Ungleichheit‹.« Joscha Behr | iz3W
Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai & Sheila Mysorekar (Hg.)
Mariam Popal & Iman Attia (Hg.)
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland
Spuren von (antimuslimischem) Rassismus
re/visionen
3. Auflage |456 Seiten | 24 € ISBN 978-3-89771-458-8 eBook | 16.99 €
Politische Analysen, Essays, Glossen und Gespräche von und mit People of Color in Deutschland In re/visionen werden kritische Stimmen ausnahmslos von People of Color zusammengebracht – Schwarze Deutsche, Roma und Menschen mit außereuropäischen Fluchtund Migrationshintergründen. Ihre widerständige Wissensproduktion und ihr politischer Erfahrungsaustausch bringen alternative Diskussionen hervor. Die politischen Analysen, literarischen Essays, Glossen sowie Gespräche verweisen auf eine große Bandbreite von Ausdrucksformen. »Das Buch ist wichtig, weil Betroffene, People of Color, zu Wort kommen und nicht lediglich über sie geredet wird.« Kuno Rinke | Politisches Lernen
BeDeutungen dekolonisieren
325 Seiten | 19.80 € ISBN 978-3-89771-241-6
Wie ›Muslime‹ immer wieder neu zu Fremden gemacht werden und dabei auf Schwarze und jüdische Erfahrungen treffen Die Autor*innen des Bandes machen sich auf die Suche nach Spuren von BeDeutungen und ihren Zusammenhängen. Die Beiträge zeigen, wie (antimuslimischer) Rassismus sowohl historisch als auch gegenwärtig mit anderen Rassismen verwoben ist und aus Formen der Religiösisierung, Rassisierung, Kulturalisierung, Orientalisierung und Kolonisierung schöpft. Gleichzeitig laden die Autor*innen dazu ein, Möglichkeiten zu imaginieren, die das Andere nicht als ›anders‹ auffassen, sondern ›das Selbst‹ dekonstruieren und so Raum schaffen für unabgeschlossenes, prozessuales und dynamisches (Neu-)Denken.
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