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German Pages 320 [321] Year 2017
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Andreas Nehring Simon Wiesgickl (Hrsg.)
Postkoloniale Theologien II Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum
Verlag W. Kohlhammer
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1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-032571-5 E-Book-Format: ISBN 978-3-17-032572-2 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
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Inhaltsverzeichnis
Postkoloniale Theorien und die Theologie. Themen, Debatten und Forschungsstand zur Einführung ........................
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1. Systematische Verortungen Judith Gruber Wider die Entinnerung. Zur postkolonialen Kritik hegemonialer Wissenspolitiken in der Theologie ....................................................................................... 23 Michael Nausner Ambivalenzen der Partizipation. Theologische Reflexionen zur Teilhabe unter postkolonialen Bedingungen ............................................................................................ 38 Florian Tatschner Dekolonisierte Eschatologie. Ein Versuch der Veränderung christlicher Zeitlichkeitsvorstellungen .... 53 Sabine Jarosch Postkoloniale Theologie nach der Shoah? Eine Analyse von Täter- und Opfer-Vorstellungen als Beitrag zu einer postkolonialen Theologie in Deutschland .................................. 73
2. Interkulturelle und religionstheologische Perspektiven Ulrike Auga Dekolonisierung des öffentlichen Raumes. Eine Herausforderung von Bonhoeffers und Spivaks Konzepten von Widerstand, ‚Religion‘ und ‚Geschlecht‘ ......................................... 92 Sigrid Rettenbacher Identität, Kontext, Machtpolitiken. Gedanken zu einer postkolonialen Theologie der Religionen ................ 116 Andreas Nehring Verwundbarkeit auf Abwegen. Migration, Flucht und der Verlust von Handlungsraum .......................... 134 Klaus Hock Erweitertes Wissen. Afrikanische Divinationssysteme und postkoloniale Perspektiven Interkultureller Theologie ........................................................................ 155
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Inhaltsverzeichnis
3. Exegetische Ansätze Simon Wiesgickl Gefangen in uralten Phantasmen. Über das koloniale Erbe der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft 171 Lukas Bormann Gibt es eine postkoloniale Theologie des NT? ........................................ 186
4. Kirchengeschichtliche Zugangsweisen Ciprian Burlacioiu Postkoloniale Perspektiven in der Kirchengeschichte. Eine Bestandsaufnahme ........................................................................... 205 Irena Zeltner Pavlović Postkoloniale und postsozialistische Studien. Repräsentierte Orthodoxie ....................................................................... 226 Marion Grau Bonifatius, Christus und die Axt am Baum. Ein Beitrag zur Soteriologie in postkolonialer Perspektive ..................... 242
5. Praktische-Theologische Anknüpfungspunkte Henrik Simojoki Ökumenisches Lernen, Hybridisierung und Postkolonialismus. Versuch einer kritischen Verschränkung ................................................. 256 Stefan Scholz Postkoloniales Denken in der Religionspädagogik? Spurensuche – Konvergenzen – Konkretionen ........................................ 271 Bertram J. Schirr Postkoloniale Liturgiewissenschaft. Kritische Ansätze in Theorie und Praxis des Gottesdiensts im deutschen Kontext .............................................................................. 287 Claudia Jahnel „Religion kann Brücken bauen für Entwicklung“. Postkoloniale Perspektiven auf den religious turn in der (deutschen) Entwicklungszusammenarbeit .................................... 302
Postkoloniale Theorien und die Theologie. Themen, Debatten und Forschungsstand zur Einführung Andreas Nehring und Simon Wiesgickl
Vor vier Jahren erschien unser Einleitungsband zur postkolonialen Theologie.1 Nun legen wir einen zweiten Band nach und blicken damit auch zurück auf Veränderungen, die sich in den letzten Jahren innerhalb der Theologie und den Kulturwissenschaften ereignet haben. Ist die postkoloniale Theologie an den Universitäten und auf den Tagungen angekommen? Beschäftigen sich Studierende mit diesen Themen? Wie sieht es in den Gemeinden, im Religionsunterricht oder in der Erwachsenenbildung aus? Auf welchen Feldern hat die postkoloniale Theologie reüssiert und wo konnte sie kaum Fuß fassen? Beginnen wir also mit der Bestandsaufnahme: In ihrer mit Spannung erwarteten zweiten Auflage des Klassikers Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (²2015) sprechen Mariá do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan davon, dass postkoloniale Theorien aus dem deutschsprachigen kritischen Diskurs nicht mehr wegzudenken seien, eine vergleichbare Etablierung, wie in den USA jedoch noch längst nicht erreicht ist. Eine der auffälligsten Ergänzungen in der Neuauflage betrifft den Bereich der Religionswissenschaft und Theologie, zu dem ein eigenständiges Kapitel eingeführt wurde2. Darin untersuchen die Autorinnen das ambivalente Feld der Mission mit seiner Grundspannung zwischen der Vorstellung von Missionaren als Agenten des Kolonialismus auf der einen Seite und der Entdeckung von hybriden Formen religiöser Praxis auf der anderen Seite. Sie schließen an Einsichten an, dass die christliche Natur des Kolonialprojekts, die sich unter anderem in ihrem Selbstverständnis als Zivilisierungsmission ausdrücke, in postkolonialen Studien unterrepräsentiert sei3 und verknüpfen postkoloniale Theoriebildung auch mit einer postsäkularen Wende. Doch ist das Thema des Postkolonialismus nicht nur in einschlägigen Studienfeldern auf dem Vormarsch, sondern Auswirkungen lassen sich auch an anderen Orten beobachten: Im Jahr 2016 kuratierte das Deutschen Historischen Museum zu Berlin eine große Sonderausstellung, die sich
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Siehe Andreas Nehring / Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013. Siehe Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2015, 54–74. Siehe dazu auch Peter van der Veer, Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton 2001.
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den vielfältigen Aspekten der deutschen Kolonialgeschichte widmete und dabei auch den Bereich der Religion mit umfasste – auch hier mit einem deutlichen Bezug zum Thema der ‚Mission‘.4 Und auch innerhalb der Theologie erschien in den letzten Jahren eine Vielzahl an Studien zu postkolonialen Themen. Insbesondere die englischsprachige systematische, exegetische und praktische Literatur ist inzwischen kaum noch zu überblicken, geschweige denn auf einen einheitlichen inhaltlichen Nenner zu bringen. Als große Themenblöcke, bzw. inhaltliche Schlagworte, die in unterschiedlichen Zusammenhängen intensiv bearbeitet werden, haben sich Empire, Diaspora, Hybridität, Identität und Grenzen erwiesen. Für den deutschsprachigen Bereich ist dieser Befund noch einmal zu diversifizieren. So kann von einer breiten Rezeption postkolonialer Theorien bisher nicht die Rede sein. Bei bisherigen Studien zu diesem Themenkomplex, die über eine bloße Einführung in fremdsprachige Werke hinausgingen, handelt es sich entweder um Einzelstudien, Übersetzungen fremdsprachiger Beiträge oder die Dokumentation internationaler Tagungen. Theologische Gesprächsbeiträge, die konstruktiv den Mehrwert postkolonialer Theorien erschließen und für den deutschsprachigen Raum fruchtbar machen, bleiben die absolute Ausnahme. Zusammenfassend kann also konstatiert werden, dass eine kritische Auseinandersetzung mit spezifisch deutschen Fragestellungen, Inhalten und Themenbereichen der postkolonialen Theorie, wie sie beispielhaft die Germanistik vollzogen hat5, für die Theologie derzeit noch aussteht.6 Die Fachtagung Postkoloniale Theologien: Deutsche Perspektiven, die dieser Veröffentlichung vorausging, versammelte nun erstmals für den deutschsprachigen Raum Vertreter*innen unterschiedlicher theologischer Disziplinen zu einem gemeinsamen Gespräch über Konturen, Themen und Perspektiven einer postkolonialen Theologie im deutschsprachigen Raum. Mit der Fragestellung nach Chancen und Herausforderungen einer deutschsprachigen postkolonialen Theologie wird das Spannungsfeld beschritten, nach einem spezifisch deutschen Beitrag zu fragen und gleichzeitig auf den konstruktiven Charakter nationaler Identitäten hinzuweisen. Uns war bewusst, wie widersprüchlich und ambivalent ein solches Unterfangen ist. Denn eine Stoßrichtung postkolonialer Theologien richtet sich gerade gegen jegliche nationalen Grenzziehungen und mit Blick auf die deutsche Geschichte und bisherige Versuche einer Indigenisierung einer „deutschen Theologie“ wird deutlich, wie 4 5 6
Siehe Rebekka Habermas, „Willst du den Heidenkindern helfen?“, in: Deutsches Historisches Museum (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Berlin, 50–57. Siehe dazu die Auswertung des großen DFG-Projektes: Gabriele Dürbeck / Axel Duncker (Hg.), Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren, Bielefeld 2014. Darauf weist hin: Michael Nausner, Koloniales Erbe und Theologie. Postkoloniale Theorie als Ressource für deutschsprachige Theologie, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 17 (1,2013), 65–83.
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fragil der Boden ist, auf dem wir uns bewegen.7 Zugleich scheint uns der postkolonialen Theologie nicht gedient, wenn sie ein englischsprachiges und (scheinbar) abgehobenes Projekt voller Fallstricke und Tücken wird, an das man sich besser nicht herantrauen sollte. Der besondere Charakter des deutschen Orientalismus und dessen Beziehungen zur akademischen Theologie wurde außerdem in den letzten Jahren mehrfach mit zum Teil kontroversen Ergebnissen untersucht.8 Diese Ergebnisse sollen vorgestellt, auf die Fächer der Theologie bezogen und multiperspektivisch ergänzt und miteinander ins Gespräch gebracht werden. Dabei sollen Anknüpfungspunkte, Themen, Konfliktlinien und blinde Flecken einer postkolonialen Theologie im deutschsprachigen Kontext entfaltet werden.9 Seit Deutschland im Jahr 2015 sein vielbeachtetes „Rendezvous mit der Globalisierung“ (Wolfgang Schäuble) hatte, scheint den angesprochenen postkolonialen Themen mehr Beachtung zuzukommen. Gleichzeitig wird in dem bereits angesprochenen Buch von Varela und Dhawan die Warnung Spivaks vor einer Reduktion des postkolonialen Ansatzes auf den entpolitisierten Diskurs von der ‚Migrantin als Subalterne’ wiederholt. Oder in den Worten Slavoj Žižeks: „Einen armen Bauern […] mit denselben Begriffen zu belegen wie den Angehörigen der ‚symbolischen Klasse’ (Akademiker, Journalist, Künstler, Kunstmanager), der ständig zwischen Kulturhauptstädten hin- und herreist, läuft auf dieselbe Obszönität hinaus wie die Gleichsetzung von Hungersnot und Schlankheitsdiät.“10
Mit dieser Warnung Žižeks wird deutlich, dass postkoloniale Theorien, wie andere kritische Theorien auch, stets vor der Gefahr stehen, ihre machtkritische Funktion einzubüßen und zu einem Modephänomen im Rahmen der wissenschaftlichen Produktion zu werden. Gerade hier soll unser Band auch klären, wo die Grenzen postkolonialer Theologien liegen und welche Fragestellungen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.11 Postkoloniale Theologien sind wahrscheinlich noch mehr als andere Theologien damit nur im interdisziplinären Rahmen denkbar. Wie anschlussfähig diese Theorien im Bereich der Kultur- und Geisteswissenschaften sind, kann exemplarisch an wenigen Beispielen aufgezeigt werden. Das Themenbündel 7 8
Vergleiche dazu auch den Beitrag von Marion Grau in diesem Band. Siehe dafür etwa Todd Kontje, German Orientalisms, Michigan 2004; Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. 9 Dies schließt natürlich auch die Frage nach benachbarten Theologien und unhintergehbaren Voraussetzungen einer postkolonialen Theologie im deutschsprachigen Kontext mit ein. Vergleiche dazu den Beitrag von Sabine Jarosch im vorliegenden Band. 10 Slavoj Žižek, „Blut ohne Boden – Boden ohne Blut“, Konzept Filmreihe des Kölnischen Kunstverein, http://koelnischerkunstverein.de/wp/blut-ohne-boden-bodenohne-blut/ [04.08.2017]. 11 Vergleiche dazu auch den Beitrag von Klaus Hock im vorliegenden Band.
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der Migration und der Grenzen, das als eines der großen Themenfelder bereits benannt worden ist, verlangt nach neuen ethischen Antworten.12 Der Philosoph Julian Nida-Rümelin konstatiert dabei zum einen eine „Orientierungskrise“13, zum anderen auch die Auflösung klassischer linker und rechter politischer Entwürfe, die zu größerer gedanklicher Klarheit nötige.14 Je nach Fachrichtung der Theologie werden andere Wissenschaften als wichtige Gesprächspartner und Referenzgrößen dienen. Der vorliegende Band ist anhand der klassischen Fächer der Theologie aufgebaut und versammelt jeweils Darstellungen der Debattenlage und Neuaufbrüche, die durch die postkoloniale Theologie hervorgerufen werden.
1.
Systematische Verortungen
Postkoloniale Theologien sind nicht nur in die Vergangenheit gerichtet und damit beschäftigt, eine kritische Betrachtung des (historischen) Kolonialismus vorzunehmen, sondern dienen vor allem der Auseinandersetzung über die politischen, ökonomischen und kulturellen Verflechtungen, Abhängigkeiten und Machtstrukturen, die durch den Kolonialismus entstanden sind und bis heute wirken. Ihnen geht es also auf der einen Seite darum, Ursachen der Machtund Ohnmachtsverhältnisse in einem globalen Maßstab nachzuspüren. Auf der anderen Seite beschäftigen sich postkoloniale Theologien mit den Fragen, wie unser Reden von Gott, unsere Art und Weise Kirche zu denken oder unsere Vorstellung der letzten Dinge unbewusst durch die Machtverhältnisse des Kolonialismus korrumpiert sind und wie diese zu dekolonisieren seien. Doch gehen wir noch einen Schritt weiter: Postkoloniale Theorien haben sich als ein mächtiges Werkzeug erwiesen, um wissenschaftlich zu analysieren, wer überhaupt sprechen darf und dabei auch noch gehört wird. Wenn wir also immer wieder von uns und unserer Theologie sprechen, so hilft postkoloniale Theorie dabei, zu klären, wer damit überhaupt gemeint ist und wer von Anfang an aus dem Diskurs ausgeschlossen ist.15 Dies ist nicht nur eine akademische Frage, sondern mit Blick auf die jüngere Kirchengeschichte kann gezeigt werden, wie sich dieses Motiv immer
12 Vergleiche dazu auch den Beitrag von Andreas Nehring im vorliegenden Band. 13 Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Hamburg 2017, 9. 14 Ebd., 13. 15 Vergleiche zu den Fragen von Partizipation und Teilhabe auch den Beitrag von Michael Nausner im vorliegenden Band.
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wieder wiederholt: Aus der Anfrage der Frauen16, die sich mit ihren Erfahrungen und Lebenssituationen nicht repräsentiert sahen, ist eine feministische Theologie entstanden; Befreiungsbewegungen in Südamerika und später in der gesamten Zwei-Drittel-Welt haben nicht nur die politische Vertretung der Armen eingeklagt, sondern auch in Form der Befreiungstheologie die symbolische Repräsentation nach sich gezogen; die schwarze Theologie hat den immanenten Rassismus aufgedeckt, der die Theologie, wie alle anderen universitären Fächer durchzog und teilweise heute noch durchzieht, und damit die Bürgerrechtsbewegung und ihr Eintreten für gleiche Rechte auch metaphorisch auf das Bürgerrecht im Himmel angewandt; die sogenannte neuere politische Theologie schließlich hat in den 1960er Jahren erfolgreich die Frage aufs Tableau gebracht, welchen Standpunkt denn eine Theologie jeweils einnimmt und welche gesellschaftliche Rolle sie zu spielen vermag. Postkoloniale Theologien knüpfen entschieden an diese Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen an. Sie können in dieser Sichtweise als ein Echo auf die Welle der Dekolonisierung der Welt im ausgegangenen 20. Jahrhundert und als ein Anklageschrei gegen alle Formen der Neokolonialisierung verstanden werden. Postkoloniale Theologien zeigen auf, wo sich religiöse Akteur*innen zu Mittäter*innen des Kolonialismus gemacht haben oder wie religiöse Begründungsstrukturen für eine eurozentrische Sichtweise angeführt wurden. Im Hinblick auf das Selbstverständnis der Systematischen Theologie im deutschsprachigen Raum werden die Voraussetzungen dieser Art Theologie zu treiben kritisch hinterfragt: Wer sind die Akteur*innen der wissenschaftlichen Theologie, welche Erinnerungen werden starkgemacht und wo wird Wissen verschüttet, nicht genutzt oder sogar ent-innert.17 Dabei werden die Schattenseiten der westlichen Kultur, die Ambivalenzen der Aufklärung und die oftmals gewaltsamen Prozesse der Repräsentation fremder Kulturen benannt und es wird gefragt, welche Folgerungen sich daraus für ein entkolonialisiertes Theologisieren ergeben. Während die postkoloniale Theologie in englischsprachigen Ländern bereits das gesamte angerissene Spektrum an Themen ausfüllt, so fristet sie in den Überlegungen deutschsprachiger systematischer Theologen und Theologinnen noch eine Randexistenz.18 Doch wie lässt sich koloniales Denken überwinden? Eine erste einfache Antwort darauf ist: die Vielfalt auszuhalten und Perspektivwechsel einzufordern und einzuüben; immer wieder auch Brüche mit der eigenen Tradition zu vollziehen und die eigenen Denkvoraussetzungen und impliziten Wertigkeiten zu überprüfen. Eigenschaften also, die Qualitätskriterium jeder Theologie sein 16 Hier ist nicht der Ort, um umfänglich in die Tiefe zu gehen und uns ist durchaus bewusst, dass wir mit diesen Zuschreibungen auch wieder Universalisierungen vornehmen, die kritisch zu hinterfragen sind. 17 Vergleiche hierzu die Entfaltung im Beitrag von Judith Gruber im vorliegenden Band. 18 Vergleiche dazu die Darstellung bei Michael Nausner, Die langen Schatten der Nofretete. Postkoloniale Theorie und Theologie in Deutschland, in: Concilium 49 (2,2013), 200–209; sowie den Beitrag von Florian Tatschner in diesem Band.
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sollten. Darüber hinaus ist es nötig, aufmerksam zu werden für Prozesse von Identitätsfestschreibungen und Essentialisierungen: Wo werden Grenzen zwischen ‚Uns‘ und ‚den Anderen‘ gezogen und welche Machtfragen gehen damit einher?19 Dieses Fragenbündel muss dabei konsequent auch auf die letzten Dinge der christlichen Imagination angewandt werden, soll die Theologie dekolonisiert werden.20 Exemplarisch seien zwei neuere Bücher genannt, an denen die hier angerissenen Problemstellungen deutlich werden: Renate Wind spricht von Christsein im Imperium (2016) und entfaltet dabei den Widerstand gegen die römische Herrschaftsideologie als Merkmal der frühen Christinnen und Christen – und sie spannt den Bogen der Kirchengeschichte in Variation dieses Motivs bis zu heutigen Debatten um Integration und Leitkultur.21 Die Auseinandersetzung mit den Folgen imperialen Denkens samt den verschlungenen Wegen der Anpassung und des Widerstands werden in ihrem Buch nur ansatzweise diskutiert und doch scheint hier eine Vision der Fragestellungen und des Problemhorizonts auf, mit dem sich postkoloniale Theologien in systematischer Perspektive im deutschsprachigen Raum beschäftigen können. Mit der biblischen Metapher Neben uns die Sintflut (2016) beschreibt der Soziologe Stephan Lessenich die Landkarte der globalen Arbeitsteilung.22 Dass der Wohlstand eines großen Prozentsatzes der Menschen im Westen nicht nur auf Kosten zukünftiger Generationen, sondern auch der bereits jetzt lebenden Mehrzahl der Menschheit erwirtschaftet wird, ist ein häufig beschriebenes Faktum. Was Lessenich nun in seinem Buch leistet, ist jedoch die Logik und Mechanismen der Externalisierungsgesellschaft aufzuzeigen. Dem Wissenschaftsverständnis seiner Zunft folgend, übt er sich vor allem im Beschreiben. Postkoloniale Theologien können jedoch auch darüber hinaus gehen und ethische und politische Implikationen ableiten. Zumindest wünschen wir uns, dass diese weltweite Perspektive auch innerhalb der Systematischen Theologie in Deutschland vermehrt eingenommen wird. Die Aufsätze in unserem Band nehmen dazu erste wichtige Verortungen vor.
19 Die Pädagogin Astrid Messerschmitt bezeichnet diesen Vorgang als „Befremdung“. Siehe Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 2009. Ein schönes Beispiel für eine Intervention gegen solche Festschreibungen bietet der Band Hilal Sezgin (Hg.), Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 22011. 20 Siehe dazu den Beitrag von Florian Tatschner im vorliegenden Band. 21 Vergleiche Renate Wind, Christsein im Imperium. Jesusnachfolge als Vision einer anderen Welt, Gütersloh 2016. 22 Vergleiche Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, München 2016.
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Interkulturelle und Religionstheologische Perspektiven
Seit mehr als 40 Jahren ist in der Theologie eine unter dem Stichwort Kontextualität in Gang gekommene theoretische und praktische Anstrengung zu beobachten, die das theologische Nachdenken über die Rolle des Christentums bei der Expansion des kulturellen Selbstverständnisses Europas in andere nichteuropäische Kulturräume antreibt. Dass diese Anstrengung zuerst von Theologinnen und Theologien aus Afrika, Asien und Lateinamerika ausgegangen ist, die sich in der Ökumenischen Vereinigung von Dritte Welt Theologen (EATWOT) zusammengetan haben23 und anfänglich in Deutschland nur wenige Theolog*innen die in dieser Gruppe diskutierten Ansätze wahrgenommen haben, hängt wohl auch damit zusammen, dass zum einen in den dominanten Richtungen der protestantischen Theologie in Deutschland, das Verhältnis von Theologie und Kontext/Kultur durch den Einfluss der Dialektischen Theologie als ausgesprochen ambivalent bis problematisch angesehen worden ist und zum anderen daran, dass wenn dieses Verhältnis in die theologische Reflexion einging, diese sich vor allem auf die Kontexte europäischer Kultur- und Ideengeschichte bezogen hat. Die Zuordnung von Christentum und Kultur stellt allerdings auch deshalb im deutschen Kontext ein dringliches Problem für die theologische Reflexion dar, weil es ja nicht nur in der Geschichte immer wieder zu Kontakten zwischen Christentum und nicht vom Christentum geprägten Kulturen gekommen ist, sondern weil das Christentum seinen Geltungsanspruch von Anfang an universal erhoben hat. Universalität kann und darf heute aber nicht mehr unbesehen den Export der europäischen Kultur als Kontext und hermeneutische Rahmenbedingung voraussetzen. Daher ist die Frage nach Kontextualisierung und Inkulturation des Evangeliums und wie in diesem Zusammenhang von Kommunikation des Evangeliums gesprochen werden kann, von interkultureller und globaler Bedeutung. Auch aus deutscher Perspektive können Globalisierung – und Interkulturalität – nicht mehr im Rahmen einer Ausbreitungsgeschichte als ein mehr oder weniger kontinuierlicher Prozess beschrieben werden, auch wenn in der ökumenischen Zusammenarbeit Begriffe wie Entwicklung oder Entwicklungsländer ja ein Ziel zu suggerieren scheinen, auf das sich diese Länder hinbewegen und an dem wir bereits sind.24 Globalisierung und Interkulturalität drängen sich heute als Selbstbeschreibung (eines großen Teils) der Weltgesellschaft auf. Es ist, wie wenn im Selbstverständnis vieler gesellschaftlicher Gruppen weltweit und auch in der
23 Vgl. Nehring/Tielesch, Postkoloniale Theologien, 44. 24 Vergleiche zum Diskurs um Entwicklung den Beitrag von Claudia Jahnel im vorliegenden Band.
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Ökumene der Kirchen ein Epochenbruch empfunden wird, der nicht aktiv angestrebt sondern allenfalls passiv erlitten wird, ein Epochenbruch der sich nicht mehr um Sprach- oder Kulturgrenzen kümmert, der aber alle zum Handeln zwingt. Mit der Globalisierungsherausforderung wird eine Dynamik thematisiert, die in fundamentaler Weise als in Lebensprozesse eingreifend empfunden wird. Das zeigt sich auch in gegenwärtigen Artikulationen des christlichen Selbstverständnisses weltweit.25 Dazu kommen zahlenmäßige Verschiebungen in der Christenheit, die sich seit einigen Jahrzehnten vollziehen, die auch theologisch nicht ohne Widerhall bleiben können. Der europäische und nordamerikanische Anspruch, dass nur in diesen (ehemaligen) Zentren der Christenheit wahre Theologie betrieben werden könne, gerät zunehmend ins Wanken und eine immer lauter werdende Kritik an diesem universalen Anspruch artikuliert sich in Stimmen von Christen und Christinnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika, auf die die Theologie in Deutschland hören muss, wenn ökumenische Konvivenz in einer globalen Welt, nicht nur als politisch korrektes Feigenblatt vorgehalten, sondern wirklich erst genommen werden soll. Die Erfahrung einer rasanten Ausdifferenzierung von Christentümern, die Ausbildung von spezifisch kontextuellen Theologien in weiten Teilen des südlichen Christentums sowie eine kontinuierliche Pluralisierung von methodischen Zugriffen auf theologische Themen werfen jedoch auch neue Fragen und Probleme auf: Ist etwa ökumenische Einheit als Symbol des Reiches Gottes und eschatologische Hoffnung nicht inzwischen in eine, theologisch zwar legitimierte, jedoch in konkreten Vollzügen gar nicht mehr erstrebenswerte Vision aufgelöst, bzw. zu einer ideologischen Forderung einiger Weniger in ökumenischen Zirkeln Engagierter verkommen? Robert Schreiter hat das Problem, um das es geht und um das die Kritik postkolonialer Theologen am Universalitätsanspruch westlicher Theologie kreist in einer scharfen Analyse des Begriffes interkulturelle Theologie auf den Punkt gebracht, ein Begriff der heute weitgehend den alten Ausdruck Missionswissenschaft ersetzt hat und in Deutschland inzwischen flächendeckend das Fach bestimmt. Interkulturelle Theologie sei ein Ausdruck für eine grundsächliche Schwierigkeit, das Allgemeine und das Besondere im theologischen Diskurs in den Blick zu bekommen. Und nicht nur das: der Diskurs der Interkulturellen Theologie, so Schreiter, hängt in entscheidendem Maße von einer universalisierenden Perspektive ab, die den Imperialismus erst ermöglicht habe, er unterliege damit der Gefahr, eurozentrische Strukturen zu perpetuieren und partikulare Artikulationen allenfalls als Aufbrüche innerhalb eines universalen Paradigmas zu deuten.26 Die Beiträge in diesem Band bewegen
25 Vergleiche für die Auswirkungen der Globalisierung auf Bildungsprozesse in postkolonialer Perspektive den Beitrag von Henrik Simojoki im vorliegenden Band. 26 Robert Schreiter, Verbreitung der Wahrheit oder interkulturelle Theologie, in: Zmiss 36 (1,2010), 13–31, hier: 22.
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sich zwischen den partikularen Ansätzen von Theologie in konkreten Kontexten, historisch wie gegenwartsbezogen, und normativen Ansprüchen, die vermutlich einer universalisierenden Perspektive niemals ganz entkommen können.
3.
Exegetische Ansätze
Wenn innerhalb der Theologie von Normativität die Rede ist, so bezieht sich dies meist auch auf den Umgang mit der Bibel. Während viele Jahrhunderte lang die Heilige Schrift als letzte Begründungsinstanz jeglichen theologischen Ringens um die Wahrheit fungierte, hat sich dieses Bild seit der Moderne verkompliziert. Die Geschichte der Exegese ist auch die Geschichte eines Kampfes um die richtigen Methoden.27 Postkoloniale Kritiker und Kritikerinnen haben immer wieder auf eine zweifelhafte weltweite Arbeitsteilung im Hinblick auf den Umgang mit der Bibel hingewiesen. So kritisiert Lazare S. Rukundwa, dass die Bibel den Text bereit stelle und der Westen die Hermeneutik und die Methoden – und für den Rest der Welt bleibe nur das Lesen.28 Demgegenüber kam schon früh die Forderung auf, die Biblischen Studien zu dekolonisieren.29 Dies beinhaltet Fragen nach der Wirkungsgeschichte der Bibel. Zum Beispiel kann aufgedeckt werden, wo biblischen Texten Gewalt angetan wurde, um damit Gewalttaten zu rechtfertigen, wie etwa die Landnahme indigenen Territoriums in weiten Teilen der Welt.30 Ein weiteres Anliegen postkolonialer Exegetinnen und Exegeten ist es, nicht nur zu untersuchen, welche Auswirkungen die Lektüre der Bibel für marginalisierte Gruppen hatte, sondern die Stimmen von den Rändern deutlich zu Gehör zu bringen. Dies beinhaltet Anfragen an die hegemoniale Stellung der historisch-kritischen Methode zur Erforschung der biblischen Texte. Neben diese klassische wissenschaftliche Methode trat eine Vielzahl neuer Zugänge, die sich der unterschiedlichsten Disziplinen und Techniken bedienten, um die
27 Vergleiche für die andauernden Diskussionen um die richtige Methode innerhalb der Exegese nur den Bogen kritischer Einwürfe und Diskussionen von Gerhard Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: Ders., Wort und Glaube, Tübingen 1960, 1–49 bis hin zu Joel M. LeMon / Kent Harold Richards (Hg.), Method Matters. Essays on the Interpretation of the Hebrew Bible in Honor of David L. Petersen, Boston 2010. 28 Siehe Lazare S. Rukundwa, Postcolonial Theory as a hermeneutical tool for Biblical reading, in: HTS 64 (1,2008), 339–351, hier: 344. 29 So das Schlagwort bei Fernando F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies. A View from the Margins, New York 2000 30 Vergleiche dazu die Studie von Mark G. Brett, Decolonizing God. The Bible in the Tides of Empire, Sheffield 2008.
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Stimme der Anderen innerhalb der biblischen Texte, aber auch die eigenständige Interpretation der Bibel verschiedenster Auslegegemeinschaften ins Gespräch zu bringen. Der Zugriff auf postkoloniale Theorien hat sich dabei als Möglichkeit erwiesen, notwendige Differenzierungen vorzunehmen.31 Dies betrifft die Betrachtungsweise der Imperien zu Zeiten der Textentstehung und zwar sowohl der Hebräischen Bibel als auch des Neuen Testaments. Während viele befreiungstheologische Lektüren hier mit starken Schablonen gearbeitet haben, gelingt es postkolonialer Exegese, Schattierungen, Hybriditäten und verborgene Formen des Widerstands auszuleuchten. Auch im Hinblick auf heutige imperiale Machtkonstellationen bieten postkoloniale Theologien eine Möglichkeit der Selbstreflexion des eigenen Zugangs zur Bibel und dessen historischer und gesellschaftlicher Bedingtheit. Auf der Spur der eigenen Wissenschaftsgeschichte können die Disziplinen des Neuen und Alten Testaments dabei von anderen Fächern und deren postkolonialer Klärung profitieren. Als ein Beispiel sei hier die Assyriologie angeführt. Zumindest im englisch- und französischsprachigen Raum hat sich seit einiger Zeit eine Diskussion an der Frage entzündet, welche Rolle der Imperialismus bei der Herausbildung des Fachs im 19. Jahrhundert gespielt hat.32 Diese Anfrage, die in der Orientalistik und den Altertumswissenschaften breit aufgenommen wird, scheint für die theologische Disziplinen noch gar nicht richtig durchdacht zu sein. Dabei gibt es zahlreiche Überschneidungen gerade zwischen Orientalistik und den Altertumswissenschaften auf der einen Seite und den exegetischen Fächern auf der anderen Seite. Hier ergibt sich für eine historisch interessierte postkoloniale Exegese ein großes Forschungsfeld.33 In seinem Klassiker der postkolonialen Theorie Orientalism (1978) hat Edward Said bereits darauf hingewiesen, dass die vergleichenden Wissenschaften der Philologie, Religionswissenschaft, Anatomie und Jurisprudenz zum „methodischen Stolz des 19. Jahrhunderts“ werden sollten und gleichzeitig die Grundlage des entstehenden Orientalismus bildeten.34 Nicht umsonst spricht Ernest Renan von der Philologie als der „exakten[n] Wissenschaft der Geistesgegenstände“ und vergleicht ihre Bedeutung mit derjenigen naturwissenschaftlicher Grundwissenschaften.35 Für Edward Said bildet die Philologie,
31 Siehe hierzu das Plädoyer von Jeremy Punt, The New Testament and Empire. On the Importance of Theory, in: Studia Historia Ecclesiastica. Journal of the Church History Society of Southern Africa 37 (2011), 91–114. 32 Vergleiche dazu die Diskussion um Frederick N. Bohrer, Inventing Assyria. Exoticism and Reception in Nineteenth-Century England and France, in: The Art Bulletin 80(2, 1998), 336–356. 33 Vergleiche dazu auch den Beitrag von Simon Wiesgickl im vorliegenden Band. 34 Siehe Edward Said, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günther Holl, Frankfurt a. M. 42014, 142. 35 Siehe Ernest Renan, L’Avenir de la science. Pensée de 1848, Paris 41890, 141ff. Vergleiche Edward Said, Orientalismus, 158.
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die für weite Teile der deutschsprachigen Exegese als Leitwissenschaft fungiert, einen gewichtigen Teil jener tradierten und erneuerten Strukturen innerhalb der Orientalistik, die eine „Disziplin der systematischen Akkumulation [kursiv im Original; SW]“ entwickelte an deren Ende „eine tote oder verlorene orientalische Sprache zu rekonstruieren, letzten Endes nicht nur Teile des Orients selbst zu bergen, sondern auch mit Hilfe der wissenschaftlichen Planung den Boden für Armeen, Verwaltungen und Bürokratien zu ebnen“36
bedeutete. An dieser Einschätzung Saids lassen sich sowohl die Chancen als auch die Grenzen postkolonialer Exegese gut illustrieren: Auf der einen Seite besteht eine Gefahr postkolonialer Kritik darin, die Rolle kleinerer Fächer wie der Orientalistik oder heutzutage der biblischen Exegese stark zu überschätzen und mit einer pauschalen Kritik übers Ziel hinaus zu schießen.37 Auf der anderen Seite kann mit Hilfe postkolonialer Theorien eine kritische Re-Lektüre vergangener und gegenwärtiger einflussreicher exegetischer Entwürfe vorgenommen werden. Wie postkoloniale Exegesen durch den Blick auf neue Themen und in der Form einer Ideologiekritik der exegetischen Fächer selbst, neues Wissen generieren, wird in den Beiträgen in diesem Band entfaltet.
4.
Kirchengeschichtliche Zugangsweisen
Dass Theologie ein Phänomen der Zeit ist, macht uns das Fach Kirchengeschichte in immer neuen Überblicksdarstellungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte bewusst. 2000 Jahre Christentumsgeschichte mit all ihren dogmatischen Entwicklungen, Verwerfungen, Beschlüssen, Reformen und Reformationen sind zentraler Teil theologischer Ausbildung und theologischen Bewusstseins. Während diese zeitliche Dimension von Theologie, wenn man einen Blick auf den Kanon in Deutschland wirft, für die theologische Identität ein wesentliches Moment zu sein scheint,38 so ist doch die zeitliche Struktur der Ausbreitung des Christlichen bisher keineswegs topologisch eingeholt. Auch neuere Darstellungen der Kirchengeschichte beschränken sich auf Europa und den nordamerikanischen Raum.39 Dies ist umso erstaunlicher, als das Wissen, dass heute die Mehrzahl der Christen außerhalb von Europa lebt, doch 36 Edward Said, Orientalismus, 148. 37 Vergleiche dazu auch den Beitrag von Lukas Bormann im vorliegenden Band. 38 Siehe beispielhaft Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2016. 39 Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Dogmen- und Kirchengeschichte, Bd. 2 Reformation und Neuzeit, Gütersloh 1999; vgl. allerdings Heinz Schilling, 1517. Weltgeschichte eines Jahres, München 2017.
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zumindest unterbewusst präsent ist. Klaus Koschorke hat bereits 2002 konstatiert, dass außereuropäische Kirchengeschichte allenfalls als bloßer Appendix der westlichen Kirchen- und Missionsgeschichte behandelt worden ist, und dass, wenn überhaupt im Fokus, diese Perspektive in erster Linie eurozentrisch geprägt gewesen sei, indem die westlichen Missionare als alleinige Akteure im Vordergrund standen.40 Dass sich Glauben außer im individuellen Vollzug auch in Diskursen abspielt, die geprägt sind durch soziale Gewohnheiten, institutionelle Regelungen, und Erziehung, durch die sich bestimmte Muster zu denken und zu handeln ausgeprägt haben, war zwar immer bewusst und ist ja letztlich auch der Grund dafür, dass Theologie als Verstehen des Glaubens in Bezug auf das kulturell Bedingte sich überhaupt ausprägen konnte. Doch das Christentum ist von seiner bisherigen Geschichte her einerseits stark mit den Kulturen Europas verbunden, andererseits hat es sich in großen Teilen analog zur europäischen Expansion, sozusagen in einem kolonialen Globalisierungsprozess in alle Welt ausgebreitet.41 Die Geschichte der Menschheit zu erzählen ist ohnehin schon schwierig genug,42 und die europäische Version dieser Geschichte hat über viele Jahrhunderte nicht nur dominiert, sondern auch dazu beigetragen, Europa als das Subjekt dieser Geschichte zu etablieren.43 Auch Kirchengeschichte scheint sich zum Teil immer noch in Mustern zu bewegen, die denen von Schillers Konzeption einer Universalgeschichte ähneln, einer Geschichte von „Völkerschaften [und Kirchen A.N.], die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“44 40 Klaus Koschorke, Einführung, in: Ders. (Hg.), Transkontinentale Beziehungen in der Geschichte des außereuropäischen Christentums, Wiesbaden 2002, 11. 41 Vergleiche den Überblick über die unterschiedlichen Perspektiven auf die Kirchengeschichte im Beitrag Ciprian Burlacioius im vorliegenden Band. 42 Siehe Jürgen Osterhammel (Hg.) Weltgeschichte, Stuttgart 2008; Sebastian Conrad / Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Dies. und Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a.M. / New York 2007, 7–49; Filipe Fernandez-Armesto, The World, Amsterdam 2010. 43 Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. / New York, 2002, 283–312; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Christopher A. Bayly, Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt a.M. / New York 2006; Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt. Eine Geschichte vom Wettstreit der Kulturen, Berlin 2011. 44 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Ders., Schillers Werk Bd. VII, Historische Schriften Teil 1, hg. von Reinhard Buchwald und KF. Reining, Hamburg, 1955, 11f.
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Daher ist es für die Kirchengeschichte nach wie vor schwer, trotz des Aufkommens lokaler Geschichten oder Geschichten von unten, beispielsweise durch die Historiker der Subaltern Studies in Indien und Lateinamerika, eine andere Geschichte des Christentums zu erzählen. Zudem lässt sich beobachten, dass es erstaunlich lange dauert, bis Stereotype über bestimmte Teile der Welt, aber auch Akteure der Kirchengeschichte überwunden werden können.45 Die protestantischen Missionsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus interdisziplinärer Forschung gerückt worden. Als frühe Akteure der Globalisierung und als treibenden Kräfte in der institutionellen Ausbreitung und Implementierung europäischer Modernisierungsprozesse in außereuropäische Kontexte durch Aussendung von Personal, durch Verbreitung von Literatur und Kommunikationsmedien, sowie durch die Begründung von Institutionen wie Schulen, Krankenhäusern und Kirchen ist die Missionsbewegung des 18. Jahrhunderts nicht mehr nur für Kirchenhistoriker und Missionswissenschaftlerinnen von Interesse, sondern inzwischen auch für eine breites Spektrum von Forscher*innen der Ethnologie, der Rechtsgeschichte, der Religionswissenschaft, der Medizin- und Naturgeschichte, der Wirtschafts- und Politikgeschichte und anderen Bereichen kulturwissenschaftlicher Forschung.46 Es war der Ursprung dieser Bewegung in pietistischen Kreisen, der lange Zeit für ein Desinteresse an der Entwicklung eines außereuropäischen Christentums gesorgt hatte. Die Beiträge in diesem Band zeigen allerdings, welche Verschiebungen sich in den letzten Jahren vollzogen haben und wie von Kirchenhistoriker*innen im deutschsprachigen Raum neue Perspektiven und methodische Zugangsweisen ausgelotet werden.
5.
Praktisch-Theologische Anknüpfungspunkte
Die Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit und deren Überbleibseln in Sprache, Kultur und Gesellschaft ist im deutschsprachigen Raum noch nicht besonders weit gediehen. Zwar gibt es einzelne Projekte, kritische Interventionen in Stadtbildern und Erinnerungskulturen, doch sind die postkolonialen Orte des kollektiven Gedächtnisses noch an einer Hand abzuzählen.47 Dieser auf den ersten Blick äußerst ernüchternde Befund, der sich 45 Vergleiche dazu etwa den Beitrag über die Orthodoxie und den Balkanismus-Diskurs von Irena Zeltner Pavlović im vorliegenden Band. 46 Vgl. Andreas Nehring / Heike Liebau / Brigitte Klosterberg (Hg.), Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle/Wiesbaden 2010. 47 Dagegen sei beispielhaft auf die Forschungen von Jürgen Zimmer verwiesen, der solche Orte sichtbar machen möchte. Jürgen Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: Ders. (Hg.), Kein
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so auch zum Beispiel im Hinblick auf die Religionspädagogik und postkoloniale Ansätze feststellen lässt.48 kann jedoch bei einem zweiten Blick auf mögliche Anknüpfungspunkte diversifiziert werden. Aus der Fülle möglicher Beispiele, die die Pluralisierung der deutschsprachigen (kirchlichen und theologischen) Landschaft illustrieren, möchten wir nur eines besonders herausheben: Im Frühjahr 2016 gab es in der oberbayerischen Kirchengemeinde St. Martin großen Wirbel um den aus dem Kongo stammenden katholischen Pfarrer. Olivier Ndjimbi-Tshiende, der seit 2012 in Zorneding als Geistlicher wirkte, trat wegen offenen rassistisch begründeten Morddrohungen zurück und bat um seine Versetzung in eine andere Kirchengemeinde. Vorausgegangen war der ganzen Aufregung bereits eine Kontroverse um den Umgang der Ortsgemeinde und Kirchengemeinde mit neu angesiedelten Flüchtlingen, inklusive des Rücktritts zweier lokaler CSU-Vorsitzenden.49 Der Fall machte deutschlandweit Schlagzeilen und zeigt, dass die Realität in den Gemeinden bunter ist, als das häufig angenommen wird, dass dies aber auch zu zahlreichen Konflikten, sowie verstecktem oder sogar offenem Rassismus führt. Eine postkoloniale Perspektive kann helfen, die Machtdynamiken dieser inter- und transkulturellen Begegnungen auszuloten und kritisch zu analysieren. Dabei hilft wiederum ein Blickwechsel: Wie erscheinen die deutsche kirchliche Szene, ihre Gemeinden, Sprachformen und Selbstverständlichkeiten etwa aus der Perspektive eines afrikanischen Missionars?50 Die zahlreichen Migrationsgemeinden, die es inzwischen in Deutschland gibt, prägen ganze Subkulturen und ihren Blick auf die deutsche Realität. Doch inwiefern tauchen sie auch in der akademischen Reflexion aktueller Spiritualität auf? Hier entsteht ein ganzes Bündel spannender Forschungsfragen rund um den Umgang mit dem ‚Fremden’ in Liturgie und Gottesdienstpraxis. Neben den Reiz des Exotischen, der die Attraktion solcher Gemeinden auch für Nicht-Migranten plausibel machen kann, tritt die Frage nach Machtverhältnissen im Umgang mit kulturell anderen Ausdrucksformen des Glaubens.51 Ein weiterer interessanter Anknüpfungspunkt ist der Religionsunterricht. So ist im städtischen Kontext vielfach zu beobachten, dass das Christentum in mehrerlei Hinsicht als fremde Religion im Religionsunterricht erscheint. Zum
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Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013, 9– 38. Vergleiche dazu den Beitrag von Stefan Scholz im vorliegenden Band. Siehe zum Beispiel http://www.sueddeutsche.de/news/panorama/kirche-pfarrer-hatzorneding-nach-morddrohungen-verlassen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101160308-99-133283;http://www.spiegel.de/politik/deutschland/pfarrer-aus-oberbayerischem-zorneding-tritt-zurueck-a-1080947.html [10.08.2017]. Vergleiche dazu auch das unterhaltsame und bedenkenswerte Buch Emmanuel Kileo, Grüß Gott aus Afrika! Deutsche Mentalität aus Sicht eines Tansanischen Missionars, Nürnberg 2012. Vergleiche dazu auch den Beitrag von Bertram Schirr im vorliegenden Band.
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einen steigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die nur noch über ein rudimentäres Verständnis der christlichen Geschichten und Glaubensinhalte verfügen. Zum anderen nimmt die Pluralität christlicher Ausdrucksformen ebenfalls zu. Diese Heterogenisierung der Zugangsvoraussetzungen und Gesprächslagen bietet eine Steilvorlage für postkoloniale theoretische Verständnisse von Identität, Hybridität und Ambivalenz. Gerade hier ist der Erkenntnisgewinn durch postkoloniale Theologien enorm und angesichts der beschriebenen Pluralisierungen erscheint es verwunderlich, dass nicht viel stärker bereits auf diese Theorien rekurriert wird. Den Weg postkolonialer Theologien an die Schulen und in die (Kirchen-)Gemeinden wollen die Aufsätze in diesem Band also ebenfalls ebnen. In den letzten Jahren lässt sich neben einem gestiegenen Interesse an Religion im öffentlichen Diskurs auch eine Intensivierung der Debatte über die Verhältnisbestimmung von Religion und Politik beobachten. Während viele Beiträge dazu sich noch im Gefolge der inzwischen zunehmend in Frage gestellten Säkularismus-These befinden, bieten gerade postkoloniale Ansätze die Möglichkeit diese spannende Fragestellung auf der Höhe der Zeit zu diskutieren.52 Gerade die Darstellung des (religiös) Anderen ist ein Feld, auf dem sich Schlüsselbegriffe der postkolonialen Ansätze bereits bewährt haben.53 Auch die sich daran anschließenden Themenkomplexe einer christlichen Beschäftigung mit dem Islam und die Machtstrukturen interreligiöser Begegnungen und einer Theologie der Religionen profitieren von postkolonialen Analysen.54
6.
Ausblick und Dank
Bei der Vielzahl der vorgestellten Anknüpfungspunkte soll jedoch nicht der Eindruck einer Beliebigkeit entstehen. Uns ist sehr wohl bewusst, dass postkoloniale Theologien nicht die Antwort auf alle theologischen Schwierigkeiten bereithalten. In jedem der beschriebenen Felder muss sich ihre Argumentationskraft aufs Neue unter Beweis stellen. Wir wünschen dem Band also eine streitbare und produktive Aufnahme und freuen uns auf die Debatten, die wir damit auslösen wollen. Wir danken allen, die hier beitragen und denen, die mit uns bereits in eine kritische Diskussion eingetreten sind. Wir danken auch denjenigen Theologinnen und Theologen, die sich in diesem Bereich der Theologie engagieren, deren Beiträge aber hier nicht aufgenommen werden konnten. Es ist ein Feld der Theologie, das noch in den Anfängen steckt und weitere
52 Vergleiche dazu auch den Beitrag von Ulrike Auga in diesem Band. 53 Siehe dazu etwa Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 54 Vergleiche dazu den Beitrag von Sigrid Rettenbacher im vorliegenden Band.
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Publikationen erhoffen lässt. Schließlich gilt unser Dank denjenigen, die geholfen haben, die diesem Band zugrundeliegende Tagung zu organisieren und zu finanzieren, sowie denjenigen die die Herausgabe des Bandes finanziell unterstützt haben, der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW), der Zantner-Busch Stiftung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der German Schweiger Stiftung. Wir danken außerdem den Lektorinnen und Lektoren des Kohlhammer Verlages, mit denen wir wie immer vertrauensvoll zusammengearbeitet haben.
Wider die Entinnerung. Zur postkolonialen Kritik hegemonialer Wissenspolitiken in der Theologie Judith Gruber
1.
Zum Einstieg: Anekdotische Beobachtungen zu Macht/Wissensproduktion in der deutschsprachigen Theologie
Ich möchte meinen Beitrag mit drei Notizen beginnen, die auf den ersten Blick als Marginalia auf dem Feld der deutschsprachigen Theologie erscheinen mögen. Es handelt sich um autobiografische Erinnerungen, unveröffentlichte email-Korrespondenzen und Gesprächsrückblicke – meine Einstiegsbemerkungen nehmen damit nicht die Autorität in Anspruch, die publizierten Schriften für die Repräsentanz einer wissenschaftlichen Disziplin zugeschrieben werden, sondern bewegen sich an den unsichtbaren Rändern dieses Diskurses; und doch (oder vielleicht gerade deshalb) erlauben sie es uns, ein Schlaglicht auf die Politiken theologischer Wissensproduktion im deutschsprachigen Diskurs zu werfen: Als ich meine fundamentaltheologische Dissertation zum Themenfeld Interkulturelle Theologie abschloss, bekam ich mehrfach diese Empfehlung: „Dr. Gruber, wenn Sie tatsächlich weiter in der akademischen Theologie tätig sein möchten, sollten Sie für Ihr nächstes Projekt nicht wieder ein Randthema wählen, wie es die Interkulturelle Theologie ist, sondern sich nun wirklich einem Kernthema der Theologie zuwenden.“ Dieser Rat wurde oft begleitet mit dem Hinweis auf gescheiterte (oft weibliche) Karrieren, an denen sich die Treffsicherheit dieser Einschätzung ablesen ließe: ein feministischer Schwerpunkt, etwa, und die Privilegien einer sicheren Universitätsstelle schienen sich allzu oft wechselseitig auszuschließen. Meine Kollegin in Salzburg berichtete mir von einem verwandten Beispiel. In einem Artikel schrieb sie: „[Im] Christentum … finden sich theologische Voraussetzungen, die ein Engagement in der Bekämpfung von Armut sowie einen Einsatz für globale Gerechtigkeit rechtfertigen, ja sogar fordern. Gott ist ein parteiischer Gott – er wendet sich präferentiell den von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten und Ausgeschlossenen zu.“1
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Sigrid Rettenbacher, Beobachterinnenbericht zum Forum: „Sozialethische Perspek-
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Von den Peer-Reviewern wurde sie aufgefordert, explizit auszuweisen, dass sie hier aus einer befreiungstheologischen Perspektive argumentiere, die, so die Implikation, nicht notwendigerweise repräsentativ für christliche Soteriologie steht, und daher ausdrücklich benannt werden muss. Ein Kollege in der systematischen Theologie stellte eine Literaturliste mit bibelwissenschaftlichen Publikationen mit einem postkolonialen Fokus zusammen, hauptsächlich aus dem afrikanischen und US-amerikanischen Raum. Er übermittelte diese Liste als Vorschlag für Bibliotheksneuanschaffungen an den neutestamentlichen Lehrstuhl seiner Fakultät und erhielt eine abschlägige Antwort – mit der Begründung, dass diese Veröffentlichungen zu ‚provinziell‘ seien; sie bezögen sich zu sehr auf die politischen Verhältnisse ihrer Kontexte und entsprächen daher nicht dem Wissenschaftsideal deutschsprachiger Theologie mit ihrem hohen Anspruch an Neutralität und Objektivität.2 Diese anekdotischen Notizen erlauben uns einen Einblick in das vorherrschende Selbstverständnis deutschsprachiger Theologie: sie sind erste Indikatoren darauf, dass eine Tendenz zur Ausblendung von Machtverhältnissen in der theologischen Wissensproduktion ein machtvolles Moment im deutschsprachigen Diskurs darstellt. Dieses Moment wird zunächst greifbar in der diskursiven Marginalisierung von theologischen Ansätzen, die das Zusammenspiel von Macht und Wissen in der theologischen Tradition explizit reflektieren, wie es die feministische oder die postkoloniale Theologie tun. Sie gelten als ‚Randthemen‘ im etablierten theologischen Diskurs. Wenn nun aber die Annahme besteht, dass diese ‚politischen Theologien‘ marginal sind, dann können die zentralen ‚Kernthemen‘ der Theologie als unpolitisch verstanden werden, denn in Marginalisierungsprozessen geschieht etwas Entscheidendes: mit der Schaffung einer Peripherie wird gleichzeitig ein Zentrum kreiert, das sich grundlegend von den Rändern unterscheiden kann. Gleichzeitig wird in diesen Differenzierungsprozessen auch Deutungsmacht asymmetrisch verteilt: Die souveräne Deutungsmacht des Zentrums legt die Interessen der ‚anderen‘, aber nicht seine eigenen offen – und es verbirgt so seine eigene Provinzialität und Machtförmigkeit. Das Zentrum naturalisiert und essenzialisiert so seine Position. Das Zusammenspiel von Macht und Wissen in der Theologie wird vom Zentrum material als bloßes Randthema ausgeschlossen und formal als das konstitutive Moment von theologischer Wissensproduktion verborgen. Ist dieser Kanon theologischer Kernthemen jedoch einmal etabliert, informiert und steuert er die weiteren Politiken theologischer Wissensproduktion, wie sie etwa in Berufungsverfahren, den Auswahlprozessen renommierter Publikationsforen und den Bestückungen von Bibliotheken greifbar werden; Wissens-
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tiven auf ‚Entwicklung‘ und Armutsbekämpfung“, in: Christian Ströbele u.a. (Hg), Armut und Gerechtigkeit. Christliche und Islamische Perspektiven, 216–221, hier: 217. Vgl. dazu auch Andreas Nehring u. Simon Tielesch, Theologie und Postkolonialismus. Zur Einführung, in: dies. (Hg), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (= Bd. 11), 9–45, hier: 9.
Postkoloniale Kritik hegemonialer Wissenspolitik
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strukturen, Machtstrukturen und Infrastrukturen greifen ineinander und verstärken sich wechselseitig – das Zentrum regeneriert sich selbst; die etablierten Wissenspolitiken der deutschsprachigen Theologie sind darauf ausgerichtet, eben diese Politiken unsichtbar zu machen. Sie verfolgen damit Strategien, die Kien Nghi Ha als Praktiken des Entinnerns beschrieben hat: „Das Schweigen ist eine bewusste Amnesie, und die Amnesie ist eine politische Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses. Daher ist das konsensuale Schweigen eine dominante Machtartikulation, die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung imperialer Praktiken und Bilder durch Entinnerung aktiv widersetzt und nur durch Gegenerzählungen aufgebrochen werden kann.“3
Die Metapher des Entinnerns bringt die machtvolle Dynamik zwischen und Essenzialisierung in der Etablierung eines hegemonialen Diskurses auf den Punkt: Das Zentrum entinnert sich seiner Machtförmigkeit und Provinzialität – im aktiven Vergessen werden sie aus dem Zentrum ausgeschlossen und gleichzeitig den ‚Anderen‘ am Rand zugeschrieben.
2.
Postkoloniale Theorie als Reflexion von Macht/Wissen
Meine Schlaglichter auf die verborgen wirkenden Politiken deutschsprachiger theologischer Wissensproduktion führen uns damit pointiert die große Herausforderung vor Augen, vor der eine Theologie steht, die sich dem Risiko einer postkolonialen Perspektive stellt. Denn im Zentrum postkolonialer Theorien steht genau diese Reflexion des Zusammenspiels von Wissen und Macht, die in den etablierten Wissenspolitiken des deutschsprachigen Diskurses tendenziell verschwiegen wird. Sie befragen vergangene und gegenwärtige Wissenskonstellationen auf die machtvollen Bedingungen ihre Formation hin, und gehen dabei radikal vor: sie verfolgen die Diskursivität von Wissen bis in seine Wurzeln und entziehen ihm damit das metaphysische Sicherheitsnetz, mit dem modern-koloniale Epistemologien ihre Wahrheitsansprüche unterfüttern. Es ist zentrales postkoloniales Argument, dass die Verwobenheit von Wissen und Macht konstitutiv für die Formation von Wissen (und Macht) ist – es gibt kein extradiskursives ‚Jenseits‘ zu diesen Verstrickungen, das als neutraler Maß-
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Kien Nghi Ha, Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft, in: Maureen Maisha u.a Eggers (Hg), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 20092, 105–117, hier: 105. Ha beschreibt hier die Entinnerung deutscher Kolonialkultur im kollektiven deutschen Gedächnis. Vgl. dazu Joshua Kwesi Aikins, Die alltägliche Gegenwart der kolonialen Vergangenheit – Entinnerung, Erinnerung und Verantwortung in der Kolonialmetropole Berlin, 47–68.
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stab zur Evaluierung von Wissenskonstellationen dienen könnte. Die postkoloniale Aufdeckung der Machtförmigkeit von Wissen strebt damit nicht ein neues, ‚wahres‘ Metanarrativ an, das die modern-kolonialen Geschichte(n) ersetzen würde – sie ist, wie Gayatri Spivak es prägnant formulierte, „not the exposure of error. It is constantly and persistently looking into how truth is produced“4. Im Herzen postkolonialer Theorie steht damit ein epistemologischer Paradigmenwechsel – und in meinem Beitrag möchte ich der systematisch-theologischen Frage nachgehen, welche erkenntnistheologischen ‚shifts‘ die Theologie vollziehen muss, sollte sie sich tatsächlich dem Risiko einer postkolonialen Reperspektivierung aussetzen. Mit dieser erkenntnistheoretischen Fragestellung (und den Texten und AutorInnen, entlang derer ich mein Argument entwickeln werde), scheint mein Beitrag auf den ersten Blick nicht eine „Auseinandersetzung mit spezifisch deutschen Fragestellungen, Inhalten und Themenbereichen der postkolonialen Theorie“ zu bieten, wie es von den Herausgebern dieses Bandes gefordert wird. Diese Formulierung scheint eher zu einer Aufarbeitung der kolonialen Verstrickungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und eine Rekonstruktion theologischer Komplizenschaften aufzurufen und damit einen Finger in eine klaffende Wunde des deutschsprachigen akademischen Betriebs zu legen: eine Erinnerung an den deutschen Kolonialismus und seinen prägenden Einfluss auf den wissenschaftlichen Diskurs steckt derzeit noch in den Kinderschuhen und wird, nicht nur in der Theologie, erst sehr zögerlich in Angriff genommen.5 Diese Relektüren von Wissenschaft als Kolonialtechnik gehören unverzichtbar zum Kerninstrumentarium postkolonialer Kritik und stellen ein unerfülltes Desideratum deutschsprachiger theologischer Wissenschaft dar. Doch über ihre bloße Durchführung hinaus ist zu fragen, welchen Erkenntnisort diese kritischen Relektüren in der Theologie einnehmen, denn vor dem Hintergrund einer postkolonialen Epistemologie ist die Suche nach einer ‚deutschen postkolonialen Theologie‘ doppelt prekär: das Zueinander von Macht und Wissen fordert dazu heraus, nicht nur auf „den konstruktiven Charakter nationaler Identitäten hinzuweisen“, wie es die Herausgeber formulieren, sondern auch auf die Diskursivität wissenschaftlicher Disziplinen, durch die Wissensproduktion unweigerlich an Machtverhältnisse gekoppelt ist. An unser gemeinsames Projekt ist damit grundsätzlich die Frage zu stellen: wie verhält sich die Produktion einer postkolonialen deutschen Theologie zu den etablierten Macht-, Wissens- und Infrastrukturen im Diskurs der deutschsprachigen Theologie? Dient sie dazu, die dominierenden Wissenspolitiken zu erschüttern oder verfestigt sie sie sogar? 4 5
Gayatri C. Spivak, Bonding in Difference, in: Alfred Arteaga (Hg), An other tongue. Nation and ethnicity in the linguistic borderlands, Durham 1994, 273–285, hier : 278. Einen Überblick bieten die Beiträge zum Thema kolonialdeutsche Wissenschaften in Ulrich der van Heyden u. Joachim Zeller (Hg), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002. Vgl. Ha, Macht, 2009, 109.
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3.
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Möglichkeiten der theologischen Rezeption von Postkolonialer Theorie
Ich habe oben argumentiert, dass deutschsprachige Theologie derzeit darauf ausgerichtet scheint, die Fragestellungen postkolonialer Theologie als Randthema wahrzunehmen und so die Machtförmigkeit jedes Theologie-Treibens weiter zu entinnern. Vor diesem diskursiven Hintergrund kann die Entwicklung einer deutschsprachigen postkolonialen Theologie dazu führen, dass die etablierten Macht- und Wissenspolitiken im deutschen Diskurs nicht aufgebrochen, sondern stabilisiert werden – dann nämlich, wenn sie als selbstständige (marginale) Disziplin innerhalb des theologischen Fächerkanons entworfen wird, durch die das Zentrum seine souveräne Position regenerieren und weiter immunisieren kann. Das würde natürlich dem Grundanliegen postkolonialer Kritik widersprechen, der daran gelegen ist, das unhintergehbare Zueinander von Macht und Wissen in jeder Wissensproduktion offenzulegen und damit das hegemoniale Meisternarrativ des Zentrums zu destabilisieren. Diesem Anliegen wird das Projekt einer deutschsprachigen postkolonialen Theologie erst dann gerecht, wenn es sich der souveränen Deutungsmacht des etablierten Diskurses widersetzt, die die postkolonialen Relektüren am Rande zulässt, und stattdessen epistemo-politische Umstellung im Herzen dieses Diskurses einfordert: die postkolonialen Relektüren deutschsprachiger Theologie(geschichte) müssen zu der systematisch-theologischen Frage führen, wie wir eine Theologie betreiben können, die ihre unhintergehbare Machtförmigkeit nicht ent- sondern erinnert. Dieser Aufgabe wollen wir uns nun zuwenden. Einen Einstieg bietet Mark L. Taylor, der in The Theological and the Political (2011)6 eine theologische Erkenntnistheorie vorlegt, die die Verstrickung von theologischer Wissensproduktion in Machtpolitiken nicht ausblendet, sondern zu ihrem konstitutiven Ausgangspunkt macht. Taylors zentrales Argument ist, dass der etablierte theologische Diskurs darauf abhebt, größtmögliche Distanz zu den Diskursen des Politischen zu imaginieren, die es ihm erlaubt, die Bedeutung seiner Symbole ‚jenseits‘ des Politischen zu verorten. Doch gerade durch diese Distanzierung stellt Theologie symbolisches Kapital zur Verfügung, mit dem Souveränität regeneriert werden kann. Gerade wenn und weil Theologie das Politische aus ihrem Diskurs ausblendet, verstrickt sie sich tief in die hegemonialen Politiken souveräner Macht und subventioniert ihre potentiell tödlichen Ausschlussmechanismen. Wenn wir uns aber dieser Strategie der Entinnerung widersetzen, so Taylor, dann wird sichtbar, wie sehr im theologischen Diskurs Souveränität und Transzendenz einander wechselseitig produzieren. Dabei können wir jedoch diese Relektüre, die das Zueinander von Macht und Wissen im theologischen Diskurs sichtbar macht, nicht 6
Mark L. Taylor, The Theological and the Political. On the Weight of the World, Minneapolis 2011.
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allein als kritische Beschreibung der Machtförmigkeit theologischer Wissensproduktion verstehen; postkoloniale Diskurskritik ist nicht Selbstzweck, sondern steht unter einem spezifisches Interesse – sie entstand im Ringen um Befreiung von kolonialer Hegemonie, und gerade weil sie zentral darauf abhebt, dass sich (koloniale) Macht im Zusammenspiel von politischer, intellektueller, kultureller und moralischer Macht etabliert7, versteht sie sich als akademisches Projekt als Teil dieses Ringens. Als kritische Intervention im (neo)kolonialen Diskurs ist sie eine engagierte, normative (und nicht rein deskriptive) Be-Schreibung, und d.h. Deutung, der Wirklichkeit aus gegenhegemonialer Perspektive. Entsprechend geht es auch Taylor um eine Befreiung aus den tödlichen Ausschlussmechanismen, mit denen sich souveräne Macht, unterstützt vom theologischen Diskurs, etabliert; die kritische Beschreibung der Verstrickung von theologischer Wissensproduktion in hegemoniale Politiken zielt auf ihre Überwindung ab. Doch gerade weil es die Ausblendung der Machtförmigkeit der Theologie ist, die sie hegemonial werden lässt, kann ihre Überwindung nicht bedeuten, dass der theologische Diskurs das Feld der Politik verlässt. Im Gegenteil, es ist die Aufdeckung des Politischen im theologischen Diskurs, die ein Widerstandspotential gegen hegemoniale Theopolitik eröffnet. Wenn Theologie sich der apolitisierenden Strategie ihrer etablierten Tradition widersetzt, und stattdessen ihre Machtförmigkeit zum Konstruktionspunkt ihrer Reflexion macht, kann sie Wissensformen entwickeln, die sich der tödlichen Logik souveräner Macht entgegensetzen. Postkoloniale Kritik setzt der Strategie der Entinnerung Praktiken der Erinnerung entgegen. Hier haben die postkolonialen Relektüren der (deutschsprachigen) Theologiegeschichte ihren erkenntiskritischen Ort. Sie kommen von den Rändern des etablierten Diskurses, betreffen ihn aber in seinem epistemo-politischen Zentrum: Sie sind jene Gegenerzählungen, die die dominante Machtartikulation des Schweigens aufbrechen, mit der sich das Zentrum seiner Machtförmigkeit entinnert und seine Provinzialität ausblendet. Sie sind es, die die souveräne Deutungsmacht des Zentrums unterbrechen und ihm die „Unterhosen ausziehen“8, wie es Marcella Althaus Reid so kraftvoll formulierte – d.h. sie entblößen entgegen seiner machtvollen Entinnerung politische, ökonomische und sexuelle Positionierung des Zentrums und denaturalisieren und depotenzieren so seine Souveränität. Die Provinzialisierung des Meisternarrativs ist gleichzeitig seine Entmachtung. Mit Taylor schließen wir uns damit dekonstruktiven Ansätzen postkolonialer Kritik an, die ein Widerstandspotenzial in der Aufdeckung des Zusammenspiels von Macht und Wissen verorten und damit epistemopolitische Kontingenz radikal ernst nehmen und nicht durch die Annahme einer utopischen Befreiung jenseits von Macht/Wissens-Regimen 7 8
Vgl. Edward D. Said, Orientalismus, Frankfurt 2009. Vgl. Marcella Althaus-Reid, Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London, New York 2000.
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abbrechen – einer Befreiung, die als Überwindung des Zueinanders von Wissen und Macht vorgestellt wird und deshalb auf ihre eigene Ideologiehaltigkeit nicht mehr überprüft werden kann.9 Postkoloniale Kritik und ihr normatives Ziel der Befreiung bleiben unhintergehbar an hegemoniale Narrative verwiesen und schreiben sich in sie ein. Für die Entwicklung einer postkolonialen Theologie ist nun die Frage zentral, ob die theologische Tradition Ressourcen für diese kritische Intervention bietet. Für Taylor ist die Antwort ein klares Nein – für ihn ist theologische Wissensproduktion zu tief in die hegemonialen Politiken souveräner Macht verstrickt, um befreiendes Potential zu haben. Andere postkoloniale TheologInnen stimmen Taylors postkolonialer Kritik der christlichen Tradition zu, die aufzeigt, wie sie durch die apolitisierende Strategie der Entinnerung ihrer Machtförmigkeit zu einem hegemonialen Diskurs wurde, der souveräne Macht subventioniert. Entgegen Taylors Einschätzung argumentieren sie aber, dass christliche Theologie doch Ressourcen zur Erinnerung, und also Subversion, von hegemonialen Politiken zur Verfügung stellen kann. In ihrer postkolonialen Relektüre christlicher Soteriologie etwa schreibt Marion Grau: “Diese [hegemonialen] Interpretationen mögen zwar einen verbreiteten Trend repräsentieren, aber deshalb müssen sie noch nicht andere Interpretationen völlig ausschließen. Einer bestimmten Interpretationen zu viel Raum und Macht zuzuschreiben trägt, so denke ich, nicht dazu bei, ihre schädlichen Auswirkungen zu subvertieren oder zu bekämpfen. Ein konstruktiveres Vorgehen könnte darin bestehen, alternative Interpretationen vorzulegen, die ‘Unordnung’ in die unterdrückerischen Interpretationen bringen. Auch in diesem Bemühen aber bleiben ambivalente Texte komplex und werden nie ‘sicher und zuverlässig’.10
Mit Taylor kritisiert Grau, dass theologische Wissensproduktion immer wieder auf die Stabilisierung etablierter Machtverhältnisse gerichtet war und der Legitimierung und Fortschreibung von Unterdrückungsverhältnissen dient. Dennoch begibt sie sich auf die Suche nach Umstellungen, die die Texte der christlichen Tradition im politischen Diskurs vollziehen und legt so gegenhegemoniale Lesarten frei, die Ressourcen für einen Widerstand gegen souveräne Macht bereitstellen. Diese Suche nach alternativen Lesarten der christlichen Tradition nimmt ein Theologieverständnis in Anspruch, das Anschlussstellen zu postkolonialer 9
Innerhalb postkolonialer Theorien gibt es Differenzen zwischen identitätspolitischen Ansätzen, die einen ‚strategischen Essenzialismus‘ (Spivak) mit dem Ziel der Befreiung vertreten, und dekonstruktivistischen Ansätzen, die sich dagegen aussprechen. Zur Diskussion vgl. Sabine Jarosch, The Marginal God. Potentiale und Grenzen des postkolonialen Gottesbildes der Theologin Marcella Althaus-Reid, in: epd-Dokumentation 42 (2014), 2014, 32–59, hier: 19ff; Ina Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung (= Bd. 365), Hamburg 2012.; Andreas Nehring, Das ‚Ende der Missionsgeschichte‘. Mission als kulturelles Paradigma zwischen klassischer Missionstheologie und postkolonialer Theoriebildung, in: BThZ 27 (2010), 161–193, hier: 190. 10 Marion Grau, Of Divine Economy. Refinancing Redemption, New York 2004. (Übersetzung JG)
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Kritik zulässt: Auch Theologie versteht sich nicht als neutrale wissenschaftliche Disziplin, sondern reflektiert als Glaubenswissenschaft explizit ihre Standortgebundenheit. Ihre klassische Formulierung hat diese theologische Erkenntnispolitik im Anselmschen ‚credo ut intelligam‘ gefunden – christliche Glaubenspraxis ist nicht (nur) Materialobjekt, sondern entscheidend auch Formalobjekt theologischer Wissensproduktion; sie zielt nicht ab auf die Beschreibung von Glaubenspraxis als eines klar objektivierbaren Detailbereichs der Wirklichkeit, vielmehr ist diese Glaubenspraxis das Prinzip, das die theologische Wahr-Nehmung der Wirklichkeit als Ganzes informiert. Auch Theologie ist eine parteiische Perspektive zur Interpretation der Wirklichkeit. Und ausgehend von diesem hermeneutischen Engagement verpflichtet sich auch Theologie grundlegend einem normativen Ziel: sie versteht sich als ‚Zeugin einer Hoffnung‘ (vgl. 1Petr. 3,15) und stellt an sich den Anspruch, den Glauben an ‚Auferstehung‘ – und damit die Hoffnung auf Leben trotz und inmitten hegemonialer Tödlichkeit und tödlicher Hegemonie – zu repräsentieren, d.h. gegenwärtig zu setzen. Theologische Wissensproduktion hat damit einen soteriologischen Gravitationspunkt. Die postkolonialen Relektüren, die das Zueinander von Macht und Wissen im theologischen Diskurs nicht mehr ent- sondern erinnern, machen dabei sichtbar, wie untrennbar jede theologische Wissensproduktion – auch und gerade die Produktion und Interpretation von soteriologischen Metaphern – in politische, ökonomische und kulturelle Diskurse und deren Ringen um (Deutungs)macht verstrickt war und ist. Mit ihrer Machtanalyse geht postkoloniale Kritik aber weiter als moderne historisch-kritische Methoden, die zwar wichtige sozialwissenschaftliche Arbeit geleistet haben, um den politischen, ökonomischen, kulturellen ‚Sitz im Leben‘ christlicher Texte aufzudecken, doch allzu oft der Versuchung erlegen sind, ihre theologische Bedeutung jenseits dieser diskursiven Verortung zu suchen und so christliche Gottes-Rede von ihren politischen Bezügen zu reinigen. Als Beispiel für diese apolitisierende Strategie der Entinnerung sei verwiesen auf Joachim Gnilkas biblisch-theologischer Beitrag zum Artikel „Erlösung“ im Lexikon für Theologie und Kirche, einem weiteren einflussreichen Instrument deutschsprachiger theologischer Wissensproduktion: In seiner Diskussion der ‚Loskauf‘-Metapher bei Paulus registriert Gnilka zwar ihre sozioökonomische Herkunft in der Praxis der Sklaverei, ist aber sichtlich bemüht um eine Abgrenzung des theologischen Begriffs von möglichen politischen Konnotationen: „Die Metapher v. Loskauf wird zwar selten, aber – bes. im Gal – an wichtigen Stellen verwendet … Es ist umstritten, ob das Verb ‚loskaufen‘ … noch in seiner realen Bildbedeutung empfunden wurde. Dann stünde der sakralrechtl. Loskauf des Sklaven dahinter. … Die Befreiung aus der Sklaverei erfolgte z. Annahme an Kindes Statt. Damit ist der Vergleich mit dem Sklavenloskauf gesprengt, u. es wird deutlich, dass die Argumentation nicht v. Bild, sondern v. der theol. Sache bestimmt ist. In eminenter Weise kommt dies in der Angabe des Motivs z. Ausdruck, aus dem heraus Christus handelt, nämlich aus Liebe … Wenn darum in
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1Kor 6,20 und 7,37 sogar v. Kaufpreis gesprochen wird, sollte man nicht fragen, an wen der Kaufpreis gezahlt wurde.“11
Hier wird versucht, größtmögliche Distanz zwischen einer ‚politischen‘ und einer ‚theologischen‘ Interpretation von apolytrosis zu imaginieren – die Machtverhältnisse systemischer Unterdrückung und Ausbeutung und ihre Legitimisierung durch diskursive Entmenschlichung werden damit nicht zum theologischen Thema gemacht, eine politische Soteriologie wird vom ‚Kern‘ der theologischen Aussage ausgeschlossen, und potentielle Verstrickungen und Komplizenschaften des theologischen Diskurses in diese Unterdrückungsverhältnisse können so unsichtbar, und deshalb umso wirksamer, gemacht werden. Wenn sich theologische Reflexion jedoch dieser Strategie der apolitisierenden Entinnerung widersetzt, verortet sie die theologischen Aussagen des christlichen Diskurses nicht jenseits, sondern verstrickt in die politischen und ökonomischen Diskurse, auf die sich die Texte beziehen.12 So weist Graus postkoloniale Kritik christlicher Erlösungslehre wie Gnilka auf den sozioökonomischen Ursprung soteriologischer Metaphern hin13 und zeigt zunächst theologische Komplizenschaften mit hegemonialen Diskursen auf: „Die Revision des synoptischen Jesus von Macht/Wissen als die Fähigkeit zu dienen und zu leiden hat eindeutig eine eigene problematische Wirkungsgeschichte hervorgebracht. … Dieses Muster hat dazu gedient, die religiös institutionalisierte Erniedrigung von Frauen und anderen, die als sozial minderwertig betrachtet werden, zu verstärken und zu verschärfen. Herr-Sklave und BräutigamBraut sind einige der Metaphern, die Paulus bevorzugt für die Reflexionen von Sünde, Recht und Gerechtigkeit herangezogen hat. … Diese hierarchischen Beziehungen dienen als Bilder für Erlösung. Diese Neigung bestimmter Formen von Sühne, Missbrauch zu ermöglichen oder sich zumindest nicht dagegen zu stellen, gibt Anlasst für schwerwiegende Fragen, wie sie zum Beispiel Sheila Briggs gestellt hat: ‚Kann ein versklavter Gott befreien?‘ Fördert solch ein Bild von Gott als Vorbild für Unterwerfung, das nachgeahmt werden soll, nicht sogar die Versklavung und die physische und mentale Unterdrückung von Menschen?“14
In der theologischen Tradition wurde und wird Soteriologie im Interesse der Mächtigen betrieben – Graus Diagnose deckt sich mit Taylors Argument. Anders als Taylor glaubt Grau aber an das Potenzial des theologischen Diskurses,
11 Joachim Gnilka, Erlösung. II. Biblisch-theologisch, in: Walter Kasper (Hg), Lexikon für Theologie und Kirche (= Bd. 3) 1995, S. 800–805, hier S. 803–804. 12 Zahlreiche Einzelstudien, vornehmlich im englischsprachigen Raum, haben in den letzten Jahren mit Hilfe eines postkolonialen Methodeninstrumentariums an einer Freilegung dieser Verstrickungen der theologischen Tradition in hegemoniale Politiken gearbeitet. Für eine erste Übersicht, vgl. Joseph F. Duggan, Erkenntnistheoretische Diskrepanz: Zur Entkolonialisierung des postkolonialen theologischen „Kanons“, in: Concilium 49 (2013), 135–142. 13 Grau, Divine Economy, 2004, 137. 14 Ebd., 146. 149-151. (Übersetzung JG)
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Ressourcen zur befreienden Subversion dieses hegemonialen Meisternarratives zur Verfügung zu stellen – sie hält daran fest, dass sich die theologische Bedeutung der Texte nicht in der Legitimierung souveräner Macht erschöpft. Im Gegensatz zu Gnilka jedoch weicht sie auf dieser Suche nach einer alternativen Interpretation dem politischen Gehalt und der sozioökonomischen Herkunft der soteriologischen Metaphern nicht aus, sondern zeigt auf, wie ihre theologische Bedeutung durch Umdeutungen innerhalb der ökonomischen Meisternarrative von Sklaverei und Patriachat Gestalt angenommen hat: Wenn wir nachzeichnen, wie Erlösung in vielschichtiger Weise mit Bildern von ökonomischer Ausbeutung und Unterdrückung interagiert, beginnen wir zu sehen, wie das ökonomische Bild von Erlösung Teil eines Intertextes wurde – als Mimikry und Subversion von nachhaltig ausbeuterischen Strukturen wie Sklaverei und Patriachat. … Wenn wir dieses unstetige und verstörende interpretative Wechselspiel von Sklaverei und ihrer Verstrickung in Erlösung sichtbar machen, kommt auch eine gegen-ökonomische Lesart des commercium-Motivs in Sicht.“15
Damit ergibt sich ein nuancierteres Bild der theologischen Tradition, als Gnilka oder Taylor es zu zeichnen vermögen; sie kommt als komplexes Macht-Wissens-Regime in den Blick, in dem politisch hegemoniale und politisch subversive Narrative theologische Bedeutung verhandeln. Eine postkoloniale Theologie, die diese Ambivalenz freilegt, beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die Wahrnehmung dieser ‚Politizität‘ und Machtförmigkeit der Theologie, sondern nimmt eine evaluative Rolle ein: sie ist eine hermeneutisch engagierte Theologie, die sich dem soteriologischen Gravitationspunkt ihrer Tradition verpflichtet weiß – und weil sie sich der Strategie der Entinnerung widersetzt, werden für sie Erlösung nicht ‚jenseits‘ des Politischen und unabhängig von etablierten Macht/Wissens-Konstellationen imaginiert und realisiert. Vielmehr erinnert sie der Hoffnung auf Heil in den Unterdrückungspolitiken politischer, ökonomischer und sexueller Diskurse – sie schreibt sie als widerständiges Moment in ihre dominanten Narrative ein und beunruhigt so deren Deutungshoheit. Weil die subversiven Gegennarrative sich der tödlichen Logik dieser hegemonialen Diskurse widersetzen, wird ihnen soteriologische Bedeutung zugemessen – in ihnen ereignet sich, theologisch gesprochen, Auferstehung.
4.
Theologie als postkoloniale Kritik
Damit nehmen postkoloniale Relektüren normativen Gehalt an; sie sind es, die es theologischer Wissensproduktion erlauben, ihrem soteriologischen Gravitationspunkt gerecht zu werden. Aus der Perspektive postkolonialer Theologie erfüllt Theologie ihre normative Zielvorgabe dann, wenn sie als Produktion 15 Ebd., 137f. (Übersetzung JG)
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von erkenntniskritischen Alternativ-Lesarten betrieben wird, die die souveräne Interpretationshoheit hegemonialer Diskurse durch Praktiken der Erinnerung erschüttern. Hier finden wir eine erste Antwort auf unsere Ausgangsfrage, die wir uns auf der Suche nach einer deutschsprachigen postkolonialen Theologie gestellt haben: Eine Theologie, die ihre Machtförmigkeit nicht entsondern erinnert, wird betrieben im Modus der Subversion, die sich der ausschließenden Logik von politischen-theologischen Meisternarrativen widersetzt. Sie kritisiert hegemoniale theopolitische Diskurse und fördert/fordert subversive Wissensformen. Sie identifiziert die Suche nach und Produktion von subversiven Gegennarrativen als die normative Form, mit der Theologie ihren soteriologischen Fluchtpunkt anstreben und ihre Hoffnung auf Auferstehung repräsentieren kann. Zugleich hält sie aber auch fest, dass diese Norm formulierbar wird aus dem Blickwinkel postkolonialer Theologie: sie ist sowohl postkolonial als auch theologisch begründbar, bedarf jedoch einer – dieser – spezifischen Perspektive, um als Norm greifbar zu werden. Mit dem Offenlegen dieser Perspektivität greift die grundlegende Einsicht postkolonialer Kritik: sie ersetzt nicht ein Meisternarrativ durch ein neues, sondern legt die Kontingenz aller Macht-Wissenskonstellationen offen. Das führt nicht zu einem ‚Relativismus‘, der die Gleichgültigkeit aller Normen propagiert, sondern schraubt die erkenntnistheoretische Gewissheit herunter, mit der Theologie betrieben werden kann. In ihren Studien zu den „Auferstehungspraktiken“ der frühesten christlichen Gemeinschaften argumentiert Marianne Sawicki, dass mit einer postkolonialen Relektüre innerhalb neutestamentlicher Texte ein Wissen um diese Diskursivität des theologischen Sprachspiels freigelegt werden kann und sie zeigt, wie frühe christliche Texte die damit einhergehende epistemologische Unsicherheit explizit thematisieren:16 die neutestamentlichen Auferstehungsberichte etwa verhandeln, was diese Diskursivität als theologisches Prinzip für die Formierung christlicher Tradition bedeutet und entwickeln Strategien, die es erlauben, sie theologisch produktiv zu verarbeiten: „… New Testament texts themselves convey a working knowledge of the possibilities and limitations of talk about resurrection.”17 So zeigt Sawicki, dass die Auferstehungsberichte der synoptischen Evangelien zunächst diskutieren, wo der Auferstandene nicht zu finden ist: mit unterschiedlichen Nuancen zeigen sie große Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Worten als geeignete Mittel dafür, Auferstehung zu erkennen. Die Erzählung vom Leeren Grab bei Lukas ist ein gutes Beispiel:
16 Marianne Sawicki, Seeing the Lord. Resurrection and Early Christian Practices, Minneapolis 1994. Sawicki bezieht sich nicht ausdrücklich auf postkoloniale Theorien, das methodologische Framework, das dem Buch zugrunde liegt, weist jedoch viele Anschlusspunkte zu zentralen postkolonialen Themen und Ansätzen auf. 17 Marianne Sawicki, Recognizing the Risen Lord, in: Theology Today 44 (1988), 441– 449, hier: 441.
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Judith Gruber “Die lukanische Geschichte vom leeren Grab (24,1-11) ist eine Geschichte darüber wo Jesus nicht gefunden werden kann. … Jesus ist offensichtlich nicht im Grab. … Aber der Herr ist auch nicht … im Narrativ. Die Frage, die in 24,5 gestellt wird, trifft gleichermaßen auf die zu, die Jesus im Grab suchen, und auf jene, die ihn im geschrieben Wort suchen: ‚Was sucht ihr den Lebenden unter den Toten?‘ Gräber sind für die Toten; Texte sind für Worte, die schon in der Vergangenheit ausgesprochen wurden. In 24,10-11 erzählen die Frauen den Aposteln, was am Grab geschah, ‚aber die Apostel hielten das alles für Geschwätz und glaubten ihnen nicht.‘ Diese ersten Evangelisten befinden, dass sie niemanden durch das bloße Erzählen einer Geschichte an die Möglichkeit der Auferstehung heranführen können.“18
Auferstehung, so argumentieren diese Texte, ist nicht in einer Erzählung über ein historisches Ereignis zu erfassen. Sie limitieren ihre eigene Autorität, beschränken ihre Deutungshoheit und weisen über sich hinaus. Für die synoptischen Auferstehungstexte ist die Bedingung der Möglichkeit für die Erkenntnis des Auferstandenen nicht ein Text, sondern eine Gemeinschaft, die sich durch Praktiken konstituiert, welche etablierte Machtverhältnisse und die mit ihnen einhergehende Ressourcenverteilung durchkreuzen: „Für Lukas ist die Erkenntnis des auferstandenen Herrn nur innerhalb einer Gemeinschaft möglich, die sowohl Hunger kennt, als auch weiß, den Hungrigen zu essen zu geben. Geschichten über das leere Grab haben außerhalb einer solchen Gemeinschaft keine Wirksamkeit. … Die Text erklären mit Nachdruck, dass Worte nicht zur Erkenntnis führen. Der Zugang zum auferstandenen Herrn eröffnet sich durch eine Lehre die sich innerhalb einer Gemeinschaft entwickelt, welche sensibel für die Bedürfnisse der Armen hat, und die erst diese Gemeinschaft ausmacht.“19
Damit machen diese neutestamentlichen Auferstehungstexte präzise Vorgaben für die erkenntnistheoretischen Bedingungen, unter denen es möglich wird, Auferstehung zu erkennen: „Einsatz für die Bedürftigen ist nicht eine Auswirkung des Auferstehungsglaubens, sondern seine Voraussetzung. Ohne diesen Einsatz ist ein Sprechen von der Auferstehung buchstäblich bedeutungslos.“20
Es ist erst eine spezifische kirchliche Praxis, die eine Erkenntnis der Auferstehung ermöglicht – die biblischen Auferstehungstexte machen deutlich, dass die Gegenwart des Auferstandenen der Kirche nicht einfach zur Verfügung steht, sondern erst in der Ausübung spezifischer kirchlicher Praktiken greifbar wird. Damit unterbrechen sie die Vorstellung von einem linearen Verhältnis zwischen dem Ereignis der Auferstehung einerseits und der Tradition der Kirche andererseits, die von diesem Ereignis berichtet. Die Erfahrung der Auferstehung liegt nicht einfach als Ursprung der Kirche vor, sondern ist immer einund rückgebunden an Praktiken, die sich der tödlichen Logik etablierter 18 Ebd., 443. (Übersetzung JG) 19 Ebd., 448. 449. (Übersetzung JG) 20 Ebd., 449. (Übersetzung und Kursivsetzung JG)
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Machtstrukturen widersetzen; mit diesen Praktiken wird Interpretationsarbeit geleistet, die zur Erkenntnis der Auferstehung führt – und die Kirche konstituiert sich in der Erinnerung jener Praktiken, die Auferstehung erkennen lassen. Sie ist jene Gemeinschaft, die das „Know-how“21 für diese Interpretationsarbeit zur Verfügung stellt. Damit konstituieren sich Kirche und Auferstehung wechselseitig – sie hängen voneinander ab: „‚Kirche‘ ist damit ein Begriff, der immer in Korrelation zu ‚Auferstehung‘ zu verwenden ist. Die Kirche sind alle die, die wissen, wie der auferstandene Herr als Jesus von Nazareth zu erkennen ist, und wie der Geist dieses Jesus als die greifbare Wirkkraft, die in ihrer Mitte tätig ist, anzuerkennen ist. … Es ist diese Kirche, die Menschen in die Verfügbarkeit von Jesus als des auferstandenen Herrn einführt. Mutter Kirche reproduziert sich selbst indem sie die Praktiken reproduziert, die kollektiv das ‚Sehen des Auferstandenen‘ genannt werden.“22
Mit Sawicki sehen wir also, dass ein hermeneutischer Zirkel die Vorstellung eines linearen Verhältnisses von Auferstehung und kirchlichem Zeugnis ersetzt: die Auferstehungspraktiken einer Theologie, die tödliche Machtverhältnisse durchkreuzt, setzen ein hermeneutisches Engagement und damit das Anerkennen einer kontingenten Positionierung voraus, die sich nicht durch die Rückführung zu einem absoluten Ursprung absichern lässt. Auferstehung ist ein Diskurs – sie ist ein Interpretationsereignis, das nicht außerhalb der Tradition der Kirche zu haben ist. Christliche Tradition, die sich wesentlich als die Vergegenwärtigung des Auferstehungsglaubens versteht, kann damit nicht auf einen Ursprung zurückgeführt werden, der außerhalb ihrer diskursiven Verhandlungen liegen und sie erst in Gang setzen würde. Hier können wir ein Resümee ziehen: Taylors theopolitische Erkenntnislehre und Graus postkoloniale Relektüre christlicher Erlösungsmetaphern haben gezeigt, dass es erheblichen hermeneutischen Mehraufwand bedeutet, um unter der dominanten Meistererzählung der christlichen Tradition die „hidden transcripts“ ihrer Subversion offenzulegen23. Es bedarf einer spezifischen Perspektive, damit sich jene Gegennarrative formieren können, die die souveräne Deutungshoheit des hegemonialen Narratives unterbrechen. Aus postkolonialer Sicht ist diese Perspektive das normative Ziel der Befreiung aus diskursiven Unterdrückungsverhältnissen; theologisch formulieren lässt sie sich als der Glaube an Auferstehung, der nach lebensermöglichenden Spuren in der potentiell tödlichen Logik etablierter Diskurse suchen lässt und so zur Formulierung von Gegennarrativen inspiriert, die sich dieser Logik widersetzen. Mit 21 Vgl. Sawicki, Seeing the Lord, 1994, 1. 22 Ebd., 5. (Übersetzung JG) 23 Vgl. James C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990. Zur Kritik vgl. Ulrike Auga u. Bertram Schirr, Do not Conform to the Patterns of this World! A Postcolonial Investigation of Performativity, Metamorphoses and Bodily Materiality in Romans 12, in: Feminist Theology 23. 2014, 37–54, hier: 40.
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Sawicki haben wir gesehen, dass diese Privilegierung – und Abhängigkeit – von einer spezifischen Perspektive, erst unter der sich das als normativ erkannte Narrativ christlicher Tradition formieren kann, bedeutet, dass sie unhintergehbar in Interpretationsprozesse eingebunden ist – es ist ein bodenloser hermeneutischer Mehraufwand, der benötigt wird, um unter der Meistererzählung dominanter Diskurse die subversiven Gegennarrative der Ausgeschlossenen freizulegen, oder, um es theologisch zu formulieren, um an der Hoffnung auf Auferstehung inmitten der tödlichen Logik unterdrückender Mächte festzuhalten: Diese suchende Hoffnung lässt sich nicht mehr auf einen absoluten Ursprung zurückführen, der sie hermeneutisch absichern würde, sondern ist immer schon eingebunden in Interpretationsvorgänge. Eine postkoloniale Reperspektivierung setzt Theologie damit einer massiven epistemologischen Verunsicherung aus. Sie fördert eine grundlegende Ambivalenz zu Tage, die die christliche Tradition durchzieht: sie ist nie einfach vorgegeben oder abgeschlossen, sondern ein Diskurs, in dem hegemoniale und subversive Narrative unter asymmetrischen Machtbedingungen um Interpretationshoheit ringen. Epistemologische Sicherheit ist in diesem Diskurs nur durch die machtvollen Strategien der Entinnerung zu haben, die theologische Wissensproduktion von den kontingenten Bedingungen ihrer Formulierung loslösen; Praktiken der Erinnerung hingegen fordern uns dazu heraus, die radikale (d.h. bis in ihre Wurzeln reichenden) Interpretativität des theologischen Diskurses und seiner normativen Parameter wahrzunehmen – sie machen Theologie zu einem prekären und machtpolitisch ambivalenten Unterfangen, das ‚never safe‘ (Marion Grau) ist. Diese epistemologische Verunsicherung ist in einer Umstellung theologischer Erkenntnislehre konstruktiv zu verarbeiten. Eine deutschsprachige postkoloniale Theologie ist damit keine neue, marginalisierbare Disziplin, sondern orientiert die epistemologischen Vollzüge des theologischen Diskurses neu: Wenn wir uns für Praktiken der Erinnerung entscheiden, wählen wir eine alternative Methode zu den Strategien des etablierten Diskurse; wir gehen buchstäblich einen anderen ‚Weg‘ des Theologietreibens, der uns dazu herausfordert, auch die ‚Landkarte‘ der Theologie neu zu vermessen, so dass sie die epistemologische Unsicherheit nicht ausblendet, sondern uns bewusst durch die destabilisierten Orte theologischer Erkenntnis navigieren lässt. Unsere Lektüre von Taylor, Grau und Sawicki hat es uns erlaubt, signifikante Landmarken dieser Karte zu skizzieren: Wenn wir die Wege der Erinnerung beschreiten, können wir die theologische Tradition nicht zu einem sicheren Ursprung, zu ihren „roots“ zurückverfolgen, sondern bewegen uns auf unabgeschlossenen „routes“24, die uns durch machtbesetzte Territorien führen.
24 Vgl. James Clifford, Routes. Travel and Translation in the late Twentieth Century, Cambridge, Mass 1997.
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Aber gerade durch die Thematisierung dieser radikalen Interpretativität der christlichen Tradition und der daraus resultierenden erkenntnis-theologischen Verunsicherung aktiviert (postkoloniale) Theologie auch Ressourcen für weitere Erkenntnisse (und daher Ereignisse) von Auferstehung. Weil Auferstehung rückgebunden ist an kirchliche Praktiken, die Unterdrückungsstrukturen hinterfragen, kann sie nicht als punktuelles historisches Ereignis beschrieben werden, das dem Zeugnis der Kirche vorausliegen und deshalb abgeschlossen sein würde. Sawicki schreibt: “Wir sollten uns verabschieden von unserer Vorstellung von Auferstehung als Ereignis mit einer vorher-nachher-Struktur, als etwas, das an einem bestimmten Zeitpunkt im historischen Kalender stattgefunden hat, … als etwas, das einmal geschah und jetzt vorbei ist.“25 „Die Auferstehung kann nicht … in der Vergangenheit entdeckt werden.“26
Eine Theologie, die ihre radikale Interpretativität und epistemologische Unsicherheit zu ihrem Konstruktionspunkt macht, wird so frei, „die gegenwärtigen Praktiken zu untersuchen, die [heute], ganz ähnlich jenen, die wir in den Evangelientexten freigelegt haben, Strategien für die Erkenntnis des auferstandenen Herren verkörpern.“27 Wenn Theologie postkolonial, d.h. im Modus der Erinnerung ihrer Provinzialität und Machtförmigkeit betrieben wird, stellt sie Praktiken zur Verfügung, die Sawicki als “Auferstehungspraktiken” beschreibt; sie sucht und produziert Gegennarrative, die die souveräne Deutungshoheit etablierter Mächte durchkreuzen und sich ihrer tödlichen Logik widersetzen, und lässt so Auferstehung – immer wieder – imaginieren und realisieren. Als postkolonial betriebene wird „Theology … resurrection talk“28.
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Sawicki, Seeing the Lord, 1994, 4f. (Übersetzung JG) Ebd., 1f. (Übersetzung JG) Ebd., 1. (Übersetzung und Kursivsetzung JG) Sawicki, Recognizing the Lord, 1988, 449.
Ambivalenzen der Partizipation. Theologische Reflexionen zur Teilhabe unter postkolonialen Bedingungen Michael Nausner
Teilhabe verstehe ich als eine soteriologische Schlüsselkategorie, die es verdient, in der westlichen Christenheit neu hervorgehoben zu werden. Sie scheint mir im Kontext der westlichen Moderne eine unterbelichtete Dimension christlicher – und vielleicht vor allem protestantischer – Theologie zu sein. Spätestens seit der Aufklärung ist die Christenheit im Westen von einer zunehmenden Privatisierung und Vergeistigung von Heil (und Heilsvorstellungen) geprägt. In Zeiten des Neoliberalismus und der Globalisierung scheint sich diese Entwicklung noch verstärkt zu haben. Viele politischen Wahlergebnisse des Jahres 2016 sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. In zahlreichen Ländern der westlichen Hemisphäre (und nicht nur dort!) sind Regenten an die Macht gewählt worden (oftmals mit Unterstützung einer „christlichen“ Mehrheit), die sich im Namen nationaler, ethnischer oder ökonomischer Interessen gegen eine gleichberechtigte Teilhabe anderer einsetzen. In einer solchen gesellschaftlichen Atmosphäre ist eine Wiederentdeckung eines partizipatorischen Verständnisses von Heil seitens der Theologie von noch dringlicherer Bedeutung. Die Theologie tut gut daran, den Wechsel von einem meist nicht-partizipatorischen hin zu einem partizipatorischen Verständnis von Heil wahrzunehmen und aktiv zu befördern.1 Ich gehe von der Hypothese aus, dass Heil im christlichen Sinne mit dem knappen Begriff Teilhabe umrissen werden kann, und damit meine ich Teilhabe am Wirken Gottes in der ganzen Welt. Die Herausforderung bei diversen Vorstellungen von Teilhabe sehe ich darin, dass sie nicht nur inkludierend, sondern auch exkludierend sein können. Während christliche Gemeinschaft sich in der Regel auf die Zugehörigkeitskriterien konzentriert, bleiben die mehr oder minder subtilen Exklusionsmechanismen, die mit solchen Kriterien einhergehen, oft unbewusst. Die Suchbewegung, auf der ich mich befinde, ist geprägt von dem Ansinnen, ein Konzept von Teilhabe zu skizzieren, das die heilvollen Aspekte der Partizipation würdigt, ohne die kritischen Aspekte der Differenz zu ignorieren. Wie ist eine Teilhabe zu verstehen, die sich nicht im Gegensatz zu den nicht Teilhabenden identifiziert? Oder aus theologischer 1
Vgl. David Tracy, Public Theology, Hope, and the Mass Media. Can the Muses Still Inspire? In: Max L. Stackhouse with Peter J. Paris (Hrsg.), Religion and the Powers of the Common Life, London & New York: T&T Clark 2000, 231–254 (247).
Teilhabe unter postkolonialen Bedingungen
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Perspektive: Wie lässt sich Heil als Teilhabe denken, ohne dass die Teilhabekriterien einseitig und damit exklusiv festgeschrieben werden? Eine gemeinschaftliche Folgefrage, die sich daraus ergibt, ist: Wie sieht eine Ekklesiologie aus, die die heilvollen Aspekte eines Dazugehörens mit einer kritischen Wachheit für alternative Zugehörigkeiten in Balance halten kann? Feministische, poststrukturalistische und postkoloniale Kritik zeigen auf unterschiedliche Weise auf, dass bei genauerem Hinsehen jede Form von Partizipation etwas Ambivalentes an sich hat. Ich halte es deshalb für ein Kennzeichen jeder konstruktiv sich gestaltenden Gemeinschaft, dass sie sich mit den Ambiguitäten ihrer eigenen (kollektiven) Identität achtsam und kontinuierlich auseinandersetzt. Der bedrückende Eindruck, der mich in diesem Jahr 2016 immer wieder beschleicht, ist der, dass eine solche Wachheit für die Ambivalenzen der eigenen Zugehörigkeit im heutigen Europa und der gesamten westlichen Hemisphäre immer mehr verloren geht. In den verschiedensten Diskursen bekommt man den Eindruck, als ob „totale Zugehörigkeit“ (zu einer Ethnie, einer Nation, einer Religion etc.) etwas Erstrebenswertes sei. Die Sehnsucht nach Reinheit ist ein Problem, wie Hannah Arendt es eindrücklich während des letzten Weltkriegs hervorgestrichen hat. Denn wenn Reinheit zu einem Postulat wird, dann wird die Gewalt, die eigentlich für Ausnahmefälle reserviert sein sollte, um Bürger- und Menschenrechte – nicht zuletzt Minderheitenrechte – zu schützen und zu bewahren, zu einer Normalität. Solche Reinheitsträume, so Arendt, riskieren, Gewalt als Grenz- und Randphänomen zu einem „Zentrum politischen Handelns“ zu machen.2 Spätestens seit dem Sommer 2015, als die Zahl der Flüchtlinge nach Europa schneller zu steigen begann, ist das sehr deutlich geworden. Das Ansinnen, dass die eigene Zugehörigkeit zu einer gewissen Nation oder Ethnie automatisch mit dem Recht einer strikten Abgrenzung gegenüber anderen verbunden ist, lässt sich heute in Europa fast überall spüren und an den vielerorts hochgezogenen Grenzzäunen auch konkret beobachten. Im Gegenzug dazu scheint das Bewusstsein der Jahrhunderte, ja Jahrtausende alten intimen Verwobenheit der europäischen und afrikanischen Kulturräume einer Amnesie zu verfallen.3 Die leitende Frage für diesen Aufsatz ist deshalb: Hat eine Theologie, die sich von kritischen Theorien wie der feministischen und der postkolonialen hinterfragen und inspirieren lässt, ein konstruktives Verständnis von Partizipation beizutragen in einem Europa, das in einer dumpfen Renationalisierung zu versinken droht? Ich setze etwas ausführlicher ein bei Achille Mbembe, jenem postkolonialen Denker aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun, dessen Buch
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Zitiert in: Johannes Seibel, Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Abgründe der Schuld. https://de.zenit.org/articles/hannah-arendt-elementeund-ursprunge-totaler-herrschaft-abgrunde-der-schuld/ (Abgerufen: 17.6.2016). Vgl. Ilija Trojanow und Ranjit Hoskoté, Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht, sondern fließen ineinander, München 2007.
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Michael Nausner
Kritik der schwarzen Vernunft (2014) gerade angesichts der heutigen Flüchtlingsdiskussion von großer Aktualität ist. Mbembe analysiert hier das fehlende Bewusstsein für die rassistische Unterseite moderner Diskurse. Anschließend an Mbembes Diagnose will ich sodann im Gespräch mit feministischen Theologinnen ein konstruktives und für postkoloniale Kritik empfängliches Verständnis von Partizipation aus theologischer Perspektive skizzieren. Es ist mein Eindruck, dass einer der Hauptgründe dafür, dass postkoloniale Theorie sich sehr schwer tut im deutschsprachigen Raum, in der Massivität postkolonialer Kritik an der westlichen Moderne zu finden ist, wozu auch der deutsche Idealismus zählt. Im deutschsprachigen Kulturraum scheint mir bis heute in der Öffentlichkeit das Vertrauen auf die modernen Errungenschaften und die Früchte der Aufklärung größtenteils ungebrochen zu sein. Die westliche Moderne im weitesten Sinne wird als das rettende Fundament unserer aufgeklärten Zivilisation gefeiert. Der postkoloniale Diskurs destabilisiert dieses Fundament wie ein Holzwurm ein hölzernes Podest. Und wer lässt sich schon gerne auf diese Art und Weise den Teppich unter den Füßen wegziehen, um ein „orientalisches“ Bild zu gebrauchen? Es hat zwar immer wieder die Mahnerinnen und Mahner im deutschsprachigen Kontext selbst gegeben – Walter Benjamin, Hannah Arendt und später Seyla Benhabib zählen nach meinem Dafürhalten dazu –, aber die Wucht, mit der nun Akademiker*innen aus der Zweidrittelwelt dem Westen den Spiegel vorhalten, scheint der deutschsprachigen akademischen Welt – von der Theologie gar nicht zu reden – übermächtig zu sein. Oder aber es ist oft schlicht und einfach die Bezeichnung post“kolonial“ daran schuld, dass man in Deutschland von dieser Theorie kaum Notiz nimmt, weil die Wirkmächtigkeit der deutschen Kolonialzeit und vor allem der mit ihr zusammenhängenden Ideologie weithin unbekannt ist bzw. unterschätzt wird.4 Ich sehe darin eine Art Vogel-Strauß-Politik, die zu einem epistemologischen Defizit führt, was unser globales, ja planetarisches Zusammenleben betrifft. Das heißt, es gibt im Westen eine Tendenz, die „Probleme“ der Zwei-Drittel-Welt auszulagern und sie als Phänomene zu identifizieren, die mit dem Westen nichts zu tun haben. Die Erkenntnis, wie eng verflochten die politischen und sozialen Umstände weit weg mit denjenigen vor Ort sind, ist selten und wird weder politisch noch medial ausreichend kommuniziert.5 Es ist mir nun nicht daran gelegen, die sogenannten „westlichen Werte“, d.h. die Errungenschaften der westlichen Moderne wie etwa die Meinungsund Religionsfreiheit, das allgemeine Wahlrecht, die Eigentumsrechte, die
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5
Vgl. Michael Nausner, Koloniales Erbe und Theologie. Postkoloniale Theorie als Ressource für deutschsprachige Theologie. In: Judith Gruber (Hrsg.), Theologie im Cultural Turn. Erkenntnistheologische Erkundungen in einem veränderten Paradigma. Salzburger interdisziplinäre Diskurse, Band 4, Frankfurt 2013, 130–149. Vgl. Michael Lüders, Wer Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München 2016.
Teilhabe unter postkolonialen Bedingungen
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Menschenrechte oder auch technologische Fortschritte zu diskreditieren. Vielmehr glaube ich, dass postkoloniale Theorie ein taugliches Instrument liefert, um die Begrenzungen und Gefahren vieler dieser Errungenschaften aufzuzeigen. Postkoloniale Theorie gibt uns ein Instrumentarium an die Hand, welches es ermöglicht, die Ambivalenzen der Partizipation an all diesen Errungenschaften zu erkennen. So zeugt etwa Tatsache, dass bis heute diese Errungenschaften nur von einer Gruppe ethnisch und kulturell Privilegierter genossen werden, davon, dass die Partizipation eine exklusive ist. Ja schlimmer noch, postkoloniale Analysen zeigen immer wieder – und das ist das für unsere westliche Empfindlichkeit so Schmerzhafte –: Diese Partizipation ist vor allem auch deswegen ambivalent, weil sie von Anfang an auf die simultane Exklusion Anderer aufgebaut hat.
1.
Die conditio nigra als Ausdruck exklusiver Partizipation der Privilegierten
In Kritik der schwarzen Vernunft6 legt Achille Mbembe den Finger auf genau diesen wunden Punkt westlichen Selbstbewusstseins. Das Werk reiht sich ein in eine Serie von Monographien, die ins Gericht gehen mit der ethischen und kulturellen Oberhoheit, die Europa und später „der Westen“ sich spätestens seit der Zeit der Renaissance selbst zusprechen. Darunter Dipesh Chakrabartys Provincializing Europe7 und Walter D. Mignolos The Darker Side of Western Modernity.8 Diese drei Denker repräsentieren in gewisser Weise die Spannbreite und Reichweite postkolonialer Kritik: Chakrabarty ist Asiate, Mignolo Lateinamerikaner und Mbembe Afrikaner. Alle drei aber sind intime Vertraute mit der westlichen Akademie. Chakrabarty leitet sein Werk auf für postkoloniale Kritik typische Weise mit einem Zitat eines Vertreters der europäischen Moderne ein, nämlich Hans-Georg Gadamer, der in den 1970er-Jahren bereits geschrieben hat, Europa sei nach 1914 zur Provinz geworden,9 und er bringt seine Kritik auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die europäischen Kolonisatoren des 19. Jahrhunderts den Humanismus der Aufklärung einerseits predigten und andererseits den Kolonisierten verweigerten.10 Mignolo ist ähnlich kritisch eingestellt gegenüber der westlichen Moderne und entwickelt in seinem Werk ein „dekoloniales Denken“, in dem es darum geht, das Selbstverständnis 6 7
Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. 8 Walter D. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham 2011. 9 Vgl. Chakrabarty, Provincializing Europe, 3. 10 Ebd., 4.
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der westlichen Moderne, sie sei das Ziel der Entwicklung der Menschheit, zu dekonstruieren.11 Mbembes Ansatz sieht wieder ein wenig anders aus. Er beginnt sein großes Projekt der Kritik der schwarzen Vernunft mit einer kritischen Beobachtung bezüglich des europäischen Denkens, die für das Argument dieses Artikels von zentraler Bedeutung ist, weil sie den Zusammenhang zwischen Partizipation und Identität deutlich macht. Dem europäischen Denken, so Mbembe, wohnte immer schon eine Tendenz inne, „Identität nicht im Sinne gemeinsamer Zugehörigkeit zu ein und derselben Welt zu verstehen, sondern im Sinne eines selbstbezüglichen Verhältnisses.“12 Er spricht in diesem Zusammenhang von einer Autofiktion, einer Selbstbetrachtung, einer Abschließung. Mit anderen Worten: Die Zugehörigkeit zu und die Partizipation an der westlichen, aufklärten Welt wurde konstruiert auf der Grundlage der Hierarchisierung der Ethnien und des Ausschlusses gewisser Ethnien von dieser Welt. Mbembe spricht konsequent und „politisch inkorrekt“ von den beiden Bezeichnungen „Neger und Rasse“ und schreibt, sie seien beide „Zwillingsgestalten jenes Wahns, den die Moderne hervorbringen sollte“.13 Sodann zieht er eine Linie zwischen der Systematisierung der Sklaverei im Zuge imperialer Expansion in Zeiten des Frühkapitalismus hin zu „dem (heutigen, Anm.d.V.) Schicksal aller subalternen Menschengruppen“ und sieht darin eine „tendenzielle Universalisierung der conditio nigra“.14 Hier wird auch deutlich, dass im Unterschied zu Kants Kritik der reinen Vernunft und Spivaks Kritik der postkolonialen Vernunft nicht ein positives Phänomen kritisch betrachtet wird, sondern dass die „schwarze Vernunft“ als solche und als Ursache globaler Ungerechtigkeit enttarnt und abgelehnt wird. Die Generalisierung dieser gewalttätigen Hierarchie meint Mbembe, wenn er sagt, „die Welt werde schwarz“.15 Schließlich fragt er leicht resigniert: „Ist es sicher, dass wir heute ein anderes Verhältnis zum Neger einnehmen können als das zwischen Herr und Knecht?“16 Diese Frage erinnert ein wenig an Gayatri Spivaks unmögliche Möglichkeit, dass Subalterne sprechen bzw. gehört werden.17 Innerhalb des bestehenden Systems, so scheint Mbembe zu meinen, gibt es keinen Ausweg aus der conditio nigra. Es ist ein System des Fabulierens, insofern als „der europäische Diskurs […] vielfach erfundene Tatsachen als real, sicher und exakt darstellte“.18 Diese Beobachtung wiederum erinnert an das bahnbrechende Werk Edward W. Saids bezüglich der literarischen Konstruktion des Orients, die einem solchen Fabulieren ähnelt.19 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity, Preface. Mbembe, Kritik, 11. Ebd., 12. Ebd., 18. Ebd., 21. Ebd., 24. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007. 18 Mbembe, Kritik, 31. 19 Vgl. Edward D. Said, Orientalismus, Frankfurt 2009.
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Mbembe ist letztlich an einem Zusammenleben der Menschen und der Welt der Nichtmenschen gelegen und wiederholt deshalb die Grundeinsicht, dass es eben nur eine Welt gebe, immer wieder; bisweilen Bezug nehmend auf den schönen Begriff der All-Welt von Édouard Glissant.20 Umso beklemmender ist seine Beobachtung, dass die „Erweiterung des räumlichen Horizonts Europas“ zur Zeit der Moderne einhergegangen ist „mit einer Einteilung und Verengung seiner kulturellen und historischen Vorstellungskraft“.21 Die Chance, durch die Erweiterung des Horizonts auch die Ideale der Moderne und der Aufklärung zu etwas Allgemeingültigen zu machen, wurde verspielt, und im Gefolge Jean-Luis Buffons und vielen anderen etablierte sich die Überzeugung von einer Hierarchie der Rassen,22 die bis heute noch nicht überwunden ist. Ich glaube, die Situation, die wir heute in Europa und nicht zuletzt in Deutschland vorfinden, wurzelt unter anderem auch in den Umständen, die Mbembe mit conditio nigra bezeichnet. Der Antisemitismus ist in Deutschland ausführlich und vielfältig analysiert worden. Aber diejenigen Aspekte des Antisemitismus, die im kolonialen Denken wurzeln, sind noch immer weitgehend unbekannt. Dabei würde ein „Zusammendenken der Gräueltaten des Kolonialismus sowie des Dritten Reichs […] erheblich dazu beitragen, ein nuanciertes Verständnis dafür zu entwickeln, ob und inwieweit der Kolonialismus und die Shoah als Fehler, die das Scheitern der europäischen Aufklärung signalisieren, wahrgenommen werden können oder ob beide Ereignisse eher als Teil des Projekts der Modern zu verstehen sind.“23
So erinnert etwa die Ideologie und Rhetorik eines Lothar von Trotha, der im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Hereros von einem „Rassenkrieg“ sprach, stark an die von den Nationalsozialisten später verwendete Rhetorik. Die Verbindungen zu der Ideologie des Nationalsozialismus sind mit Händen zu greifen.24 (Drei Indizien dafür, dass wir an einer conditio nigra leiden, mögen hier genügen: Verhandlungen der EU – und allen voran Deutschlands – mit dem des Völkermords bezichtigten Präsidenten des Sudan, Umar al-Baschir, über Material zur Überwachung von Flüchtlingsströmen bis hin zu Verhandlungen, „bei denen es auch um den Bau von geschlossenen
20 21 22 23
Vgl. Mbembe, Kritik, 326. Ebd., 40. Vgl. Ebd., 41ff. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage, Bielefeld 2015, 74. 24 Vgl. die Diskussion Sebastian Conrads bezüglich der Verbindungen zwischen Kolonialismus und Holocaust. Conrad ist aus konkret historischen Gründen etwas reserviert bezüglich der von Frantz Fanon und Hannah Arendt in die Welt gesetzte These von einer direkten Verbindung zwischen Kolonialismus und Holocaust. Meines Erachtens bleibt jedoch die ideologische und epistemologische Parallele augenfällig. Siehe Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, 100–103.
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Lagern“ geht.25 – Der mittlerweile ins zwölfte Jahr gehende Prozess bezüglich des Feuertodes des gefesselten Sierra Leoners Oury Jalloh im Januar 2005, der eklatante Versäumnisse der Justiz zu Tage kommen lässt.26 – Immer noch wird ernsthaft diskutiert, ob eine Personenkontrolle aufgrund von Hautfarbe, also racial profiling, zulässig ist.27) Mbembe schrieb 2013 – also noch bevor die Diskussion über jene Zäune losging, die 2015 überall in Europa hochgezogen worden sind –, dass der Rasse Diskurs eine „mehr oder weniger verschlüsselte Form der Zergliederung“ nach sich zieht, der sich in der Schaffung „abgeschotteter Räume“ äußert. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Logik des Einzäunens“, gemäß welcher Bevölkerungsgruppen genau markiert und möglichst genaue Grenzen festgelegt werden müssen, meist unter dem Vorwand, damit „Bedrohungen abzuwenden und die allgemeine Sicherheit zu gewährleisten“.28 Das klingt wie eine recht exakte Beschreibung der momentanen gesellschaftlichen und politischen Reflexe angesichts der Anwesenheit einer wachsenden Anzahl von Menschen dunklerer Hautpigmentierung. Dabei ist diese kollektive Stigmatisierung oft nur ein Zeichen der Feigheit jenes Menschen, von dem Georges Bataille spricht, desjenigen Menschen nämlich, der „einem äußeren Zeichen einen Wert beimisst, der keine andere Bedeutung hat als seine eigenen Ängste“.29 In gut postkolonialem Sinne spricht nun Mbembe nicht nur davon, sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, auch wenn das im konkreten Vollzug und überhaupt strategisch immer wieder angesagt sein mag. Stattdessen geht es Mbembe um etwas Epistemologisches, um eine Art des Denkens und Erkennens, und diesbezüglich schlägt er von seiner afrikanischen Perspektive aus „ein Denken der Zirkulation und des Durchquerens“ vor,30 das letztlich ein Weltdenken31 ist. Diese Denkfiguren des Zirkulierens und des Durchquerens sind nicht notwendigerweise abhängig von einem physischen Reisen. Aber sie sind Ausdruck eines Bewusstseins, das sich einer totalen Partizipation widersetzt und das sich einer Vorstellung von Universalität verpflichtet weiß, die von einer kontinuierlichen Teilnahme divergierender Stimmen abhängig ist. Es braucht ein Hin und Her und ein immer 25 Jürgen Dahlkamp, Maximilian Popp, Pakt mit Despoten, in: Spiegel online – https://magazin.spiegel.de/SP/2016/20/144788048/index.html (aufgerufen am 14.6.2016) 26 Siehe youtube Version einer BRISANT Sendung vom 27.10.2015: https://www. youtube.com/watch?time_continue=6&v=XsQ5ISZNP-g (aufgerufen am 14.6.2016) 27 Vgl. Webpage der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ (ISD): Personenkontrollen aufgrund der „Hautfarbe“ vom Oberverwaltungsgericht als unzulässig erklärt. Bundesregierung entschuldigt sich bei Kläger, in: http://neu.isdonline.de/personenkontrollen-aufgrund-der-hautfarbe-vom-oberverwaltungsgericht-alsunzulassig-erklart-bundespolizei-entschuldigt-sich-bei-klager/ (aufgerufen am 14.6.2016) 28 Vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, 77. 29 Zitiert in: Ebd., 78. 30 Vgl. Ebd., 25. 31 Vgl. Ebd., 326.
