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ReligionsKulturen Herausgegeben von Christian Strecker Regina Ammicht-Quinn Gregor Maria Hoff Andreas Nehring Wolfgang Stegemann Joachim Valentin
Band 11 Die Neuorientierung der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften (cultural turn) setzt ein hohes Potenzial innovativer Forschungsorientierungen frei (cultural studies, gender studies, postcolonial theory, ritual studies u.Ä.). Kultur erscheint dabei als komplexes Konstruktions-, Erinnerungs- bzw. Aneignungsgeschehen und als Handlungsfeld im Rahmen globaler Kämpfe um Bedeutungen und Werte. Vor diesem Hintergrund ergeben sich vielfältige neue Perspektiven für die Wahrnehmung und Deutung religiöser Phänomene und Entwicklungen. Im Bereich der deutschsprachigen Theologie und Religionswissenschaft ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Aufund Umbrüchen ein dringendes Desiderat. Die Reihe „ReligionsKulturen“ will dafür Forum sein. Die Reihe umfasst ·· systematisch und methodologisch orientierte Monographien ·· Aufsatzbände, die die Zusammenhänge wie auch Wechselwirkungen von veränderten religiösen und kulturellen Diskursen und Wissensformen reflektieren ·· Übersetzungen wegweisender Werke aus dem angloamerikanischen und romanischen Sprachraum
Andreas Nehring Simon Tielesch (Hrsg.)
Postkoloniale Theologien Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-022552-7
E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-029468-4
Danksagung
Es war ein langwieriger Prozess, bis dieser Band zur Postkolonialen Theologie erscheinen konnte. Mit ihm liegt nun ein erster Überblick über diesen relativ neuen und im deutschen Sprachraum noch unbekannten Aspekt christlicher Theologie vor. Wir hoffen, damit diese Theologien nicht nur für alle Interessierten leichter zugänglich zu machen, sondern wir wollen auch dazu beitragen, eine Debatte erneut anzustoßen, die die politische Relevanz von Theologie in globaler Perspektive bedenkt. Aus der Vielfalt der inzwischen im Englischen vorliegenden Beiträge zu diesem Theologie- und Theoriefeld haben wir uns bemüht, einige derjenigen auszuwählen, die inzwischen als grundlegend angesehen werden können, aber wir haben auch bewusst einige eher ‚randständige’ Beiträge mit in diesen Band aufnehmen wollen, um deutlich zu machen, wo postkoloniale Theologen und Theologinnen an traditionell gewordene Grenzen stoßen und wie sie darum ringen diese aufzubrechen oder zumindest zu erweitern. Die Realisierung dieses Bandes wäre nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe und Unterstützung vieler. Danken möchten wir zunächst Andrea Ehlers und Christine Pöhnl, die einen Großteil der Beiträge aus dem Englischen übertragen haben; danken möchten wir aber auch vor allem Stefanie Burkhardt, die unermüdlich Fußnoten geprüft, Zitate nachgesehen und Register erstellt hat. Schließlich gilt unser Dank denjenigen Institutionen, die die Herausgabe dieses Bandes auch finanziell unterstützt haben, insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW), der ZantnerBusch Stiftung und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Beim Kohlhammer Verlag bedanken wir uns für die vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit. Die Herausgeber Erlangen, den 2. Februar 2013
Inhalt
Andreas Nehring und Simon Tielesch Theologie und Postkolonialismus. Zur Einführung .................................
Biblische Perspektiven
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..............................................................
46
R. S. Sugirtharajah Konvergente Trajektorien? Befreiungshermeneutik und postkoloniale Bibelkritik ...................................................................
51
Fernando F. Segovia Grenzüberschreitendes Interpretieren. Postkolonialismus-Studien und Diaspora-Studien in historisch-kritischer Bibelexegese ....................
70
Musa W. Dube Postkolonialität, Feministische Räume und Religion ...............................
91
Kwok Pui Lan Farbcodierung für Jesus. Ein Interview mit Kwok Pui-lan ...................... 112 R.S. Sugirtharajah Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation ....................................................................... 123
Identität – Hybridität – Diaspora
......................................... 145
Mayra Rivera Rivera Ränder und die sich verändernde Spatialität von Macht. Einführende Notizen ................................................................................ 149 Vítor Westhelle Offene Ränder. Repräsentation, Hybridität und Transfiguration ............. 165
8
Inhalt
Michael Nausner Heimat als Grenzland. Territorien christlicher Subjektivität ................... 187 Namsoon Kang Wer oder was ist asiatisch? Eine postkoloniale theologische Lektüre über Orientalismus und Neo-Orientalismus ............................................. 203
Option für die Ränder
................................................................ 221
David N. Field Über das (Wieder-)Zentrieren der Ränder. Eine Euro-Afrikanische Perspektive auf die Option für die Armen ......... 225 Catherine Keller Die Liebe im Postkolonialismus. Theologie in den Zwischenräumen des Empire ....................................... 251 Mark Lewis Taylor Subalternität und Fürsprache als Kairos für die Theologie ...................... 276 Marion Grau Göttlicher Handel. Eine postkoloniale Christologie für die Zeiten des neokolonialen Empires ................................................ 300 Kwok Pui Lan Die Verbindungen herstellen. Postkolonialismus-Studien und feministische Bibelinterpretation ........... 323 Weiterführende Literatur ......................................................................... 347 Register .................................................................................................... 353 Autorenverzeichnis .................................................................................. 357
Theologie und Postkolonialismus. Zur Einführung Andreas Nehring/Simon Tielesch
Warum Postkolonialismus? Postkoloniale Theologie ist in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten und innovativsten Felder innerhalb der interkulturellen Theologie avanciert. Theologen und Theologinnen aus Asien, Afrika, und Lateinamerika, sowie MigrantInnen in der Diaspora in den USA und England haben begonnen, die Konstruktionen postkolonialer Identitäten in ihren Ländern sowie in der Diaspora auch theologisch zu reflektieren. Dabei nehmen sie vermehrt Bezug auf kulturwissenschaftliche Diskurse, die unter dem Begriff ‚Postcolonial Studies’ gefasst werden und die in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen akademischen Raum langsam aber stetig an Bedeutung gewonnen haben. Postkoloniale Studien und postkoloniale Theorien spielen bei uns zwar keineswegs in allen Bereichen der geisteswissenschaftlichen Forschung die Rolle, die sie inzwischen vor allem in den USA und Großbritannien, aber auch in zahlreichen Ländern der südlichen Hemisphäre eingenommen haben, aber sie haben doch so viel Einfluss, dass in den letzten Jahren einige der wichtigsten Texte der Protagonisten dieser Forschungsrichtung ins Deutsche übersetzt worden sind.1 Postkoloniale theologische Entwürfe sind dagegen bislang bei uns weitgehend unbekannt geblieben und werden in den wissenschaftlichen Diskursen so gut wie überhaupt nicht rezipiert, was nicht nur daran liegt, dass sie vornehmlich in Englisch publiziert worden sind. Es ist auch eine implizite oder sogar explizit artikulierte Kritik an europäischer Theologie, die in diesen theologischen Entwürfen zum Ausdruck kommt, die bei uns und von uns nur ungern gehört wird, und die dazu beigetragen hat, dass postkoloniale Theologien oftmals als für unseren Kontext irrelevant und daher als vernachlässigenswert eingestuft werden. Mit dem vorliegenden Band werden erstmals einige Ansätze dieser Theologierichtung in deutscher Sprache vorgestellt. Der Band soll als Einführung in ein weitgehend unbekanntes theologisches Feld dienen und ist zugleich ein Versuch, eine Verbindung der deutschsprachigen Theologie mit einem innovativen Bereich der englischsprachigen Forschung und Theologie herzustellen. Darüber hinaus wollen wir mit der Veröffentlichung der vorliegenden Beiträge darauf hinweisen, dass sich gerade über kulturwissenschaft1
So Aufsätze von Homi Bahbha, ein wichtiger Text von Gayatri Spivak, das Hauptwerk von Dipesh Chakrabarti, ein sehr einflussreiches kleines Buch von Ashis Nandy sowie die meisten Schriften von Edward Said (siehe Literaturverzeichnis).
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liche Fragestellungen, die in den Postkolonialen Theologien aufgenommen worden sind, interessante Perspektiven ergeben, die die Relevanz von Theologie über den kirchlichen Raum hinaus auch in gesellschaftliche Kontexte hinein aufzeigen.
Vermischungen Wie sehr sich Deutschland in den letzten Jahren verändert hat, lässt sich anschaulich mit einem Blick auf den „Integrationsspot“ der deutschen Fußballnationalmannschaft feststellen: Ein schöner Sommernachmittag im Garten. Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, auffällig geschminkte Frauen neben solchen mit dezentem Kopftuch, bringen eine Vielfalt der unterschiedlichsten Speisen mit und unterhalten sich angeregt. Plötzlich entsteht eine Aufregung und alle strömen schnell in das große Haus, das nun in den Blick gerät. Gerade noch rechtzeitig versammeln sie sich alle vor dem Fernseher, um den Beginn eines Fußballspiels mitzuverfolgen. Als die deutsche Nationalmannschaft zur Nationalhymne Aufstellung bezieht, wird gefragt: „Was haben diese Menschen gemeinsam?“ „Ihre Kinder spielen in der deutschen Fußballnationalmannschaft!“ Der Werbespot will deutlich machen, dass es sich bei den ganz unterschiedlichen Menschen jeweils um Angehörige der Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft handelt.2
Spieler wie Mesut Özil, Sami Kedhira oder Jerôme Boateng stehen stellvertretend für eine neue Generation von Menschen, die Erfahrungen von Migration, Pluralität und Fremdheit in ihrer engsten Familie aufweisen und die die gesellschaftliche Debatte um Integration und Multikulturalismus in Deutschland verändert und vorangebracht haben. An ihnen, aber auch an vielen anderen Beispielen lässt sich zeigen, wie sehr sich in den letzten Jahrzehnten mit der Globalisierung der Warenwelt auch ein neues Verständnis von globaler Kultur und Pluralisierung ausgebreitet hat. Dieses lässt sich mit dem Leitbegriff der ‚Vermischung’ nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern auch an den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Plätzen und Allgemeinplätzen aufzeigen.3 In der Grenzüberschreitung scheint ein Wesenszug unserer Zeit zu liegen. In die Generation von Internet und Genforschung passt auch ein Programm wie der ‚weltwärts’ - Freiwilligendienst, über den jedes Jahr tausende junge Menschen in Hilfsprojekten auf der ganzen Welt mitarbeiten und so Erfahrungen sammeln, die sie oftmals nur schwer in ihr bisher erlerntes Weltbild einfügen können, und die sie vielleicht auch für ihr weiteres Leben nachhaltig beeinflussen. Eine solche Schlüsselerfahrung kann das Gefühl der Fremdheit sein, das mit Robert Young ganz am Anfang von dem steht, was sich mit Postkolonialismus beschreiben lässt. Er unterscheidet zwischen zwei Arten von weißen Menschen: jenen, die noch nicht die Erfah2 3
http://www.youtube.com/watch?v=T3m4c8j780E (25.5.2012). Siehe auch Mark Terkessidis, Globale Kultur in Deutschland. oder: Wie unterdrückte Frauen und Kriminelle die Hybridität retten. http://parapluie.de/archiv/generation/ hybrid/, 1-14. (30.6.2012).
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rung gemacht haben, dass sie sich in einer Situation befanden, in der sie als Menschen weißer Hautfarbe nicht in der Mehrheit waren und jenen, die die Erfahrung gemacht haben, eine Minderheit darzustellen, als Minorität irgendwo zu leben, nicht der Norm zu entsprechen und nicht dazu befähigt zu sein, sich wie selbstverständlich ausdrücken zu können.4 Diese Erfahrung ist aber nicht nur auf Individuen und einzelne Situationen beschränkt, sondern sie lässt sich auch auf ganze Länder und Völker übertragen. Für einen Großteil der Völker aus der südlichen Hemisphäre und für Menschen, die aus politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Gründen ihre Länder verlassen und in der Diaspora neue Lebensräume finden mussten, ist das allerdings eine Erfahrung, die mit der Dominanz zusammenhängt, die ‚der Westen’ in der modernen Geschichte und Kultur vieler Gesellschaften eingenommen hat und die sich aus kolonialen Herrschaftsformen oder aus wirtschaftlicher Überlegenheit im Prozess der Globalisierung ableitet. Mit diesen Erfahrungen, ihrer Reflexion und den unterschiedlichsten Reaktionen und Situationen, die sich daraus ergeben, beschäftigt sich die Postkolonialismus-Forschung. Das kann aber, gerade aufgrund der Brisanz dieser Erfahrungen, kein rein akademisches Unternehmen bleiben, sondern es handelt sich hier um eine Forschungsrichtung, die nach Möglichkeiten einer veränderten und verändernden Praxis fragt. Auf eine einfache Formel gebracht, geht ‚Postkolonialismus’ dem Phänomen des Anderen nach und den Fragen, wie darüber gesprochen werden kann und wer für wen die Stimme erhebt.
Deutschland Postkolonial? Die politische Debatte um Deutschland als Einwanderungsland hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Statt darüber zu diskutieren, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht, steht nun im Fokus der Diskussion, wie und unter welchen Umständen Integration gelingen kann. Dass dieses Thema stets auch emotional diskutiert wird, wird vor allem dann deutlich, wenn die politische Diskussion um eine religiöse Komponente erweitert wird. Ein Paradebeispiel dafür scheint die Diskussion um den Bau von Moscheen und Minaretten in deutschen Groß- und Kleinstädten zu sein, die auf der einen Seite immer wieder die Bildung von ausländer- und islamfeindlichen Gruppen hervorbringt, andererseits aber auch eine neue Offenheit und religionsübergreifende Solidarität entstehen lässt. Eine Frage, die sich anhand solcher symbolischen Politik stets stellt, ist die nach Identität. Oftmals verläuft der Umgang damit entlang der Trennlinien von ‚wir’ und ‚die anderen’ - wir Deutschen, Einheimischen, gegen die Neuen, die ‚uns’ fremd und bedrohlich scheinen. Und das wird dann hin und wieder auch in schönere Worthülsen verpackt, etwa als eine Forderung, dass ‚wir’ den Dialog mit den Muslimen suchen müssen. Dass diese klare Trennung zunehmend absurde 4
Robert J.C. Young, Postcolonialism. A very short Introduction, Oxford 2003, 1.
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Züge annimmt, darauf hat Navid Kermani in mehreren kurzen, klugen Essays aufmerksam gemacht, wenn er beispielsweise fragt, mit wem sich deutsche Muslime unterhalten sollen, wenn wieder einmal gefordert wird, dass die Deutschen stärker in einen Dialog mit Muslimen treten sollen.5 Wie sehr der Islam zu Deutschland gehört, wird immer wieder dann besonders deutlich, wenn genau darüber die öffentliche Diskussion geführt wird, wie kürzlich anlässlich von entsprechenden Äußerungen des Bundespräsidenten. Doch ist dies nicht die einzige Infragestellung festgelegter Identitäten, die in den letzten Jahren in das öffentliche Bewusstsein gespült worden ist. Betrachtet man die Zahlen der weltweiten Verteilung des Christentums, so fällt auf, dass es im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu bedeutenden Verschiebungen gekommen ist. Während um 1900 noch etwa 65% der Christinnen und Christen in Europa und Nordamerika gelebt haben, so betrug dieser Wert am Ende des 20. Jahrhunderts gerade noch 35%.6 Der Historiker Philip Jenkins spricht daher von ‚The Next Christendom’ und dem Aufkommen eines ‚Globalen Christentums’7. Diese zahlenmäßige Verschiebung, die sich seit einigen Jahrzehnten vollzieht, die bei uns aber erst in den letzten Jahren wirklich wahrgenommen worden ist, die sich aber bisher so gut wie nirgendwo in der theologischen Ausbildung in Deutschland praktisch niederschlägt, konnte jedoch theologisch nicht ohne Widerhall bleiben. Der europäische und nordamerikanische Anspruch, dass nur in diesen (ehemaligen) Zentren der Christenheit universale Theologie betrieben werden könne, gerät zunehmend ins Wanken. Zwar zeigt sich an der Bezeichnung ‚Kontextuelle Theologie’, die bisher allerdings nur für Theologien aus Ländern der Zweidrittelwelt gebraucht wird, dass langsam ein Umdenken begonnen hat, doch ist damit eine Entwicklung angebrochen, die weiterreichende Konsequenzen auch für theologisches Denken und Forschen in Europa und Nordamerika haben wird. Eine solche Konsequenz ist die schon jetzt zu beobachtende Pluralisierung der Theologie. Konzeptionell lässt sich dies an dem Band Voices from the Margins (Stimmen von den Rändern) zeigen, der Anfang der 90er Jahre von dem in der Diaspora in Birmingham lehrenden srilankesischen Theologen R.S. Sugirtharajah herausgegeben worden ist und in dem exemplarisch ein Bild der Neuaufbrüche und der verschiedenen Stimmen von den Rändern des Diskurses versammelt ist.8 Das globale ‚Wir’ der Christenheit lässt sich nicht mehr aus London, Tübingen oder New York alleine sprechen, sondern ist um eine Vielzahl unterschiedlicher Stimmen zu ergänzen. Dass der Prozess dieser Ergänzung und Erweiterung nicht problemlos verlaufen ist und viele Fragen offen geblieben sind, lässt sich an einem Nachfolgeband zeigen, der fünfzehn Jahre nach den Voices from the Margins erschienen ist und den 5 6
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Siehe Navid Kermani, Wer ist wir?. Deutschland und seine Muslime, München 2009, 27. Siehe Fernando F. Segovia, Interpreting beyond Borders. Postcolonial Studies and Diasporic Studies in Biblical Criticism, in: Interpreting beyond Borders, hg. v. ders., Sheffield 2000, 11-35, hier: 21. Philip Jenkins, The Next Christendom. The Coming of a Global Christianity, Oxford 2002. Siehe R.S. Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll ³2006.
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nachdenklich stimmenden Titel Still at the Margins (Noch immer an den Rändern) trägt. Er enthält kritische Anmerkungen zu den Fragen, wer für wen spricht, wer im globalen Kampf um Aufmerksamkeit wahrgenommen wird und wie die akademische Theologie systematisch bestimmte Ansätze und Forschungsfragen ausblendet.9 In der Debatte um Postkolonialismus geht es also - um ein erstes Zwischenergebnis festzuhalten - darum, die Aufmerksamkeit dafür zu schärfen, wie die Anderen dargestellt werden, welche Auswirkungen diese Darstellungen für Selbst- und Fremdbild dieser Dargestellten haben und wie sich Bilder vom Anderen in Machtbeziehungen, politischen Strukturen und wirtschaftlicher Dominanz niederschlagen. Und andererseits fragen postkoloniale Studien kritisch danach, wer für wen spricht, wer die Stimme erhebt und erheben kann, und danach, wer zum Schweigen gebracht wird oder nie eine Chance bekommt, überhaupt gehört zu werden, wie sich Autoritäten ausbilden, wer also in öffentlichen und privaten Diskursen dominiert. Diese ersten Beobachtungen sollen nun um eine ausführlichere Analyse des Begriffs des Postkolonialismus, seiner Werkzeuge und seiner Verbindung mit Theologie erweitert werden. Wir werden in dieser Einführung auch auf einige theoretische Aspekte eingehen, die in der Postkolonialismus-Forschung eine wichtige Rolle spielen und deren Kenntnisnahme auch für ein besseres Verständnis postkolonialer theologischer Entwürfe hilfreich ist. Wir stützen uns dabei unter anderem auf zahlreiche Überblicksdarstellungen des Postkolonialismus, die in den letzten Jahren erschienen sind.10
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Siehe R.S. Sugirtharajah (Hg.), Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, New York 2008. Einen guten Überblick bietet das Buch: Maria Do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. Eine weitere Einführung ist: Ina Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012. Kürzlich erschienen ist ein Sammelwerk: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, hg. v. Julia Reuter und Alexandra Karentzos, Wiesbaden 2012, das zentrale Positionen vorstellt; und ausgewählte Aufsätze, die ins Deutsche übersetzt worden sind, bieten: Elisabeth Bronfen / Benjamin Marius / Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997; Sebastian Conrad / Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002. Von den englischsprachigen Einführungen, auf die wir uns hier beziehen, sind zu empfehlen: Robert J. C. Young, Postcolonialism. A very short Introduction, Oxford 2003; Bart Moore Gilbert, Postcolonial Theory. Contexts, Practices, Politics, London 1997; Ania Loomba, Colonialism/Postcolonialism, London / New York 1998; John McLeod, Beginning Postcolonialism, Manchester 2000; Leela Gandhi, Postcolonialism. A Critical Introduction, New Delhi 1998; Bill Ashcroft / Garreth Griffiths / Helen Tiffin, The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literature, London / New York 1989.
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Postkolonialismus im Kontext Ania Loomba fragt in ihrer Einführung in den Postkolonialismus, was eigentlich neu sei an der postkolonialen Art und Weise, über Kolonialismus und seine Folgen zu diskutieren. Sie argumentiert, dass es notwendig sei, postkoloniale Studien innerhalb zweier großer Kontexte zu platzieren, die sich gegenseitig überschneiden. Der erste ist die Geschichte der De-Kolonisierung, die zu einem wesentlichen Teil davon geprägt ist, dass sich Intellektuelle und Aktivisten gegen die kolonialen Strukturen und gegen die Herrschaft des Westens aufgelehnt haben und die zugleich auch diejenigen Konzepte, durch die koloniale Herrschaft legitimiert worden war, wie bestimmte Vorstellungen von Rasse, Kultur, Sprache und Klasse, hinterfragt und revidiert haben, um ihre eigenen Stimmen vernehmbar zu machen.11 Den zweiten Kontext, innerhalb dessen der gegenwärtige Diskurs über Geschichte und Auswirkungen des Kolonialismus geführt wird, sieht Loomba in einer radikalen Veränderung innerhalb der Geschichte des westlichen Denkens, die sich in einer vertieften Reflexion darüber ausdrückt, „wie Sprache funktioniert und wie sie Erfahrung artikuliert, wie Ideologie wirkt und wie menschliche Subjektivität geformt ist, aber auch, was wir eigentlich unter Kultur verstehen.“12 In Debatten um postkoloniale Theorie und kritische Praxis werden diese beiden Kontexte manchmal gegeneinander gestellt und es wird behauptet, dass sie sich letztlich ausschließen. Aber wir wollen hier der These von Ania Loomba insofern folgen, als wir betonen, dass es unmöglich ist, die gegenwärtigen Debatten in den postkolonialen Theologien zu verstehen, wenn man nicht gewillt ist, zu sehen, welche Verbindungen zwischen diesen beiden Kontexten bestehen oder entwickelt worden sind. Wenn auch nur in Ansätzen, wollen wir einen Überblick über die zentralen Gebiete der Debatte geben und über die innovativen Konzepte, die für eine Analyse des Kolonialismus wichtig geworden sind.
Antikoloniale Kritik Postkoloniale Studien sind entstanden als ein literaturgeschichtliches Forschungsfeld, in dem die textlichen, historischen und kulturellen Ausdrucksformen von Gesellschaften untersucht wurden, die durch die geschichtliche Realität der kolonialen Präsenz in ihrem Kulturraum verändert, verstört und auch zerstört worden sind. In dieser Hinsicht war Postkolonialismus in der Anfangszeit, als der Begriff aufkam, eigentlich nicht mit einer weitreichenden Theoriebildung verknüpft, sondern wurde verstanden als Ausdruck einer kreativen Literatur - Salman Rushdie und J.M. Coetzee gelten als prototy11 12
So und zum Folgenden Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 20ff. Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 20.
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pisch - und als ein Widerstandsdiskurs, der aus den früheren Kolonien der westlichen Mächte hervorgegangen ist. Wurde also mit ‚postkolonial’ ursprünglich in der Literaturwissenschaft die Auseinandersetzung mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern und Literatur der Länder des Commonwealth bezeichnet, so erfuhr der Begriff ab Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine umfassende interdisziplinäre Ausdehnung und kann als „Widerstandsform gegen die koloniale Herrschaft und ihre Konsequenzen betrachtet werden“13. Eine solche Sichtweise ist eng verknüpft mit den Befreiungskämpfen, die in den ehemaligen Kolonien stattgefunden haben und weist auf die Bedeutung dieser Erfahrungen für den ganzen Bereich des Postkolonialismus und der postkolonialen Kritik hin. Doch ist dies nur ein Aspekt von Postkolonialismus. Eine andere Definition sieht Postkolonialismus und Postkolonialität als „heilsame Erinnerung an die andauernden ‚neokolonialen Beziehungen’ innerhalb der ‚neuen‘ Weltordnung und der multinationalen Arbeitsteilung. Eine derartige Perspektive ermöglicht es, Geschichten der Ausbeutung mehr Authentizität zu verleihen und Strategien des Widerstands zu entwickeln.“14 Eines der bedeutendsten Dokumente des frühen antikolonialen Kampfes in den 1950er Jahren war Aimé Césaires ‚Discours sur le Colonialisme’ (deutsch: Über den Kolonialismus),15 der die Brutalitäten des kolonialen Regimes in einer Terminologie beschreibt, die aufzeigen will, dass Kolonialismus nicht nur ausbeutet, sondern enthumanisiert und objektiviert und dass die kolonialen Subjekte durch koloniale Herrschaft degradiert werden. Césaire spricht in diesem Zusammenhang von Verdinglichung. Aimé Césaire war einer der Begründer der Négritude-Bewegung, die vor allem den kulturellen Antagonismus zwischen Europa und seinem Anderen hervorgehoben hat. Dem Konzept der Négritude somit eingeschrieben ist vor allem Differenz und Distanz. Aimé Césaires Ziel war es, in einer systematischen Verteidigung der nichteuropäischen Zivilisationen aufzuzeigen, dass diese ganz anders strukturiert seien als Europa, nämlich gemeinschaftlich, antikapitalistisch, demokratisch und kooperativ und dass sie, bevor sie von Europa besetzt worden sind, auf anderen Werten aufgebaut waren, die die europäischen 13 14
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Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 24. Vgl. Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 16. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2001, 9. Eine weitere Definition findet sich bei R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London 2003, 15: „It is a critical enterprise aimed at unmasking the link between idea and power, which lies behind Western theories and learning. It is a discursive resistance to imperialism, imperial ideologies, imperial attitudes and their continued incarnations in such wide-ranging fields as politics, economics, history and theological and biblical studies.“ Eher philosophisch definiert Stuart Hall den Postkolonialismus als „Übergang von einer Konzeption der Differenz zu einer anderen […], von der Differenz zur différance; und es ist eben dieser Wandel, der den periodischen oder unregelmäßigen Übergang zum ‚Postkolonialismus‘ kennzeichnet.“ Stuart Hall, Wann war „der Postkolonialismus“?. Denken an der Grenze, in: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hg. v. Elisabeth Bronfen / Benjamin Marius / Therese Steffen, Tübingen 1997, 219-246, hier 227. Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Bielefeld 1968.
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Kolonisatoren von Grund auf zerstört haben. Dieser Zugang hatte enorme Folgen für ein neues kulturelles und auch religiöses Selbstverständnis und für religiös motivierte nationale Bewegungen. Ein Großteil der sogenannten ‚Kontextuellen Theologien’, die in Afrika und Asien in den 1960er Jahren und in den folgenden Jahrzehnten entstanden sind, ist diesem Rekurs auf vorkoloniale kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Identität und Integrität verpflichtet gewesen. Postkoloniale theologische Entwürfe, wie wir sie in diesem Band vorstellen, zeichnen sich dagegen unter anderem gerade durch ihre Distanz zu solchen ‚essentialistischen’ Konstruktionen aus. Ein anderer berühmt gewordener Kritiker des Kolonialismus war der Martiniquianer Frantz Fanon, der als Arzt und Psychoanalytiker in Algerien arbeitete und dort in den Unabhängigkeitskampf gegen die Franzosen involviert wurde. Fanon hat in seinen in viele Sprachen übersetzten und breit diskutierten Büchern Die Verdammten der Erde und Schwarze Haut, Weiße Masken aus den 1950er Jahren besonders den entmenschlichenden Aspekt des Kolonialismus hervorgehoben, um so die Differenz und sogleich die Abhängigkeit zwischen Europa und den kolonisierten Menschen aufzuzeigen: „Jedes kolonisiertes Volk, d.h. jedes Volk, in dem ein Minderwertigkeitskomplex entstanden ist, weil die lokale kulturelle Eigenart zu Grabe getragen wurde, situiert sich im Hinblick auf die Sprache der zivilisatorischen Nation, d.h. der Kultur der Metropole.“16
Man könnte sagen, dass das postkoloniale Projekt mit Frantz Fanons Kritik am Kolonialismus begonnen hat. Seine Werke sind einerseits eindrucksvolle Manifeste der Kritik am Kolonialismus und am Prozess der Entkolonialisierung und zugleich sind sie Ausgangspunkt für eingehende Analysen der Auswirkungen des Kolonialismus auf die kolonisierten Völker und ihre Kulturen. Seine Kritik an Europa beschränkt sich nicht auf die gewalttätige Geschichte der kolonialen Ausbeutung, denn die tiefgreifendsten Auswirkungen des Kolonialismus liegen darin, dass die Eingeborenen durch die Haltung der Europäer ihnen gegenüber enthumanisiert worden sind, ein Prozess, der aber paradoxerweise seinen Gegenpart gerade in den Werten des westlichen Humanismus findet, der nun von Fanon attackiert und in seiner Verlogenheit bloßgestellt wird: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen eines angeblichen ‚geistigen Abenteuers’ fast die ganze Menschheit erstickt.“17
De-kolonialisierung, so der Ansatz von Frantz Fanon, die begonnen hat, die Weltordnung zu verändern, ist offensichtlich ein Programm der totalen Unordnung und zwar einer Unordnung, die auch in den Werten, die mit dem europäischen Humanismus verbunden sind, um sich gegriffen hat. Fanon wirft dem europäischen Humanismus vor, tief in die gewalttätigen Auswir16 17
Frantz Fanon, Schwarze Haut, Weiße Masken, Frankfurt a. M. 1985, 15. Frantz Fanon, Die Verdammten der Erde, Frankfurt a. M. 1969, 239.
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kungen des Kolonialismus involviert gewesen zu sein, indem er vor allem einen zentralen Anteil an der kolonialen Ideologie gehabt hat. Die Formierung von Ideen einer menschlichen Natur, überhaupt von Menschlichkeit und universalen Qualitäten des menschlichen Geistes, die als die gemeinsame Grundlage europäischen ethischen Denkens artikuliert worden waren, hat stattgefunden in einer Zeit, in der der westliche Kolonialismus sich auf seinem Höhepunkt befand. Das Ergebnis dieses Humanismus war, dass andere Menschen und ganze Völker ent-humanisert worden sind, indem ihre Traditionen ausgewischt wurden, als man sich anschickte, ihre Sprache durch eine europäische Sprache zu ersetzen und ihre Kulturen als minderwertig zu degradieren oder gar zu zerstören, ohne ihnen die positiven Werte westlicher Kulturen wirklich vermitteln zu können. An Frantz Fanons Humanismuskritik wird bereits ein wichtiger Aspekt postkolonialer Kritik deutlich. Die Auseinandersetzung mit den Strukturen des Kolonialismus mag als eine marginale Tätigkeit erscheinen, wenn man sie in Relation zu den wesentlichen Strömungen, die sich innerhalb von Kulturtheorien mit politischen Fragen beschäftigen, betrachtet. Postkolonialismus könnte dann verstanden werden als ein Spezialgebiet für Interessierte an einem bestimmten Bereich der Erde und an einer bestimmten Phase der Geschichte des Kulturkontaktes. Aber obwohl Postkolonialismus sich mit den geographischen Rändern der europäischen Kultur beschäftigt, ist seine Strategie doch darauf gerichtet, das ‚Zentrum’ zu erreichen und in der Kritik europäisches Denken radikal umzustrukturieren, insbesondere das europäische Verständnis von Geschichte und Kultur. Es geht dabei nicht nur darum, eine Kritik am Kolonialismus als abnormem Auswuchs der europäischen Kultur zu formulieren, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie weit europäische Kultur und Kolonialismus miteinander verflochten sind. Es geht also nicht darum, koloniales Denken von dem europäischen Denken zu entfernen, es sozusagen gewissermaßen zu reinigen, sondern damit verbunden ist auch der Anspruch, das europäische Denken neu zu positionieren, und zugleich aufzuzeigen, dass es eine lange gemeinsame Geschichte gibt, in der sich Europa überhaupt erst als das Andere der Kolonien ausgebildet hat. Frantz Fanon hat daher formuliert, Europa sei „eigentlich ein Geschöpf der Dritten Welt“ und der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat gefordert, Europa zu „provinzialisieren“ und die Ausbildung von Europa in der Beziehung zum Rest der Welt zu relativieren.18 So etwas wie Antikolonialismus oder Kritik am Kolonialismus ist natürlich nicht nur das Ergebnis eines neuen, kritischeren Denkens unserer Zeit, sondern die Sympathie für die Unterdrückten, für die Anderen, und das Drängen nach Entkolonialisierung ist so alt, wie der Kolonialismus selbst. Kritik hat es immer gegeben. Was neu ist in der postkolonialen Theoriebewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat, also zu einer Zeit, 18
Frantz Fanon, Das kolonialisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1986; Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. v. Sebastian Conrad / Shalini Randeria, Frankfurt a. M. 2002, 283-312.
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in der sich die De-kolonisierung der europäischen Reiche vollzog, ist der Versuch, das europäische Denken, europäische Geschichtsschreibung, europäische Literatur, europäische politische Konzeptionen u.a. neu und kritisch zu verorten. Darin unterscheidet sich Postkolonialismus von Kritik am Kolonialismus, und die kulturelle Krise, die dadurch ausgelöst worden ist, ist zu Recht von einigen der TheoretikerInnen des Postkolonialismus in einer gewissen Nähe zu dem gesehen worden, was man unter dem Begriff ‚Postmoderne’ zusammengefasst hat. Während aber auf den ersten Blick klar zu sein scheint, was mit ‚Kolonialismus’ gemeint ist, so bleibt ‚Postkolonialismus’ auch bei genauerem Hinsehen ein unscharfer Begriff.19 Es lässt sich nämlich fragen, ob das ‚Post-‘ in Postkolonialismus tatsächlich das gleiche ‚Post-’ ist, das auch im Begriff Postmoderne zu finden ist. Außerdem lässt sich dieses ‚Post-’ sowohl zeitlich verstehen, als auch als eine Infragestellung des Kolonialismus, bzw. eine Position, die den Kolonialismus abzulösen versucht. Eine genauere Verortung der Geschichte des Begriffs wurde daher nötig und der Historiker Robert J.C. Young hat dazu im Jahr 2001 ein monumentales Werk vorgelegt.20 Es existieren also bereits innerhalb des Begriffs zahlreiche Spannungsfelder, die weiter unten ausführlicher zu diskutieren sind.21 Wir wollen uns hier nur auf zwei weitere Aspekte beschränken, um das Feld postkolonialer Forschung und Kritik in einen breiteren Kontext einzuordnen: die Ideologiekritik und die Cultural Studies.
Postkolonialismus und Ideologiekritik Eine Frage, die postkoloniale KritikerInnen bewegt, ist, wie es geschehen konnte, dass die Kolonisierten an einem bestimmten Punkt und bis zu einem bestimmten Grad die Ideologie der Kolonialherren selbst angenommen haben. In der Religionswissenschaft, aber auch in der Missionswissenschaft und in der Interkulturellen Theologie ist diese Frage bisher viel zu wenig und in ihren theologischen Dimensionen überhaupt erst in Ansätzen beachtet worden.22 Ideologie bezieht sich nicht, wie oftmals angenommen wird, nur auf politische Ideen. Ideologie schließt alle unsere geistig-mentalen Strukturen ein, und damit auch unsere Religion, unsere Glaubensformen, unsere Konzepte, unsere Art und Weise, wie wir unsere Beziehung zur Welt, zu unseren Mit19
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Man beachte jedoch die unterschiedlichen Ausprägungen des Kolonialismus und seine inhaltliche Differenzierung, die von Osterhammel prägnant aufgezeigt werden. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte-Formen-Folgen, München 62009. Auf die Unschärfe des Begriffs Postkolonialismus weisen Dhawan und Castro Varela hin: Postkoloniale Theorie, 23. Robert J. C. Young, Postcolonialism. An Historical Introduction, Malden 2001. Vgl. zu diesen grundsätzlichen Anfragen und Spannungen besonders, Hall, Postkolonialismus, passim. Zum Folgenden siehe Loomba, Colonialism/Postcolonialism 1998, 25-34.
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menschen und zu Gott ausdrücken. Ideologie ist daher einer der komplexesten Begriffe sozialen Denkens und ist somit auch Gegenstand andauernder, kontrovers geführter Debatten geworden.23 Und trotzdem kann man, so glauben wir, diese Debatten auf einen Punkt zusammenführen, nämlich auf die Frage: Wie können wir darstellen, wie unsere sozialen Ideen und Vorstellungen entstehen? Um postkoloniale Debatten und Theorien besser einordnen zu können, soll daher hier ein kurzer Überblick über ein Theoriefeld gegeben werden, das eine Hintergrundfolie auch für postkoloniale theologische Kritik abgibt. In der Deutschen Ideologie von 1846 haben Karl Marx und Friedrich Engels vorgeschlagen, dass Ideologie vor allem als ein entfremdetes oder falsches Bewusstsein von der Welt zu verstehen ist, das die wirkliche Beziehung von Menschen zu ihrer Welt verstellt. Das sei so, weil die Ideologien, die am weitesten verbreitet sind oder die in einer Gesellschaft an Bedeutung gewinnen, im Wesentlichen die Interessen der dominanten sozialen Klassen reflektieren oder reproduzieren. Karl Marx hat in der Deutschen Ideologie die Metapher der Camera Obscura verwendet, um den Prozess zu verdeutlichen, wie Missrepräsentationen von Wirklichkeit stattfinden. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Camera Obscura als Analogon zum menschlichen Auge betrachtet. Die Camera Obscura wurde ebenso wie die zentralperspektivische Konstruktion durch ihre funktionale Beziehung zur Sehpyramide bestimmt. Das Gesehene wird im wahrsten Sinne des Wortes festgehalten, eingefroren, fixiert und dabei zugleich auf den Kopf gestellt. Das heißt, hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass es einen einzigen Punkt gibt, von dem aus die Unordnung in eine Harmonie geformt werden kann. Die Camera Obscura mit ihrer monokularen Öffnung wurde so zum Begriff für die Perspektivität des menschlichen Subjekts und im gewissen Sinne zur Metapher für die rationalen Möglichkeiten einer/s Betrachterin/s in einer sich stets verändernden Welt. Auch wenn das Prinzip der Camera Obscura seit mindestens 2000 Jahren bekannt war, wurde es im 19. Jahrhundert von Karl Marx und Sigmund Freud verstanden als Inbegriff all jener Verfahren und Kräfte, die die Wahrheit verbergen, auf den Kopf stellen, entstellen und vortäuschen. Karl Marx hat hervorgehoben, dass die Ideen, die uns prägen und unsere Ideologien aus der Welt um uns herum entstehen, dass es somit nicht das Bewusstsein sei, das das Leben determiniere, sondern im Gegenteil das Leben das Bewusstsein determiniere. Alle unsere Ideen, auch unsere Vorstellungen von uns selbst, kommen aus der Welt, in der wir leben. Und diese Welt unter dem Eindruck des Kapitalismus ermöglicht eine ganze Reihe von Illusionen. Das Kapital hat die Kraft, die Wirklichkeit zu verwirren und geradezu umzudrehen. Wenn unsere materiellen Bedingungen der Schlüssel für unsere Ideen sind, dann können die Ideen sich nicht ändern, wenn sich nicht auch die materiellen Bedingungen ändern. Wenn aber die Wirklichkeit selbst uns dazu führt, eine verdrehte Vorstellung von ihr zu haben, ist es dann überhaupt möglich, subversive Ideen zu entwerfen oder die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind? Es war der Ausdruck ‚falsches Bewusstsein’, der als der angenommene 23
Vgl. dazu Jan Rehmann, Einführung in die Ideologietheorie, Hamburg 2008.
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Grund für ideologische Verzerrung der Wirklichkeit, auch und gerade in der Religion, weitere Debatten ausgelöst hat, die gerade auch für die Theologie von Bedeutung sind. So hat Stuart Hall den Ausdruck ‚falsches Bewusstsein’ insofern kritisiert, als er sowohl die Beherrschten als auch die Herrscher, „wie erklärte Deppen aussehen [lässt]“, und den Kritikern die Illusion vermittelt, „ohne Illusionen zu leben“.24 Es war vor allem das Werk des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci (1891-1937), das es möglich gemacht hat, anders über Ideologien zu denken und vor allem darüber, wie sie verschiedene Klassen überschneiden und überschreiten können und auch darüber, dass innerhalb einer Klasse unterschiedliche Ideologien, manchmal sogar sich widersprechende Ideologien bestehen können. Gramsci unterschied in seinen ‚Gefängnistagebüchern’, in denen er zwischen 1929 und 1935 seine Gedanken entwickelt hat, zwischen verschiedenen Arten von Ideologien. Zwar könne Ideologie einerseits dazu beitragen, soziale Bindungen zu fixieren und die dominanten Interessen zum Ausdruck zu bringen, andererseits gäbe es aber auch Ideologien, die den Protest derjenigen zum Ausdruck bringen, die unterdrückt werden. Die Unterdrückten, die er die Subalternen nennt, besitzen, so Gramsci, ein doppeltes Bewusstsein, eines, das sich mit den Machthabern identifiziert und sich sozusagen deren Willen unterwirft und ein Bewusstsein, das fähig ist, Widerstand zu entwickeln. Ideologien sind nach Gramsci immer Orte des sozialen Kampfes und sozialer Auseinandersetzungen. Um die verschiedenen Aspekte innerhalb eines Subjektes einer Klasse hervorzuheben, nimmt Gramsci eine fundamentale Differenzierung zwischen Philosophie und ‚Common Sense’ vor, als den beiden Ebenen, auf denen Ideologie arbeitet. Unter Philosophie versteht er eine besondere Formulierung und Artikulation einer reflektierten Position, während ‚Common Sense‘ andererseits ein praktisches, alltägliches, populäres Wissen der Menschen darstellt. Gramscis Interesse richtet sich nun darauf, zu analysieren, wie dieses allgemeine Wissen, dieser ‚Common Sense’, geprägt wird. ‚Common Sense‘ ist seiner Ansicht nach eine oftmals widersprüchliche Ansammlung von Glaubensweisen und Überzeugungen, die Elemente aus der Steinzeit und Prinzipien fortschrittlicher, wissenschaftlicher Denkweisen miteinander verbindet. Es beinhaltet Vorurteile aus allen Phasen der Geschichte und bildet so ein Amalgam von Ideen, durch die das praktische Bewusstsein der Menschen geformt wird. Gramsci stellt nun fest, und darin unterscheidet er sich wesentlich vom Ansatz von Marx und Engels, dass Ideologien und Klassen sich nicht decken. Damit stellt sich die Frage, warum dann die Ideen der herrschenden Klassen in jeder Epoche der Geschichte auch die herrschenden Ideen geworden sind? Wie werden Menschen dazu gebracht, eine ganz spezifische Ansicht der Dinge zu entwickeln? Die Frage, die Gramsci an die Ideologie stellt, ist daher nicht, ob eine Ideologie richtig oder falsch ist, sondern wie Ideologien ausgetragen werden und wie Menschen dazu gebracht werden, eine Ideologie zu übernehmen. Indem Gramsci versuchte, diese Fragen zu beantworten, ent24
Stuart Hall, Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr, in: PIT 1984, 97-121; 105.
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warf er das Konzept von Hegemonie. Hegemonie, so Gramsci, ist Macht, die erreicht wird durch eine Kombination von Gewalt und Zustimmung. Er war der Ansicht, dass die führenden Klassen die Macht nicht allein durch Gewalt erlangen könnten, sondern auch dadurch, dass sie untergebene Subjekte kreierten, die willentlich zustimmten, regiert und geführt zu werden. Ideologie ist ein zentraler Aspekt, um diese Zustimmung zu kreieren. Es ist das Medium, durch das bestimmte Ideen vermittelt und dann für wahr gehalten werden. Philosophie hat also nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie sich mit dem ‚Common Sense‘ verbindet und daher wird Hegemonie auch nicht erlangt durch direkte Manipulation oder Indoktrination, sondern vor allem dadurch, dass man an dem ‚Common Sense‘ der Menschen ansetzt. Nach Gramsci sind Ideologien daher mehr als nur Reflexionen der materiellen Wirklichkeit, vielmehr sind sie Konzepte, die sich in allen Aspekten des individuellen und kollektiven Lebens manifestieren.25 Es war nicht Gramscis Intention, nur die Bedeutung von Ideologie neu zu definieren, vor allem wollte er verstehen, wie durch Ideologien auch ein sozialer Bereich entsteht, in dem Menschen sich bewegen können, in dem sie ein Bewusstsein von ihrer Position bekommen können und in dem sie auch ein Bewusstsein für Widerstand entwickeln können. Gramscis Ansatz ist für die postkoloniale Forschung in vielerlei Hinsicht sehr einflussreich geworden und er wurde breit rezipiert, vor allem um herauszuarbeiten, wie rassische und kulturelle Differenzen wirken und wie koloniale Regime zwischen Rassen und zwischen religiösen, kulturellen und sozialen Gruppen unterscheiden, sie aber gleichzeitig in ein allgemeines, alles umfassendes System einschließen konnten. Vor allem HistorikerInnen des Postkolonialismus sind zunehmend daran interessiert, herauszufinden, wie koloniale Regime Macht erlangen konnten, indem sie teilweise Zustimmung zu ihrer Herrschaft kreiert haben und wie sie die kolonisierten Menschen, die Einheimischen, dazu gebracht haben, in den entstehenden Nationen und Staaten so mitzuarbeiten, dass sie selber an den politischen Strukturen bauten, die sie unterdrückten. Für die Theologie ergeben sich hier wichtige Ansatzpunkte in der Frage, wie Menschen anderer Religionen und Kulturen ein missionarisches Christentum der Europäer für sich annehmen konnten, was sie davon übernommen haben und wo sie Formen entwickelt haben, in denen Widerstand gegenüber den westlichen Missionaren möglich geworden ist. Solche hegemonialen Transformationsprozesse werden inzwischen zunehmend als ein zentraler Aspekt kolonialer Macht angesehen und die Analyse kolonialer Strukturen verlagert sich von einer Kritik am Eurozentrismus und Orientalismus hin zu Fragen nach Dialog, Austauschmechanismen und transkulturellen Neuformulierungen von Strukturen, Institutionen und Ideen. Religiöse Reformbewegungen, die im 19. Jahrhundert nahezu in allen kolonialen Kontexten entstanden sind, können unter dieser Perspektive gesehen werden ebenso wie theologische Aufbrüche, Ansätze von einheimischen Theologien und Bildung von unabhängigen, das heißt von einem europäisch-nordamerikanisch geprägten Missionschristentum losgelösten, Kirchen, vor allem in Afrika, aber 25
Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 29.
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auch in vielen Ländern Asiens und Lateinamerikas. Vor allen Dingen wird Gramscis Konzept der Ideologie und sein Verständnis von Subjektivität von denjenigen, die die kolonialen Gesellschaften heute analysieren, als zentral zum Verständnis kolonialer Strukturen angenommen.
Postcolonial Studies und Cultural Studies Postkolonialismus als eine methodische Kategorie und als ein Begriff mit komplexen theoretischen Implikationen, der sich zwar aus dieser kritischen Praxis und aus den ideologiekritischen Ansätzen heraus entwickelt hat, bildete sich erst sehr viel später als eine methodische Kategorie und als ein Begriff mit komplexen theoretischen Implikationen aus. Es waren vor allem zwei Aspekte, die postkoloniale Theorie aus den bisherigen Theorieansätzen aufzunehmen und weiter zu bearbeiten hatte und noch hat: Zum einen mussten die verschiedenen Strategien analysiert werden, mit denen der ‚europäische Westen’ Bilder von kolonisierten Menschen und Völkern konstruiert hat und welche Auswirkungen diese Bilder gehabt haben, und zweitens muss, wie in der Diskussion der Ideologiefrage gezeigt, untersucht werden, wie die Kolonisierten selbst gegen solche Strategien Widerstand übten, indem sie sie überwanden und zum Teil auch übernahmen und verwendeten, um Identität und Selbstwert zu behaupten und ihren eigenen Forderungen nach Autonomie, nationaler Identität und souveräner Macht Ausdruck und Nachdruck zu verleihen. Postkolonialismus ist also nicht monolithisch zu verstehen, sondern sehr viel mehr als ein Feld, das sich mit einer Vielfalt von Anliegen und auch mit verschiedenen Positionen beschäftigt. Trotzdem hat dieses Feld in den letzten Jahren eine bemerkenswerte theoretische Kraft hervorgebracht, die in vielen Bereichen der Kulturwissenschaften, auch bei uns, ein Umdenken ausgelöst hat. Diese Attraktivität der Postcolonial Studies für die unterschiedlichsten Disziplinen, aber auch über die Wissenschaft in der Akademie hinaus, ist zu einem nicht unerheblichen Maße darin begründet, dass sie nicht als ‚wissenschaftliches Fach’ zu begreifen sind, sondern vielmehr als ein problemorientiertes und damit notwendigerweise inter- oder transdisziplinäres Projekt. Man kann daher die Postcolonial Studies als einen Bereich der Cultural Studies bezeichnen, der sich in besonderer Weise bestimmten Kernverständnissen der Cultural Studies verpflichtet weiß und diese auf Fragen der interkulturellen Austausch- und Machtbeziehungen anwendet. Wir übernehmen den Begriff Kernverständnis ganz bewusst von Andreas Hepp und Carsten Winter, die ihn in ihrer Einleitung zu einem 2003 erschienen Sammelband Die Cultural Studies Kontroverse eingeführt und durch fünf Merkmale charakterisiert haben. Wenn nämlich ein solches Kernverständnis für Postkoloniale Theologien nicht bestimmt wird und allenfalls eine Fülle von Ansätzen, Theorien, Methoden und Diskursen aus den verschiedensten Teilen der Welt zusammengetragen wird, wird es schwierig, noch so etwas wie ein gemeinsames Anliegen Postkolonialer Studien und eben auch Postkolonialer Theo-
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logien auszumachen. Da Postkolonialismus inzwischen zu einem Modewort avanciert ist, das von den unterschiedlichsten Akteuren in Beschlag genommen wird, um ihr Anliegen, oft auch bei mangelnden Argumenten, vorzubringen, ist diese Differenzierung und Bestimmung von Kernverständnissen notwendig. Postkolonialismus wird heute ebenso von islamischen und christlichen Fundamentalisten für ihre Position in Anspruch genommen, wie von Marxisten, religiösen Pluralisten oder selbst ernannten Dekonstruktivisten. Hepp und Winter formulieren das Kernverständnis der Cultural Studies mit Hilfe von fünf Merkmalen, die, wie wir meinen, für ein angemessenes Verständnis von Postkolonialismus grundlegend sind. Zum einen vertreten die Cultural Studies einen radikalen Kontextualismus, worunter zu verstehen ist, dass Probleme und Gegenstände stets nur historisch spezifisch zu betrachten sind und dass jede Form von Wissen in Bezug auf die Kontexte unter der Perspektive der Interessen zu sehen ist, die dieses Wissen entstehen lassen und bestätigen. Der zweite Aspekt ist ein Theorieverständnis der Postcolonial Studies, das Theorie nicht als abgehobenen Überbau über die Praxis, sondern als mit der Praxis verwoben oder aus ihr erwachsen begreift. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Phänomene der soziokulturellen Wirklichkeit nicht als jenseits von Theorie zugänglich begriffen werden. Andererseits wird vorausgesetzt, dass Theorien immer kontextbezogen sind und daher nicht unbesehen von einem Kontext zum anderen übertragen werden können. Damit ist aber auch verbunden, dass universale Konzepte kritisch betrachtet oder, mit anderen Worten, einer ‚Hermeneutik des Verdachts’ unterzogen werden. Drittens sind die Postcolonial Studies durch einen „interventionistischen Charakter“ gekennzeichnet. Hierunter verstehen Hepp und Winter, dass es „nicht um die sich selbst genügende Ansammlung von Wissen bezogen auf das ‚Funktionieren von Kultur’ geht. Vielmehr geht es darum, kritisches Wissen zu produzieren, das Interventionen und Veränderungen ermöglicht“26. Dazu kommt viertens, dass von denjenigen, die postkoloniale Forschung betreiben, in einem erhöhten Maß eine selbstreflexive Haltung erwartet wird, indem sie ihre Position als Wissenschaftler gegenüber ihrem Gegenstand und den Menschen, über die und für die sie sprechen, stets mit bedenken. Dazu gehört auch die Frage, inwieweit man als akademisch gebildete Kritikerin in einer etablierten Position überhaupt noch in der Lage ist, etwas über Armut, Unterdrückung und Ausbeutung zu sagen, geschweige denn für die anderen zu sprechen. Schließlich wird man zum Kernverständnis der Postcolonial Studies rechnen müssen, und das gilt in besonderer Weise auch für die Theologie, dass ihr Gegenstand als eingebunden in Praktiken und Strukturen betrachtet werden muss, die in einem Machtgefüge bestehen und nicht nur in hohen oder transzendenten Ideen.27 Paul Rabinow hat für die Ethnologie eine These aufgestellt, die auch für theologische Reflexionen relevant sein könnte: „Wir bedürfen keiner Theorie indigener Epistemologien oder einer neuen Theorie der Erkenntnis der Anderen. Wir sollten auf unsere historische Praxis achten, 26 27
Andreas Hepp/Carsten Winter, Die Cultural Studies Kontroverse, Lüneburg 2003, 11. So in einer Paraphrase von Andreas Hepp / Carsten Winter, Cultural Studies als Projekt. Kontroversen und Diskussionsfelder, in: Die Cultural Studies Kontroverse, hg. v. Dies., Lüneburg 2003, 9-32. 10-11.
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nämlich die Praxis, unsere kulturellen Praktiken auf die Anderen zu projizieren; bestenfalls gilt es zu zeigen, wie, wann und mit welchen kulturellen und institutionellen Mitteln andere Menschen es unternommen haben, Epistemologie für sich in Anspruch zu nehmen.“28
Postkoloniale Forschung und insbesondere auch Postkoloniale Theologien, so der Anspruch, beschäftigen sich mit ihren Gegenständen nicht um ihrer selbst willen, sondern um kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse, und damit auch Glaubensverhältnisse, kritisch zu hinterfragen, aufzubrechen und Kontroversen auszulösen, die dazu beitragen, Strukturen zu verändern.29
Postkoloniale Theorie Eine der schwierigsten Fragen und Kontroversen im ganzen Feld der postkolonialen Studien hat nun aber mit dem Begriff ‚postkolonial’ selbst zu tun, und zwar wurde die Debatte über lange Strecken beherrscht von der Frage, wie sich postkoloniale Theoriebildung und postkoloniale Kritik zueinander verhalten. Stuart Hall, einer der Begründer der Cultural Studies in England, reflektiert diese Problematik in einem Aufsatz, den er betitelt hat mit: Wann war der Postkolonialismus? Denken an der Grenze30, auf den wir uns hier zunächst beziehen wollen, um dies dann für unseren Themenbereich der Postkolonialen Theologie zu verdeutlichen. Hall fragt danach, was der Bezugsrahmen für Postkolonialismus sei und was von ihm ausgeschlossen werden sollte. Wo verläuft die imaginierte Grenze zwischen dem Postkolonialismus und seinem Anderen? Wo ist der Unterschied zwischen Postkolonialismus und Dritte Welt, zwischen Postkolonialismus und Imperialismus? Aber auch, so können wir weiterfragen, wo wäre denn die Grenze zu denken zwischen Postkolonialer Theologie und der Befreiungstheologie? Diese Fragen zu stellen, ist insofern wichtig, als postkoloniale Theorien auf diese Begrenzungen ständig Bezug nehmen, ohne aber real auf sie einzuwirken oder sie wirklich aufzuheben.
Postkoloniale Zeiten Die Debatte hat zwei Aspekte: einmal die oben bereits angesprochene Diskussion über das ‚post-’ und andererseits werden Überlegungen zu ‚Kolonialismus’ als Epochenbegriff und als politischem Begriff im Verhältnis zu 28
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Paul Rabinow, Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie, in: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, hg. v. Eberhard Berg / Martin Fuchs, Frankfurt a. M. 1993, 168f. Vgl. Hepp/Winter, Cultural Studies, 10-11. Stuart Hall, Wann war der ‚Postkolonialismus’?, 219-246.
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Begriffen wie ‚Empire’ oder ‚Imperialismus’ diskutiert. Der Zerfall des Kolonialismus in Form europäischer überseeischer Herrschaftsgebiete war sicherlich eines der spektakulärsten und in seinen Auswirkungen nachhaltigsten Ereignisse im 20. Jahrhundert. Wenn auch der Kolonialismus offiziell fast überall auf der Welt als für beendet erklärt werden kann, so kann doch die fortlaufende Globalisierung als eine der am weitesten reichenden Auswirkungen des Imperialismus bezeichnet werden. Antonio Negri und Michael Hardt haben das in ihrem Buch Empire dargelegt.31 Wenn wir ihn in diesem Forschungsumfeld platzieren, meint der Begriff Postkolonialismus kein abgeschlossenes Kapitel der jüngsten Geschichte, sondern beschäftigt sich mit heutigen Konflikten und Auseinandersetzungen. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist daher deutlich zurückzuweisen, dass nämlich ‚Postkolonialismus’ zeitlich auf das Ende der Kolonien beschränkt sei.32 In einem umfassenden Sinn geht es postkolonialer Forschung um Fragen von Repräsentation, Identität und Geschichte, allerdings nicht um eine Universalgeschichte oder eine ‚große Erzählung’ als Gegenerzählung zur Geschichtsschreibung der kolonialen Machthaber, sondern um die „verwobenen Geschichten“33 zwischen Kolonisierten und Kolonialherren. Um dieses genauer fassen und reflektieren zu können, hat sich postkoloniale Forschung weiterentwickelt und eine eigene postkoloniale Theoriebildung hervorgebracht. Ursprünglich hatte der Begriff also eine chronologische Dimension, die ihm beigegeben war. In allgemeinen Vorstellungen ist Postkolonialismus so etwas wie eine Periode, die etwa in den 1960er Jahren begann, nach dem formalen Ende der europäischen Kolonisation, eine Periode, die auf den Kampf um Unabhängigkeit durch die ehemals kolonisierten Völker gefolgt ist, wie wir oben in der Darstellung der Positionen von Aimé Césaire und Frantz Fanon bereits angedeutet haben. Der Begriff, so wie er gegenwärtig verwendet wird, ist aber eng mit der Frage nach dem modernen europäischen Imperialismus verbunden. Mehrere der Kritiker fassen den Begriff so, dass er, wenn mit einem Bindestrich (post-kolonial) verwendet, auf die historische Periode nach dem Ende des Kolonialismus hinweist, während er, wenn man ihn ohne Bindestrich (postkolonial) verwendet, er den diskursiven Widerstand der Kolonisierten markiert, die kritisch die dominanten Wissenssysteme hinterfragen, um die Geschichte westlicher Dominanz aufzudecken, und die darauf hinweisen, dass es notwendig ist, auch weiterhin neokoloniale Tendenzen zu hinterfragen, die auch nach der Unabhängigkeit der einzelnen Nationen eine Rolle spielen und mit der zunehmenden wirtschaftlichen Globalisierung eher zunehmen. 31 32 33
Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. / New York 2002. Siehe hierzu auch die Diskussion bei Conrad / Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, 24. Vgl. zu diesem Begriff der „entangled histories“ auch die Darstellung bei Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 23; siehe außerdem die ausführliche Diskussion bei Conrad / Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, 17-22.
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Differenzen Eine zentrale Frage, die bereits in die theoretische Reflexion von Postkolonialismus hineinreicht, ist: Wenn die postkoloniale Zeit die Zeit nach dem Kolonialismus ist und der Kolonialismus durch die binäre Unterscheidung zwischen Kolonialherr und dem Kolonialisierten, zwischen Herr und Knecht, definiert wird, warum ist dann auch die postkoloniale Zeit eine Zeit der Differenz, eine Zeit des Unterschieds? Und um welche Art von Differenz handelt es sich dabei? Wie muss man eigentlich neu lernen, Differenz zu denken? Stuart Hall macht deutlich, dass es in dieser Debatte um eine Politik geht, in der die Entwicklung und Positionierung von Subjekten im Mittelpunkt steht: Wer wird wann und wo gehört, wer darf wann und wo die Stimme erheben? Es ist eine Entwicklung, die in einem strittigen Raum stattfindet und es ist auch eine Entwicklung, die deutlich macht, warum Postkolonialismus für die einen zum Wunschbegriff geworden ist, zu einem Zeichen des Begehrens, während er für andere Ausdruck von Gefahr, Unsicherheit und Infragestellung ist. Vor allem die theoretische und politische Ambiguität des Begriffs ‚Postkolonialismus’ ist in neuerer Zeit von einigen Seiten heftig kritisiert worden. Gerade die postkoloniale Theoriebildung, so wird argumentiert, sei politisch ambivalent und damit letztlich unbrauchbar, weil die Trennlinien zwischen Kolonialherren und Kolonialisierten, die bisher mit Begriffen wie Kolonialismus, Neokolonialismus, Imperialismus, Dritte Welt assoziiert worden sind, verschwimmen und verwischt werden, weil eindeutige Differenzen aufgelöst werden. Dadurch sei, so wird immer wieder kritisiert, ein Widerstand nicht mehr möglich, weil die Politik dieses Widerstands zersetzt werde, und klare Oppositionen unterlaufen werden.34 Ähnlich wie ‚Postmoderne’ und andere Begriffe, die mit dem Präfix ‚post-’ belegt werden, bilde Postkolonialismus eine Kategorie, die letztlich universalistisch geprägt sei und die sowohl ethnische Gruppierungen als auch zeitliche Unterschiede und geschichtlich gewordene Bedingungen außer Acht lasse.35 Eine sorgfältige Unterscheidung zwischen den verschiedenen sozialen und ethnischen Strukturen sei daher durchaus angebracht. In Australien und Kanada zeigen sich nicht die gleichen Formen von Postkolonialismus wie beispielsweise in Indien, Malaysia oder Ländern in Afrika. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie überhaupt nicht postkolonial sind. Und das ist die große Schwierigkeit. Einige wollen den Begriff nicht auf weiße Siedlerkolonien, wie z.B. Kanada, Australien, Neuseeland, anwenden, sondern ausschließlich auf die nichtwestlichen kolonisierten Gesellschaften. Andere möchten ihn den kolonisierten Gesellschaften der Metropole vorenthalten und ihn auf die Kolonien der Peripherie beschränken.
34 35
Aijaz Ahmad, In Theory. Classes, Nations, Literatures, Delhi 1994. Ella Shohat, Note on the Post-Colonial, in: Contemporary Postcolonial Theory. A Reader, hg. v. Padmini Mongia, London 1996, 322-334.
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Wir glauben allerdings, dass der Begriff ‚Postkolonialismus’ helfen kann, nicht nur den Wandel im Bereich der globalen Beziehungen, der den Übergang vom Zeitalter der Kolonien zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit oder DeKolonisierung markiert, besser zu verstehen und zu charakterisieren, sondern auch, dass der Begriff hilfreich ist, neue interkulturelle Beziehungen und Machtverhältnisse aufzudecken und zu beschreiben, die sich in immer neuen ökonomischen, politischen und sozialen Konstellationen herausbilden. Insofern ist der Begriff, wenn er auf einer relativ hohen Abstraktionsebene diskutiert wird, auch mit einem gewissen Recht universalisierbar. Er bezieht sich auf den generellen Prozess der De-Kolonisierung, der, wie die Zeit der Kolonisation selbst, die Gesellschaften geprägt hat, sowohl die der Kolonisierten, als auch die in den europäischen Metropolen.36 Und von daher macht der Begriff auch deutlich, dass die alten binären Oppositionen ‚kolonisiert’ und ‚kolonisierend‘ oder ‚Sklave/ Knecht’ und ‚Herr’ unter ganz neuen Bedingungen zu sehen sind. Er ist nämlich auch so einzusetzen, dass er unseren Fokus auf die vielen Phänomene lenken kann, die sich keineswegs nur in den Kolonien abgespielt haben, sondern die sich auch in die Kulturen der Kolonisierer eingeschrieben haben. Im Bereich der Religionen könnte man hier die Rezeption asiatischer Religiosität im Westen anführen, die sich zuerst in kolonialen/postkolonialen Kontexten vollzogen hat.37 Stuart Hall spricht daher von einer doppelten Einschreibung und betont ebenfalls, dass die binäre Form, in der Kolonialismus in den ersten kritischen Ansätzen, die sich dem Thema gewidmet haben, dargestellt werden konnte, so heute nicht mehr möglich ist. Postkoloniale Theorie hilft uns, wie auch oben bereits unter einer anderen Perspektive ausgeführt, diese binären Formen neu zu lesen und neu zu interpretieren: nämlich als Ausdruck transkultureller, globaler, transnationaler Prozesse, als Ausdruck von Prozessen der Dezentrierung, der Diasporaerfahrung, der Globalität und der Umschreibung/Neuschreibung einer früheren imperialen Großgeschichte mit der Nation als Zentrum.
Orientalismus Als ein weiterer Startpunkt postkolonialer Studien neben Frantz Fanon wird vielfach das Buch Orientalism (deutsch: Orientalismus) von dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said aus dem Jahr 1978 angesehen, das einen solch nachhaltigen Einfluss auf die kolonialen Diskurstheorien ausgeübt hat, dass es für mindestens 20 Jahre Gegenstand heftiger Debatten
36 37
Vgl. Ania Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 19. Vgl. Richard King, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ‚The Mystic East’, London / New York 1999; Arvind-Pal S. Mandair, Religion and the Specter of the West, New York 2009.
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und Kontroversen geworden ist.38 Die Intention von Saids Buch ist es, aufzuzeigen, wie europäische Orientalisten seit dem 18. Jahrhundert ‚den Orient’ als ein homogenes Gebilde konstruiert haben und wie die Art und Weise der Repräsentation des Orients spätestens seit dem 18. Jahrhundert als ein wesentlicher Aspekt eurozentrischer kultureller Dominanz institutionalisiert worden ist. Diese Wissensproduktion wird von Edward Said dann aber über viele Jahrhunderte verfolgt und er stellt die These auf, dass sie ihren Höhepunkt während der Konsolidierung des Imperialismus und Kolonialismus im 19. Jahrhundert erreicht hatte. ‚Orientalismus’ beschreibt die verschiedenen Disziplinen, Institutionen, Prozesse und Denkrichtungen, durch die Europäer den Orient kennen und wissen konnten, und Said zeigt, wie sich diese literarischen Konstruktionen bis heute im realen Leben niederschlagen. Beispiele dafür gibt es genug, wenn man sich vor Augen führt, was alles mit dem Label des mal exotischen, mal feurigen oder unterwürfigen Orient verbunden wird. Dies reicht von Disney-Filmen voller Klischees zu orientalischen Tänzen und Festen, die die gewaltigen Unterschiede zwischen Ägypten, Indien oder China und innerhalb dieser Gesellschaften einfach übergehen.39 Saids Sicht des Orientalismus ist auf vielerlei Weise radikal und sein Ansatz wurde 1978, als das Buch erschien, noch grundsätzlicher und radikaler verstanden als heute. Er hebt vor allen Dingen die westliche textliche Konstruktion des Orients hervor und argumentiert, dass diese Textproduktion ein Beispiel des westlichen Willens zur Macht ist, zur Macht über andere und dass sie deshalb tief verflochten ist mit den materiellen Wirklichkeiten der politischen und ökonomischen Dominanz, die den Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus konstituieren. Diesen Fragen nach der Bedeutung von Texten, die für postkoloniale Theologien zentral geworden sind, wollen wir noch etwas genauer nachgehen.
Repräsentation Saids zentrales Argument über die diskursiven Bedingungen des Wissens ist, dass die Texte des Orientalismus nicht nur Wissen schaffen können, sondern auch die Wirklichkeit, die sie beschreiben wollen. „Ein Text, der vorgibt, Wissen über etwas Aktuelles zu enthalten, unter Bedingungen, die denen ähnlich sind, welche ich gerade beschrieben habe, entsteht und kann nicht einfach beiseite geschoben werden. Ihm wird eine Expertise zugesprochen; ihm kann die Autorität von Akademikern, Institutionen und Regierungen zufallen und mit noch größerem Prestige umgeben, als es seine praktischen Erfolge rechtfertigen. Am wichtigsten ist es, dass solche Texte nicht nur eine Kenntnis, sondern auch die eigentliche Realität, die sie zu beschreiben scheinen, erschaffen 38
39
Siehe etwa R.S. Sugirtharajah, Exploring Postcolonial Biblical Criticism. History, Method, Practice, West Sussex 2012, 12; Ania Loomba u.a. (Hg.), Postcolonial Studies and Beyond, Duke 2005, 2. Eine Sammlung vieler absurder, alltäglicher und außergewöhnlicher Beispiele für „Asien in unserem Kopf“ findet sich auf dem Blog http://asiaonourmind.blogspot.de.
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können. Mit der Zeit produziert ein solches Wissen und eine solche Realität, eine Tradition, oder was Michel Foucault einen Diskurs nennt, dessen materielle Präsenz oder materielles Gewicht und nicht die Originalität eines verbundenen Autors sich für den produzierten Text verantwortlich zeigt.“40
Die Verbindung von Repräsentation und materieller Macht, die Edward Said hier aufzeigen will, hat allerdings einige methodische Probleme mit sich gebracht. Auf der einen Seite sagt er, dass Orientalismus nur als Repräsentation existiert, die nichts zu tun hat mit dem ‚wirklichen Orient’, dass es also keine Verbindung zwischen Orientalismus und dem Orient gibt und dass man deshalb vielmehr auf die innere Konsistenz des Orientalismus als einem diskursiven Objekt oder Feld achten muss und nicht zu sehr auf die Frage, ob Orientalismus wirklich zutreffend repräsentiert. Andererseits argumentiert er, dass das Wissen verwendet wurde, um koloniale Macht und Besetzung zu legitimieren und koloniale Administration zu erleichtern. Das bedeutet doch, dass Orientalismus an einem bestimmten Moment als Repräsentation den tatsächlichen Bedingungen dessen, was vor Ort ist, begegnet sein muss, und dass er sich sozusagen auf einer materiellen Ebene als eine Form von Macht und Kontrolle als effektiv erwiesen haben muss. Wie kann Said dann sagen, dass der Orient nur Repräsentation ist? Er zeigt eine Genealogie des Orientalismus auf, in der zentrale Charakteristika gefunden werden, die sich durch die verschiedenen historischen Epochen hindurch bis in die Gegenwart immer wieder wiederholen. In seinem literaturtheoretischen Aufsatzband Die Welt, der Text und der Kritiker bezeichnet Edward Said Repräsentation als eines der Schlüsselprobleme aller Kritik und Philosophie, mit dem er sich als Literaturwissenschaftler deshalb auch länger beschäftigt hat.41 Der Begriff Repräsentation, übersetzt als ‚Stellvertretung’ und ‚Darstellung’, hat somit mindestens zwei wichtige Bedeutungen: einmal eine politische, wie z.B., dass es in Europa repräsentative Demokratien gibt, in denen eine kleine Zahl von Politikern die Bevölkerung repräsentiert, sozusagen stellvertretend für sie steht, und die andere Bedeutung von Repräsentation als Darstellung oder Abbildung, die eher eine ästhetisch-philosophische Konnotation hat. So kann man beispielsweise sagen, ein Bild eines Künstlers repräsentiert einen Gegenstand, eine Person oder eine Landschaft, indem es diese abbildet. In beiden Fällen handelt es sich um einen Prozess der Substitution. Der Gegenstand/der Mensch/die Landschaft wird durch das Bild eingenommen, das Volk durch die gewählten politischen Vertreter. Das mag im Falle der Landschaft zunächst einmal sehr unproblematisch sein; es kann im Fall der Politiker zu einem Problem werden; es wird aber zu einem echten Problem in Situationen, wie Edward Said sie in dem Buch Orientalismus untersucht, in denen eine Gruppe oder eine ganze Kultur, also z.B. ‚die Orientalisten’ oder ‚der Westen’ darüber entscheidet, wie andere Gruppen zu repräsentieren, darzustellen sind. Orientalismus kann als eine Analyse der Überschneidung von beiden Formen von Repräsentation verstanden werden, indem eben die textliche oder ästhetische Repräsentation ihre eigene Wirk40 41
Edward Said, Orientalismus, Frankfurt a. M. 1981, 110. Edward Said, Die Welt, der Text und der Kritiker, Frankfurt a. M. 1997.
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lichkeit substituiert und die Repräsentation des ‚Orients‘ eine Legitimation für die koloniale Substitution bereitstellt, für die Repräsentation durch die Kolonialmacht. Es ist entscheidend, dass Repräsentationen, die den Anspruch erheben, authentisch oder wahr zu sein, hier in ihrer Autorität infrage gestellt werden. Die Wirklichkeit zu repräsentieren, das macht Said deutlich, ist niemals eine ideologisch neutrale Aktivität. Während man aber den Gedanken, dass Repräsentationen Verzerrungen sind, noch akzeptieren könnte, wenn es nur um Produktionen der orientalistischen Literatur ginge, so wird die Frage der Repräsentation doch ein zentrales Problem, wenn es um die entscheidende Frage der Selbstrepräsentation der ehemals kolonisierten Menschen geht. Die Orientalismusthese von Edward Said ist in ihrer Wirkung bestimmt nicht zu unterschätzen, allerdings hat es auch Kritik an seinem Ansatz gegeben, die der Diskussion, die wir oben in Bezug auf die Ideologie skizziert haben, ähnlich ist. Said wird u.a. vorgeworfen, dass seine Repräsentationstheorie und seine Sicht des Verhältnisses von Orientalismus als Textproduktion und Macht so geschlossen sei, dass er keine Möglichkeit bietet, Diskurse wahrzunehmen, die den Kolonialismus kritisiert haben. Zum anderen bietet die Abgeschlossenheit des Orientalismusdiskurses auch keine Möglichkeit, überhaupt eine Kritik am Orientalismus zuzulassen, denn von woher soll das andere Denken kommen? Wir wollen jedoch hier den Beitrag der antikolonialen Befreiungskämpfe und deren literarischer und theoretischer Neuaufbrüche nicht unterschlagen, denn postkoloniale Theologien setzen meist gerade an diesem Punkt an, den sie dann weiterentwickeln. Wichtige theoretische VertreterInnen postkolonialer Theorie, die Saids Orientalismusthese weiterentwickelt haben, sind der Literaturwissenschaftler Homi Bhabha und die Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak, auf deren Beiträge hier nur kurz eingegangen werden kann.42
Subalterne „Can the Subaltern speak?“ (Kann die Subalterne sprechen?), diese Frage hat die indische Literaturtheoretikerin Gayati Chakravorty Spivak gestellt43 und damit auch Bezug genommen auf ein historiographisches Projekt einer Gruppe von indischen und westlichen Wissenschaftlern, die sich selbst als ‚South Asian Subaltern Studies Group‘ bezeichnet und die unter ihrem Spiritus Rector Ranajit Guha in einer Reihe von Aufsatzbänden indische Kolonialgeschichte aus der Perspektive der durch diese Geschichte Marginalisierten
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Die drei Said, Spivak, und Bhabha werden in den meisten Überblicksdarstellungen der Postcolonial Studies als die wichtigsten Vertreter angesehen. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern speak?. Speculations on Widow Sacrifice, in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. G. Nelson / L. Grossberg, London 1988, 271-313 hier: 271.
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geschrieben hat.44 Die Subaltern Studies Group hat es sich zur Aufgabe gemacht, dominante Modelle der indischen Geschichtsschreibung herauszufordern und um die Komponente der ‚Subalternen’ zu bereichern.45 In Anlehnung an eine Formulierung von Antonio Gramsci, der, wie oben erwähnt, in seinen Briefen aus dem Gefängnis von den ‚Subalternen’ spricht, untersucht diese Gruppe die indische Geschichtsschreibung nach den Beiträgen derjenigen, die weder zu den Kolonisatoren noch zur einheimischen Elite zu zählen waren. Da die Gruppe der Subalternen weder in der nationalen Geschichtsschreibung, die den Widerstand gegen das Kolonialregime einzig der kleinen Elite des Landes zurechnet, noch in der kolonialistischen Geschichtsschreibung auftaucht, erforschen die Mitglieder dieser Gruppe in mehreren Bänden lokale Widerstandsbewegungen und die immer wiederkehrenden Aufstände der ländlichen Bevölkerung. Wenn der orientalistische Diskurs den indigenen Völkern Selbstvertretung und Subjektivität verweigert hat, und wenn Repräsentation, die Said in Anlehnung an Marx’ berühmtes Wort über das französische Proletariat aus dem 18. Brumaire von Louis Bonaparte: „Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden“ auf den Orientalismus überträgt,46 immer Repräsentation durch andere ist, dann liegt die Frage nahe, welche Rolle die Repräsentierten in diesen ethnologischen, religionswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen aber auch poetischen und künstlerischen Diskursen spielen. Sowohl HistorikerInnen als auch post-koloniale TheoretikerInnen haben, wie bereits angedeutet, Said vorgeworfen, die Passivität der ‚Orientalen‘ zu sehr betont zu haben:47 die HistorikerInnen, weil Said die komplexen Beziehungen zwischen Einheimischen und Ausländern, die in kolonialen Strukturen bestanden haben, nicht genügend berücksichtigt habe, die postkolonialen TheoretikerInnen, wie Homi Bhabha, weil Said dem Widerstand im Diskurs keinen Raum gegeben habe. Gegen Said, bei dem die westliche Repräsentation des ‚Orients‘ als ein geschlossener Diskurs erscheint, heben einige HistorikerInnen besonders hervor, dass die verschiedenen Positionen des kolonialen Austauschs nicht zu ‚essentialisieren‘ sind. Sowohl Homi Bhabha als auch Gayatri Spivak betonen, dass die kulturellen Prozesse der kolonialen Begegnung in gleicher Weise verändernd auf EuropäerInnen und InderInnen gewirkt haben und dass es eine vereinfachte Sicht dieser Prozesse
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Subaltern Studies. Writings on South Asian History and Society, hg. v. Ranajit Guha seit 1982; dazu vor allem Rosalind O`Hanlon, Recovering the Subject. Subaltern Studies and Histories of Resistance in Colonial South Asia, in: Modern Asian Studies 22.1, 1988, 189–224; 189f. Vgl. etwa die prägnante Zusammenfassung bei Sugirtharajah, Reconfigurations, 14; auch Henry Schwarz, Writing Cultural History in Colonial and Postcolonial India, Philadelphia 1997. Said, Orientalismus, 32. Benita Parry, Problems in current theories of colonial discourse, in: The Post-colonial Studies Reader, hg. v. B. Ashcroft / G. Gareth / H. Tiffin, London 1995, 27–58, hier: 36ff.; Benita Parry, Overlapping Territories and Intertwined Histories. Edward Said’s Postcolonial Cosmopolitanism, in: Edward Said. A Critical Reader, hg. v. M. Sprinker, Oxford 1992, 19–47.
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sei, die Dominierenden und die Subalternen als aktive und passive Diskursteilnehmer radikal zu unterscheiden. Spivak macht allerdings auf ein methodisches Dilemma aufmerksam: In der Unterscheidung von Dominierenden und Subalternen ist die Frage zu stellen, wer subaltern ist, und es ist daher notwendig, zwischen verschiedenen Ebenen der Dominanz zu unterscheiden und damit nach vergleichbaren essentialistischen Taxonomien zu suchen, die Michel Foucault als wesentliche Aspekte der Ordnung eines Diskurses angenommen hatte.48 Wenn man zwischen verschiedenen Ebenen der Dominanz unterscheidet, wie im Beispiel zwischen Europäern und indischen Eliten, die auf unterschiedlichen Ebenen in der Lage waren, sich im Diskurs zu repräsentieren, dann bleiben als Subalterne nur diejenigen übrig, die sich nicht selbst repräsentieren können. Rosalind O´Hanlon hat daher dafür plädiert, zwischen drei Gruppen zu differenzieren, die an der Formierung des kolonialen Diskurses beteiligt sind: „the Orientalist scholar, the native informant successful in convincing him of his authority to represent, and those others among the colonized unable to do so.“49
Diese Beteiligung am Diskurs kann aber nicht nur als ein einmütiges Beisteuern orientalischer und europäischer Elemente zum Diskurs verstanden werden, sondern ist durch die beständige Ausgrenzung von Gruppen, die sich nicht selbst repräsentieren können, sich dieser Ausgrenzung aber bewusst sind, als Konflikt und Kampf zu analysieren. O´Hanlon bemerkt, dass gerade dieser Aspekt von Widerstand gegen die disziplinierende Macht in Foucaults Diskursanalyse unterbelichtet bleibt und dass auch in der Orientalismuskritik die Rolle von widerständigen Bewegungen meist zu wenig beachtet wird. Es sind aber genau diese Fragen, die in vielen der postkolonialen theologischen Entwürfe wieder aufgenommen werden. In der Beobachtung, dass der koloniale Herrschaftsdiskurs immer wieder von einheimischen Stimmen unterbrochen wurde, die sich in ihrer eigenen Sprache einen Freiraum innerhalb der Grenzen des Diskurses geschaffen haben, setzt auch Homi Bhabhas post-koloniale Kritik an.50 Bhabhas Lektüre der kolonialen Texte deckt die Stimme der kolonialen Subjekte auf, die immer schon in diesen Texten vorhanden ist, aber erst durch eine dekonstruierende Lektüre zum Erklingen gebracht wird. Er weist Saids Behauptung, der koloniale Diskurs sei einseitig von Europäern beherrscht, zurück und ist bemüht, in den disparaten kolonialen Texten die Brüche und Grenzen diskursiver Macht aufzuzeigen. Bhabha sieht in der Nachahmung europäischer Repräsentationsstrukturen durch die kolonialen Subjekte, die niemals eine exakte Kopie des europäischen Originals sind, eine permanente Unterbrechung des ‚Meister-Diskurses‘, die die Ambivalenzen orientalistischer Texte
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Gayatri Spivak, Subaltern Studies. Deconstructing Historiography, in: Subaltern Studies IV, hg. v. R. Guha, Delhi 1985, 330–363. O’Hanlon, Recovering, 217. Zu Bhabha siehe Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 83-110; MooreGilbert, Postcolonial Theory, 114-151.
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offenbart. Für solche Unterbrechungen finden sich auch in der Missionsgeschichte zahlreiche Beispiele.51
Themen des Postkolonialismus Bereits bei der ersten Definition des Begriffs Postkolonialismus und seiner unterschiedlichen Ausprägungen ist deutlich geworden, dass sich von Postkolonialismus als einem festgelegten Begriff nur schwer sprechen lässt. Eine andere Herangehensweise an das Phänomen des Postkolonialismus versucht daher weniger, eine enge Begriffsdefinition zu geben, sondern stattdessen eher Themen zu nennen, die für eine postkoloniale Analyse von besonderer Bedeutung sind.52 Als solche Themen können zum Beispiel genannt werden: Die Erforschung des Kolonialismus und seines politischen, sozialen und kulturellen Einflusses auf Individuen und die Kultur des kolonialisierten Landes. Dabei ist ein besonders interessanter Aspekt die Erforschung der „inneren Kolonisierung“, die sich mit dem indischen Psychologen Ashis Nandy als eine Kolonisierung des Geistes deuten lässt.53 Eine erneute Untersuchung kolonialer Archive und besonders unter der Fragestellung nach den Widerstandsräumen und tatsächlichen Widerstandsformen, insbesondere der am meisten unterdrückten Mitglieder der Gesellschaft. Eine Dezentrierung klassischer, universaler und transhistorischer Werte und Wissenskategorien des Westens. Dabei kommt den Werten der Aufklärung ein besonderes Gewicht zu. Als diese werden vor allem Objektivität, Rationalismus und Universalismus angesehen. Dies kann nicht nur zu einer Kritik an der Moderne führen, sondern auch zu einer Erweiterung der Moderne um nicht-europäische Wege zur Moderne, wie sie zum Beispiel dem bereits genannten indischen Geschichtswissenschaftler Dipesh Chakrabarty vorschwebt. Eine Untersuchung der doppelten Kolonisierung der Frau, wie sie sich in vielen Zusammenhängen und Kontexten aufzeigen lässt. Dabei nehmen postkoloniale, feministische Autorinnen und Autoren jedoch nicht nur das Faktum, etwa die Praxis des Fußbindens im kolonialen China, in den Blick, sondern untersuchen auch, wie darüber berichtet wird und mit welchen Absichten dies geschieht.54
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Siehe dazu z.B. Lamin Sanneh, Translating the Message. The Missionary Impact on Culture, New York ²2008. Vgl. für die Zusammenstellung der unterschiedlichen Themen auch Sugirtharajah, Exploring, 14-16. Vgl. dazu Ashis Nandy, Exiled at Home, Oxford ²2002. Vgl. dazu etwa Kwok Pui-Lan, Unbinding Our Feet. Saving Brown Women and Feminist Religious Discourse, in: Postcolonialism, Feminism, and Religious Discourse, hg. v. Dies. / Laura E. Donaldson, London / New York 2002, 62-81, besonders aber: 62-75.
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Eine Infragestellung dominanter Formen des Wissens und des Vorrangs des Schriftlichen gegenüber dem Mündlichen, wie er sich ausgesprochen oder unausgesprochen in vielen Wissenschaftsdisziplinen finden lässt. Dies beinhaltet eine Neubewertung und Hochachtung der sogenannten ‚little tradition’ gegenüber den großen Erzählungen und Geschichtsschreibungen, die in vielen Fällen einzig die Sichtweise einer Elite widerspiegeln. Die Frage der Machtverhältnisse und Beziehungen, die sich daraus ergeben, dass in bestimmten Kontexten Menschen ihre Stimme für andere erheben und für sie sprechen. Dies bezieht sich neben einer Untersuchung akademischer Kontexte und einer intensiven Beschäftigung mit der Produktion von Texten auch auf soziale Bewegungen und politische Auseinandersetzungen.55 Die Überwindung einer Gegenüberstellung von Kolonisierer/Kolonisierte oder Zentrum/Peripherie durch die Dekonstruktion solcher Vorstellungen und die Ermöglichung, immer wieder diese Grenzen zu überschreiten und Räume dafür zu öffnen. Diese gewiss unvollständige Liste stellt wichtige, aber nicht die gesamte Fülle postkolonialer Themen dar, sondern eröffnet einen Blick auf mögliche Einstiegsfragen, die zu einem postkolonialen Engagement führen können. Aus der Perspektive postkolonialer Theologien wäre diese Liste noch einmal zu erweitern und zu ergänzen. Im Folgenden wollen wir nur vier Themen exemplarisch herausgreifen, da sie in den theologischen Diskursen eine besonders hervorgehobene Rolle spielen: Empire/Imperium, Grenze, Identität und Hybridität.
Empire/Imperium Postkoloniale Theorien fokussieren auf die Realität von Imperien und deren andauernde Dominanz für das Leben und Überleben eines Großteils der Bevölkerung unserer Erde. An der Rhetorik der USA zu Beginn des Irakkriegs und während der gesamten Präsidentschaft George W. Bushs lässt sich zeigen, dass Imperien nicht nur besonders große Staaten darstellen, sondern auch ihre eigene imperiale Ideologie haben, die sie sich selbst verstehen lässt als „Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos, der für sie eine stete Bedrohung darstellt, verteidigen müssen.“56 Innerhalb der Geschichte lässt sich nun zeigen, dass sich die USA mit ihrem Bezug auf das Römische Reich in eine 55
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Mit dem Literaturwissenschaftler Homi Bhabha lässt sich diskutieren, ob eine solche Trennung überhaupt sinnvoll durchzuführen ist und ob nicht auch die literarischen und intellektuellen Auseinandersetzungen erheblichen Einfluss auf die politische Situation haben. Besonders wehrt sich Bhabha gegen die Vorstellung, dass Theorie nur elitär und zwangsläufig die Sprache weniger kulturell und sozial Privilegierter sei. Siehe Bhabha, Die Verortung der Kultur, 29-55. Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, 8.
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lange Reihe von Imperien stellen, die ihren Ursprung schon vor dem Aufstieg des römischen Imperiums findet. So zahlreich die Imperien innerhalb der Geschichte waren, so unterschiedlich sind sie in ihrer tatsächlichen Ausgestaltung gewesen.57 Verfolgt man die geschichtliche Spur der Imperien zurück, so stößt man auf einen Befund, der hellhörig werden lässt: Von besonderer Bedeutung für die Interpretation des Alten Testaments und seiner Umwelt ist, dass das assyrische Herrschergeschlecht der Sargoniden das assyrische Reich zu dem formte, was als erste Imperialmacht angesehen werden kann58; einen ersten Höhepunkt erlebte die imperiale Kontrolle dann mit dem neu-assyrischen Reich, das sich als „the largest conquest empire the world had yet seen“59 beschreiben lässt und dessen imperiale Kontrolle mit römischer Herrschaftskommunikation zu vergleichen ist.60 Auf die besondere Bedeutung der Imperien für die Entstehung der biblischen Geschichten wird später ausführlicher einzugehen sein. Es sei nur soviel vermerkt, dass sowohl die Phase der assyrischen Kontrolle über Israel und Juda ihren Niederschlag in der Entstehung der biblischen Geschichten gefunden hat, als auch dass das Römische Reich die Hintergrundfolie für das Neue Testament bildet. Doch lässt sich dieser enge Zusammenhang zwischen der Bibel und den Imperien nicht nur für die Entstehungszeit, sondern auch besonders für die Ausbreitung der Bibel im Rahmen der westlichen Mission aufzeigen. Eine besondere Rolle kommt dabei dem britischen Empire und der King-James-Bibel zu, die als einer der zentralen Texte für politische, kulturelle und soziale Entwicklung der Kolonien und die textliche Verkörperung des Kolonisators angesehen werden kann.61 Die King-James-Bibel entwickelte sich zum Maßstab für Texte und Kulturen der kolonialisierten Länder und ihre Veröffentlichung und Aufmachung diente gleichzeitig als ein wichtiges Vorbild für ein neu entdecktes Interesse an den heiligen Schriften anderer Religionen.62 An diesem kleinen Beispiel zeigt sich bereits die allumfassende Macht, die damit dem Empire eingeräumt wird und wie sie sich für das alltägliche Leben in kolonialen Kontexten entwickelt und ausbreitet. Die genannte Kontrolle beschränkt sich nicht auf einen Teilbereich, sondern das Imperium zielt auf geographische, politische, ökonomische, intellektuelle, emotionale und spirituelle, also das ganze Leben umfassende Kontrolle. Alternativen zu der hegemonialen Macht des Imperiums werden dabei an den Rand gedrängt und klein gemacht. Dies kann auch zu Tendenzen führen, die eine Domestizie57 58 59
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Münkler, Imperien, 9f. Siehe Mario Liverani (Hg.), Akkad the First World Empire. Structure, Ideology, Transitions, Padova 1993. Stephen W. Holloway, Aššur is King! Aššur is King!. Religion in the Exercise of Power in the Neo-Assyrian Empire (= Culture and Religion of the Ancient Near East Vol. 10), Leiden u.a. 2002, 94. Siehe Holloway, Aššur is King, 97; Robartus J. Van der Spek, Assyriology and History. A Comparative Study of War and Empire in Assyria, Athens, and Rome, in: The Tablet and the Scroll. Near eastern Studies in Honor of William W. Hallo, hg. v. M. E. Cohen / D. C. Snell / D. B. Weisberg, Bethesda 1993, 262-270. Siehe R.S. Sugirtharajah, The Bible and Empire. Postcolonial Explorations, Cambridge 2005, 2. R.S. Sugirtharajah, The Bible and Empire, 2.
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rung von Glaubensvorstellungen und eine Anpassung von Christus an den Rahmen des Imperiums zur Folge haben.63 Das Thema ‚Empire’ ist aus eben diesem Grund vor einigen Jahren sowohl vom Reformierten Weltbund als auch vom Lutherischen Weltbund auf die Agenda gebracht worden, verbunden mit der Suche nach Antworten sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene.64 Dass aber das Thema der Imperien und die Fragestellung, inwieweit diese einen bestimmenden Einfluss auf den christlichen Glauben in den unterschiedlichsten Facetten ausgeübt haben, nicht nur erst in den letzten Jahrzehnten in den Blick geraten ist, sondern sich durch die ganze Kirchengeschichte hindurch aufzeigen lässt, weist Jörg Rieger in einer eindrucksvollen Monographie nach.65 Er zeigt, dass sich das Imperium mit seinem Einfluss sowohl in den christologischen Streitigkeiten der Kirchenväter, insbesondere in den dogmatisch einflussreichen Konzilen von Nicäa (325) und Chalcedon (451), als auch in der christologischen Weichenstellung bei Anselm von Canterbury (1039-1109) im Mittelalter niederschlägt.66 Ein solcher Blick auf die Kirchengeschichte schärft das Bewusstsein für die Machtfaktoren, die hinter dogmengeschichtlichen Entwicklungen stehen und hilft, den bisher dominanten eurozentrischen Zugang zur Geschichte zu überwinden. Dies ist besonders augenfällig in eingehenden Untersuchungen zur Geschichte der christlichen westlichen Mission. Hier bietet das Modell des kontrapunktischen Lesens, wie es besonders von Edward Said vorgeschlagen worden ist, eine postkoloniale Alternative, indem neben die Geschichte des Zentrums stets Geschichten der Peripherie gestellt werden, die sich gegenseitig und wechselseitig auslegen und beeinflussen. Allerdings stößt man bereits bei der Definition eines festgelegten Zentrums auf Probleme, die den Vorstellungen, wo dieses Zentrum zu finden sei, zugrunde liegen. Kann etwa New York als ein solches Zentrum gesehen werden, oder London oder Tokyo? Sind die heutigen Zentren nicht eher in Rio de Janeiro, Mexiko City oder New Delhi zu finden? Von diesen Schwierigkeiten, ein eindeutiges Zentrum zu bestimmen, handelt auch das aufsehenerregende Buch Empire. Die neue Weltordnung von Michael Hardt und Antonio Negri, das im Jahr 2002 auf Deutsch erschienen ist. Die zentrale These des Buchs ist, dass sich mit dem Niedergang der Sowjetunion und dem Auseinanderbrechen der kolonialen Regime in den letzten Jahrzehnten eine neue Form von globaler Ordnung und Dominanz herausgebildet hat, die sich von älteren Formen des Imperiums durch eine massive Entgrenzung und Schrankenlosigkeit unterscheidet. Diese Form des Empires sei deutlich zerstörerischer und berge größeres Unterdrückungspotenzial in sich als die vorausgehenden staatlich geprägten Imperien. Trotz dieser neuen Formen der Souveränität sei jedoch Widerstand gegen dieses Empire und das Errichten von 63 64
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Vgl. dazu vor allem die Darstellung bei Jörg Rieger, Christus und das Imperium. Von Paulus bis zum Postkolonialismus, Berlin 2009, 2f. Vergleiche dazu etwa die Publikation des Lutherischen Weltbunds: Karen L. Bloomquist (Hg.), Being the Church in the Midst of Empire. Trinitarian Reflections, Genf 2007; sowie Reformed World 56 (4, 2006). Siehe Rieger, Christus. Siehe Rieger, Christus, 53-120.
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Gegen-Imperien möglich.67 Die Grenzenlosigkeit dieses neuen Empires wird von einigen dazu genutzt, um von einem Ende postkolonialer Studien und Theorie zu sprechen, die angesichts dieses schrankenlosen Imperiums an ein Ende gekommen seien.68 Das erscheint uns jedoch ein übereiltes Urteil zu sein. Denn noch ist das Leben der meisten Menschen auf dieser Erde von harten physischen und psychischen Grenzerfahrungen geprägt und die Rede von einem grenzenlosen Imperium mag wie Hohn in den Ohren von Flüchtlingen klingen, die auf dem Mittelmeer in kleinen Booten auf die befestigten Außengrenzen der EU zusteuern, auf Grenzen, die mit einem immer größeren Aufwand und zunehmender physischer Gewalt verteidigt werden. Die Grenze als physischer Ort ist daher auch in ihrer Eigenschaft als Metapher von eminenter Bedeutung für die postkoloniale Theoriebildung.