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wieder neues (geistiges oder physisches) Durchqueren anderer Kulturräume, um sich einem Universalismus anzunähern, der seinen Namen verdient. Mbembe ist für mich so etwas wie ein afrikanisches Pedant zum europäischen Henning Mankell, der kürzlich verstorben ist und viele Jahre lang den Sommer in Schweden und den Winter in Mosambik verbracht hat. Auf diese Weise stellte sich für ihn fast notgedrungen ein Denken der Zirkulation ein und eine kulturelle Partizipation, die die Form des Durchquerens annimmt und nicht die Form des Besitzanspruches. Henning Mankell war auch der, der schon vor über zehn Jahren das später oft wiederholte Diktum prägte, Lampedusa sei das Zentrum Europas, insofern sich an dieser prekären Meeresgrenze Entscheidendes beobachten lässt über europäische Identitätskonstruktion.32 Auf Lampedusa wird deutlich, dass Europa so tut, als ob die Teilhabe am aufgehäuften Reichtum sich abschotten ließe vom Rest der Welt und vor allem von Afrika. Partizipation aber ist nie eindeutig, sondern immer ambivalent, insofern sie fließend mit anderen Partizipationen bzw. Exklusionen zusammenhängt bzw. in sie übergeht. Mbembe beendet seine Studie über die schwarze Vernunft mit einem Plädoyer für die eine Welt, eine Welt, die es nicht ohne „Gegenseitigkeit und Reziprozität“ gibt. Dabei schlägt er auch einen ökologischen Ton an, wenn er sagt, dass es gilt, „das Feld der Beziehungen zwischen den Menschen und den übrigen Lebewesen […] immer wieder zu konsolidieren“.33 Globale Interdependenz macht nicht an der Grenze des Menschlichen halt, sondern will als ein Netz des Lebendigen im weitesten Sinne verstanden werden. Und ganz im Sinne der Hybridität aller Kulturen weist er schließlich auf „den unumkehrbaren Prozess der Verquickung und Verschachtelung der Kulturen, Völker und Nationen“ hin, weshalb es ohne ein Wechselspiel der Reziprozität „keinen Aufstieg zur Menschheit geben kann“.34 Eine solche Verquickung und Verschachtelung der Kulturen macht nicht nur kulturelle Partizipation, sondern auch religiöse Partizipation zu einer komplexen Angelegenheit. Denn es wird darin deutlich, dass Teilhabe nicht vollständig verstanden wird, wenn sie mit einem Pathos radikaler Exklusion einhergeht.
32 Klaus Höfler, Mankell: „Europas Zentrum ist Lampedusa“. In: http://diepresse.com/ home/kultur/news/668463/Mankell_Europas-Zentrum-ist-Lampedusa?_vl_backlink =/home/kultur/news/index.do (aufgerufen am 3.12.2016) 33 Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, 327. 34 Ebd., 330.
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2.
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Nicht-exklusive Partizipation aus christlicher Perspektive
Ich sehe in Mbembes Epistemologie des Weltdenkens – Spivak würde wohl von einem planetarischen Denken sprechen – eine Analogie zu einem theologischen Verständnis von Heil als „Teilhabe am Wirken Gottes in der Welt“. Auch in dieser theologischen Perspektive geht es grundsätzlich um mehr als um Heil im Gegensatz zu anderen oder gar auf Kosten anderer. Es geht vielmehr um ein Verständnis von Erlösung, das Schöpfungslehre und Soteriologie eng miteinander verzahnt. Es geht um kreative Verwandlung auf globaler, ja planetarischer Ebene. Damit ist auch schon der theologische Rahmen für eine Vorstellung von Partizipation gegeben, die sich nicht negativ unter der Bedingung des Ausschlusses anderer versteht. Ich glaube, dass christliche Gemeinschaft gerade in ihrem Verständnis von Partizipation von politischer Bedeutung auch für die momentane Krisensituation in Europa sein kann. Ich stimme bezüglich dieser Situation mit der englisch-burmesischen Migrationsforscherin Bridget Anderson überein, wenn sie nicht von einer Flüchtlingskrise spricht, sondern von einer Krise der europäischen Identität. Denn indem Flüchtlinge als Konkurrenten um die europäischen Ressourcen dargestellt werden, geraten grundlegende Ideale der europäischen Union, ja europäischer Identität, wie Asylrecht und Bewegungsfreiheit in Gefahr. Mit Anderson stelle ich die vielleicht utopisch anmutende Frage: Wie kann eine Ökonomie, eine Kultur, eine Gesellschaft geschaffen werden, in der ein besseres Leben für Menschen aus Afrika und Asien ein besseres Leben für alle bedeutet?35 Ich bin davon überzeugt, dass ein christlich theologisches Verständnis von Partizipation verstanden werden muss im Sinne eines besseren Lebens für alle und dass es Anregungen dafür beinhaltet, wie eine Weltordnung der Reziprozität funktionieren kann. Die amerikanische Theologin Kathryn Tanner hat in ihrem Büchlein Economy of Grace einen Entwurf vorgelegt, der für eine Art der Teilhabe plädiert, die nicht auf Kosten anderer entsteht. Ihre theologische Ökonomie ist dem Weltdenken Mbembes insofern nicht unähnlich, als sie „eine Vision einer universell inklusiven Gemeinschaft gegenseitiger Unterstützung“36 entwirft. Damit ist jene Ökonomie der Gnade gemeint, die der Marktlogik der herrschenden Ökonomie entgegensteht. In der Ökonomie der Gnade verliert Konkurrenz ihre Bedeutung, weil der Markt der Waren nichtmonetär ist.37 „Was am Christentum […] besonders ist,“ schreibt Tanner, „ist sein Versuch, einen Kreislauf von Waren zu etablieren, die von allen im selben 35 Vgl. Bridget Anderson, Making Connections: Migration and the Crisis of Europe, Unveröffentlichtes Manuskript 2016. 36 Kathryn Tanner, Economy of Grace, Minneapolis, MN 2005, 142. 37 Vgl. Ebd., 23.
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Ausmaß besessen werden, ohne dass damit etwas verringert würde oder verloren ginge.“38 Das lese ich als eine recht exakte Definition von nicht-exklusiver Partizipation. Denn einer solchen Teilhabe liegt eine Ökonomie zugrunde, die in Gottes universalem Geben wurzelt, das „alle üblichen Grenzen zwischen geschlossenen Interessensgemeinschaften durchbricht“. Aus dieser Perspektive kann das Besitzrecht (vgl. Locke) kein exklusives mehr sein. Vielmehr ist dann „dein Ansinnen nicht mehr so sehr, andere von dem fernzuhalten, was du besitzt, sondern vielmehr, dass andere in den Genuss dessen kommen, was du genießt“.39 Hinter dieser westlichem Denken so widerständigen Vorstellung einer konkurrenzlosen gemeinsamen Teilhabe steht ein einfacher theologischer Grundgedanke, nach dem Gott in der Schöpfung „nicht Gottes eigenes Eigentum ausportioniert oder entfremdet, sondern … eine nichtgöttliche Version oder Reflexion der Güte Gottes begründet, die Gott dennoch in sich selbst in Fülle bewahrt“.40
Dieses konkurrenzlose Verhältnis von Schöpfer und Geschöpfen sieht Tanner vorgezeichnet im Verhältnis der Personen der Dreieinigkeit zueinander. Sie „geben einander nur, was sie gemeinsam haben und bewahren“.41 In einer theologischen Ökonomie – die nach sozialer Verwirklichung verlangt – besteht also eine konkurrenzlose Form von Eigentum und Besitz, die es ermöglicht, „dass anderen zu geben und selbst zu haben schlicht und einfach nicht in Konkurrenz miteinander stehen“.42 So gesehen muss auch Selbstverwirklichung nicht im Konflikt mit der Sorge um das Wohl anderer stehen. Denn sie wurzelt in Gottes Mission, an der wir Menschen teilhaben, nämlich „sich selbst zum Wohl anderer zu geben“.43 Mit dieser ökonomischen Beschreibung kollektiver Identität, die nicht in strikter Opposition zu anderen Identitäten gedacht ist, bleibt Tanner ihrem Anliegen in einem früheren Buch treu, nämlich Theories of Cultures. A New Agenda for Theology (1997), wo sie inspiriert von diversen Kulturtheorien eine Beschreibung christlicher Gemeinschaft skizziert, deren Identität sich im Verhandeln an ihren eigenen Grenzen entwickelt und nicht in strikter Polarität zu anderen Gemeinschaften. Partizipation entsteht so nicht durch Ausschluss durch Grenzen, sondern durch Verhandeln an Grenzen.44 In beiden Entwürfen Tanners geht es um eine Subversion gängiger Vorstellungen ökonomischer bzw. kultureller Ko-Existenz. Im Übrigen ist Theories of Culture einer der ersten aus der systematischen Theologie stammenden Texte, die Schlüsseleinsichten postmoderner Kulturanthropologie für die Theologie fruchtbar macht. Vieles davon – wie etwa die Hybridität und 38 39 40 41 42 43 44
Ebd., 25. (Meine Hervorhebung) Ebd., 73. Ebd., 77. Ebd., 78. Ebd., 83. Ebd., 85. Vgl. Kathryn Tanner, Theories of Culture. A New Agenda for Theology, Minneapolis, MN 1997, 115.
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Prozesshaftigkeit aller Kultur oder auch die Bedeutung von Grenzdynamiken – überlappt sich mit Einsichten postkolonialer Theorie. Was das Fruchtbarmachen von Kulturtheorien für die Theologie betrifft, hat Tanner einen Vorgänger in Paul Tillich, der auch die Analogien zwischen kultureller und religiöser Partizipation hervorhob.
3.
Ambivalente Partizipation / mehrfache Zugehörigkeit in Theologie und Gesellschaft
Menschliches Leben könnte beschrieben werden als bestehend aus dreierlei Weisen der Partizipation, die alle von einer gewissen Ambivalenz geprägt sind. Die erste Weise ist eine existentielle in jedem Menschen, die Tillich vor gut einem halben Jahrhundert als eine der drei „ontologischen Elemente“ bezeichnet hat. Tillich ist jener Kulturtheologe, der mit gewissem Recht als einer der Vorgänger interkultureller und postkolonialer Theologie gesehen werden kann. Er hat viel über Ambivalenzen geschrieben, nicht zuletzt auch Ambivalenzen der Partizipation. Ihm geht es zunächst um die in jedem Menschen lebende Spannung zwischen Individualisation und Partizipation. Die Ambivalenz nun besteht darin, dass Partizipation eben nicht ohne Individualisation möglich ist und umgekehrt Individualisation nicht ohne Partizipation. „Partizipation,“ so Tillich, „ist wesentlich für das Individuum, nicht zufällig. Kein Individuum existiert ohne Partizipation, und kein personales Sein existiert ohne ein gemeinschaftliches Sein.“45 Ich sehe in dieser schlichten Feststellung bezüglich der partizipatorischen Konstitution des Individuums die Grundlage für ein nicht exklusives Verständnis von Partizipation, um das es mir in diesem Artikel geht. Das Individuum wird es selbst und entdeckt sich selbst durch den Widerstand eines anderen Selbst.46 Es besteht existentiell gesprochen also gar keine Möglichkeit der völligen Exklusion. Das Element der Partizipation in seiner Unabgeschlossenheit hat so auch immer eine universale Komponente: Theologisch gesprochen zielt es auf die Partizipation „am Neuen Sein, wie es offenbar ist in Jesus dem Christus“ und gewährleistet so „die Einheit einer zerrissenen Welt“,47 die Bestand hat trotz aller Versuche, Identität in Form von exklusiver Partizipation zu konstruieren. Die zweite Weise der Partizipation wäre nach diesem Modell die soziale. Der Mensch ist ein soziales Tier, nimmt aber nie nur an einer Gruppe oder Gemeinschaft teil, sondern immer gleichzeitig an mehreren. Auch darin liegt eine Ambivalenz, die unumgänglich ist und die nur rhetorisch zu einer „totalen
45 Paul Tillich, Systematische Theologie, Band 1, Stuttgart 1956, 208. 46 Ebd. 47 Ebd., 209.
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Partizipation“ stilisiert werden kann und dann zum Nährboden für destruktive Konfrontationen, ja Gewalt führt. Die dritte Weise der Partizipation ergibt sich aus einer explizit theologischen Perspektive auf den Menschen. Damit meine ich die Partizipation an der Wirklichkeit Gottes, die aber auch ambivalent ist, weil sie gleichzeitig eine Partizipation an der gefallenen Welt ist. Diese doppelte Partizipation an der Gebrochenheit der Welt und der Erneuerung der Schöpfung sehe ich auch als einen zentralen Aspekt des Abendmahls, jenem Symbol christlicher Partizipation par excellence.48 Hier wird die eingangs angedeutete Zusammengehörigkeit von Soteriologie und Ekklesiolgie am deutlichsten, insofern sich hier das christliche Heilsverständnis in seinem gemeinschaftlichen/partizipatorischen Wesen konkretisiert. In vielen theologischen Behandlungen des Abendmahls fehlt jedoch ein Bewusstsein für diese immer auch kulturell, ja interkulturell geprägte Ambivalenz zwischen Teilhabe an erlöster und geschundener Gemeinschaft ganz. Demgegenüber gelingt es Mary McClintock Fulkerson, theologische, kulturelle und soziale Spannungen und Ambivalenzen aufrecht zu erhalten, die auf paradigmatische Weise im Feiern des Abendmahls zum Ausdruck kommen. In ihrem Büchlein (gemeinsam mit Marcia Shoop) A Body Broken, A Body Betrayed (2015) streicht sie die Interkulturalität des Abendmahls als zentral hervor. So sieht sie etwa bei den Abendmahlsfeiern ihrer eigenen Denomination die Folgen des Rassismus sichtbar werden. Der Leib, der da sichtbar werde, sei ein zerbrochener und abgehauener.49 Nicht zuletzt aus eschatologischer Perspektive dürfe aber die Veränderung, die im Abendmahl geschieht, keine monokulturelle sein.50 Denn die Partizipation am Abendmahl hat eigentlich das Potential, gewaltsam exklusive Formen der Teilhabe subversiv zu unterwandern. Sieht Fulkerson in den Abendmahlsfeiern ihrer eigenen Denomination, wie sich in ihnen die ethnischen Trennlinien der Gesellschaft schmerzhaft spiegeln, so lässt sich in vielen anderen Kontexten ähnliches beobachten: Das große Versöhnungsmahl der Christenheit wird zu einem Ritual, das gesellschaftliche Trennlinien nicht unterwandert, sondern verstärkt. Fulkerson sieht ein Mittel gegen solche Reproduktion in der Aufmerksamkeit für die notwendige Spannung, ja Ambivalenz, die in einer recht begangenen Abendmahlsfeier lebendig bleibt. „Die Eucharistie in ihrer vollen Blüte,“ schreibt Fulkerson, „verkörpert die Spannung zwischen tiefer Liebe
48 Vgl. Michael Nausner, Gebrochenheit und Erneuerung der Schöpfung. Das Abendmahl als theologische Basis sozialer Gerechtigkeit. In: Ökumenische Rundschau 61 (4/2012), 440–456. 49 Vgl. Mary McClintock-Fulkerson, Marcia W. Mount Shoop, A Body Broken, A Body Betrayed. Race, Memory, and Eucharist in White-Dominant Churches, Eugene, OR 2015, 12. 50 Vgl. Ebd., 17.
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und Anbetung und dem Schmerz des Verrats und der zerbrochenen Gemeinschaft.“51 Nur in dieser aufrecht erhaltenen Ambivalenz entfaltet sie ihre heilende Wirkung. Von einem solchen Verständnis des Abendmahls her, sind wir nicht nur existentiell und soziologisch, sondern auch theologisch gut beraten, ein Gespür zu bewahren bzw. zu entwickeln für die vielen Formen von Mehrfachzugehörigkeit (engl. multiple belonging) und multipler Identität, die unseren Alltag prägen. Dass ein solches Bewusstsein für die Ambivalenz christlicher Partizipation keine postmoderne Erfindung ist, davon zeugt auf eindrückliche Weise der anonyme Brief an Diognet, der aus dem 2. Jahrhundert stammt. Dort wird die Charakteristik von Christ*innen wie folgt beschrieben: „Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisaßen; sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde.“52
Hier wird eine spirituelle Doppelzugehörigkeit beschrieben, eine ambivalente Partizipation, die als grundlegende Lebenshaltung auch politisches Potential hat. Sie macht deutlich, dass das Fremde nicht etwas ist, das nur nach außen verlagert werden kann. Vielmehr gehört es zur Konstitution der eigenen Identität. Gerade in Zeiten zunehmender Migration in Europa birgt ein solches Verständnis christlicher Identität als ambivalente Partizipation an der Gesellschaft die Chance, im öffentlichen Raum auch im politischen Sinne Partizipation als inkludierend und nicht exkludierend zu praktizieren.53 Ich komme auf meine theologisch-politische Eingangsfrage zurück: Hat eine feministisch-postkolonial sensibilisierte Theologie ein konstruktives Verständnis von Partizipation beizutragen in einem Europa, das in einer dumpfen Renationalisierung zu versinken droht? Zur Beantwortung dieser Frage will ich abschließend Serene Jones‘ Buch über feministische Theorie und christliche Theologie54 in den Kontext meiner postkolonialen Suchbewegung einbinden. Hier finde ich im ekklesiologischen Konzept der umhüllenden Offenheit (engl. bounded openess) eine Vorstellung von Partizipation, die einerseits allgemein soziales Potenzial hat, aber auch postkolonialer Kritik standhalten könnte. Zunächst anerkennt Jones die Tatsache mehrfacher Zugehörigkeit, in der letztlich alle Menschen stehen und die dazu führt, das soziale und kulturelle Grenzen fließend sind.55 Gerade ihre Aufmerksamkeit für die Grenzen 51 Ebd., 85. (Meine Hervorhebung) 52 Brief an Diognet, Bibliothek der Kirchenväter, Fribourg 2008. – http://www.unifr.ch/bkv/kapitel79-4.htm (aufgerufen 17.6.2016) 53 Vgl. Michael Nausner, Imagining Participation from a Boundary Perspective. Postcolonial Theology as Migratory Theology. In: Julia Dahlvik, Christoph Reinprecht, Wiebke Sievers (Hrsg.), Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich, Jahrbuch 2/2013, Göttingen 2013, 183–193. 54 Serene Jones, Feminist Theory and Christian Theology. Cartographies of Grace. Guides to Theological Inquiry. Minneapolis, MN 2000. 55 Vgl. Ebd., 133.
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christlicher Gemeinschaft fällt auf. Wie Grenzen verstanden werden, offenbart Entscheidendes über das Verständnis von Teilhabe. Spätestens seit Homi K. Bhabhas Monographie The Location of Culture (1994) sind Durchlässigkeit, Flexibilität und Komplexität kultureller Grenzen zentrale Themen postkolonialer Theorie.56 Jones beschreibt nun die Grenzen christlicher Gemeinschaft auf eine Art und Weise, die mit postkolonialer Grenzanalyse vereinbar ist. Insofern als es hier um eine Gemeinschaft geht, die wesentlich von einem Gott, der anders ist, bestimmt ist, müssen diese Grenzen per definitionem offen sein, und sie kann von ihrem Wesen her deshalb nicht auf Verwandtschaftsbande, Geographie oder Ethnizität gegründet sein. Diesbezügliche Reinheit ist unmöglich.57 Das Umhüllende, das als Grenze fungiert, sind die „zierenden Praktiken“ (engl. adorning practices), mit denen Jones den ermächtigenden und wertschätzenden Umgang von Christ*innen untereinander meint, ein Umgang, der die Sorge für das Allgemeinwohl der Gesellschaft nicht ausschließt, sondern fördert.58 Es entsteht ein Bild einer Teilhabe, die nicht in der Exklusion anderer fußt. Vielmehr ist eine solche Gemeinschaft, wie Jones schreibt, skeptisch gegenüber „Grenzen, die sie vor einer fruchtbaren Begegnung mit anderen verschließt“.59 Es muss eine durchmischte Kirche sein, deren Grenzen fließend sind. Die hier beschriebenen Grenzen „existieren, um Offenheit zu ermöglichen“.60 Es sind Grenzen, die durch die heilvolle Umhüllung mit Gnade geformt werden und die allein aus diesem Grund porös sein können und müssen.
4.
Fazit
Eine so verstandene christliche Gemeinschaft konkretisiert die eingangs erwähnte Teilhabe als soteriologische Schlüsselkategorie. Heil beginnt sich in der gebrochenen Wirklichkeit dieser Welt immer wieder als nicht-exklusive Teilhabe zu konkretisieren. Es deutet sich an als eine Art von Partizipation, die herkömmliche Verständnisse von Partizipation unterwandert, weil sie nicht auf Kosten anderer sich verwirklicht. Das Neue Sein in Jesus dem Christus – um mit Tillich zu sprechen – ist ein Sein, das nicht gegen andere in Stellung gebracht wird, sondern als Teilhabe am Wirken Gottes in der Welt verstanden sein will und so per definitionem offene Ränder hat und einen uni-
56 Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994. Für die deutsche Ausgabe siehe Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 57 Vgl. Jones, Feminist Theory, 172. 58 Vgl. Ebd., 173. 59 Ebd., 174. 60 Ebd., 175.
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versalen Geltungsbereich. Es lassen sich also Verbindungen herstellen zwischen einem solchen theologischen Verständnis von Partizipation und der postkolonialen Kritik Achille Mbembes an einem Identitätsverständnis im Sinne eines selbstbezüglichen Verhältnisses anstatt im Sinne gemeinsamer Zugehörigkeit zu ein und derselben Welt.61 Wenn Mbembe in seinem Fazit die „Frage der universellen Gemeinschaft“62 hervorhebt und bei aller Würdigung bleibender Differenz sich zum Projekt „einer kommenden Welt“, bekennt, „einer vor uns liegenden Welt, deren Bestimmung universell ist“,63 dann kann das auch als eine notwendige Sensibilisierung der Theologie dienen, um nicht in der einen oder anderen Form exklusiver Partizipation stecken zu bleiben. Kathryn Tanner hat mit ihrer Vorstellung der nicht-konkurrierenden Ökonomie der Gnade für den ökonomischen Bereich im weitesten Sinne ein Modell entwickelt, das nicht-exklusive Teilhabe konkretisiert.64 Und Mary McClintock Fulkerson und Serene Jones entwickeln auf analoge Weise mit ihren je eigenen Betonungen der notwendigen Interkulturalität des Abendmahls65 und der Grenzen der Kirche als Formen umhüllender Offenheit66 Vorstellungen christlichen Heils und christlicher Gemeinschaft, die die Form nicht-exklusiver Teilhabe annehmen. Christliche Gemeinschaft bleibt hier von immanenter Instabilität und Ruhelosigkeit geprägt. Aber die problematische Ambivalenz der Partizipation, die in der simultanen Exklusion anderer fußt, weicht hier der konstruktiven Ambivalenz der Partizipation, die in der simultanen Teilhabe am Neuen Sein in Jesus dem Christus und der irdischen Weltgemeinschaft wurzelt.
61 62 63 64 65 66
Vgl. Mbembe, Kritik, 11. Ebd., 331. Ebd., 332. Vgl. Tanner, Economy, 83. Vgl. Fulkerson, A Body Broken, 17. Vgl. Jones, Feminist Theory, 175.
Dekolonisierte Eschatologie. Ein Versuch der Veränderung christlicher Zeitlichkeitsvorstellungen Florian Tatschner
1.
Die Entfaltung des apokalyptischen Skripts Von dem neuen Himmel und der neuen Erde, die unser Herr geschaffen hat, wie es der Heilige Johannes in seiner Apokalypse schreibt, nachdem Er es durch den Mund Jesajas gesagt hatte, machte Er mich zum Boten und zeigte mich wohin ich gehen sollte.1
So lauten die Worte des vermeintlichen Entdeckers der sogenannten „Neuen Welt“, Christoph Kolumbus – oder Cristóbal Colón, wie er im Spanischen heißt. Lange galt die Figur des Columbus und das Narrativ seiner angeblichen „Entdeckung“ als ein entscheidender Moment in der Geschichte des Westens. Sie wurde zum Inbegriff des Anbruchs einer völlig neuen Epoche. Wie der Historiker James Loewen schreibt: „Columbus war derart entscheidend, dass Historiker ihn wie Jesus benutzen, um die Geschichte zu teilen: die Amerikas vor 1492 werden als ‚prä-kolumbisch‘ bezeichnet“2. Mit Colón hatte das glorreiche Äon der westlichen Moderne begonnen – so hieß es zumindest. Spätestens seit dem Ende des letzten Jahrhunderts begann man jedoch in der Amerikanistik und darüber hinaus, besonders in der Auseinandersetzung mit indigenen Perspektiven, den Mythos der Entdeckung, der sich um die Gestalt des Columbus rankte, tiefgreifend zu hinterfragen. Im Gegensatz zu Jesus, dessen Kommen laut christlicher Doktrin die Erlösung in die Welt bringen soll, brachte Colóns mehr oder weniger zufällige Ankunft in Amerika lediglich Verdammnis. Heike Paul bringt es auf den Punkt: „Für viele indigene Amerikaner markiert Columbus’ Ankunft in den Amerikas den Beginn von Kolonialismus, Genozid, Vergewaltigung, Sklaverei, Enteignung und Vertreibung, sowie von kulturellem Tod“3. Oder anders: die Botschaft, die Colón für die indigenen Völker der „Neuen Welt“ postulierte, war alles andere als froh;
1 2 3
Christopher Columbus, Journals and Other Documents on the Life of Christopher Columbus, Trans. Samuel Eliot Morison, New York 1963, 291. [Diese und alle weiteren Übersetzungen stammen vom Autor, F.T.] James Loewen, Lies My Teacher Told Me About Christopher Columbus. What History Books Got Wrong, New York 1992, 1. Heike Paul, The Myths that Made America. An Introduction to American Studies, Bielefeld 2014. 69.
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für die Bevölkerung der Amerikas avancierte er vielmehr zum Vorboten apokalyptischen Unheils. In der Offenbarung des Johannes glaubte Columbus, die göttliche Weisung für seinen Entdeckungsdrang gefunden zu haben und legte so den Grundstein für die (jahrhundertelange) Aneignung der darin enthaltenen biblischen Prophezeiung. Colón berief sich nicht nur auf die Tradition eines apokalyptischen Diskurses, welche die westliche Vorstellung von Zeitlichkeit lange geprägt hatte und auch immer noch prägt, er perpetuierte sie auch: Diese Konzeptualisierung, wie Walter Mignolo betont, „wurde zum wesentlichen ‚Bindeglied‘ zwischen kolonialen und imperialen Differenzen weltweit“4, weil sie dazu beitrug, Kulturen entweder als „modern“ oder „primitiv“ zu deklarieren und zu klassifizieren. Mit anderen Worten erstellte Columbus ein apokalyptisches Skript, das ihm die Handhabung der biblischen Prophezeiung als ein mächtiges Werkzeug für koloniale Unterdrückung und Ausbeutung ermöglichen sollte. Wie war etwas Derartiges möglich? Wie wurden aus der eigentlich „frohen Botschaft“ des Evangeliums „schlechte Nachrichten“? Wie konnte es dazu kommen, dass die christliche Eschatologie koloniale und imperiale Gewalt mit sich brachte; und – muss das so sein? Muss sie notwendigerweise in der Entfaltung einer linearen Zeitspanne resultieren, die nichtwestliche Kulturen als „primitiv“ diskreditiert? Kann die Botschaft des Evangeliums von ihren (eigenen) historischen Verzerrungen bewahrt werden? Mit erneutem Hinweis auf die unrühmlichsten Aspekte der christlichen Geschichte fasst Michael Welker diese Fragen in seiner Christologie schließlich in einer einzigen leitenden Frage zusammen: [S]chon ein knapper Hinweis auf die bedrückende Tatsache, dass es im Namen christlicher Religion und Kirche zahllose Pogrome, Kampagnen der Unterdrückung und Verfolgung, Kreuzzüge und Hexenverbrennungen, Kriege, Kolonialismus und Menschenverachtung gegeben hat, genügt, um davor zu warnen, Offenbarung Gottes und religiöse kirchliche Machtentfaltung in direktem Zusammenhang zu sehen. Menschliche Unternehmungen und Machenschaften schmücken sich nur zu gern mit dem Glanz und der Aura des Heiligen und des Göttlichen. Brennend ist also die Frage: Wie können wir eine rechtmäßige Berufung auf ein Leben mit dem nahen Gott im Licht seiner Offenbarung unterscheiden von selbstgerechten, sogar verlogenem Missbrauch seiner behaupteten Gegenwart?5
In Anbetracht dieser Frage möchte ich zeigen, dass es möglich ist, christliche Formen von Zeitlichkeit anders zu lesen; genauer gesagt, dass es möglich ist, christliche Eschatologie zu de/colón/isieren. Dies soll in Form eines interdisziplinären Dialogs zwischen systematischer Theologie und amerikanistischer Kulturwissenschaft angegangen und entfaltet werden. Damit möchte ich einen Beitrag zum weiteren Voranbringen einer bislang in der deutschsprachigen 4 5
Walter Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham 2011, 168. Michael Welker, Gottes Offenbarung: Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012², 23.
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Theologie „nur sehr langsam anlaufende[n] Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Geschichte und Gegenwart mitsamt den aktiven und passiven Rollen der Theologien und Kirchen in dieser Geschichte“6 leisten. Konkret heranziehen möchte ich in diesem Kontext Catherine Kellers feministische Prozesstheologie und insbesondere ihre Vorstellung einer Konter-Apokalypse. Diese Perspektive soll dann mit mit dem Denken des Lateinamerikanisten Walter Mignolos verknüpft werden, vor allem mit seiner radikalen Forderung nach einer Relativierung (oder präziser: Relationalisierung) westlicher Epistemologie durch Eingehen auf einstmalig subalternisierte Wissensformen und bestände. In seinem Buch Local Histories / Global Designs (2012) formuliert Mignolo eine energische Kritik an der westlich-militanten Epistemologie und deren Konsequenzen. Anstelle dieser Epistemologie entwickelt er einen anderen Denkmodus, den er als „Grenzgnosis oder Grenzdenken“7 bezeichnet; eine alternative Form, auf die Phänomene der Welt einzugehen – unterfüttert von subalter(nisiert)en Vorstellungen von Wissensproduktion und basierend auf einem „epistemologischen disziplinären Ungehorsam“8 – die sich einsetzt für ein „Loslösung von hegemonischer Epistemologie (‚absolutes Wissen‘) und der Monokultur des Verstands in seinen westlichen Ausprägungen“9. Genauer gesagt deutet Grenzdenken auf ein „Denken [hin], das von intrinsisch dichotomen Konzepten ausgeht und nicht versucht, die Welt in Dichotomien zu ordnen“ und konstituiert damit „einen dichotomen Ort der Artikulation“10, der sich kategorischer Fixierung verwehrt und statische Wissenshierarchien ablehnt. Ich argumentiere, dass Kellers konter-apokalyptische Eschatologie eine Art von Grenzdenken darstellt. Das wird bereits mit ihrer Neudeutung der griechischen Wurzeln des Begriffs „Eschatologie“ ersichtlich: „eschatos bedeutet Rand“11. Ihr Denken bewegt sich also an den Rändern einer Tradition, die jahrhundertelang versucht hat, diese Grenze ins absolute Jenseits der Transzendenz zu verlagern. Beeinflusst vom Werk Jürgen Moltmanns betont sie die Relevanz christlicher Eschatologie für das Hier und Jetzt. Ihre Theologie situiert sich somit „in den Zwischenräumen einer reifenden … Tradition von renitenten und nicht vereinigten, beginnenden (Befreiungs-, feministischen/womanist/mujerista, ökologischen und postkolonialen) Theologien“12. 6 7
Michael Welker, Offenbarung, 34. Walter Mignolo, Local Histories / Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton 2012², 19. 8 Ebd., xvi. 9 Ebd., xvii. 10 Ebd., 85. 11 Catherine Keller, Apocalypse Now and Then. A Feminist to the End of the World, Minneapolis 2005², x. 12 Catherine Keller, Face of the Deep. A Theology of Becoming, New York 2003, 6.
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Das heißt, sie lehnt die klassisch-christliche Tradition nicht einfach ab, sondern beginnt eine spielerisch-kritische – manchmal sogar offen parodistische – aber dennoch stets wohlwollende Beziehung mit ihren Positionen, indem sie andere epistemologische Horizonte betont. Sie bezeichnet diesen Um-Gang als „eine relationale Sensibilität, d.h. eine Responsivität gegenüber einer unberechenbaren Vielzahl von Einflüssen“13. Dies gilt auch für ihre Neuinterpretation christlicher Vorstellungen der Apokalypse, wie sie in der Johannesoffenbarung beschrieben wird. Es ist ihr Wunsch, „zu kritisieren ohne nur zu opponieren; Ironie innerhalb der Tradition wertzuschätzen, und letztere um deren vermeintlicher Reinheitsliebe willen zu missbilligen; sich in einer fluiden Relation zu dem Text zu situieren, der sich selbst alarmierend mobil in verschiedenen Kontexten bewegt“14.
Anstatt nach der vermeintlichen Eindeutigkeit statistisch fixierter Wahrheit zu streben, besteht sie auf eine dynamische „konstruktive Ambivalenz“15 an den Rändern und elaboriert dazu wie folgt: „Dieser zitternde Rand bedeutet zugleich den kreativen Horizont all unserer Bemühungen und die kreatürlichen Begrenzungen, die von unserer ‚extremen‘ Sensibilität gesetzt werden. Die Ethik des Werdens muss sich im Grenzgebiet artikulieren, wo sich das fließende Potenzial jeder Aktualität und eines jeden Geschöpfes in Begrenzung realisiert“16.
Eschatologie nicht lediglich als die Lehre der letzten Dinge, sondern als andauernden Grenzgang zu denken, birgt damit das Potenzial, etablierte Doktrinen zu dekolonisieren und den christlichen Diskurs innerhalb einer sich immer mehr globalisierten Welt fruchtbar neu zu verorten. Kellers konter-apokalyptisches Grenzdenken „widersteht dem Abschluss des Lebens und des Kosmos, der sich durch einen unilateralen Glauben ergibt. Aber es tut dies nicht, um die Leidenschaft jemandes Glaubens stillzulegen. Vielmehr gibt diese Form des Denken Auf-Schluss über eine Unsicherheit und Unschlüssigkeit, denen nicht mit Sicherheit, sondern Glauben begegnet werden muss“17.
Anders ausgedrückt zeigt Kellers Denken, wie Dekolonisierungspotenziale innerhalb einer Tradition (wieder) gefunden werden können, welche die göttliche Handlung mit dem Ziel aneignete, grausamste Formen der Unterwerfung zu legitimieren; eine Tradition also, die im Europa der Gegenwart mittlerweile selbst immer mehr zu einem Randphänomen verkommen zu sein scheint. Keller zeigt jedoch, dass das Christentum vielleicht immer, in gewisser Weise zumindest, ein Grenzphänomen hätte bleiben sollen beziehungsweise immer eine Art Gratwanderung war und auch bleiben wird. 13 14 15 16 17
Ebd., 5. Catherine Keller, Apocalypse, 19f. Ebd., 24. Catherine Keller, Face, 7. Catherine Keller, Apocalypse, xii.
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Indem ich zeige, dass christliche Eschatologie von innerhalb des etablierten okzidentalen Zeitlichkeitshorizontes heraus (zu dem sie freilich auch maßgeblich beigetragen hat) die Dekonstruktion desselben vollbringen kann, möchte ich eine hoffnungsvolle Supplementierung zur Re/Vision planetarischen Zusammenlebens über den imperialistisch-westlichen Zeitrahmen hinausgehend aufschließen. Ich greife damit auch einen grundlegenden Gedanken aus Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung (1964) auf: Indem der christliche Glaube die ihn tragende Zukunftshoffnung aus seinem Leben ausschied und die Zukunft in ein Jenseits oder die Ewigkeit transportierte, die biblischen Zeugnisse, die er tradierte, aber randvoll von messianischer Zukunftshoffnung für die Erde sind, wanderte die Hoffnung gleichsam aus der Kirche aus und kehrte sich in welcher verzerrten Gestalt auch immer gegen die Kirche.18
Durch Bezug auf Colóns apokalyptischen Kolonialismus – kurz Colónialismus – entfalte ich exemplarisch eine Form der Hoffnungsverzerrung durch die imperialistische Vereinnahmung messianischer Ansprüche und weise darüber hinaus auf das auch heute noch ungeschmälerte Gefahrenpotenzial einer leichtfertigen Perpetuierung eurozentrischer Hoffnungsvorstellungen hin. Dies erfordert einen Auf-Schluss des Rahmens moderner westlicher Epistemologie und die Hinwendung zu fremden epistemologischen Horizonten.
2.
De/colón/isierung der Eschatologie
Um diesen Auf-Schluss vorzunehmen, möchte ich zunächst genauer auf die Zeit(lichkeit) Columbus’ und deren weitreichende epistemologische Implikationen eingehen. Zahlreiche idealisierte Berichte seiner Reiseerfahrung haben einen imperialistisch-ausgerichteten Eurozentrismus, der einem paradigmatischen Kolonialismus den Weg bereitete, wirkmächtig über den Atlantik befördert. Ella Shohat und Richard Stam verweisen auf das ganze Ausmaß des sorgfältig um die Person des „Entdeckers“ gesponnenen Mythos, der nicht zuletzt das Resultat einer gelungenen, mit dem Narrativ fein verwobenen Selbstdarstellung Columbus’ war: „Für viele Kinder in Nordamerika und anderswo ist die Geschichte Columbus’ totemisch. Sie führt sie nicht nur in die Konzepte der ‚Entdeckung‘ und der ‚Neuen Welt‘ ein, sondern auch in die Idee der Geschichte selbst“19. Somit umfasst seine „Entdeckung“ nicht nur eine Kolonisierung des Raumes, sondern auch eine Kolonisierung von Zeit: Das eine geht mit dem anderen einher. Und tatsächlich, erst Colóns spezifisches Zeitverständnis ermöglichte den colónialistischen Impuls. 18 Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 142005, 11. 19 Ella Shohat / Robert Stam, Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the Media, London 2001, 62.
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Wie seine Briefe zeigen, war Columbus, überwältigt von den natürlichen Reichtümern der Amerikas, fest davon überzeugt, das Paradies auf Erden gefunden zu haben. Weil dieser himmlische Raum jedoch nicht ohne Gottes Einwilligung betreten werden durfte, musste Colón folglich eine stichhaltige – also eine prophetische – Legitimierung für seine Reise vorbringen. Als ein offenbar dezidierter Kenner der Heiligen Schrift und des religiösen Diskurses seiner Zeit entwickelte er eine Strategie, die sich, wie Keller betont, an den Grenzen zur Blasphemie bewegte: Indem Colón die griechische Abkürzung für Christus zum Unterschreiben seines Namens als XRO-FERENS (‚Christusträger‘) benutze, nahm er einen neuen Identitätsmarker an. Durchtrieben formte er ‚Christopher‘, Patron der Seemänner (!), um, dessen Name er trug und der Christus über den Fluss trug, so wie Colón nun auch das Christentum über den Ozean. Durch die Annahme eines einzigen Namens im Stil der Heiligen und Adligen gab er sich selbst damit als messianisches Zeichen aus.20
Indem er sich selbst als lebendigen Verweis auf den Messias inszenierte, übersetzte Colón die christlichen Vorstellungen eschatologischer Zukunft seiner Zeit folgenreich in den Kontext der säkularen Ansprüche seiner Erkundungsmission und der daraus resultierenden Ausbeutung des amerikanischen Doppelkontinents. In Las Profecías, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, legte er seine ganz eigene „Schrift“ nieder, in der er die Vision von sich selbst als das von Gott auserwählte Werkzeug für die Christianisierung eines neuen Raumes formulierte: Mit Bezug auf die im Mittalalter in vielen christlichen Kreisen vorherrschenden Vorstellungen eines unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs beschreibt sich Colón als Quasi-Erlöser des Christentums schon vor der drohenden Apokalypse, nämlich sowohl durch die Konversion der Heiden in der ganzen Welt zum Christentum als auch durch die Aneignung des (vorgefundenen) Goldes, und zwar zur Finanzierung der Rückeroberung des Heiligen Grabs Christi von den Ungläubigen21. Er glaubte die eschatologische Zeit ihrer göttlichen Verfügung entreißen und in seine eigene Gewalt nehmen zu können, um seinen weltlichen Ambitionen legitim nachkommen zu können. So bereitete er den Weg für darauffolgende Aneignungen der Apokalypse, die dazu dienten, den westlichen Expansionismus zu autorisieren. Zusammen mit der Reconquista Spaniens von den Mauren markiert die sogenannte Eroberung der Amerikas demnach den Beginn des hegemonialen Anspruchs des Westens auf die Welt und damit den Anfang eines durch apokalyptische Teleologie unterfütterten Prozesses. Indem Keller schreibt,
20 Catherine Keller, Apocalypse, 161. 21 Vgl. Ebd., 160.
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„dass der Fall Colón … die Konfiguration des Kolonialismus, Sexismus, Rassismus, Kapitalismus, und der Religion aufweist, welche die Machtverhältnisse der Gegenwart untermauert“22,
antizipiert sie Mignolos Diagnose dessen, was er das „moderne/koloniale Weltsystem“23 nennt. Durch die Jahrhunderte hinweg hat sich der Westen seine Vorherrschaft erweitert und gesichert, indem er die Welt gewaltsam einem komplexen religiös-epistemologischen Rahmen unterworfen hat. Diese Unterjochung hat sich keinesfalls nur in der Beanspruchung von Raum vollzogen, sondern auch durch Diskreditierung abweichender Wissensformen – wie beispielsweise indigener Kosmologien – als primitive Kuriositäten und mündete somit oft in deren endgültige Auslöschung. Trotz eines nun weniger offen religiösen Charakters zielt diese epistemologische Haltung auch heutzutage noch immer auf eine möglichst weitreichende Beherrschung der Welt beziehungsweise der „Natur“ ab. Mignolo zeichnet diese Entwicklung treffend nach: Angefangen beim Projekt des Orbis Universalis Christianum über die Zivilisationsstandards am fin de siècle bis hin zur Globalisierung im 21. Jahrhundert waren globale Entwürfe das hegemoniale Projekt zur Verwaltung des Planeten.24
Bereits in den Gründungsmythen der Vereinigten Staaten lassen sich beispielsweise deutliche Spuren der kolumbischen Appropriationslogik verfolgen, insbesondere in der Reise der Puritaner an den Ort, den sie als ihr eigenes „Gelobtes Land“ wähnten. Tatsächlich wiederholte sich Colóns Apokalyptizismus mit der europäischen Besiedlungen Nordamerikas in vielerlei Hinsicht, wie Keller es beschreibt: „Colón initiierte das Ende einer Welt für die Erlösung seiner eigenen. Sein Blick war unerbittlich nach vorne gerichtet, wodurch er den Raum von seinen Bewohnern abstrahierte und ihren Ort seiner Zeit unterwarf “25. Ein colónialistischer Überlegenheitskomplex führte eine Teleologie von Fortschritt und Expansion ein, die sich innerhalb eines jegliche Form von Fremdheit nivellierenden Horizonts schlicht alles einverleibte. Die allmähliche Dezimierung der indigenen Bevölkerung konnte also trotz all ihrer Tragik als ein durch göttliche Weisung legitimiertes Zugrundegehen unter dem Räderwerk westlicher Zivilisation betrachtet werden. Bisher habe ich ausgeführt, dass die Kolonisierung von Raum erst durch die Kolonisierung von Zeit möglich wird. Wie genau allerdings passt das Verhältnis von Raum und Zeit in das colóniale apokalyptische Skript? Das Projekt der Kolonisierung wurde erst durch eine spezifische Trennung der Zeit von Räumlichkeit möglich. Kolumbus nutzte zeitgenössische Vorstellungen der Möglichkeit des Reiches Gottes auf Erden (und eben nicht nur in einem fernen Jenseits) aus, um seine eigenen Vorhaben als den Einbruch von göttlicher 22 23 24 25
Ebd., 152. Walter Mignolo, Local Histories, 12. Ebd., 21. Catherine Keller, Apocalypse, 166.
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Transzendenz in weltliche Immanenz auszugeben. Jedoch ist es bei Kolumbus nunmehr nicht Gott, der über apokalyptische Zeitlichkeit verfügt, sondern eben der sogenannte Entdecker selbst. Durch die Aneignung eschatologischer Symbolismen – und insbesondere des Christusmonogramms –, mit denen Kolumbus die Amerikas als ein weltliches Paradies beschreiben konnte, sowie durch den Missbrauch männlich-göttlicher Metaphorik beanspruchte er eine patriarchale Herrschaft über die Zeit, welche die Kommodifizierung des irdischen Raumes erst möglich machte. Aus dieser Perspektive erweist sich der lineare Fortschrittsgedanke, der schließlich das Leitprinzip der westlichen Aufklärung werden sollte und der oft noch immer den Antrieb moderner (Natur-)Wissenschaft untermauert, als nichts weniger als die Übertragung der Autorität Gottes in den Horizont menschlichen Handelns, genauer gesagt, das des weißen europäischen Mannes. Ausgerüstet mit geschlechtlich-flektierter, pseudo-göttlicher Handlungsmacht, die sich im weiteren Verlauf als Wahrheit der Vernunft verkleiden sollte, begann die okzidentale Kultur somit, sich über die Natur zu stellen. Oder, noch präziser formuliert, sie betrachtete sich als der Natur voraus, wie Mignolo erklärt: „Die Idee von Geschichte als ‚Zeit‘ verortete Gesellschaften auf einer imaginären, chronologischen Achse, von Natur zu Kultur, von Barbarismus zu Zivilisation, die progressiv auf irgendeinen Ankunftspunkt ausgerichtet ist“26.
In dieser Fortschrittsvision liest sich der Raum demnach als dem Zeitregime untergeordnet: Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis eine neue (wissenschaftliche) Entdeckung den Anbruch einer neuen Eroberung der Natur markiert. Dergestalt kündigt die okzidentale Teleologie, die sich zwischen den zwei Polen eines absoluten Anfangs und eines letzten Endes aufspannen lässt, wie es Keller beschreibt, „die fortschreitende Apokalypse des Raumes“27 an; und zwar, da der Raum, als Teil der Natur, auf ein Abhängigkeitsverhältnis verweist, von der die colóniale Vernunft sich durch eine Aneignung göttlich-absoluter Zeitlichkeit scheinbar selbst befreit hatte. Keller verdeutlicht den patriarchalen Charakter westlich-moderner Temporalität: In ihrer ‚maskulinen‘ Geburt jubelt die Zeit über die Emanzipation von allen Orten und mütterlichen Beschränkungen. Als geläuterte, von Natur und Supernatur reingewaschene Relationalität ist sie frei, sich hemmungslos derjenigen Materialität zu bedienen, die nicht länger ihren eigenen Ursprung verdirbt. Für die westliche Epistemologie markiert ‚Natur‘ nunmehr den Ort jedes ‘Anderen‘.28
Anders ausgedrückt, das colóniale apokalyptische Skript reperpetuiert die zentrale Dichotomie zwischen Natur und Kultur, die dem westlichen Denken oftmals eignet und die Kultur mit „zeitlich“ und Natur mit „räumlich“ attribuiert.
26 Walter Mignolo, Darker, 151. 27 Catherine Keller, Apocalypse, 143. 28 Ebd., 165.
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Durch diese Trennung von Zeit und Raum unterscheiden sich westliche Vorstellungen von Zeitlichkeit radikal von denen indigener Kosmologien. Die Europäer fanden in den beiden Amerikas Vorstellungen von Zeit vor, die untrennbar mit den Rhythmen der Erde verflochten waren. Dazu zählten die Rotation des Planeten, die Mondphasen, die Jahreszeiten mit Tag-und-NachtGleichen und die Sonnwenden. Die irreduzible Verbindung von Zeit und Raum wird auf Quechua und Aymara mit dem Begriff Pacha beschrieben, was so viel wie Tageslicht bedeutet, was aber auch den (Zeit-) Raum, in dem Vögel von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang fliegen können, bezeichnet. Die Inkas entwickelten ausgehend von Cuzco (dem Nabel der Welt) ein weit verzweigtes Netz horizontaler Linien, sogenannte seques, durch welche die soziale und räumliche Organisation gewährleistet werden konnte. Diese seques wurden an die Bewegung der Sonne angelehnt. Die Inkas verstanden die Landschaft selbst als eine Art Naturkalender, und erachteten auch sich als mit diesem verstrickt. Anstatt eine Trennung zwischen Kultur und Natur vorzunehmen, betrachtete sich die andine Bevölkerung ganz als Teil einer holistischen Kosmologie, in der Raum, Zeit, Leben sowie die Fruchtbarkeit der Erde miteinander verknüpft waren29. Die Zyklizität indigener Zeitlichkeitskonzepte lässt sich von der Unablösbarkeit der Zeit vom Raum deduzieren. Während sich die Europäer zumindest seit dem 16. Jahrhundert der Natur sowohl überlegen als auch voraus verstanden, galt für die Inkas, dass „Natur/Mensch eins waren und immer noch sind; sie sind ununterscheidbar “30. Es war diese enge Verbindung zur „Natur“, die Colón und darauffolgenden Generationen von Siedlern aus dem Westen half, indigene Völker und ihre Wissensformen und -bestände als primitiv und minderwertig zu klassifizieren und so gleichsam zu diskreditieren. Nun: so weit, so schlecht. Nach meiner vorhergehenden Analyse der Konsequenzen eines (angeblich) christlichen apokalyptischen Skriptes, welches die Blaupause für imperialistisch-westliche Expansion und die genozidale Ausrottung indigener Kulturen darstellte, scheint der Versuch, christliche Eschatologie zu de/colón/isieren, ein fragwürdiges Unterfangen zu sein. Wäre es da nicht einfacher, das (vermeintlich) problematische Narrativ, auf welches sich das Christentum gründet, als traditionell und damit irrelevant abzutun? Ich glaube nicht, dass das so einfach ist. Die Disqualifikation christlichen Denkens in vielen – vor allem europäischen – akademischen Kreisen heutzutage scheint mir, ironischerweise, nur eine weitere Verlängerung des apokalyptischen Skriptes zu sein, das die Kritiker des Christentums hinter sich zu lassen versuchen. Solange sich der sogenannte Westen trotz problematischer (Ver-)Leugnung nicht mit seiner religiösen Vergangenheit – und Gegenwart – auseinandersetzt, wird derselbe lineare Prozess, der die Colónisation befeuert
29 Vgl. Walter Mignolo, Darker, 165ff. 30 Ebd., 168.
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hat, weiterhin an Ort und Stelle verharren (und zwar zum Nachteil des gesamten Planeten). Eine Neubewertung christlich-dogmatischer Konzepte ist dringend erforderlich, denn, wie Keller sagt, „keine westliche, progressive Bewegung, und sei sie noch so unreligiös, kann … ehrlicherweise das bahnbrechende Vermächtnis biblischer Eschatologie auslöschen“31.
Und tatsächlich, ich glaube, dass ein frischer Blick auf die Eschatologie dazu beitragen kann, modernen Metastasen eines kruden colónialen Apokalyptizisums vorzubeugen. Ich möchte nun skizzieren, wie dieser Blick möglich sein kann. Die De/colón/isierung christlicher Eschatologie war schon implizit in dem enthalten, was ich bis hierher ausgeführt habe. Mit Unterstützung von Kellers Konzept der Konter-Apokalypse möchte ich dies nun explizieren. Vorläufig definiert sie diese wie folgt: Eine Konter-Apokalypse versteht sich selbst als eine Form der Apokalypse, jedoch wird sie versuchen, die Gewohnheit der letzteren abzulegen. Dabei wird eine Apo/kalypse suggeriert: einen gebrochenen, verzerrten Text, der missbraucht wurde und nur Offenbarung gewährt, indem er in einen Modus der Buße für ein Konstantinisches Christentum und deren koloniale Auswirkungen eintritt. Wenn Konter-Apokalypse irgendetwas offenbart, dann in Form einer ironischen Mimesis des unheilvollen Originaltons mit welchem sie tanzt und ringt.32
Mit anderen Worten bietet Keller durch ihre Argumentation aus einer feministischen, prozesstheologischen Perspektive einen nicht-oppositionellen, spielerischen Modus christliche Eschatologie über einen kruden „militanter Messianismus“33 hinaus (welcher Columbus’ Entdeckungswahn leitete) einzubringen. Durch ihre spielerisch- und ironisch andere Lesart zeigt sie, dass „[die] Öffnung [der Apokalypse] einen Auf-Schluss bedeutet – eine alternative apokalypsis, eine ‚Enthüllung‘ –, welcher das Drama des Jüngsten Gerichts kontert und der Aufkündigung des Lebens selbst widersteht“34. Dieser spirituelle Dialog Kellers mit dem Buch der Johannesoffenbarung als wesentliche Quelle für nachfolgende Apolalyptizismen zieht die erneute Aufmerksamkeit auf ein subversives Potenzial, welches aus dem Inneren des Texts und obendrein von innerhalb der Tradition selbst hervorgeht; buchstäblich ein Potenzial also, das „an den Rand bringt (an das eschaton)“35. Damit stellt Keller einen Modus zur Verfügung, die christliche Eschatologie dezidiert anders zu lesen. Folglich ist ein näherer Blick auf Kellers kritische Begegnung mit der Offenbarung vonnöten. Keller setzt mit dem Hinweis auf die Buchstruktur der
31 32 33 34 35
Catherine Keller, Apocalypse, x. Ebd., 19. Ebd., xi. Ebd., ix. (Hervorhebung im Original) Ebd., 23. (Hervorhebung im Original)
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Heiligen Schrift an, durch die, innerhalb proimperial-patriarchaler Ordnungsprinzipien, die ursprünglich als Schriftrollen eher kreisläufige Un/Ordnung der biblischen Texte, eingerahmt zwischen zwei Buchdeckeln, in eine nunmehr lineare Abfolge gepresst wurde. Ihr kritischer Ausgangspunkt ist ein faszinierendes Faktum: „das Paradoxon eines stur nicht-linearen Texts als Begründung der Karikaturen westlicher linearer Zeitvorstellungen“36. Für sie bedeutet dieses Paradoxon das Resultat patriarchaler Machtansprüche, die den Text selbst in bestimmte Bahnen leiten. Sie stellt das, was sie als eine hyper-maskuline Messiasfigur, identifiziert, welche die „Hure Babylon“ bekämpft, zur Disposition und verweist darauf, „[dass diese] frauenfeindliche Ikonographie des Buchs der Offenbarung keinerlei Ähnlichkeit mit den Evangelien aufweist“37. Es ist allerdings genau diese Fixierung auf einen ganz bestimmten Aspekt des Textes, die den Beitrag dazu leistete, die Kirche in eine imperiale Macht zu verwandeln, mehrdeutige Potenziale zu überspielen sowie ein geradliniges Narrativ von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht zu installieren. Keller beteuert: Eine derartig lineare Historizität hat mit hebräischem Zeitempfinden wenig zu tun, welches das Skript der Apokalypse noch immer bestimmt. Nach diesem Empfinden bewegt sich die Zeit zwar nach vorne, jedoch … eher ‚rhythmisch‘ als sequenziell.38
Weiter erklärt sie, dass die Offenbarung sich als kaleidoskopische Spiralen von sich überlappenden Septetten in fugenartiger Weise entfaltet: Obwohl das Narrativ sich vorwärtsbewegt, er/schließt es sich nicht in einer linearen, sondern vielmehr in einer „helikalen Zeitlichkeit“39, in der die Verstrickungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht schlicht geradlinig verlaufen. Indem sich Keller auf die helikale Form der Offenbarung beruft, zeigt sie jedoch, dass der als das letzte Buch der Bibel kanonisierte Text als eine subversive (subalterne) Präsenz innerhalb des okzidentalen Wissenshorizontes wirken kann. Wie Keller ebenfalls betont: „Die Offenbarung, die apriorische Annahme der Zeit als kausale Abfolge zu durchkreuzen, ist gleichbedeutend mit einer Erschütterung der Konstruktion des westlichen Historismus von innen.“40
Man kann also sagen, dass sie durchaus das Potenzial beherbergt, sich von der hegemonialen Westlichen Epistemologie abzulösen. Dass sich Keller in einem Nexus mit Mignolos Denken bewegt, wird noch deutlicher durch ihr Insistieren darauf, dass Zeit als eschatologische Helix nicht bloß rational verstanden
36 Ebd., 86. 37 Catherine Keller. God and Power. Counter-Apocalyptic Journeys, Minneapolis 2005. 107. 38 Catherine Keller, Apocalypse, 61. 39 Ebd., 61. 40 Ebd., 62.
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oder begriffen werden kann, sondern in gelassener (Ein-)Stimmung zu ihrer Spiralbewegung vernommen werden muss: „die Zeit zu spüren bedeutet einen Rhythmus zu haben und auf sensorische Veränderungen wie Atem und Puls zu achten, welche die flüchtige Dichte jedes Augenblicks unterstreichen“41.
Die Begegnung mit apokalyptischer Zeitlichkeit benötigt mit anderen Worten genau das, was Mignolo als „‚Sinnsensibilität‘“42 bezeichnet: eine Form der Welterfahrung, die gegenüber den verschiedenen körperlichen Arten sensueller sowie sensorischer Wahrnehmung empfänglich bleibt, um damit „in die Geschichte der Menschheit wieder das einzuschreiben, was von der modernen Vernunft, entweder in Form zivilisierender Mission oder einer Version des theoretischen Denkens, verdrängt wurde“43. In Bezug auf Kellers Konter-Apokalypse lässt sich dies dann entsprechend umformulieren: Christlich-eschatologische Zeitlichkeiten werden wirksam durch verkörperte Relationalität. Sie benötigen Inkarnation, denn sie verweisen immer schon auf die (körperliche) Versehrbarkeit Jesu Christi und nicht nur auf die Herrschaft des allmächtigen Vaters. Keller versteht die Menschwerdung Christi als einen Prozess, der die „Interdependenz aller Geschöpfe“ enthüllt und insistiert, dass „die Erhabenheit des inkarnierten Logos genau in der Erleuchtung des verleiblichten Wortes in jeder Kreatur der Schöpfung – und besonders in den geringsten liegt“44. Die Menschwerdung kann also in Kellers Sinne ähnlich dem verstanden werden, was Judith Butler unlängst als Prekarität des Lebens beschrieben hat. Prekarität umreißt hier eine Form des In-der-Welt-Seins mit anderen als körperliche Einheit in der jedes (Menschen-)Leben immer schon von einem unermesslichen Anwesen des Anderen (und zwar als andere Leiber) verwunden ist: Prekarität impliziert soziales Leben, d.h. die Tatsache, dass jedes Leben immer schon in den Händen eines anderen liegt. Dies impliziert ein Ausgesetztsein sowohl gegenüber den Menschen, die wir kennen, als auch gegenüber denen, die wir nicht kennen; eine Dependenz gegenüber Menschen, die wir kennen, kaum kennen, oder auch überhaupt nicht kennen.45
Kellers christologische Übertragung dieser Prekarität findet eine radikale Möglichkeit der Hoffnung enthalten in Butlers Vorstellung: bezogen auf die Menschwerdung Gottes in Christus impliziert die prekäre leibliche Existenz ein Sein nicht nur in den Händen anderer Menschen, sondern auch in denen des lebendigen Gottes, im Hier und Jetzt der Interdependenz der Schöpfung. Inkarnation konstituiert für Keller nicht nur ein einmaliges Ereignis, sondern 41 42 43 44
Ebd., 130. Walter Mignolo, Local Histories, xi. Ebd., 110. Catherine Keller, On the Mystery. Discerning Divinity in Process, Minneapolis 2008, 152. (Hervorhebung im Original) 45 Judith Butler, Frames of War. When is Life Grievable?, London 2010, 14.
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re-initiiert eine gemeinschaftlich planetarische Dynamik eines helikalen unaufhörlichen Werdens zwischen der Ankunft und Rückkehr Jesu Christi: „Das Kommen und Werden Gottes ereignet sich im endlosen Prozess der Interaktion am Rand der Geschichte“46. Anders ausgedrückt erscheint Christus vielmehr als ein Prozess innerhalb eines verkörperten Strebens nach Befreiung und Gerechtigkeit in der Immanenz prekärer planetarischer Verschränkungen. Indem sie die leibliche Dimension der Apokalypse durch den Verweis auf die Inkarnation Christi unterstreicht, zeigt Keller, dass sich Zeit (auch) im Buch der Offenbarung immer wieder in einer irreduziblen Verbindung mit dem Raum entfaltet. In ihrer Konter-Apokalypse ist Zeit nicht von Raum abstrahiert und Raum keinem Zeitregime unterworfen. Sie argumentiert, dass „kein Mensch, der diese Erde bewohnt, und sei er auch noch so urban geprägt, kann sich ehrlicherweise von all den Häuten, Flüssigkeiten und Gerüchen des ErdKörpers abstrahieren, dessen Teil er ist“47.
Keller setzt sich für eine erneute Erdung christlicher Eschatologie ein, die innerhalb des kolonialistisch-apokalyptischen Skriptes in eine Suche nach abgehobener planetarischer Dominanz pervertiert wurde. Von indigenen Perspektiven beeinflusst, erklärt Keller, dass „eine Spiritualisierung des Ortsbewusstseins beziehungsweise ein Achten auf den Geist eines Ortes, sich möglicherweise als entscheidende Kraft erweisen wird, um die Anstrengung für Veränderung jenseits ihres apokalyptischen Moments bloßer Revolution zu erhalten und Eschatologie in Inkarnation zu gründen.“48
Um ihr Argument jenseits eines geschlossenen westlichen epistemologischen Gestells zu entfalten, greift sie auf indigene Kritiker und Schriftsteller, wie zum Beispiel Paula Gunn Allen und Leslie Marmon Silko49, zurück und insbesondere auf deren Beschreibung indigener Zeremonien, in welchen Zeit und Raum sich als dynamische Verwebungen konfigurieren. Keller schreibt dazu: „Rituelle Zeit vermählt menschliche und kosmische Geschichten und spiegelt damit vielleicht eine präapokalyptische Zeit wider, die manchmal noch als Echo im sakramentalen Zeitempfinden christlicher ritueller Erinnerung widerhallt. Feministische christliche Rituale haben genau deswegen häufig Widerstand hervorgerufen, weil sie versuchen – wenn auch manchmal ungeschickt – einige elementare Rhythmen, verdrängte Präsenzen und zeitliche Orte zurückzuerlangen.“50
Auf diese Weise, argumentiert sie, dass sich christliche Eschatologie durch die Verknüpfung mit der Inkarnation immer wieder innerhalb einer intensiven, helikalischen Raum-Zeit oder eines Zeit-Raumes entfaltet und damit niemals nur als lineare, die Räumlichkeit unterdrückende Zeitspanne. Diese Verbindung wird passenderweise in der Struktur des Kreuzes symbolisiert: An den 46 47 48 49 50
Catherine Keller, Mystery, 153. Catherine Keller, Apocalypse, 175. Ebd., 176. Vgl. Ebd., 58.135. Ebd., 137.
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Schnittstellen der Balken treffen Zeit und Raum aufeinander; das Endliche und das Unendliche verwinden sich. In Christus – immer schon Alpha und Omega zur gleichen Zeit – bewegt sich christliche Eschatologie in einer Zwischenzeit innerhalb derer das eschaton die immanente Zeitlichkeit bereits jetzt durchwest. Sie denkt damit nicht in einer starren binären Opposition von Diesseits und Jenseits, sondern, mit Mignolo gesprochen, aus dem chiastischen Spiel des dichotomen Zwischenorts von Transzendenz und Immanenz, ohne jemals nur das eine oder das andere gegeneinander auszuspielen. Keller schließt daraus, dass „Zeit zu empfinden dann bedeutet, auf die Ambiguität am Rand, d.h. die permeable Grenze zwischen Jetzt und Dann zu achten, die gleichzeitig das eschaton zwischen Selbst und Anderen bildet“51.
Als Modus sinnlich-sensiblen Denkens entfaltet die Apokalypse eine Möglichkeit, die im apokalyptischen Skript verleugnet wird, nämlich die Rückkopplung der Eschatologie an den Rhythmus der Natur. Das bedeutet allerdings nicht, dass Keller christliches Denken einfach mit indigenen Kosmologien verknüpft oder diese bloß in ein christliches Narrativ einverleibt. Die Konter-Apokalypse bewahrt die eschatologische Form des helikalen, vorwärtsgerichteten Moments: „Generell zeichnet sich Eschatologie durch ihre Empörung gegenüber Ungerechtigkeit aus, d.h. durch ihre prophetische Kritik am Status Quo, ihr Privileg der Zukunft als Horizont der Erneuerung und ihr historisierendes Zeitverständnis. Durch all dies unterscheidet sich Eschatologie dramatisch von agrarischen Narrativen des zyklischen Todes und der Erneuerung, obwohl sie deren Rhythmen widerhallt“.52
Durch das Vornehmen einer kritischen Um-Rahmung des problematischen Androzentrismus (in) der Offenbarung, der erst die Zurichtung christlicher Eschatologie als eine colónialistische Zivilisierungsmission der Amerikas ermöglichte, schließt Keller das Potenzial der Apokalypse, auf soziale Gerechtigkeit hin weiterzuarbeiten, wieder auf und eröffnet damit gleichsam die Möglichkeit eines Dialogs zwischen einst als inkompatibel erachteten Kosmologien. Sie betont deshalb den Widerstand eines quasi-kolonisierten Volkes im johanneischen Buch der Offenbarung gegen die imperialistische Macht des Römischen Reiches und dessen globale Hegemonialentwürfe; eine Macht, die den späteren europäischen Colónialismus bereits präfiguriert.53 Im Einklang mit Befreiungstheologien sieht Keller Protestbewegung(en) und Rufe nach sozialer Gerechtigkeit in einer häufig vernachlässigten Passage der Offenbarung, welche die Empfindungen der während der Herrschaft des Römischen Reiches getöteten Märtyrer beschreibt: 51 Ebd., 133. 52 Ebd., 20. 53 Vgl. Ebd., 126.
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„Und als es das fünfte Siegel auftat, sah ich unten am Altar die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnisses willen. Und sie schrien mir großer Stimme: Herr du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Offb 6,9f)
Für amerikanische Mainline-Exegeten passen diese Verse, genau wie die darin scheinbar enthaltene Rachsucht, nicht zur Betonung von göttlicher Liebe und Gnade in den Evangelien. Keller hebt allerdings den gemeinschaftlichen Aspekt dieser Passage hervor, der ein anderes Licht auf das Empfinden von Wut und Empörung wirft; ein dezidiert sozialer Aspekt, den eine subjektivierte Theologie, die nur auf die Erlösung des Individuums abzielt, niemals in Erwägung ziehen kann und wird. Keller besteht auf den immanenten Charakter der Erlösung, wenn sie erklärt, dass „das Alter-Ego stellt kein ordentlich maßgeschneidertes Leben nach dem Tod bereit. Das globale System der Verfolgung muss erst überwunden werden, ehe Erlösung realisiert werden kann. Anders ausgedrückt bleibt Erlösung immer noch als sozialer Prozess konstruiert. Jedoch eitert der textuelle Pathos ‚unter dem Altar‘ – d.h. unter dem Heiligtum sozialer Oberflächen oder liturgischer Ordnung – im Schatten einer körperlosen Unterseite, die höllisch, aber nicht Hölle, dazwischenliegend aber nicht fegefeurig ist und sich als unheilbar auf Ebene des Egos oder Individuums erweist.“54
Im Gegensatz zu den Verfechtern einer lediglich persönlichen und individuellen Erlösung, oder Spiritualität im Allgemeinen, zeigt Keller, dass dieser Ruf nach Vergeltung aus der Position der Verdammten dieser Erde heraus, die unter sozialer Ungerechtigkeit gelitten haben oder heute immer noch leiden, verständlich wird. Es ist der Ruf nach einer fortwährenden Beachtung ihrer Sorgen und Forderungen. In dieser dunklen Szene unter dem Altar erkennt sie einen Ausdruck zurückgewiesenen Leides und Wut, in Reminiszenz sowohl an das koreanische Konzept des Han, als auch an indigenen Widerstand gegen andauernde, destruktive Kolonialisierung55. Kellers Konter-Apokalypse wirkt als Nachhall von Befreiungstheologien und deren Dekonstruktion einer scharfen Trennung von Himmel und Erde und umreißt „eine Theologie, die in ihrem Protest gegen mit den Füßen getretene Menschlichkeit, in ihrem Kampf gegen die Ausbeutung des Großteils der Menschheit ihrer befreienden Liebe und dem Erbauen einer neuen, gerechten und kameradschaftlichen Gesellschaft offen ist für das Geschenk des Reiches Gottes.“56
Erlösung als ein durch die Liebe Gottes inspirierter, andauernder Prozess der Befreiung reicht immer schon in das immanente Hier und Jetzt hinein und ist nicht nur beschränkt auf ein Dort und Dann. Folglich wird klar, wie Keller 54 Ebd., 58. 55 Vgl. Ebd., 57f. 56 Gustavo Gutiérrez, A Theology of Liberation. History, Politics, and Salvation. Maryknoll 1988², 12. Auf deutsch erschienen als: Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung. Aus dem Spanischen von Horst Goldstein, Ostfildern 1992.
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darauf insistieren kann, dass die Rache Gottes nicht gegen die Menschen selbst gerichtet ist, sondern gegen die von ihnen perpetuierte Ungerechtigkeit. Für sie bedeutet das, dass die Passage aus der Offenbarung einen subtilen Unterschied zwischen Gottes Rache und Gottes Gerechtigkeit entfaltet, der je nach Blickwinkel anders wahrgenommen wird. Keller schreibt, dass „die notwendigen Veränderungen sich für diejenigen, die am meisten von der Ungerechtigkeit profitieren, wie die Hölle anfühlen werden: der Zusammenbruch ihrer Privilegien ist ihre Strafe“57.
Die Vergeltung und Gerechtigkeit Gottes streben nach dem Wohlergehen der Schöpfung als Ganzes und sind als solche auf vergöttlichte, anthropozentrische Herrschaftsentwürfe gerichtet, die keine Nächstenliebe pflegen, sondern lediglich Fremdenhass; derartige imperialistische Entwürfe also, welche die Vision westlicher Christlichkeit lange Zeit bestimmt haben. Das Reich Gottes manifestiert sich nicht in der Herrschaft einer imperialistischen Kirche, sondern scheint immer in der Befreiung der Unterdrückten, Leidenden und Subaltern(isiert)en hevor. Obwohl in einem anderen Kontext, reflektiert Kellers Argument die Stimmen der lateinamerikanischer Christen der Sechziger Jahre, „[welche] forder[te]n, dass die Kirche ihre Verbindungen zu einer ungerechten Ordnung bräche und sie forder[te]n dies, um sich mit einer erneuerten Treue gegenüber dem Herrn, der die Kirche ruft und gegenüber dem Evangelium das sie verkündet für die einzusetzen, die Not und Mangel leiden.“58
Damit erinnert die Konter-Apokalypse vor allem an die vor-imperiale Unterdrückung früher Christen, die zuallererst den eschatologischen Widerstand sowie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft entfachte – eine Zukunft nicht (nur) in einem entfernten Jenseits, sondern auch auf der Erde, deren Teil ein jeder bereits jetzt ist.
3.
Christliche Zeitlichkeiten anders denken
Damit möchte ich nun zum Ende meiner Ausführungen kommen. Obwohl ich mir bewusst bin, dass es mir nur möglich war, das Potenzial einer Revision christlicher Eschatologie grob zu umreißen, hoffe ich dennoch gezeigt zu haben, dass eine Verleugnung des christlichen Vermächtnisses des Westens (innerhalb des sogenannten „Abendlandes“) das Ausmaß seines Einflusses auch auf säkulare, kryptisch-apokalyptische Logiken unterschätzt. All die Prä-undPost-Suf-Fixierungen, die über die disziplinäre Landschaft hinweg den akademischen Diskurs auch in den Geisteswissenschaften beherrschen, können als
57 Catherine Keller, Apocalypse, 58. (Hervorhebung im Original) 58 Gutiérrez, Liberation, 61.
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erneute Um- und Fortschreibungen des apokalyptisches Skriptes Colóns gedeutet werden (obwohl sie sich freilich oft gerade gegen derartige Hegemonialismen richten wollen). Darum müssen sie sich zumindest auf mögliche Komplizenschaft mit demselben überprüfen lassen. Jedoch besteht in den Kulturwissenschaften beispielsweise die Tendenz zu einer unilateralen Ablehnung alles dessen, was sich „christlich“ schimpft, ohne jedoch das damit pauschal Abgelehnte jemals auf Potenziale diesseits seiner ideologischen Zurüstung befragt zu haben; aber vielleicht ist dies auch schlichtweg zu viel von diesen Disziplinen verlangt. Gerade hierin kann allerdings eine Chance für eine neue Theologie bestehen, die sich nicht davor scheut, die Einsichten einer kulturwissenschaftlichen Perspektive in die theologische Reflexion vermehrt und fruchtbar einzubeziehen. Allzu oft werden derartige Fragestellungen in der traditionellen Theologie allerdings noch immer als bestenfalls marginal behandelt oder sogar bloß belächelt. Eine radikale Veranderung der noch immer weitestgehend hegemonialen patriarchalen Ordnung der Kirchen und der Theologie sind dringend erforderlich. Und dies kann geschehen, wenn insbesondere bezüglich der Eschatologie, wie ich versucht habe auszuführen, der Verweis auf das Jenseitige immer schon mit einer starken Betonung des Spannungsverhältnisses mit der Diesseitigkeit des Reiches Gottes gelesen wird; das heißt, wenn das Reich Gottes sich auch in den komplexen soziokulturellen Konfigurationen pluralistischer Gesellschaften (wieder-)erkennen lässt und diese nicht aus einer verabsolutierten Perspektive nur noch bewertet. Eschatologie ist, strenggenommen, immer schon Grenzdenken. Hier scheint es aber, dass die deutschsprachige Theologie, und insbesondere die protestantischen Varianten, sich erst ihrer eignen planetarischen Verstrickungen erst noch mehr, beziehungsweise erneut, bewusstwerden muss: auch sie ist (nur) ein Teil des globalen Leibes Christi. Und aus dieser körperlich-verstrickten Katholizität einer de-zentralisierenden-planetarischen Relationalität gilt es zu denken. Im besten Fall lädt dann eine Revision der christlichen Eschatologie dazu ein, ein Wagnis einzugehen und einen Grenzgang zu vollziehen anstatt sich einfach zurückzulehnen und sich wieder auf einer Seite von sich fortwährend entgegengesetzten Anfängen und Enden einzurichten. Christliche Zeitlichkeiten anders – nämlich konter-apokalyptisch – zu denken, bedeutet nicht die erneute tote Setzung einer monolithisch-transzendenten Wahrheit gegenüber vielen anderen, und vermeintlich weniger legitimen, Wahrheitsansprüchen, sondern ein Beharren auf lebendige planetarische Verwicklungen. Hier lohnt es sich, kurz zu Welkers eingangs zitierter fundamentaler Frage nach der Unterscheidung zwischen göttlicher Offenbarung und deren Missbrauch zurückzukehren. Die Einsichten der Prozesstheologie haben gezeigt, dass auf diese Frage keine einfache, abgeschlossene Antwort genügen wird. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt in der enormen Komplexität des problematisierten Sachverhalts, sondern vielmehr in der noch wesentlich unfassba-
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reren Immensität der Natur Gottes, welche diese Frage zu allererst hervorbringt. Sie kann daher nicht aus dem abgeschlossenen Horizont des westlichen Denkens heraus beantwortet werden. Meine Ausführungen haben gezeigt, dass der Missbrauch der Offenbarung Gottes aber mit einer epistemologischen Haltung einhergeht, die genau dies propagiert und damit die Rede von Gott bestimmt und reguliert. Indem die westliche Vernunft in einer exklusiven Allmachtsgeste die Verfügungsgewalt über die Offenbarung Gottes behauptet, hat sie sich bereits selbst zum Gott gemacht und stellt die Enthauptung Christi als Haupt der Gemeinde dar. Heruntergebrochen auf den Horizont der Vernunft wird der Ruf des christlichen Logos in einen Monolog der ratio verkehrt. Wo göttliche Berufung derart in menschliche Behauptung verkehrt wird, erscheint aufhorchender Dialog mit Gott und der Welt unmöglich. Auch in der Theologie tritt dieses Problem, das die Un-Heilsgeschichte des Christentums seit Jahrhunderten maßgeblich prägt, immer wieder dann zutage, wenn aufkommende Strömungen selbstgerecht als moralistisch, politisierend oder aktivistisch abgetan werden. Um auf Welkers Frage angemessen einzugehen, ist also zunächst eine Öffnung des theologischen Diskurses selbst vonnöten. Er muss in gewisser Weise „fremdgerecht“ werden. Dies jedoch erfordert einen decolónialen Auf-Schluss des Vernunftsmonologs zugunsten einer responsiven Hingabe in den nachhaltigen, andauernden Dialog mit Gott und seiner Welt. Eine weitere Ausführung dieser Thematik soll künftig in einem breiten Rahmens unternommen werden. Kellers Konzept der Konter-Apokalypse steht in Einklang mit Mignolos Vorstellung, wie Dekolonisation gedacht werden kann. Und tatsächlich, mit der Dekonstruktion eines kruden Alpha-Omega-Skriptes antizipiert Keller Mignolos Beharrlichkeit darauf, dass „mögliche dekoloniale Zukunftsentwürfe können nicht mehr von einer universalen Perspektive aus gedacht werden, die in einer hegemonialen Vorstellung, bestimmt von linearer Zeit und letztendlichem Ziel, ankert. Mögliche dekoloniale Zukunftsentwürfe werden als ‚diversal‘ (oder ‚pluriversal‘, wenn man so will) vorgestellt werden, was natürlich impliziert, dass Philosophien der Zeit … in den Rhythmen des Universums verankert und allen Lebewesen gemein sind.“59
Mit Bezug auf ihre Lektüre der sozialen Dimensionen der Erlösung als Prozess der Befreiung begreift Keller christliche Zeitlichkeit als relational. Im helikalen Geist der Konter-Apokalypse ist Zeit nie die Zeit des Einzelnen, genau wie (die) Erlösung niemandes alleinige Erlösung ist. Die Zeit des Selbst, gedacht als ein sich rhythmisch fortbewegender Moment, wird immer schon durchdrungen von der Zeit, und eben auch als die Zeit, des Anderen. Anders ausgedrückt, die Abfolge von Zeit erscheint innerhalb Kellers verflochtener Teleologie als eine dynamische Konfiguration von Differenz(en) in einer Serie irreduzibler Relationalitäten, weswegen
59 Mignolo, Darker, 174.
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„das Individuum als das Subjekt, das anders ist von allen anderen, nur für einen Moment oder eine kurze Weile der Unteilbarkeit oder der Verkörperung einer Gegenwart, die nicht nur ein Jetzt-Punkt oder eine nicht gewundene Linie darstellt, sondern eine komplexe öko-soziale Verordnung, existiert.“60
In der Konter-Apokalypse als eine verkörperte und sinnlich-sensitive Form der Eschatologie (be)grenzt die Zeit des Selbst, genau wie die Erlösung des Selbst, immer schon (an) die Befreiung des und der Anderen. In Kellers Darstellung konstituiert christliche Eschatologie deshalb buchstäblich eine Form des Grenzdenkens; eines Denkens vom dichotomen Ort einer unzertrennlichen Verbindung des Selbst mit anderen, was das volle Ausmaß Gottes erlösender Gnade andeutet. Das Kreuz als Symbol der Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen markiert somit gleichzeitig eine Vereinigung der Zeitlichkeit des Selbst mit der Zeitlichkeit des Anderen als immer verbunden in Gottes Liebe. Keller bringt das folgendermaßen auf den Punkt: „die Grenzen des (eigenen) Seins sind zu jedem Augenblick die Grenzen der (eigenen) Zeit: indem die Eschatologie ihre Fragen kollektiver Endlichkeit stellt, trifft sie uns alle in den kleinen Akten der Zeitigung, die für unseren Lebensrhythmus und den Rhythmus unserer Beziehungen konstitutiv sind. Rand, eschatos, Begrenzung oder Öffnung, Grenze oder Freiheit: wir können keine Zeit ohne Ränder verspüren.“61
Im Gegensatz zu Mignolos Überzeugung hält sie damit die Option der Ablösung von westlicher Epistemologie von innen heraus bereit. Präziser ausgedrückt bewegt sich Keller mit ihrer deutlichen Hervorhebung von Relationalität im Konzept der Konter-Apokalypse innerhalb Mignolos Forderung und dekonstruiert diejenigen Inklusions- und Exklusionsmechanismen, welche die globalen Entwürfe westlicher Hegemonie geleitet haben. Innerhalb der konterapokalyptischen Eschatologie wird der sogenannte Westen seiner vermeintlich privilegierten Position enthoben, die durch die wiederholte Aneignung gottähnlicher Autorität erst erreicht wurde. Der Westen erscheint als nur ein Teil einer tiefgreifend zusammenhängenden Schöpfung mit dem Bedürfnis nach befreiender Erlösung. Mit anderen Worten, das Aufrütteln westlicher Historizismen von innen heraus umfasst nicht einfach eine Hinwendung zu einer anderen Konzeptualisierung von Zeitlichkeit bei gleichzeitiger Ablehnung vorhandener Konzepte. Das würde nämlich lediglich in einer erneuten Hinwendung zum kolonialistisch-apokalyptischen Skript resultieren, oder, wie Mignolo es zuspitzt: „Wenn das der Fall sein sollte, würden wir mutatis mutandi innerhalb der Spielregeln verweilen, die von der westlichen Moderne durchgesetzt wurden als der Säkularismus sich den hegemonialen Diskurs der Kirche aneignete“62.
60 Catherine Keller, Apocalypse, 134. 61 Ebd., 134. (Hervorhebung im Original) 62 Walter Mignolo, Darker, 176. (Hervorhebung im Original)
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Christliche Formen von Zeitlichkeit verandert von innerhalb der christlichen Tradition zu denken legt also vielmehr offene, nicht-aufgezwungene Potenziale für einen fortwährenden und responsiven Dialog zwischen dem Selbst und dem Anderen frei. Oder wie Keller es formuliert: „Ihre hermeneutische Vielzahl zu affirmieren anstatt sie zu verdecken bedeutet das Bewahren eines heiligen Raumes für all die Vielzahlen, aus der das Netz der Schöpfung gewoben ist“63.
Nochmals verandert ausgedrückt: innerhalb der spiralartigen Bewegung der Konter-Apokalypse werden verschiedene Bedeutungen von Zeit in einem Tango sich stets verändernder planetarischer Kon-Figurationen nicht relativiert, sondern relationalisiert. Um Keller nochmals das letzte Wort zu geben, eine konter-apokalyptische Eschatologie ist – weder zyklisch, noch linear, aber beides und keines von beidem zugleich – „lediglich eine von vielen möglichen Strategien zur Stabilisierung der unsentimentalen Bedingungen eines Lebens, das in der Gegenseitigkeit, die durch Differenz erst gewährt wird, gelebt wird, ein Weg also, sich eine nachhaltige, gerechte und liebenswerte Zukunft zu ersinnen, indem man diese bereits jetzt lebt. Es gibt keinen Weg Dorthin als das Hier und Jetzt. Am letzten ‚Ende‘ einer Geschichte, welche die Gegenwart verdrängt, vertilgt und verschließt, gründet (ohne jedoch zu begründen) das Öffnen der Gegenwart, als der einzige Ort der Erinnerung und Hoffnung, die politische Arbeit des Auf-Schlusses.“64
63 Catherine Keller, Face, 5. 64 Catherine Keller, Apocalypse, 30.
Postkoloniale Theologie nach der Shoah? Eine Analyse von Täter- und Opfer-Vorstellungen als Beitrag zu einer postkolonialen Theologie in Deutschland Sabine Jarosch
Ich möchte in diesem Text die Idee zu einer selbstkritischen postkolonialen Theologie in und aus Deutschland skizzieren, die fähig ist, eigene Täter_innenanteile zu akzeptieren und kontinuierlich an ihnen zu arbeiten. Dabei geht es mir nicht nur um die selbstkritische Auseinandersetzung der deutschen Theologie mit ihren eigenen kolonialen Fortschreibungen, sondern prospektiv auch um eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition der Judenfeindschaft innerhalb der kolonialkritischen und postkolonialen Theologien selbst. Ich versuche folglich zwei Themenkomplexe aufeinander zu beziehen, die üblicherweise in einem kontroversen, wenn nicht antagonistischen Verhältnis zueinander stehen. Wenn ich dies entlang von Vorstellungen von Opfer- und Täterschaft tue,1 dann deshalb, weil ich davon ausgehe, dass es Diskrepanzen zwischen theoretisch hochdifferenzierten Auseinandersetzungen um diese Kategorien in den postkolonialen Studien einerseits und ihrer konkreten Durchführung andererseits gibt.2 Ich verstehe den Text als Wagnis, als unabgeschlossene Suchbewegung. Er ist auf das Gespräch und den Austausch mit anderen Stimmen angewiesen. In einem ersten ausführlichen Teil analysiere ich Vorstellungen über Opfer und Täter_innen in der deutschen Zeitgeschichte und deren Bearbeitung in deutschsprachiger PostShoah-Theologie, um dadurch auf ein Problemfeld hinzuweisen: die Suche nach Entlastung von Täterschaft und den ambivalenten Wunsch, auf der Seite der Opfer zu stehen. Aus der Analyse formuliere ich zweitens Konsequenzen für eine postkoloniale Theologie in Deutschland, um zum Schluss einen möglichen konstruktiv-theologischen Umgang mit Täter-Opfer-Vorstellungen am Beispiel einer postkolonialen Theologie anzudeuten. 1
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In der Rede über das Opfer folge ich dem komplexen Opferbegriff, wie ihn Maria Moser entwickelt hat. Dieser denkt das Opfer nicht rein passiv, sondern gesteht ihm_ihr agency zu. Auch wird die Spannung zwischen strukturellen Dimensionen des tatsächlichen Opferseins (victim) als auch handlungsermächtigenden (aber auch -entmächtigenden) theologischen Selbstdeutungen des Opferbringens als sacrifice bedacht. Vgl. Maria K. Moser, Opfer zwischen Affirmation und Ablehnung. Feministisch-ethische Analysen zu einer politischen und theologischen Kategorie (StdM 34), Wien/Berlin 2007, 458–488. Diese Problematik bearbeite ich ausführlich in meinem Promotionsprojekt.
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Zunächst einige Vorbemerkungen: Warum gehe ich im Zusammenhang mit postkolonialer Theologie überhaupt auf die Shoah ein? Ich sehe hier sowohl hermeneutische als auch materiale – historische und erinnerungskulturelle – Zusammenhänge. Auf einige materiale Verbindungslinien zwischen Shoah und Kolonialismus werde ich noch zu sprechen kommen. Der hermeneutische Zusammenhang erwächst aus dem Anspruch, das eigene Theologietreiben zu kontextualisieren und sich dabei selbst zu positionieren, sowohl angesichts der Shoah als auch des Kolonialismus. Verschiedene Befreiungstheologien und die feministische Theologie haben bereits vor Jahrzehnten auf die Perspektivität von Wissen(sproduktionen) und die Unmöglichkeit von Neutralität (aufgrund stets vorhandener Machtund Herrschaftsstrukturen) aufmerksam gemacht. Gregor Taxacher spricht davon als der „kontextuellen Wende“ in der Theologie.3 Es ist daher kein Zufall, dass in den 1960er und 70er Jahren mitunter die gleichen Theolog_innen, die sich der Befreiungstheologie Lateinamerikas zuwandten, hierzulande eine Theologie nach Auschwitz entwickelten. Es entstand ein Gespür dafür, dass eine Kontextualisierung des eigenen Theologietreibens nicht allein eine Herausforderung für die ‚fernen‘ Kontexte der ‚Dritten Welt‘ ist, sondern auch verstörende und aufwühlende Fragen an die eigene theologische Praxis in Deutschland aufwirft. Auffällig bleibt laut Taxacher allerdings, dass die gleichzeitige Bearbeitung der Themenkomplexe um die Entkolonialisierung der Mission einerseits und die Erkenntnis um die jüdischen Wurzeln des Christentums und seiner antijüdischen Gewaltgeschichte andererseits, obwohl teilweise von denselben Personen betrieben, auf reflexiver Ebene seltsam unverbunden blieben.4 In postkolonialen Theorien wird die Kontextualisierung von universalistisch auftretendem Wissen noch einmal neu eingefordert. Dipesh Chakrabarty hat das prägnant auf die Formel gebracht: „Provincializing Europe“.5 Der programmatische Buchtitel lässt auf eine Fokussierung, teilweise vielleicht eine Verschiebung des Blickwinkels in der Theorieproduktion schließen: Statt in erster Linie auf die Geschichten der Opfer von Kolonialismus und Ausbeutung zu schauen, wird die Aufmerksamkeit auf die Verursacher, die Profiteurinnen
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Vgl. Gregor Taxacher, Fanal und Geschichte. Plädoyer für eine „Globalisierung“ der Theologie nach Auschwitz, in: Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt 2001, 68–94, hier: 71. Vgl. Ebd. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, herauszufinden, warum unterschiedlichste kontextuelle Theologien wie andine Theologie z.B. aus Bolivien, womanistische Theologie aus den USA, Minjung-Theologien aus Japan, Dalit-Theologien aus Indien oder postkoloniale Theologien nebeneinander aufgezählt werden können, Theologien nach Auschwitz oder Post-Shoah-Theologien in diesen Aufzählungen oder auch in entsprechenden Sammelbänden i.d.R. aber fehlen. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.
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und Mittäter des kolonialen Systems in allen seinen Kontinuitäten bis heute gerichtet. Es ist interessant, dass sich eine parallele Entwicklung bei den Weiterentwicklungen der Befreiungstheologien und den Theologien nach Auschwitz auftut, nämlich hin zu postkolonialen und Post-Shoah-Theologien: Beide betonen die Notwendigkeit zur selbstkritischen, sich selbst positionierenden Auseinandersetzung mit (Mit-)Täterschaft.6 Auch also, weil sich die gegenwärtigen Post-Shoah-Theologien dem Kontext Deutschland als einem Land (der Nachfahren) der Täter und Täterinnen widmen, werden sie zu einer wichtigen Gesprächspartnerin bei der Frage nach einem deutschen Beitrag zur postkolonialen Theologie.7 Ich plädiere dafür, die beiden Themenkomplexe nicht 6
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Manche dieser Diskussionen wurden in der selbstkritischen Auseinandersetzung der feministischen Theologie in Deutschland mit ihrem eigenen Antijudaismus/Antisemitismus und Rassismus, die in weiten Teilen der deutschsprachigen feministischen Theologie zur Hinwendung zu intersektionalen Arbeitsweisen geführt hat, teilweise vorweggenommen. Vgl. Ute Eisen u.a., Doing Gender – Doing Religion. Zur Frage nach der Intersektionalität in den Bibelwissenschaften. Eine Einleitung, in: dies. u.a. (Hg.), Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2013 (WUNT 302), 1–36, hier: 9–17. Die theoretischen und aktivistischen Debatten um das Thema (Weiße, nichtjüdische) Frauen als Opfer und (Mit-)täterinnen werden ausführlich dargestellt in: Ika Hügel / Chris Lange / May Ayim u.a. (Hg.), Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin ²1999 (1993) und Maria K. Moser, Opfer zwischen Affirmation und Ablehnung. Feministisch-ethische Analysen zu einer politischen und theologischen Kategorie (StdM 34), Wien/Berlin 2007, 205–416. Die Initialzündung zur selbstkritischen Auseinandersetzung in der Weißen feministischen Theoriebildung der 1980er Jahre gaben Christina Thürmer-Rohrs Analysen zur Mittäterschaft und Frigga Haugs Kritik an der Selbstviktimisierung von Frauen. Vgl. a.a.O., 207. Heike Walz schlägt schon 2003 einen Vergleich von Thürmer-Rohrs Mittäterschaftsthese, Elisabeth Schüssler-Fiorenzas Kyriarchatstheorie und postkolonialen feministischen Theorien vor. Vgl. Heike Walz, „Die Dritte-Welt-Frau“? Geschlechterdifferenz im Scheinwerfer der Kritik postkolonialer Denkerinnen, in: dies. u.a. (Hg.), „Als hätten sie uns neu erfunden“. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht, Luzern 2003, 41–54, hier 51. Von einer ‚deutschen‘ postkolonialen Theologie zu sprechen, ist nicht unproblematisch. Vgl. Nikita Dhawan, Can the Subaltern Speak German? And Other Risky Questions. Migrant Hybridism versus Subalternity, 24.07.2007, in: http://translate.eipcp.net/strands/03/dhawan-strands01en (abgerufen am 10.01.2017). Wenn ich dennoch danach frage, impliziere ich keine national begrenzte Zugangsweise. Der Gewinn postkolonialer Ansätze ist es gerade, stets auf die transnationalen Verflechtungen der globalen Geschichte(n) hinzuweisen und dabei, besonders in der Spivakschen Ausprägung, den Begriff der Subalternen im globalen Kontext der internationalen Arbeitsteilung anzuwenden und nicht relativistisch auf alle Ungleichheiten in den Metropolen der Welt zu übertragen. Genau deshalb scheint es mir jedoch wichtig, je nach Kontext unterschiedliche Antworten auf die Frage nach einer postkolonialen Theologie zu suchen, wobei auch die ‚Kontexte‘ in sich als heterogen zu denken sind. Denn auch, wenn koloniale Wissensbestände transnationale und transkulturelle Verbreitung auch in Länder hinein erfahren haben, die nicht ‚formell‘ kolonisiert wurden oder haben, haben sie doch sehr unterschiedliche Subjektpositionen hervorgebracht.
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länger reflexiv unverbunden zu lassen, sondern in ein kritisch-konstruktives Gespräch miteinander zu bringen.8 Doch was verstehe ich unter postkolonialen Theologien? Ohne hier die ausführliche Theoriedebatte zu Vor- und Nachteilen des Begriffs zu wiederholen,9 möchte ich vorschlagen, unter postkolonialen Theologien diejenigen Theologien zu verstehen, die sich auf solche Theoriekonzepte beziehen, die sich entsprechend ihrem Selbstverständnis explizit post- oder auch dekolonial nennen,10 und diese für ihre Theologie fruchtbar machen. Ich halte es mit Heike Walz zudem für sinnvoll, von kolonialkritischen Theologien zu sprechen und darunter diejenigen kontextuellen Theologien zu subsummieren, die sich seit den 1960er Jahren weltweit in verschiedenen Befreiungsbewegungen gegen hegemoniale oder universalistische Ansprüche westlicher Theologie 8
Erste Ansätze dazu finden sich (im Blick auf die Exegese) in der Roundtable Discussion „Anti-Judaism and Postcolonial Biblical Interpretation“, in: JFSR 20 (2004) 91– 132, in der Amy-Jill Levine den Auftakt macht und Kwok Pui-Lan, Musimbi Kanyoro, Adele Reinhartz, Hisako Kinukawa und Elaine Wainwright auf sie reagieren. Vgl. außerdem Kwok Pui-Lan, Jüdisch-christlicher Dialog in der nicht westlichen Welt, in: KuI 28 (2013), 110–118. Vgl. im Blick auf das Verhältnis zu den Befreiungstheologien: Paul Petzel, Gebotene Umwege? Überlegungen zur Beziehung von Theologie nach Auschwitz und Befreiungstheologie, in: Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.): Von Gott reden im Land der Täter, 143–163. 9 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit „Postkolonialismus“ findet sich z.B. in María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, 23 – 24.112–114; Stuart Hall, Wann war „der Postkolonialismus“? Denken an der Grenze, in: Elisabeth Bronfen / Benjamin Marius / Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte (Stauffenburg Discussion 4), Tübingen 1997, 219–246, hier: 237f.241; Kien Nghi Ha, Postkoloniale Kritik als politisches Projekt, in: Julia Reuter / Paula-Irene Villa (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde – theoretische Anschlüsse – politische Intervention, Bielefeld 2010, 259–280, hier: 263. Ich halte es für sinnvoll, zumeist im Plural von postkolonialen Studien oder Theorien zu sprechen und die Varianz der Konzepte zu betonen, statt sie in einem singulären ismus zu vereinheitlichen. Der Begriff postkolonial wird sehr unterschiedlich verwendet, was immer wieder zu erheblichen Missverständnissen führt. Für grundlegend halte ich die Unterscheidung zwischen einer kritischen Theorierichtung, die auf Kontinuitäten kolonialen Denkens und Handelns heute aufmerksam macht und dabei zumeist auf poststrukturalistische, marxistische und feministische Theorien zurückgreift, und der zeitgeschichtlichen Beschreibung einer Epoche, in der die meisten ehemaligen Kolonien formal ihre Unabhängigkeit erreicht haben. Wer sich auf Letzteres bezieht, kann dies völlig ohne den erstgenannten Strang der postkolonialen Theoriebildung tun. Vgl. dazu Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik, in: dies. / Hito Steyerl (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003, 17–37, hier: 21–24. 10 Für die weiterführende Auseinandersetzung sei auf die beiden deutschen Einführungen in postkoloniale Theorie und die dort angegebene Literatur verwiesen: María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (Cultural Studies 36), Bielefeld ²2015 und Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, Hamburg 2012.
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richteten und dies mit Verweis auf die koloniale Eroberungsgeschichte des Christentums taten.11 Diese engagierten, kolonialkritischen Theologien können dadurch meines Erachtens nach als postkoloniale Theologien avant la lettre angesehen werden.12
1.
Eine Analyse von Täter- und Opfer-Vorstellungen
1.1
Opferkonkurrenzen im Kontext Deutschlands
Die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus ist im kulturellen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft nach wie vor marginal.13 Geht es um Gründe für diese spezifisch deutsche Sachlage, fällt häufig das Stichwort des Holocaust. Es ist lohnenswert, sich dieses Narrativ genauer anzusehen. Eine Position, die einigermaßen oft vertreten wird, ist die, dass die Erinnerung des Holocaust eine solche Absolutheit bzw. Singularität beansprucht, dass kein Raum bleibt, weitere Gräueltaten, gar Genozide, aufzuarbeiten.14 Michael Rothberg hat sich 11 Vgl. Heike Walz, Menschenrechte zwischen Religion und Gesellschaft in Argentinien. Postkoloniale Perspektiven für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie (Habilitationsschrift Berlin 2016, unveröffentlicht) und exemplarisch José Míguez Bonino, Jenseits von Kolonialismus und Neokolonialismus, in: ders., Theologie im Kontext der Befreiung (Theologie der Ökumene 15), Göttingen 1977,15–29. 12 Auch Volker Küster plädiert (gegen Rasiah S. Sugirtharajah) dafür, die Entstehung der postkolonialen Theologien genealogisch eng mit den kontextuellen und Befreiungstheologien zu verknüpfen und erstere als Weiterentwicklung der älteren zu begreifen. Vgl. Volker Küster, Von der Kontextualisierung zur Glokalisierung. Interkulturelle Theologie und postkoloniale Kritik, in: ThL 134 (2009), 261–278, hier: 277. 13 Gleichzeitig ist eine zunehmende wissenschaftliche Publikationsaktivität und aktivistische Auseinandersetzung zu verzeichnen. Es nehmen z.B. städtische Initiativen zu, die sich zum Ziel machen, koloniale Erinnerungsorte in Stadt- oder auch Museumsrundgängen (vgl. z.B. die Initiative zum Deutschen Historischen Museum in Berlin unter https://www.kolonialismusimkasten.de/ (abgerufen am 18.05.2017)) sichtbar zu machen und Kontinuitäten des Kolonialismus z.B. in Straßennamen, die koloniale Akteure ehren, zu hinterfragen (vgl. exemplarisch die Website http://www.hamburgpostkolonial.de/netzwerk.html (abgerufen am 18.05.2017) und die weiterführenden Links). Zu untersuchen bleibt, inwiefern diese Ansätze Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Allgemeingesellschaft finden und außerdem in den curricularen Kanon der Schulen und Fakultäten aufgenommen werden. Als exemplarisch für die Fülle an wissenschaftlichen Publikationen sei auf Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster ²2015 (2011) hingewiesen. 14 Vgl. María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 22015, 74. In Deutschland fand in den letzten Jahren die Auseinandersetzung darum, was als Genozid zu benennen ist, vermehrt mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit im
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mit diesem Argument auseinandergesetzt, und zwar im US-amerikanischen Kontext, in dem häufig auf den transatlantischen Sklavenhandel (oder die Ausrottung der Native Americans) als möglicherweise noch schlimmeren Genozid rekurriert wird.15 Ihn interessiert die Frage, ob die Erinnerung an eine Gewaltgeschichte automatisch die andere verdrängt und ob ein Wettbewerb der Opfer die natürliche Folge sein muss. Rothberg sieht in dieser Annahme eine Logik des Mangels für kollektive Erinnerungen vorliegen. Er fragt: „Funktioniert das kollektive Gedächtnis wirklich wie Immobilienentwicklung? Müssen die Forderungen der Erinnerung immer gemäß ihrer Relevanz für die nationale Geschichte bewertet werden?”16
Es ist Rothberg ein Anliegen, vielfältige Erinnerungsprozesse nicht als Besitz von (Gruppen-)Identitäten vorzustellen, so dass eine Erinnerungsgemeinschaft nur in Konkurrenz zu anderen erscheinen kann.17 Rothberg plädiert für ein multidirektionales Erinnerungsverständnis, das stets neu ausgehandelt wird, durchaus auch kreativ Querbezüge herstellt, ambivalent und heterogen ist.18 Mit einem komparativen Ansatz geht er so weit zu behaupten, dass die Erinnerung des Holocaust auch dazu verholfen hat, andere Gewaltgeschichten vorher und nachher artikulieren zu können. Für den deutschen Kontext beschreibt die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt ähnliche Dynamiken von Opfer- bzw. Gedächtniskonkurrenzen.19 Sie richtet sich gegen die Behauptung, die Erinnerung an den Nationalsozialismus dominiere.20 Während die entsprechende Erinnerung im öffentlichen Raum eine gewisse Etablierung erfahren habe, sei das Gedächtnis
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18 19 20
Zusammenhang mit Reparationsforderungen für den (mittlerweile auch von der Bundesregierung als solchen eingestuften) Genozid an den Herero und Nama Anfang des 20. Jahrhunderts, als das heutige Namibia als „Deutsch-Südwestafrika“ unter der Kolonialherrschaft des Deutschen Reichs stand. Vgl. Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization (Cultural Memory in the Present), Stanford 2009, 1–7. Michael Rothberg, Multidirectional Memory, 2. Diese und alle weiteren Übersetzungen im Text stammen von der Autorin. „Memories are not owned by groups – nor are groups ‚owned‘ by memories.” Michael Rothberg, Multidirectional Memory, 5. Castro Varela und Dhawan schlagen interessanterweise für den Wissenschaftsbetrieb vor, nicht so sehr auf die Einbeziehung des Kolonialismus in die Holocaust-Studien und des Holocaust in die postkolonialen Studien zu setzen, sondern vielmehr beide in ihren Verknüpfungen wahrzunehmen. Vgl. María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 22015, 75. Es fällt auf, dass es den Autorinnen um den Nationalsozialismus geht. Antisemitismus als allgemeineres Phänomen, das schon lange vor der Nazi-Zeit bestand und auch heute fortwirkt, scheint weniger im Blickfeld postkolonialer Studien zu sein. Vgl. Rosa Fava, Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse, Berlin 2015, 44. Vgl. Michael Rothberg, Multidirectional Memory, 3.6. Vgl. Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 2009, 175. Vgl. Ebd., 178.
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an die Shoah im privaten Raum der deutschen Gesellschaft äußerst fragil.21 Der Mythos um die Stunde Null, der rassistische Ideologie zu einem Relikt des Nationalsozialismus erklärt hat, hat dazu geführt, nach 1945 fortbestehende rassistische und antisemitische Denkmuster sowohl aus der Zeit des Nationalsozialismus als auch des Kolonialismus auszublenden. Deshalb kommt Messerschmidt zu dem Schluss: „Die Verankerung der Kolonialgeschichte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen kann nicht additiv geschehen – als Hinzufügung eines vernachlässigten Gegenstandes – sondern bedarf einer Reflexion des zeitgeschichtlichen Kontextes nach Auschwitz.“22
Eine vergleichende Analyse von Nationalsozialismus und Kolonialismus macht es deshalb notwendig, auch die bisherigen (öffentlichen und privaten) Erinnerungspraktiken kritisch zu analysieren und dabei z.B. auf ihre ideologische Funktion für den Nationalstaat zu achten. Messerschmidt präzisiert, dass eine alleinige Betonung der Singularität der Shoah riskiert, die Kolonialgeschichte zu vernachlässigen, dass aber andererseits eine Sicht, die nur Kontinuitäten betont, in der Gefahr steht, dem nach wie vor wirkenden Bedürfnis nach Relativierung des Holocaust zu erliegen.23
1.2
Opferidentifikation und Verdrängung eigener Täteranteile in der deutschen Zeitgeschichte
Messerschmidt geht es darum, eine selbstkritische Pädagogik zu entwickeln, die weiß, dass sie sich stets in Widersprüchen bewegt und bereit ist, die eigene Beteiligung an Herrschaftsverhältnissen anzuerkennen.24 Dazu untersucht sie, welche Selbstbilder und welche Bilder über „die Anderen“ in den globalisierten Verhältnissen in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland nach 1945 konstruiert wurden. Problematische Täter-Opfer-Dichotomien stellen ein Querschnittsthema ihres Buches Weltbilder und Selbstbilder dar. Interessant ist, dass sie Nationalsozialismus und Kolonialismus gemeinsam thematisiert und die Verknüpfung nicht mit der Gleichartigkeit der geschichtlichen Vorgänge begründet, sondern damit, dass „in beiden Feldern spezifische Auseinandersetzungen mit Opfer- und Täterperspektiven erforderlich“ seien.25 Darauf möchte ich näher eingehen: Bekanntlich ist es dem Antisemitismus möglich, logisch widersprüchliche Ressentiments über jüdische Männer und Frauen als zugleich minderwertig
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Vgl. Ebd., 178. Ebd., 175. Vgl. Ebd., 175f. Vgl. Ebd., 9. Ebd., 15.
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und überlegen in sich zu integrieren.26 Während des Kaiserreichs hatte der verbreitete, ab da modern genannte Antisemitismus die Funktion, als Zugangscode zum konservativen Lager eine nationalistische, homogene kulturelle Identität zu erschaffen.27 Die Vorstellung der Überlegenheit der europäischen und spezifisch der deutschen Zivilisation diente wiederum dem Kolonialrassismus zu seiner Rechtfertigung. Beim Antisemitismus kommt jedoch das Element hinzu, den oder die „Andere“ mit angeblich grenzenloser, kalkulierender Macht auszustatten und sich selbst in Abgrenzung davon eine moralische Identität als ehrlich, uneigennützig und mühsam das eigene Brot verdienend zu verleihen.28 Messerschmidt schreibt: „Antisemitismus bietet die Gelegenheit, sich selbst als Opfer zu sehen und sich vorzustellen, beherrscht und ausgebeutet zu werden.“29
Es ist eine Opferidentität, die mit sich selbst im Reinen ist und als solche komplementär zur eigenen Täterschaft im Kolonialismus funktioniert: „Der moderne europäische Antisemitismus kann somit auch als Abwehr der eigenen kolonialen Ausbeutungsgeschichte aufgefasst werden.“30
Die Beliebtheit der Opferidentität besteht nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland in gewandelter Form weiter: „Nach 1945 wird die Erfahrung, dass die große Mehrheit der Deutschen der völkisch-rassistischen Politik von Ausgrenzung und Vernichtung nichts entgegenzusetzen hatte und diese Politik sowohl duldete als auch akzeptierte und sich mit ihr identifizierte, zum Anlass für eine abwehrende Erinnerung.“31
Dem sogenannten sekundären bzw. Schuldabwehr-Antisemitismus nach der Shoah ist daran gelegen, die Schuldgeschichte für abgeschlossen zu erklären oder auch historische Tatsachen schlicht abzustreiten bzw. zu relativieren (Derealisierung).32 Eine dafür maßgebliche (und tatsächlich nicht neue) Strategie ist es, jüdische Opfer zu Täter_innen zu erklären.33 Neben einer schlich26 Vgl. Ebd., 155. 27 Vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, 13–36, hier: 23. 28 Vgl. Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder, 156.147. 29 Astrid Messerschmidt, Antiglobal oder postkolonial? Globalisierungskritik, antisemitische Welterklärungen und der Versuch, sich in Widersprüchen zu bewegen, in: Hanno Loewy (Hg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien, Essen 2005, 123–146, hier: 139. 30 Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder, 156. Es scheint mir sehr lohnenswert, diese These des Zusammenhangs von Antisemitismus und Kolonialismus als einer Abwehr von Täterschaft weiter zu untersuchen. 31 Ebd. 32 Vgl. Ebd., 158–161.144–148. 33 Vgl. Norbert Reck, Christliche Schuldgeschichte und Judenfeindschaft. Christliche Überlegungen zu alten und neuen Formen von Antisemitismus, in: Hansjörg Schmid /
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ten Abwehr der Verantwortung für die eigene Geschichte entstand im öffentlichen Bewusstsein zunehmend – Messerschmidt meint, seit der Wiedervereinigung – ein Verständnis für die funktional vorteilhaften und wiederum entlastenden Aspekte einer Schuldanerkennung: ein moralisch integres, geläutertes Selbstbild.34 Die Anerkennung von Schuld im öffentlichen Diskurs half z.B. bei der Wiederaufnahme in den internationalen Kreis der demokratischen Staaten oder ermöglichte die Ausbildung eines neuen nationalen Konsenses, der die bürgerliche Mitte von radikalen Rändern trennt, die als außerhalb der Gesellschaft stehend repräsentiert werden. Zu diesen Rändern werden nicht nur Neonazis gezählt, sondern auch Migrant_innen werden pauschal unter Verdacht gestellt, sich mit der deutschen Geschichte (noch) nicht befasst zu haben, so dass auch dieser Gruppe das Problem des Antisemitismus zugeschoben wird und sie auf diese Weise von der nationalen Identität ausgeschlossen werden kann.35 Das Problem dieser Verortung von Antisemitismus und Rassismus in der Vergangenheit oder an den Rändern ist, dass er eine selbstkritische, gerade auch biographische Auseinandersetzung mit den eigenen (familiären) Verstrickungen von weißen nichtjüdischen Deutschen verunmöglicht. Statt einer differenzierenden Sicht auf verschiedene Nuancen von Täterschaft, die auch Phänomene wie Mittäterschaft, Komplizenschaft und das Profitieren von Privilegien erfasst, bleibt es bei einer starren Täter-Opfer-Dichotomie, die die Täterseite unbedingt von sich weisen muss.
1.3
Täterschaft als Thema von Post-Shoah-Theologien in Deutschland
Eine ähnliche Analyse leisten Katharina von Kellenbach, Björn Krondorfer und Norbert Reck in ihrem Buch Von Gott reden im Land der Täter (2001).36 Grundsätzlich dankbar beziehen sie sich auf die in den 60er und 70er Jahren entstandenen Theologien nach Auschwitz der zweiten Generation, die in die damals typische Täter-Opfer-Umkehr intervenierten: Statt einer Anerkennung des Leids der Opfer des Nationalsozialismus war es in den 1960er Jahren in Britta Frede-Wenger (Hg.), Neuer Antisemitismus. Eine Herausforderung für den interreligiösen Dialog, Berlin 2006, 41–66, hier: 56–59. Insofern ist Klaus Holz’ These vermutlich auszuweiten, dass eine Täter-Opfer-Umkehr nicht erst seit der Shoah maßgebliches Element des Antisemitismus ist, gleichwohl sie mit der Bezugnahme auf die Shoah besonders perfide Seiten annehmen kann. Vgl. Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005, 59. 34 Vgl. Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder, 159f. 35 Vgl. Ebd., 160.184–190. Vertiefend hierzu die Dissertation von Rosa Fava, Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. 36 Vgl. Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt 2001.
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der alten Bundesrepublik – und in so manchen Diskursen noch heute – gemeinhin üblich, von den Leiden, Vertreibungen und Ausbombungen des ‚deutschen Volkes‘ zu erzählen.37 Dagegen schrieben Theolog_innen wie Johann Baptist Metz, Friedrich Wilhelm Marquardt, Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle u.a. an. Die Theologien nach Auschwitz fragten nach den christlichen Wurzeln des Antisemitismus, rückten das Leiden in den Mittelpunkt,38 solidarisierten sich mit den Opfern und suchten Kontakt zum zeitgenössischen Judentum.39 Was allerdings auch sie zumeist unterließen, war eine kulturelle und familienbiographische Verortung, die die eigene Verstrickung in die nationalsozialistische Geschichte hätte aufzeigen können.40 Zugleich wurde das Leiden auf eine Art thematisiert, die nicht eindeutig unterschied zwischen dem Leid der Opfer und dem der Täter.41 So wurden die konkreten Geschehnisse zum allgemeinen theologischen Problem der Theodizee, das weiterhin zur Vorlage systematisch-theologischer Entwürfe führte, in denen – womöglich allzu umstandslos – festgehalten werden konnte an „einer hoffenden, heilenden oder erlösenden Botschaft des Christentums“.42 Krondorfer entwickelt aufgrund dieser Beobachtungen die These einer Kongruenz von fehlender Selbstpositionierung, die die eigene Verstrickung zu reflektieren bedeutet hätte, und fehlender Differenzierung zwischen Täter- und Opferperspektiven. Er sagt: „Subjektverbergung geht mit dem Verschwinden der Täter und letztlich auch der Opfer einher.“43
37 Vgl. Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld im Land der Täter. Zur Positionierung theologischer Diskurse nach der Shoah, in: Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt 2001, 11–28, hier: 12. 38 Vgl. Dorothee Sölle, Leiden, Stuttgart 1973. 39 Vgl. Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld, 13. 40 Um diese These in Bezug auf Sölle etwas einzuschränken kann auf einen kurzen autobiographischen Text von ihr verwiesen werden, in dem sie vergleichsweise kritische Worte für ihre jugendliche nationalistische Gesinnung findet: Dorothee Sölle, Ohnmacht und Macht, in: Albrecht Grözinger / Henning Luther (Hg.), Religion und Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion, München 1987, 41–47. Eine gewisse Anfälligkeit für Nationalismus begleitet Sölle aber weiter, vgl. Hans Leyendecker / Manfred Müller, „Unsere Gefahr ist das Wischiwaschi“. Die Theologie-Professoren Dorothee Sölle und Trutz Rendtorff streiten über Kirche und Nachrüstung, in: Der Spiegel 41 (1983), 37–56, hier: 48. 41 Weitere Kritik an den Theologien nach Auschwitz übt Sarah Pinnock, Die Theologie der zweiten Generation nach Auschwitz. Eine kritische Analyse, in: Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter, 95–109, hier: 97–105. 42 Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld, 14. 43 Ebd., 24.
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„Es ist, als ob die deutschsprachige christliche Theologie nach der Shoah, indem sie sich in die Nähe der Erfahrungen jüdischer Opfer rückt und die Dokumente der Täter ausblendet, unbewusst ihre Unschuld proklamieren möchte.“44
Daraus resultiert das Problem, wie leicht eine politische Solidarisierung auch zu einer (unbewussten) emotionalen Identifikation mit den Opfern führt. Eine emotionale Opferidentifikation birgt die Gefahr, jegliche Täterschaftsanteile zu externalisieren, um „einer heimlichen Selbstexkulpierung Vorschub [zu] leisten; einer Selbstexkulpierung, die sich der Verstrickung in eine abgründige Schuldgeschichte durch den behenden Wechsel aus Täter- in Opferzusammenhänge entledigt“, wie Paul Petzel prägnant ausdrückt.45 Dies wiederum hat theologische Auswirkungen, z.B. auf die Gottesrede.46 Den Theolog_innen der dritten Generation nach der Shoah sind schließlich auch die Theologien nach Auschwitz suspekt geworden.47 Sie plädieren dafür, ähnlich wie Messerschmidt für die Pädagogik, sich den Tätergeschichten zuzuwenden.48 Denn: „In einer Gesellschaft, die mehrheitlich aus den Nachkommen der Täter besteht und die unterschwellig stark von deren Diskursen geprägt ist, braucht die Theologie die Perspektive auf die Täter, wenn sie nicht unbewusst die ethikzerstörende Perspektive der Täter übernehmen will.“49
Für Krondorfer bedeutet dies, neben dem schon von Metz formulierten Abschied von gesellschaftlicher, historischer und eurozentrischer Unschuld, auch den Abschied von (familien-)biographischer Unschuld als Korrektiv der ersten drei Aspekte einzuüben.50 Auf eindrückliche Weise zeigt Reck, wie er sich von dieser Anforderung selbst nicht ausnimmt: „Ich halte es für möglich, dass meine Theologieproduktion vor allem das Ziel hat, die Schrecken von Auschwitz zu bannen.“ (Kursiv im Original, S.J.)51
Er nennt sich selbst ein Kind des Nationalsozialismus und hält sich deshalb für verführbar durch Unschuldswünsche, was die eigene Familie betrifft, durch aggressive Ressentiments gegenüber bürgerlicher Theologie und durch 44 Ebd., 16. 45 Paul Petzel, Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen. Eine erkenntnistheologische Studie, Mainz 1994, 244, zit. nach: Norbert Reck, Der Gott der Täter. Subjektivierung, Objektivismus und die Un-/Schuldsdiskurse in der Theologie, in: Katharina von Kellenbach / Björn Krondorfer / Norbert Reck (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter, 29–45, hier: 30. 46 Vgl. Norbert Reck, Der Gott der Täter, 35.43f. 47 Vgl. Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld, 15, und Norbert Reck, Der Gott der Täter, 30. 48 Vgl. Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld, 23 und Norbert Reck, Der Gott der Täter, 30. 49 Norbert Reck, Die Täterperspektive in den christlichen Theologien nach der Schoa, in: KuI 22 (2007), 99–113, hier: 109. 50 Vgl. Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld, 19. 51 Norbert Reck, Der Gott der Täter, 33.
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die Idealisierung dissidenter, vermeintlich befreiender Perspektiven.52 Als einen Ausweg bezeichnet er es, Rechenschaft über diese Verführungen abzulegen. Dazu gehört es, sich über die eigenen Motive klar zu werden.53
2.
Konsequenzen für eine postkoloniale Theologie in Deutschland
Es sind zwei Themen, die ich bisher erörtert habe: Das Problem der Opferkonkurrenzen zwischen Shoah und Kolonialismus und das Problem der Abwehr von eigenen Täter- und Täterinnenanteilen durch Leugnung, Projektion auf andere (auch auf die Opfer selbst) oder Identifikation mit den Opfern. Ich versuche diese herausgearbeiteten Fallstricke als heuristische Kategorien zu benutzen, um Kriterien für eine mögliche postkoloniale Theologie in Deutschland zu finden. Die von Reck formulierten Verführungen – das Ressentiment gegenüber bürgerlicher Theologie, die Romantisierung von dissidenten Vorstellungen und letztlich der Wunsch, unschuldig an der Seite der Opfer zu stehen – lassen mich im Zusammenhang mit gesellschaftskritisch engagierten Theologien, wie auch die postkoloniale Theologie eine sein will, aufhorchen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Theolog_innen nach Auschwitz wie Metz und Sölle, die das Leid (und die Erinnerung daran) zu einem zentralen theologischen Thema gemacht haben, auch ein besonderes Interesse für die Befreiungstheologie Lateinamerikas entwickelten: Ohne deren Bedeutung für ein kritisches Intervenieren in die damalige Theologielandschaft (und für meine eigene theologische Sozialisation) schmälern zu wollen, scheint mir die Frage notwendig, ob die Option für die Armen in theologischen und kirchlichen (sowie anderen antiimperialistischen) Solidaritätsgruppen in Deutschland auch deshalb so attraktiv war, weil sie es zuließ, sich emotional mit den Opfern zu identifizieren, dadurch ein Stück weit selbst zu den Opfern zu zählen und sich so von Schuldzusammenhängen zu entlasten. Gehört möglicherweise eine hohe Affinität, sich als Opfer zu imaginieren, zum (christlich-)antisemitischen Erbe in Deutschland, das in der These Messerschmidts auch geeignet war, die eigene Täterschaft im Kolonialismus auszublenden? Die kritische Auseinandersetzung der Post-Shoah-Theologien mit den Theologien nach Auschwitz scheint mir sowohl thematisch als auch hermeneutisch einen Horizont zu eröffnen, an dem sich postkoloniale Theologien im Kontext Deutschlands orientieren können. Wie könnte eine postkoloniale Theologie in Deutschland aussehen, die die genannten Fallstricke sichtbar macht und daran arbeitet, sie nicht weiter zu reproduzieren? Wie würde eine 52 Vgl. Ebd., 32. 53 Vgl. Ebd., 30.
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Option für die (kolonialen) Anderen der Welt aussehen – eine Option, die immer schon für die Anderen von denjenigen formuliert wurde, die nicht zu den Anderen gehör(t)en –, die politisch entschlossen bleibt und doch nicht die Ambivalenz übertüncht, dass sie im Handeln für Andere verstrickt bleibt in einem kolonialen Erbe des Handelns ‚zum Wohl der Welt‘? Oder müsste tatsächlich etwas gänzlich Neues imaginiert werden, das v.a. lehrt handlungsohnmächtig zu werden und dies auszuhalten? Auf der Suche nach Antworten stoße ich neben den Post-Shoah-Theologien auf die Kritischen Weißseinsstudien,54 wie sie z.B. Grada Kilomba und Eske Wollrad ausgeführt haben: Die Psychoanalytikerin, postkoloniale Theoretikerin und Künstlerin Kilomba beschreibt fünf Stadien, die beim Umgang von Weißen55 Menschen mit den eigenen Rassismen durchlaufen werden können. Diese stellt sie sich keinesfalls linear fortlaufend vor, sondern als andauernden Prozess, Rückschritte inbegriffen. Sie spricht von Verleugnung, Schuld, Scham, Anerkennung und Reparation. Als befreiend streicht sie die Frage nach den eigenen Täterschaftsanteilen heraus: „How can I dismantle my own racisms?“,56 statt in einer abwehrenden und damit verleugnenden Selbstpositionierung zu verharren. Es gehe ihr nicht um Fragen von moralischer Schuld, sondern um Verantwortungsübernahme. Tiefgreifend verunsichernd und gleichzeitig erleichternd finde ich bei der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Weißsein, dass es nicht darum geht, sich möglichst schnell und schmerzfrei eine antirassistische Praxis anzueignen, um sich als Weiß sozialisierte Person mit dem Werkzeug einer neuen, nun antirassistischen Handlungsmacht erneut immun zu machen gegenüber Infragestellungen.57 Der entnormalisierende Blick 54 Zur weiterführenden Auseinandersetzung vgl. z.B. Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba u.a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster ²2009, Eske Wollrad, Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, Königstein/Taunus 2005; und Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität, in: Susan Arndt, AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Münster 2001, 57–66. 55 Ich schließe mich Wollrads Vorschlag an, Weiß und Schwarz groß zu schreiben, um die soziale Konstruktivität dieser Kategorien zu unterstreichen (die mehr bedeuten als nur Bezeichnungen für eine Hautfarbe zu sein), zugleich aber ihre gewaltförmigen, materiell erfahrbaren Auswirkungen bedenken, tue dies aber erst ab diesem Punkt im Text, wo das Thema explizit wird. Vgl. Eske Wollrad, Getilgtes Wissen, überschriebene Spuren. Weiße Subjektvierungen und antirassistische Bildungsarbeit, in: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in NRW (Hg.), Tagungsdokumentation des Fachgesprächs zur „Normalität und Alltäglichkeit des Rassismus“, Bonn 2007, 37–55, hier: 42.45, online abrufbar unter: www.idanrw.de/cms/upload/PDF_tagungsberichte/Tagungsdoku_Alltagsrassismus.pdf (abgerufen am 15.05.2017). 56 Grada Kilomba, Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Münster ²2010, 23. 57 Sehr eindrücklich und selbstkritisch beschreibt die Theologin Eske Wollrad anhand eigener Erfahrungen wie sie „ein typisch Weißes Selbstverständnis entwickelt hatte,
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auf die Herausbildung Weißer Identitäten kann helfen, die Augen zu öffnen für die eigene Mit-Täterschaft und Verstricktheit in eine rassistische Sozialisation und Praxis der Entmenschlichung und die daraus resultierenden Verletzungen an sich selbst.58 „Rassismus verletzt unsere ganze Gesellschaft, und bei genauem Hinsehen sind in jedem rassistischen System alle Menschen auf unterschiedliche Art betroffen. Weiße Menschen verlieren ihre Würde, wenn sie Rassismus ausüben oder geschehen lassen.“59“
Durch den Verein Phoenix e.V. wurde ich darauf gestoßen, wie sehr ich selbst verstrickt bin in eine Praxis der ständigen Aufrechterhaltung von Handlungsmacht und darauf, dass es heilsam sein kann, als Weiße Person verunsichernde Erfahrungen der Schwäche und Handlungsohnmacht aushalten zu lernen, um kindliche Allmachtsphantasien ablegen zu können. Auf der anderen Seite mag es bei der empathischen Auseinandersetzung mit den in der Geschichte geschehenen Verletzungen und Grausamkeiten notwendig sein, anerkennen zu lernen, wo man selbst nicht ohnmächtig ist, wo man nicht auf der Seite der Opfer steht, um sich nicht emotional mit ihnen gleichzusetzen und zu identifizieren. Nach Wegen der Heilung zu suchen, dieses System der Entmenschlichung nicht länger zu perpetuieren, es mindestens punktuell zu unterbrechen, ist eine Frage, die besonders die (postkoloniale) Theologie herausfordert. Folgende Thesen seien für die weitere Diskussion aufgestellt:60 – Eine postkoloniale Theologie in Deutschland trachtet danach, sich selbstkritisch mit eigenen Verstrickungen und Täter- und Täterinnenanteilen – sowohl persönlich als auch institutionell – auf theologischer, kirchlicher und gesellschaftspolitischer Ebene auf komplexe Weise zu beschäftigen. Dazu unterscheidet sie vielfältige Formen von Taten, zu denen nicht nur verfolgen und ermorden, sondern auch zuschauen, mitlaufen, Komplizin das auf drei Illusionen basiert. Erstens: Ich kann Rassismus verlernen. Zweitens: Ich kann das allein. Drittens: Ich bin die bessere Weiße, deshalb kann ich ignoranten Weißen etwas beibringen.“ Eske Wollrad, Getilgtes Wissen, 47. 58 Wollrad macht darauf aufmerksam, dass ein Verständnis von Betroffenheit nur bei rassistisch markierten Menschen dazu führen kann, dass Weiße Antirassist_innen sich „in eine Position der diskursiven Unverletzlichkeit manövrieren“, was sie auch bei sich selber kritisch festgestellt hat. Eske Wollrad, Getilgtes Wissen, 48. „Das Phänomen des antirassistischen Einzelkämpfertums in Verbindung mit der Vorstellung Weißer Unverletzlichkeit und Nichtbetroffenheit ist insofern rassismusunterstützend, als es Weiße Kollektive daran hindert, alternative Räume zu kreieren, innerhalb derer Widersprüche verhandelt, Tabus angesprochen und alle Ressourcen (auch Verletzungen durch Rassismus) nutzbar gemacht werden können, um gemeinsam gegen rassistische Gewalt vorzugehen.“ A.a.O., 51. 59 Noah Sow, Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus, München 2008, 272. 60 Inspiriert sind sie u.a. von Björn Krondorfer, Abschied von (familien-)biographischer Unschuld, 23–27.
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werden, kollaborieren, profitieren u.v.m. gehören, ohne diese differenzierende Sicht als Einfallstor für Relativierungen und persönliche Entlastungsbegehren zu benutzen.61 Diese selbstkritische Haltung führt sie nicht in ein immerwährendes, schuldgefühl-beladenes Kreisen um sich selbst, sondern befreit sie dazu, heute verantwortlich Theologie zu treiben. Dies bedeutet wiederum nicht, die eigene Handlungsmacht einzelkämpferisch und allmachtsphantastisch zu überschätzen, sondern sich mit anderen zu verbünden und die eigenen Kräfte schonend und überlegt einzusetzen.62 Als kritisch engagierte Theologie, die auf Veränderung zielt, setzt sich postkoloniale Theologie mit dem verlockenden Fallstrick der vorschnellen Opferidentifikation auseinander. Dafür entwickelt postkoloniale Theologie in Deutschland eine hohe Bereitschaft, sich selbst mit der eigenen Motivation und emotionalen Verstrickung, diese Theologie zu betreiben, auseinanderzusetzen.63 Dies bedeutet, die eigene Subjektivität für die theologische Praxis zu reflektieren, sie zu entnormalisieren und nach sich selbst verletzenden Erfahrungen der Entmenschlichung durch epistemische Gewalt an anderen zu fragen. Postkoloniale Theolog_innen setzen sich den Zeugnissen der Opfer und ihrer Nachfahren aus, ohne sie zu sakralisieren, und reflektieren dabei die nicht einfach auflösbare Problematik, die sich aus Repräsentationspraxen des „Sprechens für“ die Subalternen ergeben.64 Zu bestimmen, wer genau die Opfer sind, kann zum Konfliktfall in postkolonialer Theologie werden. Auch hier gilt es eine komplexe, differenzierende Perspektive einzuüben, ohne zu relativieren. Insbesondere achtet postkoloniale Theologie in Deutschland darauf, verschiedene Opfergeschichten nicht gegeneinander auszuspielen. Konkret bedeutet dies im Kontext Deutschlands, dass eine postkoloniale Theologie dann die Fortwirkungen des deutschen Kolonialismus sinnvoll aufarbeiten wird können, wenn sie auf den (theologischen) Ergebnissen der Aufarbeitung der Shoah und des Nationalsozialismus aufbaut. Sie beachtet dabei die besonderen Fallstricke in der Konzeptualisierung von Täter_innen und Opfern, die sich aufgrund der christlichen Tradition des Antijudaismus und Antisemitismus ergeben, die nach wie vor wirksam ist. Das beinhaltet, sensibel zu sein für aktuelle Formen von christlichem Antijudaismus und Antisemitismus auch innerhalb des postkolonial-theologischen Diskurses.
61 Genau dafür findet sie vielfältige Werkzeuge in der poststrukturalistischen, feministischen und der postkolonialen Theoriebildung selbst neben den angesprochenen PostShoah-Theologien. 62 Ich bin Eske Wollrad, Merih Ergün, Uli Heidemann, Ute von Essen und Austen P. Brandt sehr dankbar für diesen Gedanken. 63 Vgl. Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder, 173.184 und Eske Wollrad, Getilgtes Wissen, 52. 64 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation (es kommt darauf an 6), hg. v. Hito Steyerl, Wien 2008.
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Ich schlage also programmatisch für eine hiesige postkoloniale Theologie vor, zu untersuchen, wie Täter_innen und Opfer vom Kontext Deutschlands ausgehend vorgestellt werden, und dabei für die genannten Fallstricke der Opferkonkurrenz, Täter-Opfer-Umkehr, Opferidentifikation und Abwehr von Täterschaft als heuristische Kategorien sensibel zu werden.65 Wie dies gehen könnte, möchte ich zum Schluss kurz am Beispiel einer postkolonialen Theologie andeuten, das ich für hilfreich halte, einen theologischen Umgang mit dem Teilproblem der Opferidentifikation zu finden. Ein Problem, das ein besonderer Fallstrick für die kontextuellen Theologien darstellt.
3.
Opferkonzeptualisierungen in der postkolonialen Theologie Mayra Riveras
Ich beziehe mich auf Mayra Riveras The Touch of Transcendence (2007).66 Rivera vollzieht darin einen beeindruckenden philosophie- und theologiegeschichtlichen Durchgang zur Figur des Anderen und fragt nach seinem_ihren Verhältnis zur Transzendenz sowohl zwischen Mensch und Gott als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Damit verfolgt sie das Ziel, Erkenntnisse einer apophatischen Theologie auch auf die Anthropologie anzuwenden. Zentral in diesem Zusammenhang ist, dass Rivera den_die Andere nicht als Opfer bestimmt, zumindest nicht ausschließlich. Kritisch weist sie z.B. Levinas eine solche Identifikation nach. Trotz des gegenteiligen Anscheins, der sich aus Levinas’ kenotischer Rede vom Subjekt ergibt, bleibt das Ich bei ihm stets handlungsmächtig, während der Andere ausschließlich als Opfer, als passives, notleidendes und bedürftiges Wesen vorkommt. Dieses Levinas’sche Andere identifizierte Enrique Dussel mit dem peripheren Lateinamerika, zugleich mit den Armen und Unterdrückten als Gegenüber zum Zentrum.67 Rivera weist dieser Art Identifizierung der Anderen mit den Armen, den Kolonisierten oder Exkludierten nach, dass sie unter umgekehrtem Vorzeichen einer kolonialen Logik verhaftet bleibt.68 Denn diese Identifikation impliziert, dass die Kolonisierten die Repräsentationsregime der Kolonisatoren zu ihrem eigenen Selbstbild machen wollen. Auch Stuart Hall erkennt in dieser Logik eine zwiespältige Form von Widerstand. Dennoch hält er daran fest, dass es verschiedene Strategien gibt, Repräsentationsregime zu transkodieren, und sie 65 Ich halte es dabei für wichtig, auf Diskrepanzen zwischen den theoretischen Anliegen und der praktischen Ausführung zu achten. 66 Vgl. Mayra Rivera, The Touch of Transcendence. A Postcolonial Theology of God, Louisville 2007. 67 Vgl. Enrique Dussel, The Underside of Modernity, Apel, Ricoeur, Rorty, Taylor, and the Philosophy of Liberation, hg. von Eduardo Mendieta, Amherst 1999, 3. 68 Vgl. Mayra Rivera, Touch of Transcendence, 70–73.112f.
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alle stets der Gefahr der Kooptation ausgesetzt sind: Neben der Umkehr der Stereotype wurde ihre positive Umdeutung und Vereinnahmung versucht, oder das Spiel mit den Stereotypen, also sie zu parodieren und dadurch aus der Selbstverständlichkeit herauszuholen.69 In der Theologie kommt jedoch eine zusätzliche, eben theologische Dimension ins Spiel: Es ist ein klassischer Topos der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, Gott in den Armen, den Exkludierten zu erkennen. Der Befreiungstheologe Jon Sobrino geht ähnlich wie Ignacio Ellacuría so weit, die Opfer zu „christologisieren“, indem er sie als „gekreuzigte Völker“ bezeichnet und ihnen soteriologische Bedeutung zuspricht.70 Auch neuere befreiungstheologische und/oder postkoloniale Ansätze greifen zuweilen auf die kraftvolle Bildsprache von Gottes Kenosis in den ausgeschlossenen und schwachen Menschen dieser Welt zurück. Marcella Althaus-Reid fragt beispielsweise in The Hermeneutics of Transgression (1998), nachdem sie von der Entführung (in die Zwangsprostitution) zweier Schwestern unter 12 Jahren auf offener Straße berichtet hat: „Welche Gottheiten verbünden sich mit den Exkludierten? Welcher Gott ist die Gott der Exkludierten? Ein Wegwerf-Gott? Ist der gekreuzigte/gefolterte Gott auch eine Gott, die zur Mittagszeit inmitten einer gleichgültigen Menschenmenge in die Prostitution gezwungen wird?“71
Dem oder der Anderen kommt also theologische Bedeutung zu, womöglich wird er oder sie theologisch überhöht, was unter Umständen eine hohe Bürde auflastet.72 Ganz in befreiungstheologischer Manier bestimmt auch Rivera Exklusion als das Ignorieren der Transzendenz des oder der Anderen, die jedem Geschöpf als Geschöpf innewohne. Genau deshalb müsse das Ziel jedoch sein, dass die Exkludierten nicht Exkludierte bleiben, also die Überwindung des Opfer-Status. Eine Theologie, die Transzendenz an das Opfer-Sein bindet, also 69 Vgl. Stuart Hall, Das Spektakel des „Anderen“, in: ders., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, 108–166, hier: 158–165. Ausführlicher gehe ich auf Hall und Rivera ein in: Sabine Jarosch, Vielfalt, Differenz und Herrschaftsverhältnisse in kulturwissenschaftlicher und postkolonial-theologischer Perspektive, in: Sarah Jäger / Renate Jost (Hg.), Vielfalt und Differenz. Intersektionale Perspektiven auf Religion und Feminismus (Internationale Forschungen in Feministischer Theologie und Religion. Befreiende Perspektiven 6), Münster 2017, 71-88. 70 „Erlösung zu schaffen ist grundsätzliche die Aufgabe der Opfer.“ Jon Sobrino, Die Erlösung der Globalisierung. Die Opfer, in: Conc (D) 37 (2001), 628–637, hier: 628. Die Opfer (der Globalisierung) verwiesen auf mysteriöse Weise auf den Gottesknecht und den gekreuzigten Christus und zögen dadurch Aufmerksamkeit auf sich, vgl. a.a.O., 630–633. 71 Marcella Althaus-Reid, The Hermeneutics of Transgression, in: Georges De Schrijver (Hg.), Liberation Theologies on Shifting Grounds. A Clash of Socio-Economic and Cultural Paradigms (BETHL 135), Leuven 1998, 251–271, hier: 254. 72 Vgl. Nancy Elizabeth Bedford, Jesus Christus und das gekreuzigte Volk. Christologie der Nachfolge und des Martyriums bei Jon Sobrino (Concordia. Reihe Monographien 15), Aachen 1995, 217.
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Gott nur in den Opfern erkennt (und darauf kommt es mir an), riskiert das Fallenlassen der Opfer, sobald diese nicht mehr als (eindeutige) Opfer erscheinen. Das Recht auf göttliche Zuwendung hätten diese uneindeutigen (oder ehemaligen) Opfer schließlich verwirkt. Rivera schreibt: „Wir dürfen Transzendenz nicht mit Viktimisierung identifizieren. Wie wir bereits dargelegt haben, wollen wir auf das Ende der Viktimisierung, nicht der Transzendenz, hinwirken. Insofern aber die Exklusion mancher Personen ein unverhohlener Versuch ist, sie zu objektivieren, eine stillschweigende Verleugnung ihrer Transzendenz, steht uns die Manifestation der Transzendenz in den Körpern dieser Exkludierten – dem Armen, der Fremden, dem Proletarier, Frauen, der Subalternen, den Queeren und so weiter – als einzigartiges Zeugnis für den Trug der Totalitäten vor Augen.“73
Stattdessen versteht Rivera unter dem und der Anderen nicht nur das Opfer, sondern letztlich alle Menschen in ihrer unendlichen Fülle, die sich jedem Versuch der Vereinnahmung immer wieder aufs Neue entziehen. Der oder die Andere bleibt ganz anders – „wholly Other“, wie sie mit Spivak sagt –, nicht vereinnahmbar und doch nicht unberührt von unseren Beziehungen.74 Rivera weiß um die Verstrickungen im falschen Leben. In unseren Begegnungen schreiben wir die Andere fest auf Geschlecht, Ethnizität, Gesundheit, Klasse u.v.m., oft schon bevor wir erste Worte gewechselt haben, und werden auch selbst festgeschrieben. Wir vereinnahmen und löschen aus.75 Und doch wird es kein System der Repräsentation je schaffen, die heterogene Fülle der Anderen ganz auszulöschen, behauptet sie.76 Es ist eine Glaubensaussage, die ich angesichts der Bezugnahme auf die Shoah als Nachfahrin der Täter und Täterinnen nur in gebrochener Weise zu wiederholen vermag. Es beruhigt mich ein Stück weit, dass Rivera den Glauben an die Unmöglichkeit des Auslöschens des Anderen ethisch fundiert und gerade mit dem Beunruhigenden verknüpft, indem sie sich der Metaphorik der Gespenster bedient. Die Gespenster der Vergangenheit suchen uns heim, verfolgen uns und klagen Gerechtigkeit ein, um uns die (koloniale) Gewaltgeschichte ins Gedächtnis zu rufen. Die irreduzible Transzendenz der Anderen ruft uns in die ethische Verantwortung, uns nicht einzurichten in der Gedächtnislosigkeit. Und die prekäre Hoffnung darauf, dass Transzendenz in Beziehungen entsteht, ermöglicht uns Begegnungen zu entwickeln, die nicht ergreifen, sondern umarmen. „Theologie soll uns helfen, die Denkgewohnheiten zu entwickeln, die uns auf das Kommen des_der Anderen vorbereiten. Sie soll uns dazu aufrufen, unsere Körper zu verwandeln, so dass sie fähig werden zu umarmen, ohne zu ergreifen.”77
73 74 75 76 77
Mayra Rivera, Touch of Transcendence, 113. Ebd., 110. Vgl. Ebd., 102. Ebd., 110. Ebd., 138.
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Mir scheint Riveras Vision der Überwindung des Opferstatus in Verbindung mit der Warnung, das Opfersein göttlich zu überhöhen, einen Ansatz für eine selbstkritische postkoloniale Theologie in Deutschland zu bieten, der als Korrektiv helfen kann, das Einüben von Solidarität von Motiven der Identifikation mit den Opfern zu befreien. Denn Opfer wollen nicht Opfer bleiben. Es erscheint mir lohnenswert, weitere postkoloniale Theologien auf ihre Vorstellungen von Täter_innen und Opfern hin zu untersuchen.
Dekolonisierung des öffentlichen Raumes. Eine Herausforderung von Bonhoeffers und Spivaks Konzepten von Widerstand, ‚Religion‘ und ‚Geschlecht‘1 Ulrike Auga2
1.
Einführung „Unser Verhältnis zu Gott ist kein religiöses zu einem denkbar höchsten, mächtigsten und besten Wesen […], sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im Dasein für andere.“3 Dietrich Bonhoeffer „Ich möchte vielmehr auf eine Weise, dem Anderen begegnen, die nicht davon ausgeht, dass in dem Prozess, in dem andere Lebenswelten kulturell übersetzt werden, die eigene Sicherheit, wie es mit der Welt weitergehen soll, stabil bleiben kann. Diese Haltung erfordert die Tugend der Bescheidenheit und ein Gefühl dafür, dass man nicht immer genau weiß wogegen man opponiert, und dass eine politische Vision manchmal auch ihre eigene Begrenztheit anerkennen muss, um überhaupt zu verstehen wogegen sie versucht hatte sich zu widersetzten.4 Saba Mahmood
Wenn Menschen an Hunger sterben, wenn Millionen staatenloser Menschen kein Recht haben, Rechte zu haben, wenn man Flüchtlinge, die versuchen nach Europa zu fliehen, ertrinken lässt, wenn Menschen Opfer von gezielten Morden durch demokratische Staaten werden, dann ist unser Konzept von Demokratie, das untrennbar mit der Marktwirtschaft und dem Nationalstaat verbun-
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Für Luis Quiros, meinen lieben Freund, inspirierenden Kollegen, sozialen Kritiker und Aktivisten zu seinem 70. Geburtstag in Anerkennung der Jahre seines einmaligen Dienstes an Menschen, die oft als die ‚Anderen‘ gegeißelt werden. Dies ist eine von Andreas Nehring und Ulrike Auga übersetzte, gekürzte Fassung des englischsprachigen Beitrags: Ulrike Auga, Decolonizing Public Space: A Challenge of Bonhoeffer’s and Spivak’s Concepts of Resistance, ‚Religion’ and ‚Gender’, in: Feminist Theology 24(1), 2015, 1–20. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh 1980, 191f. Saba Mahmood, Politics of Piety: The Islamic Revival and the Feminist Subject, Princeton 2005, 199.
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den ist, unzureichend. Es ist inzwischen deutlich geworden, dass der Kapitalismus selbst eine Religion ist. Die souveräne Bio-Macht reguliert das Leben und das Überleben (strategisch unverhältnismäßig), indem sie entweder den Zugang zu den Ressourcen gewährt oder den Ausschluss von ihnen reguliert, oder über die Regulierung von Gesundheit, Sexualität und Sicherheit. Wir sind mit einer ungeheuren Krise der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit konfrontiert, und es kann sein, dass wir an einem globalen Wendepunkt angekommen sind. Die Gründe für diese Krise sind: zunehmende Ungerechtigkeiten innerhalb und zwischen Gesellschaften mit einer wachsenden wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Ausgrenzung. Darüber hinaus nehmen die Menschen einen Mangel an staatlicher Verantwortlichkeit wahr oder sie erhalten überhaupt keine Fürsorge. Mit dem Zustand der repräsentativen Demokratie sind mehr und mehr Menschen unzufrieden, und darüber hinaus schaffen die Vereinten Nationen es nicht, ein nachhaltiges Entwicklungsprogramm gegen Armut, Hunger und ökologische Krisen zu entwerfen.5 Aufstände wie der Arabische Frühling im Dezember 2010 in Nordafrika und im Nahen Osten 2011 und Bewegungen wie Occupy Wall Street (gegen die finanzielle Krise 2007-2008 und die verfehlten Reaktionen) und hunderte von neuen Protestbewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, machen die sozialen Konsequenzen des neoliberalen Imperiums deutlich und erfordern neue Formen des Widerstands und neue Visionen der Solidarität. Auch wenn es aus historischen Gründen angemessener erscheint, von De-Kolonisierung anstatt von Besetzung zu sprechen, ist der Gegenstand der Kritik dennoch berechtigt. Staatsbürgerschaft und öffentliche Räume werden überall auf der Welt erneut kolonisiert. Die Gewalt dabei ist eine Mischung aus ökonomischer, souveräner und epistemischer Gewalt. Deshalb benötigen wir verantwortliche Theologien, die angemessen auf diese Krise antworten. Im 20. Jahrhundert sind unterschiedliche Befreiungstheologien entstanden, von denen sich einige, inspiriert von Dietrich Bonhoeffer, gegen die sozialen Defekte ihrer Zeit aussprachen. Aus der Lateinamerikanischen Option für die Armen entwickelte sich eine grundsätzliche Kritik der Gewalt in Bezug auf ‚Klasse‘, ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘. Diese frühen wichtigen Befreiungsbewegungen und Theologien wollten eine Stimme für die unterdrückten ‚Anderen‘ sein. Allerdings war ihr Widerstand nicht weitreichend genug, wie kritische Feministische, Genderund Queere-, als auch Postkoloniale und Postsäkulare Theorien herausstellten. Diese Zugänge basierten auf ‚Standpunkt-Epistemologien‘, die oftmals (wenn auch unbewusst) essentialisierende Vorstellungen von ‚Identität‘ reproduzier-
5
S. Burke, Time to Press the Reset Button on Representative Democracy? Or Do We Need a Whole New Operating System?, in: W. Puschra, S. Burke (Hg.) The Future We the People Need: Voices from New Social Movements in North Africa, Middle East & North Africa, Berlin – New York 2013, 5–13. 3.
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ten. Ich benutze den Begriff Essentialismus wie er von Sozialwissenschaftler*innen in ihren Diskussionen über das Wesen von ‚Kultur‘ verwendet wird.6 Essentialismus reduziert das Subjekt und konstruiert es als das ‚Andere‘. Essentialismus geht von einem (inferioren) ontologischen a priori aus. „Mit Othering meinen wir, dass man sich jemanden als fremd und anders als wir vorstellt und zwar so, dass sie von unserem normalen, höheren und zivilisierten Wesen ausgeschlossen sind. In der Tat, kann gerade durch die Vorstellung eines fremden Anderen auf diese Art und Weise unsere Gruppe sich ihrer selbst und Exklusivität versichern.“7
Die ‚Option für die Armen‘ essentialisiert Armut als eine Kategorie, wie Marcella Althaus-Reid zurecht kommentiert.8 In verschiedenen neuen Perspektiven wird einerseits versucht, die Fallstricke der Vergangenheit auszugleichen und andererseits auf neue historische Herausforderungen zu reagieren.9 Es wird deutlich, dass das Konzept des Anderen eines der zentralen Themen der Debatte ist, das weiter untersucht werden muss10. Für einige Aktivist*innen und Theoretiker*innen ist das Sorgen für Andere ‚die’ humanitäre und christliche Aufgabe schlechthin, ähnlich wie für Bonhoeffer selbst.11 Allerdings fürchten postkoloniale Kritiker*innen in der Nachfolge von Edward Said, dass ein derartiges Verständnis zu einer universalistischen Objektivierung des ‚Anderen’ führt.12
6
Siehe T.G. Jensen, Religious Authority and Autonomy Intertwined: The Case of Converts to Islam in Denmark, in: The Muslim World 96 (2006), 652–55; R. Keesing, Theories of culture revisited, in: R. Borofsky (Hg.), Assessing Cultural Anthropology, New York 1994, 301–10. 7 A. Holliday, M. Hyde und J. Kullman, Intercultural Communication, London – New York 2010. 8 Marcella Althaus-Reid, Indecent Theology: Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London/New York 2000, 27–33; Vergleiche dazu auch meinen Aufsatz Ulrike Auga, Imagine the future! A critical transreligious bio-theology of ‘the 99 percent’, in: Feminist Theology 22 (1, 2013) 20–37. 9 Siehe Auga ebd.; Jörg Rieger, Kwok Pui-lan, Occupy Religion: Theology of the Multitude, Lanham 2012. 10 Vgl. L. Isherwood und D. Harris, Radical Otherness: Sociological and Theological Approaches, Durham 2013. 11 Siehe L. Quiros, An Other’s Mind, Bloomington 2011. 12 Siehe dazu Edward Said, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günther Holl, Frankfurt a. M. 42014.
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Eine Postsäkulare Lektüre von Bonhoeffers Kirche für Andere und seines Religionslosen Christentums
Bonhoeffer formuliert sein Hauptinteresse, also das was Eberhard Bethge das ‚Oberthema’ nennt,13 in einem Brief vom 30. April 1944: „was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was ist das Christentum oder auch wer Christus für uns heute eigentlich ist.“14
Bonhoeffers Kontext war das gewalttätige Nazideutschland mit rassistisch motivierten Massentötungen von jüdischen Menschen. Solche Bedingungen brachten Bonhoeffer dazu, zum Widerstand aufzurufen, der – wenn nötig – sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt. Dieser Kontext hatte glaubende Menschen in einen Status Confessionis gerufen und es wurde eine radikalisierte Theologie benötigt, die Bonhoeffer in seinen Schriften aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel zu entwickeln versuchte. Bonhoeffer kritisiert die Kirche in Deutschland, weil sie kein Risiko für andere eingeht. „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist […] Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt für andere da zu sein.“15
Bonhoeffer entwickelt seine neue Theologie in seinen Gefängnisschriften. Ich möchte jetzt zwei Texte analysieren, den Brief vom 30. April 1944 und sein Exposé „Entwurf einer Arbeit“ vom August 1944. In dieser neuen Theologie verbindet Bonhoeffer das Konzept des Für Andere da zu sein mit seinen Gedanken über eine Religionslose Gesellschaft und ein Religionsloses Christentum. „Bonhoeffer definiert Religion weder konzeptuell noch entwickelt er irgendeine geschlossene Theorie von Religion“, wie bereits Ralf K. Wüstenberg betont.16 Dennoch analysierte er Religion unter dem Einfluß dessen, was die alte Säkularisierungsthese genannt wird, die davon ausgeht, dass Religion aus einer aufgeklärten Perspektive heraus eines Tages verschwinden würde. Andererseits hatte er seine eigene persönliche christliche Erfahrung und Perspektive, die ihm etwas bedeutete, aber er sah auch, wie gewisse Erscheinungen des Christentums und bestimmte Theologien nicht das Leben fördern sondern den Tod. Die Untersuchung Dietrich Bonhoeffers Theologie heute: Ein Weg zwischen Fundamentalismus und Säkularismus, herausgegeben von John W. 13 Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer: Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 1967, 969. 14 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand, 132. 15 Ebd.,193. 16 Ralf K. Wüstenberg, A Theology of Life: Dietrich Bonhoeffer’s Religionless Christianity, übersetzt von D. Stott, Grand Rapids 1998, 29.
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de Gruchy, Stephen Plant und Christiane Tietz, analysiert die Impulse, die von Bonhoeffers Theologie ausgingen, um Fundamentalismus und Säkularismus zu überwinden.17 In einem Versuch, die gegenwärtige Bedeutung von Christus und dem Christentum zu analysieren schreibt Bonhoeffer: „Die Zeit in der man alles den Menschen durch Worte- seien es theologische oder fromme Worte- sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und das heißt eben, die Zeit von Religion überhaupt.“18
Bonhoeffer fragt, was bedeutet es für ‚das Christentum‘, wenn die Menschheit radikal religionslos wird? „Wenn Religion nur ein Gewand des Christentums ist – und auch dieses Gewand hat zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ausgesehen – was ist dann ein religionsloses Christentum?“19
Bonhoeffer unterscheidet zwischen unterschiedlichen Gewändern des Christentums im Laufe der Geschichte. Er führt aus: die ‚Gestalt‘ oder Form des Christentums als Religion ist erstickend und damit obsolet geworden. „Die zu beantwortenden Fragen wären doch: was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d.h. eben ohne die zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit etc. etc.? Wie sprechen (oder vielleicht kann man aber nicht einmal mehr davon sprechen wie bisher) wir weltlich von Gott, wie sind wir religionslos-weltlich Christen, wie sind wir ekklesia, Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige?“20
Und weiter: „Oft frage ich mich, warum mich ein christlicher Instinkt häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen brüderlich [sic].“21
Es scheint, dass Bonhoeffer zwei unterschiedliche epistemologische Verständnisse von Religion und Christentum entwickelt und anwendet. Das eine Verständnis beschreibt Christentum als Religion, sogar als eine Religion, die sich selbst eine ganze Zeit lang als die einzig wahre Religion verstanden hatte. Diese Art von Religion mit ihrer religiösen Terminologie macht ihn krank und sprachlos. Dann beschreibt er eine Menschheit, die sich richtiger Weise von dieser Art Religion trennt. Er beschreibt auch ein Christentum, das sich von dieser 17 Siehe John W. De Gruchy, Stephen Plant und Christiane Tietz (Hg.), Dietrich Bonhoeffer’s Theology Today: A Way between Fundamentalism and Secularism?, Gütersloh 2009. 18 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand, 132. 19 Ebd., 133. 20 Ebd., 133f. 21 Ebd., 134.
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erstickenden Vorschrift ihres Seins befreit, nämlich eines christlichen Lebens, das in eine fixe Form gedrängt wurde, in bestimmte dominante Dogmen und Sprachformen, und somit in eine unterstellte homogenisierte und essentialisierte kollektive ‚Identität‘. Bonhoeffer entwickelt einen Begriff von Religion, der erklärt, dass wenn eine religiöse Praxis das Leben nicht fördert, wenn sie nicht emanzipierend ist, sie es dann auch nicht wert sei, bewahrt zu werden. Bonhoeffer versucht sodann herauszuarbeiten, was dieses religionslose Christentum sein könnte.
3.
Die De-Essentialisierung von Religion und die Definition von Teilhabe
Bonhoeffer arbeitet am Konzept des Religionslosen Christentums in seinem Entwurf einer Arbeit. Das ist ein fragmentarisches theologisches Dokument eines Buches, das niemals geschrieben werden konnte. Der Entwurf hat drei Kapitel: 1. Bestandsaufnahme des Christentums; 2. Was ist eigentlich christlicher Glaube; 3. Folgerungen.22 Das erste Kapitel behandelt die „Religionslosigkeit des mündig gewordenen Menschen (…) „Gott als Arbeitshypothese ist überflüssig geworden.“23 Im zweiten Kapitel wird das Thema Religion noch einmal aufgenommen und antithetisch ausgeführt. Bonhoeffer fragt: „Wer ist Gott? Nicht zuerst ein allgemeiner Gottesglaube an Gottes Allmacht etc. Das ist keine echte Gotteserfahrung, sondern ein Stück prolongierter Welt. Begegnung mit Jesus Christus. Erfahrung, dass hier eine Umkehrung alles menschlichen Seins gegeben ist, darin, dass Jesus nur für andere da ist. Das Für-andereda-sein Jesu ist die Transzendenzerfahrung! Aus der Freiheit von sich selbst, aus dem Für-andere-da-sein bis zum Tod entspringt erst die Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart. Glaube ist das Teilnehmen an diesem Sein Jesu. (Menschwerdung, Kreuz, Auferstehung). Unser Verhältnis zu Gott ist kein religiöses zu einem denkbar höchsten, mächtigsten und besten Wesen […], sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im Dasein-für-andere, in der Teilnahme am Sein Jesu.“24
Kapitel drei schließt ab: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“25 Bonhoeffer versteht die theologische Frage christologisch und arbeitet sie als anthropologische Frage aus. Die christologische Aussage: „Jesus ist für andere da“ verwandelt sich in: „Glaube ist Teilhabe an diesem Sein
22 23 24 25
Siehe Dietrich Bonhoeffer, Widerstand, 190. Ebd. 191. Ebd.191f. Ebd. 193.
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Jesu.“ Christologie und Anthropologie sind miteinander verbunden. Ein religiöses Verständnis dagegen würde bedeuten, nicht für andere da zu sein. Und die Gegenthese lautet deshalb: Religion wird ersetzt durch ein Leben mit Christus. Leben bedeutet, für andere zu sein. Wüstenberg nennt das „die nichtreligiöse Interpretation ist eine lebens-christologische Interpretation, die den christlichen Glauben und mündiges Leben miteinander in Verbindung bringt.“26 Was lernen wir von Bonhoeffer für unsere Diskussion? Einige Schlüsselbegriffe erscheinen mir für weitere Überlegungen, wie das „Sein für andere“ zu verstehen sein könnte, als besonders interessant. Dieses sind Begriffe wie Partizipation, Leben und Welt. Bonhoeffer ist für eine Widerstandstheologie eine Herausforderung, weil er die Forderung für eine Partizipation in der Welt radikalisiert. Er nimmt auch wahr, was später epistemische Gewalt genannt werden wird. Bonhoeffers Theologie hat den Gestus einer postsäkularen Theologie. Er ermöglicht ein deessentialisiertes Verständnis von Religion in einem postsäkularen Kontext. Er bewahrt die Spannung zwischen einer säkularisierten Welt, einem Engagement in der Welt und der Wertschätzung von ermöglichendem religiösen Wissen und religiöser Praxis. Eine weitere Errungenschaft ist, dass aus seiner christlichen Erfahrung und Perspektive und durch seine De-essentialisierung von Religion, ergänzt durch die Vorstellung von der Teilhabe, die/der „Andere“ im „Sein für Andere“ auf eine de-essentialisierende Weise verstanden werden kann. Wo müssen wir also mit Bonhoeffer und wo über ihn hinaus gehen? Ich möchte drei Bereiche benennen: 1. Bonhoeffer scheint sich nur zum Teil der theoretischen Konzepte hinter der Gewalt, der er begegnet ist, bewusst zu sein. Gewalt erscheint als eine Interdependenz von ökonomischer, souveräner und epistemischer Gewalt. In Bezug auf die epistemische Gewalt sind Bonhoeffers Äußerungen verschieden. In Bezug auf ‚Rasse‘ lehnt Bonhoeffer ein essentialistisches Verständnis strikt ab, das zu einem Othering jüdischer Menschen führen würde. Allerdings wird ‚Religion‘ in seinen Schriften nicht immer gleich gedeutet, geschweige denn, dass sie als eine Kategorie des Wissens betrachtet werden würde, wie in meiner Konzeptualisierung. Die Kategorie ‚Geschlecht‘ wird von ihm in ähnlicher Weise unentschieden behandelt. In seinen frühen theologischen Schriften hatte ‚Geschlecht‘ eine eher binäre naturalisierte, identitäre Perspektive.27 In Bonhoeffers Austausch mit seiner Verlobten aus seiner Zelle im Gefängnis von Tegel hat er ein offeneres nicht-identitäres Verständnis von Geschlecht. Seine neue Theologie 26 Ralf K. Wüstenberg, A Theology of Life, 157. 27 Für eine Debatte über das essentialistische Verständnis von ‚Geschlecht’ und Religion aus verschiedenen religiösen, post-säkularen und transdisziplinären Perspektiven siehe Ulrike Auga et al., Fundamentalism and Gender. Scripture – Body – Community, Eugene 2013.
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wird begleitet durch einen zum Teil neuen Blick auf das ‚zum anderen gemachte‘ ‚Geschlecht‘.28 Wie dem auch sei, Bonhoeffers Verständnis von Geschlecht muss innerhalb des Kontextes seines Verständnisses von Verwandtschaft (kinship) und Fürsorge gewürdigt werden. Bonhoeffer wollte für eine lange Zeit keine enge Beziehung aufbauen, um die Person die ihm verbunden sei, nicht in die Gefahr der Verfolgung zu bringen. Andererseits hat er sich dazu entschieden, zeitweilig in einer Bruderschaft zu leben. In seinem Verständnis von Geschlecht, Sexualität und Begehren scheint es eine vielfältige Weise von Liebes- und Fürsorgebeziehungen zu geben. Sowohl in seinem Denken als auch in seinem Handeln geht er über ein binäres Ehemodell hinaus und misst anderen Formen von Familienzugehörigkeit und Beziehungshaftigkeit gleichfalls Bedeutung und einen hohen Wert zu. 2. Bonhoeffers Motivation entsteht aus christlicher und ökumenischer Perspektive. Heute benötigen wir eine postsäkulare Theologie, die sich auf der Basis eines de-essentialisierten religiösen Pluralismus entfaltet. Dieses schließt auch neue Qualitäten in den Debatten zwischen Theologie, komparativer Theologie und Religionswissenschaften ein. 3. Überlegungen zur Partizipation in der Welt für ‚Andere‘ müssen die Handlungsfähigkeit der marginalisierten ‚Anderen‘ deutlicher in Betracht ziehen, um universalistische Vermutungen zu vermeiden.
4.
Spivaks Konzept von epistemischer Gewalt und ‚Religion’ nach der postsäkularen Wende
Der neue postkoloniale Widerstand hat, wie viele der älteren Ansätze auch, seinen theoretischen Kontext im Marxismus, in der Kritik am Kapitalismus und an Strukturen der Hegemonie. Er bezieht sich auf die Psychoanalyse und überdenkt auf diese Weise, was eigentlich Subjektivierung und Subjektformation ausmacht. Besonders wichtig für seine Verschiebung des Denkens ist seine Verwurzelung im Poststrukturalismus und zu den Überlegungen, des Dechiffrierens von Konstruktionen von Macht, Wissen und Wahrheitsansprüchen. Daher ist ein großer Teil der postkolonialen Theoriebildung geprägt von einer dezidierten Verschiebung zu einer Kritik der Epistemologie. Achille Mbembe bezeichnet in seinen grundlegenden Buch On the Postcolony (2001) das post als Epistemologien, die über den Kolonialismus hinausgehen. Das
28 Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer, Love Letters from Cell 92: The Correspondence between Dietrich Bonhoeffer and Maria von Wedemeyer 1943–45, hg. von R.A. von Bismarck, U. Kabitz, übersetzt von J. Brown, Nashville 1995.
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bedeutet, dass die postkoloniale Kritik koloniale, post-koloniale und neo-koloniale Interaktionen von kolonisierenden Gesellschaften mit einer ehemals ökonomisch, kulturell und territorial kolonisierten Bevölkerung in den Blick nimmt.29 Die Konsequenzen einer solchen Kritik stellen eine Herausforderung an überkommene Vorstellungen von Macht, universalen Wahrheitsansprüchen, Vorstellungen von Repräsentation und von individueller wie kollektiver ‚Identität‘ dar, nicht nur in hegemonialen sondern auch in Diskursen des Widerstands. Als eine wesentliche Aufgabe dieser Kritik bildete sich die Entschlüsselung epistemischer Gewalt heraus. Zu Beginn hatte Edward Said seine inzwischen berühmte These aufgestellt, dass die Figur des kolonisierten ‚Anderen‘ eine europäische Erfindung ist und eine Negativfolie für die weiße zivilisierende Mission darstellt.30 Was dann folgte war eine Kritik an naturalisierten Konzepten wie dem der Nation oder der Kultur, aber auch eine Kritik an Vorstellungen von ‚Rasse‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Klasse‘, und – dann sehr viel später Religion- als homogenisierenden, essentialisierenden und ‚andersmachenden‘ (‚othering‘), interdependenten kollektiven Konzepten. Ich schlage in meinen Arbeiten vor, ‚Religion‘ als eine intersektionale Kategorie des Wissens aufzufassen. Ich will mich im Folgenden Gayatri Chakravorty Spivak zuwenden. Ihr Hintergrund liegt in einer Marxistischen Kritik des Kapitalismus und Feminismus jedoch auch im Dekonstruktivismus. Ihr Werk und ihre Rezeption, sowie auch ihre Rezeption in der Theologie sind dadurch gekennzeichnet, zwischen diesen Seiten hin- und hergezogen zu sein. Spivak selbst hat in ihren Arbeiten das Konzept der epistemischen Gewalt betont, dass Edward Said von Michel Foucault übernommen hatte, und Spivak setzt es vor allem ein in ihrer Kritik der Repräsentation. In ihrem vielfach diskutierten Essay Can the Subaltern speak? Speculations on Widow Sacrifice (1988) argumentiert sie, dass die Position der Subalternen gerade dadurch bestimmt sei, dass sie aufgrund der epistemischen Gewalt des kolonialen Diskurses weder sprechen noch sich selbst repräsentieren könnten.31 Das Konzept der Subalternen übernahm Spivak von Antonio Gramsci. Die subalterne Frau hätte keine Stimme, weil epistemische Strukturen auch das hegemoniale Hören und das Selbstverständnis prägten. Die Konsequenz dieses Ansatzes war, dass Spivaks Essay oft dahingehend falsch verstanden wurde, als ob sie die Position vertreten würde, dass es für die subalternen Menschen und Völker überhaupt keine Möglichkeit geben könne, jemals eine Stimme zu haben. Aber Spivaks Frage geht nicht von der Annahme aus, dass die Subalternen unfähig seien, Handlungsmacht zu generieren, vielmehr betont sie, dass die Subalternen nicht auf essentalistische 29 Achille Mbembe, On the Postcolony, Berkeley 2001. 30 Siehe dazu Edward Said, Orientalismus, sowie Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 31 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Mit einem Vorwort von Hito Steyerl, Wien 2007.
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Weise aus den Diskursen und Institutionen herausgenommen werden können, die voraussichtlich eine Stimme geben. In der Konsequenz bildete sich eine Tradition des Mißverstehens der Spivakschen Aussage heraus, die ein fragwürdiges „Sprechen für“ die Subalternen für notwendig erachtet.
5.
Postkoloniale Theorie, Postkoloniale Theologie und Spivak
Spivaks Einfluss auf das, was dann Postkoloniale Theologie genannt wurde ist enorm. Das ist der Tatsache geschuldet, dass geografisch Spivak an der Columbia University in New York lehrt und andererseits einige OstküstenTheolog_innen verschiedener Universitäten ein starkes Interesse an ihrer Arbeit zeigten. Sie begannen einen fortlaufenden Austausch. Diese Treffen wurden ein Feld der Postkolonialen Theologie die seit den 1990er Jahren emergierte. Postkoloniale Theologie überschneidet sich mit Aspekten von kontextuellen, feministischen Befreiungs- und politischen Theologien. Sie entstand jedoch, um einige der Schwächen der Familie der älteren (identitären) Widerstandstheologien zu überarbeiten. Spivak verwendet den Ausdruck neokoloniales Empire. Empire ist als kritische Kategorie insbesondere deshalb hilfreich für das Studium (historischer) Theologie, weil so die gegenseitigen Beeinflussungen von Kolonialismus, Imperialismus und Theologie herausgearbeitet werden können. So können nicht nur gewisse christliche missionarische Praktiken kritisiert werden, sondern auch der Anteil gewisser Theologien und kirchlicher Praktiken an der Produktion und am Ausschluss des Anderen. Der Titel Planetary Loves (2011) spielt auf Spivaks Verständnis des Planetarischen an, unter dem sie sich eine Welt jenseits von Nationalismen vorstellt. Der Ausdruck scheint auch für die Theologie hilfreich zu sein, da er sowohl als eine de-transzendentalisierende Strategie, als auch als eine Unterbrechung aus Anthropozentrismen gedeutet werden kann.32 Das Verständnis des Begriffes der ‚Identität‘ ist zentral sowohl für die folgenden theoretischen als auch für die theologischen EntscheidungenSpivak selbst sagte, dass ‚strategischer Essentialismus‘ ein Alibi für akademischen Essentialismus sein könnte. In einem Interview sagt sie: „Ich denke Identitätsglaube ignoriert was am Lebendigsein am Interessantesten ist nämlich mit dem anderen verbunden zu 32 Das Ergebnis des siebenten Transdiciplinary Theological Colloquium (TTC7), einem Treffen von Theolog*innen und Spivak, schlägt sich in dem interessanten Band Planetary Loves, nieder, der von Stephen Moore und Mayra Rivera herausgegeben wurde. Moore und Rivera umreißen drei zentrale Themen postkolonialer Theologie, die durch Spivak vorangetrieben werden könnten: Empire, eine Neuinterpretation christlicher Dogmen und Identität. Siehe Steven Moore / Mayra Rivera (Hg.), Planetary Loves: Spivak, Postcoloniality, and Theology, New York 2011, 13.
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Ulrike Auga sein. Ich fand es daher unglücklich, dass Menschen die Phrase [strategischer Essentialismus, U.A.] mochten“.33
Trotz Spivaks wiederholter Warnung Identität nicht zu essentialisieren und daher nicht Geschlecht, Kultur, Nationalität zu essentialisieren, wird dieses wiederholt vorgenommen und dabei unterstellt, dass es ihre Idee gewesen wäre. Sie meint, dass manchmal, um politische Allianzen zu bilden, man auf ‚unterdrückte Identitäten‘ anspielen könne und unterstreicht, dass ihr strategischer Essentialismus nur als eine Widerstandsstrategie gemeint gewesen war und nicht als ihre theoretische Perspektive zu verstehen ist. Allerdings, ihre Einleitung im Buch Planetary Loves ist nicht klar in dieser Frage und bietet daher ein Angebot für zwei Strömungen der Spivak Nachfolgenden, jene die mit ‚kultureller Identität‘ arbeiten und jene die diesen Begriff der Identität kritisch sehen, wie in meiner Arbeit. Im Anschluss an Spivak und insbesondere an Edward Said und Homi Bhabha würde ich behaupten, dass eine der wichtigsten Unterschiede zwischen Befreiungstheologien und Postkolonialen Theologien darin liegt, dass letztere daran arbeiten, die epistemische Gewalt zu überwinden, die den essentialisierenden Vorstellungen von Identität inhärent ist, die in den älteren Identitätskämpfen und Identitätstheologien vorherrschen. Kritiker_innen wie Edward Said warnten stets vor jeglicher Form von Essentialisierung. Auch die frühen Theoretiker_innen nationaler Befreiung wie Frantz Fanon waren sich der Gewalt des Nationalismus und des Kulturalismus im nationalen Befreiungskampf bewusst.34 Die Debatte darüber, wie Geschlecht zu verstehen sei, verschob sich nachhaltig mit Judith Butlers überzeugenden frühen und späteren Arbeiten zur Performativität. Daraus folgt, dass Kategorien wie ‚Gender‘, ‚Nation‘ usw. als performativ hervorgebracht und nicht als ‚natürlich‘ verstanden werden dürfen.35 Insbesondere die emergierende kritische Queere-Theorie hinterfragte Konzepte von feststehenden, essentialisierten Identitäten, auch denjenigen, die im Widerstand konstruiert werden. Das Zeitalter der Identität war davon ausgegangen, dass ein gutes Leben dann möglich würde, wenn man nur seine ‚Identität ausleben‘ könne. Diese angenommene ‚Kern-Identität‘ (in Zusammenhang mit dem Kampf um Rechte) führte zu identitären Widerständen, die in sich selbst epistemische Gewalt enthielten, da das Selbst oder das Kollektiv über den Ausschluss eines konstruierten essentialisierten Anderen hergestellt
33 Siehe für Spivaks häufig missverstandene Rede von ‚strategischem Essentialismus‘ den Interviewband S. Chakravorty u.a., Conversations with Gayatri Chakravorty Spivak, London /New York/ Calcutta 2006, hier: 64, sowie Gayatri Chakravorty Spivak, Criticism, feminism and the institution. Interview with Elizabeth Gross, in: Thesis Eleven 10–11 (November/March 1984–85), 175–187, hier:183f. 34 Siehe dazu Frantz Fanon, Die Verdammten der Erde, Frankfurt a.M. 1981. 35 Siehe Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006.
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worden ist. Oder sie verfehlt ihr Ziel, weil ein Subjekt das im Namen der Identität bestimmte Rechte reklamiert, essentialisierende Kategorien wieder festschreibt.36 Der verstorbene José Muñoz entwickelte in seinem Buch Disidentifications: Queers of Color and the Performance of Politics (2007) eine Strategie, die er ‚Des-Identifizieren‘ nannte, um so diese gewalttätigen Identitäten des Widerstandes aufzulösen und über sie hinaus zu gehen. Es ist also deutlich: Repräsentation als Sprechen für jemanden zu verstehen, ist ein deutliches Missverständnis von Spivaks Ansatz. Darüber hinaus weist Spivak ein identitäres und essentialisierendes Verständnis von Nation und Gender zurück. Allerdings bieten ihre Gedankenspiele mit der Vorstellung eines strategischen Essentialismus Möglichkeiten zur Missdeutung. Ein schwerwiegendes Problem bleibt bei Spivak bestehen, wenn ihre Theorien für eine Postkoloniale Theologie angewandt werden sollen, die sich der Überwindung epistemischer Gewalt bewusst ist. Moore und Rivera stellen fest: „Spivaks Programm ist an sich sicherlich nicht religiös.“37 Es ist interessant zu sehen, wie feministische Theologinnen Cathrine Keller, Serene Jones, Kwok Pui-lan und der postkoloniale komparative Theologe John Thatamanil versuchen Spivak während der öffentlichen Debatten zu provozieren oder zu überzeugen ein postsäkulares Statement abzugeben. Es geschieht nicht.38 Die Frage, die auf der Hand liegt, ist nicht ob jemand religiös praktizierend ist oder nicht. Vielmehr ist die Schlüsselfrage, welches Verständnis des Konzeptes von ‚Religion‘ eine bestimmte theoretische oder praktische Perspektive enthält. Ist es eine essentialistische (ontologische) oder eine nicht-essentialistische Perspektive? Seit Tomoku Masuzawas The Invention of Word Religions (2005) sind mehrere Studien über den konstruierten oder imaginierten Charakter von Religion erschienen.39 Theoretiker wie Benedikt Anderson, Eric Hobsbawn und Terance Renger und andere denaturalisierten das Konzept der Nation oder Tradition nachhaltig als imaginierte Kategorien. Die Arbeiten, die Religion dekonstruieren spielen meist auf Andersons Nation als ‚imaginierte Gemeinschaft‘ an. Darüber hinaus finden sich aber auch Überlegungen, die neue postkoloniale und postsäkulare Religionstheologien entwerfen.40
36 Siehe J.E. Muñoz, Disidentifications: Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 2007. 37 Steven Moore / Mayra Rivera, Planetary Loves, 13. 38 Siehe Ebd., 55–78. 39 Siehe u.a. Daniel Boyarin, Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2007; J.A. Josephson, The Invention of Religion in Japan, Chicago/London 2012; aber auch ältere Werke wie das von David Chidester, Savage Systems: Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996; Richard King, Orientalism and Religion: Postcolonial Theory, India and ‘The Mystic East’, London / New York 1996. 40 J. Daggers, Postcolonial Theology of Religions. Particularity and Pluralism in World Christianity, Abingdon / New York 2013.
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6.
Ulrike Auga
Postkoloniale Theorie und die Postsäkulare Verschiebung
Um Spivaks Verständnis von Religion im Licht der postsäkularen Wende besser würdigen zu können, möchte ich einige Schlüsselprobleme untersuchen. Wenn wir die Beziehung zwischen ‚Religion und dem Postkolonialen‘ betrachten, zeigt sich, dass sie nur kürzlich Fahrt aufnahm. Diese Verschiebung ist markiert durch den Eintrag eines Essays dieses Namens in eine der Hauptwerkzeuge Postkolonialer Theorie, der Publikation Postcolonial Studies. Dort wird erklärt, dass der Beginn der Beziehung von einem Verdacht gegenüber ‚westlichen‘ Missionaren und universalistischen Theologien gekennzeichnet war. Ein großer Teil der älteren (feministischen, schwarzen) Widerstandstheorie war vom Marxismus und seiner atheistischen und historizistischen Philosophie beeinflusst. Weil in der Episteme, der unbewussten Wissensordnung des späten 18. bis 20. Jahrhundert die Essentialisierung und in der Konsequenz Identitätsdiskurse wirken, um neues Wissen zu generieren, so war auch das Konzept der ‚Religion‘ in dominanten wie in widerständigen Diskursen essentialistisch. Einige historische Ereignisse waren einflussreich in der Verschiebung des Verhältnisses von Religion und Postkolonialismus. Das Jahr 1989 markierte das Ende der meisten gewaltvoll atheistischen soziaistischen totalitären Staaten. Mit dem 11. September 2011 und den Islamistischen Terroratacken in den USA sowie mit dem Arabischen Frühling geriet die Kategorie Religion in den Fokus der Analyse. Ich möchte im Folgenden fünf sich verschiebende Debatten nennen: 1. Ein Phänomen, das Neo-Orientalismus (Okzidentalismus) genannt wird, wurde sichtbar; das heißt Islamischer Fundamentalismus wurde benutzt, um den Islam als solchen zu kritisieren. Auf diese Weise konnte eine Sicht des ‚Westens‘ von sich selbst als aufgeklärter und eine Sicht vom Christentum als der rationaleren Religion etabliert werden. Talal Asad kritisiert den westlichen Zivilisationsdiskurs, für das Entwickeln einer Identität, die verwurzelt ist in einer Vorstellung eines vermeintlichen Zusammenfalls von Christentum, Säkularisierung, Liberalismus und Demokratie.41 2. Es entstand eine Debatte über das Ende des traditionellen Säkularisierungskonzeptes. Die Vorstellung, dass Religion mit der Zeit verschwinden würde, stellte sich als falsch heraus. Vielmehr wurden neue Vorstellungen des Konzeptes von ‚Religion‘ generiert.42 3. Es wurde nun betont, dass sich Subjektformation, Handlungsmacht und menschliches Blühen (human flourishing) auch im Rahmen religiöser Praktiken 41 Talal Asad / Wendy Brown / Judith Butler / Saba Mahmood, Is Critique Secular? Blasphemy, Injury, and Free Speech, Berkeley 2009, 13. 42 Vgl. Talal Asad, Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore 1993; Talal Asad, Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003.
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ausbilden können. Saba Mahmoods Untersuchung: Politics of Piety. The Islamic Revival and the Feminist Subject (2005) wurde zu einem Wendepunkt in vielen der Debatten. In ihrer ethnographischen Untersuchung von Graswurzel- Frömmigkeitsbewegungen von Frauen in Kairo hinterfragt Mahmood die säkular-liberalen Prinzipien als Ziel von Widerstand. Ein Ergebnis ihrer Untersuchung ist, dass die Frauen in diesen Bewegungen ihre Subjektformation, Handlungsmacht und ihr menschliches Blühen jenseits westlicher (feministischer) Werte von Freiheit und Autonomie erhalten. Auf diese Weise erweitert sie Foucaults Vorstellung von Widerstandsdiskursen und Butlers Auffassung von Performativität. Mahmood betont, dass Handlungsmacht auch im Ausüben von Normen (und nicht im Widerstand gegen dominante Diskurse) ausgebildet werden kann. In Konsequenz muss auch Religion als eine Praxis verstanden werden, die neue Möglichkeiten eröffnet woraus folgt, dass ‚Religion‘ auch Handlungsmacht (agency) ermöglichen kann. 4. Dieses Buch war so überzeugend, dass z. B. Judith Butler ihre Position in Bezug auf das Konzept des Widerstands und die Vorstellung von Religion änderte. Daraus ergaben sich einige gemeinsame Debatten zwischen Judith Butler, Talal Asad, Wendy Brown und Saba Mahmood, in denen das Verhältnis von Kritik und Religion untersucht wurde. In dem Buch, das aus diesen Debatten in Berkeley entstand, die ebenfalls von dem dänischen Kartoon-Streit43 überschattet gewesen war, vollzogen die Autoren_innen eine fundamentale Aufkündigung des Säkularismus der Kritik und der Wissenschaften, der bislang in den ‚westlichen‘ Akademien vorausgesetzt war, welcher reklamierte, dass neues Wissen nur im Kontext der ‚Vernunft‘ und zwar streng getrennt von ‚Religion‘, die als unvernünftig angesehen wird, generiert werden könne. Dieses Erbe wurde von Marx weitergegeben bis zum frühen Habermas und es findet sich bis heute in der postkolonialen Spivak. Die Antwort auf die Frage: „Ist Kritik säkular?“ die Asad, Butler, Brown und Mahmood geben ist: „Nein“. Die Konsequenz daraus ist: Religiöse Praktiken und das Konzept von Religion sind Orte an denen neues Wissen entstehen kann. 5. Schließlich wandelte sich die Rolle von Religion in der öffentlichen Sphäre.44 Jürgen Habermas, ‚der‘ Philosoph der öffentlichen Sphäre schlechthin, der in der Vergangenheit die Ansicht vertreten hatte, dass die öffentliche Sphäre säkular sei, besteht nun darauf, dass der Religion wesentliche Aufmerksamkeit zukommen muss. Die öffentliche Sphäre muss für alle offen sein, und der Beitrag von Religion werde sogar gebraucht, um den Kapitalismus zu korrigieren. Allerdings sollte der Beitrag religiöser Menschen in nicht–religiöse Konzepte übersetzt werden.45 Das Ergebnis war ambivalent, einerseits gewann Religion nun an Bedeutung, andererseits bleibt die Kategorie Religion bei Habermas die ‚geotherte‘ Andere des Diskurses, wie ich an anderer Stelle kritisierte.46 Charles Taylor hebt die öffentliche Sphäre als einen Bereich von Kreativität und Religion 43 Vgl. Asad u.a., Is Critique Secular? 44 Siehe Judith Butler, Jürgen Habermas, Charles Taylor and Cornel West, The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011. 45 Jürgen Habermas, An Awareness of What is Missing: Faith and Reason in a Postsecular Age, Cambridge 2010. 46 Ulrike Auga, Religion, Biomacht und human flourishing. Formen der Solidarität und die gesellschaftliche Imagination einer transreligiösen kritischen Biotheologie, in: U. Blohm, N. Forcano, S. Gudmarsdóttir, S. Knauss und R. Papacek (Hg.), Feminist theology: listening to, understanding, and responding to a secular and plural world, in: Journal of the ESWTR 20, 2012, 87–112.
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Ulrike Auga hervor, in dem die Bürger_innen ihrem Zusammenleben eine gemeinsame Form geben und in dem sie nach Überschneidungen in ihren Wertevorstellungen suchen. Ich begrüße Taylors Argument in Bezug auf das soziale Imaginäre (social imaginary), aber er unterschätzt m.E. die kapitalistischen Bedingungen mit ihren biopolitischen Regulierungen in einer globalisierten Welt.47 Neben Habermas‘ und Taylors monumentalen Werken fand eine Debatte statt, die der Frage: „Ist Kritik säkular?“ nachging. Butler, Habermas, Taylor und Cornel West haben darüber diskutiert. In dem Buch The Power of Religion in the Public Sphere (2011) hob Cornel West die Bedeutung der biblischen Prophetie für soziale Visionen hervor. Judith Butler rief das Konzept der religiösen Kohabitation wieder auf. Allerdings reklamierte sie, dass dieses nur möglich sei, mit einem de-essentialisierten Konzept von Religion.48
Wenn ich Spivaks Position in Bezug auf Religion im Licht dieser von mir erwähnten postsäkularen Debatten betrachte, komme ich zu folgender Schlussfolgerung: In Bezug auf die Kategorie Religion vergisst Spivak, meines Erachtens, ihr dekonstruktivistisches Aufwachsen und hält an einer atheistischen Position fest, unberührt von den postsäkularen Debatten. Während sie Konzepte wie ‚Nation‘ oder ‚Geschlecht‘ dekonstruiert und vermeintliche Identitäten hinterfragt, wird ‚Religion‘ von ihr nicht als eine diskursive Kategorie verstanden. In Butlers und Spivaks gemeinsamen Buch Who Sings the Nation State? Language, Politics, Belonging (2007) hinterfragen sie die Vorstellung von Identität und entscheiden sich dafür, anstelle von Identität von kollektiver Zugehörigkeit zu sprechen, da Identität in der Gefahr stehe, in homogenisierenden und essentialisierenden Begriffen verstanden zu werden. Bei Spivak wird Religion nicht als eine Wissenskategorie angesehen. In Bezug auf Religion geht Spivak von einem identitären und essentialisierenden (ontologischen) Verständnis aus. Religion ermöglicht weder Handlungsmacht noch die Schaffung neuen Wissens, sie ist auch kein Bereich für soziale Imaginationen. Eine derartig säkularistische Position unterliegt der Gefahr, epistemische Gewalt in ihrer Wahrnehmung von Religion zu enthalten.
7.
De-Kolonisierung und Handlungsmacht in Bussen
Alternative Wege des Sprechens über Handlungsmacht scheinen angemessener für das Analysieren des Widerstandes von Menschen, unter marginalisierten Bedingungen als Vorstellungen von Identitätskämpfen. Wir versuchen auch die Interdependenz von ökonomischer, souveräner und epistemischer Gewalt angemessener zu addressieren. Die Termini biopolitische Regulierungen oder biopolitische Gouvernementalität beschreiben diese regulierenden
47 Ebd. 48 Siehe Butler u.a., The Power of Religion in the Public Sphere.
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und normalisierenden Aktivitäten des kapitalistischen Nationalstaates.49 Ein Teil dieses postkolonialen Kontextes ist die Kolonisierung des öffentlichen Raumes. Daraus resultieren im Widerstand auch Aktivitäten, die diesen öffentlichen Raum besetzen, wie die Occupy Wall Street Bewegung. Ich möchte nun auf zwei weitere Beispiele des de-kolonisierenden Widerstands eingehen. Das erste stammt aus der Civil Rights Bewegung, und das andere betrifft gegenwärtige Kämpfe ums Überleben, für Leben und menschliches Blühen. Beide Ereignisse finden in Bussen statt.
Neubetrachtung von Rosa Parks (1913-2005) – Körperlicher Widerstand und Performativität Das erste Beispiel ist Rosa Parks Protest, der sehr bekannt ist und daher nur kurz erläutert werden muss. Am 1. Dezember 1955 weigerte sich Parks in Montgomery, Alabama, USA, der Anordnung eines Busfahrers Folge zu leisten und ihren Sitzplatz in der Sektion für Farbige einem weißen Fahrgast zu überlassen, nachdem der Bereich für Weiße besetzt gewesen ist. Parks Weigerung und der Montgomery Bus Boykott wurden zu herausragenden Symbolen der Civil Rights Bewegung.50 In großer Anerkennung von Parks Errungenschaften soll zusätzlich daran erinnert werden, dass sie nicht die erste war, die sich gegen die Segregation in Bussen gewehrt hatte. Irene Morgan hatte bereits 1946 und Sarah Luise Keys im Jahr 1955 dagegen protestiert und es gab auch noch weitere, die Widerstand geübt hattenen. Zur Zeit dieses Ereignisses war Parks Vorsitzende der Sektion der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) in Montgomery. Führungskräfte der NAACP waren der Ansicht, dass sie die beste Kandidatin sei, um nach ihrer Verhaftung ein Gerichtsverfahren durchzustehen, weil sie angestellt war, weil sie Christin und weil sie heterosexuell verheiratet war. Sie gewann ihren Prozess, der breit unterstützt wurde, und sie wurde so zu einer Ikone des Protestes.51 Andererseits hatte der queere Organisator Bayard Rustin, ein Berater von Martin Luther King Jr., seinen früheren Bus-Protest nicht öffentlich gemacht, sondern, im Gegenteil, einige seiner Mobilisierungsaktivitäten verheimlicht, weil er fürchtete, ‚geoutet‘ zu werden und dass sich dieses auf den Widerstand negativ auswirken könnte.52 49 Siehe Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik: Vorlesung am Collège de France 1978 – 1979, Frankfurt a.M. 2004. 50 Siehe J.A. Gibson Robinson, The Montgomery Bus Boycott and the Women Who Started It, Knoxville 1987; Rosa Parks und J. Haskins, Rosa Parks: My Story, New York 1994. 51 Siehe D. Brinkley, Rosa Parks: A Life, London 2005; R. Dove, On the Bus with Rosa Parks, New York 1999. 52 Siehe M.G. Long (Hg.), I Must Resist. Bayard Rustin’s Life in Letters, San Francisco 2012, X.
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Ich möchte fünf Beobachtungen benennen, die mir für diese de-kolonisierenden Aktivitäten als relevant erscheinen: a) der Körper selbst ist widerständig; b) der Widerstand richtet sich gegen ein etabliertes Gesetz; c) der/die Protestierende ist auf mehrfache Weise marginalisiert; d) der öffentliche Raum eines Busses ist ein Ort den insbesondere Personen benutzen müssen, die in ökonomisch prekären Verhältnissen leben; e) der Akt des Widerstands ermöglicht nicht nur Handlungsmacht durch die Änderung der politischen Situation, sondern ist ein emanzipatorischer, performativer und materialer Akt, menschlichen Blühen in sich selbst.
Fayza (678) – Vielfalt an Handlungsmacht und Menschliches Blühen In meinem zweiten Beispiel möchte ich den ägyptischen Film Kairo 678 aus dem Jahr 2010, der von Mohamed Diab gedreht wurde, anschauen.53 Der Filmplot fokussiert sexuelle Belästigung von Frauen in Ägypten. Der Film zeigt das Leben von drei ägyptischen Frauen unterschiedlicher sozialer Hintergründe, die öffentlich belästigt werden und dieses nicht länger hinnehmen wollen. Alle drei verteidigen sich, jedoch auf unterschiedliche Weise. Der Film beginnt mit Fayza (Boshra Parwani), einer Regierungsangestellten mit sehr niedrigem Einkommen, die in prekären Verhältnissen lebt. Auf ihrem Weg zur Arbeit wird sie im Bus 678 ständig belästigt, dann aber auch im Taxi, als sie versucht die öffentlichen Verkehrsmittel zu vermeiden. Der Film zeigt sie in einem überfüllten Bus, ein Ort täglicher Erniedrigung und Qual. Sie wird als eine arme und religiöse Frau in einer patriarchalen, sexualisierten und sexistischen Gesellschaft andauernd herabgestuft. Der öffentliche Raum, einschließlich des Busses bietet keine Sicherheit. Wenn sie belästigt wird bekommt sie keinerlei Unterstützung, weil sexuelle Belästigung in Ägypten offiziell gar nicht existiert. Sowohl vor als auch nach der Revolution des Arabischen Frühlings wird das Thema tabuisiert. Auch zu Hause ist Fayza nicht sicher. Sie weist die Versuche ihres Mannes, mit ihr zu schlafen, zurück, fühlt sich aber unfähig ihm zu erklären, warum sie keine sexuelle Beziehung mit ihm haben kann. Sexuelle Belästigung führt fälschlicher Weise dazu, dass die Überlebenden sich beschämt fühlen. Ihr Ehemann bringt sogar religiöse Gründe dafür an, warum er mit ihr schlafen sollte. Daher fühlt sie sich auf vielerlei Weise verletzt. Die ununterbrochene ökonomische und epistemische Gewalt unterstreicht, dass zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre kein Unterschied besteht. In einem Anti-Belästigungsseminar sucht Fayza Hilfe bei Nelly. Allerdings ist sie so beschämt, dass sie nicht zugeben kann, belästigt worden zu sein. Die Situation wird unerträglich als Fayza herausfindet, dass ihre Kinder 53 M. Diab, . مليف٦٧٨678 – feelm sitta seba' thamaniyya, Ägypten 2010.
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nicht am Schulunterricht teilnehmen dürfen. Dort werden sie sogar bestraft, weil die Familie nicht mehr in der Lage war, die Schulgebühren zu bezahlen. Es scheint, als ob ihre Kinder leiden müssen, weil die Mutter das Geld braucht, um mit dem Taxi zu fahren um so dem sexuellen Mißbrauch im Bus zu entgehen. Aber die Kinder auf eine billigere Schule zu schicken wäre auch keine Alternative, da sie dort nicht sicher sein würden. Schließlich entscheidet sich Fayza, doch in den Bus einzusteigen und sich selbst zu verteidigen, indem sie in die Genitalien eines Angreifers sticht. Die zweite Person die der Film zeigt, ist Nelly (Nahed El Sabai), eine Schmuckdesignerin aus der Mittelklasse. Sie wird Opfer einer Massenvergewaltigung in einem Fußballstadium. Ihr Ehemann, ein moderner Arzt, kann sie nicht erreichen, als Nelly um Hilfe schreit. Die Konsequenz ist, dass zunächst er nicht mehr mit seiner Frau leben kann, da er nicht in der Lage ist, mit seiner Vorstellung von korrekter Männlichkeit zu Recht zu kommen. Schließlich trennt Nelly sich von ihrem Mann und eröffnet ein kostenloses Seminar gegen sexuelle Belästigung im Al Sawi Kulturzentrum. Die dritte Person ist Seba (Nelly Karim), eine Bühnenkomikerin und Angestellte in einem Callcenter, die von ihren Kunden sexuell mit Worten belästigt wird. Ihr Arbeitgeber verlangt von ihr aus wirtschaftlichen Gründen, diesen Mißbrauch zu ertragen. Darüber hinaus wird sie, als sie nach Hause geht, von dem Fahrer eines Kleintransporters gepackt und durch die Straßen geschleift. Als er sie loslässt beschließt sie, dem Fahrzeug nachzurennen und springt auf die Motorhaube und klammert sich an den Transporter, bis sie mit der Hilfe von anderen den Fahrer aus dem Wagen zerrt und ihn der Polizei übergibt. Mit größten Schwierigkeiten kann sie Anzeige wegen sexueller Belästigung erstatten. Sie tritt später in einer Fernsehshow auf, weil sie die erste Ägypterin war, die eine derartige Anzeige erstattet hatte. In der Erzählung werden das Leben und die Aktionen der Protagonistinnen miteinander verwoben. Schließlich verbinden sich Fayza, Nelly und Seba, in einer komplizierten und komplexen Solidarität, um sexuelle Belästigung und die patriarchale Situation in ihrer Gesellschaft zu bekämpfen, in der der Staat ihnen weder Fürsorge noch Sicherheit bietet. Die drei Frauen kommen in der Tat aus sehr verschiedenen Hintergründen und finden jede ihren subjektiven Wege um Handlungsmacht und menschliches Blühen zu erlangen, aber sie verbinden sich zusammen in einem Projekt für eine geteilte Zukunft.
8.
Biopolitische Gouvernementalität und Handlungsmacht
Im Laufe der letzten Jahre ist der öffentliche Raum für soziale Interaktion und Zusammenleben überall auf der Welt unsicherer geworden. Am 16. Dezember
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2012 wurde in Munirka, einem Stadtteil am südlichen Rand von Neu-Delhi, eine 23 jährige Frau in einem privaten Bus von mehreren Männern geschlagen und vergewaltigt. Die Frau starb 13 Tage später auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Dieses Ereignis rief internationalen öffentlichen Protest gegen die Regierung von Indien und die Stadtverwaltung von Delhi hervor, wegen des Fehlens der Gewährung einer angemessenen Sicherheit für Frauen.54 Der Fall von Rosa Parks, die Kairo 678 Geschichte, die auf historischem Material beruht und das Ereignis in Indien können als Beispiele dafür dienen, wie Menschen weltweit unter sexueller Gewalt leiden. Darüber hinaus unterstreichen sie, die Interdependenz ökonomischer, souveräner und epistemischer Gewalt und deren Implikationen für die biopolitische Gouvernementalität. Jedoch ist mit den oppressiven Erfahrungen auch der Widerstand des Subjektes verbunden. Wir können das Emergieren vielfältiger Formen des Widerstands, der Subjektformation und der Handlungsmacht beobachten. Neuere Untersuchungen darüber wie Menschen, die unter Armut leiden an politischen und sozialen Prozessen teilnehmen, zeigen neue Konzeptualisierungen der Handlungsmacht der Menschen. Sie gehen über traditionelle Vorstellungen von der Partizipation der Marginalisierten an zivilgesellschaftlichen Widerstandsformen oder sozialen Bewegungen hinaus. „Diese Versuche bestätigen, dass eine Spaltung besteht zwischen einer eng definierten Zivilgesellschaft, die immer noch durch rechtsbasierte Staatsbürgerschaft mit dem Staat verbunden ist, und der Regierung von prekär lebenden Bevölkerungen, die Räume besetzen und sich Orte schaffen, die nicht länger den Rändern oder Peripherien zugeordnet sind.“55
In dieser Spaltung finden wir, was Partha Chatterjee die politische Gesellschaft der Regierten nannte, ein programmatischer Ausdruck für neue soziale Bewegungen. Chatterjee erforscht subalterne Politiken in Indien und zeigt in seinem einflussreichen Buch The Politics of the Governed (2004) wie die Figur der Regierten an der Schnittstelle von dem Staat, der Freiheit und Gleichheit verspricht, und der biopolitischen Gouvernementalität auftaucht.56 Chatterjee schreibt: „Die klassische Idee der populären Souveränität, die in den rechtlich-politischen Fakten von gleicher Staatsangehörigkeit zum Ausdruck kommt, hat ein homogenes Konstrukt von Nation hervorgebracht, wohingegen die Aktivitäten der Gou-
54 Siehe G. Harris, Charges Filed Against 5 Over Rape in New Delhi, The New York Times, 3 January 2013 (http://www.nytimes.com/2013/01/04/world/asia/murdercharges-filedagainst-5-men-in-india-gangrape). 55 U. Kistner, The ‘Political Society’ of the Governed? Marginalia beyond ‘Marginalisation’. MS of the conference: The Shifting Identities of the Rural, Urban and Virtual Poor: Re-imagining a Discourse of Reconciliation and Social Cohesion in South Africa, University of Pretoria, South Africa, 2013, 1–9. 1. 56 Partha Chatterjee, The Politics of the Governed: Reflections on Popular Politics in Most of the World, New York 2004.
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vernementalität vielfältige, sich überschneidende und verschiebende Klassifikationen der Bevölkerung als Ziele für vielfältige Politiken erfordern, und so notwendig ein heterogenes Konstrukt des Sozialen produzieren. Hier zeigt sich der Gegensatz zwischen der hochfliegenden politischen Vorstellung von populärer Souveränität und der banalen administrativen Wirklichkeit der Gouvernementalität: ein Gegensatz zwischen dem homogenen Nationalen und dem heterogenen Sozialen.“57
Die Folge davon ist, dass das Subjekt unter der Gouvernementalität kein_e wirklich_e Bürger_in ist und damit weder eine Angelegenheit der Politik noch der politischen Repräsentation. Gouvernemental regierte Bevölkerungen schaffen sich ihre eigene spezifische „politische Beziehung zum Staat“58. Chatterjee nennt diesen Bereich der Politik eine politische Gesellschaft in Unterscheidung zur Zivilgesellschaft. „Diese Gruppen […] akzeptieren, dass ihre Aktivitäten oftmals illegal sind und konträr zu einem guten bürgerlichen Verhalten stehen, aber sie erheben Ansprüche auf Wohnort und Existenzgrundlage als eine Sache des Rechtes.“59
Auf diese Weise ist staatsbürgerlicher Aktivismus in den Politiken der Regierten enthalten. Ulrike Kistner fasst die Bedeutung von Chatterjees Untersuchung folgendermaßen zusammen: „Es ist die konzeptuelle Grundlage, die theoretisch die Möglichkeit skizziert, sich politisch ein gutes Leben im schlechten vorzustellen, oder eine Möglichkeit den Streit um biopolitische Gouvernementalität als politischen Streit zu denken.“60
Vergleichbar mit Chatterjees Untersuchung der subalternen Politiken in der Umgebung von Calcutta, ist Arjun Appadurais Buch The Future as Cultural Fact (2013) auf Formen von prekärem Zusammenleben in Mumbai fokussiert. Darin zeigt er auf, wie die Bewohner_innen dort aktiv begannen biopolitische Regulierungen zu vereinnahmen und zu überschreiten. Aber während Chatterjee sich auf seine politische Gesellschaft konzentriert, in welcher er alternative Formen von Politik eher unrealistisch und ein wenig zu positiv diskutiert, geht Appadurai in eine andere Richtung. Appadurai anerkennt das Dilemma von armen Gemeinschaften, in das sie geraten wenn sie gemeinschaftlich Risiken auf sich nehmen müssen. Damit meint er, die Notwendigkeit „jede Gelegenheit zu ergreifen um in der öffentlichen Domäne zusammenzuarbeiten, zu experimentieren und etwas anzustreben, und zwar nicht nur mit den Verbündeten, sondern auch mit den Gegnern.“61
Darüber hinaus wenden die Regierten andere Strategien an, um in der städtischen Infrastruktur bestimmte Ziele zu erreichen, indem sie auf der Ebene der 57 Ebd. 35. 58 Ebd. 37. 59 Ebd. 40. 60 U. Kistner, The ‘Political Society’ of the Governed?, 3. 61 Arjun Appadurai, The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, London/New York 2013, 129.
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staatlichen Bürokratie pragmatisch und unpolitisch handeln und indem sie bestimmte Instanzen der Selbst-Überwachung und Selbst-Regulierung einrichten. „Aber meine eigene Perspektive ist, dass diese Art der Gouvernementalität von unten in der Welt der Armen in den Städten als eine Art Gegen-Gouvernementalität fungiert, angeregt durch die sozialen Beziehungen der geteilten Armut, der Begeisterung an aktiver Teilnahme in den Politiken des Wissens und durch die Offenheit gegenüber Korrekturen, durch andere Arten vertrauten Wissens und spontane Alltags-Politiken.“62
Diese Gegen-Gouvernementalität ist auch ein Testfeld für eine tiefe Demokratie (‚deep democracy‘), indem sie soziale Legitimierung und Gesten und Kontexte der Solidarität hervorbringt.63
9.
Fazit: Meine Kritische Bio-Theologie als eine Radikale Theologie des Lebens
Nach unserer Reise, die mit einer Untersuchung von Bonhoeffer und Spivak begann und dann nach neueren Möglichkeiten Ausschau hielt, wie sich ‚Religion‘, Marginalisierung und Widerstand konzeptualisieren lassen, wollen wir einige Schlussfolgerungen ziehen für eine hoffentlich angemessene Art, theologischer Wissenschaftsarbeit. Ich habe meinen eigenen Ansatz eine Kritische Bio-Theologie genannt. Ich bin daran interessiert, den Einfluss von theologischen Aspekten oder religiösen Performanzen auf dominierende und widerständige Diskurse in einer Gesellschaft zu untersuchen. Es ist gezeigt worden, dass in der Wissensordnung (Episteme) des 20. und 21. Jahrhunderts Fragen nach dem Konzept des Lebens eine zentrale Rolle spielen. Ich will daher nach denjenigen Aspekten Ausschau halten, die gewalttätig und Leben bedrohend sind. Trotzdem bin ich noch mehr daran interessiert, Gesten des Überlebens und des Lebens in Gegendiskursen zu entdecken und von daher meine Radikale Theologie des Lebens zu entwickeln. Der erste Teil fokussiert die Notwendigkeit für theologisches Arbeiten nachhaltig dazu beizutragen Gewalt in den dominanten Diskursen zu benennen und zu überwinden. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Beitrag von Theologie in Gegendiskursen, nämlich solidarische kollektive Vorstellungen (collective imaginaries) zu entwerfen. Die Diskurse sind natürlich miteinander verwoben.
62 Ebd. 167. 63 Ebd. 212.
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Der Ausgangspunkt ist, dass Theologie und Religionskritik ökonomische, souveräne und epistemische Gewalt in ihrer Verschränktheit in den Blick nehmen müssen.64 Es ist nötig, die etablierte Vorstellung zu überholen, dass die Nationalstaatsform plus Marktwirtschaft eine Garantie für Demokratie sei, die zuletzt als limitierte und falsche Demokratie daher kam. Vielmehr müssen wir Formen von kollektiver Zugehörigkeit, Ökonomien und Demokratien reformulieren. Ich halte es für notwendig und unterstütze auch, dass (feministische) Theologie, religiöse Wissenschaftler*innen und Religionswissenschaftler*innen sich in der Kritik an ökonomischer und biopolitischer Gewalt einbringen. Das geschieht bereits durch viele wichtige Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und (Armuts-)Initiativen. Alternative Ökonomien zu entwerfen und neu zu denken ist auch ein theologisches Projekt.65 Weil Staat, Soverän und Wirtschaft durch Biopolitiken und Gouvernementalität verbunden sind, könnten wir politische Theologie als eine kritische radikale politische Theologie neu formulieren. Zum Begriff der epistemischen Gewalt: Das Anerkennen dessen, dass Wissen und die Produktion von Wahrheit einen diskursiven Charakter besitzen, ist grundlegend für das Verständnis des Widerstands gegen dominante Diskurse in einer Gesellschaft. Die Kritik der epistemischen Gewalt (wie sie von Spivak unterstrichen wurde), muss Rassismus, Sexismus, Homophobie, Klassismus, Nationalismus, Fundamentalismus und auch – über Spivak hinausgehend – Säkularismus aus den Theologien und Theorien entfernen. Ein derartiges Zurücktreten von (christlichen) Selbst-Definitionen, die über den Ausschluss eines essentialisierten Anderen funktionieren, würde ein PostIdentitätsdenken erfordern. Eine derartige Theologie würde nicht-essentialisierende Konzepte von Religion unterstützen und sie als einen Sphäre emanzipatorischer neuer Wissensproduktion anerkennen. Das würde aber auch eine konsequete Verschiebung des Fokus von Identitäts- und Repräsentationspolitiken hin zu Performativität, Subjekformation Handlungsmacht und menschlichem Blühen auch in der theologischen Wissenschaft bedeuten. Im zweiten Teil meiner Schlussfolgerungen würde ich das gerne aufnehmen. Das Ziel meiner theologischen Überlegungen ist, angesichts von lebensbedrohlichen ökonomischen, politischen, sozialen und epistemischen Bedingungen, einen Beitrag dazu zu leisten, die Gesellschaft hin zu mehr solidarischen Formen von radikaler Demokratie zu verändern, in denen Leben nicht nur Überleben bedeutet, sondern menschliches Blühen für alle ermöglicht. Daher klingt in meinem theologisch wissenschaftlichen Arbeiten Bonhoeffers Theologie des Lebens nach. Er erklärt, dass unser Verhältnis zu Gott ein neues 64 Siehe dazu A. Cruz-Malave, M. Manalansan, Queer Globalizations: Citizenship and the Afterlife of Colonialism, New York 2002. 65 Vgl. Jörg Rieger, No Rising Tide: Theology, Economics and the Future, Minneapolis 2009; Jörg Rieger (Hg.), Religion, Theology, and Class: Fresh Engagements after Long Silence, New York 2013.
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Ulrike Auga
Leben im Dasein für Andere bedeutet und zwar durch die Teilnahme am ganzen Sein Jesu Christi.66 Bonhoeffer denkt, dass wir in diesem Dasein für Andere, in unserem neuen Leben, welches das antizipierte Leben ist, auf weltliche Weise von Gott sprechen müssen. Tragischer Weise konnte er diese Gedanken nicht mehr ausarbeiten. Wenn man Cornelius Castoriadis darin zustimmt, dass „Gesellschaft Schöpfung bedeutet und zwar Schöpfung ihrer selbst: Selbst-Schöpfung … [und daher] Selbst–Institutionalisierung,“67 ist, dann würde ich meine Theologie gern als einen Beitrag zum radikalen sozialen Imaginären (radical social imaginary) verstehen, die nicht nur die Selbst-Einsetzung der Gesellschaft befördert, sondern auch die Handlungsmacht und das menschliche Blühen ihrer Menschen. Allerdings sind, wie wir gesehen haben, Lebenswelten sehr vielfältig. Das gilt sowohl für das visuelle Beispiel von Fayza, Seba und Nelly als auch für die theoretischen Überlegungen von Chatterjee und Appadurai. Es ist wichtig, das im Blick zu behalten, wenn weitere Schlussfolgerungen gezogen werden. Saba Mahmood erinnert uns folgendermaßen daran: „Ich möchte vielmehr auf eine Weise, dem Anderen begegnen, die nicht davon ausgeht, dass in dem Prozess, in dem andere Lebenswelten kulturell übersetzt werden, die eigene Sicherheit, wie es mit der Welt weiter gehen soll, stabil bleiben kann. Diese Haltung erfordert die Tugend der Bescheidenheit und ein Gefühl dafür, dass man nicht immer genau weiß wogegen man opponiert, und dass eine politische Vision manchmal auch ihre eigene Begrenztheit anerkennen muss, um überhaupt zu verstehen wogegen sie versucht hatte sich zu widersetzten.“68
Mahmood betont, Handlungsmacht und menschliches Blühen in ihren historischen Kontexten verstanden werden sollen. Wenn wir das menschliche Blühen und die Liebe weiter denken, können wir uns auf Spivaks Überlegungen zur Planetarischen Liebe beziehen, die für eine Überwindung von Nationalismen in Vorstellungen von kollektiver Zugehörigkeit hilfreich sind. Sie schaut jedoch nicht auf die Mikroebene und Handlungsmacht. Wir können uns aber auch auf Patrick S. Chengs interessanten queeren Ansatz in seinem Buch Radical Love (2011) beziehen. Radikale Liebe ist für ihn „eine Liebe, die so extrem ist, dass sie unsere bestehenden Grenzen auflöst, egal ob es sich dabei um Grenzen handelt, die uns von Menschen trennen, oder von unseren vorgefassten Vorstellungen von Sexualität und geschlechtlicher Identität oder von Gott.“69
66 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand, 191. 67 Cornelius Castoriadis, Radical imagination and the social instituting imaginary, in: D.A. Curtis (Hg.), The Castoriadis Reader, Oxford-Malden 1997, 319–337, hier: 323. 68 Saba Mahmood, Politics of Piety, 199. 69 P.S. Cheng, Radical Love: An Introduction to Queer Theology, New York 2011, X.
Dekolonisierung des öffentlichen Raumes
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Allerdings handelt es sich hier um eine queere Christliche Theologie, die zwar sexuelle Regulierungen bedenkt, diese aber nicht als Biopolitik und Regulierungen von Leben begreift. Das wäre aber nötig, um die diesen Regulierungen inhärente Gewalt nachhaltig zu überwinden. Wenn wir auf Mahmood hören, müssen wir Konzepte von Solidarität und Liebe für eine Theologie multipler Lebenswelten adaptieren. Für meine Radikale Theologie des Lebens, schaue ich auf Gesten der Solidarität und der Liebe in Gegen- oder benachbarten Diskursen, die der Marginalisierung und Prekarität in diversen Lebenswelten widerstehen. Es lohnt sich hier sowohl nach älteren als auch neueren Formen von Kollektivität jenseits von Körperkonzepten zu suchen, wie dem der ‚Kohabitation‘ und ‚Assemblage‘. Darüber hinaus scheint es mir hilfreich zu sein, ein erneuertes Verständnis von ‚Affekt‘ einzubeziehen, um Verdichtungen von Liebe und Beziehungshaftigkeit zu beschreiben. Als finalen Punkt möchte ich noch erwähnen, dass es notwendig ist, Aspekte der Berührung von materialer Erfahrung und Subjektivität, ‚menschliche Materialität‘ besser zu verstehen. Wenn es richtig ist, dass Handlungsmacht und menschliches Blühen in ihrem jeweiligen historischen Kontext gewürdigt werden sollten, dann muss meine radikale Theologie des Lebens als ein variabler Ansatz verstanden werden, gespeist aus partikulären Erfahrungen. In ihrem Buch Kafka. Für eine kleine Literatur (1976) kommentieren Gilles Deleuze und Félix Guattari dass Menschen wie Franz Kafka eine kleine Literatur produzieren, eine Literatur, die nicht die dominanten (nationalen) Diskurse stützt.70 Meine Radikale Theologie des Lebens ist in diesem Sinn eine kleine Theologie.71
70 Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976. 71 Ich danke der Dietrich-Bonhoeffer-Stiftung, dem Union Theological Seminary, Columbia University, New York City, die diese Forschung ermöglichten, sowie den Studierenden für ihre Kommentare. Der Text wurde zuerst präsentiert am 26. 2. 2014 als öffentliche Vorlesung am Union in New York, wo ich im Herbstsemester 2013-14 als Dietrich-Bonhoeffer-Gastprofessorin weilte. Er erscheint hier zum ersten Mal in deutscher Sprache.
Identität, Kontext, Machtpolitiken. Gedanken zu einer postkolonialen Theologie der Religionen Sigrid Rettenbacher
Der folgende Artikel möchte einen Beitrag leisten zu einer Theologie der Religionen in postkolonialer Perspektive. Die theologischen und postkolonialen epistemologischen Werkzeuge sollen also konkret auf den Schauplatz Religion angewendet werden – genauer den Religionsbegriff als solchen sowie den Plural religiöser Traditionen. Der Schauplatz Religion bietet eine Schnittmenge, in der theologische und postkoloniale Reflexionen zusammentreffen, denn beide sind unhintergehbar auf das Thema Religion verwiesen – diachron in einer komplexen und verwobenen (Schuld-)Geschichte in einer religiös pluralen Welt, die als solche allerdings nicht immer anerkannt wurde, und synchron in einer Auseinandersetzung mit den religiösen Traditionen im Plural, die immer eine Herausforderung für die eigene religiös und kulturell geprägte, einem spezifischen Kontext verhaftete Identität darstellt. Dieser Schritt einer reflexiven und auch denkonstruktiven Auseinandersetzung mit Religion(en) ist sowohl in der Theologie als auch in den postkolonialen Theorien ein Produkt der jüngeren Vergangenheit. In beiden Disziplinen führte die Auseinandersetzung mit der Frage der Identität zu einer Aufmerksamkeit auf Religion(en). Man musste nicht nur erkennen, dass es religiöse Pluralität gibt, sondern auch selbstkritisch hinterfragen, wie diese Pluralität zur Stärkung der eigenen, von Pluralität bedrohten Identität diskursiv konstruiert wurde. Während die postkolonialen Theorien früher als die Theologie erkannten, dass die Art und Weise, wie man sich selbst sieht, immer verwiesen ist auf die Art und Weise, wie man Andere wahrnimmt – wobei diese wechselseitige Bedingtheit von Selbst- und Fremdwahrnehmung niemals in einem machtfreien – also neutralen oder unschuldigen – Raum stattfand, sondern in einem hierarchisch-hegemonialen Gefälle zwischen den Definierenden und den Definierten –, entwickelte umgekehrt die Theologie früher als postkoloniale Theorien ein Sensorium für die Herausforderungen religiöser Pluralität, die in den kulturwissenschaftlich geprägten postkolonialen Theorien eher unter dem Kulturbegriff subsumiert wurden.
Postkoloniale Theologie der Religionen
1.
117
Religion als Schauplatz – 3 Standortbestimmungen
Bevor die Umrisse einer Religionstheologie in postkolonialer Perspektive1 näher skizziert werden, soll eine dreifache Standortbestimmung zum Thema Religion vorgenommen werden, das den eigentlichen Fokus dieses abschließenden Panels bildet. Der Schauplatz Religion wird dabei aus drei Perspektiven näher betrachtet – nämlich (1) einer postkolonialen, (2) einer theologischen sowie (3) einer deutschsprachigen. Damit sollen sowohl die Implikationen ausgeleuchtet werden, die sich mit einer Beschäftigung mit Religion(en) aus postkolonialer und theologischer Perspektive ergeben, als auch der spezifische Beitrag einer deutschsprachigen Theologie zur Thematik einer postkolonialen Religionstheologie erhoben werden, die bislang eher im englischsprachigen Bereich beheimatet war und sich dort langsam zu etablieren beginnt.2
1.1
Postkoloniale Theorien
In meiner Forschung beschäftige ich mich bereits seit dem Jahr 2008 mit dem Thema Religionstheologie und postkoloniale Theorien. Auffallend ist, dass das Thema Religion erst in den letzten Jahren zum Forschungsgegenstand innerhalb der postkolonialen Theoriebildung geworden ist. Daran änderte auch nichts, dass bereits in den 1960ern einschlägige Werke, die den Religionsbegriff als westlich-hegemoniales Produkt kritisierten, erschienen sind.3 Zwar gab es ein paar kultur- und religionswissenschaftliche Werke, die sich mit der diskursiven Konstruktion einzelner religiöser Traditionen auseinandersetzten – etwa der westlichen Konstruktion des Hinduismus.4 Generell wurde das Thema Religion aber eher unter den Bereich der Kultur subsumiert. Es ist geradezu bezeichnend, dass einschlägige Einführungs- und Überblickswerke zu
1
2 3 4
Sigrid Rettenbacher, Interreligiöse Theologie – postkolonial gelesen, in: Bernhardt, Reinhold / Schmidt-Leukel, Perry (Hg.), Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme (BThR 11), 67–111; Sigrid Rettenbacher, Theology of Religions in a Postcolonial Perspective: Epistemological and Ecclesiological Reflections, in: Harris, Elizabeth J. / Hedges, Paul / Hettiarachchi, Shanthikumar, Twenty-First Century Theologies of Religions. Retrospection and Future Prospects, Leiden/Boston 2016, 267–284. Jenny Daggers, Postcolonial Theology of Religions, London/New York 2013. Vgl. etwa Wilfred Cantwell Smith, The Meaning and End of Religion, New York 1962. Richard King, Orientalism and Religion. Post-colonial Theory, India and „The Mystic East“, London/New York 1999; Andreas Nehring, Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940, Wiesbaden 2003.
118
Sigrid Rettenbacher
den postkolonialen Theorien ohne das Stichwort Religion auskamen.5 Erst in den überarbeiteten Neuausgaben aus den letzten Jahren wird der Themenkomplex Religion aufgegriffen und explizit behandelt. Als Beispiele sind etwa die bekannte deutschsprachige Einführung in die postkoloniale Theorie von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan sowie die Einführung in Grundkonzepte der postkolonialen Theorien von Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin zu nennen.6 Es überrascht, dass das Thema Religion erst so spät als eigenständiger Baustein in der postkolonialen Theoriebildung aufgegriffen wurde, da Religion immer ein Faktor in der europäischen Wahrnehmung anderer Kulturen und im antikolonialen Widerstand war.7 Auf jeden Fall ist es eine erfreuliche Entwicklung, dass die Religionsthematik nun auch explizit in den postkolonialen Theorien reflektiert wird – eine Entwicklung, die vielleicht auch in Zusammenhang steht mit den theologischen Ansätzen, die sich unter Berufung auf postkoloniales Handwerkszeug zur Reflexion religiöser Pluralität und diskursiver Identitätskonstruktionen herausgebildet haben.
1.2
Theologie
Während postkoloniale Theorien ihren Fokus auf ein anderes Thema legen und von Religion abstrahieren bzw. absehen können, sieht es in der Theologie ganz anders aus. Theologie ist von ihrem Selbstverständnis her immer schon auf Religion verwiesen, weil sie die Wirklichkeit aus einer reflektierten gläubigen Perspektive wahrnimmt – Theologie beansprucht Kompetenz in Sachen Religion für sich. Allerdings zielt die theologische Auseinandersetzung mit Religion – anders als der religionswissenschaftliche Diskurs – zunächst einmal auf die gläubige Innenperspektive. Diese gläubige Innenperspektive kann sich allerdings in den verwobenen Geschichten der wechselseitigen Identitätsverhandlungen nicht den Anfragen von außen in Gestalt anderer religiöser Traditionen entziehen. Gilt dies im Prinzip für die Theologie als gesamter, so wird eine Auseinandersetzung mit anderen religiösen Traditionen für eine Theologie der Religionen umso dringlicher. Eine reflektierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Religion ist für eine Religionstheologie unumgänglich, weil sie sich explizit mit anderen religiösen Tradition aus einer
5 6 7
María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005; Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin, Postcolonial Studies. The Key Concepts, Minneapolis 2000. María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2015; Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin, Postcolonial Studies. The Key Concepts, Amsterdam/New York 2013. Andreas Nehring, Postkoloniale Religionswissenschaft. Geschichte – Diskurse – Alteritäten, in: Reuter, Julia / Karentzos, Alexandra, Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 327–341, hier: 327.
Postkoloniale Theologie der Religionen
119
Glaubensperspektive – also einer voreingenommenen, nicht neutralen Perspektive – beschäftigt. Eine Religionstheologie ist somit in ihrer Auseinandersetzung mit anderen religiösen Traditionen zunächst einmal unter eine Hermeneutik des Verdachts zu stellen. Oder anders gesagt: Eine kritische und glaubwürdige Religionstheologie muss sich an den herausfordernden postkolonialen Einsichten zum Thema diskursive und machtbesetzte Identitätskonstruktionen bewähren. Denn die neuesten postkolonialen Einsichten zum Thema Religion und der machtbeladenen diskursiven Konstruktion von Identitäten fordern die Religionstheologie unter einer doppelten Rücksicht heraus. Einerseits hinsichtlich ihres Materialobjekts: Eine Beschäftigung mit Religion ist nicht unschuldig. Das (Forschungs-)Objekt Religion(en) ist fragwürdig geworden, weil es nicht einfach da ist, sondern vielfachen Konstruktionen und Machtpolitiken unterworfen ist. Andererseits ist aber auch das Formalobjekt einer Religionstheologie nicht fraglos: Denn eine theologische Perspektive als reflektierte Glaubensperspektive ist aus erkenntnistheoretischen, machtpolitischen und historischen Gründen verdächtig, wenn sie sich mit Andersgläubigen und ihren Traditionen beschäftigt.8
1.3
Der deutschsprachige Kontext
Der spezifische Beitrag der Konferenz Postkoloniale Theologien deutsch ist eine Reflexion des epistemologischen Beitrags postkolonialer Theorien für die christliche Gottesrede – Theo-logie – innerhalb des deutschsprachigen Kontextes. Postkoloniale Theorien arbeiten immer kontextsensibel, erweisen die machtbesetzten Aspekte der diskursiven, identitätspolitischen Ausverhandlungsprozesse doch immer in einem spezifischen Kontext ihre konkreten (politischen) Konsequenzen. Dabei prägen auch die konkreten Kolonialgeschichten einzelner Länder – sei es als Kolonialisierende oder Kolonialisierte – die akademischen Diskurse. Während in anderen Sprachräumen – etwa dem angloamerikanischen – postkoloniale Theorien schon fast zum selbstverständlichen Handwerkszeug geisteswissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und auch theologischer Theoriebildung gehören, sieht die Situation im deutschsprachigen Bereich, insbesondere der deutschsprachigen Theologie, anders aus. Allerdings ist bereits zu Beginn Vorsicht geboten ist. Der Titel Postkoloniale Theologien deutsch suggeriert eine Einheitlichkeit, die als solche nie gegeben ist. Denn „deutsch“ ist intern schon wieder sehr plural und die gemeinsame Sprache garantiert noch keinen gemeinsamen, homogenen Kontext, der die epistemologischen und theologischen Reflexionen prägt. Vielleicht ist es angebracht vom deutschsprachigen Kontext zu reden, um ein Bewusstsein dafür zu generieren, dass die deutsche Sprache zwar eine geteilte ist, dass die 8
Rettenbacher, Theologie, 100.
120
Sigrid Rettenbacher
Situation, in der deutschsprachige Theologie getrieben wird, diachron und synchron allerdings eine sehr unterschiedliche in den deutschsprachigen Ländern – Deutschland, Österreich, Schweiz – ist. Eine historische Perspektive zeigt eine unterschiedliche Involviertheit in „koloniale“ Strukturen. Der deutsche Kolonialismus beispielsweise stellt sich sicherlich anders dar als das Habsburgerreich und seine „kolonialen“ Strukturen. Auch die konfessionelle Situation in den deutschsprachigen Ländern ist eine unterschiedliche. Es macht einen Unterschied, ob eine Konfession die Mehrheit für sich beanspruchen kann wie in Österreich – was sich auch im akademischen Wissenschaftsbetrieb zeigt, wo zahlreiche katholisch-theologische Fakultäten bzw. Hochschulen einer einzigen evangelisch-theologischen Fakultät gegenüberstehen.9 Doch auch dort, wo sich das konfessionelle Gebilde der Gesellschaft pluraler und heterogener präsentiert wie in Deutschland und der Schweiz, ist der gemischt-konfessionelle Kontext doch ein sehr unterschiedlicher, da sich die konfessionelle Ausdifferenzierung historisch unterschiedlich entwickelt hat. Aber auch die sprachliche Situation der jeweiligen Gesellschaft muss berücksichtigt werden. Während Deutschland und Österreich sich eine Amtssprache teilen, ist die Schweiz sprachlich pluraler aufgestellt, was auch die theologischen Diskurse beeinflusst, da die Sprache das Denken prägt und sich auch innerhalb der Theologie unterschiedliche Diskursgemeinschaften je nach verwendeter Sprache etabliert haben. Wenn man also von einer Postkolonialen Theologie deutsch spricht, muss man vorsichtig sein, um der Pluralität und Heterogenität der deutschsprachigen Welt Rechnung zu tragen und nicht alles über einen Kamm zu scheren. Andernfalls würde man die eigenen epistemologischen Voraussetzungen, die mit dem postkolonialen Theoriedesign und seinem kritisch-dekonstruktiven Blick auf Identitäts- und Machtdiskurse gegeben sind, selbst performativ unterlaufen. Eine Differenzierung von deutsch und deutschsprachig scheint also angebracht. Fragt man nach der spezifischen Eigenheit einer deutschsprachigen postkolonialen Theologie und insbesondere einer deutschsprachigen postkolonialen Religionstheologie, so sticht ein Faktum ins Auge, dem man sich nicht entziehen kann. Im Gegensatz zum englischsprachigen Wissenschaftsbetrieb, wo viele der einschlägigen postkolonialen Werke (auch zum Thema Religion) entstanden sind, ist die deutschsprachige Theologie konfessionell geprägt.10 Das macht einen grundsätzlichen Unterschied – sowohl was die Ausrichtung der Theologie als solcher betrifft, als auch was die Beschäftigung mit anderen religiösen Traditionen und Andersgläubigen angeht. Im deutschsprachigen Kontext ist ein Spezifikum des angloamerikanischen Theologiebetriebes nicht 9
Damit wird das Angebot an Studienmöglichkeiten für evangelische Theologie in Österreich standortmäßig bereits von den Möglichkeiten, muslimische Religionspädagogik zu studieren, überholt. 10 Es wäre durchaus interessant, auch die Eigenheiten anderssprachiger Theologiediskurse – etwa den spanischen oder französischen – in den Blick zu nehmen und sie auf ihr konfessionelles Moment und ihre Integration postkolonialer Diskurse zu befragen.
Postkoloniale Theologie der Religionen
121
selbstverständlich gegeben: Nämlich Tür an Tür zu arbeiten mit KollegInnen, die einer andere Konfession oder Religion angehören. Dieser relativ isolierte Theologiebetrieb der deutschsprachigen Welt macht einen Unterschied in den eigenen Denkstrukturen und den vorausgesetzten Selbstverständlichkeiten, der im Hinblick auf das religionstheologische Unterfangen noch zu wenig epistemologisch, theologisch und wissenschaftstheoretisch untersucht ist.11 In synchroner Perspektive unterscheiden sich die strukturellen Voraussetzungen einer deutschsprachigen (Religions-)Theologie als stark von ihrem angloamerikanischen Gegenüber. Aber auch in diachroner Perspektive ist die stark konfessionell ausgerichtete deutschsprachige Perspektive ausschlaggebend für die Entwicklung und den heutigen Stand der gegenwärtigen Religionstheologie – auch wenn dies oft wenig bewusst gemacht wird. Denn die Wahrnehmung unbekannter oder anderer religiöser Traditionen und die interreligiösen Begegnungen und Ausdifferenzierungsprozesse gehen Hand in Hand mit innerchristlichen Auseinandersetzungen.12 Innerchristliche und nationalistische Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und Polemiken wurden und werden oft auf außereuropäische kulturelle und religiöse Traditionen übertragen.13 Mit anderen Worten: Geschichtliche Vorgänge in Europa prägen die Wahrnehmung anderer Traditionen und diese Vorgänge haben oft mit den innerchristlichen konfessionellen Ausdifferenzierungen und Grenzziehungen zu tun. Zwei Beispiele mögen das in aller Kürze belegen: Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) sowie die Beilegung der Auseinandersetzungen im Westfälischen Frieden (1648) darf nicht nur als Religionskampf der verschiedenen konfessionellen Parteien und als Auseinandersetzung um die politische Macht auf europäischer Ebene gesehen werden. Denn im Dreißigjährigen Krieg wird die interne Verknüpfung des Kampfes um konfessionelle und koloniale Macht sichtbar und kommt der Zusammenhang von Kolonisierung und Missionierung zum Ausdruck. Denn „[n]ach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, der von 1618 bis 1648 in Europa tobte, bot sich mit dem gerade neu hergestellten Gleichgewicht der beiden christlichen Kirchen nur sehr begrenzt die Möglichkeit zur Missionierung, dafür eröffneten die Entdeckungen in den Amerikas, Afrika und Asien ein weites Betätigungsfeld für katholische Missionare.“14
Mission und Konversion in neu entdeckten Gebieten stellten also die Möglichkeit bereit, konfessionelle Rivalitäten jenseits des europäischen Raums auszu-
11 Im Übrigen gibt es in der deutschsprachigen Religionstheologie auch weniger Querverbindungen zum feministische Diskurs als das im englischsprachigen Bereich der Fall ist (vgl. etwa Daggers, Theology; Hill Fletcher, Jeannine, Monopoly on Salvation? A Feminist Approach to Religious Pluralism, New York 2005). 12 Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 54ff; Daggers, Theology, 56. 13 Nehring, Orientalismus, 42ff; King, Orientalism, 45, 107f. 14 Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 54.
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Sigrid Rettenbacher
tragen. Evangelisierung ist somit ein integraler Bestandteil der kolonialen Mission,15 was in unserem zweiten Beispiel deutlich zum Ausdruck kommt. So wird die Congregatio de Propaganda Fidei 1622 im Vatikan mit dem Ziel eingeführt, der protestantischen Bedrohung der katholischen Weltordnung Einhalt zu gebieten, d.h. um dem „Einflussverlust durch den sich ausbreitenden Protestantismus entgegenzuwirken.“16
2.
Formulierung einer Arbeitsthese
Inwieweit wirken die drei Beobachtungen zum Schlagwort Religion heute nach? Wie weit müssen sie im religionstheologischen Unterfangen mitbedacht und berücksichtigt werden? Wie können die Anmerkungen zur postkolonialen, theologischen und deutschsprachigen Verortung der Religionstheologie für einen gegenwärtigen postkolonial geprägten Ansatz der Religionstheologie im deutschsprachigen Kontext fruchtbar gemacht werden? Dazu soll im Folgenden aus den drei einleitenden Beobachtungen eine Arbeitsthese formuliert werden, die mit den drei Schlagwörtern aus dem Titel näher entfaltet wird. Im Blick auf den konfessionell geprägten deutschsprachigen Kontext und im Blick auf die koloniale Vergangenheit muss der interreligiöse Dialog bzw. die Religionstheologie immer im Zusammenhang mit und im Gegenüber zu innerchristlichen Identitätsverhandlungen gelesen werden. Dabei müssen drei Schlagworte mitbedacht werden: (1) Identität, (2) Kontext und (3) Machtpolitiken. (1) Die christliche Identität wird nicht nur innerchristlich ausverhandelt, sondern auch in der Pluralität des nicht-christlichen Raums. Deshalb braucht es in der Religionstheologie eine Sensibilität für Versuche der Vergewisserung der eigenen christlichen, konfessionell geprägten Identität in Abgrenzung zum christlichen und nicht-christlichen Gegenüber. (2) Auch der Kontext muss in einer postkolonial sensibilisierten Religionstheologie mitbedacht werden, da – wie bereits erwähnt – europäische Diskurse auf den außereuropäischen Raum projiziert wurden und werden und die Wahrnehmung der Anderen beeinflussen.17 Hier geht es also auch um einen Brückenschlag zwischen einer Religionstheologie und einer kontextuell arbeitenden Theologie, wobei der europäische Raum noch einmal auf seine spezifischen, intern differenzierten Kontexte hin befragt werden muss. So können beispielsweise die Charakteristika des deutschen Sprachraums in einer Postkolonialen Theologie deutsch – etwa das stark konfessionell geprägte Moment – herausgearbeitet werden. (3) Schließlich sind auch Machtpolitiken in einer postkolonialen Religionstheologie mitzubedenken. Denn Identitätsverhandlungen sind nie neutral – es geht 15 Ebd., 54f. 16 Ebd., 55. 17 Vgl. Anm. 12 und 13.