Grenzen Die Grenze und insbesondere der Grenzbereich ist nämlich zu einer der wichtigsten Metaphern für die Beschreibung von Identität geworden. In Deutschland zeigt sich das allmählich, wie mit Blick auf die deutsche Fußballnationalmannschaft deutlich geworden ist. Der Begriff Marginalität, der die Ränder und damit die Grenzen in den Blick nimmt, bekommt heute eine neue, gewandelte Bedeutung. Im Diskurs der Latinas und Latinos in Nordamerika spielt der Bereich der Überschneidung und das Überschreiten der Grenze bereits seit einiger Zeit eine bedeutende Rolle.69 Dadurch, dass identitätsstiftende Merkmale wie Essen, kulturelle Normen und Kleidung Grenzen überschreiten und sich ausbreiten, kommt es zu einer kreativen Vermischung unterschiedlicher Kulturen und einer Identität, die sich festgelegten Grenzziehungen verweigert. Dies gilt in einer gesteigerten Form für die Rolle von Emigrantinnen und Emigranten, die als Wanderer zwischen den Welten und Brückenmenschen für ein Erleben eines dritten Raumes zwischen verschiedenen Kulturen stehen. Wenn sie ihre Erfahrungen mit der Grenze in Worte fassen, dann klingt das etwa wie bei dem deutsch-iranischen Dichter SAID: „‚gottes ist der orient! gottes ist der okzident!‘ diesem satz goethes fügt der ostwestliche flüchtling seinen profanen hinzu: ‚das niemandsland dazwischen ist unseres. wir können es nur mit liebe befruchten.“70
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Siehe Hardt / Negri, Empire, 13. Siehe etwa Vilashini Cooppan, The Ruins of Empire. The National and Global Politics of America’s Return to Rome, in: Postcolonial Studies and Beyond, hg. v. Ania Loomba u.a. Duke 2005, 80-100; hier: 82. Vergleiche dazu Catherine Keller u.a. (Hg.), Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, St. Louis 2004, 11. SAID, Das Niemandsland ist unseres. West-östliche Betrachtungen, München 2010.
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Um die Erforschung dieses Niemandslandes geht es auch den postkolonialen Theologien, um die Frage, was sich darin abspielt und wie die unterschiedlichen Erfahrungen und Akzente ihren Fußabdruck hinterlassen. Dabei kann die postkoloniale Theologie nicht nur bei den Identitätsfragen heutiger Dichterinnen und Dichter anknüpfen, sondern ebenso an einen theologisch sehr produktiven Diskurs über die Grenze als Ort der theologischen Erkenntnis. Die Grenze ist mit dem systematischen Theologen Paul Tillich ein besonders privilegierter Ort der Erkenntnis. Denn das Sich-auf-der-Grenze-Befinden versetzt in einen Zustand der Spannung und der Bewegung. Es kann als ein ständiges Hin- und Herpendeln beschrieben werden in dem Versuch, sich einen dritten Raum zu schaffen, von dem aus ein sicherer Stand und ein Stehen außerhalb des Begrenzten möglich sind.71 Wenn auch als für die theologische Erkenntnis besonders privilegiert, bleibt die Grenze immer auch ein ambivalenter Raum. Der brasilianische Theologe Vítor Westhelle fragt: „Ist die Grenze das Ende der eigenen Welt, die durch ein Zentrum definiert wird, oder ist sie ein Fenster, durch das man auf das blicken kann, was jenseits der Grenze liegt, eine Utopie, ein Nicht-Ort oder ein Noch-nicht-Ort? Oder ist das Innere des Außen die Bedingung von Marginalität? Mit andern Worten, sind Grenzen ein Ende oder ein Anfang? Beinhalten Grenzen einen Anfang und ein Ende? Sind sie beides oder sind sie nichts?“72
Postkoloniale Theorien und Theologien behandeln diese Fragen in einer lebendigen Debatte und haben dazu in den letzten 25 Jahren einen bedeutenden Ausstoß an Literatur produziert. Grenzen sind ein merkwürdiges Fenster zur Welt. Sie eröffnen eine Perspektive in das Alltägliche, indem sie einen Blick in eine andere Welt ermöglichen, die sich einer Visualisierung verschließt, und genau deshalb sind sie gefährlich. Sie bringen ans Tageslicht, was nicht offenbart werden sollte, sie eröffnen Einsichten, die die Ordnung der Dinge ins Schwanken bringen. Gesellschaften haben daher die Tendenz, ihre Grenzen zu verbergen.73 Wenn wir also über Marginalia, über Ränder und Grenzen nachdenken, so stellt sich die Frage: marginal zu was? Gerade für die Theologie ist diese Frage schwierig zu beantworten. Das Zentrum, auf das sich Marginalität bezieht oder auf das sie bezogen ist, kann nicht leicht bestimmt werden. Auch der Ort, von dem Macht ausgeübt wird, ist oftmals ein verborgener Ort. Das Insistieren marginalisierter Gruppen auf eine Subjekt-Position oder auf so etwas wie Selbst-Identität als Gegenposition zu dem Zentrum, ist, wie Gayatri Spivak hervorgehoben hat, keine einfache Forderung, da die gegenwärtigen Annahmen über kulturelle Differenz Manifestationen eines Verweltlichungsprozesses sind, in dem Zentrum und Rand, bzw. Dominantes und Marginales diskursiv repräsentiert werden. Die Konsequenz dieser diskursiven Produktion von Zentrum und Rand ist, dass alle kulturellen Gegenerzählungen immer wieder auf die dominanten Narrative, also auf das Zent71 72 73
Siehe Paul Tillich, Auf der Grenze, Stuttgart 1962, 4. So Vítor Westhelle, After Heresy. Colonial Practice and Post-Colonial Theologies, Eugene 2010, 121f. Westhelle, After Heresy, 122.
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rum bezogen werden. Marginalität deutet aber immer auf die Ambivalenzen eines Zentrums hin, das nicht festgelegt werden kann, und das bedeutet, dass Marginalität den ontologischen Status des Zentrums in Frage stellt. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, die die Anthropologin Mary Douglas in ihrem Buch Reinheit und Gefährdung formuliert hat: Dass eine Gesellschaft an ihren Rändern labil ist, deutet weniger darauf hin, dass die Ränder dieser Gesellschaft labil sind, sondern dass sich in den Rändern die Labilität der Gesellschaft insgesamt zeigt.74 Grenzen legen die Brüchigkeit der gesamten sozialen Konstitution offen und bringen damit das Zentrum in Gefahr. Deshalb haben Grenzen ein zerstörendes, offenbarendes Potenzial, das Potenzial des Verbergens und die Macht des Offenlegens. Und gerade darin sehen viele TheoretikerInnen des Postkolonialismus den interventionistischen Charakter ihrer Arbeit: die Mechanismen, durch die Grenzen repräsentiert werden, aufzudecken. Es geht zum einen darum, zu fragen, was dieses Offenlegen und Verbergen eigentlich ist und zum anderen darum, wie dies zu einem Diskurs werden kann und zu einem politisch aufgeladenen Austausch, der den Westen betrifft. Was ist das Verhältnis von einer Offenlegung und einer diskursiven Praxis? Grenzen sind fließend. Grenzen ereignen sich in einem unstabilen Dazwischen-Sein des Raum-Zeit-Kontinuums in der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft, in Nationen, Religionen und auch in psychischen Bedingungen. Und eben darum sind sie verborgen, sie werden weder benannt, noch benennen sie selbst.75 Es ist kaum zufällig, dass junge Muslime, deren Familien als ‚Gastarbeiter’ nach Deutschland gekommen sind, ihr Suchen nach einer Position und ihren Umgang mit unterschiedlichen Identitäten oftmals in einer Weise artikulieren, die unterschiedliche Ausdrucksmodi miteinander verbindet, um jede Eindeutigkeit und jede Dies- oder Jenseitigkeit der Grenze zu vermeiden, aber es ist auch ein Dilemma jeder theologischen Rede, die sich häufig in einem solchen Lavieren auf der Grenze verfängt. Besonders für die Praktische Theologie ist diese Privilegierung der Grenze augenfällig.76 So kommen in einem dreifachen Sinn Grenzüberschreitungen in den Blick: Zum einen gilt es, die Grenzen zu anderen Disziplinen zu überwinden und in ein Gespräch mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu treten. Des Weiteren, die Grenze zwischen Theorie und Praxis durch Erfahrungen der Grenzüberschreitung zu nivellieren und insbesondere die Grenzen des akademischen Diskurses und die Grenzziehung, die in dem spezifisch westlichen akademischen Diskurs durch zusätzliche Hürden wie die Kenntnis der alten Sprachen aufgebaut wird, zu hinterfragen. Und schließlich geht es um die „reflektierte Überschreitung der Grenzen ‚theore-
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Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988, 151ff. Westhelle, After Heresy, 122. Siehe für diesen Punkt vor allem den Beitrag von Henning Luther: Henning Luther, „Grenze“ als Thema und Problem der Praktischen Theologie. Überlegungen zum Religionsverständnis, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 45-60.
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tisch-rationalen Denkens‘ und die Offenheit für nichtbegriffliche Ausdrucksformen“77.
Identität Das Konzept ‚Identität’ wurde in den Sozialwissenschaften über lange Zeit verwendet, um Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Individuen und Gruppen zu beschreiben. Stuart Hall unterscheidet zwei Arten, über kulturelle Identitäten nachzudenken und zu sprechen.78 Beide sind für postkoloniale Theorien und auch Theologien ausgesprochen einflussreich gewesen bzw. haben auch heute noch Einfluss auf die Formulierung theologischer Positionen. Die erste Art, Identität zu bestimmen, bezieht diese auf als gegeben genommene Gemeinsamkeiten wie Rasse, Nation, Religion, Volk usw. Man könnte diese Richtung eine ‚essentialistische’ Identitätsposition nennen. Sie geht von einem kollektiven wahren Selbst aus, das hinter verschiedenen historisch kontingenten Formen des Selbst und der Selbstdarstellung verborgen liegt, und das das Wesen dieser Identität ausmacht. Hall betont nun, dass es gerade diese Konzeption von Identität war, die in den kolonialen und postkolonialen Konflikten und Positionierungskämpfen eine besondere Rolle gespielt hat, und es ist auch dieses Konzept von Identität, das in der Entwicklung kontextueller Theologien über viele Jahrzehnte dominant gewesen ist und in Asien, Afrika und Lateinamerika in vielfältiger Weise theologisch angeeignet wurde. Dieses Konzept von Identität hat sich immer dann als ausgesprochen wirkmächtig erwiesen, wenn es darum ging, beispielsweise afrikanische Kultur als Grundlage für eine genuin afrikanische Theologie heranzuziehen und das ‚Wesen’ des Afrikaner-Seins von einem europäischen ‚Wesen’ abzugrenzen. Oder, um ein anderes Beispiel anzuführen, dieses Konzept von Identität war auch in Kontexten hilfreich, in denen einheimische Theologie in der Terminologie und in Konzepten einer kulturell dominanten Religion ausgedrückt werden sollte. So hat sich beispielsweise die indische Theologie entwickelt, indem man auf eine gemeinsame indische kulturelle Identität rekurrierte, die im Hinduismus ihre Wurzeln habe und aus der, gegen westliche Formen theologischer Reflexion, eine genuin indische Theologie geschöpft werden soll, um die Identität eines genuin indischen Christentums zu stabilisieren. Für das Selbstverständnis nicht nur einheimischer TheologInnen, sondern auch der Kirchen war und ist dieses Verständnis von Identität von besonderer Bedeutung. Die Frage nach den kulturellen Wurzeln, die durch die koloniale Herrschaft verschüttet worden sind, gehört ebenso dazu wie die Wiedererzählung einer meist als glorreich verklärten Vergangenheit. Stuart Hall macht deutlich, dass diese essentialisierenden Konzepte 77 78
Luther, Grenze, 60. Stuart Hall, Kulturelle Identität und Diaspora, in: Ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, 26-43.
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von Identität insofern eine ausgesprochen wichtige Funktion haben, als sie die Erfahrung von Zerstreutheit, Fragmentierung und kultureller Entwurzelung aufnehmen und ihr einen Zusammenhang und damit einen Bezug auf eine tiefer liegende Identität verleihen. „Sie sind Ressourcen des Widerstands und der Identität, anhand derer wir uns mit den fragmentarischen und pathologischen Formen auseinandersetzen können […].“79 Der Verlust an Identität durch koloniale Dominanz, Entwurzelung und Diasporaerfahrung ist aber, wie Hall betont, seinerseits wesentlich für die Formulierung dieser Identitätsposition. Hall stellt ihr daher eine andere Art und Weise, über kulturelle Identität zu sprechen, gegenüber, die neben der Betonung von Übereinstimmungen auch Differenzen anerkennt und markiert. Solche essentialisierenden Identitätskonzeptionen, wie oben angeführt, sind in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen Richtungen massiv kritisiert worden.80 Der Aufbruch von Gruppen, die zuvor in nationalen Unabhängigkeitskämpfen marginalisiert worden waren, wie beispielsweise in Indien die kastenlosen Dalits, aber auch die Frauenbewegungen und die Aufbrüche und Positionierungen von ethnischen Gruppen, die bislang nicht gehört wurden, haben dieses Konzept von Identität ebenso in Frage gestellt wie Globalisierungsprozesse, die zur Zerstreuung von ganzen Populationen über den Erdball beigetragen haben, sowie die Verdichtung von räumlichen und zeitlichen Distanzen und das Aufkommen postmoderner und poststrukturalistischer Theorien im Westen. Kulturelle Identität ist daher, wie von verschiedenen Kritikern betont wird, ebenso eine Frage des ‚Werdens’ wie des ‚Seins’.81 Anstatt davon auszugehen, dass Identität etwas ist, das der Art und Weise, wie wir denken, sprechen und handeln zu Grunde liegt, wird Identität nun als etwas gesehen, dass durch die Diskurse, die wir benutzen und in denen wir uns bewegen, erst hergestellt wird. Dazu gehören Diskurse über Ethnizität, Rasse und Nation ebenso wie über Religion, Kultur, Gender und Politik. Identitäten werden also auf vielfältige Weise immer wieder erst konstituiert, und zwar innerhalb und durch diese Diskurse, die aber, wie könnte es anders sein, umstritten, umkämpft und keineswegs eindeutig sind. Identitäten sind daher auch immer Teil eines Kontextes, sei dieser nun zeitlich oder räumlich bestimmt. Die Erinnerung prägt unser Verständnis von Identität als das, was wir geworden sind, ebenso wie unsere räumliche Verortung. Wo wir uns befinden, in der ‚Heimat’, der Diaspora, an der Grenze, zwischen den Fronten, alles das prägt Identität und all das verlangt nach kulturellen Ausdrucksformen, die wie die Texte dieses Bandes zeigen, auch theologische Ausdrucksformen sein können. Stuart Hall definiert Identitäten so: „Weit entfernt davon, in einer bloßen ‚Wiederentdeckung’ der Vergangenheit begründet zu sein, die darauf wartet, entdeckt zu werden, und die, wenn sie entdeckt 79 80
81
Hall, Identität, 29. Für den afrikanischen Kontext nennen wir nur einige Klassiker: Valentin Y. Mudimbe, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, London 1988; Dismas A. Masolo, African Philosophy in Search of Identity, Bloomington 1994; Kwame Anthony Appiah, In My Father’s House. Africa in the Philosophy of Cultures, Oxford 1993. Hall, Identität, 29.
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wird, unser Bewusstsein über uns selbst bis in alle Ewigkeit absichert, sind Identitäten die Namen, die wir den unterschiedlichen Verhältnissen geben, durch die wir positioniert sind, und durch die wir uns selbst anhand von Erzählungen über die Vergangenheit positionieren.“82
Diese Erfahrung ist aber nicht mehr nur auf Menschen aus ehemals kolonisierten Kontexten beschränkt, sondern wie Nigel Thrift und Steve Pile betonen,83 sind diese Erfahrungen zunehmend auch für Menschen relevant, die sich selbst ihre Identität und ihre Beziehung zu Kultur und Raum in Formen von Bewegung, Mannigfaltigkeit und Hybridität denken, die es also gelernt haben, mit Differenzen zu leben und von Differenzen her zu denken.
Hybridität Als eines der bedeutendsten Konzepte der postkolonialen Theorie ist der Begriff ‚Hybridität’ zu bezeichnen, der mit dem Werk von Homi K. Bhabha eng verknüpft ist.84 Wir erinnern daran, dass Bhabha in einer Relektüre von Saids Orientalismus und dem Buch Schwarze Haut, weiße Masken von Frantz Fanon festgestellt hat, dass die scheinbar klar abgegrenzten Gegenüberstellungen von Unterdrücker/Unterdrückter bzw. Schwarzer/Weißer bei genauerem Hinsehen in den Werken dieser Autoren an den Rändern zu verschwimmen scheinen. Dort, wo es zu Berührungspunkten und Nachahmung kommt, entsteht ein Raum der Ambivalenz: Zwar sei der koloniale Diskurs auf die Beherrschung fremder Länder und Übertragung seiner Konzepte und Vorstellungen auf die unterdrückten Völker ausgelegt, doch komme es im Laufe dieser Übertragungen zu einer ‚Hybridisierung’.85 Die hierbei entstehende ‚Hybridität’ ermöglicht einen „Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie“86. Dieser Bereich wird von Bhabha mit dem Ausdruck des ‚third space’ (dritter Raum) benannt. Eine andere Benennung und etwas andere Beobachtungen macht Mary Louise Pratt, die statt von einem ‚third space’ von der ‚contact zone’ spricht.87 Doch bleiben wir bei Homi Bhabha, denn interessanterweise benutzt Bhabha in Signs Taken for Wonders (Zeichen als Wunder) 88 gerade die Bibel zur 82 83 84
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Hall, Identität, 29. Nigel Thrift / Steve Pile, Mapping the Subject, in: Mapping the Subject. Geographies of Cultural transformation, hg. v. dies., New York / London 1995, 13-51. Vgl. ergänzend die Darstellung bei Young zur Übertragung von Hybridität auf literarische Werke: Robert J. C. Young, Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London / New York 1995, 20-22. Siehe auch Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 89. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 5. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992. Homi K. Bhabha, Zeichen als Wunder. Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817 in: Ders., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2001, 151-180.
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Illustration dieses Konzeptes: Zwar steht die Bibel als Zeichen für das europäische Wissenschaftssystem und Wirklichkeitsverständnis und seine Dominanz, und die Übersetzung der Bibel in zahlreiche indische Sprachen stellt eine Möglichkeit der kulturellen Vorherrschaft der Europäer dar. Doch gerade durch die Übersetzung und hybride Übertragung in die Sphäre der Kolonisierten wird ihnen die Möglichkeit zur kritischen Hinterfragung der biblischen Überlieferung und damit auch der Dominanz der Europäer an die Hand gegeben.89 Verwurzelt ist das Modell der ‚Hybridität’ im 19. Jahrhundert und wurde dort in verschiedenen Kontexten gebraucht, darunter in kulturellen sowie in biologischen.90 Als klassisches Beispiel kann der oft zitierte Satz von Thomas Babington Macaulay dienen, der die britischen Bemühungen um europäisierte Inder auf die Formel bringt, es gehe darum, eine Klasse zu formen: „Indian in blood and colour, but English in taste, in opinion, in morals and in intellect“91. Wird nun diese Vorstellung kontrastiert mit der Figur Mahatma Gandhis, der sich in seiner Vision des gewaltfreien Protests auf europäische Intellektuelle wie Emerson, Thoreau und Tolstoi bezogen hat, wenngleich seine Gedanken zur Entwicklung der idealen indischen Gesellschaft tief mit den Geschichten Indiens verwoben waren, so entsteht ein erstes Bild davon, wie Hybridität aussehen kann und welche Ambivalenzen sie bereit hält.92 Kurz gesagt: Die eroberte Bevölkerung schreibt den Eroberer mit seinen Werten und Vorstellungen in das eigene kulturelle Gedächtnis ein.93 Eng verbunden mit der ‚Hybridität’ ist das Phänomen der ‚Mimikry’. Hatte Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken noch davon gesprochen, wie die auferlegte Nachahmung der Weißen durch die Schwarzen eine perfide Art kultureller Unterdrückung darstellt, so scheint Bhabha den Spieß umzudrehen, wenn er aufzeigt, wie Autorität durch ‚Mimikry’ in Frage gestellt wird.94 In den Worten Bhabhas: „In diesem komischen Umschlag der hehren Ideale der kolonialen Imagination in die Niederungen ihrer mimetischen literarischen Effekte bildet sich die ‚Mimikry‘ als eine der am schwersten zu fassenden und gleichzeitig effektivsten Strategien der kolonialen Macht und des kolonialen Wissens heraus.“95
Doch ist hier die Analyse noch nicht vorbei. Denn dadurch, dass die ‚Mimikry’, bedingt durch die bereits angesprochene ‚Hybridität’, eine teilweise und nicht ganz identische Nachahmung ist, entsteht eine Differenz zwischen Original und Wiederholung, die zum Ort von Bedrohung werden kann. Die hybride, unvollkommene Nachahmung und Wiederholung des kolonialen 89 90 91 92 93
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Vgl. auch die Darstellung bei Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 93. Siehe Young, Desire, 6. Zitiert nach Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 146. Siehe Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 146. Siehe Mark W. Hamilton, The Past as Destiny. Historical Visions in Sam’al and Judah under Assyrian Hegemony, in: HTR 91 (1998, 3), 215-250, hier: 216. Dies wird auf der psychologischen Ebene von Nandy, Enemy, 24, mit ähnlichen Beispielen vorgeführt. Vgl. Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 91-92. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 126.
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Originals stellt die Legitimität des Originals in Frage. ‚Mimikry’ wird von Bhabha als die „geheime Kunst der Rache“ beschrieben, da sie nicht bewusst abläuft, kein selbstbewusstes Subjekt voraussetzt, sondern vielmehr durch die hegemonialen Diskurse selbst hervorgerufen wird.96
Postkoloniale Theologien und Befreiende Praxis In der Darstellung postkolonialer Konzepte und Begrifflichkeiten sowie der Kernthemen postkolonialer Theologien sind bereits verschiedene Kritikpunkte und Herausforderungen für eine klassische, eurozentrisch ausgerichtete Theologie angeklungen. Alle der in diesem Band vorgestellten theologischen Entwürfe stehen in einer gewissen Tradition der Kritik an westlicher Theologie, die zuerst und hier sehr deutlich formuliert worden ist auf der Gründungsversammlung der ‚Ecumenical Association of Third World Theologians’ (EATWOT) in Daressalam 1976. Dort haben die Theologen und Theologinnen der ‚Dritten Welt’ eine Erklärung verabschiedet, die das kontextuelle Anliegen von ChristenInnen zum Ausdruck bringt, die in dieser Vereinigung zusammenkommen und sich nicht länger von der Theologie aus Europa und Amerika gängeln lassen wollen: „Die europäischen und nordamerikanischen Theologien herrschen heutzutage in unseren Kirchen und stellen eine Weise kultureller Beherrschung dar. Man muss sie als aus der Situation dieser Länder erwachsen verstehen und kann sie deshalb nicht unkritisch übernehmen, ohne dass wir die Frage ihrer Bedeutung im Kontext unserer Länder stellen. Wir müssen nämlich, um dem Evangelium und unseren Völkern treu zu sein, uns über die Wirklichkeiten unserer eigenen Situation Gedanken machen und das Wort Gottes im Verhältnis zu diesen Wirklichkeiten interpretieren. Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist, weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie macht und sich auf eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten Welt einlässt.“97
Sie verstanden sich damals noch nicht als postkoloniale Theologen und Theologinnen, haben aber mit ihrer Distanzierung von einer europäischnordamerikanischen Theologie, in der sie in ihrem dekontextualisierten Universalanspruch einen Ausdruck westlicher Hegemonialmacht sahen, bereits ein wichtiges Anliegen postkolonialer Theologie aufgenommen, das im „epistemologischen Bruch“ mit der westlichen Theologie seinen ersten Ausdruck fand, in seiner ganzen Radikalität aber erst mit der Artikulation postkolonialer Theologien, wie sie in diesem Band vorgestellt werden, zum Durchbruch gelangte. Es ist vor allem dieser „epistemologische Bruch“ und 96 97
Vgl. Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 92. Schlusserklärung. Ökumenischer Dialog von Theologen der Dritten Welt, Daressalam/Tansania, 5. bis 12. August 1976, in: Dem Evangelium auf der Spur. Theologie in der Dritten Welt, hg. v. Sergion Torres / Virginia Fabella / Kofi AppiahKubi, Frankfurt a. M. 1980, 137.
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was darunter zu verstehen sei, der die postkoloniale Theologiedebatte so interessant und für die Entwicklung des weltweiten Christentums so relevant macht. Dabei zeigt sich ein Praxisaspekt postkolonialer Kritik gerade auch darin, dass die Einsicht einer mangelnden Dekolonisierung der Welt auch auf das akademische Arbeiten und seine Gesetzmäßigkeiten angewendet wird.98 Wir haben uns entschieden, vor allem solche Entwürfe postkolonialer Theologie vorzustellen, die paradigmatisch für die oben angesprochenen Themenbereiche stehen können. Dazu haben wir Ansätze ausgewählt, die zum einen auf eine Re-Lektüre biblischer Texte zielen und neue Perspektiven in die Exegese eintragen wollen. R.S. Sugirtharajah und Fernando F. Segovia gehören sicherlich zu den bekanntesten und produktivsten Exegeten im Bereich Postkolonialer Theologie. Beide haben zahlreiche Bücher zu Theorie und Methoden der Exegese verfasst und herausgegeben, biblische Kommentare zu alt- und neutestamentlichen Schriften aus postkolonialer Perspektive sind unter ihrer Federführung entstanden und beide haben auch wichtige Beiträge dazu geleistet, postkoloniale Theorien in den theologischen Diskurs einzuspeisen. Musa Dube und Kwok Pui-Lan zählen ihrerseits zu den herausragenden feministisch-postkolonialen Theologinnen, die ebenfalls intensiv im Bereich der Exegese und der biblischen Hermeneutik gearbeitet und dazu breit veröffentlicht haben. Ränder, Diasporaerfahrung und hybride Formen des Christentums sollen im zweiten Abschnitt des vorliegenden Überblickswerkes im Vordergrund stehen. Die hier versammelten Aufsätze von Mayra Rivera und Vítor Westhelle, beide aus Lateinamerika, aber lehrend in den USA sowie Michael Nausner, einem Österreicher, der viele Jahre in den USA lehrte und nun in Deutschland lebt und schließlich Namsoon Kang, einer gebürtigen Koreanerin, die ebenfalls in den USA lehrt, reflektieren die Erfahrung des Entwurzelt-Seins, die Suche nach Heimat und Ursprung und das Überschreiten bzw. Betreten von Grenzen und Zwischenräumen. Der letzte Abschnitt befasst sich mit Grenzen und Ausgrenzungen, mit der Problematik der Marginalisierung und der Frage, ob eine Option für die Armen und Entrechteten mit Hilfe des Paradigmas des Postkolonialismus besser gefasst werden kann als durch die klassische Befreiungstheologie. David N. Field und Mark Lewis Taylor entwickeln mit je unterschiedlichen Akzenten eine Option für die Ränder in Auseinandersetzung mit der Postmoderne. Catherine Keller stellt ihr Konzept einer gegenseitigen Verletzlichkeit unter den theologischen Schlüsselbegriff der Liebe und geht dessen Spuren in Zeiten des Imperiums nach. Auf eine postkoloniale Spurensuche anhand einer gewichtigen theologischen Begrifflichkeit begibt sich auch Marion Grau, die die christologische Rede von Loskauf und Lösegeld vor dem Hintergrund verschiedener Ökonomien betrachtet. Mit der Vision, die postkolonialen Kontaktzonen zu Orten gemeinsamen Lernens zu machen, die in dem Aufsatz von Kwok Pui-Lan zur Verbindung von Feminismus und Postkolonialismus zur Sprache kommt, schließt der Überblick über postkoloniale Theologien ab. 98
Vergleiche dazu auch Kerner, Postkoloniale Theorien, 157.
Biblische Perspektiven Andreas Nehring/Simon Tielesch
Exegetinnen und Exegeten stehen im Ruf, methodischer Diskussion gegenüber eher vorsichtig zu sein. Die Frage, die sie an neue methodische Konzepte richten, lautet daher meist: Was bringt’s? Diese Frage soll beantwortet werden und es soll gezeigt werden, was der Mehrwert ist, den postkoloniale Theologien für die Beschäftigung mit der Bibel bringen können. Eine erste Antwort wird von R. S. Sugirtharajah gegeben: Während es einiges an kritischer Reflektion über die Rolle der Reformation, der Gegenreformation oder der Aufklärung in Bezug auf deren Beitrag zur gegenwärtigen Art und Weise, Theologie zu treiben, gibt, fehle ein solches Nachdenken über Imperialismus und Kolonialismus fast vollständig1. Was schon für den englischsprachigen Raum gilt, ist in Deutschland noch einmal stärker ausgeprägt. Da Deutschland relativ früh als Kolonialmacht ausschied und eine Beschäftigung mit deutschem Kolonialismus kaum stattgefunden hat, findet sich auch in der Theologie wenig Auseinandersetzung mit diesem Thema2. Dabei lassen sich bei einem genaueren Hinsehen viele neue Einsichten gewinnen, die zu einem veränderten und kritischeren Umgang mit der Bibel ermutigen. Systematisch lassen sich drei große Blöcke ausmachen, wie Postkolonialismus und Bibel zusammengedacht werden können. Der erste ist ein besseres Verständnis für die Entstehungsgeschichte der Bibel: Die Bibel nennt nicht nur eines, sondern gleich mehrere Weltreiche beim Namen. Israel lässt sich als politisches und religiöses Gebilde auch durch seine Beziehungen zu den es umgebenden Großmächten kennzeichnen, seien diese nun assyrisch, ägyptisch, babylonisch, persisch, griechisch oder römisch geprägt.3 Auch viele Aspekte in der Forschung zum Neuen Testament sind nur vor dem Hintergrund des Römischen Reiches und der Beziehungen zwischen der neuen Religion und der imperialen Staatsmacht zu verstehen.4 Postkoloniale 1 2
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Siehe R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford / New York 2002, 25. Vergleiche hierzu auch die Darstellung und kritische Anfrage bei Maria Do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, 11. ergleiche dazu auch den Sammelband Michael Pietsch / Friedhelm Hartenstein (Hg.), Israel zwischen den Mächten. FS Stefan Timm (=AOAT 364), Münster 2009. Außerdem auch R.S. Sugirtharajah, Exploring Postcolonial Biblical Criticism. History, Method, Practice, West Sussex 2012, 46-47. Vergleiche dazu u.a. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 493-498; Peter Pilhofer, Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung,
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Theorien können helfen, den Kulturkontakt zwischen den Großmächten und den Autorinnen und Autoren der Bibel zu erklären und sie können Modelle zur Benennung von Widerstand, Hybridität und Mimikry bereitstellen. Neben der Entstehungsgeschichte untersucht Postkolonialismus auch die Wirkungsgeschichte der biblischen Texte und zeigt auf, wo etwa Mission und Kolonialismus Hand in Hand gingen5 Außerdem sollen die hermeneutischen Vorbedingungen von Exegetinnen und Exegeten durch die Jahrhunderte hindurch dekonstruiert werden.6 Es kann dadurch gezeigt werden, wie die Bibel eine ambivalente Position einnimmt, zum einen als Teil imperialer Kultur und Mittel moralischer Kontrolle, zum anderen aber auch als Ort unerwarteten Widerstands: Beispielsweise erzählt Akiki Nyabongo in seinem Buch Africa Answers Back, wie der Held das in der Missionarsschule Gelernte nutzt, um die Bibel und deren Geschichten kritisch zu lesen und als Ort des Widerstands fruchtbar zu machen.7 Ein dritter Bereich wendet sich den marginalisierten Stimmen innerhalb des Diskurses zu. Dies umfasst nicht nur Figuren und Gestalten der Bibel, die durch die Jahrhunderte nicht im Fokus des Interesses standen8, sondern auch die Deutungen und Perspektiven der Menschen der Zwei-Drittel-Welt, die von den Zentren der Wissenschaft kaum in den Blick genommen wurden und werden.9 Doch geht es postkolonialer Theologie dabei nicht nur darum, diese Stimmen zu Gehör zu bringen, sondern immer schon nach den Arten der Repräsentation und nach Ausschlusskriterien im wissenschaftlichen Diskurs zu fragen. Eine besondere Richtung dieser Forschung interessiert sich für die biblischen Figuren, die sich in der Kontaktzone zwischen verschiedenen
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Tübingen 2010, 22-34; bzw. für zahlreiche Einzelaspekte Kurt Erlemann / Karl Leo Noethlichs (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Neukirchen-Vluyn 2011. u diesem Themenbereich hat R.S. Sugirtharajah ein eigenes Buch verfasst, das sich besonders mit der Rolle von Bibel und Kolonialismus im Indien des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Siehe R.S. Sugirtharajah, The Bible and Empire. Postcolonial Explorations, Cambridge 2005. Ein Beispiel einer solchen Verknüpfung von Text und Kontext ist die Entdeckung der „Missionsreisen“ in der Apostelgeschichte durch J. A. Bengel im 18. Jahrhundert. R.S. Sugirtharajah zeigt auf, wie das Motiv der paulinischen „Missionsreisen“ jahrhundertelang keine Rolle für die Interpretation der Apostelgeschichte gespielt hat, bis dann im 18. Jahrhundert in der frühen Blütezeit des europäischen Kolonialismus ein solches „Reisemuster“ in der Apostelgeschichte in Analogie zu westlicher Missionstätigkeit entdeckt worden ist und welche Bedeutung diese exegetische Entdeckung bis heute für die indische Theologie und Gesellschaft hat. Siehe R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London 2003, 21-27. Siehe Akiki K. Nyabongo, Africa answers back, London 1936. Das Beispiel stammt von Sugirtharajah, Postcolonial Criticism, 19. Siehe als ein klassisches Beispiel einer solchen Blickrichtung Laura Donaldson, The Sign of Orpah. Reading Ruth Through Native Eyes, in: Vernacular Hermeneutics, hg. v. R.S. Sugirtharajah, Sheffield 1999, 20-36. Vergleiche dazu das ausschlaggebende Buch R.S. Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, New York ³2006. Insbesondere aber die Einschätzung des Herausgebers 15 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches und im Vorwort des Nachfolgebandes: R.S. Sugirtharajah, Still at the Margins. Biblical Scholarship fifteen years after the Voices from the Margin, London 2008.
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Kulturen befinden.10 Hierfür hat sich besonders der Zweig der DiasporaStudien entwickelt, der die Situation der Diaspora, des „in-between“, als privilegierten Ort der Exegese entdeckt. Ausgehend von der langen Tradition der Diaspora innerhalb des Judentums beschäftigen sich biblische DiasporaStudien mit Umsiedlung, Reise und Neuansiedlung als literarischen und anthropologischen Phänomenen.11
Im Fokus: Postkolonialismus und das Alte Testament Die enge Verknüpfung von Postkolonialismus und Befreiungstheologie im Bereich der biblischen Studien hat zu einer Konzentration auf die Verwendung postkolonialer Konzepte als Lesestrategie geführt.12 Dem liegt die berechtigte Frage zu Grunde, wie überhaupt wissenschaftliche Texte entstehen und was die Vorbedingungen akademischen Arbeitens sind.13 Hier ist jedoch erst ein Anfang gemacht und das Betätigungsfeld ließe sich beliebig erweitern. Konkret könnte man an die koloniale Verstrickung biblischer Archäologie denken und an orientalistische Stereotype, die alttestamentliche Theoriebildung mit beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Zwar gibt es Beispiele für eine Übertragung postkolonialer Konzepte auf das Alte Testament14, jedoch ist festzustellen, dass die Anwendung auf das Neue Testament in deutlich größerer Zahl erfolgt.15 Als ein Hemmschuh für die Verknüpfung von Altem Testament und postkolonialen Konzepten er10
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Vergleiche dazu auch den Forschungsüberblick bei Ralph Broadbent, Postcolonial Biblical Studies in Action. Origins and Trajectories, in: Sugirtharajah, Exploring Postcolonial Biblical Criticism, 57-93; für das Konzept der Kontaktzone siehe Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992. Siehe dazu vor allem das Werk von Fernando F. Segovia und etwa seinen Aufsatz Fernando F. Segovia, Interpreting beyond Borders. Postcolonial Studies and Diasporic Studies in Biblical Criticism, in: Ders. (Hg.), Interpreting beyond Borders, Sheffield 2000, 11-34. Vergleiche dazu den Forschungsüberblick bei Bradley L. Crowell, Postcolonial studies and the Hebrew Bible, in: Currents in Biblical Research 7 (2009, 2), 217-244. Vergleiche zu dieser Anfrage auch Sugirtharajah, Postcolonial Criticism, 26. Genannt seien hier als Auswahl: William S. Morrow, The paradox of Deuteronomy 13. A post-colonial reading, in: „Gerechtigkeit und Recht zu üben“ (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie. FS E. Otto, hg. v. Reinhard Achenbach / Martin Arneth, Wiesbaden 2010, 227-239; Mark G. Brett, Genocide in Deuteronomy. Postcolonial variations on mimetic desire, in: Seeing signals, reading signs. The art of exegesis. FS Anthony F. Campbell, hg. v. Mark A. O’ Brien / Howard N. Wallace, London u.a. 2004, 75-89; Chesung Justin Ryu, Silence as resistance. A postcolonial reading of the silence of Jonah in Jonah 4.1, JSOT 34 (2009, 2), 195-218; Ronald Boer, Last Stop before Antarctica. The Bible and Postcolonialism in Australia, Atlanta 2008. Allein schon die Tatsache, dass es für das Neue Testament einen Kommentar gibt, der zu jedem Buch eine postkoloniale Perspektive bietet, während das für das Alte Testament nicht der Fall ist, spricht Bände. Siehe Fernando Segovia / R.S. Sugirtharajah (Hg.), Postcolonial Commentary on The New Testament Writings, London u.a. 2007.
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scheint die schwierige Beziehung zwischen historisch-kritischer Methode und postkolonialer Kritik. Durch die kritische Infragestellung der Aufklärung und westlicher Dominanz sowie durch die Bestreitung eines unhinterfragten Systems westlicher Rationalität wird die historisch-kritische Methode für viele postkoloniale Autorinnen und Autoren in hohem Maße fragwürdig.16 Eine Exegese, die sich von deren Grundsätzen verabschiedet, würde im akademischen Betrieb jedoch nicht wahrgenommen werden.17 Dass sich auch im Bereich der deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft bedeutende Paradigmenwechsel vollziehen, lässt sich gleichwohl kaum verbergen.18
Postkolonialismus und das Neue Testament Die Stellung Jesu und seiner Anhänger zum römischen Imperium stellte in der Auslegungsgeschichte der Bibel immer schon ein heiß umkämpftes Gebiet der Auseinandersetzung dar. Postkoloniale Theologien können helfen, diese Auseinandersetzung über den einfachen Gegensatz pro/contra hinauszuführen und aufzuzeigen, wie ambivalent die Darstellung des Empires im Neuen Testament selbst ist.19 Neben Aussagen, die eindeutig das bestehende System zu stützen scheinen, wie in Röm 13, finden sich interpretationsbedürftige Passagen wie das berühmte „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Matth 22, 15-22 par.) und Stimmen des Widerstands wie in der Offenbarung des Johannes oder aber auch in einigen paulinischen und nachpaulinischen Briefen. Eine Sonderstellung innerhalb der postkolonialen Debatte nimmt dabei das Werk von Richard Horsley ein, der sich intensiv mit Bauernbewegungen, Widerstandsbewegungen und der Frage nach dem sozialen Milieu der „Jesusbewegung“ beschäftigt hat.20 Dabei stellt er immer wieder den Kontakt zwischen dem römischen Imperium und heutigen Formen des Imperialismus her und zeigt auf, wie die „Jesus-Bewegung“ als eine anti-imperia16 17
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Siehe hierzu auch die Ausführungen in Crowell, Postcolonial studies, passim. Vergleiche zu diesem Punkt besonders auch den Streit um „New Literary Criticism“ und für den Bereich des Alten Testaments die Frage nach Synchronie und Diachronie in der Exegese. Eindeutig und klar hierzu: Erhard Blum, Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese, in: David und Saul im Widerstreit. Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuchs (OBO 206), hg. v. W. Dietrich, Göttingen 2004, 16-30; außerdem: Louis Cloete Jonker, Reading with one eye closed?. Or: What you miss when you do not read biblical texts multidimensionally, in: Old Testament essays 19 (2006, 1), 58-76. Vergleiche hierzu etwa den Aufsatz Ralf Rendtorff, The paradigm is changing. Hopes and fears, in: Biblical interpretation 1 (1993, 1), 34-53. Vergleiche dazu Sugirtharajah, Exploring, 39. So etwa in seinem Buch Richard A. Horsley, Jesus and Empire. The Kingdom of God and the New World Disorder, Augsburg Fortress 2003. Siehe auch Richard A. Horsley (Hg.), Hidden Trancripts and the Art of resistance. Applying the Work of James C. Scott to Jesus and Paul, Atlanta 2004; Richard A. Horsley (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; Richard A. Horsley, (Hg.), Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation, Harrisburg 2000.
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listische Strömung interpretiert werden kann, die sich auf zahlreiche Traditionen innerhalb der jüdischen Geschichte berufen kann. Postkoloniale Kritik entwirft allerdings nicht nur neue Perspektiven auf die Bibel, sondern befragt auch kritisch die aktuelle Forschung nach ihren verborgenen Motiven wie im Fall der Suche nach dem historischen Jesus. Diese Suche kann nicht losgelöst von einer tiefgreifenden Identitätskrise weißer europäisch-stämmiger Männer in den USA gesehen werden, wie unter anderem auch Kwok Pui-Lan in einem Interview argumentiert.21
Über die Bibel hinaus Die Bibel stellt für postkoloniale Theologinnen und Theologen nicht immer nur die Lösung dar, sondern wird auch als ein Teil des Problems wahrgenommen: Die Bibel sei so stark von imperialen und kolonialistischen Spuren und Einschreibungen durchzogen, dass ihr Gebrauch alles andere als unproblematisch ist. Zudem gibt es im Bereich vieler postkolonialer Theologien eine Suche nach alternativen Quellen der Spiritualität und eine Wiederaufwertung indigener Religiosität, die lange unterdrückt worden ist. Getreu dem Leitmotiv der Hybridität wird dabei auch die Vermischung und Kreolisierung unterschiedlicher Traditionen nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern versucht, das Christentum aus einem exklusivistisch-missionarischen Kontext zu lösen. Die von R.S. Sugirtharajah in Aussicht gestellte Lösung, dass die Bibel nur ein Weg unter vielen sei und selbst nicht das Ziel darstelle, ist bestimmt auch nicht die letzte Antwort, die von postkolonialen Theologien im Hinblick auf die Bibel zu erwarten ist.22
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Vergleiche den Artikel von Kwok Pui-Lan in dem vorliegenden Band. Siehe Sugirtharajah, Exploring, 77-78.
Konvergente Trajektorien? Befreiungshermeneutik und postkoloniale Bibelkritik R.S. Sugirtharajah
Eine unterdrückte Bibel unterdrückt und eine befreite Bibel befreit. (Itumeleng Mosala 1992, 137) Bis jetzt wurde Befreiungshermeneutik als der charakteristische Beitrag von BibelexegetInnen der Dritten Welt angesehen. Kürzlich ist eine andere kritische Gattung, der Postkolonialismus, als ihr Rivale aufgetaucht und erhebt Anspruch darauf, die Stimmen der Minderheiten zu repräsentieren. Auf den ersten Blick teilen Befreiungshermeneutik und postkoloniale Theorie denselben interpretativen Tenor – zum Beispiel de-ideologisieren sie dominante Interpretationen, sie bekennen sich zum Fremden/Anderen und sie misstrauen totalisierenden Tendenzen. Noch deutlicher ist es, dass sich beide zur sozialen und politischen Ermächtigung der Unterdrückten bekennen und zur kritischen Wiederentdeckung der kulturellen Wurzeln von Menschen, die in der Geschichte als minderwertig angesehen wurden. Ein näherer Blick darauf wird jedoch zeigen, dass die Befreiungshermeneutik immer noch mit einigen Untugenden des modernistischen Projekts behaftet ist – mit exzessivem Textualismus, mit der Herabsetzung sowohl der großen als auch der Volksreligionen und mit der Homogenisierung der Armen. Sie scheint auch sehr zögerlich dabei zu sein, diese Untugenden aufzugeben. Dieses Kapitel hat drei Ziele. Erstens wird es sich mit dem gegenwärtigen Gebrauch der Bibel durch die Befreiungshermeneutik befassen, um aufzuzeigen, wie diese letztlich darauf hinausläuft, eine mikrokosmische Version der hegemonialen Interpretation zu reproduzieren, die sie gerade überwinden wollte. Zweitens wird es die modernistischen/postmodernistischen Tendenzen der Befreiungshermeneutik hinterfragen und drittens wird es die Affinitäten zwischen diesen beiden Bestrebungen aufzeigen und deutlich machen, dass die Befreiungshermeneutik sich mit der postkolonialen Kritik zusammenschließen kann, ohne ihr Bekenntnis zur Befreiung zu gefährden.
Kennzeichen klassischer Befreiungshermeneutik Befreiungshermeneutik wird im Prinzip mit lateinamerikanischer Befreiungstheologie assoziiert. Es ist nicht nötig, die Ursprünge und die Entwick-
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lung dieser Theologien hier zu wiederholen. Greift man auf die verfügbare Literatur zurück, erkennt man drei Phasen innerhalb der Befreiungshermeneutik.1 Erstens, die lateinamerikanische Befreiungstheologie, die auf einer großartigen Makro-Ebene entwickelt wird, beschäftigt sich mit einem universellen Diskurs über Befreiung. Sie bietet allumfassende Kategorien an, die überhaupt nur von einer kosmopolitischen Perspektive aus Sinn machen. Bei der Interpretation der Bibeltexte ist es ihr Ziel, den Text ‚im Licht unserer lateinamerikanischen Realität’ zu lesen, oder durch ‚lateinamerikanische Augen’ und dann, durch Ausweitung, all jene in entfernten Kontinenten einzuschließen, die unterdrückt werden. Sie wird aller lateinamerikanischer Eigenheiten beraubt und nimmt für sich in Anspruch, für alle Unterdrückten zu sprechen. Zum Beispiel wird in Gutiérrez’ grundlegendem Werk Theologie der Befreiung sein Heimatland Peru kaum erwähnt. In seiner Einführung zum Buch Hiob schreibt er: „Bei unserem Durchgang durch die Ijob-Schrift halten wir uns vor Augen, was es bedeutet, von Gott vor lateinamerikanischem Hintergrund zu sprechen – oder noch genauerhin: vor dem Hintergrund unschuldigen Leidens, von dem die große Mehrheit unserer Bevölkerung betroffen ist.“2
Im Prozess der Ausarbeitung ihrer Hermeneutik hat die Befreiungstheologie alle Besonderheiten umgangen und irgendwie universale Proportionen und Ziele angenommen. In ihrem Vorwort zur nordamerikanischen Ausgabe von The Amnesty of Grace erinnert Elsa Tamez ihre Leser an die universelle Implikation ihres Buches: „Obwohl diese Studie aus einem Kontext der Exklusion, Unterdrückung und Armut hervorgegangen ist, ist sie eine Botschaft für jede/n.“3 Ich möchte diese Interpretationsart klassische Befreiungshermeneutik nennen. Die zweite Phase ist das Lesen der Bibel, wie sie an den Grassroots in den christlichen Basisgemeinden, von nicht-studierten LeserInnen, praktiziert wird. Sie verstehen die Bibel als das Produkt einer Gemeinschaft und sehen ihre Aufgabe darin, sie von einer individuellen, ‚spirituell’ apolitischen Lesart zurück zu gewinnen, als Stärkung für die Gemeinschaft. Diese Lesepraxis wurde von kirchlichen Basisgemeinschaften und von Gemeinschaften der Eingeborenen initiiert. Die Aneignung der Bibel durch die Bauern von Solentiname während des Samoza-Regimes wurde zu einem wichtigen hermeneutischen Ereignis. Diese Art der Interpretation strömte später in andere Teile der Welt, besonders nach Südafrika und auf die Philippinen. Ich möchte diesen Zugang die Lesart des Volkes nennen.4 1
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Literatur über Befreiungstheologie gibt es enorm viel. Eine hilfreiche Einführung in die Methodologie ist Peter C. Phan, A Common Journey, Different Paths, the Same Destination. Method in Liberation Theologies, in: A Dream Unfinished. Theological Reflections on America from the Margins, hg. v. E.S. Fernandez / F.F. Segovia, Maryknoll, 2001, 129-151 und ebenso Curt Cadorette u.a. (Hg.), Liberation Theology, Maryknoll 1992. Gustavo Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid. Ijob, München 1988, 21. Elsa Tamez, The Amnesty of Grace. The Justification by Faith from a Latin American Perspective, Nashville 1993, 8. Für Beispiele der Lesart der Bauern von Solentiname, siehe Ernesto Cardenal (Hg.), Das Evangelium der Bauern von Solentiname, 4 Bde., Gütersloh 1988. Für ihre
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Die dritte Phase ist das Auftauchen einer spezifisch auf Befreiung bezogenen Lesart, an der sich eine große Vielfalt von Stimmen der Minderheiten beteiligt – Dalits, Frauen, Burakumin, Eingeborene und Menschen, die Opfer sowohl von interner als auch von externer Gewalt wurden. Befreiungstheologie wird nicht länger als ein einziges Genre gesehen, sondern als eine ganze Reihe von Genres, wobei viele davon miteinander verbunden sind und im Auftrag vieler Stimmen sprechen. In den 1980er Jahren kam eine Kultur der Opfer auf und historisches Leiden wurde zu einem Zertifikat für Legitimität. Es wurde zu einem ‚Produkt der Beschädigung‘. Die Menschen hörten auf, ihre ethnischen Unterschiede und Genderunterschiede zu verstecken und sahen ihr Ziel darin, aufzuwachen und ihre verwundeten Identitäten zu hegen und zu pflegen. Die Opferrolle wurde nicht nur zum Schlagwort, sondern zum zentralen Fokus von Identität. Ich möchte dies die identitätsspezifische Lesart nennen. In diesem Kapitel geht es jedoch um die klassische Befreiungshermeneutik. Ich will die Grundsätze der Befreiungshermeneutik noch einmal aufzählen, auch auf die Gefahr hin, dass ich sie zu sehr vereinfache. Es besteht keine Notwendigkeit, die Ursprünge und die Entwicklung lateinamerikanischer Befreiungstheologie noch einmal durchzugehen. Es gibt genug Literatur, die davon handelt. Ich will jedoch einige der interpretativen Merkmale hervorheben, die zu Kennzeichen der Befreiungshermeneutik geworden sind: die Selbstverpflichtung, Armut auszurotten, kommt als erstes, und das Lesen der Bibeltexte folgt als eine kritische Reflexion darauf, wobei die Absichten hinter den Heiligen Schriften ganz konkret umgesetzt werden; die Zustimmung, dass die Wirklichkeit eine ist, und dass Befreiung als ein allumfassendes Phänomen angesehen wird. Traditionelle Dualismen wie heilig/profan, individuell/gemeinschaftlich fließen in einer alles vereinenden Geschichte zusammen. Geschichte wird als ein Medium von Gottes SelbstOffenbarung gesehen und als der Ort der historischen Aktivität Gottes; die Armen zu privilegieren wird zur herausragenden hermeneutischen Kategorie. Jede neue Situation ermöglicht eine neue Interpretation, die frühere InterpretInnen entweder vernachlässigt oder übersehen haben. Die Befreiungshermeneutik machte die Armen zu einem bevorzugten Thema der Exegese; die zwingende Auflage für die biblische Wissenschaft, sich mit den Problemen der Menschen auseinanderzusetzen und ihnen zu dienen, anstatt sich in Theorien und philologische Debatten zu flüchten; Abscheu vor einem neutralen Lesen der Schrift. EinE InterpretIn muss Stellung beziehen und BefreiungstheologInnen ergreifen, ohne dies rechtfertigen zu müssen, offen und ganz bewusst Partei für die Armen und von dieser Perspektive aus findet die Lesung statt; die Glaubwürdigkeit der Bibel beruht auf einem entsprechenden Vor-Verständnis. Die Bibel hat nur dann eine Bedeutung, wenn sie von einem bestimmten Standpunkt aus gelesen wird. Wenn man die Bibel von einer bestimmten Perspektive aus liest, bedroht dies nicht den Katholizismus des visuelle Repräsentation biblischer Erzählungen siehe Philipp Scharper / Sally Scharper, The Gospel in Art by Peasants of Solentiname, Maryknoll 1980.
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Evangeliums, vielmehr befreit es die Botschaft des Evangeliums von ihrer Neutralität und zeigt ihre facettenreichen Dimensionen. Die Befreiungshermeneutik war verantwortlich für die Einführung von zwei hermeneutischen Kategorien – dem ‚hermeneutischen Zirkel’ und der ‚Hermeneutik des Verdachts’, die seit diesem Zeitpunkt Eingang ins ‚Lexicon of Biblical Scholarship’5 gefunden haben. Segundo hatte als Erster die Idee eines hermeneutischen Zirkels zur Diskussion gestellt. Nach ihm sollte man zuerst die Alltagsrealität eines Kontextes mit all ihren Problemen und Konflikten analysieren, danach liest man biblische Texte, um auf deren Botschaften zu hören, dann geht man zurück zum Kontext und bringt das Neue des Evangeliums dort ein. Die Hermeneutik des Verdachts andererseits strebt danach, die ideologische Befangenheit in der Bibelinterpretation herauszustellen. In den Anfangstagen der Befreiungsideologie zeigte José MiguezBonino auf, dass das, was oft fälschlicherweise als eine objektive Lesart verstanden wird, ideologisch voreingenommen ist. Das war noch bevor es zur Mode wurde, eine Verbindung zwischen sozialer Stellung und Interpretation zu sehen. Am Beispiel, wie die Aussagen von Jesus über die Reichen und die Armen durch die damals vorherrschende Hermeneutik ausgelegt worden sind, gelang es Bonino herauszuarbeiten, wie diese Lesart Klassenwerte widergespiegelt hat: „Selbst ein flüchtiger Blick auf biblische Kommentare der protestantischen Tradition zeigt den fast einheitlichen Gedankengang: Reichtümer (an sich) sind gut – deshalb konnte Jesus sie nicht als solche verurteilt haben, genauso wenig wie reiche Menschen als solche – konsequenterweise muss der Text daher etwas anderes bedeuten.“6 Bonino fuhr fort zu erklären, dass eine derartige ideologische Blindheit selbst bei aufrichtigen und verantwortlichen Exegeten anzutreffen war. Bonino zitiert das Beispiel von Joachim Jeremias: „Er argumentiert – vielleicht richtig – in der Parabel vom reichen Mann und Lazarus: ‚Jesus möchte ein soziales Problem nicht kommentieren.’ Aber wenn Vers 25 (Lk 16, 19-31) die Umkehr der Bedingungen der Armen darstellt, argumentiert Jeremias für die ‚ideologische Vermutung’ und fragt: ‚Wo hat Jesus je behauptet, dass Wohlstand an sich die Hölle verdient und Armut an sich mit dem Paradies belohnt wird?’“7
Darauf hat Bonino Antworten gefunden, die eine Interpretation frei von bourgeoisen Voraussetzungen hätte sehen müssen: „Erstens: Jesus spricht nie von Reichtum an sich und Armut an sich, sondern von Reichen und Armen, wie sie sind, und zwar geschichtlich geworden. Die ‚an sich’Unterstellung ist eindeutig ein Stück liberaler Ideologie. Zweitens: Eine große Anzahl von Bibelstellen, oder praktisch alle Stellen, die von diesem Thema handeln (mit Ausnahme von Mt 13,12 und Parallelen, wenn man in diesem Zusammenhang auslegt), deuten klar in die Richtung dieser Umkehrung, welche Erklärung man
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Siehe Juan Luis Segundo, The Liberation Theology, Maryknoll 1976, 7-38. José Miguez-Bonino, Marxist Critical Tools. Are They Helpful in Breaking the Stranglehold of Idealist Hermeneutics?, in: Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, hg. v. Sugirtharajah, R.S., Maryknoll 1995, 58-68; 60. Miguez-Bonino, Marxist Critical Tools, 60.
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ihnen auch immer geben mag. Mehr noch, seine Beziehung zu einer Richtung der prophetischen Tradition – auf die sich Jesus offenbar in mehreren anderen Aspekten in seiner Lehre bezieht – macht alles noch klarer. Auf den tatsächlichen Grund von Jeremias‘ Auslegung stoßen wir mit der eigenartigen Beteuerung, dass „Jesus nicht die Absicht hat, in der Frage von reich und arm Stellung zu beziehen.“8
Als nächstes möchte ich, um den befreiungshermeneutischen Gebrauch der Bibel herauszustellen, einen Blick auf Gutiérrez’ Von Gott sprechen in Unrecht und Leid - Ijob9 und Elsa Tamez’ The Amnesty of Grace10 werfen.
Gutiérrez’ Hiob Der Ausgangspunkt, von dem aus Gutiérrez Hiob liest, ist das Reden über Gott – wie reden wir über Gott, besonders aus der Situation unschuldigen Leidens heraus? Für ihn ist der theologische Fokus nicht der, mit dem die westliche Theologie seit dem Holocaust zu ringen versucht – wie reden wir über Gott seit Auschwitz? Sondern eher, wie können wir uns auf einen theologischen Diskurs einlassen, während es Ayacucho immer noch gibt?11 Das bedeutet, über Gott zu reden, während die einfachen Menschen in Lateinamerika täglich die Erfahrung von Gewalt, Verlust und Tod machen. Es geht nicht um eine theologische Reflexion, die auf einem vergangenen Ereignis wie Auschwitz basiert – so wichtig dies auch sein mag; in der lateinamerikanischen Frage geht es um das aktuelle unschuldige Leiden der Armen, deren tägliches Leben so aussieht, als wäre es eine Verleugnung der Gegenwart von Gottes Liebe. Mit diesen Fragen wendet sich Gutiérrez dem Buch Hiob zu, denn in ihm findet er, dass „[d]ie Unschuld, die Ijob nachdrücklich einklagt, [uns] hilft […], die Schuldlosigkeit eines unterdrückten und gläubigen Volkes an der Situation von Schmerz und Tod zu verstehen, in die man es gestoßen hat.“12 Während er einräumt, dass das Buch Hiob sich auch mit anderen einschlägigen theologischen Themen wie der Transzendenz Gottes beschäftigt und mit Problemen wie dem Bösen, dem persönlichen Leiden und Trauer, ist es Gutiérrez’ Überzeugung, dass das zentrale Thema der Erzählung die Frage des unschuldigen Leidens ist. Gutiérrez erkennt an, dass das Buch Hiob keine eingängige Antwort auf die Frage des unschuldigen Leidens gibt. Hiobs Glaube war der Anlass für ihn, um nach einer angemessenen Redeweise über Gott zu forschen, die für die leidenden Menschen Sinn macht. Hiob übermittelt, dass es zwei Wege gibt, über Gott zu sprechen – prophetisch und mystisch – beide sind miteinander verflochten und bestärken und inspirieren einander. Die prophetische Sprache erlaubt es einem, aufgrund der Vorliebe Gottes für die Armen näher 8 9 10 11 12
Miguez-Bonino, Marxist Critical Tools, 60-61. Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid. Tamez, The Amnesty of Grace. Ayacucho ist eine Stadt in den peruanischen Bergen mit wild wuchernder Armut und Gewalt. Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, 21.
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an ihn heranzutreten. Ein Aspekt dieser Sprache ist die Gerechtigkeit. Am Anfang war Hiob zu sehr mit seinem eigenen Leiden beschäftigt und daraus entwickelt sich sein Protest. Nach und nach erkennt Hiob, dass er nicht alleine ist und dass Leiden nichts ist, was nur ihn betrifft, sondern dass es viele wie ihn gibt. Von da an wird sein Protest stärker, denn er ist offen für anderes Leiden und er schließt die Notlage anderer in seinen Protest mit ein. Nun protestiert er im Namen aller unschuldigen Opfer. Gutiérrez drängt, dass die Christen diese Art prophetischer Sprache in ihren Diskursen und in ihrer Praxis wiedererlangen sollten. Mystische Sprache hingegen redet über die bedingungslose Liebe Gottes – die Liebe Gottes für die Armen, die nicht verdient werden muss. Die Armen sind privilegiert, nicht weil sie moralisch überlegen oder materiell beraubt sind, sondern wegen der bedingungslosen und universellen völligen Freiheit Gottes, zu lieben. Gott ist den Armen verpflichtet, nicht weil sie von Natur aus gut sind, sondern weil Gott gut ist und weil Gott die Letzten in der Welt vorzieht. Gutiérrez schreibt: „Das letzte Fundament dieses Privilegs liegt nicht bei den Armen, sondern bei Gott, in der Ungeschuldetheit und Universalität seiner Agape.“13 Für Gutiérrez sind beide Sprachen – die prophetische und die mystische – notwendig und daher untrennbar. Die Sprache der Kontemplation bekennt, dass alles von Gottes unverdienter Liebe kommt, und sie öffnet „neue Horizonte der Hoffnung“; und die prophetische Sprache greift die strukturellen Ursachen an, durch die die Armen beraubt in den ungerechten Situationen, in denen sie sich befinden, festgehalten werden. Es ist die Sprache, die „die Züge Christi“ in den schmerzverzerrten Gesichtern eines unterdrückten Volkes sucht.14 Diese zweifache Sprache ist in Gutiérrez’ Augen die von Hiob vorhergesagte Sprache Jesu. Während Hiob stottert, spricht Jesus klar und deutlich. Besonders am Kreuz spricht Jesus mit großer Aussagekraft über Gott. Gutiérrez fordert, dass wir „Jesu Schrei am Kreuz weiter in die Geschichte hinein hallen lassen und darauf achten [müssen], daß er unser Bemühen um Theologie speist“15. Wenn wir Von Gott sprechen in Unrecht und Leid lesen, dann entdecken wir eine methodologische Neuorientierung in Gutiérrez’ Denken. Die berühmten Sätze, die er in der Theologie der Befreiung geschrieben hat und die zu einer Art Manifest der Befreiungstheologie geworden sind – Engagement ist der erste Akt und Theologie als kritische Reflexion der Praxis folgt nach – haben jetzt der Kontemplation und der Praxis an erster Stelle und der Reflexion darüber als zweites Platz gemacht.16 In diesem veränderten Verständnis der Rede von Gott schreibt Gutiérrez: „Das könnte man so formulieren: Betrachten läßt sich Gott vor allem dadurch, daß man seinen Willen, sein Reich, tut; erst dann denkt man ihn. In Kategorien, die uns 13 14 15 16
Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, 139f.; kursiv im Original. Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, 45. Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, 154. Einen bewegenden persönlichen Bericht über den Wandel in seiner Methodologie findet man in der Einführung der überarbeiteten Ausgabe von A Theology of Liberation, übers. V. C. Inda / J. Eagleson, Maryknoll 1988, besonders die Seiten xxviii-xxxvi.
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bekannter sind, heißt das: Betrachten und Praktizieren sind eine Einheit, die wir ersten Akt nennen, während Theologie der zweite Akt ist. In einem ersten Schritt geht es darum, sich auf Mystik und Praxis einzulassen; erst danach läßt sich ein authentischer und ehrfurchtsvoller Diskurs über Gott entwickeln. Wollte jemand Theologie treiben ohne die Vermittlung von Betrachtung und Praxis, würde er schlicht die Forderungen des Gottes der Bibel mißachten.“17
Hier scheint der Akzent mehr auf Kontemplation und emanzipatorischer Spiritualität zu liegen als auf Aktion und sozialer Transformation, für die die Befreiungstheologie in ihren Anfangstagen bekannt geworden ist. In einer Aussage, die empfiehlt, eine der grundlegenden Lehren der Befreiungstheologie zurückzuweisen, fährt Gutiérrez fort: „Der letzte Grund dafür, daß Gott den Armen bevorzugt, liegt in seiner - Gottes Güte und nicht in irgendeiner Gesellschaftsanalyse oder im menschlichen Mitleid, so wichtig der eine wie der andere Grund auch sein mögen.“18
Dieser Wandel im Denken könnte unter anderem dem Druck der römischkatholischen Hierarchie und dem offensichtlichen Fehlschlagen des sozialistischen Experiments in Osteuropa zuzuschreiben sein. Angesichts dessen scheint die Befreiungstheologie sich von einer früheren kritischen Befreiungstheorie und -praxis zu distanzieren und zu einer konservativeren Art des theologischen Diskurses überzugehen.
Tamez’ Paulus Tamez’ theologisches Streben ist ähnlich gelagert, aber ihre hermeneutische Frage ist in diesem Fall, wie man über Rechtfertigung in Lateinamerika sprechen kann, während es dort kulturelle, soziale und psychologische Entmenschlichung gibt. Die Lehre von der Rechtfertigung, wie sie in Lateinamerika wahrgenommen wird, ist eher eine gute Nachricht für die Unterdrücker als für die Armen. Sie wird in einem abstrakten, individualistischen und allgemeinen Sinn verstanden. Indem sie hinter die konfessionellen Debatten schaut, die sich mit Glaube und Werken, Gesetz und Gnade beschäftigen, versucht Tamez, der Rechtfertigung für die Ausgeschlossenen einen Sinn zu geben und sie definiert Sünde neu als strukturelle Sünde und als Ursache für den Tod von Millionen Unschuldigen in Lateinamerika.19 Im Gegensatz zu den konfessionellen Theologien, die die Sünde in privaten und pietistischen Begriffen fassen, stellt Tamez sie in einen sozialen Kontext und daraus folgt auch ihre Forderung, dass die Rechtfertigung im sozialen Zusammenhang gesehen werden muss. Im erneuten Lesen von Paulus’ Römerbrief entdeckt Tamez Ähnlichkeiten zwischen dem paulinischen und dem lateinamerikanischen Kontext. Ihre These ist, dass Paulus selbst Fragen nach der Macht der strukturellen Sünde, die alle Menschlichkeit versklavt hat, gestellt hat und in 17 18 19
Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, 13; kursiv im Original. Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, 13; Hervorhebung hinzugefügt. Tamez, The Amnesty of Grace, 14.
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ihr eine Macht erkannt hat, die nicht einfach überwunden werden kann. Tamez vermutet, dass die Sünde eine in Paulus’ historischen Kontext gewobene Realität ist. Um sie zu überwinden, lässt sich Paulus auf zwei Arten von Sprache ein, die miteinander in Wechselbeziehung stehen. Indem sie Gutiérrez’ Auffassung von einer prophetischen und einer mystischen Sprache wiederholt, entdeckt Tamez bei Paulus einen ähnlichen doppelten Sprachschatz: Einer redet über die Treue Gottes und der andere über die Erlösung der Armen und über die menschliche Solidarität unter ihnen als Folge von solch einer Handlung Gottes. Tamez erklärt Paulus‘ Position so: „Eine Sprechweise spricht über den Glauben an Gott: über die absolute Gewissheit der Solidarität Gottes mit den Verdammten, die sich durch die Liebe Gottes in Christus zeigt. Nichts und niemand kann uns von dieser Liebe trennen (Röm 8, 3839). Die andere Sprechweise spricht über die Glaubensantwort in den Menschen: ‚Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat’ (Röm 8, 37).“20
Tamez sieht Rechtfertigung als Gottes liebevolle Zuwendung am Kreuz und gerade darin auch eine Überwindung des erkannten Subjektivismus und Individualismus in der Rechtfertigung. Die Auferstehung stellt eine wesentliche Komponente in der Rechtfertigung dar. Am Kreuz hörte Gott nicht nur den Schrei seines Sohnes, sondern auch die Schreie all jener, die verdammt waren. In der Auferweckung Jesu hat Gott allen, die ausgeschlossen waren, die Möglichkeit zur Auferstehung gegeben. Ohne die Auferstehung würde man im früheren Leben verbleiben – einem Leben der Hoffnungslosigkeit. Für Tamez hat die Rechtfertigung mehr mit der Bejahung des Lebens zu tun als mit der Vergebung der Sünden. Die Aussöhnung mit Sündern ist nur ein Aspekt der Rechtfertigung, aber der eigentliche Kern der Rechtfertigung ist Gottes Solidarität mit jenen, die am Rande stehen und vom Tod bedroht sind. Sie schreibt: „Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und ihre Verwirklichung in der Rechtfertigung verkündet und realisiert die gute Nachricht vom Recht auf Leben für jeden Menschen. Das Leben, das einem in der Rechtfertigung gewährt wird, wird als unveräußerliches Geschenk angesehen, da es aus der Solidarität von Gott in Jesus Christus mit jenen, die ausgeschlossen sind, hervorgeht. Solch ein Leben in Würde macht Menschen zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte. Gott ‚rechtfertigt’ (macht und deklariert es als gerecht) das menschliche Wesen, um die ungerechte Welt zu transformieren, die eben dieses menschliche Wesen ausschließt, tötet und entmenschlicht.“21
Dieser Akt der Solidarität hat, nach Tamez, die Ausgeschlossenen mit Lebenskraft erfüllt, um ihre Würde als freie Menschen Gottes zurück zu gewinnen. Die Logik der Gnade verkündet eine Amnestie für alle Ausgeschlossenen. Sie sind nicht länger ein Objekt der Gesetze oder manipuliert durch die Strukturen. Als Ergebnis dessen, was Jesus am Kreuz vollbracht hat, erscheinen sie nun als völlig vermenschlichte Geschöpfe, um „gerecht zu handeln, um die Wahrheit, die in der Ungerechtigkeit gefangen war, zu befreien“. Um es anders auszudrücken, Rechtfertigung bedeutet, Gott ist in 20 21
Tamez, The Amnesty of Grace, 112. Tamez, The Amnesty of Grace, 14.
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Solidarität mit der Menschheit in Jesus Christus – dem Prototyp des Ausgeschlossenen, und darum entdecken die Menschen ihre Würde und Selbstbestätigung. Fassen wir zusammen. Es gibt gewisse Ähnlichkeiten zwischen den hermeneutischen Ansätzen von Gutiérrez und Tamez. Beide äußern sich aus dem lateinamerikanischen Kontext heraus und versuchen, die biblische Botschaft in diesem Kontext zu rekontextualisieren. Darin findet ihre Interpretation einen Widerhall in Clodovis Boffs Idee von der ‚Übereinstimmung von Beziehungen’. Im Gegensatz zur ‚Übereinstimmung der Begriffe’, die oberflächliche Parallelen zwischen dem gegenwärtigen Kontext und alten Bibeltexten sieht, ist die ‚Übereinstimmung der Beziehungen’ eine ausgearbeitetere Methode, bei der die gegenwärtigen politischen, sozialen und ökonomischen Kämpfe der Menschen das Prisma sind, durch das man auf ein ähnliches politisches, soziales und ökonomisches Engagement schaut, das in der Bibel beschrieben wird.22 Beide legen die Texte auf der redigierten Ebene aus und ihre Art zu kommentieren ist eher die geläufige erzählende Art, als die technische, zeilenweise Annäherung. Beide nutzen die Bibel, um die vorherrschende Lehre der Kirche zu überprüfen und zu korrigieren. Für beide wird die Glaubwürdigkeit der Bibel durch ihren wesentlichen Inhalt definiert und gründet sich auf diesem – Jesus Christus. „Das Leben Jesu Christi, sein Tod und seine Auferstehung, wovon wir in den Schriften lesen“, muss, nach der Ansicht von Tamez, „neu interpretiert werden mit dem Ziel, jedem menschlichen Wesen Leben zu geben.“23 Jesus ist es, der die Bibel als Autorität ablöst. Schließlich stimmen Gutiérrez und Tamez auch in ihrem theologischen Ansatz überein. Beide heben die Großzügigkeit und das Mitgefühl Gottes hervor und die soziale Verantwortung und die Güte, die unter den Benachteiligten, angeregt und inspiriert durch Gottes Gnade, die Oberhand gewinnen. Während sie die verallgemeinernden Tendenzen der westlichen Theologien ablehnen, läuft es bei diesen beiden Exegeten darauf hinaus, dass sie eine mikrokosmische Version genau der Theologie reproduzieren, die sie zurückzuweisen versuchen. Das Buch Hiob und die Paulusbriefe werden nochmals gelesen, ohne dabei irgendwelche spezifisch lateinamerikanischen Nuancen oder einheimische kulturelle Bezugsquellen einzubringen, sondern aus der Perspektive der liberalen modernistischen Werte von Solidarität, Identifizierung und Befreiung. Ihre Hermeneutik behält einige Merkmale der Liberalen Theologie bei. Das Verständnis der Rechtfertigung, das sich auf eine Rekonstruktion von Paulus gründet und die Botschaft, dass Gott den Armen eine unverdiente Liebe entgegenbringt, sind sogar ziemlich nahe am liberalen Denken. Die Rechtfertigung bei Tamez und die Unentgeltlichkeit von Gottes Liebe bei Gutiérrez werden letztendlich durch den Tod Jesu erbracht und der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Sündigen durch die Armen als Emp22
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Clodovis Boff, Hermeneutics. Constitution of Theological Pertinency, in: Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, hg. v. R.S. Sugirtharajah, London 1991, 9-35. Tamez, The Amnesty of Grace, 122.
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fänger ersetzt werden. Auch im Gebrauch der Bibel reproduzieren Gutiérrez und Tamez die klassische liberale Sicht, die dafür plädiert, die Bibel auf den Kontext zu beziehen, in dem Gottes Gegenwart bereits offensichtlich ist. Ihr hermeneutischer Ansatz hört sich an, als würde er die liberale Botschaft nur formuliert in der Sprache der Befreiung wiederholen: Jesus liebt mich. Das weiß ich, weil die Bibel es mir so sagt (This I know, for the Bible tells me so).
Die Befreiungshermeneutik und ihre Verstrickungen Mit ihrem Anspruch, für Befreiung auch in einer Zeit einzutreten, die durch Zynismus und Überdruss in Fragen der Emanzipation geprägt ist, hat die Befreiungshermeneutik beharrlich und fast einseitig dazu beigetragen, Befreiung im Zentrum der theologischen Diskussion zu halten. Um den Impuls der Befreiung lebendig zu halten, hat sich die Befreiungshermeneutik sowohl auf moderne als auch auf postmoderne Tendenzen bezogen. Sie nimmt Aspekte von beiden auf und gleichzeitig distanziert sie sich auch von ihnen. Der wichtigste Fokus der Befreiungshermeneutik ist natürlich die Befreiung, eine Vorstellung, die ihrerseits aber der modernistischen Agenda entstammt. Befreiung ist eine der großen Erzählungen der Moderne, die in vielen Ländern der Dritten Welt ihr Potenzial erst noch ausspielen muss und die Befreiungshermeneutik hat sich zurecht hinter dieses modernistische Anliegen gestellt. Die Befreiungshermeneutik wird aber dann überflüssig, wenn sie andere große Erzählungen der Moderne in ihre interpretativen Bemühungen mit hineinzieht. Zwei solcher großen Erzählungen, die in der Befreiungshermeneutik den Ton angeben, sind ‚die innerweltliche Erlösung in der Geschichte’ und die ‚Jesus-Christus-Legende’. Die Befreiungshermeneutik arbeitet inmitten der bereits existierenden biblischen Ansätze und sie schreibt Gottes Selbstoffenbarung in den historischen Ereignissen im Leben Israels einen grundlegenden Status für ihre eigenen hermeneutischen Bemühungen zu. Es war aber genau dieses Modell, das auch von den Missionaren und Kolonialisten verwendet wurde, um die Kultur und die Geschichte anderer Völker zu bezwingen und zu unterdrücken. Das Modell der innerweltlichen Erlösung in der Geschichte lässt die Frage nach der Erfahrung von Gott aufkommen. Es betont eine umfassendere Darstellung der Geschichte und des historischen Bewusstseins. Dieser Ansatz tendiert dazu, ein interventionistisches Gottesbild zu zeichnen – von einem Gott, der außerhalb der Geschichte lebt und der sich von Zeit zu Zeit in die Geschehnisse der Welt einmischt. Das heißt, dass man geduldig von einem Ereignis zum andern warten muss, um zu sehen, wie Gott im Fortlauf der Welt wirkt. Die andere große Geschichte, die die Befreiungshermeneutik reifiziert, ist die Jesus-Christus-Legende. Die Befreiungshermeneutik ist in ihrem Ansatz ganz offensichtlich christozentrisch. Der maßgebliche, von der Befreiungstheologie rekonstruierte Jesus ist nicht der Jesus hinter dem Text, sondern der Jesus mitten im Text. Seine Taten werden als die Taten Gottes angesehen, die
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in Solidarität mit der Menschheit vermittelt wurden, so wie es in den kanonischen Texten des Neuen Testaments geschildert wird. Indem man so vorgeht, beansprucht der/die InterpretIn in der Auslegung der Bedeutung Jesu für die marginalisierte Glaubensgemeinschaft einen apostolischen und kanonischen Status. Indem man davon ausgeht, dass Jesus das Zentrum der Bibel ist, ist damit auch schon die unbewusste Überzeugung angelegt, dass die Bibel nicht irren kann. In Bezug auf die Bibel ist die Befreiungshermeneutik sowohl postmodern als auch postkritisch, besonders dann, wenn sie nach ‚Bildern’ und ‚Typen’ in der Bibel sucht. Clodovis Boff schreibt: „Wir brauchen sodann nicht nach Rezepten zu suchen, um von Bibelstellen zu ‚kopieren’ oder nach Techniken, um sie ‚anzuwenden’. Was die Heilige Schrift uns anbieten will, sind eher Orientierungen, Modelle, Typen, Richtlinien, Prinzipien, Inspirationen – Elemente, die es uns erlauben, aus unserer eigenen Initiative heraus eine ‚hermeneutische Kompetenz’ zu erwerben und somit die Fähigkeit, neue, unvorhersehbare Situationen, mit denen wir ständig konfrontiert werden, zu beurteilen – aus eigener Entschlusskraft, aus eigenem Recht – ‚in Übereinstimmung mit den Ansichten von Christus’ oder ‚in Übereinstimmung mit dem Geist’. Die christlichen Schriften bieten uns nicht ein Was, sondern ein Wie – eine Art und Weise, einen Stil, einen Geist.“24
Ansätze dieser Art haben der Befreiungshermeneutik geholfen, sich von der Wortgläubigkeit zu entfernen. Gleichzeitig überrascht bei der Befreiungshermeneutik aber ihre Bezogenheit auf den Text. Sie betont das geschriebene Wort. Für die Befreiungshermeneutik kann die Botschaft der Befreiung letztendlich nur in der Bibel gefunden werden, wobei sich eine Vielzahl von kritischen Zugangsweisen anbietet, um sie in den Texten zu entdecken. Raul Vidales versichert, dass der Ausgangspunkt der Befreiungstheologie das ursprüngliche, unverfälschte Zeugnis der Schrift ist.25 Der Text bleibt das Zentrum der Diskussion. Der hermeneutische Verdacht, unter den die ideologische Interpretation des Textes gestellt wird, harmoniert nicht mit der Bibel. Pablo Richard ist daher der Ansicht, dass „das Problem nicht die Bibel selber ist, sondern die Art, wie sie ausgelegt wurde. Die Bibel gibt uns Zeugnis vom Wort Gottes und sie ist auch heute noch der Kanon oder das Kriterium für die Einsicht in das Wort Gottes.“26
Diesem Ansatz ist ein Biblizismus inhärent. Die Texte, die von entmenschlichenden Aspekten handeln, werden bequemerweise übergangen. In ihrem Versuch, die Botschaft der Bibel zurückzugewinnen, nutzt die Befreiungs-hermeneutik die inzwischen verdächtigen, historisch-kritischen Methoden, genau jene, die in den Werkstätten der Moderne entwickelt wurden. Aber in ihrem Gebrauch weicht sie von den modernen Unzulänglichkeiten der historisch-kritischen Methode ab. Diese Methoden führen dazu, dem modernistischen Projekt insofern dienlich zu sein, als sie das Evangelium so auslegen, dass es für gebildete, säkulare MittelklassechristInnen, die 24 25 26
Boff, Hermeneutics, 30; kursiv im Original. Raul Vidales, Methodological Issues in Liberation Theology, in: Frontiers of Theology in Latin America, hg. v. R. Gibellini, London 1980, 34-57; 38. Pablo Richard, 1492. The Violence of God and the Future of Christianity, Concilium 6, 1990, 57-67; 66.
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in ihrem Glauben unsicher geworden sind, passt. Die Befreiungshermeneutik nutzt genau dieselben Methoden, um das Evangelium zu befreien und es für die Nicht-Personen relevant zu machen, deren Glaube trotz des Aufkommens des rationalen Denkens unerschütterlich geblieben ist. Die Befreiungshermeneutik hat die historischen Methoden ethisch verantwortlicher gemacht. Obwohl der historische Kritizismus sein archäologisches und philologisches Streben beibehält, wird er nun von BefreiungstheologInnen dazu genutzt, die Verbindungen zwischen der sozio-politischen Welt der Schrift in ihrem vergangenen Kontext und im gegenwärtigen Kontext herauszuarbeiten. Die Befreiungshermeneutik ist in ihrem Wunsch, die Anderen – Arme, Frauen, Eingeborene und alle anderen ausgegrenzten Menschen – ernst zu nehmen, postmodern. Gerade darin überwindet sie zu Recht das Interesse der Aufklärung an den Ungläubigen und konzentriert sich auf die Nicht-Personen. Aber das hindert nicht daran, die Armen zu reifizieren, und dies funktioniert innerhalb der dichotomen Denkweise des Aufklärungsparadigmas von reich/arm, Unterdrücker/Unterdrückter und haben/nicht haben. Darüber hinaus neigt sie dazu, die Armen zu romantisieren. Was Pablo Richard über das Volk der Eingeborenen in Lateinamerika sagt, gilt genauso für alle anderen marginalisierten Völker: „Die eingeborenen Völker mit ihrer tausendjährigen Geschichte, mit ihrer kulturellen und religiösen Tradition, und, seit kurzem, mit ihrer eigenen, einheimischen Methode der Evangelisation und ihrer einheimischen Theologie sind viel besser dafür gerüstet, die Bibel zu lesen und sie auszulegen als der westliche europäische Christ, der eine tausendjährige Geschichte von Gewalt und Eroberung hat, und der durchdrungen ist von einem gebildeten, liberalen und modernen Geist.“27
Eleazar López geht sogar noch weiter und gesteht den Armen aufgrund ihres machtlosen Status einen privilegierten Zugang zu. Seiner Ansicht nach sind Eingeborene die Bewahrer der Botschaft der Evangelien und sie werde viel mehr „unter unseren Völkern bewahrt, aufgrund der Reinheit des Herzens, die die Armen besitzen, als in den verseuchten Gefäßen der Kirche.“28 Die Befreiungshermeneutik ist modernistisch in ihrem Versuch, für alle zu sprechen und indem sie hermeneutische Ziele festlegt. Sie sieht ihre Rolle darin, Zeugnis abzulegen, Zeugnis der Erfahrung von menschlichem Leid und Erniedrigung. Nicht alle BefreiungstheologInnen sind ökonomisch benachteiligt. Sie glauben, dass die Auslegung eine Zeugenfunktion hat, so wie die Weisen von einst, die mahnen: „Sprich für die Stummen, für die Rechte derjenigen, die verlassen sind, sprich, urteile gerecht, trete ein für die Rechte der Armen und Bedürftigen“ (Prov 31, 8-9). In ihrem Übereifer, die Armen zu vertreten, ist die Befreiungshermeneutik eher zu einer Befreiungstheologie der Armen geworden als zu einer Theologie der Befreiung durch die Armen. Das jetzige Ziel ist nicht sozialer Wandel, sondern ein pastorales Anliegen.
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Pablo Richard, Indigenous Biblical Hermeneutics. God’s Revelation in Native Religions and the Bible (After 500 Years of Domination), in: Text & Experience. Towards a Cultural Exegesis of the Bible, D.Smith-Christopher, Sheffield 1995, 260275; 271. Richard, Indigenous Biblical Hermeneutics, 271.
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Politischer Aktivismus wird durch das traditionelle Anliegen der Kirche an guten Taten und karitativen Projekten ersetzt.
Religion und Befreiung Die Befreiungshermeneutik muss ihren Standpunkt mit der Theologie der Religionen, mit dem religiösen Pluralismus und der Religiosität von Volksreligionen vereinen. Sie bewegt sich immer noch im Rahmen der jüdischchristlichen Auffassung von Religion. Nach Aloysius Pieris ist einer der Gründe für ihr Versagen, mit Religionen zurechtzukommen, der, dass sich die Befreiungstheologie unter der Knechtschaft von zwei dialektisch positionierten ‚Karls’, befindet – Karl Barth und Karl Marx. Nach seiner Ansicht hat es Marx’ dialektischer Materialismus versäumt, das revolutionäre Potential in der Religion zu erkennen, und Barths dialektische Theologie hat nicht anerkannt, dass es in der Religion Offenbarung gegeben hat.29 Obwohl die Befreiungstheologie die Armen ernst genommen hat, wie wir im vergangenen Kapitel gesehen haben, hat sie bis jetzt die religiöse Handlungsmacht der Armen, die sich in mystischen Visionen und Träumen, Heilungen und Exorzismen, der Verehrung von Heiligen und Reliquien und durch Feste, Fasten und religiöse Prozessionen ausdrückt, nicht ernst genommen. In ihrer Studie über die Einstellung der Befreiungstheologie zu afrikanischen Religionen und Kulturen kommen Sathler und Nascimento zu dem Schluss, dass die Befreiungstheologie dazu tendiert, die Reinheit des christlichen Evangeliums aufrecht zu erhalten und das Befreiungspotenzial indigener Religionen zu missbilligen. Sie haben gezeigt, dass selbst jemand wie Leonardo Boff, der für Synkretismus plädiert, gegenüber afro-brasilianischen religiösen Praktiken eine beleidigende Haltung beibehalten hat: „Er reduziert die sozialen Aspekte ihrer Gesellschaften auf Psychopathologien und sieht in ihren Mitgliedern unterentwickelte Subjekte, die einer richtigen, universellen, psychischen, sozialen und religiösen Erlösung bedürfen, die nur von der katholischen Kirche gegeben werden kann. So kommt er der Orthodoxie nahe.“30
Auch Pablo Richard, ein Anwalt der indigenen Auslegung der Bibel, sieht letztlich die Bibel in Fragen, die die indianischen Religionen und Kulturen betreffen, als Maßstab an. „Die indigenen Völker müssen eine neue Hermeneutik entwickeln, um die Interpretation zu dekolonisieren“, schreibt Richard, aber in der abschließenden Analyse ist die Bibel „ein Instrument, ein Kriterium, ein Kanon, um die Gegenwart und die Neubewertung Gottes in indigenen Kulturen und Religionen wahrzunehmen.“31 Es gibt kein Zugeständnis an den religiösen Anspruch anderer Glaubenstraditionen, nur eine 29 30
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Aloysius Pieris, An Asian Theology of Liberation, Edinburgh 1988, 91. Josué Sathler / Amós Nascimento, Black Masks on White Faces. Liberation Theology and the Quest for Syncretism in the Brasilian Context, in: Liberation Theologies, Postmodernity, and the Americas, hg. v. D.Bastone u.a., London 1997, 95-122; 114. Richard, 1492, 66.
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Apologie christlicher Wahrheit. Auf der anderen Seite repräsentiert der Postkolonialismus die gegenwärtige Ruhelosigkeit, den religiösen Pluralismus, die Gültigkeit verschiedener konfessioneller Traditionen, die Stärkung unterdrückter Stimmen durch visuelle, mündliche und auditive Stimmen. Er ist deutlich postmodernistisch, da er von Beginn an für eine pluralistische Perspektive plädiert hat und da er die Möglichkeiten alternativer Denk-, Bewertungs- und Handlungsweisen angeregt hat. Postkolonialismus ist der monopolistischen und verordnenden Natur des Christentums gegenüber ausgesprochen skeptisch.
Postkolonialismus und Befreiungshermeneutik als Kampfgefährten Wie ich bereits betont habe, sollten die Befreiungshermeneutik und die postkoloniale Kritik Waffengefährten sein, die für die gute Sache kämpfen. Für beide ist das Bekenntnis zur Befreiung, wie modernistisch das Projekt auch sein mag, immer noch ein verbindlicher Ansatzpunkt, da Befreiung als eine der großen Erzählungen zahllosen Millionen von Menschen, die täglich institutionelle und persönliche Gewalt und Unterdrückung erleben, Hoffnung bringt. Beide, Befreiungshermeneutik und postkoloniale Kritik, nehmen die ‚Anderen’ und insbesondere die Armen, ernst; beide wollen hegemoniale Auslegungen auflösen und zögern nicht, Rezepte anzubieten und moralische Urteile zu fällen, wobei sie um die Gefahren solcher Entscheidungen wissen. Allerdings, um ein Argument des letzten Kapitels zu wiederholen, wirkt es für die Befreiungshermeneutik, wenn sie sich hinter einem modernistischen Rahmenwerk verschanzt, wie eine Einschränkung und es hält sie davon ab, sich einige der Vorteile des Postmodernismus für die Befreiung zunutze zu machen. Postkoloniale kritische Theorie andererseits, als ein Seitenzweig des Postmodernismus, distanziert sich von seinen Irrtümern und unangenehmen Aspekten, während sie mit ihm zusammenarbeitet. Während die Befreiungshermeneutik erfolgreich die Sicherheit vorherrschender biblischer Lehre unterminiert hat, ist sie in Bezug auf ihre eigenen Errungenschaften triumphalistisch. Der Postkolonialismus andererseits versteht die Bibel und die Bibelinterpretation als ein Gebiet des Kampfes um ihre Tauglichkeit und Bedeutung. In der Befreiungshermeneutik besteht die Gefahr, dass die Bibel zum letzten Schiedsrichter in moralischen Angelegenheiten und in theologischen Disputen gemacht wird. Beim Postkolonialismus wird bei der Annäherung an die Dienlichkeit der Bibel viel kritischer hingeschaut. Er sieht die Bibel sowohl als sicher als auch als unsicher an und als einen vertrauten sowie einen distanzierten Text. Die Befreiungshermeneutik möchte die Kirche und ihre vergangenen kolonialen Gräueltaten durch dasselbe Buch, das diese Gräueltaten damals endlos lange aufrechterhalten hat, erlösen. Um die Rolle der Bibel für diesen erlösenden Akt zu legitimieren, macht Pablo Richards die Bibel zu einem
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„Instrument prophetischer Einsicht der Christenheit und […] eine[r] radikale[n] Kritik am Christentum, […] die ihre Glaubhaftigkeit, die die koloniale Christenheit zerstört hat, zurückgewinnen kann.“32
Für ihn, wie für andere Befreiungshermeneuten auch, ist „nicht die Bibel das Problem, sondern die Art, wie sie interpretiert wurde“33. Der Postkolonialismus andererseits sieht die Bibel gleichzeitig als Problem und als Lösung an, und ihre Befreiungsbotschaft wird als viel unbestimmter und komplizierter betrachtet. Sie wird gleichermaßen als ein Text der Emanzipation und der Schwächung gesehen. Postkoloniale Lesart tritt für die Befreiung der Bibel von ihrer Verwicklung mit dominanten Ideologien sowohl auf der Ebene des Textes als auch auf der Ebene der Interpretation ein. Für den Postkolonialismus leitet sich das kritische Prinzip nicht nur von der Bibel her, sondern wird auch von kontextuellen Notwendigkeiten und anderen Obligationen bestimmt. Er sieht die Bibel als einen unter vielen befreienden Texten. Die Befreiungshermeneutik könnte sich zweckmäßigerweise die Erkenntnisse, die der Postkolonialismus verficht, zunutze machen, ohne ihre Loyalität den Armen gegenüber aufzugeben oder abzuschwächen. In ihrer Auswahl an biblischen Paradigmen und in ihrer Beschäftigung mit gewissen favorisierten Texten, die wörtlich genommen werden, mangelt es der Befreiungshermeneutik daran, sich bewusst zu machen, welche historischen und politischen Konsequenzen eine solche Interpretation für jene haben wird, die mit Entfremdung und Entwurzelung in ihren eigenen Ländern konfrontiert werden. So ist es der Befreiungshermeneutik z.B. nicht gelungen, rechtzeitig zu erkennen, dass die Nützlichkeit des Buches Exodus, das sie in ihren frühen Tagen als fundamentalen Befreiungstext herangezogen und befürwortet hat, für ihr eigenes Projekt begrenzt ist. Während die Befreiungshermeneutik behauptete, dass das Buch Exodus vom Standpunkt der Unterdrückten aus gelesen wurde, hat sie nicht innegehalten und die Notlage der Opfer bedacht, die sich am anderen Ende ihrer befreienden Handlung befanden, und die nun gezwungen waren, einen ‚umgekehrten Exodus’, wie Robert Allen Warrior es nennt, weg aus ihrem versprochenen Land, anzutreten. Wie unangemessen diese Erzählung für den Kontext der Palästinenser, den der Ureinwohner Amerikas und der Aborigines Australiens ist, ist gut dokumentiert. Dadurch werden auch unangenehme theologische Fragen aufgeworfen, wie z.B. welchen Gott die Bibel und die Befreiungstheologie postuliert. Gott ist derjenige, der Israel emanzipiert, aber während er das tut, zerstört er Ägypter und Kanaaniter. Der Postkolonialismus liest die Bibelstelle vom Standpunkt der Kanaaniter aus und entdeckt so Parallelen zwischen erniedrigten Menschen in biblischen Zeiten und heute.34 Ähnlich ist es, 32 33 34
Richard, 1492, 66. Richard, 1492, 66. Für eine andere Lesart des Exodus aus philippino-amerikanischer Perspektive siehe Eleazar S. Fernandez, der den Exodus nicht als Exodus aus Ägypten, sondern als Exodus nach Ägypten interpretiert; Eleazar S. Fernandez‚ Exodus-toward-Egypt. Filipino-Americans’ Struggle to Realize the Promised Land in America, in: A Dream Unfinished. Theological Reflections on America from the Margins, hg. v. Ders. / Segovia, F.F., Maryknoll 2001, 167-81. Für Weiteres zu diesem Thema, siehe dort S. 186-187.
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wenn man das Buch Ruth liest. Die Befreiungshermeneutik sieht Ruth als paradigmatische Konvertitin und Angepasste. Ihre Vereinnahmung durch den Mainstream, ihre Anpassung an dessen zentrale Werte, wurden als wichtige Strategie angesehen. Laura Donaldson, eine Cherokee-Frau, versucht, Ruth unter dem Aspekt des speziellen kulturellen und historischen Dilemmas einer amerikanischen eingeborenen Frau zu repositionieren.35 Angesichts der ständigen Forderung an ethnische Minoritäten, sich der dominanten Kultur anzupassen, entdeckt Laura Donaldson einen anderen, oft übergangenen und kaum in der Exegese wahrgenommenen Charakter – Orpah, die Schwägerin von Ruth, die anders als Ruth ins Haus ihrer Mutter zurückkehrt. Donaldsons These ist es, dass es Orpah ist, die Hoffnung signalisiert und die für Cherokee-Frauen eine Vision von Emanzipation darstellt, denn sie ist es, die sich mit ihrem eigenen Clan und ihrer eigenen Kultur verbündet. Aus der Perspektive Orpahs gelesen, entdecken wir eine andere Ruth. Beide, die Befreiungshermeneutik und der Postkolonialismus, teilen die Ansicht, dass Lesen Widerstand ist, aber die postkoloniale kritische Praxis sieht Lesen und Widerstand als weit komplexere Aktivitäten an. Die Befreiungshermeneutik erweckt den Eindruck, dass Befreiung der Bibel inhärent ist. Die ganze Zeit wurde uns beigebracht, zu glauben, dass Befreiung, Menschenrechte – zentrale Punkte der Aufklärung – Teil des biblischen Ethos sind. Vor dem Aufkommen der radikalen Kritik der Aufklärung an der Religion hielt das mittelalterliche Naturgesetz, für das auch Thomas von Aquin eingetreten ist, die Ansicht aufrecht, dass die Menschen keine Rechte, sondern nur Pflichten und Verantwortungen haben. Für Anwälte der Befreiung mag es möglich sein, in der Bibel nach Spuren der Befreiung herumzugraben. In welchem Ausmaß auch immer Dalits, Feministinnen und andere Kreuzritter gegen die Unterdrückung es verlockend finden, das emanzipatorische Potenzial der Bibel wiederzuentdecken, die Bibel bleibt weiterhin ein ambivalenter, unsicherer Text. Selbst ein oberflächliches Lesen des Buches Exodus wird enthüllen, dass sie beides, Freiheit und Unterdrückung, ermöglicht. Zum Beispiel war eine der ersten Taten der Israeliten nach der Befreiung aus Ägypten der Sklavenhandel (Ex 21, 1-11). Was wichtig ist, ist sich bewusst zu sein, dass die Bibel Elemente der Knechtschaft und der Befreiung beinhaltet. Was die postkoloniale Bibelkritik versucht, ist diese Ambivalenz sichtbar und klar zu machen und zu zeigen, dass die Bibel eher ein Teil des Rätsels ist als ein Patentrezept für all die Krankheiten der postmodernen Welt. Für die Befreiungshermeneutik bleibt das Befreiungsprojekt innerhalb der Grenzen des christlichen Glaubens und seine innere Struktur speist sich aus christlichen Wurzeln. Die Befreiungshermeneutik sieht die Befreiung als etwas an, das in biblischen Texten hinterlegt und angesiedelt ist, oder in ökumenischen Texten und Texten der christlichen Kirche, und als etwas, das aus diesen verschriftlichten Berichten extrahiert werden kann. Wie Marcella Althaus-Reid jedoch hervorgehoben hat, „gehorcht die Befreiung“ als ein Konzept „bestimmten Herren, einem bestimmten Denkrahmen, der letzten 35
Laura Donaldson, The Sign of Orpah. Reading Ruth through Native Eyes, in: Vernacular Hermeneutics, hg .v. R. S. Sugirtharajah, Sheffiled 1999, 20-36.