Postkoloniale Theologie der Religionen
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um Wahrheit, Heil, Vormachtstellung. So werden innerchristliche Machtfragen auch auf nicht-christliche Gesprächspartner projiziert. Wie im Folgenden deutlich wird, vertrete ich selbst eine katholische Perspektive. Eine Perspektive einzunehmen ist unausweichlich und auch notwendig, muss allerdings mit einem Problembewusstsein für die dahinterstehenden Machtdiskurse und Identitätskonstruktionen kombiniert werden. Aus katholischer Perspektive bietet sich als solcher identitäts- und machtsensibler Ausgangspunkt der Ort der Ekklesiologie an, als Ort der Glaubensweitergabe und der Glaubenserkenntnis. Ob das für andere Konfessionen auch zutrifft, müssen VertreterInnen dieser selbst herausfinden. Warum kann der Ort der Ekklesiologie für eine Religionstheologie in postkolonialer Hinsicht interessant sein? Gegen eine verengte einseitige Perspektive braucht es ein Bewusstsein für den Ort, von dem aus Identitäten verhandelt werden, und das Gegenüber, zu dem man sich profilieren möchte, – es braucht also eine Standortreflexion.18 Ekklesiologie kann bzw. muss sogar dieser Ort einer Standortreflexion sein – und zwar als konkreter Ort der Kirche, aber auch als Ekklesiologie als Metaperspektive bzw. Metareflexion darauf, also im Sinne einer Erkenntnistheorie bzw. -theologie.19 Ekklesiologie ist immer der Schauplatz von Identitätsverhandlungen – sie ist ein identitätsschaffender und -stiftender Ort, ein Identitätsraum. Das kann man etwa an den notae ecclesiae aufzeigen, die ja im Laufe der Geschichte und der interkonfessionellen Auseinandersetzungen auch ihre Bedeutung veränderten – von einer paränetischen Mahnung hin zu einer identitäts- und machtpolitischen Festschreibung des Wesens der Kirche in einem binär strukturierten und auf Aufschließungsmechanismen bauenden Gegenüber zu anderen Konfessionen.20 Kirche ist also immer schon der Ort, an dem christliche Identität ausgehandelt wird. Das zeigt sich bereits in der Urkirche, aber auch später in den Zeiten der Kirchenspaltungen, der Reformation und der innerchristlichen bzw. ökumenischen Auseinandersetzungen. Christliche bzw. kirchliche Identität gibt es also – trotz einer Rhetorik der Einheit – von Anfang an immer nur in gebrochener und pluraler Form. Der Einheitsdiskurs, wie er etwa im Anspruch der einen Kirche Jesu Christi zum Ausdruck kommt, markiert somit ein Ideal, allerdings nicht die faktische Realität der Kirche. Er ist ein Versuch der diskursiven Vergewisserung der durch Pluralität (scheinbar) in Frage gestellten christlichen Identität, die an den einen Ursprung in Jesus Christus rückgebunden werden muss, und der diskursiven und apologetischen Ausschließung konkurrierender, die eigene Identität gefährdender anderer christlicher Gruppierungen und Kirchen. 18 In einem postkolonialen Problembewusstsein ist Homi Bhabhas third space eine interessante Kategorie in dieser Standortreflexion. 19 Gregor Maria Hoff, Ekklesiologie (Gegenwärtig glauben denken. Systematische Theologie 6), Paderborn 2011, 14f. 20 Sigrid Rettenbacher, Endlich endlich? Vom Überleben der Kirche im Anerkennen ihrer eigenen Endlichkeit, in: Hoff, Gregor Maria (Hg.), Endlich! Leben und Überleben, Innsbruck/Wien 2010, 160–192, hier: 176ff.
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Sigrid Rettenbacher
Auch in der heutigen Zeit ist die christlich plurale Identität, die faktisch nie im Singular zu haben war und ist, das Gegenüber zu nicht-christlichen Traditionen. Als Ort dieser Identitätsverhandlung und -sicherung ist stets mitzubedenken, dass in der Ekklesiologie auch apologetische Tendenzen ihren Platz haben – nicht nur gegenüber MitchristInnen anderer Konfessionen, sondern auch angesichts Andersgläubiger, die anderen religiösen Traditionen angehören. Diesen ekklesiologischen Problemüberhang gilt es immer zu berücksichtigen – kirchliche Identität zielt auf Einheit und Singular, ist aber faktisch nur gebrochen und plural zu haben. Deshalb besteht immer die Gefahr, die nichtbestehenden Einheit in diskursiven und performativen21 Ausschließungsmechanismen apologetisch abzusichern. Ökumenische und religionstheologische Herausforderungen reichen sich am Ort der Ekklesiologie also die Hand. Angesichts dieses Problemüberhangs einer apologetischen Tendenz in der Ekklesiologie22 ist deshalb eine zweite (korrigierende und sich wechselseitig ergänzende) Perspektive auf die Ekklesiologie notwendig. Denn Ekklesiologie ist immer auch ein Erkenntnisort: Man erkennt und glaubt nur im Raum der Kirche. Ekklesiologie hat also auch eine erkenntnistheoretische bzw. epistemologische Qualität. Es gilt somit, die zweifache Dimension der Ekklesiologie im Blick zu behalten. Kirche ist der Ort, wo die eigene christliche Identität stark gemacht wird, und zugleich ist Kirche ein Ort der Gefährdung für die Wahrnehmung des oder der Anderen. Es braucht also ein Problembewusstsein für diese elliptischen Spannungspole der Ekklesiologie, eine kritische Perspektive, eine postkoloniale Dekonstruktion. Ekklesiologie als Erkenntnisort kann diese kritischen Momente von Ekklesiologie als Identitätsraum in einer kritischen Reflexion noch einmal umfangen. Denn die Ekklesiologie als Erkenntnistheologie bietet hier ein kritisches Potential – ein Potential im Spannungsfeld zwischen ihrer kolonialen Verstrickung und der Ekklesiologie als kritisches Moment, indem in der Ekklesiologie selbst die Machtpolitiken der Kirchen dekonstruiert werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Ekklesiologie ist als Identitätsraum der Ort, an dem die eigene Identität stark gemacht wird, was die Gefährdung der Wahrnehmung des Anderen als Anderen – der die eigene Identität bedroht und die Einheit und Singularität in Frage stellt – impliziert. Ekklesiologie ist also der Schauplatz von Identitätsverhandlungen – nach innen und außen, die oftmals binär strukturiert sind und auf Ausschließungsmechanis-
21 Der Zugang zu den Sakramenten etwa ist hier ein bezeichnendes Beispiel. 22 Jacques Dupuis verweist zurecht auf die Abkehr von einem Ekklesiozentrismus – einer Festmachung von Heilskriterien an der Zugehörigkeit zur Kirche – innerhalb der Religionstheologie und betont einen Christozentrismus bzw. Theozentrismus (Jacques Dupuis, Unterwegs zu einer christlichen Theologie des religiösen Pluralismus (STS interkulturell 5), Innsbruck/Wien 2010, 263ff). Allerdings darf ein problematischer und falsch verstandener Ekklesiozentrismus nicht zu einer Ausblendung ekklesiologischer Fragen in der Religionstheologie führen.
Postkoloniale Theologie der Religionen
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men beruh(t)en. Sowohl in ökumenischer wie in religionstheologischer Perspektive müssen diese identitätspolitischen Voraussetzungen der Ekklesiologie nochmals eigens reflektiert werden. Dies kann im Identitätsraum Kirche, den man aus theologischer Perspektive nie verlassen kann und auf den man immer rückgebunden bleibt, geschehen, indem man Kirche auch als Erkenntnisort mit epistemologischer Qualität ernst nimmt. Theologisches Erkennen geschieht nur im Raum der Kirche – Ekklesiologie ist Erkenntnisort von Kirche bzw. Erkenntnistheologie. Es braucht also ein kritisches Problembewusstsein für die identitätspolitischen Voraussetzungen des Erkenntnisortes Kirche – was durch ein postkoloniales Problembewusstsein und dekonstruktive Identitätsdiskurse eingebracht werden kann (und was im Übrigen – wie noch zu zeigen ist – auch genuin theologischen Momenten nicht entgegensteht). Dann tritt die Ekklesiologie als ambivalenter Ort der Standortreflexion in Erscheinung. Sie ist Schauplatz von Identitätsverhandlungen und zugleich – gleichsam ungetrennt und unvermischt – ein Erkenntnisort mit epistemologischer Qualität, der das lauernde Machtgebaren der eigenen Identitätskonstruktionen noch einmal kritisch einfangen und dekonstruktiv unterlaufen kann. Eine solche epistemologische und postkoloniale Standortreflexion, die diskursive Identitätspolitiken in einem kritischen Problembewusstsein analysiert und dekonstruiert, hilft, vor einer verengten einseitigen ekklesiologischen Perspektive in der Religionstheologie (und Ökumene) zu bewahren, indem sie ein Bewusstsein dafür wachhält, dass die Kirche als Identitäts- und Erkenntnisraum der Ort ist, von dem aus Identitäten verhandelt werden und dass dabei immer die Gefahr droht, die eigene Identität auf Kosten des christlichen oder nichtchristlichen Gegenübers profilieren zu wollen. Für eine solche kritische Perspektive können ein postkoloniales Methodenrepertoire und ein dekonstruktiver Ansatz hilfreich sein. Nachdem in thesenhafter Form die Herausforderungen und Voraussetzungen einer postkolonialen Religionstheologie skizziert wurden und die Ekklesiologie aus katholischer Perspektive als wesentlicher Erkenntnisort einer solchen postkolonialen Religionstheologie vorgestellt und begründet wurde, soll im Folgenden ausgeführt werden, wie eine solche Theologie der Religionen in postkolonialer Perspektive konkret aussehen kann und wie die ekklesiologischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen in produktiver, selbstkritischer und selbstreflexiver Weise mit postkolonialen Diskursen in der Religionstheologie verknüpft werden können.
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3.
Sigrid Rettenbacher
Erkenntnistheoretische und ekklesiologische Perspektiven
In der religionstheologischen Debatte geht es nicht nur um Fragen von Wahrheit und Heil. Vielmehr muss man auch die hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Fragen in den Blick nehmen, an welchem Ort die Fragen nach Wahrheit und Heil diskursiv konstruiert und verhandelt werden und welche identitätsgenerierenden Momente dahinterstehen. Einen solchen Ort stellt die Ekklesiologie bereit. Ein Problemüberhang in der gegenwärtigen Religionstheologie ist, dass die Ekklesiologie derzeit keinen Erkenntnisort in den religionstheologischen Reflexionen darstellt. Das hat mit einer problematischen Geschichte der Kirche im Verhältnis zu anderen religiösen Traditionen zu tun, die im bekannten Axiom „Extra ecclesiam nulla salus est“ ihren pointierten Ausdruck findet. Im Gespräch mit anderen religiösen Traditionen ist die Kirche also – wenn sie den Balast der Vergangenheit beiseitelassen möchte – genötigt, sich der eigenen kolonialen Vergangenheit zu stellen und die eigene Schuldgeschichte in Bezug auf andere religiöse Traditionen und ihre Gläubigen anzuerkennen. Die Kirche hat also einen ambivalenten Status innerhalb der Religionstheologie. Einerseits garantiert die Kirche als Identitätsort die bleibende Verbindung zum identitätsstiftenden Christusereignis über Zeiten und Räume hinweg. Andererseits ist dieser Identitätsort Kirche auch ein Ort der Gefährdung, weil er verwoben ist in die vielfältigen und komplexen „entangled histories“23, die Identitäten als diskursive Ausverhandlungsprozesse und hybride Gebilde freilegen. In diesen „entangled histories“ kommt also das gefährdende Moment des Identitätsortes Kirche zum Tragen – nämlich dass eine Wahrnehmung des Anderen als Anderen auf Augenhöhe verhindert wird. Damit wird deutlich, dass sich die identitätsstiftende Aufgabe der Kirche faktisch in einer Schuldgeschichte der Kirche gegenüber Andersgläubigen und ihren religiösen Traditionen realisiert hat. Die identitätsstiftende Aufgabe der Kirche ist irdisch also nur gebrochen verwirklicht.24 23 Sebastian Conrad / Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: Conrad, Sebastian / Randeria, Shalini / Sutterlüty, Beate (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York 2002, 9–49, hier: 17. 24 Johannes Paul II. hat sich dieser Schuldgeschichte der Kirche im Schuldbekenntnis und der Vergebungsbitte in der Liturgie am Ersten Fastensonntag 2000 in St. Peter in Rom gestellt. Er nimmt verschiedene Aspekte der gebrochenen Identität der Kirche in den Blick wie etwa das Verhältnis zu anderen christlichen Konfessionen, zu anderen religiösen Traditionen und Kulturen, Verfehlungen gegenüber Frauen und dem Dienst an der Wahrheit etc. Der deutsche Text findet sich in Ernst Fürlinger (Hg.), „Der Dialog muss weitergehen“. Ausgewählte vatikanische Dokumente zum interreligiösen Dialog (1964–2008), Freiburg 2009, 180–184.
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Damit tut sich für die Religionstheologie ein Spannungsfeld auf. Denn die Schuldgeschichte der Kirche in der Begegnung mit Andersgläubigen und ihren Traditionen führte zur Ausblendung ekklesiologischer Fragen in der Religionstheologie. Zugleich würde aber die Ekklesiologie gerade denjenigen Ort bereitstellen, an dem epistemologische und hermeneutische Fragen nach der Wahrnehmung des Anderen gestellt werden können. Das umso mehr, wenn sie mit den Einsichten der postkolonialen Theorien zu diskursiven, machtbesetzten Identitätskonstruktionen zusammengedacht werden. Denn so können auch die Fragen nach wechselseitig aufeinander verwiesenen Identitäten und Macht, nach der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit und der Wahrnehmung der Anderen in die Religionstheologie integriert werden. Ekklesiologische Fragen sind gerade durch die Schuldgeschichte der Kirche(n) gegenüber Andersgläubigen und ihren Traditionen in der Religionstheologie immer unterschwellig präsent – auch wenn sie nicht explizit thematisiert werden. Es ist an der Zeit diese ekklesiologischen Fragen aus der Verdrängung zu holen, um sich kritisch und konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn es gelingt die ekklesiologischen Fragen innerhalb der Religionstheologie an die Oberfläche zu holen, können auch die erkenntniskritischen und identitätsund machtpolitischen Fragen der wechselseitigen diskursiven Identitätskonstruktionen in die Theologie der Religionen eingebracht werden. Wie kann nun eine postkolonial sensibilisierte Religionstheologie aussehen? Welche Einsichten und kritischen Anfragen der postkolonialen Theorien muss sie berücksichtigen und aufgreifen? Die zentrale Einsicht der postkolonialen Theorien für das religionstheologische Unterfangen ist, dass es keine neutrale Begegnung zwischen religiösen Traditionen gibt. Identitäten werden stets diskursiv ausverhandelt, wobei die eigene Identität in Wechselwirkung mit Zuschreibungen an die Identität Anderer konstruiert wird. Auch die Kirche sichert ihre eigene Identität in diskursiven Identitätskonstruktionen ab, indem sie die Identität anderer religiöser Traditionen festschreibt. Diese Zuschreibungen an Andere sind nie unschuldig, sie finden in einem hegemonialen Machtgefälle statt oft in Verbindung mit einer apologetischen Stoßrichtung. Postkoloniale Theorien verweisen also auf die Schuldgeschichte der Kirche(n) gegenüber anderen religiösen Traditionen und fragen nach dem kolonialen Erbe der gegenwärtigen Religionstheologie. Verstärkt werden diese postkolonialen Anfragen an die Religionstheologie durch die Einsicht in die begrenzte menschliche Erkenntnis des Transzendenten, die nicht nur die menschliche Erkenntnis des Göttlichen – trotz aller bleibenden Verbundenheit – relativiert, sondern auch die diskursive Ausgestaltung der Rede vom Göttlichen markiert. Ist eine Religionstheologie angesichts der Anfragen postkolonialer Theorien dann überhaupt noch möglich und sinnvoll? Diese Frage ist aus historischen, formalen, materialen und politischen Gründen zu bejahen – eine Religionstheologie ist heute (gerade auch angesichts der politischen Pervertierung und Fundamentalisierung) von Religion nicht mehr wegdenkbar. Allerdings braucht es eine neue theologische Epistemologie, der es gelingt, Einsichten in
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Sigrid Rettenbacher
die begrenzte menschliche (und somit auch kirchliche25) Erkenntnis der göttliche Wirklichkeit mit den postkolonialen Theorien zur diskursiven Konstruktion von Identitäten zu verknüpfen. Diese Verknüpfung muss in einem Problembewusstsein für die Schuldgeschichte der Kirche(n) in der Begegnung mit anderen religiösen Traditionen geschehen. Solche epistemologischen Fragen sind eng mit ekklesiologischen Fragen verknüpft, da die Ekklesiologie ja die Erkenntnistheologie bzw. Epistemologie der christlichen Tradition darstellt. Wenn man in die christliche Tradition blickt, findet man eine Reihe theologischer Ressourcen, die einen solchen Dialog mit postkolonialen Einsichten innerhalb der Religionstheologie erlauben und ermöglichen, wie im Folgenden zunächst im Blick auf die epistemologischen und dann im Blick auf die ekklesiologischen Ressourcen ausgeführt werden soll.26
3.1
Epistemologische Einsichten: Die Macht der Diskurse
Ein wichtiges Thema in den postkolonialen Theorien ist die wirklichkeitsschaffende Macht von Diskursen. Diese Einsicht ist nicht zuletzt auch ein genuin theologisches Thema, wenn es auch nicht immer im Zusammenhang mit postkolonialen und poststrukturalistischen Theorien diskutiert wird. Schon der Begriff Theo-logie, als Rede von/zu/über Gott, zeigt, dass Sprache das Handwerkszeug von TheologInnen ist. Gott ist kein greifbares Objekt der menschlichen Wirklichkeit, d.h. er kann nicht einfach so be-griffen werden. Der einzige Zugang zu Gott ist die Sprache. Das zeigt sich auch in verschiedenen theologischen Themenbereichen. Zentral ist hier zunächst der Offenbarungsbegriff: Offenbarung meint nicht, dass die göttliche Wirklichkeit eindeutig fassbar ist. Offenbarung funktioniert nur in der Grammatik von verborgen und offenbar.27 Da Gott nicht einfach so fassbar ist, bleibt Sprache das einzige Medium, um ihn begreifen und fassen – ein Stück weit auch zu konstruieren – zu können. Ein anderes Beispiel für die wirklichkeitsschaffende Macht der Sprache ist die Christologie. Systematische christologische Reflexionen setzen erst nachösterlich ein, als der historische Jesus bereits entzogen ist. Die Osterereignisse werden also wiederum erst über Sprache fassbar und tradierbar.28 Die Sakramententheologie ist ein weiteres Beispiel für die Macht der Diskurse:
25 Hier ist das in LG 8 gezeichnete Kirchenbild, das die Kirche als zugleich himmlische und irdische Wirklichkeit sieht, ein hilfreicher Zugang. Vgl. dazu Rettenbacher, Endlich, 176f. 26 Vgl. zum Folgenden auch Rettenbacher, Theology, 278–282. 27 Gregor Maria Hoff, Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg 2007. 28 Als Reflexion dieses Christusereignisses ist auch die Kirche als sprachliches Konstrukt zu begreifen.
Postkoloniale Theologie der Religionen
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Die bekannte Formel „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“ macht deutlich wie kaum etwas, wie sehr Wirklichkeit erst durch Sprache geschaffen wird. All das zeigt, dass Theologie als diskursives Unternehmen viel mit Interpretationen zu tun hat. Hier ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass die Grenzen der Sprache und Interpretation nicht die Grenzen der göttlichen Wirklichkeit sind. Das bedeutet, dass man damit rechnen muss, Gott auch an unbekannten und unerwarteten Orten zu finden. Wenn man also über die Relevanz postkolonialer Theorien für die Religionstheologie spricht, muss man sensibel werden für Fragen nach Macht und Repräsentation im theologischen Diskurs allgemein und im theologischen Diskurs mit und über andere(n) religiöse(n) Traditionen im Speziellen. Bislang ist es im deutschsprachigen Kontext noch nicht üblich, diese Fragen in der Religionstheologie zu reflektieren.
3.2
Ekklesiologische Einsichten: Die diskursive Konstruktion von Identitäten
Hand in Hand mit einer theologischen Epistemologie geht die Ekklesiologie. Auch hier spielen postkoloniale Einsichten eine Rolle, da gerade die Ekklesiologie der Ort ist, an dem die christliche Identität bzw. die christlichen Identitäten verhandelt und diskursiv konstruiert und entfaltet werden. Wenn man von der diskursiven Konstruktion von Identitäten spricht, ist es wichtig, nicht zu übersehen, dass Inklusions- und Exklusionsprozesse unausweichlich und notwendig für Identitätskonstruktionen sind – wie uns auch soziologische Theorien zeigen.29 Wo jedoch die Grenzen zwischen Identitäten gezogen werden ist kontingent. Als normativ etablierte Grenzen sind also nicht natürlich vorgegeben, sie sind historisch gewachsen und kontextuell bedingt. Es ist somit ein neuer Blick auf die Kirche und ihre Ausschließungsmechanismen, auf denen sie ihre Identität aufbaut, notwendig. Postkoloniale Einsichten können hier ein Moment der Selbstrelativierung von Kirche und eine Haltung der Demut30 beitragen – beide Momente sind auch theologisch begründbar. Postkoloniale Einsichten in die diskursive Konstruktion von Identitäten haben auch Auswirkungen auf das Verständnis von Kirche selbst: Hier braucht es eine neue Sichtweise von Kirche als Sakrament und Zeichen des Heils – was hier allerdings nur angedeutet und nicht näher ausgeführt werden kann.31 Auch im Verständnis von Kirche als Zeichen des Heils ist es wichtig, binäre Codierungen aufzubrechen. Die Kirche ist nicht einfach eine zweistellige Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Vielmehr ist sie im Anschluss an 29 Armin Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Berlin 2011, 161–190. 30 Catherine Cornille, The Im-Possibility of Interreligious Dialogue, New York 2008. 31 Zum Folgenden vgl. Rettenbacher, Endlich, 182–184.
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Sigrid Rettenbacher
die Semiotik Charles Sanders Peirces als dreistellige Relation von Bezeichnetem, Zeichen und Interpretant in einem Prozess der unendlichen Semiose zu begreifen.32 Um verstanden zu werden, muss ein Zeichen auf unendlich viele andere Zeichen verweisen. Auch Korrekturen von Zeichenzusammenhängen sind in diesem semiotischen System möglich und können in das Selbstverständnis der Kirche integriert werden. Sie können im Eingestehen von einstweiligen geschichtlichen Verfehlungen und Schuld in neuen Zeichenzusammenhängen korrigiert werden. Dies alles schmälert die zuverlässige und unverbrüchliche Vermittlungsleistung der Kirche nicht. Sie bleibt – wenn auch in einem komplexen Vermittlungsprozess – an ihren göttlichen Ursprung rückgebunden. Allerdings kann dieses semiotische Modell gut die Identität der Kirche im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel, von Konsens und Dissens, von Unverbrüchlichkeit und Gebrochenheit beschreiben. Denn jedes vereinfachende Herausstellen der kirchlichen Absolutheit beruht auf einer nur zweistelligen, direkten linearen Relation zwischen der Kirche und der von ihr bezeichneten Wirklichkeit des durch Jesus Christus verkündeten Reiches Gottes, in der Zeichen und Bezeichnetes miteinander identifiziert werden. Ein dreistelliger Zeichenbegriff hilft dieses einseitige Modell erkenntniskritisch aufzubrechen, indem einerseits der universale Anspruch der Kirche gewürdigt werden kann, die göttliche Selbstmitteilung in Jesus Christus zu repräsentieren, indem andererseits aber auch die vielfältige geschichtliche und kontextuelle Bedingtheit von Kirche in ihren jeweiligen Zeichenzusammenhängen in den Blick genommen werden kann. Für ein postkoloniales Verständnis von Kirche bedeutet das, dass man auch die komplexen Interrelationen von Kirche und ihre Verstrickungen in Machtprozesse und eine damit einhergehende Schuldgeschichte in den Blick bekommen kann. Mit diesen kurzen Anmerkungen zu den epistemologischen und ekklesiologischen Perspektiven einer postkolonialen Religionstheologie kann man zusammenfassend festhalten: Es ist notwendig, postkoloniale Einsichten in die Religionstheologie zu integrieren. Das kann vor allem am Schauplatz der Ekklesiologie und damit zusammenhängend der Epistemologie als Erkenntnistheorie und Erkenntnistheologie geschehen. Damit kann auch die religionstheologische Debatte im deutschen Sprachraum, die derzeit in einer Diskussion des Dreierschemas von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus gefangen ist, entscheidende Impulse bekommen und weitergeführt werden. Die diskursive Konstruktion von Identitäten, wie sie auch in der Ekklesiologie geschieht, ist ein unausweichlicher Prozess. Es braucht also ein Problembewusstsein, eine Metaperspektive auf diese Prozesse: ein kritisches Bewusstsein für Machtfragen und den systematischen Ausschluss von Differenzen. Ein
32 Eine interessante Perspektive könnte sich aus einem Zusammendenken dieses relationalen Prozesses mit Homi Bhabhas Konzept des third space ergeben.
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solcher dekonstruktiver Zugang zur Religionstheologie kann nicht aus Identitätskonstruktionen aussteigen, aber es kann ein Problembewusstsein für diese diskursiven Identitätskonstruktionen entwickelt werden, um diese kritisch freizulegen. Ein zentrales Qualitätskriterium einer postkolonialen Religionstheologie wird also sein, inwieweit es ihr gelingt, die eigene Identität so zu konstruieren, dass darin ein konstruktiver Ort für positive Anschlussmöglichkeiten zu anderen religiösen Traditionen bleibt. Wie kann man sich zu sich selbst ins Verhältnis setzen und sich zugleich zu Anderen produktiv ins Verhältnis setzen? Oder anders ausgedrückt: Wie kann eine postkoloniale, religionstheologische Identitätskonstruktion aussehen, die in der Lage ist, eigene Schwächen zu sehen und Stärken der Anderen zu benennen? Ein postkolonialer Zugang zur Religionstheologie bedeutet dann aber auch eine entscheidende Weitung der Perspektive im Vergleich zur klassischen Religionstheologie. Denn im Hinblick auf die zentrale Frage der Religionstheologie nach Wahrheit und Heil in anderen religiösen Traditionen reicht es nicht mehr nur einfach aus zu fragen, ob es wahrheits- und heilsvermittelnden Instanzen in anderen religiösen Traditionen gibt und wie die Wahrnehmung der göttlichen Wahrheit von den Erkenntnisbedingungen des Menschen abhängt. Es gilt, einen Schritt zurückzutreten und in einem hermeneutischen, erkenntnistheoretischen und machtpolitischen Problembewusstsein zu fragen, an welchem Ort die Fragen nach Wahrheit und Heil diskursiv konstruiert und verhandelt werden und welche identitätsgenerierenden Momente dahinterstehen. Denn nicht nur das Erkenntnissubjekt beeinflusst die Wahrnehmung des Erkenntnisobjekts – also der göttlichen Wirklichkeit und ihrer heilsschaffenden Wirkmächtigkeit –, die Erkenntnisbedingungen des Subjekts sind vielmehr verwoben in einem komplexen Netzwerk von diskursiven Identitätsund Machtpolitiken. Die wechselseitige Bedingtheit von religiösen Identitäten und ihre Interrelationen im third space33 kommen dann in den Blick, wenn sich die systematischen Reflexionen in der Religionstheologie an konkreten postkolonialen Fallstudien zur diskursiven Konstruktion von religiösen Identitäten orientieren. Das bedeutet, dass die komparative Theologie34 – also der 33 Homi Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994; Ders., Der dritte Ort. Anerkennung und Fremdheit in paradoxen Gemeinschaften, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 55 (2010), 85–94; Ders., Cultural Diversity and Cultural Differences, in: Ashcroft; Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin; Helen (Hg.), The PostColonial Studies Reader, Oxford / New York 2006, 155–157; Ders., The Third Space. Interview with Homi Bhabha, in: Rutherford, Jonathan (Hg.), Identity. Community, Culture, Difference, London 1998, 207–221. Vgl. auch Anna Babka / Julia Malle / Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion, Wien 2011; Jochen Bonz / Karen Struve, Homi K. Bhabha. Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences“, in: Moebius, Stephan / Quadflieg, Dirk (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, 140– 153. 34 Zum Verhältnis von komparativer Theologie und Religionstheologie vgl. Sigrid Rettenbacher, Theologie der Religionen und komparative Theologie – Alternative oder
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Sigrid Rettenbacher
konkrete Vergleich von Aspekten zweier unterschiedlicher religiöser Traditionen aus theologischer Perspektive – als materiale Ressource für die Religionstheologie zu wenig ist. Denn jenseits eines inhaltlichen Vergleichs von verschiedenen Aspekten innerhalb verschiedener religiöser Traditionen ist danach zu fragen, wie sich die inhaltlichen Identitätsmarker von religiösen Traditionen erst in einer komplexen Verflechtung mit anderen religiösen Traditionen, denen man sowohl produktiv-aufnehmend als auch ablehnend-ausschließend begegnet, entwickeln.35 Beispiele für die Verwobenheit von religiösen Traditionen gibt es genug. Man findet sie in der Genese und Ausdifferenzierung von religiösen Traditionen,36 in der kolonialen Begegnung,37 aber auch in gegenwärtigen Identitätszuschreibungen. Wie also im Falle der kulturellen Bedingtheit von religiösen Traditionen die Unterscheidung von Theologie Interkulturell und kontextueller Theologie das Zueinander von systematischen Reflexionen und konkreten Fallstudien beschreibt, so können postkoloniale Studien das Theorie-PraxisVerhältnis innerhalb der Religionstheologie entscheidend erweitern.38 Wo es um die interreligiöse Bedingtheit von religiösen Identitäten geht, wird sich die Religionstheologie als systematische Reflexion dieser interreligiösen Verflochtenheit nicht mehr nur auf die Komparative Theologie als Konkretion und Reflexion interreligiöser Begegnungen verlassen können. Postkoloniale Theorien sind – sowohl was das Methoden- und epistemologische Repertoire als auch konkrete Einzelstudien betrifft – für eine heutige Religionstheologie in postkolonialer Perspektive unverzichtbar. Denn sie machen deutlich, dass die für die Religionstheologie so wichtigen Fragen nach religiösen Identitäten, nach der Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeit und nach Wahrheit und Heil nur dann zureichend und zeitgemäß theologisch beantwortet werden können, wenn sie in ihrem komplexen Netzwerk von interreligiösen Verflechtungen
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Ergänzung? Die Auseinandersetzung zwischen Perry Schmidt-Leukel und Klaus von Stosch um die Religionstheologie, in: ZMR 89 (2005), 181–194. Rettenbacher, Theologie, 106–111. Zur diskursiven und performativen Ausdifferenzierung von Judentum und Christentum vgl. Daniel Boyarin, Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004; ders., Dying for God. Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Stanford 1999; ders., Als die Christen noch Juden waren. Überlegungen zu den jüdisch-christlichen Ursprüngen, in: Kils 16 (2001), 112–129; Judith Lieu, Christian Identity in the Jewish and Graeco-Roman World, Oxford 2006; dies., Image and Reality. The Jews in the World of the Christians in the Second Century, Edinburgh 1996; dies., „The Parting of the Ways“: Theological Construct or Historical Reality?, in: JSNT 17 (1995), 101–119; Israel Jacob Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, Göttingen 2007. Zum geteilten spätantiken Erbe von Judentum, Christentum und Islam und der Rekontextualisierung des Islams im europäischen Kontext vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010. Nehring, Orientalismus; King, Orientalism; Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Rettenbacher, Theologie, 78–81.106–111.
Postkoloniale Theologie der Religionen
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wahrgenommen und gedeutet werden. Denn religiöse Identitäten sind nicht isoliert zu betrachten und stehen nie ein für allemal fest. Vielmehr werden sie in komplexen Interrelationen, die auch Identitäts- und Machtpolitiken umfassen, diskursiv verhandelt. Diese diskursiven Politiken muss die Religionstheologie auch in die Reflexion der Gottesdiskurse in ihrer religiösen Pluralität einfließen lassen, wenn sie heute glaubwürdig und theologisch verantwortet agieren möchte.
Verwundbarkeit auf Abwegen. Migration, Flucht und der Verlust von Handlungsraum Andreas Nehring
1.
Migration als zentrales biblisch-theologisches Thema
Es ist keine theologische Entdeckung des 21. Jahrhunderts, Migration und Flucht als theologische Themen zu verstehen. Die Heilige Schrift und die Vielfalt ihrer Theologien verdanken sich nahezu umfassend Migrationsphänomenen. Die Mehrheit der biblischen Texte entstand in einem Kontext von Exil, Flucht, Vertreibung, Wanderschaft und Diasporasituationen. Abraham verlässt seine Heimat Ur, das Volk Israel flieht aus Ägypten, es wird ins Babylonische Exil geschickt, Jesus und seine Familie fliehen vor Herodes nach Ägypten, um nur einige bekannte Szenen in Erinnerung zu rufen, und nicht zu schweigen von der Vertreibung aus dem Paradies als dem Ur-Datum jüdischchristlicher Selbstvergewisserung. Man kann durchaus die These aufstellen, dass die unterschiedlichen christlichen Theologien aus einer Spannung von Migration und Sesshaftigkeit entstanden sind und dass sowohl das Judentum als auch das Christentum in dieser Spannung ihren Anfang genommen haben. Flucht und Migration haben einen Erfahrungsraum eröffnet, der es ermöglicht hat, das Selbstverständnis von Juden und Christen, wenn auch in verschiedener Weise, zu artikulieren. Ethik, Spiritualität wie auch theologische Reflexion sind davon geprägt. Dabei hat Migration, wie die katholische Theologin Regina Polak, eine der wenigen TheologInnen die sich bislang intensiv mit der Thematik befasst haben, betont, weder per se einen religiösen Eigenwert noch wird sie in biblischen Texten theologisch überhöht. Migration ist, das betont Polak, in allen Texten der Bibel mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit verbunden.1 Auch die frühe Kirche verstand sich als Kirche auf der Wanderschaft, sah darin aber gerade ein Zeichen der Hoffnung. Sie war bereit zur Aufnahme unterschiedlichster Menschen und Völker in deren Vielfalt und erwies sich so bei allen sozialen und kulturellen Differenzen als gemeinschaftsbildend.
1
Polak, Regina, Migration als Ort der Theologie (dioezesefiles.x4content.com/pagedownloads/migration_als_ort_der_theologie.pdf)
Verwundbarkeit auf Abwegen
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Bereits die ersten jüdisch-christlichen Vorstellungen von Migration waren allerdings weniger vom Communitas-Verständnis und auch nicht vom liminalen Aspekt des Aufbruchs und der Rückkehr geprägt, als vielmehr von der Wanderschaft und der Vereinzelung. Das wandernde Gottesvolk als Fremdlinge auf ihrem Weg zum Zion. Richard Sennet hat den wesentlichen Unterschied zur griechischen Tradition gerade darin gesehen, dass sich die Menschen des Alten Testaments als entwurzelte Wanderer gesehen haben. – No direction home -. Und er rekurriert auf das Bild des Migranten, das Augustinus dazu diente, christliche Identität überhaupt zum Ausdruck zu bringen.2 Als Alarich Rom zu erobern drohte, beschrieb er in De Civitate Dei das Leben der Christen als Wanderung durch die Zeit.3 Migration, da sind sich die Historiker einig, ist der Regelfall des menschlichen Daseins, jedenfalls, wenn wir größere geschichtliche und geographische Räume überblicken, Sesshaftigkeit dagegen ist die Ausnahme oder vielleicht besser: ein Spezialfall der Migration, ein Moment relativer Ruhe. Es ist nicht zu übersehen, dass die meisten Europäer Nachfahren Zugewanderter sind und dass dieser Prozess das ausgebildet hat, was wir vielleicht ziemlich unscharf als europäische Identität bezeichnen können. In den letzten 300 Jahren waren ständig Menschengruppen von fast allen Ländern in fast alle Länder unterwegs. Menschen siedeln heute überall, Migrantenströme gehen in alle Richtungen, Kommunikation kennt so gut wie keine Distanz mehr, das Wissen über Naturzusammenhänge explodiert, technische Möglichkeiten lassen sich realisieren, von denen vor wenigen Jahrzehnten noch niemand geträumt hat – nur, und das hat Thomas Wägenbauer sehr prägnant formuliert „über die ‚Kultur‘ sind wir uns überhaupt nicht einig, also darüber, wie das alles im Einzelnen und Besonderen zu interpretieren sei.“4 Globalisierungsprozesse haben die Einheit der Welt zu einem Erfahrungshorizont werden lassen, dem heute jeder ausgesetzt ist. Globalkolorit ist zu einer zentralen Signatur unserer Welt geworden. Ulrich Beck hat dafür den Begriff ‘Weltgesellschaft’ geprägt, der ausdrücken soll, dass das, was Menschen scheidet, sei es politisch, kulturell oder auch religiös, heute an einem 2 3
4
Richard Sennett, Civitas Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Berlin 2009, 21ff. „Von Kain nun steht geschrieben, dass er einen Staat gründete, Abel aber als Fremdling tat dies nicht. Denn droben ist der Staat der Heiligen, wenn er auch hienieden Bürger erzeugt, in denen er dahin pilgert, bis die Zeit seines Reiches herbeikommt. Dann sammelt er alle leiblich Auferstandenen, und das verheißene Reich wird ihnen gegeben, wo sie mit ihrem Fürsten, dem Könige der Welten, ohne zeitliches Ende herrschen werden.“ Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat 15.1, München 1977, 214. Hier und zum Folgenden: Thomas Wägenbauer, „Globalisierung – und Interkulturalität“, in: Parapluie Nr. 8, 2000, http://parapluie.de/archiv/zeitenwenden/global/; Vgl. auch Arjun Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis-London 2008.
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Andreas Nehring
Ort, in einer Gemeinschaft und sogar in einer Biographie präsent ist. Und er hat in dem Zusammenhang auch von einer Weltrisikogesellschaft gesprochen.5 Was wir beobachten können ist, dass die Zahl der Konflikte und Kriege nicht abgenommen hat; die Opfer dieser Konflikte sowie diejenigen globaler Epidemien wie HIV/AIDS sind nicht weniger geworden, Armut und Verelendung nehmen proportional zu dramatischem Bevölkerungswachstum in weiten Teilen der Welt zu. Die Weltgesellschaft hat auch ein ganz anderes Weltbewußtsein ausgebildet. Die Teilnahme an den Krisen und Katastrophen in allen Teilen der Welt in Echtzeit hat unser Bewusstsein nicht nur von Raum, sondern auch von Zeit und Geschichte geprägt. Erst in jüngster Zeit ist nun die Asylmigration als politisches Problem in unser Bewusstsein eingedrungen, nachdem sie uns unmittelbar betrifft. Rein numerisch ist die Zahl der Menschen, die dem Flucht- und Asylsektor zugehören – knapp 1% der Einwohner – nicht überwältigend. Dennoch bestimmt in Deutschland, wie auch in andern europäischen Ländern, gerade dieses Thema via Angst und geschürter Angst die politische Diskussion.
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Migration als Metapher für das Leben in der Moderne
Migration, Wanderschaft, Pilgern, so eine von mehreren Seiten vertretene These, lassen sich als Metaphern für das Leben in der Moderne/Postmoderne überhaupt begreifen? Anders als noch Heidegger meinte, der den Bezug des Menschen zu Orten durch das Wohnen bestimmt hat und in der Unbehaustheit das Wohnen im Obdachlosen der Moderne schlechthin gesehen hat,6 ist Mobilität in der Tat zu einem Moment der Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung geworden. Modernes Nomadentum, Hybride Identitäten, Third Space, Contactzone, Border-Thinking, Traveling Cultures: alles Begriffe, die in gegenwärtigen postmodernen wie postkolonialen Diskursen Konjunktur haben. Walter Benjamins Passagenwerk ist zu einem wichtigen Stichwortgeber gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Debatten avanciert und sein Flaneur in der Großstadt entwickelte sich zum Inbegriff des modernen Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Ethnologe James Clifford hat in einem seiner neueren Bücher, Routes. Travel and Translation in the late 20. Century (1997) die Reise gar zur zentralen Metapher für den ethnographischen Prozess gemacht. 5 6
Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M. 2007. Martin Heidegger, Bauen-Wohnen-Denken, in: Ders. Vorträge und Aufsätze Teil II, Pfullingen 1967, 19–36.
Verwundbarkeit auf Abwegen
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Allerdings hat er den Ausdruck ‚Pilgern’ dem des Reisens/Travel vorgezogen. Pilgern ist anders als ‚Travel’ für ihn ein geeigneter Ausdruck um kulturelle Vergleiche anzustellen, weil er historisch geprägte Konnotationen mit sich trägt, und Differenzen sichtbar werden lässt.7 Clifford betont ‚Pilgrimage’ um damit deutlich zu machen, dass Praktiken der Verdrängung, Vertreibung, Umsiedlung, Migration heute in Identitätsbildungsprozessen nicht akzidentiell sind, sondern dass sie in einer Welt, die sich permanent auf dem Weg befindet, als konstitutiv für die Produktion von kultureller Bedeutung angesehen werden müssen. Pilgern als konstitutives Element für die Herausbildung von Identitäten in der Moderne. „Home is where one starts from“ sagt T.S Eliot und Hermann Graf Keyserling hat das in seinem Reisetagebuch eines Philosophen (1919) so formuliert: „Die kürzeste Reise zu sich selbst führt um die Welt.“8 Etwas anders als James Clifford hat Zygmunt Bauman Pilgern als moderne Erscheinung analysiert und von postmodernen Formen des Flanierens, Herumstreunens, und des Tourismus absetzt. Während die Moderne das Problem beschäftigt habe, Identitäten zu konstruieren und sie stabil zu halten, sei das Problem der Identität in der Postmoderne, jede Fixierung zu vermeiden und die Optionen offen und fließend zu halten. „In solch einem Land, das wir für gewöhnlich die moderne Gesellschaft nennen, ist Pilgern nicht länger eine Frage der Wahl der Lebensform; noch weniger ist es eine heroische oder heilige Wahl. Sein Leben als Pilgerschaft zu leben ist nicht mehr eine Art und Weise ethischer Weisheit, die einigen Erwählten und Gerechten offenbart oder von ihnen angestossen wurde. Man pilgert aus Notwendigkeit um zu vermeiden in der Wüste verloren zu gehen.“9
Und Julia Kristeva argumentiert ähnlich, dass ein Mensch im 20. Jahrhundert ernsthaft nur noch als Fremder existieren könne.10 „In der Erfahrung der Fremde, der Migration,“, so argumentiert Nina Clara Tiesler, „scheint zugleich die Wirklichkeit des allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses von Entfremdung und Desintegration kodifiziert zu sein. Denn die Politiken von Mehrheiten und Minderheiten in vielen Gesellschaften zeigen eine Fixierung auf 7
„’Pilgrimage’ seems to me a more interesting comparative term to work with. It includes a broad range of Western and Non-Western experiences and is less class- and gender-biased than ‚travel’. Moreover, it has a nice way of subverting the constitutive modern opposition between traveler and tourist.“ James Clifford, Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge (HUP) 1997, 39. 8 Hermann Graf Keyserling, Das Reisetagebuch eines Philosophen. Zwei Bände, Darmstadt 1919. 9 „In such a land, commonly called modern society, Pilgrimage is no longer a choice of the mode of life; less still is it a heroic or saintly choice. Living one’s life as pilgrimage is no longer the kind of ethical wisdom revealed to, or initiated by, the chosen and the righteous. Pilgrimage is what one does of necessity, to avoid being lost in a desert.“ Zygmunt Baumann, From Pilgim to Tourist, in: Stuart Hall (Hg.), Questions of Cultural Identity, 18–36, hier: 21. 10 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.M. 1990, 208.
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Andreas Nehring religiös-kulturelle Selbst- und Fremdzuschreibungen, die oft zu Abstammungskategorien verkommen“ … “Die Intensität, von der die Identitätsdebatten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bestimmt werden, deutet auf eine Verlusterfahrung hin. Die Verlusterfahrung ist den Emigranten, den gesellschaftlichen Mehrund Minderheiten gemein und erscheint heute universell: die Erfahrung von Heimatlosigkeit, begründet im Verlust der Einheit der Gesellschaft.“11
Identität ist insofern ein Problem der Moderne und wird dann zu einem Thema, wenn man nicht mehr sicher ist, wozu man gehört, d.h. wenn man nicht genau weiß, wie man sich in der offensichtlichen Vielzahl und den Möglichkeiten von Lebensmustern und Verhaltensweisen positionieren soll, und vor allen dann, wenn man nicht mehr weiß, ob die Menschen um einen herum diese Positionierung noch als richtig und angemessen wahrnehmen. Nun fragt sich ob und wieweit sowohl der biblische Befund, den man sicherlich noch ausarbeiten könnte, als auch Analysen moderner oder postmoderner Befindlichkeiten und Identitätspositionierungen für ein theologische Reflexion im Angesicht der Fluchtbewegungen die wir in Europa und weltweit gegenwärtig erleben und beobachten, weiterführend sind. Ich glaube, sie werden den Herausforderungen, die sich uns heute angesichts des menschlichen Elends, das uns als denjenigen begegnet, die hier wohnen und sozial gesichert sind, nur unzureichend gerecht. Jede theologische Reflexion zu Migration muss heute auch von den politischen und sozialen Umwälzungen der letzten Zeit ausgehen und in Europa ist der Themenkomplex Migration, Exil, Diaspora gegenwärtig eng mit der dramatischen Situation der Flüchtlinge verbunden, die in unseren Ländern Schutz suchen. Man kann und muss vielleicht eine theologische Reflexion zur Flüchtlingsfrage mit der Bezugnahme auf das biblische Zeugnis beginnen. Theologie der Migration muss aber auf jeden Fall mehr leisten als eine biblisch fundierte Reflexion auf als analog postulierte Erfahrungen von Flüchtlingen, die Ihre Heimat verlassen, weil ihr Lebensraum lebensunwürdig geworden ist. Es ist die Situation, auf die das biblische Zeugnis Antwort geben soll, von der wir ausgehen müssen. Wenn in der katholischen Theologie von Migration als einem Zeichen der Zeit gesprochen wird,12 und wenn Regina Polak Migration darüber hinaus als locus theologicus definiert, dann muss auch darüber nachgedacht werden, welche Zeichen Flucht und Vertreibung geben. Jose Castilio Guerra unterscheidet drei Stadien der Migration, die helfen können zu verstehen. wie sich Identitäten von Migranten entwickeln. Als erstes verlassen Migranten und Flüchtlinge ihr Heimatland und beginnen eine Reise, die man Emigration nennen kann. Dabei ändert sich ihre Identität zum ersten Mal, wenn sie als Auswanderer die Familie und die Freunde verlassen 11 Nina Clara Tiesler, Heimat. Fremdheit, Zugehörigkeit: Zur Konjunktur des Diasporabegriffs in der Ära Internationaler Migration, in Babilónia Nr. 6/7 2009, 241–261, hier 243. 12 Siehe Judith Gruber und Sigrid Rettenbach (Hg.), Migration as a Sign of our Times, Leiden-Boston 2015.
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und sich auf den Weg in ein anderes Land und oftmals in eine als besser erhoffte Zukunft machen. In vielen Fällen ist ihre Ausreise erzwungen durch politische, ethnische, kulturelle oder religiöse Verfolgung, die sie zu Flüchtlingen werden lässt. Für viele der Emigranten, insbesondere für diejenigen, die kein Recht auf Visa haben, beinhaltet dieser Aufbruch ein Risiko, das eigene Leben oder zumindest die Freiheit aufs Spiel zu setzen. Wenn dann die Migranten das Territorium des Ziellandes erreichen, beginnt für Sie die Phase der Immigration. Sie sind nun Immigranten, eine Identität, die in erster Linie in Begriffen wie Ausländer, Fremder, Zugereister und oftmals sogar Illegaler definiert wird, und damit die Differenz und Fremdheit zur neuen Gesellschaft markiert. Schließlich ist die tatsächliche Immigration in ein Land ja nicht die letztendliche Grenze die Immigranten zu überschreiten haben. Ihre neuen Erfahrungen in der Zielgesellschaft sind geprägt von neuen kulturellen, politischen, ethnischen, religiösen, sozialen und Arbeits-Grenzen. Die Begegnung mit diesen neuen Grenzen führt zu neuen Identitätsbildungen, die selbst die beiden bisherigen Identitäten mit einschließen. Menschen, die so nach Europa kommen sind nicht nur Emigranten die ihr Land verlassen haben und auch nicht nur Immigranten, die ein neues Land betreten haben sondern Migranten, die die verschiedenen Grenzen in der Gesellschaft aushandeln müssen. Eine Theologie der Migration muss diese Bewegungen in den Blick nehmen und so neue Aspekte in theologische Diskurse einführen, die u.U. nach wie vor von feststehen Identitäten ausgehen oder diese postulieren. Migration ist daher, so Guerra, mehr als nur ein Thema in der Theologie, weil sie sich auswirkt auf die Epistemologie und auf die hermeneutische Methode, die in der Theologie relevant werden muss.13 Ich will daher in diesem Beitrag versuchen, unter den besonderen Herausforderungen, die die gegenwärtigen Fluchtbewegungen an Fragen der Humanität, an Identitäten und an unseren Umgang mit den Grenzen Europas stellen, einige Vorüberlegungen zu einem möglichen Ansatz theologischer Reflexion anzustellen.
3.
Ecce homo und der Humanismus
Im Juni 2016 fand in Leipzig der 100. Katholikentag unter dem Leitwort aus dem Johannesevangelium Ecce Homo – „Seht, da ist der Mensch“ statt. Was ist der Mensch? Worin besteht seine Würde? – Als Pontius Pilatus dies über 13 Vgl. Jorge E. Castillio Guerra, Theologie der Migration. Menschliche Mobilität und theologische Transformationen, in: Tobias Kessler (Hg.) Migration als Ort der Theologie, Regensburg 2014, 115–145.
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den auf grausamste Weise gefolterten und verspotteten Jesus sagte, meinte er damit auch all jene Menschen, die hängen gelassen wurden, draußen vor den Toren der Stadt, ausgegrenzt, am Ende. Im Kreuz, an dem Leben verlischt, zeigt sich die unendliche Bedeutung des Menschen mit dem Gott sich identifiziert. Der Blick des Pilatus macht den verletzbaren, gescheiterten Menschen zum Ausgangspunkt jeder theologischen Reflexion. Wie schwierig es aber ist den Blicken auf den Menschen -ecce homo- zu richten, zeigt sich nicht erst an der medialen Verbreitung von Bildern eines toten syrischen Kindes und anderer Opfer, die an den Ufern europäischer Küsten angeschwemmt werden. In seinem Essay Schiffbruch mit Zuschauer hat Hans Blumenberg bereits vor 20 Jahren die Erfahrung des Schiffbruchs als Paradigma einer Daseinsmetapher gelesen und in seinem Essay Lukrez (99 v. Chr. – 55 v. Chr.) De rerum natura zitiert: „Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde, auf hoch wogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen.“
Nicht aus Voyeurismus oder Freude am Unglück, sondern weil dieser Anblick des Schiffsuntergangs dem Zuschauer verdeutlicht, dass er selbst festen Grund unter den Füßen hat, sieht er in der Distanz zum Geschehen sein Selbstbewusstsein gestärkt. Die Weltsicht aus der Distanz bildete für Lukrez, so Blumenberg, das Ideal der „Lehre der Weisen“,14 das in Europa aus dieser Distanz heraus eine Lehre vom Menschen hervorgebracht hat, die wie Heidegger betonte, in der Metaphysik gründet, wobei er mit Metaphysik die systematische Grundlegung eines technischen oder „verrechnenden Denkens“ meinte. Der europäische Humanismus neuzeitlicher Prägung, der, wie Foucault es sah, erst als eine Veränderung der fundamentalen Dispositionen des Wissens zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden ist,15 wurde paradoxerweise gerade von Intellektuellen aus denjenigen Ländern scharf attackiert und als grundsätzlich europäisches Problem diskreditiert, aus denen heute die Flüchtlingsströme nach Europa fließen. Frantz Fanon, wenn auch aus Martinique stammend, kritisiert in der Schlussfolgerung von Die Verdammten der Erde (1969) den Humanismus Europas als ideologische Begründungsstruktur für Ausbeutung der Anderen und fordert auf, Europa zu verlassen und nach anderen Grundlagen zu suchen: „Dieses Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden, niemals aufgehört hat zu verkündigen, es sei nur um den Menschen besorgt, wir wissen heute, mit welchem Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat. Los, Genossen, Europa hat endgültig ausgespielt. Es muss etwas anderes gefunden werden … Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun 14 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1997, 32f. 15 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1971, 398.
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schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für ihre Zwecke und zu ihrem Ruhm unterjocht.“16
Humanismus selbst, so betont Sartre im Vorwort zu Fanons Buch, hat oftmals die höchsten Werte der europäischen Zivilisation verletzt und war tief involviert in der gewalttätigen Auswirkungen des Kolonialismus. Vor allem habe der europäische Humanismus einen zentralen Anteil an der expansorischen Ideologie des europäischen Kolonialismus gehabt. Die Formierung von Ideen einer menschlichen Natur, überhaupt von Menschsein und den universalen Qualitäten des menschlichen Geistes, die die gemeinsame Grundlage europäischen ethischen Denkens waren, sei aufgeblüht in einer Zeit, als die westliche Expansion auf ihrem Höhepunkt war. Das Ergebnis dieses Humanismus, so Sartre, war, dass andere Menschen ent-humanisert worden sind.17 Das Projekt der Kritik am Humanismus, das autonome beobachtende Subjekt zu de-zentrieren, war in vieler Hinsicht selbst ein ethisches Projekt, eine ethische Aktivität, die aus dem Verdacht abgeleitet wurde, dass die ontologische Kategorie des Menschen oder der menschlichen Natur zutiefst verwoben war mit der Etablierung westlicher Hegemonie. Wenn der Mensch selber offenbart wird als ein problematisches Konzept, dann kann er auch nicht länger präsentiert werden als das unhinterfragte ethische Ziel.18 Es ist vor allem die Einschreibung einer Andersheit, einer Alterität in das Selbst, die eine neue Form von Ethik ermöglicht. Das Selbst muss mit der Tatsache zurecht kommen, dass es auch ein anderes hat, eine zweite oder dritte Person. Gayatri Spivak hat diesen Perspektivenwechsel prägnant so ausgedrückt: „Die Strukturalisten hinterfragen den Humanismus, indem sie seinen Helden herausstellen, das souveräne Subjekt als Autor, das Subjekt der Autorität, Legitimität und Macht. … Indem der Westen schrittweise an Souveränität verliert, ist die erste Welt nun gezwungen, sich darüber klar zu werden, dass sie nicht länger immer nur in der ersten Person positioniert wird in Bezug auf eine zweite oder dritte Welt.“19
Spivak ist skeptisch in Bezug auf die Möglichkeit ein gemeinsames Humanum zu formulieren, ein ‚wir’, das neben aller Anerkennung von Differenz und Alterität angenommen werden müsse, weil die auch das positive Anerkennen der Andersheit anderer ein othering bewirke, das die anderen wiederum festlegt, definiert und damit, wenn definieren wörtlich verstanden wird, ausschließt, 16 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Reinbeck 1969, 239. 17 Jean Paul Sartre, Vorwort, in: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Reinbeck 1969. 18 Claus Arthur Scheier, Das Ende des Menschen – der Anfang der Menschlichkeit?, in: Urs Turnherr (Hg.), Menschenbilder und Menschenbildung. Interdisziplinäre Vortragsreihe zu Grundfragen der modernen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2005, 135– 148. 19 Gayatri Chakravorty Spivak, Subaltern Studies. Deconstructing Historiography, in: Donna Landry und Gerald MacLean (Hg.), The Spivak Reader, London-New York1996, 203–235, hier: 210f.
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und sie bezeichnet daher den ethischen Weg, den Europa zunächst zu gehen habe als ein „unlearning of priviledge as loss“, eine kritische Reflexion über die eigene Position und die Privilegien, die auf dem Rücken anderer gesammelt worden sind, eine Reflexion die als Voraussetzung gelten muss, damit ein gemeinsames Lernen und Zusammenleben von Privilegierten und Subalternen in einer, wie sie es nennt, „Planetarischen Alterität“ überhaupt möglich wird.20 Auch Sartres Kritik am Humanismus bedeutet für ihn nicht, überhaupt keine ethischen Perspektiven mehr vertreten zu können oder wollen, sie wirft aber die Frage auf, worin das Gemeinsame des Menschlichen bestehen könne. „Den Humanismus in diesem Kontext zu kritisieren bedeutet nicht, dass man den Menschen nicht mag oder Menschen nicht mag und dass man keine ethischen Werte vertritt, so wie es dem Antihumanismus manchmal vorgeworfen wird, sondern es ist geradezu das Gegenteil. Was hinterfragt wird ist der Gebrauch des Humanen als eine Erklärungskategorie, die bereitgestellt wird, um ein rationales Verständnis von dem Menschen an sich zu gewinnen, ein angenommenes Universal, was zugleich dazu verwandt wird, sein anderes zu definieren.“21
Worin besteht also dann Humanität? Blumenbergs Beschreibung des Schiffbruchs als Paradigma einer Daseinsmetapher könnte einen ersten Hinweis liefern. Aber auch Richard Rorty beschreibt in seiner Gegenüberstellung eines liberalen Metaphysikers zu einer liberalen Ironikerin sehr anschaulich, dass weder Vernünftigkeit noch Handlungsmacht zur Definition eines Subjekts gehöre, sondern dass umgekehrt die moralisch relevante Definition einer Person nur darin liegen könne, dass Menschen verletzt und gedemütigt werden können. Es ist die Verletzbarkeit, die allen Menschen gemein sei und „das einzige soziale Band, das wir brauchen“22. „(Das) Verständnis dessen, was menschliche Solidarität ist, gründet sich auf das Gefühl einer gemeinsamen Gefahr, nicht auf einen gemeinsamen Besitz oder eine Macht, an der alle teilhätten.“23
In ähnlicher Weise führt Judith Butler diesen Gedanken in ihrer Kritik der ethischen Gewalt aus: „(Gewalt) beschreibt eine physische Verletzbarkeit, der wir nicht entrinnen können, die wir nicht abschließend mit Namen des Subjekts auflösen können; diese Verletzbarkeit kann uns jedoch begreifen helfen, inwieweit wir alle nicht genau umgrenzt, nicht genau abgetrennt sind, sondern einander körperlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, einer in der Hand des anderen … Vielleicht liegt unsere Chance menschlich zu werden, gerade in der Art und Weise, wie wir auf Verletzungen reagieren.“24
20 21 22 23 24
Gayatri Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten, Wien 1999, 79. Jean Paul Sartre, Vorwort, 1969, 20f. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1992, 156 Ebd. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2003, 101f.
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Bereits vor mehr als 40 Jahren (1974) hat der Hamburger Missionswissenschaftler Hans Jochen Margull den Begriff der Verwundbarkeit in die Diskussionen zum interreligiösen Dialog eingeführt. Interreligiöse Dialoge entstanden, so Margull, katarakthaft an den Wunden der Geschichte, wo Menschen verletzt, verfolgt, zerstört worden sind, in Situationen globaler Bedrohung und es ist gerade diese Verwundbarkeit, die dem Dialog auch theologische Tiefe und Relevanz verleiht.25 Bislang ist dieser weitsichtige Gedanke von Margull in der Theologie allerdings kaum wirklich zur Ausführung gelangt. Ecce Homo – dem Bild von der Verletzbarkeit als Konstitution des Menschseins und als mögliche Grundlage auch der interkulturellen Begegnung zwischen Verwurzelten und Flüchtenden, oder gar eines Dialogs will ich im Folgenden weiter nachgehen, indem ich zunächst drei Felder aus der Flüchtlingsdebatte aufnehme: Humanität und Recht, Humanität an den Grenzen und Humanität an Nicht-Orten, um abschließend einen theologischen Ausblick zu versuchen.
4.
Humanität und Recht
Das Jahr 2015 war in weiten Teilen davon gekennzeichnet, dass Menschen in Deutschland und anderen europäischen Ländern nun wirklich wahrnehmen und mit eigenen Augen sehen konnten: die erste Welt kann sich nicht mehr in der ersten Person gegenüber einer Dritten Welt positionieren; die Dritte Welt kann nicht mehr in der Distanz „dort draußen“ gehalten und vom sicheren Ufer aus betrachtet werden, sondern sie ist „hier drinnen“ in der ‚Ersten Welt’ angekommen, im Zuge von Flüchtlingsströmen, aber auch als ökonomisches Chaos in der europäischen Union. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Traditionen, Kulturen, Religionen aber auch ökonomischer Unterschiede findet nicht mehr an den Peripherien statt, die Mary Louise Pratt einmal als „Kontaktzonen“ bezeichnet hat,26 sondern inmitten unseres täglichen Lebens in den Städten und Kulturen der von uns so genannten ersten-fortschrittlichen Welt. Und dabei stellen wir fest, dass wir nicht nur einen signifikanten Bruch mit dem vorherrschenden Verständnis von Kultur, Sprache, Religion, Identität und Zusammenleben erfahren, und dass eine diffuse Angst in Teilen der Bevölkerung aufkommt, sondern dass zugleich grundlegende Strukturen an den südlichen Grenzen Europas zusammenzubrechen drohen. Es droht ein Ausnahmezustand, und ein wirkliches Ende ist bislang nicht abzusehen. In den Auffanglagern die jenseits und diesseits der Grenzen errichtet worden sind 25 Hans Jochen Margull, Verwundbarkeit. Bemerkungen zum Dialog, in: Ders. Zeugnis und Dialog. Ausgewählte Schriften, Ammersbeck 1992, 330–342, hier 334. 26 Mary Luise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London-New York 1992, 2–6.
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herrscht das nackte Elend. In dem Kampf der Menschen ums Überleben, um elementare Lebensrechte, entsteht ein rechtsfreier Raum, in dem Menschen in lebensbedrohende und sogar tödliche Situationen manövriert werden und andere, die sich auch mit Gewalt ihr Recht holen, gerade dadurch ihre Bleiberechte zu verwirken drohen. Die wachsende Not führt Humanität als Ideal und als Recht an Grenzen. Heribert Prantl hat im Herbst 2015 in der Süddeutschen als einer der ersten Journalisten noch einmal herausgestellt, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber im politischen Diskurs keineswegs mehr als selbstverständlich gelten kann, dass nämlich Menschenwürde nicht von der Zahl derjenigen Menschen abhängen kann, die sie verlangen und beanspruchen. Im Alltag humanitärer Hilfe laufen geregelte Ansprüche auf und das irritiert viele Menschen, weil Asyl europaweit eher als Gnadenerweis denn als Rechtsform verstanden und umgesetzt wird. Asyl und Flucht aus dem Süden nach Europa wird bei uns erfahren als Ausnahmefall, als ein irreguläres Moment, das in erster Linie als ökonomischer Schaden auftritt. Selbst wenn die Versorgung der Flüchtlinge funktioniert, bleibt es im Durchschnittsbewusstsein bei einem Zugeständnis: Sie dürfen bleiben. Der Preis der Menschlichkeit bemisst sich an den Kosten, den die zahlen, die sich im System außerhalb befinden, die nicht abstimmen können, aber betroffen sind. Humanität, das zeigen auch gegenwärtige Debatten in Deutschland und verunglimpfende Anpöbeleien von Politikern auf dramatische Weise, ist offensichtlich jederzeit verhandelbar. Angesichts der Flüchtlingsströme wird uns deutlich: Humanität ist prekär, umstritten, schwierig, und zwar deshalb weil Humanität nicht abstrakt die Würde aller Menschen, sondern die Rechte konkreter Subjekte vertritt und als politische Haltung immer an die Grenzen des Machbaren, Organisierbaren und vor allem Finanzierbaren rührt.27 In Staat, Gesellschaft und Kirchen wird Migration in Europa gegenwärtig primär problem- und defizitorientiert wahrgenommen. Die globalen Herausforderungen und die damit verbundene Verantwortung wurden auch in der Politik erst unter zunehmendem Druck diskutiert. Zwar ist viel von Zuwanderung die Rede und davon, dass Europa in Zukunft Arbeitskräfte braucht, aber momentan wird eher diskutiert wie viel Sozialleistungen Flüchtlinge bekommen sollen und wie die Last auf die europäischen Länder verteilt werden kann. In Positionspapieren der EU wird längst davon ausgegangen, dass Migrationsströme heute unkontrollierbar geworden sind und man folgert daraus, die Notwendigkeit eines pragmatischen Umgangs mit dem humanitären Dilemma, z.B. indem man zwischen „wahren Flüchtlingen“ und „eigentlichen Migrantinnen“ unterscheidet.28 Und diese Unterscheidung wird, um das Unwort des
27 Vgl. dazu Gregor Maria Hoff, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Prekäre Humanität. Salzburger Hochschulwochen 2015, Innsbruck-Wien 2016, 7. 28 Sabine Hess / Vassilis Tsianos, Europeanizing Transnationalism! Provincializing Europe! – Konturen eines neuen Grenregimes, in: Transit Migration Forschergruppe
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Jahres 2010 zu zitieren, bei den Regierenden vieler europäischer Länder inzwischen als „alternativlos“ angesehen. In der Trennung von „wirklichen“ und „eigentlichen“ sowie in der Versorgung mit Lebensressourcen zeigt sich so etwas wie eine gnadenlose Gnade, die sich in der bloßen Bewilligung von Notwendigstem ausdrückt. Um dem etwas entgegnen zu können, lässt sich meines Erachtens an zwei Punkten ansetzen. Zum einem ist es hilfreich, konsequent eine Perspektive einzunehmen die davon ausgeht, dass politische Subjekte in politischen Diskursen überhaupt erst erzeugt werden und nicht schon als gegeben vorausgesetzt werden können. Zum anderen braucht es eine Kritik des hegemonialen Politikmodells und die Formulierung von Alternativen, wie sie beispielsweise Ernesto Laclau und Chantal Mouffe im Konzept der radikalen Demokratie vorschlagen. Mit Laclau und Mouffe lässt sich argumentieren, dass das politische Subjekt der politischen Partizipation nicht vorgängig ist, sondern in Ereignissen, die als politische gelten, überhaupt erst erzeugt wird. Die ‚Eigentlichen’ und die ‚Wirklichen’ – gegen diese Festlegungen kann man ein Politikkonzept in Anschlag bringen, das auf alles Vorgängige verzichtet und weder bestimmte Subjekte noch ein allgemeines Humanum oder andere Letztbegründungen gesellschaftlicher Prozesse voraussetzt, sondern das Subjektivität als Effekt politischer Prozesse begreift. Mit ihrem radikalen Demokratiekonzept gehen Laclau und Mouffe nicht nur in Abgrenzung zu marxistischer Sozialtheorie nicht mehr von einem ökonomischen Unterbau der Gesellschaft aus, sondern sie weisen auch kulturelle Fundierungen und allgemeine normative Kriterien für die Begründung von Gesellschaft, aus denen man eventuelle gesellschaftliche Funktionslogiken ableiten könnte, zurück. Konsequenter Weise kann dann auch Humanität nicht als ein transzendentales Signifikat angenommen werden, das Identität oder Kohärenz von Gesellschaft sichern könnte; der Ausgangspunkt für das Politische ist bei Lacalu und Mouffe vielmehr radikale Kontingenz, mit anderen Worten eine „Unmöglichkeit von Gesellschaft.“29 Gesellschaftliche Ordnung ist nicht abschließbar und kann sich niemals endgültig totalisieren. Das bedeutet aber auch, dass Gesellschaft immer nur durch hegemoniale Diskurse stabilisiert wird, die jeweils Bedeutung fixieren und Geschlossenheit definieren, und die dadurch Identitäten festlegen, indem partikulare Positionen als universal gültig ausgeben und als alternativlos dargestellt und durchgesetzt werden. Wenn es einer partikularen Position gelingt, ihre Begründung für politisches Handeln als alternativlos und einzig legitim durchzusetzen, wird dadurch im öffentlichen Diskurs die grundlegende Kontingenz der Gesellschaft und letztlich auch die Konflikthaftigkeit des Sozialen verschleiert. Auch Niklas Luhmann hat insbesondere in seinen späteren (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld (transcript) 2007, 23–39, hier: 32f. 29 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und Radikale Demokratie, Wien 1991, 161.
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Schriften betont, dass jedes System von der Paradoxie seiner Selbstbegründung in Unruhe gehalten wird und dass diese grundlegende Paradoxie Systeme dazu bringt, ihre Begründung unsichtbar werden zu lassen.30 Laclau und Mouffe argumentieren nun aber, dass diese hegemonialen Diskurse nur funktionieren, indem durch sie selbst Grenzen gezogen werden, bzw. indem ein radikales Außen festgelegt wird, das aber auch für die Identitätskonstitution auch benötigt wird. Hegemoniale Diskurse bedürfen also eines konstitutiven Außen, durch dessen Ausschluss innere Identität des Systems erst hergestellt wird. Die Differenzierung zwischen christlichem Abendland und einem fremden Islam als Begründung für nationale Abschottung, aber auch Letztbegründungen für soziale Ordnungen durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten ließen sich hier anführen. Nun kann man aber auch die unbedingte Orientierung an einem normativen Horizont wie dem der Humanität als Ausdruck eines hegemonialen Diskurses ansehen. Es mag zunächst überraschen und verstören, dass Christine Thon gerade „Humanität“ im Sinne von Laclau als einen „leeren Signifikanten“31 bezeichnet hat. Sie argumentiert: „Wenn ein eigentlich partikularer Signifikant (z. B. Humanität) für eine ganze Kette von mit ihm assoziierten Signifikanten steht (z. B. Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Menschenrecht ebenso wie individuelle Würde oder kulturelle Leistungen, Bildung usw.) wird er zu einem universellen Bezugspunkt und kann damit die imaginäre Einheit des Diskurses repräsentieren. Er integriert dann so viele Bedeutungen, dass er völlig unscharf und damit zum leeren Signifikanten wird. Da er relativ beliebig füllbar ist, kann der leere Signifikant zu einem machtvollen Platzhalter werden, der die Vorherrschaft eines Diskurses begründet.“32
Zum Beispiel kann im Namen von Humanität sowohl für oder gegen Familiennachzug oder militärische Einsätze in Syrien, Afghanistan oder Libyen argumentiert werden. Gerade in der Möglichkeit der vielfältigen Füllung des leeren Signifikanten wie dem der „Humanität“ zeigt sich aber die Kontingenz eines hegemonialen Diskurses, der letztlich immer instabil bleibt, da etwas außerhalb seiner selbst vorausgesetzt werden muss, das Ausgeschlossene, das jenseits des behaupteten ‚Alternativlosen’ gesetzt wird. Und gerade durch dieses konstitutive Außen werden sich immer wieder Gegenpositionen behaupten, – Laclau bezeichnet sie als Antagonismen – durch die deutlich wird, dass das vom hegemonialen Diskurs als alternativlos Gesetzte nur eine partikulare Position unter mehreren möglichen ist.33 30 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Fankfurt a.M. 1987.37ff. 31 Ernesto Laclau, Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, in: Mesotes – Zeitschrift für philosophischen Ost-West Dialog, Nr. 2, 1994, 157–165. 32 Christine Thon, Die Idee der Universität und studentischer Protest. Zur akademischen Formierung politischer Subjekte, in: Norbert Ricken u.a. (Hg.), Die Idee der Universität – revisited, Wiesbaden 2014, 229–248, hier 240, Fn 6. Vgl. auch zum Folgenden. 33 Ernesto Laclau, Universalismus, Partikularismus und die Frage der Identität, in: Mesotes – Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog, Nr. 3, 1994, 287–299.
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Urs Stäheli hat den Vorteil dieses Ansatzes von Laclau und Mouffe so gesehen: „Das von Laclau und Mouffe vorgeschlagene Modell bricht mit der Annahme, dass sich zwei Gruppen wegen bereits feststehender, unterschiedlicher Interessen in einem Antagonismus befinden. Nicht von den beiden Identitäten und ihren Interessen wird hier ausgegangen, sondern von ihrer antagonistischen Beziehung. Der Vorteil dieser Denkweise besteht darin, dass analysiert werden kann, wie in einem antagonistischen Konflikt diese Identitäten hergestellt und die jeweiligen Interessen der Konfliktparteien konstruiert werden“34
Wenn sich Subjektivitäten aber im politischen Prozess konstituieren, stellt das die gängige Unterscheidung einer bestimmten Art politischer Subjekte wie Bürger und Fremde oder die Unterscheidung von Menschen diesseits und jenseits von Grenzen grundsätzlich in Frage.
5.
Humanität und Identität an den Grenzen
Die Ränder oder die Grenze und insbesondere der Grenzbereich sind in den Kulturwissenschaften schon seit langem zu zentralen Metaphern für die Beschreibung von Identitäten avanciert. Postkoloniale Theorien und Theologien nehmen die Fragen kultureller und politischer Exklusion auf, und es hat sich in den letzten 25 Jahren eine lebendige Debatte darüber entwickelt, wer an den Grenzen steht und wer den Diskurs über Grenzen dominiert. Im Diskurs der Latinas und Latinos in Nordamerika und in den sogenannten Diaspora-Studies spielt der Bereich der Überschneidung und das Überschreiten der Grenze bereits seit einiger Zeit eine bedeutende Rolle, aber auch in der theologischen Reflexion um die Bedeutung von Migrationskirchen von Menschen anderer Sprachen und Herkunft in Deutschland, werden Ränder und Grenzbereiche sowie deren Überschreitung zunehmend relevant. Migration und Exil bringen, das hat Edward Said bereits vor 25 Jahren betont,35 eine Daseinsform mit sich, der die Dauerhaftigkeit fehlt. Vielleicht sind daher Migration und Flucht erst in Ansätzen in die theologische Diskussion eingewandert. Der Begriff Marginalität, der die Ränder und damit auch die Repräsentation, und Artikulation sowie die Überschreitung von kulturellen Grenzen
34 Urs Stäheli, Die Politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, in: André Brodocz und Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 1999, 143–166, hier: 151. 35 Edward Said, Reflections on Exile, in Russell Ferguson, Martha Grever, Trinh T. Minh-ha und Cornel West (Hg.) Out there. Marginalization and Contemporary Cultures, Cambridge (MIT Press), 1990, 357–363.
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in den Blick nimmt, bekommt aber heute angesichts der sogenannten Flüchtlingsströme noch einmal eine neue, gewandelte und vor allem sehr viel konkretere Bedeutung. An den Grenzen Europas wird gegenwärtig nicht nur verhandelt, wie Europa sich selbst versteht und wie eine europäische Identität aussehen könnte, sondern auch, was in Europa unter Humanität zu verstehen ist. Tausende von sterbenden Flüchtlingen im Mare Nostrum an Europas Grenzen und zunehmend auch in der Mitte Europas, geben den Fragen nach der Rolle und Bedeutung von Grenzen eine neue Brisanz. Wie verschieben sich Grenzen, wo entstehen auch innerhalb eines Sozialsystems Grenzen, die Räume ausschließen? Die Schließung von Grenzen und die damit verbundene Exklusion ist eine Form, innerhalb eines Systems Ordnung zu schaffen und hier entscheidet sich, wie Sven Opitz argumentiert36, welche Sinnofferten in einem System als anschlußfähig gelten und welche nicht. Im Diskurs darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht, wird diese Frage beispielsweise gegenwärtig verhandelt. Allerdings ist hier an Heideggers Besinnung über die Grenze zu erinnern „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“37 Grenzen und Ränder ermöglichen daher nicht nur den Blick nach außen, sondern sie eröffnen Einsichten, die die Ordnung der Dinge innerhalb eines Systems ins Schwanken bringen können. Gesellschaften haben daher die Tendenz, ihre Grenzen zu schließen und gleichzeitig ihre Ränder zu verbergen und Marginalisierung zu verleugnen.38 Migranten, Flüchtlinge, Menschen an den Rändern Europas blicken durch die Zäune. Um das zu verhindern hält man sie nun gleich in der Türkei auf. Christian Morgenstern hat für diesen Vorgang in seinem Gedicht ‚Der Lattenzaun’ einen unnachahmlich treffenden Ausdruck gefunden: Es war einmal ein Lattenzaun Mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus.
36 Sven Opitz, Exklusion. Grenzgänge des Sozialen, in: Stefan Moebius / Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 2008, 175– 193, hier: 180. 37 Martin Heidegger, Bauen -Wohnen – Denken, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Teil 2, Pfullingen, 1967, 29; zitiert in Bhabha, Die Verortung der Kultur, 1. 38 Vitor Westhelle, After Heresy. Colonial Practices and Post-colonial Theologies. Eugene, OR, 2010, 122; Vergleiche auch: Ders, Offene Begrenzungen. Repräsentation, Hybridität und Transfiguration, in: Andreas Nehring und Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien, Stuttgart 2013, 165–186.
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Ein Anblick gräßlich und gemein Drum zog ihn der Senat auch ein. Der Architekt jedoch entfloh Nach Afri- und Ameriko.39
Den Zwischenraum zubauen. Grenzen dicht machen. Das Spiel von Interaktionen und Durchblicken verhindern. Das ist die Arbeit dieses Architekten. Eine Politik der Sicherung von Räumen, der vor allem durch politische Entscheidungsprozesse begegnet werden muss. Systeme stabilisieren sich, indem sie ein Außen konstituieren und sich von diesem abschließen. Die Ausschließung des Anderen bewirkt eine Stabilisierung des Systems nach Innen. Das Schließen der Grenzen wird daher in den Ländern die ihre Grenzen für Flüchtlinge dicht machen, als Erfolg gewertet. Gleichzeitig drückt aber der Ausschluss auch aus, was das System innerlich gefährdet: die eigene Instabilität, die bleibt, die mit dem Ausschluss gegebene gleichzeitige Möglichkeit zu scheitern. Die ausgeschlossenen Fremden werden so zu Figuren, die als Antagonisten das eigene mögliche Scheitern im Inneren spiegeln. In ihnen wird versucht, die Fragilität der eigenen Lebenswelt zu personifizieren und zu bannen. „Der Islam gehört nicht zu uns“, ist daher eine wiederholte Ausgrenzungsphrase im populären Polit-Diskurs.
6.
Humanität an Nicht-Orten
Was geschieht dann aber in Europa mit den Flüchtlingen an Orten, die bevölkert, aber nicht bewohnbar sind, Flüchtlingsheime, Container, Turnhallen, Bahnhöfe, in denen jetzt Menschen leben, aber eigentlich nicht leben können; in Bayern in den sogenannten „Ankunfts- und Rückführungseinrichtungen“ für Flüchtlinge aus dem Westbalkan, die keine Chance auf Anerkennung ihres Asylantrages haben. Michel de Certeau hat zwischen Räumen und Orten unterschieden. Während Orte feststellen und das Gesetz des Ortes das Dasein auf etwas Totes reduziert indem es eigentlich keine Bewegung zulässt, beschreibt de Certeau Räume als Orte mit denen man etwas macht, ein Geflecht von beweglichen Elementen, das durch diejenigen, die sich darin bewegen erst zum Raum wird.40 Flüchtlingsheime sind Orte, die ein Leben ohne Bleiberechte gestatten, ein Leben das auf elementare Bedürfnisse zurückgeschraubt wird und keine nachhaltigen zwischenmenschlichen Beziehungen gestattet. Wer hier lebt, existiert in einem Nicht-Ort, an dem das Leben einer unerreichbar realen Welt vorbeizieht. 39 Christian Morgenstern: »Der Lattenzaun«, in: Ders.: Galgenlieder, Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. v. Clemens Heselhaus, München 1979, 26. 40 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 218f.
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Andreas Nehring
Der Ethnologe Marc Augé hat ein Buch über sogenannte Nicht-Orte geschrieben, Orte, die an menschlichen Transferzonen entstehen.41 Es handelt sich um Räume, die nur vorübergehend benutzt oder bewohnt werden, an denen man nicht bleibt oder sich dauerhaft aufhalten darf. Während Augé von Nicht-Orten wie Passagen, Flughäfen oder Bahnhöfen spricht, die man jederzeit wieder verlassen kann, funktionieren die Auffanglager an den Rändern unserer Städte anders, hier gibt es nur eine Duldung und vorläufige Existenzberechtigung auf Abruf. Agency, Handlungsmacht derjenigen die dort aufgenommenen sind, aber auch derjenigen die an den Grenzen feststecken, wird auf einen Minimum beschränkt in dem ihr Handlungsraum eingeschränkt bleibt. Der Soziologe Matthias Junge beschreibt diese temporäre oder dauerhafte Einschränkung des Handlungsraumes als Scheitern.42 Der italienische Philosoph Giorgio Agamben analysiert in seinem Buch Homo Sacer43, in dem er das untersucht, was als nacktes Leben eigentlich übrigbleibt, das Lager als einer grundlegenden Produktionsform moderner Menschlichkeit. Indem im Lager das Leben förmlich festgestellt wird, schließt es vom Leben in der Gesellschaft aus. Hier entscheiden sich Zugehörigkeiten. Hier werden die Passierscheine für das öffentliche Leben ausgestellt. Hier offenbart sich, wen eine Gesellschaft nicht nur als gleichberechtigten Bürger anerkennt, sondern als Menschen wahrnimmt. Keine Absichtserklärung, kein Verfahren, so politisch nachvollziehbar und so juristisch transparent es sein mag, reicht an die konkrete Verwundbarkeit jener Menschen, die jederzeit mit Abschiebung rechnen müssen. Neben unserem Umgang mit Grenzen entscheidet sich auch an den NichtOrten unserer Gesellschaften, was wir in Europa unter Humanität verstehen. Und in der politischen und juristischen Auseinandersetzung mit rechten Populisten und gewalttätigen Rechten, die Flüchtlingsheime anzünden, wird sich zeigen ob unsere Gesellschaft zu Humanität fähig ist.
7.
Humanität als theologische Herausforderung
Was Menschsein bedeutet, verschiebt sich angesichts von Krisen und Katastrophen den Grenzen. Humanität bezeichnet angesichts solcher Momente, im Horizont von Migration und im Augenblick ökonomischer Krisen, 41 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994. 42 Matthias Junge, Scheitern. Ein unausgearbeitetes Konzept soziologischer Theoriebildung und ein Vorschlag zu seiner Konzeptualisierung, in: Matthias Junge / Götz Lechner (Hg.), Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004. 43 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, 127ff.
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selbst den Ausnahmezustand, und zwar deshalb, weil sie nie feststeht, weil sich in ihrer Bestimmung gesellschaftliche Souveränitätsverhältnisse entladen. Es ist die menschliche Extremsituation, es sind die Lebensräume, in denen Leben unter äußerstem Existenzdruck gerät, in denen sich die Produktion von Humanität beobachten lässt. „Erst wo kulturelles Leben aus seiner Normalität ausschert und versagt, beginnen wir zu verstehen, worum es Ihm eigentlich gehen sollte“44 Burkhard Liebsch sieht daher gerade an den Orten „pathologischen Versagens“ das Versprechen aufgehen, dass Kulturen als Lebenswelten tatsächlich bewohnbar und wechselseitig gastlich sein sollten. In den letzten Jahren ist in dem Zusammenhang mit dem Migrationsthema immer wieder von einer Theologie der Gastfreundschaft die Rede gewesen. Sie ist erwachsen aus einer kirchlichen Praxis, die darauf zielt Inkulturation zu ermöglichen und Aufnahmebereitschaft den Gemeinden und der Gesellschaft allgemein zu fördern. Anders als der Ansatz der Migration als Zeichen der Zeit verhandelt, fokussiert eine Theologie der Gastfreundschaft auf eine von Emmanuel Levinas inspirierte Interpretation der biblischen Figur des Fremden. Eine Theologie der Gastfreundschaft ist allerdings insofern einseitig, als sie sich vor allem auf die Praktiken und Perspektiven derjenigen konzentriert, die Fremden, Migranten und Flüchtlingen begegnen und sie in ihre Gesellschaft aufnehmen. Die Begegnung mit dem Fremden wird dann als eine Weise der Begegnung Gottes mit den Menschen verstanden, was ja durchaus biblische Dimensionen widerspiegelt. Dieser Ansatz ist für die kirchliche Praxis von eminenter Bedeutung, da er auf Solidarität und Aufnahmebereitschaft zielt. Der Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford Strom hat bereits vor einigen Jahren einige theologische Kernthesen zur Theologie der Gastfreundschaft und Konvivenz für die Churches Commission for Migrants in Europe vorgelegt.45 Insbesondere hat er für die Anerkennung der Menschenrechte von Migranten plädiert. Solche Aussagen zur christlichen Gastfreundschaft sind angesichts zunehmender Tendenzen der Abschottung in europäischen Gesellschaften notwendig, weil sie zentrale theologische und ethische Kriterien für die Anerkennung Migranten artikulieren und weil sie die Notwendigkeit der Aufnahme von Flüchtlingen in unseren europäischen Gesellschaften theologisch begründen. Allerdings stellt diese Art der theologischen Begründung der Gastfreundschaft auch ein Problem dar, wie Castillio Guerra argumentiert, da die Handlungsmacht (agency) von Migranten und Fremden allgemein auf die Funktion von passiven Empfängers der Gaben der Gastgeber reduziert werden. 44 Burkhard Liebsch, Kultur im Zeichen des Anderen, oder: Die Gastlichkeit menschlicher Lebensräume, in: Ders. und Friedrich Jäger, Handbuch der Kulturwissenschaften Bd. 1, Stuttgart-Weimar 2004, 1–23, hier: 6. Siehe auch Burkhard Liebsch, Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg-München 2008. 45 Heinrich Bedford-Strohm, Responding to the Challenges of Migration and Flight from a Perspective of Theological Ethics in: Churches Commission for Migrants in Europe (Hg.), Theological Reflections on Migration. A CCME Reader, Brüssel 2008, 38–46.
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Andreas Nehring „Eine Theologie der Gastfreundschaft steht daher in der Gefahr die Migranten als Immigranten anzusehen, als dauerhafte neu angekommene die des Schutzes durch den Gastgeber bedürfen.“46
Eine Theologie der Gastfreundschaft tendiert dazu, asymmetrische Machtverhältnisse zu negieren, beziehungsweise ist sie von ihrem Ansatz her so angelegt, dass sie keine Wege eröffnet diese Machtverhältnisse zu überwinden, weil sie nicht danach fragt, wann die Immigranten aufhören, Migranten zu sein. Die in Deutschland übliche Rede vom Migrationshintergrund auch bei Menschen, die schon in der dritten Generation in Deutschland leben, zeigt ebenfalls diese Tendenz und steht damit in einem Widerspruch zur offiziellen Definition der UNO, die diejenigen Menschen als „internationale Migranten“ bezeichnet, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort mindestens ein Jahr lang außerhalb ihres Herkunftslandes haben. „Eine Theologie der Gastfreundschaft führt zwar einen theologischen Diskurs für die Migranten, aber sie generiert keine theologischen Inhalte, die im Glauben und Leben der Migranten gegenwärtig sind.“47
Über ein Angebot zu einer Begründung der Bedeutung von Migration für die Theologie hinaus, muss daher darüber nachgedacht werden, welche Bedeutung die Kontextualität auf der Grenze und gerade die doppelte Bezogenheit, die die Immigranten gleichzeitig in verschiedene Kontexte einbindet, für die theologische Reflexion haben können. Eine solche Theologie der Migration hat die Aufgabe, die christliche Botschaft ausgehend von den Orten und zwischen den Orten der Emigration und der Immigration zu vermitteln. Dabei muss sie, wenn sie für die Menschen die eine Flucht- oder Migrationserfahrung machen, relevant sein soll, auch die Rezeption verschiedener kultureller Verhältnisse vermitteln. Mit dem spanisch-indischen Theologen Raimon Panikkar könnte man diese Migrations-Hermeneutik als eine Diatopische Hermeneutik48 bezeichnen, eine Hermeneutik, die von zwei oder mehrehren Erfahrungsorten ausgeht und die zu beitragen könnte Kontexte, in denen es nur Toleranz innerhalb einer Gruppe gibt, in Kontexte eines kulturellen Zusammenlebens oder einer Konvivenz zu transformieren. Panikkar hat das Konzept einer diatopischen Hermeneutik in Bezug auf eine interreligiöse Existenz im Interreligiösen Dialog entwickelt. Als Sohn einer katholischen Katalanin und eines hinduistischen Inders war er in mindestens zwei Kontexten beheimatet, zwischen denen er vermitteln wollte und musste. Migranten bewegen sich zumindest über lange Zeit ebenfalls in zwei Kontexten mit denen sie sich identifizieren müssen und unter Umständen auch wollen.
46 Hier und im Folgenden: Jorge E. Castillio Guerra, Theologie der Migration. Menschliche Mobilität und theologische Transformationen, in: Tobias Kessler (Hg.) Migration als Ort der Theologie, Regensburg 2014, 115–145. 47 Ebd. 48 Raimon Panikkar, Myth, Faith and Hermeneutics, New York 1979, 8f.
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Der „Päpstliche Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs“ hat im Jahr 2004 die Instruktion Erga migrantes caritas Christi veröffentlicht. Migration ist laut Erga migrantes ein Zeichen der Zeit und nicht nur ein temporäres Phänomen, das es zu beseitigen gilt. Aus der theologischen Grundlegung des Dokuments will ich nur drei Punkte hervorheben: 1. Im Migranten ist nicht nur der „Fremde“, sondern das „Bild Christi“ (nach Mt 25) zu entdecken. 2. Migration wird als Fortsetzung des Pfingstereignisses interpretiert, bei dem Menschen aus verschiedenen Völkern und Rassen einander und die Apostel durch die Gabe des Heiligen Geistes in der je eigenen Sprache und eben nicht in einer Einheitssprache verstehen können. Die Pluralisierung, die damit einhergeht, ist kein Störfaktor, sondern gehört zum Heilsplan Gottes. Zu beseitigen sind vielmehr die Ursachen der Ungerechtigkeit und der Unfähigkeit, mit Differenz zu leben. 3. Migration und die diese begleitenden Herausforderungen werden als „Geburtswehen einer neuen Menschheit“ betrachtet. Das Bild wird aber keinesfalls nur idealisiert gezeichnet. Erga migrantes benennt auch die Leiden, die Migration begleiten, und den tiefen Riss, der durch die Sünde in die Menschheitsfamilie kam, und auch Migration durchzieht. Migration ist demnach ein Aufruf zu Solidarität und Gerechtigkeit. Damit wird in Erga migrantes Migration auch als „Hoffnungszeichen“ gesehen, das die „Umwandlung der Welt in der Liebe“ und in der Gerechtigkeit beschleunigen kann. Migration verkündigt das Ostergeheimnis, durch das Tod und Auferstehung in die Schöpfung der neuen Menschheit übergehen, in der es mit Gal 3,28 keine Sklaven und keine Fremden mehr gibt. Mit diesem Ansatz ist Erga migrantes der deutschsprachigen protestantischen Theologie weit voraus. Für die gesellschaftliche Diskussion eröffnet dieser Zugang einer Theologie der Migration Wahrnehmungsperspektiven, die Migration auch als Chance erkennen lassen: Als Chance zum gemeinsamen Ringen um Gerechtigkeit und globale Solidarität; als Möglichkeit, in Vielfalt und Verschiedenheit in Frieden miteinander leben zu lernen; als Ort spiritueller Erfahrung und Weg zu Gott – und darin als Lernort zur Humanität. Allerdings verlangt Humanität grundsätzlich immer zu viel. Der Austritt des Menschen aus jeder Versuchung, sich auf exklusive Bestimmungen des Menschlichen zu verlegen. Auch theologische Bestimmungen des Menschen, sei es als Geschöpfe Gottes, oder gar als Gottes Ebenbild, bleiben angesichts des Flüchtlingselends in den Lagern merkwürdig abstrakt. Gerade im Lager, an den Unterkünften für Geflüchtete, die notdürftig in fast allen Städten und Orten in Deutschland gegenwärtig errichtet werden und von denen unvorstellbar große in der Türkei, in Jordanien und im Libanon ganze Landstriche überziehen, zeigt sich die Möglichkeit zu einem einzigartigen Ausdruck des Menschlichen: die Bereitschaft mitzuleiden, Leben zu teilen, Leben einzusetzen, mehr als das scheinbar Menschenmögliche zu wagen. Das ist zu jeder Zeit auch eine politische Option. Die Humanität einer Gesellschaft offenbart sich
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in dem Moment, in dem sich Menschen dazu entscheiden zu helfen und in der Begegnung ihre Menschlichkeit erneut entdecken. Ecce Homo- Der Blick auf den leidenden gefolterten Menschen Jesus Christus lenkt auch den Blick auf das Elend der Flüchtlinge und eröffnet die Frage, wie sich gerade aus der verzweifelten Situation heraus und im kreativen Umgang mit Erfahrungen an Orten pathologischen Versagens, mit Scheitern und Verlust von Handlungsraum Subjektivierungsformen ausbilden können, wie sich an diesen Orten Heterotopien entwickeln, nicht Utopien von einem glücklichen Leben in Europa, wie es Slavoj Žižek jüngst den Flüchtlingen vorgeworfen hat,49 sondern Heterotopien mit der Projektion einer sozial gerechteren Gesellschaft in der Menschen über ihre eigenen Interessen hinaus politische und soziale Verantwortung übernehmen und übernehmen können. Auch die Erwartung von einer kommenden Herrschaft Gottes kann als solche Heterotopie bezeichnet werden.50
49 Slavoj Žižek, Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror, Berlin 2015. 50 Vgl. Wolfgang Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010, 346.
Erweitertes Wissen. Afrikanische Divinationssysteme und postkoloniale Perspektiven Interkultureller Theologie1 Klaus Hock
Es mag eine Binsenweisheit sein, dass eine kritische Beschäftigung mit spezifisch deutschen Fragestellungen, Inhalten und Themenbereichen postkolonialer Theoriebildung für die Theologie derzeit noch aussteht. Bewegen wir uns in das Fachgebiet, das innerhalb der institutionalisierten (insbesondere protestantischen) Theologie mehr und mehr unter der Nomenklatur „Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie“ firmiert, scheint es dort noch am meisten Interesse an einer diesbezüglichen Auseinandersetzung zu geben – immerhin sind entsprechende Fragen im deutschsprachigen Bereich vornehmlich innerhalb dieses Umfeldes thematisiert worden. Doch gerade die Vielfalt und Komplexität jener „Pluridisziplin“ (Volker Küster) bringen es mit sich, dass auch hier postkoloniale Perspektiven letztlich marginal bleiben. Das mag bedauert werden. Es kann aber auch dazu ermutigen, gerade aus der Marginalität des Faches heraus danach zu fragen, was in der Auseinandersetzung mit Impulsen aus dem Postkolonialismus speziell für den deutschen Kontext von besonderer Relevanz sein könnte. Beim Verweis auf die Marginalität geht es nicht um bloße Metaphorik; impliziert ist vielmehr eine Programmatik, die gerade im Kontext postkolonialer Diskurse, auch postkolonialer theologischer Diskurse, an Bedeutung gewonnen hat.2 Marginalität bedeutet dabei jedoch mitnichten Abgeschiedenheit oder gar Isolation – im Gegenteil: Kritisches Denken „an den Rändern“ provoziert geradezu die Frage nach der Praxisrelevanz religionswissenschaftlicher Einsichten und deren Umsetzung in Gestalten konkreten Handelns – sei’s in sozialen, sei’s in politischen oder anderen Bereichen.3 Ein weiterer Aspekt der Denkfigur tritt zu Tage, wenn Themen vom vermeintlichen Rand religionswissenschaftlicher oder interkulturell1
2 3
Danksagung: Dieser Artikel wurde durch einen Forschungsaufenthalt im Rahmen des aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Internationalen Kollegs für Geisteswissenschaftliche Forschung „Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa“ der Universität Erlangen-Nürnberg ermöglicht. Jörg Rieger, Opting for the Margins: Postmodernity and Liberation in Christian Theology, Oxford 2003. Vgl. etwa Yuk-Lin Renita Wong / Jana Vinsky, Speaking from the Margins: A Critical Reflection on the ‘Spiritual-but-not-Religious’ Discourse in Social Work, in: British Journal of Social Work 39/7 (2008), 1343–1359.
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theologischer Arbeitsfelder durch bewusste Perspektivenwechsel plötzlich in den Fokus des Interesses treten.4 Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie haben dabei das Potential, aus ihrer eigenen Marginalität im Verhältnis zur Theologie als Ganzer heraus innovative Fragestellungen und Einsichten einzubringen – und sie sollten das durchaus auch selbstbewusst angehen. Ein ganz fundamentales Caveat muss jedoch vorausgeschickt werden – und rahmt zugleich die in diesem Beitrag vorgenommene exemplarische Bezugnahme auf ein Beispiel der Rezeption postkolonialer Perspektiven in der Interkulturellen Theologie: Unbedingt zu vermeiden ist, dass der programmatische Ansatz bei der Marginalität in eine Art ideologisierte Obsession umschlägt und mit einer Fetischisierung des „Blicks aus der Marginalität“ lediglich unter umgekehrten Vorzeichen die „Einzigartigkeit“ Europas neu erfindet und damit in ein zweidimensionales Denken zurückfällt, das bloß neue Dichotomien produziert. Eine solche Rezeption postkolonialer Ansätze in der Interkulturellen Theologie liefe Gefahr, lediglich nochmals dasselbe reaktionäre, letztlich dem kolonialen Erbe verpflichtete Drehbuch von den Rändern her zu schreiben.5 Im Folgenden soll an einem vermeintlich „marginalen“ Thema exemplifiziert werden, wo solche Potentiale vorhanden sein könnten, aus der Marginalität heraus notwendige Debatten anzustoßen, nämlich an der Frage nach der Signifikanz, Plausibilität und Relevanz afrikanischer Divinationssysteme. Tatsächlich haben wir es beim Thema „afrikanische Divination“ mit einer Materie zu tun, deren Bedeutung für explizit religionswissenschaftliche Forschung meines Erachtens vielen noch gar nicht richtig bewusstgeworden ist – ganz zu schweigen von den daraus erwachsenden Implikationen für Fragen der Interkulturellen Theologie. Die Beschäftigung mit einem vermeintlich „exotischen“ Thema führt nämlich ins Zentrum (nicht nur!) afrikanischer (nicht nur!) Religionen und Religionsgeschichte, wirft einige der bedeutsamsten Grundfragen religionswissenschaftlicher Forschung auf – wie etwa die nach den Grenzen zwischen religiösen und nichtreligiösen Wissenssystemen – und damit zugleich die Frage nach den Grenzen religionswissenschaftlicher Arbeit und Erkenntnismöglichkeit. Für die Interkulturelle Theologie wiederum potenziert sich die Herausforderung der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand ein weiteres Mal, da sie über die Religionswissenschaft hinausgehende Interessen vertritt, in deren Rahmen sie insbesondere auch auf die sich aus afrikanischer Divination ergebenden Anfragen theologisch relevanter Qualität reagieren und diese reflektieren muss.
4 5
Mit Blick auf das Studium afroamerikanischer Religionen vgl. etwa Stephen Finley / Margarita Guillory / Hugh Page (Hg.), Esotericism in African American Religious Experience: „There Is a Mystery“ …, Leiden 2015, IX. Vasant Kaiwar, The Postcolonial Orient: The Politics of Difference and the Project of Provincialising Europe, Leiden 2014, 375.
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1.
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„Afrikanische Divinationssysteme“ – Markierungen eines diffusen Feldes
Wenn von „Divination“ die Rede ist, wird ein zweitausendjähriger Diskursstrang bemüht, der bereits in seinen Anfängen ein streng systematisiertes Verständnis seines Gegenstandes markiert. Kein Geringerer als Cicero war es,6 der durch seine Reflexionen über Divination die Grundlagen kritischen Nachdenkens über ein Phänomen skizzierte, das verschiedene Formen der Kommunikation mit „Übernatürlichem“ markiert, die darauf zielen, Zugang zu verborgenem Wissen zu erlangen.7 In seiner bis heute maßgeblichen Unterscheidung zwischen intuitiven und induktiven Divinationsformen greift er auf Platon zurück, der in seinem Dialog Phaidros entsprechende Differenzierungen vorgenommen hatte.8 Darüber hinaus empfiehlt Cicero als weitergehendes Klassifikationsschema die Unterscheidung zwischen „natürlicher“ Divination, die auf einer direkten Kommunikation mit „Übernatürlichem“ beruht, und „künstlicher“ Divination auf der Grundlage indirekter, durch Zeichen vermittelter Kommunikation mit „Übernatürlichem“. So hilfreich diese antiken Klassifizierungen für eine erste Orientierung nach wie vor sind, so problematisch ist ihre Konnotation mit expliziten oder auch subtilen Grundannahmen, die bis in die Gegenwart hinein unseren Umgang mit entsprechenden Phänomenen prägen. Zum einen beschränken sie sich nicht auf eine distanzierte, nüchterne Beschreibung. In den antiken Diskursen liegt von Beginn an eine fundamentale Skepsis oder zumindest ein prinzipielles Misstrauen gegenüber der einen oder anderen Form von Divination beschlossen, die über die Jahrhunderte hinweg auch in Religionen sowie in nichtreligiöse belief systems Eingang gefunden hat. Zum anderen bleibt die Terminologie unscharf: Die griechische „Kunst der Zukunftsdeutung“, die Mantik (von Altgriechischen mantikḗ téchnē) wird zur Divination – und damit schleichen sich nicht nur die Götter oder Göttliches ein, sondern „Divination“ kann nun neben der Zukunftsvorhersage jede Art der Auslegung von „Zeichen“ beschreiben – in der Regel Zeichen, die sich der Kommunikation mit einer Sphäre jenseits des Offensichtlichen, Augenscheinlichen, Alltäglichen verdanken.9 Im Laufe der Geschichte 6 7 8 9
Marcus Tullius Cicero, Über die Weissagung. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, München/Zürich 1991. Amar Annus, Art. Divination, in: Robert A. Segal / Kocku von Stuckrad (Hg.), Vocabulary for the Study of Religion, Volume I, A–E, Leiden/Boston 2015, 445–450, hier: 445. Phaidros 244a–245a, insbes. 244d–e; siehe http://www.perseus.tufts.edu/hopper/ text?doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0174%3Atext%3DPhaedrus%3Asection%3 D244a ff. (10.01.2017). Hierzu und zum Folgenden vgl. Barbara Tedlock, Divination as a Way of Knowing: Embodiment, Visualisation, Narrative, and Interpretation, in: Folklore, Vol. 112, No. 2 (Oct. 2001), 189–197, hier: 190 f.
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und insbesondere der Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte – zumal was die Erforschung von jenen Phänomenen angeht, die auch hier äußerst provisorisch als „Divinationssysteme“ gefasst sind – ist diese Unschärfe in Terminologien wie theoretischen Konzeptualisierungen nicht verschwunden. So überschneiden sich beispielsweise bei Victor Turner im Wortfeld des Mantischen mit Blick auf die Tätigkeit des Wahrsagers (diviner) induktive und intuitive Dimensionen,10 wobei jedoch hinsichtlich der von Turner in den Blick genommenen Ndembu – im Gegensatz zu Divinations-Experten der südlichen BantuGruppen – die Referenz auf die Vorhersage der Zukunft so gut wie keine Rolle spielt. Terminologische und konzeptionelle Unschärfen aus griechisch-römischen Transkulturationsprozessen scheinen sich in neuer Form fortzusetzen. Immerhin herrscht darüber, was als „afrikanische Divinationssysteme“ in den verschiedenen Wissenschaftsdiskursen – von den Afrikawissenschaften über die Ethnologie bis zur Religionswissenschaft – verhandelt wird, weitgehend Konsens, wenngleich dieser nicht unbedingt in eindeutig operationalisierten Parametern festgeschrieben ist. Wenn wir zunächst von einer globalen kulturgeschichtlichen Perspektive11 absehen und den Fokus auf den – zunächst banal räumlich gefassten – afrikanischen Kontext richten, eröffnet sich ein Kosmos von Phänomenen, die unter dem Begriff der Divination subsumiert werden können und sich nach formalen Kriterien in ein erstes, grobes Klassifikationsmuster einordnen lassen, das durch jene antiken Debatten durchaus mitgeformt ist:12 (a) Induktiv-(geo)mantische Divinationsformen setzen dabei an, die Bedeutung „zufällig“ generierter Zeichen bzw. Zeichenstrukturen zu entschlüsseln. Die Zeichenanordnung – beispielswiese durch den Wurf von Kaurimuscheln, „Orakelknochen“, Samenkapseln etc. oder auch durch die von bestimmten Tieren im Sand hinterlassenen Spuren erzeugt – bildet eine komplexe Chiffre, die einen fassbaren Sachverhalt oder ein konkretes Problem abbildet und als Repräsentation der Verbindung mit „dem Ganzen“ durch den bzw. die zuständige/n Experten/-in (diviner) dekodiert wird, und zwar in einem ebenso komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozess mit den darin involvierten Akteuren, Mächten und (durchaus auch als belebt und zur Handlung fähig vorgestellten und erfahrenen) Gegenständen. (b) Intuitiv-mediumistische Divinationsformen wiederum setzen bei der besonderen – angeborenen, erworbenen oder durch Initiation besiegelten – Disposition von Expertinnen und Experten ein, die aufgrund einer ihnen „eigen-artigen“ „Kom-position“ selbst Schnittstellen darstellen, in denen die 10 Victor Turner, Ndembu Divination: Its Symbolism and Techniques, Manchester 1961, 2; Ders., The Drums of Affliction, Oxford 1968, 27. 11 Eine solche findet sich beispielsweise bei Wim van Binsbergen (Hg.), Black Athena Comes of Age, Berlin 2011. 12 Ich orientiere mich hierbei an dem Vorschlag von René Devisch, Divinaton in Africa, in: Elias Kifon Bongmba (Hg.), The Wiley-Blackwell Companion to African Religions, Chichester u.a. 2012, 79–96, hier: 80–83.
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komplexen Konstellationen aus konkretem Casus und „dem Ganzen“ repräsentiert sind und performiert werden. Die Entschlüsselung dieser Konstellationen erfolgt dabei methodisch durch Besessenheit, Trance oder einen besonderen, hypersensorische Wahrnehmungsmodi eröffnenden Bewusstseinszustand. Die Differenzierung zwischen beiden Divinationsformen sollte nicht überspannt werden, da es durchaus Übergangs- und Mischformen gibt und in vielen afrikanischen Kontexten unterschiedliche Divinationssysteme parallel zur Anwendung kommen können. Wollten wir quasi idealtypische Divinationsformen gegenüberstellen, wäre das Paradebeispiel für induktiv-(geo)mantische Divinationsformen das westafrikanische (und inzwischen globalisierte) Ifá-Orakel, während als exemplarische Referenz für intuitiv-mediumistische Divination die von René Devisch ausführlich erforschten Praktiken bei den Yaka des südwestlichen Kongo dienen können. Das sog. Ifá-Orakel, bereits seit mehr als einem Jahrzehnt als immaterielles Kulturerbe von der UNESCO anerkannt und 2008 in die entsprechende Liste überführt, ist ein komplexes Divinationssystem, dem für die Bewältigung individueller wie auch übergeordneter, die Gemeinschaft betreffender Lebensfragen zentrale Bedeutung zukommt. In der deutschsprachigen Forschung wenig thematisiert, liegen insbesondere auf Englisch eine Reihe von inzwischen zu Klassikern avancierte Untersuchungen13 wie auch neuere Studien14 vor, die der Komplexität dieses Phänomens gerecht zu werden versuchen. Grundlage sind von einem ausgebildeten Experten, dem babaláwo („Vater der Geheimnisse“; vor allem in afroamerikanischen Kontexten inzwischen auch: Expertin, „Mutter der Geheimnisse“ – iyaláwo) zu entschlüsselnde Orakelzeichen (odù). Ermittelt werden diese entweder durch den Wurf einer Divinationskette (okpele ifá) aus acht (zweimal vier) halben Samenkapseln oder anderen Gegenständen, deren Lage (konkav = I/konvex = II) und Reihung eines der 256 möglichen Orakelzeichen ergeben – 240 Kombinationen, odù, und 16 „Haupt-odù“, die dann entstehen, wenn zweimal vier Formen symmetrisch liegen, also beispielsweise konkav/konvex/konvex/konkav = I/II/II/I und konkav/konvex/konvex/konkav = I/II/II/I – oder durch mindestens acht Würfe mit 16 Palmnüssen (ikin ifá), bei denen der babaláwo entsprechend der Anzahl der in der linken Hand verbleibenden Nüsse (eine = II, zwei = I; keine oder mehr als zwei: ungültig, verlangt Wiederholung) die odù ermittelt. Andere wichtige Elemente bilden der Divinationsstab (ìróké-ifá) und das Divinationsbrett (opon ifá), wobei mit dem Klopfen des Stabes am Brett Òrúnmìlà – der Stifter des Ifá-Orakels – und bedeutende alte babaláwos angerufen werden. Von besonderer Bedeutung ist der Textkorpus odù-ifá, eine Textsammlung, die in 256 Abschnitte unterteilt ist, von denen je ein Abschnitt einem odù zugeordnet ist. 13 Insbesondere William R. Bascom, Ifá Divination: Communication Between Gods and Men in West Africa, Bloomington 1969. 14 Beispielsweise Jacob K. Olupona / Rowland O. Abiodun (Hg.), Ifá Divination, Knowledge, Power, and Performance, Bloomington 2016.
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Sie wurde bis vor kurzem ausschließlich mündlich überliefert und enthält gewissermaßen das „Archiv“ des (Divinations)-Wissens. Mit Blick darauf, was es leistet, dürfte die Bezeichnung „Ifá-Orakel“ insofern irreführend sein, als es weniger um „Weissagung“ im Sinne eines „Vorhersagens“ geht, die Dimension des Prognostischen selbst also zurückgenommen ist, sondern um Orientierung angesichts offener Fragen oder drohender Krisen aller Art – und entsprechend um Unterstützung bei Entscheidungsfindung und Lebensbewältigung. Hierfür wird gewissenmaßen die Summe des tradierten (und in der konkreten Beratung aktualisierten) Wissens abgerufen, das als Resonanzkörper die Matrix möglicher Handlungsoptionen bereitstellt – metaphorisch repräsentiert im Resonanzboden des Divinationsbretts, auf dem „zufällig“ generierte Zeichen Strukturen erkennbar machen, aus denen sich Orientierungsmuster eruieren lassen, die handlungsleitend werden könnten. Die Deutung vollzieht sich dabei in einem multiplen wechselseitigen Kommunikationsprozess, der durch das Zusammenspiel aller Akteure, (handlungsmächtiger) Gegenstände und Mächte gekennzeichnet ist. Dem babaláwo kommt in diesem Zusammenhang eine durchaus zentrale, aber nicht absolute Rolle zu; dass er eine vieljährige Ausbildung durchlaufen muss, ist unter anderem daraus zu erklären, dass er nicht nur die komplexen Divinationstechniken erlernen, sondern auch das Wissensarchiv präsent haben und beides auf die konkrete Situation anzuwenden fähig sein muss. Auf der anderen Seite des Spektrums, im Bereich intuitiv-mediumistischer afrikanischer Divinationssysteme, bietet sich als Paradebeispiel die Divination bei den Yaka an, wo die intuitiven Fähigkeiten des Wahrsagers – oder in diesem Falle häufig auch: der Wahrsagerin – und zudem die Vermittlungsleistung von Geistern eine herausragende Rolle spielen. Die besondere Wahrnehmungsfähigkeit des Experten bzw. der Expertin (ngaanga ngoombu) ist zuvor durch einen komplexen Initiationsprozess gestärkt bzw. erzeugt worden, wobei der Schlitztrommel (n-kookwa ngoombu) eine besondere Bedeutung zukommt. Sie symbolisiert so etwas wie die ursprüngliche Einheit allen Seins – repräsentiert in einem der Gebärmutter nachgebildetem Korpus mit phallusartigem Kopfstück – und ist bei weitem mehr als ein bloßer Gegenstand: Sie ist ein machterfüllter Akteur, der physische und spirituelle Bereiche, das Reich der Lebenden und der Toten, „diese“ und „jene“ Welt miteinander in Verbindung bringt. Der bzw. die Wahrsager/in muss in dieser Initiation selbst durch jenen Prozess gegangen sein, der den Zugang zur Einheit allen Seins erschließt – also Tod und Wiedergeburt durchlaufen haben –, um befähigt zu werden, zwischen den Menschen bzw. „dieser Welt“ und dem Ur-Schoß alles Lebendigen (ngoongu) eine Beziehung herzustellen. Bei der Divination selbst spricht im Klang der Trommel der Geist durch das Medium der Wahrsagerin und prägt („trommelt“) den Beteiligten – ratsuchenden Klienten wie der weiteren Gesellschaft – die Botschaft ein.15 Die 15 René Devisch, The Slit-Drum and Body Imagery in Mediumistic Divination Among the Yaka, in: John Pemberton III (Hg.), Insight and Artistry in African Divination, Washington/London 2000, 116–133, hier 119.
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Art und Weise der „Verhandlungen“ zwischen diviner und Klienten ist dabei wiederum in Form eines komplexen Kommunikationsgeschehens gestaltet: Von dem/der ngaanga ngoombu wird erwartet, ohne vorangegangene Information den Grund für die Bitte um Konsultation und damit das Problem identifizieren zu können, wozu er/sie durch einen trance-artigen Zustand befähigt wird, aus dem heraus er/sie die Beziehungen zwischen allen Beteiligten sowie zwischen diesen und der weiteren „Umwelt“ einer Diagnose unterzieht und eine Art Anamnese erstellt. In schwerwiegenderen Fällen kommen neben allen Sinnen auch „übersinnliche“ Fähigkeiten des bzw. der ngaanga ngoombu zum Tragen, beispielsweise im Traumgesicht, das durch einen von den Klienten überreichten Gegenstand induziert wird. Am nächsten Morgen werden die Traumbilder von dem/der ngaanga ngoombu vorgetragen, begleitet vom Klang der Schlitztrommel, und in einem komplexen Kommunikationsprozess zwischen diviner, Klienten, der weiteren Gesellschaft und „jener Welt“ eröffnen sich Entscheidungsoptionen, wobei auch hier das durch den/die ngaanga ngoombu aktualisierte kulturelle „Wissensarchiv“ den Humus bereitstellt, aus dem Orientierung erwächst. Diese kurze Darbietung von Beispielen für die zwei Idealtypen afrikanischer Divination ist selbstverständlich keine „objektive“ Beschreibung, sondern bereits durch deutende Annahmen gegangen. Dabei wurde versucht, die Darstellung möglichst skizzenhaft zu halten, um a priori die Möglichkeit offen zu halten, alternative oder weitergehende Perspektiven der Interpretation einzubringen. Insbesondere wurde ganz bewusst darauf verzichtet, Kategorien wie die des Rationalen, des Religiösen, des Wissenschaftlichen, des Empirischen etc. in Anschlag zu bringen. Andere Begriffe, die Verwendung fanden – wie die des Wahrsagers/der Wahrsagerin oder des Orakels –, sind hochgradig unscharf und ambivalent. Wieder andere Termini – wie die des Akteurs, der Handlungsmacht oder der Interaktion – können ihre Herkunft aus gewissen Wissenschaftsdiskursen kaum kaschieren. Die Sache bleibt damit – komplex und überaus diffizil.
2.
Die Macht der Markierungen – Repräsentationen und ihre Logik
Die bereits bei der Beschreibung afrikanischer Divinationssysteme geradezu überwältigende Komplexität und Problematik verdankt sich nicht nur ihrem Gegenstand, sondern auch den dieser Beschreibung impliziten Deutungen, die ihrerseits in eine Geschichte des Wissenschaftsdiskurses eingewoben sind, dem sie sich nicht ohne Weiteres entziehen können. Beides – die Genealogie zentraler Begriffe („Divination“; „Mantik“; „Orakel“; „Weissagen“) und die Entwicklung (deutender) wissenschaftlicher Zugänge zum Verständnis afrika-
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nischer Divinationssysteme – ist mit Aporien, bestenfalls Ambiguitäten belastet. Die Geschichte der sukzessiven Ausgrenzung divinatorischer (bzw. als divinatorisch kategorisierter) Theorien und Praktiken aus wissenschaftlichen, religiösen und philosophischen Diskursen gibt beredtes Zeugnis von der Genese eines Umgangs mit Divination, in dessen weiterem Verlauf auf der Grundlage zunehmend rigide konzipierter epistemischer Axiome bestimmte Wissensformen aus den allgemein akzeptierten Diskursen ausgeschlossen wurden. Bereits Platon und Cicero haben mit ihrem Urteil entsprechende Verdikte gefördert, und es liegt geradezu in der Logik der darauf aufbauenden Diskurse, dass nach und nach gewisse Formen und Gestalten des Wissens, der Generierung von Wissen und der entsprechenden, diesem Wissen zugeordneten Erkenntnismöglichkeiten verdrängt wurden. In der europäischen Geistesgeschichte betraf diese Ausgrenzung zunächst intuitive, später dann nach und nach aber auch induktive divinatorische Wissensformen; hatte beispielsweise selbst die protestantische Theologie der Astrologie noch eine gewisse Validität zugerechnet, war es im 19. Jahrhundert auch damit vorbei.16 Dieser Prozess der Ausgrenzung von bestimmten Wissenssystemen kann hier nicht weiterverfolgt werden. Wichtig für unseren Zweck ist jedoch die Feststellung, dass manche Formen der Wissensproduktion im Besonderen und damit ganze Wissenssysteme im Allgemeinen durch bestimmte Kategorisierungen und Markierungen an den Rand oder aus dem Bereich des „Normalen“, „Rationalen“ … gedrängt wurden. Die Erforschung afrikanischer Divination war lange Zeit eher im Windschatten der in kolonialen Kontexten agierenden Wissenschaften verblieben und Divination selbst kam lediglich als Teil jener Phänomene in den Blick, die als traditionelle bzw. traditionell-religiöse Praktiken unter die Kategorie des „Vormodernen“, des „Aberglaubens“ etc. subsumiert wurden. Hinsichtlich jener Forschungen, die explizit auf Divination fokussieren, lassen sich drei bis vier Phasen unterscheiden, die sich selbstverständlich überlappen und nicht eindeutig voneinander abgrenzbar sind:17 eine „Pionierphase“ ab Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er/1930er Jahre, in der Divination in vereinzelten Studien thematisiert wurde; eine „klassische Phase“ bis in die 1970er Jahre hinein, die mit Namen wie Edward E. Evans-Pritchard, William Bascom, Meyer Fortes und Victor Turner verbunden ist; eine „Expansions- und Diversifikationsphase“, gekennzeichnet durch eine Vielfalt und Ausweitung von 16 Vgl. Walter Sparn, Aufstieg und Fall der prognostischen Astrologie im Wissenschaftskonzept des frühneuzeitlichen Protestantismus / Rise and Fall of Prognostic Astrology in Scientific Paradigms of Early Modern Protestantism. Lecture, IKGF Erlangen, December 17, 2013, 1, 2013 (Volltext: http://www.ikgf.uni-erlangen.de/content/articles/ Walter_Sparn-Auf-stieg_und_Fall_der_prognotischen_Astrologie.pdf (10.01.2017). 17 Ich orientiere mich an Wim van Binsbergen, African Divination across Time and Space: Typology and Intercultural Epistemology, in: van Beek / van Binsbergen (Hg.), Reviewing Reality: Dynamics of African Divination, Münster u.a. 2013, 339–375, hier 340; dort finden sich detailliertere Hinweise und Verweise.
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Studien, die zu einer ungeheuren quantitativen Ansammlung und qualitativen Vertiefung entsprechender Forschungen quer durch alle Disziplinen führte; und seit etwa 15 bis 20 Jahren eine „Konsolidierungsphase“, in deren Folge sich momentan die Divination Studies mehr und mehr als eigenständiges Forschungsgebiet innerhalb afrikabezogener Wissenschaften etablieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist bei genauerer Betrachtung selbst den „Klassikern“ zuzugestehen, dass sie darum bemüht waren, die häufig evolutionistisch geprägten eurozentrischen Denkmuster zu überwinden und einem tiefergehenden Verständnis afrikanischer Divination den Weg zu bereiten. Herausragendes Beispiel hierfür ist sicherlich Evans-Pritchard, wenngleich auch bei ihm Phänomene der Divination dem Themenfeld „Magie“ als sekundärem Bestandteil eines sozialen und rituellen Komplexes kategorial zu-, einund untergeordnet wurden. Aus der Perspektive religionsbezogener Forschung war damit die Debatte über afrikanische Divination weitgehend in dem Diskussionsstrang über das Verhältnis von Magie, Wissenschaft und Religion integriert, und entsprechend gliederten sich theoretische Reflexionen über Divination auch in das kategoriale Gefüge dieses Wissenschaftsdiskurses ein. Die daraus erwachsende Debatte kann hier nicht weiter verfolgt werden. Aus ihr entspringt jedoch – auch mit Blick auf die Interpretation von afrikanischen Divinationssystemen im Kontext der Interkulturellen Theologie – der bleibende Auftrag einer (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit Fragen wie denen, ob und inwieweit afrikanische Divination unter Kategorien von „Wissenschaft“ oder – und? – „Religion“ zu fassen sei; die problematische Kategorie der „Magie“ sollte in diesem Zusammenhang nicht weiter bemüht werden. Die letztgenannte Frage selbst führt uns zumindest implizit ins Zentrum von komplexen Problemen, teils Aporien, die sich im Lichte postkolonial sensibilisierter Perspektiven – wenn nicht auflösen, so doch zumindest neu aufbereiten und diskutieren lassen. Einige dieser Probleme haben auf ganz abstrakter Ebene damit zu tun, dass bestimmte Diskurse und Kategorien als „europäische“ oder „westliche“ (Wissens)-Produkte zur Grundlage der Interpretation von Phänomenen wie etwa afrikanischer Divination wurden. Deren Darstellung und Rezeption im Wissenschaftsdiskurs kann deshalb nicht unter Absehung vom (kolonial)geschichtlichen Kontext und seinen Nachwirkungen betrachtet werden. Wir „kennen“ afrikanische Divinationssysteme nur durch den Filter kolonialer Perzeption, die auch nach dem formalen Ende des Kolonialismus nachwirkt. Stark geprägt ist diese Perzeption durch die Konstruktion binärer Oppositionen, die nicht nur im Zusammenhang europäischer Expansion für die Wahrnehmung und Beherrschung des Anderen konstitutiv geworden sind, sondern ihrerseits in den Tiefen europäischer Wissenssysteme verankert sind, wie Rationalität – Irrationalität; Wissenschaft – Religion; Moderne – Rückständigkeit …, aber auch durch die für europäische Wissenssysteme scheinbar nicht hintergehbare basale Opposition von Subjekt und Objekt. Es liegt auf der Hand, dass diese Festlegungen gerade hinsichtlich der Frage nach dem „(religions)-wissenschaftlichen“ Verständnis afrikani-
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scher Divinationssysteme virulent werden – mehr noch: Auch die Selbstwahrnehmung (und in der Folge: Selbstexplikation sowie Praxis) afrikanischer Divination wird entsprechend diesen Parametern des forschenden Blicks und der wissenschaftlichen Wahrnehmung umgeformt. Die Vorfestlegungen insbesondere akademischer Beschäftigung mit solchen Phänomenen begleiten auch noch uns selbst in unserer forschenden Tätigkeit, indem unser Wissen auf Grundlagen bezogen bleibt, denen in Gestalt binär konstruierter Kategorien ein hegemoniales Bezugssystem eingeschrieben ist: „die Bevorzugung einer ausgewählten Elite und eines abgeschlossenen Wissensbestandes; die Privilegierung von verbalisiertem Wissens gegenüber rituellem; von abstrakter, frontaler Wissensvermittlung gegenüber begreifendem Lernen und Wissenserwerb in Bezügen; von Männern gegenüber Frauen; und von betriebsblinden Experten gegenüber dem Gesamtzusammenhang gelebter Religion.“18
Solche Vorfestlegungen finden sich nicht nur in einzelnen Wissensbeständen, also unserem je konkreten Wissen über bestimmte Phänomene oder einzelne Aspekte daraus, sondern sind bereits den Bedingungen und Möglichkeiten, also den Voraussetzungen unserer Erkenntnis eingeprägt, und sie formen auch unsere Überzeugungen und Grundannahmen vis-à-vis den zu erforschenden „Gegenständen“. Zusätzliche Brisanz erhält diese Konstellation dann, wenn es sich bei den Forschungsgegenständen um Phänomene handelt, die als komplexe Wissenssysteme zu verstehen sind, wie im Falle afrikanischer Divination. Diese reklamiert ihrerseits bestimmte Bedingungen und Möglichkeiten der Erkenntnis als Voraussetzungen einer verantwortbaren Wissensgenerierung, aus denen sich wiederum eigene Überzeugungen und Grundannahmen ergeben, die im (Selbst)-Verständnis der entsprechenden Divinationssysteme Ausdruck finden und sich in je konkretem Wissen manifestieren. Die Fragen, die sich vor diesem Hintergrund stellen, sind: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der postkolonialen Infragestellung der Hegemonie und Selbstverständlichkeit „westlicher“ Epistemologien für eine relecture und Neubewertung afrikanischer Wissenssysteme – und wie kann dies einerseits für die Religionsforschung im Allgemeinen und andererseits für die Rezeption und Würdigung afrikanischer Divination im Rahmen einer von postkolonialen Ansätzen inspirierten Interkulturellen Theologie im europäischen Kontext im Besonderen fruchtbar gemacht werden? Auf diese Fragen werden sich vorerst noch keine schlüssigen Antworten geben – aber zumindest erste, vorläufige Perspektiven skizzieren lassen. 18 “privileging a single elite and a totalized single body of knowledge; verbal over ritual knowledge; discrete, direct teaching over indirect, kinesthetic, and relational knowledge; men over women; and narrowly identified professionals over the continuum of lived religion” (Mei-Mei Sanford, „The Hunter Thinks the Monkey Is Not Wise. The Monkey Is Wise, But Has Its Own Logic“. Multiple Divination Systems and Multiple Knowledge Systems in Yorùbá Life, in: Jacob K. Olupona / Rowland O. Abiodun (Hg.), Ifá Divination, 139).
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3.
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Impulse aus postkolonialen Perspektiven: Entscheidungsfindung beim Stochern im Trüben
Zwei Dinge sind vorab zu Kenntnis zu nehmen: Zum einen ist die Rezeption postkolonialer Ansätze in afrikabezogenen Studien im Allgemeinen durchaus recht weit vorangeschritten, wobei der Schwerpunkt sicherlich im Bereich kulturanthropologischer bzw. ethnologischer und sozialwissenschaftlicher Afrikastudien liegt. Gedächtnis, Identität(en) und Subjektivität(en) bilden dabei Größen, auf die Richard Werbner Bezug genommen hatte, um postkoloniale Impulse in die Debatte einzuspeisen19 – um auf nur ein Beispiel von vielen hinzuweisen.20 Zum anderen steht im Kontext der Erforschung afrikanischer Divination die Rezeption postkolonialer Impulse ebenfalls nicht mehr am Anfang. Allerdings ergibt sich ein ähnliches Bild wie in afrikabezogenen Studien generell: Postkoloniale Perspektiven sind vornehmlich im Zusammenhang mit kulturanthropologischen oder ethnologischen Forschungen rezipiert worden und verdichten sich in Verbindung mit Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Epistemologien generell. Zudem lassen sich im zunehmend etablierten Forschungsbereich afrikabezogener Divination Studies nicht nur ganz konkret, sondern sowohl avant la lettre als auch implizit postkoloniale Perspektiven identifizieren. Dies mag unter anderem damit zu tun haben, dass im Zusammenhang mit dem Thema „Afrikanische Divinationssysteme“ einerseits Fragen der Repräsentation, andererseits Fragen der Epistemologie zentrale Bedeutung zukommt, bei denen postkoloniale Perspektiven von besonderer Relevanz sind. Außerdem scheint das von den Postcolonial Studies bereitgestellte methodologische und theoretische Instrumentarium hervorragend geeignet, um dieses Forschungsfeld kritisch auszuleuchten: Fragen nach agents und agencies – „ExpertInnen“ (wie babaláwo oder ngaanga ngoombu) und „Klienten“ sowie die im Divinationsprozess wirksamen Deutungs- und Handlungsmächte –, das bei Divinationssystemen häufig beobachtbare Phänomen des „boundary crossing“21, die lange Geschichte der Marginalisierung und Ausgrenzung der in afrikanischer Divination tradierten alternativen Wissensformationen, die unter wissenschaftsgeschichtlichen und -philosophischen Perspektiven verhandelte Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten „postkolonialer Wissenschaft“22 oder auch die mit postkolonialen Globalisie-
19 Richard P. Werbner, (Hg.), Postcolonial Identities in Africa, London 1996; Ders. (Hg.), Memory and the Postcolony: African Anthropology and the Critique of Power, London 1998; Ders. (Hg.), Postcolonial Subjectivities in Africa, London 2002. 20 Richard P. Werbner, Anthropology and the Postcolonial, in: Richard Fardon u.a. (Hg.), The SAGE Handbook of Social Anthropology I, London 2012, 227–247. 21 Wim van Binsbergen, African Divination, 350. 22 Helen Verran, Science and an African Logic, Chicago/London 2001, 236.
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rungsprozessen verbundenen grundsätzlichen allgemeinen Rahmenbedingungen und ihren Folgen für Einzelne und ganze Gesellschaften, wodurch grundlegende Transformationen divinatorischer Praktiken ausgelöst wurden, etc. Exemplarisch ließe sich eine postkolonial inspirierte Diskussionsfigur mit Blick auf die Frage nach der Rolle von agents und agency (Akteuren und ihrer Handlungsmacht) im Kontext afrikanischer Divination – hier verstanden als Wissenssystem – nachzeichnen. Der Ausgangspunkt selbst kann dabei bisweilen durchaus heikel sein, auch bei äußerst wohlwollenden Darstellungen und Rezeptionen – so etwa, wenn sogar ein herausragender Kenner der Materie wie Philip M. Peek zunächst afrikanische Divinationssysteme als „Ways of Knowing“ bezeichnet, was etwas frei vielleicht mit „Prozeduren der Wissenerzeugung“ übersetzt werden könnte, diese dann aber als „Non-Normal Modes of Cognition“ qualifiziert und damit die problematische Kategorie der „Normalität“ einzuführen scheint.23 Doch später entwickelt Peek diesen Aspekt weiter und eröffnet neue Perspektiven, indem er „Normalität“ nicht auf die Methoden und Konzeptionen der Generierung von Wissen bezieht, sondern als Referenz- und Zielpunkt dessen, was durch diese Prozeduren erreicht werden soll, wobei insbesondere die Handlungsmacht der involvierten Akteure (und es sollte vielleicht ergänzt werden: Aktanten) zu berücksichtigen ist: „Jede Vorstellung von Handlungsmacht geht davon aus, dass die Welt berechenbar ist und Ereignisse sich mehr oder weniger wiederholen, also eine gewisse ‚Normalität’ haben. Entsprechend haben die Erwartungen, Befürchtungen und Wünsche der Akteure hinsichtlich ihrer Zukunftsentwürfe ihre Wurzeln in ihrer Bewertung der Vergangenheit, der Würdigung des Gegenwärtigen und der Abwägung künftiger Möglichkeiten. Divination ist der Fahrplan für diese vorübergehende Einschätzung der eigenen Handlungsmacht.“24
Das eigentliche Epizentrum der Problematik interkulturell-theologischer Auseinandersetzung mit afrikanischer Divination ist jedoch, wie bereits angesprochen, im Zusammentreffen unterschiedlicher Epistemologien markiert. Wie stellt sich dieser „clash of epistemologies“ aus der Perspektive der Interkulturellen Theologie dar – und was können dafür Impulse aus postkolonialen Theorien zum Umgang mit dieser Herausforderung beitragen? Seitens der Systematischen Theologie wurde mit Blick auf diesbezügliche Überlegungen innerhalb der Interkulturellen Theologie kritisch angefragt, ob die Annahme eines epistemologischen Bruchs bzw. völlig anderer Epistemologien als 23 Philip M. Peek, African Divination Systems: Non-Normal Modes of Cognition, in: Ders. (Hg.), African Divination Systems: Ways of Knowing, S. 193–212. 24 “Any notion of agency expects the world to be predictable and events to more or less repeat themselves, to have some ‚normalcy’. So the expectations, fears and desires of the actors vis à vìs their projected futures are rooted in their evaluation of the past, the assessment of the present and the options they see ahead. Divination is the road map for this temporal assessment of his own agency“ (Philip M. Peek / Walter E. A. van Beek, Reality Reviewed: Dynamics of African Divination, in: Dies. (Hg.), Reviewing Reality, 1–22, hier 19).
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Grundlage radikal-kontextueller außereuropäischer Theologien nicht völlig abwegig sei und damit Gefahr laufe, „die Notwendigkeit und die Möglichkeit interkultureller Vermittlung und übergreifender Aussagen allgemein anerkannter Art zu gering zu schätzen oder gar zu verspielen“.25 Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob und inwieweit radikal-kontextuelle Theologien für sich beanspruchen können, einen epistemologischen Bruch vollzogen zu haben oder auf völlig anderen Epistemologien zu beruhen bzw. ob und inwieweit entsprechende Beobachtungen zutreffen. Für afrikanische Divinationssysteme ist dies hingegen durchweg anzunehmen – ergänzt allerdings um die notwendige und entscheidende Feststellung, dass selbstverständlich auch sie in einem global(geschichtlich)en Kontext stehen, die je indigenen Epistemologien also nicht isolationistisch essentialisiert werden können. Beides ist bewusst wahrzunehmen: die Marginalisierung und Ausgrenzung afrikanischer indigener Epistemologien im Zuge der hegemonialen Durchsetzung europäischer Epistemologien (die ihrerseits mitnichten homogen waren und sind) einerseits, die Notwendigkeit, unterschiedliche Epistemologien miteinander in Beziehung zu setzen und in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander in den Blick zu nehmen, andererseits. Hierzu waren und sind Einsichten aus den Postcolonial Studies in hohem Maße förderlich. Dabei ist zunächst die Feststellung hilfreich, dass wir uns bei der Frage nach der Signifikanz, Plausibilität und Relevanz afrikanischer Divinationssysteme im Kontext (post)kolonialer Transformationsprozesse bewegen, die jede Form unseres forschenden Umgangs mit (nicht nur) afrikanischen kulturellen Phänomenen durchdringen: „Eine Analyse oder Interpretation bestehender oder sich verändernder kultureller Muster und gesellschaftlicher Einrichtungen, irdischer und überirdischer Welten, ihres Zustands und jener, die für diesen Zustand verantwortlich sind, kann keine Geltung beanspruchen, wenn sie nicht vollends anerkennt, dass die indigene Wissenssysteme eine entscheidende Rolle spielen – eine Tatsache, die aufgrund des Herrschaftsanspruchs kolonialer Wissenssysteme größtenteils negiert wurde.“26
Dies wird für unseren Zweck insbesondere daran deutlich, dass das, was im Zusammenhang afrikanischer Religionsforschung als „Religion“ konzeptualisiert wurde, auf der Grundlage der Kategorien und Paradigmen hegemonial 25 Wolfgang Lienemann, Interkulturelle Theologie – Systematische Theologie – Theologische Ethik. Überlegungen zu ihrem spannungsreichen Verhältnis, in: Ciprian Burlacioiu / Adrian Hermann (Hg.), Veränderte Landkarten: Auf dem Weg zu einer polyzentrischen Geschichte des Weltchristentums, Wiesbaden 2013: 339–368, hier 362. 26 “… any analysis or interpretation of existing or changing cultural patterns and societal institutions, terrestrial and extra-terrestrial worlds, how they are conditioned and who conditions them, cannot claim validity without full recognition of the important role indigenous knowledge systems play – a fact largely discarded by colonial knowledge hegemony” (Afe Adogame, Towards Digital Divination? Modes of Negotiating Authenticity and Knowledges in Indigenous African Epistemologies, in: Klaus Hock (Hg.), The Power of Interpretation: Imagined Authenticity – Approproated Identity. Conflicting Discourses on New Forms of African Christianity, Wiesbaden 2016, 235– 256, hier 241).
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gestellter „westlicher“ Epistemologien konstruiert war. Ironischerweise ist festzustellen, dass selbst die kritischsten und radikalsten afrikanischen Gegenentwürfe diesen Konstruktionen und den ihnen zugrunde liegenden Epistemologien verhaftet blieben, indem sie sich rein negativ, quasi binär-oppositionell, darauf bezogen und in ihrem Religionsverständnis eine „kulturell nationalistische Haltung“ einnahmen.27 Hinzu kommt das Problem, dass im Abwehrkampf gegen jene von außen kommende Festsetzungen auch und gerade afrikanische Forscher/innen Gefahr liefen und laufen, afrikanische Phänomene – und damit auch die ihnen zugrundeliegenden Epistemologien – zu romantisieren und zu essentialisieren. Der epistemologischen Kolonisierung ist also nicht dadurch zu entgehen, dass die für die hegemonial gestellten Wissens- und Erkenntnisformen typische Konstruktion binärer Kategorien weiter perpetuiert wird. Ein erster Schritt auf dem Weg aus diesem Dilemma ist sicherlich eine radikale Historisierung sowohl der Interpretation afrikanischer Divinationssysteme als auch der diesen (sowie den Interpretationen) zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Prämissen – für die Religionsforschung im Allgemeinen und die Interkulturelle Theologie im Besonderen nach einem ähnlichen Prozedere, wie es Michael Bergunder für den Religionsbegriff vorgelegt hat.28 Der nächste Schritt wäre dann jedoch die Frage, wie das Problem konfligierenden Epistemologien, wie sie am Beispiel afrikanischer Divinationssysteme und westlicher Wissenschaften aufscheinen, im Kontext der Interkulturellen Theologie verhandelt werden kann. Denn die Interkulturelle Theologie ist nicht nur selbst a priori in diesem Spannungsfeld verortet, sondern ihrerseits in besonderer Weise Teil des Problems – und bleibt es auch, insbesondere wenn die Differenz zur religionswissenschaftlichen Befassung mit Divination thematisiert wird, die sich beispielsweise als Überschreitung des Analytischen hin zum Assertorischen skizzieren ließe.29 Die Interkulturelle Theologie teilt dieses „Schicksal“ in gewisser Weise mit der Interkulturellen Philosophie, und im Prinzip ein Stück weit auch mit der Wissenschaftsphilosophie, der Wissenschaftstheorie oder der Wissenschaftsgeschichte. Aber es ist doch auch nach dem besonderen Bezug des Assertorischen der Interkulturellen Theologie zu afrikanischer Divination zu fragen, denn das, was die Interkulturelle Theologie mit den anderen Disziplinen diesbezüglich teilt, ist die Verständigung darüber, 27 Afe Adogame, Digital Divination, 239. 28 Michael Bergunder, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/12 (2011), 3–55. 29 Christoph Bultmann, Evangelische Theologie als Nachbardisziplin zur Religionswissenschaft: kurz gefasst (Beitrag zu einem Podium „Nachbardisziplinen“ bei dem Symposium „Kulte, Kirchen und Kulturen“ aus Anlass des 10-jährigen Bestehens des Seminars für Religionswissenschaft in der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt am 3. Oktober 2009, https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/user-docs/Schwerpunkt _Religion/Texte/Erfurt%20_%2010%20Jahre%20_%20RW_Symposium_2009-1003.pdf, S. 2 u. passim (10.01.2017).
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was state of the art ist. Für die Forschungsinteressen seitens der Interkulturellen Theologie werden allerdings weniger solche Fragen im Zentrum stehen wie die nach einer „Postkolonialen Wissenschaft“ (postcolonial science), nach der Beziehung von Divination und Modellen der Informatik30 oder der Kognition31 etc. Überschneidungen gibt es jedoch bei der Frage nach der Beziehung zwischen Divination, den diese praktizierenden ExpertInnen, der Forschung darüber und den Forschenden:32 Der diviner als Theologe – oder gar als Pastor? Ein weiterer möglicher Bereich, in dem sich aus der Perspektive der Interkulturellen Theologie auf afrikanische Divination spezifisch theologischer Diskussionsbedarf ergibt, ist die Frage nach dem Zusammenhang von Divination und Kosmologie. Die meisten christlichen Theologien (insbesondere, aber nicht nur) europäischer Provenienz haben für das Verhältnis zwischen „Gott“ und „Welt“ – in Verschränkung mit der Christologie – ein differenziertes und komplexes, teils in paradoxen Modi konzipiertes Modell entworfen, das eine klare Differenz bei gleichzeitiger wechselseitiger Bezogenheit konstatiert – oder in traditionellen Kategorien formuliert: Die Trennung zwischen Schöpfung und Schöpfer bleibt bestehen, ist aber nicht absolut und üblicherweise in Jesus Christus aufgehoben. Afrikanische Divination beruht jedoch häufig – selbst dort, wo die Vorstellung des Wirkens einer „Schöpfergottheit“ zu finden ist oder behauptet wird – auf der grundsätzlichen Durchlässigkeit zwischen „dieser“ und „jener“ Welt. Damit soll nun nicht einer prinzipiellen Inkompatibilität zwischen beiden Kosmologien und den ihnen verbundenen Wissenssystemen das Wort geredet werden – zumal, wie wir wissen, Kosmologien im europäischen Kontext bis weit ins Mittelalter hinein durchaus Unschärfen in der Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt aufweisen.33 Aber es bleiben doch Unterschiede, die auch und gerade aus theologischer Perspektive Gegenstand kritischer Reflexion sein sollten. Dennoch muss sich eine postkolonial informierte Interkulturelle Theologie bei der Befassung mit der skizzierten Frage gegenüber Konstruktionen neuer binärer Dichotomien äußerst kritisch positionieren und mit Blick auf die nicht auszuschließende Gefahr der Generierung erneuter oder revitalisierter Essentialisierungen, Marginalisierungen, Ausgrenzungen und Subalternitäten 30 F. O. Alamu u.a., A Comparative Study of Ifa Divination and Computer Science, in: International Journal of Innovative Technology and Research 1/6 (2013), 524–528; s.a. André Croucamp, Traditional African Divination Systems as Information Technology, https://de.scribd.com/document/194485759/Traditional-African-Divination-Systemsas-Information-Technology-0 (10.01.2017). 31 Barbara Tedlock, Toward a Theory of Divinatory Practice, in: Anthropology of Consciousness 17/2 (2006), 62–77. 32 Vgl. etwa Wim van Binsbergen, African Divination, 340. 33 So wird in mittelalterlichen Modellen der himmlischen Sphären Gott manchmal innerhalb, manchmal außerhalb der äußersten Sphären „verortet“; vgl. etwa David C. Lindberg, Von Babylon bis Bestarium. Die Anfänge des abendländischen Wissens, Stuttgart/Weimar 1994, 255ff.
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besondere Sensibilität an den Tag legen. Dazu gehört auch die Warnung davor, den Verlockungen einer diskursiven Vormachtstellung des eigenen postkolonialen Zugriffs nachzugeben. Dieses Caveat gilt insbesondere für die Interkulturelle Theologie im globalen Norden und damit auch im deutschsprachigen Kontext, will sie nicht zum Handlanger eines kulturalistischen „metropolitanen Postkolonialismus“34 werden, der Gefahr läuft, sich selbst hegemonial zu stellen.
34 So die Mahnung von Kaiwar, Postcolonial Orient, X und passim.
Gefangen in uralten Phantasmen. Über das koloniale Erbe der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft Simon Wiesgickl
Die Wissenschaftsgeschichte erfreut sich in den letzten Jahrzehnten einer großen Beliebtheit.1 Dies drückt sich unter anderem in der Gründung des MaxPlanck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte mit Sitz in Berlin im Jahr 1994 aus.2 Dies trifft aber auch für die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments zu3: Schrieb Bodo Seidel Anfang der 1990er Jahre noch gegen den Ruf an, Forschungsgeschichte sei etwas für verregnete Sonntagnachmittage, so hat sich dieses Bild inzwischen verflüchtigt.4 Gerade die Wissenschaftsgeschichte eignet sich zudem sehr gut, um den Zusammenhängen von Kolonialismus und der Produktion neuen Wissens nachzuspüren.5 Die These, die ich in diesem Artikel entfalten möchte, lautet, dass die Methoden, die vor allem in der deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft um 1800 entwickelt worden sind, zutiefst in ein koloniales Phantasma einzuordnen sind.6 Beginnen wir mit der Bedeutung des 19. Jahrhunderts für die alttestamentliche Wissenschaft. In einem Überblicksartikel zur Geschichte Israels stellt Keith W. Whitelam fest, dass trotz aller revolutionärer Rhetorik sich fast alle
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Vergleiche dazu auch die Einleitung bei Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Aus dem Englischen von Matthias Wolf, Berlin 2014; sowie den entsprechenden Abschnitt bei Ute Daniel Kompendium Kulturgeschichte, 361–379. Siehe https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/de [13.01.2016]. Siehe den Überblick Magne Sæbø, Historiographical Problems and Challenges. A Prolegomenon, in: Ders. (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation. Volume 1 From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), Part 1 Antiquity, Göttingen 1996, 19–30. Vergleiche Bodo Seidel, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung im Umkreis der sogenannten Älteren Urkundenhypothese, Berlin/ New York 1993, 1. Vergleiche dazu Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel(Hg.), Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013. Diesen Zusammenhang habe ich ausführlich in meiner Dissertation behandelt, die in der Reihe BWANT erscheinen wird. Der vorliegende Aufsatz fasst einige meiner Untersuchungsergebnisse zusammen.
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Darstellungen zur Geschichte Israels in einem Kontext und Problemfeld befinden, das dem des 19. Jahrhunderts sehr ähnelt.7 Dies ist nicht nur der Wellenbewegung der Forschungsgeschichte geschuldet, die alte Debatten unter neuen Gesichtspunkten noch einmal neu aufleben lässt, sondern hat einen tieferliegenden Grund. Dafür prägt Whitelam den Begriff eines ‚conceptual lock’8. Diese Beobachtung, die Whitelam im Blick auf die Teildisziplin der Geschichte Israels getätigt hat, lässt sich auf weitere Bereiche der alttestamentlichen Wissenschaft übertragen. So ist im Hinblick auf neuere Darstellungen zur Prophetie auffällig, wie sehr die Debatten, sei es affirmativ oder in vielfältigen Abwehrbewegungen stets von den Diskussionen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts geprägt sind. Für den Bereich von Kirche und Öffentlichkeit sieht Konrad Schmid eine fast ungebrochene Rezeption des „Wesens der alttestamentlichen Prophetie, wie es die historisch-kritische Forschung seit dem 19. Jahrhundert beschrieben hat“9. Zwar werde dieses Bild innerhalb der Wissenschaft des Alten Testaments inzwischen stark hinterfragt, dennoch könne davon gesprochen werden, dass diese konzeptuelle Figuration des Propheten und des ‚Prophetischen’ „außerhalb der Grenzen der alttestamentlichen Wissenschaft weitgehend unvermittelt weiterlebt [von mir kursiv gesetzt; SW].“10 Dies ist an sich nicht weiter tragisch, vielleicht ein Ärgernis für die Zunft der Exeget*innen, die ihr eigenes Forschungsergebnis und die vielfachen Spezialdiskurse, die sich daran anschließen dann eben unter größeren Mühen einem interessierten Publikum verdeutlichen müssen. Entscheidend ist jedoch, dass auch der Methodenkanon der historisch-kritischen Forschung, der bis in die 1960er Jahre hinein fast ungebrochen herrschte, sich Grundannahmen des 19. Jahrhunderts verdankt, die forschungsgeschichtlich kaum aufgearbeitet scheinen. Der ‚conceptual lock‘ wird dann zum Gefängnis der kritischen Wissenschaft, wenn es um Methoden und Grundannahmen geht, die dem eigenen Wissenschaftsverständnis zugrunde liegen. Das 19. Jahrhundert war zudem auch das große Jahrhundert deutschen alttestamentlichen Wissenschaft. In wenigen Jahrzehnten gelang es deutschsprachigen Forschern, die bis dahin führenden Niederländer, Franzosen und Engländer zu überholen und eine „Revolution in der Bibelforschung“11 loszustoßen, von der sie noch lange zehren sollte. Die deutsche alttestamentliche Wissenschaft hat sich im 19. Jahrhundert einen Ruf erarbeitet, der in einem Selbstzeugnis des Marburger Emeritus 7
Siehe Keith W. Whitelam, Setting the Scene: A Response to John Rogerson, in: H.G.M. Williamson (Hg.), Understanding the History of Ancient Israel, Oxford 2007, 15–23. 8 Ebd., 15. 9 Konrad Schmid, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie, in: ZNThG/JHMTh, (3,1996), 225–250, hier: 225. 10 Ebd., 228. 11 Edward Said, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günther Holl, Frankfurt a. M. 42014, 27.
Gefangen in uralten Phantasmen
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Gerstenberger zum Ausdruck kommt und sich auf seine Gastprofessur in den USA bezieht: „Schwierig war die geheime Erwartung amerikanischer Studierender und zum Teil der Kollegen (jedenfalls des liberalen Flügels), ein deutscher Exeget müsse die endgültigen Antworten in Sachen historisch-kritischer und formgeschichtlicher Forschung haben.“12
Zwar mag sich seit den 1960er Jahren einiges geändert haben, gerade auch in der alttestamentlichen Wissenschaft, doch zeigt der Blick in neuere Werke zu methodischen Fragen der alttestamentlichen Wissenschaft, dass es vielleicht eine Abschwächung dieser Sichtweise gegeben haben mag, die Assoziationen jedoch noch vorhanden zu sein scheinen. So schreibt Juha Pakkala in seinem Buch God’s Word Omitted (2013) von „’hard core’ German introduction to the methodology of Literarkritik“13 und man weiß nicht so recht, wie viel ironischer Seitenblick und wie viel echte Bewunderung dabei mitschwingt. Meine These, die ich im Folgenden entfalten möchte, lautet, dass sich der Aufstieg der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft, der um 1800 begann und sich durch das 19. Jahrhundert hindurch zieht, mit einem kolonialen Phantasma bestens erklären lässt. Das heißt, dass es mir nicht darum geht, nachzuspüren, inwieweit Exegeten bereits Teil an kolonialen Eroberungen hatten. Sondern, dass ich den spezifischen deutschen Kolonialismus ernst nehmen möchte und beschreiben, inwieweit die Lehnstuhl-Mentalität der deutschen Wissenschaftler sich ihre eigenen kolonialen Vorstellungen schuf. Vorstellungen, die auch explizit Kolonialismus-kritisch sein konnten, bzw. die bestehenden Kolonialmächte heftig kritisieren, allerdings mit dem Subtext, dass eine deutsche Kolonialmacht für die Völker deutlich besser wäre, als das Joch der Franzosen oder Engländer zu tragen. Ich möchte zeigen, dass darüber hinaus gerade das Alte Testament einen Möglichkeitsraum schuf, dieses koloniale Phantasma auszuleben und sich hier die Besonderheiten und Topoi des deutschen Kolonialismus, wie man sie zum Beispiel anhand der ‚Kulturursprungsverhandlungen’ um 180014 aufzeigen kann, besonders prägnant darstellen lassen. Die offensichtliche Schwäche und Rückständigkeit im Vergleich zu anderen europäischen Mächten und die Partikularität Deutschlands wird umgedeutet in die Voraussetzung des allein deutschen Verständnisses für andere Kulturen und deren Alterität. Neben der deutschen Sprache, die sich wie keine andere eigne, alle anderen Sprachen abzubilden, werden deutscher 12 Erhard S. Gerstenberger, Erhard S. Gerstenberger, in: Sebastian Grätz u.a. (Hrsg.), Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen, Göttingen 2007, 140–152, hier: 146. 13 Juha Pakkala, God’s Word Omitted. Omissions in the Transmission of the Hebrew Bible, Göttingen 2013, 70. 14 Siehe Andrea Polaschegg, Athen am Nil oder Jerusalem am Ganges? Der Streit um den kulturellen Ursprung um 1800, in: Alexandra Böhm / Monika Sproll (Hg.), Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, 41–65, hier: 44ff.
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Scharfsinn, Geist und „deutsche Tiefe des Gefühls und des Geistes“ entdeckt und gerühmt.15 Dass sich auch in vielen bescheiden anmutenden Diskursen letztlich Elemente eines übersteigerten Nationalbewusstseins und eines Strebens nach Hegemonie finden lassen, berechtigt die Rede von einem Kolonialismus zweiter Ordnung16, wie er sich in einem Fragment Schillers illustrieren lässt: „Dem, der den Geist bildet, beherrscht (…) zuletzt die Herrschaft werden [muss] (…) und das langsamste Volk wird alle die schnellen Flüchtigen einholen (…) Das köstliche Gut der deutschen Sprache, die alles ausdrückt, das Tiefste und das Flüchtigste, den Geist, die Seele, die voller Sinn ist. Unsere Sprache wird die Welt beherrschen.“17
Die Hinwendung zur Sprache kann als ein elementarer Bestandteil des deutschen Orientalismus ausgemacht werden. Andrea Polaschegg beschreibt ausführlich diesen linguistic turn im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert.18 Dieser Wandel sei das Ergebnis verschiedener Faktoren, von denen sie vier besonders herausstellt, nämlich: „1. das sich institutionalisierende Wissen über den Orient unter den Vorzeichen von Philologie und Hermeneutik sowie die Ausbildung einer historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, 2. die einsetzende generelle Historisierung sowohl der Lebenswelt als auch der ‚Erfahrungswissenschaft vom Menschen’, 3. die (Wieder-)Entdeckung des Mythos als Gegenstand und Formprinzip von Literatur und Wissenschaft und schließlich 4. die Entwicklung von Theorien und Poetologien einer Performativität (vulgo: Selbstreferenzialität) der Sprache“19
Mit Blick auf diese Aufzählung leuchtet es ein, dass Historisierung, Mythos und Sprache gerade auch den Kernbereich alttestamentlicher Methodenbil-
15 Siehe Helmut Peitsch, „Noch war die halbe Oberfläche der Erdkugel von tiefer Nacht bedeckt“. Georg Forster über die Bedeutung der Reisen der europäischen ‚Seemächte’ für das deutsche ‚Publikum’, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, 157–174, hier: 174. 16 Vergleiche Russel A. Berman, Der ewige Zweite. Deutschlands Sekundärkolonialismus, in: Birthe Kundrus (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt / New York 2003, 19–32. 17 Friedrich Schiller, Deutsche Größe, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, hg. von Norbert Oellers, Band 2,I: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens. 1799–1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß, Weimar 1983, 431. Vergleiche Rainer Traub, „Unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit“. Vor der Politik kam die Kultur: Im 18. Jahrhundert betrat das deutsche Bürgertum die Bühne, im Reich des Geistes schien die Einheit der Nation schon Wirklichkeit, in: Klaus Wiegrefe / Dietmar Pieper (Hg.), Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden, was wir sind, München 2007, 136–143, hier: 139. 18 Siehe Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/ New York 2005, 143. 19 Ebd., 144f.
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dung betreffen. Die Wissensordnungen, die um 1800 neu konzeptioniert wurden, sind tief in einer Ordnung der Kulturen verankert, die koloniale Züge trägt und von einem kolonialen Phantasma orchestriert wird. Dieses koloniale Phantasma ist Teil des conceptual lock , von dem bereits die Rede war. Ich möchte nun diesen Zusammenhang an (1) einer typologischen Figur, (2) einer historischen Persönlichkeit der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte, und (3) einer methodischen Frage deutlich machen um schließlich (4) ein erstes Fazit zu ziehen, inwieweit postkoloniale Ansätze die alttestamentliche Wissenschaft weiterentwickeln können.
1.
Typologischer Zugang: Der reisende Deutsche
Ich beginne mit der Figur des reisenden Deutschen: Am 10. April 1782 erschien das Wochenblatt mit dem Titel „Der Reisende“ zum ersten Mal in Hamburg. In einem Vorwort an die geneigte Leser*innenschaft werden „Hamburgs Töchter und Söhne“ gerühmt, dass sie nicht als „Heimchen“ bekannt seien20, oder in ihrer Neugierde jemals stehen blieben, sondern zu loben wären „stündlich weiter zu streben“21. Diesem vorzüglichen Publikum wollen die Verfasser aktuelle Reiseberichte „der neuesten Beobachter jedes Landes und Volks, in zusammengedrängten Auszügen“22 darbieten. Nicht von ungefähr richtet sich das Wochenblatt gerade an die Deutschen, denn „Ausser den Juden, reiset wol kein Volk mehr, als Teutsche.“23
Trotz dieser regen Reisetätigkeit der Deutschen, sehen die Autoren noch einigen Verbesserungsbedarf und geben einige Ratschläge, die vor allem „Sprachen= und Sachen=Kenntnisse aus Büchern“, sowie Kenntnis „[der] vollständigsten und genauesten Landesbeschreibungen, und [der] scharfsinnigsten Bemerkungen über Sitten und Gebräuche der Völker, zu denen man reisen will“ beinhalten24. Der deutsche Orientalismus kann als ein Orientalismus aus zweiter Hand bezeichnet werden. Er schlägt sich vor allem in Reiseberichten, literarischen Werken und wissenschaftlicher Detailarbeit nieder. Eine wichtige Rolle spielten nicht Ethnographen oder Politiker, sondern protestantische Theologen.25 20 Anonymus, Anrede an die Leser, in: Der Reisende. Ein Wochenblatt zur Ausbreitung gemeinnüzziger Kenntnisse, 1. Blatt, Hamburg 1782, 1–5, hier: 1. 21 Ebd., 2. 22 Ebd., 3. 23 Anonymus, Ueber das Reisen der Teutschen, a.a.O., 6–11, hier: 6. 24 Ebd., 8. 25 Siehe Daniel Weidner, Hieroglyphen und heilige Buchstaben: Herders orientalische Semiotik, in: Wulf Köpke / Karl Menges (Hg.), Herder Jahrbuch VII/2004. Studien zum 18. Jahrhundert, Heidelberg 2004, 45–68, hier: 45.
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Das 18. Jahrhundert markiert einen entscheidenden Einschnitt in der Verhältnisbestimmung der europäischen Mächte zur Welt und insbesondere auch in der Wahrnehmung des deutschen Publikums, das nun als Lesepublikum an der großen, weiten Welt teilzuhaben beginnt. In seiner Geschichte der Neugier (2002) vergleicht Justin Stagl das Frontispiz des Buches Der reisende Deutsche (1745) mit einer vergleichbaren barocken Darstellung und beschreibt die frappierenden Wechsel in der Darstellungsform: Ein Sekretär mit Federkiel und Papier, der die Gespräche von vier Figuren, die für die Erdteile stehen, niederschreibt, ist die prominenteste Figur der Darstellung. Er ist umgeben von wissenschaftlichen Utensilien des Sammelns, Wertens und Katalogisierens, wie Winkelmaß, Teleskop und Himmelsglobus. Im älteren Kupferstich waren noch Reminiszenzen an die Heilsgeschichte erkennbar, hier hingegen scheint die Heilsgeschichte abgelöst von der Zivilisationsgeschichte und den Utensilien des Zeitalters der zweiten Entdeckungsreisen.26 Der jüngere Kupferstich ist keineswegs friedfertig, wenngleich ein erster Eindruck darauf hindeuten könnte. Denn zwischen den bereits beschriebenen Instrumenten der Weltvermessung und –kartographierung finden sich verstreute Rüstungsteile und gestapelte Kanonenkugeln, sodass Stagl von einem beabsichtigten „Durch- und Ineinander von Wissen und Waffen“27 spricht. Gerade der reisende Deutsche kann dabei noch genauer charakterisiert werden. Im 18. Jahrhundert bilden sich in der intellektuellen Debatte verschiedene Nationalcharaktere – wir würden heute passender von nationalen Stereotypen sprechen – heraus, die vielfach beschrieben und charakterisiert werden. Bereits in ersten Überlegungen zu einer praktisch gewendeten Affektenlehre unter dem Titel Erfindung einer wohlgegruendeten und fuer das gemeine Wesen hoechstnoethigen Wissenschaft (1691) spricht Christian Thomasius in konstrastierender Weise von französischer Lebhaftigkeit und deutscher Geduld und fordert eine größere Freiheit, die es auch dem deutschen Geist erlauben würde, sich auf dem Gebiet der Wissenschaft hervorzutun.28 Auch einige Jahrhunderte später spricht Goethe in einem Brief an Eckermann von den „tiefen Gedanken und Ideen“, die die Deutschen überall suchten und hineinlegten und sich so das Leben selbst schwer machten anstatt einfach zu genießen.29 Die Frage, Ob die Teutschen wohl thun, daß sie den Franzosen nachahmen (1744), die Johann Michael von Loen prägnant in einer Schrift stellt und negativ bescheidet, kann als beispielhaft für das 18. Jahrhundert angesehen werden, als die deutsche 26 Siehe Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien 2002, 202. 27 Ebd., 204. 28 Siehe Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart/Weimar 2001, 244–247. 29 Johann Peter Eckermann, Sonntag 06. Mai, 1827, in: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Gustav Moldenhauer, Erster Band: 1823–1827, Leipzig 1884, 119–123, hier: 121. Vergleiche dazu Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, München 2013, 606.
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Suche aus dem als für die Wissenschaft als hinderlich empfundenen nationalen Phlegma zu entkommen und stattdessen Anteil an französischem Witz und ‚civilité’ zu gewinnen.30 Diese Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Nationalcharaktere findet sich auch im Journal meiner Reise von 1769 (1769) von Johann Gottfried Herder, der allerdings das Thema schon etwas abwandelt und nun französischen Geist und Originalität an den klassischen Dichtern und Denkern der griechischen und römischen Antike misst. Herder missfällt an der französischen Sprache und der Art zu denken die „Erkältung der Phantasie und des Affekts“31, sowie die bloß gelernte Philosophie, die dazu führen müssten, dass die Franzosen bei der bloßen Oberflächlichkeit des Zugangs stehen bleiben und zu keiner wahren Begegnung mit dem Anderen oder dem Gegenstand ihrer Betrachtung fähig seien. Damit ist das Thema des ausgehenden 18. Jahrhunderts und das Spezifikum eines deutschen wissenschaftlichen und philosophischen Zugangs gesetzt: Gerade aufgrund seines nationalen Charakters und schwermütigen Tiefgangs, von anderen leichtfertig als Phlegma verkannt, ist der deutsche Forscher vielmehr als jeder andere geeignet, Alterität wahrnehmen und in seinem Wesen verstehen zu können. So stellt Georg Forster, der in England aufgewachsen ist, in seiner Vorrede zur Sakontala einige der spezifisch deutschen Zugänge nach einer kurzen Darstellung des englischen Zusammenhangs wie folgt dar: „In Deutschland verhält es sich anders. Wir haben keine Hauptstadt und kein näheres Interesse, das den Geisteswerken der Indier eine äussere Wichtigkeit des Augenblicks verleihen kann. Daher entbehrt unser Publikum, vielleicht weil das Gesetz des Geschmacks nur in einer verfeinerten Hauptstadt entstehen und herrschend werden kann, jenen in reitzbaren Mechanismus übergegangenen Kunstsinn, der es wenigstens vor einer lächerlichen Hochschätzung des Erbärmlichen sicher stellen könnte, wenn auch seine schulgerechte Strenge gar oft die regellose, genialische Schönheit verkennt; und nur als seltene, vereinzelte Gabe findet sich unter uns die künstlerische Unbefangenheit, womit die reine Phantasie sich alle noch so fremde Formen aneignen und das Schöne in jeder Beziehung auffassen kann, ohne sich selbst der Herrschaft der edelsten Form zu entziehen. Gleichwohl hat uns geographische Lage, politische Verfassung und so manches mitwirkende Verhältnis den eklektischen Karakter verliehen, womit wir das Schöne, Gute, und Vollkommene, was hie und dort in Bruchstücken und Modifikationen auf der ganzen Erdoberfläche zerstreut ist, uneigennützig um sein selbst willen erforschen, sammlen und so lange ordnen sollen, bis etwa der Bau des menschlichen Wissens vollendet da steht, -…“32 30 Siehe Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, 256–261. 31 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Ders., Sämtliche Werke, Band 4, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1878, 343–461, hier: 414. Vergleiche Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, 277. 32 Georg Forster, Vorrede des Uebersetzers, in: Johann Gottfried Herder (Hg.), Sakontala oder Der entscheidende Ring. Ein indisches Schauspiel von Kalidas. Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersetzt. Mit Erläuterungen von Georg Forster, Frankfurt a. M. 21805, xxiif.
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Gerade in seiner Unvollkommenheit und Ungebildetheit ist es der spezifisch deutsche Charakter, der sich besonders für die Wahrnehmung des Schönen in unterschiedlichen Kulturen eignet und damit eine Grundvoraussetzung einer neuen Wissenschaftlichkeit erfüllt. Auch die eigentlich nachteilige geographische Lage und somit das Fehlen eines politischen Zentrums und die Rückständigkeit in der Verfassungsfrage, die Georg Forster als einem glühenden Unterstützer der französischen Revolution in anderer Hinsicht ein Dorn im Auge gewesen sein dürfte, tragen zur Vorrangstellung Deutschlands bei. Mit einem Wort: „Diese allgemeine Empfänglichkeit ist es, die uns in Stand setzt, den Werken des Geschmacks, gleichviel von welcher Nation, wenn sie nur wahre Vorzüge besitzen, wirklich zu huldigen; dahingegen es Franzosen, Engländern und Italienern so schwer, ja fast unmöglich wird, sich in eine andere Denkungs- und Empfindungsart, in andere Sitten und Gewohnheiten als die ihrigen zu versetzen. Ihr Genuß ist einseitig und konventionell, der unsrige kann allgemein und philosophisch seyn; sie suchen nur unmittelbare Befriedigung ihres Geschmacks, wir hingegen fühlen uns auch hier am liebsten im Verstande, wir genießen auch in Werken der Kunst den Zuwachs unseres Wissens.“33
Der von Stagl intonierte Gleichklang von Wissen und Waffen bildet auch den Hintergrund für die These Edward Saids, wonach Reiseberichte mehr noch als Unternehmen und Gesellschaften dazu beigetragen hätten „Kolonien zu schaffen und ethnozentrische Perspektiven zu festigen“34. Die Reiseberichte können nicht nur selbst als Literatur bewertet werden, sondern schufen zu einem großen Maße weitere fantastische, fiktive und wissenschaftliche Literatur. Einem solchen literarischen Werk, das aus der Beschäftigung mit den vielfachen Reiseberichten der Zeit entstanden ist, möchte ich nun genauer nachgehen.
2.
Historischer Zugang: Johann Karl Christoph Nachtigal (Otmar)
Für meine Auseinandersetzung mit einer Figur der alttestamentlichen Forschungsgeschichte habe ich mich für Johann Karl Christoph Nachtigal entschieden, einen Schüler Semlers und Zeitgenossen Herders. In den Jahren von 1796-1800 veröffentlichte er die „Gesänge Davids und seiner Zeitgenossen“, übersetzte mehrere Bücher der Hebräischen Bibel und gab unter dem Namen Otmar eine Sammlung von Volkssagen heraus.35 In seiner Schrift Ueber den 33 Ebd., xxiiif. 34 Edward Said, Orientalismus, 142. 35 Heinrich Doering, Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt, Band 3 N-Scho, Neustadt a.d. Orla 1833, 1–8, hier: 3f.
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Wunsch, auf einer niedrigen Stufe der Kultur zu leben, besonders im patriarchalischen Zeitalter (1791) greift der Theologe, Philologe und Schulmeister Johann Karl Christoph Nachtigal die verfügbaren Reiseberichte von Tahiti auf und zeichnet ein (Zerr)-bild das charakteristisch für jene Epoche zu sein scheint. Er beschreibt den Wunsch auch des „denkenden Mann(es) (…) in Zeiten zu leben, wo er seine höhere Geisteskultur gegen Freyheit, Heftigkeit und Gesundheit des Körpers, Gleichheit des Standes, und gegen leichte Befriedigung seiner beschränkten Wünsche und Bedürfnisse, unter einem rohen unverdorbenen Volk, vertauschen könnte.“36
Zu diesem Zweck untersucht Nachtigal das patriarchalische Zeitalter. Als Quellen für das patriarchalische Zeitalter, das eine notwendige Entwicklungsstufe menschlicher Kultur sei, dienen ihm neben Reiseberichten von Forster und Keate auch „einige (…) der ältesten Bücher der Bibel, Homer, Ossian, Cäsars Nachrichten von den alten Celten“37. Das nämliche Zeitalter findet er „fast durchgehends bey allen nomadischen Jäger= und Hirtenvölkern, so wie auch in der ersten Periode des Ackerbaus. Es hatten dieß Zeitalter die arabischen und kananitischen Völkerschaften zu Abrahams Zeiten, und noch Jahrhunderte nachher; die Israeliten noch zu den Zeiten der sogenannten Richter, wo kein allgemein anerkanntes Oberhaupt, und kein bestimmtes Gesetz war, sondern jedes Familienhaupt that, was ihn gut dünkte.“38
Als eine Leitkategorie zur Beschreibung des Zeitalters fungiert für Nachtigal der Despotismus. Denn die in der Odysee beschriebene Willkürherrschaft Einzelner sieht er „bey den Völkerschaften in Arabien (…) einem großen Theil von Indien und Afrika, in den neuentdeckten Inseln der Südsee, z.B. Taheiti, den freundschaftlichen und den Pelew=Inseln, unter den sogenannten Wilden in Nord= und Südamerika u.s.w.; überall wo Menschen zu größern oder kleinern, doch immer isolirten Gesellschaften vereinigt sind; wo noch keine förmlichen Gesetze die Richtschnur der Handlungen sind, sondern Sitte und Herkommen und Willkür des Stammhauptes.“39
Einen solchen Despotismus sieht er fast durchgehend zu Zeiten Abrahams gegeben, jedoch auch im deutschen Mittelalter und noch bei einigen Staaten des heutigen Europas. So schreibt er über Polen: „(…) welches jetzt in der Krisis ist, sich aus einem orientalischen, auf patriarchalische Begriffe gegründeten Staat zu einem europäischen umzubilden.“40
36 Johann Karl Christoph Nachtigal, Ueber den Wunsch, auf einer niedrigen Stufe der Kultur zu leben, besonders im patriarchalischen Zeitalter, in: Deutsche Monatsschrift, Band 1, 1791, 147–180, hier: 147. 37 Ebd., 157. 38 Ebd., 159. 39 Ebd., 160. 40 Ebd., 161.
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Der Begriff des ‚orientalischen’ wird hier also nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich entgrenzt und in enger Verbindung mit dem Vorwurf des Despotismus als Gegenbild des aufgeklärten Europas profiliert.41 Wichtiges Vergleichsmaterial bietet wieder das Alte Testament: So vergleicht Nachtigal die Schilderungen des Skalpierens, die er in verschiedenen Reiseberichten gelesen hat mit einzelnen Textstellen aus Dtn 32,40 und 33,20.42 Besonders hält Nachtigal den Despotismus des Mannes fest, dass nämlich sowohl in den Schilderungen des Cäsars über die Kelten, als auch in den Reiseberichten Forsters aus Tahiti und in Abschnitten aus der Genesis die Frauen nicht über den Status bloßen männlichen Eigentums hinaus gelangen. Als „schrecklichsten Ausbruch des Despotismus“ nennt er schließlich das Menschenopfer, das er bei Jephta im Buch der Richter, auf Tahiti und in klassischen griechischen Sagenmotiven antrifft.43 Für die biblischen Wissenschaften waren vor allem die Beiträge Nachtigals in Henkes Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte von großer Bedeutung. Damit trug er in der Sicht der Nachwelt zur „Begründung einer neuen Einleitung in das alte Testament“ bei.44 Insbesondere sein Kapitel über die allmähliche Herausbildung der Geschichtsbücher Israels wird bereits im Vorbericht von Heinrich Philipp Conrad Henke als möglicherweise provokanter Gesprächsbeitrag gewürdigt. Darin knüpft er an kritische Studien zur Echtheit und Abfassungszeit des Pentateuch etwa von Johann David Michaelis an und stellt auch eigene Überlegungen zu einzelnen Textabschnitten vor. In der Auseinandersetzung mit den biblischen Quellen bezieht er sich immer wieder auf gattungskritische Fragestellungen, die er den neu aufkommenden geschichtsphilosophischen Überlegungen mit verdankt. So heißt es zu Exodus 15, 2-18: „Den trefflichen Gesang, der in diesem Abschnitt vorkommt, halten selbst die für ächtmosaisch, welche Moses manche historische Nachrichten absprechen. Aber (1) Die Nationalgesänge roher Völker sind kurz, und müssen es der Lage der Dinge nach seyn, nicht künstliche Zusammenreihung vieler und verschiedener Gedanken, sondern, zuerst der kurze unvorbereitete Ausruf augenblicklicher Empfindungen, dann eine kleine leicht zusammenfassende Stanze, die nur durch Wiederholung dem Gesang Ausdehnung gab.“45 41 Diese Logik wird im Diskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts dann teilweise bis ins Absurde gesteigert, sodass die asiatischen Völker mit Isaak Iselin sich darüber freuen konnten, dass sie erobert und unterdrückt wurden, da dies ihrem Naturell ja entspreche. Siehe Todd Kontje, German Orientalisms, 4. 42 Siehe Johann Karl Christoph Nachtigal, Ueber den Wunsch, auf einer niedrigen Stufe der Kultur zu leben, 170. 43 Siehe Ebd., 178f. 44 Siehe Heinrich Doering, Die gelehrten Theologen, 6. 45 Otmar, Fragmente über die allmählige Bildung der den Israeliten heiligen Schriften, besonders der sogenannten historischen. Beyträge zu einer künftigen Einleitung in das A.T., in: Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte, Band 2, Helmstädt 1794, 433–523, hier: 451f.
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Als Vorbild und Vergleichspunkt für die ‚rohen Völker’ fungieren bei Otmar die griechischen Sagen und Gesänge der Antike, jedoch muss wohl mit einem Blick auf seine Ausführungen zum patriarchalischen Zeitalter auch an die neuentdeckten Völker der Südsee und andere gedacht werden.
3.
Methodische Zuspitzung: Die Suche nach Ordnung und die Frage nach den Auslassungen
Zu Otmar als Sammler von alten Volkssagen und Johann Karl Christoph Nachtigal als Religionsgeschichtler gäbe es noch viel zu sagen. Ich will es jedoch bei diesen Hinweisen belassen und den angeschnittenen Diskurs noch einmal einordnen und zu meiner Ausgangsthese zurückkommen. Dass das Nachleben der kolonialen Phantasmen auch eine Erkenntnisbarriere bedeutet, will ich zum Abschluss mit Blick auf den eingangs vorgestellten Juha Pakkala darstellen.46 In God’s Word Omitted (2013) geht Pakkala einer Frage nach, die sich für Alttestamentler*innen eigentlich nicht stellt: Nämlich, ob es im Verlauf des Überlieferungsprozesses der Hebräischen Bibel, nicht nur zu den unterschiedlichsten Hinzufügungen gekommen sei, sondern auch, ob es bewusste Auslassungen gegeben habe.47 Diese Position in Bezug auf die Auslassungen wird bei aller Verschiedenheit der sonstigen Interpretationen in allen von Pakkala untersuchten Einleitungen geteilt. Zwar stellt Pakkala fest, dass die Möglichkeit von Auslassungen um 1800 deutlich ergebnisoffener diskutiert wurde, als etwa um 1970. Dennoch nennt Pakkala zwei gewichtige Axiome, die sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt haben: Die Annahme Johann Gottfried Eichhorns von einem zentralen Tempelarchiv, sowie Wilhelm Martin Leberecht De Wettes These von einer Sakralität der Texte nach einer erfolgten Kanonisierung.48 Die Vorstellung eines Tempelarchivs möchte ich nun noch einmal vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten kontextualisieren. Seit den 1780er Jahren gab es vermehrt Veröffentlichungen zu Fragestellungen der „aeltesten Urkunden“, „ältesten Sagen“ und „ältesten Idyllen“.49 Der Rekurs auf die Ursprünge
46 Zum Eurozentrismus als Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis innerhalb der Religionswissenschaften vergleiche Gregor Ahn, Eurozentrismen als Erkenntnisbarrieren in der Religionswissenschaft, ZfR 5 (1997), 41–58. 47 Siehe Juha Pakkala, God’s Word Omitted. 12. 48 Siehe Ebd., 25ff. 49 Siehe Johann Samuel Ersch, Handbuch der deutschen Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit, Neue Ausgabe, Band 1.2 (Theologie), Leipzig 1922, 66ff.
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und die zeitliche Sortierung der Quellen dienten auch dazu, Ordnung zu schaffen und das vermeintliche Chaos innerhalb der biblischen Texte zu bändigen.50 Hierzu schreibt Karl David Ilgen: „Diese Berichtigung der Theile aber muß mit den Quellen anheben. Die Denkmahle, welche die Thaten der alten Völker, ihre Staatsverfassungen, ihre Gesetze, und ihre Religionsmeinungen enthalten, müßten vor allen Dingen vollständig gesammlet, grammatisch berichtiget, mit hinlänglicher Sprach- und Sachkunde erläutert und verständlich gemacht, und nach ihren Zeitaltern mit möglichstem Fleiß geordnet werden; es muß die Glaubwürdigkeit ihrer Verfasser, ihr Amt […] mit größter Sorgfalt untersucht und der strengsten Prüfung unterworfen werden, ehe von einem sichern und zweckmäßigen Gebrauch derselben die Rede seyn kann. Nur dann erst, wenn alles dieses erfüllt ist, ist es möglich sie als das, was sie seyn sollen, das heißt als Quellen zu benutzen …“51
Die biblischen Bücher galten den Wissenschaftlern als ein Hort unsortierter, nicht nach Gattung, Echtheit und Charakter unterschiedenes Sammelsurium an Texten, in die nun deutsche Alttestamentler Ordnung zu bringen hätten. Karl David Ilgen gesteht den Hebräern zwar ein Tempelarchiv zu, wie es dem „Geist der alten Welt“ entspreche52, doch „das Archiv ist in Unordnung gerathen, die Urkunden sind zerrissen, zerstückelt, in einander geflossen; man weiß weder Verfasser, noch Zeitalter genau anzugeben,; es herrscht allenthalben die größte Verwirrung, sie mag nun durch Nachläßigkeit, oder durch Einfalt und Aberglauben, oder durch absichtliche Bemühung derer, die die Aufsicht darüber hatten, entstanden seyn; kurz die Sammlung derselben, so wie sie gegenwärtig besteht, ist so gut wie ein verschlossenes Buch, und ein unter sieben Siegeln verwahrtes Dokument“53
Gerade die deutschen Wissenschaftler haben sich besonders berufen gefühlt, diese Unordnung in Ordnung zu bringen. So gibt es bei Adam Müller in seinen Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur (1807), einen Unterschied zwischen französischer Wissenschaftskultur, die er mit „heitre[r], gewandte[r] Thätigkeit“54 assoziiert, und deutscher und damit „ernster, ausdauernder, nur hie und da etwas unbehülflicher Empfänglichkeit“55. Deutsche 50 Siehe Seidel, Bodo, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung im Umkreis der sogenannten Älteren Urkundenhypothese, Berlin/ New York 1993,103. 51 Karl David Ilgen, Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, als Beytrag zur Berichtigung der Geschichte der Religion und Politik aus dem Hebräischen mit kritischen und erklärenden Anmerkungen auch mancherley dazu gehörigen Abhandlungen, Erster Theil: Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt zum bessern Verständniss und richtigern Gebrauch derselben in ihrer gegenwärtigen Form aus dem Hebräischen mit kritischen Anmerkungen und Nachweisungen auch einer Abhandlung über die Trennung der Urkunden, Halle 1798, VIf. 52 Siehe Bodo Seidel, Karl David Ilgen, 109. 53 Karl David Ilgen, Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, VIII. 54 Adam H. Müller, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, Dresden 21807, 3. 55 Ebd., 3.
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Wissenschaft weiß damit nicht auf den ersten Blick zu gefallen, jedoch verstehe sie ihr Gegenüber besser, als sich dieses selbst zu vergegenwärtigen vermag: „Es gehört zur Eigenthümlichkeit der deutschen Ansicht einer fremden Literatur, dieselbe in einem größern Umfang zu betrachten, sie in höhere Beziehungen zu bringen, als die sie sich selbst zuschreibt.“56
Hier treffen wir auf das klassische Motiv einer postulierten deutschen wissenschaftlichen Überlegenheit, die es den Deutschen ermögliche zu Experten auf jedem Feld zu werden und fremde Gesellschaften, Sprachen und Kulturen besser zu meistern und vor allem zu verstehen, als die koloniale Konkurrenz und das autochthone Gegenüber.57Adam Müller benennt diese Art des wissenschaftlichen Zugriffs folgerichtig „Geistesherrschaft der deutschen Wissenschaft“58 und charakterisiert diese genauer: „Die liebe- und würdevolle Ergebung in den Geist des Strebens andrer Nationen, das gehorsame und fromme Auffassen alles Fremden und jeder von unsrer Nationalität noch so sehr abweichenden Form, ist ein Vorzug, den der deutsche Geist vor den übrigen Nationen sich zuzuschreiben gezwungen ist […]“59
Nicht als Ausdruck individueller Ethik wird diese Haltung bei Müller konzipiert, sondern sie ist ihm eine deutsche Charaktereigenschaft: „Diese ächte Toleranz gegen vergangene Zeitalter liegt eben so tief in dem Charakter deutscher Bildung, als die schon erwähnte gegen die Nachbarn und Freunde.“60
Die angeführten Zitate lassen die Rede von einem Tempelarchiv in einem anderen Licht erscheinen. Gerade das Sammeln von Daten und Zusammenstellen und Ordnen von Literatur ist eine Tätigkeit, die sich mit dem deutschen Wunsch nach Überlegenheit und ‚Geistesherrschaft‘ verbindet. Inzwischen scheint die kurze Phase, in der vor allem deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler meinten, Ordnung in dieses komplizierte Gewirr der Bibel gebracht zu haben, wieder vorbei zu sein. Dennoch lässt sich ein ‚Nachleben‘ dieser Epoche der Forschungsgeschichte feststellen. Die anfangs aufgerufenen Zitate geben einen Eindruck davon, dass eine weltweite Arbeitsteilung innerhalb des ‚professionellen’ Umgangs mit der Bibel bestehen bleibt: Von Lazare S. Rukundwa wird das Unbehagen an der historischkritischen Methode so auf den Punkt gebracht, dass dahinter eine fragwürdige Arbeitsteilung zu stehen scheine, die sich darin ausdrücke, dass die Bibel den
56 57 58 59 60
Ebd., 7. Vergleiche Todd Kontje, German Orientalisms, 8. Adam H. Müller, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, 11. Ebd., 11. Ebd., 15.
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Text bereit stelle, der Westen die Hermeneutik und die Methoden und für den Rest der Welt das Lesen bleibe.61 In Bezug auf die von Pakkala aufgeworfenen Fragen lassen sich mit dieser forschungsgeschichtlichen Kontextualisierung in postkolonialer Perspektive erst einmal keine neuen Hypothesen formulieren oder alternative Lesarten vorschlagen. Als ersten Schritt bringen die postkolonialen Zugänge weitere Verunsicherung in das Feld der um ‚common ground‘ ringenden Exegese. Sie helfen jedoch dabei die Grundaxiome der Forschungsgeschichte in ihren Entstehungskontexten besser einordnen zu können und sie vor dem Hintergrund eines neu entstehenden Interesses an kolonialen Weltsichten und ihrem neokolonialen Nachleben verorten zu können. Gerade das Beispiel des Tempelarchivs zeigt, wie eine Hypothese, die forschungsgeschichtlich die Debatte bis heute bestimmt und zentrale Grundannahmen der alttestamentlichen Wissenschaft festschreibt, sich in die spezifische Geschichte des deutschen Kolonialismus einschreiben lässt. Die Kritik Rukundwas ins Positive gewendet, lässt diese Einsicht hellhörig werden, für alternative Wissenssysteme und andere Plausibilisierungsstrategien fernab des wissenschaftsgeschichtlichen mainstreams.
4.
Fazit: Der Ertrag postkolonialer Wissenschaft für die Erforschung des Alten Testaments
Eine systematische Zusammenstellung der postkolonialen Zugänge zum Alten Testament lässt immer noch eine Dreiteilung sinnig erscheinen: Arbeiten zur Entstehungsgeschichte der Hebräischen Bibel haben einen anderen Fokus als Studien zur Wirkungsgeschichte der Bibel oder Perspektiven auf marginalisierte Figuren und deren Neulektüre.62 Wenn es um die Entstehungskontexte der Bibel geht, so helfen postkoloniale Werkzeuge, die historischen imperialen Konzeptionen besser zu verstehen; sie bieten Modelle für die Rezeption kultureller Vorstellungen im Zusammenhang mit hegemonialen Machtpositionen und erweitern so den methodischen Werkzeugkasten ‚klassischer Exegese‘.63 Darüber hinaus habe ich jedoch im vorliegenden Aufsatz gezeigt, dass eine
61 Siehe Lazare S. Rukundwa, Postcolonial Theory as a hermeneutical tool for Biblical reading, in: HTS 64 (1,2008), 339–351, hier: 344. 62 Vergleiche die Zusammenstellung bei Andreas Nehring / Simon Tielesch, Biblische Perspektiven, in: Dies. (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, 46–50. 63 Siehe dazu meine Ausführungen unter Simon Wiesgickl, Vom Vasallenstaat zum ‚Informal Empire‘. Postkoloniale Theorien und ihre Bedeutung für die alttestamentliche Exegese, in: Biblische Zeitschrift NF 59 (1,2015), 17–38.
Gefangen in uralten Phantasmen
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postkolonial informierte Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments an einigen Grundaxiomen des bewährten Methodenkanons zu rütteln vermag. Wirkungsgeschichte und die Entstehungsgeschichte der Bibel rücken dabei näher zusammen, da ein Blick auf die Anfänge der Bibel nicht außerhalb des Prismas der angerissenen Neuanfänge um 1800 getan werden kann. Indem die um 1800 entstehende historisch-kritische Wissenschaft des Alten Testaments als ein Möglichkeitsraum des deutschen kolonialen Phantasmas plausibilisiert wird, wächst auch der Druck die bisherige Arbeitsteilung innerhalb des professionellen Umgangs mit der Bibel zu überwinden. Was Johann Gottfried Eichhorn 1794 über die zahlreichen Neuaufbrüche in der Bibelwissenschaft in den letzten Jahrzehnten schreibt, das wäre auch für die heutige Zeit noch einmal wünschenswert, um dem ‚conceptual lock‘ des 19. Jahrhunderts zu entrinnen: „Es ist, als wenn die Hebräer eine ganz andre Nation geworden wären, so verändert ist die Vorstellung, die man sich nun von ihrer Denkart, ihren Sitten und Gewohnheiten, ihren Gesetzen und Rechten macht.“64
64 Johann Gottfried Eichhorn, ABL 6 (1794), 529.
Gibt es eine postkoloniale Theologie des Neuen Testaments? Lukas Bormann
1.
Einführung
Zu den Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft gehört es, bestimmte Wissensfelder zu erschließen und weiterzuentwickeln. Neben den historischen, religionsgeschichtlichen und kulturellen Bedingungen, aus denen die neutestamentlichen Schriften erwachsen sind, gilt auch die Theologie des Neuen Testaments als ein solches Wissensfeld, zu dem methodisch erarbeitetes, wissenschaftlich gesichertes und beständig erweitertes Wissen als Ergebnis neutestamentlicher Exegese erwartet wird. Die neutestamentliche Wissenschaft stellt sich damit einem Kriterium, das für historische und philologische Forschung insgesamt gilt. Die Ergebnisse der Erforschung des Neuen Testaments werden unter dieser Bedingung anschlussfähig zu den nichttheologischen Bezugswissenschaften wie Alte Geschichte, Klassische Philologie, Religionsgeschichte der Antike und Judaistik. Diese Form der methodisch kontrollierten Wissensproduktion erstreckt sich zunehmend auch auf rezeptionsgeschichtliche und auslegungsgeschichtliche sowie forschungsgeschichtliche Fragestellungen, wie sie etwa in Leitpublikationen wie der Encyclopedia of the Bible and its reception zu finden sind.1 In der deutschsprachigen Theologie versteht man unter einer Theologie des Neuen Testaments die umfassende Darstellung der Gedankenwelt der neutestamentlichen Schriften mit dem Ziel, diese Gedankenwelt zu den Überzeugungen der Gegenwart in Beziehung zu setzen und mit ihr in ein hermeneutisches Gespräch zu bringen. Die Gedankenwelt des Neuen Testaments wird historisch-philologisch erhoben, religionsgeschichtlich profiliert und theologisch akzentuiert. Letzteres geschieht in der Regel dadurch, dass ein Theologiebegriff zur Ordnung und Interpretation der Aussagen der neutestamentlichen Schriften in Anwendung gebracht wird, der sich selbst nicht der historischen Kritik verdankt – bekanntlich kannte die Antike keine Theologie in unserem Sinn – sondern der in der Regel der nachaufklärerischen modernen Theologie entnommen ist.
1
Encyclopedia of the Bible and Its Reception, Bd. 1–17, Berlin/Boston 2009–2017.
Postkoloniale Theologie des Neuen Testaments
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Eine solche fachdisziplinäre Zuschreibung löst bestimmte Erwartungen der Nachbardisziplinen, aber auch der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit aus, die sich vor allem auf die Gedankenwelt der neutestamentlichen Schriften und deren systematische Darstellung beziehen. Die bereits oben genannten Nachbardisziplinen wie die Klassische Philologie, die Alte Geschichte und die Religions- und Philosophiegeschichte erwarten eine Darstellung der Theologie des Neuen Testaments, die einen kontrastierenden Vergleich oder eine synthetische Zuordnung der eigenen Wissensbestände ermöglicht. Die Theologie des Neuen Testaments hat demnach die Gedankenwelt ihrer Schriften so darzustellen, dass z. B. ein Vergleich und eine Verbindung mit Forschungen zu den frühkaiserzeitlichen Philosophien und Religionen möglich werden. Innerhalb der Theologie im Sinne des disziplinären Fächerkanons vom Alten Testament bis zur Systematischen Theologie wirken zudem historisch gewachsene Vorstellungen von der Bedeutung der Schriftexegese auf die Erwartungen ein, die von dort an eine Theologie des Neuen Testaments gestellt werden. In den Kirchen der Reformation und besonders in den deutschsprachigen Kirchen war man der Überzeugung, dass der historische Sinn der Schrift (sensus historicus sive litteralis) und damit besonders des Neuen Testaments und deren theologische Aussage (sensus theologicus sive spiritualis) in Übereinstimmung stehen und es deswegen möglich sei oder sein müsse, die sich verändernden Ergebnisse der historisch-philologischen Erforschung des Neuen Testaments und die sich ebenso verändernden Erwartungen an theologische Sinnbildungen immer wieder neu wechselseitig und theologisch klärend aufeinander zu beziehen. Die Geschichte der Disziplin Theologie des Neuen Testaments beginnt mit der Antrittsvorlesung von Johan Philipp Gabler, gehalten am 30. März 1787 in Altdorf bei Nürnberg,2 und reicht bis zu den einflussreichen Entwürfen der Gegenwart von Heikki Räisänen, Nicholas Thomas Wright, James Dunn und Udo Schnelle.3 In keiner der genannten Theologien des Neuen Testaments werden Fragestellungen der postkolonialen Theologie bedacht, wie überhaupt die Ansätze kontextueller Theologien wie der feministischen, der befreiungstheologischen oder der Queer-Theologie am Rand stehen, wenn sie überhaupt berücksichtigt werden.
2 3
Johan Philipp Gabler: De iusto discrimine biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus, in: Otto Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit, Marburg 1972 (Marburger theologische Studien 9). Heikki Räisänen, The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010; Nicholas Thomas Wright, Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott, 3 Bd., Marburg 2011–2014; Übers. von Bd. 4 angekündigt für 2017 [engl. O.: Christian Origins and the Question of God, Ort? 1992–2013]; James D. G. Dunn, New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009; Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 22014.
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Lukas Bormann
Ein Beispiel aus meiner eigenen neutestamentlichen Forschung mag zur Erklärung dieser Distanz beitragen. In meinem Kommentar zum deuteropaulinischen Kolosserbrief habe ich mich bemüht, postkoloniale Arbeiten zu rezipieren und zu integrieren.4 Wirklich weiterführend waren die Arbeiten aus diesem Bereich aber nur bei der Auslegung eines einzigen Verses dieser neutestamentlichen Schrift. In Kol 3,11 heißt es: „Dort, wo es nicht gibt Grieche und Jude, Beschneidung und Unbeschnittenheit, Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern (wo) alles und in allem Christus (ist)“.
Kol 3,11 steht in enger Beziehung zu den paulinischen Aussagen in Gal 3,28 und 1Kor 12,13. Die ältere Forschung, namentlich Hans Lietzmann, sah hier ein „Lieblingswort des Paulus“.5 Die Ergänzung in Kol 3,11 um die ethnischen Kategorien „Barbar, Skythe“ wurde kaum beachtet. Es wurde und wird bis heute bei der Auslegung dieser Stelle vorgebracht, dass Paulus und die deuteropaulinische Weiterschreibung vor allem am Gegensatz von „Jude“ und „Grieche“ interessiert seien.6 Die Aufhebung dieses heilsgeschichtlichen Gegensatzes wolle Paulus zum Ausdruck bringen. Die übrigen Gegensatzpaare seien dieser Kernaussage um des rhetorischen Effekts willen beigegeben, blieben aber theologisch ohne weitere Bedeutung. Erst die Impulse, welche die an postkolonialen Theoriebildungen orientierten Literaturwissenschaften auf die Exegese ausübten, bewirkten, dass die Thematisierung von „Barbar, Skythe“ als Einbeziehung der Kategorien Stereotypisierung, Ethnizität und Marginalität von Menschengruppen in den nachpaulinischen Diskurs wahrgenommen wurde.7 Die historische Exegese wusste durchaus, dass die Barbaren als der griechischen Sprache nicht mächtig und als ungebildet galten, und die Skythen noch geringer eingestuft wurden. Sie waren nach allgemeiner antiker Ansicht Repräsentanten des am wenigsten zivilisierten Teils der Menschheit. Der antik-jüdische Historiker Flavius Josephus schrieb: „Die Skythen sind kaum von wilden Tieren zu unterscheiden.“8 Die Signifikanz dieses historisch-philologischen Wissens für die Interpretation des paulinischen Lieblingsworts wurde allerdings von der historischen Exegese nicht erkannt. Erst die Kombination beider Zugangsweisen 4 5 6
7
8
Lukas Bormann, Der Brief des Paulus an die Kolosser, Leipzig 2012 (THK.NT 10/1). Hans Lietzmann, An die Galater, Tübingen 1923 (HNT 10), 23. Jürgen Becker, Der Brief an die Galater, in: ders. / Ulrich Luz (Hg.), Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser, Göttingen1998 (NTD 8/1), 7–103, hier: 58–64; Hans Dieter Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 328–53; Martinus C. de Boer, Galatians. A Commentary, Louisville 2011, 245–247. Gordon Zerbe, The Letter to the Colossians, in: Fernando F. Segovia / Rasiah S. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London 2007, 294–303; Annie Tinsley, Towards a Re-reading of Colossians from an African American Postcolonial Perspective, Ph.D. University of Birmingham 2010, 15. Jos. Ap. 2,269: Σκύθαι δὲ […] βραχὺ τῶν θηρίων διαφέροντες.
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kommt zu plausiblen und weiterführenden Ergebnissen, die sich wie folgt beschreiben lassen: Paulus selbst war noch von einer judäozentrischen Sicht geprägt, nach der die für ihn heilsgeschichtlich relevante Menschheit mit der binären Opposition „Jude und Grieche“ ausreichend beschrieben war.9 Die Barbaren galten ihm ebenfalls als „ungebildet“ und als Menschen, die unvernünftige Dinge sagen und unverständlich sprechen (Röm 1,14; 1Kor 14,11).10 Die deuteropaulinische Fassung des paulinischen Lieblingswortes in Kol 3,11 weitet die heilsgeschichtlich integrative Perspektive des Paulus explizit auf ethnische Kategorien aus, greift dabei gängige Stereotypisierungen auf und wendet sich ausdrücklich den Grenzen des kulturell Akzeptierten zu. Der Kolosserbrief entwickelte die bereits bei Paulus wirksamen Dynamiken der Grenzüberschreitung weiter, indem er die besonders verachteten und als unzivilisiert geltenden Menschengruppen der Barbaren und Skythen mit einbezog. Was bei der Kommentierung des Kolosserbriefs an dieser einen Stelle möglich ist, nämlich zu einem vertieften und angemessenen Verständnis einer deuteropaulinischen Aussage zu gelangen, gelingt allerdings sonst selten. Beschäftigt man sich zudem mit der Theologie des Neuen Testaments in einem umfassenden Sinn, kommt man kaum in Berührung mit Interpretationen, die durch die postkoloniale Theoriebildung beeinflusst sind.11 Woran liegt das?
2.
Was ist eine „Theologie des Neuen Testaments“?
Eine Theologie des Neuen Testaments hat die historische Forschung zur Gedankenwelt des Neuen Testaments so aufzuarbeiten, dass sie sich zu den theologischen Fragen der Gegenwart in Beziehung setzen lässt. In der Gegenwart ist allerdings umstritten, ob die konfessionell gebundene Theologie und nicht vielmehr die säkulare Religionsgeschichte als verstehender Gegenwartsbezug zu wählen ist. Paul Gerhard Klumbies etwa fordert eine Theologie des Neuen Testaments, die die „Gleichursprünglichkeit der Offenbarung Gottes in Vergangenheit und Gegenwart“ aufzuweisen und „die sich je und aktuell im
9
Röm 1,16; 2,9–10; 3,9; 1Kor 1,22.24; 10,32; 12,13; Gal 3,28; vgl. Röm 3,29; 9,24; 1Kor 1,23; 7,19; Gal 2,14–15. 10 Lukas Bormann, Griechen und Juden – Skythen und Barbaren. Ethnizität, kulturelle Dominanz und Marginalität im Neuen Testament, in: Afe Adogame / Magnus Echtler / Oliver Freiberger (Hg.), Alternative Voices. A Plurality Approach for Religious Studies. Essays in Honor of Ulrich Berner, Göttingen 2013 (Critical Studies in Religion / Religionswissenschaft 4), 116–133, bes. 125–130. 11 Lukas Bormann, Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung, Göttingen 2017.
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Lukas Bormann
Glauben erweisende Selbstwirksamkeit Gottes“ aufzuzeigen habe.12 Einer solch stark theologisch akzentuierten Sichtweise stehen explizit untheologische Positionen gegenüber, die eine Religionsgeschichte des frühen Christentums an die Stelle einer Theologie stellen wollen, etwa Dieter Zeller und Heikki Räisänen, oder aber einen religionswissenschaftlichen Zugang wählen wie Gerd Theißen.13 Die von mir genannte Definition ist so offen gehalten, dass sie beide Zugangsweisen, die betont theologische und die betont religionsgeschichtliche, integrieren kann. Ungeachtet dieser programmatischen Gegensätze ist der materiale Gehalt einer Theologie des Neuen Testaments durch die historische Rekonstruktion der Gedankenwelt und der Sinnbildungen neutestamentlicher Schriften bestimmt, sodass die Themen, Inhalte und Fragestellungen in den verschiedenen Entwürfen zu 90 bis 95 Prozent übereinstimmen. Es sind oftmals, wenn überhaupt, nur einige wenige pointierte Spitzensätze oder rekapitulierende Gedanken, die den Unterschied zwischen einer Theologie und einer Religionsgeschichte des Neuen Testaments ausmachen.14 Eine Theologie des Neuen Testaments hat demnach die historische Aussageabsicht der kanonischen Schriften des Neuen Testaments in ihrer theologischen oder religionsgeschichtlichen Bedeutung so zu profilieren, dass ihre gegenwärtige Relevanz aufgezeigt und diskutiert werden kann. Die fachdisziplinäre Gattungsbezeichnung löst weitere Erwartungen aus: Die Darstellung hat alle Schriften des Neuen Testaments zu berücksichtigen, Gewichtungen sind zu begründen. Sie hat Auskunft zu geben, wie sich die historisch-deskriptiven Anteile zu den theologisch-normativen Aussagen verhalten, wie sie mit der Kanonsgrenze umgeht, wie sie die interne Pluralität der neutestamentlichen Schriften zur Geltung bringt und ob sie dennoch einheitliche Aussagen, tragende Gedanken und gemeinsame Überzeugungen formulieren kann. Schließlich ist auch zu reflektieren, wie sehr sich eine Theologie des Neuen Testaments literaturwissenschaftlich versteht – und sich demnach auf die Schriften als Texte konzentriert – und in welchem Ausmaß sie die historische Rekonstruktion der Überzeugungen von Einzelpersonen wie Jesus von Nazareth und Gruppen wie der ältesten Gemeinde, die keine Schriften hinterlassen haben, miteinbezieht und warum. 12 Paul-Gerhard Klumbies, Herkunft und Hoffnung der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2014, 13. 13 Räisänen, Rise of Christian beliefs, 1–6; Dieter Zeller, Die Entstehung des Christentums, in: Ders. (Hg.), Christentum I. Von den Anfängen bis zur konstantinischen Wende, Stuttgart 2002, 1–222, hier 1–5; Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 32003, 13. 14 Als ein Beispiel für diese Übereinstimmungen trotz unterschiedlicher Grundausrichtungen der jeweiligen Gesamtdarstellungen sei genannt, dass sowohl Theißen (Religion, 280) als auch Schnelle (Theologie, 707) das Johannesevangelium ausdrücklich als den „Höhepunkt“ frühchristlicher Ausdrucksbildung bezeichnen und damit beide gleichermaßen eine theologische Wertung, die mindestens auf Schleiermacher zurückgeht, reproduzieren.
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Angesichts dieser komplexen Erwartungen an eine Theologie oder Religionsgeschichte des Neuen Testaments ist es bemerkenswert, dass zwei der international wirksamsten Versuche, diese herausfordernde Aufgabe zu bewältigen, auf das Konzept der Wissenserzählung zurückgreifen. Udo Schnelle hält fest, dass das Neue Testament als eine Erzählung, in der die Vielfalt und Kohärenz einerseits und die Sinnleistungen und Transformationen andererseits berücksichtigt würden, damals und auch heute ein in sich überzeugendes Sinnangebot, das vom Handeln Gottes in Jesus Christus berichte und die „Jesus-Christus-Geschichte“ nacherzähle, darstelle.15 Die „Meister-Erzählung“ schlechthin innerhalb des Neuen Testaments ist für Schnelle das Johannesevangelium: „Das Johannesevangelium stellt den Höhepunkt frühchristlicher Theoriebildung dar und gehört zu den ‚Meistererzählungen‘, die Menschen ‚eine Vorstellung von ihrer Zugehörigkeit, ihrer kollektiven Identität, vermitteln“.16 Noch umfassender als Schnelle entwirft Nicholas Thomas Wright seine Theologie als „Erzählung“, als story. Diese story berichte von der Realisierung von Gottes Plan in der Schöpfung über den Bund mit seinem Volk Israel hin zum neuen Volk des Messias aus Heiden und Juden, der „enormous multi-ethnic family“.17 Diese große Gesamtgeschichte kenne dramatische Krisen und Konflikte, Paradoxien und überraschende Wendungen, und sei doch bestimmt von dem „einen-Plan-durch-Israel-für-die-Welt“.18 Darin dokumentiere sich die Treue Gottes zu sich selbst und zu seiner Schöpfung. Eine Theologie des Neuen Testaments vertritt demnach den Anspruch, ihren Gegenstand, das Neue Testament, umfassend historisch und theologisch darzustellen. Die Schwierigkeiten und Spannungen, die sich daraus ergeben, führen wohl in der Gegenwart dazu, dass sich Theologien des Neuen Testaments als historisch orientierte Wissenserzählungen verstehen, die zugleich theologisch-sinnbildende Meistererzählungen des Christentums anbieten. Diese Meistererzählungen gehören nun aber zu den Formen der Wissenserzählungen, die im Zentrum der postmodernen Kritik an der Wissenschaft und ebenso der postkolonialen Kritik an der Wissenschaft europäischen Zuschnitts stehen.19
15 Schnelle, Theologie, 25–29. 16 Schnelle, Theologie, 707. 17 Nicholas T. Wright, Paul and the Patriarch. The Role of Abraham in Romans 4, in: Journal for the Study of the New Testament 35 (2012), 207–241, hier 218. 18 Nicholas T. Wright, Rechtfertigung. Gottes Plan und die Sicht des Paulus, Münster 2015, 181. 19 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 31994 [Orig.: La condition postmoderne, Ort? 1982], 64 u. 116f.
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3.
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Was ist postkoloniale Exegese?
In der postkolonialen Exegese werden Sichtweisen der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie auf der einen Seite und auf der anderen Seite die poststrukturalistische Kritik an der Geschichtsschreibung, an den Wissenserzählungen des Westens, an den Formen der Wissensproduktion und deren Funktionen für die Legitimierung von Herrschaft aufgenommen. Die befreiungstheologische Exegese kritisiert den bürgerlichen Individualismus der europäischen Exegese und stellt das „Volk“ bzw. die „Armen“ ins Zentrum exegetischer Arbeit. Die Bibel sei ein Buch für das Volk, das eindeutig für die Mittellosen Partei ergreife und eine Option für die Armen vertrete und nicht in erster Linie Aussagen über das Seelenheil bürgerlicher Individuen mache. Die feministische Exegese thematisiert das Ausgrenzen und Verschwinden von Frauentraditionen im Neuen Testament und in seiner Auslegungsgeschichte. Die „kritisch-feministische Methode“ der Hermeneutik des Verdachts fordert, dass angesichts der nachgewiesenen Tendenz, Frauen als Subjekte und Tradentinnen der neutestamentlichen Überlieferung sowohl in der Antike als auch in der androzentrischen wissenschaftlichen Exegese unsichtbar werden zu lassen, die erhaltenen Hinweise, ja sogar das „Schweigen“ der Texte extensiv im Sinne der Wiederentdeckung von Frauentraditionen auszulegen sei.20 Die postkoloniale Exegese knüpft an diesen Einsichten und kritischen Positionen an. Das kann man an dem akademischen Werdegang einer der führenden Gestalten der postkolonialen Exegese, Rasiah S. Sugirtharajah, zeigen, der 1983 in Birmingham mit einer Arbeit promoviert wurde, die sich mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie auseinandersetzt.21 Sugirtharajah war es dann, der mit der Anthologie „Voices from the margin“, erschienen im Jahr 1991, einen wichtigen Anfangspunkt für die postkoloniale Exegese setzte.22 Theologinnen und Theologen thematisierten in diesem Band, welche Bedeutung die Bibel und ihre Interpretation für ihre Kultur und ihre Herkunftsgesellschaften habe. Die Autorinnen und Autoren positionierten sich „am Rand“, an der Peripherie, und blickten von dort auf das Zentrum, das sich selbst als der Ort verstehe, an dem alles Wichtige passiere, und damit zugleich die Peripherie und die Ränder als unwichtig und passiv definiere, obwohl das Gegenteil der Fall sei: Die action um die Bibel und ihre Auslegung geschehe genau an diesen Rändern. Nicht alle Autorinnen und Autoren dieses Bandes
20 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis, München 1988, 71. 21 Rasiah S. Sugirtharajah, A Critical Assessment of the Use of the Bible in Liberation Theology, with Particular Reference to Selected Latin American Publications, Ph.D. University of Birmingham1983. 22 Rasiah S. Sugirtharajah, Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll 1991.
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verstanden sich selbst als postkolonial oder verfolgten eine postkoloniale Hermeneutik. Sie alle aber sprachen vom Rand, u. d. h. nicht aus den Zentren bibelwissenschaftlicher Forschung in den USA oder in Europa. Die Thematisierung der Oppositionen von Zentrum und Peripherie sowie die Bedeutung des Sprechens vom Rand und die Selbstermächtigung, aus der eigenen Kultur für die eigene Gesellschaft und gegen die Dominanz europäisch-US-amerikanischer Wissenschaft biblische Exegese zu treiben, vereinte die Beiträge. In diesem Band von 1991 sind noch zwei Strömungen zumindest durch den Buchdeckel vereint, die im Nachfolgeband des Jahres 2008 „Still at the Margins” nicht mehr zueinander gefunden haben.23 Diese zwei Strömungen lassen sich nach ihren jeweiligen theoretischen und methodischen Vorannahmen unterscheiden: Einerseits realpolitisch ausgerichtete postkoloniale Theologien und Exegesen und andererseits literaturwissenschaftlich orientierte Ansätze, die nach der Politik der Texte und Lektüren fragen. Die politisch-postkolonialen Theologien berufen sich vor allem auf Frantz Fanon und gelegentlich auch auf W. E. B. Du Bois.24 Fanon, der durch Erfahrungen als französischer Soldat im 2. Weltkrieg und als Zeitzeuge des Algerienkrieges geprägt war, kritisierte das Konzept der Gewaltlosigkeit. Dieses sei nicht dazu in der Lage, den „Exhibitionismus der Macht“, der den Kolonialismus präge, zu besiegen.25 Zwischen Kolonisierern und Kolonisierten stehe vor allem ein Sachverhalt: die Macht, die mit Gewalt zu verteidigen oder mit Gewalt zu erringen sei. Du Bois wiederum interpretierte seine politischen Aktivitäten als Auseinandersetzung mit dem, was für ihn das Problem des 20. Jahrhunderts schlechthin war, nämlich der Tatsache der Segregation, die durch das, was er „color-line“ nannte, markiert und beständig reproduziert werde.26 Diese durch die Hautfarbe gezogene Grenze sei zu thematisieren, die Erfahrung des „black folk“, geprägt durch das gespaltene Bewusstsein („double consciousness“) des Ausgeschlossenen und das Leben unter dem „Schleier („veil“), sei nicht durch Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft aufzugeben, sondern vielmehr als Ausdruck eigener Identität, der „soul of the black people“, zu kultivieren und weiter zu tradieren.27 Beide Autoren verhandeln harte politische Machtfragen wie Elitekonkurrenz zwischen Kolonisierer und postkolonialen Machthabern und den angestrebten Elitewechsel. Die Beziehung von radikaler postkolonialer Exegese zur traditionellen Exegese wird von ihren Vertretern als Kampf um Stimme, Sprechen, Erhalt und Durchsetzung eigener Traditionen und Positionen usw. verstanden. Etwa 23 Rasiah S. Sugirtharajah, Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, London 2008. 24 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1967 [Orig.: Les damnés de la terre, 1961]; W. E. Burghardt Du Bois, The Souls of the Black Folk. Essays and Sketches, Chicago 1904. 25 Fanon, Die Verdammten, 41–7. 26 Du Bois, Souls, 5. 27 Ebd., 131.
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seit dem Jahr 2000 werden verstärkt Ansätze aus den minority studies aufgenommen, die den wissenschaftlichen Diskurs als solchen als hegemonial definiert und dem Gesprächspartner, der als Repräsentant des hegemonialen Diskurses empfunden wird, die Anerkennung und oft genug das Rederecht entzieht. Aus dieser Haltung heraus wird der universitär-disziplinären Exegese, einschließlich der feministischen und befreiungstheologischen, vorgeworfen, diese hätten sich selbst der imperialen Rhetorik der Unterdrückung verschrieben. Musa W. Dube etwa fordert die Achtung vor regionalen, partikularen Traditionen ein. Sie kritisiert die feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza scharf und wirft ihren Arbeiten vor: „Es ist mein Ziel zu zeigen, dass sich diese Bemühungen [der Arbeiten von Schüssler-Fiorenza; LB], trotz ihrer befreienden Absichten, guten Versprechungen und bedeutenden Beiträge, in die imperialen Rhetorik der Unterdrückung eingeschrieben haben.“28
In dieser Sichtweise gelten sowohl die universalen Werte als auch die Behauptung, dass es möglich sei, die Wirklichkeit wissenschaftlich richtig und wahr zu analysieren, als Teil des epistemischen Systems des Westens. Nach Swapan Chakravorty ist selbst die Forderung Edward Saids nach „speaking truth to power“ in diesem epistemischen System gefangen.29 Saids Position, die vielen als radikal erscheine, folge nach wie vor den „epistemischen Regeln, die das Feld der Wahrheit konstituieren ohne irgendwelche positiven Aussagen über seinen Inhalt zu machen“.30 Das Insistieren auf einem radikalen Bruch mit dem, was als „epistemisches System des Westens“ beschrieben wird, trifft das Selbstverständnis der historisch-kritischen Exegese im Kern und macht ein Gespräch, einen Austausch und wechselseitige Anregungen nahezu unmöglich. Etwas anders sieht es bei der postkolonialen Exegese aus, die sich auf das Dreigestirn Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha beruft.31 Alle drei genannten Autoren haben ihre Ausbildung und ihre akademische Karriere im Kontext der US-amerikanischen Literaturwissenschaft und der Cultural Studies erfahren. Die amerikanische Literaturwissenschaft als solche versteht sich als die Leitdisziplin der humanities und positioniert die in ihr
28 Musa W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 26f. 29 Swapan Chakravorty, Vorwort, in: Sumit Chakrabarti, The Impact of the Postcolonial Theories of Edward Said, Gayatri Spivak, and Homi Bhabha on Western Thought : The Third-World Intellectual in the First-World Academy, Lewiston 2011, I–V. 30 Chakravorty, Vorwort, III. 31 Edward Said, Orientalismus, Frankfurt 1981; Gayatri Chakravorty Spivak, Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, hg. v. Andreas Nehring und Doris Feldmann, Stuttgart 2014. [Orig.: A Critique of Postcolonial Reason]; Homi K. Bhabha, Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien/Berlin 2012.
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geführten Debatten als die international bedeutendsten Diskurse der Gegenwart.32 Die in der postkolonial inspirierten Literaturwissenschaft verhandelten Themen konzentrieren sich auf Texte, die danach analysiert werden, inwiefern sie einen eurozentrischen oder westlichen hegemonialen Diskurs führen und eine Textstrategie verfolgen, die Europa und den Westen als Zentrum, in dem alles Wichtige passiere, und die Peripherien als die leblosen Landschaften, die Objekte der Aktivitäten dieses Zentrums sind, definiere. Edward Said bezeichnet die Orientwissenschaften des 19. Jh. als „ein Wissenssystem über den Orient“.33 Dieser Orientalismus sei eine „Art bewußte menschliche Arbeit“, d. h. eine Form von Wissensproduktion, die koloniale Dominanz gleichermaßen voraussetze wie ermögliche.34 Diese Definitionsmacht des Zentrums drücke sich in master-narratives aus, die keinen Raum für die Sichtweisen der Minderheiten und deren eigene kulturellen Traditionen und Lebensweisen einräumten. Sie erschaffen den „Anderen“ als ein nach den eigenen Interessen und Wünschen geformtes Phantasma, verwehren ihm aber die „eigene Stimme“ und degradieren ihn zum „Subalternen“, so Spivak.35 Das geschehe etwa auch, wenn „Liberaldemokraten“ die subalterne Frau der Diaspora zu einer Form des Sprechens bringen, das eher ein „Ent-sprechen“ sei und letztlich vor allem den Effekt habe, die US-amerikanische Basis der Hegemonie zu erweitern.36 Nach Bhabha entwickelten die Minderheiten, die sich dem Druck des Kolonialismus ausgesetzt sahen, als Reaktion auf diese Dominanz der europäisch-westlichen Interessen und Sichtweisen hybride Identitäten, die sich in ihrem Verhalten und ihrer symbolischen Kommunikation an die Kolonisierer anpassten und so eine Mimikry durchführten, die wiederum Möglichkeiten zur kreativen und subversiven Reaktion boten.37 In diesem Kontext, in den der oben genannte Sugirtharajah und auch Fernando F. Segovia einzuordnen sind, gibt es eine größere Bereitschaft, sich mit anderen akademischen Diskursen zu vernetzen, wie etwa die Erstellung eines Kompendiums zur postkolonialen Bibelkritik belegt.38 Bereits die gewählte Gattung des Kompendiums, das alle neutestamentlichen Schriften von Matthäusevangelium bis zur Johannesapokalypse behandelt, spiegelt die Übereinstimmung mit traditionellen Forschungsstrategien wider, nach denen Wissenschaft sich ihren Gegenstand umfassend und erschöpfend zu erschlie-
32 Chakravorty, Vorwort, III: Alle drei Autoren hätten die Spannung zwischen „professional training and political positions” empfunden. Sie teilten aber die Annahme von der Überlegenheit der westlichen Wissenschaft („the superiority of Western epistemic systems”). 33 Said, Orientalismus, 14. 34 Ebd., 24. 35 Spivak, Kritik, 393–396. 36 Ebd., 389f. 37 Bhabha, Hybridität, 61–77. 38 Fernando F. Segovia / Rasiah S. Sugirtharajah, A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings (The Bible and Postcolonialism 13), London 2007.
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ßen sucht. In diesem Kontext wird eine mildere Rhetorik bevorzugt, der Kontakt zur feministischen und befreiungstheologischen Bibelkritik ebenso gesucht, wie Kritik an antijudaistischen Aussagen in der postkolonialen Theologie ernst genommen.39 Dennoch werden die Behauptung der Marginalisierung und die Rhetorik des Sprechens vom Rand aufrechterhalten.40 Die Beiträge in „Still at the Margins” fragen nach der gemeinsamen Basis der postkolonialen Exegese mit anderen Hermeneutiken und mit der klassischen Bibelwissenschaft.41 Letztere bleibt dennoch eine Art Feindbild. Moderne Bibelwissenschaften seien eine europäische Erfindung und eine eurozentrische und westlich-dominierte Disziplin geblieben.42 Sie dienen nach Sugirtharajah nach wie vor „europäischen und westlichen Interessen“ und haben unglücklicherweise ihre Position im Zentrum behauptet.43 Wie hat nun die Bibelwissenschaft des „Zentrums“ auf die postkoloniale Exegese reagiert?
4.
Die Kritik von John J. Collins (2005) und Ulrich Luz (2014)
Das Gespräch zwischen den Vertretern einer postkolonaialen Exegese und der historisch-kritischen Exegese lässt sich zunächst in einen größeren Kontext einordnen. Mit Beginn der 90er Jahre haben sich sowohl die Geschichtswissenschaft wie auch die historisch orientierten Literaturwissenschaften mit der Herausforderung durch kulturwissenschaftliche und durch den Poststrukturalismus inspirierte Zugangsweisen auseinandergesetzt. Die Konfliktlinie lässt sich dabei recht klar als Streit um die Wahrheit der Wirklichkeit bezeichnen. Das lässt sich etwa an dem 1997 erschienenen Buch des Neuzeithistorikers Richard Evans, Cambridge, zeigen: „In Defence of History“, die unmittelbar erfolgte deutsche Übersetzung trägt den Titel: „Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis“.44 Evans diskutiert die Frage, in welchem Maße „zwischen wirklicher, objektiver Geschichtswissenschaft und 39 Kwok Pui Lan, „Die Verbindungen herstellen. Postkolonialismus-Studien und feministische Bibelinterpretation“, in: Andreas Nehring / Simon Tielesch (Hg.): Postkoloniale Theologie: Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013 (ReligionsKulturen 11), 323–346. 40 Sugirtharajah, Margins. 41 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Transforming the Margins – Claiming Common ground. Charting a Different Paradigm of Biblical Studies, in: Sugirtharajah, Margins, 22–39; Tat-Siong Benny Liew, When Margins Become Common Ground. Questions of and for Biblical Studies, in: Sugirtharajah, Margins, 44–55. 42 Sugirtharajah, Margins, 6. 43 Ebd. 44 Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis [Orig.: In Defence of History, Ort Jahr], Frankfurt 1998.
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dem ideologisch verzerrten Erforschen und Schreiben von Geschichte“ unterschieden werden kann, und wendet sich dabei auch eindringlich gegen postmoderne Theoretiker, die die Ansicht verträten „alle Perspektiven auf die Vergangenheit seien gleichermaßen voreingenommen, weil die Historiker nicht viel mehr machten, als den Quellen ihre eigenen Überzeugungen und Vorurteile aufzuzwingen“.45 Evans hält diesem letztlich entgegen, Geschichte sei wirklich geschehen und sie lasse sich einigermaßen objektiv darstellen und interpretieren.46 Angesichts der Vehemenz, mit der in der Geschichtswissenschaft über die Legitimität postmoderner und postkolonialer Ansätze geurteilt wird, erscheint die Debatte in Theologie und Exegese vergleichsweise zurückhaltend. Die Reaktionen exegetischer Fachvertreter auf die Herausforderungen der postkolonialen Exegese sind eher an den gemeinsamen Möglichkeiten der verschiedenen Zugangsweisen als an Verdikten interessiert. Im Jahr 2005 äußerte sich John J. Collins, Professor of Old Testament Criticism and Interpretation an der Yale Divinity School, und im Jahr 2014 Ulrich Luz, Emeritus für das Neue Testament der Universität Bern. Collins nennt seine Schrift “The Bible after Babel. Historical Criticism in a Postmodern Age”.47 Seine Überlegungen zur Stellung der Historischen Kritik in der Postmoderne gehen zurück auf die Gunning Lectures an der Universität Edinburgh im Jahr 2004. Ihm war das Thema gestellt: „The Bible at the Beginning of the Twenty-first Century“ (VII). Der Titel der Publikation rekurriert auf die babylonische Sprachverwirrung (Gen 11,3–9), die Collins auf die Situation der biblischen Wissenschaften überträgt. Eine Vielzahl verschiedener Meinungen würden vorgetragen, ohne dass sich aus diesen nach eingehender Diskussion ein Konsens in den Grundfragen der wissenschaftlichen Disziplin ergebe. Anstelle von Wahrheiten gebe es nur befristete Übereinstimmungen: „Als gesicherte Ergebnisse gelten ausschließlich solche, mit denen die meisten Leute für eine gewisse Zeit übereinstimmen.“ (11). Angesichts dieser Sachlage sei es geradezu widersinnig, dass genau dieser Exegese von postmodernen Kritikern ein totalitärer Wahrheitsanspruch unterstellt werde (11–17). Collins gesteht immerhin zu, dass die von Derrida und Foucault inspirierte Exegese oftmals weitergehe und tiefer frage als die historische Kritik, indem sie nämlich den Wahrheitsanspruch und die Moralität der Texte als solche thematisiere (17). Er geht dann recht ausführlich auf die postkoloniale Kritik des Grundnarrativs der hebräischen Bibel ein und setzt sich mit der von Said eingeforderten „Perspektive der Kanaanäer“ auseinander,48 d. h. mit einer
45 Evans, Fakten, 7. 46 Ebd., 242f. 47 John J. Collins, The Bible after Babel. Historical Criticism in a Postmodern Age, Grand Rapids 2005. Die Seitenzahlen im Text des folgenden Abschnitts verweisen auf dieses Werk. 48 Edward Said, Michael Walzer’s ‘Exodus and Revolution’. A Canaanite Reading, in: Grand Street 5,2 (1986), 86–106.
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Interpretation der Hebräischen Bibel, die die Landnahme, die Erwählung Israels und die israelzentrische Perspektive der Hebräischen Bibel kritisch hinterfrage (53–77). Er stellt fest, dass es eine Spannung zwischen der Option für die Armen, die die Hebräische Bibel formuliere, und der Erwählung Israels gebe. Die Hinwendung zu den Marginalisierten, den Witwen, Waisen, Armen und Fremden im Land, erfolge in der Bibel aus einer Perspektive, die zugleich bestimmte Menschengruppen radikal als „Kanaaniter“ marginalisiere, und darauf habe die postkolonial inspirierte „kanaanäische Perspektive“ zu Recht aufmerksam gemacht: Mit dem Anspruch auf Erwählung seien die Inbesitznahme des Landes, die Eroberung Kanaans und das Dahinschlachten der Kanaaniter verbunden (70). Allerdings sei es ein Unterschied, ob das Festhalten an der Erwählung bzw. an den Prinzipien eines Ethnozentrismus durch eine Minderheitengruppe erfolge, die selbst kolonisiert sei, oder ob es von Kolonisierern vertreten werde (71). Im Falle der Hebräischen Bibel diene der Ethnozentrismus Israels überwiegend der Selbsterhaltung und des Widerstands und nur selten der Unterdrückung und Entrechtung anderer (72–73): „Die Vorstellung einer göttlichen Erwählung Israels, der Kirche oder irgendeiner anderen Gruppe, ist nicht einfach deswegen von Kritik ausgenommen, weil sie in der Bibel deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Ihr Verdienst hängt vielmehr von dem Kontext ab, in dem sie auftritt, und von den Konsequenzen, die aus ihr gezogen werden.“
Während Collins postkoloniale Exegese vor allem in den Kontext der poststrukturalistischen Kritik an historischer Erkenntnis stellt, interpretiert Luz in seinem Buch „Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments“ aus dem Jahr 2014 postkoloniale Exegese als Teil der befreiungstheologischen Exegese.49 In einem Kapitel zur befreiungstheologischen Hermeneutik, überschrieben mit „Der Text als Befreiung zum Leben“, würdigt er diese vergleichsweise positiv, während die postkoloniale Hermeneutik eher negativ bewertet wird. Insbesondere wirft Luz der postkolonialen Exegese hegemoniale Ansprüche vor: „Allerdings zeigt Postkolonialismus – zumal an westlichen Akademien – Neigungen zu einer hegemonialen Theorie“ (292). In Auseinandersetzung mit Arbeiten von Musa Dube, Gerald West und Rasiah Sugirtharajah konzediert er zunächst, dass die Anliegen der Autoren nachvollziehbar seien. Sie verstünden aber selbst die Bibel als Problem und entwickelten einseitige Kritik und wenig Empathie für die Anliegen der biblischen Texte (266). Diese würden nicht als Dialogpartner verstanden, sondern einem postkolonialen Fragekatalog unterworfen, dem sie nicht genügen könnten und dessen Antworten bereits vorgegeben seien (279–281). Die Fremdheit der Texte und ihre eigenen Anliegen seien nur insoweit thematisiert, soweit sie in Beziehung zu den Prozessen der Kolonisierung und Entkolonisierung gebracht 49 Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 263–312. Die Seitenzahlen im Text des folgenden Abschnitts verweisen auf dieses Werk.
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werden könnten. In diesen Fällen würden sie zudem meist voreingenommen und einseitig kritisiert, nicht aber in ihren historischen Kontext eingeordnet und interpretiert.
5.
Postkoloniale Exegese und Theologie des Neuen Testaments
Angesichts des postkolonialen Selbstverständnisses erscheint das Bestreben, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie infrage zu stellen und umzukehren, als widersprüchlich. Sollte die postkoloniale Exegese unter diesen Bedingungen nicht viel mehr auf ihrer Position am Rand und als Teil einer Minderheitenkultur beharren und an dieser Sprecherposition festhalten? Ist das Verlassen der Ränder und das Sprechen von einem anderen Ort als dem des Randes („from the margins“) überhaupt erstrebenswert? In diesem Sinn betreibt Rubén Muñoz-Larrondo seine Exegese der Apostelgeschichte selbstbewusst vom hermeneutischen Ort des Randes.50 Er wolle ein Subjekt bleiben und sich die vollständige Kontrolle über die eigene Lektüre gerade dadurch erhalten, dass er seine Position am Rand nicht verlasse.51 Auch Dube ist wohl so zu verstehen, dass es eher um das Verharren in der eigenen Minderheitenposition geht. Sie fordert die Verdörflichung der Bibelwissenschaften, d. h. eine konsequente Positionierung in der Minderheitenkultur bzw. akademisch gesehen in den minority studies.52 Die Bereitschaft, an exegetischen Fachdiskussionen teilzunehmen, ist in der postkolonialen Exegese auch im Umfeld von Sugirtharajah und Segovia nicht gerade ausgeprägt. Oftmals stützen sich Arbeiten aus diesem Bereich auf die historisch-philologischen Leistungen der vergangenen Generationen, um auf diesen Schultern ihre postkoloniale Lektüre im Stil der US-amerikanischen cultural studies zu betreiben. Textstrategien, Positionierungen des Sprechers, der Adressaten und der Erzählfiguren und die ideologischen Fundamente der Texte werden zwar teilweise hellsichtig, teilweise aber auch stereotypisierend analysiert und thematisiert. Eigenständige historische Beiträge, die zu einem erweiterten Wissen über die Bibeltexte und ihre Abfassungsverhältnisse beitragen, fehlen völlig. Die tatsächlich anregenden Forschungen, d. h. Arbeiten, die neues Wissen hervorbringen und nicht nur vorhandenes Wissen auf seine 50 Rubén Muñoz-Larrondo, A Postcolonial Reading of the Acts of the Apostles, New York 2012 (Studies in Biblical Literature 147). 51 Ebd., 40: „being the subject in total control of my own reading without leaving my place”. 52 Musa Dube, Villagizing, Globalizing, and Biblical Studies, in: Justin Ukpong, Musa Dube u.a. (Hg.), Reading the Bible in the Global Village, Atlanta 2002, 41–64, hier 61.
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Entstehungsbedingungen befragen sowie oft genug einseitig als Teil imperialer Wissensproduktion abwerten, beziehen sich ganz überwiegend auf die Rezeptionsgeschichte der Bibel. Allerdings erfordert eine kritische wissenschaftliche Rezeption dieser Arbeiten Kenntnisse der jeweiligen historischen Epoche, die nicht zum Kern disziplinären Wissens in der neutestamentlichen Wissenschaft gehören, etwa Kenntnisse über Imperialismus und Kolonialismus. Da diese Kenntnisse nicht Teil der exegetischen Ausbildung sind, kann man als Neutestamentler oder Neutestamentlerin nicht sicher urteilen, ob etwa die Behauptung von Sugirtharajah, der Begriff „Missionsreise“ („missionary travel“) sei in der Forschung zur Apostelgeschichte Teil der Wissensproduktion des imperialistischen und kolonialistischen Zeitalters gewesen, tatsächlich stimmt bzw. in welcher Weise dies für den deutschen Begriff „Missionsreise“ oder, so die Lutherbibel von 1903, für die „Reise zu den Heiden“ ebenso zutrifft.53 Ebenso wenig sind disziplinär geschulte Neutestamentlerinnen und Neustestamentler ohne weiteres in der Lage, kritisch zu beurteilen, ob die Analyse von Laura Nasrallah zutrifft, nach der die US-amerikanische Sklaverei und der Bürgerkrieg die Arbeiten von Wissenschaftlern zur antiken Sklaverei und zur Kunstgeschichte, ja sogar die berühmte Statue der „Griechischen Sklavin“ von Hiram Powers aus dem Jahr 1851 beeinflusst habe.54 Allzu oft haben sich moralisch überzeugende und politisch plausible Lektüren und historische Analysen als überaus einseitig, wenn nicht gar fehlerhaft erwiesen Die These Saids, dass es eine imperialistische Wissensproduktion gegeben habe, die den Orient als Gegenbild Europas imaginierte, um ihn unterwerfen zu können, mag zutreffen. Seine Darstellung des kleinen geisteswissenschaftlichen Faches der Orientalistik aber hat dessen Wahrnehmung völlig verändert. Das in seinen Anfängen humanistisch orientierte und als schützensund liebenswert angesehene Orchideenfach steht nach Said als inhumaner Akteur der imperialistischen und kolonialistischen Wissensproduktion da, obwohl die entscheidende Wissensproduktion für den Kolonialismus in anderen Fächern stattgefunden hat.55 53 Rasiah S. Sugirtharajah, Exploring Postcolonial Biblical Criticism. History, Method, Practice, Chichester 2012, 73. 54 Laura Narallah, The Knidian Aphrodite in the Roman Empire and Hiram Power’s Greek Slave. On Ethnicity, Gender, and Desire, in: dies. (Hg.), Prejudice and Christian Beginning. Investigating Race, Gender, and Ethnicity in Early Christian Studies, Minneapolis 2009, 51–78. 55 Siehe dazu Lukas Bormann, The Jewish CEO and the Lutheran Bishop. The Impact of German Colonial Studies on Young Jewish and Christian Academics’ Cultural Narratives of Race, in: Lara Day / Oliver Haag (Hg.), The Persistence of Race. Change and Continuity in Germany from the Wilhelmine Empire to National Socialism, New York / Oxford 2017, 108–125; Ders., Der Einfluss des Kolonialismus auf den Antisemitismus in Deutschland (1880-1914). Das Judentum als inneres Kolonialvolk, in: Éva Kovács / Raul Cârstocea (Hg.), Anti-Semitisms in the Peripheries. Europe and its Colonies, 1880-1945, Wien 2018.
Postkoloniale Theologie des Neuen Testaments
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Ähnlich geht es der Bibelwissenschaft im postkolonialen Diskurs: Das im Rahmen der Universitätsfächer nicht gerade einflussreiche Fach, das zumindest in Deutschland, wo ja die kritische Bibelwissenschaft überhaupt entstanden ist, keinerlei unmittelbare Bedeutung für den tatsächlichen Kolonialismus und Imperialismus hatte, gilt als Repräsentant des hegemonialen Diskurses. Die Polemik postkolonialer Exegetinnen und Exegeten ist an dieser Stelle zudem oftmals unaufrichtig, wenn sie gerade die akademischen Verhältnisse in den USA von dieser Kritik ausnehmen, da dort die Etablierung von postcolonial studies gelungen sei. Oft genug werden die historisch-kritischen Bibelwissenschaften in Übereinstimmung mit den US-amerikanischen Ressentiments gegenüber dem Alten Kontinent als „europäisches“ Projekt abgewertet. Angesichts der US-amerikanischen Machtpolitik ist diese Umkehr der moralischen Verantwortung nicht nachvollziehbar. Kommen wir zur Ausgangsfrage nach einer postkolonialen Theologie des Neuen Testaments zurück und halten die Antwort fest: Es gibt keine postkoloniale Theologie des Neuen Testaments im Sinne einer umfassenden Darstellung der Gedankenwelt des Neuen Testaments und dessen Erschließung für das Verstehen der Gegenwart. Nun stellt sich die weiterführende Frage, warum es angesichts der recht breiten Debatte um postkoloniale Theorien möglich ist, eine Theologie des Neuen Testaments zu schreiben, ohne postkoloniale Exegese zu erwähnen? Ich gehe zunächst von zwei Beobachtungen aus: Beziehungslosigkeit und die Abstinenz gegenüber eigener historische Forschung. 1) Beziehungslosigkeit: In keiner der gängigen Theologien des Neuen Testaments wird auf die postkoloniale Theologie Bezug genommen. Umgekehrt werden etwa in dem Kompendium „Still at the Margins“ ausweislich des Autorenindex weder James Dunn noch Nicholas Thomas Wright, Udo Schnelle oder Rudolf Bultmann zitiert. Exegeten kommen nicht vor, dafür aber Derrida, Lyotard, Gramsci, Foucault und andere Theoretiker. Die postkoloniale Exegese bzw. Theologie der Gegenwart versteht sich als methodisch und theoretisch eigenständige anti-imperiale und positionale Lektüre der Bibel, die sich mit theologischer Exegese nicht wissenschaftlich befasst. 2) Historische Forschung: Postkoloniale Exegese bringt keine eigenständigen historisch-kritischen Analysen und Interpretationen der neutestamentlichen Schriften hervor. So sehr jede/r Neutestamentler/in heute gezwungen ist, die Ergebnisse der Alten Geschichte, der klassischen Philologie und der Judaistik zu berücksichtigen, wenn er selbst einen Forschungsbeitrag leisten will, so wenig gilt das für die postkoloniale Exegese. Diese bewegt sich eher auf der Ebene der „Theologie“, d. h. der Ebene, auf der die Gedankenwelt des Neuen Testaments und die Gegenwartsbedeutung der neutestamentlichen Schriften diskutiert werden. Sie tritt als eine Hermeneutik auf, die die Reflexion auf die dem Interpretationsprozess angemessene Haltung fordert. Sie verzichtet auf eigenständige Untersuchungen des historischen Textsinns, unterzieht aber die Ergebnisse anderer Forscher/innen einer postkolonialen Lektüre und Bewertung.