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Endes die verfügbaren Strategien, um die Freiheit zu erlangen, reguliert und die sogar die Vorstellung von Freiheit vorherbestimmt“36. Es arbeitet noch mit der binären Vorstellung von christlich und nicht-christlich und sieht religiösen Pluralismus eher als die Ausnahme denn als Norm an. Postkolonialismus hingegen ist in der Lage, aus einem größeren theologischen Pool zu schöpfen und ist nicht auf eine bestimmte religiöse Quelle begrenzt. Befreiung ist für den Postkolonialismus keine vorgeprägte Idee, sondern ihre Konturen werden im Gespräch mit Stimmen innerhalb und außerhalb der biblischen Tradition herausgearbeitet. Der postkoloniale Raum lehnt es ab, eine bestimmte religiöse Haltung als endgültig aufzudrängen. Als Einstieg mögen einzelne InterpretInnen ihre eigene theologische und konfessionelle Einstellung haben, aber das an sich macht es ihnen nicht unmöglich, eine Vielzahl religiöser Wahrheitsansprüche in Erwägung zu ziehen und danach zu forschen. Es ist die multidisziplinäre Natur des Vorhabens, die dem Postkolonialismus seine Energie gibt. Er sieht die Offenbarung als einen fortschreitenden Prozess an, der nicht nur die Bibel, die Tradition und die Kirche einbezieht, sondern auch andere heilige Texte und zeitgenössische säkulare Ereignisse. Der Postkolonialismus plädiert dafür, dass der Gedanke der Befreiung und seine praktische Umsetzung aus dem kollektiven Unterbewussten der Menschen kommen müssen. Er sieht die Befreiung nicht als etwas, das in der Bibel versteckt oder latent vorhanden ist, sondern eher als aus dem öffentlichen Konsens heraus geboren, der einem demokratischen Dialog zwischen dem Bibeltext und dem Kontext entspringt. Beide, die Befreiungshermeneutik und der Postkolonialismus, bestätigen die Anderen – die Armen, die Marginalisierten – als primären Ort, um Theologie zu treiben. Die Sicht Ersterer auf die Armen ist jedoch weitgehend restriktiv, indem sie sich auf die ökonomisch Benachteiligten beschränkt. Aloysius Pieris, der Theologe aus Sri Lanka, der sich eindeutig zu den Armen bekennt, schließt die Tamilen, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer Sprache verarmt sind, nicht ausdrücklich mit ein. In seinen Schriften vermisst man die Integration der Belange der Minoritäten. Postkolonialismus unterscheidet sich gerade dahingehend, dass er eine Vielfalt von Formen der Unterdrückung in Betracht zieht. Anders als die Befreiungshermeneutik nimmt der Postkolonialismus die ‚Anderen‘ nicht als homogene Gruppe wahr, sondern erkennt multiple Identitäten, die auf Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Gender beruhen. Mit der bevorzugten Option für die Armen hat die Befreiungshermeneutik eine Tendenz, diese zu romantisieren. Der Mexikaner José Cárdenas Pallares zum Beispiel, der einen Kommentar zum Markusevangelium aus der befreiungstheologischen Perspektive geschrieben hat, wird bei der Exegese der Geschichte vom Scherflein der Witwe (Mk 12, 41-4) Opfer der liberalen Interpretation, wenn er in der Witwe ein Vorbild idealer Frömmigkeit sieht. Ihre Frömmigkeit und ihr Op-
36
Marcella Althaus-Reid, The Hermeneutics of Transgression, in: Liberation Theologies on Shifting Grounds. A Clash of Socio-Economic and Cultural Paradigms, hg. v. G. De Shrijver, Leuven 1998, 251-271; 268.
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fer werden abgegrenzt von der Dürftigkeit des Glaubens der Schriftgelehrten und dem mühelosen und protzigen Opfer der Reichen: „Im Gegensatz zur Sterilität der offiziellen Religion, die mit Wundern und Geld alleine auskommt (Mk 11, 12-22), zeigt die arme Witwe wahren Glauben an Gott (11, 22-24). Ihre Stärke und ihre Sicherheit sind Gott (12, 44). Die Deutung des Verhaltens dieser armen Person durch Jesus und die ersten Christen ist eine absolute und vollkommene Umkehr der Werte, ein Widerspruch zu allem, was eine Klassengesellschaft, eine kommerzielle Gesellschaft, antreibt. Für diese arme Person, ebenso wie für den armen Jesus und die armen primitiven Gesellschaften, ist alles was zählt, Gott.“37
Eine ähnliche befreiungstheologische Sicht wird von John Vincent, einem maßgeblichen Befürworter der Befreiungshermeneutik in England, unterstützt, der die Witwe als ideale Spenderin sieht, deren Handlung Nachahmung verdient.38 Letztendlich wird im Namen der Befreiung den Armen eine altmodische evangelikale Ermahnung, an Gott zu glauben und auf Gottes Treue zu vertrauen, angeboten. Der Postkolonialismus liest diese Stelle des Evangeliums aus der Sicht der Witwe und sieht sie nicht als ihr Einverständnis zu dieser Handlung, sondern als Bloßstellung des Machtmissbrauchs der Tempelautoritäten. Wenn man es aus dem Blickwinkel der Witwe betrachtet, hat Jesus nicht ihrem Handeln beigepflichtet, sondern einen Angriff auf eine Institution verübt, die in Israel Armut erzeugt. Dies wird deutlich durch den Urteilsspruch, der sich bereits durch Jesu Verdammung eines Systems, das die Armen zerstört und die Reichen wenig kostet, ankündigt. Eine postkoloniale Lesart sieht die Witwe nicht als ein von Jesus herausgehobenes Beispiel für Frömmigkeit, sondern als arme Witwe, die von einem System manipuliert und betrogen wurde, das Wenige, was sie besaß, auch noch zu teilen. Mit den Armen verbunden ist die befreiungshermeneutische Vorstellung von den Armen als dem neuen Volk Gottes. Dass ein vor wenigen Jahren erschienener Band über Dalits, Burakumin, und Aborigines den Titel Gott, Christus und das Volk Gottes in Asien trägt, ist ein Hinweis auf einen derartigen Anspruch. Die Identifizierung und Übereinstimmung zwischen dem biblischen Volk Gottes und den gegenwärtig Unterdrückten ist ein Konzept, das einer bedeutend vorsichtigeren Artikulation bedarf. Letztendlich ist es nicht an der Zeit, den Einfluss der Befreiungstheologie zu bewerten, aber ich möchte mit einigen Kommentaren abschließen, die aus einer Haltung der Solidarität und aus gemeinsamer Betroffenheit kommen. Der eine ist weitschweifig, der andere ernst zu nehmen. Als die Befreiungshermeneutik in der Hermeneutikszene erschien, hat sie dem theologischen Diskurs der Dritten Welt ein scharfes Profil und einen respektablen Status verliehen. Das unglückliche Nebenprodukt dieses herausragenden Status war eine kollektive Amnesie, die die frühen Werke der ExegetInnen der Dritten Welt beinahe der Vergessenheit anheim fallen ließen. Die oft hochinteres37 38
José Cárdenas Pallares, A Poor Man Called Jesus. Reflections on the Gospel of Mark, Maryknoll 1986, 57-8. John Vincent, An Inner City Bible, in: Using the Bible Today. Contemporary Interpretations of Scripture, hg. v. Dan Cohn-Sherbok, London 1991, 121-133.126f.
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santen und kreativen Leistungen früherer Generationen wurden vergessen und die Werke der BefreiungstheologInnen als interessanter angesehen, da sie sowohl neu als auch reizvoll und von modernistischen Tendenzen durchsetzt waren. Ich will das mit einer Anekdote belegen. Erst vor wenigen Jahren hat sich bei einem internationalen Treffen, auf dem der Stand der Bibelinterpretation der Dritten Welt diskutiert wurde zur Überraschung der Experten und des Publikums, die dort versammelt waren, herausgestellt, dass es schon vor dem Aufkommen der Befreiungshermeneutik eine lebhafte Bibelinterpretation in der Dritten Welt gegeben hatte, die es wert war, ernsthaft studiert zu werden. Der zweite Kommentar verursacht, wie gesagt, echte Besorgnis. Als die Befreiungstheologie aufkam, hat sie den Eindruck erweckt, als hätte sie die Kraft, die Art und Weise unserer Theologie generell zu ändern und als würde sie eine Ära radikaler Veränderungen einleiten. Leider hat sich dies nicht verwirklicht. In ihren Interpretationsansätzen ist die Befreiungshermeneutik weiterhin konservativ geblieben. In ihrer Aneignung der Bibel, in ihren Darstellungen und in ihrer Besessenheit von einer christuszentrierten Hermeneutik hat sie konventionelle Muster beibehalten. Eine Theologie, die sozial progressiv begonnen hat, ist weithin konservativ und theologisch vorsichtig geblieben. Sie hat sich nicht auf eine allumfassende Neubewertung eingelassen und sie hat auch nicht eine Umordnung grundlegender theologischer Konzepte verlangt. Dieses Zögern könnte mehreren Faktoren zuzuschreiben sein: einem Mangel an kritischer Selbstreflexion, die ausschlaggebend ist für jede emanzipatorische Theorie und Praxis; Druck von konservativen Kräften innerhalb der Kirchenhierarchie; Übereifer, die Methoden richtig anzuwenden; dem verführerischen Einfluss der Dialoge mit westlichen Theologen. Was auch immer die Gründe sein mögen, die Befreiungshermeneutik ist über all die Jahre ohne große Selbstkritik und ohne die Bereitschaft, alte Dogmen neu zu interpretieren, zu einer bleichen Imitation ihrer selbst geschrumpft. Anstatt ein neuer Agent im andauernden Werk Gottes zu werden, ist die Befreiungshermeneutik dahin gekommen, mehr über das Thema der biblischen Befreiung zu reflektieren als eine wirklich befreiende Hermeneutik zu sein. Die Befreiungshermeneutik und der Postkolonialismus teilen gemeinsame Ansichten und Ziele und hoffen auf und arbeiten für eine Alternative zum gegenwärtigen Arrangement. Wenn die Befreiungshermeneutik ihre Homogenisierung der Armen, ihren unablässigen Biblizismus und ihre Feindseligkeit gegenüber religiösem Pluralismus, die ihren Fokus der Interpretation einschränken, überwinden könnte, dann sollte sie fähig sein, ihre Kräfte mit dem postkolonialen Denken zu vereinen, um eine andere Welt als die, in der wir leben, zu erforschen und zu gestalten. Erstveröffentlichung als: R. S. Sugirtharajah, Convergent Trajectories? Liberation Hermeneutics and Postcolonial Biblical Criticism, in: R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford / New York 2002, 103-123.
Grenzüberschreitendes Interpretieren: Postkolonialismus-Studien und DiasporaStudien in historisch-kritischer Bibelexegese Fernando F. Segovia
Es ist nicht besonders schwierig zu begründen, warum man Postkolonialismus-Studien und Diaspora-Studien nebeneinander stellt, auch wenn dies nicht sofort selbstevident ist. Tatsächlich stehen diese beiden Forschungsfelder eng miteinander in Beziehung und sind voneinander abhängig. Es sind außerdem Forschungsfelder, die in der biblischen Theologie zum Tragen kommen können und dort auch bereits zum Tragen gekommen sind. Während die Beziehung der Postkolonialismus-Studien zu historisch-kritischer Bibelexegese mit zunehmender Vehemenz und Deutlichkeit hergestellt wird, ist der Beziehung zwischen Diaspora-Studien und historisch-kritischer Bibelexegese bislang noch nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Die Essays zum Thema Diaspora-Kritik oder zu ‚grenzüberschreitendem Interpretieren‘ markieren in dieser Hinsicht einen wichtigen Schritt nach vorn. In Anbetracht solcher Entwicklungen kann eine Untersuchung der Beziehung zwischen Postkolonialismus- und Diaspora-Studien für ein echtes Verständnis ihrer eigenen Beziehung zu und ihrer Bedeutung für die historisch-kritische Bibelexegese zweckmäßig sein. Dieser Reihe von Beziehungen werde ich hier wie folgt nachgehen: Ich beginne mit einem Überblick über die disziplinäre Reichweite der Postkolonialismus-Studien, um den Ort der Diaspora-Studien darin zu begründen, und werde dann mit einem Blick auf die Beziehung zwischen Diaspora-Studien und historisch-kritischer Bibelexegese aus der Perspektive der Christentumsforschung fortfahren und mit einem Überblick über zwei frühe Diaspora-Modelle, die in der historisch-kritischen Bibelexegese eine Rolle spielen, als theoretischem Kontext für das jetzige Projekt schließen.
Postkolonialismus-Studien: Disziplinäre Reichweite Ich wähle die mittlerweile gebräuchliche Bezeichnung ‚PostkolonialismusStudien‘, um die Untersuchung des geopolitischen Bereichs zu zeigen – die Beziehung zwischen Zentrum und Rändern, Metropole und Peripherie auf einer globalen politischen Ebene: das Imperiale und das Koloniale. Ich denke außerdem, dass eine solche Beziehung sowohl soziale als auch kulturelle ‚Realität‘ beinhaltet – soziale Entwicklung und kulturelle Produktion; infolgedessen stelle ich mir die betreffende Forschung als multidimensional, mul-
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tiperspektivisch und multidisziplinär vor – eine Aufgabe, die am besten mit der Verwendung des Plurals ‚Studien‘ erfasst werden kann, d. h. eine Ansammlung von Studien mit einem gemeinsamen Fokus auf das Geopolitische. Dieses Verständnis des Feldes liefert sicherlich eine ziemlich umfassende Sicht seiner disziplinären Reichweite, deren Parameter aus einer Reihe von unterschiedlichen Blickwinkeln umschrieben werden können. Zunächst kann das Adjektiv (oder Substantiv) ‚postkolonial‘ auf mindestens zwei Arten verstanden werden, jede mit ihrer eigenen bedeutenden semantischen Reichweite. Auf der einen Ebene kann es in historisch-politischen Begriffen definiert werden: Ein Bezug auf den der formalen Trennung oder ‚Unabhängigkeit‘ einer ‚Kolonie‘ oder Gruppe von ‚Kolonien‘ von einem regierenden ‚Imperium‘ folgenden Zeitraum. Aus dieser Perspektive hätte der Begriff weitreichende Bedeutungen. Wenn z. B. der westliche Imperialismus als Bezugsrahmen genommen wird, wären die folgenden Einteilungen angezeigt: (1) vom Ende des 18. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika; (2) während des gesamten 19. Jahrhunderts für einen Großteil der Amerikas, hauptsächlich in Lateinamerika, aber auch in der Karibik; (3) während des Verlaufs des 20. Jahrhunderts für die größten Teile Afrikas, Asiens und Ozeaniens und der Karibik. Auf einer anderen Ebene kann das Adjektiv in sozio-psychologischer Richtung definiert werden: Eine Bezugnahme auf die individuelle oder kollektive Verfassung, die das imperiale/koloniale Phänomen als Ganzes problematisiert und dabei einen Sinn für conscientization erlangt. Aus dieser Perspektive kann ein kritisches Bewusstsein des imperialen/kolonialen Phänomens – seiner Voraussetzungen, Dynamiken, Auswirkungen – dem historisch-politischen Prozess der Unabhängigkeit sowohl vorausgehen als auch in neu unabhängigen Kontexten abwesend sein. Ein ‚postkolonialer‘ Fokus deckt somit eine zeitliche (was dem Kolonialen folgt) sowie auch eine kritische Bedeutung (was das Koloniale in Frage stellt) ab. Zweitens, aus dem Blickwinkel seiner historisch-politischen Bedeutung kann sich das Konzept der ‚Unabhängigkeit‘ als mehrdeutig erweisen. In Wirklichkeit können ehemalige Kolonien formale Unabhängigkeit erlangen, alles in allem aber unter einer ganz anderen Art von Herrschaft der sie zuvor regierenden Imperien bleiben oder unter eine neue Konfiguration solcher Imperien fallen. Aus dieser Perspektive kann der ‚postkoloniale‘ Zeitraum niemals über die formale politische Phase hinausgehen, da andere Typen der Herrschaft und Abhängigkeit – seien diese sozial, ökonomisch, kulturell oder eine Kombination derselben – unvermindert fortbestehen oder sich sogar verstärken. In diesem Szenario wird das ‚Postkoloniale‘ bloß zum ‚Neokolonialen‘ – eine umgemodelte Version des imperialen/kolonialen Phänomens. Ein ‚postkolonialer‘ Fokus beschäftigt sich daher mit dem Charakter der betreffenden temporalen Phase – dem Text, den Widersprüchen, dem Subtext. Drittens, aus der Sicht ihrer psycho-soziologischen Bedeutung rückt die Vorstellung der ‚conscientization‘ das Thema der Opposition und des Widerstandes gegen das imperiale/koloniale Phänomen direkt in den Vordergrund. Im eigentlichen Sinn beinhaltet ein postkolonialer Fokus nicht nur die Dis-
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kurse der Aufzwingung und Herrschaft, sondern auch die Anti-Diskurse der Opposition und des Widerstands. Viertens ist das Adjektiv (oder Substantiv) ‚postkolonial‘ ein zusammengesetzter Begriff: eine Nebeneinanderstellung der lateinischen temporalen Präposition post als Präfix und des Adjektivs ‚kolonial‘ als Stamm (abgeleitet aus dem lateinischen colonia, das ‚Bauernhof‘ oder ‚Siedlung‘ bedeutet). Ich spreche solch einen offensichtlichen Punkt nur an, um die Tatsache zu unterstreichen, dass der Begriff ‚kolonial‘ allein oder in Kombination mit einer Reihe von Präfixen – wie z. B. ‚prä-‘, ‚post-‘, ‚neo-‘ – benutzt werden kann, um Phasen innerhalb des Kolonialismus selbst zu bezeichnen. Der postkoloniale Fokus deckt alle diese unterschiedlichen Phasen ab. Schließlich sollte aus dem oben Genannten klar sein, dass der Begriff ‚kolonial‘ in jeder seiner Variationen die Präsenz des Begriffs ‚imperial‘ voraussetzt und auf diesen verweist, der als Folge ebenfalls entweder allein oder in Kombination mit denselben Präfixen (‚prä-‘, ‚post-‘, ‚neo-‘) benutzt werden kann, um entsprechende Phasen innerhalb des Imperialismus selbst anzuzeigen. Mit anderen Worten, eine koloniale Entwicklung jedweder Art impliziert immer eine imperiale Entwicklung gleicher Art und bringt diese mit sich. Der ‚postkoloniale‘ Fokus deckt auch alle diese unterschiedlichen Phasen oder Stadien innerhalb des Imperialismus ab. Angesichts dieser Beobachtungen kann die disziplinäre Reichweite der ‚Postkolonialismus-Studien‘ wie folgt dargestellt werden: Die Untersuchung von Imperialismus und Kolonialismus, die ich wie folgt verstehe: Während die Erstere sich auf alles konzentriert, was das Zentrum oder die Metropole betrifft, markiert die Letztere alles, was die Ränder oder Peripherie betrifft.# Die Untersuchung von Oktroyierung und Herrschaft sowie auch von Opposition und Widerstand: nicht nur die Diskurse des Imperialismus und Kolonialismus, sondern auch die Gegendiskurse des Antiimperialismus und Antikolonialismus. Die Untersuchung der unterschiedlichen Phasen oder Zeiträume innerhalb des Imperialismus und des Kolonialismus mit ihren sich daraus ergebenden Subdiskursen: Prä-Imperialismus und Prä-Kolonialismus; Imperialismus und Kolonialismus; Postimperialismus und Postkolonialismus; Neo-Imperialismus und Neo-Kolonialismus.
Postkolonialismus-Studien … in historisch-kritischer Bibelexegese
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Das Ergebnis ist eine erstaunlich breite disziplinäre Reichweite.1 Um die Dinge noch komplizierter zu machen, möchte ich hinzufügen, dass das Phänomen der Diaspora sowohl als ein eigenständiger Diskurs, als DiasporaStudien, untersucht werden kann, aber auch als ein Subdiskurs innerhalb des diskursiven Rahmens der Postkolonialismus-Studien. Somit möchte ich argumentieren, dass dem imperialen/kolonialen Phänomen, und zwar tatsächlich durch alle seine unterschiedlichen Phasen, die Realität und Erfahrung des diasporischen Phänomens zugrunde liegt: Ent-Siedlung, Reise, Um-Siedlung. Folglich sollte es keine Überraschung sein, dass die Anwendung der Diaspora-Studien auf die historisch-kritische Bibelexegese nicht viel später als die der Postkolonialismus-Studien folgen sollte. Sobald damit begonnen wurde, den postkolonialen Diskurs in der historisch-kritischen Bibelexegese einzusetzen, war es nur eine Frage der Zeit, bevor sich auch auf den diasporischen Subdiskurs berufen wurde, insbesondere im Hinblick auf die drastischen Veränderungen, die innerhalb der Kritik selbst wirksam sind.
Diaspora-Studien und historisch-kritische Bibelexegese Angesichts solcher Verbindungen und Entwicklungen werde ich mich jetzt einer ausführlicheren Untersuchung der Beziehung zwischen Diaspora-Studien und historisch-kritischer Bibelexegese innerhalb der Gesamtverbindung von Postkolonialismus-Studien und historisch-kritischer Bibelexegese zuwenden. Ich beginne mit einem Wort zu Diaspora und Diaspora-Studien im Allgemeinen – dem Charakter und den Parametern dieses eigenständigen Feldes. Danach werde ich die Relevanz des diasporischen Phänomens und der Diaspora-Studien für die historisch-kritische Bibelexegese untersuchen. Dabei wird mein Hauptfokus auf der Kritik innerhalb der christlichen Tradition liegen, und zwar aus Gründen, die mit der sich verändernden Natur dieser Tradition zu tun haben und die im Verlauf der folgenden Diskussion klar werden sollen. Während die Relevanz der Diaspora-Studien für Kritik in der jüdischen Tradition angesichts der schon lange bestehenden und weitreichenden Diasporaerfahrung im Judentum offensichtlich ist, geht ein solcher Fokus 1
Ich habe argumentiert, dass sich eine solche Reichweite (Fernando F. Segovia, Notes toward Refining the Postcolonial Optic, in: Journal for the Study of the New Testament 75 (1999), 103-114) als höchst problematisch erweist. Auf der einen Seite halte ich den Gebrauch der ‚Postkolonialismus-Studien‘ zur Kennzeichnung eines so riesigen Forschungsfeldes für völlig angemessen. So kann man, wenn man auf das psycho-soziale Verständnis des ‚Postkolonialen‘ vertraut, ohne Weiteres argumentieren, dass das Ganze des imperialen/kolonialen Phänomens einer kritischen Untersuchung unterzogen wird. Auf der anderen Seite sehe ich solch einen Gebrauch aber auch als irreführend an. Eigentlich wird das gesamte Phänomen im Bezug auf eines seiner Teile beschrieben, was so zu einem klassischen und verwirrenden Beispiel einer Synekdoche führt. Aus solchen Gründen ziehe ich vielmehr eine andere und umfassendere Bezeichnung für dieses Forschungsfeld vor, wie z. B. Imperiale/Koloniale Studien. Neben der Frage der Nomenklatur ist der Punkt auch, dass das betreffende Forschungsfeld sehr umfangreich ist, nicht nur was die Ansätze, sondern auch was den Inhalt angeht.
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über die Anliegen und das Ziel dieser Untersuchung hinaus, obwohl ich solche Kritik im letzten Abschnitt nutzen werde.
Diaspora und Diaspora-Studien Der Begriff ‚Diaspora‘ – direkt dem Griechischen entliehen (diaspora), wo es ‚Zerstreuung‘ oder ‚Verteilung‘ bedeutet (vgl. diaspeirō, ‚streuen‘ oder ‚verbreiten‘),2 – reicht in seiner Bedeutung vom Konkreteren zum Allgemeineren und erzeugt wiederum Definitionen in maximalistischer oder minimalistischer Richtung. Dieser Unterschied in der Bedeutung erweist sich auch als weitgehend sequentiell, mit einer Verlagerung von einem hochgradig essentialistischen hin zu einem ausgesprochen funktionalistischen Typ von Definition. Traditionell ist der Begriff auf das Exil der Juden außerhalb ihrer historischen Heimat und inmitten zahlloser anderer Länder und Völker angewendet worden. Diese Identifizierung ist so beständig und einflussreich gewesen, dass William Safran, der sich mit dem Phänomen der Diaspora3 befasst, die jüdische Diaspora als den ‚Idealtyp‘ für alle Formen von Diaspora klassifiziert hat, wobei alle anderen Beispiele für das Phänomen – und er berücksichtigt andere Beispiele, sofern diese den Kriterien der essentiellen Definition entsprechen, auf die sich berufen wird – als ‚metaphorische Bezeichnungen‘4 charakterisiert werden, von denen, wie er hinzufügt, keine dem Idealtyp ‚völlig entspricht‘5. Safrans idealtypische Definition ist maximalistisch und besteht aus einer Kernerklärung (‚im Ausland lebende Minderheitengemeinschaften‘) und einem erweiterten Satz von Charakteristika, die Mitglieder solcher Gemeinschaften gemeinsam haben müssen. Diese Charakteristika, sechs insgesamt, werden wie folgt identifiziert: (1) Verbreitung, entweder die eigene oder die ihrer Vorfahren, von einem bestimmten ursprünglichen ‚Zentrum‘ in zwei oder mehrere ‚periphere‘ oder fremde Regionen. (2) Erhaltung eines kollektiven Gedächtnisses, einer Vorstellung oder eines Mythos über die ursprüngliche Heimat – ihre physische Verortung, Geschichte und Leistungen. (3) Überzeugung, dass sie von der Aufnahmegesellschaft nicht akzeptiert werden oder vielleicht auch nicht vollkommen akzeptiert werden können, was zu Gefühlen einer partiellen Entfremdung und Isolierung von dieser führt. (4) Sicht der Heimat der Vorfahren als wahrem, idealem Zuhause und als dem Ort, zu dem sie oder ihre Nachkommen schließlich angesichts angemessener Bedingungen zurückkeh2
3 4 5
Der Begriff selbst ist zusammengesetzt und besteht aus der Präposition dia (in verschiedene Richtungen) als Präfix und dem Substantiv spora (säen) als Stamm (vgl. speirō, ‚säen‘). William Safran, Diasporas in Modern Societies. Myths of Homeland and Return, in: Diaspora. A Journal of Transnational Studies (1991), 83-84. Safran, Diasporas in Modern Societies, 83. Safran, Diasporas in Modern Societies, 84.
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ren würden oder sollten. (5) Glaube an kollektives Engagement für die Erhaltung oder Wiederherstellung der ursprünglichen Heimat, ihrer Sicherheit und ihres Wohlstandes. (6) Fortwährende persönliche oder indirekte Verbindung zur Heimat der Vorfahren, mit ethnokommunalem Bewusstsein und Solidarität, was durch die Existenz einer solchen Beziehung als wesentlich definiert wird. Es müssen nicht alle Charakteristika gleichzeitig vorhanden sein, nur ‚einige‘ nicht spezifizierte, und kein Merkmal im Besonderen wird als unentbehrlich angesehen. In jüngster Zeit hat der Begriff im Bereich der Kulturwissenschaften eine viel umfangreichere Bedeutung angenommen. Die folgenden Definitionen, die Kulturwörterbüchern entnommen sind, geben repräsentative Beispiele für eine solche Bedeutungsexpansion: Für Radhika Subramanian6 deckt der Begriff „eine Reihe von territorialen Umsiedlungen, entweder durch zeitlich begrenzte Leibeigenschaft oder Sklaverei erzwungen oder freiwillige Emigration“ ab; für Ashcroft, Griffiths und Tiffin7 entsteht Diaspora als „die freiwilligen oder erzwungenen Bewegungen von Völkern aus ihren Heimatländern in neue Regionen“. Solche geographischen Definitionen sind minimalistisch und enthalten eine Kernerklärung (territoriale Umsiedlung oder Bewegung von der Heimat in andere Regionen) und eine kurze zusätzliche nähere Bestimmung dahingehend, dass eine solche Übertragung freiwillig oder erzwungen sein kann.8 Solche Definitionen ähneln auch sehr der von Safran ausdrücklich in Frage gestellten Art von Definition, die er insbesondere mit dem Werk von Walker Connor assoziiert9, für den Diaspora nur „das Segment eines Volkes, das außerhalb des Heimatlandes lebt“, ist. Für Safran10 erweisen sich solche funktionalistischen Definitionen als viel zu allgemein in der Anwendung: Soweit sie solche Kategorien von Menschen wie „ständig im Ausland Lebende, Vertriebene, politische Flüchtlinge, ausländische Ansässige, Immigranten und ethnische Minderheiten tout court“ umfassen, führen sie schließlich dazu, den Begriff bedeutungslos und vollkommen inhaltsleer werden zu lassen. Im Hinblick auf meine eigene Sicht von Bedeutung als Konstruktion, immer flexibel und beweglich, bevorzuge ich mehr einen minimalistischen Ansatz mit einer Betonung auf geographische Verbreitung und Zerstreuung vom eigenen Land und Leuten hin zu Land und Leuten von jemand ande6 7 8
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Radhika Subramaniam, Art. „Diaspora”, in: A Dictionary of Cultural and Critical Theory, hg. v. Michael Payne, Oxford 1996, 144. Bill Ashcroft / Gareth Griffiths u.a., Key Concepts in Post-Colonial Studies, London 1998. Die zwei Kernerklärungen sind sich ganz und gar nicht unähnlich: Was Safran mit ‚im Ausland lebenden Gemeinschaften‘ meint, entspricht, glaube ich, genau der Vorstellung der ‚territorialen Verschiebung‘ oder den ‚Bewegungen weg von der Heimat in andere Regionen‘. Was Safran aber hinzufügt, ist die Beobachtung, dass solche Gemeinschaften auch ‚Minderheitengemeinschaften‘ sind, ein Merkmal, das, so glaube ich, von den breiteren Definitionen nicht in Frage gestellt werden würde, obwohl dies nicht explizit gemacht wird. Walker Connor, The Impact of Homelands upon Diasporas, in: Modern Diasporas in International Politics, hg. v. Gabriel Sheffer, New York 1986, 16-46, hier: 16. Safran, Diasporas in Modern Societies, 83.
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rem.11 Ich finde, vieles spricht für solch einen funktionalistischen Definitionstyp. Erst einmal schafft er Definitionskriterien ab, deren Quelle niemals ganz klar ist: Die betreffenden Charakteristika werden bloß aufgezählt und als normativ genommen. Während die Logik des Arguments auf die Ableitung solcher Kriterien aus der jüdischen Diasporaerfahrung hinzuweisen scheint, wird so ein Schritt jedoch niemals erklärt oder gerechtfertigt. Außerdem verzichtet er auf jede Notwendigkeit einer idealtypischen Diaspora, angesichts derer sozusagen alle, die eine Diasporaexistenz vorgeben, untersucht und beurteilt würden. Den Versuch, eine bestimmte Diasporaerfahrung in ein idealtypisches Konstrukt umzuwandeln, halte ich für hoch problematisch. Schließlich konzentriert er sich auf den gemeinsamen Nenner der diasporischen Erfahrung: geographische Übertragung. Auf diese Weise berücksichtigt er eine große Anzahl von Anwendungsmöglichkeiten und daher die Möglichkeit umfassender und erhellender vergleichender, Zeit und Kultur überschreitender Beobachtungen. Diaspora-Studien sind daher aus dieser Perspektive mit der Analyse geographischer Übertragungen von Völkern im Allgemeinen befasst, einerlei, ob nun in der Gegenwart oder der Vergangenheit, im Westen oder außerhalb des Westens. Eine so umfassende Anwendung, möchte ich argumentieren, sollte nicht als Inhaltsentleerung des Begriffs zu einem bedeutungslosen Signifikanten gesehen werden, sondern vielmehr so, dass er mit einer Fülle von Inhalt zu einem vielfältigen Signifikanten aufgeladen wird. Mit anderen Worten, der gemeinsame geographische Nenner – worauf ich weiter oben als dem Phänomen der Ent-Siedlung, Reise, Um-Siedlung Bezug genommen habe – lässt zahllose Variationen zu, die wiederum zahllose vergleichende Beobachtungen berücksichtigen.
Die Relevanz von Diaspora und Diaspora-Studien Solch eine maximalistische Definition des diasporischen Phänomens und eine umfassende Sicht der Diaspora-Studien sind für die Praxis der historischkritischen Bibelexegese in der heutigen Welt von unmittelbarer und tief greifender Bedeutung. Diese Bedeutung werde ich in Bezug auf Postkolonialismus-Studien, Christentum und Christentumsforschung beschreiben. Postkolonialismus-Studien. Aus der Perspektive der PostkolonialismusStudien sind Formen der Diaspora, wie bereits angezeigt, untrennbar mit dem gesamten imperialen/kolonialen Phänomen insofern verbunden, als das 11
Interessanterweise sollte ich jedoch darauf hinweisen, dass meine eigene Diaspora, von Kuba in die Vereinigten Staaten, als legitimer Gebrauch des Begriffs nach Safrans Definition zu bezeichnen ist, neben solch anderen Diasporaformen wie der armenischen, maghrebinischen, türkischen, palästinensischen, griechischen und chinesischen heute und der polnischen in der Vergangenheit. Safran, Diasporas in Modern Societies, 84, 90.
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Letztere von Anfang an und auf jedem Schritt die erzwungene oder freiwillige geographische Übertragung von Völkern aus Heimatländern in andere Länder mit sich bringt. Nimmt man den westlichen Imperialismus und Kolonialismus als Bezugsrahmen, können ohne Weiteres mindestens drei Hauptphasen geographischer Übertragung umrissen werden: Erstens bedeutete der Kolonisierungsprozess, der parallel zur Entwicklung des westlichen Imperialismus verlief, eine enorme Verbreitung von Europäern in der ganzen Welt. Unzählige Millionen schickten sich an, sich überall auf der Welt anzusiedeln und errichteten auf diese Weise zahllose ‚Neo-Europas‘ außerhalb von Europa – wie Alfred Crosby solche Gemeinschaften passend bezeichnet hat. Tatsächlich schätzt Crosby12, dass allein zwischen 1820 und 1930 die Zahl der Menschen, die den europäischen Subkontinent verließen, um die 50 Millionen betrug. Das sich daraus ergebende Diaspora- und Siedlungs-Netz hatte gewaltige Konsequenzen für nichtwestliche Völker, und zwar quer durch das gesamte Spektrum ihrer jeweiligen Gesellschaften – vom Sozialen zum Kulturellen, vom Ökonomischen zum Politischen, vom Religiösen zum Bildungsbezogenen usw. Zweitens erzeugte dieser Kolonisierungsprozess wiederum eine enorme Verbreitung nichtwestlicher Völker aus ihren historischen Heimatländern. Wieder wurden unzählige Millionen, meist auf dem Wege der Sklaverei oder durch Verträge über zeitlich gebundene Leibeigenschaft, in anderen Gebieten der kolonialen Welt als billige Arbeitskräfte für das Produktionssystem des Frühkapitalismus angesiedelt. Das sich daraus ergebende Diaspora- und Siedlungs-Netz hatte gewaltige Konsequenzen überall auf der Welt, nicht nur in den historischen, zurückgelassenen Heimatländern, sondern auch in den betreffenden neuen Ländern, wo nach und nach äußerst gemischte Gesellschaften und Völker entstanden, insbesondere in der ‚Neuen Welt‘. Drittens hat dieser Kolonisierungsprozess in jüngerer Zeit außerdem eine neue und enorme Verbreitung nichtwestlicher Völker aus ihren Heimatländern ausgelöst, sei das nun geschichtlich bedingt oder ihnen aufgezwungen. Einmal mehr haben angesichts der im Produktionssystem des Spätkapitalismus wirksamen ökonomischen Kräfte ungezählte Millionen damit begonnen, sich auf dem Wege legaler und illegaler Migration im Westen anzusiedeln. Es sollte wenig Zweifel daran bestehen, dass die Auswirkungen eines solchen Diaspora- und Siedlungs-Netzes sich mit der Zeit für den Westen als genauso bedeutungsvoll erweisen werden, und zwar über das gesamte Spektrum seiner jeweiligen Gesellschaften. Schließlich kann daher gesagt werden, dass der im Mittelpunkt des westlichen imperialen/kolonialen Phänomens stehende Prozess der geographischen Übertragung zum Ausgangspunkt zurückgekehrt ist: Was im späten 15. Jahrhundert mit der Verbreitung von Europa nach außen begann und zu einer enormen europäischen Diaspora von globalen Ausmaßen geführt hat, hat im späten 20. Jahrhundert eine Verbreitung von außerhalb des Westens in den Westen hervorgebracht und zu einer enormen nichtwestlichen Diaspora von globalen Ausmaßen innerhalb des Westens selbst geführt, vor allem in Nord12
Alfred W. Crosby, Die Früchte des weißen Mannes. ökologischer Imperialismus 900 1900, Darmsstadt 1991.
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amerika (Kanada und den Vereinigten Staaten), aber auch in Europa. So wie es dem Westen über den größten Teil der letzten fünfhundert Jahre gelungen ist, sich sehr deutlich sichtbar im Nichtwesten zu etablieren, so hat der Nichtwesten im Verlauf der letzten Jahrzehnte damit begonnen, sich sehr fest im Westen zu etablieren. Christentum. Die Konsequenzen dieses durch das westliche imperiale/koloniale Phänomen in Gang gesetzten geographischen Übertragungsprozesses – für Religion im Allgemeinen und für die christliche Religion im Besonderen – haben sich als grundlegend erwiesen. Über die letzten fünf Jahrhunderte, aber vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts bewirkte die westliche Expansionspolitik die Globalisierung des Christentums. Das Resultat war eine zweifache Auswirkung: Die des Christentums auf die nichtwestlichen Religionen, denen es in der kolonialen Welt begegnete, und die der kolonialen Welt auf das Christentum als der Religion des Westens. Genauso wie das Christentum die Religionen, denen es im Kolonisierungsprozess begegnete, tief beeinflusste, so ist auch das Christentum selbst durch seine eigene Erfahrung außerhalb des Westens nachhaltig berührt worden. Letzten Endes hat dieser Globalisierungsprozess deshalb – durchweg von dem Wunsch angetrieben, ‚den Anderen‘ zu verwandeln und folglich in einem Geist von Mission und Konversion, Exklusivismus und Superiorität unternommen – ebenso die Selbst-Verwandlung durch solche Anderen hervorgebracht. In dieser Hinsicht halte ich die These von Andrew Walls (Prof. em. für Christentumsforschung in der nichtwestlichen Welt an der Universität Edinburgh) in Bezug auf die historische Entwicklung des Christentums für sehr zutreffend13. Walls spricht von drei Hauptverlagerungen im Schwerpunkt des Christentums, von denen alle nicht nur große geographische und demographische, sondern auch bedeutende kulturelle und religiöse Veränderungen mit sich gebracht haben, während das Christentum sich in wiederkehrenden Zyklen von Rezession und Expansion von einem bereits bestehenden Handlungsschauplatz zu einem völlig neuen verwandelt. Es ist die dritte dieser Verlagerungen, die ich für die bedeutendste halte. In dieser dritten Veränderung, die mit den letzten 500 Jahren der westlichen Expansionsbestrebungen identifiziert wird und deren Weg durchweg von sie begleitenden missionarischen Bewegungen geebnet wurde, hat sich das Christentum von territorialer Christenheit zum globalen Christentum entwickelt – weg von seiner westlichen Basis, wo es angesichts der Kräfte der Moderne einen Rückgang erfährt, hin zur nichtwestlichen Welt, wo es unglaubliches Wachstum erlebt.14 Das Ergebnis ist das, was Walls die nichtwestliche Entwicklung des Christentums nennt. 13 14
Andrew Walls, Christianity in the Non-Western World. A Study in the Serial Nature of Christian Expansion, in: Studies in World Christianity 1 (1995), 1-25. Die ersten beiden Verlagerungen werden wie folgt beschrieben: (a) In der ersten Veränderung – bis zum 4. Jahrhundert fest etabliert und ihr Weg von einer auf die Nichtjuden gerichteten Mission geebnet, die auf das 1. Jahrhundert zurückgeht – wandelt sich das Christentum von einem demografisch jüdischen Phänomen, das sein
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Obwohl schon seit fünfhundert Jahren im Werden, wie Walls dies hervorhebt, wird diese Veränderung tatsächlich im Verlauf des letzten Jahrhunderts erkennbar. Im Kernpunkt dieser immer noch andauernden Transformation liegt das Phänomen der Globalisierung: Die einschneidende Veränderung in der Demographie christlicher Gemeinschaften quer durch das gesamte kirchliche Spektrum, die durch bewusste, intensive und hoch erfolgreiche weltweite Expansion herbeigeführt worden ist. Wenn das Jahrhundert mitten in einem Kreuzzug begann, um das ‚christliche Jahrhundert‘ durch Verbreitung der christlichen Religion in alle vier Himmelsrichtungen zu verwirklichen, so hat sich an seinem Ende solch eine Realität etabliert, von Afrika nach Asien und bis zum Pazifik, nach Lateinamerika und in die Karibik. Die betreffenden Zahlen – so sehr diese auch von der äußerst charakteristischen demographischen Entwicklung dieses Jahrhunderts noch angehoben werden, mit einer Bevölkerungsexplosion in der nichtwestlichen Welt und einer Bevölkerungsstabilisierung (oder sogar einem Rückgang) im Westen – sind einfach erstaunlich. Die folgenden Statistiken, so fragil sie auch sein mögen, machen dies unmissverständlich klar15: a. Während im Jahr 1900 ca. 65 % der Christen weltweit in Europa oder Nordamerika lebten, wird diese Zahl heute auf etwa 35 % geschätzt. Dem ähnlich, während im Jahr 1900 Christen in Afrika, Asien und Ozeanien, Lateinamerika und der Karibik 17,2 % des weltweiten Christentums repräsentierten, wird diese Zahl heute mit 60,3 % angesetzt. b. Im Verlauf der letzten 100 Jahre werden die folgenden Veränderungen in den Prozentzahlen in Bezug auf die Zahl der Christen weltweit festgestellt: in Afrika von 1,8 % auf 19,5 %; in Asien und Ozeanien von 4,3 % auf 12,5 %; in Lateinamerika und der Karibik von 11,1 % auf 28,3 %. Solche Zahlen könnten endlos multipliziert werden, aber der Punkt ist klar: Was Walls als die nichtwestliche Entwicklung der christlichen Religion charakterisiert hat, steht uns bereits jetzt bevor und ist immer noch stark im Steigen begriffen. Eine weitere und entscheidende Wendung in dieser Entwicklung kann nicht ignoriert werden. Diese nichtwestliche Entwicklung des Christentums findet sich nicht nur außerhalb des Westens, sondern zunehmend auch im Westen selbst. Der Grund hierfür ist kein anderer als die oben genannte radikale Veränderung in den weltweiten Migrationsmustern: Seit Mitte des Jahrhunderts und vor allem in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten hat der frühere Bevölkerungsfluss aus Europa in den Rest der Welt, ein-
15
Zentrum im jüdischen Palästina hatte und kulturell vom Judentum definiert wurde, zu einem demografisch und kulturell hellenistisch-römischen Phänomen, das über den Mittelmeerraum und das Römische Reich verstreut ist; (b) in der zweiten Veränderung – in Verbindung mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches sowohl in seinen östlichen (angesichts des Islam) als auch in seinen westlichen Provinzen (durch die Barbaren) und antizipiert von der Mission außerhalb der imperialen Grenzen – wendet sich das Christentum von den urbanen Zentren des Mittelmeerraumes hin zu einer neuen Umgebung unter den keltischen und germanischen Völkern zwischen dem Atlantik und den Karpaten und somit zu Ackerbauern und halb sesshaften Plünderern, wo es seine territoriale Bedeutung der ‚Christenheit‘ annimmt. David B. Barrett (Hg.), World Christian Encyclopedia. A Comparative Study of Churches and Religions in the Modern World, AD 1900-2000, New York 1982, 1-20.
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schließlich Nordamerika, eine scharfe Umkehr erfahren, nämlich eine umfangreiche Einwanderung, die jetzt aus der gesamten nichtwestlichen Welt in den Westen fließt – nach Europa, sicherlich, aber vor allem in das anglophone Nordamerika (Kanada und die Vereinigten Staaten). Die Vereinigten Staaten z. B. machen gegenwärtig eine ebenso tief greifende ethnische Verwandlung durch wie die, die zwischen 1880 und 1920 stattfand. Genau wie diese frühere Einwanderungswelle – die sich aus Südund Osteuropäern zusammensetzte und katholische Christen, Juden und orthodoxe Christen einschloss – das Gesicht und die Entwicklung des Landes für immer verändert hat, so wird auch die jetzige Welle – die sich aus Einwanderern aus Afrika, Asien und dem Pazifik, Lateinamerika und der Karibik zusammensetzt –für immer das Aussehen und den Diskurs des Landes verändern. Die Statistiken sind wiederum äußerst aufschlussreich16: a. Während im Jahr 1980 die nicht-hispanische weiße Bevölkerung 80,0 % zählte, war im Jahr 1995 der Prozentsatz auf 73,6 % zurückgegangen. Die Prognosen gehen für diese Bevölkerungsgruppe von einer Abnahme auf 60,5 % im Jahr 2030 und auf 52,8 % im Jahr 2050 aus. b. Zwischen 1980 und 1995 erlebten die Hauptminoritäten die folgende Zunahme ihrer Bevölkerungszahlen: Asiaten von 1,5 % auf 3,3 %; Afrikaner von 11,5 % auf 12,0 %; Hispanoamerikaner von 6,4 % auf 10,5 %. Die Prognosen für 2030 und 2050 lauten jeweils wie folgt: Asiaten 6,6 % und 8,2 %; Afrikaner 13,1 % und 13,6; Hispanoamerikaner 18,9 % und 24,5 %. Während nichtwestliche Einwanderung nach Europa größtenteils nichtchristlichen Charakter hat, hat die Einwanderung in die Vereinigten Staaten eine starke christliche Komponente, wie dies in den Kirchen im ganzen Land erkennbar wird, und zwar quer durch das gesamte kirchliche Spektrum. Angesichts der demographischen Prognosen ist ferner klar, dass das Christentum in den Vereinigten Staaten, genau im Zentrum des modernen Westens, zunehmend ‚global‘ werden wird, weniger westlich und stärker nichtwestlich in seinen Ursprüngen und seiner Zusammensetzung. Christentumsforschung. Solche demographischen Entwicklungen haben bereits zu enormen und grundlegenden Veränderungen in Charakter und Gestalt des Christentums geführt. Solche Veränderungen haben sich bereits unweigerlich und radikal auf die Praktiken und Überzeugungen des Christentums auf allen Ebenen ausgewirkt, von den vielfältigen Orten im Alltagsleben der Gläubigen bis hin zu den entscheidenden und leitenden Zentren des institutionellen Lebens und zu den gelehrten und Wissen produzierenden Kreisen des akademischen Lebens. Dies ist zudem eine Verlagerung, die praktisch gerade erst begonnen hat. Welche grundlegenden Auswirkungen für das weltweite Christentum außerhalb des Westens, aber auch im Westen das mit sich bringt, wird erst nach ein oder zwei Jahrhunderten wirklich verstanden werden. Es scheint jedoch sicher, dass man sagen kann, dass die frühere Vormachtstellung des Westens bei der Formulierung und Regie des Christentums allmählich, aber unaufhaltsam einer viel stärker de-zentrierten 16
US Census Bureau, Population Projections of the United States by Age, Sex, Race and Hispanic Origin. 1995 to 2050, 1995.
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und vielfältigeren Entwicklung weichen wird. Dabei werden alle Glaubensüberzeugungen und Praktiken im Alltagsleben der Gläubigen, alle Fragen der Definition und Steuerung im institutionellen Leben der Kirchen und alle Disziplinen des akademischen Studiums der christlichen Religion direkt und grundlegend beeinflusst werden. Tatsächlich ist die gesamte Christentumsforschung als Folge solcher Globalisierung schon beeinflusst worden und wird dies auch weiterhin werden. Dabei wird die Bedeutung der Postkolonialismus- und der Diaspora-Studien zunehmend deutlicher zu erkennen sein. Angesichts der durch das westliche imperiale/koloniale Phänomen hervorgebrachten weltweiten Ausbreitung und des demographischen Wandels des Christentums können die Postkolonialismus-Studien in jedem Bereich der Christentumsforschung zur Anwendung kommen. Ähnlich können im Licht des diasporischen Phänomens, das an solch einer Expansion und Transformation beteiligt ist, vor allem der wachsenden Anwesenheit nichtwestlicher Christen im Westen, auch die DiasporaStudien auf jeden Aspekt der Christentumsforschung Anwendung finden. Ich meine, historisch-kritische Bibelexegese ist da keine Ausnahme. Da das Christentum tatsächlich immer globaler wird, da immer mehr nichtwestliche Christen ihren Weg in den Westen finden und mehr und mehr nichtwestliche Christen Positionen in den Rängen der Disziplin innerhalb des Westens selbst einnehmen, wird der von solch einem Netz von diasporischen Erfahrungen gewährte Blickwinkel zunehmend auf das angewendet werden, was ich als die unterschiedlichen Dimensionen, die die Disziplin an diesem Punkt in ihrer Geschichte konstituieren, betrachte: a. auf die Ebene der antiken Texte, wo sowohl die hebräischen als auch die christlichen Schriften die Erfahrung von Diaspora (Ent-Siedlung, Reise, Um-Siedlung) zeigen und wo die christlichen Schriften auch auf ein Christentum in weltweiter Ausbreitung verweisen – alle im Zusammenhang mit unterschiedlichen imperialen/kolonialen Entwicklungen. b. auf die Ebene modernistischer Lesarten und Leser dieser Texte, soweit der Aufstieg und die Entwicklung der Disziplin parallel zum Höhepunkt der westlichen Expansionspolitik und Diaspora vom frühen 19. Jahrhundert bis zum dritten Viertel des 20. Jahrhunderts verläuft – alle im Zusammenhang mit unterschiedlichen imperialen/kolonialen Entwicklungen. c. auf die Ebene postmodernistischer Lesarten und Leser dieser Texte, da die Disziplin im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts beginnt, durch den Eintritt von Nichtwestlern sowohl außerhalb des Westens als auch in der Diaspora innerhalb des Westens direkt beeinflusst zu werden – alle im Zusammenhang mit unterschiedlichen imperialen/kolonialen Entwicklungen.
Diasporische Kritik: Frühe Modelle Ich habe in der Einleitung festgestellt, dass die Beziehung zwischen Diaspora-Studien und historisch-kritischer Bibelexegese, im Gegensatz zu derjenigen zwischen Postkolonialismus-Studien und historisch-kritischer Bibel-
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exegese, noch nicht viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Dennoch sind einige erste Arbeiten in dieser Richtung verfasst worden, sodass sich die in diesem Band enthaltenen Beiträge, wie sie selbst im Allgemeinen einräumen, nicht in einem theoretischen Vakuum befinden. Ich beende diese Überlegungen zum ‚grenzüberschreitenden Interpretieren‘ daher mit einem vergleichenden Überblick über zwei Versuche, diasporische Erfahrung und biblische Interpretation in einen Dialog miteinander zu bringen: Der erste kommt aus der jüdischen Diaspora – Daniel Boyarins Analyse der Identitätspolitik bei Paulus von Tarsus; der zweite aus der nichtwestlichen christlichen Diaspora – meine eigene Konstruktion einer Hermeneutik der Diaspora. In Anbetracht meiner Betonung der christlichen Tradition mag die Einbeziehung von Boyarin auf den ersten Blick überraschend, wenn nicht sogar fehl am Platz scheinen. Eine kurze Erklärung ist hier angebracht. Wie oben schon erwähnt, sollte eine solche Betonung meinerseits dazu dienen, einen bestimmten Blickwinkel innerhalb der Disziplin hervorzuheben, der dort nicht nur bereits eine Rolle spielt, sondern der sich in den kommenden Jahren in Anbetracht der geographischen und Migrations-Muster in der Welt im Allgemeinen und im Christentum im Besonderen bestimmt auch noch viel deutlicher ausweiten wird. Selbstverständlich muss jede explizite Reflexion über oder aus der Diaspora aus der jüdischen Tradition auch berücksichtigt werden. Diejenige von Boyarin halte ich in drei Punkten für besonders bedeutsam: erstens wegen seines umfassenden Dialogs mit Paulus, einer Schlüsselfigur im Diskurs des Christentums; zweitens wegen des Brennpunktes eines solchen Dialogs, der Identitätspolitik; und drittens wegen seiner Sicht dieses Dialogs als einem Dialog, der heutige Auswirkungen hat, und zwar nicht nur für Juden und Christen, sondern gleichermaßen auch für den Westen und den Nichtwesten. Paulus aus der jüdischen Diaspora.17 Für Boyarin stellt Paulus von Tarsus eine tief greifende Herausforderung jüdischer Identitätsvorstellungen dar18. Im eigentlichen Sinn, argumentiert er, sprechen die Briefe von Paulus alle Juden an, einerlei, ob nun in der Vergangenheit oder der Gegenwart, und fordern im Gegenzug eine Antwort; und solch eine Antwort gibt er als ein ‚(post-)moderner Jude‘19. Als Ausgangspunkt für seine Analyse von Paulus‚ Herausforderung und seine Antwort aus der Diaspora halte ich seine DreiPhasen-Geschichte Israels für sehr hilfreich20. Die erste Phase zeigt ein Volk oder ‚Stamm‘, das anderen ‚Stämmen‘ oder Völkern, die unter ähnlichen materiellen Bedingungen überall auf der Welt leben, in manchen Hinsichten 17
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Ich beziehe mich in erster Linie auf Boyarins Band über Paulus (Paul Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994), besonders auf das erste Kapitel (‚Circumcision, Allegory, and Universal „Man“‘) und das letzte Kapitel (‚Answering the Mail. Toward a Radical Jewishness‘). Die Diskussion ist gut in einem zusammen mit Jonathan Boyarin verfassten Artikel zusammengefasst (Daniel Boyarin / Jonathan Boyarin, Diaspora. Generation and the Ground of Jewish Identity, in: Critical Inquiry 19 (1993), 693-725. Boyarin, A Radical Jew, 228-229. Boyarin, A Radical Jew, 228. Boyarin, A Radical Jew, 257-258.
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sehr ähnelt und das sich selbst als einzigartig, als Das Volk, und sein Land als einzigartig, als Das Land ansieht. Solch eine Beschreibung, fügt Boyarin unmittelbar hinzu, hat sehr viel von einer groben Vereinfachung, da dieses Volk eigentlich niemals allein lebte oder sich selbst als autochthon in dem Land gesehen hat.21 Die zweite Phase findet dieses Volk in kulturellem, sozialem und politischem Kontakt mit anderen Völkern vor, was seine frühere Lebensweise zunehmend unhaltbar macht, und zwar sowohl politisch als auch moralisch. Für Boyarin fällt diese Phase mit der hellenistischen Periode zusammen, die mit den Krisen des ersten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Die dritte Phase stellt die Existenz in der Diaspora dar, die nicht als das unvermeidbare Ergebnis von Krieg, sondern als eine freiwillige Wahl verstanden wird und die konkret bereits seit Jahrhunderten vor der Vernichtung Judäas Praxis war. Boyarin sieht den Weg der Diaspora als die spezielle rabbinische Antwort auf die Krisen: Verzicht auf Herrschaft über andere durch dauerhaften Machtverzicht. Es ist eine solche, von den Rabbinern in dem Land ‚erfundene‘ diasporische Existenz22, in der Boyarin seine eigene Identität als Jude konstruiert und aus der er seine Kritik an Paulus wie auch am Zionismus äußert. Solch eine Aufgabe ist mit einem Blick zurück, einer historischen Analyse der Welt des Judentums im ersten Jahrhundert, und mit einem Blick nach außen, einer ideologischen Analyse der Welt des zeitgenössischen Judentums, verbunden. Historischer Rahmen. Für Boyarin rufen die Krisen des Judentums im ersten Jahrhundert verschiedene Antworten bezüglich der Frage der Identität hervor. Er konzentriert sich insbesondere auf zwei, die er in Richtung eines binomischen Gegensatzes entwickelt: Christentum, via Paulus, das für Geist und Universalismus steht; Judentum, via die Rabbiner, das für Körper und Partikularismus steht23. Beide Antworten werden als im Widerspruch stehend dargestellt und bringen ihre eigenen Formen von Rassismus, aber auch von Antirassismus hervor. Angesichts seiner Betonung der Universalität besteht der ‚Genius‘ des Christentums in seiner Sorge um alle Völker, die jedoch leicht zu Zwang werden kann. In Verbindung mit Macht tendiert Universalismus zu Imperialismus, kultureller Auslöschung, selbst zu Völkermord. Angesichts seiner Betonung der Partikularität liegt der ‚Genius‘ des Juden21
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Boyarin (251-253) hebt die Komplexität des jüdischen Landdiskurses, eines Diskurses mit zwei diametral entgegengesetzten Momenten, hervor. Auf der einen Seite ist es ein Diskurs, der dem vieler ‚indigener‘ Völker der Welt ähnelt: Es gibt ein Gefühl der Verwurzelung im Land. Auf der anderen Seite ist es kein Diskurs des Autochthonen, sondern des immer von woanders Herkommens. Die Unterscheidung zwischen ‚indigen‘ und ‚autochthon‘ ist wichtig: Das Erstere ist ein politischer Anspruch (Menschen, die hierher gehören, die einen berechtigten Anspruch auf das Land haben); das Letztere ein mystifizierter Anspruch (Menschen, die niemals irgendwo anders waren als hier, die ein natürliches Recht auf das Land haben). Das Ergebnis ist ein Landdiskurs mit einer Selbstkritik: Das Gefühl einer natürlichen, organischen Verbindung mit dem Land, einer Siedlung im Land, wird von einem Gefühl ständiger Beunruhigung begleitet. So eine Selbstkritik, fügt Boyarin hinzu, ist auf alle Identitätsdiskurse, die auf dem Autochthonen basieren, anwendbar. Boyarin, A Radical Jew, 258. Boyarin, A Radical Jew, 232-236.
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tums in seiner Fähigkeit, andere Menschen in Ruhe zu lassen, solch eine Fähigkeit kann jedoch leicht zur Vernachlässigung von anderen führen. In Verbindung mit Macht tendiert Partikularismus zu Stammeskrieg oder Faschismus. Am Ursprung des universalistischen Pols ist Paulus, den Boyarin als einen radikalen Juden beschreibt und den er im Zusammenhang mit einer spezifischen intellektuellen Tradition im hellenistischen Denken sieht24. Der Schlüssel zu Paulus’ Antwort und zur Interpretation des Korpus liegt in der Taufformel, die von Paulus in Gal. 3,26-29 übernommen wird: Taufe in Christus bedeutet, Christus anzuziehen, wodurch alle eins in Christus werden, sodass es nicht länger Jude oder Grieche, Sklave oder Freien, Mann oder Frau gibt. Folglich bringt Paulus, davon angetrieben, für die Nichtjuden einen Platz in der Tora zu finden, eine Vision menschlicher Einheit und Solidarität vor, die auf einer Kombination von hebräischem Monotheismus und griechischen (mittelplatonischen) Universalien basiert. Diese Vision hält Boyarin für brillant aber gefährlich, weil derselbe Signifikant, ‚Jude‘, sowohl für Universalismus, als auch für Uneinigkeit steht. Die universalistische Dimension ist offensichtlich. Mit der Taufe in Christus findet eine neue Geburt statt, wodurch eine wörtliche Genealogie durch eine allegorische ersetzt wird: Alle körperlichen Unterschiede, einschließlich jener zwischen Juden und Nichtjuden, verschwinden, da der Hl. Geist solche Zeichen nicht erkennt. Mit dieser Ersetzung des physischen Körpers des Individuums durch den allegorischen Körper Christi haben die, die in Christus sind, an der allegorischen Bedeutung des Versprechens an Abraham und seine Nachkommenschaft Teil. Für Paulus repräsentierte solch universelle Gleichheit die Erfüllung des Judentums, jetzt nicht im Sinne von Abstammung oder Handeln nach dem Fleisch, sondern vielmehr im Sinne eines Eintritts in den Leib Christi. Deswegen konnte jeder jüdisch sein und die, die sich selbst Juden nennen, brauchen überhaupt nicht jüdisch zu sein. Die entgegengesetzte Dimension ist genauso klar. Innerhalb dieses Diskurses der Gleichheit wird körperliche Verschiedenheit, so wie jene, die von jüdischer ethnischer und kultureller Besonderheit repräsentiert wird, zu einem Ort des Durcheinanders und einem Fokus des Zwangs. Mit Paulus wird deshalb die Saat des Anti-Judaismus und Antisemitismus „sozusagen gegen seinen Willen“25 im christlichen Diskurs gesät; tatsächlich, als das Heidentum aus dem Blick verschwindet, werden reale Juden zum Symbol gegensätzlicher Differenz. Der Kern des partikularistischen Pols sind die Rabbiner, die Boyarin auch in einen bestimmten intellektuellen Strang in der jüdischen Tradition stellt26. Gegen jeden Bruch zwischen Körper und Geist und jede Art von allegorischer Genealogie, bestehen die Rabbiner auf der Zentralität von peoplehood, der ethnischen und kulturellen Spezifität des Judentums. Der nomadischen Tradition und dem mosaischen Bund des Antikönigtums und nicht so sehr der territorialen Tradition und dem davidischen Bund des Königtums folgend 24 25 26
Boyarin, A Radical Jew, 22-25, 229-232. Boyarin, A Radical Jew, 229. Boyarin, A Radical Jew, 36-38, 234-236, 251-256.
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konzentrierte sich solcher Partikularismus auf den Körper und nicht so sehr auf das Land. Tatsächlich, aus dem Kontext der Diaspora im eigenen Land heraus, entsagten die Rabbiner dem Land bis zur endgültigen Erlösung und konzentrierten sich stattdessen auf die Erinnerung an das Land. Sie taten dies, weil sie den Besitz des Landes als die größte Bedrohung für die Fortführung der jüdischen kulturellen Praxis und Unterscheidung ansahen. Da sie sich daher mit einer Wahl zwischen Ethnozentrismus ohne Herrschaft über andere und politischer Herrschaft mit dem Verlust der Besonderheit konfrontiert sahen, entschieden sich die Rabbiner für das Erstere und förderten auf diese Weise die Vorstellung einer diasporischen Existenz mit ihrer Betonung auf körperlicher Identifikation. Diese Vision hält Boyarin für angemessen, aber problematisch, obwohl auch für ungefährlicher. Rabbinisches Judentum hat niemals die Art von Gewalt erzeugt, die das universalistische Christentum hervorgebracht hat: Seine Zurückweisung der Anderen ging nicht über so geringfügige Praktiken hinaus wie auf den Synagogenboden zu spucken oder zu vermeiden, an heidnischen oder christlichen Andachtsstätten vorbeizugehen. Angetrieben von seinem entschlossenen Widerstand gegen Assimilation und Auslöschung in der Diaspora hat das rabbinische Judentum jedoch eine Praxis der gemeinschaftlichen Wohltätigkeit hervorgebracht (Erziehung; Versorgung mit Nahrung; für Kranke sorgen; sich um Gefangene kümmern), die sich nicht auf andere erstreckte. Folglich gab sich das diasporische Judentum, während es nicht versuchte, den Anderen zu judaisieren, damit zufrieden, seine Ressourcen für sich selbst und nicht für die Menschheit im Allgemeinen zu verwenden. Während solch eine Praxis eine durchaus angemessene ethische Haltung für eine bedrängte Minderheit darstellt, wird sie jedoch problematisch in einer Situation politischer Macht oder wachsender gegenseitiger Abhängigkeit. Ideologischer Rahmen. Angesichts eines Judentums, das politische Macht erlangt hat und einer Welt, die zunehmend interdependent geworden ist, schlägt Boyarin eine Auflösung dieses binomischen Gegensatzes in Richtung einer Hegelschen Synthese vor27. Diese Auflösung bleibt fest in der diasporischen Vorstellung des rabbinischen Judentums verwurzelt, obwohl sie die universalistische Vision des paulinischen Christentums einbezieht. Das Ergebnis ist eine Vorstellung von Diaspora, die Folgendes zusammenbringt: (1) den von den Rabbinern bewahrten Partikularismus des Körpers mit seinem Beharren auf der Zentralität von peoplehood und jüdischer ethnischer und kultureller Differenz gegen den von Paulus vorgestellten Universalismus des Geistes, mit seinem Bestehen auf Einheit und Gleichheit in Christus und (2) die im paulinischen Christentum vorhandene Sorge um alle Völker der Welt gegen die Vernachlässigung von anderen zugunsten der Familie, die im rabbinischen Judentum eine Rolle spielt. Für Boyarin ist solch eine Vorstellung angesichts ihrer Grundlage in historischer Erfahrung mehr als ein utopischer Traum. Es ist eine Vorstellung einer ‚idealisierten‘ Diaspora, die eine Generalisierung jener Elemente einschließt, durch die die besten aller Zeiten für 27
Boyarin, A Radical Jew, 236-246, 256-259, 156-159.
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das diasporische Judentum gekennzeichnet sind: Relative Freiheit von Verfolgung, was die vollständige Teilnahme am gemeinsamen kulturellen Leben in den betreffenden Kontexten und selbst das Verfechten radikaler Ziele für menschliche Befreiung ermöglicht, während an ethnischer und kultureller Besonderheit festgehalten wird. Diese Art einer idealisierten Diaspora bietet Boyarin als Alternativmodell zu dem einer nationalen Selbstbestimmung an, die er als eine der Welt vom Westen auferlegte charakterisiert. Solch ein Modell setzt eine Identitätsvorstellung voraus, in der es „nur Sklaven, aber keine Herren“ gibt28 und die durch Respekt vor kulturellen Unterschieden und Ermutigung zu gegenseitiger Interaktion gekennzeichnet ist. Eine solche Identität meint, dass Kulturen nicht durch Schutz vor Vermischung, sondern als Ergebnis solcher Vermischung Bestand haben, sodass sich Kulturen immer in Veränderung befinden. Idealisierte diasporische Identität entsteht daher als eine ‚zerteilte Identität‘29, die z. B. auch partiell jüdische und partiell griechische Körper berücksichtigt. Idealisierte Diaspora steht folglich im Gegensatz zu jedem Konzept einer essentiellen jüdischen Kultur oder jeder Vorstellung einer natürlichen und organischen Verbindung zwischen einem Land und einem Volk. Sie meint im Gegenteil, dass es Treue zu einer kulturellen Tradition neben einer Interaktion mit anderen Traditionen geben kann und dass es ein Volk ohne Land geben kann. Schließlich führt Boyarins Vorschlag zu einer Kritik des heutigen Judentums. In der Tat wird eine idealisierte Diaspora als Alternative zum Zionismus vorgeschlagen, den er als eine nationalistische Schöpfung nach westlichem Vorbild charakterisiert30. Während die zionistische Lösung als „Notfall- und vorübergehende Rettungsaktion“ akzeptabel ist31, wird sie im Hinblick auf ihre Abweichung von dem traditionellen rabbinischen Weg der Zurückweisung von Macht oder, bestenfalls, des Teilens von Macht mit anderen, eher als Subversion, denn als der Höhepunkt jüdischer Kultur porträtiert. Ihre Folgen, im Hinblick auf ihre Kombination von Ethnozentrismus und Hegemonie, haben sich verheerend für Israels Andere, die Palästinenser, erwiesen. Eine idealisierte Diaspora stellt sich daher eine ganz andere Art von Israel vor: Vollständige Trennung von Religion und Staat; Aufhebung des Rückkehrgesetzes und aller kulturellen, diskursiven Praktiken, die den Staat als einen jüdischen Staat kodieren; Gleichheit für alle seine Bürger und Gemeinschaften. Mit einem Wort, ein multinationales und multikulturelles Israel. Boyarins (post-)moderne Antwort auf Paulus’ Herausforderung ist klar. Im Gegensatz zu dem Universalismus, der dem westlichen Diskurs inhärent ist und der mit seinen beiden Aspekten der Gleichheit und des Zwangs auf Paulus gegründet ist, bietet die idealisierte Diaspora eine Kombination von Partikularismus und Machtverzicht, die auf die Rabbiner gegründet ist, neben einer Vision einer universellen menschlichen Solidarität, die wiederum von 28 29 30 31
Boyarin, A Radical Jew, 248-249. Boyarin, A Radical Jew, 243. Boyarin, A Radical Jew, 247-251, 255-260. Boyarin, A Radical Jew, 249.
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Paulus herrührt. Auf diese Weise modifiziert Boyarin die von den Rabbinern ‚erfundene‘ Vorstellung von diasporischer Existenz. Das Ergebnis ist eine praktische Vision, die nicht nur für das heutige Judentum, sondern auch für die Welt im Allgemeinen gedacht ist. Tatsächlich mag für Boyarin die diasporische Option den besten Beitrag repräsentieren, den das Judentum zur heutigen Welt beitragen kann angesichts seines Widerstands gegen jegliche Art von Universalisierung als auch seiner Trennung von Ethnizität und Hegemonie. Hermeneutik aus der nichtwestlichen christlichen Diaspora. In den letzten Jahren habe ich mich mit der Konzeptualisierung und Artikulation einer kritischen Position und eines Programms beschäftigt, die aus meiner eigenen Erfahrung und Realität der Diaspora erwachsen sind. Diese Diaspora ist eine Diaspora des Exils: In Lateinamerika, in der Republik Kuba im Kontext der Karibik geboren und sozialisiert, emigrierte meine Familie aus sozio-politischen Gründen in den frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Diaspora zeigt ebenfalls zwei bedeutende und in einer Wechselbeziehung stehende Komponenten. Auf der einen Seite, wie dies sowohl der Zeitpunkt als auch die Gründe anzeigen, war sie direkt mit der anhaltenden ideologischen Konfrontation zwischen West und Ost – zwischen der ‚Ersten Welt‘ der kapitalistischen Demokratie und der ‚Zweiten Welt‘ der kommunistischen Planwirtschaft – vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Kalten Krieges (1945-89) verbunden. Auf der anderen Seite, wie dies Ausgangspunkt und Zielort zeigen, war sie auch ein frühes Beispiel der enormen Verbreitung der nichtwestlichen Welt in den Westen – von der ‚Dritten Welt‘ der ‚Entwicklungsländer‘ in die ‚Erste Welt‘ der ‚entwickelten Länder‘ – die in den folgenden Jahrzehnten explodieren sollte. Eigentlich war Kuba, das lange in einer neokolonialen Abhängigkeit zu den Vereinigten Staaten gestanden hatte, mit dem Erfolg der Revolution im Jahr 1959 und schließlich mit seiner Marxistisch-Leninistischen Wende im Jahr 1961 zu einem neokolonialen Schutzgebiet der Sowjetunion geworden. Meine Familie, die für die Revolution gegen die korrupte und tyrannische Regierung von Fulgencio Batista y Zaldívar gekämpft hatte, lehnte mit der Zeit die neue politische Entwicklung ab und ging letztendlich in ein Exil, das nur als freiwillig und gleichzeitig erzwungen beschrieben werden kann. Für mich war das Ergebnis eine zweite Sozialisierung im Herzen des entwickelten und kolonisierenden Westens und ein Gefühl, zu ein und derselben Zeit an zwei Orten und doch an keinem Ort zu sein. Es war aus diesem inneren, aber auch äußeren Gefühl heraus, in Lateinamerika und den Vereinigten Staaten sowohl dazuzugehören, aber doch auch anders zu sein, dass ich versucht habe, eine Hermeneutik der Diaspora zu konstruieren. Die folgenden Punkte sind für solch ein Programm und so eine Haltung in der historischkritischen Bibelexegese zentral. Erstens habe ich einen hoch umstrittenen disziplinären Kontext innerhalb der Bibelwissenschaft postuliert, der verschiedene konkurrierende Paradig-
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men umfasst – historische, literarische, soziokulturelle und ideologische32. Ich habe weiter argumentiert, dass die jüngste von diesen, die Cultural Studies, das Konstrukt des realen Lesers ganz in den Vordergrund rücken: den Leser aus Fleisch und Blut, der immer positioniert (die Frage der sozialen Verortung) und interessiert ist (die Frage der sozialen Agenda)33. Dieses Paradigma betrachtet alle Wiederherstellungen textlicher Bedeutung und alle Rekonstruktionen der antiken Geschichte sowie auch alle in solchen Wiederherstellungen und Rekonstruktionen verwendeten Methoden und Modelle als Konstruktionen von positionierten und interessierten realen Lesern. Folglich erfordert das Paradigma eine gemeinsame kritische Untersuchung von Texten und Lesern und verlangt auf diese Weise nach einer deutlich ideologischen Form des Diskurses. Zweitens habe ich auf Vielfalt als einer grundlegenden Konsequenz der Cultural Studies für die historisch-kritische Bibelexegese hingewiesen. Solche Vielfalt zeigt sich in zweierlei Hinsicht. Erstens in Bezug auf Leser: Da das Modell alle Leser als positioniert und interessiert betrachtet und analysiert, liefert es so eine stattliche Reihe von Leser-Konstrukten oder -positionen bezüglich Verortungen und Agenden. Zweitens im Bezug auf Texte: Da Cultural Studies hinter allen Texten und Geschichten, allen Methoden und Modellen reale Leser postulieren, ergibt sich dadurch eine genauso breite Vielfalt von Lese-Konstruktionen oder -ergebnissen, was ‚Texte‘ und ‚Geschichten‘ sowie auch Strategien und Rahmen angeht. Das Ergebnis ist eine Art des Diskurses, der nicht nur zutiefst ideologisch, sondern angesichts der hoch komplexen Situation der genannten vielfältigen Leser- und Lese-Konstrukte in seinem Wesen auch zutiefst polyglott ist. Drittens habe ich innerhalb dieser hoch ideologischen und polyglotten kritischen Entwicklung meinen eigenen theoretischen Rahmen und meine Lesestrategie entwickelt. In Bezug auf das Modell, das ich eine Hermeneutik des Andersseins und des Engagements genannt habe, habe ich mich für eine Sicht der Texte, der Interpretationen (Lese-Konstrukte oder ‚Texte‘) und der Leser von Texten (Leser-Konstrukte) als andere entschieden – nicht ‚andere‘, die umgangen, überwältigt und manipuliert, sondern andere, die anerkannt, respektiert und einbezogen werden müssen34. In Bezug auf die Strategie, was ich als interkulturelle Kritik beschrieben habe, habe ich einen Zugang zu Texten, Interpretationen von Texten und Lesern von Texten als literarische oder ästhetische, rhetorische oder strategische und ideologische oder politi32
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Fernando F. Segovia, And They Began to Speak in Other Tongues. Competing Modes of Discourse in Contemporary Biblical Criticism, in: Reading from this Place. I. Social Location and Biblical Interpretation in the United States, hg. v. ders. / M. A. Tolbert, Minneapolis 1995. Fernando F. Segovia, Cultural Studies and Contemporary Biblical Criticism. Ideological Criticism as Mode of Discourse, in: Reading from this Place. II. Social Location and Biblical Interpretation in the United States, hg. v. ders. / M. A. Tolbert, Minneapolis 1995, 1-17. Fernando F. Segovia, Toward a Hermeneutics of the Diaspora. A Hermeneutics of Otherness and Engagement, in: Reading from This Place. I. Social Location and Biblical Interpretation in the United States, hg. v. ders. / M. A Tolbert, Minneapolis 1995, 57-73.
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sche Produkte übernommen – die nicht nur als andere zu analysieren, sondern die auch in einen kritischen Dialog einzubeziehen sind35. Schließlich habe ich außerdem Strategie und Rahmen mit der Problematik der Postkolonialismus-Studien, mit ihrem geopolitischen Fokus auf das interkulturelle und transhistorische Phänomen imperialer und kolonialer Entwicklungen36 verbunden. Ich denke, dass ein solcher geopolitischer Blick, wie er in den Kulturwissenschaften hervorgehoben wird, direkt auf die unterschiedlichen konstitutiven Dimensionen der historisch-kritischen Bibelexegese anwendbar ist: (1) die Welt der ‚Antike‘ – die Welt der Texte, im Hinblick auf ihre Ursprünge in einer Vielfalt von imperialen Entwicklungen und mit einer besonderen Betonung auf das Römische Reich als dem Rahmen für das Frühchristentum; (2) die Welt der ‚Moderne‘ – die Welt der Leser und Interpretationen traditioneller Bibelkritik, im Hinblick auf ihre Entstehung und Entwicklung im Westen auf beiden Seiten des Nordatlantiks während der kulminierenden Phase westlicher imperialer Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert; (3) die Welt der ‚Postmoderne‘ – die Welt der Leser und Interpretationen zeitgenössischer historisch-kritischer Bibelexegese im Hinblick auf ihr Erscheinen und ihre starke Zunahme in der nichtwestlichen Welt sowie auch unter nichtwestlichen Minderheiten in der westlichen Welt.
Schlussbemerkungen Diese beiden frühen Modelle diasporischer Kritik weisen Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten auf. Das sollte im Hinblick auf die gemeinsame Grundlage der Modelle in einem diasporischen Phänomen und dem unterschiedlichen Charakter der betreffenden Diasporaformen nicht allzu überraschend sein. Interessanterweise ist es nicht die religiöse Dimension, die ich in dieser Hinsicht hervorheben würde: Trotz unserer sehr unterschiedlichen Traditionen und Beschäftigungen stimme ich generell mit Boyarins Interpretation der paulinischen Agenda als universalistisch und zwingend überein. Tatsächlich ist dies eine Agenda, die ich auch für ziemlich schädlich für „das Griechische“ halte: Ich bin ein Christ, in Christus getauft, aber ich bin auch – zu ein und derselben Zeit und unter anderem – ein Kubaner, ein Lateinamerikaner und ein Nichtwestler sowie auch ein kubanischer Amerikaner, ein US-Nordamerikaner und ein Westler. Solch ein Gefühl einer ‚zerteilten‘ Identität ist nicht eines, auf das ich in irgendeiner bestimmten Richtung verzichten möchte. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten, die ich für die bedeutendsten halte. 35
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Fernando F. Segovia, Toward Intercultural Criticism. A Reading Strategy from the Diaspora, in: Reading from This Place. II. Social Location and Biblical Interpretation in the United States, hg. v. ders. / M. A. Tolbert, Minneapolis 1995, 303-330. Fernando F. Segovia, Biblical Criticism and Postcolonial Studies. Toward a Postcolonial Optic, in: The Postcolonial Bible (The Bible and Postcolonialism 1), hg. v. R. S. Sugirtharajah, Sheffield 1998, 49-65.
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Gewisse Unterschiede kommen schnell in den Sinn. Zunächst befasst sich Boyarin ausdrücklich mit paulinischer Literatur, die er als wesentlich für die westliche Tradition identifiziert; ich würde mich für die Notwendigkeit aussprechen, die gesamte frühchristliche Tradition zu betrachten, und zwar mit einem Blick auf jeden einzelnen Text als einer unterschiedlichen und vielleicht sogar in Konflikt stehenden ideologischen Konstruktion. Außerdem identifiziert Boyarin innerhalb der paulinischen Literatur ein treibendes und interpretierendes hermeneutisches Zentrum – die Taufformel in Gal. 3,26-29 mit ihrer essentialistischen Identitätsagenda; ich würde mich für die Notwendigkeit aussprechen, die gesamte paulinische Tradition zu betrachten, und zwar mit einem Blick auf jeden einzelnen Brief als einer unterschiedlichen und vielleicht sogar in Konflikt stehenden ideologischen Konstruktion. Schließlich übernimmt Boyarin eine große Vorstellung, in Hegelscher Richtung, der Identitätspolitik ab dem ersten Jahrhundert – Christentum und Judentum als binomische Gegensätze, mit einer idealisierten Diaspora als Synthese; ich würde mich für alle möglichen Formen der Repräsentationen von Identität angesichts unterschiedlicher Texte, Interpretationen und Interpretierenden aussprechen. Gewisse Ähnlichkeiten kommen auch schnell in den Sinn. Erstens betonen sowohl Boyarin als auch ich die Notwendigkeit eines kritischen Dialogs mit den Texten der Antike, ihren Interpretationen und Interpretierenden: So wie er sich von solchen Texten als ein ‚Jude‘ angesprochen versteht, um seinen eigenen Begriff aufzugreifen, so verstehe ich diese als mich als einen ‚Griechen‘ ansprechende (und als ‚Mann‘ und als ‚Freien‘). Ebenso betonen wir beide auch die ideologische Dimension eines solchen Dialogs; ferner, trotz seiner Konzentration auf Identität und meiner Konzentration auf Geopolitik, glaube ich, dass wir beide solche Blickwinkel nicht nur als wesentlich, sondern auch als miteinander zusammenhängend akzeptieren würden. Schließlich betrachten wir beide außerdem die Praxis der Kritik als eine Aktivität zur Befreiung: Gegen Exklusivismus und Zwang, für Gerechtigkeit und Wohl. Erstveröffentlichung als: Fernando F. Segovia, Interpreting Beyond Borders. Postcolonial Studies and Diasporic Studies in Biblical Criticism, in: Interpreting Beyond Borders, hg. v. F.F. Segovia, Sheffield 2000, 11-34.
Postkolonialität, Feministische Räume und Religion Musa W. Dube
Postkolonialität, Ethik und Feminismus Was charakterisiert die postkolonialen feministischen Räume der Zwei-Drittel-Welt-Frauen? Um dieser Frage nachzugehen, werde ich mich bemühen, einige der Hauptkategorien der Analyse, die für feministische postkoloniale Theorien geeignet sind, herauszufinden. Zuerst will ich kurz den Begriff „postkolonial“ – seine Entstehung und seine ethische Bedeutung - definieren. Zweitens werde ich einige postkoloniale feministische Bereiche und Praktiken darstellen, wie sie von verschiedenen feministischen TheoretikerInnen und AutorInnen ehemals kolonisierter Länder definiert worden sind. Drittens werde ich untersuchen, wie sich die Kolonisation und die Rolle, die die Religion in diesem Prozess gespielt hat, auf den Status der kolonisierten Frauen ausgewirkt haben. Abschließend werde ich herausstellen, wie postkoloniale feministische Räume und Strategien der Dekolonialisierung und der Depatriarchalisierung von postkolonialen feministischen AutorInnen der Zwei-Drittel-Welt definiert werden. Postkoloniale Theorien sind aus dem Aufstieg der westlichen Imperien vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hervorgegangen, aus ihrem Wettlauf, die Welt unter sich aufzuteilen, ihren Unterwerfungsstrategien und dem Widerstand, der durch den Kolonialismus erzeugt wurde sowie den Folgereaktionen, die seither in Bewegung sind. Der Versuch anglo-europäischer Nationen, die Welt kulturell, ökonomisch und politisch aus einer eurozentrischen Weltsicht heraus zu gestalten und ihre Meinung, dass dies für jede/n gut wäre, war ein zentrales Merkmal des modernen Imperialismus.1 Dieser gigantische Prozess zog Ideologien nach sich, die die Beherrschung fremder Nationen und den Aufbau einer weltweiten europäisch orientierten Satellitenökonomie legitimierten und gut hießen. Die politische Unabhängigkeit früherer Kolonien bedeutete nicht das Ende des Kolonialismus. Die eingeborenen Eliten, Revolutionäre und Führer der neuen Nationen nach der Unabhängigkeit waren, als sie in Erscheinung traten, voll und ganz in koloniale Gewänder gehüllt und den Strukturen und der Politik ihrer früheren Kolonialherren verpflichtet. Das hat zu der Notwendigkeit geführt, die Schaffung eines postkolonialen Staatsbürgers (dem/der KolonisiererIn, dem/der Kolonisierten und den KollaborateurInnen) auszuwerten und zu verstehen sowie die 1
Siehe V.Y. Mudimbe, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge, London 1988, 1-3.
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Rolle literarischer Texte im Prozess von Dominanz, Widerstand und Kollaboration in dem, was gemeinhin als postkoloniale Studien bekannt geworden ist, herauszustellen. Der/die moderne KolonisiererIn (egal ob Engländer, Französin, Portugiese, Deutsche oder Holländer) glaubte an die Überlegenheit seiner/ihrer Religion, Rasse, Ökonomie und Kultur. Diese Überlegenheit forderte den/die KolonisiererIn dazu auf, seiner/ihrer Berufung nachzukommen und die Welt seiner/ihrer eigenen Identität entsprechend zu konvertieren und zu ordnen.2 So eine Ideologie basierte auf dem Glauben an die Moderne, an das Christentum und an den industriellen Fortschritt. Die Kolonisierten hingegen (Nationen, Rassen und Länder, die von ausländischen, imperialistischen Mächten regiert wurden) wurden mit dem Glauben infiltriert, ihre eigene Religion, Rasse, Ökonomie und Kultur seien rückständig.3 Innerhalb dieser Dichotomie gab es jedoch einen dritten Raum: den Raum der Konversion oder Transformation. Die Kolonisierten konnten errettet und modernisiert werden, am Fortschritt und der Entwicklung teilhaben, und ihren KolonisiererInnen gleichgemacht werden innerhalb dieses Konversionsraumes, den Institutionen wie die Kirche, die öffentliche Verwaltung, die Schule sowie die Sprache und der Handel zur Verfügung stellten. Zu der Zeit, als im Fall von Afrika die politische Unabhängigkeit erlangt wurde, war bei fast allen gebildeten Führern und der Elite dieser Transformationsprozess in Gang gesetzt worden, indem sie ein koloniales Erziehungsprogramm durchlaufen hatten, koloniale Regierungen und Grenzen geerbt hatten und, natürlich, koloniale Strukturen in ihren eigenen Ländern, jetzt als „unabhängige“ Institutionen, aufrecht erhielten. Wirtschaftlich wurden viele Länder zu Rohmaterialproduzenten für westliche Industrien, die im Gegenzug dazu teuer gefertigte Waren verkauften, wobei sie die Preise und die Handelsbedingungen ihren Wünschen entsprechend bestimmten.4 So wurde der Teufelskreis ökonomischer und kultureller Abhängigkeit strukturell errichtet und ist nun in der Tat eine Proklamation und Rechtfertigung der Überlegenheitsansprüche der KolonisiererInnen. Postkoloniale Theorien zeigen die Komplexität des Imperialismus auf. Sie betonen, dass er mehr beinhaltet als nur die Fremdherrschaft einer Nation über eine andere. Kolonialismus ist ein Prozess, der sich auf alle Institutionen der Kolonisierten auswirkt und sie durchdringt. Die Unabhängigkeit früherer Kolonien wird nun als ein Kampf anerkannt, der in anhaltenden Geburtswehen verharrt. Und tatsächlich ist es erstaunlich, wie schnell sich der Prozess von den früheren Unabhängigkeitskämpfen der Kolonien hin zum gegenwärtigen Phänomen bewegt hat, nämlich dass dieselben Nationen nach ihren 2
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Siehe Eward Said, Culture and Imperialism, New York 1993, 17. Übersetzt als: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. M. 1994. In den Fällen asiatischer Zivilisationen war es die Strategie des Kolonialismus, zu glauben, dass irgendetwas in der Entwicklung Asiens fehlen würde. Siehe James M. Blaut, The Colonizer’s Model of the World. Geographical Diffusionism and Eurocentric History, New York 1993. Siehe Basil Davidson, Modern Africa. A Social and Political History, London 1989, 11-20.
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früheren KolonisiererInnen rufen, dass sie kommen und im Namen der „Globalisierung“ in ihren Ländern Geschäfte betreiben. Es ist noch nicht allzu lange her, dass wir Befreiungslieder gesungen haben. Während diese Töne der Befreiung in uns noch lebendig sind, klopft die Globalisierung laut an unsere Türen und verlangt das Recht, einzutreten und sich aufs hohe Ross zu setzen. Wie man Globalisierung auch definieren mag, es ist klar, dass einige die Spieler sind und dass mit den Anderen gespielt wird: Einige globalisieren und andere werden globalisiert. Daher streben die postkolonialen Theorien danach, das komplexe Konstrukt der KolonisiererInnen und der Kolonisierten zu verstehen: wie die Geschichte, die Geografie, die Anthropologie, die Reiseberichte, die Schifffahrt, die Erzählungen und die christliche Mission und vieles mehr zusammenwirkten, um die Überlegenheit des Westens zu verkünden,5 und wie sie zusammenwirkten, um die Welt zu Gedankenmustern, Religion, Bildung, Wirtschaft und Kultur des Westens zu bekehren. Postkoloniale Theorien zeigen weiterhin die verschiedenen Strategien auf, die sich die kolonisierten Nationen angeeignet haben, um dieser Herrschaft Widerstand zu leisten, ihre eigenen Länder und Gedanken zu dekolonisieren, um ihre eigene Befreiung zu realisieren und um bessere, gerechtere Formen internationaler Beziehungen einzubringen. Postkoloniale Theorien innerhalb des internationalen Rahmenwerks der dominierenden Weltmächte und der dominierten, aber kämpfenden Zwei-Drittel-Welt einzuordnen, ist von ethischer Bedeutung. Denn es betrifft Millionen von Menschen in verschiedenen Kontinenten und Nationen, die wirtschaftlich, politisch und kulturell von wenigen Weltmächten ausgebeutet werden.6 Eine postkoloniale Analyse ist daher eine Suche nach Antworten und einem Wandel angesichts der fest verwurzelten globalen Strukturen von Unterdrückung und Ausbeutung. Das Postkoloniale fordert folglich ein ethisches Bekenntnis zu und eine Identifikation mit jenen, die sich unter den globalen Strukturen von Beherrschung und Ausbeutung abrackern. Es ist eine Suche nach einer gerechten Form internationaler Beziehungen. Eine postkoloniale theoretische Betrachtung schließt eine Analyse der internationalen Beziehungen ein, die über historische, moderne, imperialistische und gegenwärtige Globalisierungsperioden informiert. Sie umfasst die sogenannte Erste, Zweite und Dritte Welt, die oft in die beiden gegensätzlichen Kategorien ‚fortschrittlich‘ und ‚unterentwickelt‘ aufgeteilt werden. Dies sind sehr vage Kategorien, die Gefahr laufen, von akademischen Partikularisten als zu ungenau, zu allgemein, oder zu universell ignoriert zu werden. Wie Angela Gilliam jedoch betont, gibt es einen Bedarf an einem „theoretischen Fokus, der lokale Belange mit nationalen und internationalen 5
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Siehe Said, Kultur und Imperialismus, dessen Studie zeigt, wie der Imperialismus eine Kooperation verschiedener Schulen war. Es gab jene, die in die Kolonien geschickt wurden, um Informationen zu liefern, während andere zu Hause blieben, um Bücher zu schreiben, Gesprächsrunden zu organisieren und um Missionare zu sponsern, die diese ganzen Projekte legitimierten. Basil Davidson betont in Modern Africa, „dass das koloniale System es erfolgreich darauf angelegt hat, den Reichtum Afrikas davon zu tragen: durch billige Bergbauarbeiter, indem sie Bauern für den Export ihrer Ernte niedrigere Preise als auf dem Weltmarkt üblich bezahlt haben“ (19).
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Themen verbindet“7. Der internationalistische Charakter postkolonialer Studien verschleiert den Fokus, je nachdem, wo der Akademiker zu Hause ist. Mit andern Worten, jene auf der herrschenden Seite leiden nicht immer unter dem internationalen Imperialismus, wenn sie sich nicht ganz bewusst bemühen, sich aus ethischen Gründen mit den Unterdrückten zu identifizieren. Andererseits leben jene auf der beherrschten Seite Tag für Tag mit internationaler Ausbeutung und Unterdrückung. In solchen Situationen tendieren die Unterdrückten dazu, sich selbst wegen ihres Leidens zu tadeln, wenden sich gegen sich selbst, kämpfen für unzureichende Ressourcen, oder kehren zurück zur imaginären Stabilität der Vergangenheit. Ferner werden sie von den etablierten Strukturen in die Rolle der kolonialen Stereotype getrieben, deren Abhängigkeit nie endet. Obwohl postkoloniale Theorien stets internationalen Charakter haben, sind sie außerdem historisch-kontextuell verortet. Sie werden spezifisch, wenn man den Fokus darauf richtet, wie die Kontrolle der KolonisiererInnen früherer kolonialer Zentren in bestimmten Ländern, Kontinenten und Gruppen funktioniert. Man kann den Fokus beispielsweise darauf richten, wie die internationale Beherrschung der früheren kolonisierten Zentren die Kinderarbeit, den Rassismus und den Frauenhandel vorangetrieben hat und welche Auswirkungen sie auf das ländliche und städtische Leben der Frauen in der Zwei-Drittel-Welt hatte. Man kann den Blickpunkt auch darauf richten, wie diese zurückliegende Kontrolle über die Kolonialzentren die sozial akzeptierten Werte und Institutionen einer bestimmten Gesellschaft in wertlose Räume oder in öffentliche unterdrückende Institutionen verwandelt hat. In ihrer Spezifität gehen dekolonisierende postkoloniale Theorien verschiedene Wege, um den spezifischen Imperialismus der verschiedenen beherrschten Kontinente, Länder, Nationen, Gender, Rassen, Klassen, ethnischen Gruppen und Ökonomien zu verstehen und um ihm Widerstand zu leisten. Die Besonderheit dieses Aufsatzes ist sein Schwerpunkt auf dem Feminismus innerhalb des Rahmenwerks des Postkolonialismus. Er versucht zu verstehen, wie die Genderbeziehungen in postkolonialen Räumen gestaltet sind, um dann dekolonisierende, feministische Befreiungsstrategien für die Frauen der ZweiDrittel-Welt herauszufinden. Feminismus, so wie er hier verstanden wird, bedeutet eine weltweite politische Bewegung von Frauen und Männern, die versucht, das Bild der Frauen als zweitklassige Bürger innerhalb ihrer Gesellschaften zu verstehen und einen Wandel in Gang zu setzen, der ihnen in ihrem Kontext wieder einen Platz als vollwertige Menschen gibt. Feministische Bewegungen sind unterschiedlich in ihrem Kampf für das Empowerment der Frauen. Was also sind die Charakteristika und Praktiken der Zwei-DrittelWelt-FeministInnen innerhalb der Diversität der postkolonialen Räume? Welche Anliegen und Strategien haben sie? Welche Rolle spielt die Religion in der Kolonisation und Dekolonisation der postkolonialen Räume und Themen? Viele unterschiedliche feministische WissenschaftlerInnen der ZweiDrittel-Welt haben das Anliegen, postkoloniale feministische Räume zu ent7
Angela Gilliam, Women’s Equality and National Liberation, in: Third World Women and the Politics of Feminism, hg. v. Chandra Talpade Mohanty / Anne Russo / Lourdes Torres, Indianapolis 1991, 215.
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wickeln, untersucht. Ich werde meine Analyse ihrer Leistungen beginnen, indem ich mit Chandra Talpade Mohanty, Gayatri Chakravorty Spivak, Ania Loomba, Ifi Amadiume und Anthonia C. Kalu „spreche“.
Postkoloniale feministische Räume Chandra Mohantys Artikel Under Western Eyes. Feminist Scholarship and the Colonial Discourse liefert bedeutende Einsichten in die Beschaffenheit postkolonialer feministischer Räume.8 Wie bereits erwähnt, ist der Feminismus eine weltweite politische Bewegung verschiedener Couleur und zeigt, wie sein postkoloniales Gegenstück, konsequenterweise internationale Charakteristika. Deswegen läuft er Gefahr, zu verallgemeinern und feministische Perspektiven von den westlichen Zentren aus festzusetzen, die oft in der besseren Position sind, ihre Ideen zu verkaufen, da der Markt sie bevorzugt. Wie Mohanty bemerkt, wird diese Gefahr leicht dadurch geschaffen, dass man die nicht-westlichen Frauen zu einer Gruppe homogenisiert und die Überlegenheit der westlichen Frauen über den Rest aufrechterhält. Um dieses Thema zu veranschaulichen, zitiert Mohanty Maria Rosa Cutrufelli, die behauptet: „Meine Analyse beginnt mit der Behauptung, dass alle afrikanischen Frauen politisch und wirtschaftlich abhängig sind“ und geht weiter mit der Aussage: „entweder öffentlich oder verborgen ist die Prostitution immer noch die Haupteinnahmequelle, wenn nicht die einzige Einnahmequelle für afrikanische Frauen“9. Cutrufellis Behauptung hat in besonderem Maße Anteil an einem alten und beständigen kolonialen Konstrukt von afrikanischen Frauen und Männern, das Afrika und andere Welten als Ausbund des Bösen und der Wildheit, der Unreife und der stillstehenden Zivilisation darstellt. Ihre feministische Analyse der anderen Frau veranschaulicht die koloniale Ideologie der Unterdrückung, die ihre Opfer als Menschen charakterisiert, die aus ihrer eigenen schrecklichen Unzulänglichkeit errettet werden müssen. Dieses koloniale Konstrukt stellt den Westen weiterhin als Zentrum aller kulturellen Errungenschaften dar, ein Zentrum mit einem angeblich erlösenden Impuls, während es alle anderen Kulturen zu einem Projekt der Zivilisation, der Christianisierung, der Assimilation und der Entwicklung degradiert. Es wirkt, indem es den Anderen negativ darstellt und dabei fortwährend die Überlegenheit des Westens unterstreicht. Die koloniale Herangehensweise konstruierte beide, den/die KolonisiererIn und den/die KolonisierteN, so, dass sie die ihnen zugewiesenen Plätze in der Rhetorik des Kolonisierens akzeptierten. Der kolonisierende Diskurs gedeiht selbst heute noch in verschiedenen Medien. So zum Beispiel wird Afrika, wenn es im Fernsehen oder in Filmen 8
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Siehe Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourse, in: Colonial Discourse and Post-colonial Theory. A Reader, hg. v. Patrick Williams / Laura Chrisman, New York 1994, 196-220. Zitiert von Mohanty aus Maria Rosa Cutrufelli, Women from Africa. Roots of Oppression, London 1983, 13, 33.
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auftaucht, durch Armut, Krankheit, Krieg oder wilde Tiere repräsentiert.10 Nordamerika und Großbritannien werden andererseits durch das Weiße Haus (oder die Flagge der USA) und Westminsters Goldenes Parlament dargestellt. Cutrufellis Portrait der afrikanischen Frauen stellt auch die Komplexität ihrer Stellung in postkolonialen Räumen heraus. Das heißt, dass sich die Frauen der Zwei-Drittel-Welt unterdrückt erleben und zwar von den patriarchalen Strukturen in ihren eigenen Gesellschaften, den patriarchalen Strukturen ihrer KolonisiererInnen und den imperialen Strukturen westlicher Männer und Frauen. Die Frauen der kolonisierenden Zentren, die von verschiedenen Formen des Patriarchats in ihrem eigenen Kontext unterdrückt werden, erhalten die Unterdrückung des/der Anderen aufrecht, wenn sie innerhalb des Rahmenwerks der kolonialen Denkweise agieren. So behauptet Mohanty, dass der Zwang, die Analyse anderer Kulturen nach feministischen Kategorien vorzunehmen, „die theoretische Analyse beschränkt sowie den westlichen kulturellen Imperialismus neu bestärkt“11. Diese Vorsicht ist eine Mahnung an die westlichen FeministInnen, selbstkritisch zu sein und zu erkennen, dass sie oft noch nicht das koloniale Bild der „kolonisierten Frau“ und der Zwei-Drittel-Welt-Frau unserer Tage hinter sich gelassen haben. Sie ermahnt FeministInnen der früheren Kolonialzentren, dass das koloniale Rahmenwerk im Großen und Ganzen immer noch gegenwärtig ist, und dass man wahrscheinlich innerhalb dieser unterdrückenden Paradigmen agiert und sie logischerweise reproduziert, wenn man sich nicht ganz bewusst dafür entscheidet, einE dekolonisierendeR FeministIn zu werden. Mohanty schließt mit einer Warnung an die/den westlicheN WissenschaftlerIn, der/die immer noch behauptet, dass die postkolonialen Frauen „sich nicht selbst vertreten können; sie müssen vertreten werden“12. Mohanty betont die Notwendigkeit, anzuerkennen, dass die Zwei-Drittel-Welt-Frauen ihre eigenen Realitäten von ihrer eigenen Perspektive aus definieren müssen und dass die Autorität ihres eigenen Diskurses anerkannt werden sollte. Gayatri Spivak beantwortet ihre eigene Frage - „Can the subaltern speak?“ („Kann die Subalterne sprechen?“) – mit einem emphatischen „Nein“13. Stattdessen ermahnt Spivak die weiblichen Intellektuellen eindringlich, die Verantwortung dafür zu übernehmen, die „Subalternen“ zu „vertreten“. Spivaks Analyse des postkolonialen Raumes zeigt marxistischsozialistischen Einfluss. Sie definiert Imperialismus als ein Werk der Produktionsmethode des Kapitalismus auf globaler Ebene und behauptet: „Die heutige internationale Arbeitsteilung stellt eine Verschiebung jenes unterteilten Feldes dar, das durch den territorialen Imperialismus des 19. Jahrhunderts abgesteckt wurde. Einfach gesagt: Eine Gruppe von Ländern, die im Allgemeinen der Ersten Welt angehören, ist in der Position, Kapital zu in10 11 12 13
Selbst so ein Film wie Coming to Africa schließt sich dem kolonialen Stereotyp an, das Afrika als einen Ort wilder Tiere charakterisiert. Siehe Mohanty, Under Western Eyes, 214. Mohanty, Under Western Eyes, 216. Siehe Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Colonial Discourse and Post-colonial Theory, 66-111. Übersetzt als: Can the subaltern speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation, hg. v. Hito Steyerl, übers. v. Alexander Joskowicz / Stefan Nowotny, Wien 2008.
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vestieren; eine andere Gruppe, in der Regel der Dritten Welt angehörend, bildet das Feld für mögliche Investitionen […].“14 Spivak hält daran fest, dass diese Art von Beziehung nicht nur einem allzu simplen ökonomischen Gefüge entspringt, sondern einem ideologischen Hintergrund, der seine Macht behalten hat. Wenn Spivak daher sagt, dass der/die „Subalterne“ nicht sprechen kann, meint sie nicht, dass die ArbeiterInnen die Unterdrückung nicht erkannt und revoltiert haben. Wie sie betont, ist dies historisch sehr gut nachgewiesen. Was die Frauen betrifft, meint Spivak nicht, dass die Zwei-DrittelWelt-Frauen nicht am Widerstand oder an der internationalen Arbeitsteilung teilnehmen können oder teilgenommen haben.15 Sie meint eher die Tatsache, dass die dominante Ideologie so fest eingefahren ist, dass sie immer hegemoniale Mächte privilegiert. Wenn man Genderbelange in diesen postkolonialen Produktionskontext einbringt, behauptet Spivak, dass „die Subalterne als Frau sogar noch tiefer in den Schatten gedrängt [ist]“, oder „schweigt.“16 Wie nimmt Spivak das Konstrukt dieses tieferen Schattens wahr? Zeigt sie einen Weg auf, der hinaus führt? Zuerst betont Spivak, dass die Kategorien „farbig“ oder „schwarz“ ihre Bedeutung verlieren, wenn sie von ihren gegensätzlichen Kontexten in der Ersten Welt losgelöst werden. Zum Beispiel nimmt die Rassenfrage ausgesprochen deutliche Formen an in Orten wie Südafrika, wird aber in homogenen Nationen weniger eminent.17 Zweitens führt sie aus, dass die Rückgewinnung der verlorenen Ursprünge oder der Ruf nach einer intensivierten Theorie wie sie im anglo-amerikanischen Feminismus üblich ist, der schweigenden subalternen Frau nicht dienlich sein kann. Rassenbewusstsein ist oft ohne Bedeutung, da die imperialistische Ideologie sich in eine humanistische Ideologie kleidet, mit der Mission, zu erretten, Gutes zu tun und den Anderen zu sich selbst zu führen. Die Subalterne erlebt sich deshalb nicht so, dass sie aufgrund ihrer Farbe gehasst wird, sondern so, dass sie gerettet, zivilisiert und gebildet wird, und das alles zu ihrem Besten. Spivak veranschaulicht ihre Behauptung mit dem Beispiel von Sati in Indien, um zu zeigen, wie die Imperialisten, die diese Geschehnisse dokumentierten, auf zwei Dinge abgezielt haben: erstens darauf, die Heiligkeit ihrer imperialistischen Mission in ihren Heimatländern zu legitimieren; und zweitens darauf, als Retter der braunen (indischen) Frauen vor den braunen Männern dazustehen. Tatsächlich wird das erreicht, indem man die indischen Frauen in viktorianische Stereotype presst. Was die Suche nach dem Ursprung und die Rückgewinnung der eigenen Geschichte betrifft, findet Spivak, dass dies die subalterne Frau ebenfalls weiter subsumiert. Die Suche nach dem Ursprung wurde benutzt, um die subalterne Frau zu etwas zu treiben, zum Beispiel dazu, die patriarchalsten Praktiken wie etwa Sati zu zelebrieren, oder dazu, angesichts einer Verge14 15 16 17
Spivak, Can the Subaltern Speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation, 57. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 82. Spivak, Can the Subaltern Speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation , 57. Dies hängt tendenziell von der Art des Kolonialismus ab. Siedlungskolonialismus wie in Südafrika, Zimbabwe, Australien und Nordamerika weist starke rassistische Züge auf.
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waltigung durch die Eroberer ihrer Männer Selbstmord zu begehen, wie es die königlichen indischen Frauen taten.18 In beiden Fällen kann die subalterne Frau nur reden, indem sie bereitwillig Selbstauslöschung begeht. Spivak betont, dass die westlichen Frauen, die als Erretterinnen der Zwei-Drittel-WeltFrauen im Rampenlicht stehen, sich auch dem Zum-Schweigen-Bringen der subalternen Frau anschließen.19 Sie verweist auf Mary Dalys Arbeit in GynÖkologie20 als eine Annäherung, die im weiteren Kontext des imperialistischen Diskurses angesiedelt ist – das heißt, sie stellt die andere Frau als Opfer dar, das errettet werden muss. Das imperialistische Rahmenwerk von Mary Dalys Arbeit wurde von afro- amerikanischen Intellektuellen angefochten, zum Beispiel in dem offenen Brief von Audre Lorde an Mary Daly, auf den diese lieber nicht geantwortet hat.21 Spivak kommt schließlich zu dem Schluss, dass es innerhalb all dieser wetteifernden Diskurse, von denen jeder behauptet, dass er an der Befreiung der subalternen Frau Interesse habe, „keinen Raum [gibt], von dem aus das vergeschlechtlichte subalterne Subjekt sprechen kann“22. Sie behauptet nachdrücklich, dass „die Subalterne als Frau […] nicht gehört oder gelesen werden [kann]“23. Anstelle einer stummen, subalternen Frau appelliert Spivak stattdessen an die intellektuelle Verantwortung, die verlangt, dass die Intellektuelle selbstkritisch sein und es vermeiden sollte, sich dem dominanten einengenden Diskurs anzuschließen. Die Intellektuelle muss ihre privilegierte Position dazu nutzen, die verschiedenen Ebenen ideologischer Unterdrückung zu verstehen, die sowohl von den imperialistischen Zentren, als auch vom Nativismus und den internationalen feministischen Bewegungen gefördert werden. Die Intellektuelle muss die subalterne Frau repräsentieren. Abgesehen davon, dass Spivak entlarvt, wie das ideologische Interesse dieser wetteifernden Diskurse die subalterne Frau stumm macht, gibt sie keine weitere Antwort auf die Frage, wie man der zum Schweigen gebrachten subalternen Frau am besten ihre Stimme wiedergeben kann. Jedoch ist Spivak auf dreierlei Art lehrreich: Sie macht auf die Komplexität des feministischen, postkolonialen Raumes aufmerksam, warnt davor, sich leichtfertig den vielen selbsternannten Befreiungsbewegungen anzuschließen, und weist auf die Fülle des ideologischen Interesses in vielen Theorien hin, die die postkoloniale Frau der früheren Kolonien benachteiligen. Während Mohantys Kritik sich auf die Gefahren universeller Tendenzen im Feminismus und seinen westlichen Zentren konzentriert, setzt Ania Loomba ihren Fokus auf die Kategorien der Analyse, die von den
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Spivak, Can the Subaltern Speak?, 101-103. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 93. Mary Daly, Gyn-Ökologie. Eine Meta-Ethik des radikalen Feminismus, München 1981. Siehe Audre Lorde, Sister Outsider. Essays and Speeches, Trumansburg 1984, 66-71. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 103. Überzeugender ist es, zu sagen, dass die Subalterne nicht gehört werden kann. Die meisten Menschen sprechen in ihren unterschiedlichen Situationen und Lebenszeiten, jedoch erlauben es die hegemonialen Kräfte ihnen nicht, gehört zu werden. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 105.
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postkolonialen TheoretikerInnen der Zwei-Drittel-Welt definiert wurden.24 Diese sind unter anderem Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken, die Hybridität, die Herr/Sklave-Konstellation, Spivaks stumme Subalterne, Modernismus/Nativismus, und die Theorie, die Vergangenheit zurückzugewinnen. Loomba bewertet diese verschiedenen theoretischen Perspektiven und findet sie zu rigide, ahistorisch, anfällig dafür, die Subalternen zu romantisieren oder stumm zu machen, und stellt fest, dass sie manchmal den kolonialen Diskurs erneut einschreiben, indem sie diesen Diskurs auf einen „Wortkampf“ reduzieren, der wenig oder keinen Kontakt mit der praktischen Welt der postkolonialen StaatsbürgerInnen hat. Im Besonderen hält Loomba diese Kategorien für inadäquat, um den Standort der postkolonialen Frau einzuschätzen. Kritisch in Bezug auf die duale Polarisierung zieht Loomba es vor, die Interaktion des Lokalen mit dem Kolonialen zu untersuchen, eine Kollision, die normalerweise die lokale Kultur verstümmelt oder transformiert, um die Hegemonie der Supermächte zu stärken. Interessanterweise zeigt sie, wie es den kolonialen Diskursen, die sich als emanzipatorisch präsentiert haben, gelungen ist, die kolonisierte Frau als unter einem noch schwereren Joch stehend neu einzuschreiben. So hat zum Beispiel die Bildung indische Frauen nicht von ihrer traditionellen Fessel befreit; sie hat lediglich ihre eigenen englischen Stereotype diesem Bild hinzugefügt.25 Loomba findet, dass die Fixierung auf die Wiederbelebung der Vergangenheit nicht dazu dient, die indische Frau in das Zentrum des Widerstandes zu stellen – besonders deshalb, weil die Revitalisierung und der Kommunalismus mit einem kommerzialisierten Patriarchat zurückkommen. So wird zum Beispiel die Praxis der Mitgift nicht nur wiederbelebt, sie wird nun auch noch völlig in kapitalistischen Werten bemessen, was die Unterdrückung der indischen Frauen nochmals unterstreicht. Dabei bietet Loomba keine präzise Alternative an, außer dass sie davor warnt, den Kolonisierten und den/die KolonisiererIn allzu leicht zu polarisieren und die Hybridität oder die nostalgische Rückgewinnung der Vergangenheit ist für sie auch keine Alternative für die indische Frau. Sie betont jedoch, dass der postkoloniale feministische Raum komplex und inkonsistent ist, und dass er der Polarisierung leicht Stand hält, wenn man ihn inmitten historischer Kontexte stellt. Loomba problematisiert alle drei theoretischen Kategorien und findet, dass Spivaks stumme Subalterne ein gefährlicher Diskurs ist, der droht, die Subalterne erneut zum Schweigen zu theoretisieren. Alles in allem stimmen Mohanty, Loomba und Spivak darin überein, dass es eine sehr komplexe Angelegenheit ist, den postkolonialen feministischen Raum zu definieren. Sie warnen davor, feministische und männliche Theorien der Ersten Welt leichtfertig auf Frauen der Zwei-Drittel-Welt zu übertragen. Solche Übertragungen tendieren dazu, sich in andere imperialistische Diskurse zu verwandeln, die an die Verbreitung eurozentrischer Zivilisation bis in ihre Peripherien glauben. Die Rückkehr zu den Wurzeln oder die Ana-
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Siehe Ania Loomba, Overworlding the ‚Third World‘, in: Colonial Discourse and Postcolonial Theory, hg. v. Williams / Chrisman, 305-32. Loomba, Overworlding the ‚Third World‘, 315-16.
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lyse der Hautfarbe werden – abhängig vom Kontext26 - als inadäquat und als den Interessen einiger FeministInnen früherer Kolonien dienlich betrachtet. Keine von den dreien beschreibt irgendeinen bestimmten Weg für die/den postkoloniale FeministIn. Mohanty scheint zu sagen: ‚Lass die postkoloniale Frau (der früheren Kolonien) sich selbst vertreten.‘ Spivak sagt andererseits, die postkoloniale subalterne Frau könne sich nicht selber vertreten, sie müsse von einer sehr gut ausgebildeten und selbstkritischen Intellektuellen vertreten werden. Loomba gibt sich damit zufrieden, vor leichter Polarisierung, Wiederbelebung oder hybriden Theorien zu warnen, bietet aber keine bestimmte Alternative an. Diese theoretische Undurchsichtigkeit, die dadurch charakterisiert wird, das Ungenügende der verfügbaren Theorien bloßzulegen, ohne eine Alternative anzubieten, berichtet von der Schwierigkeit, die den postkolonialen feministischen Raum umgibt. Ich werde jetzt untersuchen, wie man die afrikanischen Frauen zur Kolonialzeit konstruierte, wie das soziale Umfeld auf sie einwirkte und welche Rolle die Religion in diesem Prozess gespielt hat. Um die Interaktion des kolonialen Diskurses mit einigen Aspekten der Setswana-Religion zu verstehen, werde ich mich auf einige weitere WissenschaftlerInnen beziehen: auf V.Y. Mudimbe, einen afrikanischen philosophischen Schriftsteller, auf Ifi Amadiume, eine afrikanische Soziologin, und auf Anthonia C. Kalu, eine nigerianische feministische Literatin.
Mudimbe: Kolonisierung und Religion In seinem Buch The Idea of Africa hat Mudimbe ein Kapitel „Domestication and the Conflict of Memories”27 („Domestizierung und der Konflikt der Erinnerungen”) genannt. Dieses Kapitel handelt vom ehemals Belgischen Kongo, der gegenwärtigen Demokratischen Republik Kongo (fortan DRC), und analysiert, wie das koloniale Subjekt dort im 19. und 20. Jahrhundert konstruiert worden ist. Er nutzt Archivmaterial, um aufzuzeigen, wie die Kolonisierung der DRC als ein geplantes Treffen in Belgien 1876 begann, bei dem der König sein Interesse ausdrückte, Zentralafrika zu erschließen, um „die Sklaverei zu beenden und auch um Licht in diese Gebiete zu bringen“28. Der Papst, der früher bereits ein Interesse an dieser Zivilisationsarbeit zum Ausdruck gebracht hatte, dachte, „dass Missionare etwas zu seinem Werk beisteuern könnten“29. Nachdem sein Plan vom König gutgeheißen worden war, segnete der Papst am 24. Februar 1878 Bischof Lavigerie und „übertrug
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Die Ideologie überlegener Rassen (die KolonisiererInnen) und minderwertiger Rassen (die Kolonisierten) ist von zentraler Bedeutung für die Strategie des Kolonialismus, verlor jedoch nach der Unabhängigkeit an Bedeutung, da die Einheimischen die Macht hatten, sich zu behaupten. V.Y. Mudimbe, The Idea of Africa, Indianapolis 1994. Mudimbe, The Idea of Africa, 104. Mudimbe, The Idea of Africa, 106.
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ihm die Verantwortung dafür, Äquatorialafrika zu evangelisieren und zu konvertieren“30. Hier ist von Interesse, dass die Kolonisierung der DRC auf komplizierte Art mit religiösen Konversionsagenden verflochten war, die als das ethische Ziel, die Sklaverei zu beenden, dargestellt wurden. 1911 wurde der Belgische Kongo in 10 kirchliche Regionen aufgeteilt, die gleichzeitig politische Regionen waren. 1939 waren 1631 Missionare unterschiedlicher katholischer Orden dort und alle waren in erster Linie Belgier. Wie Mudimbe betont, wurde von den Missionaren erwartet, „den Verpflichtungen der Kirche in Zentralafrika nachzukommen, sowie die politischen Ziele des Königs zu verfolgen“31. Dies wurde verstanden und die Missionare gut positioniert, und so zeigte die Mission „einen Willen zu konvertieren, zu transformieren, ein Gebiet und seine Bewohner radikal zu verwandeln“32. Diese Transformation des Raumes schloss die Schaffung eines kolonialen Untertans gemäß eurozentrischer Spezifikation ein. Sie verlangte die Umwandlung der physischen Geografie ebenso wie die des spirituellen und mentalen Raumes der Individuen. Geografisch nahm die Transformation der DRC die Form westlicher Architekturprojekte an: den Bau einer Missionsstadt, die aus einer Kirche, einer Schule, Hospitälern, Häusern für die Missionare, Waisenhäusern und Gärten bestand. Darüber hinaus wurden die Missionsstationen symbolisch abseits der örtlichen Siedlungen gebaut, aber noch nahe genug am Hauptort. So positioniert, wurden sie zu Zentren, die eine eurozentrische Weltsicht verbreiteten und die Einheimischen anspornten, sich nach diesen vorgegebenen höheren Werten zu sehnen und sich darum zu bemühen, sie anzunehmen. Die Transformation des Individuums verlangte eine Transformation des Geistes, die mit einer spirituellen Konversion begann. Dies wurde durch westliche Bildung in Seminaren unterstützt sowie dadurch, dass man Leseund Schreibfähigkeit in der Sprache der Herren erlangte, dass man offiziell in Kirche oder Kolonialverwaltung tätig war, sowie letztendlich durch die Assimilation, die einen zum qualifizierten französischen oder belgischen Staatsbürger machte. Um mehr Kongolesen zu ermutigen, solch eine Transformation zu wünschen, wurde die Kirche so organisiert, dass die Gemeindemitglieder entsprechend ihrem Rang saßen. Die ersten Reihen waren für den Klerus reserviert und die nächsten für die Weißen. Danach kam das große Mittelschiff, der Raum für die schwarzen Christen. Schließlich kamen die hintersten Reihen mit den Taufbewerbern, sodass, wie Victor Rolens es ausdrückt, „sie sich von der Feier der heiligsten Mysterien ausgeschlossen fühlen können, um ihre Unterlegenheit im Vergleich zu den Christen umso besser zu spüren“33. Wenn die Missionare erst einmal einige Anhänger gewonnen hatten, begann die rigorose Ausbildung einiger einheimischer männlicher Fachleute. Es beinhaltete, dass Jungen dem Dorfleben für lange Zeit entzogen 30 31 32 33
Mudimbe, The Idea of Africa, 106. Mudimbe, The Idea of Africa, 109. Mudimbe, The Idea of Africa, 107. Mudimbe, The Idea of Africa, 112. Interessanterweise waren weiße und schwarze Christen nicht vermischt, d.h., dass der Rassismus innerhalb der christlichen Kirche beibehalten wurde.
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wurden. Diese ausgebildeten Einheimischen wurden zu Bindegliedern zwischen ihren Leuten und den Kolonisten. Sie förderten fachkundig die Transformation ihrer eigenen Leute, indem sie lebende Beispiel dafür waren, was es bedeutete, zivilisiert zu sein, welche Vorteile das brachte und wie man das erreichen konnte. Obwohl dies eine gewisse Gleichheit zu fördern schien, betont Mudimbe, dass „eine allgemeine Politik der Akkulturation diese Auserwählten zwischen ihre schwarzen Brüder und die Kolonisten stellte, ohne sie der einen oder anderen Gruppe zuzuordnen“34. Diese Politik erklärt, dass sie trotz der Konversion der Bewohner Afrikas (und anderer kolonisierter Völker) zu Christentum und westlicher Art, nicht den gleichen Glaubensstatus wie ihre Lehrmeister erreichten. Von Anfang an zielte das Programm darauf ab, Anhänger zu gewinnen, und keine Gleichgestellten. Diese Spannung schuf eine enorme Identitätskrise für die kolonisierten Kongolesen und andere kolonisierte Afrikaner, da sie nun weder Afrikaner noch Europäer waren. Im Anfangsstadium der Kolonisierung wurde das Patronat über Afrika als total angesehen. Die meisten KolonisiererInnen konnten es nicht wahrnehmen, dass die Afrikaner revoltieren und ihre Unabhängigkeit fordern könnten. Mudimbes Forschung in den Archiven zeigt, dass die Missionare nach dem zweiten Weltkrieg, als eingeborene Revolutionäre begannen, gegen die Kolonisation Aufruhr zu machen, Beratungen miteinander abhielten und ihre Strategien reorganisierten, damit es so aussah, als wären sie auf der Seite der Einheimischen. In den 1960ern, als die meisten afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erreichten, waren viele der aufstrebenden Führer ehemalige Seminaristen. Sie gehörten zu einer Klasse, die zwischen den KolonisiererInnen und den Kolonisierten stand. Sie waren eine Elitegruppe, die sich danach sehnte, das vorgesetzte Kolonialzentrum zu imitieren und ihre Nationen auf diesen Weg der Sehnsucht zu führen. Die koloniale Transformation der Räume und Individuen ging so vor sich, dass sie zwischen der indigenen Lebensart und der – wie angenommen wurde – überlegenen neuen europäischen Lebensart Spannung erzeugte. Diese Spannungen schufen Konflikte und erhielten diese aufrecht, indem sie die Überlegenheit des neuen Systems verkündeten und die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen der eingeborenen afrikanischen Gesellschaften abwerteten. So war es aus sozialer Sicht vorteilhafter, ein/e ChristIn zu sein als kein/e ChristIn zu sein, im europäischen Stil erzogen zu werden als in den einheimischen Schulen, in Kirche und Kolonialverwaltung zu arbeiten als die eigene Farm zu bewirtschaften. Es wurde eine Mittelklasse aus Fachleuten geschaffen. Weite Teile des Landes wurden für den Anbau von Agrarprodukten zum Verkauf umgewandelt und es wurde die Regel, als Arbeiter für Lohn zu arbeiten, anstatt das eigene Land zu bewirtschaften. Daraus entwickelte sich eine Arbeiterklasse ohne eigenen Landbesitz in einem Wirtschaftssystem, das nach kapitalistischen Mustern neu strukturiert wurde. Die afrikanischen Eliten, die an die Macht kamen, erbten koloniale Grenzen, Religionen, Schullehrpläne, Sprachen, Ideologien und eine Wirtschaft, die darauf eingestellt war, Europa mit Rohmaterial zu versorgen. Bis zum heuti34
Mudimbe, The Idea of Africa, 121.
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gen Tag ist Afrika immer noch eingeteilt in „anglofones Afrika“, „frankofones Afrika“ und „lusofones Afrika“, da die Sprachen der früheren Kolonialherren immer noch als offizielle Sprachen fungieren. Wie passen die kongolesischen Frauen ins Bild dieser Transformation? Ihr Nichtvorhandensein in der Analyse von Mudimbe beweist ihre systematische Ausgrenzung. Die katholische Kirche war, ist und bleibt eine äußerst patriarchale Institution, genauso wie das koloniale Verwaltungssystem der DRC. Die ersten Einheimischen, die man ausbildete, wurden dazu ausgebildet, diesen beiden Einrichtungen zu dienen. Kurz, die strukturelle Ausgrenzung der Frauen wurde durch die Schule, die Kirche und durch die Kolonialverwaltung eingeführt. Für eine Analyse, die sich auf die Frauen während der kolonialen Transformation konzentriert, ist Ifi Amadiumes Buch Männliche Töchter, weibliche Ehemänner sehr aufschlussreich.35
Kolonisierung, Religion und der Status afrikanischer Frauen Amadiumes soziologische Forschung konzentriert sich auf eine afrikanische ethnische Gruppe in Nigeria, speziell in Nnobi, die Igbo. Hier setzten militante Frauen dem Auslöschen ihres Geschlechts etwas entgegen. Sie begehrten auf und fochten sogar selbständig im Jahr 1929 einen Krieg gegen die britische Kolonialverwaltung.36 Um ihren Kampfgeist und ihren Widerstand zu dokumentieren, teilt Amadiume ihre Forschung in drei Teile: vorkolonial, kolonial und postkolonial. Anhand dieser Darstellung können wir nachvollziehen, wie die koloniale Transformation die Igbo-Frauen beeinflusst hat. Amadiume beurteilt zunächst die Herkunftsmythen, die Ökologie, die Produktion und die wirtschaftlichen Tätigkeiten der vorkolonialen Igbo sowie deren Geschlechtsspezifik. Alles in allem findet Amadiume eine Gesellschaft vor, die auf einem „flexiblen Genderkonstrukt“ aufgebaut ist. Zum Beispiel war Landbesitz und Landvererbung männlich, aber wenn ein männlicher Erbe fehlte, konnte eine Tochter „männliche Tochter“ genannt werden und das Land erben. Der Ackerbau wurde gleichmäßig zwischen Männern und Frauen aufgeteilt. Süßkartoffeln wurden von Männern angebaut, während die Produktion von Maniok den Frauen zugeordnet wurde. Beide Geschlechter konnten wetteifern in der Produktion ihrer jeweiligen Pflanzen und dafür Erfolgstitel wie Ogbuefi und Ekwe erhalten. Sowohl Männer als auch Frauen 35
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Siehe Ifi Amadiume, Männliche Töchter, weibliche Ehemänner. Soziale Rollen und Geschlecht in einer afrikanischen Gesellschaft, übers. v. Karen Nölle-Fischer / Barbara Stute, Zürich 1996. Ifi Amadiume, Männliche Töchter, weibliche Ehemänner, 209. Ihre Revolte war charakterisiert durch den Angriff auf und die Zerstörung von Symbolen der weißen Männer wie Gerichtshöfe und Sitze der Mächtigen, Fabriken, fremde Waren auf den Märkten und bevollmächtigte Chefs, die die Macht nigerianischer Frauen in der Gesellschaft ersetzten.
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waren berechtigt, ihren Überfluss zu verkaufen und die Einnahmen zu behalten. Der Markt jedoch war die Domäne der Frauen. Die Frauen verkauften die Süßkartoffeln der Männer auf dem Markt und machten damit einen extra Gewinn. So wurde Flexibilität in ein System der Arbeitsteilung gebracht. Dieses System privilegierte die Männer nicht völlig gegenüber den Frauen in Bezug auf Machtfragen um öffentliche Plätze und Besitz. Das Genderbild der Igbo hatte seine eigenen unterstützenden Mythen und ein spirituelles Umfeld, das die weibliche göttliche Macht durch die Göttin Idemili anerkannte. Weiblicher Fleiß und ökonomische Selbsthilfe wurden auf solche Vorbilder zurückgeführt und dafür genutzt, eine Genderideologie zu bestärken, die männliche und weibliche soziale Räume abgrenzte. Innerhalb dieses Rahmens hatten die Männer die Tendenz, sich auf bestimmte Pflanzenarten, rituelles Wissen und Handwerk zu spezialisieren, während die Frauen ihre eigenen Pflanzen kultivierten, ihre Gärten pflegten, Nahrungsmittel herstellten und haltbar machten und den Marktplatz dominierten. Obwohl dieses Genderkonstrukt sicherlich nicht egalitär war, zeigte es eine hohe Flexibilität: Frauen waren nicht völlig von den Sphären der Macht ausgeschlossen. Wie beeinflusste die Kolonialzeit dieses Gendersystem? Amadiume sagt, dass die koloniale Invasion die einheimischen Institutionen durch das Aufzwingen des Christentums, westlicher Erziehung und neuer ökonomischer und administrativer Systeme unterdrückte. Die plötzliche Einwirkung zerfraß das flexible Genderkonstrukt der Igbo und führte „ausgeprägte Geschlechts- und Klassenunterschiede, die von rigiden Geschlechtsideologien und –konstruktionen untermauert waren“37, ein. Amadiume dokumentiert, dass die Igbo-Frauen dem Christentum Widerstand leisteten, da es eine offensichtliche Bedrohung der Verehrung der Göttin darstellte, einer religiösen Praxis, die den Frauen Anspruch auf eine bedeutende Stellung innerhalb der Gesellschaft gab. So wurde das Christentum in seinem Anfangsstadium zu einem männlichen Diskurs mit sehr wenig Unterstützung durch die Frauen – oder durch die Männer. Die britische Kolonialregierung unterstützte die Verbreitung des Christentums sowie seiner Institutionen. Über diese schreibt Amadiume: „Kirche und Schule waren synonym. Der Unterricht wurde in Kirchengebäuden abgehalten, und es wurde niemand zur Schule zugelassen, der nicht zum Christentum bekehrt worden war.“38 Zusätzlich zu dieser geforderten Konversion wurden einheimische religiöse Praktiken im Schulunterricht verdammt und verkündet, dass der christliche Gott männlich und der Schöpfer des ganzen Universums sei. Diese systematische Verdammung der Göttin, gefolgt vom Glauben an den männlichen Gott und seinen Sohn, hatte wirtschaftliche Folgen. Amadiume betont: „Die Christen verurteilten nicht nur die Religion der Göttin, sondern verbannten auch den damit verbundenen Ekwe-Titel. Innerhalb kurzer Zeit wurden die zentralen Symbole weiblichen Selbstvertrauens zerstört. Gleichzeitig fanden sich die Frauen innerhalb ihrer Familien […] durch die verschiedenen christlichen Konfessionen, denen sie angehörten, aufgeteilt.“39 37 38 39
Amadiume, Männliche Töchter, weibliche Ehemänner, 175. Amadiume, Männliche Töchter, weibliche Ehemänner, 178. Amadiume, Männliche Töchter, weibliche Ehemänner, 181.
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Konzepte, die Genderflexibilität erlaubten, wie das des weiblichen Ehemannes und der männlichen Tochter sowie der Aufstieg von Frauen, wurden als unvereinbar mit dem christlichen Evangelium verdammt. Diese Verdammnis wurde durch die Manipulation der lokalen Verwaltung und die Zensur von Schulen wirksam. In jener Zeit gehörten die meisten Schulen der Kirche; sie wurden auch von ihr kontrolliert. Und so wurde jede/r SchülerIn, der/die in einer Missionsschule erzogen wurde, einer systematischen Entwurzelung und Selbstentfremdung unterworfen. Jede/r ausgebildete/r SchülerIn hatte ein geschlechtsspezifisches Erziehungsprogramm durchlaufen, das die Frauen in den privaten Raum verbannte und sie aller öffentlichen Macht beraubte. Amadiumes Analyse zeigt, dass die kolonialen Missionsschulen rigide Geschlechterrollen beinhalteten und pflegten. Jungen wurden als Schreiner, Kaufleute, Priester und Drucker ausgebildet, während die Mädchen in häuslichen Dienstleistungen unterrichtet wurden, wie Putzen, Kochen, Nähen und Kindererziehung. Eine weiterführende Ausbildung war nur für die Jungen zugänglich. Dies wurde durch die Tatsache bestimmt, dass vorzugsweise Männer für die neu eingerichteten Stellen in der Kolonialverwaltung und im Kirchen- oder Militärdienst, die eine Ausbildung erforderten, genommen wurden. Amadiumes Dokumentation zeigt, dass durch diesen systematischen Wandel in Religion, Wirtschaft, Verwaltung und Schule strikte Genderrollen errichtet wurden, die den Frauen den zweiten Platz in der Igbo-Gesellschaft zuwiesen. Die Missionserziehung für Mädchen machte sie zu Hausfrauen, nicht zu Teilnehmerinnen am öffentlichen Leben. Frauen konnten nur als häusliches Dienstpersonal oder in als weiblichen Jobs erachteten Berufen am Arbeitsmarkt teilhaben. Da die christlichen Mythen und göttlichen Machtsymbole die Männer über die Frauen stellten, waren die Igbo-Frauen dieser Unterstützung nun beraubt. Dieser sozialen Erniedrigung setzten die IgboFrauen ständig Widerstand entgegen, der schließlich zum Frauenkrieg im Jahr 1929 führte. Diese rigide Genderrolle war jedoch sehr stark und sie wurde durch die geltenden Strukturen unterstützt. Wie bereits erwähnt, behielten die meisten neuen afrikanischen Regierungen in der Unabhängigkeit ihr geerbtes koloniales System bei. Ihre sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen waren ein Abklatsch der westlichen Wirtschaft und Kultur. Amadiume zeigt den beständigen Widerstand der nigerianischen Frauen bis in die frühen 1980er Jahre, als die immer militanter werdenden Regierungen von Nigeria die männliche Vorherrschaft besiegelten. Die nigerianischen Frauen waren weiterhin beim Handel auf dem Markt dominant, doch sind sie, was die Ausbildung betrifft, schlecht auf den Wettbewerb mit internationalen Unternehmen im globalen Zeitalter vorbereitet. Was hier beispielhaft an den Igbo-Frauen von Nigeria aufgezeigt wurde, findet so vielerorts bei den afrikanischen Frauen in Süd-, Zentral- und Ostafrika seine Entsprechung.40 Ich will dies kurz erläutern, indem ich die 40
Siehe Robin Morgan (Hg.), Sisterhood is Global. The International Women’s Anthology, New York 1984. Die meisten afrikanischen Frauen, die zu diesem Buch beigetragen haben, sind der Ansicht, dass die Mehrheit der afrikanischen Frauen, ob verheiratet oder nicht, nicht von den Männern abhängig waren. Auch weisen sie auf
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spirituellen Strukturen des Setswana untersuche und darstelle, wie sie in der Kolonialzeit kolonisiert und gegendert wurden.
Der spirituelle Raum des Setswana, der Kolonialismus und seine Genderstruktur Bei den Batswana41 und den meisten ethnischen Gruppen Südafrikas gibt es keine Götter oder Göttinen. Es gibt jedoch ein Gendersystem, das Frauen und Männer in seine spirituellen und sozialen Strukturen einschließt. Modimo, das Hohe (Gott), ist in der Setswana-Kultur und bei anderen südafrikanischen Gruppen weder männlich noch weiblich. Die Badimo, die Erhöhten oder Ahnen sind die heiligen Figuren, die neben Modimo thronen: Sie setzen sich aus Frauen und Männern zusammen, die einst Mitglieder der Gesellschaft waren und die nun die lebenden Toten sind. Das Wort Badimo ist immer geschlechtsneutral und im Plural. Es bezeichnet keine männlichen oder weiblichen Heiligen. Die Badimo kümmern sich weiterhin um ihre Hinterbliebenen; sie beten für uns und bringen unsere Anliegen vor Modimo, um sicherzustellen, dass wir mit allem, was wir brauchen, gesegnet sind. In der Gesellschaft waren die menschlichen Vermittler Sangoma und Wosana (spirituelle Medien) ebenso wie Ngaka (göttliche/r Kräuterkundige/r). All diese Priesterfiguren, die als Bindeglied zwischen den Menschen und Badimo und Modino wirken, konnten männlich oder weiblich sein. Das koloniale Christentum erniedrigte die Badimo, Sangoma und Ngaka zu negativen Mächten.42 Den Badimo wurde die Rolle von Dämonen in der Setswana-Bibel und den Wörterbüchern der Kolonialzeit gegeben. Die/der Ngaka andererseits wurde einem/r HexendoktorIn gleichgesetzt. Obwohl die am ehesten passende Übersetzung für die Rolle von Jesus ngaka gewesen wäre, zogen die Bibelübersetzer es vor, moprista zu verwenden, das von dem Wort „priest“ abgeleitet wurde. Modimo, das Hohe Göttliche, wurde beibehalten und als der gute Gott akzeptiert; er erscheint in der Setswana-Bibelübersetzung als das Äquivalent von Jahwe. Jedoch wurde Modimo, ehemals geschlechtsneutral, zu einer männlichen Figur gemacht: rara wa rona, „unser Vater“ (Mt 6,9) und der Vater von Jesus, seinem einzigen Sohn. Die Kolonisierung der Setswana-Religion führte ein sexistisches System ein, das die Frauen von ihrer Macht abschnitt; sie konnten sich kaum zu den Badimo
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die negative Auswirkung der westlichen Zivilisation auf die Frauen hin, die diese während des Kolonialismus einheitlich zu Bürgern zweiter Klasse gemacht hat. Eine Studie des Bildes und der Rolle afrikanischer Frauen in den Mythologien stimmt mit dieser Ansicht überein. Grundsätzlich war deren Genderverständnis nicht auf einer rigide ausgrenzenden Weltanschauung errichtet. Batswana bezieht sich auf die Bewohner von Botswana, während sich Setswana auf die Sprache und Kultur in dem Land bezieht. Für eine detaillierte Analyse dieses kolonialen Konstrukts siehe Musa W. Dube, Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo into Demons in the Setswana Bible, in: Journal for the Study of the New Testament 73 (1999), 33-59.
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zählen, die nun Dämonen waren, oder frei heraus die Positionen der Sangoma oder Ngaka beanspruchen, da diese nun als Hexen interpretiert wurden. Der koloniale Prozess entfremdete die Batswana von ihren kulturellen Machtsymbolen und drängte ganz besonders die eingeborenen Frauen an den Rand; die Männer konnten sich zumindest mit Modimo, dem Gottvater, identifizieren, und mit seinem Sohn, der das Oberhaupt der Kirche ist, so wie die Männer die Oberhäupter der Familie sind (Eph 5,22). Dieser neue sexistische göttliche Raum wurde ergänzt durch die kolonialen Schulen und Ämter, die die Männer bevorzugten und die Frauen auf die Plätze der Machtlosigkeit verwiesen. In seiner Abhandlung „Missionary Wives, Women, and Education. The Development of Literacy among Batswana, 1840-1937“ („Missionarsehefrauen, Frauen und Bildung. Die Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeit unter den Batswana 1840-1937“), zeigt Patrick Mgadla, dass in der vorkolonialen Zeit der Ackerbau und die Herstellung von Agrarprodukten die Aufgabe der Batswana-Frauen war, während die Männer die Herden hüteten. Bemerkenswert daran ist, dass sowohl Männer als auch Frauen an der wirtschaftlichen Produktion außerhalb des Hauses teilnahmen. Als die Bildung durch die Missionare erfolgte, konzentrierte sich die gewerbliche Ausbildung der Frauen auf häusliche Fertigkeiten wie Klöppeln, Stricken, Häkeln – Dinge, die sie nicht wirklich dafür ausrüsteten, Arbeitsplätze im öffentlichen Leben einzunehmen, wobei das Unterrichten die einzige Ausnahme bildete.43 Wie ich anderswo bereits ausgeführt habe, widerstanden einige afrikanische Frauen und Männer dieser hierarchischen Trennung der Religionen und nahmen bereitwillig an, was sie in beiden Religionen, der afrikanischen und der christlichen, als lebensbejahend erkannten, und machten daraus das, was man heute die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen (African Independent Churches, AICs)44, nennt. Die südafrikanischen Frauen in den AICs forderten für sich die Rollen der einheimischen Priester, die nicht ausschließlich den Männern vorbehalten waren, um so zu Prophetinnen, Kirchenführerinnen, Heilerinnen und Bischöfinnen zu werden. Die Igbo-Frauen von Amadiume helfen zusammen mit anderen südafrikanischen Frauen dabei, den postkolonialen feministischen Raum zu definieren. Im vorkolonialen afrikanischen Gendersystem waren die Frauen immer an der Produktion beteiligt, haben die Märkte kontrolliert und waren im Besitz religiöser Mythen, die die Frauen wirtschaftlich stark und unabhängig machten. So schreibt Anthonia C. Kalu: „Die afrikanische Realität […] sieht die Frauen als aktive Teilnehmerinnen in allen Aspekten der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Existenz.“45 Dies bedeutet nicht, dass afrikanische Gesellschaften egalitär sind oder waren. Es bedeutet 43
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Siehe Patrick Mgadla, Missionary Wives, Women and Education. The Development of Literacy among Batswana. 1840-1937, in: Pula. Botswana Journal of African Studies 11:1 (1997), 70-81. Siehe Musa W. Dube, Reading of Semoya. Batswana Women’s Interpretation of Matt. 15. 21-28, In: Semeia 73 (1996), 111-29. Anthonia C. Kalu, Those left in the Rain. African Literary Theory and the Reinvention of the African Woman, in: African Studies Review 37:2 (1994), 82.
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jedoch, dass ihr feministisches Streben nach Gleichberechtigung der Frauen aufgrund ihrer kulturellen Unterschiede und historischer Erfahrungen von einer anderen Ecke ausgehen muss als das anderer FeministInnen. Kalu argumentiert, dass es „verpflichtend ist, dass der vorkoloniale Status der afrikanischen Frauen wiederhergestellt wird, als sie integrierte Teilnehmerinnen am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben waren“46. Anders als Spivak und Loomba heißt sie die teilweise Rückgewinnung und Wiederherstellung als eine brauchbare postkoloniale feministische Strategie willkommen.47 Kalu diskutiert auch die Rolle des Christentums im Auslöschen der afrikanischen Frauen. Sie führt an, dass „das Zum-Schweigen-Bringen Afrikas ursprünglich in die wohlwollende Botschaft der Aufklärung und des Christentums gehüllt war“, und dass die afrikanischen Frauen „durch das christliche Dogma abgeschottet wurden“48. Kalu stimmt mit Mudimbe und Amadiume, was die Rolle des Christentums in der Umwandlung afrikanischer Räume und der Unterdrückung der Frauen betrifft, überein. Somit bedarf es einer näheren genauen Untersuchung und Analyse des Christentums aus einer postkolonialen, afrikanischen, feministischen Perspektive. Im postkolonialen Afrika existiert das Christentum nun zusammen mit einheimischen Religionen und sollte nicht weiter als Unterdrücker von Frauen und einheimischen Kulturen wirken. Afrikanische postkoloniale FeministInnen müssen sich daher fragen: Wie unterstützt das Christentum heutzutage weiter die zweitklassige Stellung afrikanischer Frauen? Wie kann die Wiederherstellung indigener religiöser Figuren wie der Göttin Idemili und der Badimo dem negativen Einfluss des Christentums entgegenwirken? Wie können diese beiden religiösen Traditionen einander bereichern und die Frauen bestärken? Solche Fragen und Antworten müssen sowohl angesichts der vergangenen als auch der gegenwärtigen Unterdrückung artikuliert werden, mitsamt einer gut definierten Agenda, die die Frauen früherer Kolonien bevollmächtigt, ein selbstbestimmtes Leben im Kontext ihrer eigenen Gesellschaften sowie des größeren globalen Umfeldes zu führen.
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Kalu, Those left in the Rain, 91. Obwohl eine Rückkehr in die vorkoloniale Zeit vielen Angst macht und zurückgewiesen wird, sollte man die Aussage Audre Lordes „mit den Werkzeugen des Meisters wird es nicht gelingen, sein Haus einzureißen“ näher betrachten. An den übernommenen Traditionen festzuhalten, ist dasselbe wie am einengenden Handwerkszeug des Meisters festzuhalten. In seinem Aufsatz Native American Perspective. Canaanites, Cowboys and Indians, reflektiert Robert Allen Warrior über die Teilhabe des Christentums an der Unterdrückung der amerikanischen Indianer und schließt mit den Worten, „Vielleicht sollten wir uns ausnahmsweise selber einmal zuhören müssen.“ (in: Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, hg. v. R.S. Sugirtharajah, Maryknoll 1991, 205). Kalu, Those Left in the Rain, 92, 94.
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Zusammenfassung: Feministische Räume und Strategien der Zwei-Drittel-Welt Welche Besonderheiten des postkolonialen Feminismus artikulieren nun die Frauen der Zwei-Drittel-Welt? Wie sehen ihre Praktiken und Strategien aus? Der vorausgegangene Überblick über postkoloniale feministische AutorInnen zeigt, dass die Antworten sich abhängig von Ethnizität, Nationalität, Gender, Rasse, Klassenzugehörigkeit, dem Kontinent und der Art des Kolonialismus, den man erlebt hat, unterscheiden werden. Spivak und Loomba zum Beispiel, die von ihrem unterschiedlichen indischen Hintergrund aus berichten, lehnen jede Form von Nostalgie und Rückgewinnung der Vergangenheit ab, während Kalu die „Wiedereinführung“ der afrikanischen Vergangenheit als brauchbare postkoloniale feministische Strategie befürwortet. Und selbst innerhalb verschiedener Arten und Praktiken sind im postkolonialen Feminismus mehrere Strategien und Anliegen zu erkennen, die darauf hinwirken, zu dekolonisieren und zu depatriarchalisieren. Zunächst arbeiten die postkolonialen FeministInnen innerhalb der Parameter vergangener und gegenwärtiger internationaler Unterdrückung, die weiterhin ihre verschiedenen Arten der Repression bis in ihr Leben hinein ausüben. Zweitens weisen sie darauf hin, dass die internationale Unterdrückung früherer Kolonien die kolonisierten Frauen am meisten beeinträchtigt hat. So machen die postkolonialen feministischen Zugänge die Interaktion von zwei oder mehreren patriarchalen Strukturen auf kolonisierte Frauen erkennbar: die aufgezwungenen patriarchalen Strukturen der KolonisiererInnen sowie die indigenen Strukturen. Postkoloniale FeministInnen der Zwei-Drittel-Welt arbeiten innerhalb dieses sexistischen Raums der Unterdrückung und beginnen ihre Forschungen damit, herauszufinden, wie koloniale Konstrukte Frauen zum Schweigen gebracht haben, indem sie entweder vorhandene flexible Gendersysteme durch rigide und dualistische Systeme ersetzten, oder indem sie indigene patriarchale Systeme bestärkten. Postkoloniale FeministInnen erkennen, dass die Mechanismen, mit denen Frauen der früheren Kolonien unterdrückt wurden, oft durch Projekte eingefädelt wurden, die sich als erlösend darstellten, die aber nun einer dekolonisierenden feministischen Analyse unterzogen werden müssen. In ihrer feministischen Art des Lesens und Schreibens fordern die Frauen der Zwei-Drittel-Welt die Dekolonisierung des geerbten kolonialen Schul- und Bildungssystems, der Sprachen, des Literaturkanons, der Lesarten und der christlichen Religion, um die kolonisierende Ideologie dingfest zu machen, die in den Anspruch auf religiöse Konversion, westliche Zivilisation, Modernisierung, Entwicklung, Demokratisierung und Globalisierung verpackt ist. Drittens wird die dekolonisierende Praxis der Zwei-Drittel-Welt-FeministInnen begleitet von der Bereitschaft, sich für indigene Religionen und kulturelle Weltanschauungen zu öffnen und sich damit auseinanderzusetzen, wie es Kalu beispielhaft erörtert hat. Dies schließt die Bereitschaft ein, diese, wenn möglich, als legitim und gleichwertig zu vertreten, sie, wo es nötig ist, neu zu interpretieren und die koloniale Strategie, alle Sozialsysteme der Ko-
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lonisierten als negativ abzutun, zu vermeiden. Dekolonisierende FeministInnen behalten die Worte von Audre Lorde in Erinnerung, dass „das Werkzeug des Meisters niemals dessen Haus einreißen kann“. Das heißt, dass postkoloniale FeministInnen es sich nicht leisten können, allein von den Religionen, den Sprachen und den Erziehungsprogrammen ihrer früheren KolonisiererInnen abhängig zu sein, wenn sie nicht ihre eigene Kolonisierung billigen wollen. Wenn die Göttin Idemili ein göttliches Symbol des sozialen und spirituellen Empowerments der Igbo-Frauen von Nigeria ist, sollte ihre Ablehnung durch eurozentrisches/imperialistisches Gerede uns nicht daran hindern, sie zu rehabilitieren. Ähnlich ist es mit Badimo, der Ahnenverehrung. Da sie einen geschlechtsübergreifenden göttlichen Raum darstellt, der Frauen und Männer im sozialen und spirituellen Leben in Südafrika bestärkt, muss dieses System beibehalten und dem Zeitgeist entsprechend neu interpretiert werden, anstatt zu erlauben, dass es verloren geht und man stattdessen das exklusive, imperialistisch-westliche Christentum gutheißt. Darüber hinaus ist die Wiederverankerung von Diversität in internationalen kulturellen, ökonomischen und politischen Systemen eine äußerst wichtige Strategie in der Dekolonisierung feministischer Räume, wenn man den Imperialismus als ein Projekt ansieht, das aus Angst vor Unterschieden und als Versuch, die Welt nach dem westlichen Vorbild zu organisieren, aufgezwungen wurde. Die Reorganisation der Welt durch den Westen nach seinem Vorbild gibt der Ersten Welt einen unbegrenzten Marktplatz für seine Waren, Dienstleistungen und Ideen. Daher ist es für postkoloniale FeministInnen unerlässlich, ihren Unterschieden angesichts der verallgemeinernden Kräfte der Globalisierung und Kolonisierung Geltung zu verschaffen. Eine dekolonisierende feministische Praxis muss auch beurteilen, wie diese internationale Dominanz die Frauen früherer Kolonien politisch unsichtbar macht, sie wirtschaftlich verarmen lässt und kulturell unterdrückt, während sie verschiedene Wege des Widerstandes und der Befreiung hervorhebt. Als viertes müssen postkoloniale feministische Strategien den unterdrückenden Aspekten im eigenen indigenen Gendersystem etwas entgegensetzen. Es findet eine offene Konfrontation mit und Ablehnung von Praktiken wie der Genitalverstümmelung oder Sati statt, ohne dass man sich dem kolonisierenden Diskurs anschließt, der jeden Aspekt indigener Kulturen ablehnt und dämonisiert. Eine totale Ablehnung der eigenen Kultur, aus welchem Grund auch immer, ist genau das, was den imperialen Strategien der Kolonisierung hilft. Da es keine Kultur gibt, die absolut negativ ist oder ganz und gar rein, sollte man immer einen Raum schaffen, um das Alte neu zu interpretieren, das Gute zu fördern, und um sich das Neue in den hybriden Räumen der einheimischen Kultur auszumalen. In diesen dekolonisierenden Räumen setzt sich die postkoloniale feministische Analyse dafür ein, um des Empowerments der Frauen und aller Menschen willen, einige Aspekte der indigenen Kulturen wieder herzustellen und andere neu zu interpretieren. Fünftens wenden die Frauen der Zwei-Drittel-Welt in ihren dekolonisierenden feministischen Räumen hybride Mittel des Widerstandes und der Befreiung an. Während der Kolonialismus Erfolg damit hatte, den Westen als das Zentrum alles Guten anzupreisen und den Rest so darzustellen, als würde er Konversion, Entwicklung, Zivilisation, Assimilation und so weiter benöti-
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gen, nehmen die dekolonisierenden Frauen der Zwei-Drittel-Welt die Hybridität als eine Strategie des Widerstandes an. Diese Hybridität widersteht auch dem nationalen Appell, der an die kolonisierten Frauen ergeht, indigene Kulturen zu bewahren, ohne Fragen zu stellen. Diese hybride Strategie weigert sich auch, der strengen Dualität zuzustimmen, die die Frauen oft in die Unterordnung und Unsichtbarkeit verweist. Die FeministInnen der ZweiDrittel-Welt erlauben es sich, von beiden Feldern zu ernten, dem kolonisierten und dem der KolonisiererInnen, und das zu nutzen, was sie lebensbejahend finden. So werden Christentum und indigene Religionen nicht als wetteifernde Gegensätze gesehen, sondern als einvernehmliche Traditionen, die sich gegenseitig bereichern. Wenn man so vorgeht, wird die Hybridität zu einer dekolonisierenden feministischen Strategie, da sie die unterdrückenden patriarchalen Forderungen sowohl des Imperialismus als auch des Nationalismus untergraben. Alles in allem befinden sich die postkolonialen feministischen Räume innerhalb des weltweiten internationalen Beziehungsgeflechts von Beherrschung, Unterdrückung und Widerstand. Der postkoloniale Feminismus konzentriert sich darauf, wie Frauen mit verschiedenem Hintergrund neben ihren eigenen indigenen patriarchalen Systemen vom Kolonialismus beeinträchtigt wurden und werden, und wie die Frauen der Zwei-Drittel-Welt sich ihre Wege durch verschiedene postkoloniale Bedingungen bahnen können. Während es ein unerbittliches internationales Beherrschen zu geben scheint, ist die Strategie der FeministInnen die eines aluta continua. Das heißt, dass der Kampf auf unterschiedliche Weise und im Kleinen weitergeht, um nach Gerechtigkeit und Empowerment für Frauen und Männer innerhalb der nationalen, internationalen und religiösen Kämpfe dieser Welt zu suchen. Erstveröffentlichung als: Musa W. Dube, Postcoloniality, Feminist Spaces, and Religions, in: Postcolonialism, Feminism, and Religious Discourse, hg. v. Laura Donaldson / Kwok Pui Lan, New York / London 2002, 100-120.
Farbcodierung für Jesus. Ein Interview mit Kwok Pui Lan Kwok Pui Lan
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. UND FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG, sondern erlöse uns von dem Bösen. Frage: Warum sind Sie von Jesus richtig besessen? Kwok: Ich bin nicht von Jesus besessen, sondern ich bin von der Besessenheit anderer Menschen von Jesus besessen. Frage: Warum? Kwok: Als die Europäer im 19. Jahrhundert vom historischen Jesus besessen waren, hatte die ganze Welt damit ein Problem. Heutzutage sind viele Menschen in Nordamerika von der allerneuesten Jesusforschung besessen. Ich befasse mich mit den gesellschaftlichen Krankheitssymptomen, die dieser Forschung so viel Popularität einbringen und mit den noch größeren Auswirkungen auf den Rest der Welt. Frage: Warum wurde das Vaterunser mit unterschiedlichen Farben markiert? Kwok: 1985 fand sich eine Gruppe meist europäisch-US-amerikanischer Wissenschaftler zum Jesus-Seminar zusammen und traf sich seitdem regelmäßig, um festzustellen, wer Jesus wirklich war und was er tatsächlich selbst gesagt hat. Sie benutzten Rot (oben: kursiv), um die Bibelstellen zu markieren, die sehr nah an dem dran sind, was Jesus wirklich gesagt hat, Rosa (oben: unterstrichen) für die unsichereren Jesusworte, Grau (oben: Kapitälchen) für das, was Jesus nur nahe steht, und Schwarz (oben: fett gedruckt) für die Jesusworte, die in Wirklichkeit von den ihm Nachfolgenden stammen oder die Anleihen aus damals gängigen Lehren darstellen. Im Buch The Five Gospels, das dieses Seminar veröffentlicht hat, wurde das Vaterunser aus Mt 6, 9-13 so farbkodiert, wie ich es oben dargestellt habe. Wie Sie sich vorstellen können, sind die Feministinnen wütend darüber, dass Jesus einzig ‚Vater unser’ gesagt hat, und die Schwarzen sind sauer, dass die Worte, die eigentlich gar nicht von Jesus stammen, ausgerechnet schwarz markiert wurden. Frage: Ist es den Forschern ernst mit dieser Farbmarkierungssache? Mir persönlich erscheint das ziemlich willkürlich.
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Kwok: Die Tatsache, dass sie in unserem elektronischen Zeitalter immer noch farbige Bälle schmeißen, ist ziemlich lächerlich, aber es ist ihnen mit ihrer Arbeit todernst. Das Jesus-Seminar wurde als erstes interdisziplinäres Forschungsprojekt über Jesus aufgefasst, nicht einfach nur historische Forschung wie bisher. Zudem hat diese neueste Forschung die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich gezogen; es gab Berichte im Radiosender National Public Radio, im People-Magazine und im Time-Magazine. Im November 1996 schickte ein Fernsehsender Mitarbeiter, die über das Jesus-Seminar berichten sollten, zur Jahresversammlung der Gesellschaft für biblische Literatur in New Orleans. Die Sendung wurde um Weihnachten 1996 herum ausgestrahlt und Ostern 1997 wiederholt. Auch die aus dem Seminar entstandenen Sachbücher sind sehr populär. The Historical Jesus von John Dominic Crossan wurde, wie berichtet wurde, innerhalb von zwei Jahren mehr als 50.000 mal verkauft und es gibt viele populäre Darstellungen dieser neuesten Forschung. Das Trinity Institute in New York organisierte 1996 das Jesus-2000-Seminar, zu dem viele Menschen per Satelliten in Kirchen und Universitäten in den gesamten Vereinigten Staaten Live-Schaltungen hatten. Viele Menschen verfolgten die Diskussionen und riefen an, um Fragen zu stellen. Diese Forschung ist also tatsächlich zu einem kulturellen Phänomen geworden. Frage: Inwiefern ist dieses Phänomen Ihrer Ansicht nach von Bedeutung? Kwok: Ist es nicht interessant, dass diese Forschungen immer in Europa und Nordamerika durchgeführt werden? Solch eine Obsession ist mir in Asien, Afrika, Lateinamerika oder der Karibik nie begegnet. Die Menschen, die außerhalb der metropolitanen Zentren leben, scheint diese Art von Forschung nicht besonders zu interessieren. Einige afrikanische Christen haben sogar gesagt: ‚Wir müssen Jesus nicht suchen, wir haben ihn nie verloren.’ Zudem fiel mir auf, dass die erste Forschung in Europa durchgeführt wurde, als die Kolonisierung der Welt auf ihrem Höhepunkt angelangt war. Heute sind die USA die einzige Supermacht und die neueste Jesusforschung spricht die Fantasie der Massen an. Halten Sie das für einen bloßen Zufall? Frage: Sie scheinen da an etwas Wichtigem dran zu sein; können Sie das etwas ausführen? Kwok: Die Suche nach Jesus ist eine Suche nach den Ursprüngen. Dieses ständige Bedürfnis nach der Suche nach den Ursprüngen fasziniert mich. Wonach suchen sie? Woran mangelt es ihnen, wie Lacan vielleicht gefragt hätte? Welchem Zweck dient die Forschung und wer profitiert davon? Ich glaube, die Suche nach Jesus ist eine verschlüsselte Art der Suche nach der Identität des weißen Mannes. Im 19. Jahrhundert machte Europa außerordentlich große kulturelle und politische Veränderungen durch, als sich die Kolonialisatoren in vielen Teilen der Welt mit den Kolonialisierten konfrontiert sahen. Die ersten Forschungen hätten ohne das neue Wissen über die Mythen, Kulturen und Religionen der kolonialisierten Völker, das in die metropolitanen Zentren gebracht wurde, nicht stattfinden können. In einem Aufsatz, der bald im Druck erscheinen wird, habe ich dargelegt, dass die Suche nach Jesus vor dem Hintergrund der Suche nach ‚Eingeborenen’, die man erobern und unterwerfen konnte, gesehen werden muss. Das Zusammentreffen mit den ‚Eingeborenen’ machte Angst und machte die Suche nach
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der eigenen Identität nötig. Der epistemologische Rahmen der ersten Forschung wurde aus einer Kombination von orientalistischer Philologie, rassistischer Ideologie und einem eurozentrischen Studium der Mythologie und Religionen anderer Menschen erbaut. Frage: Das ist komisch. Ich dachte, die historische Jesusforschung wäre ein kritisches und objektives Studium der Bibel gewesen, das die dogmatische Autorität der Kirche in Frage stellte. Kwok: Lange Zeit hat man mich gelehrt, die historische Jesusforschung genau so zu sehen, wie Sie das eben sagten. Doch inzwischen ist mir aufgegangen, dass das hauptsächlich ein europäisches Anliegen ist. Wo in der Dritten Welt ist man jemals auf Menschen gestoßen, die die historische Forschung nutzen, um die Kirche in Frage zu stellen, außer meinetwegen in klitzekleinen akademischen Enklaven? Frage: Warum müssen dann die Amerikaner nach den Ursprüngen suchen? Kwok: Die „richtigen“ weißen Männer in Amerika haben sich lauthals beklagt, sie hätten viel Terrain an Frauen, Minderheiten und Schwule und Lesbierinnen verloren. Die Massenmedien in den USA haben das Wütendeweiße-Männer-Syndrom hochgespielt. Immer wenn die weißen Männer in ihrer Identität verunsichert sind, suchen sie nach Jesus. Frage: Ist das so eine Art Ursprungsmythos? Kwok: Genau. Wie Foucault mit seiner genealogischen Methode gezeigt hat, wird ein ‚Ursprung’ oder ‚Ausgangspunkt’ kulturell oder diskursiv konstruiert, um eine Art Abstammungslinie zu etablieren: Neu und alt, Kontinuität oder Diskontinuität und Ähnlichkeit und Unterschied. Dies geschieht nie wertneutral, da die Frage nach dem ‚Ursprung’ immer verwoben ist mit den Diskurssystemen und getränkt ist mit dem Thema der Macht. Wir haben es schon so oft gehört: Wo liegt der Ursprung der arischen Rasse? Welchen Ursprung haben die indo-europäischen Sprachen? Woher kommt das Einbinden der Füße? Was ist der Ursprung des Islam? Woher kommen all diese dunkel pigmentierten Menschen in London, New York und Amsterdam? Frage: Und man hat sogar eine Genealogie für die verschiedenen Forschungsunternehmungen auf der Suche nach dem historischen Jesus erstellt. Kwok: Ich denke, Sie haben absolut Recht. Heute kann man Jesus nicht ohne roadmap erforschen: die erste Forschungsrichtung, die zweite, die dritte, die neue Jesusforschung, die neueste Forschung, die historische Forschung, die interdisziplinäre Forschung, die jüdische Forschung, die deutsche Jesusforschung, die französische, die US-amerikanische und so weiter. Man muss wissen, wann das alles anfing, wie sich die eine Forschungsrichtung von den anderen unterscheidet, und wer die Begründer jeder dieser Forschungsrichtungen waren. Man erschuf ein Klassifizierungssystem und Mythen über Anfang und Ende. So entstand eine ganze Disziplin und, als sie sich etabliert hatte, vollführte sie ihre disziplinierende, wissenschaftliche Funktion, indem sie alle anderen Diskurse ausschloss und sie als unwissenschaftlich und der Universität nicht angemessen verabschiedete. Frage: Sie sagen, die weißen Männer des 19. Jahrhunderts hätten sich durch die Begegnung mit den Eingeborenen bedroht gesehen. Durch wen sehen sich die weißen US-amerikanischen Männer des 20. Jahrhunderts bedroht?
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Kwok: Die Antwort darauf ist ziemlich einfach. Man muss nur eine x-beliebige Tageszeitung aufschlagen oder den Fernseher einschalten. Ihre Bedrohung sind der illegale Einwanderer, die Sozialschmarotzerin, der schwangere Teenager, der frei herumlaufende Vergewaltiger, der Kinderschänder, die aufgebrachten Schwarzen, der suizidale Jugendliche, der offen sprechende Indianer, die Frauen, die die Abtreibung wollen, der reiche schwarze Mann, der seine weiße Frau umbringt, der Bombenleger, die Miliz, der Rechtsanwalt, der Arzt, der Versicherungsvertreter, die Frau, die ihre beiden Söhne umbringt, der Scheidungsrichter und so weiter. Dass über diese Leute fast jeden zweiten Tag berichtet wird, sagt etwas aus über die Psyche derer, die solche Nachrichten zusammenstellen, und derer, die sie konsumieren. Frage: Was haben all diese Menschen mit der Suche nach dem historischen Jesus zu tun? Kwok: Die Welt der Weißen ist ja einfach nicht mehr dieselbe wie früher, oder? Die Welt, an die sie gewöhnt sind, gibt es für viele weiße Leute nicht mehr. Den Schmelztiegel, um die Welten zu mischen, gibt es nicht und es gibt keinen Konsens darüber, in welche Richtung man die Menschen verändern will. Man streitet über den Kanon der Bücher, die Kinder lesen sollen, darüber, ob man an den Schulen Kondome verteilen soll, über Förderungsmaßnahmen für Minderheiten, über die Rechte der legalen Einwanderer und über den Grenzschutz. Die Katholische Kirche wird ständig bedrängt, die Frauenordination einzuführen und den Priesterzölibat aufzuheben. Die großen evangelischen Kirchen sind mit Debatten beschäftigt, ob sie Schwule und Lesbierinnen zum Pfarramt zulassen sollten und ob unverheiratete Pfarrer zölibatär leben sollten. Die Katholiken, die evangelischen Kirchen und die Evangelikalen sehen sich alle gleichermaßen mit Fällen von sexuellem Missbrauch durch Pfarrer konfrontiert. Frage: Es scheint wirklich, als stürze die Welt ein. Kwok: Ja, aber wann war sie denn heil? Vor gerade mal einer Generation konnten schwarze und weiße Kinder nicht einmal in derselben Schule lernen oder im selben Schwimmbecken schwimmen! Frage: Sagen Sie also, dass dies der kulturelle Hintergrund ist, aus dem die Suche nach dem historischen Jesus entstanden ist? Kwok: Ja, ich denke, die Veränderungen in der politischen und kulturellen Landschaft der USA haben viel mit der populären Aufmerksamkeit zu tun, die der Jesusforschung heutzutage entgegengebracht wird. Wenn die Jesusforschung im 19. Jahrhundert Hand in Hand mit der Suche nach ‚Eingeborenen’ einherging, so sind die ‚Eingeborenen’ heute bereits in den USA vorzufinden und die Weißen müssen nicht in die Fremde ziehen, um sie zu finden. Sie wissen einfach nicht, wie sie mit ihnen zurechtkommen sollen oder wie sie sie loswerden können. Frage: Das ist natürlich ganz anders. Kwok: Kürzlich las ich die New York Times Book Review, die, wie Sie wissen, ein sehr interessantes kulturelles Artefakt darstellt. Besonders aufschlussreich ist der Teil über Sachbücher. Dort handelte die erste Rezension von einer Biographie über Charlie Chaplin; danach kam eine Rezension des neuesten Buches von Alan Dershowitz‘ The Vanishing American Jew. Der Untertitel dieses Buches ist sehr vielsagend: Auf der Suche nach einer
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jüdischen Identität für das nächste Jahrhundert. Danach kommt eine Besprechung von Out of America von Keith Richburg. Richburg ist ein afroamerikanischer Journalist und seine Autobiographie erzählt von seinem Afrika-Aufenthalt, wo er als Auslandskorrespondent der Washington Post arbeitete. Er ging nach Afrika, um den Rassenkämpfen in Amerika zu entkommen, doch in Afrika fühlte er sich nicht sehr zu Hause. Es gab auch eine Besprechung eines Buches über das letzte Geheimnis des Vietnamkrieges – eines Albtraums, der immer noch fest in der amerikanischen Psyche verwurzelt ist. Unter den anderen Büchern, die besprochen wurden, waren eine Geschichte über eine Frau, die eine inzestuöse Affäre mit ihrem Vater hat und Gedichte und Prosa aus Indien. Es gab auch einen Artikel mit einer Buchbesprechung von The Idea of Decline in Western History. Die Romansparte ist ebenfalls verlockend. Sie umfasst Buchbesprechungen über ein Buch eines schwulen Schriftstellers, David Leavitt, einen Roman über einige umherziehende Auswanderer und einen Roman, der auf Martinique und in der Karibik spielt. Der Umschlag der Book Review porträtiert eine braunhäutige karibische Frau und den Rücken eines hellhäutigen Mannes, der wahrscheinlich die Frau anstarrt. Frage: Ich wünschte, ich hätte das gelesen. Es klingt, als ob es einem die Augen öffnet. Kwok: In der Tat. Während ich das Heft las, kam mir plötzlich eine Idee: Die neueste Jesusforschung in Amerika ist gleichermaßen eine Forschung über die Juden, die Schwarzen, die Schwulen, die bedrohlichen Frauen, die Einwanderer, die Indianer, die braunhäutigen Frauen, den Verlust, den Abstieg… Frage: Finden Sie an der neuesten Forschung, die sich an diese Situation richtet, ist irgendetwas interessant? Kwok: Oh ja, vieles. Zum Beispiel fasziniert mich die Begeisterung der Menschen für Q, die Textquelle der Jesusworte. Es ist interessant, dass das Buch von Burton Mack The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins heißt. Etwas ging verloren und wurde wiedergefunden. Erstaunlich! Mack informiert uns darüber, dass die Gemeinde, aus der heraus Q entstand, nicht an Jesus als einem Messias oder dem Christus interessiert war, weil Q nicht viel über seinen Tod und seine Auferstehung sagt. Die Menschen von Q sahen ihn als einen Guru, dessen Lehren für sie Lebenshilfe in bedrängenden Zeiten darstellten. Nun habe ich einige der neuesten New Age-Gurus im Fernsehen gesehen. Ein bekannter unter ihnen ist Deepak Chopra, ein Arzt, dem es gelingt, den Hinduismus für seine Hörerschaften aus der heutigen Zeit aufzubereiten. Er kann mit einigen netten Titeln für seine Bücher aufwarten, wie Ageless Body, Timeless Mind (Körper ohne Alter, Geist ohne Zeit); Boundless Energy (Grenzenlose Energie); und Restful Sleep (Erholsamer Schlaf). Seine Bücher und Gesundheitskurse haben ihm in den vergangenen zwei Jahren Millionen eingebracht. Es ist beruhigend, zu wissen, dass christliche Wissenschaftler alte Weisheitssprüche innerhalb der eigenen christlichen Tradition gefunden haben, so müssen die Menschen sie nicht in fremden Ländern finden. Hoffentlich ist die christliche Quelle Q billiger. Frage: Gibt es noch andere Buchtitel, die der Erwähnung wert sind?
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Kwok: Da wäre zum Beispiel Marcus Borg: Meeting Jesus Again for the First Time. „Wiedertreffen“ zum „ersten Mal“ – Borg klingt fast flehentlich. Er trifft hier einen bloß liegenden Nerv – dass viele Menschen in den USA nicht viel über Jesus wissen und viele ihn einfach als irrelevant abtun. Borg erneuert die Bilder von Jesus als einer geisterfüllten Person, einer „heiligen Person“ oder eines Heilers, um seinen modernen Lesern beim Verständnis dessen, wer Jesus war, zu helfen. Das Heilen hat natürlich seinen eigenen Markt unter den Selbsthilfe-Büchern und die Amerikaner sehnen sich sehr nach Spiritualität, wenn auch nicht nach institutionalisierter Religion. Heutzutage wünscht und begehrt jeder, geisterfüllt zu sein. Frage: Und The Historical Jesus von Crossan? Kwok: Oh, das ist ein sehr gewichtiges Buch, das wir nicht auslassen dürfen. Der Untertitel heißt: The Life of a Mediterranean Jewish Peasant (Das Leben eines jüdischen Bauern aus dem Mittelmeerraum). Ein Bauer – wie romantisch! Haben Sie das Buch gelesen? Der Anfang hat wirklich Charme: „Am Anfang war die Ausführung; nicht das Wort allein, nicht die Tat allein, beides, Wort und Tat, von Anfang an für alle Zeit einander entsprechend. Er kommt, noch unbekannt, in einen Weiler in Untergaliläa. Die kalten, harten Augen der Bauern, die sich lange genug mit dem Lebensnotwendigen haben begnügen müssen, um genau zu wissen, wo die Armut aufhört und das Elend anfängt, beobachten ihn. Er sieht aus wie ein Bettler, doch vermißt man bei ihm den unterwürfig niedergeschlagenen Blick, die winselnde Stimme und den schlurfenden Gang des Bettlers. Er redet vom Reich Gottes, und wenn sie sich auch davon nicht viel versprechen, hören sie ihm doch zu, hauptsächlich wohl aus Neugier.“
Soll das Jesus sein? Zu einer anderen Zeit hätte man ihn einen ‚Primitiven’ genannt und ein Lévi-Strauss wäre eilends herbeigekommen, um herauszufinden, wie sein wilder Verstand funktioniert. Frage: Aber rekonstruiert dieses Buch nicht sehr ernsthaft, wer Jesus war, was er tat und was er gesagt hat? Kwok: Ja, das Buch achtet auf die kleinsten Details, als führte es Krieg oder spielte eine Schachpartie. Crossan sagt im Vorwort, dass seine Methode einem dreifachen triadischen Vorgehen folgt: Kampagne, Strategie und Taktik. Er beschuldigt andere der Plünderung von Texten und Kulturen und sagt, dass er selbst sich der Kur einer streng wissenschaftlichen Schichtung verpflichtet wisse. Er entwaffnet den Argwohn der Leser, indem er zu Anfang sagt, seine Methode beanspruche keine falsche Objektivität. Er erklärt, sein Ziel sei nicht eine unerreichbare Objektivität, sondern eine erreichbare Ehrlichkeit. Ein sehr geschickter Schachzug! Das Buch ist sehr dicht geschrieben. Es ist in drei Unterteile gegliedert und deren Überschriften treffen genau den amerikanischen Zeitgeist. Kein Wunder, dass das Buch sich so gut verkauft! Frage: Und wie lauten diese Überschriften? Kwok: „Brokered Empire“ (In der deutschen Übersetzung: „Das Reich der Mittler“), „Embattled Brokerage“ (Erhebung gegen die Mittler) und „Brokerless Kingdom“ (Das Reich ohne Mittler). Ist das nicht eine gute Wahl? Frage: Und was schreibt er inhaltlich?
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Kwok: Er schreibt sehr gut. Die Unterüberschriften sind einfach umwerfend: „Еin freundliches Meer in feindlicher Landschaft“, „Auf Perser und Briten“, „Die Leidenschaft des Froschkönigs für Handelsgeschichte“, „Frei unter Vater Zeus“, „Ich kann meine eigenen Gefühle nicht verbergen“, „Ein König ohne Dynastie?“, „Eingeborenenaufstände gegen Rom“, „Kinder und Jünger klagen“, „Gegen die patriarchalische Familie“, „Die Botschaft eines offenen Geheimnisses“, „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Genau so könnten die Kapitel eines amerikanischen Romans heißen, der mit Sicherheit auf der Bestsellerliste der New York Times landen würde. Frage: Beteiligen sich eigentlich auch Frauen an dieser Forschung? Kwok: Über welche Frauen sprechen Sie? Die weißen Frauen? Nun gut, ein paar gehören zum Jesus-Seminar, aber ich glaube, im Allgemeinen interessieren sich weiße Frauen nicht so sehr dafür wie weiße Männer. Die weißen Frauen sind nicht besessen von Fragen nach dem Ursprung, sie beschäftigen sich damit, ob Jesus, der Messias, ein Mann oder eine Frau war, und ob das Geschlecht des Erlösers von Bedeutung war. Frage: Glauben Sie, dass die neueste Forschung da weiterhelfen kann? Kwok: In der neuesten Forschung hat Jesus viele verschiedene Identitäten: Er ist politischer Revolutionär, Magier, galiläischer Charismatiker, Rabbi, Proto-Pharisäer, Essener, eschatologischer Prophet, Heiler, Weiser und so weiter. Ich nehme an, diese Beschreibungen sind geschlechtsneutral. Doch niemand hat bisher entdeckt, dass Jesus eine Frau war. Ich hoffe, ein paar weiße Frauen finden Das verlorene Evangelium: Das Buch F. Wenn die weißen Männer Q entdecken können, warum können dann nicht ihre weiblichen Gegenstücke F entdecken, für ‚Fräulein’, ‚femme’ und ‚feminin’? Frage: Es gibt doch das ‚Gospel of Mary’, oder? Kwok: Genau. Es könnte ja auch noch andere Bücher dieser Gattung geben, sagen wir Das Evangelium nach Sophia, Das Evangelium nach Johanna und Das Evangelium nach Susanna. Und die können dann den Frauen dabei helfen, Das Buch F zu rekonstruieren. Mit etwas Glück könnte ein umherstreifender Hirte ein Gefäß finden, das so etwas wie die Buchrollen vom Toten Meer oder die Nag Hammadi-Texte enthält. Immer wenn neue Texte „gefunden“ wurden und in den metropolitanen Zentren vorgestellt wurden, begann die Suche nach den Ursprüngen wieder von vorne und es entwickelte sich eine neue Wissenschaftsrichtung. Zuerst „entdeckten“ die Europäer die heiligen Bücher, die Gita, den Goldenen Zweig, das Lotus Sutra, das Tao te King und das Thomasevangelium. Daraufhin gab es Indologen, Sinologen, Sanskritgelehrte, Orientalisten, Philologen, Religionshistoriker, Hinduismusgelehrte, Buddhologen und Gnosiswissenschaftler. Frage: Was ist mit den Traditionen ohne schriftliche Überlieferung? Kwok: Die haben andere Experten studiert: Anthropologen, Ethnologen, Primitivologen, Soziologen, Strukturalisten, Linguisten, Komparatisten und die Herren über das Bewusstsein der Wilden. Frage: Wie hat das Studium anderer Religionen das Studium der Bibel beeinflusst? Kwok: Sehr. Die Europäer behandelten die heiligen Schriften des Ostens als Fetische, genau wie die Glücksbringer, Amulette, Körbe, Brautkleider, Knochen, Pfeile und Federn aus anderen Kulturen. Nachdem sie diese neu ent-
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deckten Texte in ihren Bibliotheken und Museen bestaunt und ausgestellt hatten, waren sie ganz wild darauf, die gleichen Techniken anzuwenden, um auch die Bibel zu fetischisieren, die, wie man zugeben musste, ein „orientalisches“ Dokument darstellte. Die Missionare waren am weltweiten Fetischisierungsprozess beteiligt, indem sie die Bibel auf der ganzen Welt verbreiteten. Der Bibel wurden Zauberkräfte zugeschrieben, weil sie als Wort Gottes betrachtet wird. Frage: Was bringt Sie darauf, zu sagen, die Bibel sei zum Fetisch gemacht worden? Kwok: Ich las darüber, wie die Europäer und Euro-Amerikaner die religiösen Überlieferungen der eingeborenen Amerikaner, der Afrikaner und Asiaten studiert und dargestellt haben. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass die Handschriften, die Papyri, die Buchrollen und die Holzdrucke ähnlich behandelt wurden wie die Knochen, die Steine, die Halsketten und die Glücksbringer. Man muss sie sammeln, sezieren, ihre Schichten erkennen, klassifizieren, katalogisieren und dann ausstellen. Man kann all diese Objekte gleichermaßen im Britischen Museum anschauen; sie befinden sich nur in verschiedenen Räumen. Fetischisierung war die hauptsächliche Art und Weise, nach den heiligen Gegenständen anderer Menschen zu streben, sie sich anzueignen und sie zu sammeln. Wie es kommen musste, prägte der Drang zur Fetischisierung auch die Einstellung der Europäer und Euro-Amerikaner gegenüber ihren „eigenen“ heiligen Gegenständen, einschließlich der Bibel. Frage: Wie das? Kwok: Als Beispiel möchte ich das Studium des Buddhismus im Westen heranziehen. Haben sie das großartige Buch Curators of the Buddha gelesen? In gewisser Weise ist Curators of the Buddha eine verspätete Antwort auf den Orientalismus von Said. Es wendet die postkoloniale Theoriebildung auf das Studium des Buddhismus an und zeichnet die verwickelte Verbindung zwischen Buddhismus-Studien in Europa und Nordamerika und dem Kolonialismus nach. In der Einleitung zu dem Buch wird erklärt, wie der Buddhismus zu einem Textkorpus gemacht wurde, den Gelehrte in westlichen Bibliotheken dann studieren und analysieren sollten, wozu sie nicht einmal ins buddhistische Asien zu reisen brauchten. Die Texte stellten für die Wissenschaftler den „goldenen“, „klassischen“, „ursprünglichen“, „primitiven“ oder „reinen“ Buddhismus dar. Diese Texte berichteten uns, was der Buddha gelehrt hatte und stellten für uns das authentische dharma dar, auf dessen Grundlage alle buddhistischen Kulturen, die es im Laufe der Geschichte gegeben hatte, zu beurteilen waren. Dieser „klassische“ oder „primitive“ Buddhismus war natürlich eine Schöpfung Europas und unter der Kontrolle der Experten. Diese Experten waren und sind zu sehr damit beschäftigt, die toten Sprachen Pali, Sanskrit und „klassisches“ Chinesisch zu studieren, um in Erfahrung bringen zu wollen, wie diese Texte von den Buddhisten in Asien interpretiert werden. Frage: Also befasste man sich mit den klassischen Texten, als wären sie Fossilien und Museumsstücke. Kwok: Ja, und wie sollten sie dann mit der Bibel anders umgehen? Wo kann man in Europa und Nordamerika die Bibel als ein lebendiges Buch studieren,
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und nicht einfach als alten Text aus einem vor langer Zeit anzusiedelnden klassischen Zeitalter? Frage: Kein Wunder, dass die Wissenschaftler über die Ausgrabungen an archäologischen wie an Textschauplätzen sprechen. Kwok: Genau. Erinnern Sie sich daran, dass Crossan von Inventur, Schichtung, Bezeugung, erster Schicht, zweiter Schicht, dritter Schicht, vierter Schicht und der Schichtenfolge spricht? Dieses ganze peinlich sorgfältige Graben, Säubern, Trennen, Unterscheiden und Klassifizieren wird uns helfen, einen Mann zu finden, der schon lange tot ist: Jesus von Nazareth. Schade, dass man nur die Texte finden kann und nicht die Knochen. Frage: Warum ist es Ihnen so wichtig, wie die Europäer und Euro-Amerikaner über Jesus forschen? Ist postkoloniale Kritik einfach eine Negation des Westens? Kwok: Ich weiß, warum Sie das fragen. Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak wurden Ähnliches gefragt. Als Said einen Vortrag in Palästina hielt, redeten einige der Zuhörer vom Westen und „uns übrigen“ und Said rastete aus. Er gab zurück, dass sich niemand von seiner eigenen Vergangenheit loslösen kann, so dass die Erfahrungen, die man hat, notwendigerweise heterogen sind. Er sagte, es sei ein müßiger Versuch für die von uns, die kolonialisiert wurden, zu versuchen, irgendein primitives, unvermengt reines Wesen, das nicht befleckt oder korrumpiert worden ist, zurück zu gewinnen. Denken Sie etwa, wir sollten mit einer Forschung nach dem ursprünglichen oder authentischen Chinesen, Nigerianer oder Brasilianer anfangen? Frage: Nein, so habe ich das nicht gemeint. Kwok: Ich bin in der britischen Kolonie Hongkong geboren und ich wurde ungewollt im Übermaß determiniert und auf vielfache Weise geprägt. Viele postkoloniale Intellektuelle, ob sie nun in ihren eigenen Ländern oder in einer Diaspora leben, teilen meine Erfahrung, täglich mit multiplen Identitäten, Kulturwelten und Sprachen und Dialekten zurechtkommen zu müssen. Frage: Es gibt also keine einfache Antwort darauf, wo die Kolonialwelt endet und wo die Welt des Kolonialisierten anfängt? Kwok: Ja, unser Gespräch hat ja gezeigt, dass die metropolitanen Zentren durch den Prozess des Imperialismus genauso stark geprägt, verfälscht und beschmutzt wurden, wenn man es so ausdrücken will, wie die Kolonialisierten. Ein genauer Blick auf den Anderen ist gleichzeitig ein Blick auf einen selbst. Ich stimme mit Stuart Hall überein, wenn er sagt, dass der postkoloniale Diskurs uns geholfen hat, die binäre Konstruktion von Hier/Da, Kolonialisator/Kolonialisiertem, Innen/Außen, Zu Hause/Weit weg und Damals/Jetzt in Frage zu stellen. Hall beobachtet richtig, dass Kolonialisierung ein wesensmäßig transkultureller und transnationaler „globaler“ Prozess ist. Wir müssen beginnen, die naive und vereinfachende Konstruktion von innerhalb/außerhalb des Kolonialsystems in Frage zu stellen, um die multidimensionalen Arten und Weisen verstehen zu können, in denen der Kolonialisator/der Kolonialisierte sich gegenseitig verändern und überlagern. Die verschiedenen Forschungen sind immer gemäß der Melodievorgabe der großen europäischen und nordamerikanischen imperialen Erzählzusammenhänge analysiert und eingeordnet worden. Jetzt müssen wir die Geschichte neu
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schreiben, aus den Perspektiven der Dezentralisierten, der Diaspora, der Dritten Welt, der Juden, der Schwarzen, der Schwulen und Lesben, der Einwanderer, der braunhäutigen Frauen, weil die Suche nach Jesus auch eine Suche nach uns selbst ist. Wir haben die historische Forschung autorisiert, obwohl wir sie selten gefordert haben. Frage: Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Kwok: Das Neuschreiben hilft uns, uns selbst von der Betörung durch europäische und euro-amerikanische Halluzinationen zu befreien, die fest in unseren Köpfen verankert sind. Diese Stimmen werden besonders deutlich in der heutigen akademischen Jesusforschung. Ohne uns davon freizumachen, können wir kaum andere Stimmen hören, unsere eigenen nicht und die von anderen auch nicht. Frage: Erst dann können wir also hören, wie heutige Christen aus aller Welt über Jesus reden. Kwok: Statt die Bibel als Fetisch zu behandeln, müssen wir sie uns neu vorstellen als ein Abenteuer in der Diaspora. Mich hat Adam Phillips Erkenntnis in Terrors and Experts fasziniert, dass das Gegenteil eines Fetischs ein Abenteuer ist. Was halten Sie davon? Die Fragmente, Papyri, Manuskripte und Codici der Bibel aus der palästinischen und ägyptischen Wildnis sind letztendlich in Museen und Bibliotheken in Europa und den USA gelandet. Ist das nicht ein großes Abenteuer? In einem anderen, parallel stattfindenden Prozess wurde die Bibel von den metropolitanen Zentren aus nach Jamaika, Sri Lanka, Kenia und in die ganze Welt gebracht. Auf dem Wege lernte die Bibel, in verschiedenen Sprachen und Dialekten zu sprechen. Wollen Sie einmal raten, wie viele Namen Jesus weltweit hat? Frage: Keine Ahnung. Wie viele gibt es denn? Kwok: Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Die Bibel, sagt Northrop Frye, stellt einen großartigen Code dar und wenn wir nicht farbenblind sind, können wir auch viel über ihre Farbcodierung lernen. Heute wird die Bibel zunehmend postkolonial gelesen und der weltweite Neucodierungsprozess hat bereits begonnen. Das wird sehr spannend werden. Frage: Stimmt, ich brenne inzwischen darauf, mit meiner ureigenen Jesusforschung anzufangen.
Werke, die bei neuen Forschungen weiterhelfen können: Marcus J. Borg, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge 1994. Joseph A. Buttigieg / Paul A. Bové, An Interview with Edward W. Said, in: Boundary 2 (20)/1993, 1-25. John Dominic Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991. Übersetzt als: John Dominic Crossan, Der historische Jesus, übers. v. Peter Hahlbrock, München 1994.
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Northrop Frye, The Great Code. The Bible and Literature, New York 1982. Übersetzt als: Northrop Frye, Der grosse Code. Die Bibel und Literatur, übers. v. Peter Seyffert, Anif/Salzburg 2007. Robert W.Funk /Roy W. Hoover /Jesus Seminar, The Five Gospels. The Search for the Authentic Words of Jesus, New York 1993. Gospel of F (muss erst noch entdeckt werden) Stuart Hall, When was „the Post-Colonial“? Thinking at the Limit’, in: The Post-Colonial Question. Common Skies, Divided Horizons, hg. v. Iain Chambers/Lidia Curti, New York 1996, 242-260. Übersetzt als: Stuart Hall, Wann war „der Postkolonialismus“? Denken an der Grenze, in: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hg. v. Elisabeth Bronfen, Tübingen 1997, 219-246. Kwok Pui-lan, Discovering the Bible in the Non-Biblical World, Maryknoll, NY 1995. Dies., Jesus/The Native. Biblical Studies from a Postcolonial Perspective, in: Teaching the Bible. Discourses and Politics of Biblical Pedagogy, hg. v. Fernando F. Segovia / Mary Ann Tolbert, Maryknoll, NY 1998, 69-85. Donald S.Lopez, Jr., Curators of the Buddha. The Study of Buddhism under Colonialism, Chicago1995. Burton L.Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993. New York Times Book Review, 30. März 1997 Adam Phillips, Terrors and Experts, Cambridge, MA1995. Erstveröffentlichung als: Kwok Pui Lan, On Colour-Coding Jesus. An Interview with Kwok Pui Lan, in: The Postcolonial Bible, hg v. R.S. Sugirtharajah, Sheffield 1998, 176-188.
Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation R. S. Sugirtharajah
„Das gewinne ich locker, Affe”, meinte Ganesha. „Die Bildung des Alten geht so viel tiefer.” „Ja aber der Bengali ist so viel belesener”, sagte Hanuman. „Er hat einen Universitätsabschluß in kolonialer Literatur.” „Stimmt, stimmt, aber das kommt nur am Rande ins Spiel, wenn überhaupt.” Vikram Chandra, Tanz der Götter1 Drei Dinge will ich in diesem Kapitel tun: Erstens, die Entstehung des Postkolonialismus als einen kritischen Diskurs beschreiben und daran anschließend versuchen, Postkolonialismus zu definieren. Zweitens werde ich die Kollusion zwischen Kolonialismus und Exegese untersuchen und die eurozentrische Konstruktion der christlichen Ursprünge in Frage stellen. Um das erstere zu veranschaulichen, werde ich zwei missionarische Schlüsselerzählungen noch einmal aufgreifen, den Missionsbefehl (Mt 28, 19) und die Missionsreisen des Paulus (Apg 13-14; 15, 40-18, 22; 18, 22-21, 16), um daran zu demonstrieren, wie zur Zeit der westlichen kolonialen Expansion unter intensiver Beteiligung westlicher Handelsgesellschaften der matthäische Vers reaktiviert und das paulinische Missionsreisemuster erfunden wurde. Drittens, und um letzteres zu erhellen, werde ich einen Blick auf die Entwicklung der Evangelientradition werfen und auf das Zögern und die Befangenheit seitens westlicher BibelwissenschaftlerInnen, eine Vermischung mit östlichen konzeptuellen Kategorien in den Evangelienmaterialien einzuräumen. Zum Abschluss werde ich zur Klärung für jene, die sich mit postkolonialer Lektürepraxis beschäftigen, einige der Fragen darlegen, die wir jetzt ansprechen müssen. Postkolonialismus entstand als eine kritische Aktivität innerhalb dessen, was als Commonwealth- oder Dritte-Welt-Literatur-Studien bekannt ist. Wie der indische Kritiker Harish Trivedi behauptet, war dies das erste Mal, dass der/die kolonisierte Andere ins Zentrum des akademischen Diskurses gerückt wurde: Anders als Feminismus oder Poststrukturalismus oder selbst Marxismus handelt der Diskurs des Post-Kolonialismus vorgeblich nicht vom Westen, wo er entstanden ist, sondern von dem kolonisierten Anderen. Wahrscheinlich zum ersten Mal in der gesamten Geschichte der westlichen akademischen Welt wird der NichtWesten ins Zentrum seines vorherrschenden Diskurses gestellt. Selbst wenn dies 1
Vikram Chandra, Tanz der Götter. Roman, übers. v. Ulrike Seeberger, Berlin 22006, 335.