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Angesichts dieser Situation, die von Beziehungslosigkeit und Abstinenz geprägt ist, ist es sinnvoll, nach dem möglichen gemeinsamen Grund zu fragen, wie das Liew und Schüssler Fiorenza tun.56 Liew versucht diesen zu erschließen, indem er gemeinsame Fragen formuliert: „Was stellt die Bibel überhaupt dar?“ und „Warum sollte jemand wissenschaftliche Bibelkritik betreiben?“ Zudem solle auch die Bibelwissenschaft sich die Frage stellen und beantworten, was die sozialen Folgen ihrer Forschung seien.57 Diese eingeforderten Fragestellungen sind allerdings außerordentlich allgemein und stellen keine Forschungsfragen dar. Aus ihnen lassen sich keine produktiven Forschungsthemen ableiten, aus denen wiederum fachbezogene und methodisch reflektierte Arbeiten hervorgehen können. Schüssler Fiorenza stellt fest, dass sich das Denken an den Universitäten und Akademien gewandelt habe. Neben den historisch-kritischen Bibelstudien würden nun hermeneutisch-kulturelle Zugänge gleichberechtigt gewählt werden können.58 Sie sorgt sich allerdings um das Verhältnis von befreiungstheologischer, feministischer und postkolonialer Exegese. Die postkoloniale Exegese solle befreiungstheologische und feministische Hermeneutiken aufnehmen. Die Kraft der Bibel könne nur entfaltet werden, wenn die befreiungstheologische Kritik an den sozio-ökonomischen Verhältnissen und die feministische Hermeneutik des Verdachts aufgenommen würden und so alle Stimmen vom Rand zu Wort kämen.59 Auch in diesem Plädoyer werden eher allgemeine ideologische Dispositionen eingefordert, während die historische Kritik, die für die meisten Exegetinnen und Exegeten im Zentrum bibelwissenschaftlicher Wissensproduktion steht, nicht eigens vorkommt. Insofern sind diese Vorschläge wenig hilfreich, um die Bibelwissenschaften als eigenständiges und kritisches wissenschaftliches Fach lebendig zu erhalten. Die verschiedenen Fragestellungen sollten sich vielmehr dort treffen, wo sie tatsächlich genuine Forschungsbeiträge leisten können, die zueinander in Beziehung treten. Dabei sind zwei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. 1) Ein genuiner Beitrag der postkolonialen Bibelwissenschaft kann in der kritischen Re-Lektüre vergangener und gegenwärtiger Exegesen bestehen. Sie ist dazu in der Lage, unreflektierte Deutungskonstanten und das epistemische System, nach denen in der neutestamentlichen Wissenschaft zwischen bedeutend und unbedeutend, wahr und falsch entschieden wird, zur Diskussion zu stellen. Postkoloniale Exegese wirkt dann als Ideologiekritik in einer Rolle, die sie geschult zu übernehmen weiß. Gerade die Tendenz in den neuesten Entwürfen von Wright und Schnelle, Theologie des Neuen Testaments als Wissenserzählung zu entwerfen und als Meistererzählung zu präsentieren, be-
56 57 58 59
S. o. Anm. 40. Liew, Margins, 54f. Schüssler Fiorenza, Transforming, 30. Schüssler Fiorenza, Transforming, 39.
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dürfte einer kritischen Begleitung durch die Fragestellungen, für die die postkoloniale Exegese steht, nämlich solche Meistererzählungen auf ihre impliziten Imperative, Fundamentalismen und Ausblendungen zu befragen.60 Diese Re-Lektüre von Exegesen ist zudem bedeutsam für das wachsende Interesse an der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte biblischer Texte wie sie in der Encyclopedia of the Bible and Its Reception zum Ausdruck kommt. Die einseitige Fixierung auf die älteste Überlieferung ist auch in der historischen Exegese längst zugunsten der Erforschung der Wirkungen und Transformationen der biblischen Texte in ihren Rezeptionen aufgebrochen. 2) Ein zweiter Bereich, in dem die Fragen der postkolonialen Exegese für eine Theologie des Neuen Testaments weiterführend sind, liegt in der Intensivierung vernachlässigter Fragestellungen. Fragen von Status, Ethnizität, Unterdrückung, Zentrum und Peripherie, Kulturbegegnung, Kulturimperialismus, Mimikry, Wissenstransfer u. a. sind auch für die historische Kritik bedeutsam. Die postkoloniale Theorie gibt diesen Fragen eine profilierte Fassung und liefert, wenn auch keine Methode, so doch Analysekategorien. Die postkoloniale Exegese fragt zudem oftmals dort hartnäckig weiter, wo die historische Kritik aus sich selbst heraus die Arbeit eingestellt hat, etwa wenn sie hervorhebt, dass die Erwähnung von „Barbar, Skythe“ in Kol 3,11 unter den Fragestellungen der Ethnizität und Marginalisierung zu diskutieren sei, oder wenn sie darauf hinweist, dass der Exodus und die Landnahme auch aus kanaanitischer Perspektive zu interpretieren und der Konflikt zwischen der biblischen Option für die Armen und der Erwählung Israels zu thematisieren sei. Es wäre aber auch sinnvoll, wenn die postkoloniale Exegese ihre Beschränkung auf bestimmte Texte und bestimmte Themen selbst reflektieren würde. Sind dies wirklich die einzig relevanten Fragestellungen? Was heißt es, wenn man aus einem Textkorpus der über Jahrhunderte geschichtlich wirksam gewesen ist, nur die Passagen herausgreift, die sich der eigenen, an die Texte herangetragenen Fragestellung erschließen, andere aber völlig ignoriert? Die größte Schwäche der postkolonialen Exegese besteht allerdings darin, dass sie keinen Raum für eine wissenschaftliche Beschäftigung zulässt oder definieren kann, die ergebnisoffen, eigensinnig und nach einer methodischen disziplinären Logik arbeitet. Jede Wissenschaft braucht diesen Bereich der inneren Fachdebatte, die nach den der Wissenschaft eigenen Regeln geführt wird. Diese Regeln lassen sich zunächst vorläufig in Anknüpfung an Habermas als Antizipation des herrschaftsfreien Diskurses, in dem sich das bessere rationale Argument durchzusetzen vermag, beschreiben. Postkoloniale und historisch-kritische Exegese sollten gemeinsam die Bedingungen schaffen, die es ermöglichen, dass
60 Vgl. Bormann, Theologie des Neuen Testaments, 24–30.
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Lukas Bormann „im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf“.61
Es ist die politische Aufgabe des Wissenschaftlers, an der Herstellung dieser Bedingungen von Wissenschaft mitzuwirken. Seine wissenschaftliche Aufgabe hingegen ist es, neues und gesichertes Wissen hervorzubringen.
61 Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt 1991, 13f.
Postkoloniale Perspektiven in der Kirchengeschichte. Eine Bestandsaufnahme Ciprian Burlacioiu
1.
Einleitung
Gegenwärtige Debatten und Interessenfelder der Kirchengeschichte vermitteln einen Eindruck davon, wie das Verhältnis von Kirchengeschichte und Postkolonialismus in den Arbeiten von Kirchenhistorikern/innen in den Blick genommen wird. Eine theoretische Reflexion dieser Bezugnahme soll daher anhand einer Analyse der Beiträge des Heftes Verkündigung und Forschung (60 [2015], 2) vorgenommen werden, das zum Gebiet „Kirchengeschichte. Außereuropäische Christentumsgeschichte“ erschienen ist und von zwei profilierten Vertretern des Faches – Klaus Koschorke und Martin Wallraff – herausgegeben wurde. Die dort diskutierten Beiträge vermitteln einen repräsentativen Einblick in gegenwärtige Debatten, da erstens dasjenige Gebiet der Kirchengeschichte – nämlich die „Außereuropäische Christentumsgeschichte“ –, das vom Gegenstand her am nächsten zu den Debatten des Postkolonialismus stehen dürfte, in den Blick genommen werden kann. Und zweitens sind die Beiträge dieses Heftes selbst als Überblicksdarstellungen über aktuelle Fachliteratur zu den geographischen Gebieten und kirchengeschichtlichen Epochen Antike und Mittelalter, Asien, Afrika, Lateinamerika und die USA in der Neuzeit, sowie zu transkontinentalen Interaktionen gestaltet. Die berücksichtigte Literatur kann somit durchaus als repräsentativ angesehen werden. Das gilt umso mehr, als die in diesem Heft rezipierte Literatur international ist und im Gespräch mit anderen Disziplinen steht. Der Bezug kirchengeschichtlicher Forschung zum Postkolonialismus ist in den Beiträgen nicht unmittelbar gegeben, und diese Bezugnahme stand auch nicht im unmittelbaren Interesse der Herausgeber und Autoren. Dennoch stehen sowohl die Beiträge des Heftes, als auch die dort besprochene Literatur nicht in einem leeren Diskursraum, sondern beziehen sich auf aktuelle kulturwissenschaftliche Debatten, die in enger Beziehung zu vielen Anliegen des Postkolonialismus stehen. Dieser Beitrag versteht sich als eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Diskurslage auf dem Gebiet der Kirchen- und Christentumsgeschichte. Vorab muss jedoch betont werden, dass viele der hier einbezogenen Titel nicht kirchengeschichtliche Arbeiten im engeren Sinne des Wortes sind, also
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Arbeiten, die über das Geschichtliche hinaus auch das Theologische herauszuarbeiten versuchen, sondern dass es sich um Christentums- und religionsgeschichtliche Studien handelt, die sich, ohne einen expliziten theologischen Standpunkt zu formulieren, ihrem Gegenstand nähern: das Werden des Christentums in Geschichte und Gegenwart. Da die Verschränkung zwischen den verschiedenen Debatten ohnehin groß ist, erscheint eine formelle Aufteilung in kirchengeschichtliche und nicht-kirchengeschichtliche Ansätze als unzweckmäßig. Allerdings zeigt bereits ein kursorischer Überblick über gegenwärtige Publikationen, dass in Bezug auf das Verhältnis von Kirchengeschichte und Postkolonialismus konstatiert werden kann, insofern als kirchengeschichtliche Historiographie in der Tradition des Faches interdisziplinär bleibt indem sie das Instrumentarium und die Methoden anderer Wissenschaften, wie etwa der Ethnologie, der Anthropologie, der Literaturwissenschaft, der Allgemeingeschichte oder der Religionswissenschaft aufnimmt, die bisher sehr viel stärker die postkoloniale Perspektive mit einbezogen haben. Zu fragen ist allerdings ob der in der hier diskutierten Publikation gebrauchte Begriff „Außereuropäische Christentumsgeschichte“ nicht in einem Widerspruch zu Ansatz und Anspruch postkolonialer Theorien steht? Denn mit dem „Außereuropa“- Begriff wird durch eine Hintertür ein gewisser Eurozentrismus zum Ausdruck gebracht, den postkoloniale Ansätze ja gerade kritisieren und zu überwinden suchen. Da aber in der deutschen Sprache terminologisch keine bessere Alternative zur Verfügung zu sein scheint, geben die Herausgeber des Heftes diese Bezeichnung nicht auf, allerdings nicht ohne sich der Gefahr des Eurozentrismus bewusst zu sein indem sie kritisch fragen: ,„Ist das Wichtigste an der Kirchengeschichte Koreas, dass es nicht Europa ist? Würde umgekehrt ein afrikanischer Kirchenhistoriker, der über Karl den Großen oder Martin Luther spricht, diesen Gegenstand als ‚außer-afrikanische Kirchengeschichte‘ beschreiben?“1
So wird eine problematische Terminologie zum Anlass genommen, die eigene Perspektivität auf den Gegenstand bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. Indem der/die Historiker/in sich selbst und dem Leser darüber Rechenschaft gibt, nimmt er/sie eine Zentralforderung des Postkolonialismus auf: die Dezentralisierung und die De-normierung der eigenen Perspektive. Entsprechend werden daher asiatische, afrikanische oder lateinamerikanische Zugänge zur heiligen Schrift und zum Christentum in der Geschichte und Gegenwart für genauso berechtigt erklärt wie europäische oder nordamerikanische. Das Eingeständnis der Perspektivität und ihrer Relativität gilt selbstverständlich auch für den Autor dieser Zeilen als ein an einer deutschen Universität tätiger Kirchenhistoriker. Das Thema „Kirchengeschichte und Postkolonialismus“ dürfte für Kirchenhistorikern/innen, die aus einer anderen Perspektive
1
Klaus Koschorke / Martin Wallraff, Zu diesem Heft, in: VF 60 (2,2015), 82–83, hier: 82.
Postkoloniale Perspektiven in der Kirchengeschichte
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und vor einem anderen Hintergrund schreiben eine andere Relevanz und Resonanz haben. Die Fragen und die Themen, zu denen man sich zu verhalten hat, stellen sich aber in einer globalisierten Welt für alle auf ähnliche, wenn nicht gleiche Weise.
2.
Epochen und Regionen
Martin Wallraff tituliert seinen Beitrag „Orientalisches Christentum. Eine ‚Weltreligion‘ in Antike und Mittelalter“2. Damit bewegt sich Wallraff als einziger Autor des Heftes außerhalb der Neuzeit. Die Literatur, die hier ausführlich besprochen wird, ist vorwiegend deutschsprachig. Das älteste Buch darunter ist das opus magnum vom Wolfgang Hage3. Der einzige ursprünglich auf Englisch erschienene Titel ist das Buch von Philip Jenkins4. Die anderen Titel sind Werke der an deutschen Universitäten tätigen renommierten Kirchenhistorikern und Ostkirchenkundler: Christian Lange / Karl Pinggéra5, Martin Tamcke6 oder Haçik Rafi Gazer / Christian Lange7. Wallraff nähert sich dem orientalischen Christentum, indem er die Frage nach den Anfängen der außereuropäischen Christentumsgeschichte – und somit implizit des außereuropäischen Christentums – stellt. Wenn allerdings die Frage so formuliert wird, wirkt sie so bizarr, dass sich eine Antwort fast von selbst aufdrängt: „Das Christentum ist auch vorher [vor dem Beginn europäischer Expansion in Übersee in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s] schon und über weite Strecken seiner Geschichte «außereuropäisch». … Für mehr als die erste Hälfte seiner Geschichte lagen die Schwerpunkte eindeutig außerhalb Europas.“8
Damit ist aber eine wichtige Aussage im Blick auf ein allgemeines Desiderat innerhalb der Postkolonialismus-Debatte, nämlich die nach der Überwindung einer eurozentrischen Perspektive, bereits für Antike und Mittelalter getroffen worden: „dass das Christentum seiner Genese und Geschichte nach primär eine außereuropäische, nämlich: orientalische Religion ist.“9 Damit darf eine postkoloniale Perspektive in der Kirchengeschichte angenommen werden, die in der historischen Konstellation des orientalischen Christentums selbst ihre 2 3 4 5 6 7 8 9
Martin Wallraff, Orientalisches Christentum. Eine «Weltreligion» in Antike und Mittelalter, in: VF 60 (2015), 2, 84–91. Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum, Stuttgart 2007. Philip Jenkins, The Lost History of Christianity, New York 2008. Christian Lange / Karl Pinggéra, Die altorientalischen Kirchen, Darmstadt 22011. Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt, München 2008. Haçik Rafi Gazer / Christian Lange (Hg.), Die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition, Darmstadt 2013. Martin Wallraff, Das Orientalische Christentum, 84. Ebd., 91.
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Grundlage hat. Martin Wallraff entfaltet einige Grundzüge der Geschichte orientalischer Kirchen entlang der besprochenen Literatur. Auf die Frage aber, warum dieser „weitgehend außereuropäische Charakter des Christentums in Antike und Mittelalter [gegenwärtig] so wenig wahrgenommen“ wird, antwortet Martin Wallraff mit dem Hinweis, dass diese alten christlichen Traditionen „heute keine lauten Fürsprecher mehr haben: Es ist die Rede von heute untergegangenen Kirchen oder von Kirchen, die im Vergleich zu ihrer einstigen Größe heute nur noch als Schatten ihrer selbst zu bezeichnen wird“10.
2.1
Asien (ohne Zentralasien und dem Nahost)
Peter C. Phan ist gebürtiger Vietnamese und wirkt als Professor für Catholic Social Thought an der Georgetown University (USA). Zuerst geht es Phan um einige Überblicksdarstellungen der Geschichte des Christentums in Asien, von denen hier zwei besonders zu erwähnen sind. Die Arbeit von S.H. Moffett11 charakterisiert Phan bereits am Anfang als Standardwerk. Im ersten Band behandelt Moffett ausführlich die Geschichte des Christentums in den unterschiedlichen Kontexten Asiens vom ersten bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Im zweiten Band entfaltet er die Geschichte von 1500 bis 1900 und einen wichtigen Platz bekommen dabei Ausführungen über die römisch-katholische bzw. die protestantische Mission. Die Meta-Erzählung dieses Bandes bleibt aber nicht in einem triumphalistischen Unterton verhaftet, sondern stellt nüchtern die Geschichte des Christentums mit den entsprechenden Progressionsund Regressionsbewegungen dar. Diese Vision spiegelt sich auch in einigen von Moffett herausgearbeiteten, allgemeinen Entwicklungslinien wieder. So ist fest zu halten, dass auch wenn das Christentum um 1900 ca. 20 Millionen Gläubige zählen konnte, diese Zahl im Vergleich mit den ca. 830 Millionen Asiaten im Blick auf den gegebenen Zuwachs ernüchternd ist. Die Geschichte des Christentums in Asien war im 19. Jh. – dem goldenen Zeitalter der protestantischen Mission – vielfältig belastet durch „ungerechte und immoralische Praktiken, wie Alkohol-, Waffen- und Opiumhandel, den Sklavenhandel und generell ungerechte Vertragsbeziehungen.”12
Christliche Mission stand in dieser Zeit eng in Verbindung mit „zivilisierender Mission“, was wiederum eine Verbindung mit dem Kolonialismus und dem kulturellen Imperialismus bedeutete, wie Phan feststellt. Im Vergleich mit neueren Entwürfen zum 19. Jh., die sich intensiver damit auseinandersetzen,
10 Ebd., 84. 11 Samuel Hugh Moffett, A History of Christianity in Asia. Zwei Bände, New York 1992, 2005. 12 Peter C. Phan, Historical Scholarship on Asian Christianity, 2000–2015, in: VF 60 (2015), 2, 82–107, hier: 93.
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wie das Christentum durch einheimische Christen angeeignet und transformiert wurde, steht Moffett in seinem Ansatz relativ nah an einer traditionellen missionarischen Perspektive auf der Geschichte des Christentums in Asien. Trotzdem erkennt auch Moffett, wie Phan hervorhebt, dass das 19. Jahrhundert als Ausgangspunkt des Aufstiegs asiatischer Kirchen angesehen warden kann.13 Ein weiteres Nachschlagewerk, das von Phan einbezogen wird, ist die von R.E. Hedlund herausgegebene ‚Oxford Encyclopaedia of South Asian Christianity’. Interessant ist, dass dieses Buch neben der Perspektive auf eine Reihe von asiatischen Ländern auch die globale asiatische Diaspora miteinbezieht. Im Blick auf die Länder selbst interpretiert Phan die Perspektive der Enzyklopädie als jene der süd-asiatischen Kirchen selbst und ihrer Indigenisierung und Kontextualisierung14. Des Weiteren rezipiert P. Phan eine Anzahl von Studien zu Indien, China, Korea, den Philippinen und Vietnam. An der Abhandlung von R.E. Frykenberg15 hebt Phan hervor, dass der Autor den Prozess der Christianisierung Indiens sowohl durch ausländische Missionare als auch durch einheimische Konvertiten ins Zentrum stellt. Gegen hinduistisch-nationalistische Einheitsvorstellungen („One Nation, One State, One Culture, One Religion, and One Language“) unterstreicht Frykenberg „sowohl die historische Vielfalt indischer Identitäten, als auch den Bindestrich-Charakter der indischen Christenheit“16. Das Buch von L. Fernando und G. Gispert-Sauch17 umrahmt sechs historische Kapitel mit theologischen Ausführungen: über den Sonntagsgottesdienst und die Rolle der Bibel darin, über Jesus aus der Perspektive indischer Religionsführer und Künstler, sowie über den historischen Jesu und die Christologie; das Buch endet schließlich mit einem theologischen Exkurs über die Auferstehung Jesu und die Trinität. Durch diesen theologischen Rahmen bekommt die Studie ein eigenständiges Profil im Vergleich zu den sonstigen historischen Arbeiten. Neben Samuel Azariah, dem ersten indischen anglikanischen Bischof, wird hier auch eine weitere Reihe von einheimischen Kirchenführern genannt wodurch die indische Christentumsgeschichte mit Gesichtern personalisiert wird. Den wichtigsten Teil in Phans Rezension nimmt China ein und er zitiert eingangs die Beschreibung der geschichtlichen Dynamik des chinesischen Christentums bei D.H. Bays18: 13 Samuel Hugh Moffett, A History, 645 cf. Peter C. Phan, Historical Scholarship, 94. 14 Peter C. Phan, Historical Scholarship, 94. 15 Robert Eric Frykenberg, Christianity in India. From Beginnings to the Present, Oxford 2008. 16 Ebd., 96. 17 Leonardo Fernando / George Gispert-Sauch, Christianity in India. Two Thousand Years of Faith, New Delhi 2004. 18 Daniel H. Bays, A New History of Christianity in China, Massachusetts 2012.
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Ciprian Burlacioiu „Die chinesischen Christen waren zuerst Teilnehmer, dann untergeordnete Partner der ausländischen Missionare, zuletzt jedoch die Erben und alleinigen ‚Eigentümer‘ der Chinesischen Kirche.”19
Diese Beschreibung bezieht sich auf den ganzen Verlauf der Christentumsgeschichte in China angefangen mit der „nestorianischen“ Mission im 7. Jh., über die unterschiedlichen Etappen unter chinesischen Dynastien, kolonialen Einwirkungen und Kommunismus, und sie betrifft Katholiken und Protestanten gleichermaßen. Die Studie von E.P. Young20 führt vor, wie Frankreich nach den ungleichen Verträgen von Tianjin (1858) und Beijing (1860) als Schutzpatronin der römisch-katholischen Kirche aufgetreten ist und welch schädliche Konsequenzen dies für eine harmonische Entfaltung einer indigenen Kirche hatte. Die Rolle Frankreichs hatte unter westlichen, katholischen Missionaren Befürworter, aber auch scharfe Kritiker wie den belgischen Lazarist Vincent Lebbe. Dieser erfuhr die Opposition französischer Bischöfe, wurde auf die Einwirkung französischer Autoritäten aus China ausgewissen, kehrte aber zurück und entzog sich indem er 1920 die chinesische Staatsbürgerschaft annahm, dem weiteren französischen Zugriff. Diese Methode fand Nachahmung und wurde von den Päpsten Benedikt X. und Pius XI. begrüßt. Unter dem letzteren wurden 1926 in Rom sechs chinesische Priester zu Bischöfen geweiht, was zur Schwächung der Kontrolle des französischen Protektorats über die römisch-katholische Kirche beigetragen hat. Zur endgültigen Beseitigung dieses Protektorats kam es allerdings erst 1949 mit dem Aufkommen eines kommunistischen Regimes. Young konstatiert zusammenfassend am Ende seines Buches „eine ironische Ähnlichkeit zwischen dem französischen Kolonialsystem und der Kommunistischen Regierung der Volksrepublik China”21, welche sich die römisch-katholische Kirche zu unterstellen und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versucht haben. In diesem Fazit wird deutlich, wie ambivalent das Verhältnis zwischen Frankeich als formell schützender Kolonialmacht und der katholischen Kirche war. Das Buch von Lian Xi22 verlässt die Geschichte des missionarischen Christentums und widmet sich den aufblühenden unregistrierten Hauskirchen23. Dieses „Volkschristentum“ wird weiter definiert als „Versuch der chinesischen Protestanten das Christentum in China zu indigenisieren”24 mit Elementen eines antikolonialen Nationalismus, charismatischen Revivalismus, chinesisch inspirierten Millenarismus und Praktiken aus traditionellen chine-
19 Ebd., 1. Vergleiche Peter C. Phan, Historical Scholarship, 97. 20 Ernest P. Young, Ecclesiastical Colony: China’s Catholic Church and the French Religious Protectorate, New York 2013. 21 Peter C. Phan, Historical Scholarship, 99. 22 Lian Xi, Redeemed by Fire. The Rise of Popular Christianity in Modern China, Connecticut 2010. 23 Peter C. Phan, Historical Scholarship, 100. 24 Ebd., 100.
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sischen Religion. Das Gleiche gilt auch für das römisch-katholische Christentum mit dem Hauptunterschied, dass Lebbe und andere chinesische und westliche Aktivisten nicht in die kirchliche Unabhängigkeit gegangen sind, sondern die Verbindung mit Rom gesucht und gefördert haben. Den Philippinen nähert sich Phan anhand der Studie von J.D. Blanco25, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft und Geschichte des Kolonialismus. Das Buch ist nach Phan eine überzeugende Darstellung des historischen Kontextes, und trägt entscheidend zum Verstehen des römischen Katholizismus auf den Philippinen bei. Im Mittelpunkt steht die Beschreibung der „Vermischung von Christentum, westlicher Aufklärung und einheimischer Elemente während des Aufkommens des modernen kolonialen Staats“26. Der Versuch der Spanier auf den Philippinen einen Kolonialstaat als eine „imagined community“ einzurichten, stützte sich auf einen dreifachen Prozess der „Hispanisierung, Christianisierung und ‚Philippinisierung‘“27. Im Prozess der Christianisierung haben die kolonialen Autoritäten den Missionaren die dem Papst unterstellt waren die Zuständigkeit der Pfarreien entzogen, und diese einem einheimischen weltlichen Klerus anvertraut. Dieser unterstand dem lokalen Erzbischof und den spanischen Autoritäten. Wichtige Element der kolonialen Gesellschaft auf den Philippinen waren die Koexistenz und die Austauschprozesse zwischen dem hispanisierten Christentum und der einheimischen Tradition.
2.2
Afrika
Klaus Hock eröffnet seinen Beitrag mit der Monumentaldarstellung von Adrian Hastings28. Diese setzt aber nicht erst im 15. Jh. ein, sondern mit einem Rückblick auf die nordafrikanischen und äthiopischen Traditionen. Hock sieht darin ein wichtiges Statement gegen das weit verbreitete Narrativ vom Christentum in Afrika als einer „missionarischen Religion“. Ist aber die Geschichte des Christentums in Afrika vor dem 15. Jh. lediglich eine Vorgeschichte der afrikanischen Kirchengeschichte? Diese Annahme könnte prinzipiell darauf hindeuten, dass außereuropäische Christentumsgeschichte im allgemeinen und afrikanische im Besonderen lediglich als Epiphänomene europäischer Kirchengeschichtsschreibung zu sehen sind, was aber sowohl Hastings, als auch Hock bestreiten.29 Die afrikanische Kirchengeschichte wird nun von Hastings 25 Juan D. Blanco, Frontier Constitutions. Christianity and Colonial Empire in the Nineteenth-Century Philippines, California 2009. 26 Ebd., 1. Vergleiche Peter C. Phan, Historical Scholarship, 104. 27 Peter C. Phan, Historical Scholarship, 105. 28 Adrian Hastings, The Church in Africa: 1450–1950, Cambridge 1994. 29 Vgl. Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte. Ein vernachlässigter Kontinent zwischen kontextueller Historiographie und globaler Kirchengeschichtsschreibung, in: VF 60 (2015), 2, 108–120, hier: 110.
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als so verflochten mit den lokalen Kontexten dargestellt, dass Hock konstatierend feststellt: „Afrikanische Geschichte ist ohne Christentumsgeschichte nicht verständlich – und vice versa“30. Hock interpretiert die Aussagen Hastings über den bestimmten theologischen Beitrag der Kirchengeschichte Afrikas folgendermaßen: „Den afrikanischen Beitrag einer Kirchengeschichte Afrikas scheint er unter anderem am Festhalten an einer hoffnungsvollen Emanzipation zu sehen, die sinnbildlich darin zum Ausdruck gebracht wird, dass «Äthiopien» seine Hände nach Gott ausstreckt (Ps 68, 31)“31.
Neben westlichen Wissenschaftlern treten immer stärker auch Stimmen der Fachvertreter aus Afrika in Erscheinung. So berücksichtigt Klaus Hock die Arbeiten von Elizabeth Isichei32. Zwei Punkte wären hier erwähnenswert, die Hock bei der nigerianischen Autorin hervorhebt: Erstens das Problem „der Grenzziehung zwischen «authentisch» inkulturieren, «synkretistisch» oder «neo-pagan», letztlich nicht-christlichen Formen des Christlichen“33. Damit spricht Isichei die Marginalisierung bestimmter einheimischen Formen des Christentums im Vergleich mit dem vermeintlich authentischen missionarischen Christentum an. Das impliziert auch die Frage nach der autoritativen Entscheidungshoheit: Sind Vertreter einer bestimmten Tradition (insbesondere der westlich-missionarischen) berechtigt darüber zu entscheiden, welche Religionsformen zum Christentum gehören und welche nicht? Der zweite Punkt schließt unmittelbar daran an und hinterfragt „scheinbar selbstverständliche Kategorien wie etwa manche ethnische Bezeichnungen“ als „Erfindungen“ westlicher Wissenschaftler. Klaus Hock stellt in den Arbeiten von Hastings, Isichei und B. Sundkler / Ch. Steed34 eine wichtige Gemeinsamkeit fest: die Zentrierung auf die Rolle afrikanischer Akteure und die konsequente Verabschiedung „von der eindimensionalen Sicht auf europäische Missionare als Akteure afrikanischer Christentumsgeschichte“35. Geradezu programmatisch bei Sundkler/Steed ist die Grundannahme, dass afrikanische Christen den entscheidenden Beitrag zur Christianisierung Afrikas geleistet haben, „allerdings ohne dass die von kolonialen Rahmenbedingungen geprägten sozio-ökonomischen und politischen Kontexte ausgeblendet würden“36. Hervorgehoben werden muss ebenfalls die Berücksichtigung der
30 Ebd., 111. 31 Ebd., 110. 32 Elizabeth Allo Isichei, A History of Christianity in Africa. From Antiquity to the Present, Michigan 1995; The Religious Traditions of Africa. A History, Connecticut 2004. 33 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 111. 34 Bengt Sundkler / Christopher Steed, A History of Christianity in Africa, Cambridge 2000. 35 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 113. 36 Ebd., 113.
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„Bedeutung afrikanischer Traditionen und Praktiken, die bereits vor der Kolonialzeit als lebendige Dynamiken afrikanischer (Religions-) Geschichte wirksam waren und weiter sind“37.
Konstatierend fasst Hock für unterschiedliche Werke zusammen: „Afrikanische Kirchengeschichte als Ergebnis der Initiative von Afrikanern – das ist das Strukturprinzip afrikanischer Kirchengeschichtsschreibung“38. Eine gemeinsame Herausforderung und Schwierigkeit aller großen Entwürfe über die Geschichte Afrikas ist aber der Versuch einer leitenden Periodisierung für die 2000 Jahre afrikanische Christentumsgeschichte. Klaus Hock schließt seinen Beitrag mit einigen Kommentaren über den theoretischen und methodischen Horizont der gegenwärtigen Kirchengeschichtsschreibung Afrikas. Diese werden aber nicht herausgelöst angeboten, sondern hauptsächlich anhand von zwei Entwürfen von Moritz Fischer39 bzw. Jörg Haustein40. Für die letzten ca. 25 Jahre konstatiert Hock in der Kirchengeschichtsschreibung Afrikas eine Verlagerung von „einer konfessionalistischen Perspektive“41, die stark missions-geschichtlich orientiert war, hin zu einer Historiographie, die geprägt ist durch Bezugnahmen zu Anthropologie und Soziologie. Im Zentrum stehen nun „geschichtliche «Formen christlichen Lebens» [A. Melloni]“, die es erlauben, „sich auf die konkreten Ausdrucksformen zu konzentrieren, die der christliche Glaube in verschiedenen Regionen und Kulturen des Kontinentes je angenommen hat“42, ohne in ihrer Beurteilung etwa durch konfessionelle Kategorien mitgeprägt zu sein. Die Gefahren dabei sieht Hock einerseits in einer problematischen „theologischen Kastration“ und andererseits in einer „einseitigen Fokussierung auf die Dimension des Afrikanischen“ bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Verflechtungen mit dem globalen Kontext der Christentumsgeschichte. Hock schlägt als Alternative eine ausgeglichene Kirchengeschichtschreibung Afrikas vor: „Die Aufgabe afrikanischer Kirchengeschichtsschreibung muss also mehrere Aspekte miteinander verknüpfen: historische Erkenntnisse der Ausbreitung des Christentums in Afrika, Spaltungen und Ausdifferenzierungen innerhalb afrikanischer Christentümer – und zwar in synchroner wie in diachroner Perspektive –, aber auch: die Interaktion zwischen akademischen Debatten innerhalb und außerhalb Afrikas sowie zwischen diesen und den konkreten Erfahrungen und Lebensformen des christlichen Gemeinschaften in Afrika“43.
37 Ebd., 113. 38 Ebd., 116. 39 Moritz Fischer, Pfingstbewegung zwischen Fragilität und Empowerment, Göttingen 2011. 40 Jörg Haustein, Writing Religious History. The Historiography of Ethiopian Pentecostalism, Wiesbaden 2011. 41 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 116. 42 Ebd., 116. 43 Ebd., 117.
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Die Referenz zur Arbeit von M. Fischer über die Pfingstkirche NzambeMalamu veranlasst Klaus Hock zur folgenden Feststellung: „Die «afrikanische» Geschichte von Nzambe-Malamu ist nicht eine «andere», «besondere» oder gar «gesonderte» Geschichte, sondern in emphatischem Sinne Teil von Geschichte, die nur inter- und transdisziplinär erfasst werden kann. Die globalhistorische Rekonstruktion von Nzambe-Malamu muss deshalb im Kontext kolonial- und missionsgeschichtlicher Entwicklungen nicht nur innerhalb Afrikas, sondern in der «circum-atlantischen» Welt zwischen Afrika, Europa und Amerika geschehen“44. Damit sind einerseits sowohl die nötige interdisziplinäre theoretische Reflexion über den Zugang zum Thema gemeint (möglicherweise verändert gegenüber vielen Themen auf dem ‚klassischen‘ Gebiet der Kirchengeschichte), als auch ganz banal, dass selbst die Geschichte einer kongolesischen Kirche nur als eine transkontinentale Geschichte geschrieben werden kann, wobei die Stellung der „afrikanischen Geschichte“ nicht als Epiphänomen etwa missionarischer Impulse zu betrachten ist, sondern selbst zum Kern der Geschichte gehört. Den Hinweis auf die Arbeit von J. Haustein über die Historiographie des äthiopischen Pentekostalismus veranlasst Hock festzuhalten, dass die Geschichtsschreibung selbst im Prozess „der Produktion äthiopisch-pentekostaler Identitäten in ihren vergangenen und gegenwärtigen Repräsentationen“45 beteiligt ist, was letztendlich zur Geschichtskonstruktion führt. Das wirft aber die Frage nach der Rolle der Geschichtsschreiber auf und insbesondere, ob Afrikaner/innen an der Historiographie beteiligt tätig sind. Der verstorbene nigerianische Kirchenhistoriker Ogbu Kalu war ein bedeutender Vertreter afrikanischer Wissenschaftler in diesem Feld und einer, der im Namen der Afrikaner das „Eigentumsrecht auf afrikanische Kirchengeschichte und Kirchengeschichtsschreibung“ im Sinne einer „African Christianity. An African Story“ (so der Titel eines seiner Werke) reklamiert hat. Hock fasst diesen Anspruch folgendermaßen zusammen: „Die Entwicklungsbahnen afrikanischer Christentumsgeschichte sind aus afrikanischen Erfahrungen und nicht aus einem Missionsprojekt entsprungen, und afrikanisches Christentum ist in radikalem Sinne als integraler Bestandteil afrikanischer (Religions-) Geschichte zu verstehen. … Afrikanisches Christentum wurzelt nicht in den kirchlichen Strukturen westlicher Missionsunternehmungen, sondern in den afrikanischen (Religions-)Traditionen. Entsprechend muss afrikanische Kirchengeschichtsschreibung insofern eine anti-institutionelle Wende nehmen, als nicht die historische Entwicklung kirchlich-denominationeller Formationen, sondern die Geschichte der gemeinschaftlichen Erfahrungen der Gegenwart Gottes die Grundlage afrikanischen Kirchenverständnisses bildet“46.
Eine Konsequenz wäre nicht zuletzt die Herstellung einer Gleichberechtigung zwischen ‚westlichen‘ und ‚afrikanischen‘ Ansätzen bei der Erforschung der 44 Ebd., 118. 45 Ebd., 118. 46 Ebd., 119.
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Christentumsgeschichte Afrikas. Die lokale Perspektive braucht aber den „Anschluss an eine globale Kirchengeschichtsschreibung“, was „vornehmlich durch afrikanische Akteure in der Diaspora gewährleistet werden“47 soll.
2.3
Lateinamerika
Eine gewisse Renaissance der Kirchengeschichte Lateinamerikas stellt Roland Spliesgart im Zusammenhang mit dem Jahr 1992 und dem Gedenken an die „Entdeckung Amerikas“ vor 500 Jahren fest. Und damit ist nicht primär eine triumphalistische Perspektive gemeint, sondern eine Sichtweise, die durchaus ein postkoloniales Anliegen vertritt: „Leben und Leid der unterworfenen Bevölkerung, der Indios und der schwarzen Sklaven sowie der einfachen Menschen in den Blick [zu] nehmen“48.
Diese Entwicklung baut aber auf Reflexionen auf, die in römisch-katholischen und ökumenisch arbeitenden Kreisen bereits seit den 1970er Jahren prominent sind. Was sie anstrebten, war eine „histoire totale“, eine Geschichte des Christentums unter der Berücksichtigung der Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte. In der lateinamerikanischen Kirchengeschichtsschreibung bekam dann „die Begegnung des Christentums mit indianischen und afroamerikanischen Religionen und die daraus resultierenden religiösen Transformationsprozesse in der Volksreligiosität, die bislang meist als ‚synkretistisch‘ abgewertet worden war“,
ein zunehmend größeres Gewicht49. Eine der Allgemeindarstellungen der lateinamerikanischen Kirchengeschichte, die Roland Spliesgart kommentiert, ist das Standardwerk von H.-J. Prien50. Spliesgart fasst den Ansatz Priens folgendermaßen zusammen: „im Zusammenhang der Eroberung und Christianisierung kam es nicht ausschließlich zur Zerstörung der bestehenden Kulturen, sondern vielmehr zu einem Prozess der Anpassung und Transformation beider Kulturen“51.
Um das zu deutlicher herauszuarbeiten, müsste einer Missionsgeschichte und Kirchengeschichte ein ethnographischer Überblickvorangestellt werden,52 was von Prien als ein bedeutendes Desiderat genannt wird. Fundierte ethnologische Erkenntnisse würden die Gefahr einer einseitigen und von einem vermeintlichen Kulturprimitivismus geprägten Sicht über Einheimische kritisch 47 Ebd., 119. 48 Roland Spliesgart, Lateinamerika in der deutschen Kirchengeschichte. „Nachholende Entwicklung“, in: VF 60 (2015), 2, 120–136, hier 121. 49 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 121. 50 Hans-Jürgen Prien, Das Christentum in Lateinamerika, Leipzig 2007. 51 Roland Spließgart, Lateinamerika, 124. 52 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 124.
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relativieren und „die Komplexität der Gesellschaftsstrukturen sowie der Wirtschaft der indigenen Völker“53 herausstellen können. Andererseits bleibt die theologische Auseinandersetzung mit Formen einheimischer Religiosität immer noch von Kategorien wie „Dämonologie“ und „Synkretismus“ bestimmt. Prien schlägt daher vor, den Begriff ‚Volksreligiosität’ als Alternative stärker in die Diskussion einzubeziehen. Strukturell bemüht sich jede solche Allgemeindarstellung des Christentums in Lateinamerika der vergangenen 500 Jahre um die Suche nach „wesentlichen Strukturen der geschichtlichen Entwicklung“54, um sich nicht in einer bloßen Addition von Informationen zu erschöpfen, wobei hier der „Vielzahl und Komplexität sehr verschiedener Lokalgeschichten“ Rechnung zu tragen ist. Die bewegte Kirchengeschichte Lateinamerikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert Spliesgart am Beispiel der Studie von Johannes Meier und Veit Straßner55. In dieser Zeit waren Militärdiktaturen eine Herausforderung für Christen in fast allen Ländern Lateinamerikas. Damit aber rückt auch das Thema Macht und Kirche ins Zentrum der Debatte. Das ist insofern ein wichtiger Aspekt postkolonialer Diskurse als es hier zwar nicht um die Auseinandersetzung mit einer kolonialen Macht geht, aber durchaus um die Konzentration der Macht in der Hand einer kleinen Elite, die abgehoben von der Mehrheit der einfachen Bevölkerung (hauptsächlich Indios und Farbige) lebte. Teile der römisch-katholischen Kirche verstanden sich allerdings als Vertreter der Interessen der einfachen Gläubigen und gerieten daher notgedrungen in Konflikte mit diesen autoritativen Regimen mit weitreichenden Konsequenzen. Eine prominente Episode dieses Konfliktes ist die Ermordung des Erzbischofs Oscar Romero auf Befehl des Regimes 1980 in San Salvador. Die Auseinandersetzung erfolgte aber nicht nur mit den säkularen Machtstrukturen, sondern sie implizierte auch Konflikte mit den kirchlichen Machtstrukturen vor Ort und mit Rom. Denn Rom förderte wiederholt konservative Bewegungen wie Opus Dei und besetzte Bischofstühle mit konservativen Theologen. Demgegenüber entstand mit der „Option für die Armen“ eine Theologie der Befreiung, die sich klar gegenüber dem quasi-kolonialen oder neokolonialen säkularen und kirchlichen Machtgefüge positionierte. Für den chilenische Theologen Julio S. Silva, einer der Autoren in dem Band von Meier und Straßner, ist die Befreiungstheologie ein „hermeneutisch[er] Ort“ (und quasi Zentrum) der lateinamerikanischen Theologie. „Der kreative Beitrag der lateinamerikanischen Befreiungstheologie – so Silva – besteht darin, die Kontextualität sowie den Zusammenhang von Theorie und Praxis herausgestellt … zu haben“56.
53 Ebd., 127. 54 Ebd., 123. 55 Johannes Meier / Veit Straßner (Hg.), Lateinamerika und Karibik (Kirche und Katholizismus seit 1945, VI), Paderborn 2009. 56 Roland Spliesgart, Lateinamerika, 126.
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Die von Johannes Meier gemeinsam mit unterschiedlichen Mitherausgebern erarbeitete Reihe „Jesuiten aus Zentraleuropa in Portugiesisch- und SpanischAmerika“57 lässt die Differenz zwischen den Intentionen deutschsprachiger missionarischer Jesuiten in Brasilien und der luso-brasilianischen Kultur erkennen, und macht deutlich, wie vielfältig die Lager innerhalb der kolonialen Gesellschaft gewesen sind. In den missionarischen Quellen wird auch versucht, Erklärungen für die Rückschläge der Mission nach einem vielversprechenden Anfang zu geben und üblicherweise wird „Unlauterkeit“, „Müßiggang“ oder „Trunkenheit“ der Einheimischen hierfür verantwortlich gemacht. Dass es sich dabei um eine „Fehlwahrnehmung der indianischen Kultur“ aufgrund „unterschiedliche[r] Weltbilder und Glaubensvoraussetzungen der beiden Kulturen“58 handeln könnte, wird freilich in den zeitgenössischen Quellen nicht reflektiert. Vielmehr wird es mit einer Art Doppelreligiosität in Verbindung gebracht, „indem die Indios das Christentum formell annahmen, im Inneren aber ihre eigenen religiösen Traditionen bewahrten bzw. synkretisierten“59. Damit bildeten sich in dem einheimischem Religionsmodell multiple Loyalitätsbeziehungen aus, die den Europäern unverständlich geblieben sind. Roland Spliesgart bringt auch sein eigenes Konzept einer „Verbrasilianisierung und Akkulturation“ deutscher Protestanten in Brasilien im 19. Jahrhundert als Ergebnis eines intensiven Austauschprozesses mit dem lokalen Kontext ins Spiel.60 Nach seiner Lesart „war das vermeintliche ‚Deutschtum‘ vieler dieser Protestanten das Ergebnis eines massiven Engagements deutscher, national gesinnter Akteure seit dem Ende des 19. Jh.“61.
Am Beispiel der Akkulturation deutscher Protestanten in Brasilien wird deutlich, dass kulturelle Transferprozesse in der Geschichte des Weltchristentums in ihrer globalen Dynamik keine Einbahnstraßen (von Europa/Zentrum nach Außereuropa/Peripherie) waren, sondern als Ausdruck komplexer gegenseitiger Austauschmechanismen gesehen werden müssen. In seiner Untersuchung über Russlanddeutschemigranten nach Argentinien zwischen 1925 und 1955 deckt Daniel Beros62 die Zentralität der Kategorie Heimat für diese Gruppe auf und führt die These ein, „dass […] die Wan-
57 Johannes Meier (Hg.), Jesuiten aus Zentraleuropa in Portugiesisch- und SpanischAmerika, Aschendorff Münster 2005. 58 Roland Spliesgart, Lateinamerika, 128. 59 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 128. 60 Roland Spliesgart, „Verbrasilianerung“ und Akkulturation. Deutsche Protestanten im brasilianischen Kaiserreich am Beispiel der Gemeinden in Rio de Janeiro und Minas Gerais (1822–1889), Wiesbaden 2006. 61 Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 130. 62 Daniel Beros, Heimat für Heimatlose, Neuendettelsau 2007.
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derschaft zum Identitätsmerkmal der russlanddeutschen protestantischen Einwanderer in Argentinien geworden ist“63. Als Identitätsmerkmal wird hier im Gegensatz zu essentialistisch anmutenden Kategorien wie „deutsch“, „russisch“, „protestantisch“, „lutherisch“ etc. eine andere Kategorie vorgeschlagen: nämlich die Erfahrung der Migration. Die Reflexion über die Dynamik neuer protestantischer, pentekostaler und charismatischer Kirchen in Lateinamerika lässt erkennen, wie weit der Deutungshorizont diesbezüglich gespannt werden kann. Dabei wird deutlich, dass eine Analyse dieses Phänomens auf ein soziologisches, anthropologisches, ethnologisches und religionswissenschaftliches Instrumentarium zurückgreifen muss. Einfache Erklärungsmodelle für den Erfolg solcher Kirchen sind unbefreidigend, da diese wie im zum Beispiel die „Igreja Universal do Reino de Deus“ (IURD) im Volkskatholizismus und in den afrobrasilianischen Religionen Umbanda und Candomblé gleichermaßen verwurzelt sind. Somit überschreitet eine solche Bewegung sowohl die Grenzen des Christentums, als auch die der afrobrasilianischen Religionen. Am Ende seines Beitrags fasst Roland Spliesgart vier Erkenntnisse über aktuelle Tendenzen der lateinamerikanischen Christentumsgeschichte zusammen. 1. Die Verortung der Forschung im lateinamerikanischen Kontext: „Die Geschichte des lateinamerikanischen Christentums wird nicht länger als Missionsoder Aussendungsgeschichte gedacht, auch nicht als Fortsetzung europäischer Kirchengeschichte, sondern als genuin lateinamerikanische Geschichte“64. So „rücken Themen lateinamerikanischer Kultur, Religiosität, Theologie und Praxis in den Fokus des Interesses“65 und steigern die Bedeutung lateinamerikanischer Forscher, die einen kontextuellen Zugang zu den Themen haben. 2. Die Kirchengeschichtsschreibung muss in einem interdisziplinären Dialog mit der Religionswissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Geschichte bleiben, die wichtige Voraussetzungen für die Religionsforschung liefern. Eine Kirchengeschichte Lateinamerikas ist sachgemäß nur im Zusammenhang einer lateinamerikanischen Religionsgeschichte denkbar. 3. Die Forderung nach Entideologisierung zielt auf die Überwindung einer binären Perspektive auf Kategorien wie „Eroberer – Eroberte“, „Unterdrücker – Befreier“, „Zivilisierte – Wilde“. Damit sind auch und eine triumphalistische Betrachtung der Geschichte Lateinamerikas als ‚christliche Erfolgsgeschichte‘, sowie eine „romantisierende Idealisierung des ‚armen Volkes‘ und die Solidarisierung der Forscher mit selbsternannten Befreiern und Befreiungsbewegungen“66 hinfällig. 4. Mangelnde Institutionalisierung dieses Teilgebiets im deutschsprachigen universitären Kontext macht eine kontinuierliche Beschäftigung mit diesen Themen schwierig.
63 64 65 66
Roland Spliesgart, Lateinamerika, 131. Klaus Hock, Afrikanische Christentumsgeschichte, 134. Ebd., 135. Ebd., 135.
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Diese letzte Anmerkung gilt nicht nur im Blick auf Lateinamerika. Auch wenn im englischsprachigen Raum die Geschichte des Weltchristentums einen wahren Boom erlebt, hat „die deutschsprachige Kirchengeschichte hier einen [großen] Nachholbedarf …, sowohl im Hinblick auf die akademische Forschung als auch im Bereich der Lehre“67 – so auch der Befund der Herausgeber bereits in der Einleitung des Heftes.
2.4
Die USA
Die Kirchengeschichte der USA ist aus postkolonialer Perspektive schon deswegen interessant, weil das Land selbst als Kolonie entstanden ist, sich als eines der ersten von der Britischen Kolonialmacht befreit hat und dann und seit dem Ende des 19. Jh. selbst als Kolonialmacht aufgetreten ist. Michael Hochgeschwender greift in seinen Studien68 auf bestimmte „Fragestellungen der neueren Sozial- und Kulturwissenschaften [–] vorrangig jenen nach Ethnizität und Ethnokulturalismus, … nach Geschlechterrollen und identitätsstiftenden Praktiken und Ritualen sowie nach Sinn- und Bedeutungszuschreibungen [–] zurück“69.
Gleichzeitig werden aber auch herkömmliche Fragen nach ökonomischen und politischen Interessen, also „nach Macht, Struktur und Religion“ wieder eingebunden, nachdem sie seit den 1990er Jahren für einige Zeit losgelöst voneinander behandelt wurden: „Die Religionsgeschichte in den USA ist ganz offenkundig im Laufe des letzten Jahrzehntes wieder politischer geworden …“70. Hochgeschwender argumentiert dabei, dass die Bedeutung der Religion, und insbesondere des Christentums in den USA, die nicht mit der in „andere[n] fortgeschrittene[n] und funktional ausdifferenzierte[n] (post-)industrielle[n] Gesellschaften“ verglichen werden kann, sondern „eher den strukturellen patterns afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Länder“71 folgt. Hochgeschwender konstatiert allerdings, dass es vielfach es an einer vergleichenden Perspektive fehlt, weil „Globale, transnationale, transatlantische, europäische Parallelen und Prozesse […] entweder gar nicht oder nur am Rande zur Kenntnis genommen und die mit
67 Klaus Koschorke / Martin Wallraff, Zu diesem Heft, 83. 68 Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion: Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt/M. 2007; ders., Religion, Moral und liberaler Markt: politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011. 69 Michael Hochgeschwender, Religionsgeschichte der USA. (Selbst-)Reflexionen einer pluralen Gesellschaft, in: VF 60 (2015), 2, 136–150, hier 138. 70 Ebd., 138. 71 Ebd., 137.
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Ciprian Burlacioiu der transatlantischen Migration sich zwangsläufig ergebenden beziehungsgeschichtlichen Perspektiven nicht wirklich in die eigenen Thesenbildungen eingebaut“72 werden.
Allenfalls eröffnet die Berücksichtigung der Latinos im Kontext der evangelikalen und charismatischen Bewegungen des 20. Jh. eine Perspektive, die zwar binnenamerikanisch bleibt führt, aber doch eine gesellschaftliche Gruppe mit Herkunft außerhalb des Landes involviert. Dabei wäre zum Beispiel für die Erforschung des traditionellen Antikatholizismus aber auch im Blick auf andere Gruppen und Organisationen wie Sozialisten oder Freimaurer ein transatlantischer Vergleich mit dem Prozess der Neuformierung der Nationalstaaten in Europa von großer Bedeutung. Der Reflexionsprozess über das amerikanische Christentum und seinen Werdegang scheint in erster Linie selbstreferenziell zu sein. Auch eine Analyse des sogenannten Prosperity Gospel, der mit Ausnahme von Europa in fast allen Teilen der Welt heute ein Rolle spielt ist, ist bisher kaum aus interkultureller Perspektive unternommen worden. Das Buch von S.D. Cox73, ist als eine knappe Gesamtdarstellung zur Geschichte des Christentums in den USA geschrieben worden, und geht auch auf die Kolonialzeit und die folgende Periode mit ihren protestantischen awakenings und revivals ein. Hochgeschwender stellt an diesem Werk zwei Aspekte besonderes heraus: „Zum ersten postuliert er gegenüber primär soziologischen, politischen oder anderen strukturalistisch-synchronistischen Herangehensweisen den Eigenwert der Religion als System von ethisch-moralischen, sinnstiftenden und existenziellen Frömmigkeitspraktiken, demgegenüber Kategorien wie race, class, gender und ethnicity notwendig zurücktreten müssen […]. Zum zweiten legt er die These vor, die amerikanische Religionsgeschichte sei deswegen so lebendig und vielfältig, weil sie einem gewissermaßen eingeborenen Trend zu Neuen folge“74.
Während die erste These insofern nachvollziehbar ist als sie legitimer Weise die Perspektive des „unmittelbar und existentiell betroffenen Subjektes“ ins Zentrum rückt, ist die zweite These eher erklärungsbedürftig und im Blick auf die Kolonialzeit und das revolutionäre Umfeld nicht wirklich stichhaltig. Ein von Dreisbach und M.D. Hall 2014 herausgegebener Band Faith and the Founders of the American Republic ist insofern von Relevanz für unser Thema als er die Debatte über die „original intent der founding fathers“75 im Blick auf die Trennung zwischen Kirche und Staat anhand von Einzelstudien über sog. Gründerväter aus dem weiteren Umfeld der zeitgenössischen Elite aufnimmt. Diese waren
72 73 74 75
Ebd., 140. Stephen D. Cox, American Christianity. The Continuing Revolution, Texas 2014. Michael Hochgeschwender, Religionsgeschichte, 139. Ebd., 141.
Postkoloniale Perspektiven in der Kirchengeschichte
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„allesamt religiös … und [glaubten] ganz und gar nicht an Jeffersons Ideal einer strikten Trennung. Insgesamt gewinnt man … den Eindruck, die aktuellen Debatten zwischen Liberalen und Konservativen gingen gleichermaßen und höchst anachronistisch an dem vorbei, was Stand der Diskussion im ausgehenden 18. und 19. Jh. war“76.
3.
Kirchengeschichte und Postkolonialismus: Eine Schlussbetrachtung
Die Kirchengeschichte als theologische Disziplin muss von ihrem Gegenstand her betrachtet werden. Somit stellt sich die Frage, was Kirche ist. Dazu gibt es unterschiedliche Antworten, die zur Ekklesiologie als einem Teilbereich der systematischen Theologie führen. Diese Antworten beleuchten unterschiedliche Facetten des Daseins der Kirche und tragen auch eine gewisse konfessionelle Prägung mit sich. Eine Definition der Kirchengeschichte, die im 20. Jh. in der evangelischen Historiographie Beachtung fand, war die Formulierung von Gerhard Ebeling: „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“77 – so der Titel seiner Habilitations-Probevorlesung vom Juli 1946. Die Kirchengeschichte als theologische Disziplin sei also „die Geschichte des Zeugnisses von Jesus Christus in der Geschichte“78. „Kirchengeschichte ist das, was zwischen uns und der Offenbarung Gottes in Jesus Christus steht. Sie steht dazwischen trennend und verbindend, verdunkelnd und erhellend, belastend und bereichernd. Nur durch sie hindurch erreicht uns das Zeugnis von Jesus Christus. Insofern gehört sie mit zum Offenbarungsgeschehen“79.
Dass Ebeling dabei keine reine exegetische Übung meinte, erklärte er selbst weiter: „Aber Auslegung der Heiligen Schrift vollzieht sich nicht nur in Verkündigung und Lehre und erst recht keineswegs etwa primär in Kommentaren, sondern auch im Handeln und Leiden […] in Kultus und Gebet, in theologischer Arbeit und persönlichen Entscheidungen, in kirchlicher Organisation und Kirchenpolitik, in der Weltherrschaft der Päpste und in der Kirchenhoheit von Landesherren, in Kriegen im Namen Gottes und in Werken barmherziger Liebe, in christlicher Kulturgestaltung und klösterlicher Weltflucht, in Martyrien und Ketzerverbrennungen.“80
76 Ebd., 141f. 77 Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders., Wort Gottes und Tradition: Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 21966, 9–27. 78 Ebd., 18. 79 Ebd., 25. 80 Ebd., 24.
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Dieser Ansatz von Ebeling wurde viel diskutiert und auch kritisiert.81 Deutlich ist auch seine in Anlehnung an CA VII konfessionell anmutende Tendenz, die einer gewissen theologischen Partikularität Rechnung zu tragen scheint. Auch wenn es so ist, und auch wenn bestimmte Kritikpunkte aus der Rezeption dieses Ansatzes berechtigt sind, eröffnet diese Sichtweise die Möglichkeit, die Koordinaten der kirchengeschichtlichen Historiographie zu erweitern und an die jeweilige Realität der kirchlichen Existenz anzupassen. Es steht außer Frage stehen, dass dieses Modell, die Kirche und ihre Geschichtlichkeit zu verstehen, nur eins unter vielen sein kann, allerdings verspricht es einerseits Möglichkeiten der Neuinterpretation, andererseits kann es auch zu Verkürzungen in der Sicht auf die Kirchengeschichte beitragen. Das Modell von Ebeling wird im Blick auf das Verhältnis zum postkolonialen Diskurs bei Albrecht Beutel erweitert, der den Gegenstand der Kirchengeschichte „als den Inbegriff derjenigen geschichtlichen Phänomene“ versteht „in denen eine ausdrückliche oder stillschweigende, aktive oder rezeptive Wahrnehmung der christlichen Religion zur Anschauung kommt.“ Beutel argumentiert daher, dass es ratsam sei, Kirchengeschichte als die Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen zu verstehen82. Das hat nämlich dann den bedeutsamen Effekt, dass wenn man für «Kirche» oder „Christentum“ oder auch „das Christliche“ bewußt auf eine apriorische Wesensbestimmung verzichtet, vermag dieser Ansatz „dem Gegenstand der Kirchengeschichte auch die kirchenkritischen Spielarten von Religiosität zu integrieren und erwächst ihm die Freiheit, die außerkirchliche Wirkungsgeschichte des Christlichen weder gewaltsam als kryptokirchlich domestizieren noch als kirchenfremd eliminieren zu müssen“83.
Was Beutel im Horizont des ‚klassischen‘ Stoffes der Kirchengeschichte mit dem Verzicht auf eine apriorische Wesensbestimmung meint, dürfte aus einer postkolonialen Perspektive auch die Abstinenz von jedem Urteilsmonopol im Blick darauf, was christlich und nicht-christlich sein sollte, implizieren. Damit wäre das Monopol westlicher Theologiemodelle und -urteile über nicht-europäische Formen des Christlichen gebrochen. Darüber hinaus wäre es dann theoretisch unmöglich, apriori das zu bestimmen, was zum Kanon der Kirchengeschichte gehört, und davon zu unterscheiden was lediglich als Auswüchse oder Epiphänomene derselben zu betrachten sind. Damit ist nicht nur
81 Für einen Rückblick auf diese Debatte siehe Albrecht Beutel, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift. Ein tragfähiges Modell?, in: Wolfram Kinzig u.a. (Hgg.), Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Leipzig 2004, 103–118. 82 Ebd., 115. 83 Ebd., 115.
Postkoloniale Perspektiven in der Kirchengeschichte
223
der „Pluralität der institutionellen Kirchentümer“84 Rechnung getragen, sondern auch der vollen Bandbreite globaler Christentumsvarianten in der Geschichte und Gegenwart. Damit gäbe es kein ‚klassisches‘ Gebiet der Kirchengeschichte, sondern nur Auslegung der hl. Schrift, die immer und überall erfolgen kann. Der Vorschlag von Beutel schließt aber ebenfalls die Berücksichtigung von Elementen christlichen Ursprungs außerhalb des Christentums selbst ein. So dürfte eine umfassende Geschichte des Christentums in Asien gleichermaßen etwa die Rolle von Sonntagsschulen im Kontext des buddhistischen Modernismus, die Taipingbewegung in China, oder in Japan die Übernahme von Hochzeitszeremonien nach christlichem Modell durch Nichtchristen einbeziehen – um nur einige beliebige Beispiele zu nennen. Allerdings kann die Auslegung der Schrift immer nur situationsimmanent sein. Auf sie wirken nicht-theologische und nicht-kirchliche Einflüsse gleichermaßenein, wie solche, die aus der theologischen Tradition stammen.85 Durch die Wahrnehmung dieser „unauflösliche[n] Vernetzung von Kirche und Welt“ wird deutlich, „wie sehr sich eine kritische Kirchengeschichtsschreibung davor wird hüten müssen, für ihren Gegenstand eine Universalkompetenz zu reklamieren … Vielmehr ist für sie die Bereitschaft zu interdisziplinärer Arbeit konstitutiv“86.
Damit soll in diesem Kontext nicht nur die heute selbstverständliche interdisziplinäre Arbeitsweise betont, sondern mehr der Ort anderer Disziplinen in der theologischen Arbeit hersusgestellt werden: diese sind nicht mehr nur optionale Hilfswissenschaften, die man heranziehen kann oder nicht, sondern je nach Situation und Thema ist ihr Beitrag unabdingbar für eine theologische Urteilsbildung. Dementsprechend kann man heute die Misserfolge der Mission in Lateinamerika nach der Conquista nicht mehr auf ein inferiores Ethos der Missionierten zurückführen und diese letztendlich zu Unmenschen degradieren, sondern wenn ethnologische und religionswissenschaftliche Erkenntnisse über Mechanismen religiöser Loyalität unter den Indios miteinbezogenen werden hat dies auch einen missionskritischen Effekt. Kirchengeschichte ist ein Fach im Spannungsfeld zwischen Kulturwissenschaften und Theologie; sie arbeitet mit kulturwissenschaftlichen Methoden, ist sich aber ihres Propriums – als theologische Disziplin – bewusst.87 84 Ebd., 115. 85 Hier sollte nur der Hinweis auf die Debatte über die Rolle nicht-theologischer und nicht-kirchlicher Faktoren z.B. in der Formulierung christlicher Dogmen (der sog. Dogmengeschichte) reichen; siehe auch Alfred Schindler, Kirchengeschichte – wozu?, in: H. Siemers / H.-R. Reuter (Hgg.), Theologie als Wissenschaft in der Gesellschaft, Göttingen 1970, 140–155, hier: 145f. 86 Alfred Schindler, Kirchengeschichte, 116. 87 Vgl. Martin Wallraff, Kirchengeschichte im Spannungsfeld von Theologie und Kulturwissenschaft, in: Verkündigung und Forschung 54 (2009), 2, 55–64.
224
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Eine ausgeglichene Kirchengeschichte, die ein postkoloniales Anliegen aufnimmt, muss sich von zwei ideologisch orientierten Alternativen fernhalten: Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte88, oder Kirchengeschichte als triumphaler Zug christlicher Mission um die Welt. Damit wird das Referenzmodell eines ‚goldenen Zeitalters‘, das im Jerusalem des ersten Jahrhunderts, im Mittelmeerraum der ersten vier Jahrhunderte oder im Europa der Frühneuzeit existiert hätte, ausgeschlossen. Ebenfalls ist ein realitätstreues Bild der Kirche nicht als unaufhaltsame Expansion des Christentums um die Welt zu denken, sondern als geschichtlicher Werdegang, der gleichermaßen Progression und Rückgang einschließt. Die besondere Perspektive auf die Kirchengeschichte unter postkolonialen Bedingungen ist das sie die Ausbreitung des Christentums über den ganzen Erdball und die Tatsache, dass es eine Weltreligion geworden ist, in Betracht zieht. Es stellt sich also die Frage, ob und inwieweit eine Kirchengeschichte, die die globale Dimension des Christentums ernst nimmt und die Multiperspektivität miteinschließt, praktikabel ist. Eine Gleichbeachtung aller Weltregionen und Länder in der Form einer Addition von Länderartikeln in einem umfassenderen Kompendium der Kirchengeschichte wäre unzureichend und unzweckmäßig. Der Vorschlag von Klaus Koschorke89 am Schluss des Heftes von Verkündigung und Forschung scheint eine weiterführende Alternative zu eröffnen. Koschorke geht es um eine „künftige Geschichte des Weltchristentums“, die er als „eine transnationale und transkontinentale Interaktionsgeschichte“90 konzeptualisiert. Eine solche Geschichte wirft aber die zentrale „Frage nach transregionalen und interkontinentalen Austauschbeziehungen (jenseits der traditionalen Nord-Süd-Verbindungen) sowie nach «polyzentrischen Strukturen» in der Geschichte des Weltchristentums“ auf91. Auf diese Weise kann der Gefahr der Isolierung einzelner lokaler Geschichten gleichermaßen entgegen gewirkt werden, wie einer Hierarchisierung des geschichtlichen Wissens in zentrale und unwichtige Geschichtsteile. Wie eine solche transregionale und transkontinentale polyzentrische Perspektive zum Einsatz kommt, demonstriert Koschorke an mehreren Beispielen, wie der Christianisierung Westafrikas (Sierra-Leone) durch Afroamerikaner seit 1792, der Bedeutung der Migration und Globalisierung für die Geschichte des Christen-
88 Vgl. Martin Wallraff, Emanzipation von der Theologie? Kirchengeschichte von Gottfried Arnold bis Franz Overbeck, in: ThZ 68 (2012), 3-4, 194–210. 89 Klaus Koschorke, Transregionale Netzwerke und transkontinentale Interaktion, in VF 60 (2015), 2, 150–158, hier 150. 90 Ebd., 150; vgl. auch Ders., Polycentric Structures in the History of World Christianity, in: K. Koschorke / A. Hermann (Hgg.), Polycentric Structures in the History of World Christianity / Polyzentrische Strukturen in der Geschichte des Weltchristentums, Wiesbaden 2014, 15–27; C. Burlacioiu / A. Hermann (Hgg.), Veränderte Landkarten. Auf dem Weg zu einer polyzentrischen Geschichte des Weltchristentums. Festschrift für Klaus Koschorke zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2013. 91 Klaus Koschorke, Transregionale Netzwerke, 150.
Postkoloniale Perspektiven in der Kirchengeschichte
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tums in den letzten ca. 200 Jahren, der Analyse einzelner Religionsgemeinschaften wie der afroamerikanischen African Methodist Episcopal Church (AME) als transatlantischen Gemeinschaften, der Impulse des koreanischen Christentums für das Weltchristentum im 20. Jahrhundert oder der Rolle des Ersten Weltkriegs als Thema der globalen Christentumsgeschichte. Im Zusammenhang mit einer dergestaltigen Kirchengeschichte in postkolonialer Perspektive kommt nicht nur die konfessionelle, sondern auch die geographisch-kulturelle Pluralität des Christentums als Weltreligion deutlich zur Sprache. Und man kann durchaus zu Recht betonen, dass die Pluralität eines der Wesensmerkmale des Christentums in seiner Geschichte (bereits seit der Antike) und Gegenwart ist. Eine Kirchengeschichte sollte als eine historisch arbeitende Wissenschaft einerseits diese vielschichtige Pluralität des Christentums wahr- und ernstnehmen. Diese Pluralität kann aber theologisch andererseits nur dann noch als Zusammenhang wahrgenommen werden, wenn es ein Referenzzentrum gibt. Eine gewisse Möglichkeit für einen solchen Ort kann die hl. Schrift sein. Diese könnte für eine Kirchengeschichte als Auslegung der Schrift sowohl das nötige Einheitsmoment, als auch das Prinzip der Pluralität darstellen. Eine ausgeglichene Kirchengeschichte darf diese beiden Pole – Einheit und Pluralität – nicht aus den Augen verlieren.
Postkoloniale und postsozialistische Studien. Repräsentierte Orthodoxie Irena Zeltner Pavlović
Die postsozialistischen Studien sind seit dem Anfang der 1990er Jahren auch durch postkoloniale theoretische Perspektiven inspiriert. Dies betraf zunächst die Studien über den Balkan.1 Hier wird auf das einflussreichste Buch von der in den USA lehrende führende Südosteuropaforscherin Maria Todorova aus Imagining the Balkans (1997)2 und ihr Konzept Balkanismus eingegangen. In der Zwischenzeit wurden die postkolonialen Theorien auch für den ganzen postsozialistischen Raum bzw. fast alle postsozialistischen Länder angewandt, wobei das Konzept des Postkolonialismus unterschiedlich verstanden wird. Die Autoren, die Kolonialismus als realhistorische Periode verstehen, betrachten bestimmte postsozialistische Länder als realhistorisch postkolonial, mit der Unterscheidung, dass einige dieser Länder selbst als koloniale Herrschaftssysteme dargestellt werden wohingegen andere als kolonialisiert gelten.3 Diese nicht unproblematische Art der Anwendung der postkolonialen Studien in den postsozialistischen Studien, indem der realgeschichtliche Kolonialismus thematisiert wird, wird hier nicht behandelt.4 In diesem Beitrag sind die Studien 1
2 3
4
Als Pionierstudien gelten dabei exemplarisch: Stathis Gourgouris, Dream Nation: Enlightenment, Colonization and the Institution of Modern Greece, Stanford 1996, Vesna Goldsworthy, Inventing Ruritania: The Imperialism of the Imagination, New Haven, 1998; Milica Bakić-Hayden, Nesting Orientalism: The Case of Former Yugoslavia, in: Slavic Review 54, 4, 1995, 917–931. Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 2009 [1997], hier wird auch das Vorwort der serbischen Ausgabe Imaginarni Balkan aus dem Jahr 2006 zitiert. Siehe exemplarisch: Henry F.Carey, Rafal Raciborski„Postcolonialism: A Valid Paradigm for the Former Sovietized States and Yugoslavia? Eastern European Politics and Societies, 18, 2; 2004 191–235; Mary Neuburger, The Orient Within: Muslim Minorites and the Negotiation of Nationhood in Modern Bulgaria, Ithaca, New York, 2004; Robert Born, Sarah Lemmen (Hg.) Orientalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2014; Claudia Kraft, Alf Lüdtke, Jürgen Martschukat (Hg.), Kolonial Geschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt, New York, 2010. Maria Todorova lehnt derartige Einbettung der postsozialistischen Studien, vor allem des Balkans, in die postkoloniale Beobachtungsperspektive ab. Nach ihr sind postkoloniale Studien „Kritik der postkolonialen Umständen, der Situation in den Teilen der Welt die ehemals Kolonien waren“ (Maria Todorova, Imaginarni Balkan 15) und beziehen sich trotz ihrer „universalistischen Tendenzen“ (17) vor allem auf Asien und Afrika des 19. und 20. Jahrhunderts (17). Auf dem Balkan gibt es dagegen „kein Problem mit der Kolonialismus“ (12) höchstens dürfte man über einen „semi-kolonialen
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von Interesse, die Kolonialität als „strukturelle[s] Fortwirken kolonialistischer Muster in Ökonomie, Politik und Kultur auch nach und jenseits kolonialer Herrschaft“5 verstehen. Das Konzept von Kolonialität wird hier also im poststrukturalistischen bzw. neostrukturalistischen Sinne als Repräsentation des südosteuropäischen Raumes, auf diversen Diskursebenen bzw. an „sozialen Orten“ verwendet. In einem weiteren Schritt stellt dieser Beitrag dar, wie die postkolonialen Studien in den postsozialistischen Studien in Bezug auf die Religion, konkret die christlich-orthodoxe Kirche und ihre Repräsentation, angewandt werden. Die Orthodoxie wird dabei i.d.R. durch den Byzantismus Diskurs repräsentiert. Da sich die ebenfalls in den USA lehrende Religionswissenschaftlerin Milica Bakić-Hayden diesem Phänomen aus postkolonialer Perspektive gewidmet hat, wird hier auf ihre Re- bzw. Dekonstruktion dieses Diskurses eingegangen. Des Weiteren wird auf die kontrovers diskutierte Implementierung der postkolonialen Perspektive in der deutschen Südosteuropa Forschung eingegangen sowie die Relevanz dieser Perspektive erklärt. Schließlich werden die methodologischen Prinzipien der qualitativen Sozialforschung im Kontext der postkolonialen Theorien diskutiert, sowie ihr Mehrwert bei der Herstellung eines alternativen Gegendiskurses zum dominanten repräsentativen Diskurs über den „[religiös] Anderen“ (Jacques Lacan).
1.
Die postkoloniale Theorie in den postsozialistischen Studien: Balkanismus
Bei den Autorinnen, die die postkolonialen Studien in die postsozialistischen implementieren, indem sie das Postkoloniale als herrschendes bzw. hegemoniales Repräsentations- und Deutungssystems betrachten, herrscht Uneinigkeit in der Positionierung zwischen Edward Saids Schlüsselkonzept Orientalismus
5
Status“ (35) des Balkans reden. Kritisch ist hier gegenüber Todorova entgegenzusetzen, dass sie das Erfahrungsobjekt bzw. den Gegenstandsbereich der postkolonialen Studien auf das engere Verständnis des Postkolonialismus Konzepts reduziert. In den postkolonialen Studien wurden dagegen zahlreiche Variationen der kolonialen Typen identifiziert (Vgl. Ina Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012, 20ff), so dass dieser Raum als eine Variation der kolonialen Beherrschung durchaus durch eine postkoloniale Beobachtungsperspektive betrachtet werden kann. Jens Kastner / Tom Waibel, Einleitung: Dekoloniale Optionen. Argumentationen, Begriffe und Kontexte dekolonialer Theoriebildung, in: Mignolo, Walter D. Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität, Wien, Berlin, 7–42, hier: 11; zur Distinktion zwischen Kolonialität und Kolonialismus, die von lateinamerikanischen Theoretikern elaboriert wurde siehe auch Olaf Kaltmeier, Repräsentationen, Temporalitäten und Geopolitiken des Wissens, in: Julia Reuter / Alexandra Karentzos (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 203–214.
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(1978) und des zwei Jahrzehnte danach entstandenen Konzepts des Balkanismus von Maria Todorova (1997). Der Balkanismus, so Todorova, „drückt die Idee aus, dass Beschreibungen zu Phänomenen in Südost-Europa, sprich dem Balkan, einen Diskurs (im Foucaultschen Sinne) oder ein stabiles Repertoire an Vorurteilen festigen […] die dem Balkan eine kognitive Zwangsjacke anlegen.“6
Balkan wird dabei „als Symbol für etwas aggressives, nichttolerantes, barbarisches, halbentwickeltes, halbzivilisiertes, halborientalisches“7 imaginiert und repräsentiert. Im Balkanismus wird also Balkan als diskursive Formation, als Metapher, als Othering-Diskurs oder wie der Titel ihres Buches sagt als Imagination verstanden. In dem Sinne ähnelt der Balkanismus dem Orientalismus, doch ist er nicht mit ihm identisch, sondern ist, nach Todorova, höchstens als eine seiner Untergattung zu betrachten.8 Im Kontext dieser Darstellung ist der größte Unterschied zwischen Balkanismus und Orientalismus, dass im ersten Konzept keine realgeschichtlichen kolonialen Erfahrungen auf dem Balkanraum zu verzeichnen sind, so Todorova.9 Aus diesem Grund lehnt sie einerseits ab den Balkanismus in den postkolonialen Studien einzubetten, sondern befürwortet die Einbettung der wissenschaftlichen Beobachtungsperspektive des Balkans bzw. der postsozialistischen Studien in der Globalisierungsforschung10. Andererseits ausgehend von einem subjektiven Gefühl der Marginalisierung der Sprechpositionen der Intellektuellen aus den postsozialistischen Ländern gegenüber epistemischen Machzentren, wie Judit Bodnar argumentierte,11 so Todorova, ist es sinnvoll postkoloniale und postsozialistische Studien zu verbinden.12
6
Maria Todorova, Balkanism and Postcolonialism, or On the Beauty of the Airplane View, in: Costica Bradatan / Sergei Alex Oushakine, In Marx`s Shadow. Knowledge, Power, and Intellectuals in Eastern Europe and Russia, Plymouth 2010, 175–195, hier: 176. Die Übersetzung stammt von den Herausgebern. 7 Maria Todorova, Imaginarni Balkan, 11. 8 Maria Todorova, The Balkans. From Discovery to Invention, in: Slavic Review 53, (2, 1994), 453–482, hier: 454. 9 Zu weiteren Unterschieden siehe Maria Todorova, Imagining the Balkans, 3-20 und 190–202, sowie Dies., Balkanism and Postcolonialism. 10 Maria Todorova, Balkanism and Postcolonialism. Hier zeigt sich, dass in den postsozialistischen Studien Uneindeutigkeit im Verständnis der Begriffe Imperialismus, (Neo-)Kolonialismus, Globalisierung herrscht, die aber auch in den internationalen postkolonialen Studien zu verzeichnen ist (s. dazu Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2015, 31f, 78ff und Wolfgang Streit, Einführung in die Postkolonialismus-Forschung. Theorien, Methoden und Praxis in den Geisteswissenschaften, Norderstedt 2014, 18ff. 11 Siehe dazu Judit Bodnar, Shamed by Comparison: Eastern Europe and the “Rest”, in: John W. Boyer / Berthold Molden (Hg.), EUtROPEs: Paradox of European Empire. Paris und Chicago 2014, 256–267. 12 Vgl. Maria Todorova, Imaginarni Balkan, 34f, Maria Todorova, Balkanism and Postcolonialism, 191.
Repräsentierte Orthodoxie
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Milica Bakić-Hayden, die unabhängig von Todorova „orientalistische Paradigma“13 auf den Balkanraum angewandt hat, sieht im Orientalismus der auf „Formeln der ontologischen und epistemologischen Distinktion des Westens und Ostens beruht“14 ein Phänomen dessen Logik auf viele andere Kontexte, inklusive balkanische angewendet werden könnte.15 Das Wissen und die Vorstellungen über den Balkan sind dabei, wie beim Orient, aus einer Epistemologie abgeleitet die „eigene Erkenntnisperspektive zur Objektivitätsnorm“16 stilisiert, „die Dank der Position der politischen und/oder ökonomischen Macht, eigene kulturelle und politische Normen als allgemeingültige Wahrheiten und Standards erklären“17. Daher sieht sie den Balkanismus als eine Variation des Orientalismus, als „Orientalistist Variations on the Theme `Balkans`“18, denn dessen Logik und Rhetorik sind nicht nur ähnlich, wie Todorovas Interpretation, sondern sie sind identisch.19 Darüber hinaus unterscheidet sie sich von Todorova auch dadurch, dass sie den Konnex zwischen postkolonialen und postsozialistischen Studien auch in den konkreten Projekten der Kolonialisierung des Balkanraumes durch das Ottomanische Reich und die Habsburger Monarchie sieht.20
2.
Repräsentation der Orthodoxie: ByzantismusDiskurs
Von den Autorinnen, die aus einer postkolonialen theoretischen Perspektive über Balkan bzw. Südosteuropa forschen, wurde der Diskurs über Religion, der Byzantismus als Referenzrahmen der Repräsentation der Orthodoxie identifiziert. Dabei funktioniert er nach den gleichen Prinzipien wie der Orientalismus bzw. Balkanismus. Wie bei Said Orientalismus, in dem der Orient mit dem Islam assoziiert wird, wird im Balkanismus, der Balkan mit der christlichen Orthodoxie in Verbindung gebracht. Auf dieses Phänomen der problematischen diskursiven Repräsentation der Orthodoxie hat zunächst
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Milica Bakić-Hayden, Varijacije na temu `Balkan`, Belgrad 2006, 10. Ebd., 18f. Ebd., 22. Ebd., 15. Ebd., 15. Milica Bakić-Hayden, Orientalistist Variations on the Theme `Balkans`: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics, in: Slavic Review 51, 1, 1992, 1–15. 19 Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 20, 32, 57f. 20 Ebd., 17, 37. Diese Position teilen auch die Autoren der Zeitschrift Belgrader Zirkel, Obrad Savić und Dušan Bjelić, die auch die Herausgeber des Buches Balkan as Metaphor. Between Globalization und Fragmentation, Cambridge 2005, sind.
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Maria Todorova die Aufmerksamkeit gelenkt. So spricht sie in diesem Zusammenhang vom „Byzantismus-Diskurs, welcher nicht nur analog zum Balkanismus funktioniert, sondern diesem oft auch übergestülpt wird.”21 Die Orthodoxie wird dabei auf eine Art repräsentiert “dass langlebige mittelalterliche Vorurteile aufgewärmt und mit Kalter-KriegsRhetorik und Nachkriegs-Rivalitäten vermengt werden – ein Phänomen, welches gesonderter Aufmerksamkeit und intensivem Studium bedarf.”22
Dieses Problem stand aber bei ihr nicht im Zentrum des Interesses ihrer Untersuchungen, sondern war lediglich eine Randbemerkung. Aus postkolonialer Perspektive widmete sich bisher vor allem Milica Bakić-Hayden diesem Phänomen, mit dem Ziel die Repräsentation des Balkanismus und Byzantismus zu „demythologisieren“23. Diesem Anliegen hat sie sich in diversen Essays24 vor allem in Orientalist Variation on the Theme `Balkans`: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics (1992)25 und What`s So Byzantine About the Balkans? gewidmet.26 Dabei verortet sie den Byzantismus im größeren Kontext des Balkanismus bzw. Orientalismus27, zu dessen rhetorischen Repertoire „balkanische Mentalität, balkanischer Primitivismus, Balkanisation, ‚Byzantismus‘, orientalischer Despotismus, Orthodoxie, kyrillische Schrift etc.“28
gehören. Die Konzentration ausschließlich auf die negativen Seiten des Byzantinischen Reichs, auf „dramatisch verfälschte historische Gegebenheiten“, rückt den „Byzantinischen Diskurs“, nach Bakić-Hayden, in die Nähe von Balkanismus und Orientalismus29. Bei der Repräsentation von Byzanz handelt es sich nicht lediglich um Vorurteile aus der Vergangenheit sondern „diese strukturiert auch die wissenschaftliche Debatte, die häufig schlecht informiert ist über Byzantinische Gepflogenheiten und sich ihres eigenen ideologischen Erbes und Zugangs nicht bewusst ist.“30
Im Byzantismus wird die Bedeutung der so genannten byzantinischen Tradition hochstilisiert und die Implikationen dieser Tradition werden als essentialistische Deutungsmuster für die politischen Ereignisse durch Jahrhunderte bis 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Maria Todorova, Imagining, 162. Übersetzung durch die Herausgeber. Ebd., 162. Übersetzung durch die Herausgeber. Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 16. Die überarbeiteten Artikel zur Anwendung des Orientalismus im Balkanraum sind auf Serbisch in Buchform erschienen. Siehe: Milica Bakić-Hayden, Varijacije. Koautor dieses Textes der in Slavic Review 51, 2,1992, 1–15 erschienen ist, ist Robert M. Hayden. Erschienen in Obrad Savić, Dušan Bjelić, Balkan as Metaphor, 61–78. Milica Bakić-Hayden, What`s So Byzantine, 62, 82. Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 34. Milica Bakić-Hayden, What`s So Byzantine, 62. Ebd., 62. Übersetzung durch die Herausgeber.
Repräsentierte Orthodoxie
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in die Gegenwart im orthodoxen „Kulturkreis“ angewandt. Im Folgenden werden die zentralen Aspekte der so genannten byzantinischen Tradition skizziert, die für die diskursive Repräsentation der Orthodoxie, nach Bakić-Hayden, von Relevanz sind. Bei der Rede von byzantinischer Tradition wird zunächst Orthodoxie bzw. „die byzantinische Kirche“31 als Hauptträgerin der byzantinischen Tradition betrachtet. Dabei wird sie als autoritär, eine staatliche Institution, passiv, cäsaropapistisch, antidemokratisch, totalitär, unfähig für den Dialog und intellektuelle Entwicklung etc. beschrieben.32 Ihre Neigung zu autoritäreren, antipluralistischen oder gar totalitären Staatsformen, die durch Jahrhunderte hinweg bis in die jüngste Zeitgeschichte33 angeblich zu belegen seien, werden dabei aus der Symphonia, einer byzantinischen Vision (John Meyendorff) der Gestaltung des „Staat-Kirche Verhältnisse“ hergeleitet.34 Zweitens suggeriert die Rede von byzantinischer Tradition, dass die orthodoxe Kirche für Kontinuität und Stabilität des orthodoxen „Kulturkreises“ durch die Geschichte sorgt.35 Schließlich wird die Orthodoxie durch die Einbettung in die byzantinische Tradition als minderwertig repräsentiert.36 Eine solche orientalische Dichotomie der Religion wurde nach Bakić-Hayden im Kontext der postjugoslawischen Kriegen revitalisiert. Dies gilt gleichermaßen für national wie international geführte Diskussionen.37 So wurden die jugoslawischen nord-westlichen, römisch-katholisch geprägte Republiken als „progressiv, fleißig, tolerant, demokratisch…mit einem Wort – europäisch – erklärt, im Vergleich zu dem primitiven, faulen, intoleranten Balkan“38
zu dem die süd-östlichen, orthodox geprägten Republiken zählten. Bakić-Hayden zeigte dass die Symphonia auf dem byzantinischen Konzept der Diarchie des „imperium“ und „sacerdotium“ beruht, die im Imperator und Patriarchen verkörpert wurden.39 Die Symphonia zu formulieren war dabei nur möglich, weil im Imperium die Religion bzw. das Christentum dominierte. Da es sich bei Byzanz also um ein Imperium Christianum handelte, in dem „sowohl der Herrscher als auch der Patriarch sich auf die selben christlichen Geschichten bezogen und ihre Legitimät daraus ableiteten.“40
31 Ebd., 62. 32 Milica Bakić-Hayden, What`s So Byzantine, passim. 33 Der Einfluss der Orthodoxie auf Kultur wird als Ursache der defizitären politischen Kultur in den postsozialistischen Staaten erklärt (2005: 62, 64). 34 Vgl. Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 42f, 82. 35 Milica Bakić-Hayden, What`s So Byzantine, 63. 36 Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 32, 36. 37 Ebd., 41ff. 38 Ebd., 41. 39 Milica Bakić-Hayden, What`s So Byzantine, 66. 40 Ebd., 67.
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waren gleichzeitig ihre Funktionen klar verteilt. So hatte der Imperator trotz diverser Privilegien „keinen Einluss auf dogmatische Angelegenheiten oder die Lehre der Kirche” und der Patriarch hatte “seine eigenen Möglichkeiten bis hin zur Exkommunikation um der Macht des Herrschers entgegenzutreten.”41 In der Realgeschichte gab es anstelle der Symphonia als Idealmodell, eher Disharmonie in den „Staat-Kirche Verhältnissen“ der mehrheitlich orthodoxen Ländern, wobei der Effekt auf die Kirche meistens negativ war.42 Trotzdem habe die Kirche ihrem eigenen Verständnis nach, niemals ihren heilsgeschichtlichen Auftrag und ihre innere Freiheit verloren.43 Aufgrund der komplexen geschichtlichen Dynamik zwischen Staat und Kirche sieht sie den oft erhobenen Vorwurf von der angeblichen Neigung der Orthodoxie zur Unterwerfung unter den Staat, die mit der Symphonia angeblich begründet wird, zu Recht als „voreingenommenen Anachronismus“ an44. Bakić-Hayden hat hier gezeigt, dass es sich bei diesem Modell um eine zeitbedingte Vorstellung handelt, die nicht so simplifiziert übertragbar auf andere historische und politische Kontexte ist. Bakić-Hayden kritisierte auch die Annahme, dass die „byzantinische“ Komponente in allen historischen Perioden ohne Berücksichtigung zahlreicher historischer Zäsuren bis zur Gegenwart präsent sei: „Obwohl die Ortodoxe Kirche vor allem durch die liturgische Vision des Reiches Gottes für die Kontinuität byzantinischer Christenheit steht, hat die Ottomanische Periode zu einer Vielzahl an Verwerfungen im sozialen und kulturellen Leben geführt.”45
Wegen dieser Zäsuren, bei denen hier auch die kommunistische Periode zu ergänzen ist, schlussfolgert sie: „Es gibt keine direkte Verbindung zwischen der Orthodoxie und dem angeblichen Scheitern der Zivilgesellschaft in den postkommunistischen ‚Byzantinischen Gesellschaften‘“46
Angebliche Kontinuitäten und Parallelitäten in den diversen historischen Perioden betont sie korrekt, „sollten nicht als mehr denn als Parallelen betrachtet werden: Letztendlich gibt es keine Überschneidungen.“47 Bei der Hierarchisierung der Religion wird die orthodoxe Kirche „in der Regel schlimmer [im postjugoslawischen Kontext schlimmer als römisch-katholische] beurteilt, aus Gründen die überhaupt nicht offensichtlich oder real
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Ebd., 67. Ebd., 68. Ebd.,68. Ebd.,68. Ebd., 63. Übersetzung durch die Herausgeber. Ebd., 63. Übersetzung durch die Herausgeber. Ebd., 66. Übersetzung durch die Herausgeber.
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begründet sind“48 Am Beispiel vom Verhalten der Serbisch Orthodoxen Kirche in der Vergangenheit gegenüber dem Staat argumentiert sie, dass diese je nach eigenem Interessen das herrschende System entweder unterstützt oder unterminiert hat „was sehr ähnlich ist zu dem Verhalten anderer christlicher Kirchen in Europa.“49 Auch hier zeigt sich die Realgeschichte alles andere als statisch, weshalb Bakić-Hayden die einseitigen Deutungsmuster kritisiert: „Daraus ergibt sich, dass partielles Wissen vereinfachte Bilder über Dinge erzeugt, die dann als „Argumente“ und `Erklärungen` präsentiert werden.“50
Ihrer Meinung nach lehnt sich eine solche Bewertung der Religionen auf dem Balkan an die hierarchische Bewertung von Ost und West an: „Auf der allgemeinen Ebene symbolisiert die Teilung in Ost und West die Teilung der christlichen Kirchen in östliche (orthodoxe) und westliche (römisch-katholisch und protestantische Kirchen). […] Die gesamte Hierarchie dieser Art kann im Sinne der symbolischen Geografie als eine Skala der verfallenden Werte verdeutlicht werden, wenn man von Norden bzw. Westen (der größte Wert) bis Süden bzw. Osten (niedrigster Wert) geht.“51
Tendenziell wird dabei allgemein „jede Religion, die südlich und östlich von uns ist, als konservativer und primitiver betrachtet.“52
3.
Rezeption und Relevanz der postkolonialen Studien in den postsozialistischen Studien
Die Bedeutung der Implementierung postkolonialer Theorien in den postsozialistischen Raum betonte Gayatri Chakravorty Spivak, in ihrem Vorwort zur serbischen Übersetzung ihres Buches A Critique of Postcolonial Reason folgendermaßen: „Die metaphorische (Hervorhebung I.Z.P) Anwendung der postkolonialen Theorie auf den Balkan ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit.“53
Mit der Verwendung des Wortes „Metapher“ hebt Spivak hervor, dass die Anwendung der postkolonialen Theorien nicht zwangsläufig mit der konkreten kolonialen Erfahrung einhergeht, sondern dass die Verknüpfung mit der Balkanforschung durch die Frage nach der diskursiven Repräsentation dieses 48 49 50 51 52 53
Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 45. Ebd., 45. Ebd., 45. Ebd., 35. Ebd., 36. Zitiert nach: Gayatri Chakravorty Spivak, In Memoriam: Edward W. Said, Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 23, 1–2, 2003, 6–7, hier: 6; URL: https://muse.jhu.edu/article/191292/pdf. Übersetzung durch die Herausgeber.
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Raumes sinnvoll ist. Auch andere postkoloniale Theoretiker haben die Ausweitung der postkolonialen Ansätze auf postsozialistische Studien, die von Todorova vorgenommen wurde positiv aufgenommen.54 Mit anderen Worten: Ihre Ausführungen gehören bereits zu den „kanonischen Texten“ der postkolonialen Studien, die in mehrere Sprachen bereits übersetzt worden sind. Im deutschen Südosteuropa Diskurs gehören in der Regel die Ausführungen von Todorova nicht zum wissenschaftlichen Mainstream. Dies hat mehrere Gründe. Zunächst könnte dies durch die Polemik zwischen dem Historiker Holm Sundhaussen und Todorova erklärt werden.55 Sundhaussen bringt in der Polemik meines Erachtens keine substantielle Kritik an Todorova an, sondern wiederholt die von Todorova kritisierten orientalisierenden Othering-Topoi des Balkanismus, wie etwa die Konzentration auf die balkanische „Realia“ der Gewalt, die Konstruktion des fast essentialistischen Gegensatzes zwischen dem „Modell Byzanz“ und dem „Abendland“, das „einzig“ konfessionell zu begründen und erklären sei, sowie die Konzentration auf nationalistische Ideologien und ihre Mythen im Balkanraum,56 Er beurteilt Todorovas Werk, mit den Worten: „Sie hat kein Buch über den Balkan geschrieben, sondern ein Buch über den Westen, über dessen Arroganz und Ignoranz.“57 Der erste Teil dieses Satzes ist sicherlich richtig, denn sie hat tatsächlich die „westliche“ Repräsentation des „balkanisch Anderen“ thematisiert und nicht die Balkangeschichte. Der Rest seiner Ausführungen veranschaulicht seine erkenntnistheoretische Position. In dem Streit reden zwei Historiker aus unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Positionen – einer aus positivistischer (Sundhausen) und die Andere aus poststrukturalistischer (Todorova) – aneinander vorbei.58 Auch der Historiker Klaus Buchenau, der sich insbesondere mit den Religionen in den postsozialistischen Ländern beschäftigt, lehnt die postkoloniale Perspektive ab. Er hypostasiert den Balkan zum radikal „Anderen“, denn für
54 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 15. 55 Zur Sundhaussen-Todorova-Polemik in der die Meinungsunterschiede wiederholt und geblieben sind, siehe Maria Todorova, Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. Geschichte und Gesellschaft 28, 2002, 470–492 und Holm Sundhaussen Der Balkan: Ein Plädoyer für Differenz. Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, 608– 624; Holm Sundhaussen, Der „Wilde Balkan“. Imagination und Realität einer europäischen Konfliktregion, in Ost-West. Europäische Perspektiven, 1,1, 2000, 3–15 56 Holm Sundhaussen, Der „Wilde Balkan“, 12ff, 15. 57 Ebd., 15. 58 Der Positivist versteht unter Balkan den konkreten geografischen Ort/Raum und seine Geschichte und die Poststrukturalistin Balkan als Metapher bzw. als den diskursiven Ort/Raum der Repräsentation; der Positivist redet über die balkanischen Gewaltrealia, die Poststrukturalistin über die epistemische Gewalt; der Positivist redet über tatsächliche Ereignisse, die Poststrukturalistin über diskursive Ereignisse; der Positivist liest Fakten der Balkangeschichte, die Poststrukturalistin dekonstruiert die geschichtliche Repräsentation die ebenfalls Fakt ist, allerdings „social facts“ (Paul Rabinow) etc.
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ihn bleibt der Balkan „das uneuropäische ‚Andere‘“59. Das Balkanismus Konzept von Todorova, die eine erkenntnistheoretische Erweiterung in der Südosteuropaforschung eingeleitet hat, beurteilt er lakonisch: „Diese These ist sicher nicht ganz falsch, und sympathisch ist sie obendrein, denn sie ist geeignet, das gebeutelte Selbstwertgefühl der Südosteuropäer zu stärken.“60
Hier wird gegenüber der Problematisierung des komplexen Phänomen der kolonialen Repräsentation gar nicht die Anstrengung unternommen eine wissenschaftlich elaborierte Kritik zu formulieren (sondern wird ad hominem bzw. ad feminen argumentiert). Ein weiterer Grund für die mangelnde Rezeption der Einführung der postkolonialen Theorien kann auch darin liegen, dass sie relativ jung sind und sich im akademischen Umfeld erst seit den 1980er Jahren etabliert haben und dass der Prozess der Implementierung nach wie vor nicht in allen Disziplinen abgeschlossen ist.61 Dies gilt für die deutsche etablierte Geschichtswissenschaft, in denen der postkoloniale Ansatz ein „Nischendasein“62 vorweist. Für die südosteuropäische Geschichtsschreibung trifft das ebenfalls zu. Dieser Beitrag betont ebenfalls die Relevanz der Anwendung der postkolonialen Theorien, bzw. des Konzepts der Kolonialität im Sinne der diskursiven Repräsentation in den postsozialistischen Studien. An dieser Stelle ist hervorzuheben – weil es in der Südosteuropa Forschung oft missverstanden wird – dass die koloniale Vergangenheit kein ausschlaggebendes Kriterium für die postkoloniale wissenschaftliche Beobachtungsperspektive eines Phänomens oder Raumes ist. Die postkolonialen Theorien haben auch „für Länder und Regionen, die zwar selbst nie direkt in den Kolonialismus involviert waren, in denen sich aber dennoch Effekte kolonialer Denkweisen und Imaginationen ausmachen lassen, eine Bedeutung.“63
Im Gegensatz zum früheren antikolonialen Denken, das die Folgen des Kolonialismus untersuchte, geht es bei Kolonialität um Repräsentationen in Diskursen und diskursiven Praktiken.64
59 Klaus Buchenau, Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek, Frankfurt a. M. 2006, 9. 60 Ebd., 9. 61 Vgl. Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 20. 62 Olaf Kaltmeier, Repräsentationen, 204. 63 Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 9. Zu einen wichtigen Langzeiteffekt des Kolonialismus zählt sie dabei „auch eurozentrische und rassistische Denkweisen, die sich in Kunst, Literatur und weiteren Bereichen der Kultur, in den Wissenschaften und in den Medien niederschlagen – und sich in den unterschiedlichsten Bereichen von Politik und Gesellschaft finden.“ Ebd. 64 Wolfgang Reinhard, Kolonialgeschichtliche Probleme und kolonialhistorische Konzepte, in: Claudia Kraft / Alf Lüdtke / Jürgen Martschukat (Hg.) Kolonial Geschichten, 67–94, hier: 71.
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Für unseren Zusammenhang ist es darüber hinaus wichtig, dass die postkolonialen Theorien als kritische Theorien die etablierten Denkmuster herausfordern. Als wissenschaftspolitisches Projekt bemühen sie sich darum, „alternative, d.h. postkoloniale Sichtweisen zu etablieren“.65 So verstanden als eine Kritik an eurozentrischer Epistemologie und Kritik an der Konstruktion einer binären Gegenüberstellung von dem „West and the Rest“ (Stuart Hall), in dem der Rest als unizivilisiert, barbarisch, unterlegen, rückständig, minderwertig etc. explizit hierarchisiert wird, ist die Anwendung der postkolonialen Studien auf die postsozialistischen Ländern und Kontexte durchaus möglich und nötig, gar eine „entscheidende Aufgabe für unsere Welt“, wie Spivak dies formulierte.
4.
Methodologische Überlegungen gegen/zur Repräsentation des „religiös Anderen“
Die Persistenz, mit der als „religiös Andere“, sowohl der Islam im kognitiven Rahmen des Orientalismus als auch die Orthodoxie im Rahmen des Byzantismus aktuell repräsentiert werden, bedarf keiner ausführlichen Belege – sie sind auf allen Diskursebenen, wie etwa Politik und Wissenschaft, vor allem aber in den Medien omnipräsent. Die Hegemonie der eurozentrischen Wissens und Machtrepräsentation ist freilich ein globales Phänomen, das sich nicht lediglich auf den Orient bzw. Islam und den Balkan bzw. Orthodoxie beschränkt. So wurde und wird die Art der Wissensproduktion und Wissensrepräsentation fast von jeder renommierten postkolonialen TheoretikerIn aus der Perspektive diverser geografischer Räume problematisiert und durch deren programmatische Schwerpunkte in Frage gestellt. Hier sind exemplarisch zu nennen aus lateinamerikanischer Perspektive: Walter Mignolos66 Thematisierung der „Geopolitik des Wissens“ und Forderung nach Dekolonialisierung des Wissens bzw. nach „epistemischen Ungehorsam“; sowie aus indischer Perspektive: Gayatri Chakravorty Spivaks67 Identifizierung der „epistemologischen Gewalt“ und der Forderung der Subalterne, bzw. denjenigen außerhalb der Wissenszentren mehr Gehör zu verschaffen, Dipesh Chakrabartys68 Thematisierung der Sonderstellung des eurozentrischen Wissens und der Forderung nach ihrer Dekonstruktion in der Parole „Europa provinzialisieren“. 65 Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 12. 66 Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. 67 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? in: Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin (Hg.) The Post-colonial Studies Reader. London/ New York 1995, 24–28. 68 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton/Oxford 2000.
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Im Kontext der postsozialistischen Studien hat Maria Todorova dafür plädiert, sich von den essentialistischen Darstellungen des Balkans zu verabschieden, denn „der Balkan verfügt über eine facettenreiche Ontologie, die gewissenhafter und komplexer Studien bedarf, und sich durch andauernde und tiefgreifende Wandel auszeichnet.“69
Dabei forderte sie in der Erforschung der aktuellen Phänomene nicht „balkanische Geister“70 als Heuristik anzuwenden, sondern „the same rational criteria that the West reserves for itself“.71 Dieser Beitrag fordert dasselbe: In den wissenschaftlichen Untersuchungen der „religiös Anderen“ sollen dieselben Standards der aktuellen qualitativen empirischen Sozialforschung der Kulturund Sozialwissenschaften benutzt werden, weil die methodologischen Postulate der qualitativen Sozialforschung zur „epistemologischen Dekolonisation“ beitragen könnten. Im Folgenden werden die von den postkolonialen Theoretikern als Problemfelder der wissenschaftlichen Repräsentation des „Anderen“ und/oder „religiös Anderen“ herangezogen und die Postulate der qualitativen Sozialforschung, die als Gegenstrategie angewandt werden können, erklärt. Dabei werden weder alle kritisierten Aspekte dieser Repräsentation dargestellt noch alle methodologischen Prinzipien72 ausführlich vorgestellt. Hier soll lediglich das Potential der qualitativen empirischen Sozialforschung für die postkoloniale wissenschaftliche Beobachtung des vor allem „religiös Anderen“ exemplarisch punktuell aufgezeigt werden.
4.1
Repräsentation vs. Selbstpräsentation
Von den postkolonialen Theoretikern wurde die fehlende Selbstrepräsentation der „Anderen“ in den dominanten Repräsentationssystemen moniert. Nach Said gehört zu orientalistischen „Hauptdogmen“, dass der Orient gar „der Selbstdefinition unfähig ist“73. Die Repräsentation könnte durch Selbstpräsentation der „Anderen“ gemildert werden indem das erkenntnistheoretische Prinzip der qualitativen Sozialforschung Subjektbezogenheit implementiert wird. Das Prinzip der Subjektbe-
69 Maria Todorova, Imagining, 184. Übersetzung durch die Herausgeber. 70 Dabei spielt sie auf das Buch Die Geister des Balkans. Eine Reise durch die Geschichte und Politik eines Krisengebiets von Robert D. Kaplan an. 71 Maria Todorova, Imagining, 186. 72 Siehe dazu ausführlicher Irena Zeltner Pavlović, Methodologische Implikationen der interpretativen Zugänge zur Erforschung des religiösen Wandels in den postsozialistischen Ländern, in: Ökumenische Rundschau 1, 2016, 52–66. 73 Edward Said, Orientalismus, Frankfurt a.M. 2009, 345.
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zogenheit bedeutet, dass der Mensch bzw. das „Forschungsobjekt“ als Gesprächspartner74 und damit „als gleichberechtigter Partner seriös/ernst zu nehmen“ ist.75 Das „Forschungsobjekt“ wird somit „als ein Wesen betrachtet und modelliert, das grundsätzlich in der Lage ist, über sich selbst, über seine Verbindungen mit der gegenständlichen, sozialen und geistig-kulturellen Umwelt, über seine Weltwahrnehmungen und -deutungen, seine Lebensgeschichte, seine sozialhistorische Einbindung zu reflektieren und Auskunft zu geben […]“76. Das Ziel der qualitativen Sozialforschung ist dabei, diesen „subjektiv gemeinten Sinn des untersuchten Gegenstandes aus der Perspektive der Beteiligten“77 zu rekonstruieren. Die Selbstauskünfte der Subjekte sind dabei von Interesse, weil ihre Sichtweisen und Deutungen das Handeln bestimmen. Somit rückt die Sichtweise des befragten Menschen, sein Relevanzsystem in der Deutung bestimmter Phänomene stärker in den Vordergrund.
4.2
Epistemologischer Ethnozentrimus vs. epistemologische Pluralität
Die aus Indien stammende postkoloniale Feministin Chandra Talpade Mohanty kritisierte den „epistemologischen Ethnozentrismus“, der von der Voraussetzung ausgehe, dass der Westen „erster Referenzpunkt in Theorie und Praxis“78 bei der wissenschaftlichen Repräsentation sei. Dabei kritisierte sie den „methodologischen Universalismus“ der sich manifestiere 1) in der Anwendung der quantitativen Verfahren bei der Überprüfung von Hypothesen; 2) bei der Anwendung von theoretischen Konzepten, die „häufig ohne Verweis auf ihre kulturelle Verortung und historische Kontextualisierung“ gebraucht würden und 3) deren Operationalisierung der Komplexität der Phänomene nicht gerecht werde.79 Dagegen plädiert sie gegen verallgemeinernde Theoriebzw. Hypothesen-testende Verfahren und für kontextspezifische und kontextsensible Studien.
74 Franz Breuer, Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis, Wiesbaden 2010. 75 Jörg Bogumil / Stefan Immerfall, Wahrnehmungsweisen empirischer Sozialforschung. Zum Selbstverständnis der Sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses. Frankfurt am Main 1985, 69, Zit. nach Siegfried Lamnek, Qualitative Sozialforschung. Ein Lehrbuch, Weinheim 2010, 13. 76 Franz Breuer, Grounded Theory, 19. 77 Uwe Flick, Sozialforschung. Methoden und Anwendung. Ein Überblick für die BAStudiengänge, Reinbek bei Hamburg 2009, 25. 78 Chandra Talpade Mohanty, Feminist without Borders. Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Durham, London 2003, 18. 79 Ebd., 33ff.
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„Epistemologische Pluralität“ ist auch ein Anliegen der qualitativen Sozialforschung, die durch das Prinzip der Offenheit zu erreichen sei. Der Aspekt der Offenheit als erkenntnistheoretisches Prinzip80 bedeutet, dass in der Forschungskonzeption der qualitativen Sozialforschung auf Theorien und Hypothesen sowie ihre Operationalisierungen ex ante verzichtet wird.81 So kritisiert Lamnek das quantitative Verfahren, weil die Informationen über ein Feld durch das „methodische Filtersystem ausgesiebt“ werden und plädierte um neue Erkenntnisse über ein Feld zu gewinnen die Theorien bzw. Hypothesen generierende Verfahren zu benutzen.82 Ein weiterer Kritikpunkt an den theorie- bzw. hypothesentestenden Verfahren, der in der qualitativen Sozialforschung erhoben wurde, bezieht sich auf ihr Ziel allgemeine, ahistorische Gesetzmäßigkeiten bzw. nomologische Aussagen zu finden, die den sozialen kulturell-historischen Kontext eines bestimmten Feldes nicht berücksichtigen.83 Demgegenüber will die qualitative Forschung die Perspektive der Beteiligten selbst stärker einbringen, um „das für sie Relevante zum Thema zu machen und in seinen Kontexten darzustellen“.84 Daraus ergibt sich die methodologische Konsequenz der qualitativen Verfahren eine stärkere Kontextualisierung des Forschungsfeldes zu berücksichtigen.
4.3
„Objektivität“ vs. Reflexivität
Aus postkolonialer Perspektive wurde auch die eurozentrische Vorstellung von „Objektivität“ kritisiert, in der die partikulare Beobachtungsperspektive für universell erklärt wird. Wie oben dargestellt monierte Bakić-Hayden bei den „westlichen“ Beobachtern, dass sie die eigene erkenntnistheoretische Position zur Objektivitätsnorm erklären, ohne dabei zu reflektieren, dass ihre „Objektivität“ durch „kulturelle Ideologie bedingt ist“.85 Auch dieses Phänomen wird in der qualitativen Sozialforschung methodologisch beim Prinzip Reflexivität problematisiert. Die qualitative Sozialforschung geht davon aus, dass es zwischen ForscherInnen als „Person der Alltags“ und als „Person der Forschungswelt“ keine „seinsmäßig-kategoriale Differenz“ gibt.86 Das bedeutet 80 Über die anderen Bedeutungsebenen des Postulats der Offenheit siehe ausführlicher z.B. Cornelia Hellferich, Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews, Wiesbaden 2011, 114–117. 81 Diese Vorgehensweise etablierte sich durch die Kritik an der kritisch-rationalistischen Wissenschaftstheorie (Kritischer Rationalismus), und an deren theorie- bzw. hypothesentestenden Forschungsverfahren. Siehe dazu ausführlich bei Siegfried Lamnek, Qualitative, 20. 82 Siegfried Lamnek, Qualitative, 20. 83 Franz Brauer, Grounded Theory, 29. 84 Uwe Flick, Sozialforschung, 27. 85 Milica Bakić-Hayden, Varijacije, 15. 86 Franz Breuer, Grounded Theory, 20, 26.
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Irena Zeltner Pavlović „Jenseits der Mitgliedschaft in ihrer disziplinären Gemeinschaft (die durch Ansprüche strenger wissenschaftlicher Postulate und Reglemente gekennzeichnet ist) sind sie [die ForscherInnen; IZP] Mitglieder einer alltagsweltlichen Kultur, in der spezifische Anschauungs- und Denkweisen herrschen und in der sie bestimmte persönliche Erfahrungen gemacht haben. Sie bringen als Personen individuelle, lebensgeschichtlich geprägte Vorstellungen und Haltungen mit, bevor sie in die wissenschaftliche Thematisierung eines Problems einsteigen.“87
Die alltäglichen und in der wissenschaftlichen Sozialisation erworbene Präkonzepte bzw. das Vorwissen werden als unverzichtbarer Bestandteil der Erkenntnis betrachtet. Mit Breuers Worten: „Präkonzeptfreie Erkenntnis ist prinzipiell nicht möglich.“88 Da es also eine naive oder unmögliche Forderung an ForscherInnen ist, sich von der eigenen alltäglichen und wissenschaftlichen Sozialisation zu verabschieden, wird stattdessen der Anspruch nach Offenlegung und Reflexion eigener Präkonzepte erhoben, und zwar sowohl im „situativen Verstehensprozess“ (im Interview), als auch im „rekonstruierenden Verstehensprozess“ (während der Interpretation).89 Dabei wird vorausgesetzt: „Ein gewisses Maß an `Entselbstverständlichung`, an Verfremdung und Anzweifelung des Gewohnten, der vertrauten Schemata, des üblicherweise als selbstverständlich Erscheinenden ist in diesem Zusammenhang nötig. Eine Betrachtung des (vermeintlich) Normalen mit ‚fremden Augen‘ kann es ermöglichen, für die Entdeckung konstitutiver Bedeutungsaspekte sozialer Welten offen und empfänglich zu sein“.90
Die Offenlegung der eigenen Präkonzepte hat den Zweck, dass die ForscherInnen eigene Erkenntnisvoraussetzungen explizieren und reflektieren. Ideal wäre es, eigenen Deutungen nicht den Status einer „universellen Wahrheit“ zu geben, sondern diese als eine Variation im Universum der möglichen Wahrheiten zu betrachten.
5.
Schlussbemerkung
Auch The Balkan Writes Back.91 So existiert die postkoloniale Perspektive in den postsozialistischen Studien bereits ein Vierteljahrhundert. Von einem abgeschlossenen Prozess der Etablierung dieser Perspektive oder gar von einer 87 Ebd., 20. 88 Ebd., 26. 89 Cornelia Helfferich, Qualität, 24. Wie das genau idealiter im Forschungsprozess zu erfüllen ist siehe ausführlich bei: Franz Breuer, Grounded Theory, 115–142. 90 Ebd., 28. 91 Anspielung an den Titel des Buches The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures von Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin aus dem Jahr 1989.
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Mainstream Position in der Forschung kann allerdings keine Rede sein. Doch gilt Todorovas Buch als mächtigste Stimme der Selbstrepräsentation, die bisher vorgelegt wurde und als große Inspiration für postsozialistische Studien. In der deutschen Südosteuropa-Forschung wird die Frage nach kolonialen, diskursiven Repräsentationen des südosteuropäischen Raumes in der Regel marginal behandelt. Hier dominiert, was den Balkanraum betrifft, in der Regel eine binäre essentialistische Gegenüberstellung des homo balcanicus und homo europeaus. Bei der Repräsentation der Orthodoxie dominieren ebenfalls Othering-Diskurse, die den hybriden Charakter jeder Konfession außer Acht lassen. In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass die Anwendung der qualitativen Verfahren der Sozialforschung zur „Dekolonialisierung“ der eurozentrischen Deutungshoheit zu der wissenschaftlichen Beobachtung des „[religiös] Anderen“ beitragen kann. Somit schließt sich dieser Beitrag den lange anhaltenden Diskussionen an um die Methodologie und Methoden im Kontext der postkolonialen Studien, die bereits dazu geführt haben, dass die methodische „Werkzeugkiste“ der poststrukturalistischen Ansätze, durch „Werkzeugkisten“ anderer kultur-und sozialwissenschaftlichen Ansätze erweitert wurden.92 Die Anwendung der methodologischen Prinzipen und Verfahren der qualitativen Sozialforschung scheinen besonders fruchtbar zu sein, denn hier wurde das Motto Wie im Westen, so auf Erden93 wenigstens was die unreflektierte Applikation „westlicher“ theoretischer Konstrukte und Konzepte auf andere gesellschaftspolitische Kontexte betrifft, herausgefordert.
92 So fanden beispielhaft im Rahmen der Geschichtswissenschaft die postkolonialen Theorien Anschluss an Sozialgeschichte oder die Ansätze der Oral History. Siehe dazu ausführlicher Olaf Kaltmeier, Repräsentationen, 209f. 93 Anspielung an den Titel des Buches Wie im Westen, so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik von Wolfgang Sachs (1993).