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zum Teil eine Art der Entschädigung für all die koloniale materielle Ausbeutung ist, ist die akademische Aufmerksamkeit, die dem Post-Kolonialen jetzt gewidmet wird, so beharrlich, dass sie beschwichtigt und schmeichelt.2
Er warnt auch davor, dass diese neue Aufmerksamkeit, eine vom Westen gewährte widerwillige Gunst, wohl wieder eine neue Form von Kolonialismus sein könnte. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde den meisten literarischen Produktionen, die während und nach der Kolonialzeit in den früheren Kolonien in Asien und Afrika entstanden, der Titel ‚Commonwealth-Literatur‘ verliehen. Der Begriff ‚Commonwealth‘ hielt nicht nur die Vorstellung eines britischen kulturellen Einflusses wach, sondern erhielt auch die Vorstellung aufrecht, dass das Empire eine willige Verbindung von freien Menschen gewesen wäre. In jüngster Zeit ist der Begriff ‚Postkolonialismus‘ zunehmend benutzt worden, um auf Text und Kontext dieser Werke hinzuweisen. Der Postkolonialismus erhielt seine Imprimatur, als das Verlagshaus Routledge in letzter Minute den Namen eines bereits seit mehr als zehn Jahren in Vorbereitung stehenden Bandes von The Encyclopedia of Commonwealth Literature in The Encyclopedia of Postcolonial Literatures in English änderte.3 Ein weiteres wichtiges Moment im postkolonialen Diskurs war die Produktion der indischen Reihe Subaltern Studies. Writings on South Asian History and Society. Dieses dissidente Projekt, im Einklang mit den Bemühungen der radikalen Bewegungen der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, Geschichte von unten zu schreiben, hat erfolgreich untersucht, in Frage gestellt und verändert, wie Subalterne in den herrschenden Modellen der indischen Historiografie konstruiert wurden.4 Wir müssen auch den hervorragenden Arbeiten von C. L. R. James, Frantz Fanon, Aimé Césaire, Amilcar Cabral, Albert Memmi, Chinua Achebe und Ngũgĩ wa Thiong’o, um nur einige wenige zu nennen, Anerkennung zollen, deren Schriften, obwohl sie aus unterschiedlichen kulturellen und historischen Orten stammen, dem gegenwärtigen postkolonialen Denken einen vorauslaufenden intellektuellen Impuls gegeben haben. Zunächst wurde Postkolonialismus eher als ein zweckmäßiges pädagogisches Werkzeug gesehen und nicht so sehr, als würde er bestimmte theoretische Konzepte voranbringen. Es war erst später, dass Kulturkritiker wie Edward Said5, Gayatri Spivak6 und Homi Bhabha7 dem Postkolonialismus 2
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Harish Trivedi, India and Post-colonial Discourse, in: Interrogating Post-Colonialism. Theory, Text and Context, hg. v. Ders. / Meenakshi Mukherjee, Shimla 1996, 231-247, hier: 232. Meenakshi Mukherjee, Interrogating Post-colonialism, in: Interrogating PostColonialism. Theory, Text and Context, hg. v. Harish Trivedi / Meenakshi Mukherjee, Shimla 1996, 3-11, hier: 5. Bislang wurden neun Bände unter der Herausgeberschaft unterschiedlicher Autoren von der Oxford University Press, Delhi, veröffentlicht. Edward Said, Orientalismus, Frankfurt a. M. 2010 (1978); Ders., Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. M. 1994. Gayatri Chakravorty Spivak, In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, London 1988; Dies., The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, London 1990.
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seine Theoretisierung und Praxis gaben. Dieses Trio spricht von verschiedenen Orten aus und mobilisiert unterschiedliche philosophische und konzeptuelle Kategorien. Ihre Arbeiten widersetzen sich jeder einfachen Zusammenfassung, doch gibt es einen bestimmten zentralen Aspekt und eine vereinende Kraft in ihrem Ansatz, nämlich die Verbindung zwischen Wissen und Macht in der textuellen Produktion des Westens zu untersuchen und aufzudecken. Man kann mindestens zwei Bedeutungen und Verwendungen des ‚Postkolonialismus‘, die in ihren Arbeiten in Erscheinung treten, entdecken – Postkolonialismus als Lesestrategie und als eine Verfassung oder ein Zustand. Said und Spivak behandeln Postkolonialismus als eine Lesestrategie. Bhabha auf der anderen Seite sieht Postkolonialität als einen Seinszustand. Er hebt die zeitgenössischen Subjektivitäten in literarischen und epistemologischen Begriffen hervor, während er gleichzeitig besonders das Problem der Ambivalenz und Hybridität herausstreicht. Postkolonialismus ist nicht einfach eine physische Vertreibung imperialer Mächte. Noch ist er ein simples Nacherzählen der Übel des Empires oder eine Kontrastziehung zur hohen Gesinnung und den Tugenden der Einheimischen und ihrer Kulturen. Er ist vielmehr eine aktive Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Denksystem, seiner Einseitigkeit und seinen Unzulänglichkeiten und er unterstreicht dessen Untauglichkeit für uns. Daher ist er ein Prozess kultureller und diskursiver Emanzipation von allen vorherrschenden Strukturen, seien diese politisch, linguistisch oder ideologisch. Postkolonialismus, das muss betont werden, hat eine Vielfalt von Bedeutungen, die von der Verortung abhängig sind. Er wird als eine oppositionelle Lesepraxis gesehen, als eine Art und Weise, die totalisierenden Formen des eurozentrischen Denkens zu kritisieren und die dominierenden Bedeutungen umzuformen. Er ist eine mentale Einstellung und nicht so sehr eine Methode, mehr eine subversive Haltung gegenüber dem herrschenden Wissen denn eine Denkschule. Er hat nichts mit Periodisierung zu tun. Er ist eine Interpretationshaltung. Er ist ein kritisches Unternehmen, das darauf zielt, die Verbindung zwischen Idee und Macht zu demaskieren, die hinter westlichen Theorien und Gelehrsamkeit liegt. Er ist ein diskursiver Widerstand gegen Imperialismus, imperiale Ideologien, imperiale Haltungen und ihre fortgesetzten Inkarnationen in so weitreichenden Feldern wie Politik, Wirtschaft, Geschichte und Theologie und Bibelwissenschaft. Eine antikoloniale Form der Kritik ist nicht neu. Es gab frühere Versuche während der Kolonialzeit. Bei ihrer Konfrontation mit den Kolonisierenden benutzten die früher Kolonisierten in der Raj-Ära westliche Konstruktionen der Kolonisierenden und der Kolonisierten, des Zentrums und der Peripherie. Die früher Kolonisierten wurden weitgehend von genau den Strukturen, die sie zerstören wollten, geprägt und blieben in gewisser Hinsicht an diese gebunden. Was neu ist in der gegenwärtigen anti-imperialen Auseinandersetzung, ist, dass sie über die essentialistischen und kontrastiven Denkweisen, Osten/Westen, wir/sie, vernakular/großstädtisch, hinausgeht und ein radikales Synkretisieren jedes dieser Gegensätze sucht. Worin der gegenwärtige Postkolonialismus von der früheren Form abweicht, ist, dass er, obwohl er die 7
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.
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repressive Natur des Kolonialismus angreift, das Potential eines Kontaktes zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten anerkennt. Während er sich sowohl von der ehrfürchtigen Bewunderung einheimischer Werte und einer kriecherischen Haltung gegenüber allem, was westlich ist, distanziert, versucht der gegenwärtige Postkolonialismus, eine neue Perspektive zu schmieden und zu integrieren, indem er kritisch und sinnvoll Bestandteile sowohl aus den vernakularen als auch den Metropol-Zentren synkretisiert. Nach Ansicht von Samia Mehrez ist Postkolonialismus als kritisches Unternehmen „ein Akt des Exorzismus“, und zwar sowohl für den/die KolonisierteN als auch für den/die KolonisierendeN. Für beide Seiten muss es ein Prozess der Befreiung sein: von Abhängigkeit, im Fall des Kolonisierten, und von imperialistischen, rassistischen Auffassungen, Repräsentationen und Institutionen, die uns unglücklicherweise bis zum heutigen Tag verbleiben, im Fall des Kolonisierenden.8
Mit anderen Worten, im Prozess der Dekolonialisierung sind der/die Imperialisierende und der/die Imperialisierte zwangsläufig miteinander verbunden. Im Fall des/der Ersteren bedeutet dies, ihre/seine Kollusion mit dem Empire und dem Imperialismus erneut zu überprüfen und einen westlichen Ethnozentrismus, der als Universalismus ausgegeben wurde, neu zu beurteilen. Im Fall des/der Letzteren bedeutet es, innere Kolonialisierung, virulente Formen des Nationalismus und exzessiven Nativismus zu überdenken. Eine der hermeneutischen Agenden in dieser befreienden Rolle des Postkolonialismus ist es, das zu befördern, was Edward Said „kontrapunktisches Lesen“ nennt. Dies ist eine von ihm befürwortete Lesestrategie, und zwar mit der Absicht, dazu zu ermutigen, die Erfahrungen der Ausgebeuteten und der Ausbeuter zusammen zu untersuchen. Mit anderen Worten, Texte aus den Metropolzentren und den Peripherien werden gleichzeitig untersucht. Kontrapunktisches Lesen ebnet den Weg für eine Situation, die über reifizierte binäre Charakterisierungen von östlichen und westlichen Schriften hinausgeht. Kontrapunktisch zu lesen bedeutet, sich gleichzeitig der etablierten Gelehrsamkeit und anderer Gelehrsamkeit bewusst zu sein, die der herrschende Diskurs zu domestizieren versucht und gegen die er spricht und handelt. In Saids Worten: „Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen neu zu lesen, sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Verein mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert.“9 Wenn dies auf den biblischen Bereich übertragen wird, bedeutet das, Hisako Kinukawas Women and Jesus in Mark zusammen mit Bas van Iersels Reading Mark, Karl Barths Römerbriefkommentar mit Tamez’ The Amnesty of Grace. Justification by Faith from a Latin American Perspective, Bultmanns Das Evangelium des Johannes mit Appasamys Christianity as Bhakti Marga und Neil Elliots Liberating Paul. 8
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Samia Mehrez, The Subversive Poetics of Racial Bilingualism. Postcolonial Francophone North African Literature, in: The Bounds of Race. Perspectives on Hegemony and Resistance, hg. v. Dominick LaCapra, Ithaca / New York 1991, 255277, hier: 258. Said, Kultur und Imperialismus, 83.
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The Justice of God and the Politics of the Apostle mit Jaswant Rajs Grace in the Saiva Siddhantham and in St Paul zu lesen. Indem solche Werke miteinander in Verbindung gebracht und vernachlässigte Texte dem Mainstream gegenübergestellt werden, können wir Lücken, Abwesenheiten und Ungleichgewichte hervorheben.
Das Mandat von Mission und Imperialismus Sowohl als Verfassung oder auch als Bedingung und als Lesestrategie ist Postkolonialismus ein hilfreiches kritisches Konzept für die neutestamentliche Forschung. In dieser Hinsicht wird es eine erste Aufgabe sein, einige der vorherrschenden Annahmen über das Neue Testament zu zerstören. Als ein Beispiel möchte ich einige der Texte und exegetischen Praktiken erneut untersuchen, die Kolonialismus und koloniale Mission untermauert haben und mit diesen zusammenwirkten. Ich bin vor allem daran interessiert, den matthäischen Missionsbefehl (Mt 28, 19) und die Missionsreisen des Paulus (Apg 13-14; 15, 40-18, 22; 18, 22-21, 16) noch einmal zu betrachten. Diese wurden in den missionarischen Bemühungen der Kirche in der kolonialen Periode nutzbringend verwendet. Kommentare, die sowohl während der Kolonialzeit als auch in der Zeit nach der Unabhängigkeit für indische Studenten geschrieben wurden, setzten den Matthäus-Text als eine biblische Berechtigung dafür ein, die Einheimischen zu missionieren und nutzten die Missionsreiseerzählungen als Modell für ihre Christianisierungsarbeit. Diese Texte hatten still gelegen und sind von den Reformatoren weitgehend ignoriert worden, dennoch hat man sich im 18. und 19. Jahrhundert während des evangelikalen Revivals, das deutlich mit dem Aufstieg des westlichen Imperialismus zusammenfiel, wieder auf sie berufen. Zu dieser Zeit kam es dazu, dass der matthäische Text als Schablone benutzt wurde, um die missionarische Verpflichtung zu institutionalisieren, und Lukas’ angebliche Aufzeichnung der missionarischen Unternehmung des Paulus wurde als ein Weg ersonnen, den Mythos aufrechtzuerhalten, dass es der Westen war, aus dem die abergläubischen und ignoranten Einheimischen die wesentlichen Wahrheiten der Botschaft Gottes erhielten. Vor dem 18. Jahrhundert war das matthäische Gebot „Geh und predige“ ein aus der Mode gekommener, exegetisch wenig bearbeiteter und oftmals sogar fehlender Text. Es war William Carey (1761-1834), der baptistische Pioniermissionar, der ihn als missionarischen Befehl für die moderne Zeit reaktivierte.10 Die früheren Missionare scheinen von anderen Texten angesprochen worden zu sein und dort Unterstützung gesucht zu haben. Roberto de Nobili (1577-1656) fand sich durch das paulinische Axiom „ich bin den Juden wie ein Jude geworden“ in seinen missionarischen Bemühun-
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Siehe Harry R. Boer, Pentecost and Missions, Grand Rapids 1961, 16, 17.
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gen in Südindien angespornt.11 Christian Friedrich Schwartz (1726-1798) fand einen anderen matthäischen Vers wieder: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! Und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28)12, und die erste englische Missionsagentur, die 1701 gegründete Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (SPG), sandte ihre ersten Missionare auf der Basis des Aufrufs in der Apostelgeschichte „Komm herüber … und hilf uns“ nach Amerika.13 David Bosch bietet eine weitere Liste von Texten, die die missionarische Stoßrichtung in unterschiedlichen Zeiträumen der Geschichte veranschaulichen. Das patristische Verständnis von Mission basierte auf Joh 3, 16, wohingegen der mittelalterliche römisch-katholische missionarische Impuls durch Lk 14, 23 angeregt wurde: „Geh hinaus auf die Wege und (an die) Zäune und nötige (sie) hereinzukommen, dass mein Haus vollwerde!“. Die Reformatoren schauten auf Röm 1, 16-17. Die Epoche der Aufklärung produzierte ihre eigene Vielzahl bevorzugter Texte. Die oben genannte Apg 16 ,9 war unter westlichen Christen prominent gewesen, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Völker in fernen Ländern, die in der Dunkelheit lebten, zu retten. Die Prä-Millenialisten erteilten ihrer Mission mit den Worten Jesu ihr Mandat: „Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.“ (Mt 24, 14), und die Vertreter des ‚Social Gospel‘ fanden sich von dem johanneischen Ausspruch: „Ich bin gekommen, damit sie Leben und (es in) Überfluss haben.“ (Joh 10, 10)14 angesprochen. Carey auf der anderen Seite ließ in seinem Pamphlet Eine Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel einzusetzen für die Bekehrung der Heiden (1792) den matthäischen Missionsbefehl als Belegtext für die Verpflichtung, das Evangelium in fernen Ländern zu predigen, wieder aufleben. Eine Untersuchung, ein für seine Zeit eigenartiger Text, ähnelt dem Prospekt eines modernen multinationalen Unternehmens mit ausgearbeiteten statistischen Details, die die Christen an ihre unausweichliche Verpflichtung erinnern, fernen Ländern das Evangelium zu predigen. Das Pamphlet war nicht nur eine missionarische Apologetik, sondern lieferte auch eine Strategie. Wesentlich war dabei Mt 28, 19. Seitdem hat dieser Vers einen beträchtlichen Einfluss auf die institutionalisierten missionarischen Bemühungen der christlichen Kirche ausgeübt. Die phänomenale Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten scheint insgesamt mit nur wenig institutionalisierter Mission und wenig formellem Predigen zustande gekommen zu sein. Alan Kreider, der das Wachstum der Alten Kirche untersucht hat, ist der Ansicht, dass organisierte Mission bei ihrer Expansion nur eine kleine Rolle spielte. 11 12 13 14
Stephen Neill, Builders of the Indian Church. Present Problems in the Light of the Past, London 1934, 56. Jesse Page, Schwartz of Tanjore, London 1921, 56. H. P. Thompson, Into All Lands. The History of the Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts 1701-1950, London 1951, 19. David J. Bosch, Transforming Mission. Paradigm Shifts in Theology of Mission, Maryknoll 1991, 339-340. Übersetzt als: Mission im Wandel. Paradigmenwechsel in der Missionstheologie, Gießen u.a. 2012.
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Es gab, wie Arthur Darby Nock betont hat, ‚wenig, wenn überhaupt irgendein direktes Predigen zu den Massen‘; es war einfach zu gefährlich. Oder die Gemeinden für Mission zu organisieren: Laut Georg Kretschmar wurde ‚die Rekrutierung zum Glauben niemals institutionalisiert‘ […] Und Gebet für die Konversion von Heiden? Laut Yves Congar ‚beteten die Christen für den Wohlstand und den Frieden der Menschen, aber kaum für deren Konversion‘. Die meisten der sehr wenigen Gebete für Konversion, die aus den frühen Jahrhunderten überliefert sind, acht von elf insgesamt, nach meiner Zählung, sind tatsächlich Gebete, die Jesu Gebot entsprechen, für Feinde und Verfolger zu beten. Bezüglich eines Theologietreibens mit einem ausdrücklich missionarischen Charakter ist das einzige Wort, das für Norbert Brox angemessen ‚die Seltenheit einer Reflexion über Mission‘ beschreibt, ‚erstaunlich‘. Zu dieser Liste überraschender Auslassungen möchte ich eine weitere hinzufügen. In meiner Lektüre früher christlicher Materialien durch die Brille eines Missionars bin ich verblüfft über das Fehlen pastoraler Ermahnungen, zu evangelisieren. Ein Beispiel dafür ist Ad Quirinum des nordafrikanischen Bischofs und Märtyrers Cyprian. Das dritte Buch dieses Werks ist ein Handbuch zu 120 ‚himmlischen Regeln‘, um Katechumenen im christlichen Leben anzuleiten. Diese ‚Regeln‘ decken eine ganze Reihe von Bereichen christlicher Anliegen ab – ‚dass Brüder einander unterstützen sollen‘, oder ‚dass wir im Gebet eindringlich sein sollen‘ – aber keine, nicht eine der 120, ermahnt die Gläubigen, zu evangelisieren.15
Er fährt fort, die tatsächlichen Gründe für das Wachsen der frühen JesusBewegung anzuführen. Die Bewegung wuchs in den frühen Tagen nicht, weil es eine organisierte mündliche Verbreitung des Wortes Gottes gab, sondern durch öffentliche Demonstration des Glaubens. Dies geschah auf vielerlei Arten: Zum Beispiel Märtyrertum, das nicht nur traurige Berühmtheit, sondern auch Bewunderung für ein Volk mit sich brachte, das seinen neu gefundenen Glauben schätzte und bereit war, dafür zu sterben. Menschen erfuhren von dem neuen Glauben aber auch auf weniger dramatische Weise: Vorbildliches Verhalten einzelner Christen an den Arbeitsstätten und in den Nachbarschaften zog Aufmerksamkeit auf sich. Exorzismus spielte auch eine entscheidende evangelistische Rolle: „In einem Zeitalter der konkurrierenden Wundertaten schien der christliche Gott stärker als andere Götter zu sein“16. Nach Ansicht von Kreider hat sich das Christentum in der Phase der Alten Kirche auch aufgrund der außergewöhnlichen Merkmale des christlichen Gottesdienstes ausgebreitet, der Christen förderte und darauf vorbereitete, der Außenwelt zu begegnen: „Der Gottesdienst formte ein Volk, dessen Leben und dessen Antwort auf die Welt unverwechselbar waren.“17 Im Gegensatz zu der von Kreider beschriebenen Bewegung war das protestantische Christentum im England Careys auffallend unbeweglich. Tatsächlich war ein römisch-katholisches Argument gegen die Reformation, dass diese versagt habe, Mission zu inspirieren. Der Titel des ersten Abschnitts von Careys Pamphlet über die Verpflichtung der Christen, Eine Untersuchung, ob der Befehl, den der Herr seinen Jüngern gab, nicht auch uns noch bindet, ist ein Hinweis auf die hermeneutische Stimmung dieser Zeit: 15 16 17
Alan Kreider, Worship and Evangelism in Pre-Christendom, The Laing Lecture 1994, in: Vox Evangelica 24 (1994), 7-38, hier: 8. Kreider, Worship and Evangelism, 12. Kreider, Worship and Evangelism, 28.
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Im Denken mancher scheint auch die Auffassung zu existieren, daß, weil die Apostel ein außerordentliches Amt und keine ordentlichen Nachfolger hatten, und weil wir für viele Dinge, die sie zu Recht tun durften, keine Ermächtigung haben, die Ausführung des Befehls uns nicht unmittelbar binden könne.18
Mit seiner Heranziehung der matthäischen Schlussverse trat Carey der vorherrschenden hermeneutischen Konvention seiner Zeit entgegen. Zum Beispiel war es die unter dem dänischen Klerus zu jener Zeit verbreitete Ansicht, dass keine weitere weltweite Mission erforderlich sei. Sie stützten sich dabei auf ihre Interpretation von Röm 10, 18 und Kol 1, 23. Diese Verse wurden so ausgelegt, dass die Apostel das Evangelium ‚jeder Kreatur unter dem Himmel‘ gepredigt hatten.19 Folglich war für die Reformatoren und kirchlichen Denker in Careys Tagen der Befehl nur für die Apostel bindend und hatte seine Wirksamkeit mit ihrem Tod verloren. Die Reformatoren stellten sich kein organisiertes missionarisches Programm vor und betrachteten es als selbstverständlich, dass sie kein Mandat hatten, an fernen Orten das Evangelium zu verkünden und dort Kirchen zu errichten. Solch eine Auffassung gründete auf dem reformatorischen Verständnis der kirchlichen Pflichten. Sie unterschieden zwischen zwei Arten des Amtes – Apostel und Pastoren. Es war die Aufgabe der Ersteren gewesen, überall dort, wo sie hingingen, zu predigen, und die Aufgabe der Letzteren, den lokalen Kirchen zu dienen, und ihre Autorität beschränkte sich auf das Gebiet ihres Amtes. Calvin fasste dieses Denken zusammen, als er schrieb: […] denn der Herr erschuf die Apostel, dass sie das Evangelium in der ganzen Welt verbreiten könnten, und er wies nicht jedem von ihnen bestimmte Grenzen oder Gemeinden zu, sondern wollte, dass sie, wo immer sie auch hingingen, dem Amt von Botschaftern unter allen Nationen und Sprachen nachkämen. In dieser Hinsicht gibt es einen Unterschied zwischen ihnen und Pastoren, die in gewisser Weise an ihre bestimmten Kirchen gebunden sind. Denn der Pastor hat nicht den Auftrag, das Evangelium überall auf der ganzen Welt zu predigen, sondern sich um die Kirche zu kümmern, die seiner Verantwortung anvertraut ist.20
Auch Luther hatte ähnliche Ansichten.21 Obwohl er die Kraft des Wortes wiederentdeckte, stimmte er nach wie vor der akzeptierten Vorstellung zu, dass missionarische Verkündigung ein Privileg der Apostel sei. Carey, ein Baptist und Calvinist, widersprach diesem reformatorischen Verständnis, als er sich den Missionsbefehl wieder aneignete. Careys hermeneutische Infragestellung der allgemein akzeptierten missiologischen Orthodoxie der frühen Phase des europäischen Kolonialismus und Imperialismus lädt zu einem weiteren postkolonialen Überdenken 18
19 20
21
William Carey, Eine Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel einzusetzen für die Bekehrung der Heiden, mit wissenschaftlichen Anmerkungen zur Identifizierung der geographischen und ethnologischen Begriffe, übers. v. Klaus Fiedler/ Thomas Schirrmacher, Bonn 1993 (1792), 8. Ulla Sandgren, The Tamil New Testament and Bartholomaus Ziegenbalg, Uppsala 1991, 83. Zitiert in: Boer, Pentecost and Mission, 19; nach Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, in der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen 1955, IV, 3, 3-7, 716-719. Siehe Boer, Pentecost and Mission, 19.
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ein, und eine erste Frage kann sein, ob die matthäische Kirche dem Missionsbefehl treu war, oder ob es irgendein Anzeichen dafür gibt, dass ihre Mitglieder sich missionarisch betätigt haben. Die populäre Auffassung bezüglich der matthäischen Gemeinschaft ist gewesen, dass sie eine positive Voreingenommenheit gegenüber Nichtjuden hatte und aktiv daran beteiligt war, sie zu evangelisieren. Eine neue Untersuchung von David C. Sim stellt solche Annahmen in Frage.22 Er hat gezeigt, dass es innere und äußere Beweise dafür gibt, die auf das Gegenteil hinweisen. Das Matthäusevangelium enthält eine Reihe von unsympathischen Aussagen über die Nichtjuden (5, 46-7; 6, 7-8; 31-2; 18, 15-17). Es ist nicht immer wohlwollend zu denen, die nicht Teil der jüdischen Rasse waren. Sie werden ‚Hunde‘ genannt und nicht als wert angesehen, das Brot zu essen, das den Kindern Israels gehörte. Die stärkste Geringschätzung der Nichtjuden wurde in Mt 18, 17 zum Ausdruck gebracht, wo Jesus seine Anhänger anwies, dass ein Missetäter, wenn er die Maßregelung durch die Gemeinschaft nicht akzeptierte, behandelt werden sollte „wie der Heide und der Zöllner“. Die Jünger werden auch angewiesen, nicht dem Beispiel der Nichtjuden zu folgen und Stellung und Macht zu suchen (Mt 10, 25). Der Autor des Matthäusevangeliums hielt auch nicht viel von nichtjüdischer Frömmigkeit. Seiner Meinung nach war das Gebet der Nichtjuden nichts weiter als ein sinnloses Geräusch (6, 7). Diese negativen Auffassungen deuten darauf hin, dass für Matthäus die nichtjüdische Welt ein fremder und gottloser Ort ist, der gemieden werden muss und, noch wichtiger, dessen Praktiken nicht von seinen Lesern imitiert werden dürfen. Der Grund für diese Haltung könnte der Verfolgung durch die Nichtjuden zugeschrieben werden, der sich die matthäische Gemeinde während und nach dem ersten jüdischen Krieg gegen Rom gegenübersah. Matthäus’ Diskurse über Mission (Kap. 10) und Apokalyptik (Kap. 24-5) bestätigen dies. Es ist interessant, dass Careys Aufruf, die Seelen der Ungläubigen in fernen Ländern zu gewinnen und seine Reaktivierung des matthäischen Befehls zur Zeit einer noch nie da gewesenen territorialen Eroberung durch den Westen stattfand. Historiker, die sich mit Kolonialismus befassen, haben sich unterschiedliche Periodisierungen des imperialen Vorrückens des Westens einfallen lassen. Careys Aufruf, ferne Länder zu evangelisieren, fällt mit dem zusammen, was Marc Ferro als Kolonialismus eines neuen Typs kategorisiert, der mit der Industriellen Revolution und dem Finanzkapitalismus gekoppelt und durch expansionistische Strategien gekennzeichnet ist.23 Es ist für eine postkoloniale Hermeneutik hoch bedeutsam, dass Careys Faszination für diese schlummernden Verse zu einer Zeit begann, als Europa gerade an solch einem Kolonialismus beteiligt war. Das führt uns nun zu den Missionsreisen des Paulus und es wird im Verlauf klar werden, dass auch die Rekonfiguration des Reiseschemas mit dem imperialen Vorrücken Europas verflochten war.
22 23
David C. Sim, The Gospel of Matthew and the Gentiles, in: Journal for the Study of the New Testament 57 (1995), 19-48. Marc Ferro, Colonization. A Global History, London 1997, 19.
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Missionsreisen und Handelsgesellschaften Das Entstehen vieler Missionsgesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert führte Exegeten dazu, die Apostelgeschichte mit einer Missionsreisestruktur zu belegen. Dieses Missionsreiseschema ist benutzt worden, um missionarische Aktivitäten zu legitimieren und zu unterstützen. Generationen von indischen Studenten, die für einen theologischen Abschluss24 am Serampore College studiert haben, sind aufgefordert worden, folgende Frage zu beantworten: „Beschreiben Sie die Missionsreisen des Paulus und entfalten Sie die Bedeutung für die missionarische Aufgabe im heutigen Indien.“ Die verfügbaren Lehrbücher boten den glücklosen Studenten reichlich gelehrte Hilfe an. Es gab zwei Reihen von Kommentaren, die speziell für indische Studierende geschrieben worden waren – die Indian Church Commentaries und die Christian Students’ Library.25 Die Kommentare zur Apostelgeschichte in beiden Reihen enthalten einen Plan des Buches. In diesem stellen die Kommentatoren die drei Reisen im Lukasband in den Mittelpunkt. Harold Moulton, einer derjenigen, die zur indischen Christian Students’ Library beigetragen haben, schrieb: „Den größten Teil des Restes des Buches nimmt die Darstellung der Missionsreisen ein, die geplant waren, um das Evangelium an den Orten zu pflanzen, wo es die größte Wirkung haben kann, wenn es dort Wurzeln schlägt.“26 Er überzeugt die Studenten: „der gleiche strategische Sinn ist notwendig, um das christliche Unternehmen überall voll zu entwickeln“27. Eine ähnliche Sicht wird von T. Walker vertreten, der einen Band zu der anderen Reihe beigetragen hat: „ [Die Apostelgeschichte] ist im Prinzip ein Bericht über Missionsarbeit in fernen Ländern.“28 Und weiter führt er aus, dass schon die Aufteilungen des Buches diese Tatsache betonen und „den Linien des letzten Befehls des Erlösers folgen“. Moulton bastelte sich auch ein missionarisches Hauptquartier zusammen, Jerusalem/Antiochia, zu dem Paulus immer wieder zurückgekehrt sei und dem er berichtet habe.29 Wie dem Missionsbefehl wurde dem Reiseschema von der Alten Kirche oder von den Reformatoren nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Die erste Bezugnahme auf das Reisemuster erschien laut John Townsend in J. A. 24
25
26 27 28 29
Serampore College, das erste im westlichen Stil geführte College in Asien, ist die einzige protestantische Institution, die eine Charter zur Verleihung eines theologischen akademischen Grades in Indien hat. Es ist stolz auf die Tatsache, dass ihnen die Charter von Dänemark im Jahr 1818 verliehen wurde, noch bevor die Universität von Kalkutta errichtet wurde. Für eine postkoloniale Kritik dieser Reihen siehe R. S. Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism. Contesting the Interpretations, Maryknoll 1998, 910; Ders., Biblical Studies in India. From Imperialistic Scholarship to a Post-colonial Mode of Interpretation, in: Teaching the Bible. The Discourses and Politics of Biblical Pedagogy, hg. v. Fernando Segovia / Mary Ann Tolbert, Maryknoll 1998, 283-296. Harold K. Moulton, The Acts of the Apostles. Introduction and Commentary, Madras 1957, 40. Moulton, The Acts of the Apostles, 41. T. Walker, The Acts of the Apostles, Madras 1919, 1ii. Moulton, The Acts of the Apostles, 55, 57.
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Bengels Gnomon Novi Testamenti (1742). Selbst hier erwähnte Bengel es nur in seinem Vorwort und versäumte, dieses in seinem Kommentar oder in der Chronologie des Paulus, die er separat veröffentlichte, weiter zu verfolgen. Die Kommentare, die dem Werk Bengels folgten, nahmen das Missionsreisemuster ebenfalls auf. In seiner Untersuchung der kommentierenden Schriften zur Apostelgeschichte in der Alten Kirche und im Mittelalter folgert Townsend, dass sich die Autoren über das Missionsmuster ausschwiegen. Antike Autoren wie Irenäus von Lyon, Hieronymus, Ephraim, Johannes Chrysostomus und Beda bewahrten bei diesem Thema eine hermeneutische Zurückhaltung: „Die Tatsache, dass diese Autoren […] Stillschweigen über ein Missionsmuster in der Apostelgeschichte wahren, würde sicher Zweifel auf jedes Argument werfen, dass solch ein Muster vom Autor des lukanischen Doppelwerks ursprünglich beabsichtigt war.“30 Dies trifft ebenso für jene zu, die einer späteren Zeit angehörten, wie Erasmus, Calvin und Theodor von Beza, die in der Apostelgeschichte keine missionarische Reiseroute entdeckten. Eine erneute Lektüre der Textnachweise in der Apostelgeschichte stellt die anerkannte Sicht ernsthaft infrage, dass der Autor einen dreifachen Reiseplan für Paulus entworfen hat, wobei Antiochia oder Jerusalem den Stützpunkt für Abreise und Rückkehr bildeten. Von den drei Reisen hat nur die erste (Kap. 13-14) eine geringe Ähnlichkeit mit einer Missionsreise, die in Antiochia startet. Sie führt Paulus durch Zypern und eine Reihe von Orten des südlichen Kleinasiens – Antiochia in Pisidien, Ikonion, Lystra und Derbe – und dann kehrt er auf derselben Route zurück, lässt dabei aber Zypern aus. Die ‚zweite Reise‘ scheint ungeplant gewesen zu sein, und Paulus zieht einfach ziellos von einer römischen Stadt zur anderen, bis er Korinth erreicht und sich dort für eine Weile niederlässt und in eine hitzige Debatte mit der lokalen jüdischen Gemeinschaft verwickelt wird. Er entscheidet sich, zu gehen, und die ‚dritte‘ Reise beginnt sofort in 18, 23. Es ist schon eine unzutreffende Bezeichnung, dies eine Reise zu nennen, da Paulus drei Jahre in Ephesus verbringt (20, 31) – drei Monate in der Synagoge (19, 8) und zwei Jahre in der Schule von Tyrannus (19, 10) debattierend. Es war während dieser Zeit, dass er mit der korinthischen Korrespondenz beschäftigt war und nach 2 Kor 13, 2 eine unglückliche und unergiebige Fahrt nach Korinth unternahm. Er kehrt nach Ephesus zurück und bewegt sich dann hoch nach Mazedonien und dann nach Griechenland oder wahrscheinlich Korinth, wo er drei Monate verbringt, gefolgt von einem kurzen Aufenthalt in Troas (20, 612); dann folgen Reisen herunter entlang der Westküste Kleinasiens, auf denen er schließlich Jerusalem erreicht. Interessanterweise scheinen die Akten des Paulus, ein früher christlicher Text, der Paulus’ Werk und Reisen beschreibt, sich eines solchen Reisemusters nicht bewusst zu sein, sondern sehen stattdessen seine Reisen durch verschiedene römische Städte als „eine einzige ununterbrochene Reise ohne eine Rückkehr zu einer unterstützenden Kirche“31. Auch Roland Allen, der auf Paulus zurückgegriffen und ein Mo30 31
John T. Townsend, Missionary Journeys in Acts and European Missionary Societies, in: Anglican Theological Review 68 (1986), 99-104, hier: 102. Townsend, Missionary Journeys, 101.
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dell zur Durchführung von Mission auf fremdem Feld ausgearbeitet hat, zweifelt in Bezug auf ein geplantes Schema: „Es ist ziemlich unmöglich, die Auffassung aufrechtzuerhalten, dass der heilige Paulus seine Reisen zuvor in voller Absicht plante, gewisse strategische Punkte auswählte, um dort seine Kirchen zu gründen und dann tatsächlich seine Pläne ausführte.“32 Warum dann wurde die Apostelgeschichte während der Kolonialzeit mit einem Missionsmuster belegt? Die wahrscheinliche Antwort ist, dass sich die Kommentatoren von den bedeutsamen territorialen Veränderungen, die zu jener Zeit stattfanden, haben beeinflussen lassen und dass sie diese Ereignisse in die apostolische Zeit zurückinterpretierten. Das 18. Jahrhundert erlebte den Aufstieg westlicher protestantischer missionarischer Aktivitäten und die Errichtung einer Fülle von konfessionellen Missionsagenturen. Auf der protestantischen Seite wurde die Society for Promoting Christian Knowledge im Jahr 1698 gegründet, die Baptist Missionary Society im Jahr 1792, die London Missionary Society 1795, die Church Missionary Society 1799, die Wesleyan Methodist Society 1813 und die Netherlands Missionary Society im Jahr 1797. Römisch-katholische Missionsaktivitäten in der modernen Zeit gehen auf die Gründung der Sacra de Propaganda Fide im Jahr 1662 zurück und ein weiterer Impuls wurde durch die Gründung des Werks der Glaubensverbreitung im Jahr 1822 gegeben. Anders als die früheren Missionare wie z. B. Francis Xavier (1506-52), die ziemlich viel allein umhergezogen waren, erwarteten Missionare dieser Periode von ihren Heimatgesellschaften Unterstützung und Führung in ihrer Arbeit. Da es für Evangelisten normale missionarische Praxis war, aus einem Heimatstandort heraus zu operieren, sollte man nicht über die exegetische Annahme erstaunt sein, dass Paulus, der große Missionar des Neuen Testaments, das Gleiche getan hätte.33
Es ist kein Zufall, dass die Gründung all dieser Missionsgesellschaften zur gleichen Zeit stattfand wie die Aktivitäten von Handelsgesellschaften wie der East India Company und der Dutch East India Company. Die East India Company hat sich anfänglich der Präsenz der Missionare widersetzt. Sie befürchtete, dass sich die Einmischung der Missionare in lokale religiöse Bräuche und Verhaltensweisen kontraproduktiv auf ihre Handelsinteressen auswirken könnte. Durch die Erneuerung der Charter der Gesellschaft im Jahr 1833 und die Abschaffung ihres Monopols erhielt das missionarische Vorhaben jedoch einen Auftrieb. Es wurde weiter durch die Legislative der britisch-indischen Regierung unterstützt, die sich vorgenommen hatte, die Rechte der christlichen Konvertiten zu schützen. Sobald das Hindernis für die missionarische Arbeit beseitigt war, wurden die Missionare selbst willige Unterstützer der kommerziellen Expansion. William Ward (1769-1823), Kollege Careys am Serampore College in Indien, beklagte die „außerordentliche Tatsache“, dass die jährlich von Indien gekauften britischen Waren „nicht ausreichten, um auch nur ein einziges Schiff aus unseren Häfen zu beladen“. Aber er hoffte, dass die Inder, sobald sie aufgeklärt und zivilisiert worden wären, „mehr zu dem tatsächlichen Wohlstand Britanniens als einem Han32 33
Roland Allen, Missionary Methods. St Paul’s or Ours. A Study of the Church in the Four Provinces, London 1912, 15. Townsend, Missionary Journeys, 104.
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delsvolk beitragen, indem sie seine Erzeugnisse in einem hohen Maß konsumieren“. Er fuhr fort: Aber lasst Hindustan die höhere Zivilisation, die es braucht, erhalten, zu deren Kultivierung es so fähig ist; lasst europäische Literatur alle seine Sprachen erfüllen, dann wird der Ozean von den Häfen Britanniens bis nach Indien mit unseren Handelsschiffen bedeckt sein.34
Als der Opiumkrieg beendet war und das Abkommen von Nanking westlichen Handel und Missionen nach China begünstigte, schrieb ein schwedischer Pastor, der die Nachrichten aus dem Osten verfolgte: „Handel soll ein Vehikel für Mission sein.“35. Mission und Handelsinteressen überschnitten sich häufig. Einige Reflexionen zum Abschluss dieses Abschnitts. Die vernichtende Niederlage der spanischen Armada durch die Engländer hatte große Auswirkungen auf Geopolitik und Mission. Zuvor konnte Mission nur unter der Schirmherrschaft der einen oder anderen Kolonialmacht durchgeführt werden; diese jedoch waren alle katholisch.36 Durch die gelockerte katholische maritime Kontrolle wurde der Weg für das protestantische England und Holland frei, sich mit ihrer neu wiederentdeckten Bibel einzumischen. Zusammen mit dem Gerangel um Territorien kam auch ein Sinn für missionarische Verpflichtung auf,37 während sich, wie wir gesehen haben, die vom protestantischen Europa durch den maritimen Zugang zu überseeischen Kolonien geschaffenen Bedingungen deutlich auf die biblische Interpretation niederschlugen. Der Aufstieg von protestantischen Ländern zu Kolonialmächten, das Wuchern der protestantischen Missionsgesellschaften und die Wiederentdeckung missionarischer Texte, all das war untrennbar miteinander verbunden. Die Geschichte der Expansion der Kirche, wie sie durch Paulus’ Reisen in der Apostelgeschichte erzählt wird, ist selektiv und parteiisch. Sie dokumentiert nur die Ausbreitung der Kirche im Westen und ignoriert vollkommen die nach Osten gerichtete Bewegung der Kirche. Sie feiert und privilegiert nur die hellenistische Expansion der Kirche, nämlich von Jerusalem nach Rom, und die jüdische Mission der Nichtjuden im Römischen Reich. Was der Autor der Apostelgeschichte nicht berichtet, ist, dass es noch eine andere Geschichte der Gründung der Kirche östlich des Euphrats und im gesamten persischen Reich gegeben hat, dessen territoriale Kontrolle sich bis an die Grenzen Indiens erstreckte. Während Paulus und andere Christen mit der Mission unter Griechen, Römern und Barbarenstämmen im Westen beschäftigt waren, wurde auch den Menschen des Ostens, insbesondere in Edessa, Persien, Arabien und Zentralasien, China und Indien die Botschaft geschenkt: Es ist für die meisten Menschen eine Überraschung, zu erfahren, dass es in den ersten Jahrhunderten unseres Zeitalters eine große und weit verbreitete christliche 34
35 36 37
William Ward, A View of the History, Literature and Methodology of the Hindoos. Including a Minute Description of their Manners and Customs and Translations from their Principal Works, 3 Bde., London 1820, 1iii. Bengt Sundkler, The World of Mission, London 1965, 121. Sundkler, The World of Mission, 97. Sundkler, The World of Mission, 97.
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Gemeinschaft in ganz Zentralasien gegeben hat und dass solche Länder wie Afghanistan und Tibet, von denen man heute sagen kann, dass sie Gebiete sind, die der Botschaft des Evangeliums verschlossen sind, Zentren christlicher Aktivität waren, und zwar lange bevor Mohammed geboren wurde oder die KrishnaLegende bekannt war.38
Der missionarische Impuls zur Verbreitung des Christentums in Asien kam laut T. V. Philip nicht aus dem hellenistischen, sondern aus dem jüdischen Christentum.39 Wie im Fall der nach Westen gerichteten Expansion der Kirche wurde auch die nach Osten gerichtete Ausbreitung nicht durch institutionalisierte Verkündigung, sondern durch die erfolgreiche Präsenz von Christen erreicht. Die monastische Bewegung und ihre asketischen Ideale spielten eine beträchtliche Rolle: Die Mönche waren bei den Massen beliebt […] Die Massen wussten, dass die Mönche besonderes Mitgefühl für diejenigen hatten, die litten, und dass die Mönche immer bereit waren, den Menschen spirituell und auch materiell zu helfen. Die Klöster wurden Versammlungszentren für die Armen und die Leidenden.40
Händler, Handwerksleute, Migranten und vor religiöser Verfolgung Flüchtende, sie alle trugen das Evangelium. Es ist diese Geschichte der nach Osten gerichteten Expansion, die in der Erzählung der Apostelgeschichte des Lukas völlig ignoriert worden ist. Philip erinnert Missionshistoriker daran, sich noch einmal die Oden Salomos, das Thomasevangelium, die Thomasakten, Didascalia Apostolorum und die Schriften von Ephraim, Aphrahat und Narsai von Nisibis anzusehen, um die Bewegung des Christentums nach Osten zu verstehen.41 Dass die Apostelgeschichte mit einem Missionsreisemuster belegt wurde, hat neben der Unterstützung einer westlichen Ausbreitung der Kirche noch andere hermeneutische Implikationen. Es bekräftigt das Bild, dass die Kirchen in Asien und Afrika Empfänger des Evangeliums als einem Geschenk eines wohlwollenden Westens zur Erleuchtung der Heiden gewesen wären. Es ignoriert weitgehend die christliche Präsenz in diesen Teilen der Welt vor der Ankunft der modernen Missionsbewegung. John England hat in seinem jüngsten Buch The Hidden History of Christianity in Asia42 die oft ignorierten und selten diskutierten, komplexen und vielfältigen Geschichten der Kirche in Asien nachgezeichnet. Er führt eine solche Vernachlässigung unter anderem zurück auf: überholte Annahmen in Bezug auf Orthodoxie und Häresie, zusammen mit kulturell-beschränkten Kriterien in der Forschung […] [die] oftmals eine angemessene
38 39 40 41 42
John Stewart, Nestorian Missionary Enterprise. The Story of a Church on Fire, Edinburgh 1928, xxix-xxx. T. V. Philip, The Missionary Impulse in the Early Asian Christian Tradition, in: Programme for Theology and Cultures in Asia Bulletin 10 (1) (1997), 5-14. Philip, The Missionary Impulse, 12. Philip, The Missionary Impulse, 8. John England, The Hidden History of Christianity in Asia. The Churches of the East before the year 1500, Delhi 1996.
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Untersuchung des östlichen Christentums in Bezug auf seine eigene historische und kulturelle Umgebung verhindern.43
Mit Hilfe einer Fülle von Belegen, die von Manuskripten bis hin zu Münzen und Bildern reichen, hat er demonstriert, dass es möglich ist, die Präsenz von Christen von „Syrien im Westen bis nach Japan im Nordosten und so weit entfernt wie Java im Südosten bis zum Ende des achten Jahrhunderts“ nachzuweisen.44 Die bisher für normativ gehaltene Auffassung der post-nicänischen Geschichte der europäischen Völker ist jetzt, in Englands Sicht, durch die Verfügbarkeit der „ebenso reichen Geschichte östlich von Antiochia“ nicht mehr haltbar. Die hermeneutische Schaffung eines missionarischen Hauptquartiers, zu dem Paulus immer wieder nach der Erfüllung einer Aufgabe zurückkehrt, ist problematisch. Da die meisten Missionare der modernen Missionsbewegung mit und durch einen Heimatstandort in Europa arbeiteten und mit diesem in ständigem Kontakt standen, was die Leitung der einheimischen Kirchen anging, sind die Ursprünge solch einer exegetischen Mutmaßung klar.45 Aber die Auswirkungen für Kirchen in Asien oder auch in Afrika oder dem Pazifik sind bedeutend. Die Idee eines Hauptquartiers, sei dieses in London, Halle oder Genf, nimmt eine andere Schattierung an. Neben dem Hinweis auf die organisatorische Macht und institutionelle Stärke des Evangeliums, die in dem Wort ‚Hauptquartier‘ kodiert sind, steht die Idee, dass es dort drüben eine große und steuernde, Entscheidungen treffende Maschinerie gibt. Alles, was diese Kirchen tun, muss von einer äußeren Autorität überprüft und bestätigt werden. Careys Zeitgenossen waren Tom Paine und Mary Wollstonecraft. Wollstonecrafts Die Verteidigung der Frauenrechte erschien im selben Jahr wie Careys Untersuchung, und interessanterweise hatten sie einen gemeinsamen Verleger und Buchhändler in der Person von Joseph Johnson, einem Nonkonformisten mit radikalen politischen Überzeugungen. Während Paine und Wollstonecraft über radikale politische Anliegen, populären Protest, die Unabhängigkeit für Nationen und die Rechte der Frauen schrieben und sich dafür engagierten, schwieg Carey und hat seine Stimme nicht gegen koloniale Expansion oder die Übel des Imperialismus erhoben. Dharmaraj, der die Wechselbeziehung zwischen Kolonialismus und Mission untersucht hat, folgert: Trotz Careys hochfliegender sozialer und moralischer Ideen, die unschuldigen Opfer vor grausamen religiösen Praktiken zu bewahren, hat er doch kläglich darin versagt, seine Stimme gegen die europäische politische und ökonomische Unterdrückung in Indien zu erheben. Sein Kampf gegen die hinduistischen sozialen und religiösen Übel hatte evangelistische und missionarische Ziele. Careys mangelnde Bereitschaft, sich gegen die politischen und ökonomischen Übel der Kolonialregierung auszusprechen, hatte missionarische und monetäre Ziele.46
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England, The Hidden History, 2, 3. England, The Hidden History, 8. Townsend, Missionary Journeys, 104. Jacob S. Dharmaraj, Colonialism and Christian Mission. Postcolonial Reflections, Delhi 1993, 53.
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Aus einer postkolonialen Perspektive wird es schwierig sein, die missionarische Bedeutung der matthäischen und lukanischen Texte aufrechtzuerhalten, die benutzt wurden, um den politischen und kommerziellen Interessen des Westens zu dienen. Die vorausgehende Re-Lektüre stellt die Textmerkmale sowohl dieser als auch früherer Interpretationspraktiken in Frage. Sie fordert eine Neuorientierung in unseren missiologischen Annahmen und auch in unseren exegetischen Schlussfolgerungen. Zu einer Zeit, in der es weit verbreitete virulente Formen von religiösem Fanatismus gibt, wird ein Diskurs mit einer starken missionarischen Stoßrichtung und Bekehrungstendenzen nicht nur Verwirrung zu einer schon verwirrenden Situation beitragen, sondern er wird auch schwer aufrechtzuerhalten sein.
Über das mediterrane Milieu hinausgehen In meinen einführenden Bemerkungen zum Postkolonialismus habe ich mich auf die befreienden Möglichkeiten des kontrapunktischen Lesens im biblischen Bereich bezogen. Eine weitere postkoloniale Aufgabe ist es, die neutestamentlichen Texte wiederzugewinnen und sie als Träger konzeptueller Aspekte der östlichen Literatur wieder einzuführen. Die Tendenz der BibelwissenschaftlerInnen, das Christentum als interpretative Schablone durchzusetzen, hat ihre Sicht häufig verschwimmen lassen. Sie haben erfolgreich die Überzeugung gefördert, dass die neutestamentlichen Schriften ausschließlich das Produkt hellenistischen und hebräischen Denkens wären. Wenn sie auf die neutestamentliche Periode und die literarischen Produktionen blicken, die in jener Zeit entstanden sind, halten BibelwissenschaftlerInnen eine tief sitzende eurozentrische Voreingenommenheit aufrecht und behaupten, dass alles theologisch Lohnende nur von griechisch-jüdischen Traditionen bereitgestellt werden kann. Mit anderen Worten, Griechenland stellt die intellektuellen und philosophischen Wurzeln bereit, und das jüdische Erbe liefert die religiöse Basis. Während es ihnen so nicht gelingt, ihre hermeneutische Basis zu erweitern, erfinden diese WissenschaftlerInnen ein Christentum, das erfolgreich von jeglichem Kontakt zu indoeuropäischen Religionen abgeschirmt wird. BibelwissenschaftlerInnen ignorieren die mögliche Präsenz, den Einfluss und Beitrag östlicher Religionen in der mediterranen Region während der Zeit, in der der christliche Glaube entstanden ist. G. B. Caird fasst die Position folgendermaßen zusammen: „Ich hätte gedacht, dass sich die indische Vorstellung einer Abhängigkeit des Neuen Testaments vom Buddhismus einfach einem unzureichenden geschichtlichen Verständnis schuldete. Ich weiß auf jeden Fall von keinem Neutestamentler außerhalb Indiens, der solch einer Idee auch nur für eine Minute Glauben schenken würde.“47 Aber der christliche Glaube entstand in einem kulturellen und 47
Zitiert in: J. Duncan / M. Derrett, Greece and India. The Milindapanha, the Alexander Romance and the Gospels, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 19 (1967), 32-64, hier: 34.
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literarischen Milieu, das tatsächlich von indischen, buddhistischen und hinduistischen Denkmustern beeinflusst worden ist. Die Handelsbeziehungen zwischen Indien und dem mediterranen Römischen Reich waren intensiver, als dies oftmals geglaubt worden ist. Zusammen mit der Handelsware reisten religiöse Ideen sowohl zur als auch von der mediterranen Welt. Die Edikte des Herrschers Ashoka informieren uns über die Anwesenheit buddhistischer Missionare in Westasien (13. Edikt c., 256 v. u. Z.). Mönche des TheravadaBuddhismus waren lange vor der Geburt des Christentums in Alexandria aktiv. Ein anderer namens Zarmanochegas wurde im Jahr 37 v. u. Z. von König Porus als Mitglied einer indischen politischen Mission nach Rom gesandt. In Athen vollzog er den religiösen Akt der freiwilligen Selbstopferung und dort wurde ein Denkmal zu seinem Gedenken errichtet. Paulus bezieht sich in seinem Brief an die Korinther auf die freiwillige Selbstverbrennung: „Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.“48 Westliche Exegeten sind von diesem Vers irritiert und versuchen, einen wie auch immer schwachen jüdischen Hintergrund auszumachen oder aber sie weisen die Aussage zurück oder bestreiten, dass das athenische Monument für den Buddhisten irgendwelchen Einfluss auf Paulus gehabt haben könnte.49 Die indische Präsenz in der mediterranen Welt, insbesondere während der prägenden Jahre des Christentums, und das mögliche Durchsickern insbesondere buddhistischer Ideen in christliches Denken wurden von frühen Indologen und der Religionsgeschichtlichen Schule weithin anerkannt. Das Interesse daran ließ aber nach dem Ersten Weltkrieg nach. Ein Grund hierfür war der vom Vatikan ausgeübte Druck. Henri de Lubac war einer, der wegen seines Eintretens für einen buddhistischen Einfluss auf das Christentum von Rom zum Schweigen gebracht und gerügt wurde. Auf früheren vergleichenden Untersuchungen aufbauend haben drei neuere Werke noch einmal die textuellen und konzeptuellen Affinitäten von buddhistischen Schriften und den Evangelien demonstriert. Interessanterweise wurden diese Untersuchungen nicht von BibelwissenschaftlerInnen, sondern von ReligionshistorikerInnen und einem englischen Literaturtheoretiker durchgeführt. Es gibt so viele Lehren und Geschichten über Buddha und Jesus, die sich bemerkenswert ähneln. So auch die ethischen Lehren der beiden Führer über Gewaltlosigkeit und die Reinheit des Geistes. Noch bevor die Untersuchung von Q in biblischen Kreisen in Mode kam, hat R. C. Amore argumentiert, dass die Quelle Q oder die von den ersten drei Autoren der Evangelien benutzten Sprüche durchaus ein buddhistischer Text gewesen sein könnten. Er denkt, dass die Autoren der Evangelien sowohl auf jüdische als auch auf buddhistische Traditionen zurückgegriffen und diese durchaus
48 49
Diesen Punkt verdanke ich Donald A. Mackenzie, Buddhism in Pre-Christian Britain, London 1928, 41. Siehe z. B. C. K. Barrett, A Commentary on the First Epistle to the Corinthians, London 1968, 302-303; F. F. Bruce, 1 and 2 Corinthians, London 1971, 125-126; und Margaret E. Thrall, The First and Second Letters of Paul to the Corinthians, Cambridge 1965, 93.
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umgeformt haben könnten, um diese den kontextuellen Bedürfnissen ihrer Zeit anzupassen. Er schreibt: Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, dass Lukas und Matthäus sich auf eine Quelle oder Quellen stützten, die zusätzlich zu Aussagen über das Ende der Zeit auch Aussagen enthielten, die eigentlich jüdisch-christliche Versionen buddhistischer Lehren waren. Die Bergpredigt enthält die größte Häufung dieser buddhistischen Aussprüche, aber sie finden sich in größerer Anzahl auch in späteren Kapiteln von Lukas und Matthäus.50
Später fährt er fort: Die Lehren von der Präexistenz Jesu, die Geschichten über seine Geburt und frühe Kindheit und der Glaube an seine Rückkehr in den Himmel folgten dem buddhistischen Modell. Dieses Avatar-Muster wurde mit anderen Deutungen von Jesus verbunden, die aus jüdischen Erwartungen abgeleitet wurden […] Ich behaupte, dass das buddhistische Avatar-Modell dem Christentum geholfen hat, das jüdische Messias-Konzept in eine Erlöserfigur zu verwandeln, die für die Nichtjuden verständlich war. Unter den Nichtjuden des Westens ermöglichte es dem Christentum, sich erfolgreich mit den alten hellenistischen und römischen Kulten, aber auch mit der alten Mithras-Religion des Römischen Reichs zu messen. Unter den Nichtjuden des Ostens ermöglichte es dem Christentum, die alten iranischen Religionen abzulösen und, ironischerweise, die rasche westwärts gerichtete Ausbreitung des Buddhismus selbst zu blockieren.51
Die Herkunft des Matthäusevangeliums ist ein irritierendes Problem für Bibelforscher gewesen. Es hat Vorschläge gegeben, die den Ursprung des Evangeliums mal an so grundverschiedenen Orten wie Antiochia oder den Küstenorten des phönizischen Syriens lokalisieren. In seiner Untersuchung des matthäischen Sonderguts in dem Evangelium schlägt Robert Osborne vor, dass Edessa der Ort der Entstehung des Matthäusevangeliums sein könnte. Die konzeptuelle Natur des matthäischen Sonderguts führt Osborne dazu, einen östlichen Einfluss zu postulieren. Da Edessa strategisch an der berühmten Seidenstraße errichtet wurde, die den Osten und den Westen verband, ist es möglich, dass das matthäische Sondergut von Mithraismus, Zoroastrismus und Buddhismus beeinflusst worden sein könnte. In seiner Untersuchung von fünf der sechs Sprüche (unter Auslassung desjenigen über Scheidung) in Mt 5, 21-48, die alle mit „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist … Ich aber sage euch“ beginnen, entdeckt Osborne auffallende Parallelen zwischen diesen und den Lehren des Buddhismus: Diese Regeln repräsentieren die Hauptrichtungen, in denen buddhistische Selbstkontrolle ausgeübt werden soll. Jesu Lehren ‚Vom Töten‘ (Mt 5, 21-26), ‚Vom Ehebrechen‘ (Mt 5, 27-30), ‚Vom Schwören‘ (Mt 5, 33-37) und ‚Von der Feindesliebe‘ (Mt 5, 38-42), um übliche Überschriften zu benutzen, haben eine enge Entsprechung in Buddhas Verboten ‚von Zorn, Fleischeslust, Unaufrichtigkeit und Verlangen nach materiellem Besitz‘. Zudem drückt sich in der Grundhaltung von beiden eine starke Betonung der inneren Intention aus.52
50 51 52
Roy C. Amore, Two Masters, One Message. The Life and Teachings of Gautama and Jesus, Nashville 1978, 178. Amore, Two Masters, One Message, 185, 186. Robert E. Osborne, The Provenance of Matthew’s Gospel, in: Studies in Religion 3 (3) (1973-74), 220-235, hier: 224.
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Er findet auch Anklänge an buddhistische Lehren in Mt 5, 29 und 11, 28-30 und zeigt die Ähnlichkeit zwischen Petrus, der auf dem Wasser geht und Buddhas Anhänger Sariputta, der dasselbe versucht. Edgar Bruns lässt die synoptischen Evangelien hinter sich und konzentriert sich auf die johanneischen Schriften und ist der Meinung, dass „johanneisches Denken strukturell dem des Madhyamaka-Buddhismus näher ist als dem jüdischen oder hellenistischen Denken“53. Er postuliert auch eine Theorie, dass der geliebte Jünger im Johannesevangelium nach dem Vorbild der buddhistischen Tradition gestaltet worden sein könnte. Ananda, der Anhänger Buddhas, könnte die Entsprechung zu Johannes gewesen sein. Obwohl es weitere Lehrer-Schüler-Beziehungen gab (Plato-Sokrates, MosesJosua, Elija-Elisa, Jeremia-Baruch), waren diese treue Sekretäre oder in manchen Fällen authentische Nachfolger, aber „keiner von ihnen war Garant einer religiösen Botschaft“54. In jüngerer Zeit hat Zacharias Thundy zeitgenössische literarkritische Methoden wie z. B. Dekonstruktion zusammengebracht und demonstriert, dass Materialien aus anderen Kulturen Bestandteile zu den Evangelienerzählungen beigesteuert haben. Seiner Meinung nach wurden viele indische Geschichten in die Evangelientexte und die zeitgenössische apokryphe Literatur hineingewoben. Er hat gezeigt, dass eine ganze Reihe von Geschichten über die Kindheit von Jesus in vielen Details mit denen über den Buddha übereinstimmen. Thundy hat auch gezeigt, dass die buddhistischen schriftgemäßen Texte und Traditionen älter als die vergleichbaren christlichen Texte sind. In der Mehrheit der Fälle kamen Anleihen vom Osten in den Westen. Er kommt zu dem Schluss, dass nichtjüdische Traditionen die Quellen für Geschichten über die Kindheit von Jesus lieferten. Er hebt die intertextuelle Natur des Neuen Testaments und buddhistischer Schriften hervor und kommt zu dem Schluss, dass es eine „verborgene Präsenz“ indischer Ideen und Motive in der Evangelientradition gibt. Ich füg(t)e meine Stimme diesem wachsenden kritischen Chor hinzu, um zum Ausdruck zu bringen, dass das Neue Testament nicht schlicht und einfach westliche Literatur ist, sondern vielmehr immer noch eine sehr östliche. Dies ist nicht so, weil die Evangelien im Osten von Orientalen verfasst worden wären, sondern weil sie in hohem Maße von ihren orientalischen Quellen beeinflusst wurden, von denen Indien und seine Religionen ein integraler Bestandteil waren.55
Solch eine Anerkennung und Aneignung wird es uns ermöglichen, über die traditionell ausschließlich missionarischen Behauptungen in Bezug auf die christliche Geschichte hinauszugehen. Noch wichtiger, sie wird die hybridisierte und eklektische Natur religiöser Geschichten feiern und es ablehnen, von religiös eifernden und denkmalpflegerischen Zwängen beschränkt zu werden, sondern vielmehr den Texten Fluidität zuschreiben. 53 54 55
Edgar J. Bruns, The Christian Buddhism of St John. New Insights into the Fourth Gospel, New York 1971, vii. Edgar J. Bruns, Ananda. The Fourth Evangelist’s Model for „the disciple whom Jesus loved“, in: Studies in Religion 3(3) (1973-74), 236-243, hier: 237. Zacharias P. Thundy, Buddha and Christ. Nativity Stories and Indian Traditions, Leiden 1993, 272.
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Warnende Zeichen Abschließend möchte ich noch einige der Fragen aufgreifen, die auftreten, wenn wir uns am postkolonialen Diskurs beteiligen. Meine Absicht ist es, Klärung in unser Denken und in unsere Praxis zu bringen. Postkolonialismus kann ein modischer Ersatz für das sein, was als Dritte-Welt-Theologien bekannt ist, und ein zweckmäßiges Etikett, um alle asiatischen, afrikanischen, lateinamerikanischen, karibischen und pazifischen Theologien zusammenzufassen. Die Warnung, die der indische Kritiker Satchidanandan in einem anderen Zusammenhang vorgebracht hat, gilt genauso für uns. Postkolonialismus könnte „eine andere Mode auf dem internationalen Methodenmarkt“ werden oder ein anderes „neues Werkzeug, das in der kritischen Schmiede des Westens geformt worden ist“. Er warnt auch davor, dass „Postkolonialismus eine Form von Neokolonialismus sein kann, mit oder ohne Bindestrich, indem das Empire früheren Kolonien eine Rolle zuweist und ihnen wieder einmal befiehlt, seine Sprache zu sprechen“56. Wir müssen der Tatsache Aufmerksamkeit schenken, dass über die Jahre auch der/die ‚BeherrscherIn‘ selbst sich verändert hat und mit ihm/ihr auch die Sprache seines Diskurses. Der Meisterdiskurs spricht nicht mehr von zivilisierender Mission. Zu einer Zeit, in der die Kräfte des Marktes in Form der Globalisierung über die Welt fegen, handelt der neue Wortschatz nicht davon, den/die ahnungsloseN EingeboreneN zu retten, sondern er betrifft die universale Ethik der Menschenrechte. In unserem diskursiven Widerstand tendieren wir dazu, einen hohen moralischen Anspruch geltend zu machen. Wir verwenden die Sprache des Moralismus und benutzen in unserem Vokabular Worte wie Wahrheit, Verantwortung, Schuld, die wir uns hauptsächlich durch Mission und Klosterschulerziehung angeeignet haben. Daher unser gedankliches Kreisen um das Theoretisieren darüber, wie Europa Asien und Afrika unterentwickelt hat. Der Westen, den wir jetzt ansprechen, ist mit solchem Vokabular nicht vertraut. Vor Kurzem hat uns der Westen durch seine postmodernistische Kultur gesagt, dass die Sprache der Schuld, Wahrheit und Verantwortung den heutigen multinationalen Kapitalisten, international einflussreichen Politikern, transnationalen Bankern und Militärstrategen nicht bekannt ist. Sie sprechen eine andere Sprache – die Sprache des Erfolgs, der Effizienz, der Leistung und des Profits. Die moralische Agenda hat sich weiter bewegt. Das Versagen, diese moralische Verlagerung zur Kenntnis zu nehmen, kann laut Denis Ekpo bedeuten, dass wir auf dem Holzweg sind: „Wir mögen denken, dass wir immer noch auf den Westen zielen, während wir tatsächlich aber gegen einen Schein-Westen boxen, den wir ausschließlich selbst konstruiert haben.“57
56 57
K. Satchidanandan, The Post-Colonial Questions, in: Indian Literature 175 (1996), 5-6, hier: 6. Denis Ekpo, How Africa Misunderstood the West. The Failure of Anti-Western Radicalism and Postmodernity, in: Third Text. Third World Perspectives on Contemporary Art and Culture 35 (1996), 3-13, hier: 12.
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Die andere Frage, die wir ansprechen müssen, ist die, ob wir, die einheimischen OrientalistInnen, in unseren Schriften orientalistische Tendenzen reproduzieren. Wie Ali Behdad werde auch ich von der Frage verfolgt, ob ich ein postkolonialer Orientalist bin, der die europäischen Repräsentationen des Orients in dem Raum, der von der Wissenschaft zur Verfügung gestellt wird, fortbestehen lässt. Wenn die kolonialen Konstruktionen der Vergangenheit hervorgehoben werden, können wir jeder Diskussion über den Ort eines postkolonialen Kritikers in der akademischen Welt ausweichen und auch über die Art und Weise, wie wir in ihre Machtbeziehungen verwickelt sind. Wie Ali Behdad sagt, steht kein Kritiker außerhalb der Machtbeziehungen der akademischen Welt und wir müssen „die Auswirkungen unserer kritischen Schwierigkeiten untersuchen“58. Postkolonialismus kann den Eindruck vermitteln, dass die alleinige Beschäftigung des/der Kolonisierten nach der territorialen Unabhängigkeit der Kolonialismus ist. Solch ein Postulat hat gravierende Auswirkungen. Übermäßiges Interesse am Kolonialismus kann uns dazu veranlassen, unsere Geschichten vor dem Kolonialismus zu ignorieren und auch praktisch dazu, indigene Annektierungen und Vernichtungen unserer Leute und ihrer Geschichte zu übersehen. Obwohl Postkolonialismus eine wichtige politische und kulturelle Agenda ist, haben wir mit anderen ebenso wichtigen Fragen zu kämpfen, wie z. B. Armut, Nationalismus, Kommunalismus, Kastenwesen, Patriarchat, innere Exile, die alle mit Kolonialismus verbunden sein können oder auch nicht. In unserem Eifer, eine Theorie des Widerstandes zu produzieren, können wir die Minderheiten in unseren Gesellschaften übergehen – Dalits, Frauen, Stammesangehörige und Burakumin. Wenn all denen, die in unseren Ländern unterrepräsentiert sind, subalterner Status verliehen wird, dann können wir genau den kolonisierenden Tendenzen zum Opfer gefallen sein, denen wir Widerstand zu leisten scheinen. Said hat schon vor langer Zeit „gerade […] ehemals kolonisierte Völker [vor den] Gefahren und Versuchungen ihrer Übernahme“59 gewarnt. Schließlich geht es nicht um die Frage, was mit dem glücklosen Bindestrich zu tun ist oder ob unser Projekt als kolonial oder postkolonial, modern oder postmodern gesehen wird. Wenn wir die Fragen bestimmen sollen, die Auswirkungen auf unsere Gemeinschaften und unser Volk haben, wie Wohnbedingungen, medizinische Versorgung, soziale Sicherheit, Bildung oder Heimat, werden die relevanten Fragen vielmehr damit zu tun haben, wie sie das Leben der Menschen beeinflussen, und nicht so sehr, ob der Vorschlag modern oder nicht modern, kolonial oder antikolonial ist. Die Aufgabe des Postkolonialismus besteht darin, sicherzustellen, dass die Sehnsüchte der Armen Priorität gegenüber den Interessen der Wohlhabenden haben, dass die Emanzipation der Unterdrückten Vorrang vor der Freiheit der Mächtigen hat und dass die Teilnahme der Marginalisierten Vorrang hat vor der Aufrechterhaltung eines Systems, das diese systematisch ausschließt.
58 59
Ali Behdad, Belated Travels. Orientalism in the Age of Colonial Dissolution, Cork 1994, 138. Said, Orientalismus, 36.
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Die Rolle eines postkolonialen Kritikers beschränkt sich nicht einfach auf den Umgang mit Texten oder literarische Anliegen. Postkoloniale Hermeneutik muss ein pragmatisches Engagement sein, ein Engagement, in dem Praxis nicht eine zusätzliche Option oder ein Nebenunternehmen ist, das im Anschluss an eine wohlüberlegte Dekonstruktion und Rekonstruktion der Texte in Angriff genommen wird. Vielmehr besteht dieses praxiologische Engagement schon vorm Anfang des hermeneutischen Prozesses und prägt und stellt das ganze Verfahren in Frage. Wenn wir dies vernachlässigen, können wir zu lächerlichen Figuren wie z. B. Lavatri Alltheorie werden, die in Rukun Advanis Roman Beethoven among the Cows porträtiert wird. Im längsten Kapitel des Buches mit dem Titel S/he, or A Postmodern Chapter on Gender and Identity wird Lavatri Alltheorie als eine „post-moderne Theoretikerin, Boa Dekonstruktor, Diskursanalystin, post-strukturalistische Kritikerin, feministische Historikerin der Subalternität, des Kolonialismus und Gender“ beschrieben.60 Sie ist eine indische Akademikerin in der Diaspora und bietet Kurse über „die Semiologie der Dekonstruktion und die Dekonstruktion der Semiologie“ vor randvollem Publikum an, das aus weißen Studenten besteht.61 Es besteht die Gefahr, dass wir gesehen werden, als würden wir in voller Absicht Slogans und Schlagworte als eine Form der Pose und des Machtspiels benutzen. Wie Arun Mukherjee sagt, reicht es nicht aus, den Kolonisierenden mit den „textuellen Waffen der Ironie und Parodie“ zu bekämpfen.62 Wenn wir dies tun, dann können wir, so wie Lavatri Alltheorie, berühmt werden für unsere „Spezialisierung in kompletten Blödsinn“63. Erstveröffentlichung als: R.S. Sugirtharajah, A Postcolonial Exploration of Collusion and Construction in Biblical Interpretation, in: Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, hg. v. R.S. Sugirtharajah, London 2003, 13-36.
60 61 62 63
Rukun Advani, Beethoven among the Cows, Delhi 1995, 145-146. Advani, Beethoven among the Cows, 146. Advani, Beethoven among the Cows, 19. Advani, Beethoven among the Cows, 165.
Identität – Hybridität – Diaspora Andreas Nehring/Simon Tielesch
Antikoloniale Kritik an westlichen Lesarten der Bibel hat es immer gegeben. Postkolonialität in der Theologie ist jedoch von antikolonialer Kritik insofern zu unterscheiden, als sie nach Auffassung einiger ihrer Vertreter erst dann beginnt, wenn Subjekte sich selbst in einer durch die koloniale Erfahrung ausgelösten Art und Weise des Denkens und Fühlens befinden und dies reflektieren. Das Besondere an dieser neuen Art, Theologie zu treiben, ist, dass die postkolonialen Leseweisen die Komplexität des Kontaktes zwischen Kolonisator und Kolonisierten oder Missionar und Missionierten hervorheben, und nicht in einem kolonialen, orientalistischen Paradigma gefangen bleiben, in dem die Kolonialherren die Interpretationsregeln setzen. Postkoloniale Theologie geht somit über die binäre Feststellung von Kolonisierten und Kolonisierer hinaus und legt die Betonung auf den kritischen Austausch zwischen beiden und die gegenseitige Transformation beider Positionen. Darüber hinaus ist sie auch bemüht, bestimmte Stereotypen aufzubrechen, wie die, dass die Kolonisierten unschuldig, gutmütig und ethisch unbescholten sind, wohingegen die früheren Kolonisatoren und die Neo-Kolonisatoren heute Schuld auf sich geladen haben und für alle sozialen Probleme verantwortlich gemacht werden können. R.S. Sugirtharajah betont sogar, dass derartige Stereotypisierungen Ausdruck eines invertierten Kolonialismus seien, die letztlich dazu beitrügen, die Dritte-Welt-Elite heute zu entschuldigen, indem sie die Unterdrückungsmechanismen, die im eigenen Land entstanden sind, missachteten.1 Postkoloniale Theologien versuchen daher hervorzuheben, dass die Beziehungen zwischen den Kolonisierern und den Kolonisierten oder den Missionaren und den Missionierten komplex und von Austauschprozessen geprägt sind, die sich sowohl in gegenseitigen Adaptionen, als auch in Konfrontationen niedergeschlagen haben. Gerade darin bieten Postkoloniale Theologien denjenigen, die kolonisiert worden sind, Räume, sich zu artikulieren. Postkoloniale Theologien sind interpretative Akte derjenigen, die einst unterworfen worden waren und sie artikulieren sich gerade innerhalb dieser Räume als befreiende Zurückweisung jeglicher Exklusion seitens der Marginalisierten und Subalternen. Postkoloniale Theologie zu erlernen oder zu betreiben bedeutet somit, sich auf die Wissensformen dieser Subalternen einzulassen, auf sie zu hören und das schließt auch die Bereitschaft ein, in den Archiven des Westens, in den Missionsarchiven und Kolonialarchiven nach Spuren dieser unterdrückten Wissensformen zu suchen. Es bedeutet auch, sich die Themen und Interessen derjenigen zu eigen zu machen, die unter dem Druck der Globalisierung in ihrer kulturellen Identität an den Rand gedrängt worden sind, wie 1
R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford 2002.
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Andreas Nehring/Simon Tielesch
Flüchtlinge, Migranten und in ihren natürlichen Lebensgrundlagen bedrohte indigene Völker.2 Dieses Interesse drückt sich zum Beispiel in der Rede von der ‚Option für die Ränder’ aus.3 Letztendlich ist Postkolonialismus eine Taktik, eine Praxis und ein Prozess, um Wege zu finden, wie Christen unter schwierigen neo-kolonialen Bedingungen, die die Menschen nach wie vor ent-humanisieren und unterdrücken, leben, arbeiten und agieren können. Oftmals findet man in kontextuellen Theologien heute die Tendenz, auf eine ursprüngliche, vorkoloniale Kultur zurückgreifen zu wollen, die zwar durch den Kolonialismus verdrängt oder gar zerstört worden sei, auf die sich christliche Theologie aber dennoch beziehen müsse und die zu revitalisieren sei, um der Kirche die Möglichkeit einer kulturellen Anknüpfung und Verwurzelung zu bieten. Der ursprüngliche, authentische Zustand des kollektiven Bewusstseins wird so in die Vergangenheit zurückprojiziert und Identität wird als reiner Zustand indigener Kultur begriffen, der zur Kontrastfolie für kontextuelle Theologien werden kann.4 Die hier versammelten Aufsätze zeigen, dass diese Identitätskonstruktionen mit zahlreichen Problemen belastet sind, die epistemologisch wie auch praktisch von der Theologie zu bearbeiten sind. Die Kritik an einem modernen Verständnis von Identität, das auf der Differenzlogik von ‚Eigenem’ und ‚Anderen’ aufbaut und Identitäten als feste, gegebene Größen mit klar umrissenen Grenzen ansieht, muss sich auch auf kontextuelle theologische Ansätze erstrecken, die dieses Identitätsmodell unkritisch übernehmen.5 Binäre Oppositionen wie weiß/schwarz, reich/arm, Kolonisierer/Kolonisierte, Männer/Frauen können nicht einfach perpetuiert werden, indem man, wie in der Befreiungstheologie geschehen, mit der Option für die Armen die Wertigkeiten einfach umdreht. Postkoloniale Theologien legen daher ein Augenmerk auf Identitätskonstruktionen und zeigen die in ihnen enthaltenen und oftmals verborgenen Machtinteressen auf.
2 3
4
5
Siehe dazu Robert C. Young, Postcolonialism. A very short Introduction, Oxford 2003, 114. Vergleiche zum Konzept von der „Option für die Ränder“ insbesondere Joerg Rieger (Hg.), Opting for the Margins. Postmodernity and Liberation in Christian Theology, Oxford 2003. Dieser Vorgang lässt sich kulturwissenschaftlich als die „Erfindung von Traditionen“ charakterisieren. Ein Standardwerk, das sich mit der Erfindung von Traditionen ausführlich beschäftigt, ist: Eric Hobsbawm / Terence Ranger, The Invention of Tradition, Cambridge 1992. An dieser Stelle sei auch auf den rasanten Aufstieg verwiesen, den die Rede von Identität insbesondere in den Kulturwissenschaften genommen hat. Ausgehend von dem Psychoanalytiker Erik Erikson und seinem Modell der psychosozialen Entwicklung ist Identität zu einem der Kernbegriffe der Kulturwissenschaften avanciert. Dabei ist die Rede von Identität nicht ohne philosophische Schwierigkeiten, worauf Henning Wrogemann, Interkulturelle Theologie und Hermeneutik. Grundfragen, aktuelle Beispiele, theoretische Perspektiven, Gütersloh 2012, 328f., aufmerksam macht. Vergleiche für die kulturwissenschaftliche Erschließung des Identitätsbegriffs Aleida Assmann (Hg.), Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2011.
Zweite Sektion: Identität – Hybridität – Diaspora
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Postkoloniale Theologien thematisieren nun, da binäre Oppositionen verdächtig geworden sind, die Zwischenräume des Kulturkontaktes, die hybriden Formen, die sich zwischen Eigenem und Anderem ausgebildet haben, bzw. die das Eigene überhaupt erst entstehen lassen. Der Begriff der Hybridität wurde bereits als ein Schlüsselkonzept postkolonialer Studien eingeführt und in Bezug auf seine Tragfähigkeit für Identitätskonzepte erläutert. Ein anderer Begriff für das dazugehörige Gefühl des „Da-Zwischen-Seins“ ist das Nahuatl-Wort „Nepantla“, das auf Vermischungsphänomene in der südund mittelamerikanischen Kolonialgeschichte aufmerksam macht.6 Synkretisierungen in der Religion gehören dazu ebenso wie Vermischungen der Kulturen, Aspekte, die für die Theologie und für die Reflexion der christlichen Ökumene wie des interreligiösen Dialogs von ausgesprochen hoher Bedeutung sind. Theologien, die die Zwischenräume reflektieren und entkolonisieren und damit die Interdependenzen aufzeigen, wollen sich auch verabschieden von Absicherungsstrategien, die den eigenen Bereich schützen und vom Anderen abgrenzen. Sie stehen damit in einem scharfen Kontrast zu Theologien, die sich auf die Sakralität eines bestimmten Raumes beziehen und dadurch Identität über Abgrenzung schaffen.7 Stattdessen spüren postkoloniale Theologien dem Raum, oder vielmehr dem Zwischenraum, nach, der durch das entsteht, was Deleuze und Guattari auf den Begriff des ‚Nomadismus’ als einer Gegenstrategie zur Essentialisierung von Grenzen gebracht haben.8 Die Grenzen zwischen heilig und profan sind genauso unscharf geworden, wie die zwischen christlich und nichtchristlich/heidnisch. Damit kommen neue Fragen auf nach dem, was Menschen gemeinsam haben, wo es zwischen ihnen Überschneidungen gibt und was sich tatsächlich in diesen kulturell-religiösen Zwischenräumen ausdrückt. Schließlich markieren postkoloniale Theologien auch Grenzüberschreitungen. Postkoloniale Theologien stehen in einem engen Zusammenhang zu Diaspora-Studien. Verstand man unter Diaspora zunächst entweder gewaltsame oder auch freiwillige Zerstreuung und Umsiedlung von Menschen aus ihren Heimatländern, so hat sich die politische und territoriale Frage doch sehr bald mit der kulturellen Frage nach der ’Übersetzung’ von einem Gebiet in ein anderes verbunden.9 Der Verlust der Heimat und die Suche nach einem 6 7
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9
Vergleiche dazu auch Walter D. Mignolo, Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton 2000, hier: X. Vergleiche dazu auch den Aufsatz in diesem Buch von Michael Nausner, der sich von einer patriotischen Theologie und ihrer Überschätzung des Landes distanziert und stattdessen für eine „Theologie im Niemandsland“ plädiert. Siehe dazu die knappe Einführung bei Young, Postcolonialism, 52ff.; bzw. Gilles Deleuze / Félix Guattari, 1227 – Abhandlung über Nomadologie. Die Kriegsmaschine, in: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, hg. v. dies., übers. v. Gabriele Ricke und Roland Voullié, Berlin 1992 [1980], 481–585. Der Begriff der Diaspora selbst trägt den Verweis auf biblische Spuren in sich, zumindest kann die Diaspora-Situation der Juden als Prototyp der Diaspora angeführt werden. Vergleiche dazu Fernando F. Segovia, Interpreting beyond Borders. Postcolonial Studies and and Diasporic Studies in Biblical Criticism, in: Interpreting beyond Borders, hg. v. ders., Sheffield 2000, 11-35, hier 15.
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Andreas Nehring/Simon Tielesch
neuen Ort haben nicht nur biblische Konnotationen, sondern sind geradezu zu einer Signatur postmoderner/postkolonialer Existenzweisen geworden.10 Diaspora-Studien und Diaspora-Theologie fokussieren daher nicht nur auf die Probleme territorialer Entwurzelung, sondern auch auf die theologisch relevanten Fragen kultureller Übersetzung.
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Zygmunt Baumann, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu modernen Lebensformen, Hamburg 1997.
Ränder und die sich verändernde Spatialität von Macht. Einführende Notizen Mayra Rivera Rivera
Die umfassendere Bedeutung der postmodernen Lage liegt in der Erkenntnis begründet, daß die epistemologischen „Grenzen“ dieser ethnozentrischen Ideen auch die artikulatorischen Grenzen einer Reihe anderer dissonanter, ja sogar dissidenter Geschichten und Stimmen sind – Frauen, die Kolonisierten, Minderheitengruppen, diejenigen, deren Sexualpraktiken polizeilich registriert sind. (Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur1) Der Raum imperialer Souveränität ist … glatt … [er] ist … kreuz und quer von so vielen Verwerfungen durchzogen, dass er lediglich als kontinuierlicher, einheitlicher Raum erscheint … In diesem glatten Raum des Empire gibt es keinen Ort der Macht – sie ist zugleich überall und nirgends. (Michael Hardt / Antonio Negri, Empire2) In der Einleitung zu dem Band Voices from the Margin aus dem Jahr 1991 spielt R. S. Sugirtharajah auf die Frage an, die mit der Verwendung des Wortes ‚Rand‘ aufgeworfen wird. Was meinen wir mit ‚Rändern‘? Vielleicht ist für ein Buch, das hauptsächlich Exegeten versammelt, die naheliegendste Interpretation von ‚Rändern‘ der Raum, der an den Rändern einer Seite frei von gedrucktem Text bleibt – wo wir Kommentare schreiben, die vielleicht niemals Teil ‚des Textes‘ werden können, wo wir uns als Leser und Kritiker einschreiben. In dieser Bedeutung des Begriffs ist historisch-kritische Bibelexegese per definitionem ein marginales Unterfangen. Ränder sind die einzigen Orte, an denen biblische Interpretation jemals stattfinden kann, da das Schreiben an den Rändern alles ist, was sie je getan hat. Im politischen Sprachgebrauch werden Ränder, ähnlich wie ‚Grenzen‘ oder ‚Peripherie‘, als ein an das Zentrum angrenzender, aber außerhalb des Zentrums befindlicher Raum vorgestellt – ein Zentrum, das, wie der gedruckte Text, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Die Metropole, die Körperschaft oder die Nation sind unsere typischen Vorstellungen von Zentren. So scheint es, dass politische Ränder sich so zu Zentren verhalten wie Ränder zu gedruckten Texten. 1 2
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2011, 6. Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert / Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M. / New York 2002, 202.
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Aber die Verwendbarkeit und Ordnung dieser Analogie verblasst ziemlich schnell. Die Lage und Grenzen von Machtzentren sind häufig schwerer festzulegen – oder wenigstens heftiger umstritten – als zum Beispiel die Grenzen einer beschriebenen Seite. Auf der anderen Seite werden Marginalien gelegentlich doch zum Fokus des gedruckten Buches, manchmal sogar zu den Linsen, durch die der Text interpretiert wird. Während das letztere Phänomen mit einigen Aspekten der historisch-kritischen Bibelexegese ‚von den Rändern‘ in Einklang steht, scheinen die Konnotationen von Einfachheit, Uniformität und Stabilität dieser räumlichen Metapher ein verzerrtes Bild von den komplexen Realitäten, die wir ansprechen, zu vermitteln. Zusätzlich zu diesen Verzerrungen der Textmetapher für Ränder wirft die offensichtliche Implikation von Unterordnung unter ein ursprünglicheres und bedeutendes ‚Zentrum‘ oft Fragen auf, wie jene, auf die Sugirtharajah anspielt: Wird mit dem Begriff ‚Ränder‘ die Bedeutung und Komplexität der Positionalität der in Voices from the Margin repräsentierten Stimmen nicht falsch interpretiert? Wie die postkoloniale Kritikerin Gayatri Spivak bemerkt, weist der Begriff ‚Rand‘ häufig hin auf „die Sehnsucht der Menschen, einen Rand zu finden, der lokalisierbar“ und folglich verwendbar ist.3 Ist es möglich, dass wir durch eine Festlegung unserer Position als marginal zur Illusion des Zentrums beitragen? Vielleicht ist es wahr, dass „wir alle der Idee einer Welt mit einem Zentrum viel zu viel Bedeutung beimessen“, wie Orhan Pamuk in seiner Nobelpreisrede im Jahr 2006, ‚Der Koffer meines Vaters‘, behauptete.4 Pamuk artikuliert seinen besorgten Optimismus, der gezeichnet ist vom Zorn, marginalisiert zu werden, wenn er über „Vertrauen in das Gegenteil, die Überzeugung, dass eines Tages unsere Schriften gelesen und verstanden werden, weil Menschen überall auf der Welt einander ähneln“, nachdenkt. Die Reise, die von den Narben der Marginalisierung markiert ist, die aber durch ein Vertrauen in Gemeinschaft verlockt, hat einen Wandel in seiner eigenen Erfahrung der Realität bewirkt. „Im Gegensatz zu früher ist für mich heute Istanbul das Zentrum der Welt […]“ Die Auswirkungen dieser epistemologischen Verlagerung haben globale Dimensionen. Bibelwissenschaft von den Rändern kennt den Wert der ästhetischen und epistemologischen Ziele, die Pamuk beschreibt: Schreiben, das versucht, Vorstellungen und Weltsichten zu repräsentieren, die oft abgetan werden, als würden sie nur in den begrenzten Bereichen der Gemeinschaften, aus denen sie stammen, wertvoll sein. Aber zusätzlich zur Repräsentation ignorierter Realitäten bemüht sich eine Bibelwissenschaft von den Rändern her auch herauszufordern: herrschendes Wissen und Macht zu beeinflussen. Anstelle einer Selbstdefinition unter dem Aspekt der Diskriminierung, erklärt Sugirtharajah, setzt Voices from the Margin den Begriff ‚Ränder‘ ein, um
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Gayatri Chakravorty Spivak, The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, New York / London 1990, 156. Orhan Pamuk, My Father’s Suitcase, New Yorker, 25.12.2006. übersetzt als: Orhan Pamuk, Der Koffer meines Vaters. in: ders.: Der Koffer meines Vaters. Aus dem Leben eines Schriftstellers. übers. v. Ingrid Iren / Gerhard Meier. München 2010, 722.
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Orte zu beschreiben, die „mit kritischer Energie pulsieren“5 – eine Definition, die sich auf Spivaks Werk bezieht. In diesem unverwechselbar epistemologischen Gebrauch des Begriffs werden ‚Ränder‘ mit bestimmten Formen des Handelns und Wissens assoziiert. Wie in der oben zitierten Aussage Homi Bhabhas werden ‚Ränder‘ nicht nur mit Bezug auf die Grenzen von Wissenssystemen verstanden, sondern auch in Bezug auf die Möglichkeit einer kritischen Infragestellung, welche die Anerkennung solcher epistemologischen Grenzen möglich macht. ‚Ränder‘ sind hier die Grenzen des herrschenden Wissens und die Schwellen, von denen aus es verwandelt wird – dynamische Grenzen, wo Bewegung, Verschiebungen und Kollisionen stattfinden können. Und trotzdem wird diese epistemologische Interpretation immer noch räumlich vorgestellt: Epistemologische Grenzen, wie Bhabha bemerkt, sind auch die Orte, an denen Menschen ihre dissidenten Stimmen erheben. Sie sind, wie Soja schreibt, „reale und vorgestellte“ Räume der Kritik.6 Zweifellos hat die Verwendung des Begriffs ‚Ränder‘, um auf eine Lage an den Randgebieten der ‚Machtzentren‘, aber auch auf die epistemologischen Perspektiven, die sich aus diesen Lagen ergeben, anzuspielen, als existenzfähiger Name für Räume kreativer Aktivität fungiert. Dennoch, die bedeutenden Verschiebungen in den Machtkonfigurationen, die das charakterisieren, was das ‚Postmoderne‘ oder das ‚Postkoloniale‘ genannt worden ist, haben –wie es aussieht, markiert durch eine Intensivierung der kapitalistischen Globalisierung und der offensichtlichen Schwächung der Nationalstaaten – zu wichtigen Veränderungen in räumlichen Repräsentationen von Macht geführt. Die Auswirkungen dieser kulturellen Veränderungen sind bereits im Bereich der Religionswissenschaft sichtbar. Seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe der Voices, aber besonders seit den Angriffen auf das World Trade Center und das US-amerikanische Pentagon am 11. September 2001 und den nachfolgenden von den Vereinigten Staaten in Afghanistan und Irak geführten Kriegen haben Diskussionen über heutige Machtformen stark zugenommen und mit ihnen ein zunehmendes Gefühl, dass die Welt in ein anderes historisches Zeitalter eingetreten ist. Infragestellungen begrenzter Vorstellungen von Macht, wie z. B. ‚das Zentrum‘, und die Suche nach einer Sprache, die die Allgegenwart und die verstreute Natur des heutigen ‚Empires‘ hervorhebt, sind wichtige Aspekte der entstehenden Debatten. Machtkonzeptionen haben direkte Auswirkungen auf Vorstellungen von Widerstand und folglich auf die Bedeutung des Begriffs Ränder: Er besitzt nicht nur fest verwurzelte Annahmen in Bezug auf Macht, sondern neue dominierende kulturelle Theorien über Macht können seine Bedeutung verschieben. Jorge Luis Borges eröffnet seinen Essay ‚Pascal‘ mit dieser Aussage: „Vielleicht ist universelle Geschichte die Geschichte einiger weniger Metaphern.“ Dieser Klausel folgend präsentiert er seine bekannte Untersuchung bedeutender Darstellungen Gottes als einer unheimlichen Sphäre, deren Zent-
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R. S. Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll/London 1995, 2. Edward W. Soja, Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Cambridge 1996.
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rum überall ist.7 Ich würde es nicht wagen zu versuchen, Borges nachzuahmen, aber diese Untersuchung der Ränder ist tatsächlich ein Blick in eine beharrliche Metapher, die mit einer multizentrischen Sphäre zusammenhängt. Weder biblische Interpretation noch Theologie können die Macht der Metaphern ignorieren: die Wirkungen der Symbole, die wir aus den christlichen Traditionen erhalten haben, mit denen wir uns auseinandersetzen, aber auch der kulturellen Symbole, die die Leser und Interpretationen dieser Traditionen beeinflussen. Tatsächlich konditionieren die Bilder, mit denen wir leben, unsere Erfahrungen von Macht und Widerstand sowie auch die Formen der Subjektivität und Beziehungen, die wir entwickeln können. Und umgekehrt ist die Kritik an diesen Symbolen und Bildern das Vehikel, durch das wir versuchen, repressives Wissen zu dekonstruieren und Räume für die Produktion transformativer Weltsichten zu eröffnen. Die Vorstellungen von Macht, die unser Selbstverständnis als Kritiker prägen, explizit zu machen und folglich auch unsere hermeneutischen Entscheidungen und kritischen Strategien, kann den dringend erforderlichen Dialog zwischen marginalisierten Gruppen über diese Vorstellungen fördern. Dieser Artikel stellt einmal mehr die Frage: Was meinen wir mit Rand? Wo stellen wir uns vor, selbst zu sein, wenn wir von den Rändern sprechen? Er setzt sich mit zwei jüngeren Diskussionen über die Natur der heutigen geopolitischen Macht auseinander, die die Debatte und/oder Reaktionen von Religionswissenschaftlern in den Vereinigten Staaten angeregt haben: Michael Hardts und Antonio Negris Empire und Chela Sandovals Methodology of the Oppressed. Durch eine kurze Darlegung ihrer Beschreibungen der Metamorphosen in den Machtstrukturen und den kulturellen Repräsentationen von Macht versucht dieses Kapitel, die Verbindungen zwischen den kulturellen Transformationen und der zunehmenden Ambivalenz gegenüber dem Begriff ‚Ränder‘ aufzudecken. Die Auseinandersetzung zeigt nicht nur kulturelle Verlagerungen, sondern auch alternative Interpretationen der marginalen Positionierungen. Ganz offensichtlich kann dies nicht mehr als ein einleitender Versuch sein, die Konturen einer komplexen Metapher freizulegen – und hoffentlich eine Einladung zu künftigen Diskussionen.
Empire „Der Rand selbst ist radikal verwandelt worden“, bemerkt Sugirtharajah, wenn er auf den Kontext der 1991 erschienenen Ausgabe der Voices from the Margin zurückschaut. Der Rand ist ‚überfüllt‘ und ‚kompliziert‘ geworden, durchdrungen von ‚Fanatismus und Fundamentalismus‘.8 ‚Atomisierung‘ und ‚Fragmentierung‘ charakterisieren die theologische Produktion, da postkolo7
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Jorge Luis Borges, La Esfera de Pascal, in: Obras Completas, Barcelona 1996, 14-16. übersetzt als: Jorge Luis Borges, Pascal, in: Gesammelte Werke Band 5/II. Essays 1952-1979, hg. v. Curt Meyer-Clason / Gisbert Haefs, München u.a. 1981, 105-113. Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin, 3.
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niale und diasporische Hermeneutik sich als alternative Strategien für befreiungstheologische Interpretationen zu entwickeln beginnen.9 All dies sind erkennbare Symptome der ‚postmodernen Situation‘, die der heutigen Kultur im Allgemeinen in wachsendem Maß zugeschrieben werden. Aber was lassen diese Symptome über die Struktur der Macht erkennen und wie beeinflussen sie die Möglichkeiten für Kritiken von den Rändern? Um diese Fragen anzusprechen, müssen wir über die sich verändernde Räumlichkeit der postmodernen Zeit nachdenken. Begriffe wie Fragmentierung, Zerstreuung, Hybridität und Ambivalenz, um nur einige wenige zu nennen, sind zu Standardschlagworten der postmodernen Kultur geworden – beschrieben als wahrnehmbare Auswirkungen bedeutender Veränderungen in der Struktur und Natur der Macht, die die heutige Welt kennzeichnet. Diese Veränderungen markieren den Anbruch der letzten Phase in einer zunehmend üblichen Periodisierung der Geschichte in Bezug darauf, wie Macht wahrgenommen und erfahren wird. In der vormodernen Zeit, so lautet die Geschichte, war die Organisation von Gesellschaften von einer Berufung auf außerweltliche Prinzipien abhängig, auf deren Basis Menschen oder Gruppen vorherbestimmte Ebenen in der hierarchischen Struktur des Lebens zugewiesen wurden. Gesellschaften waren hierarchisch organisiert. Die außerweltliche, außerhalb der Zeit liegende Grundlage von Machtstrukturen wurde dann durch weltliche Faktoren wie geografische Lage, biologische Eigenschaften etc. ersetzt und in Bezug auf Tiefe und nicht so sehr auf Höhe dargestellt. Dieses moderne Vertrauen in Tiefe zur Konzeptualisierung der Gründe für die Verteilung von Macht und Ressourcen unterstützte kolonialistische Projekte, aber auch die nationalistischen Kämpfe gegen diese Projekte; rassistische Ideologien sowie auch viele der anti-rassistischen Strategien der Moderne. In neuerer Zeit stellen neue Modelle zur Beschreibung der Machtverteilung überall auf der Welt die Moderne in Frage: Die stabile räumliche Grundlage moderner Ideologien wird durch eine eingeebnete und bewegliche Ebene der Differenzen ersetzt. Ohne die vormoderne Berufung auf außerweltliche Höhen oder die moderne Berufung auf natürliche Tiefe ist die postmoderne Machtfiguration folglich in erster Linie horizontal, wie dies die Vorstellungen von Rändern und Zentren andeuten. Die enthusiastische wissenschaftliche Rezeption und die interdisziplinären Diskussionen der Arbeiten von Michael Hardt und Antonio Negri, Empire und Multitude, zeigen die wahrgenommene Notwendigkeit neuer Modelle für das Verständnis von geopolitischer Macht und Widerstand. Wissenschaftler scheinen Hardts und Negris (quasi-apokalyptischer) Betrachtung zuzustimmen oder zumindest von dieser provoziert zu werden: „Wir können bereits erkennen, dass die Zeit heute gespalten ist zwischen einer Gegenwart, die schon tot ist, und einer Zukunft, die bereits lebt - und der Abgrund, der zwischen diesen beiden klafft, wird immer größer.“10 In ihren Büchern versuchen Hardt und Negri, eine Kartographie der neuen imperialen Mächte und eine Vision des Widerstandes in ihrer Mitte anzubieten. Empire – Hardts und 9 10
Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin, 4. Michael Hardt / Antonio Negri, Multitude, Krieg und Demokratie im Empire, übers. v. Thomas Atzert / Andreas Wirthenson, Frankfurt a. M. 2004, 393.
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Negris Begriff für diese globale dominierende Kraft – reflektiert die postmodernen Verlagerungen zur horizontalen Konzeptualisierung von Macht, auf die ich zuvor angespielt habe, tatsächlich als eine ‚Deterritorialisierung‘ der Herrschaft – und vermeidet ein Nostalgiegefühl für die Moderne, während gleichzeitig das subversive Potential postmoderner und besonders postkolonialer Formen der Kritik abgelehnt wird. Von besonderem Interesse für diese Untersuchung der Ränder ist Hardts und Negris Analyse der Trennung von innen/außen in modernen politischen und philosophischen Diskursen. Moderner Imperialismus entstand Hand in Hand mit Kolonialismus und Expansionismus. Folglich ist moderne Herrschaft inhärent mit Raum verbunden, argumentieren Hardt und Negri, und ist als eine Krise zwischen inneren und äußeren Räumen vorgestellt worden. Der begrenzte Raum der staatsbürgerlichen Ordnung wurde den ‚Naturgesellschaften‘ oder den ‚primitiven‘ Gesellschaften entgegengestellt und verlagerte diese nach außen, und Modernisierung wurde als die ‚Internalisierung des Äußeren‘, als ‚Zivilisierung der Natur‘ vorgestellt.11 Entwicklung und Fortschritt wurden als Bewegungen gegen die Grenzen, die das Innere vom Äußeren trennen, repräsentiert. Auch Modelle für Widerstand und Befreiung verließen sich – und verlassen sich oft noch immer – auf das Bild einer Grenze zwischen inneren und äußeren Räumen. In manchen Fällen wurden ausgeschlossene Subjekte oder Gruppen so dargestellt, als würden sie ihr Recht fordern, in die Sphären der Macht einbezogen zu werden. In anderen Fällen – z. B. in nationalistischen Diskursen – wurde die Grenzlinie als eine schützende Mauer verstanden, eine Barriere, die dem Vormarsch repressiver Macht gegen die Rechte von Individuen oder Nationen nicht nachgeben würde. Empire argumentiert, dass die Innen/Außen-Beziehung nicht länger die hauptsächliche, bestimmende Spannung der Vormachtstellung repräsentiert, da die ‚Außenseite‘ nicht mehr für „ursprünglich und unabhängig von der Vorrichtung der bürgerlichen Ordnung“ gehalten wird.12 „Es gibt keine Außenseite mehr“, behaupten sie unverblümt.13 Gewiss zieht das Verschwinden der ‚Außenseite‘ nicht den Tod der Herrschaft und ihrer ausbeuterischen Maschinerie nach sich, sondern vielmehr die Internalisierung zuvor geschützter Bereiche in das Kraftfeld des Empires. Nichts liegt außerhalb der Reichweite des Empires. Postmoderne Macht kann folglich als die Ausdehnung des Einflussbereichs des Empires nicht nur bis zum Ende seiner früheren geografischen/räumlichen Grenzen gesehen werden. Wir erfahren, wie Zygmunt Bauman schreibt, „die Vernichtung der Schutzfunktion des Raumes“.14 Denn zusätzlich zu seiner räumlichen Ausdehnung der geographischen Grenzen übertritt das Empire seine „inneren“ Grenzen: die Grenzlinien, die private Räume, den Körper und das Individuum schützten. Da öffentliche Sphären privatisiert und individuelles Verlangen kommodifiziert 11 12 13 14
Hardt / Negri, Empire, 199. Hardt / Negri, Empire, 187. Hardt / Negri, Empire, 198. Zygmunt Bauman, Living and Dying in the Planetary Frontier-Land, in: Tikkun 17 (2002), 42.
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werden, scheint das Empire die Fähigkeit zu haben, selbst in körperliche Grenzen einzudringen. Folglich haben für manche Theoretiker der Postmoderne räumliche Konfigurationen ihre frühere Bedeutung verloren: Dies ist „das symbolische Ende der Ära des Raumes“, behauptet Bauman.15 Die Aufnahme in das Empire bringt jedoch keine Demokratisierung über Differenzen hinweg mit sich. Stattdessen werden Differenzen ‚unterschiedlich‘ einbezogen – d. h. in Bezug auf einen Standard festgelegt, und Formen der Ausgrenzung und Trennung werden erzeugt. Was diese Muster von modernen Hierarchien unterscheidet – z. B. denen, die auf Rasse gründen – ist, dass Differenzen nicht mehr die Stabilität biologischer Grundlagen zugeschrieben wird. Da Kultur Biologie als Basis von Differenzen ersetzt, werden Differenzen als ‚immer etwas Zufälliges‘ gesehen, als Folge von sozialen und/oder kulturellen Faktoren.16 Die Prozesse der ‚unterschiedlichen Einbeziehung‘ stellen jedoch den Ausbau anhaltender und wirksamer Machthierarchien sicher. „Unterordnung wird in Alltagsregimen praktiziert, die beweglicher und flexibler sind, aber zugleich Rassenhierarchien schafft, die trotzdem stabil und brutal sind.“17 Formen unterschiedlicher Inklusion sind seit Langem von den hybriden Subjekten der modernen Empires erfahren, analysiert und unterwandert worden – eine Tatsache, die Hardt und Negri in ihrer Diskussion auslassen, wie weiter unten erklärt werden wird. Ihre Beschreibung signalisiert vielleicht nicht die Entstehung, sicherlich aber die starke Zunahme der Auswirkungen von Rassenideologien, die mit den stabileren modernen koexistierten. Es ist nach wie vor wichtig, sich diese starke Zunahme bewusst zu machen, um Theorien über zeitgenössische Ränder aufzustellen, da – in Anbetracht der Tatsache, dass die Relativierung der Grundlagen für eine Marginalisierung, die auf Identitätskategorien basiert, als die Eröffnung von Möglichkeiten für eine gleichberechtigte Einbeziehung, um die marginalisierte Gruppen kämpfen, erscheinen könnte – Hardts und Negris Analyse neue Tendenzen in der dominierenden Kultur identifiziert, alte Hierarchien auf neuen Fundamenten wiederherzustellen. Statt der Eliminierung von Ausgrenzung bringt die Postmoderne eine Generalisierung von Problematiken mit sich, die früher auf die Bedingungen der Marginalität beschränkt waren. Anstatt als territorial organisierte Strukturen wird Macht so verstanden, als würde sie mit hoher Geschwindigkeit durch grenzenlose, sich auffächernde Netzwerke reisen, die sämtliche Beziehungsebenen umfassen und überall Grenzen und Hierarchien errichten und diese überschreiten. „Von so vielen Spannungslinien durchzogen“ kann das Empire als ein reibungsloser Ort erscheinen, aber es steckt voller Konflikte. Kämpfe scheinen sich auch entlang horizontaler Netzwerke zu bewegen, die nationale Grenzen durchbrechen und sich in und über geographische Regionen verzweigen. Macht „ist zugleich überall und nirgends“. Die Ränder, könnte man sagen, sind überall.18 15 16 17 18
Bauman, Living and Dying, 33. Hardt / Negri, Empire, 194. Hardt / Negri, Empire, 206. Hardt / Negri, Empire, 202.
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Es ist jedoch äußerst wichtig, diese Generalisierung der Postmoderne nicht bis zu dem Punkt zu übertreiben, an dem andere Räume mit radikal unterschiedlichen Existenzformen a priori verneint würden. Denn ein solch allumfassender ideologischer Apparat kann den anderen in der Tat unrepräsentierbar machen. So besteht Spivak darauf, dass wir uns nicht blind machen sollen für die Präsenz des realen Anderen: diejenigen, die immer noch außerhalb selbst dieser Netzwerke der kapitalistischen Ökonomie sind, diejenigen, die immer noch nicht sprechen können.19 Tatsächlich, zu beanspruchen, ‚am Rand zu sein‘, indem Rand als etwas vorgestellt wird, das sich völlig außerhalb der Kraftfelder des Empires befindet, kann zur Auslöschung der Subjekte jenseits der Netzwerke der Macht beitragen. Manche mögen argumentieren, dass solche Subjekte nicht existieren: dass es buchstäblich nichts außerhalb des Empires gibt. Ich frage mich jedoch, ob solch eine Ideologie, anstatt ihre Abwesenheit zu repräsentieren, nicht vielmehr die Repräsentation ihrer Existenz unmöglich macht. Wie kann an die anderen gedacht werden ohne einen Raum für ihre Repräsentation? Vielleicht gehört die Überzeugung, dass dort draußen niemand ist, zum Ausradieren der Subalternen. Obwohl sie die Notwendigkeit behaupten, einen imaginären Raum für den anderen zu öffnen – vielleicht sogar außerhalb des Empires –, sollten die sich selbst als ‚marginal‘ bezeichnenden Theologen und Exegeten sich nicht vorstellen, dass sie selbst jenen Raum einnehmen. Wir können sprechen und wir tun dies. Wir gehören zu den Netzwerken der Macht, die Hardt und Negri beschreiben. Die Ränder, an denen wir stehen, sind schon innerhalb des Empires – durchzogen von dessen Netzwerken der Macht. Innerhalb des Empires hat das Innen/Außen seine Bedeutung verloren, da „alle Orte zu einem allgemeinen ‚Nicht-Ort‘ zusammengefasst worden sind“, wie Hardt und Negri argumentieren.20 Als Folge dieser Generalisierung des Ortes und folglich der Verortung scheinen sich Figurationen der Ränder zu zerstreuen. Obwohl die in der Metapher der Ränder implizite horizontale Darstellung von Konflikt erkennbar postmodern ist, scheinen ihre unvermeidlichen Assoziationen mit Zentren in einer Kultur unangebracht zu sein, die sich Macht als überall und nirgends vorstellt. Nicht nur wird Macht nicht länger so verstanden, als würde sie aus einer zentralisierten Quelle fließen, sondern Marginalisierungsprozesse und Formen des Widerstands sind vielschichtig angelegt. Eine wahrgenommene Zunahme der Allgegenwart der Macht verlangt nach Konzeptualisierungen des Widerstandes, nicht in Form von externen Effekten, sondern als alternative Wege, das Empire zu bewohnen. Orte des Widerstands, die nicht als außerhalb einheitlicher Zentren lokalisiert dargestellt werden, sondern komplex und unrein im Inneren. Mitten in den komplexen Netzwerken von Macht und Konflikt des Empires werden Widerstand und alternative Ausdrucksräume erzeugt. Dies sind die Räume, auf die sich Homi Bhabha in der Aussage bezieht, die diese Untersuchung eröffnet. Die Äußerungsgrenzen, die von dissidenten Stimmen beschrieben werden, verlaufen durch das gesamte Empire und erzeugen 19 20
Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge 1999. Hardt / Negri, Empire, 353.
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‚echte und vorgestellte‘ Orte der Auseinandersetzung und Koalition. Diese Orte werden nicht mit einem imaginären Zentrum oder einem Raum außerhalb davon gleichgesetzt: Es ist weder das ‚Innen‘ noch das ‚Außen‘ moderner Herrschaft, wie Hardt und Negri dies beschreiben. Nicht weil die heutige Welt ohne ‚reale und vorgestellte‘ Orte der Ausgrenzung ist, sondern weil der Rand als ein Ort der Kritik einen ‚dritten Raum‘ eröffnet, der etwas anders ist als jede der von den herrschenden Mächten eingesetzten Kategorien. Dieser dritte Raum ist nicht bloß metaphorisch, da er wichtige Orte der Auseinandersetzung erzeugt – wie dieses Buch.
Die Multidimensionalität von Macht In ihrem Buch Methodology of the Oppressed, das im selben Jahr wie Empire veröffentlicht wurde, versucht Chela Sandoval Widerstandsformen zu entdecken, die die Anstrengungen, einen „dissidenten und koalisierenden Kosmopolitismus“ in postmodernen Zeiten zu entwickeln, unterstützen können. Wie Hardt und Negri argumentiert Sandoval, dass die Veränderungen in der Machtdynamik, die die postmodernen Zeiten charakterisieren und die alle Bereiche des heutigen Lebens betreffen, neue Formen des Widerstands erfordern. Aber die Situationen, mit denen man konfrontiert ist, sind nicht völlig neu. Die postmoderne Kondition, so argumentiert Sandoval, verdeutlicht die Verbreitung von zahlreichen Belastungen, denen unterdrückte Gruppen seit Langem ausgesetzt sind. Wie Bhabha erklärt, sind die epistemologischen Grenzen der dominierenden Ideologien schon seit Langem für diejenigen an der ‚Unterseite‘ der Moderne sichtbar gewesen: so wie für die Nachkommen der früheren Kolonien. Tatsächlich haben koloniale Begegnungen die „Verhandlungen differentieller Bedeutungen und Werte“, „staatliche[n] Diskurse und kulturelle[n] Praktiken schon avant la lettre viele der Problemstellungen von Signifikation und Urteil vorweggenommen […], die in der zeitgenössischen Theorie zum Thema geworden sind“.21 Die frühe Geschichte der postmodernen Kritik wurde jenseits der geographischen Grenzen der Metropole geschrieben. Walter Mignolo nennt den epistemologischen Überschuss, der aus diesen Erfahrungen fließt, ‚border thinking‘.22 Und es ist genau dieses ‚Grenzdenken‘, in dem Sandoval Ressourcen postmoderner Formen des Widerstands findet: in den Methoden und Formen des Bewusstseinseins, die von unterdrückten Gruppen entwickelt worden sind, die unter den modernen Strukturen der Macht – Kolonisierung, Eroberung, Versklavung und Herrschaft – leben. „Die unter vorausgegangenen und modernistischen Bedingungen der Enteignung und Kolonialisierung entwickelten Fertigkeiten, Wahrnehmungen, Theorien und Methoden sind die effizientesten und differenziertesten Mittel, mit denen alle Völ21 22
Bhabha, Die Verortung der Kultur, 258. Walter D. Mignolo, Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton 2000.
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ker, die als Insider-Outsider in der Rationalität der postmodernen sozialen Ordnung verfangen sind, dem Bewusstsein entgegentreten und es in neue Formen der Staatsbürgerschaft/Subjektivität re-textualisieren können“, argumentiert Sandoval.23
Mit anderen Worten, es handelt sich um Methodologien der Unterdrückten, die für die Bedingungen des Empires geeignet sind. Durch ein eingehendes Lesen von Frederic Jamesons Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus folgt Sandoval seiner Beschreibung der ‚postmodernen Kondition‘ (Lyotard) und den Herausforderungen, die diese für Widerstand mit sich bringt. Obwohl sie Jamesons Beschreibung der postmodernen Kultur zustimmt, deckt Sandoval sein Versäumnis auf, die Verbindungen zwischen der Angst der postmodernen Subjekte und den Lebensbedingungen unterdrückter Gruppen unter modernen Formen der Macht zu erkennen. Eine kritische Untersuchung der sich verändernden Konturen unserer heutigen Welt beinhaltet eine Analyse sowohl der neuen sozio-politischen Bedingungen als auch des Imaginären, in denen diese Realitäten repräsentiert werden. Sandoval hält die Spannung zwischen der Darstellung des Postmodernen als Charakterisierung einer neuen historischen Realität und ihres Einsatzes als einem ideologischen Konstrukt im Blick. Damit hebt sie die Notwendigkeit hervor, die Kraft ihrer Metaphern zu berücksichtigen: die Auswirkungen dieser deskriptiven Machtmodelle auf die tatsächlichen Erfahrungen von Macht. Da sie bedeutende Veränderungen in zeitgenössischen Herrschaftskonfigurationen erkennt, warnt Sandoval auch vor den Gefahren einer unproblematisierten fantasievollen Verschiebung vom Vertikalen zum Horizontalen und der sich daraus ergebenden Auslöschung der vertikalen/hierarchischen Achsen in den Machtbeschreibungen. Die ausschließlich horizontale Dimensionalität von Darstellungen von Macht verdeckt ebenso sehr wie sie enthüllt. Die postmoderne „Rückübersetzung von Differenzen erlaubt es, hierarchische und materielle Unterschiede in den Machtbeziehung zwischen Menschen aus dem Bewusstsein zu löschen“, da Differenzen so vorgestellt werden, als hätten sie gleiche Möglichkeiten, ein horizontal ausgerichtetes Raster der Macht anzuzapfen, selbst dann, wenn die ökonomischen und sozialen Machtungleichgewichte verstärkt werden.24 Sich z. B. vorzustellen, dass Macht über ein Raster zugänglich ist, das auf Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung etc. basiert, kann den Eindruck vermitteln, dass diese Differenzen jetzt auf einer gleichen Ebene in Bezug auf Macht stehen, wie dies oft in der Propaganda des Multikulturalismus ausgedrückt wird. Diese Ideologie geht von unterschiedlichen Gruppen aus, die von äquivalenten, aber räumlich unterschiedlichen Positionen in einen Dialog oder Konflikt eintreten. Hardt und Negri bestreiten diese Annahme einer Gleichheit über Differenzen hinweg, wenn sie bemerken, dass Differenzen immer unterschiedlich einbezogen werden, wie wir zuvor schon gesehen haben. Aber Sandoval geht es um die Verwirklichung dieser ideologischen 23 24
Chela Sandoval, Methodology of the Oppressed. Theory Out of Bounds, Minneapolis/London 2000, 36. Sandoval, Methodology of the Oppressed, 74.
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Annahme in eben den Institutionen des Wissens, aus denen heraus wir sprechen. Religionsgelehrte sind nicht von den Auswirkungen dieser Denkart ausgenommen: Wir bewohnen wissenschaftliche Orte, die das Modell einer abgeflachten Ebene separater Differenzen in die Spatialisierung der akademischen Felder gemäß dieser Identitätskategorien einschreiben. Postmoderne Auffassungen von Macht bringen ihre eigenen Formen von Beziehungen und Feindseligkeiten hervor, nicht zuletzt entlang von Identitätskategorien. Postmoderne Macht wird nicht ausschließlich als einfach horizontal gedeutet werden. Anstelle von zweidimensionalen Machtkartographien müssen wir uns vielmehr Machttopografien vorstellen, da das, was die metaphorische Herrschaft von horizontalen über hierarchische Machtgeometrien erzeugt, „eine Art doppelter Realität ist … mit neuen und alten Formationen, die alle gleichzeitig wirken“.25 Wenn wir bestimmte Kontexte näher betrachten, können wir die wechselseitigen Überlappungen und die Wechselwirkung zwischen Fernkräften der Einflussnahme und der Schaffung von Hierarchien, Grenzen und Ausgrenzung sehen. Ich würde weiter argumentieren, dass Hardts und Negris Beschreibung postmoderner Räumlichkeit als einem generellen Nicht-Ort durch eine Beschreibung der gleichzeitigen ökologischen Krise ergänzt (oder von dieser unterbrochen) werden muss, welche, während sie tatsächlich globale Antworten erfordert, die materiellen Unmöglichkeiten einer ortlosen Existenz erkennen lässt. Denn das immer lautere Geschrei über globale Erwärmung bringt den nicht reduzierbaren und unersetzbaren Charakter des Ortes, die unerlässliche Spezifizität von Umgebungen zum Ausdruck. Während daher postmoderne Ideologien nichts außerhalb ihres legitimen Bereiches lassen und Mobilität über Fundierung erheben, tun sie dies, indem sie die Gefahr eines ökologischen Kollapses aus dem Bewusstsein löschen. Selbst wenn wir moderne Konzeptualisierungen des Raumes und seine Formen der Territorialisierung in Frage stellen, sollten die räumlichen Dimensionen unseres postmodernen Lebens im Blick bleiben. Spivak widersetzt sich der metaphorischen Auslöschung des ökologischen Ortes in Diskursen über Globalisierung und schlägt vor, „den Planeten den Globus überschreiben zu lassen“.26 Für jemanden, dessen Muttersprache Spanisch ist, wo Erde, Erdreich und Heimat ein gemeinsames Substantiv teilen, bringen Spivaks Anspielungen auf den Planeten die Analyse zurück zur Stofflichkeit der tierra. Globalisierung, erklärt sie, „ist die allseitige Einführung desselben Systems des Austausches. Im Rasterwerk des elektronischen Kapitals verwirklichen wir den mit Breiten- und Längengraden bedeckten abstrakten Ball, der von virtuellen Linien durchschnitten wird, früher der Äquator und die Tropen u. s. w. … Der Globus ist in unseren Computern. Niemand lebt dort“. Im Gegensatz dazu „existiert [der] Planet in der Spezies der Alterität und gehört zu einem anderen System; und dennoch bewohnen wir ihn als Leihgabe“.27 Ich habe die theologischen Implikationen dieser
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Sandoval, Methodology of the Oppressed, 74. Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2003, 72. Spivak, Death of a Discipline, 72.
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Aussagen radikaler Alterität an anderer Stelle untersucht.28 Was mich hier interessiert, ist die Notwendigkeit einer kritischen Distanzierung von den geläufigen Metaphern des Empires hervorzuheben und auch zu untersuchen, wie die Netzwerke von Macht und Repräsentation die nichtmenschliche Welt beeinflussen und doch dazu neigen, ihre Abhängigkeit von der nichtmenschlichen Welt zu vertuschen; Formen der Kritik zu entwickeln, die auf bedeutende politische und kulturelle Veränderungen eingestellt sind, die sich auf unsere Zeit auswirken, während ein Vermeiden der homogenisierenden Kraft des Meta-Theoretisierens einen dritten Raum der Kritik erfordert, der nicht ohne Bezug zum unterschiedlichen Bewusstsein ist, das Sandoval analysiert. Der ‚dritte Raum‘ der Kritik ist niemals frei von den Auswirkungen des Empires, und ihre Figurationen werden dies dadurch widerspiegeln, dass sie dissidente Subjekte nicht außerhalb, sondern „differentiell innerhalb der Macht“ repräsentieren. Die räumlichen Machtrekonfigurationen, die ich beschreibe – als Netzwerke, die nicht nur überall auf dem Planeten verlaufen, sondern die auch alle Grenzen durchbrechen, einschließlich der psychischen und physischen – rufen tiefgreifende Veränderungen in der Art und Weise hervor, wie Macht erfahren wird. Und Veränderungen in den Erfahrungen von Macht können nur in Formen von Subjektivität verwandelt werden, die tatsächlich in eben der Form des westlichen Bewusstseins produziert werden. „Der strategische Gegner in postmodernen Zeiten ist unsere eigene Auffassung vom Selbst geworden … der größte Feind, der uns in unserer eigenen Zeit gegenübersteht, hat den Körper jedes Staatsbürger-Subjektes infiltriert.“29 Das postmoderne Interesse am sogenannten ‚Tod des Subjektes‘ geht aus den von den modernen Identitäts- und Herkunftsideologien bereitgestellten Disjunktionen zwischen den stabilen Fundamenten und den neuen Macht- und Autoritätskonfigurationen hervor. Die Infragestellungen von Subjektivitäten, die sich mitten in unsicheren Beziehungen zur Macht bilden, multiple und widersprüchliche Forderungen und Allianzen haben schon seit Langem Auswirkungen auf unterdrückte Gruppen gehabt. Für Mitglieder subalterner Gruppen bringt Widerstand die Entwicklung von Formen der Subjektivität mit sich, die sich von denen unterscheiden, mit denen sie andere dominierende Gruppen belegen. Implizit in dieser Ablehnung des zugewiesenen Ortes der Identität ist eine Konzeptualisierung von Subjektivität als Selbst-Positionierung. Als ein Zuordnungsprozess erfordern Identitätsansprüche ständig neue Einschätzungen der Machttopographien und der Widerstandsmöglichkeiten als Grundlagen für eine strategische und provisorische Auswahl. Die Formen von Subjektivität, die sich aus diesen Prozessen ergeben, sind per Definition flexibel. Der Tod des egozentrischen, stabilen Subjekts wird in diesem Kontext als ein Zerbrechen eines Mythos wahrgenommen. Der Einsatz von Subjektivität als Positionierung ist ausgeprägter bei Subjekten, die in Bezug auf multiple Identifikations- und Differenzierungsachsen geprägt werden. So wendet sich Sandoval für Beispiele moderner 28 29
Mayra Rivera, The Touch of Transcendence. A Postcolonial Theology of God, Louisville 2007. Sandoval, Methodology of the Oppressed, 164.
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Subjekte, die mit den ‚postmodernen‘ Schwierigkeiten konfrontiert waren und effektive Widerstandsmethoden entwickelten, welche die Bedürfnisse zeitgenössischer unterdrückter Gruppen artikulieren konnten, an farbige USamerikanische Feministinnen. Obwohl sie innerhalb der scheinbar stabilen Definitionen der ‚sozialen Verortung‘ modernistischer Haltungen arbeiten, haben einige Subjekte solche Verortungen immer als gegensätzliche Räume erfahren, wo komplexe Netzwerke der Macht jeden zur Verfügung stehenden Raum der Selbstdefinition durchziehen. Für solche Agenten beinhaltete die Wahl einer Position – selbst eines Randes –, dass andere Achsen der Macht und Unterordnung verbaut waren. Dies ist ein bekannter Anspruch, aber Diskussionen dieser im Widerspruch stehenden Haltungen werden zu oft auf bloße (ethnographische) Beschreibungen einer Kategorie innerhalb einer Kategorie reduziert und zeigen bestenfalls die Notwendigkeit noch einer weiteren Kategorie der Identität/Verortung. Dies ist z. B. in den meisten der vorherrschenden Interpretationen der Kategorie der Mestizaje der Fall gewesen, die gewöhnlich als eine Auswahl von ‚Rassen‘ verstanden wird. Und doch, was Sandoval (einmal mehr) betont, ist die kritische Einsicht – der epistemologische Überschuss‘, wenn man so will –, dass solche Positionierungen funktionieren. Was die bekannten hybriden und andere postkoloniale Charaktere, wie z. B. die Schwulen, Mestizinnen und Mulatten etc., anbieten, ist eine Kritik und ein alternatives Verständnis von Subjektivität unter vielfältigen, variablen und multidimensionalen Kraftfeldern von Macht und Loyalität. Hardt und Negri lesen postmoderne und postkoloniale Theorien als „Symptome des Übergangs“ zwischen moderner Herrschaft und postmodernem Imperialismus. Dies drückt sich, argumentieren sie, durch die hartnäckige postkoloniale Kritik an modernistischen Herrschaftsformen aus – Formen, die sich schon in Empire verwandelt haben. In der Tat argumentieren sie, dass das Empire durch eben die Formen der Subjektivität funktioniert, die von postkolonialen Theoretikern ‚gefeiert‘ werden. „Differenz, Hybridität und Mobilität an sich sind nicht befreiend“, argumentieren sie.30 Einverstanden – und die Hauptvertreter postkolonialer Theorie würden dem auch zustimmen. In der Tat ignoriert die Charakterisierung postkolonialer Theorie als ‚Feier‘ die beständige Aufmerksamkeit auf die Dynamik von Herrschaft, aus der diese Formen der Subjektivität entstehen. Außerdem ist das, was Sandoval in diesen Formen der Subjektivität findet, keine überspannende Formel für Befreiung, sondern für Praktiken und Formen der Subjektivität, die aus dissidenten Wegen, diese Welten zu bewohnen, die ‚von Verwerfungslinien‘ der Macht und des Konflikts ‚durchzogen sind‘, entstanden sind. Wo Hardt und Negri dazu neigen, postkoloniale Strategien abzutun, erkennt Sandoval diese als Möglichkeiten, Widerstand innerhalb der multidimensionalen Topografie des Empires zu ermöglichen. Die von den unterdrückten Subjekten eingesetzten dissidenten Methodologien, die Sandoval „differentielle Bewusstseinsform“ nennt, bieten ein alternatives Feld, von dem aus Widerstandsstrategien entwickelt werden können. Diese Methodologie gibt die Widerstandsstrategien, die gegen mo30
Hardt / Negri, Empire, 168.
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dernistische Machtformen benutzt werden, nicht auf, sondern gründet sie auf einer unterschiedlichen Positionierung, tatsächlich auf einem unterschiedlichen Bewusstsein. Unter früheren Machtformen, argumentiert Sandoval, beinhalteten die gewöhnlichsten Formen oppositionellen Bewusstseins: gleiche Rechte (‚liberal‘, ‚integrationistisch‘), Revolutionäre (‚sozialistisch‘, ‚aufständisch‘), Suprematisten (‚kultur-nationalistisch‘) und Separatisten. All diese waren in Befreiungsbewegungen enthalten. Jedoch haben zeitgenössische Erfahrungen von Macht die Fundamente, auf denen diese gewöhnlich gründeten, durcheinandergebracht, und folglich erfordern zeitgenössische Ansätze einen ‚mobilen Austausch‘ zwischen unterschiedlichen Machtkonzeptionen. Widerstand erfordert, dass Subjekte früher akzeptierte Formen der Subjektivität dekonstruieren „[um] Identität als eine politische Taktik zu mobilisieren“.31 Dies ist eine tiefgreifende Verwandlung –, die Sandoval passend, mit einer leicht theologischen Note, als eine „von Prinzipen geleitete Konversion“ bezeichnet.32 Die unterschiedliche Bewusstseinsform erlaubt es Subjekten, sich zwischen ideologischen Positionierungen zu bewegen, Wechselbeziehungen und Disjunktionen einzuschätzen. Sie bringt Handeln und ein performatives Subjektivitätsverständnis mit sich. Auch wenn sie die Fundamente, auf denen die modernistischen Widerstandsformen (und viele liberationistische) basierten, unterminiert, ist die unterschiedliche Bewusstseinsform fähig, so schlägt Sandoval vor, frühere Widerstandsformen einzusetzen. „Wenn sie in einer dialektischen Beziehung zueinander und nicht als separate Ideologien inszeniert werden, verwandelt sich jede oppositionelle Bewusstseinsform, jede Ideologie-Praxis in taktische Waffen zur Intervention in sich verändernden Machtströmungen.“33
Die Inanspruchnahme einer Identitätskategorie – oder z. B. des Randes – zieht nicht die Annahme eines stabilen Zentrums oder eines als außerhalb oder ursprünglich vorgestellten Randes nach sich. Noch geht sie von einer teleologischen Bewegung in Richtung auf ein Zentrum aus. Stattdessen führt sie zu Subjektivitätskonzeptionen als ‚taktisch‘, „mit der Fähigkeit, zu deund re-zentrieren“.34
Schlussgedanken Der Einsatz multipler, scheinbar widersprüchlicher kritischer Strategien ist vielleicht einer der Faktoren hinter den unerträglich voneinander abweichenden Ansätzen in der zeitgenössischen Bibelwissenschaft. Der ‚dritte Raum‘ der biblischen Interpretation wird zunehmend von Interpretationsperspektiven bevölkert, die explizit auf den von postmoderner und postkolonialer 31 32 33 34
Sandoval, Methodology of the Oppressed, 144. Sandoval, Methodology of the Oppressed, 62. Sandoval, Methodology of the Oppressed, 58. Sandoval, Methodology of the Oppressed, 59.
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Theorie bevorzugten Formen von Subjektivität basieren: diasporische Hermeneutik, postkoloniales Interpretieren und andere Formen des Grenzdenkens. Diese Arten des Lesens stehen Seite an Seite mit Interpretationen, die auf modernen Widerstandsformen basieren, wie Befreiung und Identitätspolitik. Eine unterschiedliche Bewusstseinsform hebt die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Beurteilung der Machttopografie hervor, auf die jede Kritik reagiert. Sie setzt jedoch nicht ihr notwendiges Zusammenlaufen in ein einziges strategisches Modell voraus oder aber eine unidirektionale Bewegung in Richtung auf ein Zentrum. Aber die Schwierigkeiten und das Misstrauen, die die Versuche, ausdauerndere Koalitionen aufzubauen, bedrohen, verraten auch bleibende Sympathien für modernistische Grundlagen, wo Widerstandsstrategien als Zeichen vorherbestimmter Identitäten gedeutet werden, die die Praktiken diktieren. Solch eine Annahme verschließt die Möglichkeiten für „die Koexistenz multipler ideologischer Positionierungen und Widerstandsstrategien“ und tendiert dazu, den Vollzug bestimmter Methoden und Praktiken zu privilegieren, von denen angenommen wird, dass sie sich aus Identitätsgrundlagen entwickeln. Infolgedessen territorialisiert sie kritische Haltungen als gegensätzliche Felder intellektueller Produktion und sozialer Praxis. Eine „von Prinzipen geleitete Konversion“ zu unterschiedlichen Bewusstseinsformen kann neue Grundlagen bieten, von denen aus diese divergierenden kritischen Haltungen analysiert und konzeptualisiert werden, während versucht wird, über die Grundlagen zu theoretisieren, auf denen diese in Beziehung treten. Da sich die Spatialität von Macht verändert, kommen nach und nach neue Formen der Kooptierung und Herrschaft in den Blick. Einige davon widersetzen sich unseren früheren Macht- und Widerstandsmodellen, wie dies Hardts und Negris Arbeiten hilfreich untersucht haben. Aber dabei werden alte Machtstrukturen bestärkt, genauso wie alte Mythen zerschlagen und frühere Widerstandsformen wieder aktiviert werden. Die in diesem kurzen Essay behandelten Texte kündigen die Entstehung einer neuen Ära an, nicht nur in Bezug auf geopolitische Machtveränderungen, sondern auch in Bezug auf das kulturelle Imaginäre, in dem wir Macht erfahren und unsere Kritiken artikulieren. Dieses Imaginäre erkennt keine Außenseite, keine Grenzen, außer denen ihrer eigenen strategischen Schöpfung. Mitten in den allumfassenden Netzwerken des Empires nehmen Ränder jedoch rasch zu. Nicht außerhalb der Machtzentren, sondern in ihnen. Dies wird von manchen Theoretikern als das Ende der Möglichkeiten effektiver Kritik und des Widerstands gedeutet. Aber jene, die das Leben in den früheren Empires ertragen haben, können in ihren Strategien Ressourcen für die notwendigen Rekonzeptualisierungen finden, welche die Schaffung von Räumen der Kritik berücksichtigen. Vor dem Hintergrund eines summierenden und dennoch vielfältig verorteten Empires wird das Bild der Ränder schwer fassbar und zerstreut; nicht nur, weil seine implizite Anspielung auf ein Zentrum den Bezugspunkt aufzulösen scheint, sondern weil jeglicher wahrgenommene Anspruch auf einen äußeren geschützten Raum für Kritik von innen her dekonstruiert wird. Der Begriff Ränder kann hoffnungslos in diesen Assoziationen verfangen sein. Aber kritische Entscheidungen bezüglich des Begriffs können sich
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durch diese simplifizierenden Darstellungen bewegen und über diese hinausgehen. Der Begriff Ränder kann immer noch strategisch eingesetzt werden, um bestimmte Formen der Unterdrückung überall im Empire anzusprechen. Wie Sandoval zeigt, verdecken die neuen überspannenden Realitäten des Empires nicht die Notwendigkeit des Einsatzes früherer Widerstandsformen, einschließlich derjenigen, die territorial definierte Zentren ansprechen. Es ist auch äußerst wichtig, die komplexe Bedeutung, die der Begriff in den Arbeiten vieler critiques of color angenommen hat, zu erkennen und diese in unserer Kritik deutlich zu machen. Auch wenn die Probleme der Signifikation, die mit diesem Konzept einhergehen, erkannt werden, insbesondere für zeitgenössische Leser, müssen wir auch erkennen, dass die Darstellungen von Rändern als einfache Anspielungen auf Zentren und Außenseite nicht notwendigerweise die Bedeutung von Rändern in den kritischen Kontexten, in denen sie eingesetzt worden ist, reflektieren. Wir haben die epistemologischen Konnotationen des Begriffs in den Werken von Denkern wie Homi Bhabha und Walter Mignolo gesehen, wo ‚Ränder‘ und ‚Grenzen‘ einen ‚dritten Raum‘ der Artikulation repräsentieren, aus dem alternatives Wissen artikuliert wird. Diese Räume werden nicht bloß als Orte innerhalb oder außerhalb von Herrschaftsbereichen beschrieben, sondern als Räume, die von der kritischen Praxis produziert werden. Wie Edward Soja deren Bedeutung in bell hooks Werk zusammenfasst, werden Ränder „als gelebte Räume der Repräsentation, als potentiell nährende Orte des Widerstandes, reale und vorgestellte, materielle und metaphorische Begegnungsstätten für Kämpfe über alle Formen der Unterdrückung, wo immer diese zu finden sind“, konzeptualisiert.35 Die Entwicklung von methodologischen Rahmen, die eine bedeutungsvolle Untersuchung der Schnittstellen zwischen spatialen Praktiken, Repräsentationen des Raumes und Räumen der Repräsentation unter postmodernen und postkolonialen Machtkonfigurationen unterstützen, bleibt eine wichtige Aufgabe für die biblische Hermeneutik und Theologie. Solch analytische Bemühungen können zu expliziten Rekonzeptualisierungen der Ränder führen oder, vielleicht ist dies vorzuziehen, zur Aneignung anderer Konzepte, die effektiv die Multidimensionalität von Räumen der Macht und des Widerstands vermitteln, wie z. B. der ‚dritte Raum‘. Jede Alternative müsste auf expliziten Debatten über die Implikationen heutiger kultureller und geopolitischer Verwandlungen für unsere methodologische Auswahl im Feld der Bibelwissenschaft, aber auch über die Grenzen der Disziplinen gegründet sein. Erstveröffentlichung als: Mayra Rivera Rivera, Margins and the Changing Spatiality of Power, in: Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, hg. v. R.S. Sugirtharajah, London 2008, 114-127.
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Soja, Thirdspace, 12.
Offene Ränder. Repräsentation, Hybridität und Transfiguration Vítor Westhelle
Zu Beginn … Denken Sie einmal über diese Fragen nach: Ist eine Begrenzung die Grenze unserer über ein Zentrum definierten Welt (terminus ad quem)? Oder ist sie ein Fenster, durch das wir das, was jenseits der Begrenzung liegt, betrachten (terminus a quo) und das wir als ein Utopia definieren – als einen Nicht-Ort oder Noch-Nicht-Ort? Oder ist sie die Voraussetzung der Grenzlage1 selbst, die Innenseite der Außenseite? Mit anderen Worten, sind Begrenzungen ein Ende oder ein Anfang? Oder umgeben sie beide, den Anfang und das Ende, wobei sie weder das eine noch das andere sind? Postkoloniale2 Erzählungen und Theorien (innerhalb postkolonialer Studien sind die Unterschiede zwischen beiden schwer fassbar) unterhalten lebhafte Debatten über diese Fragen und haben sich im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts in einer eindrucksvollen literarischen Produktivität niedergeschlagen. Begrenzungen sind ein eigenartiges Fenster auf die Welt; sie bieten uns eine Perspektive auf das Alltagsleben, während sie den Blick gleichzeitig auf eine andere Welt locken, die sich der Visualisierung entzieht. Und aus genau diesen Gründen sind sie gefährlich: Sie lassen das sehen, was nicht enthüllt werden sollte und schaffen Visionen, die die Ordnung der Dinge durcheinanderbringen. Aus diesem Grund leben Gesellschaften mit dem zwanghaften Verhalten, ihre Grenzen zu verbergen. Wie Mary Douglas bemerkte, verbergen sie sie deshalb, weil Begrenzungen die Zerbrechlichkeit des gesamten sozialen Netzwerkes enthüllen und so das Zentrum selbst bedrohen. Deshalb haben Grenzen ein beunruhigendes, offenbarendes Potenzial, ein Potenzial der Enthül1 2
Im Englischen heißt es hier ‚marginality’, womit zugleich auch die soziale und politische Dimension der Marginalisierung/Marginalität angesprochen ist. In diesem Aufsatz werden die Begriffe ‚postkolonial‘ und ‚kolonial‘ und ihre Ableitungen (Postkolonialismus, Post-Kolonialismus, Neo-Kolonialismus) nicht exklusiv oder hauptsächlich auf die Frage nationaler politischer Unabhängigkeit bezogen und so in eine historische Periode gepresst. Kolonialismus und seine Ableitungen werden auf die Praxis, die Theorie und die kulturelle Gesinnung eines hegemonialen metropolitanen Zentrums bezogen, ähnlich dem, was Edward Said (Culture and Imperialism, New York / London 1993, 9. Übersetzt als: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. M. 1994.) als Imperialismus definierte. Im vorliegenden Aufsatz ist das bestimmende Konzept ‚Hegemonie‘, um die oben genannten Ausdrücke zu definieren, zusammen mit ‚subaltern‘, das weiter unten definiert wird, und worauf sich alle anderen o.g. Begriffe beziehen.
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lung und die Macht der Bloßstellung. Beides, Enthüllung und Bloßstellung, sind die Phänomene, die an den Tag kommen, wenn Grenzen in Erscheinung treten, wobei nicht vergessen werden darf, dass Erscheinungen vergänglich und beweglich sind. Erscheinungen sind Phänomene, die sich widersetzen, sie brauchen Disziplin. Kurz: Sie müssen repräsentiert/vertreten werden. Postkoloniale Studien widmen sich unter anderem grundlegend den Mechanismen, durch die Ränder repräsentiert werden. Einerseits geht es darum, was diese Bloßstellung/Enthüllung ist, und andererseits darum, wie dies in den Diskurs eingebracht wird und in ein stets politisch aufgeladenes Gespräch eintritt. Was ist der Unterschied zwischen Bloßstellung (und Enthüllung, den anderen Blick durch dasselbe Schlüsselloch) und diskursiven Praktiken, zwischen dem Einrahmen der Ränder für den Blick, den man erhascht, und dem Einbringen der Repräsentationen in einen diskursiven Austausch? Diese ineinander verflochtenen, aber eigenständigen Punkte werden als nächstes untersucht. Zuerst werde ich den Prozess untersuchen, wie Repräsentationen gemacht werden und wie sie funktionieren. Zweitens werde ich die Hybridität als einen Begriff einbringen, der die besondere Weise vermittelt, wie Subalterne die Repräsentation taktisch nutzen und ihre vorschriftsmäßige Verwendung in hegemonialen Systemen untergraben, indem sie die Basis, die diesen Gebrauch aufrecht erhält, leugnen und verfremden. Schließlich werde ich eine These aufstellen, die eine Verbindung herstellt zwischen solch einem Verständnis von Hybridität und den jüdisch-christlichen Schriften, und dabei deutlich machen, dass dies eine genuin religiöse Geste ist. Den Begriff ‚Transfiguration‘ verwende ich, um dieses hybride, taktische Gebaren zu beschreiben, das hoffentlich durch Beispiele, die hauptsächlich aus der neuen latein-amerikanischen Literatur kommen, anschaulich gemacht werden kann.
Eingangs … Repräsentation: Portrait versus Stellvertretung Ränder sind fließend. Sie kommen in dem unstabilen ‚Dazwischen‘ des Raum-Zeit-Kontinuums vor, in der Wirtschaft, der Politik, Gesellschaften, Nationen, Religionen und sogar in psychologischen Zuständen. Da sie verhüllt sind, sind sie weder an jemanden adressiert, noch beinhalten sie selbst Adressaten. Sie können nicht einmal in die ‚Seins‘-Kategorie eingeordnet werden, da sie nicht durch eine Essenz definiert werden können, doch sie sind sehr real; sie existieren. Die Sprache sehnt sich danach, von ihnen Besitz zu ergreifen, um sie begrifflich und symbolisch zu reduzieren, denn ihr flüchtiges Auftreten muss stabilisiert werden. Das ist es, was Repräsentationen machen. In der am kürzesten gefassten Definition von Repräsentation, entweder als eine symbolische Vorstellung oder als eine Darstellung, nannte Hegel sie ein „stabiles Bild von unstabilen Erscheinungen“, das „ein Ding
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von seiner kontextuellen Vernetzung abtrennt“, von der fließenden, mutierenden Instabilität seiner Erscheinungen.3 Diese Notwendigkeit der Stabilität ist gleichzeitig das Enthüllende und die Verschleierung des Randes. Was aber noch wichtiger ist: sie ist die ‚Abbildung‘ des Rahmens, ebenso wie seine Inschrift, oder sogar seine ‚Erfindung‘. Hier findet eine Verschmelzung zwischen zwei unterschiedlichen Vorgängen statt. Die eine kann als ‚Entdeckung‘ oder ‚Enthüllung‘ beschrieben werden, die andere als ‚Erfindung‘ oder ‚Beschriftung‘. Diese Unterscheidung ist oft fließend und kann vielleicht nur an der Einstellung des Erzählers/ der Erzählerin oder des Betrachters/ der Betrachterin erkannt werden. In der Literatur findet sich dieses Thema in Hülle und Fülle, von Edmundo O’Gormans The Invention of America4, über die begrifflichen Praktiken in der Wissenschaft wie bei Thomas Kuhn5 und Michel Foucault6, bis zu Edward Saids Orientalismus7 und zu Eric Hobsbawm8 und bis zu den Grübeleien Anderer über die westliche Erfindung der Tradition.9 Repräsentationen sind interaktiv; sie sind das Vorhandensein von etwas Abwesendem ebenso wie das Aufzwingen eines Prismas, das die Konturen seiner Objekte farbig macht, gestaltet und einrahmt. Ihr Modus operandi ist mit einem Thermostat vergleichbar. Thermostate registrieren in der Tat die Temperatur, die dem Umfeld aufgezwungen wurde, und die ‚gesammelten‘ Daten sind gleichzeitig die ‚eingetragenen‘ Daten. Deshalb ist das, was eine Repräsentation enthüllt, im doppelten Sinne auch das, was sie verhüllt. In der Repräsentation wird ein Rand zu einer Ware, die gehandelt, reproduziert, ausgetauscht und multipliziert werden kann, so wie wir es mit Bildern machen. Durch die Repräsentation bekommt der Rahmen einen Gegenwert und tritt ein in den Kreislauf der politischen Wirtschaft. Sie macht das sichtbar, was sich der Visualisierung entzieht. Das heißt, sie bringt ein Objekt der ‚Theorie‘ (so die wörtliche Bedeutung von Visualisierung) in unser Gesichtsfeld, das sich der Visualisierung ansonsten entzieht. Und so wird sie mit Bewegungsfreiheit ausgestattet, was sie befähigt, in den ‚Markt‘ einzutreten. PolitikerInnen, TheoretikerInnen, Wissen-
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Band 10, Frankfurt am Main 1970, 93. Edmundo O’Gorman, The Invention of America. An Inquiry Into the Historical Nature of the New World and the Meaning of Its History, Bloomington1961. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 21993. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 2009. Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt a. M. 2010. Eric Hobsbawm / Terence Ranger, The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Eine repräsentative Sammlung ‚klassischer‘ und neuerer Stimmen innerhalb postkolonialer Studien, die von den vielen Facetten der ‚Erfindung‘ handeln, findet man in R.J. Patrick Williams / Laura Chrisman (Hg.), Colonial Discourse and PostColonial Theory, New York 1994. Eine frühe, vor allem lateinamerikanische Version wurde ‚Kolonien- /Abhänigkeitstheorie‘ genannt. Ihre Bedeutung für die Befreiungstheologie betreffend siehe Vítor Westhelle, Dependency Theory. Some Implications for Liberation Theology, in: Dialog 20 (1981), 293-299; und ebenso Ofelia Schutte, Cultural Identity and Social Liberation in Latin American Thought, New York 1993.
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schaftlerInnen, Priester, die Presse oder HändlerInnen nutzen regelmäßig diese Repräsentationen der Ränder als eine Tauschware für ihren Handel. Dieser Prozess verhüllt ferner einen grundlegenden Unterschied zwischen zwei Verwendungen oder Operationen, die durch das Repräsentieren der Ränder ausgeführt werden und was Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem inzwischen klassischen Werk Can the Subaltern Speak?10 genial erkannt hat. Obwohl es eine Komplizenschaft zwischen den beiden Bedeutungen der Repräsentation gibt, müssen sie klar unterschieden werden: „Zwei Bedeutungen von Repräsentation werden hier miteinander vermischt: Repräsentation als ‚sprechen für‘, wie in der Politik, und Repräsentation als ‚Repräsentation‘, als ‚Darstellung‘ bzw. ‚Vor-stellung‘, wie in der Kunst oder der Philosophie. […] Diese zwei Bedeutungen von Repräsentation […] sind aufeinander bezogen, aber es gibt einen irreduziblen Bruch zwischen ihnen.“11
Marx hat diesen Unterschied durch die Verben vertreten und darstellen bekannt gemacht (ich werde mich darauf als ‚Repräsentation‘ bzw. ‚Re-Präsentation‘ beziehen), und Spivak veranschaulicht ihn als „den Kontrast, der, sagen wir, zwischen einer StellvertreterIn und einem Porträt besteht.“.12 Es ist das Nicht-Erkennen dieser Unstetigkeit, das diese auffällige Identifikation zwischen Wert und Wunsch auf der einen und Interesse und politischer Repräsentation auf der anderen Seite ermöglicht. Man zeigt/verhüllt den/die Subalterne/n, aber bei diesem Zeigen/Verhüllen findet sofort ein Austausch statt. Es handelt sich dann nicht mehr entweder um ein Zeigen oder ein Verhüllen, sondern um eine Aussage, die Teil einer politisch belasteten Konversation und von deren Regeln bestimmt wird. Der eigentliche Wert des Zeigens/Verhüllens als Re-Präsentation wird einkassiert vom Austauschwert, den der Markt bestimmt, und der von der Nachfrage, die er hat und vom ‚Profit‘, den er bringt, gesteuert wird. Das Bild einer Frau in Afghanistan, die eine Burka trägt, wechselt leicht von ihrem Sich-Zeigen/Sich-Verhüllen in einen Austauschwert, sagen wir, in die Frauenrechtspolitik, die mit einem Wert versehen ist, der durch ihren Umlauf in den westlichen Gesellschaften etabliert wurde. Das Bild eines Straßenjungen mit einem Gewehr in der Hand in einer favela in Rio wird zu einer Ware, an Hand derer man über humanitäre Hilfe spricht und darüber, wie die Gesetzgebung zunehmender Gewalt begegnen kann, oder zu einem Thema bezüglich der Ausbreitung von Drogen. Wie auch immer, die Komplizenschaft der beiden Bedeutungen von Repräsentation wird durch die Beispiele bereits nahegelegt, denn im Falle eines gemachten Bildes bedingt eben jener Vorgang, der von einem Schnappschuss der Kamera festgehalten wurde, den politischen Vorgang der repräsentativen Verbreitung.13 10
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Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. Cary Nelson / Lawrence Grossberg, Urbana 1988, 271313. Übersetzt als: Can the subaltern speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation, hg. v. Hito Steyerl, übers. v. Alexander Joskowicz / Stefan Nowotny, Wien 2008. Spivak, Can the Subaltern Speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation, 29. Spivak, Can the Subaltern Speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation , 31. Dies wird exemplarisch erforscht in Walter Benjamins Aufsatz: The Work of Art in the
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Um den Fokus auf der Re-Präsentation zu halten und um nicht vor der Repräsentation zu kapitulieren, ist ein Akt der Beschlagnahmung und sogar der Auslöschung der Repräsentation nötig. Dass der/die Subalterne nicht sprechen kann, ist dann keine beschreibende Feststellung; es ist eine bestimmende Handlung, um sie oder ihn dafür davor zu beschützen, von einem Handel gekidnappt zu werden, in dem sie oder er nicht mehr die Kontrolle darüber hat, was dargestellt wird. Es ist dem ‚Erklären‘ eines Gedichts mittels der Prosa nicht unähnlich, wo die Erklärung irgendeine diskursive Meinung erzeugen kann, aber auf Kosten einer großen Anzahl anderer Meinungen, die man aufgibt oder ausgrenzt. Der Unterschied liegt zwischen der Produktion eines Bildes und seinem Austauschwert. Die alten Griechen drückten diesen Unterschied aus, indem sie zwei eigenständige menschliche Künste festlegten: praxis als intersubjektive Kommunikation und poiesis als die objektive Produktion und Reproduktion menschlicher Arbeit, die zu einer RePräsentation führt, so wie dieser Text, den ich momentan schreibe. Der lateinische Westen reduzierte diese zwei Bedeutungen von Repräsentation auf ein einziges Substantiv actio und hat hierbei noch weiter den Unterschied verwischt. Repräsentative Politik als praxis und Re-Präsentation als poiesis sind tatsächlich Funktionen voneinander; sie müssen nebeneinander ablaufen und sich gegenseitig nähren, so wie auch ein innewohnender Wert ständig in einen Austauschwert übergeht. Das Ergebnis dieser Kon-Fusion und die Annahme einer übergangslosen Kontinuität zwischen ihnen resultiert in dem, was Gramsci eine „Hegemonie“ nennt, der Zustand, unter dem Einwilligung gegeben und der dominierenden Kraft Fügsamkeit zugestanden wird. In seinen Worten besteht Hegemonie darin, „dass sich die Überlegenheit einer sozialen Gruppe auf zwei Arten manifestiert, als ‚Oberherrschaft‘ (dominio) und als ‚intellektuelle und moralische Führung‘ (direzione)“.14 Der entscheidende Punkt ist es, zu verstehen, wie die letztere, direzione, funktioniert. Ihr operativer Mechanismus ist genau derselbe wie der der Repräsentation in ihrer dualen Bedeutung, wo ein produziertes Bild (Re-Präsentation) von seinem Austauschwert (Repräsentation) subsumiert und genormt wird. Dies wird von der Maxime McLuhans – ‚das Medium ist die Botschaft’ - treffend ausgedrückt. Die Re-Präsentation (Darstellung) wird aktiviert durch die stellvertretende Repräsentation (Vertretung), wie durch eine Person, die für die/den Subalterne/n spricht, und die gleichgestellt wird mit der eigenen, aber in der Tat abwesenden Stimme der/des Subalternen. Dieser Mechanismus der Vertretung drückt der Re-Präsentation der/des Subalternen das Bild auf, das
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Age of Mechanical Reproduction, in: Illuminations, hg. v. Hannah Arendt, New York 1968, 217-251. (Deutsche Ausgabe: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Walter Benjamin / Siegfried Unseld, Frankfurt a. M. 1969.) Auf den Film bezogen drückt er diesen Austausch so aus: „Die Identifikation des Publikums mit dem Darsteller ist tatsächlich eine Identifikation mit der Kamera. Folglich nimmt das Publikum die Position der Kamera ein; es handelt sich um eine Testeinstellung. Es ist nicht die Einstellung, mit der Kultwerte belichtet werden.“ (228f.). Antonio Gramsci, The Gramsci Reader. Selected Writings 1916-1935, hg. v. David Forgasc, New York 2000, 249.
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zu den Interessen am besten passt, die den Austauschwert der Ware, mit der gehandelt wird, in die Höhe treibt, dem Geldwert, der für eine Handelsware steht, nicht unähnlich. Dieser Tauschprozess kann sogar die ‚Ausgeschlossenen‘‚einschließen‘, die wirtschaftlich Armen und die politisch Unterdrückten genauso wie die Sünder in religiösen Belangen. Spivak vermeidet sorgfältig einen Diskurs der Viktimisierung, in dem der/die Subalterne nur hilflos in einer „essentialistischen, utopischen Politik“15 gefangen gehalten wird. In so einem Diskurs spricht die/der Subalterne durch die Masken ihrer/seiner Repräsentation, ein/e Untergebene/r, deren/dessen Stimme keine Inschrift hat, die/der sich selbst nicht darstellt. Nichts desto trotz wird davon ausgegangen, dass sie/er ens realissimus da ist, das Ding an sich nach Kant, unverfälscht in seiner Unzugänglichkeit, immer noch das Objekt des Diskurses, aber nie sein Subjekt. Indem Spivak die Bedeutungen der Repräsentation unterscheidet und sie aufeinander bezieht, ohne sie aufeinander zurückzuführen, stellt sie den Unterschied zwischen poietisch und politisch wieder her, zwischen der Inschrift und der Konversation, und gibt im Stil Derridas dem ersten den Vorzug. Obwohl sie Foucault verurteilt, da er versagt hat, die Konsequenzen der Unterscheidung aufzugreifen, ist es denkbar, dass sie seiner frühen Aussage zustimmen kann: „Der Diskurs ist nicht das Leben: seine Zeit ist nicht die Eure; in ihm versöhnt Ihr Euch nicht mit dem Tode […].“16 Repräsentation als Stellvertretung eignet sich die Stimme der/des Untergebenen widerrechtlich an und gibt vor, den Wert und die Wünsche der/des Untergebenen umgewandelt zu re-präsentieren, und zwar in Form von Interessen, die bereits durch einen Tauschprozess gelenkt wurden und in dem die Andere gedeutet und im Laufe des Prozesses sogar erfunden wird. Obwohl Repräsentation im Sinne von Diskurs, Argumentation und Überzeugung (im Gegensatz zu Präsenz und dem Sich-Aussetzen), für Verantwortlichkeit eintritt, geschieht dies, indem sie durch die Adressierung die/den Empfänger/in erschafft. Obwohl sie Anspruch auf Verantwortung erhebt, geht ihre Handlung nicht über diese Aussage hinaus. Sie ant-wortet (re-sponds) nicht; im Vorgang des ‚Sprechens für‘ wird die/der Untergebene von sich weg in die Stellvertretung integriert, die bereits mit einer gut oder schlecht gemeinten Agenda belastet ist. Aber, kann die Subalterne sprechen? Ja, aber in dem Ausmaß, dass sie paradoxerweise ohne Stimme da steht, wenn sie es tut. Die Stimme der Stellvertretung behauptet, aber sie antwortet nicht; zu Gunsten des ‚Sprechens für‘ wird die Verantwortung ausgelöscht. Jedoch bedeutet dies nicht, dass Repräsentation (als ‚Stehen für‘) mit Verantwortung nicht möglich ist; es bedeutet, dass jeglicher Akt der Repräsentation im Sinne von ‚Sprechen für‘ nur dann verantwortungsvoll sein kann, wenn dieser diskursive Akt durch die poietische Produktion bestimmt wird, oder durch die Selbstbeschriftung der/des Subalternen, und nicht durch diejenige/denjenigen, die/der für die Subalterne spricht, selbst wenn sich diese zwei Personen überschneiden, wenn etwa ein/e Subalterne/r für die Gruppe oder Klasse spricht, die sie/er repräsentiert. Es ist auf jeden Fall so, dass das 15 16
Spivak, Can the Subaltern Speak?. Postkolonialität und subalterne Artikulation, 276. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 2011, 301.
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Sich-Aussetzen nicht vollständig in die Konversation, die Debatte, die Überzeugung umgesetzt werden kann. Darstellung und Selbstdarstellung – kurz: poietik – kann durch die Politik nicht ausgeschöpft oder nicht einmal voll umgesetzt werden. In der Polis wird das, was übergeben wird, auch verleumdet. Die Repräsentation vermittelt, aber im Laufe des Prozesses betrügt sie immer. Wie das Sprichwort sagt: traduttore – traditore (Übersetzer – Verräter). Jedoch, die bloße Tatsache, dass der Kolonialismus die/den Andere/n, die/den Subalterne/n, in seine weitschweifigen Praktiken des Repräsentierens und der Klassifizierung eingebunden hat, macht jeden naiven, romantischen Glauben, dass es eine wiederauffindbare Selbst-Repräsentation der/des Anderen gäbe, zunichte. Mit viel Hinterlist kann man die Schichten der kolonialen Repräsentation auffinden, aber sie sind untrennbar vermischt und machen die Verschmelzung der zwei Bedeutungen der Repräsentation noch komplizierter. Subalterne haben die Wahl, sich entweder dem Prozess des Vermarktetwerdens in einer Ecke des Marktplatzes der Repräsentationen zu widersetzen, oder ihre ‚Güter‘ selbst in den Tauschhandel einzubringen, wobei sie ihr Anderssein (distinctiveness) nicht aufgeben müssen. (Distinctiveness ist nicht gleich Identität, es bedeutet vielmehr, dass man ‚Farbe‘ (-tinctus) hat, die einen von der Umgebung, in der man sich wiederfindet, unterscheidet (dis-)). R.S. Sugirtharajah hat die erstere die einheimische Option genannt, die er von der kosmopolitischen Option unterscheidet. Die Letztere strebt danach, die Regeln des Austausches ohne festgelegte Identität zu meistern, und grenzenlose kosmopolitische Darstellungen zu entwickeln, ohne sich der Metropole zu unterwerfen. Obwohl er eine „dritte Option“ für möglich hält, „nämlich das Vermischen von kreativen kosmopolitischen und einheimischen Kulturen“17, ist die Unterscheidung von Bedeutung. Sie ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie nur Optionen repräsentiert, sondern auch weil das vorgeschlagene Einheimisch-Kosmopolitische keine Synthese wird, wenn man die Unterscheidung beibehält, sondern eine hybride Pendelbewegung: innen sein und außen sein, eine Identität haben und nicht haben, eine alteingesessene Darstellung von einem selbst und das De-plazieren derselben, und das Überschreiten von beidem in jedem Moment.18 Das Resultat ist ein konstantes Dasein/Wegsein und ein geschicktes Verheimlichen des ‚Eigenen‘. Wie in der passenden Bemerkung lvon Pedro Casaldáligas: „Gott spricht Dialekt“. Das universelle Eigentliche ist im verdrängten Besonderen gegeben.19 Wie es der brasilianische Dichter Vinicius de Moraes auf Portugiesisch witzig ausgedrückt hat, ninguém é universal fora do seu quintal („Niemand ist universell außerhalb seines Hinterhofes.“). Der Prozess, sich in dieser oder jener Form zu repräsentieren, einheimisch und kosmopolitisch zu sein, ist ein taktisches Spiel, das Subalterne mit 17 18 19
R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, St. Louis 2003, 159. Siehe Néstor García Canclini, Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity, übers. v. Christopher Chiappari / Silvia López, Minneapolis 1995. Der Ausdruck stammt von Pedro Casaldáliga, Creio Na Justica e Na Esperenca, Rio de Janeiro 1978, 211.
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großem Geschick spielen. Und es schafft allergische Reaktionen bei jenen, die ihm ausgesetzt sind, besonders bei der hegemonialen Kultur, die die Unterscheidung zwischen den beiden Funktionen der Repräsentation vermischt hat – sogar in den Texten der wohlwollendsten LeserInnen unter ihnen.20 Was wir an der Oberfläche des Postkolonialen beobachten können, ist eine Umkehrung oder Zerstörung des Mechanismus, durch den die koloniale Hegemonie ihre Effektivität gezeigt hat. Der Rand, der kolonisiert wurde durch den Handel mit seiner Re-Präsentation auf dem politischen ‚Markt‘ repräsentativer Praxis und wodurch eine Identität des Repräsentierten geschaffen wurde, dreht den Prozess um und bringt sich nun selbst in den Markt ein, aber mehr oder weniger zu seinen eigenen Bedingungen. Das ‚Mehr oder weniger‘ muss betont werden, denn was dahinter steht, ist eindeutig die Annahme einer unverfälschten Identität. Wenn der hegemoniale Kolonialismus die poietische Re-Präsentation des Randes an die repräsentative Praxis abgibt, dann löst das Postkoloniale den Gordischen Knoten, den die Hegemonie zwischen den beiden Bedeutungen der Repräsentation geknüpft hat. Es ist die Macht des Sich-Aussetzens, die die Re-Präsentation von dem sterilen Gebrauch innerhalb des hegemonialen Systems befreit, und ein Un-Wohlsein (dis-ease), eine entgegen wirkende Handlungsmacht, eine Allergie in der Politik der Repräsentationen provoziert.
Und wie geschieht dies…? Hybridität, Verstellung, und die Kunst des Sich-Eindrängens Was wir unter dem Einfluß des Postkolonialismus beobachten können, ist exakt das Auftauchen von Stimmen und Gesichtern, die, auch wenn sie karikiert, aufgezwungen, interpretiert und erfunden sind, weiterhin Fragen stellen, die vermieden werden, da sie Schuldgefühle hervorrufen, oder, wie ich 20
Mitte der 1970er Jahre schrieb Jürgen Moltmann einen „Offenen Brief an José Míguez Bonino“ (veröffentlicht in Christianity and Crisis, 29. März 1976, 57-63), der mehrere lateinamerikanische Theologen kritisierte und beanstandete, dass die lateinamerikanische Theologie nicht ihr eigenes Gesicht zeige, sondern sich oft innerhalb des Rahmens einiger europäischer Denker bewege (unter ihnen Kant, Hegel, Marx). In einer scharfsinnigen Antwort fragte ihn Juan Luis Segundo, ob er sich das lateinamerikanische Exotische wünsche, so dass er in seine ‚universelle‘ Theologie auch das lateinamerikanische ‚Eigene‘ aufnehmen könne, während er die letztere ‚Okkupation‘ des intellektuellen Gebietes Europas leugnen würde. (Die Antwort wurde nie veröffentlicht mit Rücksicht auf die Tatsache, dass Moltmann, einige Zeit nachdem sein Brief veröffentlicht worden war, einen Brief zur Unterstützung lateinamerikanischer Befreiungstheologie unterzeichnete, aufgrund steigender Kritik seitens des Vatikans). Segundo vermutete, dass Moltmann sich das lateinamerikanische einheimische Erzeugnis wünschte, um es auf dem theologischen Marktplatz der nordatlantischen Welt, in der er eine führende Rolle spielte, zu bearbeiten und um damit Tauschhandel zu treiben.
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es genannt habe, Allergien. In anderen Worten, die Scham, die mit dem sich Aussetzen verbunden ist, wenn es erst einmal die Beschränkungen seiner Ränder überschritten hat, enthüllt den Mangel an Verantwortung unter den hegemonialen Gruppen, der zum Schuldgefühl wird. Das ist die Macht des Sich-Aussetzens, zu dem das kürzliche Ereignis, die Veröffentlichung von Fotos, die im Gefängnis von Abu Ghraib aufgenommen wurden, ein weiteres Kapitel aufschlägt zum Mechanismus, durch den das Aufdecken von Scham im Rand in das hygienisch einwandfreie Medium der Kriegsverwaltung eindringt; sie enthüllt seine Heuchelei und erzeugt Schuld. In Bezug auf einen anderen beschämenden Skandal und seine eindringliche Macht der Enthüllung bietet der Apostel Paulus diese scharfsinnige Erkenntnis in einem ironischen Kommentar an: „Keiner von den Fürsten dieses Zeitalters hat sie erkannt - denn wenn sie [sie] erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben“„ (1 Kor 2, 8). Die eurozentrische Weltsicht – ihre Modelle der Wissenschaft und Rationalität, Moral, Religion, Ästhetik und Politik wurden zur Signatur von dem, was der Westen genannt wurde (oder später die nordatlantische Welt) und sein koloniales Projekt – wird nun de-zentriert und postkolonial. „Das Zentrum kann sich nicht halten“, schrieb der irische Dichter W. B. Yeats in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und verkündete, dass „ein Zweiter kommen würde“, um die koloniale Besetzung Irlands zu beenden. Wenn Kolonialismus die Beherrschung des Anderen durch Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Religion oder Moral bedeutet, beinhaltet Postkolonialismus eine zweifache Botschaft: die Erkenntnis und die Praxis, dass andere Spieler mit am Werk sind, die andere Vorstellungen haben als die, die die Hegemonie des Westens errichtet hat; aber ebenso hat diese Erkenntnis der nordatlantischen Welt das Bewusstsein ihrer eigenen Partikularität, ihrer Kontextualität, ihrer epistemischen Lage, ihrer Denkvoraussetzungen, ihrer Schuld gebracht. Von einer postkolonialen Perspektive aus erkennt man die koloniale Kurzsichtigkeit, ihre Unfähigkeit, rundherum und nach hinten zu sehen, und man kann sich von diesem anderen Blickwinkel aus mit den Grenzen der westlichen Erkenntnistheorie beschäftigen, ihrer Auslöschung der Unterschiede, ihres eigenartigen Wahrheitssystems und ihrer Gleichsetzung von Wissen mit Macht. Es ist diese Neubenennung der Welt von einem anderen Ort aus, die es uns ermöglicht, zu erkennen, dass der Westen mit seiner Wissenschaft, Politik, Moral, Ästhetik und Religion nur ein kultureller Kontext unter vielen anderen ist, so dominant und wichtig er auch sein mag. Man sollte beachten, dass der Poststrukturalismus (der manchmal mit dem schwammigen Begriff Postmodernität bezeichnet wird) bereits eine ähnliche Kritik von innerhalb des Westens selbst vorgetragen hat. Doch ist der Postkolonialismus, anders als der Poststrukturalismus, in den Worten von Néstor García Canclini „nicht nur an den Unterschieden der Menschen interessiert […], sondern er beschäftigt sich auch mit Ungleichheit“.21 Homi Bhabha, der unter den postkolonialen DenkerInnen sehr bekannt ist, betont dies, wenn er seine Verpflichtung der westlichen Schule gegenüber zugibt, während er 21
Canclini, Hybrid Cultures, 11.
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versichert, dass das, was den Postkolonialismus unterscheidet, die Frage der Positionierung ist: Die Art und Weise, wie ich die poststrukturalistische Theorie anwende, ergibt sich aus dieser postkolonialen Gegenmoderne. Ich versuche darzustellen, wie der „Westen“ mit seiner Autorisierung der „Idee“ der Kolonisation gewissermaßen, und möglicherweise sogar zwangsläufig, gescheitert ist. Indem ich meine Inspiration weniger vom Scheitern des Logozentrismus als von der subalternen Geschichte der Ränder der Moderne beziehe, habe ich versucht, zumindest in kleinem Maßstab das Bekannte zu revidieren, das Postmoderne aus der Position des Postkolonialen neu zu benennen.22
Im poststrukturalistischen Denken ist die Ankündigung einer Abreise noch nicht dasselbe wie anwesend sein am Schauplatz der/des Anderen; die Kritik am eigenen Diskurs ist noch nicht der Diskurs der/des Anderen. Die/der ‚Andere‘ im westlichen Kolonialismus ist die/der Subalterne, die/der Andere (alter), die/der darunter oder unten ist (sub), also immer woanders. Diese/r Subalterne – in seiner oder ihrer Art des logischen Denkens, des moralischen Urteilsvermögens, des Theologisierens oder der Schaffung ästhetischer Werte – ist die/der Kolonisierte, deren/dessen Stimme gehört wird, so dissonant, beunruhigend, irritierend, allergisch oder explosiv sie auch klingen mag. Postkolonialismus indiziert ein Überschreiten der Grenzen des kolonialen Raumes, wobei gleichzeitig einige seiner Werte und Errungenschaften einbezogen und andere aufgegeben werden. Dies geschieht in einem dynamischen Prozess, in dem man in den ehemals verbotenen Raum hegemonialer Macht eindringt, wobei man nicht länger vom Vorherigen gefangen gehalten und vom Letzteren regiert wird. Dieser Prozess wird Hybridisierung genannt; Canclini nennt dies im Untertitel seines Buches: „Hineingehen und Verlassen der (westlichen) Modernität“. Oder in den Worten Bhabhas: Bei Hybridität haben wir es mit einer Problematik kolonialer Repräsentation und Individuation zu tun, die die Wirkungen der kolonialistischen Verleugnung umkehrt, so daß andere „negierte“ Kenntnissysteme vom dominanten Diskurs Besitz ergreifen und die Basis seiner Autorität - seine Erkenntnisregeln - verfremden.23
In diesem Sinne erhält der Postkolonialismus einen eindeutigen und definierbaren Charakter, der jedoch nicht genau identifiziert werden kann, denn sein Selbstausdruck ist in seiner Hybridität ausweichend; seine Sprache ist begrifflich nicht klar. Die Sprache des Postkolonialismus ist durch das charakterisiert, was Michail Bachtin ‚Heteroglossie‘ nennt, eine Überschneidung verschiedener semantischer Felder, die unerwartete kommunikative Effekte hervorbringt.24 22 23 24
Bhabha, Die Verortung der Kultur, 261f. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 168. Siehe Michail Bachtin, The Dialogic Imagination, Austin 1982, 428. Bachtins kommunikative Theorie der Sprache betrifft Sprache im allgemeinen und genau wegen dieses universellen Anspruchs bevollmächtigt er die postkoloniale Behauptung, die andere Stimme sei genauso legitim wie die nicht anerkannte ‚Heteroglossie‘ hegemonialer linguistischer Systeme. „In jedem Moment ihrer historischen Existenz ist die Sprache vom Kopf bis zum Fuß vielstimmig: Sie repräsentiert die Ko-Existenz sozio-ideologischer Widersprüche zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit,
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Während die Macht der neo-kolonialen Globalisierung nicht zu leugnen ist, tauchen plötzlich Zweifel hinsichtlich ihrer Viabilität auf, wie Parasiten, die an diesem Dominationsprozess herumnagen. Die allergischen Reaktionen, die hervorgerufen werden, zeigen sich durch die bloße Existenz des/der Anderen und seine oder ihre Fähigkeit, Widerstand zu leisten. Es gibt einen Basismechanismus / eine Basistaktik, um diese Widerstandsfähigkeit zu praktizieren. Homi Bhabha, Octavio Paz und andere nennen es Verstellung, oder auch Mimikry oder Camouflage. Unter den Bedingungen der westlichen Hegemonie konnten die Subalternen sich nur ausdrücken, wenn sie ihre eigene kulturelle Einzigartigkeit und ihren Glauben verheimlichten. Es ist ein häufig beobachtetes Phänomen unter subalternen Völkern, dass sie ihr eigenes Selbst hinter der Maske verstecken, die der Kolonisierer sehen will, ihnen auferlegt und erfindet. Zum Beispiel überleben an vielen Orten einheimische Religionen unter dem Baldachin christlicher Liturgie. Aber Verstellung ist ein viel umfassenderes Phänomen, das von jenen, die wenig Erfahrung haben mit subalternen Gruppen, kaum wahrgenommen wird (wie jene, die denken, dass Kommunikation offen und neutral sein kann, wie in der „Kraft des besseren Arguments“ bei Habermas25 oder dem „Schleier der Unwissenheit“ bei Rawls26). Jedoch ist Verstellung keine Lüge; sie ist ein Akt des Selbstschutzes, in dem man widersteht und sein eigenes Selbst, wenn auch versteckt, bewahrt, angesichts der Konfrontation mit einer überwältigenden Übermacht. Octavio Paz erinnert uns, dass Verstellung eine Tätigkeit [ist], die der des Schauspielers nahekommt […]. Nur geht der Schauspieler […] ganz in seiner Rolle auf […]. Wer sich dagegen nur verstellt, geht nie in seiner Rolle auf, vergißt sich nie ganz, denn es wäre keine Verstellung mehr, wenn er mit seiner Rolle eins würde. […] [er] hält sich unter Verschluss um sich zu beschützen.27
Ausgehend von Jacques Lacans Interpretation von Mimikry als Camouflage, wiederholt Bhabha dasselbe: [D]ie Mimikry [ist] gleich der Tarnung keine harmonisierte Form der Unterdrückung von Differenz, sondern eine Form von Ähnlichkeit, die sich von der Präsenz dadurch unterscheidet (oder sie dadurch abwehrt), daß sie sie zum Teil, nämlich metonymisch, zur Schau stellt.28
Der Erfolg der Verstellung oder Mimikry liegt in der Tatsache, dass er die Kolonisierer überzeugt, blind zu glauben, dass ihr Konzept, den Kolonisierten in das Bild zu verwandeln, das sie sich von ihm machen, funktioniert. Verstellung ist eine Taktik, die umgehend die Erkenntnis der Kolonisierer verzögert, dass die Zustimmung, die in der Hegemonie enthalten ist, bereits
25 26 27 28
zwischen verschiedenen Epochen der Vergangenheit, zwischen Strömungen, Schulen, Gesellschaften und so weiter.“ (S. 291). Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999 – siehe Kap. 7. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 162008 – siehe Kap. 1. Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit. Essay, übers. v. Carl Heupel, Frankfurt a. M. 1996, 48f., 47. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 133.
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zusammenbricht. Durch diese Verzögerung geht die intrusive Praxis der Kolonisierung weiter und sofortige Unterdrückung wird verhindert. Die Kolonisierer realisieren oft nicht, dass sie die Zuschauer einer Mimikry ihrer eigenen Projektionen und Erwartungen sind. Verstellung verkörpert die Revolte eines anderen Drehbuches, das plötzlich so parasitär wie umstürzlerisch, so allergisch und so schön wie eine Orchidee in dem machtvollen Stamm des Systems auftaucht. Sie erlaubt einem, verschiedene Territorien zu bewohnen und zu keinem zu gehören. Verstellung bedeutet, weder das eine, noch das andere zu sein, was Bhabha den „Dritten Raum“29 nannte, oder, um ein griechisches Wort zu verwenden, sich innerhalb des chora zu befinden, des Raumes zwischen den Räumen, gleichzeitig innen und außen zu sein (‚insideoutness‘). Wenn Kolonialismus NichtVerantwortung bedeutet, dann ist Verstellung ein Akt verkleideter Einmischung, die eine widerwillige Antwort hervorruft oder sogar erzwingt, aufgrund der Macht des Aufdeckens von Scham durch das Hervorlocken von Schuld.
Nun zu einem … Biblischen Intermezzo: „Eine hartnäckige These“ Laut einer Genealogie, die auf das Auftauchen dieser postkolonialen Praxis der Einmischung hinweist, die eine pendelähnliche Bewegung der Überschreitung markierter Räume schafft und eine konstante choratische Verschiebung, sollte jede/r Betroffene die Erfahrung der Marginalisierung machen. Eine aufschlussreiche Hypothese wird durch den maßgeblichen Kommentar zur Entwicklung westlicher Literatur vom antiken Griechenland bis zu Virginia Woolf angeboten: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur von Erich Auerbach.30 Es ist kein Zufall, dass der Autor jüdischer Herkunft dieses Buch in Istanbul, Türkei, schrieb, wohin er vor dem Naziregime in Deutschland geflohen war und wo er im Exil lebte. Er gab zu, dass es ihm durch das Fehlen einer westlichen Bibliothek nicht nur ermöglicht wurde, das Buch in diesem Umfang zu schreiben, sondern dass ihm als Fremdem in dem Land auch die Möglichkeit geboten wurde, sein eigenes Einmischen zu praktizieren. Am überraschendsten ist jedoch, dass der Autor meint, dass diese Genealogie sich aus einer religiösen literarischen Praxis der Repräsentation ableitet. Auerbach sieht in den jüdisch-christlichen heiligen Texten, der Bi29
30
Bhabha, Die Verortung der Kultur, 36-39. „Eben jener Dritte Raum konstituiert, obwohl ‚in sich‘ nicht repräsentierbar, die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können.“ (S.57). Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen u.a. 102001.
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bel, den Ursprung des Prozesses, durch den der Westen die Möglichkeit geschaffen hat, Repräsentationen aus streng gehaltenen heterogenen Gebieten zu übertragen. Diese Übertragung schafft einerseits die Verfügbarkeit des einen Gebietes für das andere und billigt andererseits den Prozess der Wiedereinschreibung des anderen. Für ihn präsentiert sich die Besonderheit der biblischen Literatur, ob in Griechisch oder Hebräisch geschrieben, als ein wirklich einzigartiges, hybrides Produkt. Dies kann anhand der folgenden Absätze gezeigt werden, in denen er die Repräsentationsstile analysiert, die bis zu diesem Zeitpunkt aufrecht erhalten wurden in den inselartigen Ökonomien hoher und niederer Kulturen, dominanter und unbedeutender Völker am Rande der alten Imperien und Königreiche: sie ist im Charakter der jüdisch-christlichen Schriften von Anfang an begründet … drang die Stilmischung aus der jüdisch-christlichen Überlieferung in das Schrifttum der Kirchenväter. Der eigentliche Mittelpunkt der christlichen Lehre, Inkarnation und Passion, war … mit dem Stiltrennungsprinzip ganz unvereinbar … Die erhabene Wirkung Gottes greift hier so tief in das Alltägliche ein, daß die beiden Bezirke des Erhabenen und des Alltäglichen nicht nur tatsächlich ungetrennt, sondern grundsätzlich untrennbar sind … Daß der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespien, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde … es entsteht ein neuer ‚sermo humilis‘, ein niederer Stil, wie er eigentlich nur für Komödie und Satire anwendbar wäre, der aber nun … ins Tiefste und Höchste, ins Erhabene und Ewige übergreift …31
Als ein literarisches Phänomen ist es an sich schon die Aufmerksamkeit wert, die es erhalten hat, und den Einfluss, den es auf die postkolonialen Studien genommen hat, besonders und ausdrücklich in der Arbeit von Edward Said, der Auerbach für die „hartnäckig vorgetragene These“ dass es „die Menschwerdung Christi [sei], aus der die realistische westliche Literatur, so wie wir sie kennen, hervorgehe“32, Anerkennung zollt. Doch sind die religiösen und theologischen Dimensionen, die der Geschichte innewohnen und eben genau der Grund für die Schärfe ihrer Formulierungen sind, weitgehend vernachlässigt worden, wobei Said selbst Schuld daran trägt.33 Dass diese Überschreitung von Gebieten in einer Erzählung geschieht, die als heilig angesehen wird und von denjenigen, nämlich Juden und ChristInnen, die sich ihr in ihren religiösen Traditionen verpflichtet haben, ist bemerkenswert, vor allem weil die Überschreitung und Unreinheit, zumindest in einigen ihrer Manifestationen, das innerste Wesen der Religion betreffen. Wenn wir Auerbachs „höheren“ Stil als den „metropolen“34 und den „niedrigen“ als den „umgangssprachlichen“ verstehen, dann behauptet er, dass wir in den biblischen Texten diese grundlegende Unterscheidung und das Bewusstsein finden, dass es einen Aufstand der subalternen Kultur gibt, die ihre eigene poietische Darstellung in ein kommunikatives Umfeld ein31 32 33 34
Auerbach, Mimesis, 26, 44, 73f. Said, Kultur und Imperialismus, 86. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations, 110-111, 157. Der ‚metropolitane‘ Stil muss vom ‚kosmopolitischen‘ insofern unterschieden werden, als ersterer das Gegenteil vom ‚Umgangssprachlichen‘ ist, und letzterer bereits mit Elementen des ‚Umgangssprachlichen‘ durchsetzt ist, sogar wenn er übersetzt und verheimlicht wird.
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bringen kann, das nicht ihr ursprüngliches ist – wobei dies ein riskantes aber auch lohnenswertes Unternehmen ist. Sie ist fähig, ihre unwahrscheinlichen ‚Güter‘ auf einem Markt zu verkaufen, den sie nicht hervorgebracht hat und der nicht unter ihrer Kontrolle ist, dennoch stellt sie sich parasitär in einem fremden Umfeld dar. Ein Beispiel davon ist Paulus’ Ausdruck von den „unbekannten Göttern“ der Athener vor denen, die im Areopag versammelt sind, dem Sitz des Obersten Gerichtes, das über Leben und Tod entscheidet. Der Ort und die Umstände, unter denen Paulus in die Identität des unbekannten Gottes, den die Athener schon verehrten, einführte, nämlich als den Mann Jesus von Nazareth, und in dessen Leben und Tod als ein hingerichteter Krimineller (Apg 17), lässt besondere Bedeutung vermuten. Paulus nutzt die RePräsentation der Jesusgeschichte und setzt sie ein als Stellvertreter auf dem religiösen Markt von Athen. Sieh an, der hybride Gott. Der Prozess, den diese taktische hybride Bewegung beinhaltet, ist komplex und es wert, dass man ihn näher betrachtet. Diese Verschiebung ist nicht nur das, was man als einen Aufstand der/des Subalternen auf einer Ebene der Repräsentation, die ihr/ihm fremd ist, bezeichnen könnte, sondern sie erzeugt auch Metamorphosen in eben jener Repräsentation. Wenn die Repräsentation das stabile Bild von unstabilen Erscheinungen ist, dann schmuggelt diese Verschiebung Elemente der Instabilität auf dieses neue semantische Terrain, das sie geschaffen hat. Auerbach beschreibt diesen Prozess als eine „figurative“ Methode, bei der Symbole, Tropen und Charaktere aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wieder erscheinen, durchtränkt mit einer neuen Bedeutung, doch ohne die ursprünglichen Figuren zu annullieren. Aber hier geschieht etwas Anderes, das dieser Verschiebung Berechtigung verleiht. Was hier geschieht, ist nicht nur eine ‚horizontale‘, kausale Beziehung von verschiedenen Zeiten und Orten (z.B. das Opfer von Isaak, das das Opfer Christi präfiguriert), sondern auch eine ‚vertikale‘ zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, die auf eine nicht-kausale Art die zwei historischen Ereignisse in einer einzigen Matrix verbindet (z.B. ist es Gottes Fürsorge und Treue, die sowohl der Isaak-Geschichte als auch der Passion und Inkarnation Christi ihre Bedeutung gibt, wobei sich die Bedeutung in letzterer voll und ganz manifestiert).35 Diese Verschiebung von Figuren zeigt, wie eine Re-Präsentation, die durch repräsentative Praktiken vermarktet wird, in anderen Situationen neu konfiguriert wird. Die Kontrolle über den Gebrauch der Re-Präsentation wird so der Hegemonie entzogen. Die Befugnis für die sich eindrängende Mobilität der Figuren wird nicht durch die legitimen Mittel eines etablierten Regimes beherrscht und genormt. Die Befugnis wird ‚vertikal‘ gegeben, durch die göttliche Vorsehung selbst. Wenn TheologInnen der Dritten Welt über ein neues Lesen der Bibel mit den Augen der an den Rand Gedrängten sprechen und wenn sie Zeugen der ermutigenden Effekte davon werden, dann schildern sie die Anwendbarkeit dieser ‚figurativen‘ Methode, in der, manchmal vorhergesehen und manchmal unvorhergesehen, biblische ‚Figuren‘ überraschend und störend in der 35
Erich Auerbach, Mimesis. The Representation of Reality in Western Literature, Princeton 1953, 73-74.
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ruhigen und geordneten Welt der theologischen, liturgischen, lehrenden und politischen Sphären auftauchen. Nicht nur Pharaonen, Propheten, Könige, Bauern, umherziehende Migranten, Fischer, Tiere, Drachen usw. erleben eine kreative Verschiebung in die zeitgenössischen Lebensumstände der subalternen Menschen, die sie in ihren eigenen Geschichten wiederfinden, sondern auch Ereignisse wie die Plagen, die Überquerung des Meeres, die Geschichte von Babel, die Stationen der Passionsgeschichte, die Parusie, das Königreich usw.36 Wenn man dieses neue Lesen in den Kontext unserer vorausgegangenen Diskussion über die erzeugte Komplizenschaft zwischen den beiden Bedeutungen von Repräsentation stellt, dann ermöglicht diese ‚figurative‘ Methode die Wiederherstellung der Re-Präsentation, indem sie das Band der Beherrschung durch ein dominantes Regime der Repräsentation löst, dem sie unterworfen war; Figuren werden ausgetauscht, verschoben, umgestaltet. Während die Praxis des Neulesens der Bibel unter Rückgriff auf die Umgestaltung immer noch in Gruppen stattfindet, die der Religion verpflichtet sind, findet diese Methode auch Eingang in säkulare Bereiche. Das transfigurative Element bleibt dasselbe, doch ist der religiöse Kontext oft nicht vorhanden. Doch gibt es Fälle, in denen die Sprache religiös bleibt, während der Kontext säkular ist. Ein faszinierendes Beispiel davon sind die Memoiren des brasilianischen Journalisten Flávio Koutzii aus der Zeit, als er politischer Gefangener unter dem argentinischen Militärregime war, zur Zeit seines Exils in diesem Land in den früheren 1980er Jahren. Koutzii ist ein säkularer Jude und ein politischer Kämpfer. In seinem Buch mit dem Titel Pieces of Death in the Heart,37 erzählt er die Geschichte der politischen Gefangenen, die keinerlei Literatur oder Medieninformationen über aktuelle Ereignisse bekamen und deren sämtliche Unterhaltungen aufgezeichnet wurden, um politische Diskussionen zu verhindern. Doch hatten sie Zugang zur Bibel, für die meisten von ihnen ein unbekanntes Buch. Zuerst wurden die biblischen Geschichten auf eine heimliche Art genutzt, um Zensur zu vermeiden. Sie wurden als einfache Allegorien aktueller Ereignisse genutzt. Der Autor macht die interessante Beobachtung, dass diese Geschichten plötzlich einen umstürzlerischen Ton annahmen und den Gefangenen eine Sprache gaben, um die Bedingungen, unter denen sie lebten und die politischen Umstände der Tage zu benennen; und diese Sprache, so fand man, war weitaus reichhaltiger als das säkulare, meist marxistische, politische Vokabular, das alle von ihnen meisterhaft beherrschten. Aus einem Trick, um die Zensur abzulenken, wurde der Akt der Verstellung zu einer Sprache, zu einer Mundart der Gruppe. Die säkulare, politische Sprechart, die ihnen vertraut war, war im Vergleich zu trocken und prosaisch, um die Tiefe ihrer eigenen Erfahrungen der Ausgrenzung auszudrücken.
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Für die Analyse der Anwendung von so einer ‚figurativen‘ Methode durch Bauern ohne Landbesitz in Brasilien, siehe Vítor Westhelle, Revelation13. Between the Colonial and the Postcolonial, a Reading from Brazil, in: From Every People and Nation. The Book of Revelation in Intercultural Perspective, hg. v. David Rhoads, Minneapolis 2005, 183-99. Flávio Koutzii, Pedacos e Morten o Coracao, Porto Alegre 1084.
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Dies sollte nicht überraschen, wenn man der „hartnäckigen These“ (Edward Said) Auerbachs folgt, der in der biblischen ‚figurativen‘ Methode die Geburt der westlichen Art der Repräsentation entdeckt, die im Roman ihren Höhepunkt findet. Aber warum im Roman, diesem häufigsten europäischen literarischen Genre? Einige Jahrzehnte bevor Auerbach Mimesis veröffentlichte, schrieb Georg Lukács Die Theorie des Romans. Darin finden wir eine interessante Behauptung, warum der Roman der Erbe der ‚figuralen‘ Methode ist und die privilegierte Quelle postkolonialer Studien. Wenn man das epische und das tragische Genre der Antike (welche Auerbach als typische Fälle für die Trennung der Stile genutzt hat) dem Roman gegenüberstellt, kommt Lukács zu einer aufschlussreichen Folgerung: „Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen.“ Und er fährt fort: „Epopöe und Tragödie kennen in diesem Sinn kein Verbrechen und keinen Wahnsinn.“38 Und er fährt fort: „Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt […].“39 Diese Verlassenheit ist die Erfahrung der Durchlässigkeit der Ränder, die nicht von innen ‚abgerundet‘ werden können, oder von einem transzendenten und gefühllosen Gott. Es ist diese Erfahrung der Überschreitung von Rändern, die den Roman nicht nur zum Ausdruck einer Welt macht, die von Gott verlassen ist, sondern umgekehrt auch zur „Form der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“40. Diese Sündhaftigkeit und Verlassenheit zeigt sich im Roman als das ‚Dämonische‘, das mit Goethe folgendermaßen beschrieben wird: Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles was uns begrenzt schien, für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen, und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.41
Diese Beschreibung der dämonischen Durchlässigkeit, die Lukács‘ eurozentrische Sichtweise enthüllt, ist auch eine Diagnose der übergreifenden Rolle der Repräsentationen im Roman. Dies macht aus dem Roman das bevorzugte Genre für die Untersuchung der Mechanismen von Kolonisation und Imperialismus und für die Anwendung bei postkolonialen Studien. Da der Roman geboren wurde, als die großen kolonialen Unternehmungen die europäische Herrschaft in Übersee begründeten, wurde er auch zum Ventil, durch das das postkoloniale Bewusstsein seinen Weg fand, um sich wieder einzuschreiben. Wenn Literatur über Ritterlichkeit, die dem modernen Roman direkt vorausgegangen ist, sich im Gepäck der ersten Konquistadoren befunden hat, haben einige kürzlich erschienene Romane gewissermaßen das vorangetrieben, was der nicaraguanische Philosoph Alejandro Serrano
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Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, München 1994, 51f. Lukács, Die Theorie des Romans, 77. Lukács, Die Theorie des Romans, 137. Lukács, Die Theorie des Romans, 76.
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Caldera „die Rückkehr der Karavellen“ nannte.42 Nach einer aufschlussreichen Analyse zeitgenössischer Romane, wobei die besten seiner Meinung nach aus den früheren Kolonien Europas kommen, schreibt Milan Kundera: Deshalb ist das allertraurigste an dieser traurigen Geschichte […]die Unfähigkeit Europas, die Kunst des Romans, diese europäischste aller Künste, , zu verteidigen und zu erklären (geduldig sich selbst und den anderen zu erklären), mit anderen Worten, seine eigene Kultur zu erklären und zu verteidigen. Die ‚Söhne des Romans‘ haben die Kunst, die sie geprägt hat, fallengelassen. Europa, die ‚Gesellschaft des Romans‘, hat sich selbst aufgegeben.43
Lukács‘ Aufschrei der Gottesverlassenheit und Kunderas Klage der Selbstaufgabe sind ein Beweis dafür, dass „das Zentrum sich nicht halten kann“, seit dasselbe Ventil, das zum Erobern benutzt wurde, herumgedreht wurde, herumgedreht wurde, um über denselben Pfad, der zum Erobern ausgedacht wurde, zurückzukommen.
Kommen wir nun zu … Verwandlungskunst Um den verbissenen Widerstand gegen die Aufgabe der enthüllenden/verhüllenden Dynamik der poietischen Re-präsentation und der kreativen Ankündigung der Rückkehr der Karavellen aufzuzeigen, werden anschließend einige Beispiele lateinamerikanischer Romane vorgestellt. Diese Literatur wird oft als magischer oder fantastischer Realismus eingeordnet, auch bekannt als phantastische Literatur, wie sie ursprünglich von Alejo Carpentier und Gabriel García Márquez definiert wurde.44 Neben der Debatte um die Unterschiede dieser zwei Beschreibungen ist ihre gemeinsame Grundlage die hybride, taktische Bewegung der Kreuzung, Verschiebung und Überschreitung von semantischen Bereichen, Bereichen, die sich selbst für die Transaktion von Repräsentationen zur Verfügung stellen. Die amerikanische Schriftstellerin Barbara Probst Solomon, die in einem Aufsatz über die Venezolanerin Teresa de la Parra und ihren magischen Realismus schrieb, beschreibt ihn treffend und bietet eine Unterscheidung an, die den zwei Bedeutungen der Repräsentation, wie sie oben diskutiert wurden, nicht unähnlich ist: „während wir Nordamerikaner beim magischen Realismus oft an exotische Kanarienvögel denken, die durch Fenster fliegen, liegen seine Wurzeln oft in verschleppten Tabus und im Verdrängen.“45 42 43 44 45
Alejandro Serrano Caldera, Filosofia e Crise. Pela Filosofia Latino-Americano, Petrópolis 1984. Milan Kundera, Verratene Vermächtnisse. Essay, München 1994, 32. Vítor Westhelle / Hanna Betina Götz, In Quest of a Myth. Latin American Literature and Theology, in: Journal of Hispanic/Latino Theology 3.1 (August 1995), 5-22. Barbara Probst Solomon, Barbara Probst Solomon in Teresa de la Parra, in: Mutual Impressions. Writers from the Americas Reading One Another, hg. v. Ilan Stavans, Durham 1999, 257.