Bonifatius, Christus und die Axt am Baum. Ein Beitrag zur Soteriologie in postkolonialer Perspektive Marion Grau
„Im kolonialen Diskurs ist jener Raum des anderen immer von einer idée fixe besetzt: Despot, Heide, Barbar, Chaos, Gewalttätigkeit. Diese Symbole mögen zwar immer dieselben sein, aber ihre ambivalente Wiederholung macht sie zu Zeichen einer weitaus tieferen Krise der Autorität, die im gesetzlosen Schreiben des kolonialen Sinnes zum Vorschein kommt. Dort verwandeln die hybriden Stimmen des kolonialen Raums sogar die Wiederholung von Gottes Namen in etwas Unheimliches: „jeder Begriff der Eingeborenen, den der christliche Missionar verwenden kann, um die göttliche Wahrheit zu vermitteln, ist bereits als auserwähltes Symbol eines dazu passenden tödlichen Irrtums besetzt.“1 Homi Bhabha
Was heißt es, postkoloniale Theologie im deutschen Sprach- und Kulturraum zu treiben? Welchen Beitrag kann postkoloniale Theorie zur systematischen und interkulturellen Theologie leisten, und was kann sie zu brennenden Themen in der Gesellschaft sagen? Dieser Beitrag will ein Beispiel dafür geben, wie postkoloniale Theorien dazu beitragen können, nationale und imperiale Strukturen differenziert zu interpretieren und wichtige Muster zu beschreiben, die für konstruktive Wiedererarbeitungen von theologischen Loci zur Verfügung stehen. Was bedeutet Postkolonialität im deutschen Zusammenhang? Kolonialistische und imperialistische Dynamiken und Systeme mit verschiedenen Ausformungen gibt es in der deutschen Vergangenheit und Gegenwart zu entdecken, zumindest seit der Zeit der römischen Besatzung. Imperien, Königreiche und Eroberungskämpfe haben eine vielschichtige Geschichte hinterlassen, die bis heute nachwirkt. Postkoloniale Theoriebildung hat sich größtenteils mit modernen französischen und britischen Imperien beschäftigt und weniger mit der deutschen Kolonialgeschichte, die ja bekanntlich nach dem ersten Weltkrieg einen Abschluss fand. Aber nicht nur die koloniale Geschichte in Übersee, sondern auch Strukturen des Völkermordes im eigenen Lande, die Ambitionen des Naziregimes nach „Lebensraum” und „Großreich” im zweiten Weltkrieg, und die komplizierte Nachkriegsgeschichte Deutschlands müssen 1
Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 150.
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genauer in Betracht gezogen werden. Auch der Holocaust ist ein Teil der postkolonialen Geschichte und Verantwortung Deutschlands. Für die Theologie nach dem Holocaust und in einer Zeit von wiederauflebenden faschistoiden Strömungen kann die Methodik der postkolonialen Theorie mit ihren feinfühligen Instrumenten helfen, die komplizierten Dynamiken von machtvollen politischen und theologischen Diskursen zu analysieren.
1.
Einsichten aus der Postkolonialen Theorie
Postkoloniale Theorien lenken den Blick auf koloniale Diskurse und Machtverhältnisse in Kontext und Geschichte. Daher kann eine Theologie die sich als postkolonial versteht, sowohl die koloniale Geschichte besser verstehen, als auch gegenwärtige Ereignisse feinfühliger interpretieren. Die koloniale Geschichte stellt einen wichtigen Faktor in der Kritik und Konstruktion von Theologie überhaupt dar, denn postkoloniale Theorie macht koloniale Geschichte die in der Formation theologischer Begriffsbildung und deren systematischer Ausformulierung relevant gewesen ist und die bestimmte koloniale Narrative von Macht, Rasse, Religion, Geschlecht, Politik und Wirtschaft legitimiert hat, sichtbar. Oft nimmt sie die Form einer feingliedrigen Machtanalyse an, und fokussiert besonders auf Sprachgebrauch und ideologische Strukturen sowie auf die Emotionen, die Relationen determinieren und formen. Im Idealfall beziehen postkoloniale Ansätze eine Gender- und Klassenanalyse mit ein, und beleuchten die Verzerrungen in der Vorstellung von Völkern und Kulturen, die unter anderem bereits von Edward Said mit seiner Orientalismuskritik angesprochen wurden. Das vieldiskutierte Konzept der Hybridität kann hier nur kurz erwähnt werden um anzudeuten, dass die innere (Binnen-)Vielfalt von Menschen, Kulturen, Nationen, etc. nicht vergessen werden darf. Es problematisiert Vorstellungen von Einfachheit, Reinheit, und Unvermischtheit, die sich oft als Konstruktionen mit willkürlicher Abgrenzung erweisen. Ambivalenz wiederum ist ein Konzept, das die moralische und strukturelle Komplexität von Prozessen und auch von Narrativen und Konzepten zum Ausdruck bringen soll und dazu beiträgt nicht der Versuchung zu erliegen, sie künstlich zu begrenzen. Ein Beispiel wäre die Kritik der Kreuzestheologie von feministischer und pazifistischer Seite, die auf die beständige Gefahr der Gewaltausübung im Namen des Kreuzes hinweist. Gleichzeitig insistieren besonders Theologinnen und Theologen in Ländern politischer Instabilität und staatlicher Gewalt auf die solidarische Signalkraft des Kreuzes Christi für die gequälten Körper und Seelen der Opfer. Das heißt, ein Symbol, Konzept, Bild, Narrativ, hat immer verschiedene Funktionen und birgt mehrere mögliche Interpretationen in sich. Es ist daher wichtig, Sensibilität für die Erfahrungen
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und Realitäten der verschiedenen Akteure, die sich in einem komplexen Zusammenhang befinden, miteinzubeziehen, und nicht nur die binäre Unterscheidung von Tätern und Opfern zu treffen, sondern zu beobachten, wie Handlungskraft, Macht und Gewalt. Machtverhältnisse zwischen sexuellen Identitäten ineinanderwirken und wie sie in inter-ethnische, globale, interkulturelle und interreligiöse Strukturen eingebunden sind. Sowohl Analysen als auch Handlungskonzepte müssen diese Intersektionalität von Macht- und Gewaltverwerfungen genau in den Blick nehmen. Für die postkoloniale Theologie sehe ich weiterhin als wichtig an, interreligiöse Annäherungen in Zeiten der erhöhten Mobilität und des Konflikts genauer zu reflektieren, denn interkulturelle und komparative Formulierungen von Heil sind für die kontextuelle Verortung des christlichen Glaubens in pluralistischen Kontexten von großer Bedeutung. So werden mehrere mögliche Akteure sowohl innerhalb als auch außerhalb der religiösen Strukturen und Kirchen durch neue Informationen bereichert und wichtige religiös-kulturelle Spannungen können angesprochen werden, idealerweise noch bevor sie sich zu offenen Konflikten entwickeln. Die Beiträge verschiedener systemkritischer deutscher Theologen sind hilfreich um den Kontext zu beleuchten: Dietrich Bonhoeffer und seine widerständigen theologischen Momente, Johann Baptist Metz Konzept der gefährlichen Erinnerung das hilfreich war für die Auf- und Ausarbeitung der Wirkungsgeschichte und die weitere Ausformierung theologischer Konzepte, Dorothee Sölles politische Theologie, um nur diese Beispiele zu nennen. Weiterhin ist festzuhalten, dass theologische Vorstellungen von Erlösung (ein im Grunde ökonomischer Begriff) und Heil (metaphorisch zum Themenbereich Medizin und Heilung gehörend) kontextuell spezifisch sind und in den unterschiedlichen Kontexten vielfältige Wirkungsgeschichten aufweisen und auf komplexe Weise weiterwirken. Für unseren Kontext hier ist es wichtig hervorzuheben, dass die lokalen Ausformungen von christlicher Theologie im germanisch/nordischen Bereich schon von Anfang interkulturell waren und in einem vergleichenden und kreativen Zusammenspiel mit anderen religiösen Narrativen standen. Postkoloniale Theologie ist daher ein Ansatz, der sich als eine Modifikation eines pluralistischen Ansatzes mit inklusiven Tendenzen versteht. Ein solcher Ansatz bedeutet dann das Faktum umzusetzen, dass Kultur schon lange und oft als interkulturell erlebt, erfahren und geschaffen worden ist. Im nun Folgenden möchte ich mich anhand von zwei Leitfragen der postkolonialen Theologie annähern: Welche Metaphern nutzen kontextuelle Referenzen und welche Bilder bieten sich an für eine kritische Rekonstruktion der Soteriologie im deutschen Kontext? In diesem Beitrag sollen daher einige theologische, religiös-kulturelle Bruchstücke von Identitätsvorstellungen produktiv und kritisch gesichtet werden. Eine Erinnerung an tief eingebettete traditionsgebundene Imaginationen soll in einen konstruktiven narrativen Zusammenhang mit heutigen Realitäten gebracht werden. Dabei müssen wir uns
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fragen, welche Formen von Veränderungskraft und Heilsvorstellungen wir konstruieren wollen und wie sie auf prekäre Fragen in Kultur und Politik eingehen. Wie greifen wir also Erfahrungen göttlicher Energien auf um sie mit Hilfe theologischer Bilder und Narrative zu interpretieren? Theologie ist stark metaphorisch gebildet wie Ingolf Dalferth in Mythos und Logos (1993) gezeigt hat.2 Biblische und auch spätere christliche theologische Metaphern kommen aber aus historischen Kontexten die durchwegs durch imperiale Strukturen geprägt waren. Welche Gottes und Erlösungsbilder können wir also als postkoloniale Alternativen anbieten, also Alternativen die nicht immer wieder nur imperiale oder autokratische Mächte bestätigen, stützen, oder unkritisch repetieren? Ich denke an Gottesbilder die als deutliche und resolute Zeugen eines christlichen Glaubens der die machtkritischen Aspekte des Magnifikats (Lk 1,16-55) Ernst nimmt und im resoluten Dialog mit anderen Religionen und Kulturen steht. Dieser kritische Glaube soll sich also seiner interkulturellen und interreligiösen Geschichte und Struktur bewusst erinnern und sich selbst nicht als kulturelle oder ethnische Exklusivität verzerrt darstellen.
2.
“Nun Komm, der Heiden Heiland”: Die Vielfältigkeit der soteriologischen Metaphern rekonstruieren
In vielen theologischen Kontexten finden sich problematische aber dominante Standardmetaphern, so zum Beispiel in den Modellen von Anselm und Abaelard. Mit der Wiederentdeckung des Christus Victor und anderer patristischer Bilder im westlichen Protestantismus nach Gustav Aulén sind aber auch andere soteriologische Narrative in den Blick gekommen.3 Die These die ich in diesem Aufsatze vertrete ist, dass soteriologische Metaphern jeglicher Art sowohl gebraucht als auch missbraucht werden können. Manche Metaphern lassen sich zur Verstärkung hegemonischer Macht missbrauchen, so zum Beispiel Christus Victor oder auch die imperialen und autoritären Strukturbilder, die hinter der Satisfaktionstheorie stehen, auch wenn sie diese nicht unbedingt nur einfach befürworten. Diese imperialien Gottesbilder können aber auch machtkritische und widerständig- verzerrende Qualitäten haben. Es ist in der Geschichte möglich gewesen mit Hilfe von Bildern wie zum Beispiel dem „Herren“ „die anderen Herren” kritisch zu hinterfragen und so alte Muster in neue Bahnen zu lenken.
2 3
Ingolf Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos, Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg 1993. Gustav Aulen, Christus Victor. An Historical Study of the Three Main Types of the Idea of Atonement, Eugene 2003.
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Patristische Motive sind vielfältig, aber oft wurden die Bilder weder biblisch noch patristisch ausgearbeitet. Die Vielfalt der patristischen Bilder insbesondere wenn sie in Kombination von ökologischen und ökonomischen Motiven gesehen werden lässt die Reduktion auf den Christus Victor als Sammelbegriff für patristische Soteriologie als zu eng erscheinen, da die Metaphern in biblischen und theologischen Texten ineinander übergleiten und oft nicht eingehend beschrieben werden. In Anselms Cur Deus Homo etwa werden Metaphern aus der Welt der Feudalherrschaft und der in diesem Zusammenhang entwickelten Theorien von Ehre, Scham, und Gerechtigkeit zur Erklärung der Menschwerdung Gottes herangezogen. Bei Abaelard wird oftmals eine relationale, empathische Ökonomie der inneren Veränderung durch die Ansicht des Opfers am Kreuz als typisches Motiv gesehen. Die dominanten aber problematischen Standardmetaphern von Anselm und Abaelard wurden in den letzten Jahrzehnten eingehend diskutiert, was teilweise zu einer Wiederentdeckung des Christus Victor und anderer patristischer Bilder geführt hat. Ich selbst habe bislang hauptsächlich mit ökonomischen Metaphern gearbeitet also mit Bildern von Systemen des wechselseitigen Austausches von Ressourcen, womit nicht nur finanzielle oder kapitalistisch/marxistische Dynamiken gemeint sind. Meine Arbeitsdefinition der Soteriologie beginnt mit einer Wiederaneignung des Begriffes „Göttliche Ökonomie“ (oft als Heilsgeschichte oder Heilsökonomie bezeichnet).4 Aber was ist damit eigentlich gemeint? Diese Definition von Soteriologie als göttlicher Ökonomie bezieht sich auf den ganzen Kosmos und geht daher über eine anthropozentrisch geformte Versöhnungslehre und Kreuzestheologie hinaus, indem sie göttliche Ökonomie als transformative Relationen auf mikro- und makrokosmischem Niveau versteht: Was den Kosmos als Schöpfungsgemeinschaft schadet, schwächt, verzerrt, quält und zerstört auf der einen Seite, und andererseits das, was heilend, stärkend, wiederauflebend und restaurativ auf alle unsere Beziehungen5 zu Schöpfer, Erlöser und Erhalter wirkt. Diese Relationen konstituieren die Palette einer Soteriologie der heiligen, mirakulösen und dezidiert unheiligen Tauschhandlungen in einer kosmischen Ökonomie, ohne das was Wirtschaft und Wirtschaftswissenschafltler in neoliberaler Systemsprache als ‘Externalitäten’ bezeichnen, also ohne Ausgrenzungen die vergessen oder verneint werden. Mein Ansatz versteht sich als eine Einladung, die Aufforderung der ökologischen Wirtschaftslehre auch theologisch wahrzunehmen. Nur wenn wir
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Siehe Marion Grau, Of Divine Economy. Refinancing Redemption, New York 2004. Vergleiche auch Marion Grau, Göttlicher Handel. Eine postkoloniale Christologie für die Zeiten des neokolonialen Empires, in: Andreas Nehring / Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, 300–322. „All our relations” in der Begrifflichkeit der Ureinwohner Nordamerikas
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die Gesamtheit in Betracht ziehen, und Soteriologie als Heilsökonomie inklusiv und nicht exklusiv verstehen, können unsere theologischen Versuche offen werden für die großen Zusammenhänge.6
3.
Gottesbegriffe und postkoloniale Analyse: Göttliche Ökonomie und das Imperium
Eine Kritik der Machtstrukturen in soteriologischen Narrativen und die Kritik des problematischen Verständnisses von der Allmacht Gottes durch die Prozesstheologie fasse ich als kompatibel mit der postkolonialen Kritik auf. Welche Art von Macht übt Gott in der Schöpfung und Geschichte aus, und sind einige dieser Machtvorstellungen fiktive Visionen von imperialer Macht? Handelt es sich hier letztlich um Wunschvorstellungen von autoritärer Macht die sich als eine gequälte Fiktion von angeblich starker Maskulinität artikuliert, nicht unähnlich den Auswüchsen der autoritären patriarchalen Rechten dieser Tage? Catherine Keller hat diese Vorstellungen kritisch in ihrem Buch Face of the Deep: A Theology of Becoming (2003) in einer Analyse der ersten beiden Genesis-Verse hinterfragt und in die relationale Psychologie der biblischen Machtbilder geschaut.7 Sie fragt ob wir, wie uns wie Tertullian gegen die Vorstellung sträuben, dass Gott irgendetwas brauche und nicht absolut und unabhängig ist. Sie argumentiert, dass die klassische Vorstellung von der Omnipotenz Gottes unrealistisch und problematisch sei wenn man sie im Lichte der Realitäten von Machtbeziehungen betrachtet. Keller weist dagegen auf die eher feingliedrigen und komplexen Kräfte die in den Prozessen von Wetter, Natur und Kultur am Werke sind, und die besser mit Theorien von Chaos und Komplexität erfasst werden können. Eine solche komplexe Sicht von Machtdynamiken sehe ich für postkoloniale Theologie als zentral an. Dabei geht es nicht darum, Chaos zu romantisieren, sondern darum eine Offenheit dafür zu
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An wichtigen Referenztexten für eine solche Konstruktion der Soteriologie, die vor allem im englischsprachigen Raum gepflegt wird, seien hier ausschnittsweise nur genannt: John B. Cobb jr., The Earthist Challenge to Economism. A Theological Critique of the World Bank, New York/ London 1999; Robert Constanza u.a. (Hg.), Introduction to Ecological Economics, Boca Raton 1997; Herman E, Daly / John B. Jr. Cobb, For the Common Good: Redirecting the Economy, Toward Community, the Environment, and a Sustainable Future, Second Edition, Updated and Expanded, Boston1989; Sallie McFague, The Body of God: An Ecological Theology, Minneapolis 1993; Dies., Life Abundant: Rethinking Theology and Economy for a Planet in Peril, Minneapolis 2000; M. Douglas Meeks, God the Economist: The Doctrine of God and Political Economy, Minneapolis 1989. Siehe Catherine Keller, Face of the Deep: A Theology of Becoming. New York/London 2003.
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schaffen, dass die Anderen meine Einfühlsamkeit und meinen Sinn für Gerechtigkeit herausfordern. Unter Berücksichtigung dieser feineren relationalen Machtdynamiken kann die Ambivalenz von den dominierenden Versionen von Heil und Heilsgeschichte deutlich werden. Denn die darauf bezogenen Metaphern sind in ihrer Hermeneutik und ihrem Gebrauch oftmals ambivalent. Das Kreuz ist eines der offensichtlichsten Beispiele: auf der einen Seite Schreckensvision und Trauma von Todesstrafe und schlimmster Folter, auf der anderen Seite lebensspendender Baum der dem Paradiesbaum als typologisches Gegenstück zugeordnet wird. Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen wird nun ansatzweise versucht, ein traditionelles, oft vergessenes patristisches und frühmittelalterliches Motiv, das in der Heiligenlegende des Sankt Bonifatius auch eine germanische Inkulturation erfahren hat, im heutigen Kontext des Klimawandels theologisch neu zu denken.8
4.
Fallstudie Bonifatius: Heilige Eichen, Christi Kreuz und Yggdrasil
Die folgende Fallstudie will einen exemplarischen Blick in die europäische Kolonialgeschichte und in ein ambivalentes deutsches historisches Erbe werfen. Heilige Bäume, der Paradiesbaum, Yggdrasil und das Kreuz werden zusammengelesen, um das Evangelium in einer lokalen Kultur zu verankern, und dabei werden die lokalen kulturellen und religiösen Momente integriert und neu interpretiert. Bonifatius Leben weist Elemente auf, die an Muster des kolonialen Diskurses erinnern wie Homi Bhabha ihn beschreibt. Die Umdeutung und Umarbeitung der Eiche Thors in eine dem Sankt Petrus geweihten Kirche zum Beispiel stellt einen Ort dar, an dem „die reformierende, zivilisierende Mission durch den de-plazierenden Blick ihres disziplinären Doppels bedroht wird“9. Die Kontinuität des Holzes ist “eine ‚partielle’ Präsenz […] sowohl ‚unvollständig’ als auch ‚virtuell’“10. Diese Art von Wiederholung mit bedeutendem Unterschied ist dann nur bedingt erfolgreich. „der Erfolg der kolonialen Aneignung hängt von einer Proliferation un(an)geeigneter Objekte ab, die ihr strategisches Scheitern garantieren, so dass Mimikry Ähnlichkeit und Bedrohung in einem ist.“11 8
Zum kulturwissenschaftlichen Hintergrund der Verknüpfung von mittelalterlichen Mythen und heutiger Gesellschaftsanalyse siehe Patrick J. Geary, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002. 9 Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 127. 10 Ebd. 11 Ebd.
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Eine solche Mimikry findet sich auch in der folgenden Anekdote. Moderne deutsch-nationale und koloniale Obsessionen wurden unter dem Naziregime historisch wiederbelebt. Tacitus Schrift Germania wurde dabei als Quelle für nationale Identität angesehen, da sie eine Gruppe von Germanen als indigene edle Wilde bezeichnete, die besseren Römer der Zeit, abgehärtet, tapfer und stolz. Dieses polemische Bild, eigentlich von Tacitus gegen eine angebliche römische Verweichlichung gerichtet, ist allerdings unzuverlässig. Es gibt nur wenige Informationen über vorchristliche germanische Religionen, und die überlieferten germanischen oder nordischen Mythen sind Bruchstücke, die erst in der Zeit nach der Bekehrung zum Christentum schriftlich in der jetzigen Form verfasst wurden. Diese Mimikry der erfundenen Vergangenheit begegnet also sowohl in nationalistischen Versuchen, eine angeblich ethnisch reine Identität zu erfinden, als auch in anderen Umdeutungen von ethnisch spezifischen Narrativen zu christlichen Theologien, die die heidnische Vergangenheit aufgreifen, wie zum Beispiel der Heliand. Zur Vorgeschichte des Bonifatius gehört der Text des Heliand, durch den der germanischen Begriff Heiland in die deutsche Theologie hineingetragen wurde.12 Der sächsische Heliand war eine theologische Antwort auf die koloniale Übermacht Karls des Großen, unter der viele Sachsen zwangsbekehrt wurden. Das geschah unter Mithilfe des angelsächsischen Missionars Winfried, bekannt auch als der ‚Heilige Bonifatius’. In Bonifatius Vita ist der Baum als Symbol des Heils und der Transformation von Heiden in Christen zentral. Wie Holz von totem zu (wieder-) belebtem Material verwandelt wird, so geschieht in der Taufe eine kosmische Verwandlung oder Regeneration der Elemente und der Lebensenergien. Yggdrasil, die germanische Weltenesche, ist ein Symbol des Ringens von lebensspendenden und lebenszerstörenden Energien. Ragnarok beschreibt das Chaos und die Unruhe einer Welt, die symbolisch am Weltenbaum aus den Fugen gerät, und das Ende von Göttern bringt. Zusammenbruch wird hier als auch Umbruch und Neuanfang gedeutet. In der hallenden Echokammer eines historischen Vakuums wuchern oft Ideen die diesen kulturellen Verlust zu überbrücken versuchen. Solche kulturellen Verluste formen auch die christliche Theologie, die diese Narrative integriert. Diese oft unübersichtliche, interkulturelle und interreligiöse Dynamik ist auch typisch für postkoloniale Zusammenhänge. Johann Baptist Metz hat darauf hingewiesen, wie die hermeneutische Wirkungsgeschichte von “gefährlicher Erinnerung“ auf ambivalente Weise weitergesponnen wird, und dabei verschiedenen Zwecken dienen kann.13 Diese “gefährlichen Erinnerungen” informieren die kulturelle Identität einer ethnischen oder religiösen 12 Siehe für die Textgrundlage des Folgenden: Roland G. Murphy, The Heliand: The Saxon Gospel, New York/Oxford 1992. Eine deutsche kommentierte Ausgabe ist etwa Timothy Sodmann (Hg), Heliand. Der altsächsische Text. De Oudsaksische tekst. Achterland, Vreden/Bredevoort 2012. 13 Siehe dazu Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg im Breisgau ³2006.
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Gruppe, und sie können unter bestimmten Bedingungen eine explosive Wirkung entfalten.
4.1
Koloniale Konversionen: Angeln, Sachsen, und Germanen
Die Sachsen waren Rom und dem christlichen Einfluss erst später ausgesetzt als ihre Nachbarn, die Franken oder die Goten. Die Angel-Sachsen waren ein Volk von Seefahrern und grenzten an die Nordsee an, die für sie eher eine Verkehrsverbindung war, denn eine Barriere. Ihre Namen sind in Südengland der Landschaft eingeschrieben: Ostsachsen in Essex, Südsachsen in Sussex, und Westsachsen in Wessex, sowie in Gebieten bei Boulogne, Bayeux und an der Loire Mündung. Schon im Jahre 595 sandte Papst Gregor der Große eine Mission zur Bekehrung der Angel-Sachsen, damals der einzige Nachfolgerstaat des Römerreiches der noch nicht zum Christentum bekehrt war. In diesem Kontext ist die Arbeit des Angelsächsischen Missionars WynfrithBonifatius anzusiedeln, zuerst mit dem Ziel die von Iro-Schottischen Missionaren bekehrten südlichen alemannischen Stämme mehr in die römische und weg von der keltischen Form der kulturellen christlichen Synthese zu bewegen, und später, unter Karl dem Großen, die Sachsen im neuen Frankenreich unter Zwang in das Reich einzugliedern.14 Bonifatius hatte Schwierigkeiten die germanischen Kirchen im HessischSächsischen Grenzland zu organisieren und zu festigen. Er war also nicht so sehr Missionar als Reorganisator im Karolingischen Franken. Zu Bonifatius Zeiten, waren die fränkischen Herrscher und die meisten Stämme im direkten römischen Einfallsgebiet bereits zumindest nominell Christen und folgten dem Nizänisch/Chalzedonischen Glaubensbekenntnis. Und gerade auch deswegen hatte die romanisierende Mission des Bonifatius einiges mit der Stärkung der fränkischen Macht in Richtung Osten zu tun. Bonifatius was ein wichtiger Vermittler in diesen Verschiebungen und in der Verstärkung fränkischer Macht, deren Einfluss er für seine Arbeit brauchte und förderte um die Franken gegen eindringende Lombarden und Muslime zu stärken. Die Krönung Karls des Großen als imperator augustus und Beschützer der westlichen Kirche unter Papst Leo II war wegbereitend für das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das Jahrhunderte in verschiedenen Versionen überlebte. Und es ist dieses zweite Reich, das Hitler in seinem dritten Reich pervers wieder erschaffen wollte. Auch dies ist Teil der kolonialen deutschen Vorgeschichte. 14 Siehe Thomas F.X. Noble / Thomas Head (Hg.), The Life of Saint Boniface, in: Soldiers of Christ: Saints and Saints’ Lives from Late Antiquity and the Early Middle Ages, Soldiers of Christ, 107–40, Pennsylvania 1995; Lutz E. Von Padberg, Bonifatius: Missionar und Reformer, München 2003; Ders., Christianisierung Im Mittelalter. Darmstadt 2006.
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Die Fränkische Expansion sollte die heidnischen Länder für die christliche Mission erschließen (Bewohner der Heide – also ländlicher, eher abgelegener Gebiete) und war daher sowohl im Interesse des Bonifatius als auch des Papstes. Die Verhandlungen mit den fränkischen Herrschern gestalteten sich aber durchaus schwierig, denn die fränkische Form von christlicher Identität beinhaltete auch lokale kultische Handlungen und basierte auf Stammesloyalität, anstatt auf ethischen Normen, wie sie von der Kirche betont wurden. Die Grenze zwischen dem christlichen Franken und den Stammesreligionen im Gebiet der Sachsen stellt für Bonifatius eine Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei dar, und dies trotz der Tatsache das seine Briefe und auch die Hagiografie deutlich eine hybridisierte Form von christlichem Glauben beschrieben, die nicht an der römischen Überlieferung orientiert war. Lokale religiöse Kulte an heiligen Brunnen und Bäumen wurden weiterhin praktiziert um die Macht christlicher Herrscher zu stärken.15 Dies kannte Bonifatius bereits aus seiner Heimat und aus den Franko-Germanischen Regionen. Die Macht der lokalen landschaftsgeprägten Religiosität war also nicht gebrochen und existierte weiter auch unter einem nominell christlichen Überbau. Mit dem Schwinden römischer Macht wich die imperiale Religion und sank wieder auf eine regionale Basis und regionale Inhalte zurück.
4.2
Der Heliand als Sächsische Indigenisierung der Evangeliumserzählung
Der Heliand ist eine Wiedergabe der Evangeliumserzählung im sächsischen Stil. Dabei wird auf die Werte und Idiome der sächsischen Kriegerkultur angespielt, einer hoch patriarchalischen und militärischen Kultur, die in Spannung mit den Werten der fränkischen und christlichen Kultur stand. Der Text scheint mit dem Zweck geschrieben worden zu sein, dass Mitglieder einer besiegten Kultur Facetten der eigenen Männlichkeit wiederentdecken sollen – allerdings in einem von den Eroberern aufgestülpten Narrativ. Zutiefst ambivalent ist die gleichzeitige Ermahnung des Verfassers die christliche Botschaft ohne Zweifel aufzunehmen als auch die Einflechtung von paganen Glaubensinhalten in die Evangeliumserzählung. Die rettende Macht des Heliand wird mit dem Schwund der Macht der Götter Thor und Wotan/Odin verknüpft und mit der Auferstehung Christi und der Stillung des Sturms verknüpft. Im Zwielicht der Götter wurde Wotan der Weise vom großen Wolf Fenrir verschlungen, dessen Maul eine Art Leere des Abgrunds offenbart, während Thor von der Leviathan-artigen giftigen großen Midtgardschlange verschlungen wird, die den Tiefen des Ozean zugeordnet wurde und deren gewundener Körper die Meeresströmungen bis an die Enden 15 Vergleiche Kai Uwe Schierz (Hg.), Von Bonifatius Bis Beuys – oder: Vom Umgang mit Den Heiligen Eichen, Erfurt 2004.
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des Universums symbolisiert. Im Heliand wird also die Stillung des Sturms der Bändigung der Ozeane und ihrer Schrecken gegenübergestellt. Auferstehung ist dann die Rückkehr aus dem Abgrund. Christus erscheint als göttlicher Vermittler, der die Zerstörung der sterblichen germanischen Götter überlebt hat. Das Kreuz weist Resonanzen mit den mythischen heiligen kosmischen Bäumen auf, die den Baum an dem sich Wotan/Odin selbst aufopferte, symbolisieren. Odin hängte und durchbohrte sich selbst (in symbolischer Form) um Wissen über die heiligen Runen zu gewinnen. Eine der zentralen Erzählungen um Wotan/Odin ist dieses hölzerne Opfer, möglicherweise ein Ritual kollektiver Wiedergeburt, in welchem Wotan/Odin sich selbst an den Ästen der Weltenesche Yggdrasil, dem nordischen Symbol für den Kosmos, für neun Tage und Nächte in einem Prozess des Todes und der Wiederauferstehung aufhängte. Er rettet sich selbst dadurch, dass er einen Runenhaufen mittels seines Willens dazu bewegt, ihm vom Baum herunterzuhelfen, und mit größerer Kraft und Macht zurückzukehren. Die Überschneidungen mit der Kreuzigungs-Geschichte waren sicherlich schwer zu ignorieren. Odins Selbstopfer ist mit dem Selbstopfer Christi assoziiert. Im Falle Odins, symbolisieren die Runen nicht nur die Macht von Wort und Schrift, sondern auch die mysteriösen Kräfte des Lebens. Der Zweck des Opfers ist jedoch unterschiedlich. Das Opfer Christi sollte die Beziehungen zwischen Gott und Menschen in Balance bringen, während Odins Opfer eine Suche nach Wissen ist und damit ein zentrales Thema in der Nordischen Mythologie bedient.16 Der Baum im Zentrum dieser Mythen ist kein idyllischer Baum, sondern ein Baum der ständig unter Bedrohung steht: Von Rehen angebissen, von Schlangen und anderem Gewürm an den Wurzeln und im Geäst in seiner Existenz bedroht, von einem Gerüchte den Stamm hinauf und hinunter tragenden Eichhörnchen in Unruhe versetzt. Dies ist also kein Paradiesbaum, sondern ein in seiner Integrität umkämpfter Baum. Doch in diesem Holz versteckt sich der Kern des Überlebens in die nächste Welt hinein. Inmitten des Kerns eines schützenden Baumes, so Ronald Murphy, ist Heil und Rettung symbolisiert.17 So lassen sich weitreichende Parallelen, Überschneidungen und Indigenisierungen beobachten. Diese reichen von den Kreuzesdarstellungen in den nördlichen Stabkirchen, die das eschatologische Narrativ der Rettung des Ragnarok übersetzen bis zu der Deutung der Selbstaufgabe Christi am Holz, wo die Saat der nächsten Lebenswelt aufgehen wird, inklusive seiner Resonanzen mit gnostischen (Paradies-)Baummythen in der Spätantike. Als bewegliches Symbol ist dieser Baum sowohl ein Symbol vollendeter Schöpfung, Sammelplatz 16 Vergleiche dazu auch John Lindow, Norse Mythology. A Guide to the Gods, Heroes, Rituals and Beliefs, Oxford 2001. Ein deutschsprachiger Überblick zur germanischen Mythologie findet sich bei Rudolf Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 2006. 17 Vergleiche dazu G. Ronald Murphy, The Saxon Savior. The Germanic Transformation of the Gospel in the Ninth-Century Heliand, New York/Oxford 1989.
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der Götter, zitterndes Symbol des Niedergangs, und, nach Ragnarök, Symbol der neuen Welt. Aus der Fülle der Wirkungsgeschichte dieses Motives seien hier nur einige weitere angedeutet: In ihrem Buch Saving Paradise (2001) rekonstruieren Rita Brock und Rebecca Parker eine Wasserwelt in deren Zentrum der Lebensbaum / das Kreuz stehen.18 Das Kreuz von Gosford in Großbritannien zeigt Momente aus beiden Erzählungen vereint. Fassen wir die wesentlichen Momente dieser Indigenisierung noch einmal zusammen. Der Kosmische Baum oder Weltenbaum ist eine mikrokosmische Representation des Baums, der im Zentrum des germanischen Weltbildes stand, und Ähnlichkeiten mit dem Paradiesbaum im Zentrum des Gartens Eden aufweist. Das Kreuz Christi wird zum neuen Lebens- und Weltenbaum und ist in der Kunst auch oft mit Ästen und Blättern abgebildet von denen neues Leben schießt. So wie Yggdrasil im Zentrum des Kosmos stand, so steht jetzt dort das Kreuz. Auf ähnliche Weise werden heilige Quellen als die Wasser der Taufe und mit dem Taufbecken assoziiert, der Quelle neuen Lebens. Im Heliand weiß Christus um die geheimen Runen und lehrt die Jünger deren Geheimnisse. Der Heliand assoziiert auch den Tod Christi, ähnlich wie in Gregor von Nyssa’s Katechetischer Oratio mit dem göttlichen Trickster der als Kriegsgefangener seinen Wärtern entschlüpft. Die Auferstehung wird hier zur Rückkehr des Kriegsfürsten zu seinen eigenen Leuten umgedeutet.19 Brock und Parker interpretieren den Heliand neu als einen widerständigen Text der in seinem Zentrum eine Vision des Paradieses auf dem Gipfel eines Berges hat. Diese Vision kombiniert neben weiteren Visionen auch Hebräische und Germanische Bilder von Hügelfestungen aus der Genesis-Erzählung und das Motiv der Walhalla. Der Autor des Heliand schiebt weitere widerständige Elemente in die Wiedererzählung der Evangelien ein: Herodes wird mit Karl dem Großen identifiziert und die starke Kritik an Herodes Genozid an den hebräischen Kindern scheint gegen die gewaltsamen Maßnahmen Karls des Großen gegen die Sachsen gerichtet zu sein. Der eucharistische Ritus beschreibt einen gallischen Ritus der auf Auferstehung fokussiert, und widersteht damit der Angleichung an den römischen Ritus. Während Karl der Große absichtlich den visuellen und theologischen Fokus einer fränkischen Christologie auf einen gequälten toten Körper zu leiten versuchte um den Sachsen Furcht einzujagen, scheint es durchaus andere gute Gründe für den Fokus auf das Kreuz/Yggdrasil zu geben, nämlich diejenigen der Inkulturation und Korrespondenz mit einer lokalen soteriologischen Erzählung.
18 Siehe Rita Nakashima Brock / Rebecca Ann Parker, Saving Paradise. How Christianity Traded Love of This World for Crucifixion and Empire, Boston 2001. 19 Vergleiche für eine umfängliche Motivgeschichte auch Darby Kathleen Ray, Deceiving the Devil. Atonement, Abuse, and Ransom, Cleveland 1998.
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4.3
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Anmerkungen zum Heliand aus postkolonialer Perspektive
Interpretationen legen die Gegenwart der Hörenden immer wieder neu aus, und dies muss auch heute wieder geschehen. Wenn wir nun heute diese Neuinterpretationen wagen, welche Denkhilfen, Sensibilitäten und Warnungen kann uns die postkoloniale Theorie zuführen? Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass jede Neuinterpretation einer migrierenden Erzählung die theologisch neu verortet wird, droht zum Kern der nächsten autoritären Macht legitimierenden Masche zu werden. So wurde zum Beispiel im neunzehnten Jahrhundert der Heliand ansatzweise als pan-germanisches Ideal mit nationalistischer Einfärbung und einem Ton kultureller Überlegenheit wiederaufgenommen. Die Adaptation externer Narrative in eine Kultur, selbst wenn anfangs fremd, kann ein paar Generationen später der neue Kulturimperialismus sein. Dies gilt vor allem wenn das Narrativ einige der lokalen und auch selbstkritischen Elemente verloren hat, in diesem Fall die dunklen Töne der Unzufriedenheit mit der Idee des pan-germanischen. Konkret, wenn also die Kritik an fränkischer Macht in Aachen, das heißt mit Karls des Großen Regentschaft über die besiegten und demoralisierten Sachsen, ignoriert und vergessen sind, und das Stück in einem anderen soziopolitischen Kontext ausgeführt wird. Wenn also von Oberschichten aus Eigeninteresse ein solcher pan-ethnischer Mythos benutzt wird, um die eigene kulturelle Überlegenheit herauszustellen und einem pan-ethnischen Nationalismus das Wort zu reden. Zahllose Beispiele dieser Dynamik des narrativen Wiedergebrauchs aus allen Erdteilen könnten hier genannt werden. Hier kommt die postkoloniale Theologie ins Spiel. Denn eine der zentralen kritischen Fragen in der postkolonialen Theorie ist die Frage, wie eine bestimmte Adaption, Interpretation oder narrative Struktur angewendet wird, und mit welchen Machtstrukturen diese sich engagieren und arrangieren. Erschwerend kommt hinzu, wie die postkoloniale Theorie mit Begriffen von Ambivalenz, Mimimikry und anderen, andeuten kann, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die Verflechtungen von befreiender und unterdrückender Macht voneinander zu scheiden. Der schottische Missiologe Andrew Walls hat davor gewarnt, dass erfolgreiche Inkulturation ein paar Generationen später zum nächsten kulturellen Imperialismus werden kann. Internalisierter Kulturimperialismus ist in der Struktur der Missions- und Theologiegeschichte ein höchst häufiges Phänomen. Dies ist dann ein Beispiel der Ambiguität von Narrativen, die sowohl Leben befreien als auch Leben nehmen und begrenzen können – die Ambiguität des Körperseins, der die Realitäten unserer sozialen und persönlichen Fragilität und Zerbrechlichkeit eingeschrieben sind. Als Entgegnung auf Bonifatius Fällen der Eiche im Kontext des Waldsterbens in Deutschland hat der Avantgarde Künstler Joseph Beuys eine Pflanzung
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von 7000 Eichen angesagt, um den Folgen der Entwaldung und Umweltzerstörung entgegenzuwirken. Globale Erwärmung und Klimachaos sind die globale unausweichbare Version dessen, was Waldsterben in den 1980er Jahren in Deutschland war. Welche kreativen Zeichenhandlungen und Narrative lassen sich daraus heute entwickeln?
5.
Zusammenfassung und Leitfragen einer Soteriologie in postkolonialer Perspektive
Es gibt viele soteriologische Metaphern, von denen keine für sich beanspruchen kann allein gültig zu sein. Diese Vielfalt lässt sich sowohl für heute begründen als auch historisch nachweisen. Daraus folgt, dass theologisch Interessierte und Involvierte bewusste Entscheidungen treffen können und sollen. Sie können sich also fragen, auf welche Art von göttlicher Machtvorstellung und Heilsgeschehen sie Bezug nehmen wollen. Dies beinhaltet die Fragen: Wie passen sie zu Zeit und Ort, und welche Langzeitwirkungen haben diese Metaphern historisch bis zum heutigen Tag entwickelt? Welche Bedeutungsvielfalt kann und muss eine Soteriologie, die Menschen in ihrer Lebenswelt anspricht und herausfordert, schaffen und bewahren? Dabei sollten einige wichtige theologische Prinzipien beachtet werden: Soteriologie sollte kosmisch verstanden werden und nicht anthropozentrisch enggeführt werden. Der Machtfaktor ist ein Schlüsselfaktor in der Analyse und Konstruktion postkolonialer Theologien. Die grundlegende Ambivalenz von komplexen Prozessen in Texten, Narrativen, Relationen und Strukturen ist unabkömmlich: Es gilt auf der einen Seite Vereinfachungen zu widerstehen und die Offenheit als Herausforderung in vollem Bewusstheit der Chancen und Gefahren anzunehmen, sowie auf der anderen Seite Resilienz und Resolutheit zu verkörpern. Dies bedeutet auch dass postkoloniale Theologie wie auch konstruktive Theologie sich immer weiter entwickelt, mit den veränderten Verwerfungen der Landschaften, in denen sie sich bewegt. Heutige Verwerfungen bestehen in einem neuen Zeitalter der Migration durch komplexe Prozesse wie Konflikte um ökonomische, politische und ökologische Strukturen. Dies schließt Kriege um Ressourcen aber auch die Dynamik des fortschreitenden Klimawandels mit ein. Diese Änderungen sind große Herausforderungen die theologisch immer wieder neu im Kontext der biblischen und historischen Traditionen interpretiert werden müssen. Und postkoloniale Theorien können hier einen wichtigen erkenntnistheoretischen Beitrag leisten.
Ökumenisches Lernen, Hybridisierung und Postkolonialismus. Versuch einer kritischen Verschränkung Henrik Simojoki
1.
Ökumenisches Lernen. Zur kulturtheoretischen Ergänzungsbedürftigkeit einer religionspädagogischen Programmformel
Mit der von Ernst Lange eingeführten Programmformel Ökumenischen Lernens greift dieser Beitrag auf eine Bildungsperspektive zurück, die mehr und anderes meint, als das geläufige Verständnis von Ökumene vermuten lässt.1 Während sich der Begriff Ökumene zumeist mit der wie auch immer gedachten Zielperspektive der einen Christenheit verbindet, diente er Lange dazu, den Bewährungshorizont christlicher Welt- und Bildungsverantwortung im Sinne griechischen Ursprungswortes auf die gesamte bewohnte Erde auszuweiten. Dabei war sich Lange durchaus darüber im Klaren, dass dieses gegenüber herkömmlichen Konzeptualisierungen geradezu provozierende weite Verständnis von Ökumene bislang wenige Anhaltspunkte im kirchlichen Selbstverständnis seiner Zeit hatte. Daher stellte die fällige Wiederentdeckung der Welt als dem vorrangigen Bezugskontext christlicher Existenz und kirchlichen Handels für ihn eine vorrangige Gestaltungsherausforderung ökumenischer Bildung dar, zu deren Fundierung eine spezifische „Theorie und […] Methode für das Erlernen des Welthorizontes“2 erforderlich sei. In einer Zeitlage, die von ökumenischen Aufbrüchen, der Friedens- und Umweltbewegung und einer insgesamt hohen Sensibilität gekennzeichnet wurde, fiel dieser Handlungs- und Reflexionsanstoß auf fruchtbaren Boden. In den darauffolgenden Jahrzehnten wuchs die von Lange umrissene Aufgabenperspektive ökumenischen Lernens zu einem eigenständigen Arbeitsfeld heran, didaktisch flankiert von einer konzeptionellen Debatte, die mit der
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Vgl. zum Folgenden Henrik Simojoki, Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religöser Bildung in der Weltgesellschaft (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 12), Tübingen 2012, 254–268. Vgl. Ernst Lange, Die ökumenische Utopie oder Was bewegt die ökumenische Bewegung? Am Beispiel Löwen 1971: Menscheneinheit – Kircheneinheit, Stuttgart 1972, 197.
Ökumenisches Lernen und Postkolonialismus
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gleichnamigen EKD-Arbeitshilfe von 1985 in ihre Hochphase trat3 und in den 1990er Jahren eine Vielzahl alternativer Begründungsmodelle hervorbrachte.4 Angesichts der ungebrochenen und in vieler Hinsicht beschleunigten Globalisierungsdynamik würde man eigentlich vermuten, dass die religionspädagogische Erschließungskraft dieses dezidiert globalen Konzepts seitdem weiter zugenommen habe. De facto ist aber genau das Gegenteil eingetreten: Nach der Jahrtausendwende ist die Diskussion um ökumenisches Lernen weitgehend abgeebbt. Der Abschwung fällt damit just in die Zeit hinein, in der Sozialwissenschaftler das „globale Zeitalter“5 ausgerufen haben und die Globalisierung endgültig in die Alltagserfahrung eingegangen ist. Auch wenn dieser tendenzwidrige Plausibilitätsschwund nicht monokausal erklärt werden kann, hat sie einiges damit zu tun, wie der von Lange eröffnete globale Horizont religiöser Bildung in diesem Diskurs ausgewiesen wird. Aufs Ganze gesehen zeigt sich nämlich eine gewisse Unausgewogenheit in der Begründungsanlage ökumenischen Lernens, die zu Lasten der kultur- und sozialwissenschaftlichen Durchdringung geht – eine folgenreiche Schieflage, die in der bereits genannten EKD-Arbeitshilfe besonders deutlich zutage tritt. Der erste Teil der Arbeitshilfe steht im Zeichen des Versuchs, das neue, global ausgeweitete Verständnis ökumenischen Lernens biblisch-theologisch und ekklesiologisch zu fundieren.6 Noch ausführlicher werden dann Formen und Möglichkeiten ökumenischen Engagements in verschiedenen Kontexten von Kirche und Gemeinde vorgestellt, zunächst eher allgemein und dann, im zweiten Teil der Schrift, in Form einer Zusammenstellung von Praxisberichten und Lernerfahrungen, die über die Hälfte der gesamten Publikation ausmacht.7 Dagegen bleibt der „Horizont der einen Welt“8, auf den diese Praxis dem konzeptionellen Anspruch nach ja bezogen sein soll, in der gesamten Veröffentlichung eigentümlich blass. Zwar rekurriert sie auf die „Differenz zwischen dem Auftrag der Kirche angesichts ihrer globalen Verantwortung und der vorfindlichen Wirklichkeit und Sozialgestalt“9. Nur erhält letzteres, also die vorfindliche Globalität, kaum theoretische Aufmerksamkeit oder religionsdidaktische
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Kirchenamt der EKD (Hg.), Ökumenisches Lernen. Grundlagen und Impulse. Eine Arbeitshilfe, Gütersloh 1985. Vgl. aus einer Vielzahl von Veröffentlichungen Richard Schlüter, Ökumenisches Lernen in den Kirchen. Schritte in die gemeinsame Zukunft. Eine praktisch-theologische Grundlegung, Essen 1992; Martin Bröking-Bortfeld, Mündig Ökumene Lernen. Ökumenisches Lernen als religionspädagogisches Paradigma, Oldenburg 1994; Ralf Koerrenz, Ökumenisches Lernen, Gütersloh 1994; Gottfried Orth, Differenz und Dialog. Dimensionen einer ökumenisch orientierten Religionspädagogik, Weinheim 1996. Martin Albrow, The Global Age. State and Society beyond Modernity, Cambridge 1996. Kirchenamt der EKD, Ökumenisches Lernen, 19–45. Ebd., 71–140. Ebd., 12. Ebd., 44.
258
Henrik Simojoki
Eigenbedeutung, was wiederum zur Folge hat, dass ersteres, also die ökumenische Weltverantwortung der Kirche, gewissermaßen in der Luft hängt. Es ist also nicht zuletzt dieser Mangel an kultur- und sozialwissenschaftlicher Rückbindung, der, bei aller Ausstrahlungskraft der Publikation, schon bald den Vorwurf einer empirisch ungeerdeten und daher didaktisch kaum operationalisierbaren „Postulatpädagogik“10 laut werden ließ. Wie schon angedeutet, hat das Grundanliegen ökumenischen Lernens nichts an Bedeutung eingebüßt. Im Blick auf Versuche, diese Intention vor dem Hintergrund der raumgreifendenden Globalisierung in der Gegenwart fortzuschreiben, enthält die abgebrochene Rezeptionsgeschichte eine wichtige Lehre: Sie haben nur Aussicht auf Erfolg, wenn der Welthorizont, auf den Ernst Lange so eindringlich hinwies, nicht nur postulativ, sondern auch analytisch eingeholt wird, unter Berücksichtigung der mittlerweile weitverzweigten Globalisierungsforschung.11 Der vorliegende Aufsatz will dazu beitragen, indem er die seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte und religionspädagogisch besonders implikationsreiche Debatte um kulturelle Globalisierung in den Blick nimmt und auf die Leitperspektive der Gesamtveröffentlichung bezieht. Nach einem ersten, religionspädagogisch geleiteten Überblick über die frühe Phase dieses Diskurses, wird das für die neuere Debatte zentrale Theorem der Hybridisierung fokussiert, anhand von zwei besonders einflussreichen Varianten dieses Konzepts: die erste stammt vom niederländischen Globalisierungsforscher Jan Nederveen Pieterse, die zweite von Homi Bhabha, einem der Hauptvertreter der „postcolonial studies“. In der vergleichenden Zusammenschau der beiden Theorieofferten soll ermittelt werden, worin die spezifische Orientierungskraft der postkolonialen Perspektive für ökumenische Lernprozesse in der Weltgesellschaft besteht.
2.
Konvergenz – Differenzialismus – Hybridisierung. Ein religionspädagogisch geleiteter Blick auf die neuere Debatte um kulturelle Globalisierung
In ihrer frühen Phase wurde die Debatte um Globalisierung und Kultur von zwei konträren Szenarien bestimmt: Homogenisierung oder Fragmentierung? So lautete die Streitfrage, die sich, wenn man sich an die Titelformulierungen der jeweiligen Leitveröffentlichungen hält, auch ungleich plastischer stellen 10 Horst Siebert, Anmerkungen eines Pädagogen zum Konzept Ökumenischen Lernens, in: RU 19 (4,1989), 134–136, hier: 135. 11 Vgl. als Überblick Boike Rehbein / Hermann Schwengel, Theorien der Globalisierung, Konstanz 2008.
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lässt: Führt die Globalisierung zu einer weltumspannenden „McDonaldisierung der Gesellschaft“ oder steuert sie gar auf eine „Kollision der Zivilisationen“ zu? Die These von der McDonaldisierung stammt von dem amerikanischen Soziologen George Ritzer.12 Für Ritzer verkörpert die global agierende FastFood-Kette einen neuartigen Typus ökonomischer Rationalität, die alle betrieblich relevanten Abläufe streng nach Maßgabe der vier Grundsätze Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und Kontrolle organisiert13 – mit zumeist zweifelhaftem Erfolg und tendenziell dehumanisierenden Auswirkungen für alle beteiligten Akteure.14 Feinsinnig arbeitet er heraus, wie sich das ökonomische Rationalisierungsdiktat auf immer neue Lebensbereiche ausdehnt, selbst auf solche, die, wie etwa Gefühl, Geschmack, Sympathie oder Liebe, herkömmlich nicht unter Rationalitätsgesichtspunkten verhandelt werden. Aber auch in räumlicher Hinsicht ist die expansive Dynamik der McDonaldisierung nach Ritzer kaum einzudämmen. Sie mache auch vor Ländergrenzen nicht Halt und überziehe die ganze Welt mit einer standardisierten, gewollt vorhersehbaren Kultur, in der alles Fremde und Unberechenbare aus Effizienzgründen an den Rand gedrängt wird.15 Die Anklänge an Max Webers Theorie der Modernisierung sind unverkennbar. Besonders aufschlussreich ist Ritzers Intention, „Weber zeitgemäßer zu interpretieren“16, im Blick auf die religiösen Implikationen der McDonaldisierung. Denn der Siegeszug westlichen Rationalitätsdenkens führt hier wie dort zu einer teils offenen, teils verdeckten Marginalisierung aller kulturellen Determinanten, die dem Zweck-Mittel-Kalkül zuwiderlaufen. In einem späteren Werk macht sich Ritzer Webers pessimistische Diagnose einer entzauberten Welt dann ausdrücklich zu eigen, steigert sie aber noch, indem er aufzeigt, wie die kapitalistische Konsumindustrie selbst diese Verarmung der Welterfahrung in ihrem Sinne zu nutzen weiß: Der tatsächlichen Entzauberung der Welt im Zuge ihrer McDonaldisierung entspricht ihre artifizielle Wiederverzauberung unter kommerzialisierten Vorzeichen.17 Auch das unausrottbare Bedürfnis nach vernunftüberschreitendem Tiefenerleben, bei Weber bekanntlich noch Quelle des modernetypischen Grundgefühls „einer unerhörten inneren Vereinsamung“18, wird in der McDonaldisierten Welt durch eine breite Palette von Konsumangeboten aufgefangen und befriedigt – eine Strategie, die in den bewusst als Konsumtempel konzipierten Shopping-Malls in besonders 12 13 14 15 16 17
George Ritzer, Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. Ebd., 27–31, 67–204. Ebd., 31–34, 205–244. Ebd., 231f. Ebd., 11. George Ritzer, Enchanting a Disenchanted World. Revolutionizing the Means of Consumption, Thousand Oaks u.a.1999. 18 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 91988, 17–206, hier: 93.
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sinnenfälliger Weise erlebbar wird. Insofern der Konsumkapitalismus nun selbst die transrationalen Antriebe des Menschen in seine Systemlogik einbindet und regelt, nimmt seine kulturelle Hegemonie mehr und mehr totalitäre Züge an. Läuft Globalisierung in dieser Sicht auf eine immer größere kulturelle Konvergenz zu, unterstreicht das rivalisierende Paradigma des kulturellen Differenzialismus die polarisierenden Effekte dieses Prozesses.19 Popularisiert wurde diese Position durch den 2008 verstorbenen US-Politologen Samuel Huntington. In seinem ebenso wirkungsmächtigen wie umstrittenen Bestseller The Clash of Civilizations (1996) kam Huntington zu einer ausgesprochen beunruhigenden Einschätzung der globalen Entwicklung.20 Seine provokante These lautet: Statt kulturelle Unterschiede zu verwischen, zieht die Globalisierung eine Verschärfung und Verfestigung der Kulturgrenzen nach sich. Nach Huntington zerfällt die globalisierte Welt in mindestens sieben Zivilisationen mit dauerhaften Unterschieden und konfliktträchtigen Bruchlinien. Vor allem die islamische Zivilisation mit ihrer schnell wachsenden Bevölkerung und der chinesisch-konfuzianische Zivilisation mit ihrer wirtschaftlichen Dynamik gelten als potentielle Herausforderer des christlichen Westens und seiner bröckelnden Übermacht. Schon die auffällige Tatsache, dass sich diese Typologie an der Religionszugehörigkeit orientiert, weist auf eine weitere fundamentale Differenz zu Ritzer hin: Während die Religion bei jenem von der hyperkapitalistischen Globalisierung zunächst marginalisiert und dann durch Surrogate entbehrlich gemacht wird, sind zivilisatorische Identitäten in Huntingtons Globalanalyse zu wesentlichen Teilen religiös konstituiert, was nach Ansicht des Autors unabsehbare Risiken aber auch Potenziale für das Zusammenleben zwischen den Kulturen birgt.21 Den gegenläufigen Entwürfen von Ritzer und Huntington ist gemeinsam, dass sie in den aktuellen Debatten um Globalisierung und Kultur fast nur noch im Modus der Abgrenzung thematisiert werden, oft in bis an die Grenzen der Verzeichnung verkürzten Werkdeutungen. Daher soll in einem ersten Zwischenfazit zunächst die bleibende Orientierungskraft dieser Positionen herausgestellt werden. Während in vielen kulturwissenschaftlichen Beiträgen zum Globalisierungsdiskurs die ökonomische Dimension (zu) stark in den Hinter-
19 Zu dieser Typologisierung vgl. Jan Nederveen Pieterse, Globale/lokale Melange: Globalisierung und Kultur – drei Paradigmen, in: Brigitte Kossek (Hg.), Gegen-Rassismen. Konstruktionen – Interaktionen – Interventionen, Hamburg/Berlin 1999, 167– 185. 20 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. In diesem Fall ist die Originalversion vorzuziehen, da in der deutschsprachigen Übersetzung der für Huntington leitende Zivilisationsbegriff durch den Begriff der Kultur ersetzt wird, was Missdeutungen Tür und Tor öffnet. 21 Vgl. Ebd., 301–322.
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grund trifft, verweist die These von der McDonaldisierung, wenn auch in zugespitzter Form, auf die verdeckte Prägekraft des Ökonomischen in globalkulturellen Formierungsprozessen. Zudem enthält Ritzers Insistieren auf die eklatante Bedrohtheit und damit Schutzbedürftigkeit des Unverfügbaren im globalen Konsumkapitalismus einen Wahrheitskern, der auch religionspädagogisch dazu anregt, über Optionen des Gegenwirkens nachzudenken. Wie Christoph Schwöbel zu Recht hervorhebt, besitzt auch Huntingtons vielgescholtene Deutung der polarisierten Weltsituation einen solchen Wahrheitskern, indem sie auf die konstitutive Bedeutung der Religionen für die Entstehung und Bewältigung von kulturellen Konflikten in der Weltgesellschaft aufmerksam macht.22 Drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der beiden Programmschriften ist allerdings unverkennbar, dass sich die in sie eingezeichneten Zukunftsprognosen nicht bewahrheitet haben. Letztlich scheitern die scheinbar inkommensurablen Szenarien globaler Uniformierung und Fragmentierung an Grundannahmen, die ihnen gemeinsam sind: Beide Modelle des Globalen operieren mit einem zu statischen Verständnis von Kultur. Kulturen erscheinen in ihnen als weitgehend distinkte, einheitliche, in sich abgeschlossene Entitäten, die sich klar umreißen, voneinander abgrenzen oder dialogisch aufeinander beziehen lassen. Wie der letztere Punkt indiziert, lässt sich dieser Einwand auch auf die weitaus positiver konnotierten Konzepte der Multi- oder Interkulturalität beziehen, die mit ihrer Leitvorstellung eines gleichberechtigten Neben- oder Miteinanders der Kulturen ebenfalls dem kulturessenzialistischen Fehlschluss aufsitzen. Diese Einsicht markiert den gemeinsamen Ausgangspunkt jüngerer Interpretationsmodelle kultureller Globalisierung, die den synthetischen Charakter globalkultureller Formierungsprozesse stärker zur Geltung bringen: Neben dem von Roland Robertson eingeführten Analysemodell der „Glokalisierung“, dessen Augenmerk der raum-zeitlichen Dimension solcher Verflechtungszusammenhänge gilt,23 hat sich das Konzept der Hybridisierung als eine besonders einflussreiche Perspektive auf das globale kulturelle Feld etabliert. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass sich hinter diesem Schlagwort ein in sich verzweigtes und positionell keineswegs einheitliches Diskursfeld verbirgt, weshalb mit Hybridisierung – von Kritikern teilweise als Modewort verschrien24 – Verschiedenes und zum Teil Widersprüchliches ausgesagt werden kann. Für das Erkenntnisanliegen des vorliegenden Bandes ist dieser Prozess-
22 Christoph Schwöbel, Gott im Gespräch. Die Gottesfrage im Dialog der Kulturen, in: Ders., Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 1–18, hier: 2f. 23 Vgl. dazu ausführliche Simojoki, Globalisierte Religion, 25–65, 273–278, 320–328, 351–355. 24 Vgl. Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005.
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begriff insofern interessant, als er den Punkt markiert, an dem sich die kulturwissenschaftliche Globalisierungsdebatte am stärksten mit postkolonialen Theorien kreuzt. Um die Gründe dafür besser zu verstehen, wird zunächst eine diskursprägende Spielart des Hybridisierungstheorem fokussiert, die außerhalb dieses Kreuzpunktes liegt.
3.
Auf die Mischung kommt es an. Hybridisierung als „global mélange“ (Jan Nederveen Pieterse)
Folgt man Jan Nederveen Pieterse, setzt sich das Konzept der Hybridisierung nicht nur von den rivalisierenden Paradigmen der kulturellen Konvergenz und des kulturellen Differenzialismus ab, sondern steht darüber hinaus in gesuchter Diskontinuität zur gesamten kulturwissenschaftlichen Theorietradition: „It does not build on an older theorem but opens new windows.“25 Dabei ist es weniger das Phänomen der Hybridisierung an sich, das diesen Innovationsanspruch begründet – die Durchmischung kultureller Gehalte zu neuen Kreuzungen und Kombinationen bildet seit jeher einen Grundmoment der Kulturentwicklung26 –, als vielmehr deren normative und deskriptive Konzeptualisierung. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Prozesse kultureller Vermischung oder Entgrenzung im öffentlichen und wissenschaftlichen Urteil eindeutig negativ konnotiert, galten als „Symptom von Kulturverfall und Gesellschaftskrise“27. Im Hybridisierungskonzept wird diese Logik bewusst umgekehrt: Was einst als minderwertig, abnormal oder gar gefährlich abgetan wurde, das Durchmischte, Nicht-Eindeutige, „Unreine“, rückt damit auch der Wertigkeit nach ins Zentrum kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit, die sich nun nicht mehr an der binären Logik des Entweder-oder, sondern an der hybriden Logik des Sowohl-als auch ausrichtet.28 Besonders deutlich wird die normative Aufladung dieses Konzepts dort, wo es in die Zukunft hinein fortgeschrieben wird: Nederveen Pieterse betont, dass das Theorem der Hybridisierung ein im Vergleich zu den tendenziell düsteren Aussichten bei Ritzer und Huntington grundsätzlich anderes, nämlich helleres und bunteres Bild der Zukunft evoziert: „Cultural mixing refers to a politics of integration without the need to give up cultural identity while cohabitation is expected to yield new cross-cultural patterns 25 Jan Nederveen Pieterse, Globalization and Culture. Global Mélange, Lanham u.a. 2004, 52. 26 Ebd., 88. 27 So die Überschrift der glänzenden Rekonstruktion durch Ha, Hybridität, 23–37. 28 Darauf weist Pieterse hin: „it takes as its point of departure precisely those experiences that have been banished, marginalized, tabooed in cultural differentialism“. Nederveen Pieterse, Globalization and Culture, 59.
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of difference. This is a future of ongoing mixing, ever-generating new commonalities and new differences.“29
Hybridisierung, so zeigt sich hier, ist für Nederveen Pieterse mehr als eine kulturwissenschaftliche Analysekategorie. Sie steht vielmehr für eine wünschenswerte Zukunftsoption multikultureller Koexistenz, in der fixierte Kulturgrenzen an Bedeutung verlieren und die Mischung zum neuen Normalfall wird. Die grundlegende Struktur einer hybridisierten Weltkultur ist demnach die der Offenheit, auch im Sinne von Anerkennung, Toleranz und Egalität.30 In der kulturwissenschaftlichen Debatte ist das Hybridisierungskonzept jedoch vor allem als Deskriptionskategorie eingesetzt worden. Als Analyseperspektive hat es nämlich gegenüber den großformativen Ansätzen von Ritzer und Huntington einen entscheidenden Vorteil: Prozesse der Hybridisierung lassen sich auch im Kleinen ausweisen und können daher ungleich konkreter auf den tatsächlichen Phänomenbestand im globalen Feld bezogen werden. „Thai boxing by Moroccon girls in Amsterdam, Asian rap in London, Irish bagels, Chinese tacos, and Mardi Gras Indians in the United States“31, solche Phänomene stehen nach Pieterse exemplarisch für die hybride Struktur und die patchworkartige Zusammensetzung kultureller Phänomene in der globalisierten Welt – wobei die zwischen Kommerz und Kunst angesiedelten Beispiele auch die dimensionale Bandbreite der Hybridisierungsdynamik belegen sollen. Wer sich davon überzeugen will, dass Kultur unter den Bedingungen beschleunigter Globalisierung selten in Reinform, umso mehr aber in hybriden Melangen begegnet, muss also gar keine kulturwissenschaftlichen Wälzer lesen: Es reicht ein wacher Blick auf die alltägliche Lebenswelt, die prägenden Muster der eigenen Identitätsarbeit oder die vielfältigen kulturellen Repräsentationen im Internet. Forschungspragmatisch bedeutet das, dass die komplexen Muster kultureller Artikulation und Zugehörigkeit in der heutigen Welt in ganz neuem Schärfegrad erforschbar werden.32 Diese verfeinerten Analysemöglichkeiten sind auch der wissenschaftlichen Religionsforschung zu Gute gekommen. In den Missionswissenschaften werden sie dazu genutzt, um die kontextualisierende Interpretation der christ29 Ebd., 56. [dt.: ‚Das Konzept kultureller Vermischung bezieht sich auf eine Politik der Integration, für die es nicht notwendig ist, kulturelle Identität aufzugeben. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass aus dem Zusammenleben neue, kulturübergreifende Muster hervorgehen. Daraus ergibt sich eine Zukunft fortwährender Vermischung, die unablässig neue Gemeinsamkeiten und Differenzen generiert.‘]. 30 Ebd., 56–58, 81–83. 31 Ebd, 69. 32 Vgl. dazu Andreas Reckwitz, Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive. Kulturelle Globalisierung jenseits von Modernisierungstheorie und Kulturessentialismus, in: Ilja Srubar / Joachim Renn / Ulrich Wenzel (Hg.), Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, 93–111, bes. 107–109.
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lichen Botschaft in außereuropäischen Kontexten herauszuarbeiten. Die hybride Logik solcher Aneignungsprozesse wird von Theodor Ahrens auf den Punkt gebracht, wenn er im Blick auf die Rezeption lutherischer Traditionen im melanesischen Kontext feststellt: „Aus traditioneller Religion und importiertem Missionschristentum entsteht etwas Drittes, Eigenes.“33 Aber natürlich trägt diese Perspektive nicht nur zur Erhellung religionskultureller Umformungsprozesse in der Ferne bei. Sie wirft auch ein neues Licht auf das, was Thomas Luckmann in seiner Theorie religiöser Individualisierung als „Bricolage“ bezeichnet hatte: In der entfalteten Moderne können und wollen Menschen immer weniger auf geschlossene kulturelle Sinnwelten und religiöse Orientierungsvorgaben zurückgreifen.34 Stattdessen werden Versatzstücke aus religiösen und nicht-religiösen Traditionen individuell zusammengesetzt, zu eigengeprägten und oft unkonventionellen Mischungen. Im Ansatz der Hybridisierung wird die Sicht auf solche Prozesse individueller Synthetisierung insofern verfeinert, als sie nun im räumlichen Bezugsrahmen der Globalisierung verortet werden. Die religionsdidaktische Anschlussfähigkeit dieser Perspektive auf den kulturellen Wandel lässt sich an einem global dimensionierten Lernfeld veranschaulichen, das derzeit besonders im Aufmerksamkeitshorizont der Religionspädagogik liegt. Im Kontext interreligiösen Lernens überwog lange Zeit die Tendenz, „den“ Islam als eine homogene Größe aufzufassen, der in erster Linie über zentrale Texte, Lehren und Figuren zu erschließen sei. In neueren Entwürfen erhält kulturelle Mehrbezüglichkeit des gelebten Islam vor Ort stärkeres konzeptionelles Gewicht: Wenn Schülerinnen und Schüler etwa, wie von Karlo Meyer angeregt, den Islam an seinen konkreten Manifestationen vor Ort erschließen,35 können sie hautnah erleben, wie stark diese Praxis von verschiedenen kulturellen Referenzgrößen durchformt wird. So lassen sich beispielsweise Moscheegemeinden als hybride Räume erkunden, in denen herkunftskulturelle Traditionen, Einflüsse der lokalen Lebenswelt und prägende Strömungen des globalen Islam spezifische Gestalt gewinnen. Auf eine weitere, weniger plastische, dafür aber pädagogisch besonders folgenreiche Facette solcher Hybridisierungsdynamiken hat Christoph Wulf im Kontext interkultureller Bildung hingewiesen.36 Wenn kulturelle Grenzen infolge der beschleunigten Durchmischung des Globalem und Lokalem zunehmend porös werden, verliert auch das Fremde unweigerlich an Konturen. 33 Theodor Ahrens, Lutherische Kreolität. Lutherische Mission und andere Kulturen, in: Hans Medick / Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, 421–451, 440. 34 Vgl. Thomas Luckmann, The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern Society, New York/ London 1967, bes. 99. Deutsch: Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991. 35 Vgl. Karlo Meyer, Lea fragt Kazim nach Gott. Christlich-muslimische Begegnungen in den Klassen 2 bis 6, Göttingen 2006. 36 Vgl. Christof Wulf, Anthropologie interkultureller Vielfalt. Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung, Bielefeld 2006, 21f, 42f.
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Die eigentliche Brisanz kultureller Hybridisierung besteht für Wulf darin, dass sie Eigenes und Fremdes einschließt, sich also nicht nur Identität verflüssigt, sondern Alterität gleich mit. Dieser Hinweis wirkt abstrakt, ist aber im konkreten Sinne bedeutsam für die didaktische Anbahnung interreligiöser Bildungsprozesse:37 Wenn Jugendliche sich im evangelischen Religionsunterricht mit dem Islam befassen, wird ihr Umgang mit dem Fremden nie allein davon bestimmt sein, was ihnen vorliegt oder wen sie vor sich haben. Denn das Fremde ist ihnen bereits zu eigen, vermittelt durch eine undurchsichtige Mixtur aus persönlichen Vorerfahrungen, angeeigneten Wissensbeständen, biographischen Bezügen, kulturellen Prägungen, medial vermittelten Bildern, konventionellen Stereotypen usw. Was Wulf vor diesem Hintergrund vorschlägt, gibt auch religionspädagogisch zu denken: Demnach muss den lernenden Subjekten in alteritätsorientierten Bildungsprozessen hinreichend Gelegenheit gegeben werden, der hybriden Präsenz des Fremden in der eigenen Erfahrungs- und Einstellungswelt nachzuspüren. Unter den Bedingungen kultureller Hybridität gewinnt daher die religionsdidaktisch vielgeforderte Differenzkompetenz unverkennbar eine selbstreflexive Note. Es spricht also auch religionspädagogisch einiges dafür, im Kontext ökumenischen Lernens mehr Sensibilität für Prozesse kultureller Vermischung und Verflüssigung zu entwickeln. Jan Nederveen Pieterses Diagnose des globalen Kulturwandels trägt dazu vor allem dadurch bei, dass sie die positiven Potenziale solcher Dynamiken zur Geltung bringt. Je konkreter man aber versucht, sein Konzept auf realgeschichtliche Kontexte der Hybridisierung zu beziehen, desto mehr fragt man sich, ob es sich gleichermaßen dazu eignet, die Ambivalenzen dieser Dynamik einzufangen. Mit dieser Anfrage ist der Punkt markiert, von dem aus sich der Mehrwert einer postkolonialen Perspektive auf kulturelle Hybridisierung ausweisen lässt.
4.
„Wie das Neue in die Welt kommt“. Hybridisierung als Subversion (Homi Bhabha)
Dass Lernprozesse im globalen Horizont auch schmerzlich sein können, macht sich derzeit besonders deutlich in den in Deutschland, Europa und anderen Weltkontexten mit unverminderter Heftigkeit geführten Diskussionen um globale Migration bemerkbar. Gerade aufgrund seiner aktuellen Konfliktträchtigkeit eignet sich dieses Thema besonders gut dafür, die spezifische
37 Vgl. dazu ausführlicher Henrik Simojoki, Beirut in Berlin? Interreligiöse Bildung in der Spannung zwischen Globalem und Lokalem, in: Evangelische Theologie 74 (2014), 167–179.
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Orientierungskraft von Homi Bhabhas postkolonialem Konzept der Hybridisierung für ökumenisches Lernen herauszuarbeiten. Es gibt freilich auch grundsätzliche Gründe dafür, diesen Ausgangspunkt zu wählen: Globalisierung und Migration sind, phänomenologisch wie perspektivisch, aufs Engste miteinander verwoben. Nederveen Pieterse spricht daher von „twin subjects“38, die nur in ihrem wechselseitigen Zusammenhang angemessen bearbeitet werden können. Allerdings wirft die Art und Weise, wie beide Aspekte von ihm relationiert werden, einige Fragen auf. Auch wenn er seiner Hybridisierungstheorie allgemeine Überlegungen zum Zusammenhang von Globalisierung und Migration vorausschickt,39 bleiben beide Aspekte bei der theoretischen Explikation des Konzepts weitgehend unverbunden. Migration kommt hier eher pauschal als Hintergrundfaktor, Antriebskraft oder Sitz im Leben der Hybridisierung in Betracht und wird zumeist in einem Atemzug mit weiteren solchen Faktoren wie Mobilität, Handel, Tourismus, Multikulturalität etc. genannt.40 Das ist insofern problematisch, als sich die genannten Erfahrungskontexte ja nicht unwesentlich unterscheiden, und diese Differenzen eigentlich auch unterschiedliche Muster der Hybridisierung vermuten ließen. Konkreter formuliert: Was Nederveen Pieterse als „global melange“ umschreibt, wird sich für einen Marketingexperten in New York anders darstellen als für einen Gastarbeiter in Bahrain und dürfte von Insassen einer Geflüchteteneinrichtung in Bamberg vermutlich ambivalenter wahrgenommen werden als von Teilnehmenden an einem Weltmusikfestivals in Kassel. An dieser Stelle werden die Grenzen seiner Analyseperspektive offensichtlich: Die für ihn leitende Denkfigur der „Vermischung“ ist zum einen zu abstrakt, weil sie die Kontextbedingungen und Machtverhältnisse vernachlässigt, in die Prozesse kultureller Verflüssigung eingelagert sind. Zum anderen fehlt es ihr an Differenzierungen, die es erlauben würden, die komplexen und oft konfliktreichen Aushandlungsprozesse in Situationen kultureller Mehrbezüglichkeit hinreichend nuanciert einzufangen. Mit dieser Defizitanzeige ist die erkenntnisleitende Intention von Homi Bhabhas Konzept kultureller Hybridität bzw. Hybridisierung bereits angedeutet. Wie der Titel seines Hauptwerkes anzeigt, zielt Bhabha mit diesem Konzept vor allem darauf, kulturelle Aktivität in der heutigen Welt möglichst nuanciert zu verorten.41 Allerdings ist diese Intention leicht misszuverstehen, weil der Begriff der Lokalisierung von Bhabha nicht im alltagssprachlichen Sinn verwendet wird. Die Räume, die ihn interessieren, sind sprachlicher Natur. Zu finden sind sie im bedeutungsgenerierenden „Grenzverkehr“ zwischen Individuen und Gruppen, wo sie sich diskursiv entfalten, in oft konfliktreichen
38 39 40 41
Nederveen Pieterse, Globalization and Culture, 32. Ebd., 23–39. Vgl. Ebd., 57, 64, 73, 87. 89. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.
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Prozessen wechselseitiger Infragestellung, beständigen Aushandelns und Übersetzens. Bereits auf metaphorischer Ebene zeigt sich, dass solche kulturellen Transformationsdynamiken von Bhabha weniger harmonisch konzeptualisiert werden als dies bei Nederveen Pieterse der Fall ist. Während jener beansprucht, mit dem Konzept der Hybridisierung „neue Fenster zu öffnen“42, wird in Bhabhas Theorie der Hybridität ein „politischer und kultureller Kampfplatz […] aufgeschlossen“43. Gerade in seinen jüngeren Beiträgen akzentuiert Bhabha die Globalität dieses Kampfplatzes. Er geht davon aus, dass sich in der globalen Ära auch die Marginalisierungserfahrungen und Unterdrückungskonstellationen der kolonialen Zeit globalisiert haben.44 Folgerichtig bildet die weltweite Migration einen bevorzugten Analysekontext seiner postkolonialen Kulturtheorie: Wie bei den kolonialisierten Völkern finden auch die kulturellen Hybridisierungsstrategien von Migrantinnen und Migranten auf einer Arena statt, auf der um Deutungsmacht, um Selbstbehauptung und in letzter Konsequenz ums „Über-leben“45 gekämpft wird. Es ist also zunächst einmal der Standpunkt, der Bhabhas Sicht auf den globalen Kulturwandel auszeichnet: Der Welthorizont kultureller Hybridität wird von ihm machttheoretisch gerahmt und konsequent „von unten“ aus der Perspektive der Marginalisierten erschlossen. Und doch ist der Kampfplatz, den Bhabha ausleuchten will, kein Ort der Ohnmacht oder des Ausgeliefertseins. Um die positiven Entfaltungspotenziale der hybriden Diskurssphäre zu akzentuieren, führt er den vielrezipierten Begriff des „Dritten Raumes“ ein. Bhabha bietet gleich zu Beginn seines Hauptwerkes eine metaphorische Konkretisierung an, die es erlaubt, das komplexe Konzept in rahmenbedingter Kürze zu veranschaulichen. Der dritte Raum, so Bhabha in Anlehnung an das Kunstwerk „Sites of Genealogy“ der afro-amerikanischen Künstlerin Renée Green, ist so etwas, wie das „Treppenhaus“ globaler Kulturpraxis: ein „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“46, eine Übergangszone ständigen Hin und Hers, ein Ort der Migration im originären Sinne des Wortes. Nicht das Mixen von kulturellen Versatzstücken unterschiedlichster Provenienz steht daher im Fokus, wenn Bhabha auf das Wortfeld des Hybriden zurückgreift, sondern ein diskursiver Ort kultureller Äußerung, der „im Dazwischen“ der Kultur zu lokalisieren ist.
42 Vergleiche dazu Fußnote 25. 43 Bhabha, Verortung der Kultur, 51. 44 So besonders eindrücklich im Vorwort zur Neuausgabe seines Hauptwerkes im „Routledge Classic Edition“. Vgl. Homi K. Bhabha. The Location of Culture. With a new preface by the author, London/New York 2004, ix–xxv, bes. xviif. 45 Ein Wort, das bei Bhabha durchaus positiv konnotiert wird, als „Akt, sein Leben auf der Grenze zu leben“ (Bhabha, Verortung der Kultur, 339). 46 Bhabha, Verortung, 5.
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Denen, die in dieser zwischenräumlichen Sphäre („interstitial space“47) unterwegs sind, – Kolonialisierte, Minoritäten, Migrantinnen und Migranten – eröffnen sich neuartige Möglichkeiten der Identitätsaushandlung und Weltartikulation. Während es Nederveen Pieterse vor allem auf die Mischung ankommt, überwiegt bei Bhabha das Moment der Diskontinuität; statt an kulturellem Synthesen richtet sich seine Theorie der Hybridität an der Frage aus, „wie das Neue in die Welt kommt“48. Er setzt stärker auf die subversive Kraft der Hybridisierung, die in oft sublimen Prozessen der Uminterpretation, Verfremdung und Bedeutungsverschiebung zur Erschütterung und Aushöhlung hegemonialer Positionen und dominanter Ordnungssysteme führt. Damit ist schließlich eine für die religionspädagogische Rezeption besonders zentrale Ebene angeschnitten, nämlich die nach den Formen kultureller Hybridisierung. In Bhabhas literaturwissenschaftlich fundierter Kulturtheorie kommt sprachlich-literarischen Ausdrucksformen entscheidende Bedeutung zu, was von Kritikern seines Ansatzes mit gewissem Recht als Einseitigkeit moniert worden ist.49 Und doch lassen sich gerade auf dieser Ebene wichtige Handlungs- und Orientierungsperspektiven für ökumenisches Lernen im Angesicht der globalen Migrationsgesellschaft gewinnen.
5.
„The right to narrate“ – oder: Ökumenisches Lernen als narrativer Aushandlungsprozess
In seinen jüngsten Veröffentlichungen zeichnet Bhabha sein Konzept der Hybridisierung expliziter als zuvor in einen globalen Bezugshorizont ein und reflektiert dabei besonders die Frage, wie menschliches Zusammenleben angesichts unvermeidlicher Kulturkonflikte gelingen kann. Ganz auf der Linie seiner oben skizzierten Grundposition koppelt er diese Frage an ein generelles Artikulationsrecht, das bislang nicht zum geläufigen Bestand kodifizierter Grundrechte zählt und sich nur schwer ins Deutsche übertragen lässt: „the right to narrate“50. In der eingängigen Formel schwingen zwei zusammengehörige Dimensionen mit, die beide von Tragweite für die Leitfrage dieses Beitrages sind. Auf individueller Ebene verweist sie auf die grundlegende Bedeutung von Narrationen für Identitätsbildung unter den Bedingungen kultureller Hybridität. In 47 Bhabha, Location, 5. 48 Vgl. Bhabha, Verortung, 317–352. 49 Vgl. Karen Struve, Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2013, 154–166. 50 Homi K. Bhabha, The Right to Narrate, in: Harvard Design Magazine 38 (2014), abrufbar unter: http://www.harvarddesignmagazine.org/issues/38/the-right-to-narrate (25.01.2017).
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der globalen Migrationsgesellschaft sind Menschen verstärkt auf Artikulationsräume angewiesen, in denen sie die spannungsvollen Konstellationen ihrer Alltagserfahrung und Lebensgeschichte zur Sprache bringen und zu einer eigenen Story zusammenbinden können. Damit ist eine Bildungsaufgabe markiert, die umso anspruchsvoller ist, je zerklüfteter das Spektrum der biographisch und lebensweltlich zugewachsenen Orientierungsvorgaben, kulturellen Zuschreibungen und Identifikationserwartungen im Einzelfall ausfällt. Hans-Georg Ziebertz hat besonders nachdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Zielperspektive einer „Hilfe zur Identitätsbildung durch Narration“51 ein ureigenes Anliegen religiöser Bildung darstellt. Dabei spricht er der biblischen Überlieferung besonderen Erhellungswert zu, weil in ihr Orientierungsnöte und Gebrochenheitserfahrungen nicht ausgeklammert, sondern als charakteristisch für menschliche Identitätssuche angesehen werden. Bhabhas Theorie der Hybridisierung trägt zur weiteren Plausibilisierung und vor allem globalen Kontextualisierung dieser religionspädagogisch weitgehend etablierten Aufgabenperspektiven bei. Sie gewährt einen wenig systematischen, dafür aber detailscharfen und kontrastreichen Einblick in die komplexen Muster kultureller Selbstverortung in der globalen Migrationsgesellschaft und hilft gleichzeitig zu verstehen, dass mit dem umkämpften und stets gefährdeten Recht auf Narration etwas auf dem Spiel steht, das die Freiheit und Würde des Menschen mit ausmacht52. Allerdings schließt Bhabhas Plädoyer für ein „right to narrate“ eine weitere Dimension ein, die im religionspädagogischen Identitätsdiskurs weit weniger beachtet wird. Denn er zielt mit dieser Forderung über die individuelle Sphäre hinaus auf ein „generelles Äußerungsrecht im Diskurs“53: „Freedom of expression is an individual right; the right to narrate, if you will, is an enunciative right – the dialogic right to address and be addressed, to signify and be interpreted, to speak and to be heard, to make a sign and to know that it will receive respectful attention.“54
Bei Bhabha sind „narration“ und „negotiation“ enger miteinander verbunden als in den gängigen Konzepten einer narrativen Identität. Narrationen haben ihren Sitz im Leben in konfliktreichen Prozessen kulturellen Aushandelns, sie 51 Vgl. Hans-Georg Ziebertz, Wozu religiöses Lernen? Religionsunterricht als Hilfe zur Identitätsbildung, in: Georg Hilger / Stephan Leimgruber / Hans-Georg Ziebertz, Religionsunterricht als Hilfe zur Identitätsbildung, München 62010, 142–154, 151. 52 Bei Bhabha heißt es dazu: „the authority to tell stories, recount or recast histories, that create the web of social life and change the direction of its flow“. Siehe Bhabha, Right to narrate. 53 Struve, Bhabha, 184. 54 Bhabha, Right to narrate [dt.: ‚Die Freiheit, sich auszudrücken, ist ein individuelles Recht; das Recht zur Narration ist, wenn man so will, ein Äußerungsrecht – das dialogische Recht, anzusprechen und angesprochen zu werden, zu bezeichnen und gedeutet zu werden, zu sprechen und gehört zu werden, ein Zeichen zu setzen und zu wissen, dass es respektvolle Aufmerksamkeit erhalten wird.‘].
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wollen nicht nur erzählt, sondern auch gehört und verhandelt werden. Versteht man Narrationen in dieser Weise als ein diskursives Phänomen, hat das zur Folge, dass Prozesse narrativer Identitätsaushandlung in Kontexten religiöser Bildung spannungsvoller gedacht werden müssen, als dies gemeinhin geschieht. Das gilt sowohl auf der interkulturellen als auch der intra- und interreligiösen Artikulationsebene religiöser Bildung. Was Philipp Jenkins allgemeiner moniert hat, lässt sich auch auf religiöse Bildungsprozesse in deutschen Klassenzimmern und Gemeindehäusern beziehen: Sie richten sich allzu oft an im Grunde essentialistischen Vorstellungen darüber aus, „was ‚moderne Christen‘ akzeptieren‘ oder ‚was Katholiken heute glauben‘“55 bzw., im Jahr des Reformationsjubiläums, was „Evangelisch-Sein“ heute bedeutet.56 Die Bedeutung der postkolonialen Perspektive für ökumenisches Lernen liegt nicht zuletzt darin, dass sie die mit dieser Blickwinkelverengung verbundenen Exklusionsmechanismen ins Bewusstsein rückt. Denn in einer Welt, die sich auch im Lokalen immer mehr globalisiert, werden sich die mit Ausblendungen verbundenen Ausgrenzungen unmittelbarer bemerkbar machen. Ins Positive gewendet, enthält das postkoloniale Konzept kultureller Hybridität eine Entwicklungsperspektive, die sich, in einer Revision von Ernst Langes eingangs explizierten Programmformel, folgendermaßen verdichten lässt: Der Welthorizont, der in Prozessen ökumenischer Bildung erschlossen worden soll, kann nicht einfach „erlernt“ werden. Er muss narrativ entfaltet und diskursiv ausgehandelt werden.
55 Philip Jenkins, Die Zukunft des Christentums. Eine Analyse zur weltweiten Entwicklung im 21. Jahrhundert, Basel 2006, 13f. 56 Hier versucht das Schulvernetzungsprojekt „schools500reformation“ einen Gegenakzent zu setzen. Vgl. Henrik Simojoki / Annette Scheunpflug / Birgit Sendler-Koschel, Introduction: schools500reformation – Exploring the Global Horizon of Faith and Education, in: Kirchenamt der EKD et al. (Hg.), 500 schools – One World. Exploring the Global Horizon of Faith and Education. Conference Documentation, Hannover 2016, 4–9.
Postkoloniales Denken in der Religionspädagogik? Spurensuche – Konvergenzen – Konkretionen Stefan Scholz
Gibt man bei google die beiden Suchbegriffe Postkolonialismus und Religionspädagogik ein, so ist das Ergebnis eher dürftig. Bis auf ein paar kleine Versatzstücke findet sich nichts. Diese auf den ersten Blick recht klare Leerstelle wird allerdings modifiziert, wenn Postkolonialismus nicht als eng gefasstes Programm betrachtet sondern als bestimmte Form von Wahrnehmung (Optik) verstanden wird, die auf Diskurse über Befreiung und Unterdrückung hinsichtlich Klasse, Kultur, Rasse, Geschlecht, Ethnizität etc. bezogen ist.1 So erschließen sich eine ganze Reihe von Verbindungen zum religionspädagogischen Diskurs. Zunächst werde ich – so weit wie nötig für diesen Kontext – ein knappes Verständnis geben, was Religionspädagogik heute ist und wie sie sich in Zusammenhang und Konkurrenz zu anderen innertheologischen Disziplinen konturiert (1). In einem zweiten Schritt werde ich Konvergenzen zum Postkolonialismus in der Theoriebildung der Religionspädagogik ausloten (2). In einem dritten Schritt werde ich anhand des Flüchtlingsdiskurses als aktuelles auch religionspädagogisches Thema Material aus der Unterrichtspraxis aufrufen, um Konkretionen zu den ausgeloteten Konvergenzen aufzuzeigen (3). Und abschließend werde ich die Verbindungen von Postkolonialismus und Religionspädagogik mit dem soziolinguistischen Modell des Interdiskurses skizzenhaft interpretieren (4).
1.
Einschub: Was ist Religionspädagogik?
Religionspädagogik hat es zunächst mit der Verbindung von Theologie und Bildungsprozessen zu tun.2 In der theologischen Enzyklopädie wird die
1 2
So Bradley H. McLean, Art. Postkolonialismus/Postcolonial Criticism, I. Alttestamentlich/Neutestamentlich, in: Oda Wischmeyer u.a. (Hgg.), Lexikon der Bibelhermeneutik, 441–442, hier: 441. Vgl. Joachim Kunstmann, Religionspädagogik, Tübingen/Basel 2004, 11 und Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2007, 18 sowie Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 2–5.
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Stefan Scholz
Religionspädagogik mitunter als sekundäre Anwendung gesehen, die theologische Erkenntnisse aus den Bereichen Exegese und Systematische Theologie in die verschiedenen Kontexte von Schuldidaktik, Gemeindepädagogik sowie gesellschaftlicher Bildung zu vermitteln hat. Die simple Aufteilung in Fachwissenschaft und Fachdidaktik3 mit einer Arbeitsteilung von Wissensgenerierung und Wissensvermittlung ist freilich schon lange einer ungemein komplexen, widersprüchlichen und auch kontroversen innertheologischen Wissensproduktion gewichen. Religionspädagogik hat längst selbst Anteil an theologischer Theoriebildung – nicht nur als hermeneutische Disziplin bearbeitet sie Aufgaben der Weltwahrnehmung, der Anthropologie oder der Gottesvorstellung. Als Historische Religionspädagogik liefert sie einen Beitrag zur Aufarbeitung geschichtlicher Prozesse und deren Effekte auf heute. Als Bibeldidaktik engagiert sie sich auch in der Bibelexegese (wie ebenso umgekehrt ein Exeget, Gerd Theißen, eine Bibeldidaktik schreiben kann4), als Kindertheologie formuliert sie Dogmatik und im Zusammenhang der Wertebildung ist sie mit Ethik betraut. Neben diese theologische Grundverortung gesellt sich das pädagogische Standbein mit allgemein erziehungswissenschaftlichen und empirischen Forschungshorizonten. Das Ausgreifen in die erwähnten Fachrichtungen soll einen ersten Hinweis liefern, dass thematische Inhalte, methodische Ansätze, Stimmungen oder turns wie der Postkolonialismus relativ einfach in das weite Gebiet der Religionspädagogik Eingang finden können.5
2.
Konvergenzen: Theoriebildung
Ich greife einige postkoloniale Schlüsselbegriffe auf (a), die ich anschließend auf die religionspädagogische Theoriebildung beziehe (b). Dies sind Mündigkeit, Subjektwerdung, Multiperspektivität und globale Gerechtigkeit sowie Dekonstruktion.
3 4
5
Vgl. Ingrid Schoberth, Diskursive Religionspädagogik, Göttingen 2009, 8: Der Religionsunterricht „ist nicht die Applikation vorher gewonnener theologischer Sätze und Satzsysteme“. Gerd Theißen, Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibelarbeit, Gütersloh 2003, 12: „Es bedarf keiner Begründung, dass ein Exeget eine Bibeldidaktik schreibt. Er unterrichtet über biblische Texte, motiviert andere dazu, die Bibel zu studieren. Er treibt ständig Bibeldidaktik“. Vgl. Stefan Scholz, Bibeldidaktik im Zeichen der Neuen Medien. Chancen und Gefahren der digitalen Revolution für den Umgang mit dem Basistext des Christentums, Münster 2012, 9–23.
Postkoloniales Denken in der Religionspädagogik
2.1
273
Mündigkeit
(a) Postkolonialismus blickt in kritisch-reflexiver und Distanz schaffenden Reaktion auf die Effekte der kolonialen Vergangenheit mit dem Ziel, einen Zustand der Emanzipation vom Kolonialerbe zu erreichen.6 Das Stichwort Emanzipation zeigt die grundsätzliche Ausrichtung auf Mündigkeit an. Postkolonialismus kann als programmatische Widerstandsform gegen den historischen Kolonialismus sowie dessen Machtlogiken und fortwirkende Abhängigkeitsverhältnisse mit dem Ziel der Mündigkeit aufgefasst werden.7 Dies kennzeichnet ihn als eine engagierte und dezidiert positionelle Forschungsrichtung mit intensiver Theorie-Praxis-Verschränkung. (b) Mündigkeit ist ebenso ein zentraler Begriff der Allgemeinen Erziehungswissenschaften und der Religionspädagogik. Nach breiter Auffassung ist Mündigkeit nie schon naturhaft gegeben, sondern wird erst durch Emanzipation8 und/oder edukative Einwirkung hergestellt. Erziehung zur Mündigkeit hat daher stets ihr Verhältnis zu pädagogisch motivierten Zwangsmitteln als Instrumentarien der Erlangung von Selbständigkeit kritisch zu klären.9 Mündigkeit konnte in der griechischen Polis – zumindest im Blick auf die freie männliche Bürgerbevölkerung – im Konzept der parrhesia10 angestrebt werden. Eindrucksvoll führt Platons Höhlengleichnis vor Augen, dass erst die durch Bildung vermittelte Erkenntnis die Freiheit des mündigen Menschen ermöglicht.11 Ganz ähnlich nimmt die Erziehung zur Mündigkeit über 1000 Jahre später bei Immanuel Kant einen hervorgehobenen Platz ein, wie der Leitspruch seiner Definition zur Aufklärung zeigt.12 Friedrich D. E. Schleiermacher, Adolph Diesterweg, Karl Liebknecht und andere forcierten So Eberhard Kreutzer, Art. Postkolonialismus, in: Ansgar Nünning (Hg.), MLLK5 Stuttgart/Weimar 2013, 617–618, hier: 617. 7 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 22015,16. 8 Siehe Helmut Kasper, Emanzipation als allgemeinstes Erziehungsziel, in: Wolfgang Brüggemann (Hg.), Bildung oder Indoktrination? Richtlinien für den Politischen Unterricht in NRW. Vollständiger Text und kritische Beiträge, Recklinghausen 1974, 14– 37. 9 Siehe Heinz Eidam, Erziehung und Mündigkeit. Vom Mittel und Zweck der Erziehung im Ausgang von Kant und Adorno, in: Heinz Eidam / Timo Hoyer (Hgg.), Erziehung und Mündigkeit. Bildungsphilosophische Studien, Berlin 2006, 99–122. 10 Zur neuzeitlichen Rezeption des antiken Konzepts der Parrhesia siehe Michel Foucault, Das Wahrsprechen des Anderen. Zwei Vorlesungen 1983/84, FrankfurtMain 1988. 11 Siehe zur Verbindung von Platons Höhlengleichnis und Pädagogik Timo Hoyer, Erziehungsziel Mündigkeit, in: Heinz Eidam / Timo Hoyer (Hgg.), Erziehung und Mündigkeit. Bildungsphilosophische Studien, Berlin 2006, 9–31, hier: 13. 12 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Werkausgabe Bd. 11, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt-Main 1993, 31–50, hier: 53. 6
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Stefan Scholz
im 19. und frühen 20. Jahrhundert den pädagogischen Mündigkeitsbegriff weiter. Zu einem radikalen Bruch mit auf Mündigkeit zielenden pädagogischen Programmen führte die autoritäre nationalsozialistische Ideologie.13 Erst zum zentralen Bildungsideal wird die Mündigkeit nach 1945 im Kontext der emanzipatorischen Erziehungswissenschaft14, die im Zuge der langwierigen Aufarbeitungen der NS-Diktatur Demokratiefähigkeit pädagogisch zu fördern suchte. Seither gehört Mündigkeit zum festen Kanon pädagogischer Lehrziele und bildet einen wichtigen kritischen Ausgangspunkt für bildungstheoretische Debatten15, in die religionspädagogische Unternehmungen eingebunden sind.16
2.2
Subjektwerdung
(a) Frantz Fanon, einer der führenden Intellektuellen der ersten Generation des Postkolonialismus, stellte in Peau noire, masques blancs [Paris 1952] die Frage nach Konstitution und Identität des postkolonialen Subjekts17. Fanons Ausführung durchschreitet zunächst erkenntnis- und dann handlungsorientiert den Weg vom Schweigen bzw. zum Schweigen-Gebrachtsein hin zur sprachlichen und politischen Handlungsfähigkeit selbstbestimmter Subjektwerdung.18 In der Folgezeit wird die Überlagerung verschiedener Zugehörigkeiten und Lebenswelten postkolonialer Subjekte reflektiert mit Schlüsselbegriffen und Analysekategorien wie Hybridität, Differenz, Zwischenräume, Widerspruch, Dritter Raum (in betweens), gespaltene Erfahrung etc.19
13 Näheres bei Timo Hoyer, Erziehungsziel Mündigkeit, 20–22. 14 Siehe zur kritischen Erziehungswissenschaft Klaus Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München 19704 sowie resümierend Wolfgang Klafki, Kritisch-konstruktive Pädagogik. Herkunft und Zukunft, in: Jürgen Eierdanz / Armin Kremer (Hgg.), Weder erwartet noch gewollt – Kritische Erziehungswissenschaft und Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des kalten Krieges, Baltmannsweiler 2000, 152–178. 15 Beispielhaft Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, hrsg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt-Main 1970, 140–155. 16 Vgl. hinsichtlich der Neuaufbrüche der 60er und 70er Jahre Dietrich Zilleßen, Emanzipation und Religion. Elemente einer Theorie und Praxis der Religionspädagogik, Frankfurt-M. 1982. Siehe insgesamt Stefan Scholz, Bibeldidaktik, 272–279. 17 Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Paris 1952; vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 20093, 187. S.a. I. Kerner, Postkoloniale Theorien. Zur Einführung, Hamburg 2012, 43–53. 18 Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural turns, 190. 19 Ebd., 192.
Postkoloniales Denken in der Religionspädagogik
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(b) Eng verbunden mit der Mündigkeitsthematik kann die Subjektwerdung als zentraler Zielhorizont auch pädagogischen und religionspädagogischen Bemühens verstanden werden:20 Aktuell ist insbesondere die Diskussion um Lernziele versus Kompetenzorientierung vom Gedanken der Subjektwerdung getragen. Während konventionelle Lernziele vor allem mit direktiven Bildungsprozessen verbunden sind21 und Lernende zu Empfangenden von Bildungsinhalten degradieren, rekurriert die Kompetenzorientierung auf Freiheit und Selbstbestimmung der Lernenden.22 Die Bewegung im Verständnis hin zu den Lernenden als aktive Personen und Teilhabende am Lerngeschehen kann der Kompetenzgedanke besser als der Lernzielbegriff erfassen. „Statt einer Didaktik der ‚Vermittlung’ legt sich zunehmend eine Didaktik der ‚Aneignung’ und der ‚Anregung’ nahe“.23 In seiner allgemeinen Form expliziert der Kompetenzgedanke die „Fähigkeit zu verantwortlicher und selbstbestimmter Lebensführung in allen Belangen eigener Lebenspraxis“.24 Joachim Kunstmann konnte bereits 2002 formulieren: „Der Kompetenzbegriff kann – trotz seines technischen Klanges – in der Geisteswissenschaft als eingeführt gelten. Er wird in jüngster Zeit vermehrt auch in der Religionspädagogik gebraucht, da er sich dem Begriff einer religiösen Bildung offensichtlich plausibel zuordnen lässt“.25
2.3
Multiperspektivität
(a) Die Perspektive des Postkolonialismus ist hegemonie-kritisch. So werden unterschiedliche, sonst nicht wahrgenommene oder marginalisierte Standorte sichtbar. Dieses Anliegen macht den Postkolonialismus sensibel gegenüber einfachen und pauschalisierenden Gesamtsichten und damit auch widerständig gegenüber Fortschreibungen von kulturell legitimierter Unterdrückung. Daraus ergibt sich die Aufgabe, „kritische Analysekategorien zu entwickeln, mit denen die anhaltende und weiterhin problematische Konstruktion des ‚Anderen’ (Othering) aufgearbeitet werden kann. Die diskursprägende Gewalt hege-
20 Siehe insgesamt Bernd Schröder, Religionspädagogik, 249: „Pädagogik und Religionspädagogik stimmen weithin darin überein, dass Bildung auf Subjektwerdung zielt“. 21 Vgl. die Lernziel-Definition bei Horst Schaub / Karl G. Zenke, Wörterbuch Pädagogik, München 20004, 360f. 22 Vgl. Matthias Bahr / Ulrich Kropač / Miriam Schambeck, Vorwort, in: Matthias Bahr / Ulrich Kropač / Miriam Schambeck (Hgg.), Subjektwerdung und religiöses Lernen. Für eine Religionspädagogik, die den Menschen ernst nimmt, München 2005, 11–16, hier: 11. 23 Joachim Kunstmann, Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse, Gütersloh/Freiburg 2002, 18. 24 Ralf Stroh, Art. Kompetenz, in: RGG4 IV, Tübingen 2001, 1537–1538, hier: 1537. 25 Joachim Kunstmann, Religion und Bildung, 411f.
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monialer Kulturen wird dabei ebenso beleuchtet wie die zunehmend eigenständige Selbstrepräsentation bisher marginalisierter Gesellschaften, ethnischer Gruppen und Literaturen“.26 (b) Die Theologie als wesentlicher Referenzrahmen der Religionspädagogik hat sich bis in die Moderne hinein schwer getan, das Andere und das Fremde, d.h. weitere Perspektiven nicht per se einseitig nur als Negativfolie für das Eigene wahrzunehmen. Konfessionelle und religiöse Konflikte bis in die Gegenwart belegen dies ebenso nachdrücklich wie ernüchternd.27 „Das Lernen mit und von fremden Religionen und Kulturen wird durch die Tradition und Geschichte christlichen Glaubens erschwert. Christliche Kirche und christlicher Glaube wirkten identitätsstiftend durch Abgrenzung, Ausgrenzung und Verfolgung“.28
Heute arbeiten religionspädagogische Neuansätze mittels der Kategorie der Fremdheit, um unterschiedliche Perspektiven miteinander zu vernetzen: „Das Fremde abzuschieben und zu verdrängen, ist Kolonialismus. Es prinzipiell zu lieben, ist Vereinnahmung oder Kapitulation. Achtung ist stärker als bedürfnisbezogene Liebe. Ob Fremdes geachtet wird, entscheidet sich daran, wie Kritik und Grenzziehung vollzogen werden“.29
Relativ früh in der Evangelischen Religionspädagogik hat sich die Frage nach dem fremden Menschen in der thematischen Beschäftigung mit Menschen mit Behinderung gestellt.30 Exemplarische religionspädagogische Arbeitsfelder zum Umgang mit dem Fremden / dem Anderen sind heute die Bereiche Religiöse Erziehung und Bildung nach Auschwitz, das Ökumenische Lernen, Pädagogik und Theologie der Befreiung und die Feministische Religionspädagogik.31 Die programmatische Entdeckung des Plurals war nur eine Frage der Zeit und so erhebt das 2009 erschienene religionspädagogische Handbuch Gender Religion Bildung Vielfalt – Diversity – konsequent zum Leitbegriff. Die HerausgeberInnen plädieren für eine Pädagogik der intersubjektiven An26 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns, 185. 27 Als wichtige Friedensinitiative an der Schwelle vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit kann gelten Nikolaus von Kues mit seiner Versöhnungsschrift gerichtet an die Religionen und Konfessionen ‚De pace fidei’, ders., Über den Frieden oder die Übereinstimmung unter den Religionen (De Pace Fidei), in: ders. Philosophische und theologische Schriften. Auf der Grundlage der Übersetzung von Anton Scharpff, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Eberhard Döring, Wiesbaden 2005, 486– 516. Aktuell zu Religion und Gewalt siehe Hamideh Mohagheghi (Hg.), Gewalt in den heiligen Schriften von Islam und Christentum, Paderborn 2014. 28 Rolf Heinrich, Art. „Fremde“, in: Norbert Mette / Folkert Rickers (Hgg.), Lexikon der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn, 2001, 632–638, hier: 634. 29 Dietrich Zilleßen, Das Fremde und das Eigene. Über die Anziehungskraft von Fremdreligionen, in: EvErz 43 (1991/6), 564–571. 30 So Anita Müller-Friese Miteinander der Verschiedenen, Weinheim 1996, besonders 196f. 31 Norbert Mette, Religionspädagogik, Düsseldorf 2006, 46f.
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erkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen. Als Religionspädagogik der Vielfalt will sie helfen, in eine Hermeneutik einzuüben, die religiöse und soziale Differenzen wahrnimmt und damit verbundene Stereotype aufzubrechen vermag, zugleich aber auch eine eigene kritische Position zu entwickeln. Thematisiert werden Essentialisierungen und deren Konstruktionscharakter, Dichotomisierungen und Chancen für deren Dynamisierung sowie Inklusions- und Exklusionseffekte. Der Gerechtigkeitsaspekt spielt dabei eine hervorgehobene Rolle.32 Vor allem aber das interreligiöse Lernen wurde in den vergangenen ca. zehn Jahren zur wichtigen Triebfeder des religionspädagogischen Einsatzes für Multiperspektivität. Die EKD-Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“ von 2014 erhebt die religiöse Pluralitätsfähigkeit zum zentralen Bildungsziel.33 Einen interessanten Einblick, wie andere anders Religionspädagogik treiben, gibt Sabine Dievenkorn mit ihrer Beschreibung der Evangelischen Religionspädagogik in Chile.34 Sie stellt heraus, wie geografische Kontexte unweigerlich als Wissenskategorien funktionieren und dass europäische Standards der Wissensgenerierung nicht einfach mit indio-amerikanischen Vorstellungen kompatibel sind, letztere aber schnell aus dem eurozentrischen Blickwinkel heraus zu de-privilegierten und diskreditierten Anschauungen werden. „In Chile basiert(e) die indigene Kultur ausschließlich auf Mündlichkeit und das spiegelt die heutige Kultur deutlich wider. Man erzählt sich die Dinge. Dass man sie dabei auch verändert, stört nicht. Wahrheit im Sinne aristotelischer Genauigkeit ist hier keine Kategorie. Auch die Zeit verläuft nicht nach Schweizer Uhrwerken, selbst wenn man sie gern damit misst. Zusammenhänge sind wesentlicher als das, der oder die Einzelne. Woher? und Wohin? sind keine rhetorisch nachdenklich machenden philosophischen Fragen. Woher? und Wohin? bilden sich ganz direkt im grammatischen Sprachsystem der ursprünglichen Bevölkerung ab. Weder Mapudungun, noch Aimara oder Quechua folgen den indogermanischen Konjugationstabellen hinsichtlich der Zeit. Statt dessen werden Verbformen derart gebildet, dass man erfährt, woher die Information stammt: selbst erlebt, miterlebt, aus erster oder zweiter Hand gehört, geträumt etc. Für rational und von der philosophischen Aufklärung geprägte Kultur- und Wissenssysteme ist das nur schwer vorstellbar. Es klingt in diesen Ohren sehr schnell zu beliebig, zu flexibel“.35 32 Annebelle Pithan / Silvia Arzt / Monika Jakobs / Thomas Knauth (Hgg.), Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009, hier: 9f. 33 Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015. http://www.ru-denkschrift.de [15.05.2016]. 34 Sabine Dievenkorn, Kritische Zeitgenossenschaft als Basis und Ziel systematischer Theologie und evangelischer Religionspädagogik – Kontextuelles Arbeiten in Schule und Kirche in Chile, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 12 (2013/2), 122–134. 35 Ebd., 125.
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Der Umgang mit dem Anderen und dem Fremden sowie die Organisation unterschiedlicher Perspektiven ist also in die Religionspädagogik dauerhaft eingeführt.36
2.4
Globale Perspektive/Gerechtigkeit
(a) Naheliegend ist der Postkolonialismus in seiner kritischen Aufarbeitung kolonialer Effekte auf globale Perspektivierungen angewiesen. Insbesondere die Bedeutungsverschiebung, so Doris Bachmann-Medick, von einem „imperialismuskritischen historischen Epochenbegriff zu einem politischpragmatischen und diskurskritischen Begriff“37 verstärkt das transprovinzielle Interesse postkolonialistischer Optik. An- und Enteignungsprozesse mit (neo-)kolonialer Genese werden offengelegt38 und dabei insgesamt die Machtstrukturen des Westens in Frage gestellt. Indem zugleich auch westliche Intellektuelle sich in den postkolonialistischen Diskurs einbringen, geht es ebenso um Repräsentation und kritische Selbstreflexion, um die Politisierung der Wissenschaften sowie um die Umsetzung von Gerechtigkeitslogiken.39 Aber zugleich sorgte die Popularität des Postkolonialismus in den westlichen Akademien für dessen Depolitisierung.40 „In den Hochschulen der ‚Ersten Welt’ wünschen sich viele, ein Stück vom Popularitätskuchen postkolonialer Theorie abzubekommen, was postwendend die Frage nach den Konsequenzen dieses Nimbus auf die Wissensproduktion aufwirft“.41
(b) Vor ein paar Jahren noch war die deutschsprachige Religionspädagogik wenig an politischen, gesellschaftspolitischen und globalen Fragestellungen orientiert. Vor allem Ansätze des performativen Religionsunterrichts, zum Teil aber auch schon die Symboldidaktik, konzentrierten sich vorwiegend auf innerliche Dimensionen von Frömmigkeit. Andere Themen rückte dies eher in den Hintergrund. Hingegen verzahnten die dominierenden Konzeptionen der Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum zeitlich vor dem performativen und symboldidaktischen RU, also der hermeneutische sowie der problem-
36 Siehe auch die fünf Schritte zum Umgang mit dem Fremden bei Rolf Heinrich, Art. „Fremde“, hier: 635–637. 37 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns, 185. 38 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 78. 39 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns, 192. 40 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 288. Dies freilich ebenso und besonders für andere ursprünglich kritische und dann institutionalisierte Ansätze, beispielhaft den Feminismus. 41 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 289f.
Postkoloniales Denken in der Religionspädagogik
279
orientierte Ansatz Glaube, Weltdeutung und Handeln in deutlich stärker konturierter Intensität miteinander.42 Heute nun – freilich auch im Zuge des religionspädagogischen Methodenkarussells, das keine singuläre Leitkonzeption mehr kennt – sieht sich die Religionspädagogik wieder mehrfach bewusster auch durch gesellschaftspolitische Problemstellungen herausgefordert.43 Dies sind neben Themen globaler Wirtschaftsordnung die zunehmende Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Orientierungen44 sowie generell eben die Bewältigung von Alterität und Vielfalt. Globales Lernen steht heute wieder neu im Fokus religionspädagogischer Aufmerksamkeit.45 Vor allem die Eine-Welt-Pädagogik bzw. Neuauflagen befreiungstheologisch-pädagogischer Ansätze46 greifen die Politisierung der Religionspädagogik der 70er Jahre wieder auf und stellen sie in eine globale Perspektive. Engelbert Groß47 rezipiert den befreiungstheologischen Dreischritt aus Sehen – Urteilen – Handeln, der bereits in Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten48 in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs eingeführt worden ist. Mit Sehen ist „eine Wahrnehmungsschule gemeint, die mit allen Beteiligten Aus-
42 Diese Feststellung gilt allerdings nur sehr holzschnittartig und lässt die vielfältigen Ausdifferenzierungen religionspädagogischer Umsetzungen unberücksichtigt. 43 Nach Thomas Knauth entscheidet sich daran basal das Schicksal des staatlich geförderten Religionsunterrichts, Thomas Knauth, Religionsunterricht, Befreiungspädagogik und Befreiungstheologie. Ein Blick zurück nach vorn, in: Klaus v. Stosch / Muna Tatari (Hgg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn u.a. 2012, 203–220, hier: 205. 44 Vgl. Rainer Möller, Die deutsche Religionspädagogik vor den aktuellen Herausforderungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, in: https://www.comenius.de/ themen/Religionsunterricht_Religionspaedagogik/Deutsche_Religionspaedagogik_ak tuelle_Herausforderung_gruppenbezogene_Menschenfeindlichkeit_2015.php?bl=828 [19.10.2016]. 45 Vgl. Barbara Asbrand / Annette Scheunpflug, Zum Verhältnis zwischen interreligiösem, interkulturellem, ökumenischem und globalem Lernen, in: Peter Schreiner / Ursula Sieg / Volker Elsenbast (Hgg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 268–281. 46 Siehe insgesamt Thomas Knauth, Religionsunterricht und für die islamische Religionspädagogik Tuba Işik, Befreiungstheologische Aspekte in Gegenwartskonzepten der Religionspädagogik im islamischen Religionsunterricht, in: Klaus v. Stosch / Muna Tatari (Hgg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn u.a. 2012, 221–229. 47 Exemplarisch siehe Engelbert Groß, Eine-Welt-Religionspädagogik. Skizze eines Begriffs, in: Thomas Schreijäck (Hg.), Christwerden im Kulturwandel. Analysen, Themen und Optionen für die Religionspädagogik und Praktische Theologie, Freiburg i. Br. 2001, 416–440. 48 Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Hamburg 1973. Siehe auch Thomas Knauth, Art. Freire, Paulo, in: Norbert Mette / Folkert Rickers (Hgg.), Lexikon der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2001, 622–624.
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schau hält nach den Unrechtsstrukturen […], welche durch Menschen, Institutionen oder mehr oder weniger beeinflussbare Prozesse verursacht werden“.49 Mit Urteilen „ist die Artikulation der christlichen Botschaft vom Reich Gottes in unserer Zeit und angesichts dieser benannten Unrechts- und Leidsitutationen gemeint“.50 Und mit Handeln „ist ein neues Leben und gemeinsames Handeln in diesen verletzten Daseinssituationen angesprochen“.51 Methodisch plädiert Hans Mendl im Kontext globaler Lernzusammenhänge für den Ansatz der Personalisierung: „Der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus und in fremde Welten hinein als Voraussetzung für globale Lernprozesse wird in erster Linie über das didaktische Prinzip der Personalisierung eröffnet. Man lernt das Fremde über Fremde kennen“.52 Weiter zeigt die Verschiebung vom „Dritte-Welt-Konzept“ zum „Eine-Welt-Denken“ einen de-hierarchisierenden Paradigmen-Wechsel an: Der pyramidale Aufbau von Oben und Unten weicht einer angestrebten Symmetrie von Partnerschaft auf Augenhöhe, getragen von Menschen als Vertreter einer je eigenen Kultur und Lebensweise.53
2.5
Dekonstruktion
(a) Die „grundsätzliche […] Kritik des Postkolonialismus an der modernen eurozentrischen Wissensordnung sowie am universalisierenden Herrschaftsdiskurs des westlichen Rationalismus“54 wird unterfüttert mittels theoretische Anleihen an poststrukturalistischen, näher hin dekonstruktionistischen etc. Vorstellungen und Epistemologien. Vor allem die Weiterentwicklung des Postkolonialismus weg von einer bloßen Befreiungsbewegung einst kolonialer Kulturen hin zu einem grundsätzlichen Differenzbewusstsein seit den 1990er Jahren machte den Dekonstruktivismus zu seinem basalen theoretischen Referenzrahmen.55
49 Stefan Leimgruber, Interkulturelle Kompetenz und interreligiöses Lernen als Grundaufgaben der Eine-Welt-Religionspädagogik, in: Klaus Diepold / Klaus König (Hgg.), Perspektiven der Eine-Welt-Religionspädagogik. Engelbert Groß zum 65. Geburtstag, Münster 2004, 217. 50 Ebd., 218. 51 Ebd., 218. 52 Hans Mendl, Lernen an fremden Personen für die Eine-Welt. Das Prinzip der Personalisierung im Kontext missionsgeschichtlicher Konzepte, in: Klaus Diepold / Klaus König (Hgg.), Perspektiven der Eine-Welt-Religionspädagogik. Engelbert Groß zum 65. Geburtstag, Münster 2004, 237–266, hier: 238. 53 A.a.O., 250–253. 54 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns, 185. 55 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 18, so auch Doris Bachmann-Medick, Cultural turns, 189. Weiter Gayatri Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Deutsch von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien 2007.
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(b) Dekonstruktivistische Elemente in pädagogischen Programmen sind zumeist eng verbunden mit gesellschaftskritischen Theoremen und vor allem in konstruktivistische Ansätze56 integriert. Eine klare Abgrenzung zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, wie sie etwa in den Literaturwissenschaften sowie der Philosophie möglich ist, scheint in den Erziehungswissenschaften aus pragmatischen Gründen wenig sinnvoll. Für die konstruktivistische Religionspädagogik57 insgesamt leitend ist die Vorstellung, dass Kategorien, Einteilung, Normen und Werte sozial konstruiert und nicht naturgegeben sind. Dies kann sich ebenso auf Individuen, das körperliche Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Identität, Religion u.v.m. als auch auf Weltvorstellungen von oben und unten, hier und dort, etc. beziehen. (De-)konstruktionistische Ansätze legen das Augenmerk auf die Freilegung der jeweiligen Faktoren und Verhältnisse, die zu bestimmten und bestimmenden Vorstellungen führen. Kritik und Emanzipation sind verbunden mit Befreiung von Herrschaft und der Herstellung von Gerechtigkeit. Das Lerngeschehen ist vor allem von Suchbewegungen bestimmt, von produktiver Selbstverunsicherung (Perturbation), dem Hinterfragen eigener Privilegiertheiten und Selbstverständlichkeiten. Solche Fokussierungen gibt es vor allem in feministischen sowie queeren Ansätzen, sie lassen sich aber ebenso finden in Materialien zum Globalen Lernen (s.o.).
3.