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Eine passende Beschreibung einer solchen Verdrängung oder Überschreitung gibt Oswald de Andrade im frühen zwanzigsten Jahrhundert in seinem Anthropophagous Manifesto von 1928, wo er die brasilianische Kultur als „die Umwandlung von Tabus in ein Totem“46 definiert. In anderen Worten ist es der Austritt aus einer vorgegebenen Form politischer Repräsentation des Erlaubten und des Verbotenen (Tabu), um die poietische RePräsentation des Subalternen wieder einzuschreiben (Totem). Unter kolonialen oder neo-kolonialen Bedingungen demarkiert das Tabu die Grenze der Domäne des diskriminierten, subalternen Untergebenen, der der soziale, der kulturelle, der ökonomische, der sexuelle, der linguistische, ethnische oder jeder andere Bereich unterworfen ist. Die Tabus, die unter diesen Bedingungen erzeugt werden, sind diejenigen, die durch das Postkoloniale in Totems verwandelt werden. Der Widerstand, der hier aufgezeigt (und verheimlicht) wird, soll das Totem/Poietische davor bewahren, sich selbst aufzugeben zugunsten der Besänftigung der Forderungen der Tabus. Hybridität ist ein taktisches Zurückschrecken vor der Umwertung von Aussetzung/Verhüllung in einen Handelswert. In Bhabhas Worten: „Hybridität […] ergreif[t] vom dominanten Diskurs Besitz und [verfremdet] die Basis seiner Autorität“.47 Die Basis dieser Autorität ist im kolonialen Westen die Unterwerfung unter die Regeln des Diskurses. Selbst das Aufzwingen der Sprache durch die Kolonialmacht war explizit an die Unterwerfung der Subalternen unter die kolonialen Konversationsregeln gebunden. Dies wird am deutlichsten bei António de Nebrija, dem Autor der ersten katalanischen Grammatik, als er bei seiner Präsentation vor Königin Isabella von Spanien im Jahr 1492, der Morgendämmerung der kolonialen Unternehmungen, die Eroberung mit dem Aufzwingen der Sprache verband und behauptete, die Sprache sei das Mittel der Abwicklung von Repräsentationen. Der Autor schreibt: Die Sprache hat in dem Ausmaß immer die Herrschaft begleitet und ist ihr nachgefolgt, dass sie zusammen begannen und zusammen gewachsen sind und aufgeblüht sind […] als Folge des Sieges über die eroberten Menschen wurde diesen auferlegt, die Gesetze der Gewinner anzunehmen und durch meine Grammatik konnten sie Kenntnisse darüber gewinnen.48
In Shakespeares Der Sturm finden wir ein aufschlussreiches Beispiel für die Staatsgefährdung dieser repräsentativen Praxis. In diesem Fall zeigt die Überschreitung, wie die ‚transfigurale‘ Technik arbeitet und die allergische Reaktion, die sie auslöst. Nach einem Austausch, in den Prospero, der Kolonialherr, seine Tochter Miranda und Caliban, der Sklave, verwickelt sind, sagt letzterer in einer Beichte, was ihn in seinen kolonialen Status lockte: Mein ist die Insel, von der Mutter her Die du mir wegnimmst. Als du ankamst hier 46
47 48
Oswald de Andrade, Manifesto Antropófago, in: An Anthology of Brazilian Prose. From the Beginnings to the Present Day, hg. v. R.L. Scott-Buccleuch / Mario Teles de Oliveira, Sao Paulo 1971, 389. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 168. António de Nebrija, La Gramática Castellana. Vorwort, zitiert in: Ruggiero Romano, Os Mecanismos da Conquista Colonial. The Conquistadors, Sao Paulo 1973, 79.
Offene Ränder. Repräsentation, Hybridität und Transfiguration
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Da hast du mich gestreichelt, da hast du Viel hergemacht von mir, wolltest mir geben Wasser mit Beeren darin, wolltest mich lehren Wie man das große Licht nennt, wie das kleine Die brennen tag und nachts. Da liebt ich dich Und zeigte dir die Kräfte dieser Insel Quellen, Bracklöcher, fruchtbares Land und taubes.
Sofort kommt der Wechsel zur Bewusstheit und zur Scham: Verflucht ich, der das tat. […] Denn ich bin alle Eure Untertanen Früher mein eigener König.
In diese Verschiebung, von der aus er jammert, kommt dann der Rückschlag und das Eindringen von ‚Figuren‘ in genau die Bereiche, in denen es Caliban bedauert, dass er unterworfen wurde und repräsentiert von der Sprache des Kolonisierers, dem Mittel, durch das die repräsentive Praxis ausgeübt wird: […] Sycorax Zauber Kröten, Käfer, Fledermäuse auf Euch. […] Ihr gabt mir Sprache. Und mein Nutzen davon Ist dass ich fluchen kann. Hol Euch die Pest Fürs Lehren Eurer Sprache.49
Das Fluchen wendet sich zuerst gegen den beschämten Subalternen selbst. Im nächsten Augenblick wird es zu einem Instrument des Widerstandes gegen die koloniale Macht. Schließlich haben wir die Beherrschung der Technik der Transfiguration, die den Beginn eines postkolonialen Bewusstseins ankündigt. Spuren der Kolonisation befinden sich noch in dem, was abgebildet wird, aber die erlösten Figuren sind transfiguriert. Ein Hybride trägt jene in der Psyche, im Körper, in der Kultur eingeschriebenen Spuren. Das ist es, was damit gemeint wird, wenn wir sagen, dass es keine hybride Essenz oder Identität als solche gibt. Ein Hybride überschreitet bei diesem Akt der DePlazierung das ‚Eigene‘, das definitionsgemäß nicht überschritten oder sogar in eine andere Umgebung versetzt werden kann, weil das einzig verfügbare das ist, was er oder sie im gegenständlichen Handel getauscht, das heißt transfiguriert hat. Diese Transfiguration ist so durchtrieben, dass sie keinen Dritten benötigt, wie Bhabha beobachtet, aber sie erhält die Unentscheidbarkeit aufrecht, zerstört jeden Versuch, sich für die Gegenwart zu entscheiden, unzweideutig die Welt oder sich selbst auf so eine Art zu re-präsentieren, dass die Repräsentation in den Handelskreislauf eintreten kann, das heißt, dass das Totem sich in ein Tabu verwandelt. In diesem Sinne ist Hybridität eine parasitäre Taktik, einem Parasiten sehr ähnlich, der sich von seinem Wirt ernährt und ihn dabei umarmt, aber der sich ihm nicht ergibt. Beispiele hybrider Transfigurationen können in verschiedenen Bereichen lateinamerikanischer Literatur gefunden werden. Das Überschreiten der Zei49
Alle Zitate aus: William Shakespeare: Der Sturm. übers. v. Bernhard K. Tragelehn, Frankfurt a. M. / Stroemfeld 2006.
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ten im legendären Macondo, der fiktiven Stadt, in der die Ereignisse von García Márquez‘ Hundert Jahre Einsamkeit (und die einiger seiner anderen Romane) stattfinden, ist so ein Beispiel. Oder nehmen wir seinen biografischen Roman Der General in seinem Labyrinth, in dem der Autor eine Konversation zwischen Bolivar und einem aufgeklärten Franzosen beschreibt, der versucht, dem General im Verlaufe eines Mahls einige Lektionen in Geschichte zu erteilen. Die Konversation endet damit, dass Bolivar sich verärgert an seinen Gast wendet: „Versucht uns nicht beizubringen, wie wir sein sollen, geht nicht davon aus, daß wir euch gleichen müssen, und erwartet nicht, daß wir in zwanzig Jahren all das richtig machen, was ihr in zweitausend Jahren falsch gemacht habt.“ Dann stellt er das Silbergeschirr zur Seite und sagt verärgert: „Laßt uns bitteschön, verflucht noch mal, in Ruhe unser Mittelalter durchmachen.“50 Die Ironie ist, dass wir eben nur von einer europäischen Perspektive aus über das Mittelalter reden können. García Márquez lässt Bolivar die Autonomie und die Einzigartigkeit Lateinamerikas verteidigen, indem er parasitär den historischen Rahmen Europas nutzt, obwohl es nicht mehr von ihm regiert wird. Das ist hybride Transfiguration. Und der Roman, der gleichzeitig biografisch ist, gibt keinen Hinweis darauf, wo der historische Bolivar endet und der fiktive beginnt. García Márquez drückt es im fett geschriebenen Epigraph des ersten Bandes seiner kürzlich erschienenen Memoiren so aus: „Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“„51 Hybrid ist in der Tat Mackandal in Carpentiers El Reino de este mundo (Das Reich von dieser Welt), der die Grenze zwischen Mensch und Tier in sukzessiven Metamorphosen überschreitet. Oder es wird die Grenze zum Tod selbst überschritten, wie bei Vadinho in Jorge Amados Dona Flor und ihre zwei Ehemänner. Und bei Diadorim in Joao Guimaraes Rosas Grande Sertoes. Veredas (Grande Sertao) kann sogar ein Geschlechtswechsel beobachtet werden. Eines der faszinierendsten Beispiele multipler Kreuzungen wird in einer Myriade von Verstellungen in Mário de Andrades Macunaíma präsentiert. Die treffende Beschreibung der Hauptfigur als ‚Held ohne jeden Charakter‘ lässt die schwer fassbaren Taktiken der Transfiguration erkennen. Macunaíma, als Schwarzer von einer weißen Mutter im Herzstück des Amazonas geboren, migriert nach Sao Paulo, dem modernen Zentrum Südamerikas. Irgendwann wird er zur französischen Kurtisane, um den Giganten Venceslau Pietro Pietra zu verführen, der sein Amulett gestohlen hatte. In diesem Prozess wird selbst die Trennlinie zwischen Mensch und Maschine überschritten: Hier endeten seine Schlußfolgerungen, denn er war noch nicht ans Reden gewöhnt, aber er fühlte, zunächst noch ziemlich wirr, voraus, daß die Maschine ein Gott sein mußte, deren wahrhaften Herren die Menschen nur deshalb noch nicht waren, weil sie aus ihr noch keine erklärliche Iara, sondern nur eine Wirklichkeit der Welt gemacht hatten. Aus all dem Gedankengewirr zog er deutlich eine Erleuchtung: Die Menschen waren Maschinen und die Maschinen waren Menschen. Macunaíma 50 51
Gabriel García Márquez, Der General in seinem Labyrinth. Roman, Köln 1989, 165. Gabriel García Márquez, Leben, um davon zu erzählen, Köln 2002.
Offene Ränder. Repräsentation, Hybridität und Transfiguration
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lachte schallend heraus. Er merkte, daß er von neuem frei war, und das befriedigte ihn ungemein. Er verwandelte Jiguê in eine Telefonmaschine, rief Kabaretts an und bestellte Langusten und Französinnen.52
Obwohl eher surreal als phantastisch, ist Mário de Andrades Charakter im Vergleich zu den lateinamerikanischen Autoren, die eine Generation später folgen, tatsächlich der Avatar einer Menge Menschen, die ihre hybride Identität zu einer Überlebenstaktik schmieden. Ernesto Sábato hat besonders in Sobre heroes y tumbas (Über Helden und Gräber) die Überlegungen über Lateinamerikas ‚nicht-essentialistische ‚Unreinheit’ oder Hybridität, zum wahrscheinlich am meisten sich seiner selbst bewussten diskutierten Fall gemacht. In einer langen Diskussion über die Kritik wiegelt ein bestimmter Méndez gegen den angeblichen Mangel argentinischer Authentizität bei Jorge Luis Borges auf und Bruno, einer seiner Charaktere, gibt zurück: „Was? Sie wollen eine totale und absolute Originalität? So etwas gibt es nicht. Nicht in der Literatur und auch nirgendwo anders. […] Es gibt keine Reinheit in nichts Menschlichem. Die griechischen Götter waren auch hybrid, sie waren von den Religionen des Orients und Ägyptens infiziert (um es so auszudrücken).“53 Er könnte das gleiche auch über den christlichen Gott gesagt haben, einen armen heimatlosen Mann, der als ein Krimineller exekutiert wurde. Hybride machen Überschreitungen. Sie überschreiten Ränder, ihren eigenen Lebensraum, indem sie sich selbst verwandeln. Der Punkt ist jedoch, dass sie sich der transgressiven Rolle, die sie spielen, nicht hingeben, denn wenn sie das machen, dann steigen sie aus der Existenz als solcher aus und sind nur noch zugänglich in der Tradition der Erinnerung an die Opfer, von denen wir sehr viele haben. Sie können eine Identität vorgeben, die nicht falsch ist, aber beabsichtigt, und die immer etwas anderes, transfiguriertes vorgaukelt. In Erwiderung auf die Anschuldigung, Borges sei kein echter, authentischer Argentinier, sagt Sábatos Charakter Bruno: „Was sonst außer Argentinier könnte er sein? Er ist ein typisches, nationales Produkt. Selbst sein Europäismus ist national. Ein Europäer ist kein Europäist. Ein Europäer ist schlicht und einfach ein Europäer.“54 In der Tat könnte man sagen, dass Borges ein Parasit Europas war.
Zum Beenden… … dieses Gegendiskurses wäre eine Schlussfolgerung angemessen, aber aus genau diesem Grund ist sie unmöglich. Mein hoffnungsvolles Ziel war es, aufzuzeigen, dass die Hegemonie genau von dem nahtlosen Kontinuum zwi52 53 54
Mário de Andrade, Macunaíma. Der Held ohne jeden Charakter, übers. v. C. MeyerClason, Frankfurt a. M. 2001, 37. Ernesto Sábato, Sobre Héroes y Tumbas, Buenos Aires 1965, 181. Auf Deutsch erschienen als: Sábato ,Über Helden und Gräber, übers. v. Otto Wolf, München 1977. Ernesto Sábato, Sobre Héroes y Tumbas, 180.
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schen den beiden Bedeutungen von Repräsentation abhängt, die sie ununterscheidbar machen. Postkoloniale gegen-hegemoniale Taktiken investieren in die Diskontinuität zwischen diesen beiden Bedeutungen, der poietischen RePräsentation (‚Portrait‘) und der politischen Praxis der Repräsentation (‚Stellvertreter‘). Durch diese Unterscheidung aktiviert eine hybride Geste, die die Diskontinuität zeigt, die poietischen Figuren und destabilisiert ein hegemoniales Regime. So eine Taktik findet ihr Geburtsrecht in der biblischen Literatur, von wo aus sie ihren Weg in den modernen Roman fand, das privilegierte Genre sowohl für den kolonialen Diskurs als auch für den postkolonialen Gegendiskurs. Ohne einen Abschluss biete ich zwei Texte an, die vor zwei Jahrhunderten abgefasst wurden und die einerseits die Konsequenzen des hegemonialen Diskurses aufzeigen, und andererseits den unerschöpflichen Quell des Gegendiskurses. Der erste ist von Jean-Jacques Rousseau und wurde Mitte des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben: Drei oder vier Jahrhunderte nachdem die Einwohner Europas die anderen Teile der Welt überflutet haben und ohne Unterlass neue Reiseerzählungen und Berichte verbreitet haben, bin ich überzeugt, dass wir keine menschlichen Wesen kennen außer den Europäern.55
Das zweite, das ihm rhetorisch entspricht, ist aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Autor ist der kolumbianische Literaturkritiker und Schriftsteller Jorge Zalamea und es zeigt die Irreduzibilität der poietischen Re-Präsentation und ihr Potenzial für einen Aufstand: Nach einer schwer zu zählenden Anzahl von Jahren des Lesens, der Studien, der vergleichenden Analysen, der Übersetzungen und der Reisen durch fünf Kontinente, kam ich zu dem beruhigenden Schluss, dass es in der Poesie kein unterentwickeltes Volk gibt.56
Erstveröffentlichung als: Vítor Westhelle, Margins Exposed. Representation, Hybridity and Transfiguration, in: Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, hg v. R.S. Sugirtharajah, London 2008, 69-87.
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„Depuis trois ou quatre cents ans que les habitants de l’Europe indonent les autres parties du monde et publient sans cesse de nouveaux recueils de voyages et relations, je suis persuadé que nous ne connaissons d’hommes que les seuls Européens.” Zitat im Königlichen Museum der Schönen Künste, Antwerpen, America. Die Braut der Sonne, Antwerpen 1992, 23. ”Después de unnúmerode anos ya dificilmente confesable de lecturas, estudios, cotejos, traduciones, y viajes por los cinco continents, he llegado a la conclusion consoladora de que en poesía no existen pueblos subdesenvolvidos.” Zitat in Guillermo Alberto Arévalo (Hg.), Poesía Indigena de América, Bogotá 1988, 7.
Heimat als Grenzland. Territorien christlicher Subjektivität Michael Nausner
„Wenn die Liminalität des Nation-Raumes erst einmal etabliert und seine bedeutungskonstituierende Differenz von der „Außen“-Grenze auf seine „Binnen“-Grenze übergegangen ist, stellt die Bedrohung durch kulturelle Differenz kein Problem „anderer“ Leute mehr dar. Sie wird zu einer Frage der Andersheit des Volkes-als-dem-Einen.“ Homi K. Bhabha1
Unheimelige Heimat2 Vor nicht langer Zeit wurde ich gebeten, mich mit der Thematik „religiöse Reflektionen über die Heimat“ zu befassen. Hier war ich, ein Österreicher/Schwede mit doppelter Staatsbürgerschaft, doppelt verunsichert, wann immer ich den Begriff Heimat höre, und vor die Herausforderung gestellt, über Aspekte der Heimat aus religiöser Perspektive nachzudenken. Hier war ich, ein nicht-amerikanischer Geistlicher in einer paradigmatisch amerikanischen Glaubensgemeinschaft (der Vereinten Methodistischen Kirche), der über Aspekte von Heimat nachdachte, während er vorübergehend als Fremder im mächtigsten Heimatland dieses Planeten lebte. Ich gebe zu: Ein ganz und gar unheimeliges Gefühl kommt in mir auf, wenn ich über den Begriff Heimat nachdenke, der gewöhnlich als natürliche Einheit angesehen wird, die es zu bewahren und zu verteidigen gilt. Ich weiß, dass es nicht meine Heimat ist; oder genauer: Es ist und es ist nicht meine Heimat. Ich habe meine Existenzgrundlage hier, wenn auch mein offizieller Status „ein nichtansässiger Ausländer (non-resident alien)“ ist. Als männlicher, weißer Europäer bin ich nicht der Marginalisierung und Unterdrückung ausgesetzt, wie es viele postkoloniale Subjekte sind, aber das Gefühl der Unheimlichkeit klingt in mir nach. Was viele als zu Hause ansehen, hat für mich oft etwas Unheimeliges oder sogar etwas Unheimliches, weil es mir scheint, dass die vorherrschende Bedeutung von Heimat dann erreicht wird, wenn man es von
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Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000, 224. Ich möchte Harald Bohlin, Catherine Keller, David Markay, Lee Quinby und Mayra Rivera für ihre hilfreiche Kritik, als ich diesen Aufsatz geschrieben und wieder geschrieben habe, danken.
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dem Unheimlichen, Sonderbaren und Fremden reinigt – indem man es nach draußen, auf die Anderen zu projiziert.3 Während meines akademischen Aufenthalts in diesem mächtigsten der Heimatländer ereignete sich der Terroranschlag vom 11. September 2001. Wie alle Amerikaner war ich schockiert, in Panik und tief betroffen über die Tatsache, dass der Terrorismus die Heimat erreicht hatte. Das Heimatland aller Amerikaner war also doch auch mein vorübergehendes Heimatland. Sofort nach dem Anschlag erhielt der Begriff Heimatland eine neue und intensivere Bedeutung. Die öffentliche Diskussion in den Vereinigten Staaten verschob sich hin zu der Frage nach Sicherheit für das Heimatland und seine Grenzen. Die Aufmerksamkeit fokussierte sich auf die nationalen Grenzen mit Mexiko und vor allem mit Kanada sowie auf die internationalen Flughäfen. Das sichtbarste Zeichen von diesem neuen Fokus auf das Heimatland und seine Grenzen war die Einrichtung einer neuen Behörde durch die BushRegierung – dem Department of Homeland Security. Grenzkontrolle war einer der Ausdrücke, die plötzlich wiederholt in den Nachrichten und im öffentlichen Diskurs gehört werden konnten. Die Grenzkontrolle würde eine der Hauptaufgaben der neu errichteten Behörde sein. Der erste Direktor dieser Behörde, Tom Ridge, hat nachdrücklich und wiederholt verkündet: „Wie ich am Tag eins sagte, ist der einzige Rasen, um dessen Schutz wir uns sorgen sollten, der Rasen, auf dem wir stehen.“4 Hier bedeutet „Heimat“ ein Stück Rasen, das geschützt werden muss. Obwohl dieses Statement an sich keine expliziten religiösen Assoziationen beinhaltet, hallt in dieser Art öffentlicher Rede im Kontext der fast allgegenwärtigen Phrase „Gott schütze Amerika“ ein religiöser Anspruch für ein bestimmtes Gebiet nach. Die Heimat scheint ein von Gott gegebenes Gebiet zu sein und erinnert an das, was der puritanische Minister John Cotton fast vierhundert Jahre vorher als christlichen Anspruch auf Land in Neuengland verstanden hat.5 Natürlich war Cotton in bezug auf die Freiheit misstrauischer als Tom Ridge und hätte nicht für ihre Verteidigung plädiert. Indem Tom Ridge verkündet: „[W]ir haben hart gearbeitet, um unsere Freiheiten zu beschützen, was gewährleisten soll, dass unsere Freiheiten uns beschützen“,6 präsentiert er die milliardenschwere Behörde des Homeland Security als ein Bollwerk für den Schutz der Freiheit. John Cotton und seine puritanischen Landsleute dagegen glaubten an eine „heilige Unterwerfung unter Gottes Wille“ und „sahen eine theokratische, von der Regierung ausgehende Hierarchie als eine notwendige Kontrolle der Gefahr, die durch die Freiheit ausging, insbeson-
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Siehe Bhabhas Analyse von Nadine Gordimers und Toni Morrisons Darstellungen der Unheimlichkeit. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 13-27. Von den Anmerkungen des Direktors der ‚Homeland Security’ Tom Ridge zur ‚National Association of Broadcasters Education Foundation 2002 Service’ für den Amerikanischen Gipfel am 10. Juni 2002. Text verfügbar auf http://www.whitehouse.gov/releases/2002/06/200220610-7.html. David Chidester, Christianity. A Global History, San Francisco 2000, 389-90. Anmerkungen des Sekretärs von Tom Ridge zum American Enterprise Institut: „Securing America in a Post 9/11 World“, gefunden auf http://www.whitehouse.gov/ news/releases/2003/09/20030902-7.html.
Heimat als Grenzland. Territorien christlicher Subjektivität
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dere die Redefreiheit.“7 Man fragt sich – angesichts des ungeheuren Ausmaßes des Regierungsorgans Homeland Security – ob Überreste dieses puritanischen Gefühls für eine Kontrolle durch die Regierung nicht doch noch unterhalb der offiziellen Redefreiheit fortbestehen. Kann die Freiheit wirklich durch die exponentielle Ausweitung von Kontrollmechanismen verteidigt werden? Aber, um näher am Thema dieses Aufsatzes zu bleiben: Durch eben jene Wahl des Begriffs Heimatland konzentriert er sich nicht nur „auf die Anerkennung, dass die Heimat die Funktion eines symbolischen Raumes hat,“8 wie Lee Quinby ausführt; er beschwört auch religiöse Assoziationen herauf, denn er erinnert sowohl an die religiöse Vision eines neuen Jerusalems der frühen amerikanischen Siedler, als auch an das höchst umstrittene und oftmals religiös legitimierte jüdische Heimatland.9 Eine Verschmelzung zwischen Religiosität und Territorialität findet statt. Ich glaube, sie fordert uns heraus, über die Beziehung zwischen Religion und „dem Land“ nachzudenken. Das Verständnis sowohl von „dem Land“ als „Rasen“, der in saubere Stücke geteilt werden kann, als auch von den Gläubigen als zugehörig zu einem einzigen Rasenstück, das von den anderen Rasenstücken abgeschnitten ist, zeugt von einer gefährlichen Vereinfachung. Es ist paradox, dass die Verteidigung des „einzigen Rasens, der es wert ist, verteidigt zu werden“, dem Rasen der Vereinigten Staaten, mehr und mehr auf „fremdem Rasen“ ausgeführt wird. Militärische Operationen im Mittleren Osten und anderswo werden öffentlich als Aktionen zur Verteidigung des Heimatlandes der Vereinigten Staaten interpretiert.10 Amerikanische ChristenInnen und die ChristenInnen weltweit sind geteilter Meinung, was die Legitimität dieser Operationen betrifft und folglich auch hinsichtlich einer christlichen Antwort darauf. Wie weit können jene unter uns, die sich Christen nennen, sich erlauben, in der Polarisierung zwischen unserem eigenen Heimatland und dem fremden Land anderer Menschen gefangen zu sein? Ist eine Heimat oder ein Heimatland wirklich immer dann am besten verteidigt, wenn man anderswo angreift? Wie sollen wir mit den inneren Folgen äußerer Aggression umgehen, die Quinby so treffend folgendermaßen beschreibt: „die Bedrohung … des Empire wandte sich nach innen, das heißt, hin zur Ausübung absoluter Autorität durch die Herrscher 7
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Lee Quinby, The Gothic Fearscape of Homeland (In)Security, präsentiert bei An American Empire Globalization, War, and Religion. Drittes transdisziplinäres theologisches Kolloquium, Drew University, 25.-27. September 2003, 5. Lee Quinby, The Gothic Fearscape, 12. Obwohl meine Grübeleien über Heimat und Grenzen aus einer religiösen Perspektive Auswirkungen auf die Situation in Israel/Palästina haben könnten (z.B. in Bezug auf die Ideologie, die hinter dem „Sicherheitszaun“, der zwischen israelischem und palästinensischem Gebiet errichtet wurde, steht), ist es nicht die Absicht dieses Aufsatzes, diese Situation zu analysieren. „Der beste Weg, um Furcht zu überwinden und um die Pläne unserer Feinde zu durchkreuzen, ist es, zu Hause vorbereitet und entschlossen zu sein und im Ausland in die Offensive zu gehen … Durch die Aktionen, die wir weiterhin im Ausland durchführen, wenden wir ernsthafte Bedrohungen von Amerika und der Welt ab.“ Siehe George W. Bushs Bemerkungen bei der Appropriation der Homeland Security. Appropriations-Akt im September 2003. http:/www.whitehouse.gov/news/releases/ 2003/10/20031001-4.html.
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der Vereinigten Staaten gegenüber der Bevölkerung der USA“?11 Eine Offensive im Ausland geht allzu leicht mit immer weniger „heimeligen“ Situationen im Inland einher. Dies wird von einer steigenden Anzahl von Menschen, die in den USA leben und dort einreisen, so erlebt (z.B. durch Verschärfung der Immigrationsgesetze; zunehmende Rechte für die Exekutive; abnehmende Rechte für die Einzelnen, besonders für die, die nicht USStaatsbürger sind; sich verschlechternde Lebensbedingungen für Einwohner mit niedrigem Einkommen; ganz zu schweigen von den vielen tausend Traumatisierten zu Hause aufgrund militärischer Operationen im Ausland). Die beabsichtigte Vernichtung des Feindes außerhalb löst eine Dynamik von Furcht, Argwohn und Spaltung innerhalb aus. „[D]ie paranoiden, „nach außen“ gerichteteten Projektionen kommen zurück, um den Ort, aus dem sie entstanden sind, heimzusuchen und zu spalten“ , wie Homi Bhabha es ausdrückt.12 Die Heimat selber wird ein unheimlicher Ort. Ich behaupte, dass diese versuchte Polarisierung zwischen sicherem Heimatland und gefährlichem Ausland zumindest teilweise etwas mit der problematischen Auffassung von Grenzen und Ländern zu tun hat. Deshalb will ich in diesem Kapitel die Leichtigkeit hinterfragen, mit der zuweilen das Heimatland als fremden Ländern gegenüber verpflichtend dargestellt wird. Wie könnte eine theologische Reimagination des eigenen Heimatlandes aussehen? Wie können wir uns die Zugehörigkeit zu einem Land ausmalen, ohne diese in konfrontativen und binären Begriffen wie Heimatland im Gegensatz zu Ausland zu fassen? Ungeachtet meiner eigenen geografischen Dislozierung möchte ich das bestätigen, von dem ich glaube, dass es in der beinahe religiösen Hingabe zum eigenen Heimatland gespiegelt wird: nämlich, dass jede religiöse Praxis auf die eine oder andere Art geografisch und territorial verankert ist. Die Verortung der religiösen Praxis ist ausschlaggebend für die Praxis selbst. Aber es ist nichts Natürliches in der Beziehung zwischen Religiosität und Raum. Ein besonderes Augenmerk für die Wechselbeziehungen zwischen Raum und Religiosität teile ich mit Religionswissenschaftlern, die sich mit religiöser Räumlichkeit beschäftigen. Thomas Tweed z.B. legt seine eigene „Neigung, räumliche Motive hervorzuheben, um Religion zu verstehen“, offen. Er folgt kritischen Theoretikern in einer bestimmten, beachtenswerten Verschiebung „vom Text zum Territorium“.13 Das soll natürlich nicht heißen, dass das Territorium das Definitionsmerkmal für christliche Identität werden sollte. Als Theologe verstehe ich diese Verschiebung vom Text zum Territorium eher als eine hilfreiche Ermahnung, dass die christliche Theologie sich oft als textgetreue Praxis dargestellt hat, losgelöst von jeglicher territorialen Bindung. Können wir uns gleichzeitig gegen die Verschmelzung von christlicher und territorialer Identität wehren, während wir darauf bestehen, dass die Aus11 12 13
Quinby, The Gothic Fearspace, 2. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 223. Thomas Tweed, On Moving Across. Translocative Religion and the Interpreter’s Position, in: Journal of the American Academy of Religion 70, Nr. 2 (Juni 2002), 26061.
Heimat als Grenzland. Territorien christlicher Subjektivität
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übung des Christentums an irgendeinem Ort stattfindet? Ich behaupte, dass christliche Identität nicht an eine bestimmte Territorialität gebunden werden kann. Oder, wie Kathryn Tanner zu Recht fordert: „Christliche soziale Existenz ist […] ohne ein Heimatland in irgendeiner territorial lokalisierbaren Gesellschaft.“14 Dennoch muss das Christentum und jegliche religiöse Praxis als zu einem Gebiet zugehörig verstanden werden. Aus christlicher Perspektive jedoch sollte diese territoriale Verbundenheit nicht als feste Okkupation eines bestimmten Raumes verstanden werden, sondern als kontinuierliche Verhandlung unserer Räumlichkeit. Das territoriale zu Hause eines Christen ist nie festgelegt, sondern etwas, das in ständigem Austausch mit jenen, die als fremd wahrgenommen werden, ausgehandelt werden muss. Deshalb möchte ich für ein theologisches Verständnis der Heimat als Grenzland plädieren. Ein derartiges Verständnis impliziert eine christliche Existenz, die niemals ein Heimatland mit bequem festgelegten Grenzen für sich in Anspruch nehmen kann, sondern in einem sich ständig verschiebenden Grenzland existiert. Der deutsch-amerikanische Theologe Paul Tillich hat diese christliche Existenz in einer unbequemen Grenzsituation in seinem frühen Werk Religiöse Verwirklichung15 beschrieben. Was er auf den deutschen Protestantismus in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bezog, kann, so glaube ich, auf ein christliches Verständnis räumlicher Zugehörigkeit im allgemeinen angewandt werden. In diesem frühen Werk beschreibt Tillich die christliche Existenz selbst als eine unruhige Grenzsituation im Sinne eines heideggerschen „Geworfenseins“. Wir werden in diese Grenzsituation geworfen. „Der Ort der Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort.“, argumentiert Tillich und führt aus dass „jede Sache von ihrer Grenze her bestimmt werden [muss] – worauf schon sprachlich das Wort ‚Definition’ hinweist.“16 Wir verstehen Dinge de fine (lateinisch: „von der Grenze“).17 Obwohl Tillichs dialektisches Verständnis der Grenzsituation nicht direkt auf unsere multikulturelle und globalisierte Situation angewandt werden darf, finde ich diese religiöse Lesart heideggerscher Erkenntnis als hermeneutisches Werkzeug um menschliche – und in der Tat christliche – Existenz zu verstehen, immer noch fruchtbar. Als Menschen und als ChristenInnen ist unser zu Hause in gewissem Sinn immer an der Grenze. Obwohl ich Tillichs sehr schematisch-binärer Vorstellung, dass wir uns zwischen zwei Einheiten18 befinden, nicht zustimme, bestätige ich doch das Gefühl des Bangeseins und des sich Abmühens in den vielfältigen Grenzsituationen. Heideggers Nachsinnen über Grenzen inspiriert ebenso den postkolonialen Theoretiker Homi K. Bhabha; er zitiert ihn zu Beginn seines grundlegenden Werkes Die 14 15 16 17 18
Kathryn Tanner, Theories of Culture. A New Agenda for Theology. Guides to Theological Inquiry, Minneapolis 1997, 103. Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930. Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung, 11. Das trifft auch auf den griechischen Ausdruck horismos zu, der sowohl als „Grenze“ als auch als „Definition“ übersetzt werden kann. Siehe vor allem die vielen binären Paare, die er selber als „gefangen dazwischen“ beschreibt in seinem autobiografischen Buch: Paul Tillich, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs Stuttgart 1962.
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Verortung der Kultur: „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“19 Bhabha nimmt diese entscheidende und definierende Funktion der Grenze ernst. Er führt die Analyse der Grenze selbst jedoch zu einer neuen Komplexität, die in einem gewissen Sinn das binäre System der existentiellen Philosophie zum Explodieren bringt. Dann müssen Grenzen als etwas Dynamischeres verstanden werden als die anscheinend starren Trennungslinien zwischen modernen Nationen oder zwischen Kulturen und Religionen. Und das hat Konsequenzen für das theologische Denken bezüglich Land und Grenzen. Eine postkoloniale Analyse von Grenzen zusammen mit einer anthropologischen Beschreibung von Territorium wird dabei hilfreich sein, über „das Land“ für eine christliche Theologie des Grenzlandes konstruktiv neu nachzudenken.
Grenzen als Verhandlungsfelder Homi K. Bhabha könnte als sehr achtsamer Analyst der Grenze beschrieben werden. Für ihn ist eine Grenze nie eine gegebene Sache, die eines klar vom anderen teilt, sondern stets auch ein Ort von Verhandlung und Hybridität. Eine der aussagekräftigsten Beschreibungen der Grenzdynamik findet sich in seinem Aufsatz „Durch Brot allein. Zeichen der Gewalt in der Mitte des 19. Jahrhunderts“20. Dort analysiert er die vergeblichen Versuche der britischen Kolonialherren, die Kontrolle und Trennung in Indien während des indischen Aufstandes in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts aufrecht zu erhalten. Die Grenzen zwischen den Kolonialherren und den Kolonisierten brechen zusammen aufgrund von „Angst“, die „unkontrolliert auf beiden Seiten [zirkuliert]. Sie verbreitet sich über ein von ethnischen und kulturellen Binarismen gekennzeichnetes Wissen hinaus und wird bei der Verhandlung kolonialer Macht-Beziehungen zu einem neuen, hybriden Raum kultureller Differenz.“21 So gerne die Briten auch klare Grenzen beibehalten würden, erlaubt es die Furcht, die sich nach Bhabhas Analyse willkürlich unter allen ausbreitet, nicht, diese Grenzen als Trennungslinien zwischen zwei sich klar unterscheidenden Gruppen zu verstehen. Sie sind eher schwer fassbare Kontaktzonen, entlang dener sich die Subjektivität sowohl der Briten als auch der Inder herausformt. Die sich ausbreitende Furcht wird hier nicht als ein Gefühl gesehen, das die Briten und Inder auf eine klar sich unterscheidende Art befällt, sonder eher als eine geteilte Emotion, die die Linie zwischen beiden Gruppen verschwimmen lässt. Es gibt ein Band der Furcht, das jede versuchte Polarisation zunichte macht. Kann eine ähnlichdurchdringende Panik 19
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Martin Heidegger, Bauen -Wohnen - Denken, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Teil 2, Pfullingen, 1967, S. 29; zitiert in Bhabha, Die Verortung der Kultur, 1. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 295-315. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 304.
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und Furcht in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und bestimmten Ländern des Mittleren Ostens wahrgenommen werden, eine Furcht, die die Hoffnung, eindeutige Grenzen zwischen ihnen aufrecht zu erhalten, bereits unterminiert hat? Die verstärkte Überprüfung arabisch-amerikanischer US-Staatsbürger ist ein typisches Beispiel. Sie sind angeblich innerhalb sicherer Grenzen, aber oft erfahren sie eine Behandlung als Outsider. Die Geschicke verschiedenster Länder hängen miteinander zusammen. Die Grenze wird ein „Rand der Hybridität, an dem kulturelle Differenzen einander „kontingent“ und konfligierend berühren.“ Dieser Rand „widersetzt sich der binären Gegenüberstellung von ethnischen und kulturellen Gruppen […], sofern sie als homogene Polaritäten des politischen Bewußtseins aufgefaßt werden.“22 Hier ist der Rasen schneidende Spaten, der versucht, dieses Land von jenem oder diese Kultur von jener zu trennen, völlig unnütz. Es wird ihm nicht gelingen, Länder und Kulturen sauber zu trennen. Bhabhas Analyse von Grenzen als komplexe Verhandlungsfelder eher denn als dünne Trennungslinien ist unmittelbar relevant für die Wiedererarbeitung des Konzeptes von Heimatland. Sie impliziert, dass das Gebiet oder „der Rasen, auf dem wir stehen“ nicht sinnvoll als eindeutige Fläche, die sauber festgelegt und von Grenzen eingeschlossen ist, erfasst werden kann. Grenzen können eher als komplexe Austauschorte, sowohl im geografischen als auch im kulturellen Sinn, verstanden werden. In diesem Verständnis ist ihre primäre Bedeutung nicht das strikte Fernhalten oder die Trennung von Kulturen und Territorien. In ihrer Gemachtheit sind sie keine natürlichen Trennungslinien, sondern eher äußerst relevante Orte für die Produktion von Bedeutung. Grenzen treten hervor als privilegierte Felder der Begegnung, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten ständig ausgehandelt werden.
Heimat als Grenze Wissenschaftler des Transnationalismus haben ein Verständnis der Heimat oder des Heimatlandes als klar definierten natürlichen Ort erfolgreich dekonstruiert. Heimat und Heimatländer sind kulturelle Produkte, deren Wert, so schlage ich vor, nicht das vernachlässigen sollte, was innerhalb der konstruierten Grenzen vor sich geht. Wenn man die Grenzen designierter Heimatländer befestigt, riskiert man das zu vernachlässigen, was an interner Machtdynamik vor sich geht. Diese imitieren oft im Innreren die nach außen gerichteten aggressiven Projektionen.23 Man begreift nicht das Wesentliche, 22 23
Bhabha, Die Verortung der Kultur, 309. George W. Bushs Ansprache zur Lage der Nation im Januar 2004 scheint mir das weit verbreitete Gefühl widerzuspiegeln, dass Grenzkontrolle in jedem Fall gut sei. Die Verbindung zwischen den Grenzen des Heimes und des Heimatlandes wurde klar, als er über den Schutz des Heimatlandes und ein wenig später über den Schutz der Ehe sprach. Ein fest begrenztes Heimatland / eine fest begrenzte Nation hat die Verpflichtung, ein fest begrenztes Heim zu beschützen: „Die Männer und Frauen unseres neuen Homeland-Security-Departments patrouillieren an unseren Küsten und
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wenn man sich nur auf die Grenzkontrolle eines heimatlichen Raumes konzentriert, welche in den USA (und ganz sicher auch in vielen anderen Teilen der Welt) ein Paradebeispiel für repressive Machtverhältnisse ist, wie es Quinby betont hat.24 Darüber hinaus kann ich als Christ es nicht vermeiden, die Ambiguität des heimatlichen Raumes mit der Tatsache zu verbinden, dass Jesus seine erste reelle Todesdrohung in der vertrauten Umgebung seiner Heimatstadt Nazareth erhielt (Lk 4,21-30) und dass er andererseits die Vorrangstellung der familiären Bande zurückwies (Mt 12,46-50). Die Zurückweisung von Jesus in seiner Heimat und seine neue Definition der Familie erinnert an eine Erkenntnis postkolonialer und kultureller Kritik, nämlich dass zu Hause charakterisiert wird durch die Ambivalenz von Ort und Begehren und daher nicht das „Set materieller, gemeinschaftlicher und emotionaler Sicherheiten“ darstellt, wie es von den Aposteln von Ordnung und Sicherheit versprochen wird. „Zugehörig sein“ ermahnen uns Aamir Mufti und Ella Shohat, „kann nicht im gegenständlichen Raum von Wänden und Dächern untergebracht werden, in eingezäunten Gebieten und in gut gezeichneten Karten“.25 Die postkoloniale Feministin Susan Stanford Friedman hat die Konsequenzen des geopolitischen Denkens für das Konzept der Heimat und des Heimatlandes ausgewertet. Demnach würde so eine Denkweise „die geopolitischen Grenzen zwischen der Heimat und anderswo einreißen, indem sie die Arten und Weisen, auf die das Lokale und das Globale bereits stets ineinander greifen und sich vermischen, ausfindig macht.“26 So eine geopolitische Denkweise hilft einem, sich daran zu erinnern, dass es kein lokales zu Hause gibt, das nicht schon mit globalen Einflüssen durchsetzt ist. Interkulturelle Verhältnismäßigkeit entzieht „Heimat“ ihrer naturalistischen Begründung, meint Friedmann, und kann „viele der kulturellen Konstruktionen, die wir ganz selbstverständlich als ‚natürlich’ betrachten, zum Vorschein“27 bringen. Mufti und Shohat arbeiten in einem postkolonialen Kontext diese Denaturalisierung der Vorstellung von Heimat weiter sorgfältig aus: „In der Gestalt des Migranten scheint die Heimat, dieser Ort und die Zeit außerhalb von Ort und Zeit sich mit ihrem Gegenteil, dem Exil, dem Außerhalb, dem Anderswo durcheinander zu mischen. Daher zieht sie eine kritische Praxis an, die danach strebt, das Binäre wie zugehörig/nicht zugehörig, loyal/unloyal aufzuheben.“28 So ficht die postkoloniale Theorie die geläufigen Konstruktio-
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Grenzen. Und ihre Wachsamkeit beschützt Amerika […] Unsere Nation muss die Unverletzlichkeit der Ehe verteidigen“, gefunden auf http:www.whitehouse.gov/news/releases/2004/01/20040120-7.html. Lee Quinby, Resistance on the Home Front. Re(con)figuring Home Space as a Practice of Freedom, in: Anti-Apocalypse. Exercises in Genealogical Criticism, Minneapolis 1994, 135-53. Anne McCLintock u.a., Dangerous Liaisons. Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, Minneapolis 1997, 1. Susan Stanford Friedman, Mappings. Feminism and the Cultural Geographics of Encounter, Princeton 1998, 110. Stanford Friedman, Mappings, 114. McClintock u.a., Dangerous Liaisons, 8.
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nen von Heimat und Heimatland als rein und natürlich exklusiv gegenüber denen an, die angeblich nicht zu dieser Heimat gehören. Die Theorie hat jedoch ihre Kritiker. In ihrem Buch Empire tun Michael Hardt und Antonio Negri postkoloniale Theorie ab als lediglich nützlich, „um Geschichte neu zu interpretieren, aber es reicht bei weitem nicht dazu aus, die heutige globale Macht theoretisch zu erfassen“29 Meiner Ansicht nach geht diese Kritik zu weit. Hardt und Negri vernachlässigen hier das Potenzial einer postkolonialen Dekonstruktion jener Grenzen, die trotz aller grenzüberschreitenden Globalisierung von vielen so wahrgenommen werden, dass sie Einheiten rigoros teilen. Grenzen als solche werden nicht ausradiert, aber ihre Formbarkeit und ihre Instabilität können mittels postkolonialer Theorie hilfreich aufgezeigt werden. Obwohl dieser postkoloniale Blick auf Grenzen sicherlich das Konzept von Heimat und fester nationaler Identität bedroht, muss er für die christliche Identität nicht nachteilig sein. Die christliche Identität kann als eine Aufgabe angesehen werden, die, wie Tillich es ausdrückt „von der Grenze her um Verwirklichung ring[t]“30. Sachkundig durch die postkoloniale Theorie, verstehe ich diese Grenze weniger als Perspektive denn als Bedingung sine qua non. ChristIn sein bedeutet GrenzbewohnerIn sein, und dass man in diesem Zwischenraum geformt wird. „Das Besondere am christlichen Lebensweg“, schreibt Tanner „wird nicht so sehr durch die Grenze geformt, als an ihr; die christliche Besonderheit ist etwas, das sich während der kulturellen Prozesse, die an der Grenze ablaufen, herausbildet.“31 So eine Klarheit ist deshalb nichts Gegebenes, sondern eher eine Aufgabe und letztendlich unvorhersehbar.32 Die Grenze muss nicht gemieden oder einfach überschritten, sondern eher als Heimat beansprucht werden. So wird das Heimatland zum Grenzland, zu einem Ort, wo man Solidarität mit Anderen, mit Fremden praktiziert. Dieses Verständnis der Heimat als Grenze schwingt mit in Bhabhas Behauptung, dass das Leben an multiplen Grenzlinien uns in eine Position bringt, in der wir Unterschiede in eine Art von Solidarität umsetzen müssen.33 Gloria Anzaldúa erinnert uns in ihrem Buch Borderlands/La Frontera, das mittlerweile ein Klassiker ist, natürlich daran, dass Grenzländer nie einfach ruhige Orte der Begegnung und der Solidarität sind, sondern dass das Leben im Grenzland für viele Mischidentitäten voller Traumata und Ängste ist: „Die Bewohner der Grenzländer werden von der Anspannung befallen wie von einem Virus.“34 Die Anzahl von Migranten mit Mischidentitäten steigt in den gegenwärtigen Ballungsgebieten kontinuierlich an. Diese Menschen leben und leiden an multiplen Grenzen, und ihnen wird die Sprache für ihre Situation verwehrt, indem man den Machtdiskurs polarisiert. Und obwohl Paul Tillichs Sprache für eine 29 30
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Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert / Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M. / New York 2002, 158. Tillich, Religiöse Verwirklichung, 13. Tillich spricht hier natürlich nicht über christliche Identität, sondern über den Protestantismus. Aber es ist der Protestantismus, so verstehe ich es, den Tillich mit dem echten Christentum in Verbindung bringt. Tanner, Theories of Culture, 115. Tanner, Theories of Culture, 151ff. Bhabha, Location of Culture, 170. Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera. The New Mestiza, San Francisco 1999, 26.
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kulturell andere Situation geschaffen wurde, könnte sie auch hier wieder eine Anregung dazu sein, eine Sprache in Solidarität mit Menschen, die im Spannungsgebiet kultureller Grenzländer leben, zu formulieren. „Es [ist] vielleicht für einige geboten“, schreibt Tillich, „an der Grenze auszuharren und der Versuchung zu widerstehen, dieser zerreibenden Lage durch endgültige Grenzüberschreitung nach der einen oder der anderen Seite hin zu entgehen.“35 Wenn die Klarheit des Christentums an der Grenze hervortritt, wird die Verschmelzung von nationaler und christlicher Identität höchst problematisch. Während die christliche Identität nach diesem Verständnis die Offenheit einer letztendlich unentscheidbaren Grenze braucht, wird die nationale Identität eben genau durch die Grenze geprägt und hängt davon ab, die nationale Grenze als eine klare Trennlinie gegenüber anderen Nationalitäten aufrecht zu erhalten.
Spuren, die die Grenzen herausfordern Nach dieser Beschreibung haben Grenzen ihre Stabilität als Trennungslinien verloren. Aber was ist dann mit dem Territorium selbst, das durch Grenzen definiert zu werden scheint? Kann ein Territorium noch sinnvoll als beständige Fläche abgebildet werden, das von anderen beständigen Flächen durch Trennungslinien unterschieden wird, so wie es uns die modernen Landkarten von der Oberfläche unseres Planeten Glauben machen wollen? Da wir diese Trennungslinien problematisiert haben, wird nun ebenso eine neue Konzeptualisierung von Territorium verlangt. Durch seine Feldarbeit bei den Aborigines in Australien inspiriert, gibt der Anthropologe Sam Gill eine Beschreibung vom Verständnis des Territoriums eben nicht als beständige Fläche, sondern als Land, definiert durch die Fußspuren und Fährten ringsumher.36 Weniger ein abgekapseltes Gebiet als vielmehr ein Netz von Spuren, wird zum kennzeichnenden Bild des Landes. Das Land wird in Übereinstimmung mit den Reisen, die die Vorfahren unternommen haben, definiert. Ein verwickeltes Spurennetz wird zwischen den Plätzen, die diese Vorfahren aufgesucht haben, visualisiert. Die Verteidigung der Gebietsgrenzen ist nicht länger entscheidend, wenn das Gebiet im Sinne von Spuren verstanden wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Gebiet seine Bedeutung verloren hat. Genau das Gegenteil ist der Fall: „Für Aborigines“, schreibt Gill, „ist die Identität untrennbar mit dem Gebiet verknüpft, und ihre Ontologie ist stark räumlich ausgerichtet.“37 Aber es ist eine Räumlichkeit, die es erlaubt, dass mehrere Spurennetze über dasselbe Gebiet gelegt werden. Die visualisierten Linien sind keine Trennungslinien, 35 36 37
Tillich, Religiöse Verwirklichung, 12. Sam Gill, Territory, in: Critical Terms for Religious Studies, hg. v. Mark C. Taylor, Chicago 1998. Gill, Territory, 299.
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sondern eher Linien der Verbindung mit den Ahnen, und – was das Wichtigste ist – sie stehen nicht im Wettstreit mit anderen Reisewegen. Ich beziehe mich nicht auf Gills Analyse des Verständnisses der Eingeborenen von Territorium, um eine postmoderne Nachahmung der Eingeborenenbeziehung zum Land vorzuschlagen. Stattdessen berufe ich mich auf diese nomadische Art, ein Land zu bewohnen, weil ich denke, dass sie der Situation einer wachsenden Anzahl von Kosmopoliten in den Metropolgebieten auf der ganzen Welt eher entspricht als die moderne Vorstellung des Nationalstaates.38 Darüber hinaus steht sie in Resonanz mit der dynamischen Beziehung von Jesus zum Land und seinem nomadischen Lebensstil, auf den ich am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen werde. Nomadische Räumlichkeit steht in großer Spannung zu dem Verständnis von Land als beständiger Fläche, als einem unveränderlichen Gebiet, das in sesshaften Kulturen unter staatlicher Kontrolle auftritt. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben diese Frage in ihrem Aufsatz über das Nomadentum behandelt.39 Sie bestreiten die traditionelle Vorstellung über die Nomaden als nicht-territorial. „Der Nomade“, so schreiben sie, „hat ein Territorium.“ Aber es wird anders als ein sesshaftes Territorium verstanden. „Auch wenn die nomadischen Bewegungsbahnen Pfaden oder gewohnheitsmäßigen Routen folgen, erfüllen sie nicht die Funktion der sesshaften Strasse, die dazu bestimmt ist, einen geschlossenen Bereich für die Menschen zu parzellieren, die jedem ein Teil abtritt und die Kommunikation zwischen den Teilen regelt. Die nomadische Bewegungsbahn macht das Gegenteil: sie „verteilt die Menschen (oder Tiere) in einem offenen Raum.“40 In anderen Worten, der Nomade hat ein ausgeprägtes Verhältnis zum Territorium. „Der Nomade, der nomadische Raum ist lokalisiert und nicht eingegrenzt.“41 Das Christentum und andere institutionalisierte Religionen stehen mit dem nomadischen Lebensstil in einem Spannungsverhältnis, weil institutionalisierte Religion auf eine sesshafte Kultur angewiesen ist.42 Für dieses Spannungsverhältnis habe ich keine Lösung. Aber ich behaupte, dass eine neue Sensibilität für alternative Wege, Territorialität zu verstehen, wichtig ist für die christliche Theologie, wenn sie sich nicht reibungslos mit der imperialen Macht in eine Reihe stellen will. Machtfragen im Allgemeinen müssen bei einer Rekonzeptualisierung von Grenzen und Territorium im Gedächtnis behalten werden, um unstabile Grenzen und netzähnliche Territorien nicht zu einem Privileg der Mächtigen werden zu lassen. Letzten Endes begünstigen in unserer globalisierten Welt unstabile Grenzen oftmals nur eine 38
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Ich sage das trotz Roland Boers Hinweis auf die akademischen Machtstrukturen in Australien, nach denen „jeder Beitrag von Aborigines oder Koori … auf Basis metropolitan-abgeleiteter, akademischer Standards gemessen und oft nicht ernst genommen wird“. Roland Boer, Last Stop before Antarctica. The Bible and Postcolonialism in Australia, Bibel und Postkolonialismus, Sheffield 2001, 31. Gilles Deleuze / Félix Guattari, 1227 - Abhandlung über Nomadologie. Die Kriegsmaschine, in: Dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 6 2005, 481-585. Deleuze / Guattari, Abhandlung über Nomadologie, 523. Deleuze / Guattari, Abhandlung über Nomadologie, 526. Deleuze / Guattari, Abhandlung über Nomadologie, 526-29.
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Minderheit von jenen, die von den ökonomischen Folgen dieser Unstabilität profitieren. Gleichermaßen können in diesem Zeitalter der Kommunikation und der schnellen Transportmittel Territorien als netzähnlich angesehen werden. Aber es ist ein Netz, das in seinem vollen Potenzial wiederum nur den Wenigen zur Verfügung steht, die die Mittel haben, es zu nutzen. Eine christliche Theologie, die das Territorium nicht als geschlossenen Raum, sondern als ein Kommunikationsnetz sieht, muss vorsichtig sein, um so ein netzähnliches Territorium nicht mit den Konsequenzen der Globalisierung gleichzusetzen. Natürlich steht es in Resonanz mit bestimmten Strukturen der Globalisierung. Ein christliches Verständnis von Territorium entspricht nicht nur dem Verständnis der Aborigines von Land, sondern gewinnt auch an Relevanz für die zeitgenössische Kultur insofern, wie Sam Gill bemerkt, es „der Internetstruktur und anderen postmodernen Modellen der Kommunikation und Interpretation sehr ähnlich“43 ist. Darüber hinaus würde die christliche Theologie gut daran tun, ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf das Textuelle, sondern auch auf das Räumliche zu richten. Hier könnte Tweeds Annäherung wiederum hilfreich sein. Er entwickelt eine „Theorie von Religion als räumlicher Praxis, die das Umherziehen zu ihrem Leitthema macht, und schlägt vor, dass Religionen umherziehende Individuen und Gruppen in Raum und Zeit orientieren, wie sie das natürliche und soziale Terrain kartieren, (und) den sich ständig verändernden Horizont markieren“ 44 So eine Orientierung von umherziehenden Individuen und Gruppen in Raum und Zeit erscheint mir in der Tat relevant für die schnell wachsende und äußerst mobile Bevölkerung zeitgenössischer Metropolen. Es ruft uns Friedmans Metapher von Routen („routes“) für die Beschreibung der Entwicklung der menschlichen Identität in den Sinn: „Identität“ schreibt Friedman, „verlangt oft irgendeine Art von Ortswechsel – wörtlich oder symbolisch – um zur Bewusstheit zu gelangen.“45 Aber, was am wichtigsten ist, sie stellt routes nicht roots (Wurzeln), als privilegierte Metapher für die Entwicklung der Subjektivität, gegenüber. Sie spricht eher von einer „dialogischen Beziehung“ von beiden, in der „roots“ „Identität bedeutet, die sich auf stabile Kerne und Kontinuitäten gründet“, und „routes auf Identität basierend auf Reisen, Wandel und Unterbrechung hindeutet.“46 Im Hinblick auf Grenzen bedeutet dies, dass Dialogizität „entsteht durch das bipolare Ziehen zwischen der Errichtung von Grenzen, die Andersartigkeit abgrenzt und der Auflösung jener Grenzen durch den Aufbau eines durchlässigen Grenzlandes des Austausches, der Vermischung und der Transformation.“47 Meine Wahl des Titels „Heimat als Grenzland“ und nicht „Heimat oder/versus Grenzland“ soll eine ähnliche Unzufriedenheit mit dem Binären 43 44
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Gill, Territory, 311. Tweed, On Moving Across, 262. Mein dynamisches Verständnis von Grenzen vorausgesetzt und unterstützt von Bhabhas Analyse, scheint es mir, dass solch ein „Überqueren“ eine zu leichte Beherrschung dieser „sich verändernden Horizonte“ indiziert. Wenn sie sich verändern, wie kann ich dann sicher sein, sie überquert zu haben? Friedman, Mappings, 151. Friedman, Mappings, 153. Friedman, Mappings, 154.
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ausdrücken, eine Unzufriedenheit, die durch Bhabhas und Friedmans Arbeit inspiriert ist. Ich leugne nicht die Notwendigkeit eines Heimatlandes, und noch viel weniger verdamme ich sie, aber ich behaupte, dass es von Nutzen ist, sich dieses Heimatland neu vorzustellen als ein dynamisches Grenzland, das nicht notwendigerweise im Gegensatz zu jenen steht, die ich mir noch nicht als zugehörig zu diesem Land vorstellen kann.
Christliche Subjektivität, die an den Grenzen ausgehandelt wird Deshalb schlage ich auch keine Bewegung vom Heimatland ins Niemandsland vor. EinE ChristIn kann sich schließlich nicht von Land und Ort trennen, denn er/sie ist nicht zu trennen von einem „Selbst, das sich selbst als körperlich und kommunal begreift.“48 Christliche Subjektivität, die nur allzu schnell ihre räumliche und körperliche Zugehörigkeit vergisst, ist besonders anfällig für die Rhetorik eines begrenzten Heimatlandes als ihrem angemessenen zu Hause. In ihrer Beschäftigung mit einem zukünftigen zu Hause wird sie leicht von „der Ökonomie des vollendeten christlichen Utopos (Nicht-Ort)“ verschluckt, das, wie Katherine Keller ausführt, dazu tendiert, „Topos (den Ort) selbst“, zu verzehren.49 Nur wenn ChristenInnen den Grenzlandcharakter des Rasens, auf dem sie stehen, vergessen, dann werden sie wahrscheinlich der toposverzehrenden Rhetorik davon, seinen eigenen Rasen zu verteidigen, Glauben schenken (siehe oben, Zitat Tom Ridge). Selbstverständlich hat sich das Christentum an den kolonialen und imperialistischen Interessen mitschuldig gemacht, und deshalb ist es umso wichtiger, alternative Sichtweisen des Territoriums auszuprobieren, um subdominante Stränge in der christlichen Tradition zu entdecken. Eine dieser subdominanten Stränge ist das Verständnis von Jesus von Nazareth als einem Menschen des Grenzlandes. Jesus selbst, so würde ich behaupten, trägt dazu bei, die Vorstellung von einem festgelegten oder stabilen Territorium anzuzweifeln. Dekaden bevor die postkoloniale Bibelkritik aufgekommen ist, hat Werner Kelber in seinen Bemerkungen zum Markusevangelium beobachtet, dass „der ganze Werdegang von Jesus bei Markus wie eine Reise erfasst wird“ und Jesus zu verstehen bedeute, „genau auf die Abreise- und Ankunftsorte zu achten, auf die Richtungen und Ziele dieser Reisen“. Zum Beispiel hebt er die wiederholten Reisen von Jesus über den See von Galiläa hervor. „Als Resultat dieser Reisen geschieht es, dass der See seine Macht als Barriere verliert, und in ein Symbol der Einheit verwandelt wird, das die Kluft zwischen Juden und Nichtjuden überbrückt.“50 Das ist eine Beobachtung, die sich für die postkoloniale Interpretation einer dynamischen Grenze 48 49 50
Catherine Keller, Apocalypse Now and Then. A Feminst Guide to the End of the World, Boston 1996, 174. Keller, Apocalypse Now and Then, 149. Werner H. Kelber, Mark’s Story of Jesus, Philadelphia 1979, 17, 42.
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als einem Feld der Verhandlung eignet. Deshalb kann man argumentieren, dass Jesus, der in einem imperialen Kontext gelebt hat, kein eindeutiges Heimatland mit Grenzen, die eindeutig markiert waren und gegen Übergriffe verteidigt wurden, gehabt hat. Marianne Sawicki weist darauf hin, dass „es nicht einfach ist, Jesus in eine Kategorie einzuordnen. Die Grenzen seines Landes spiegeln sich wieder in seiner Seele: geborener Galiläer, umgesiedelter Judäer, vermischt mit Herodianern und Römern. Er ist Mestizo, kulturell gemischt, klassenlos, grenzüberschreitend. Deshalb kann er die Dinge auf eine neue Art sehen.“51 Jesus nähert sich mit Leichtigkeit sowohl den geografischen Grenzen von Israel (indem er zum und über den Jordan und den See von Galiläa geht), als auch den ideologischen Grenzen (indem er fortlaufend mit Außenseitern und an den Rand gedrängten Menschen in Kontakt tritt). In seiner Wiedergabe des markinischen Jesus weist Richard Horsley darauf hin, dass „die Markusbewegung sowie andere bäuerliche Bewegungen keine Motivation hatten, Gruppenschranken aufrecht zu erhalten. Bei Markus trägt Jesus seine Sendung über die imperialistischen Grenzen der Gebiete der beauftragten Machthaber hinaus, vom Galiläa des Antipas zu den ‚Dörfern’ oder ‚Regionen’ von Cäsarea Philippi, Tyros, zu den Dekapolisstädten und schließlich bis hin zur Gerichtsbarkeit der Hohenpriester von Jerusalem unter dem römischen Statthalter Pilatus sowie dessen Gerichtsbarkeit (Mk 5,1; 7,24; 8,22.27; 10.1).“52 Kwok Pui-lan nimmt die Geschichte der syrophönizischen Frau (Mk 7,24-30) als Grundlage für einen postkolonialen Diskurs. Erstens, betont sie, „gehört die Gegend von Tyros und Sidon, wo Jesus die Frau trifft, zu einem fremden Land, im Gegensatz zu Galiläa und Judäa, dem jüdischen Heimatland.“ Dann folgt sie R. S. Sugirtharajah in seiner Ablehnung der missiologischen Interpretation des Textes und interpretiert ihn als Konversion von Jesus: „In der Begegnung wird Jesus daran erinnert, dass die Gastlichkeit Gottes so groß ist, dass sie nationale Schranken und Rassenschranken transzendiert.“53 Jesus, der „in einer Kontaktsituation an der problembelasteten Schnittstelle mehrerer Welten lebt“54, ist darauf vorbereitet, herausgefordert zu werden, was sein Verständnis von Heimatland und Grenze betrifft.55 Seine 51 52
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Marianne Sawicki, Crossing Galilee. Architectures of Contact in the Occupied Land of Jesus, Harrisburg 2000, 194. Richard A. Horsely, Submerged Biblical Histories and Imperial Biblical Studies, in: The Postcolonial Bible, hg. v. R.S. Sugirtharajah, The Bible and Postcolonialism, Band 1, Sheffield 1998, 160. Kwok Pui-lan, Discovering the Bible in the Non-biblical World, Bible & Liberation Series, Maryknoll 1995, 74, 81. Sawicki, Crossing Galilee, 181. Letitia Guardiola-Sáenz schlägt eine leicht andere Lesart von Jesus vor, die auf der Überlieferung von Johannes basiert. Anstatt ihn als wohnhaft an der Grenze wiederzugeben, liest sie ihn als grenzüberschreitend. Sie schreibt: „Die hybride Identität von Jesus hilft ihm zu überleben, wenn er bei seinen umstürzlerischen Akten der Erschaffung transformativer Räume Grenzen überschreitet und sich auf Grenzland bewegt.“ Letitia A. Guardiola-Sáenz, Border-Crossing and Its Redemptive Power in John 7.53/8.11. A Cultural Reading of Jesus and the Accused, in: John and Postcolonialism, hg. v. Jeffrey L. Staley, The Bible and Postcolonialism, Band 7, London / New York 2002, 144.
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eigene Flexibilität was territoriale und kulturelle Grenzen betrifft wurde allzu oft durch koloniale und imperiale Anpassungen der christlichen Botschaft in den Hintergrund gedrängt. Sein Verhandeln von Grenzen aus einer Position sehr begrenzter Macht darf nicht mit einem Überschreiten und Missachten von Grenzen durch ein triumphierendes Christentum verwechselt werden. So ein triumphierendes Grenzüberschreiten kann die Theologie einer Gemeinschaft, wie sie von Graham Ward vorgeschlagen wird, privilegieren, einer Gemeinschaft, die „einen Raum bewohnt, der den Ort, die Wände und die Grenzen transzendiert.“56 Ward, der andererseits sehr sensibel ist was den Einfluß und den Druck unserer multikulturellen Situation betrifft, erfasst die Dynamik des Christentums in der Mobilität und der Durchlässigkeit. Aber seine Sprache der Transzendenz von Grenzen riskiert erneut eine Verschmelzung mit dem kolonialen Gedanken, auch wenn er versucht, seine Expansion als eucharistische Transkorporalität57 und nicht als „Begleiterscheinung des Kolonialismus“ zu beschreiben.“58 Um eine kolonialistische Verschmelzung zwischen dem Christentum und den Mächtigen zu vermeiden, denke ich, es wäre besser, davon Abstand zu nehmen, die christliche Gemeinschaft als „transzendierenden Ort“ darzustellen, und die transzendierenden Qualitäten auf die Gegenwart von Christus zu begrenzen, wie es Ward macht, wenn er argumentiert dass „der Körper von Christus Grenzen überqueren kann, zum Beispiel ethnische Grenzen, Gendergrenzen, sozio-ökonomische Grenzen.“59 Obwohl Christus derjenige ist, der multiple Grenzen transzendiert, glaube ich, dass wir als ChristenInnen, als christliche Gemeinschaft, uns mit einer bescheideneren Vorstellung vom Verhandeln an Grenzen zufrieden geben müssen. Ich glaube, mit Ward, an eine „Durchlässigkeit christlicher Verkörperung“60 und die Durchlässigkeit ihrer sozialen Grenzen. Genau aus diesem Grund widersetze ich mich sowohl einer simplen Überschreitung/Transzendenz von Grenzen als auch einer bequemen Verschmelzung von christlicher Subjektivität mit dem begrenzten Rasen, auf dem ich stehe.61 Wir müssen die Komplexität der Grenzen, die fortlaufend unsere Identität, nicht zuletzt unsere Identität als ChristenInnen, herausfordern und formen, leben und respektieren. Was Scott Michaelsen und David E. Johnson für das kulturelle Subjekt beanspruchen, gilt für das christliche Subjekt genauso, nämlich, „dass eine Grenze nichts, was von dem einen oder anderen in sich
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Graham Ward, Cities of God, radical Orthodoxy, London 2000, 258 (Markierung M. N.). Ward, Cities of God, 95. Ward, Cities of God, 176. Ward, Cities of God, 103. Ward, Cities of God, 180. In seiner vehementen Zurückweisung von jeglichem Nationalismus ging Paul Tillich zu weit, als er territoriale Zugehörigkeit spiritualisierte: „Der Gott der Propheten und von Jesus wird allen religiösen Nationalismus schlichtweg vernichten […] Ein Christ von welcher Konfession auch immer […] muss immer sein eigenes Land verlassen und in ein Land gehen, das ihm gezeigt wird. Er muss Vertrauen haben in ein Versprechen, das völlig transzendent ist.“ Tillich, On the Boundary, 91, 92.
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selbst abgegrenzten kulturellen Subjekt überschritten werden kann.62 Die Grenze ist eher der unvermeidliche und dynamische Ort christlicher Subjektivität. So ein Grenzwohnsitz widersteht aus christlicher Perspektive jeder augenscheinlichen territorialen Zugehörigkeit. So eine Zugehörigkeit muss beständig im Austausch mit ChristenInnen und Nicht-ChristenInnen gleichermaßen überdacht werden. Ich betrachte Tanners Diskussionsgemeinschaft (‚community of argument’)63 als eine nützliche Beschreibung christlicher Subjektivität. Vielleicht könnte man sie sogar, mehr im Gleichklang mit Bhabhas Grenzanalyse, eine Aushandlungsgemeinschaft (‚community of negotiation’) nennen. So eine Verhandlung ist notwendig, denn es gibt „keinen von vornherein gegebenen gemeinschaftlichen Volkskörper (body of the people) gibt, dessen inhärente, radikale Gescichtlichkeit von sich aus die richtigen zeichen aussendet.“64 Christliche Gemeinschaften, die intern solch ein Verhandeln praktizieren, so eine fortlaufende Begegnung, werden nach außen eine ähnliche Verhandlung praktizieren, und werden hierbei bemerken, dass die Grenze zwischen innen und außen aufgrund dieser Verhandlungspraxis verschwimmt. Wenn man so eine Gemeinschaft zulässt, wird die christliche Identität nicht mehr „durch eine scharfe, kulturelle Grenzlinie gesichert“65, deshalb „sind die Grenzlinien zwischen christlichen und nichtchristlichen Lebenswegen fließend“.66 So eine Gemeinschaft kann nicht länger voraussetzen, dass Kulturen, Ideologien oder Territorien ein homogenes Ganzes sind, die klar aufgeteilt werden müssen.67 Ihr Handeln wird stattdessen das der Anhängerschaft von Christus sein, die an den/die Grenzen verhandelt, und den Spuren verschiedener Pfade quer durch das gemeinsame Land folgt. Durch diese Praxis kann eine neue Idee von der Zugehörigkeit zum (Heimat-)Land aufkommen, und multiple Grenzen können sich als Orte der Begegnung und Solidarität anstatt von Spaltung und Ausgrenzung erweisen. Erstveröffentlichung als: Michael Nausner, Homeland as Borderland. Territories of Christian Subjectivity, in: Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, hg. v. Catherine Keller / Michael Nausner / Mayra Rivera, St. Louis 2004, 118-133.
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Scott Michaelsen / David E. Johnson, Border Theory. The Limits of Cultural Politics, Minneapolis 1997, 15. Tanner, Theories of Culture, 123. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 41. Tanner, Theories of Culture, 108. Tanner, Theories of Culture, 152. Zur Dekonstruktion solcher Ideen siehe Renato Rosaldo, Border Crossing, in: Ders., Culture & Truth. The Remaking of Social Analysis. With a New Introduction, Kapitel 9, Boston 1993.
Wer oder was ist asiatisch? Eine postkoloniale theologische Lektüre über Orientalismus und Neo-Orientalismus Namsoon Kang
Übersicht Wenn man durch Asien reist, wird man schnell feststellen, dass Asien und die Asiaten nicht eine einheitliche, homogene Gruppe bilden. Die kulturellen, religiösen, historischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Kontexte sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Von den sieben Kontinenten der Erde ist Asien der größte und drei Fünftel der Erdbevölkerung leben hier. Deshalb kann man Asien nicht als monolithische Einheit betrachten. Darüber hinaus sind in der heutigen, postindustriellen Welt länder- und kulturübergreifende Analysen nötig, um die internen Besonderheiten und die sozioökonomischen Bedingungen in den einzelnen asiatischen Ländern zu verstehen. Asien kann nicht mehr dieselben geographischen Umrisse und Grenzen haben wie bisher. Den Boden für einen Diskurs über asiatische Theologie abzustecken, ist daher keine leichte Aufgabe. Zuallererst stellt sich die Frage nach der Definition: Wer/Was ist asiatisch? Bilden Asiaten irgendeine Art von Einheit? Auf welcher Basis? Können wir davon ausgehen, dass die theologischen Entwürfe aus Asien zwangsläufig „asiatisch“ sind? Zum anderen stellen sich Fragen nach dem Kontext, in dem die asiatische Theologie entwickelt und formuliert wird: Welche/Wessen Geschichte nehmen wir als Ausgangspunkt, um das Engagement asiatischer TheologeInnen für eine asiatische Theologie zu skizzieren? Wer hat das Wissen über die Asiaten und ihre Erfahrungen von welchem Ort und welcher Position aus produziert? Welches sind die disziplinären Parameter für dieses Wissen? Welche sind die angewandten Methoden, um die asiatischen Erfahrungen und Kontexte zu lokalisieren und auszuwerten? Ich gehe nicht davon aus, dass die gegenwärtige Version asiatischer Theologie und ihre Artikulation dessen, was asiatisch ist, eine endgültige Form des asiatischen theologischen Diskurses ist. Ich sehe theologische Arbeit in Asien eher als ein noch nicht vollendetes Projekt, nicht nur in dem Sinn, dass sie noch vollständiger implementiert werden muss, sondern auch in einem tieferen Sinn, dass nämlich ihre Grundlagen, Prinzipien, Ressourcen, Darstellungsweisen und Institutionen vieles offen lassen, was noch geklärt, aufbereitet und entwickelt werden muss. Asiatische Stimmen können und sollten in diesen Prozess integriert werden.
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Die Identitätsfalle im asiatischen theologischen Diskurs In den letzten vier Dekaden hat die Theologie bedeutende Veränderungen durchlaufen. Was ist Theologie überhaupt; wer ‚macht’ Theologie; mit welchen Themen beschäftigt sich Theologie; was sind die kulturellen, politischen und philosophischen Kontexte von Theologie? Besonders diejenigen, die vom Mainstream der Theologie an den Rand gedrängt wurden – nämlich Frauen, Afroamerikaner und Menschen aus der sogenannten Dritten Welt -, haben begonnen, fundamentale Fragen zu stellen, die die Theologie herausfordern. In der gegenwärtigen Theologie könnte eine der Veränderungen diskursive Verschiebungen heißen, die den theologischen Diskurs hinsichtlich der Art, wie die TheologInnen ihre theologischen Betrachtungen formulieren, grundlegend verändert haben. Eine dieser diskursiven Verschiebungen ist das Erwachen einer postkolonialen Sensibilität, die den Weg für die Entwicklung asiatischer Theologie ebnet. Die zunehmende postkoloniale Sensibilität hat dazu beigetragen, dass asiatische TheologInnen nun danach fragten, wie die Vorherrschaft der ‚Ersten Welt’ zustande kam, und das beinhaltete auch die Frage, wie das westliche Christentum diesen ‚West-Zentrismus’ durch christlichen Glauben und christliche Praktiken unterstützt hat. Der asiatische theologische Diskurs ist mit dem weltweiten Prozess der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg1 verbunden, daher ist im asiatischen theologischen Diskurs auch eine Strömung gegen diesen ‚West-Zentrismus’ vorherrschend. Westliche Wissens- und Repräsentationssysteme sind verbunden mit der langen Geschichte der materiellen und politischen Unterordnung der nicht-westlichen Welt, und hier bildet die Theologie keine Ausnahme. Die asiatische Theologie hat sich im Geist des Postkolonialismus entwickelt und dabei die Vorherrschaft des westlich-zentrierten, traditionellen theologischen Diskurses untergraben. Eines der stärksten Argumente der ersten Generation asiatischer TheologInnen war, dass die traditionelle westliche Theologie insofern begrenzt sei, als sie fälschlicherweise auf der Grundlage eingeschränkter Perspektiven, nämlich der von weißen Männern der Mittelklasse Nordamerikas und Westeuropas, verallgemeinert. Und sie argumentieren weiter, dass die asiatischen Ressourcen und Erfahrungen außen vor gelassen wurden, während westliche kulturelle und religiöse Wurzeln in der traditionellen Theologie positiv angewandt wurden. Daher ist es natürlich, dass die asiatischen TheologInnen im Anfangsstadium der Errichtung ihres eigenen theologischen Diskurses die allgemeine Annahme der Überlegenheit der westlichen Theologie und Kultur zu durchbrechen versuchen. Westliche TheologInneen wurden scharf kritisiert, Teil der konstantinischen Gefangenschaft des Glaubens zu sein und sie versuchten, eine asiatische Theologie auf 1
Der Begriff „Weltkrieg“ selbst ist ein ganz besonderes Erzeugnis der Zentrierung auf den Westen. Es ist ganz offensichtlich, dass die sogenannten zwei „Welt“-Kriege, geografisch gesehen keine „Welt“-Kriege waren, da der Krieg nicht weltweit ausgebrochen ist.
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der Basis asiatischer Kultur und ihrer Ressourcen zu entwickeln. In diesem Prozess der Ausbildung einer asiatischen Theologie wird die Frage nach der asiatischen Identität dringlich und erhält eine zunehmende Bedeutung. Es ist weithin bekannt, dass der gegenwärtige postkoloniale Diskurs im Jahr 1978 mit der Publikation von Edward Saids Buch Orientalismus2 aufgekommen ist, das als Auslöser und Bezugsquelle für den Postkolonialismus betrachtet wird und als der grundlegende Text, durch den „die Marginalisierten sprechen können und besprochen werden können und sogar für sie gesprochen wird.“3 In dem Buch wird auf einzigartige Weise das Verständnis von Imperialismus/Kolonialismus als einer erkenntnistheoretischen und kulturellen Haltung deutlich gemacht. Nach Said ist Orientalismus „ein westlicher Stil, den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken“4 und ein besonderer Niederschlag geopolitischen Bewusstseins in ästhetischen, philosophischen, ökonomischen, soziologischen, historischen und philologischen Texten. In ihm manifestiert sich nicht bloß eine geographische Grundunterscheidung, namentlich die zwischen Orient und Okzident, sondern auch eine Reihe von ‚Interessen‘, die er mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung, philologischer Rekonstruktion, psychologischer Analyse, landschaftlicher und gesellschaftlicher Detailstudien nicht nur erzeugt, sondern auch untermauert. Daher ist er an sich und nicht nur dem äußeren Anschein nach ein gewisser zielstrebiger Wille, eine offenkundig andere (alternative und neuartige) Welt zu verstehen, mitunter auch zu beherrschen, zu manipulieren und zu vereinnahmen.5
Das typische Bild des Orients, das vom Orientalismus entworfen wurde, ist Fremdheit, Anderssein, exotische Sinnlichkeit, Exzentrizität, Rückständigkeit, stille Gleichgültigkeit, feminine Durchlässigkeit, unzivilisierte Natur und dergleichen.6 Das Bild des Orients neigt dazu, unbeweglich, eingefroren und auf ewig festgelegt zu sein; deshalb wird die Möglichkeit der Transformation und Entwicklung des Orients geleugnet. Darüber hinaus werden diese eingefrorenen Charakteristika des Orients glorifiziert, mystifiziert und idealisiert als die Weisheit des Ostens, und zwar sowohl von den Menschen der westlichen Halbkugel als auch von den Asiaten selbst. Gemäß diesem orientalistischen Blickwinkel ist der Westen der wissende Teil und Asien das Objekt des Wissens. Auf einer tieferen Ebene wird der Orientalismus durch den Wunsch des Westens motiviert, seine eigene Identität als historisch Handelnder zu errichten, der den modernen Geist und die Zivilisation erschaffen hat. Um diese Identität aufzubauen, hat der Westen Asien als den Anderen gebraucht. Asien ist der negative Hintergrund, vor dem der Westen sich positiv darstellt. Mit anderen Worten: Der Orientalismus ist ein erkenntnistheoretisches Instrument, um die westliche Vorherrschaft über Asien zu gewährleisten. Obwohl Saids Kritik hauptsächlich die westliche Wahrnehmung der islamischen Welt im Mittleren und Nahen Osten betrifft, kann man sie auf ganz Asien beziehen. Die hegelianische Wahrnehmung der ahistorischen 2 3 4 5 6
Edward Said, Orientalismus, Frankfurt a. M. 2010. Gayatri Chakravorty Spivak, Outside the Teaching Machine, New York 1993, 56. Said, Orientalismus, 11. Said, Orientalismus, 22. Said, Orientalism, 206-7.
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Stagnation Asiens ist in manchen Diskursen über Asien immer noch lebendig.7 Die Kritik asiatischer Theologen an der westlichen epistemischen Vorherrschaft zielt darauf ab, das orientalistische Dogma zu unterlaufen. In diesem Prozess nehmen sie die Überlegenheit Asiens in Anspruch und leugnen die universelle Gültigkeit westlicher Kultur und westlichen Wissens. Für sie ist Asien, wie die Orientalisten es sehen, wesentlich anders als der Westen. Ihre Behauptung der Einzigartigkeit Asiens, begründet auf dem alten Dualismus von Asien als dem Orient und Europa und Amerika als dem Okzident, wird zum Herzen des theologischen Diskurses über Asien. Die Aufgabe asiatischer Theologen ist die Rückforderung unserer eigenen asiatischen Art sowie die „theologische Verantwortung für Mit-Asiaten“8 und „[k]einer von uns kann sich de Einfluß des Kulturkreises entziehen, in den er hineingeboren wurde. Unser kulturelles Erbe läßt uns zu dem werden, was wir sind. Wie wir das Leben und die Welt betrachten, ist direkt und indirekt beeinflußt von der kulturellen Tradition, in der wir stehen.“9 In dieser Behauptung steckt eine strenge wir-sie-Zweiteilung, wir-Asiaten und sie-Westeuropäer/Amerikaner, und dies spiegelt nicht exakt wieder, wie unterschiedlich und vielfältig die asiatischen Kulturen sind. So wie der Westen als homogenes Ganzes nur in der Vorstellung existiert, existiert auch Asien als solches nur in der Vorstellung. Wenn man Asien-Westen- in wir-sie-Kontraste teilt, reduziert man das sich ergebende Andere auf das Wesentliche. Ferner muss man hinzufügen, dass diese dualistische Hypothese selbst ein Produkt des westlichen, intellektuellen, imperialistischen Konstrukts, das man Orientalismus nennt, ist, ein Produkt der West-Zentriertheit, den die asiatischen Theologen selber kritisieren. Wenn asiatische Theologen die traditionelle Theologie als typisch westlich und kulturell unangemessen für den asiatischen Kontext ablehnen, dann schreiben sie ironischerweise Asien dieselbe homogene kulturelle Essenz zu, wie die Orientalisten, die damit Asien vom Selbstporträt des Westens unterscheiden wollen. Sie wandeln die Bewertung dieses Wesentlichen von negativ zu positiv, aber ihren kognitiven Inhalt behalten sie unverändert bei. Um eine asiatische Identität zu konstruieren, schauen sie auf die Stereotypen, mit denen die Orientalisten Asien belegt haben, um eine überlegene westliche Identität zu schaffen. Zugunsten einer Einheit Asiens gegen den Westen tendieren die asiatischen TheologInnen selber dazu, die Vielfältigkeit und Komplexität der asiatischen Völker und Kulturen auszuradieren, und dabei übersehen sie die bedeutende Tatsache, dass der Westen genauso heterogen und hybrid ist wie Asien. 7
8
9
Vgl. Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Leipzig 1923. In seinem berüchtigten Vorwort zu dem Kapitel über China schließt Hegel China und Indien aus der Weltgeschichte aus, aus dem Grund, weil diese Länder keinen dialektischen Wandel, welchen auch immer, durchlaufen, sondern dasselbe Muster immer wieder durchlaufen. Choan-Seng Song, Freedom of Christian Theology for Asian Cultures. Celebrating the Inauguration of the Programme for Theology and Cultures in Asia, in: Asian Journal of Theology 1, No. 3 (1989), 87. Choan-Seng Song, Theologie des dritten Auges. Asiatische Spiritualität und christliche Theologie, Göttingen 1989, 15.
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Als Folge davon übernehmen und verinnerlichen die asiatischen TheologInnen unabsichtlich die orientalistische Sicht eines monolithischen Asiens, die sie kritisieren, und gleichzeitig schaffen sie auf die gleiche Weise einen Okzidentalismus, obwohl dieser Okzidentalismus über den Westen nicht die beherrschende Macht hat wie der Orientalismus über Asien.10 Dies ist ironisch, aber verständlich. Denselben Mechanismus findet man in den Praktiken sozialer Unterdrückung. Wenn das diskriminierende Klischee ganz tief sitzt, wird es für die diskriminierten Gruppen zur Basis ihres Selbstwertgefühls. Dies passiert, die Fortdauer eines solchen Klischees vorausgesetzt, nicht so sehr deshalb, weil es strategisch gesehen einfacher ist, so ein Klischee in den eigenen Vorteil zu verwandeln, als es zu zerstören, sondern deshalb, weil die Umwandlungsstrategie die Heilung der verletzten Selbstachtung eines Volkes verheißt, und zwar bedeutend stärker als es die Zerstörungsstrategie vermag. Als „die ehemals kolonisierten Anderen, die darauf bestehen, ihren Platz als historisch Unterworfene einzunehmen“, beginnen sie, ihre versteckten Stimmen zu erheben und zwar in einer Form, die sich essentiell von derjenigen der Kolonialherren unterscheidet und zwar was Kultur, Ethnizität, Rasse oder Geschlecht betrifft. Gayatri Chakravorty Spivak erklärt das mit dem Ausdruck „strategische Formen der Wahl den Essentialismus betreffend“11.
Die Falle der auf das Wesentliche reduzierten Identität Die von Spivak beschriebene Strategie ist, in gewisser Weise, eine natürliche Antwort der Diskriminierten auf das Vorurteil der kulturellen Unterlegenheit, das ihnen durch die Praxis der Diskriminierung auferlegt wurde. Sie bestätigen positiv ihre asiatische Identität, denn würden sie sich von ihr lossagen, um ihre Gleichstellung mit der westlichen Welt zu beweisen, würden sie sich zu Komplizen der Unterlegenheitstheorie machen. Auf das tief sitzende orientalistische Vorurteil gibt der Versuch der asiatischen TheologInnen, ihre Selbstachtung zu steigern, eine entsprechende Antwort: Asien ist wunderbar. Dieser Satz hat einen heilenden Effekt für das Selbstbewusstsein des Volkes. Ihr legitimer Anspruch, dass ihnen die gleiche Achtung wie dem Westen gebührt, wandelt sich in die ironische Bestätigung der auferlegten asiatischen Identität. Obwohl dieser umgekehrte Gebrauch der zugeschriebenen asiatischen Identität verständlich und wirkungsvoll ist, ist er doch falsch und gefährlich, weil die asiatische Identität so leicht zu einer aufgezwungenen Identität werden kann, die bestimmt, was wirklich asiatisch ist und wie das Bild Asiens 10 11
Für eine weiterführende Diskussion über Okzidentalismus siehe Xiaomei Chen, Occidentalism, Oxford 1995. Vgl Gayatri Chakravorty Spivak, Criticism, Feminism, and the Institution, in: The Post-colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, hg. v. Sarah Harasym, New York / London 1990, 11-13.
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auszusehen hat. Außerdem unterdrückt er die interne Diversität Asiens sowie sein Potenzial für eine endogene Erneuerung und er verleitet dazu, das Verlangen Asiens nach emanzipatorischen Bewegungen – zum Beispiel die Gleichberechtigungsbewegung der Frauen – zu entmutigen und sogar zu unterdrücken und zurückzuweisen mit der Begründung, sie seien „fremden“ Ursprungs. Diese Politik der auf das wesentliche reduzierten Identität im asiatischen theologischen Diskurs verstärkt dann im speziellen das orientalistische Vorurteil, dass die asiatische Kultur für einen universellen theologischen Diskurs zu mangelhaft ist, und im Allgemeinen das Vorurteil des kulturellen/geografischen Essentialismus: „Asiaten sind nur Asiaten“, genauso wie „Frauen nur Frauen sind“. Die epistemische, vorherrschende Kritik ermöglicht es uns, aus der asiatischen Identitätsfalle herauszukommen, indem wir den typischen orientalistischen Dualismus, den der asiatische theologische Diskurs verinnerlicht hat, auflösen. Diese Kritik untergräbt die Annahme einer monolithischen, kulturellen Essenz Asiens. Der Drang des orientalistischen Dualismus, zu polarisieren, gaukelt dem Westen genauso wie Asien eine verzerrte Wahrnehmung der eigenen Identität vor. Die Kritik an der epistemischen Vorherrschaft ermöglicht es sowohl Asien, als auch dem Westen, aus dem Käfig ihrer trügerischen polarisierten Identitäten herauszukommen. Asiatische TheologInnen charakterisieren Asien durch seine überwältigende Armut und vielfältige Religiosität. Nach Aloysius Pieris stellt die Armut einen gemeinsamen Nenner mit der restlichen so genannten Dritten Welt dar, und die vielfältige Religiosität den speziellen Charakter Asiens.12 Nach dieser Behauptung verlangt die eigene asiatische Identität, dass man arm ist, und so können einige asiatische Menschen nicht als Asiaten bezeichnet werden, da sie nicht extrem arm sind. C. S. Song argumentiert sogar, dass das arme Asien „das, durch das wohlhabende Hongkong, das ordentliche Singapur, das industrialisierte Japan und durch eine Pseudo-Demokratie in den meisten asiatischen Ländern, betrogene Asien“ ist.13 Auch wenn es Armut und arme Menschen überall in der Welt, auch in der so genannten Ersten Welt gibt, ist die Armut in Asien frappierend. Mehr als drei Viertel der armen Menschen in der Welt leben in Asien. Außerdem ist die Armut normalerweise sehr eng mit der Religiosität der Menschen verwoben. Glaubt man den asiatischen Theologen, bedeutet asiatisch sein gleichzeitig ein Leben in Armut und mit einer vielfältigen Religiosität. Demnach muss die asiatische Kirche „demütig genug sein, um sich im Jordan der asiatischen Religiosität taufen zu lassen und wagemutig genug, um sich ans Kreuz der asiatischen Armut nageln zu lassen […] unsere verzweifelte Suche nach dem asiatischen Gesicht von Christus wird sich nur erfüllen, wenn wir an der eigenen Suche Asiens nach ihm teilnehmen in dem unbegreiflichen Abgrund, wo Religion und Armut dieselbe Wurzel zu haben scheinen: Gott“14. Das arme Asien ist in 12
13 14
Aloysius Pieris, Towards an Asian Theology of Liberation. Some Religio-Cultural Guidelines, in: Asia’s Struggle for Full Humanity. Towards a Relevant Theology, hg. v. Virginia Fabella, Maryknoll 1980. Choan-Seng Song, Jesus, the Crucified People, New York 1990, 8. Pieris, Towards an Asian Theology of Liberation, 93-94.
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dieser Hinsicht völlig anders als der wohlhabende Westen, und darüber hinaus ist Gott die Wurzel der Armut Asiens. So muss, nach der Überzeugung asiatischer Theologen, Theologie von den Armen Asiens ausgehen, denn „eine wirklich befreiende Theologie muss letztendlich die Arbeit der Armen Asiens sein.“15 Obwohl dieses monolithische Verständnis Asiens der asiatischen TheologInnen gewinnend ist und teilweise Wahres in sich hat, tendiert es doch dazu, die Unterschiedlichkeit der Menschen aus verschiedenen sozialen/kulturellen Schichten innerhalb der asiatischen Länder zu unterdrücken, als ob die Asiaten ohne Klasse, Geschlecht, Staatszugehörigkeit und auch ohne Rassen wären. Der Grad und das Erleben der Armut variieren sehr stark, und die Auffassung, dass man „arm ist“, ist selbst sehr relativ und komplex. Deshalb ist die Frage: „Wer sind die Asiaten?“ sehr kompliziert und schwer fassbar. Durch einen so weit gefassten Begriff wie „Armut“ kann die asiatische Identität nicht erfasst werden. Es ist offensichtlich, dass der Prozess der Identitätsfindung, sei er nun persönlicher, nationaler, regionaler oder universeller Natur, ein fortlaufender Prozess ist, der an so weit gefassten Begriffen wie Armut oder vielfältige Religiosität nicht festgemacht werden kann. Wenn man die asiatische Identität nur im Unterschied zur westlichen formuliert, ignoriert man die Komplexität der Mentalitäten innerhalb der asiatischen Völker sowie die Überlappung in manchen Bereichen mit dem Westen. Die ursächlichen Gründe für verschiedene Formen der Unterdrückung verschwimmen dann. Es reicht nicht aus, eine konkrete Strategie zu entwerfen, um bestimmte Zeiten und Kontexte zu entlarven und zu verändern. In den meisten asiatischen theologischen Diskursen gibt es eine starke Tendenz, ein essentielles Asiatischsein vorauszusetzen, das gänzlich anders ist als das Westlichsein, und das alle Asiaten gemeinsam haben und teilen, trotz der Unterschiede die Rasse, Klasse, Geschlecht, Religion, Volk und Kultur der Asiaten betreffend: eine anonyme Kollektivität. Diese Tendenz trägt das Zeichen des Plurals,16 verschleiert die Verschiedenartigkeit der Asiaten und verhindert eventuell die Untersuchung der Bedeutung dieser Verschiedenartigkeit für das zeitgenössische Konstrukt der asiatischen Theologie. In den meisten asiatischen theologischen Diskursen sind alle Asiaten gleich. Im asiatischen theologischen Diskurs über die Frauen, zum Beispiel, werden die Frauen als reine Opfer oder sich befreiende Persönlichkeiten dargestellt, die über all den Schmerz und das Leid mit einer verblüffenden, erlösenden Kraft hinauswachsen. Die typischen Bilder asiatischer Frauen, die in den Aufsätzen asiatischer feministischer Theologinnen gezeichnet werden, sind die eines Opfers von Hunger, Vergewaltigung und Armut, und die dann glorifiziert werden als jene, die fähig sind, sich mit heldenhafter Kraft zu befreien: „Asiatische Frauen teilen das Leid der häuslichen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Unterdrückung mit ihren 15
16
„Final Statement“, in Virginia Fabella (Hg.), Asia’s Struggle for Full Humanity, 157. Dieses Buch ist das Ergebnis der Asiatischen Theologischen Konferenz, 7.-20. Januar 1979, Wennappuwa, Sri Lanka. Albert Memmi, The Colonizer and the Colonized, Boston1967, 85. Übersetzt als: Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts, Hamburg 1994.
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Schwestern auf der ganzen Welt. […]. Asiatische Frauen wurden auch vergewaltigt, gefoltert, eingesperrt und ihrer politischen Überzeugung wegen getötet […]. Asiatische Frauen kämpfen dagegen, und im Verlauf dieses Kampfes wird eine Spiritualität geboren, die typisch weiblich und speziell asiatisch ist.“17 Die asiatische Theologie der Frauen ist aus dem Weinen und Schreien der Frauen über das extreme Leid in ihrem alltäglichen Leben hervorgegangen. Sie haben vor Schmerzen geschrien, wenn ihre eigenen Körper und die ihrer Kinder vor Hunger, oder wegen Vergewaltigung und Schlägen zusammengebrochen sind … Die asiatische Theologie der Frauen ist typisch für die „Dritte Welt“, da ihre Realität von Armut und Unterdrückung geprägt ist … Die asiatische Theologie der Frauen ist „typisch asiatisch“ … Die asiatische Theologie der Frauen ist auch „typisch weiblich“ … Asiatische Frauen werden wirtschaftlich, politisch, sozial, religiös und kulturell auf eine besondere Art unterdrückt, nur, weil sie Frauen sind.18 Hier möchte ich einige grundlegende Fragen stellen: Was ist „typisch weiblich“ und „typisch asiatisch“? Wer sind die „asiatischen Frauen“ überhaupt? Was macht die asiatischen Frauen aus? Wenn es Gemeinsamkeiten gibt, auf welcher Basis? Was definiert die asiatischen Frauen als eine Gemeinschaft? Genauso wenig wie die westlichen Frauen als eine Einheit definiert werden können, können die asiatischen Frauen als einheitliche Gruppe definiert werden. Wenn Asien fortlaufend als Einheit dargestellt wird, wird die asiatische Theologie als theologischer Diskurs und Bewegung ihrer Verantwortung für eine konkrete Veränderung nicht gerecht, weil sie die mannigfaltige Realität der asiatischen Völker völlig unzureichend bzw. falsch darstellt. Im ersten Schritt der Befreiung vom westlichen theologischen Imperialismus und von der eigenen theologischen Vorstellung ist es unumgänglich, das Asiatische als eine Einheit mit einer auf das wesentliche reduzierten Identität festzulegen. Wenn die Idee des Asiatischseins jedoch zu einer fixen Idee wird, wird die asiatische Identität mehr einschränkend als befreiend. Solche Vorstellungen asiatischer Frauen als „minjung unter den minjung“ oder „Arme unter den Armen“ stellen nicht die Diversität der asiatischen Frauen dar, denn es gibt Frauen, die weder minjung, noch Dalits, noch arm sind, und es gibt zum Beispiel auch Frauen, die als Politikerin, Professorin, Lehrerin, Ärztin oder Rechtsanwältin arbeiten, sowie auch Geschäftsfrauen, Frauen der gehobenen Mittelklasse und wohlhabende Hausfrauen. Es gibt eine große Anzahl Menschen, die nicht in diese romantischen Bilder vom unterdrückten Asien passen. Es gibt keine „Erfahrung der asiatischen Frauen im allgemeinen“, einschließlich der Erfahrung von Unterdrückung und Befreiung, sondern nur geschichtlich abgegrenzte Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten, die, bedingt durch die soziale Klasse, die 17 18
Virginia Fabella / Mercy Amba Oduyoye (Hg.), With Passion and Compassion. Third World Women Doing Theology, Maryknoll 1990, 78-79 ( Hervorhebung hinzugefügt). Chung Hyun Kyung, Struggle to be the Sun Again. Introducing Asian Womens’s Theology, New York 1990, 22-24. Übersetzt als: Schamanin im Bauch - Christin im Kopf. Frauen Asiens im Aufbruch, Stuttgart 1993.