Konkretionen: Unterrichtsmaterialien
Zur Veranschaulichung der Schnittstellen zwischen Postkolonialismus und religionspädagogischer Praxis wähle ich einen Material-Entwurf, der die oben beschriebenen Theoreme widerspiegelt. Thematisch führt diese Anwendung in den Flüchtlingsdiskurs, ein gegenwärtig auch in den Klassenzimmern emotional hoch aufgeladenes Konfliktfeld. Es geht um Fremdenfeindlichkeit und Gastfreundschaft, um Existenzängste, um Vorbehalte gegenüber dem Islam, um kognitive Überforderung hinsichtlich globaler komplexer Zusammenhänge, um Verschwörungstheorien u.v.m.58 Der gewählte Unterrichtsentwurf 56 Eine hervorgehobene Stellung nimmt der Konstruktivismus in der Neurobiologie ein, die Ansätze der chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela gelten als literarischer Klassiker der Konstruktivismus-Diskussion, Humberto Maturana / Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens , Frankfurt-Main 2009 (orig. 1984). 57 Siehe einführend Alois Stimpfle, Bibeldidaktik und konstruktivistisches Lernen, in: M. Zimmermann / R. Zimmermann (Hgg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 421–428; weiter Hans Mendl (Hg.), Konstruktivistische Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch, Münster 2005 sowie Gerhard Büttner, Lernwege für den Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven, Stuttgart 2006. 58 Zur grundsätzlichen Ausrichtung des Religionsunterrichts zwischen den beiden Fluchtlinien regional und global siehe Friedrich Schweitzer, Für die Heimat oder für
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trägt den Titel: „Pack dein Leben zusammen. Migration und Flucht“, ist herausgegeben vom Katholischen Missionswerk, gedacht für die Oberstufe und erschienen bereits ein paar Jahre vor der derzeitigen Syrienkrise, 200959:
Bild 1: Titelbild
Das Augenmerk liegt auf der biblischen Wertschätzung von Gastfreundschaft sowie der Einspielung des Begriffs der Menschenwürde. Die zugrunde gelegte Kompetenzerwartung wird darin gesehen, zur „Entwicklung von Handlungsalternativen, Entfaltung von Eigeninitiative sowie Anbahnung von Gestaltungsfähigkeit“ zu befähigen.60 Ich beschränke mich auf ein paar Beobachtungen zu den Stundenentwürfen. Im ersten Stundenentwurf wird zunächst mit einem imaginierten Perspektivenwechsel gearbeitet, die SchülerInnen sollen sich in Menschen hineinversetzen, die auf der Flucht sind: was nehmen sie mit, warum flüchten sie, wie fühlen sie sich … Es folgen biblische Verknüpfungen. Anhand von Gen 47 und Jer 26 werden Fluchterfahrungen als existentielle Notlagen von Menschen eingeführt, die des menschlichen und göttlichen Schutzes bedürfen. Daraufhin sollen die SchülerInnen ethische Leitlinien für den Umgang mit Flüchtlingen formulieren.61 die eine Welt? Religionspädagogik im Spannungsfeld von Regionalität und Universalität, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 14 (1998), 155–169. Zur Einschätzung von Fremdenfeindlichkeit bei SchülerInnen Stefanie Würz, Wie fremdenfeindlich sind Schüler? Eine qualitative Studie über Jugendliche und ihre Erfahrungen mit dem Fremden, Weinheim/München 2000, 145–185. 59 Ich danke dem Katholischen Missionswerk missio für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Bilder. Der Unterrichtsentwurf ist im Internet abrufbar: www.mis siothek.de/phocadownload/religionerleben/MIM%204079%20Reli_erleben16-1.pdf [25.10.2016]. 60 Ebd., 14. 61 Ebd.,15–21.
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Eine zweite Unterrichtseinheit setzt induktiv bei Fluchtursachen am Beispiel eine Jungen aus Ruanda an. Dabei erfahren die SchülerInnen nicht nur etwas über grausame Menschenrechtsverletzungen in diesem Land, sondern auch über globale Zusammenhänge und Erblasten kolonialer Vergangenheit. In einem vertiefenden Arbeitsschritt wird zugleich mittels der Stichworte ‚Brain Drain & Care Drain’ eine Einführung in die komplexen Sachverhalte der Flüchtlingsthematik zwischen Einzelschicksalen, Potentialen in den Herkunftsländern und rechtlichen Diskussionen in den Aufnahmestaaten versucht.62 Die dritte Stundenkonzeption stellt ein Flüchtlingsprojekt von missio vor, das stereotype Einstellungen zu Entwicklungshilfe revidieren soll.63 Eine vierte Stundeneinheit widmet sich dem Thema ‚Leben in der Illegalität’ und zeigt aus der Sicht der in den Untergrund abgetauchten Asylbewerberin Paloma die alltäglichen Probleme, Identitätskonflikte, Gefahren von Ausbeutung und Ängste ausgegrenzter Flüchtlinge. Stichworte sind ‚Leben wie im Gefängnis, Irreguläre Migration und Arbeitswelt, Probleme der Gesundheitsversorgung, Recht auf Bildung für alle Kinder’. Methodisch sorgt ein ‚Fish bowl’ für ein multiperspektivisches Differenzbewusstsein.64
Bild 2: Paloma, in die Illegalität abgedrängter Flüchtling65
Und ein fünfter Stundenentwurf schließlich umspielt das Thema ‚Fremde Heimat, neue Heimat – Integration und Inklusion von Migranten und Flüchtlingen 62 Ebd., 22–28. 63 Als Stereotype werden vor allem hierarchische, paternalistische Handlungsfiguren aufgeführt, a.a.O., 29–35. 64 Ebd., 36–44. 65 Ebd., 38.
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in die Gesellschaft’. Mit dem Rap ‚Heimatlos’ des Berliner Songwriters Colos, der einst aus dem Kosovo fliehen musste „werden die Schülerinnen und Schüler für emotionale Problemkontexte aufmerksam, mit denen Flüchtlinge im Einwanderungsland zu leben haben“.66 Es geht um das Spannungsfeld von Assimilation, Integration und Inklusion.67
Bild 3: Colos, einstiger Flüchtling im kulturellen Zwischenraum68
Fazit: Das Unterrichtsmaterial von missio setzt den Flüchtlingsdiskurs in religionspädagogischem Kontext um, ohne dass der Begriff ‚Postkolonialismus’ nur einmal Erwähnung findet. Dennoch lassen sich die genannten Überschneidungen aus dem theoretischen Abschnitt 2 wiederfinden: – Mündigkeit: Der Entwurf zielt einerseits natürlich auf die Mündigkeit der Lernenden, indem sie zu eigenständigem Weltverstehen und Handeln herangeführt werden sollen. Ebenso aber kann der Aspekt der Mündigkeit auch auf die inhaltlich begegneten Personen bezogen werden. Sie (Flüchtlinge, Migranten, Ausländer, Menschen mit Migrationshintergrund …) werden durch Personalisierungsmethoden als Menschen mit Individualität und eigenen Bedürfnissen konfiguriert, die selbst zu Wort kommen. – Subjektwerdung: Hier lässt sich nur ergänzen, dass neben der Subjektwerdung der Lernenden durch Perspektivenwechsel und weitere begegnungsdidaktische Methoden die Menschen, um die es geht, als Subjekte eingeführt werden. Gerade das Beispiel des Rappers Colos, der seine eigene hybride Identität mittels Selbst- und Fremdzuschreibung reflektiert, greift dieses pädagogische Grundanliegen auf.
66 Ebd., 45. 67 Ebd., 45–49. 68 Ebd., 48.
Postkoloniales Denken in der Religionspädagogik –
– –
4.
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Multiperspektivität: Insbesondere im Entwurf zur vierten Stundeneinheit werden in der Methode des ‚fish bowl’ unterschiedliche Perspektiven, die einer Simplifizierung oder Pauschalisierung wehren sollen, durch die Konfrontation verschiedener Standorte miteinander ins Gespräch gebracht. Globale Perspektive/Gerechtigkeit: Dieser Topos ist selbstredend aufgrund des gegebenen Themas sowie der ethischen Akzentuierung dominant. Dekonstruktion: Und auch Verstörungen, Revisionen und Anfragen vorgebildeter Anschauung sind präsent, z.B. im Entwurf zur dritten Stundeneinheit, in der überkommene Vorstellungen kirchlicher Entwicklungshilfe dekonstruiert werden. Insgesamt basiert der Entwurf auf dem – wo nötig – Abbau von Fremdenfeindlichkeit, Unsensibilität für Probleme von Flüchtigen sowie der Ignoranz globaler Zusammenhänge.
Resümee: Interdiskursive Schnittmengen
Die Zusammenschau von Postkolonialismus und Religionspädagogik hat ergeben, dass sich zwar viele Gemeinsamkeiten von Postkolonialismus und spezifischen religionspädagogischen Konzepten und Entwürfen finden lassen, ein bewusster Erkenntnis- oder Methodentransfer von Postkolonialismus zu Religionspädagogik aber bis dato weitgehend ausgeblieben ist. Dies lässt fragen, ob Postkolonialismus überhaupt sinnvoll und produktiv oder doch nicht viel mehr als eine strategische kulturwissenschaftliche civitas platonica ist.69 Von Ermüdungserscheinungen, der fatiguée postcolonial ist die Rede70 und ganz grundlegend wird der Innovationscharakter des Postkolonialismus bezweifelt, indem dessen Gedankengut zu großen Teilen in vorausgehenden Forschungen bereits als antizipiert gesehen wird.71 Neben solch notwendiger Kritik sehe ich eine zweite Möglichkeit, die beschriebenen Überlappungen bei gleichzeitigem Ausbleiben expliziter religionspädagogischer Aufnahme zu interpretieren: Das Modell des Interdiskurses. Die im interdisziplinären Schnittfeld von Literaturwissenschaft und Soziologie konzipierte Kritische Diskursanalyse (Siegfried Jäger / Jürgen Link u.a.) kennt neben wissenschaftlichen Spezialdiskursen das Konzept des Interdiskurses.72 Während Spezialdiskurse zumeist in den definierten Wissenschaften 69 Zum Vorwurf der postkolonialen Theorieindustrie siehe Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 286. 70 Weiter Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 159. 71 Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 308. 72 Vgl. Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg 20157; Jürgen Link, Noch einmal: Diskurs. Interdiskurs. Macht, in: kultuRRevolution (11) 1986,
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angesiedelt sind, ist der Interdiskurs ein kulturell-geprägtes Allgemeinwissen oder auch eine bestimmte Disposition von Haltungen oder Einstellungen. Der Interdiskurs umfasst die Zwischenräume der einzelnen Spezialdiskurse, die sich als Meinungen, Strömungen und Vorstellungen in die konkreten Debatten einklinken. Damit veranschaulicht er, dass es über wissenschaftliche Spezialdiskurse hinaus so etwas wie einen common ground73 gibt, eine Groß-Wetterlage, also zeitlich verbundene Grundeinstellungen, die sich in vielen unterschiedlichen Disziplinen wiederfinden. In der Logik des Interdiskurses lassen sich die Konvergenzen von Postkolonialismus und bestimmten Inhalten der Religionspädagogik in einer kollektiven interdiskursiven Summe zusammenfassen: dies sind (einst) kritisch-linke Werte wie Toleranz, Gerechtigkeit, Anti-Hegemonie etc., wie sie sich heute in verschiedenen engagierten Forschungssträngen finden und mit kulturwissenschaftlichen strukturalistischen und poststrukturalistischen Beschreibungswegen bzw. Vertextungsmustern kombiniert werden. Diese verwandtschaftlichen Bezüge bedeuten freilich auch: Die Religionspädagogik kann von weiteren Differenzierungen und Forschungsergebnissen postkolonialistischer Suchbewegungen gut profitieren, indem sie sie aktiv für die eigenen Diskurse erschließt.
4–7; Rolf Parr / Matthias Thiele, Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten ‚Interdiskurs’, ‚Kollektivsymbolik’ und ‚Normalismus’ sowie einigen weiteren Fluchtlinien, Heidelberg 2005. 73 Das gemeinsame Repertoire von Wissen und Einstellungen wird in den Sprachwissenschaften anhand der Konzeption des ‚common grounds’ diskutiert. Vgl. Andreas H. Juckers / Sarah Smith, Explicit and implicit ways of enhancing common ground in conversation, in: Pragmatics 6 (1996), 1–18, hier: 2.
Postkoloniale Liturgiewissenschaft. Kritische Ansätze in Theorie und Praxis des Gottesdiensts im deutschen Kontext Bertram J. Schirr
„The liturgical turn is back“, schreibt Cláudio Carvalhaes in Liturgy in Postcolonial Perspectives: „unkontrolliert, messy, gespeist von undenkbaren Quellen und tief beeinflusst vom neoliberalen Wirtschaftssystem.“1 Nicht erst durch die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ kommt heute neues liturgisches Wissen aus den ehemaligen Kolonialstaaten des Globalen Südens, durch Migration, transnationale Gemeindegründungen oder reverse mission, in die Metropolen des Globalen Nordens. Mit Blick auf das Zusammenrücken der Welt auch in liturgischen Vollzügen, lohnt es sich, Texte und Praktiken des Gottesdienstes auf (neo-)koloniale Aneignungs- und Ausbeutungsprozesse, unterwerfende Worte, Lieder, Symbole und Gesten sowie postkoloniale Gegenbewegungen und Wissens-Austausche hin zu untersuchen. Dieser Beitrag erschließt das kritische Potential einer postkolonialen Perspektive in der Liturgiewissenschaft in vier Schritten. Nach einer Einführung in den Stand und die Anliegen einer postkolonialen Liturgiewissenschaft (1.), zeichnet ein zweiter Teil (2.) (neo-)koloniale Importe in der liturgischen Theoriebildung nach. Ein dritter Teil (3.) erprobt eine postkoloniale Perspektive an der Praxis des Gemeindegesangs. Schließlich werden (4.) mit einem genaueren Fokus auf Stimm-Hybridisierungen kolonisierende Disziplinierung wie postkoloniale Gegen- und Austauschbewegungen in Liturgiewissenschaft und -praxis gezeigt.
1.
Postkoloniale Liturgiewissenschaft im Entstehen – deutsch- und englischsprachige Ansätze
In der deutschen liturgiewissenschaftlichen Landschaft zeigen sich erste, vereinzelte Auseinandersetzungen mit postkolonialen Konzepten und Perspektiven. Mit Blick auf die Folgen kolonialer Versklavung, Genozide und Migrationsströme vor allem in der Geschichte der USA fordert Andrea Bieler, 1
Cláudio Carvalhaes (Hrsg.), Liturgy and Postcolonialism, An Introduction, in: Cláudio Carvalhaes (Hrsg.), Liturgy in Postcolonial Perspective, New York 2015, 1–23, hier: 4.
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auch den historischen Beitrag von gewaltförmigen und unterwerfenden Liturgien zu verfolgen. Zugleich will sie das befreiende Potential ihrer Vielfalt erschließen. Die „liturgisch-homiletische Wahrnehmungsschule“ der people of colour, der Ränder, wie sie Bieler fordert, bringt den Gottesdienst als interkulturellen Resonanzraum in den Blick. Und das schließt ein, „Mechanismen der Verdrängung, der Exotisierung sowie der unangemessenen Aneignung von Traditionen ‚der Anderen‘ kritisch zu analysieren“.2 Bieler diskutiert Homi Bhabhas Konzept der Hybridität, um die Verflüssigung und Mehrdeutigkeiten von ‚Identität‘ auch im Gottesdienstgeschehen zu berücksichtigen.3 Knapp skizziert sie, wie gerade polyphoner Gesang und die Vielfalt von Stilen in der Globalisierung auch der Kirchenmusik Einheit in Vielfalt ermöglicht.4 Wie Bieler bringt auch Jochen Kaiser das Konzept der Hybridität und damit eine postkoloniale Perspektive in die Gottesdienstforschung. Kaiser schlägt vor, Gottesdienst ganz als hybrides Phänomen, als Verflechtung von verschiedenen Gebetskulturen und kulturellen Prägungen zu verstehen.5 Wie Bieler sieht auch er die Integration von Differenzen durch die Vermischung von Stilen im gemeinsamen Singen als ein Beispiel für hybrides Gottesdienstgeschehen. Es scheint sinnvoll, diese Ansätze, u.a. in Hinsicht auf Hybridität und kollektiven Gesang weiter zu verfolgen. Bhabha entwickelt Hybridität als auch positiven Effekt kolonialer Unterwerfung von Subjekten.6 Durch koloniale Kontakte und Austausch gelangen diese in die Spannung eines Zwischenraums (third space) zwischen festen Positionen. Sie halten sich an zwei Orten (z.B. Europa und Kolonie) zugleich auf. Ihre Hybridität entlarvt Binarismen (entweder/oder, Jude/Grieche, privat/öffentlich) als Konstrukte und verhandelt sie neu. Wie deutlich werden wird, ist Hybridität auch als eine Dynamik des Gottesdiensts ambivalent: Bestandteil kolonialistischer Logik als ausbeuterische Hybridität – aber auch emanzipatorisch-vielstimmige Spannung, die Normen und Hierarchien außer Kraft setzt und neues Denken und Handeln eröffnet. Einen breiteren Grundstein für eine postkoloniale Liturgiewissenschaft im englischsprachigen Bereich haben Michael N. Jagessars und Stephen Burns gelegt.7 Sie verfolgen, aus welcher Machtposition entschieden wird, was als 2 3
4 5 6 7
Andrea Bieler, Gottesdienst Interkulturell: Predigen und Gottesdienst Feiern im Zwischenraum, Stuttgart 2008, 198. In einem weiteren Beitrag deutet sie eine postkoloniale Sicht auf die Konstruktion und Performance von Gender im Gottesdienst (zumindest) an: Andrea Bieler / David Plüss in this moment of utter vulnerability: tracing gender in presiding, in: Nicola Slee / Stephen Burns (Hrsg.), Presiding like a Woman, London 2010, 112–122, hier: 120. Bieler, Gottesdienst, 210f. Jochen Kaiser, Religiöses Erleben durch gottesdienstliche Musik, Göttingen 2012, 291f. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000,125ff., 181ff., 317ff. Hier wird mit dem Begriff ‚Hybridisierung‘ als Praxis den Vorwürfen an ‚Hybridität‘ als zu fest und essentialistisch, entgegengewirkt. Stephen Burns / Michael N. Jagessar, Christian Worship, Postcolonial Perspectives, Sheffield 2011.
Postkoloniale Liturgiewissenschaft
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theologisch vertretbarer Gottesdienst zählen darf und was nicht. Jagessar und Burns dekolonisieren Liturgien, d.h. sie legen Strategien frei, die ein universelles Bild der Welt mit nur einem Mittelpunkt fixieren, Menschen marginalisieren und den Reichtum von Alltag und Gottesdienst in binäre Kategorien sperren. Sie wollen die unterdrückten, flüssigen, hybriden, vielstimmigen, multikulturellen und polyzentrischen Strategien und Praktiken des Gottesdiensts wiedergewinnen. Mit Jagessar und Burns gilt: Postkoloniale Theorie bietet uns einen dynamischen Referenzrahmen, um liturgische Texte auf imperiale und koloniale Einflüsse hin zu untersuchen, um durch eine postkoloniale Optik eine rekonstruierende Lektüre dieser Texte und der liturgischen Diskurse anzugehen, und um das ‚Zentrum‘ zu befragen, von dem aus diese Diskurse passieren.8
Burns und Jagessar unterziehen u.a. Textmaterial eines ‚Weltgebetstags der Frauen‘, Lektionare oder Lehrpläne für Ordinand_innen einer postkolonialen Analyse. Ihre Überlegungen zur Dekolonisierung von Liturgien verbleiben jedoch auf der textlichen Ebene und sprechen nicht die auch körperlichen Praktiken des Gottesdienstes an, auf die hier besonders eingegangen wird. An Jagessar und Burns knüpft der eingangs genannte Band von Cláudio Carvalhaes an. Carvalhaes verwendet Postkolonialismus und Dekolonialismus synonym als Praxis der Marginalisierten: Als Verfahren der Analyse, in denen soziale, kulturelle, religiöse, ge-genderte, sexuelle und ökonomische Lebensweisen kritisch von denen analytisiert werden, die durch Muster der strukturellen Unterwerfung zu Opfern gemacht und die von den historischen Schaffensprozessen des Lebens ausgeschlossen wurden: nämlich die Armen, die Entrechteten, die Subalternen, die Elenden der Erde und die Kolonisierten.9
Carvalhaes‘ Aufsatzband kritisiert die Organisation von Machtverhältnissen in Liturgien und Liturgiediskursen, soweit Wissenssysteme, Selbstverständnisse und Weltkonstruktionen von anderen Menschen unterdrückt oder ausgelöscht werden. Carvalhaes bricht außerdem mit einem Fundament der modernen Liturgiewissenschaft. Ging Dom Gregory Dix davon aus, dass Liturgie immer schon eine universelle, wieder erkennbare Form hat, sieht Carvalhaes eine grundlegende Pluralität und Offenheit – von Anfang an bis heute: Vom Hochamt bis zur stillen Messe und Gottesdiensten fügen Menschen Sprache an oder lassen etwas weg, mischen offizielle mit nichtautorisierten Quellen, vermengen religiöse Symbole und Handlungen, denken sich Leute, Rituale und Worte aus, oder machen ganz neue, mit vielen Möglichkeiten des bewussten Umgangs mit Gott/dem Göttlichen und mit einander.10
Menschen an den Rändern der offiziellen Diskurse hybridisieren diese, fügen lokale und subversive Einflüsse ein, um zu einem direkten Zugang zu Gott zu 8 Burns, Jagessar, Worship, 36, alle Übersetzungen sind vom Autor. 9 Carvalhaes, Liturgy, 1. 10 Carvalhaes, Introduction, 4.
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gelangen. Ihr Wissen, ihre Herausforderung an die dominante Liturgie und Theologie, gilt es in postkolonialer Perspektive herauszuarbeiten. Eine neuere Sammlung von Aufsätzen, herausgegeben von Kwok Pui-Lan und Stephen Burns, schließt mit einem dezidierten Kapitel über Liturgie an die genannten Werke an.11 Pui-Lan und Burns entwerfen eine postkoloniale Sicht auf Liturgie und Praktische Theologie in drei Aspekten: 1. Als historisch und geopolitisch ausgerichtete Arbeit der Dekolonisation; 2. Als kritisch-diskursive Praxis, die Konflikte analysiert, Strategien von „othering“ entlarvt12, gegen-hegemoniale Lesarten entwickelt und unterdrückte Wissensbestände zum Vorschein bringt; 3. Damit als Praxis, die Dominanz und Autorität sowohl in konkreten politischen, materiellen als auch in wissensproduktiven Zusammenhängen herausfordert.13 Deutlich wird in diesem Band darauf hingewiesen, dass postkoloniale Kritik in Theologie und Liturgiewissenschaft nicht eine theoretische ElfenbeinturmExistenz fristen darf. Folgt man Pui-Lan und Burns, ist für postkoloniale Perspektiven in der Liturgiewissenschaft zentral, die historisch-geopolitische Dimension (neo-)kolonialen Einflusses und die epistemologische Dimension kolonialen und gegenkolonialen Denkens und Handelns zu verbinden.14 Postkoloniale Theorie ist also fruchtbar, weil sie die aus (neo-)kolonialen Erfahrungen gewonnenen Einsichten in die Apparaturen von Macht in und durch Wissensproduktion und -verbreitung nutzbar macht und dann auch dort einsetzt, wo ein kolonialer Zusammenhang nicht auf der Hand zu liegen scheint (z.B. in der Worship-Musikindustrie). Dieser Beitrag analysiert jedoch über die Dekolonisierung liturgischer Texte hinaus koloniale Strukturen liturgischer Praxis. Leider wird, wie in der Liturgiewissenschaft, auch in ihrer postkolonialen Erweiterung bisher der Weg vom Text zur Praxis bzw. Performance nicht mitgegangen.15 Gerade die Praktiken des Gottesdienst-Feierns, ihre Verkörperungen oder Objekte lassen Koloniales und Postkoloniales umfassender sichtbar werden – wie es sich auch materiell manifestiert. Gottesdienst als Geflecht aus Praktiken ist deutlich 11 Kwok Pui-Lan / Stephen Burns (Hrsg.), Postcolonial Practice of Ministry, Lanham 2016. 12 Othering ist ein Konzept, das Gayatri C. Spivak auf theoretischer Ebene beschreibt und mit dem das verkürzte, gewaltförmige und universalisierende Konstruieren eines Gegenübers für die Abgrenzung und Absicherung einer Wir-Gruppe bezeichnet wird. 13 Stephen Burns, Introduction, in: Pui- Lan/Burns, Practice,1–18, hier: 3. 14 Ebd., 11. 15 Ein Ansatz findet sich bei Hye-Ran Kim-Cragg, Story and Song: A Postcolonial Interplay Between Christian Education and Worship, Bern 2012, die zunächst noch stark vom Text auch in der Theorie des Gesangs ausgeht, aber in Hye-Ran Kim-Cragg, Postcolonial Practices on Eucharist, in: Pui-Lan/Burns, Practice, 77–90, eine koloniale Hegemonie von Text über Performance identifiziert, bei der liturgische Texte indigene Wissenssysteme unterdrücken, durch Verschriftung neu ‚erfinden‘ und nach westlichen Standards vereinheitlichen.
Postkoloniale Liturgiewissenschaft
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komplexer als Text-Dokumente dies erschließen lassen. Umso dringender, aber auch aufwändiger, ist, eine postkoloniale Kritik nicht nur auf die Worte, sondern auch auf das Tun des Gottesdiensts auszuweiten. Was passiert, wenn Texte, Theoriediskurse und Praktiken des Gottesdiensts mit einer postkolonialen Konzepten in den Blick genommen werden? Zuerst wird das im Folgenden mit einer kritischen Beleuchtung epistemischer Hybridisierung demonstriert, d.h. liturgische Wissensproduktionen durch koloniale Importe werden problematisiert. Dann werden am Beispiel des Gemeindegesangs koloniale und befreiende Hybridisierungen der Praxis des Gottesdiensts erschlossen.
2.
Importe des ‚anderen‘ in der Liturgiewissenschaft
Stillschweigende Importe des ‚anderen‘ bestimmen die Liturgiewissenschaft seit ihrem Beginn als Disziplin. Ein Beispiel eines ‚importierten Gottesbildes‘ aus einem indigenen Wissens- und Glaubenssystem ist nur einer von vielen möglichen Einsatzpunkten postkolonialer Kritik. Hier wird dies am Gottesdienst-Konzept des nordamerikanischen Liturgiewissenschaftlers Gordon Lathrops nachvollzogen. Das erlaubt zugleich unterschiedliche Facetten von Hybridität als Prinzip des Gottesdiensts zu beleuchten. Lathrop verwendet das Gottesbild des Kojoten aus der Mythologie der Navajo First Nation um das ‚andere‘ seines Gottesdienstmodells zu entwickeln.16 Nach Lathrop ist der Gottesdienst aus Blöcken (Symbole, Quelle, Mahl, Wort) ineinander gesetzt (juxtaposed),17 die in Spannung zueinander stehen und eine Ordnung (ordo) bilden: die Liturgie. Für die Entwicklung des Jenseits dieser Ordnung leiht sich Lathrop das Gottesbild des Kojoten. In der Navajo-Mythologie ist der Kojote ein widersprüchlicher Charakter, listig, lustig, angsteinflößend oder schattenhaft, beteiligt an Schöpfungs-, Regen- und Heilungsmythen und –zeremonien. Jenseits der christlichen Ordnung der Liturgie regiert dann im zusammen geborgten Bild Lathrops also der Kojote. Der Kojote der Navajo stellt für Lathrop das ‚andere‘ der Gottesdienstordnung dar, die Übergänge zum Chaos und zum Irrationalen, Ärgernis, Gefahr, „ceremonial break“ und „Differenz“.18 Als sein Verunsicherer macht der Kojote den Gottesdienst erst möglich. Lathrop identifiziert diesen Grenzgänger in einer gängigen postkolonialen Figur mit Jesus Christus, der die sichere Ordnung des Gottesdienstes
16 Gordon Lathrop, Ordo and Coyote. Further Reflections on Order, Disorder and Meaning in Christian Worship, in: Worship 3 (2006), 194–212, hier: 203–208. 17 Ebd., 200; Vgl. Gordon Lathrop, Holy Things, Minneapolis 1993, 10. 18 Lathrop, Ordo, 206.
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durchkreuzt. Lathrops Gottesdienst-Konzept ist damit in doppelter Hinsicht und auf verschiedenen Ebenen von Hybridität geprägt: 1. Er entwickelt Gottesdienst selbst als hybride kreative Spannung. Was im Gottesdienst Wichtiges passiert, geschieht gerade im Dazwischen des ‚normalen‘ und ordentlich Geplanten. 2. Für die Entwicklung dieser Sicht auf den Gottesdienst setzt Lathrop eine Hybridisierung seines Theoriekonstrukts mit Elementen aus einem indigenen Wissens- und Glaubenssystem ein. Der Import des Kojoten bringt Gott anders und unberechenbar in die Theorie des Gottesdiensts. Gottes Rolle wird Teil des Gottesdiensts als schattenhaft oder listig aber zugleich ausgelagert in einem abgesonderten, geborgten Bild. Lathrops Import ist einflussreich. Mit Bezug auf Lathrop verwendet bspw. auch Siobhán Garrigan den Navajo-Kojoten für ihr Verständnis des Queeren und Grenzüberschreitenden im Gottesdienst.19 In Verbindung einer postkolonialen und queeren Perspektive symbolisiert der Kojote im Gottesdienst für sie: „ das Muster des Glaubens kann nie als ‚normal‘ festgelegt werden“; vielmehr ist Gottesdienst eine “strukturell queerer Ort.”20 Lathrops und Garrigans Entwürfe von Gottesdienst als Verzahnung und queerem Geschehen sind für die Liturgiewissenschaft weiterführend. Sie zeigen Aspekte des Hybriden der Feier. Jedoch bleibt durch das Weiterreichen und Raffinieren des importierten Gottesbildes vom Kojoten über Lathrop bis zu Garrigan von den umfangreichen Funktionen und Erfahrungen mit diesem Gottesbild in den Navajo-Narrativen nicht viel übrig. Warum ist es notwendig, dass die Liturgik sich des ‚anderen‘, des Widerständigen in Form von ‚geborgten‘ göttlichen Figuren wie dem Kojoten bedient? Weil er weißen westlichen Lesenden fremde, ungewohnte, exotische Gottesbilder erschließt? Während die aktuale Feier des Gottesdiensts bei Lathrop vom Aushalten einer Spannung, einer je neuen Verfugung lebt, kommt es bei dem Gottesbild des Kojoten in seiner Theoriebildung gerade nicht zu einer gleichberechtigten Herausforderung oder gar Gefahr. Dominante Diskurse auch in der Liturgik lassen offenbar zu leicht das Dazwischen des Hybriden nicht zur Geltung kommen. Hybridisierung greift zu kurz, wenn sie in Binarismen verbleibt (ordo vs. coyote, ‚normal‘ vs. ‚queer‘). So erklärt Carvalhaes: Diese Verfahren (des Denkens) verwenden Vorstellungen von Ausnahmezuständen, von dem Unanständigen, dem Trickbetrüger, dem Koyoten, Alterität und so weiter, nur um das hierarchische Schema von Identitätswerten zu erhalten. Wenn zum Beispiel der Gauner auftritt, dann dient das Gelächter, dass er oder sie provoziert, lediglich dazu, dass dem Lachen Entgegengesetzte zu verstärken, nämlich die notwendige Ernsthaftigkeit des Denkens. Wenn der Koyote herumstreift, erinnert uns das, unsere Tür verschlossen zu halten.21 19 Siobhán Garrian, Queer Worship, in: Theology and Sexuality 15 (2009), 211–230. 20 Garrigan, Worship, 226. 21 Carvalhaes, Liturgy, 15–16.
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Die Herausforderung bleibt vor der Tür. Oder der Kojote wird wie in Lathrops Hybridisierung von Wissenssystemen gezähmt. Nicht zufällig sind es oft Tiere aus indigenen Mythen, mit denen die Liturgik zu sich kommt, indem sie sich durch das animalisch-irrationale Gegenüber selbst neu denkt. Stille Importe indigenen Materials bestimmen viele junge und alte Bewegungen in der deutschen liturgischen Landschaft und ihrer Theorie. Ethnographische Anleihen treiben liturgische Entwürfe von Friedrich Heiler bis zu Manfred Josuttis. Man könnte solche importierenden und raffinierenden Prozesse in der liturgischen Wissens- und Systembildung auch im internationalen Zusammenhang nachzeichnen: von Mary Douglas Auseinandersetzung mit Navajo-Gottesmetaphern in Purity and Danger bis zu Frank Senns Embodied Liturgy, die Gottesdienst neu wie Yoga versteht. Aus einer postkolonialen Perspektive steht zu fragen: Was ist wirklich die Funktion des Kojoten in der Liturgiewissenschaft? Ist es die positive Verunsicherung, Grusel, die Inspiration? Ist das eine Form der Anerkennung von indigenem Wissen? Oder ist es nicht doch eher eine Übernahme, der mit (epistemischem) Unbehagen zu begegnen ist? Liturgiewissenschaftler_innen und Liturg_innen stellen das eigene System durch diese Entleihungen nicht ernsthaft in Frage. Wann sind diese postkolonialen Importe des ‚anderen‘ nicht nur epistemischer Vampirismus – oder eben Kolonialismus? Eine Normalität der harmlosen, produktiven Irritation in der Liturgiewissenschaft macht indigenes Wissen verfügbar, um das lokale Gottesdienstsystem aus- und aufzubessern. Es werden gerade bereits unterworfene und distanzierte Wissenssysteme, z.B. der First Nations aus Australien und Nordamerika verwendet. Sie werden assimiliert, weil sie keine echte kulturelle, ökonomische oder politische Gefahr darstellen können. Gottesbilder aus ‚Religionen‘ die als ‚lebendig‘ und wirklich ‚gefährlich‘ konstruiert werden, lassen sich nicht so einfach eingliedern – und sie kommen in der Liturgiewissenschaft eben auch kaum und jedenfalls nicht als Mittel der Theoriebildung vor. Nicht jede Anleihe oder Übernahme fremden Wissens soll hier kritisch betrachtet werden, sondern neokoloniale Importe, die gänzlich vom Ausgangskontext abgetrennt werden und deren Aneignung indigenes Wissen entwertet. Schon Claude Lévi-Strauss weist darauf hin, dass das Zusammenfügen von geliehenen Materialien in einer neuen, Wissen hybridisierenden Bricolage den Ausgangskontext ‚ruiniert‘.22 Sich indigener Wissenssysteme frei zu bedienen, sie aufzubrechen, westlichen Normen anzugleichen und nur Teile zu entnehmen, macht sie zu Ruinen und Steinbrüchen. Das privilegiert die neue Situation, die lebendig wird wie die andere tot. Im Ergebnis kann also eine postkoloniale Perspektive die epistemische Bricolage wie die von Gordon Lathrops pseudo-transgressivem Jesus-Kojoten als Dynamiken entwertenden Hybridisierens entlarven.
22 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1968, 29f.
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3.
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Gottesdienst und Hybridisierung: Eine Postkoloniale Perspektive auf Gemeindegesang
Als Beispiel für eine postkoloniale Sicht auf Hybridisierung in Text und Praxis des Gottesdiensts dient hier das gemeindliche Singen. Zuerst wird die Dekolonisierung von Liedgut diskutiert. Zweitens wird auf die schon auf der Ebene der Theoriebildung analysierte Aneignung und koloniale Hybridisierung von Hymnen eingegangen. Dann wird die koloniale Dimension der Praxis des Singens mit Überlegungen zur postkolonialen Theorie hybrider Stimmen im Gemeindegesang konfrontiert. Eine postkoloniale Perspektive analysiert Liedgut, Gesangspraxis und hymnologische Diskurse als wichtige Prozesse der Ausbildung theologischen Wissens. Zuerst treten Lied-Texte in den Fokus. Auch im deutschen Kontext legen mitunter Liedtexte, im katholischen Gotteslob wie im Evangelischen Gesangbuch, Menschen kolonialistische Narrative oder Logiken in den Mund. Drastische Beispiele sind „Ein Haus voll Glorie schauet“ (1875, 1975) im Gotteslob – oder im Evangelischen Gesangbuch: „Heut singt die liebe Christenheit“ mit dualistischer Kriegsmetaphorik (1985), „Wach auf du deutsches Land“ (1561) oder „Jerusalem du hochgebaute Stadt“ (1626), wo bspw. in der 5. Strophe „Propheten groß und Patriarchen hoch, auch Christen insgemein“ in einer Endzeitphantasie über alle Menschen erhoben werden. Es sind Lieder voller Gewalt und Unterwerfung der Welt durch das Christentum, die zu unterschiedlichen Zeiten des europäischen Expansionismus entstanden und Verwendung fanden. So wanderten bspw. „Nun danket alle Gott“ und „Ein feste Burg ist unser Gott“ in die Soldatengesangbücher des ersten Weltkriegs. Das koloniale Erbe in der Synchronisierung der Welt wird in Weihnachtsliedern deutlich, die sogar der Popkultur absurde europäische weihnachtsnormative Symbole von Schnee, Kälte oder Dunkelheit auferlegen. Lied-Texte stellen also ein lohnendes Archiv für eine dekoloniale Re-Lektüre patriarchaler, heteronormativer Logik, der Überlegenheit des europäischen Christentums und seiner Gottesbilder dar.23 Mit einem Blick über deutsche Texte und Kontexte hinaus stellt Lim Swee Hong zu einer postkolonialen Sicht auf die Praxis des Gemeindegesangs fest: Entgegen der Hoffnungen von wohlmeinenden westlichen Christen […] sorgt in vielen Teilen der Welt das Musikmachen auch heute weiterhin dafür, dass koloniale und imperial Einflüsse und Praktiken aufrecht erhalten bleiben.24
23 Martina Wagner-Egelhaaf „,… und steure deiner Feinde Mord‘. Gewalt im Kirchenlied“, in: IASL, 40,1 (2015), 1–20. Vgl. für den anglikanischen Bereich, Burns/ Jagessar, Worship, 51–69. 24 Lim Swee Hong, Church Music in Postcolonial Liturgical Celebration, in Pui-Lan/ Burns, Practice, 123–136, hier: 124.
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Burns und Jagessar stellen in diesem Zusammenhang die Frage, die bereits beim Auftreten von Lathrops Kojoten aufkam: Wann ist die Aneignung der Lieder oder Musik anderer Menschen (neo-)koloniale Ausbeutung?25 Sie halten fest, dass in den neueren inklusiven Gesangbüchern, wie dem 1998 erschienenen Common Ground, etwa 20% der Hymnen aus dem Globalen Süden stammen, aber: „vielleicht sollte das eher heißen, dass sie über 20% ‚hijacken‘“ – d.h. Ausgangkontext und Autorenschaft werden von weißen westlichen Christ_innen ausgelöscht und überschrieben.26 Die Sparte world church music ist oft ein Fall von Aneignung, der mit epistemischer und ökonomischer Ausbeutung zu tun hat. Wenn sich Verbände westlicher Kirchen Liedgut aus dem Globalen Süden urheberrechtlich schützen lassen, ist das eine Form neokolonialer Ausbeutung, von Exotismus bzw. Ethnotourismus. Die Globalisierung von Gemeindeliedern auch in pfingstlerischen Spielarten ist ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftszweig, der geistige Güter aneignet. Die Differenzen planierende Globalisierung des Gemeindegesangs wird vielleicht besonders anschaulich in der Worship-Music-Bewegung westlich-weißer Gesangskonfigurationen, bspw. Hillsong oder Saddleback. Hier lässt die Rolle des Worship Leaders Gemeindegesang nicht mehr ungesteuert in einer Vielfalt von Stimmmodulationen zu.27 Globalisierte Formen der Anbetungsmusik zeigen expansionistische Tendenzen. Sie verstehen eine Form von Gesang als etwas, das wie ein FranchiseUnternehmen auf der ganzen Welt gleich englischsprachig funktioniert. Sie vereinheitlichen, assimilieren Fremdes und zeigen darin – und nicht nur in der vielfach herrschaftlich und militärisch geladenen Sprache – Züge einer (neo-) kolonialen Logik.28 Dazu konstruieren world church music wie globalisierte Anbetung Gesang als Universalie, die Menschen auf der Welt über alle Grenzen hinweg gleichermaßen verbindet. Auch die Fiktion des allen gemeinen, ‚ursprünglichen‘ Gesangs als Möglichkeit sogar der Subalternen (doch noch) tönen zu können, folgt einer (neo-)kolonialen Logik.29 Sie nivelliert Unterschiede genauso wie eine kulturhierarchische Vorstellung, nach der westliche Formen das Maß dafür sind, was Musik und Gesang ‚sind‘. Was geschieht, wenn ein westeuropäisches Modell von Singen und Musik den Anspruch hat, das ursprüngliche, intuitiv zugängliche und richtige zu sein – und nichtwestliche Elemente zu assimilieren? Siobhán Garrigan verteidigt das westliche ‚Borgen‘ von anderen Kulturen, bspw. wenn Gemeindemitglieder in den Worten, Melodien und Rhythmen von Menschen aus Zimbabwe 25 Burns/Jagessar, Worship, 51–52. 26 Ebd., 62. 27 Vgl. Nelson Cowan, Lay, Prophet, Priest. The Not so Fledging Office of the Worship Leader, in: Liturgy 22, 1 (2016), 24–31. 28 James White, Christian Worship in North America, Collegeville 1997, 133. 29 Vgl. Hong, Music, 131.
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singen. Aber sie fordert, dass dies nur unter dem Vorzeichen des Strebens nach globaler Gerechtigkeit stattfinden sollte; nur, wenn Geborgtes aus der Sichtweise ihrer Ausgangskontexte verstanden wird. Aber sie endet: “What we call borrowing might more accurately be called stealing or copying, because the goods are not returned intact.”30 Dieser Diebstahl gehe frei mit dem Geborgten um und sei, was gute Kunst wesentlich ausmache. Das erklärt oder rechtfertigt Garrigan aber nicht. Was aber entscheidet (bei Gemeindegesang wie bei Gottesbildern), wann Hybridisierung die Form (neo-)kolonialer Aneignung annimmt? James O. Yong definiert “cultural appropriation” als: Aneignung, die über die Grenzen von Kulturen hinaus geschieht. Angehörige einer Kultur (ich nenne sie Outsider), nehmen für sich, für ihre eigenen Zwecke, Sachen, die von einem oder mehreren Angehörigen (die nenne ich Insider) einer anderen Kultur produziert wurden31
Yong unterscheidet zwischen einer „objectionable class of transactions”, also zu kritisierende Austauschen, und “cultural exchange” oder “cultural borrowing”.32 Wann aber ist liturgischer Import „objectionable“, unzulässig? Myke Johnson schreibt über wenig ambivalente Aneignungen – Hybridisierungen, die Gottesbilder und Zeremonien von Native Americans verwenden: Kulturelle Aneignung ist eine Form von Rassismus. Kulturelle Aneignung ist eine Waffe im Prozess der Kolonisierung. Kulturelle Aneignung ist, wenn ein dominierendes oder kolonisierendes Volk die kulturellen Zeremonien und Objekte eines Volkes übernimmt, das Beherrschung und Kolonisierung erfährt. Wenn EuroAmerikaner Symbole und Zeremonien von Native Americans nehmen und für ihre eigenen Zwecke verwenden, nehmen wir Teil am Prozess der Kolonisierung und Zerstörung der Native American Kultur.33
Folgt man Stephen Burns, dann ist Teil einer kolonialen theologischen Aneignung, ‚andere‘ Glaubenssysteme als kindlich, naiv, abergläubisch und unterentwickelt zu rekonstruieren. Eine dominante Gruppe marginalisiert als Träger eines zivilisierten, aufgeklärten, rationalen Ethos indigene Symbolsysteme, beutet sie aus und trägt zu ihrem Verschwinden bei.34 In Aufnahme von Carvalhaes wäre das Anliegen, solche Hybridisierungen nur mit einer „mutuality“, einer Gegenseitigkeit von Handlungs- und Deutungsmacht und dem Teilen von Ressourcen zu suchen.35 Adaptionen, die ohne „Rekonfigurationen“ der Machtverhältnisse hybridisieren, die in „Harmonie“ mit dem dominanten Kontext und dem dort aufgehobenen „wahren und authentischen 30 31 32 33
Siobhán Garrigan, A Working Theology of the New, Liturgy, 23,1 (2007), 5–13, hier: 9. James O. Yong, Cultural Appropriation and the Arts, Oxford 2008, 4. Ebd., 5. Myke Johnson, Wanting to be Indian: When Spiritual searching turns into cultural theft, in Joanne Pearson (Hrsg.), Belief Beyond Boundaries, Milton Keynes: 2002, 277–294, 287. 34 Stephen Burns, Worship and Ministry, Eugene 2012, 56. 35 Cláudio Carvhalhaes, Praying each other’s prayers, in Pui-Lan/Burns, Practice, 137– 150, hier 148.
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Geist“ einer Liturgie stehen, zeigen die Position der indigenen Glaubens-, Lieder- und Symbolsysteme:36 Sie sind Zulieferer für einen Prozess, der woanders, im Westen, seinen Schwerpunkt hat. Das bedeutet gerade nicht eine Forderung einer ‚puren‘ Gottesdienstkultur ohne Austausch. Es führt zur Frage nach den epistemischen und ökonomischen Machtverhältnissen bei Aneignungs- und Austauschprozessen. Das Problem entsteht nicht, wenn Musik, Lieder und Hymnen geteilt und verändert werden. Es entsteht, wenn gar nicht gefragt wird, ob es sich um Tauschen oder Teilen mit einer echten Spannung zwischen Ausgangskontext und Zielkontext handelt. Es entsteht, wenn nicht gefragt wird, wer davon profitiert, wer es initiiert und erlaubt, was dabei sichtbar und unsichtbar gemacht wird, wem das Ergebnis gehört und wer Zugang und Deutungshoheit erhält.37 Hierarchische und ausbeuterische Hybridisierung als ‚cultural appropriation‘ trägt neo-kolonialistische Züge. Hybridisierung als positiver Austausch und Spannung auf Augenhöhe, kann dagegen das Denken und Handeln tatsächlich in Frage stellen und neue Alternativen eröffnen – und nicht nur das Dagewesene im Übernommenen neu und stärker wiederentdecken.
4.
Colonized and Postcolonial Voices – Hybridisierungen des Hybridisierten
Jagessar und Burns erzählen eine aufschlussreiche Geschichte, die auch die koloniale Dimension der Gesangs-Praxis eröffnet. Auf einer Konferenz bringt ein Liederautor und Kirchenmusiker Teilnehmenden neue Lieder aus der Kategorie „world music“ bei.38 Unter den Teilnehmenden ist auch ein Ghanaischer Pfarrer, der protestiert. Bei einem Lied, das aus Ghana stammt, konnte er die Art und Weise, in der es gesungen wurde, nicht wiedererkennen. Was der westliche Kirchenmusiker übernommen hat, ist der Text. Was er weglässt, ist der Kontext – und die Praxis des Liedes, das Know-How es zu singen, das jenseits der Notation liegt. Das Lied wird in der Geschichte zum „colonial text“, Teil der Erschaffung einer für alle Menschen gleichermaßen gültigen textuellen Wirklichkeit.39 Eine monolithische Welt der Kirchenmusik, ein „worlding” entsteht, „das effektiv und gewaltförmig einern Diskus unter einen anderen schiebt”.40 Lieder und Musikstücke werden eurozentrisch übersetzt 36 37 38 39 40
R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations, London 2003. Jagessar/Burns, Worship, 63. Ebd., 62–63. Gayatri C. Spivak, Kritik der Postkolonialen Vernunft, Stuttgart 2013. Gayatri C. Spivak, “The Rani of Simur.”, in: Frances Barker (Hg), Europe and Its Others: Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. Colchester 1985, 128–51, hier: 133.
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und nach westlichen Werten verändert, von der Praxis abgeschnitten und neu genießbar gemacht. Gerade in der Praxis des Singens zeigt sich das Potential für Aneignung der/des A/anderen. So schreibt die Ethnomusikologin Monique Ingall: Musikalische Herzensprache […] ist weder essentiell noch unveränderlich; sie ist vielmehr etwas, das man durch musikalische Konversation (musical conversation) im Gottesdienst lernen oder Erleben kann. Multi-ethnischer Gottesdienst, d.h. Gottesdienst durch die Ausdrucksweisen eines anderen hindurch, führt letztendlich zur Aneignung dieser Ausdrucksweisen als (teilweise) eigene.41
„Musical conversations“ in den Formen „des andern“ können einer aneignenden kolonialen Logik der Hybridisierung folgen, oder einer gegenkolonialen Logik, in der die Macht des ‚anderen‘ erhalten bleibt und aus Spannung Neues entsteht. In postkolonialer Perspektive wird der Gottesdienst zu einem Ort gegenkolonialer Hybridisierung, wenn Menschen mit vielen kulturellen Prägungen in jeder Feier einen neuen Raum der Ambivalenz ausgehaltener Spannung öffnen.42 Um diesen Gedanken zu entwickeln ist genauer auf die in postkolonialen Perspektiven bisher vernachlässigte Praxis des Singens und Klangproduzierens einzugehen. Einen Einstieg bietet die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus“ (2016-17) des Deutschen Historischen Museums Berlin: Sie zeigt als koloniales Instrument ein Liedblatt des Schweizer Afrika-Missionars Ernst Bürgi.43 Das erste, was auch deutschsprachige Missionare in Übersee lehrten, war der Gesang, als Voraussetzung für andere Bildungsvorgänge und dem Bekenntnis nahe. Auch Bürgi verfasste Lied-Texte, mit einem Nebeneinander der Sprache der Ewe im südlichen Ghana und des Deutschen. So wird Ewe dem Deutschen gleichgesetzt und linguistisch erschlossen. Es wird in ein Alphabet eingeordnet und Tabellen mit Lauten und Tonhöhen werden festgelegt. Unübersetzbares oder der deutschen Sprachlogik Widerstehendes fällt weg. Die Bewegung der lokalen Sprache, der Stimmen und Gesänge – ihre Möglichkeiten, von Transzendenz zu reden und zu singen – werden nach westeuropäischer Rationalität geformt und schriftlich festgesetzt. Frantz Fanon beschreibt persönlicher wie er als Person of Colour durch koloniale Hybridisierung Stimmuster in seinen Körper und seinen Geist aufgenommen hat, wo sie Teil seines Selbstverständnisses wurden. Für Fanon sind es westlich-weiße Stimmverwendungen, die vorgeben, was als Stimme zählen darf und was nicht, ob jemand als Mensch gelten darf oder nicht.44 Konstruktionen von Nationalität, Ethnizität, Klasse, Gender, Befähigung wer-
41 Monique M. Ingalls, Awesome in this Place, Dissertation, Philadelphia, verfügbar unter , 300. 42 Vgl. Kim-Cragg, Practices, 77. 43 Vgl. Rebekka Habermas, Willst du den Heidenkindern helfen?, in: Deutsches Historisches Museum (Hg), Deutscher Kolonialismus, Berlin 2016, 50–57, hier: 52. 44 Frantz Fanon, Schwarze Haut, Weiße Masken, Frankfurt 1985.
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den in den Körper eingeschleust und sie steuern die Möglichkeiten zur Produktion von Stimme, als praktisches Geschehen und als Handlungsmöglichkeit in der Welt. Diese Beispiele zeigen: Im Disziplinieren der Stimmen auch im Singen wird körperlich hybridisiert. Auch das kann einer kolonialen Logik folgen. Zum einen herrscht literarisch-textliche über körperlich-performative liturgische Welterschließung. Zum anderen werden in sich unendlich vielfältige Stimmen, die sich durch die Ausbildung der Muskulatur, Lungenvolumen, Thorax und vieles anderes unterscheiden, auf die Stimmen der Notation eingegrenzt, in binäre, ge-genderte Stimmlagen geteilt. Körperlich produzierte Klänge werden zentral organisiert und nebeneinandergestellt. Was als ‚richtiges‘ Singen zählen darf, wird so eingeübt, dass Gottesdienst-Feiern und koloniale Pädagogik ineinander fallen. Es wird festgelegt, mit welchen Klängen und Worten, nach welchen Noten und ‚Stimmen‘ man Gott anbeten darf. Stimmen können kolonisiert werden und Unterwerfung in sich aufnehmen. Die Stimme der Kolonisierer drängt sich auf, dringt in den Körper ein, will sie sich gleichmachen und ihrer Norm anpassen. Teil dieser Konstruktion ist die Vorstellung der ‚reinen Stimme‘, unvermischt, Garant für ‚Identität‘, ‘Geschlecht‘, ‚Rasse‘ etc. Bis in die heutige Liturgiewissenschaft hält sich die Vorstellung von einer Stimme, die gut ist, weil sie unvermischt ist.45 Bei dieser Vorstellung liturgischer Präsenz-Diskurse46 zeichnen sich ab: 1. Die Angst vor unkontrollierbaren Gemeindestimmen; die gilt es technisch aus den wesentlichen Teilen des Gottesdienstes – in denen nur eine/r redet – auszuschließen; 2. eine hierarchische Vorstellung akustischer Machtverhältnisse; 3. die Konstruktion einer ‚authentischen‘, ‚natürlichen‘ Leitungs-Stimme, rein und unvermischt – die aber als trainierte Stimme alle übertönt. Mit einer impliziten, aber wirkungsvollen kolonialen Denkweise wird eine zentrale Stimme des/r Liturgin rein auf die ‚nur‘ Hörenden und potentiell Störenden übertragen. Die Vorstellung einer ‚rein-natürlichen‘, aber unkörperlichen Stimme ist eine wirkmächtige Konstruktion. Ferdinand De Saussure und in seiner Kritik Jacques Derrida verstehen die Stimme als das, was einer Seele ‚gehört‘.47 Dolar M. Laden, Roland Barthes oder Michel Poizat48 schreiben dagegen Ge45 Vgl. Thomas Klie und Markus Langer, in Evangelische Liturgie. Ein Leitfaden für Singen und Sprechen im Gottesdienst, Leipzig 2015, 104ff., die sich für die „natürliche Stimme“ der Liturg_innen auf medizinische und logopädische Theorien der Stimmverunreinigung durch Vermischung beziehen. 46 Agency- und Hierarchiemodell des Schauspiels Einzelner werden auf die soundscape des Gottesdiensts übertragen und ein Einbahn-top-down-Paradigma von Klang gebildet. 47 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1983. 48 Dolar Mladen, His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt, 2007; Roland Barthes, Die Körnung der Stimme, Frankfurt 2002; Michel Poizat, Teuflisch oder gött-
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schichten der theologischen Unterdrückung der körperlich-unreinen Hybridität der Stimme: Von Platon über Augustinus bis heute gilt die Stimme als Gefährdung des nichtkörperlichen Wortes. Die Queertheoretikerin Freya JarmanIvens dekonstruiert dieses Denken: Wenn Stimmenkategorien naturalisiert sind, und nicht an sich natürlich, dann muss die Natürlichkeit der Stimme selbst in Frage gestellt werden, weil die Stimme eher eine performative Funktion hat als dass sie ein direkter Marker einer stabilen, fixierten oder inhärenten Natur wäre. Sicher ist die Ideologie der natürlichen Stimme einflussreich, und sie ist aufs Engste verbunden mit zwei anderen wichtigen Ideologien der Stimme – dass sie ein Signifikant für einen innersten Kern der Sprechenden ist, und dass sie ein individueller, einzigartiger akustischer Fingerabdruck ist.49
Mit Jarman Ivens sind Stimmen nicht natürlicherweise in Geschlechter eingeteilt, schwächer oder stärker. Vielmehr machen Training und Technik sie aus. Stimmen sind für Jarman-Ivens immer dissoziierte, dritte Orte, weil sie materiell und immateriell sind, von einem Körper produziert, aber auch für diesen etwas anderes als der Körper. Als „dramatized incoherencies“50 sind Stimmen nicht reduzierbar auf die ‚natürlichen‘ Vorgaben des Körpers. Sie entstehen durch erlernbare Umgangsweisen mit dem Körper, die das Gegebene „dehnen“ und überwinden.51 Sie sind gebrochen, zerteilt und gespalten und allen Beteiligten fremd. Stimmen entstehen aus einer Mischung aus Körper, (Kultur-)Training, Luft, Sprachvorgaben, Notation, anderen Stimmen, Techniken und Instrumenten. Gerade mit Blick auf Performance52 gilt: Stimmen entstehen aus Hybridisierungen.53 Der koloniale Einfluss auf Stimmen hat daher nicht das letzte Wort. Stimmen können nie ganz kolonisiert werden, weil sie sich nicht auf Einheitlichkeit und Reproduktion reduzieren lassen: nie synchron, immer out of tune und polyphon; nie rein, immer hybride. Wie ‚Gender‘ oder ‚Identität‘ sind sie ein doing, das lernbar, wiederholt und veränderbar bleibt. Auch in der Praxis des Gesangs ‚sind‘ Stimmen hybride, eine temporäre Vermischung von Trainiertem, Unfassbar-Atemartigem und Körperlichem. Gemeinsamer Gesang ist Hybridisierung von bereits teilweise (neo-)kolonial hybridisierten, eingegrenzten und trainierten Stimmen. Mit einer postkolonia-
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lich. Der lyrische Genuss, in: Friedrich Kittler et al. (Hg), Zwischen Rauschen und Offenbarung, München 2002, 215–232. Freya Jarman-Ivens, Queer Voices, London 2011, 19. Ebd., 17. K. Ludwig Pfeiffer, Operngesang und Medientheorie, in Doris Kolesch / Sybille Krämer, Stimme, Frankfurt 2006, 65–84, hier: 72. Doris Kolesch und Sybille Krämer sehen in der Stimme „das performative Phänomen par excellence“, Dies., Stimmen im Konzert der Disziplinen, in: Dies., Stimme, 7–15, hier: 11. Vgl. Bernhard Waldenfels, Das Lautwerden der Stimme, in: Kolesch/Krämer, Stimme, 191–210, hier: 200.
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len Optik findet gemeinsames Singen im Zwischenraum zwischen Körpern, Stimmen, Liedtexten, Instrumenten, Notationen und anderen Klängen statt. Nicht das einheitliche Singen als Akt kolonialer Disziplinierung, sondern im Gegenteil: Die Abweichung macht die Musik. So hat der Ethnomusikologe Charles Keil gezeigt, dass es die Verschiebungen und Abweichungen von der festgelegten Stimme sind, die dem gemeinsamen Gesang ‚Textur‘ und ‚Fülle‘ verleihen – die Musizieren und Gesang ermöglichen.54 Gemeinsames Singen im Gottesdienst funktioniert nur im Annähern an eine einheitliche Stimme, die nie erreicht wird. Der experimentelle Raum postkolonialer Hybridisierung liegt dann im Gemeindegesang darin, dass das Neue jedes Lieds in der unvorhersehbaren und unwiederholbaren hybriden Performance, je neuer Vermischung, liegt. Eine dekoloniale Hybridisierung des Gottesdiensts zeigt sich im Zwischen-kulturellen-Eindeutigkeiten-Stehen, in hörbarer, offener Kooperation, im Aufbrechen der top-down Machtverhältnisse liturgischer Praxis mit Handlungsmöglichkeiten für alle Beteiligten. Die Wiederholung des Status-Quos, der scheinbar unveränderlichen Notation scheitert mit jeder kollektiven (Gesangs-) Performance. Produktive Hybridisierung ist wahrnehmbar, wo Stimmen ausfallen oder aufdrehen, wo Stimmen brechen, wo die falsche Strophe angestimmt wird oder Fremde mitsingen, wo einiges durcheinander gerät, aber nichts ausgeschlossen wird, sondern erinnerungswürdige, einmalige Spannung entsteht – wenn weiter gesungen wird. In solchen hybriden Lücken im Gesang und anderswo wird die kreative Kraft der Hybridisierung in der Liturgie sichtbar.
5.
Zusammenfassung
Postkoloniale Liturgiewissenschaft kritisiert Importe des ‚anderen‘ in der Theorie und Praxis des Gottesdienst (im Denken Gottes wie im Singen), solange diese von einem stabilen westlichen Gottesdienstverständnis ausgehen und einer kolonialen Logik der Hybridisierung folgen. Gottesdienst in postkolonialer Perspektive als gegen- und dekoloniale Hybridisierung zu feiern, ist fruchtbar, wenn nicht neue Binarismen produziert werden oder der Status quo erhalten bleibt. Hybridisierung im Gottesdienst behält ein kritisches Potential wenn sie nicht der Logik eines epistemischen Vampirismus folgt, sondern Spannungen und Diskrepanzen sucht, dramatisiert und aushält – sie nicht machtsichernd missbraucht, rasch wieder einordnet und zur liturgischen Tagesordnung übergeht, sondern sich auf Augenhöhe herausfordern und verändern lässt. 54 Charles Keil, Participatory Discrepancies and the Power of Music, in: Cultural Anthropology 2, 3 (1987), 275–283.
„Religion kann Brücken bauen für Entwicklung“1 Postkoloniale Perspektiven auf den religious turn in der (deutschen) Entwicklungszusammenarbeit Claudia Jahnel
1.
„Religion matters!“2
„Religion kann Brücken bauen und Menschen motivieren, sich für Andere und die Umwelt einzusetzen. Dieses Potenzial haben wir viel zu lange vernachlässigt.“ Mit diesen Worten leitet der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd Müller, die programmatische Schrift „Die Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ein. Religion sei, so heißt es, eine „entscheidende Werte-Ressource“ und „gesellschaftliche Gestaltungskraft“; sie helfe „verstehen, verständigen und verändern“; sie sei „zentraler Bestandteil des Lebens. In 40 unserer Partnerländer sagen 4 von 5 Menschen, dass ihnen Religion sehr wichtig ist“; sie biete „Raum für Debatten“, „[r]eligiöse Akteure beeinflussen Entscheidungen“; „Religion beeinflusst das gesellschaftliche Miteinander“, sie „stärkt die individuelle und gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit“ und sei „identitätsstiftend“. ReligionsvertreterInnen übernähmen „traditionell die Rolle von Mediatoren in Konfliktfällen“. Die Auflistung verleiht Religion geradezu die Rolle eines Superlativs im Ranking entwicklungsrelevanter Faktoren. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Beginn der internationalen Entwicklungszusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer deutlichen Fokussierung auf die technische Machbarkeit von Entwicklung einherging, den religiösen und kulturellen Faktoren hingegen kein entwicklungsrelevantes Potential beigemessen wurde. Vielmehr avancierte Entwicklung selbst geradezu zu einem allerdings säkularen Heilsversprechen,3 dessen Einlösung eine rein diesseitige Angelegenheit darstellt: „Anstelle des ‚Messiasʻ trat die vernunftgeleitete technisch-wissenschaftliche Machbarkeit, die von Leiden erlöst“, so kommentiert Anne-Marie Holenstein 1 2 3
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (Hg.), Die Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik, Berlin 2015, 2. Ebd., 14. Claudia Jahnel, „Entwicklung“: ein säkulares Heilsversprechen? Religion und Entwicklung post-säkular denken und interpretieren, in: Berliner Theologische Zeitschrift 32, Nr. 2 (2015), 319–342.
Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklungszusammenarbeit
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diese Entwicklung, die mit der berühmten Point-Four-Inauguration-Rede zum wirtschaftlichen Wiederaufbauprogramm der Nachkriegszeit von Präsident Harry S. Truman am 20. Januar 1949 ihren symbolischen Anfang nahm.4 Die Rede Trumans markiert einen historischen Einschnitt und Aufbruch in eine neue Ära von Entwicklung: Man wollte nicht nur die Zeit des Zweiten Weltkriegs, sondern auch das sogenannte koloniale Zeitalter hinter sich lassen. Der von Truman und anderen „Entwicklungsexperten“ postulierte Bruch zwischen Vorkriegszeit und Kriegszeit einerseits und Nachkriegszeit andererseits bzw. zwischen kolonialer Zeit einerseits und post-kolonialer Zeit andererseits verschleierte jedoch die anhaltenden kolonialen Beziehungs- und Machtkonstellationen, die heute im Fokus postkolonialer Entwicklungskritik stehen, auf die ich noch genauer eingehen werde. Angesichts der Entstehungsgeschichte moderner Entwicklungspolitik ist der religious turn,5 der heute in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wahrnehmbar ist, einerseits erstaunlich. Andererseits hat bereits in den 1980er Jahre die Idee der partizipatorischen Entwicklung das Narrativ der von sogenannten Experten der Industrienationen konzipierten „Entwicklung der Unterentwickelten“ hinterfragt.6 Mit der Beteiligung der Betroffenen an der Formulierung von Entwicklungszielen würden, so hoffte man, die Umsetzung und die Nachhaltigkeit von Entwicklungszielen und -projekten gestärkt. Die aktuelle Einbeziehung von Religionen und ihren RepräsentantInnen in die Entwicklungszusammenarbeit kann als stringente Weiterentwicklung dieses partizipatorischen Ansatzes betrachtet werden. Eine weitere Wende in der Entwicklungspolitik verstärkt heute Offenheit für die Wahrnehmung von Religion als entwicklungsrelevantem Faktor: Die entwicklungspolitische Diskussion über die Sustainable Development Goals (SDGs) der sogenannten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die auf dem UN-Gipfel im September 2015 verabschiedet wurden. Mit den SDGs kommt zum einen die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit von Entwicklung in den Blick. Entwicklung wird ganzheitlicher betrachtet. Zum anderen werden nicht nur Betroffene sogenannter Entwicklungsländer, sondern letztlich alle Menschen in die Mitverantwortung für Entwicklung und die „große Transformation“ genommen.
4 5
6
Anne-Marie Holenstein u. a., Religionen – Potential oder Gefahr? Religion und Spiritualität in Theorie und Praxis der Entwicklungszusammenarbeit, Zürich/Münster 2010, 19. Explizit unter dem Begriff des religious turn untersucht Stephanie Garling, Vom Störfaktor zum Operator. Religion im Diskurs der Entwicklungszusammenarbeit, Wiesbaden 2013, die aktuelle Hinwendung zu Religion und Religionen in der Entwicklungszusammenarbeit. Für eine Übersicht über die verschiedenen Entwicklungstheorien s. z. B. Ulrich Menzel, Geschichte der Entwicklungstheorien. Einführung und systematische Bibliographie, Hamburg 1991.
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In Deutschland findet diese Neuausrichtung der Entwicklungspolitik Niederschlag in der von Gerd Müller und dem BMZ unter seiner Ägide entwickelten „Zukunftscharta: EineWelt – unsere Verantwortung“.7 Notwendig sei, so heißt es dort, ein „Weltzukunftsvertrag, der erstmalig ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung und Armutsbekämpfung miteinander verbindet“. Verantwortlich für Entwicklung seien alle Menschen, Entwicklung wird also nicht mehr als „Problem des Südens“ betrachtet. Denn mit der Globalisierung seien „die Lebensbedingungen der Menschen vielfältig miteinander verknüpft“ und es liege „in unserer Verantwortung wie unsere Handys, Autos und unsere Kleidung produziert werden. Jede und jeder kann einen Beitrag leisten für eine nachhaltige und bessere Zukunft“. Religion spielt in der Zukunftscharta eine bedeutsame Rolle: „Religiöse und kulturelle Überlieferungen stellen ein Deutungspotenzial bereit, das moralische und politische Bindungskräfte entfalten kann. Religion und Kultur beeinflussen die Weltsicht, den Lebensstil und das Engagement vieler Menschen und stellen dadurch eine starke politische und gesellschaftliche Gestaltungskraft dar, die sich positiv, aber auch negativ auf Menschenrechte und zukunftsfähige Entwicklung auswirken kann […] Bisher wurden die kulturellen Herausforderungen zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung vernachlässigt. Sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich oft auf technische und strukturelle Aspekte. Fragen nach der Rolle von Werten, Religion und Kultur treten dabei oft in den Hintergrund, obwohl sie zentral für ein ganzheitliches Verständnis von Entwicklung sind. Die Verständigung darüber, in was für einer Welt wir leben möchten und an welchen Werten wir und andere sich orientieren, ist kein Randthema, sondern Kern der Debatte um globale nachhaltige Entwicklung.“
2.
„Religious turn“ in der Entwicklungspolitik weltweit
Das Interesse an Religion in der Entwicklungspolitik ist längst nicht auf Deutschland reduziert. Seit Mitte der 1990er Jahre hat es vielmehr zahlreiche Institutionen in verschiedenen Ländern des globalen Nordens erfasst, darunter das von James D. Wolfensohn, dem ehemaligen Präsidenten der Weltbank, und George Carey, dem Erzbischof von Canterbury, 1998 initiierte Dialogprogramm World Faiths Development Dialogue (WFDD).8 Katherine Marshall, die Leiterin der im Jahr 2000 gegründeten Abteilung Development Dialogue 7 8
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Hg.), Zukunftscharta – Eine Welt, unsere Verantwortung, Berlin 2014. Eine detaillierte Untersuchung dieser Initiative der Weltbank mit besonderer Konzentration auf das ihr implizite Verständnis von Religion bietet die Studie von John A. Rees, Religion in International Politics and Development: The World Bank and Faith Institutions, Cheltenham 2009.
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on Value and Ethics (DDVE) der Weltbank, betont einerseits die positiven Potentiale von Religion und andererseits die Notwendigkeit einer Domestizierung der „problematischen“, entwicklungsverhindernden Dimensionen von Religion durch „modernes Wissen“ und „wissenschaftlichen Fortschritt“: “Damit kommen wir zur Rolle, die Religion und Glauben [in der Entwicklungszusammenarbeit] spielen. Mitgefühl für andere Menschen und der Einsatz für die Würde des Menschen sowie für die Unterdrückten und Ausgestoßenen gehören zu den zentralen Grundsätzen vieler, wenn nicht aller Glaubenstraditionen. Viele Religionen haben die Sorge um die, die hungern, und den Apell, Hungrige zu speisen, in ihre Lehre aufgenommen. Andere Traditionen (etwa die Tradition des Fastens) erinnern diejenigen, die genug haben, daran, wie es ist, hungrig und in Not zu sein. Diese Traditionen und die Impulse, die von ihnen ausgehen, waren und bleiben einerseits wichtige Partner im globalen Kampf gegen den Hunger. Sie können jedoch andererseits auch ‘Teil des Problems’ sein, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen vermitteln sie häufig, dass Armut und Hunger der Normalfall oder unvermeidbar sind und wirken dadurch eher auf Linderung der größten Härten als auf Veränderungen der Problemursachen hin. Zum anderen können sie dahin tendieren, sich auf Traditionen und herkömmliche Ideen oder Weisheitslehren zu konzentrieren und die Weisheit und wissenschaftlichen Fortschritte unserer Zeit auszublenden. Im Jahr 2005 fordert der Kampf gegen den Hunger dazu heraus, die Weisheit und das Mitgefühl, das in den herkömmlichen Traditionen liegt, mit moderner Weisheit und modernem Mitgefühl zu verbinden, das um die heutigen Möglichkeiten weiß und die Wurzeln von Armut und Fehlernährung kennt, ”9
Weitere Institutionen, die Religion in die EZ einbinden, sind die Schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), die unter Leitung von Anne-Marie Holenstein zwischen 2002 und 2009 zahlreiche Fallstudien zum Verhältnis von Religion und Entwicklung durchgeführt hat;10 das 2005 auf Initiative niederländischer Faith Based Organisations (FBOs) entstandene Knowledge Centre Religion and Development in Utrecht/Niederlande;11 das von der Universität von Birmingham/England 2005 initiierte und durch das UK Department for International Development unterstützte Religions and Development Research Programme, das insbesondere
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Katherine Marshall, Ethics of Hunger: Development Institutions and the World of Religion, in: Per Pinstrup-Andersen / Peter Sandøe (Hg.), Ethics, Hunger and Globalization: In Search of Appropriate Policies, Dordrecht 2007, 51–70, hier: 53 (dt. Übersetzung: CJ). 10 Anne-Marie Holenstein, Rolle und Bedeutung von Religion und Spiritualität in der Entwicklungszusammenarbeit. Reflexions-Arbeitspapier (2005); Schlussdokument. Entwicklung und Religion. Folgerungen für die Praxis. Methoden und Instrumente (2009), Erfahrungen aus christlich geprägten Umfeldern. Fünf Fallbeispiele zum Umgang mit Potentialen und Risiken (2008); Erfahrungen aus islamisch geprägten Umfeldern. Vier Fallbeispiele zum Umgang mit Potentialen und Risiken (2008); Erfahrungen aus kirchlicher Zusammenarbeit und endogenen Kulturen. Fünf Fallbeispiele zum Umgang mit Potentialen und Risiken (2009). Sämtliche Dokumente sind online zugänglich: www.deza.admin.ch. 11 http://www.religion-and-development.nl (Abruf Oktober 2016).
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relevante Studien und Forschungsarbeiten unterstützt und veröffentlicht;12 das Danish Institute für International Studies13 sowie das Berkeley Center for Religion, Peace and World Affairs14, die auf ihren Homepages aktuelle Informationen, Studien, Veröffentlichungen und Netzwerke zum Thema Religion und Entwicklung zugänglich machen.
3.
Das Religionsverständnis der Entwicklungspolitik
Die Wende der Entwicklungspolitik hin zur Einbeziehung von Religion ist von Seiten der Kulturwissenschaften bislang wenig theoretisch reflektiert worden. Einen der wenigen und daher umso wichtigeren Beitrag hat Philip Fountain mit seiner Untersuchung zur Konzeptionierung von Religion in der gegenwärtigen entwicklungspolitischen Debatte geleistet.15 Aus einer vergleichenden Analyse dreier entwicklungspolitischer Schlüsseltexte der Gegenwart schlussfolgert er, dass in der Diskussion heute zum einen ein funktionales Verständnis von Religion dominiere – Religion kommt als entwicklungsfördernder oder entwicklungshemmender Faktor in den Blick. Zum andern sei die Wahrnehmung vorherrschend, dass Religion ein Phänomen sui generis und eine substantielle Größe sei, die jenseits diskursiver Einschreibungen und machtvoller Aushandlungsprozesse existiere. Die Frage, wie Religion konzeptionalisiert und gedeutet wird, schließt weitere Fragen ein: Was genau verändert sich durch die Einbeziehung von Religion in die Entwicklungszusammenarbeit? Kommt es zu grundlegend neuen Zielvorstellungen von Entwicklung, die jene „säkularen Heilsvorstellungen“ von technischem und wirtschaftlichem Fortschritt in Frage stellen? Welche Interessen und Dynamiken, Zuschreibungen, vereinnahmende Einschließungsprozesse oder Ausschließungen sind mit dem Narrativ des „Religion matters“ der neueren Entwicklungspolitik verbunden? Postkoloniale Theorie und Kritik kann, so die leitende Annahme des vorliegenden Beitrags, wichtige Einsichten über und für die gegenwärtige Einbeziehung von Religion in Entwicklung bieten. Denn mit ihren Schwerpunktsetzungen auf Formen der Repräsentation, Fragen der agency, Machtkonstellationen, Othering-Prozesse, kolonial-postkoloniale Kontinuitäten und Identitätskonstruktionen ist postkoloniale Theorie geradezu prädestiniert dafür, Entwicklungsziele und -prozesse kritisch zu beleuchten. Erstaunlicherweise 12 http://www.birmingham.ac.uk/schools/government-society/departments/ international-development/rad/index.aspx (Abruf Oktober 2016). 13 http://en.diis.dk/en (Abruf Oktober 2016). 14 http://berkleycenter.georgetown.edu/ (Abruf Oktober 2016). 15 Philip Fountain, The Myth of Religious NGOs: Development Studies and the Return of Religion, in: Gilles Carbonnier (Hg.), International Development Policy: Religion and Development, Genf 2011, 9–30.
Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklungszusammenarbeit
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gibt es jedoch nur wenige postkoloniale Untersuchungen zur Entwicklungszusammenarbeit und zu entwicklungspolitischen Zielvorstellungen und noch weniger zur religionsbezogenen Entwicklungszusammenarbeit. Letztere ist einerseits vermutlich noch zu neu, als dass sie in ihrer Relevanz für postkoloniale Kritik schon wahrgenommen hätte werden können. Andererseits spielt Religion in postkolonialen Studien insgesamt eine bislang eher marginale Rolle.16 Sowohl hinsichtlich des Themenfeldes Entwicklung und Entwicklungspolitik als auch im Bereich Religion ist postkoloniale Theorie und Kritik also noch ausbaufähig. Im Folgenden möchte ich einige grundsätzliche Fragen und Herausforderungen benennen, die eine intensivere postkoloniale Beschäftigung mit diesen Feldern lohnend und notwendig erscheinen lassen. Gerade auf dem Feld von Entwicklung und Religion können, so behaupte ich, postkoloniale Theorie und Kritik einen Beitrag dazu leisten, dass machtkritische, befreiende und gerechtigkeitsfördernde Perspektiven im Kontext einer globalisierten Welt entwickelt werden.
4.
Entwicklung und postkoloniale Kritik: „Das eine Feld fängt da an, wo das andere sich weigert hinzuschauen“17
Ein berühmtes Diktum zum Verhältnis zwischen Entwicklungsforschung und postkolonialer Kritik stammt von Christine Sylvester: „Das eine Feld fängt da an, wo das andere sich weigert hinzuschauen“. „Entwicklungsforschung tendiert dazu, Subalternen nicht zuzuhören und postkoloniale Studien tendieren dazu, sich nicht darum zu kümmern, ob die Subalternen etwas zum Essen haben.“18
Die Beziehungslosigkeit von Entwicklungsforschung und postkolonialen Studien ist bedauerlich, denn letztere hätten das Potential, Entwicklung neu und anders zu denken, wenn sie ihre von Sylvester konstatierte Theorielastigkeit überwinden und praktische postkoloniale Projekte einbeziehen würden.
16 Dieses Defizit haben María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in der zweiten Auflage ihres Grundlagenwerkes Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2015, aufgegriffen und das Buch um ein eigenes Kapitel zu „Religion, Säkularismus und Empire“ ergänzt. 17 Christine Sylvester, Development Studies and Postcolonial Studies: Disparate Tales of the ‚Third World‘. Third World Quarterly 20, Nr. 4 (Aug. 1999), 703–721, zitiert nach Aram Ziai, Postkoloniale Perspektiven auf „Entwicklung“, Peripherie 120, 30. Jg. (2010), 399–426, hier: 406. 18 Sylvester, Development, zitiert nach Ziai, Postkoloniale Perspektiven, hier: 399.
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Diese Kritik an Praxisferne und Theorieverliebtheit der Postkolonialen Theorie ist nicht neu, sondern wird auch in anderen Bereichen als Problem betrachtet, da postkoloniale Theorie dadurch viel von ihrem kritischen Potential einbüßt.19 Aram Ziai, der als Pionier der postkolonialen Kritik an Entwicklung im deutschsprachigen Bereich gelten kann, differenziert diese Kritik mit Blick auf das Verhältnis von Entwicklungsforschung und postkolonialen Studien, indem er drei zentrale Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen benennt.20 Zum einen unterschieden sie sich, so Ziai, in der „Anwendungsorientierung“: Während „Wissen in der Entwicklungsforschung […] i. d. R. unter dem Imperativ seiner Umsetzbarkeit in praktische Problemlösungen“ stehe, sei „Wissen in den postkolonialen Studien […] oft auf Kritik an Repräsentationen beschränkt“. Des Weiteren verfolgten Entwicklungsforschung und postkoloniale Studien unterschiedliche „theoretische Zielsetzungen“: Entwicklungsforschung ziele auf die „planende Umgestaltung der Gesellschaft entlang universeller Leitbilder“, postkoloniale Studien hingegen stellten universelle Leitbilder gerade in Frage und betrachteten sie als eurozentrische Konstrukte. Ein dritter Unterschied schließlich liege im „methodischen Fokus“: „Der Entwicklungsforschung geht es primär um messbare sozioökonomische Veränderungen, zumeist auf der Makro-Ebene“, postkolonialen Studien hingegen gehe es um Fragen kultureller Identität und Repräsentation, meist auf Mikro-Ebene. Die Unterschiede zwischen Entwicklungsforschung und postkolonialen Studien implizieren nicht, dass postkoloniale Theorie und Kritik nicht gerade auch im Bereich von Entwicklungsforschung und -politik einiges beizutragen hätten. Im Gegenteil: Gerade Ziai plädiert – wie auch andere – für eine kritische Revision entwicklungspolitischer Leitvorstellungen mittels postkolonialkritischer theoretischer Parameter. Die folgenden Ausführungen skizzieren – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – das Feld der Themen, die in einer postkolonialen kritischen Untersuchung in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten.
5.
Postkoloniale Kritik an „Entwicklung“, Entwicklungsforschung und Entwicklungszusammenarbeit – eine Skizze
Postkoloniale Theorie und Kritik widmet sich von ihrer Genese in der Literaturwissenschaft her in besonderer Weise dem Studium bzw. der kritischen ReLektüre von Texten. Entsprechend gilt es im Blick auf Entwicklungspolitik, 19 Zur Kritik an der postkolonialen Theorie s. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 286–338. 20 Ziai, Postkoloniale Perspektiven.
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Texte von grundsätzlicher und politischer Bedeutung, die der Narration von Entwicklung ihre Legitimationsgrundlage gegeben haben und zur Fortsetzung des Narrativs wiederholt neu erzählt werden, kritisch gegen-zu-lesen. Zu diesen Texten gehört die bereits erwähnte Rede Präsident Trumans ebenso wie paradigmatische Definitionen von Entwicklung, wie beispielsweise die folgende des bekannten Vertreters der klassischen Entwicklungstheorie, Ulrich Menzel:21 „Ich verstehe unter Entwicklungstheorie Aussagen, mit deren Hilfe […] begründet wird, warum es in den Industriegesellschaften Westeuropas, Nordamerikas und Ostasiens zu Wirtschaftswachstum, Industrialisierung, sozialer Differenzierung und Mobilisierung, mentalem Wandel, Demokratisierung und Umverteilung gekommen ist (diese Prozesse nennt man Entwicklung) bzw. warum in den übrigen Teilen der Welt diese Prozesse ausbleiben, nur unvollständig realisiert werden oder lediglich eine Karikatur dieser Prozesse zu beobachten ist. Letzteres nennt man, je nach analytischem Zugang, Rückständigkeit oder Unterentwicklung.“22
„Entwicklung“ ist laut dieser Definition „ein Bündel von miteinander verknüpften und normativ positiv aufgeladenen Prozessen […], die in einigen Regionen stattfanden und in anderen nicht“23. Postkoloniale Kritik findet hier zahlreiche Anknüpfungs- und Kritikpunkte. Erstens enthält Menzels Definition eine unhinterfragte universalistisch-universalisierende Wahrheitsbehauptung, die eurozentrische, in der Kolonialzeit verankerte Superioritätsanmutungen kaschiert. Zweitens erhebt diese eurozentrisch aufgeladene Konzeptionalisierung von „Entwicklung“ in ihrer behaupteten universalistischen Gültigkeit einen normativen Anspruch. Eine bestimmte Ausformung von Entwicklung, nämlich die der „Industriegesellschaften Westeuropas, Nordamerikas und Ostasiens“ (Menzel), wird zur Norm erhoben und zum Maßstab für Entwicklung überhaupt gemacht. Diese spezifische Entwicklung ist zugleich auch Deutungsmacht für „Entwicklungen“ in anderen Regionen, die durch das „Interpretationsraster“ westlicher Entwicklungen analysiert und als mehr oder weniger entwickelt beurteilt werden. Entwicklung ist, so James Ferguson, „[…] ein Interpretationsraster, durch das wir über die verarmten Weltregionen Bescheid wissen. Innerhalb dieses Interpretationsrasters wird eine Vielzahl von alltäglichen Beobachtungen verständlich und mit Bedeutung versehen. Die Bilder der zerlumpten Armen Asiens werden lesbar als Anzeichen einer bestimmten Entwicklungsstufe“24.
21 Ich verdanke den Hinweis auf die Definition von Menzel Ziai, Postkoloniale Perspektiven, dessen Gedanken zur Analyse des Textes hier einfließen. 22 Ulrich Menzel, 40 Jahre Entwicklungsstrategie = 40 Jahre Wachstumsstrategie, in: Dieter Nohlen / Franz Nuscheler (Hg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1: Grundprobleme, Theorien, Strategien, Bonn 1993, 131–155, hier: 132. 23 Ziai, Postkoloniale Perspektiven, 400. 24 James Ferguson, The Anti-Politics Machine. “Development”, Depoliticization and Bureaucratic Power in Lesotho, Minneapolis 1994, xiii, zitiert nach Ziai, Postkoloniale Perspektiven, 401.
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Mit der Normativität und „Normalisierung“ des westlichen Entwicklungsziels geht zugleich, drittens, eine „Entpolitisierung sozialer Ungleichheit“25 einher. Statt ungerechte Strukturen zu hinterfragen, wird die herrschende soziale Ungleichheit als „Entwicklungsproblem“ des globalen Südens dargestellt. Viertens trägt die „klassische“ Definition von Entwicklung sämtliche Züge der kolonialen Strategie des Othering im Sinne des Different-Machens und des Aufbaus binärer Oppositionen: Die „übrigen Teile der Welt“ (Menzel) werden als „abweichend zur Norm konstruiert und binär zum ‚Selbstʻ –den Kolonisierenden – positioniert“26. Differenz, bzw. Different-Machen, ist also ein konstitutives Merkmal des Entwicklungsdiskurses und produziert eine Kette weiterer Unterschiede, Dichotomien und Dualismen wie die Oppositionspaare entwickelt – unterentwickelt, weiß – schwarz, Individuum – Kollektiv deutlich machen.
Exkurs: Zeit im Entwicklungsdiskurs Die Othering-Prozesse im Entwicklungsdiskurs schließen sämtliche Grundkategorien von Kultur wie Raum, Zeit, Geschichte, Körper, agency ein und markieren sie normativ. Räume beispielsweise werden anhaltend geopolitisch mit rassistischen Klassifizierungen belegt: Reiche Orte werden von armen Orten unterschieden, entwickelte Regionen heben sich von weniger entwickelten ab, autokratisch regierten Ländern wird weniger Entwicklung zugemessen als demokratischen Gesellschaften. Eine hervorgehobene Rolle im Entwicklungsdiskurs spielen seit jeher auch temporale Markierungen. „Entwicklung“ wird als linearer wirtschaftlicher Wachstumsprozess oder als Prozess eines evolutionären, menschheitsgeschichtlichen Fortschritts mittels technischer Rationalität sowie als Errungenschaft der Moderne vorgestellt und normiert. Wenn Katherine Marshall wie bereits zitiert davon spricht, dass Religionen dazu tendieren können, auf alte weisheitliche Traditionen als Quelle von Entwicklung zurückzugreifen, dann wiederholt sie den vormaligen kolonialen Zeitdiskurs. Johannes Fabian, James Clifford oder Jonathan Smith haben diesen intensiv analysiert: Der Andere wird in eine andere Zeit verlegt, mal verbunden mit exotischem Begehren und der Sehnsucht nach „jener Zeit“, mal mit Assoziationen eines „finsteren Mittelalters“ und grauenerregender Rückständigkeit. „Die anderen“ leben in einer
25 Ziai, Postkoloniale Perspektiven, 401. 26 Kristina Kontzi, Postkoloniale Perspektiven auf „weltwärts“. Ein Freiwilligendienst in weltbürgerlicher Absicht, Baden-Baden 2015, 55.
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„anderen“ Zeit.27 Othering-Prozesse werden also durch die Konzeptionalisierung einer anderen Zeit in besonderer Weise verstärkt. Bedeutsam ist nicht nur die Konstruktion von Vergangenheit im Entwicklungsdiskurs, sondern auch die Konstruktion von Zukunft. Die Zukunft, die der Entwicklungsdiskurs für die sogenannten Entwicklungsländer vorsieht, ist letztlich die Gegenwart der westlichen Gesellschaften, das Ankommen in der Moderne. Entwicklungsländer sollen sich dorthin entwickeln, wo Industrienationen bereits sind. Die Zukunft besteht bereits.28 Dieser Zusammenhang von Entwicklung und Zukunft wirft grundsätzliche Fragen auf: Ist eine bereits bestehende Zukunft überhaupt noch Zukunft? Wenn „Moderne“ als Ziel – telos – von Entwicklung verstanden wird, handelt es sich dann dabei noch um ein Ziel oder nicht vielmehr um die Näherbezeichnung eines bestimmten Status und einer politisch-ökonomischen Voraussetzung?29 Und ist nicht mit der „Krise der Moderne“ Moderne als Ziel von Entwicklung unglaubwürdig geworden oder gar verloren gegangen? Ein Beispiel dafür gibt James Ferguson in seinem Aufsatz „Decomposing Modernity“. Angesichts des gefährlichen Ausbruchs eines Vulkans in unmittelbarer Nähe eines Flüchtlingslagers, in dem er sich befand, kommentiert ein aus dem Kongo geflohener Mann erstaunlich ungerührt: „In der Bibel sind Ereignisse wie diese angekündigt als Vorboten für das baldige Wiederkommen des Herrn“. Ich könnte dem Beispiel viele weitere apokalyptische Kommentare aus dem Kontext interkultureller Gemeinden hinzufügen. Die Äußerungen lassen fragen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Verlust des Vertrauens in die Moderne mit seinen Versprechungen eines durch technischen Fortschritt und das Erreichen von Wohlstand geförderten gerechten und friedlichen politischen Systems einerseits und dem „Wiedererwachen“ religiöser Zeitvorstellungen – oder auch quasi-religiöser populistischer Szenarien – als Strategien alternativer Zukunftsgestaltungen? Als besondere Strategie einer alternativen Zukunftsgestaltung können auch die sogenannten Post-development-Ansätze verstanden werden. Sie zeichnen ein Bild von der Zukunft, das einer Rückkehr zur guten alten Zeit gleicht. Diese Anmutung findet sich in der lateinamerikanischen Gesellschaftsutopie Buen Vivir, das in manchen entwicklungsbezogenen Kreisen in
27 Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983. James Clifford / George E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley u. a. 1986; Jonathan Z. Smith, A Slip in Time Saves Nine: Prestigious Origins Again, in: John Bender / David E. Wellerby (Hg.), Chronotypes. The Construction of Time, Stanford 1991, 67–76. 28 Vgl. Uma Kothari, Commentary: History, time and temporality in development discourse, in: Cristopher A. Bayly u. a., History, historians and development policy. A necessary dialogue, Manchester/New York 2011, 65–70. 29 Vgl. James Ferguson, Decomposing Modernity: History and Hierarchy after Development, in: Ania Loomba u. a. (Hg.), Postcolonial Studies and Beyond, Duke 2015, 166– 181.
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Deutschland gegenwärtig eine breite Rezeption erfährt, ebenso wie beispielsweise im Vorwort zur Veröffentlichung des BMZ und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) „Voices from Religions on Sustainable Development“30 aus der Feder des Vertreters des tibetanischen Buddhismus, des 17. Gyalwang Karmapa. Dieser schreibt: „Ich wurde im Jahr 1985 in einer Nomaden-Familie in einem entlegenen Teil von Tibet geboren. An meinem Geburtsort gab es keine moderne Technologie und ich wuchs auf mit jener traditionellen Lebensweise, die Tibet für Jahrhunderte geprägt hat. Wir lebten auf dem Land und achteten darauf, wie wir mit den natürlichen Ressourcen – etwa Holz und Wasser – umgingen. Die Umweltverschmutzung war sehr gering und wir fanden Wege, wie wir das, was uns gegeben war, nachhaltig gebrauchten. Wir achteten auf Zyklen des Wetters und das Zusammenleben mit wilden Tieren, mit denen wir uns den Raum teilten. Man könnte sagen, dass wir natürliche Umweltschützer waren.”31
Post-development-Ansätze haben die Tendenz, die Vergangenheit und mit ihnen vorkoloniale und vormoderne Traditionen neu zu erfinden und als modernekritische alternative Zukunftsmodelle darzustellen. Die Frage ist jedoch, ob sie nicht mit ihrem Exotismus dazu beitragen, koloniale Stereotypen vom exotischen „Anderen“ zu wiederholen und den Prozess des Othering zu fördern. Bei aller Kritik fordern sie jedoch nichtsdestotrotz zu einem neuen Nachdenken über die dominante Epistemologie von „Entwicklung“, Säkularismus und Moderne auf und hinterfragen stereotype Konzeptionalisierung von Zeit im klassischen Entwicklungsdiskurs. Auffallend ist, wie dominant das Wort „Zukunft“ – etwa in der Rede von der Zukunftscharta oder dem Weltzukunftsvertrag – in gegenwärtigen Entwicklungsdiskursen ist und wie sehr etwa die Herausgeber der genannten „Voices from Religions on Sustainable Development“ darum bemüht sind, VertreterInnen verschiedener Religionen und Kulturen in Fragen der Zukunft zu Gehör kommen zu lassen. Diese bewusste Politik der Partizipation leitet über zu einem fünften Anknüpfungspunkt postkolonialer Kritik an Entwicklungsstudien und Entwicklungspolitik: der eingeschränkten und undifferenzierten Wahrnehmung der agency – Handlungsmacht – der Betroffenen. Diese Kritik ist nicht neu und geht auch nicht primär auf postkoloniale Studien zurück. Sie ist vielmehr sogar konstitutiv für den bereits erwähnten Ansatz der partizipatorische Entwicklung.32 Diese neue Theorie und Praxis von Entwicklungsarbeit ist seit Mitte der 1980er Jahre nach dem Scheitern von Top-Down-Modellen bedeutsam geworden. Sie betrachtet Menschen vor Ort 30 Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) / Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Voices from Religions on Sustainable Development, Bonn 2016. 31 Deutsche Übersetzung: CJ. 32 Bekannte Vertreter dieses Ansatzes sind: Chambers, Scoones und Thompson. Siehe Robert Chambers (Hg.), Farmer First: Farmer Innovation and Agricultural Research, London 1989; Ian Scoones / John Thompson, Beyond Farmer First: Rural People’s Knowledge, Agricultural Research and Extension Practice, London 1994.
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als Schlüssel zur Entwicklung und fordert, diese an Entscheidungen zu beteiligen. Das partizipatorische Modell versteht sich als Alternative zu einer geberorientierten Entwicklungshilfe und ist verbunden mit der Hoffnung auf Nachhaltigkeit, Empowerment und Relevanz. Auch der partizipatorische Ansatz wurde einer deutlichen und zum Teil postkolonialen Kritik unterzogen. Die Kritikpunkte nehmen eine mögliche postkoloniale Kritik am religious turn in der Entwicklungspolitik an vielen Punkten vorweg. Das ist nicht wirklich verwunderlich, denn die Einbeziehung von Religion, Religionen und VertreterInnen von Religion ist, wie erwähnt, letztlich eine Weiterentwicklung des partizipatorischen Ansatzes und folgt in vielem derselben Logik. Ich skizziere die Kritik am partizipatorischen Ansatz daher in Kürze.
6.
(Postkoloniale) Kritik an partizipatorischen Entwicklungsansätzen
Ein zentraler Kritikpunkt ist das Verständnis von Macht und Machtverteilung. Der partizipatorische Ansatz unterminiere die Komplexität der Wirksamkeit von Macht und blende das etwa von Foucault extensiv analysierte Phänomen, dass Macht zirkuliere, aus. Die Annahme, mit dem partizipatorischen Entwicklungsmodell alle Betroffenen in Entwicklungsentscheidungen und -prozesse einzubeziehen, sei schlicht naiv. Es bestehe vielmehr immer die Tendenz, dass bestimmte Personengruppen privilegiert, andere hingegen weiterhin marginalisiert würden. Nur eine kritische Einsicht in diese Dynamik von Machtstrukturen könne dazu beitragen, die blinden Flecken der Partizipation ansatzweise zu verringern.33 Deutlich naiv sei ferner die angenommene „Authentizität“ lokaler Akteure. Die scheinbare Authentizität hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und Zielvorstellungen, aber auch authentisches lokales Wissen etwa über einen angeblich traditionellen umweltschonenden Umgang mit der Natur spiegle in Wirklichkeit das wider, was Entwicklungsorganisationen hören wollten.34 Darüber hinaus reflektierten die partizipatorischen Ansätze den westlichen, vom Protestantismus geprägten Hintergrund des Begriffs und Modells von Partizipation nicht. Partizipation sei eine Idee der Moderne. Der partizi-
33 Uma Kothari u. a., New spaces of development partnership: rethinking international volunteering, in: Progress in Development Studies 15 (2015), 358–370; David Mosse, Cultivating Development: an ethnography of aid policy and practice, London 2004. 34 David Mosse, “People’s Knowledge”, Participation and Patronage: Operations and Representations in Rural Development, in: Bill Cooke / Uma Kothari (Hg.), Participation: the new tyranny, New York 2001, 16–35.
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patorische Ansatz wolle bei aller Betonung der Handlungsmacht der betroffenen Menschen unreflektiert diese letztlich Moderne-kompatibel machen und sie zu modernen, westlichen Werten und Einstellungen bekehren.35 Scheitert ein Entwicklungsprojekt, dann werden die Gründe für das Scheitern daher auch nicht im partizipatorischen Ansatz selbst oder den westlichen Akteuren gesucht. Vielmehr werden die lokalen Akteure dafür verantwortlich gemacht, und die Ursache des Scheiterns liegt darin, dass die Betroffenen die westlichen Werte der Partizipation und der moralischen Verantwortung nicht übernommen haben. Der partizipatorische Ansatz kritisiert das westlich-technische Entwicklungsexpertentum und will die betroffenen Menschen selbst zu Experten ihrer Entwicklung machen. Dabei übersieht er jedoch, dass eine andere Berufsgruppe zu den neuen Experten und Spezialisten von Entwicklung erhoben werden: die AnthropologInnen. Sie werden hinsichtlich kultureller Regeln und Gebräuche herangezogen und beraten bei der Durchführung von Entwicklungsprojekten. Dadurch bestehe die Gefahr, dass „alte“, schon in der Kolonialzeit durch Ethnologie und Kulturanthropologie vorangetriebene Exotisierungsprozesse fortgesetzt und mit der anhaltenden Unterscheidung von lokal-traditionellem Wissen und universal-technischem Wissen koloniale binäre Zuschreibungen weitergeschrieben würden. Auch für partizipatorische Entwicklungsansätze ist also die Differenz und ein hierarchisches Gefälle von Norden-Süden, Zentrum und Rändern, professionell geschultem und Erfahrungs-Wissen konstitutiv. Ferner schreibt der partizipatorische Ansatz ein in der Kulturwissenschaft längst überkommenes Verständnis von Kulturen als geschlossene Entitäten fort und reduziert dabei die Komplexität der Gesellschaften des globalen Südens. Auch hier manifestiert sich Differenzmarkierung: Mit der Feststellung der Andersheit der anderen Kultur wird „der Mantel der Kultur“ über globale Strukturen der Ungerechtigkeit gelegt: „Indem der Mantel der Kultur über materielle Beziehungen geworfen wird, wird der Anschein erweckt wird, man habe wenig mit dem anderen zu tun […]. Das schafft zugleich ein Alibi für die Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung in ihren modernen Erscheinungsformen.“36.
Ein weiterer postkolonialer Kritikpunkt am partizipatorischen Ansatz in der Entwicklungsarbeit ist schließlich, dass die permanente selbstkritische Haltung des Ansatzes die grundsätzliche Kritik verschleiert. Notwendig sei, so die
35 Roderick L. Stirrat / Heiko Henkel, The Development Gift: The Problem of Reciprocity in the NGO World. Annals, AAPPS (Annals of the American Academy of Political and Social Science), 554, November 1997, 66–80. 36 Arif Dirlik, The Postcolonial Aura: Third World Criticism in the Age of Global Capitalism, in: Critical Inquiry 20 (1994), 328–356, hier: 346 (dt. Übersetzung: CJ).
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postkolonialen Kritiker des partizipatorischen Ansatzes, eine rigorose Reflexivität, die die Entstehungsprozesse von Machtkonstellationen, Öffentlichkeit und Wissen grundsätzlich hinterfrage.37 Ein sechster Anknüpfungspunkt postkolonialer Kritik an Entwicklungspolitik betrifft die Eine-Welt-Rhetorik, die auch die Zukunftscharta des BMZW oder die Euphorie um die SDGs durchzieht. Kristina Kontzi hat diese Kritik in ihrer Doktorarbeit „Postkoloniale Perspektiven auf ‚weltwärtsʻ. Ein Freiwilligendienst in weltbürgerlicher Absicht“ exemplarisch am weltwärtsProgramm des BMZ durchbuchstabiert. Ziel des Programms wie „globaler Bildung“ überhaupt sei die Stärkung der weltbürgerlichen Kompetenz junger Menschen. Mit Ziai (2006) u. a. kritisiert Kontzi, dass die Terminologie „Eine Welt“ einen Bruch mit der bisherigen binären Diskurslogik und eine Neuordnung der Nord-Süd-Beziehungen suggeriere, in Wirklichkeit jedoch anhaltende Stereotypen und Ungerechtigkeit fördernde Strukturen verschleiere und die Handlungsmacht einschränke. „Der weite Verbreitung findende Topos der ‚Einen Weltʻ und des gemeinsamen weltweiten Interesses […] ist kognitiv entmündigend, analytisch ungenügend und politisch folgenreich […]: Er nimmt den Individuen die Möglichkeit einer selbstbestimmten Artikulation des eigenen Interesses, differenziert nicht zwischen den extrem ungleichen sozio-ökonomischen Bedingungen der Akteure und den damit zusammenhängenden Interessenlagen und lenkt in der Betonung gemeinsamer Interessen und notwendiger Zusammenarbeit von Privilegien und Interessenskonflikten ab.“38
Entwicklungsprogramme unter dem Label „Eine Welt“ setzen westliche Wissensdiskurse und Praktiken somit letztlich fort und wirken sich eher negativ auf die agency sogenannter Subalterner aus. Mit anderen Worten: Vom Kosmopolitanismus profitiert im weltwärts-Programm nur der privilegierte Freiwillige, der die Vielfalt der Kulturen konsumiert. Wer hier im Zusammenhang mit der Rede von der „Einen Welt“ von einer „großen Transformation“ spricht, wie es zum Beispiel der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Hauptgutachten aus dem Jahr 2011 im Vorfeld der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung 2012 (Rio+20) tut,39 muss sich wohl von Raúl Fornet-Betancourt an die „radikale Umkehrung eines Neuanfangs“ und an die letztlich „dialektische Realität“ von Reichtum vs. Armut oder Gemeinwohl vs. Gemeinübel erinnern lassen: „Wer die Verbreitung des Gemeinübels in der Welt verhindern will, der kann nicht bloß auf Maßnahmen zur Strukturanpassung setzen, sondern muss versuchen, die 37 Siehe Uma Kothari, A Radical History of Development Studies: Individuals, Institutions and Ideologies, in: dies. (Hg.), A Radical History of Development Studies: Individuals, Institutions and Ideologies, London 2005, 1–13. 38 Aram Ziai, Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive, Münster 2006, 129. 39 WBGU, Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011.
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Claudia Jahnel Grundrichtung der Entwicklung der heutigen Gesellschaft zu ändern, und zwar durch die radikale Umkehrung eines Neuanfangs, der die Geschichte in die entgegengesetzte Richtung einer ‚Zivilisation der Armutʻ stößt […], die den Werten der ‚Zivilisation des Kapitalsʻ prinzipiell widerspricht.“40
Diese grundsätzliche Kritik eines katholischen Theologen an Entwicklung hinterfragt nicht nur Container-Begriffe wie „Eine Welt“, „große Transformation“ oder „partizipatorische Entwicklung“, sondern führt mit der religiös konnotierten Begrifflichkeit der „radikalen Umkehrung“ und des „Gemeinübels“ zurück zu der Ausgangsfrage des vorliegenden Beitrags, wie der religious turn in der Entwicklungspolitik im Licht der postkolonialen Kritik am Entwicklungsdiskurs zu bewerten ist.
7.
Postkoloniale Kritik am religious turn in der Entwicklungspolitik
Die postkoloniale Kritik am religious turn in der Entwicklungspolitik kann, wie gesagt, an die genannten Kritikpunkte am Entwicklungsdiskurs generell anknüpfen und sie vertiefen und weiterführen. Dies erscheint mir umso sinnvoller, als das gegenwärtige Interesse an Religion in der Entwicklungszusammenarbeit weder von postkolonialer noch von religionswissenschaftlicher Seite bislang wirklich wahrgenommen wird – und vice versa.41 D. h., es gibt auf der einen Seite nur wenige einschlägige religionswissenschaftliche und postkoloniale Untersuchungen zu gegenwärtigen Konstruktionen von Religion in Entwicklungsprozessen. Auf der anderen Seite finden neuere religionswissenschaftliche Erkenntnisse und Konzeptionalisierungen von Religion kaum Eingang in die gegenwärtige Religions-Debatte in der Entwicklungspolitik. Was nun aus der Perspektive postkolonialer Theorie und Kritik an der Art und Weise der Einbeziehung von Religion in ein kritisches Licht rückt, ist – ähnlich wie im partizipatorischen Ansatz – die Naivität hinsichtlich der Dynamik von Macht und Machtverteilung und der Repräsentation angenommener subalterner Stimmen sowie hinsichtlich der Komplexität religiöser Identitäten. So kommen zwar in der Veröffentlichung des BMZ „Voices from Religions on Sustainable Development“ einzelne RepräsentantInnen verschiedener Religionen und – politisch korrekt – verschiedener Erdteile zu Wort. Aber zum 40 Raúl Fornet-Betancourt, Einführung, in: Ders. (Hg.), Kapital, Armut, Entwicklung. Dokumentation des XV. Internationalen Seminars des Dialogprogramms Nord-Süd, Mainz 2012, 19–24, hier: 22. 41 Zu den wenigen Ausnahmen gehören: Ben Jones / Marie Juul Petersen, Instrumental, Narrow, Normative? Reviewing Recent Work on Religion and Development, Third World Quarterly 32 (7,2011), 1291–1306.
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einen ist die Auswahl sehr selektiv. Zum andern wirkt es naiv, anzunehmen – wie es die Broschüre zumindest vorgeblich oder politisch inszeniert tut –, dass die ausgewählten Stimmen das Gros der Religionsangehörigen und aller subalternen Stimmen repräsentieren. Deutlich unterbelichtet bleiben sowohl intrareligiöse Komplexität, Vielfalt oder Konkurrenz von Religionen, ihre interund intraeligiösen und kulturellen Austauschprozesse sowie schließlich die im Zuge der verdichteten Globalisierung verstärkte transnationale Dynamik von Religionen. In den Veröffentlichungen nicht nur des BMZ erscheinen religiöse Identitäten hingegen als klar voneinander abgrenzbare homogene Entitäten, die eines gemeinsam haben: den Wunsch nach einer nachhaltigen Entwicklung. An diesem Punkt kann postkoloniale Theorie und ihre kritische Betrachtung von Identitätskonstruktionen deutlich problematisierende und darin weiterführende Einsichten in die Diskussion einbringen. Hinsichtlich der Machtverteilung ist die neuere Entwicklungspolitik auch dahingehend naiv – oder täuscht eine gewisse Unschuld vor –, als der Ansatz unhinterfragt eine westliche Bestimmung des Verhältnisses und des Machtgleichgewichts zwischen Religion und Politik und einen religionsneutralen Staat voraussetzt. Es ist wohl kaum verwunderlich, dass sich säkulare Staaten wie Frankreich oder „kommunistische“ wie China zurückhaltend hinsichtlich der Einbeziehung von Religion in die Entwicklungszusammenarbeit verhalten. Der religious turn in der Entwicklungspolitik in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden oder bei der Weltbank setzt die Trennung von Religion und Politik und damit ein westliches Narrativ voraus, dessen Entstehung – und das ist für postkoloniale Kritik von besonderer Relevanz – in die Zeit der Hochkonjunktur von Kolonialismus und Imperialismus fällt: „Die Vorstellung, dass Religion sowohl eine Gefahr für die Gewissens- wie auch gleichermaßen für die Meinungsfreiheit darstellte und infolgedessen ein Risiko für die freiheitlich organisierte Öffentlichkeit des demokratischen Nationalstaats sei, nimmt ihren Ausgang in der Aufklärung und bleibt zu Zeiten des Postkolonialismus virulent […]. Säkularismus wird in Folge als eine Notwendigkeit für die demokratische Gestaltung einer religiös plural organisierten Gesellschaft gesehen […]. Liberale Vorstellungen von Fortschritt, Freiheit, Toleranz und Emanzipation laufen schließlich in einer allumfassenden Säkularisierungsthese zusammen […]. Die essentielle und nicht reduzierbare Differenz zwischen Moderne und Tradition manifestiert sich von da an in der Säkularität der ersteren.“42
Sowohl die Trennung von Religion und Politik als auch die Differenz zwischen Moderne und Tradition – einschließlich Religion – spiegeln sich in den verschiedenen Dokumenten des BMZ, der Weltbank u. a.: Sie liegen der in diesen Veröffentlichungen und Programmen erwähnten Apart-Setzung von Religion als Kategorie sui generis ebenso zugrunde wie der Unterscheidung
42 Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie.
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von „guter“ und „schlechter“ Religion.43 Die leitende Frage westlicher Akteure der Entwicklungszusammenarbeit ist, ob und wie Religion mit den Prioritäten und Zielen westlicher Entwicklungspolitik vereinbar ist. Religion ist wieder „hoffähig“, sie wird ernst genommen, aber nur zu den Spielregeln, die die säkulare Entwicklungszusammenarbeit vorgibt. Entsprechend werden Religionen normativ an ihrem Ertrag für „Entwicklung“, ihrem Entwicklungsrespektive Friedens-, Freiheits- und Menschenwürde-fördernden Potential gemessen und zugleich als tendenziell gefährlich und gewaltsam gebrandmarkt. Die grundsätzlich gewachsene Bereitschaft, mit religiösen Institutionen zu kooperieren, kann nicht verbergen, dass es vorwiegend darum geht, dass Religionen einen Beitrag zu entwicklungspolitischen und gesellschaftlichen Zielen leisten. Zusammengefasst formuliert heißt dies: Der religious turn ändert nicht grundsätzlich etwas an den Zielen, dem Telos, säkularer Entwicklung. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist folglich, ob hier wirklich von einem turn oder gar einen turn im Sinne eines epistemologischen Bruchs, die Rede sein kann. Die postkoloniale Kritik an der von Vertretern des partizipatorischen Ansatzes hervorgehobenen „Authentizität“ lokaler Akteure und lokaler Traditionen kann hinsichtlich der stärkeren Berücksichtigung von Religion in den neueren entwicklungspolitischen Programmen dahingehend unterstrichen werden, als die Äußerungen von ReligionsvertreterInnen in den verschiedenen Veröffentlichungen den Eindruck vermitteln, hier werde authentisch diese oder jene Religion repräsentiert. Da der Religionsbegriff gänzlich unhinterfragt bleibt, wird ein Verständnis von Religion nicht nur als geschlossene Einheit, sondern auch als das faszinierende, exotische „Andere“ der Moderne erzeugt. Diese Wirkung wird dadurch unterstrichen, dass Religion als Phänomen beschrieben wird, das vor allem noch im globalen Süden, nicht mehr aber im aufgeklärten und modernen Westen von Bedeutung ist. Dadurch wird Religion zu einem Phänomen, das in großer Nähe zu Unterentwicklung, Irrationalität, Unaufgeklärtheit oder Anti-Moderne steht. Auch diese Wahrnehmung hat Vorläufer in kolonialen Zuschreibungspraktiken. Zugleich verschleiert der zugeschriebene Mantel „Religion“ eklatante globale Ungerechtigkeiten. Der religious turn in der gegenwärtigen Entwicklungspolitik setzt also mit der Zuschreibung „Die Partnerländer sind stärker religiös“ Othering-Prozesse fort und unterstreicht die differenzverstärkenden Binaritäten von „Wir“ und „Die“.
43 Severine Deneulin / Masooda Bano, Religion in Development: Rewriting the Secular Script, New York 2009.
Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklungszusammenarbeit
8.
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Ausblick
Ich habe versucht, einige Spuren für eine kritische, postkoloniale Aufarbeitung des religious turn in der gegenwärtigen Entwicklungspolitik aufzuzeigen. Sie stellen zugleich einen Orientierungsrahmen für eine kritische Intervention und Veränderung der Entwicklungszusammenarbeit dar. Nichtsdestotrotz kann und sollte eine unmittelbare Anwendungsorientierung und Umsetzbarkeit, die für die Entwicklungsforschung leitend ist, für postkoloniale Theorie nicht angestrebt werden, da sie sich so in politische Abhängigkeiten begibt, die ein (selbst)kritisches Forschen erschweren. Daher bleiben Entwicklungsforschung und Postkoloniale Studien auch in Zukunft zwei Disziplinen, die zwar viele Berührungspunkte haben, aber von unterschiedlichen Parametern geprägt sind – zumindest solange Entwicklungsforschung weiterhin primär an den Entwicklungszielen orientiert ist, die dem westlichen Moderne-Diskurs entspringen. Was mich im Zuge der Beschäftigung mit dem Thema Entwicklung besonders beschäftigt und berührt, ist die Frage nach der Zukunft, genauer nach alternativen Zukunftsvorstellungen, die die Zukunft des sogenannten „globalen Südens“ eben nicht in der Gegenwart des „globalen Nordens“ sehen. Welchen Beitrag kann postkoloniale Kritik zur Entwicklung postkolonialer Zukunftsmodelle leisten? Castro Varela und Dhawan schreiben am Ende der zweiten Auflage ihrer „Postkoloniale[n] Theorie“: „Noch allerdings erscheint es uns möglich, mit ihrer [gemeint ist postkoloniale Theorie] Hilfe andere Zukünfte denkbar zu machen“44. Alternative Entwicklungen von Zukunft existieren: Etwa die dargestellte religiös-apokalyptische Zukunftsperspektive oder die etwa von Ferguson beschriebene Wende, dass Menschen des „globalen Südens“ Entwicklungshelfer nicht mehr fragen: „Was könnt ihr für uns tun?“, sondern: „Wie komme ich hier weg: Not progress, then, but egress“45. Nichtsdestotrotz scheint die Frage nach der Gestaltung von und Visionen für die Zukunft in postkolonialer Theorie eher unterbeleuchtet. Vielleicht bildet gerade der Entwicklungsdiskurs, der wie gezeigt zahlreiche Anküpfungspunkte für postkoloniale Kritik bietet, einen Anstoß dafür, über die Frage der Zukunft auch postkolonial-kritisch nachzudenken und dabei religiöse Zukunftsmodelle mit aufzunehmen. Denn die Frage nach Entwicklung, auch und gerade mittels technischem Fortschritt, ist seit jeher und viel weitreichender und kritischer, als der religious turn in der Entwicklungspolitik mit seinem funktionalen Verständnis von Religion vorgibt, mit Religion und Theologie verbunden. Die vielfältigen Inszenierungen des Gegensatzes von
44 Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 340. 45 Ferguson, Decomposing Modernity, 179.
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Glaube und Entwicklung, den die neueren Dokumente der Entwicklungspolitik durch die Integration von Religion in die Entwicklungszusammenarbeit zwar abzuschwächen versuchen, an dessen Grundsätzlichkeit aber festgehalten wird, übersehen die „innige Beziehung“, die zwischen „Glauben und (technischem) Wissen“, zwischen „technische[r] Innovation und Heilshoffnung“ besteht.46 Hartmut Böhme hat in seinem Aufsatz „Zur Theologie der Telepräsenz“ auf die innige Beziehung zwischen Cyberspace und Theologie hingewiesen und Cyberspace als „die aktuellste Form der Gnosis perennis“ bezeichnet, der es darum geht, aus der Welt auszusteigen, dem Elend der Welt zu entfliehen: „Es sind wilde Transzendenz-Sehnsüchte und keineswegs Problemlösungsstrategien, welche an der Behebung des Weltelends interessiert wären. Der Schrotthaufen Erde und der Madensack des menschlichen Leibes sind vielmehr das Opfer, das dem Ausstieg aus der Bioevolution umso leichter gebracht werden kann, als Erde und Leib insgeheim mit dem religiösen Stigma der Heillosigkeit und der Verdammnis belegt sind.“47
Gleichzeitig zielt, wenn nicht Cyberspace, so doch Entwicklung auf die Verbesserung der Welt und der Lebensbedingungen ab. Entwicklung teilt mit Religion also sowohl die Sehnsucht nach Leiblosigkeit und Freiheit von den als Heillosigkeit gedeuteten Realitäten Krankheit, Tod, Elend, Verfall und Schmerz als auch die Suche nach Lösungen zur Behebung des Weltelends. Der Entwicklungsdiskurs steht nicht Jenseits von Religion und Transzendenz oder der Entzauberung der Welt. Mir scheint, dass angesichts der Dominanz ökonomisch orientierter Entwicklungsziele und Zukunftsvorstellungen ein zentraler Beitrag postkolonialer Theorie darin besteht, gegenläufige, widerständige Zukunftsszenarien transparent zu machen, die neben Weltverbesserung durch Technik und Weltflucht noch weitere Optionen beinhalten und die vielleicht auch weniger als die EineWelt-Rhetorik zu persönlicher Konversion im Sinne der großen Transformation und zu gleichmachenden Entwicklungszielen aufrufen.
46 Johann Schloemann, Gott ist online, Süddeutsche Zeitung Nr. 111, Feuilleton, 14./15./16. Mai 2016, 17. 47 Hartmut Böhme, Zur Theologie der Telepräsenz, in: Frithjof Hager (Hg.): KörperDenken. Aufgaben der historischen Anthropologie, Berlin 1996, 237–249, hier zitiert nach: https://www.hartmutboehme.de/media/Telepraesenz.pdf, 8.