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Rasse, die Erziehung, die Individualität, die Religion, die Kultur und so weiter unterschiedlich geprägt sind. So ist es zum Beispiel für Koreaner schwer, Vielvölkerstaaten wie Malaysia oder Indonesien zu verstehen, weil die Homogenität der Rasse und der Kultur für den koreanischen Nationalismus von zentraler Bedeutung ist. Genauso schwer ist es für Koreaner, die lange Geschichte anderer asiatischer Länder zu verstehen. So haben zum Beispiel Pakistan und Korea, China und Indien, oder Neuseeland und Sri Lanka nichts gemeinsam. In diesem Kontext ist es entweder arrogant oder ignorant, Asien als Einheit mit einem einzigen Gesicht zu definieren. Die Verdinglichung der asiatischen Frauen als „Sklaven der Sklaven“, „minjung der minjung“19, oder „Arme der Armen“ ist eine Reduzierung der Natur der asiatischen Frauen. Die asiatischen Frauen werden einseitig als Opfer betrachtet und jedwede historisch-kulturelle Eigenart wird ihnen aberkannt. Ich übersehe nicht die Tatsache, dass – stellt man Asien als eine Einheit dar – dies, über trennende Grenzen asiatischer Länder hinweg, potentielle Allianzen und die Zusammenarbeit fördern kann. Jedoch besteht eine große Gefahr darin, die AsiatInnen als eine Einheit zu sehen und die asiatischen Frauen nur als Opfer, denn solche Festsetzungen können nicht in ausreichender Weise eine dynamische, historisch spezifizierte Sicht auf die Unterdrückung und die Kämpfe der Asiaten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten bieten. Asien als eine singuläre Einheit ist in Wirklichkeit ein „Land der Phantasie.“20
Die Falle des Neo-Orientalismus In ihrem Artikel „Under Westen Eyes“ analysiert Chandra Talpade Mohanty die Streitfrage der Darstellung der Frauen der Dritten Welt, die von den Feministinnen der Ersten Welt zu Gegenständen gemacht worden waren. Sie zeigt auf, wie der westliche Feminismus die „Dritte Welt“-Frauen zu einer 19
20
Letty Russell, Minjung Theology in Women’s Prospective, in: An Emerging Theology in World Perspective, hg. v. Jung Young Lee, Mystic 1988, 83. In der Tat gibt es weit mehr Schichten von Frauen als die der minjung. Wenn man die koreanischen Frauen als die „minjung unter den minjung“ definiert, limitiert man die Bandbreite der Probleme dieser Frauen auf eben diese Kategorie. Die minjung werden in erster Linie wegen ihres sozio-ökonomischen Status unterdrückt und an den Rand gedrängt und nicht notwendigerweise aufgrund patriarchaler Institutionen und sozialer Werte. Frauen jeder sozialen Schicht, von der unteren Klasse bis zur oberen Mittelklasse, von den Fabrikarbeiterinnen bis zur First Lady, leiden unter dem Patriarchat in verschiedener Form und in verschiedener Stärke. Man überverallgemeinert, wenn man die Frauen der oberen Mittelklasse nur aufgrund ihres biologischen Geschlechts als minjung einordnet, da dies die ursächlichen Zusammenhänge der Unterdrückung von beiden, minjung und Frauen, verwischt. Darüber hinaus ist die Zuordnung zur Schicht der minjung nicht unveränderlich, sie können ihr minjung-Dasein verändern, indem sie sich ein besseres sozio-ökonomisches Umfeld schaffen, Frauen jedoch bleiben immer Frauen. Siehe Said, Orientalism, 49-72.
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einzigen Klasse zusammengefasst hat, und dabei die „Homogenisierung und Systematisierung der Unterdrückung der Frauen in der Dritten Welt“ hervorgebracht hat.21 Dritte-Welt-Frauen sind anders als die westlichen Frauen und scheinen eine „kohärente Gruppe mit identischen Interessen und Wünschen, ungeachtet der Klasse, des Volkes oder der Rasse“ zu sein.22 Zusätzlich schafft diese „homogene Sicht der Unterdrückung der Frauen als einer einzigen Gruppe“ das „Bild einer durchschnittlichen Dritte-Welt-Frau.“23 Der Kontext, in dem sie leben, ist überhaupt nicht von Interesse, denn sie sind ja alle gleich. Willkommen sind sie nur, wenn sie sich anders als westliche Frauen darstellen. Nun wird mir nicht nur erlaubt, mich zu öffnen und zu reden, ich werde auch ermutigt, mein Anderssein auszudrücken. Mein Publikum erwartet es und verlangt danach; andererseits würden die Menschen sich betrogen fühlen: Wir sind nicht gekommen, um jemanden aus der Dritten Welt über die Erste (?) Welt sprechen zu hören. Wir sind gekommen, um eine andere Stimme zu hören, die uns wahrscheinlich das bringt, was wir nicht haben können und die uns von der Monotonie der Gleichheit ablenkt […] der Vertreter der Dritten Welt, den das moderne, anspruchsvolle Publikum idealerweise sucht, ist der unverdorbene Afrikaner, Asiate oder Ureinwohner Amerikas, der/die sich mehr mit seiner/ihrer Vorstellung des wirklichen Ureinwohners befasst – dem wirklichen Unterschied - als mit Themen wie Hegemonie, Rassismus, Feminismus und sozialem Wandel.24
Man erwartet von Asiaten, dass sie ausschließlich wie ein Asiate sprechen und schreiben. Sonst wären sie nicht authentisch genug. Außerdem müssen die Asiaten versuchen, sich zu verallgemeinern, repräsentativ zu erscheinen und sich vom Westlichen zu distanzieren. Es ist in der Tat „ein Problem für Menschen, die ‚als irgendetwas’ sprechen, sich vom eigenen Selbst zu distanzieren“, aber wenn „das herrschende und vorherrschende Volk darüber redet, jemandem zuzuhören, der als ‚irgendetwas‘ oder als der andere ‚spricht‘ […] da trifft man erst auf ein Problem! Wenn sie einen Indianer als einen Indianer reden hören wollen oder eine Frau der Dritten Welt als eine Frau der Dritten Welt, dann überziehen sie die Tatsache der Ignoranz, die sie besitzen dürfen, mit einer Art Homogenisierung.“25 Wenn sie den nicht-westlichen theologischen Diskurs in ihrer Arbeit abhandeln wollen, dann sind Homogenisierung, Symbolisierung und Gettoisierung Teil dieses Prozesses. Rosemary Radford Ruether zum Beispiel behandelt die asiatische feministische Theologie in ihrem Buch Women and Redemption.26 Wenn man den Inhalt ihres Buches anschaut, kann man leicht eine gewisse Widersprüchlichkeit in jedem Kapitel finden. Wenn man zum 21
22 23 24 25 26
Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourses, in: Third World Women and the Politics of Feminism, hg. v. Lourdes Torres, Bloomington / Indianapolis 1991, 54. Mohanty, Under Western Eyes, 55. Mohanty, Under Western Eyes, 56. I. Minh-Ha Trinh, Woman, Native, Other, Bloomington / Indianapolis 1989, 88. Gayatri Chakravorty Spivak, The question of Multi-culturalism, in: The Post-colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, hg. v. Sarah Harasym, 60. Rosemary Radford Ruether, Women and Redemption. A Theological History, Minneapolis 1998.
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Beispiel die Kapitel 6, 7 und 8 miteinander vergleicht, sieht man, wie Ruether die Falle der Verallgemeinerung zu vermeiden sucht, indem sie die feministische Theologie durch die Erwähnung verschiedener individueller feministischer TheologInnen im Westen einführt, obwohl die Frage offen bleibt, welche fachlichen Parameter dieser Auswahl zugrunde liegen und welche Standards genommen wurden, um diese repräsentativen Personen für den feministischen theologischen Diskurs im Westen auszuwählen. Biografien dieser feministischen TheologInnen zeigen, dass es sich um Individuen und nicht um eine Gruppe handelt. Doch in Kapitel 8 gibt es einen methodologischen Widerspruch. Die Namen der individuellen TheologInnen verschwinden aus dem Buch und stattdessen handelt Ruether riesige Regionen innerhalb eines Kapitels ab und bedient sich einer großen Kategorisierung: Lateinamerika, Afrika und Asien. Da sie nicht der Landesprache jeder dieser Regionen kundig ist, ist sie natürlich nicht in der Lage, die verschiedenen, in diesen Sprachen geschriebenen Quellen zu erschließen. Übermäßige Verallgemeinerung, Vereinfachung und Homogenisierung werden bei dieser Darstellung zur Methode und die Diversität, Komplexität und Historizität des feministischen theologischen Diskurses dieser Regionen werden unterdrückt. Spivaks Kritik an Kristevas Die Chinesin,27 einem Buch, dem ein kurzer Trip nach China zugrunde liegt, hilft uns, die Kritik am modernen androzentrischen Humanismus durch den zeitgenössischen, westlichen Feminismus zu sehen. Das Beharren auf der Verschiedenartigkeit der Frauen geht allerdings verloren, wenn die westliche feministische Theologie dem Nicht-Westlichen begegnet. Indem Ruether Asien, Afrika und Lateinamerika in ihrem Buch die Themen der Durchschnittsfrau der nicht-westlichen Regionen verhandelt, übt sie nicht nur eine diskursive, hegemoniale Macht aus, sondern sie symbolisiert auch und gettoisiert damit den nicht-westlichen feministischen Dialog. Obwohl ich den informativen Wert ihrer Arbeiten über feministische Theologie(n) in nicht-westlichen Regionen anerkenne, glaube ich, dass einige Einzelpersonen oder einzelne Begegnungen innerhalb solch riesiger Gebiete nicht als repräsentativ angesehen werden können und sollen. Solch ein Zugang fördert den Gedanken, dass die Frauen in nicht-westlichen Gebieten eine einheitliche Gruppe darstellen und die Analyse von spezifischen historischen, kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Unterschieden innerhalb/unter diesen Frauen wird unmöglich. Die Unterschiede innerhalb der Disziplinen, der Standpunkte und der Methoden, mit denen man feministische Theologie innerhalb einer Region betreibt, und die Unterschiede unter den feministischen Theologinnen einer Region bleiben auch unberücksichtigt. So werden sie in ein bestimmtes Bild von Schikane und Unterdrückung eingefroren und festgehalten und ihre geschichtlichen Besonderheiten werden grundsätzlich geleugnet. Sie sind Eingeborene, Ureinwohner, Exoten, Staatenlose, Klassenlose. Diese Homogenisierung des nicht-westlichen theologischen Diskurses ist ein Akt, der die Frauen Afrikas, Lateinamerikas und
27
Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, French Feminism in an International Frame, in: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York 1987; and Julia Kristeva, Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China, Frankfurt a. M. u.a. 1982.
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Asiens zu den Anderen macht: Sie sind irgendwie anders, unterscheiden sich von den westlichen feministischen TheologInnen. Während die zu den Anderen gemachten – hier asiatische, lateinamerikanische und afrikanische feministische Theologinnen – nicht die Macht haben, westliche feministische Theologinnen irgendwo mit einzubeziehen oder sie auszugrenzen, haben diejenigen, die sie zu den Anderen machen – hier die feministischen westlichen Theologinnen wie Ruether – eine diskursive Macht, zu entscheiden, ob sie nicht-westliche feministische Theologinnen irgendwo mit einbeziehen oder sie ausgrenzen. So sind wir feministischen Theologinnen in Asien manchmal als Frauen (aufgrund biologischer Gleichheit) mit eingeschlossen, und manchmal als Asiaten (aufgrund geografischer/kultureller Unterschiede) ausgegrenzt. Asien – das bedeutet unendlich viele Schichten und seine Komplexität und Verschiedenartigkeit kann durch so eine monolithische Beschreibung und Analyse wie in Ruethers Buch kaum vermittelt werden. Die asiatische feministische Theologie zu homogenisieren, stellt eine Art epistemischer Gewalt dar, weil die asiatischen Frauen im feministischen theologischen Diskurs alle gleich dargestellt werden, ungeachtet ihrer Geschichte und ihrer speziellen körperlichen Beschaffenheit. Den Ausdruck „nordamerikanische feministische Theologie“, benutzt Ruether nicht, obwohl sie für andere Teile der Welt sehr wohl solche Termini gebraucht. Würde sie es tun, würde sie sofort von männlichen feministischen Theologen hart kritisiert werden, weil sie die extreme Vielfältigkeit feministischer Theologien in Nordamerika verallgemeinert und homogenisiert. Deshalb sollten wir fragen: Wer homogenisiert und welche diskursive Bedeutung hat dies? Wenn die Homogenisierung von denen ausgeübt wird, die eine diskursive hegemoniale Macht haben, ist dies eine Form von NeoOrientalismus, das bedeutet, dass es ein geografisches Bewusstsein mittels theologischer Texte wiederherstellt und vermehrt: „Sie erschafft nicht nur, sondern sie erhält auch: mehr als sie es ausdrückt, ist sie ein bestimmter Wille oder eine Absicht, eine offensichtlich andere Welt zu verstehen, und in manchen Fällen auch zu kontrollieren […].“28 Wenn sie mich bitten, als asiatische Frau zu sprechen, dann weiß ich, dass es sowohl komplimentierend als auch komplementär gemeint ist, und dass es einen ernsthaften Mangel hinterlässt, der ausgeglichen werden muss. Sie geben mir das Gefühl, dass ich etwas Besonderes sein muss/sollte, im Sinne von anders sein als sie. Im Prozess der Symbolisierung, der Homogenisierung und vielleicht sogar der Gettoisierung verschwinden die multiplen ‚Ichs‘. Lediglich das Kennzeichen des Plurals – die kollektive Identität - bleibt übrig. Diskursive Hegemonie ist sehr subtil und bei weitem schädlicher als offenkundige Diskriminierung und Kolonisierung. Die Inanspruchnahme einer kollektiven Identität ist in mancher Hinsicht für die ehemals Diskriminierten ein notwendiger Prozess, um politisch erwachsen zu werden. Aber wenn sie von denen, die diese diskursive Macht haben, umgeformt wird, wird sie zum hegemonialen Zwang durch diese Macht. Nach Foucault stellt Macht ein ‚pastorales‘ Regime dar, durch das sie ihre Untergebenen kontrollieren will, indem sie sie umformt, und der Schlüssel dieser Macht ist ‚Wissen‘. Der Dis28
Said, Orientalism, 12.
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kurs, wie beispielsweise der Diskurs über asiatische feministische Theologie durch westliche feministische Theologinnen wie Ruether, „produziert Wirkliches. Er produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale.“29 Wie Said behauptet, verwandelt das Regime der Disziplinargewalt, das dem Orientalismus innewohnt, den wirklichen Osten in einen diskursiven Orient. Als ich das Kapitel über asiatische feministische Theologien in Women and Redemption von Ruether las, fühlte ich, dass das wirkliche Ich in das diskursive Ich – die asiatischen/koreanischen Frauen, den Plural, umgeformt worden war, und mein Körper, meine Geschichte, meine Persönlichkeit als ein Individuum fehlten. Wenn sie erklärt, was Han bedeutet, schreibt sie: „Han, das sind nicht einfach die Erfahrungen von Individuen. Han ist kollektiv und wird von Generation zu Generation weitergegeben“30 und hiermit zitiert sie die koreanische minjung-Theologie. In diesem homogenisierten Diskurs über asiatische feministische Theologie fühle ich mich als asiatische Frau kaum fair/richtig dargestellt. Sie entscheidet, welche Seite sie hören will, und sie entscheidet, was sie aus dem Gehörten macht, und dann denkt sie, sie habe die Kernpunkte verhandelt. Es sieht nicht so aus, als würde sie ihre kritischen, analytischen Techniken bei dieser ‚universellen‘ Behauptung über die sogenannte Erfahrung der koreanischen Frauen im Allgemeinen anwenden. Sie verwendet einfach den Begriff Han großgeschrieben, ohne zu hinterfragen, ob er wirklich so umfassend ist, wie sie behauptet. Ich würde sagen, dass der Begriff Han und seine Deutung in Bezug auf die Erfahrung koreanischer Frauen im Allgemeinen, die Erfahrungen koreanischer Frauen romantisieren und auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren, als ob geschichtlicher Wandel und Dynamik das Alltagsleben dieser Frauen nicht betreffen würden. Obwohl ich mir der Erfahrungen koreanischer Frauen unter dem patriarchalen System und dessen Institutionen sehr wohl bewusst bin, würde ich nicht sagen, dass ich ein ‚Han-geplagter‘ Mensch bin und dass das Han in mir von vorherigen Generationen an mich weiter gegeben wurde, nur weil ich eine koreanische Frau bin. Wie alle anderen Frauen in der Welt unterscheiden sich auch die koreanischen Frauen gemäß ihres wirtschaftlichen Status, ihres erzieherischen/religiösen Hintergrundes, ihres Familienstandes usw. Sie sind nicht nur reine Opfer – Han-geplagte Menschen. Sie können zugleich Opfer und Täter sein. So etwas wie das gemeinsame Han koreanischer/asiatischer Frauen gibt es nicht, und darüber hinaus können Leid, Ärger und Sorgen koreanischer Frauen nicht von einer Generation auf die andere übertragen werden, da diese aus bestimmten Zeiten und bestimmten Schauplätzen resultieren. Wenn man Han als die kollektive Erfahrung koreanischer Frauen proklamiert, macht man es zum Produkt einer fiktiven Ethnizität. So exotisch und interessant es für westliche Menschen auch klingen mag, repräsentiert es nicht die wirklichen asiatischen/koreanischen Frauen von heute. Es schafft und verstärkt die falschen Annahmen, dass die Bedeutung der Genderidentität und die Erfahrung von Sexismus für alle koreanischen/asiatischen Frauen ‚als Frauen‘ gleich sind 29 30
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 2010, 250. Ruether, Women and Redemption, 270.
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und dass die Genderidentität losgelöst von Klassenidentität, sexueller Identität, religiöser Identität, Rassenidentität usw. existiert. Selbst in einer einzigen Gesellschaft wie der koreanischen, von Asien im allgemeinen ganz zu schweigen, sind die Definitionen, Erwartungen und Erfahrungen, was es heißt, eine Frau zu sein, ungemein unterschiedlich. Die Sexismuserfahrungen von Fabrikbesitzerinnen z.B. können nicht dieselben sein wie die von Fabrikarbeiterinnen. Die Genderidentität ist tief vermischt mit anderen Identitäten. So wie ‚Frau‘ nie eindeutig definiert werden kann, kann auch ‚Asiate‘ niemals eindeutig aufgrund kultureller, politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und religiöser Verschiedenartigkeiten definiert werden. Asien ist absolut hybrid/heterogen und wird niemals homogen sein. Ob man es nun unterbewertet/entwertet oder überbewertet, immer wird das wahre Asien verzerrt dargestellt. Wenn man seine Identität nur aus den Unterschieden heraus bezieht, egal ob dies durch die Asiaten selber oder durch Nicht-Asiaten geschieht, bedeutet dies, dass man die multiplen und hybriden Identitäten Asiens und des Westens reduziert und sie mittels zweigeteilter Stereotypen darstellt, mit der Absicht, die Wahrnehmung der Unterschiede zwischen den westlichen und den asiatischen Teilen der Welt zu fixieren. Trinh Minh-Ha weist zurecht darauf hin, dass Unterschiedlichkeit als einzige oder spezielle Identität sowohl eingrenzend als auch trügerisch ist. Wenn sich die Identität auf das Gesamtbild der Identität innerhalb eines Menschenlebens bezieht, auf das bleibende Ich innerhalb all der Wandlungen, die es durchlaufen hat, dann bleibt die Unterschiedlichkeit innerhalb der Grenzen, die eine Identität von einer anderen unterscheiden […] eine/n weibliche/ethnische Identität/Unterschied zu behaupten, ist üblicherweise gleichbedeutend damit, eine Art von naivem, ‚männlich-gefärbten‘ Romantizismus wieder zu beleben.31
Das Dilemma des Als-Jemand-Sprechens liegt in der Tatsache begründet, dass es, wird es von den an den Rand Gedrängten selber praktiziert, den Effekt haben kann, dass ihre Stimmen gehört werden. Wird es jedoch heftig vom dominanten, vorherrschenden Volk erwartet, entsteht ein Prozess der Generalisierung, Homogenisierung und der Symbolisierung. Es beginnt ein Prozess der Distanzierung von sich selbst, da man sich zu einem Repräsentanten machen muss. Wenn wir asiatischen Frauen gebeten werden, uns als asiatische Theologinnen zu zeigen, dann erwartet man von uns, dass wir unsere Präsentationen mit alter Folklore, Riten, schamanistischen Symbolen und Ritualen, Tänzen, emotionalen, han-geplagten Erzählungen ausfüllen. Sie werden sonst nicht zuhören, da es sie langweilt. Auch von AsiatInnen werden wir angeklagt, wir seien verwestlicht. Wir sind dazu verurteilt, in der Vergangenheit geboren zu sein und immerfort dort leben zu müssen.32 Jedoch 31 32
Trinh, Woman Native Other, 95-96. Wenn ich unterrichte oder eine Vorlesung halte, werde ich oft gefragt, warum ich mich nicht mit koreanischer/ asiatischer feministischer Theologie beschäftige, sondern nur mit feministischer Theologie. Der Hauptgrund, warum mir diese Frage gestellt wird, ist die Tatsache, dass ich eben nicht alte Folklore und traditionelle Geschichten in mein theologisches Bild aufnehme, sondern die gegenwärtigen Fragen, mit denen die koreanischen Frauen konfrontiert sind, abhandle. Für diejenigen, die solche Fragen stellen, sollte die wirkliche koreanische/asiatische Theologie in der Vergangenheit
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„kann die Vergangenheit mich keineswegs im gegenwärtigen Augenblick leiten, ob es Euch gefällt oder nicht“ und wir asiatischen Theologinnen werden, entweder freiwillig oder durch Zwang, mehr und mehr zu „Sklaven der Vergangenheit“33, und all dies im Namen von Indigenisierung, Identitätsfindung, Multi-Kulturalismus, und von Feiern/Respektieren der Unterschiedlichkeit. Mehr und mehr werden wir in der Vergangenheit eingefroren, denn wir – der Osten – sind ja anders als sie – der Westen – oder müssen es sein. Es erscheint mir unzulässig, wenn die Geschichten von nicht-westlichen Frauen zu Stoff werden, den westliche feministische Theologinnen, selbst Wohlmeinende, in ihrer akademischen Arbeit behandeln, und sie so ihre akademische Kompetenz auf einen transnationalen Kontext ausdehnen. Das Problem der Darstellung besteht darin, ob man weniger privilegierte Andere wirklich repräsentieren kann. Wie Spivak verficht, werden authentische Gefühle von Subalternen, wenn sie einmal genannt sind, falsch dargestellt, aufgrund der vielfältigen Vermittlungen mächtiger, lokaler und globaler, Gruppen und Institutionen. Die Privilegierten müssen ihr Privilegiert-Sein verlernen, „sodass sie nicht nur fähig werden, der anderen Gemeinschaft zuzuhören, sondern dass sie lernen, so zu reden, dass diese andere Gemeinschaft sie ernst nimmt.“34
Hin zu einer hybriden Identität für das theologische Konstrukt in Asien Wenn wir den Orientalismus wegen seiner verallgemeinernden Zwischentöne kritisieren, dann ist die Idee Asiens als einer eindeutigen, historischen Einheit die andere Seite des Orientalismus. Es ist eine bittere Wahrheit, dass sich Asien heutzutage nicht außerhalb des Westens befindet. Selbst die sogenannte Asianness ist bereits mit dem allgegenwärtigen Westen verbunden. Orientalismus und Partikularismus, wie etwa Nativismus, sind zwei Seiten einer Medaille, und man kann nicht die eine Seite ohne die andere kritisieren. Dies führt zu dem, was Spivak ein „neues, kulturelles Alibi“35 nennt, und wodurch einige die Fallen des frühen Orientalismus vermeiden wollen; sie spezifizieren ihre Nachforschungen so akribisch genau wie möglich nach Klasse, Geschlecht, Rasse, Nation und geografischer Lage. Man sieht dies in
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verankert sein – der vormodernen Ära – nicht in der Gegenwart – dem 21. Jahrhundert. Überraschenderweise beziehen viele Menschen, Koreaner/Asiate oder Nicht-Asiate, etwas echtes/authentisches koreanisches/asiatisches ausschließlich auf die reine Vergangenheit – auf die Vergangenheit, die nicht durch die westliche Kultur verschmutzt ist. Aber, ob es gefällt oder nicht, diese unverschmutzte, unverdorbene, reine Vergangenheit gibt es nicht. Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 1952, 225. Übersetzt als: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a. M. 1985. Spivak, Strategy, Identity, Writing, 42. Gayatri Chakravorty Spivak, Who claims Alterity, in: Remaking History, hg. v. Phil Marian, Seattle 1989, 281.
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Wortschöpfungen in englischen Texten, wie z.B. Han, Han-pu-ri oder minjung. Die Verwendung von koreanischen Wörtern als einem Spezifikationssymbol signalisiert eine neue Art von Achtsamkeit und Aufmerksamkeit in den diskursiven Geboten des kulturellen Pluralismus. Um ‚theologische/kulturelle Unterschiede‘ vom Westen zu eruieren, werden diese umgangssprachlichen Ausdrücke wie ‚koreanisch‘ in englischen Texten leicht zu einer Methode der Differenzierung, die die Kritik an der Ausübung ihrer kritischen Aufgabe hindert. Ein wissenschaftlicher Nativismus, der innerhalb der orientalistischen Dynamik voll und ganz funktioniert und der fortfährt, ‚andere Kulturen‘ innerhalb gänzlich konventioneller, disziplinärer Grenzen einzukerkern, bleibt so intakt. Es ist völlig klar, dass eine postkoloniale Position alleine nicht genügt, um sicher zu stellen, dass wir die Wahrheit übermitteln können und werden. Der Ausdruck Hybridität, der seit neuestem mit der Arbeit von Homi K. Bhabha assoziiert wird, ist hilfreich, um das Exotische in der kulturellen Identität zu überwinden. Bhabha erörtert, dass alle kulturellen Aussagen und Systeme in einem Raum, den er den „Dritten Raum[…] der Äußerung36 nennt, gemacht werden. Bhabha behauptet: Dabei ist es bezeichnend, daß die produktiven Potentiale dieses Dritten Raumes kolonialer oder postkolonialer Herkunft sind. Denn eine Bereitschaft, in jenes fremde Territorium […] hinabzusteigen, könnte den Blick dafür freimachen, daß die theoretische Anerkennung der Gespaltenheit des Äußerungsraumes den Weg zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur weisen könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht.37
Der dritte Raum ist kein bestimmter Raum, sondern ein unbestimmter, der mit der kulturellen Hybridität zusammen auftritt. Alle Formen der Kultur sind nach Bhabha ständig in einem Prozess der Hybridität, und Hybridität ist der dritte Raum, der es anderen Positionen erlaubt, sichtbar zu werden. Es erscheint sehr nützlich, Bhabhas Begriff der Hybridität bei der Suche der asiatischen TheologInnen nach einer asiatischen Identität anzuwenden, denn „der Prozess der kulturellen Hybridität lässt etwas Anderes entstehen, etwas Neues und nicht wieder zu Erkennendes, ein neues Gebiet, in dem man Meinungen und Repräsentationen verhandelt.“38 Die monolithischen Kategorien von Gender, Klasse, Rasse oder Ethnizität werden neu besetzt im Sinne von Grenzüberschreitungen und Zwischenräumen – dem Dritten Raum der Hybridität. Der Dritte Raum als ein erweitertes Konzept der Hybridität und als ‚gewählte Marginalität‘, ist ein Ort des Widerstandes in der postkolonialen Welt und eine Strategie, der vergangenen Kultur und anderen Nachbarkulturen einen neuen Stempel zu geben. Im asiatischen theologischen Diskurs wurde viel über Asien als einem ‚bestimmten‘ Gebiet mit einer ‚bestimmten‘ Geschichte geredet. Ich würde sagen, dass dieser Diskurs geografisch gesehen deterministisch und somit kulturell gesehen essentialistisch ist.
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Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 56. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 58. Homi K. Bhabha (Hg.), Nation and Narration, London 2000.
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Wir haben uns in eine neue Zeit theologischer Reflexion begeben. Es gibt heutzutage verschiedene Methoden und Programme, um theologisch zu arbeiten. Und es gab auch einen drastischen Wandel im asiatischen Kontext, der nun völlig anders ist als im vergangenen Industriezeitalter. Wir befinden uns im Internetzeitalter, in dem geografische Grenzen verschwimmen und in dem das Zusammenfließen von Kulturen die tägliche Realität ist. Darüber hinaus beginnen postkoloniale, postmoderne und feministische Diskurse eine große Narrativität aufzugreifen, haben eine Tendenz zur Re-Orientalisierung sowie einen patriarchalen Ethos innerhalb des asiatischen theologischen Diskurses. Sie verweisen auf die Wichtigkeit lokaler Erzählungen, auf das Postpatriarchat und auf die Hybridität der ‚Asianness’ im asiatischen theologischen Diskurs. Postkolonialismus und Feminismus sind methodologisch nützlich, um die Bedingungen für sich überkreuzende Koalitionen zu schaffen, die totalitäre Diskurse im Namen der Kultur, der Rasse, der Volkszugehörigkeit und der Nation im asiatischen theologischen Konstrukt herausfordern. Die neue Situation ist interkulturell, mannigfaltig und hybrid. Es führt TheologInnen in eine neue Richtung, um eine asiatische Theologie zu schaffen, die die aktuelle Situation reflektiert. Wenn man die Kontinuität und die Diskontinuität zwischen der neuen Situation und der alten erforscht, dann bedeutet das, dass es für die Gegenwart sehr wichtig sein wird, die Implikationen eines asiatischen theologischen Diskurses zum Ausdruck zu bringen. In diesem Prozess sollten wir festhalten: Alle Kulturen sind […] ineinander verstrickt; keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nichtmonolitisch.39 Niemand ist heute nur ganz und rein eines. Bezeichnungen wie Inder, Frau, Muslim oder Amerikaner sind nicht mehr als erste Orientierungssignale […]. Der Imperialismus konsolidierte die Mischung von Kulturen und Identitäten weltweit. Seine schlimmste und paradoxeste Gabe aber war es, die Menschen glauben zu machen und glauben zu lassen, sie seien einzig, hauptsächlich bzw. ausschließlich weiß oder schwarz oder westlich oder orientalisch. […] doch es scheint – abgesehen von Angst oder Vorurteil – keinen Grund zu geben, auf ihrer Trennung und Unvergleichlichkeit zu beharren, so als ob das alles gewesen sei, worum das menschliche Leben kreiste. Überleben hängt mit den Verbindungen zwischen den Dingen zusammen […].40
Heutzutage ist es völlig klar, dass alles, was sich isoliert, sei es westliche oder asiatische Theologie, versteinern wird. Und alles, was versteinert, stirbt. Der orientalistische Dualismus verkleidet sich als empirische Verallgemeinerung, aber in Wirklichkeit ist er ein transzendentes System zur Interpretation von Daten, das den Beobachter rechtfertigt, jedes Gegenbeispiel als bedeutungslose Anomalie zu missachten, und dies macht blind für die innewohnende Diversität und das dynamische Potenzial. Es ist ein epistemologisches Instrument, um die westliche Vorherrschaft über Asien zu garantieren. Obwohl beide, AsiatInnen und westliche Menschen, wie wir gesehen haben, nicht frei sind vom Zauber des Orientalismus, könnte man sagen, dass die AsiatInnen eher bereit sind, damit zu brechen, denn für diejeinige/denjenigen, 39 40
Edward Said, Kultur und Imperialismus, Frankfurt a. M. 1994, 30. Said, Kultur und Imperialismus, 442.
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die/der zum Stereotypen gemacht wird, ist es leichter, diesen zu zerstören, als für den Verursacher. Wenn man diesen Zauber des Orientalismus und NeoOrientalismus bricht, dann kann die asiatische Theologie vermitteln, dass der Westen in Zukunft nicht mehr selbstgefällig im Blick auf seinen eigenen Rekord die heutige Theologie erschaffen kann. Wir asiatischen TheologInnen von heute sind mit einer unausweichlichen Frage konfrontiert: Wird die asiatische Theologie im globalen Kontext wieder erkennbar sein, wenn sie nicht über AsiatInnen als AsiatInnen spricht, wenn sie sich nicht auf die ethnische Identität konzentriert, isoliert von anderen Aspekten der Identität, und wenn sie nicht versucht, die Situation von ‚AsiatInnen im allgemeinen‘ zu beschreiben? Wenngleich diese Frage auch schwer zu beantworten ist, bedarf es weiterer Anstrengungen hinsichtlich der Definition von „asiatisch“ und wir müssen uns mit der Bedeutung der Unterschiede/Ähnlichkeiten unter den AsiatInnen und Asien und dem Westen auseinandersetzen. Das macht den asiatischen theologischen Diskurs aus und durch solche Auseinandersetzungen wird er gedeihen. Mittels solcher Konflikte wird die asiatische Theologie aus einer postkolonialen Perspektive Bedingungen für Koalitionen schaffen, die den totalisierenden Diskurs im Namen von Kultur, Rasse, Volkszugehörigkeit und Nationalität in Frage stellen werden. Die postkoloniale theologische Anthropologie muss die Suche nach einem unwandelbaren, essentiellen Herzen Asiens ablehnen. Das hybride Selbst, das jede Idee eines grundlegenden Asiatischseins auflöst, könnte ein christliches Ideal von ‚sich selbst verlieren, um sich selbst zu finden’ sein. Dann führt die in der postkolonialen Annäherung an die asiatische Theologie gestellte Frage: Was ist asiatisch? zu der Frage: Wer ist der/die Asiate/Asiatin? Obwohl die „was“-Frage die Suche nach dem unwandelbaren, essentiellen Herzen Asiens ist, so ist die „wer“-Frage die Suche nach der stets wandelbaren Natur des Asiaten/der Asiatin als einem hybriden, dezentralisierten, multiplen Selbst. Diese postkoloniale theologische Anthropologie lädt uns ein, in kritischer und radikaler Offenheit gegenüber der kulturellen Hybridität unserer Zeit zu leben, und eine ständige Sensibilität dem ‚Anderen‘ in seinen verschiedenen Ausprägungen gegenüber zu üben, ohne den ‚Anderen‘ auf die Totalität des ‚Gleichen‘ zu reduzieren. Erstveröffentlichung als: Namsoon Kang, Who/What is Asian? A Postcolonial Theological Reading of Orientalism and Neo-Orientalism, in: Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, hg. v. Catherine Keller / Michael Nausner / Mayra Rivera, St. Louis 2004, 100-117.
Option für die Ränder Andreas Nehring/Simon Tielesch
Dem Randständigen haftet oftmals der Geschmack des Nebensächlichen und zu Vernachlässigenden an. Wer zum Kern eines Problems vorstoßen möchte, muss sich mit dem Zentrum beschäftigen, so könnte man die Logik dieser Einstellung dann fortsetzen. Doch bereits bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass ein Zentrum nicht ohne Ränder auskommt, indem es sich stets nur über Grenzziehungen und den Ausschluss des anderen zu definieren vermag. Wer also zum Kern eines Problems, zur imaginierten Mitte einer Gemeinschaft vorstoßen möchte, wird nicht umhin kommen, sich mit den Rändern und den Ausgrenzungen, die dort vorgenommen werden, auseinanderzusetzen. Denn an den Grenzziehungen zeigt sich, wer zu einer Gemeinschaft gehört und wer von ihr ausgenommen wird. Dass aus der Binnensicht die eigene Kultur als überlegen erscheint und damit als berechtigt, Unterlegene zu marginalisieren und auszuschließen, ist eine Haltung, die sich in der Geschichte immer wieder festmachen lässt. Die griechische Zivilisation ist nicht zu denken ohne ihr Gegenüber, ohne die Barbaren, die als die fremden Anderen den Grenzbereich am Rand der bewohnten Welt markieren, in größter Entfernung zum Zentrum der eigenen, als überlegen angesehenen Zivilisation. Ein Gedanke, der sich auch auf den europäischen Kolonialismus übertragen lässt: Im Mittelpunkt geistiger und physischer Weltkarten fungiert Europa als Zentrum der Welt. Als ‚Licht der Welt’ weiß es sich gleichsam berufen, die Fackel der Vernunft und Aufklärung an die entferntesten Enden der Erde zu bringen. Von den europäischen Zentren aus lassen sich andere Länder und Völker erobern und bekehren, mit ihnen beginnt eine neue Zeitrechnung durch die Entdeckung der Ränder.1 Auch wenn man keine einheitliche Geschichte des Kolonialismus schreiben kann, sondern allenfalls die Geschichten einzelner Kolonialismen, konnte der Ökonom Arthur Girault kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs festhalten, dass vom gesamten Festland der Erde die Hälfte von Kolonien bedeckt war.2 Doch eigneten dem Fremden und Randständigen als dem Gegenüber des eigenen Selbst nicht nur negative Züge, sondern auch das eigene Begehren und Fantasien vom Fremden ließen sich auf den Anderen übertragen. In den europäischen Zentren blühte mit der Hochphase des Kolonialismus der Exotismus, der Reiz am Fremden, Wilden und Exotischen, die Sehnsucht nach dem „Edlen Wilden“, wie sie sich etwa in den Bildern Paul Gauguins über Polynesien exemplarisch ausdrückt. Gerade das Begehren nach dem 1 2
Vergleiche dazu auch Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985. Siehe Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte –Formen - Folgen, München 6 2009, 29.
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Andreas Nehring/Simon Tielesch
Unverfälschten, Reinen und Urwüchsigen war es wohl auch, was die Menschen in Deutschland um 1900 zu Tausenden in Hagenbecks Völkerschauen strömen ließ, um dort insbesondere Schwarzafrikaner in einem vermeintlich besonders authentischen Setting als Kontrasterfahrung und Bestätigung der eigenen Überlegenheit bestaunen zu können. Eben diese Ambivalenz von Ausgrenzung und Attraktion findet sich auch in der Missionstheologie an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910 war von einem enormen Expansionsbewusstsein geprägt, indem man von einer „Evangelisierung der ganzen Welt noch in dieser Generation“ ausging, zugleich aber Afrikaner als noch nicht zivilisiert genug ansah, um an den Verhandlungen der Konferenz überhaupt teilzunehmen.3 Andererseits konnten Missionare wie der Deutsche Bruno Gutmann, der in den ersten Jahrzehnten unter den Chagga in NordTansania arbeitete, von ‚urtümlichen Verbindungen’ ausgehen, die er bei den Chagga als besonders wertvolles gesellschaftliches Strukturmerkmal ausgemacht hatte und die er gegen den schädlichen Einfluss westlicher Zivilisation meinte schützen zu müssen. In der Geschichte der deutschsprachigen Theologie lässt sich mit dem Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts eine verstärkte Wahrnehmung der gefühlten Ränder des wissenschaftlichen und kirchlichen Dialogs verzeichnen. Ausgehend von Übersetzungen und einer Vielzahl an Publikationen waren es vor allem die Stimmen männlicher Befreiungstheologen, die in den Diskurs von deutschen Missionswissenschaftlern eingespielt wurden.4 Mit dem Beginn der sogenannten interkulturellen Theologie kam auch die Frage nach der Universalisierbarkeit und Originalität dieser Entwürfe auf. In der Rede von kontextuellen Theologien, wie etwa einer typisch afrikanischen oder speziell asiatischen Theologie im Gegenüber zu einer als universalistisch verstandenen europäischen Theologie mag sich ein Reflex des oben geschilderten Denkens ausdrücken. Dennoch blieb die Darstellung und Sichtbarmachung der Ränder nicht ohne Auswirkungen auf das Zentrum und so lässt sich auch die heutige deutsche Theologiegeschichte nicht ohne die Erfahrungen in der ‚Kontaktzone’ mit Entwürfen von den Rändern verstehen. Gleichwohl ist es ein Anliegen der postkolonialen Theologie, über die bloße Darstellung der Ränder hinauszugehen und Fragen nach der Macht der Repräsentation und dem Modus der Sichtbarmachung zu stellen. Als ein bedeutender Aufbruch für das Hereinbrechen der Ränder in die scheinbar gefestigten Zentren der Theologie lässt sich das von R.S. Sugirtharajah herausgegebene Buch Voices from the Margins5 lesen. Hierin entfaltet Sugirtharajah nicht nur ein Panorama unterschiedlicher theologischer Stimmen des globalen Südens, sondern er geht zudem auch der Frage nach der 3 4
5
Vgl. Brian Stanley, The World Missionary Conference. Edinburgh 1010, Gran Rapids 2009. Vergleiche die konzise Darstellung bei Henning Wrogemann, Interkulturelle Theologie und Hermeneutik. Grundfragen, aktuelle Beispiele, theoretische Perspektiven, Gütersloh 2012, 28ff. R.S. Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll ³2006.
Dritte Sektion: Option für die Ränder
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methodischen Aufnahme dieser Stimmen in den akademischen Diskursen des Westens nach. Im Gespräch mit indischen Philosophen und Philosophinnen von Rabindranath Tagore bis Gayatri Chakravorty Spivak zielt Sugirtharajah darauf, die Ränder als einen Ort kritischer Aktivität und als heimliches Zentrum des Diskurses zu profilieren.6 Gerade in der Auslegungspraxis und der Hermeneutik von durch die klassisch-westliche Theologie an den Rand gedrängten Akteurinnen und Akteuren sieht er ein Potenzial für die Weiterentwicklung kritischer Diskurse auch im Westen und an den Schaltstellen theologischer Theoriebildung. Diese Verlagerung und Einspielung in den westlichen Diskurs ist nicht ohne grundsätzliche Kritik geblieben. Der indische Marxist Aijaz Ahmad hat die Bemühungen des aufkommenden Postkolonialismus als eine konservative Bewegung gebrandmarkt, die zur Vermarktung kritischer Potenziale der ‚Dritten Welt’ in die Warenwelt des Westens beitragen würde.7 Dadurch erlange der Westen erneut die Hoheit über die Diskurse und es finde eine Wiedereinschreibung kolonialer Stereotype und Machtverhältnisse statt. Insbesondere die im Westen heimisch gewordenen, auf Englisch schreibenden und international als Stimme des postkolonialen Südens gefeierten Schriftsteller erscheinen in dieser Darstellung als Nutznießer und Kollaborateure des perpetuierten Systems der internationalen Arbeitsteilung. Diese harsche Kritik von Ahmad ist auch in der postkolonialen Theoriebildung nicht ohne Widerhall geblieben. Interessanterweise beschäftigt sich Sugirtharajah in einem weiteren Buch Ende der 90er Jahre gerade mit dem Lokalen und Vernakularen und rückt dies in einen Kontrast zu vereinnahmenden Strömungen der an Schwung gewinnenden Globalisierung.8 Doch bleibt die Frage nach Repräsentationen der Ränder und ihrer Definition eines der umstrittensten Themen der postkolonialen Theologie. Wenn wir nun von einer ‚Option für die Ränder’ sprechen, so drückt sich in dieser Formulierung das Echo eines der wirkungsmächtigsten Prinzipien befreiungstheologischer Theologien aller Schattierungen aus. Mit der Entdeckung der „vorrangigen Option für die Armen“, wie sie sich in nahezu allen befreiungstheologischen Werken niederschlägt, ist sowohl ein hermeneutischer als auch ein praktisch-ethischer Paradigmenwechsel eingeleitet worden.9 Nicht Gnade, Mitleid und Wohltätigkeit, sondern die Verwirklichung des Befreiungskampfes um die gleichen Rechte und die Erlernung des aufrechten Gangs in einem Prozess der Verweltlichung und damit Verwirklichung eschatologischer Versprechungen stehen im Mittelpunkt dieser ‚Option’. Subjekt der Handlungen sind dabei die Armen selbst. In Indien ist dieser theologische Samen innerhalb der Dalit-Bewegung auf einen fruchtbaren Boden gefallen. Es findet sich ein breiter Strom befreiungstheo6 7
8 9
Vergleiche dazu Sugirtharajah, Voices from the Margin, 2. Vergleiche hierzu die Darstellung bei Maria Do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, 115ff. Es wird Bezug genommen auf Aijaz Ahmad, In Theory. Classes, Nations, Literatures, Oxford 1992. Siehe R.S. Sugirtharajah, Vernacular Hermeneutics, Sheffield 1999. Vergleiche dazu Clodovis Boff / Jorge Pixley, Die Option für die Armen. Düsseldorf 1987.
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logisch ausgerichteter Dalit-Theologie.10 Mit dem Begriff ‚Dalit’ setzten die Angehörigen unterer Kasten den diskriminierenden Fremdzuschreibungen bereits im 19. Jahrhundert, breitenwirksam ab den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, einen kämpferischen Ausdruck eigener Identität entgegen.11 Die Grundbedeutung des Wortes ‚Dalit’ impliziert bereits das Gefühl der Marginalität und Unterdrückung, bedeutet es doch „niedergedrückt“, „gebrochen“ oder „in Stücke gerissen“. Damit ist eine deutliche Anklage gegen die unterdrückenden Kasten formuliert, aber auch der Anspruch vorgetragen, für sich selbst sprechen zu dürfen, entgegen dem Begehren einiger Sozialreformer, unter ihnen auch M. K. Gandhi, in Stellvertretung für die ‚Unberührbaren’ zu sprechen. Das Beispiel Indiens ist nicht ohne Bedacht gewählt, denn immer wieder wird aus indischer Perspektive die Formulierung von der ‚Option für die Ränder’ materialiter gefüllt. Der indische Theologe Felix Wilfred hat dies in seinem Buch Theologie vom Rand der Gesellschaft programmatisch formuliert.12 Ein Phänomen, das bisher nur am Rande mitbedacht worden ist, wird von dem Systematiker Joerg Rieger auf den Punkt gebracht, der die postmoderne Situation durch die Ambivalenz gekennzeichnet sieht, dass die Stimmen der Marginalisierten so stark repräsentiert werden wie noch nie, dass aber gleichzeitig auch der Anpassungs- und Formierungsdruck in bisher ungekanntem Maße wächst.13 Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Beschreibung der Ränder als Orte der Beunruhigung und der produktiven Weiterentwicklung kritischer Theoriebildung innerhalb theologischer Diskurse, so hat dieses Fazit nicht nur einen resignativen Klang, sondern hält eine produktive Hoffnung bereit.
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Eine Einführung findet sich etwa bei A.P. Nirmal, Auf dem Weg zu einer christlichen Dalit-Theologie, in: Gerechtigkeit für die Unberührbaren. Beiträge zur indischen Dalit-Theologie, hg. v. EMW, Hamburg 1995, 32-50. Vergleiche Martin Fuchs, Kampf um Differenz. Repräsentation, Subjektivität und soziale Bewegungen. Das Beispiel Indien, Frankfurt a. M. 1999, 169ff. Felix Wilfred, Theologie vom Rand der Gesellschaft. Eine indische Vision, Freiburg u.a. 2006. Siehe Joerg Rieger, Opting for the Margins. Postmodernity and Liberation in Christian Theology, Oxford 2003, 14f.
Über das (Wieder-)Zentrieren der Ränder. Eine Euro-Afrikanische Perspektive auf die Option für die Armen David N. Field
Beim Übergang ins einundzwanzigste Jahrhundert finden innerhalb des Christentums tektonische Bewegungen statt, da sich das zahlenmäßige Zentrum des Christentums von der nordatlantischen Randzone zu den Ländern des Südens verschiebt. Ein signifikanter Beitrag zu dieser Verschiebung war der dramatische Anstieg des Christentums im subsaharischen Afrika. Das Christentum wurde, in den Worten von Kwame Bediako, eine „nicht-westliche Religion“1. Genauer noch ist es „die Religion der Armen der Erde“ geworden.2 Die Konsequenzen des kommenden Erdbebens für die Form des zukünftigen Christentums sind nicht klar, jedoch sind die Erdbebenstöße im Aufstieg der Dritte-Welt-Theologie bereits zu spüren gewesen. Ihr Kontext der Armut und Machtlosigkeit war die Ursache für ihren höchst bedeutenden Beitrag zu einem rekonfigurierten Christentum, der Bestätigung von Gottes bevorzugter Option für die Armen. Gewöhnlich wird weitgehend behauptet, dass wir in einer Zeit des globalen sozio-kulturellen Wandels leben. Die Modernität, die als die soziokulturelle Ordnung, die in der atlantischen Randzone vorherrscht, verstanden wird, und sich durch ihre Hegemonie seit der Aufklärung auf den Rest der Welt ausgewirkt hat, steckt in einer Krise. Aus dieser Krise sind eine Fülle neuer Ideen, kultureller Ausdrucksformen, sozialer Voraussetzungen, neuer Technologien und Lebenserfahrungen hervorgegangen, die auf verschiedene Weise in dem Begriff Postmoderne zusammengefasst wurden. Doch für die überwiegende Mehrheit der Afrikaner hat sich nichts geändert, beziehungsweise wenn sich etwas geändert hat, dann zum Schlechten. Weiterhin verwüsten Kriege unseren Kontinent.3 Die Armut nimmt zu.4 1 2 3
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Kwame Bediako, Christianity in Africa. The renewal of a Non-Western Religion, Maryknoll 1995. Bediako, Christianity in Africa, 126. Momentan gibt es siebzehn bewaffnete Konflikte auf dem Kontinent, wovon die Mehrheit Bürgerkriege sind. Geschätzt eine Million Menschen sind alleine in drei Jahren Krieg in der Demokratischen Republik Kongo gestorben. Es wird geschätzt, dass es auf dem ganzen Kontinent ungefähr sechs Millionen intern und extern verjagter Flüchtlinge gibt. Eine zusätzliche Altlast sind die ungefähr dreiunddreißig Millionen Landminen, die, noch lange nachdem der Krieg zu Ende ist, weiterhin töten und verstümmeln. Von den 174 Ländern, die im Human Development Report 2000 der Vereinten Nationen aufgeführt sind, sind die 24 letzen aus Afrika. Es gab ein konstantes Sinken des Realeinkommens: Schätzungsweise war in den letzen 25 Jahren das Durchschnittseinkommen pro Kopf jährlich um 1 Prozent gesunken. 1999 betrug das
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David N. Field
Zweieinhalb Millionen sind HIV-infiziert/haben AIDS – Tausende sterben jeden Tag5 - während heilbare Krankheiten wie Tuberkulose und Malaria weitere Hunderttausende töten. Weite Teile der Bevölkerung haben immer noch keinen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen.6 Korruption, Ineffizienz und politische Intoleranz machen vielen Nationen zu schaffen. Afrikas Anteil an der Weltwirtschaft nimmt weiterhin ab.7 Viele der neuen technologischen Entwicklungen haben Afrika hinter sich gelassen – die Mehrheit der Menschen hat keinen Zugang zu einem Telefon, ganz zu schweigen von einem Computer oder vom Internet.8 Innerhalb Afrikas selbst gibt es wesentliche Unterschiede im Wohlstand und in der Machtverteilung. Die vorherrschende Wirtschaftsmacht, Südafrika, trägt mehr als ein Drittel zum BSP von Schwarzafrika bei.
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BSP des subsaharischen Afrika 320,6 Billionen $ (davon entfielen 133,2 Billionen $ auf Südafrika), im Vergleich dazu die Niederlande mit 384,3 Billionen $ und die USA mit 8.351 Billionen $. Die BSP-Zuwachsrate pro Kopf betrug von 1998 auf 99 -0,3. Das subsaharische Afrika wurde im selben Bericht als einzige Region aufgeführt, in der es einen Rückgang in der Kalorienversorgung pro Person von 1970 bis 1997 gibt (von 2.271 auf 2.237). Es ist die einzige Region, in der es zwischen 1985 und 1995 einen Anstieg der unterernährten Kinder gab (die Anzahl der unterernährten Kinder unter fünf Jahren belief sich auf 33 Prozent). 1997 waren 42 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Analphabeten; dies besserte sich im Vergleich zu 1990, wo die Anzahl 50% betrug. Nur 56,2 Prozent der Kinder der entsprechenden Altersgruppe waren in der Grundschule, 41,4 Prozent in einer Haupt- oder Realschule. Nach Angaben der Weltbank hatte das subsaharische Afrika Gesamtauslandsschulden in Höhe von 230,1 Billionen $ im Jahr 1998, verglichen mit 176,9 Billionen $ 1990. Die Mehrheit dieser und der folgenden Zahlen sind vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, United Nations Development Program Poverty Report, 2000 – Overcoming Human Poverty (New York 2000); United Nations Development Program, Human Development Report, 2000 (New York 2000); und von der Weltbank, World Development Report, 2000/2001. Attacking Poverty (New York 2000). Durch antiretrovirale Medikamente ist AIDS in Europa und Nordamerika zu einer Krankheit geworden, die man gut behandeln kann. Aufgrund der Kosten dieser Medikamente sowie des Fehlens einer medizinischen Infrastruktur liegt die Behandlung jedoch außerhalb der Möglichkeiten der meisten Afrikaner. Im subsaharischen Afrika kommen auf 100.000 Menschen 32 Ärzte, gegen 245 in den USA. Die Kindersterblichkeit bei 1000 Lebendgeburten liegt bei 106, in den USA dagegen bei 7. 46 Prozent der Bevölkerung von Schwarzafrika haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 52 Prozent haben keinen Zugang zu Sanitäreinrichtungen. Der Anteil vom subsaharischen Afrika am Welthandel sinkt. 1985 betrug er 3,1 Prozent der weltweiten Exporte an Primärerzeugnissen und 0,4 Prozent an Industriegütern. Bis 1998 waren diese Zahlen auf 2,6 Prozent bzw. 0,2 Prozent gefallen. 1985 betrug der Anteil Afrikas an den weltweiten Importen von Primärerzeugnissen 1,1 Prozent und 1,4 Prozent bei den Industriegütern. Bis 1998 waren diese auf 0,9 Prozent bzw. 0,7 Prozent gesunken. Schwarzafrika trägt zum globalen BSP lediglich 1,09 Prozent bei (1999). Und dies trotz eines wesentlichen Anstiegs ausländischer Direktinvestitionen von 1990 (834 Millionen $ oder 0,43 Prozent weltweit) bis 1998 (4.364 Millionen $ oder 0,7 Prozent weltweit). 1996-1998 kamen in Schwarzafrika 14 Telefonfestanschlüsse auf 1000 Menschen, in den USA waren es dagegen 661(diese sind zum Teil durch den Anstieg an Mobiltelefonen wieder gesunken). Es kamen 198 Radios auf 1000 Menschen verglichen mit 2146 in den USA, 52 Fernseher verglichen mit 847 in den USA und 7,5 Computer verglichen mit 459 in den USA.
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Innerhalb der afrikanischen Länder einschließlich Südafrika gibt es riesige Unterschiede zwischen der relativ kleinen ökonomischen und politischen Elite und der breiten Masse.
Interpretation der postmodernen Welt Der andauernde Kampf in Afrika und das Auftauchen von Postmodernitäten sind keine voneinander getrennten Phänomene. Sie müssen beide in Bezug auf die Veränderungen, die in den globalen ökonomischen Strukturen und Zusammenhängen seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stattgefunden haben, gesehen werden. Eine soziokulturelle Matrix existiert immer in dynamischer Wechselbeziehung mit der Ökonomie. Soziokulturelle Veränderungen werden unterstützt, möglich gemacht und geformt durch sozioökonomische Transformationen; im Gegenzug dazu tragen solche Veränderungen etwas zu den ökonomischen Transformationen bei. Die gegenwärtigen ökonomischen Veränderungen versteht man am besten als einen Komplex wechselseitiger Entwicklungen. Die erste davon ist das Auftauchen eines post-fordistischen Kapitalismus mit der Betonung auf Flexibilität, Vielfalt und Dynamik in Bezug auf Arbeitsprozesse, Produkte und Märkte. Eine der hervorstechenden Dimensionen des Post-Fordismus ist der im Mittelpunkt stehende Konsum, der Konsument als Fokus der ökonomischen Aktivität. Die Produkte werden mit eingebautem Wertverlust hergestellt, auf einen schnellen Wandel in Design und Mode wird Wert gelegt und die Nachfrage wird durch die Werbung geschaffen. Konsumdenken und die steigende Dominanz des Marktes haben zu einer beschleunigenden Kommodifizierung aller Dimensionen der nordatlantischen Gesellschaften geführt. Kultur, Religion, Medizin, Erziehung, Universität, Medien wurden in ein Produkt verwandelt, das durch die Konsumentennachfrage geformt und wieder geformt wurde. Während der frühere Kapitalismus von der Wechselbeziehung zwischen Arbeit und Kapital angetrieben wurde, wird heutzutage der Konsument dieser zentralen Dynamik nicht nur hinzugefügt, sondern es wird ihm durch den neuen Fokus auf der Erzeugung von Wunsch und Nachfrage eine zentrale Bedeutung gegeben. Ein Beispiel: „Michael Jackson verdient für die Werbung für Nike-Schuhen ungefähr so viel wie 18.000 Indonesier, die diese Schuhe machen.“9 Zentrale Elemente der Postmodernität wie das Auftauchen multipler Identitäten durch wechselnde und unentschlossene Wahlmöglichkeiten, die Erfahrung des Oberflächlichen, Episodenhaften und Flüchtigen, die Betonung von Heterogenität, Fragmentierung und Unterschied, die Zentralität der Jagd nach Vergnügen und der Fokus auf der Ästhetik werden alle mit dem Auftauchen des 9
Ronald Sider, Rich Christians in an Age of Hunger. London 1997, 144. übersetzt als: Der Weg durchs Nadelöhr. Reiche Christen und Welthunger, Wuppertal 1978. [In dem hier angegebenen Beispiel muss vielleicht der Name des Prominenten aktualisiert werden, an der Relation hat sich jedoch nichts verändert].
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Verbraucherkapitalismus in Verbindung gebracht. So argumentiert David Lyon: „das Postmoderne splittert sich vom Modernen ab, wenn die Produktion von Nachfrage – von Verbrauchern – zentral wird.“10 Zweitens hat die post-fordistische Betonung der Flexibilität die Dominanz transnationaler Gesellschaften, die die Verbrauchsgüter herstellen und vermarkten, anwachsen lassen. Sie haben eine neue Rolle als „globale Aristokratie“11 eingenommen, die sich in dem Prozess befindet, die Vormachtstellung zu übernehmen, die aber die alte Aristokratie, die bedeutendsten Industrienationen, noch nicht ganz ersetzt hat. So schreibt Oswaldo de Rivero: Heute entfallen zwei Drittel des Welthandels auf 38.000 transnationale Gesellschaften und ihre Branchen und die Summe der Verkäufe der 86 mächtigsten Unternehmen ist größer als die Exporte aller Nationalstaaten der Völkergemeinschaft. Nur die Exporte der neun größten Industriemächte – die USA, Deutschland, Japan, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Holland und Belgien – übersteigen die Verkäufe von Shell, Exxon, General Motors, Toyota, Ford, Mitsubishi, Mitsui, Nissho Iwai, Sumimoto, Itoch Maruban und Hitachi, die … mächtigsten transnationalen Gesellschaften.12
Politik und Praktiken dieser transnationalen Gesellschaften beeinflussen entscheidend die Ökonomie der Nationen, gestalten dadurch die Kultur und bestimmen über ihr Wohl, da jene Gesellschaften entscheiden „wo, was, wie und für wen produziert wird“13. Der maximale Gewinn ist ausschlaggebend für die Wahl der Länder, in die sie investieren, nicht das politische, soziale und ökologische Wohlergehen der betroffenen Länder. Jedoch sind Handel, Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum ohne sie nahezu unmöglich, und so sind die Nationen, vor allem die armen, gezwungen, ihre sozioökonomische Politik und Gesetze eher in Übereinstimmung mit den Forderungen dieser Gesellschaften als mit den Interessen ihres eigenen Volkes zu machen. Die Art der Beziehung sowie Ausmaß und Natur der Investitionen hängen vom speziellen Potenzial der Länder, den Gewinn zu maximieren, ab. Produktion, die arbeitsintensiv und potenziell umweltverschmutzend ist, wird in Länder verlagert, wo Arbeit billig ist und wo es nur beschränkte oder gar keine Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer und der Umwelt gibt. Rohstoff wird dort beschafft, wo er billig und leicht verfügbar ist, auch wenn dies die Zusammenarbeit mit unterdrückerischen Regimen, Rebellen und Kriegsherren bedeutet. Das Auftauchen des transnationalen Kapitalismus hat die Zentralität von Nordamerika, Europa und Japan in der globalen Wirtschaft nicht schwinden lassen. Sie sorgen immer noch für den Hauptanteil bei transnationalen Investitionen als Konsequenz ihrer politischen Stabilität, dem Wohlstand und der Anzahl ihrer Konsumenten, der Verfügbarkeit von gut ausgebildeten und technisch kompetenten Arbeitskräften, ihrer hohen technischen Entwicklung, 10
11 12 13
David Lyon, Postmodernity, Minneapolis 1994, 57. Lyon behauptet dies in Bezug auf die Analysen einiger postmoderner Theoretiker (54-69). Vgl. Hans Bertens, The Idea of the Postmodern, New York 1995, 209-37. Oswaldo de Rivero, The Myth of Development. The Non-Viable Economies of the 21st Century, 2001, 45. de Rivero, The Myth of Development, 46. de Rivero, The Myth of Development, 46.
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der Stärke ihrer Finanzmärkte und der Verfügbarkeit von Investitionskapital. Viele Gesellschaften, die ihren Ursprung in Dritte-Welt-Ländern haben, migrieren in diese Zentren, sobald sie transnationalen Status erreicht haben und streben ihre erste Börsennotierung an der Londoner oder New Yorker Börse an. Das Ergebnis davon ist eine symbiotische Beziehung zwischen hoch industrialisierten Nationen und transnationalen Gesellschaften. Die mächtigen Nationen brauchen die Transnationalen, um ihre dominante Stellung zu halten; deshalb gestalten sie ihre Sozial-, Wirtschafts-, Außen- und Militärpolitik so, dass ihr Wohlstand gefördert wird. Die Transnationalen bedürfen des sozialen und politischen Umfelds, das die mächtigen Nationen bieten, und handeln so, dass sie diese Umgebungsbedingungen unterstützen. Die Jagd nach Profit verlangt Ausdehnung jenseits der Grenzen dieser Nationen; so ist eine Komponente der Aktivitäten transnationaler Gesellschaften die Unterstützung der Entwicklung einer Konsumentenschicht innerhalb anderer Nationen, in denen solche Investitionen zur Profitmaximierung beitragen. Deshalb gibt es in vielen Ländern der Dritten Welt eine politische und ökonomische Elite, die als Klientel für die transnationalen Gesellschaften fungiert. Die Vorherrschaft der transnationalen Gesellschaften wird beschützt und unterstützt von der Politik und den Aktivitäten der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation. Die Transnationalisierung von Kapital hat nicht nur zur Dominanz des Konsumdenkens beigetragen, sondern auch zum Aufstieg eines neuen Pluralismus und einer neuen Multikulturalität. Die Betonung der Gewinnmaximierung verlangt Experten in der Technik und beim Management ungeachtet der Ethnizität, Nationalität, Rasse, Gender, sexueller Orientierung. Im Gegenzug dazu migrieren gebildete Mitglieder der Elite der Dritten Welt in den Norden auf der Suche nach Arbeit und einem gehobenen Lebensstil. Manager und Technikexperten aus dem Norden werden zu verschiedenen Orten des transnationalen Imperiums in Übersee geschickt. Beispiele wirtschaftlichen Erfolgs in verschiedenen Teilen der Welt werden zu Modellen für die Organisationsentwicklung und die Methoden des Managements. Die Folge ist eine größere Bewusstheit von und Respekt für Verschiedenheit und Andersartigkeit – solange die Verschiedenheit und Andersartigkeit zur Gewinnmaximierung beiträgt. Drittens sind, solange die transnationalen Gesellschaften auf Gewinnmaximierung für die Investoren ausgerichtet sind, diese Investoren anonym und wechseln ständig. Dies ist die Folge einer Veränderung in den Modellen der Eigentümerschaft, von individuellen Investitionen hin zu einer Vielzahl an Formen von gemanagten Investitionen. Diese sich verändernden Modelle der Eigentümerschaft wurden und werden vom Wachstum der Finanzmärkte und der Entwicklung der Computer- und Kommunikationstechnologie begleitet. Auf den Finanzmärkten werden riesige Summen an Geld gemacht und verloren durch den Handel in Währungen, Rentenpapieren und anderen Finanzinstrumenten. Der Handel von Aktien und Finanzinstrumenten ist, im Auftrag anderer, in den Händen einer elitären Gruppe von Fondsmanagern, Brokern und Investmentbankern. Diese Elitegruppe lässt das Geld durch Berührung einer Computertastatur rund um die Welt wandern, sie kaufen und verkaufen mit dem Ziel eines größtmöglichen Profits für die Investoren und
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sichern so ihre eigene finanzielle Vergütung. In diesem sich schnell verändernden Markt sind Gerüchte, Spekulationen und die Börsenstimmung genau so wichtige Antriebskräfte wie ökonomische Grundsätze. So kann die ökonomische Zukunft eines fernen Landes durch einen Tastendruck, ausgelöst von einem Gerücht, zugunsten von Menschen, die dieses Land niemals auch nur besuchen werden, gefördert oder zerstört werden. Während die Kontrolle über das Kapital in den Händen dieser auserlesenen Gruppe ist, ist der Besitz des Kapitals in der nordatlantischen Randzone demokratisiert. Es gibt immer noch sehr wohlhabende individuelle und institutionelle Investoren, aber die Menschen der Mittelschicht wurden zu den bedeutenden Anlegern auf den Aktien- und Finanzmärkten. Die meisten ihrer Anlagen sind treuhänderische Anlagen wie Investmentfonds, Versicherungspolicen und Rentenfonds. Die Eigentümer des Kapitals profitieren von den Konsequenzen der Investitionen (oder erleiden Schaden daran), aber sie kontrollieren sie nicht. Diese Entwicklungen in der globalen Wirtschaft fordern uns auf, Dominierungs- und Ausbeutungsbeziehungen zu rekonzeptualisieren. Simple Gegensätze wie Unterdrücker und Unterdrückter, Ausbeuter und Ausgebeuteter, Täter und Opfer sind keine adäquaten Konstrukte. Zwei weitere Kategorien müssen hinzugefügt werden: Die erste ist die der Nutznießer: Konsumenten und Investoren, die nicht direkt beteiligt sind am Leiden der Anderen, das durch die Produktion ihrer Konsumgüter entsteht, durch das Verhalten der transnationalen Gesellschaften, in die sie unwissentlich investiert haben, oder durch die Strategien ihrer Investmentmanager. Dennoch profitieren sie durch die Ausbeutung und Marginalisierung der Anderen. Die zweite ist die der Aufgegebenen: Die Menschen in Gebieten, die nicht für Wert erachtet werden, dort zu investieren. In solchen Gebieten rauben die transnationalen Gesellschaften mit der Unterstützung lokaler Bandenchefs oder Rebellen oder einer kleinen Gruppe nicht-einheimischer Arbeiter die Ressourcen aus, aber sie haben kein Interesse an der lokalen Wirtschaft. Diese Kategorie schließt auch jene ein, die keine Arbeit haben, keine Ausbildung, keine medizinische Versorgung und keine Sozialleistungen als Folge der Handelsfreiheit und des von der Weltbank gesponserten Strukturanpassungsprogramms. In einer Welt, in der die Beziehungen ständig wechseln, leben die Menschen in verschiedenen und komplexen Beziehungen von Ausbeutung, Unterdrückung, Nutznießung und Aufgabe, wobei ein und dieselbe Person oft auf mehr als eine Art mit den Anderen in Beziehung steht. Die Umwälzungen in den globalen Wirtschaftssystemen, die, wie bereits einleitend bemerkt, die Postmodernität in den Gesellschaften, die von ihnen profitieren, zur Folge hatten, haben zur wachsenden Ausbeutung, zum Leiden und zur Marginalisierung anderer Menschen geführt, besonders in Afrika. In vielen Fällen werden die Massen direkt oder indirekt von der lokalen Bourgeoisie unterdrückt und ausgebeutet, ebenso wie von der Dynamik des globalisierten Kapitals. Marginalisiert und ausgebeutet von der Modernität, werden die Afrikaner nun von der Postmodernität ausgebeutet, marginalisiert und aufgegeben, trotz ihrer proklamierten Absicht, Raum für den Anderen zu schaffen. Diese steigende Marginalisierung Afrikas und das Leid des afrikanischen Volkes im Kontext des globalen Kapitalismus stellt große Heraus-
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forderungen sowohl für unser Verständnis der Postmodernität als auch der bevorzugten Option für die Armen dar. Diese Herausforderungen sind multidimensional und kontextspezifisch. Die Herausforderungen, die der arme und marginalisierte Afrikaner erlebt, sind ganz anders als jene, die sich den Mitgliedern der afrikanischen Elite oder Bewohnern der nordatlantischen Randzone stellen. Folglich macht sich dieser Aufsatz eine spezifische Haltung zu eigen und nimmt sich einer bestimmten Zielgruppe an. Die soziokulturelle Haltung, von der aus der Blick auf dieses Thema erfolgt, ist die eines Euro-Afrikaners, wie ich ihn nenne, also von jemandem, der durch die Hybridität charakterisiert wird, da er einerseits ein Nachkomme der KolonisiererInnen Südafrikas ist, dessen kulturelles Erbe maßgeblich durch Europa beeinflusst ist, der aber andererseits tiefe Wurzeln in Afrika hat, seine Schmerzen teilt und sich seiner Wiedergeburt verschrieben hat.14 So eine Haltung beinhaltet Widerstand der Kolonialisierung und dem Erbe der Apartheid gegenüber, kombiniert mit der Anerkennung der eigenen Komplizenschaft mit ihnen und der Position innerhalb der Elite Afrikas als Folge dieser Komplizenschaft. Sie ist postkolonial und postapartheid in ihrer Verpflichtung gegenüber der Handlungsfähigkeit der Unterjochten und Marginalisierten, ihrem Widerstand gegen die Herrschaft der Mächtigen, ihrer Ablehnung der hegemonialen nordatlantischen Darstellung der Menschen des Südens. Und sie erkennt, dass der Konflikt zwischen dem Kolonialisten und dem Kolonisierten, dem Norden und dem Süden in einem selbst verinnerlicht ist.15 Es ist meine Überzeugung, dass die Besonderheit dieser Haltung mit ihrem Riss zwischen dem Kolonialisten und dem Kolonisierten und ihrem Gespür dafür, die Verwerfungslinie zwischen Europa und Afrika zu überbrücken, einen bedeutenden Raum für eine Kritik an den dominanten Theologien bietet.16 So liegt für die Theologie der Bourgeoisie der Dritten Welt und der nordatlantischen Randzone im postmodernen und postkolonialen Kontext der Fokus dieser Betrachtung auf der Bedeutung der Option für die Armen.
14
15 16
Ich habe die Bedeutung des Ausdrucks Euro-Afrikaner untersucht in: On Being a Euro-African Theologian. Identity and Vocation in Post Apartheid South Africa, in: Journal of Theology of South Africa 201 (1998), 45-59. Siehe auch meinen Aufsatz: Participating in the Kenosis of God. Christiology and Discipleship in Euro-African Perspective, in: Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums, hg. v. Christian Gremmels / Wolfgang Huber, Gütersloh 2002). Der Ausdruck ist nicht unproblematisch und in einigen Teilen Afrikas werden Menschen gemischten rassischen Ursprungs so bezeichnet. Siehe die Diskussion in Stephen Slemon, Unsettling the Empire. Resistance Theory for the Second World, in: World Literature Written in English 30.2 (1990), 30-41. Siehe meine Aufsätze: On being a Euro-African Theologian und Participating in the Kenosis of God. Dieser hat auch eine persönliche Dimension, da ich diesen Aufsatz geschrieben habe, als ich in Vorbereitungen dazu war, Afrika vorübergehend zu verlassen.
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Postmoderne, Gott und die Ränder [D]arum steht Gott innerhalb der Verhältnisse und des Geschehens in seinem Volk jederzeit unbedingt und leidenschaftlich auf dieser und nur auf dieser Seite: immer gegen die Hohen, immer für die Niedrigen, immer gegen die, die ihr Recht schon haben, immer für die, denen es geraubt und entzogen ist.17
In den 1970ern hat die Befreiungstheologie die gelassene Normalität der nordatlantischen bürgerlichen Theologie unterbrochen. Radikale Theologien der nordatlantischen Randzone waren schon bald der Widerhall der Befreiungsthemen. Doch ist ihre Popularität verblasst, seit die Konsumenten der radikalen Theologie zu den neuesten Marken postmoderner Theologie übergewechselt sind. Die bevorzugte Option für die Armen wurde durch den Ruf nach einer Ablehnung aller Meta-Erzählungen ersetzt. Es wird behauptet, dass diese Bewegung zu einer Dezentralisierung weg vom westlichen, bürgerlichen Staatsangehörigen führt und hin zu einer radikalen Offenheit dem Anderen gegenüber. Wie wir erörtert haben, sind Postmodernitäten jedoch Äußerungen des globalisierten Kapitalismus und so ein Ausdruck der kulturellen Veränderung, die in der nordatlantischen Randzone und in anderen Zentren des transnationalen Kapitalismus stattfinden. So reflektiert die Wende hin zur Postmoderne weiterhin die Interessen und den Kontext der nordatlantischen Mittelklasse. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt nicht in einem Kontext, in dem irgendeine Art von Postmoderne die grundlegenden Rahmenbedingungen bietet. Die Offenheit dem Anderen gegenüber, auf die die Postmoderne Anspruch erhebt, entspringt aus einem ökonomischen System, das weiterhin die Armen und die Verletzlichen ausbeutet, marginalisiert und aufgibt. Weit davon entfernt, die Bedeutung der Option für die Armen abzuschwächen, verlangen die ausbeuterischen Dimensionen der Postmoderne ihre erneute Geltendmachung. Die bevorzugte Option für die Armen bedeutet vielerlei, sie beinhaltet eine Agenda für die Kirche, die Hinwendung zu einem alternativen Lebensstil, eine hermeneutische Strategie, eine politische Haltung und ein Verstehen der Botschaft des Evangeliums.18 Aber grundsätzlich ist sie eine Aussage über die Identität und die Absicht Gottes. Der Gott, der im Exodus und in Jesus Christus offenbart wird, ist „auf besondere Art ein Gott der Notleidenden, der Armen und derer, denen Unrecht getan wird“19. Dieser Gott ist emp17
18
19
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2: Die Lehre von Gott, Teil 1, Zürich 21946, 434. Diese Konzeptualisierung ist keine für sich stehende Theorie, sondern wurzelt in der Christologie von Barth. Siehe Takatso A. Mofokeng, The Crucified among the Crossbearers. Towards a Black Christology, Kampen 1983, 112-5; und Dirkie Smit, Paradigms of radical Grace, in: On reading Karl Barth in South Africa, hg. v. Charles Villa-Vicencio, Grand Rapids 1988, 17-43. Siehe z.B. Albert Nolan, The Option for the Poor in South Africa, in: Resistance and Hope. South African Essays in Honour of Beyers Naude, hg. v. Charles Villa-Vicencio / John de Gruchy, Cape Town / Grand Rapids 1985, 189-98. Belhar Confession, Artikel 4. Den ganzen Text findet man in G. D. Cloete / D. J. Smith (Hg.), A Moment of Truth. The Confession of the Dutch Reformed Mission Church, 1982, Grand Rapids 1984), 1-6.
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fänglich für die Schreie der Unterdrückten und Marginalisierten und antwortet darauf. Da dieses Verständnis eine bedeutende Komponente in der traditionellen christlichen Interpretation von Gottes Gerechtigkeit ist, hat die Befreiungstheologie dies ins Zentrum theologischer Reflektionen gerückt. Das hat zur Erkenntnis geführt, dass das, was authentische Göttlichkeit ausmacht, nicht das Innehaben bestimmter, nicht auszudrückender Attribute ausmacht, sondern die Hingabe an die Gerechtigkeit den Armen und Marginalisierten gegenüber. Dieses Verständnis wird kraftvoll ausgedrückt im Psalm 82, in der dramatischen Szene des Zurechtstutzens des göttlichen Konzils, das zu einem Hinauswurf der Götter, die es unterlassen hatten, sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten zu stellen, geführt hat. Daher „handelt (die bevorzugte Option für die Armen) von nichts weniger als dem Herzen des christlichen Glaubens an Gott und dem Bekenntnis zu ihm“20. Die Bestätigung von Gottes bevorzugter Option für die Armen bedingt nicht nur, dass Gottes Gerechtigkeit durch ein Parteiergreifen für die Marginalisierten charakterisiert wird, sondern auch, dass Gott von den Rändern der soziokulturellen Matrix aus arbeitet, um von dort aus die Unterjochten und Ausgeschlossenen als Helfer bei der Erlösung auszuerwählen. Die biblischen Erzählungen sind übervoll mit Beispielen davon, dass Gott die Ausgeschlossenen, die Opfer, die Untergeordneten, die Armen, die Unbedeutenden, die Unterdrückten auserwählt.21 In den Erzelternerzählungen bietet Gott den sozialen Konventionen regelmäßig die Stirn, indem er einen jüngeren Bruder auserwählt. Im Exodus wählt Jahwe „ein Sklavengesindel“22 als das Instrument aus, das Segen über die Welt bringen soll. Seine ganze Geschichte hindurch bleibt Israel eine kleine und relativ unbedeutende Nation. Dennoch haben die Propheten selbst nach Niederlage und Exil den Mut, zu verkünden, 20
21
22
D. J. Smit, In a Special Way the God of the Destitute, the Poor, and the Wronged, in: A Moment of Truth. The Confession of the Dutch Reformed Mission Church, 1982, Hg. v. G. D. Cloete / D. J. Smit, Grand Rapids 1984, 59. Die Infragestellung von Intumeleng J. Mosala in Biblical Hermeneutics and Black Theology in South, Grand Rapids 1989 von allzu vereinfachenden Behauptungen, dass die biblischen Schriften eindeutig Partei für die Armen und die Ausgeschlossenen ergreifen, muss anerkannt werden. Die Verfasser der Bibel waren in besondere soziohistorische Kontexte eingebunden, sodass ihre Schriften das Verständnis von Gott als parteiergreifend für die Armen und Unterdrückten sowohl verschleiern als auch offenbaren. Ich würde sogar noch behaupten, dass ein solches Verständnis von Gott ausschlaggebend ist für die zentralen Erzählungen der biblischen Tradition. Siehe meinen Aufsatz On Being a Euro-African Theologian. Siehe auch die Erörterung von Bibeltexten in Jean-Marc Éla, My Faith as an African, Maryknoll 1988, 102-12 (übersetzt als: Mein Glaube als Afrikaner. Das Evangelium in schwarzafrikanischer Lebenswirklichkeit, Freiburg u.a. 1987); Gustavo Gutiérrez, The God of Life, Maryknoll 1991; Jorge Pixely / Clodovis Boff, The Bible, the Church and the Poor. Biblical, Theological, and Pastoral Aspects of the Option for the Poor, übers. v. Paul Burns, Turnbridge Wells / Maryknoll 1989, 17-122; Sider, Rich Christians in an Age of Hunger (deutsch: Der Weg durchs Nadelöhr), 41-121; und Smit, In a Special Way the God of the Destitute, the Poor, and the Wronged (besonders das Nachwort zu diesem Aufsatz auf S. 127-140). Desmond Mpilo Tutu, Hope and Suffering. Sermons and Speeches, Johannesburg 1983, 60. Übersetzt als: Gott segne Afrika. Texte und Predigten des Friedensnobelpreisträgers, Reinbek bei Hamburg 1985.
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dass Jahwe die Geschichte anderer Nationen abstimmt auf den Bund, den er mit Israel geschlossen hat, und darüber hinaus, dass Israel eine zentrale Rolle spielt in Gottes Vorhaben, alle Nationen zu erlösen. Dies wäre lediglich ein Fall von nationalem Chauvinismus, gäbe es nicht die vernichtende Kritik der Propheten an der eigenen Nation, ihre Sensibilität für das Leiden und ihre Leidenschaft für Gerechtigkeit über die Grenzen Israels hinaus. Das neue Testament setzt diese Betonung mit seiner Kritik an Wohlstand und Macht fort, seiner Versicherung, dass das Evangelium die gute Nachricht für die Armen ist, und seiner Überzeugung, dass die Kirche, die sich hauptsächlich aus Menschen der unteren Klasse zusammensetzt, der erste Ort dieser erlösenden Handlung ist. Die Zentralität dieser Dynamik vom Auserwählen der Ränder durch Gott wird durch das Anerkennen dessen bestätigt, dass Gott im Hinterhof des Römischen Imperiums, in einem „Hereinbrechen, das nach dem Etablierten riecht“23, Mensch wird. Dieser arme Zimmermann war nicht nur Mitglied einer besiegten und kolonisierten Nation, sondern er kam auch aus Galiläa, einem von seinen Mitjuden verachteten Gebiet. Zu Beginn seines Auftrags gab Jesus die relative Sicherheit seines Handwerks auf und schloss sich den heimatlosen Armen an; dadurch wurde er zu „einem freiwilligen Ausgestoßenen“24. Er tadelte die religiöse Elite wegen ihrer Exklusivität und ihrer unterdrückenden Ideologien und Praxis. Er forderte die Wohlhabenden auf, ihren Reichtum zugunsten der Armen aufzugeben und verkündete: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt“ (Mk 10, 25). Er verurteilte das Streben nach Macht und behauptete: „Wenn jemand der Erste sein will, soll er der Letzte von allen und aller Diener sein“ (Mk 9, 35). Die Identifizierung von Jesus mit den Marginalisierten und Unterdrückten gipfelte in seiner ungerechten Gerichtsverhandlung und Kreuzigung als Verräter und Krimineller außerhalb der Tore von Jerusalem, verlassen von Gott und den Menschen. Mit Jesus ist Gott in die Welt der Armen, Verlassenen und Kolonisierten eingetreten und identifizierte sich mit ihrer Machtlosigkeit, ihrer Schikane und ihrem Leiden. Indem Gott dies tut, „transformierte er ihre Situation in den privilegierten Ort für die Transformation der Welt“25. Die Inkarnation muss unser Verständnis von der ökonomischen, politischen und sozialen Dynamik der globalen Gesellschaft radikal ändern. Dies geht über die postmoderne Bejahung der Andersartigkeit hinaus und sogar über die postkoloniale Bestätigung der Handlungsfähigkeit der leidenden, unterjochten Untertanen. Sie bestätigt, dass die theologische Signifikanz beider aus der vorrangigen erlösenden Gnade Gottes entsteht, die unsere Konzeptualisierung von Zentren und Rändern und die Beziehung zwischen ihnen rekonfiguriert. In den Worten von Frank Chikane: „Wir müssen verste23 24 25
Gutiérrez, God of Life, 84. Albert Nolan, Jesus before Christianity, Cape Town 1986, 27. Übersetzt als: Jesus vor dem Christentum. Das Evangelium der Befreiung, Luzern 1993. Mofokeng, Crucified among the Crossbearers, 167 (Kommentar Mofokengs zu Barths Christologie). Vgl. Frank Chikane, The Incarnation in the Life of the People in Southern Africa, in: Journal of Theology for Southern Africa 51 (1985), 37-50.
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hen, dass für Gott unten oben ist und oben unten. Wir müssen lernen, von unten aus zu beginnen.“26 So kann, aus einer theologischen Perspektive, das Zentrum jeglicher soziokultureller Matrix nicht in den Zitadellen politischer und ökonomischer Macht gefunden werden, sondern in den Gemeinschaften jener, die durch diese ausgebeutet, unterjocht, aufgegeben und schikaniert werden. Diese Gemeinschaften sind der Fokus von Gottes Interesse und die Zentren von Gottes erlösendem Handeln. So ist das Zentrum des postmodernen globalen Dorfes weder innerhalb der Ausschweifungen der nördlichen Konsumentengesellschaften noch innerhalb des Überflusses der Bourgeoisie der Dritten Welt zu finden, sondern vielmehr – unter jenen, deren Ersparnisse durch die Spekulationen der Fondsmanager mit ihrer Währung zerstört worden sind; – unter jenen, die sich lebenserhaltende und lebensrettende Medikamente aufgrund der übertriebenen Preise und des Strebens der pharmazeutischen Unternehmen nach einem maximalen Gewinn nicht leisten können; – in den Ländern, die durch Kriege verwüstet werden, die durch die Nachfrage nach Öl, Diamanten und anderen Mineralien geschürt werden; – unter jenen, die unter der Herrschaft repressiver und korrupter Regierungen leiden; – unter jenen, die entlassen wurden, wenn Firmen aufgrund von HandelsLiberalisierung abgebaut oder zugemacht haben; – unter jenen, die von der Hand in den Mund leben, um Konsumgüter für die nördlichen Märkte zu produzieren; – unter jenen, deren Schulen und Krankenhäuser geschlossen wurden in Folge eines von der Weltbank auferlegten Strukturanpassungsprogramms. Demzufolge müssen die ersten und wichtigsten theologischen Überlegungen dahin gehen, die soziale, politische und ökonomische Macht zu dezentralisieren und die Ränder neu auszurichten. Eine Orientierung hin zum Anderen reicht nicht aus; es muss eine Orientierung hin zum ausgebeuteten, leidenden und unterdrückten oder aufgegebenen Anderen sein. Theologien, die die Option für die Armen zugunsten einer allgemeineren Orientierung hin zur Andersartigkeit ignorieren, oder die auf eine andere Art bedingungslos die ausbeuterischen Interessen der postmodernen Mittelklasse unterstützen, müssen als das verstanden werden, was sie sind – Theologien mit besonderen Interessen. Solche Theologien sind nicht relevant für das Leben der überwiegenden Mehrheit der Christen. Noch tiefschürfender fragt Jean-Marc Èla: „Verfehlt die ‚Theo-ologie‘ in ihrem Reden vom ‚Gott der Armen‘ nicht ihr Ziel, wenn sie sich einschließt in die Kulturwelt der Reichen und Mächtigen?“27
26 27
Chikane, Incarnation in the Life of the People in Southern Africa, 49. Èla, Mein Glaube als Afrikaner, 127.
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Die Armen, die Ausgeschlossenen und die Anderen Niemand darf ungerechtfertigterweise einen Anderen aus einem oder mehreren Gründen […] einschließlich Rasse, Gender, Geschlecht, Schwangerschaft, Familienstand, ethnische oder soziale Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Alter, Behinderung, Religion, Gewissensüberzeugung, Glaube, Kultur, Sprache und Geburt […] diskriminieren.28
Die Debatten zwischen den lateinamerikanischen, schwarzen und feministischen Theologien in den 1970er und 1980er Jahren haben gezeigt, dass es keine Kategorisierung der Ausgeschlossenen, Unterdrückten und Schikanierten gibt. Doch in all diesen Debatten hat die Option für die Armen die marginalisierten Gruppen in Beziehung zu einer „ethisch-politischen Norm“29 definiert und beschrieben, mit dem Fokus auf Fragen von Klasse, Rasse und Gender. Der Prozess der Globalisierung, die Auswirkungen des Kalten Krieges und das wachsende Bewusstsein für kulturellen Pluralismus haben eine größere Erkenntnis der komplexen, konfliktgeladenen Dynamik innerhalb menschlicher Gesellschaften gebracht. Postkoloniale afrikanische Gesellschaften sind gezwungen worden, sich mit Spannungen und Konflikten auseinanderzusetzen, die durch verschiedene Faktoren wie Ethnizität, Religion, Rasse, Modernisierung, Gender und die Kluft zwischen Stadt und Land entstehen. Die meisten dieser Spaltungen wurden durch den Kolonialismus verstärkt oder sogar geschaffen,30 doch können sie nicht auf den bloßen Gegensatz zwischen Unterdrückern und Unterdrückten reduziert werden. Also sind wir gezwungen, uns die Frage zu stellen, ob der postmoderne Diskurs über Andersartigkeit und Differenz uns adäquatere Werkzeuge zur Verfügung stellt, um sie zu analysieren. Jedoch haben Afrikaner guten Grund, bei einem Diskurs über Andersartigkeit auf der Hut zu sein. Die westliche Geschichtsschreibung ist voll mit Beispielen, bei denen Afrika und seine Bewohner als archetypische Andere herhalten mussten, in Abgrenzung zu denen sich die Europäer definiert haben. Afrika war unzivilisiert, Europa war zivilisiert; Afrika war heidnisch, Europa war christlich; Afrika war schwarz, Europa war weiß; und so weiter. Diese archetypische Andersartigkeit hat die Identität Afrikas zunichte gemacht und war eine wesentliche Komponente der kolonialen Unterjochung des afrikanischen Volkes durch eine Politik der Versklavung, Assimilation, diskriminierender Vergegenständlichung, Genozid, oder irgendwelcher
28 29 30
Verfassung der Südafrikanischen Republik, 1996, Paragraph 9.4 und 9.3. Robin Petersen, Liberation Theology beyond Modernity, in: Journal of African Christian Thought 2.1 (1999), 31. Der Konflikt zwischen Hutus und Tutsis in Ruanda wird oft als der Inbegriff afrikanischer ethischer Konflikte dargestellt; doch war die Erschaffung von eindeutigen, ethnischen Hutu- und Tutsi-Identitäten ein Produkt der Anthropologen und Missionare. Siehe Laurent Mbanda, Committed to Conflict. The Destruction of the Church in Rwanda, London 1997.
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Kombinationen davon.31 Der Archetypus lebt weiter in der „afrikanischen Kultur“ und im Wildlife für die ausländischen Touristen32 und in der Objektivierung Afrikas als „barbarisch“, ausgedrückt durch hyperreale Bilder von Gewalt und Chaos, übertragen durch die transnationalen Medien. Die verzerrte Dimension von letzterem funktioniert auf dreierlei Arten. Zuerst verschleiert sie die Mitschuld der nordatlantischen Länder am Leiden Afrikas.33 Zweitens negiert sie die Errungenschaften vieler Afrikaner angesichts unglaublicher Not. Drittens gewinnen afrikanische Konflikte die Hauptaufmerksamkeit der internationalen Medien nur, wenn sie eine Auswirkung auf die Nachkommen afrikanischer Kolonisten oder die Interessen der nordatlantischen Länder haben.34 Diese archetypische Andersartigkeit wurde extrem deutlich ausgedrückt in den südafrikanischen Apartheid-Gesetzen, die nicht nur danach trachteten, weiße Hegemonie durch die Rassentrennung aufrecht zu erhalten, sondern noch darüber hinaus gingen und Schwarze in verschiedene ethnische Identitäten aufspalteten. Die ideologische und theologische Rechtfertigung der Apartheid in Südafrika beruhte auf einer festen Vorstellung von Andersartigkeit. Die Theologen der Apartheid versicherten, dass Gottes normativer Auftrag für die Schöpfung die Differenzierung war und argumentierten, dass rassische Integration zur Assimilation führen würde, was folglich antinormativ wäre. Demzufolge wurde argumentiert, dass die Notwendigkeit bestünde, derartige soziale Strukturen zu schaffen, dass die Besonderheiten jeder ethnischen Gruppe berücksichtigt würden, um ihre eigene Identität zu wahren.35 Die Realität der Apartheid jedoch war nicht Respekt für den Anderen, sondern massives social engineering, Beraubung und Tod.36 Der Diskurs über 31
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Vgl. Miroslav Volfs Kategorien der Ausgrenzung als Elimination, Assimilation, Dominanz und als Verlassen in: Exclusion and Embrace. A Theological Exploration of Identity, Otherness and Reconciliation, 1996, 75. Siehe meinen Aufsatz: Snakes in an African Eden. Towards a Theological Ethic for Ecotourism and Conservation, Scriptura 69 (1999), 165-80. Zum Beispiel kann der gegenwärtige Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo nur in Beziehung zu der Rolle, die die Vereinigten Staaten durch die Unterstützung des kleptokratischen und gewaltsamen Regimes von Mobutu Sese Seko gespielt haben, verstanden werden. Nordatlantische Banken und ihre Aktionäre sind bedeutende Nutznießer von korrupten afrikanischen Regierungschefs wie Mobutu. Sie verleihen Geld zu hohen Zinsen und bekommen weit mehr zurück als das ursprüngliche Darlehen. Und gleichzeitig werden große Anteile, die von diesen Darlehen von den korrupten Regierungschefs gestohlen wurden, bei Gelegenheit bei denselben Banken, von denen sie geliehen wurden, wieder angelegt. In den meisten Berichten der internationalen Medien über die gegenwärtige politische Krise in Simbabwe ist normalerweise bei Meldungen über den Tod von Regierungsoppositionellen eine beiläufige Bemerkung wie „einschließlich acht weißer Farmer“ eingeschoben, so als ob deren Tod bedeutender wäre als der von den ungefähr hundert anderen. Siehe John de Gruchy / Charles Villa Vicencio (Hg.), Apartheid is a Heresy, Cape Town / Guildford 1983; J. A. Loabser, The Apartheid Bible. A Critical Review of Racial Theology in South Africa, Cape Town 1987; und A. J. Botha, Die Evolusie van ‘n Volks Teologie, Teks en Konteks 4, Belville 1994. Siehe The Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report , vols. 1-5, Cape Town 1998. Zusammenfassende Darstellungen in: Desmond Mpilo Tutu, Keine
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Andersartigkeit und Unterschied ist nicht zwangsläufig befreiend; er kann unterdrückend sein und sogar zum Völkermord führen. Jedoch darf es dem destruktiven und repressiven Potenzial des Diskurses über Andersartigkeit nicht erlaubt werden, sein Potenzial für eine Vertiefung und Verbreiterung der Konzeptualisierung der Option für die Ränder zu verdunkeln. Die Kopplung der postmodernen Betonung von Differenz und Andersartigkeit mit der Betonung der Option für die Unterdrückten durch die verschiedenen Befreiungstheologien schafft die Möglichkeit einer inklusiveren und komplexeren Interpretation der Ränder. Solch eine Interpretation wird die Befreiungstheologie befähigen, ihre ethisch-politische Konzentration auf den bloßen Gegensatz zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem zu transzendieren, und so Raum zu schaffen für eine theologische Reflektion über Ausgrenzung und Andersartigkeit. Das führt zu einem neuen Bewusstsein dafür, dass die Bibel ein mannigfaltiges und komplexes Bild der Dynamik von Gottes Option für die Ausgegrenzten bereitstellt, das innerhalb einer sozialpolitischen Kategorisierung der Option für die Armen nicht nachvollzogen werden kann. In der ExodusGeschichte wird das frühe Israel als „ein bunt gemischtes Volk“ bezeichnet (Ex 12, 38), dessen Mitgliedschaft für jene offen war, die keine Nachkommen der Patriarchen und Matriarchinnen waren unter der Voraussetzung, dass sie beschnitten waren (Ex 12, 43-49; vgl. Dtn 29, 10-15). Jahwe reagiert scharf auf die Infragestellung von Moses’ Führerschaft wegen seiner Heirat mit einer Kuschiterin (Num 12). Dennoch wird diese Gastfreundschaft den Anderen gegenüber in Frage gestellt, als Israel sich bemüht, herauszuarbeiten, was es heißt, das Volk des Gottes des Exodus zu sein. Während das Deuteronomium eine starke Betonung auf die Armen legt, werden dort zugleich Restriktionen hinsichtlich der physischen Verstümmelung, Herkunft aus einer illegalen Verbindung (wahrscheinlich Inzest) und Ethnizität (Dtn 23,1-8) aufgestellt, wenn es um die Mitgliedschaft in der Versammlung Jahwes geht. In ihrem Versuch, die Identität Israels als das Volk, mit dem Gott einen Vertrag geschlossen hat, aufrechtzuerhalten, greifen Esra und Nehemia energisch ein, um die Ausbeutung der Armen auszurotten. Dennoch sind sie genauso energisch, wenn es darum geht, den Ausschluss von NichtIsraeliten aus der Gemeinschaft voranzutreiben (Esr 9-10; Neh 5; 13). Im Kontrast dazu steht eine Dynamik des Willkommenheißens der Anderen. Amos beschreibt Jahwes Wirken in der Geschichte nicht-israelitischer Nationen als parallel zu Jahwes Handeln in der Geschichte Israels (Am 9, 7). Das Buch Ruth beschreibt, wie eine Moabiterin, die eine Vorfahrin Davids wurde, willkommen geheißen wurde. Das Buch Jona engagiert sich in einer Polemik gegen Exklusivismus, die nicht nur darauf verweist, dass Jahwe die Reue der unterdrückenden Bewohner Ninives akzeptiert, sondern die auch behauptet, dass dies charakteristisch für Jahwe ist (Jona 4, 2). Interessanterweise benützen die Bewohner Ninives bei ihrer Buße den allgemeinen Begriff Gott Zukunft ohne Versöhnung, Düsseldorf 2001; und Antjie Krog, Country of my Skull, Johannesburg 1998. Siehe auch Kader Asmal / Louise Asmal / Ronald Suresh Roberts, Reconciliation through Truth, Reckoning with Apartheid’s Criminal Governance, Cape Town 1996.
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(Elohim) eher als Jahwe. Einige der Propheten sehen eine zukünftige Einladung der Nichtjuden/Heiden voraus. Jes 19 hofft auf einen Tag, an dem Assyrien und Ägypten zusammen mit Israel das Volk Gottes sein werden, durch das die Erde gesegnet sein wird. Aber es wird nicht so dargestellt, dass sie von Israel absorbiert werden. Im direkten Gegensatz zu Deuteronomium, Esra und Nehemia sieht Jes 56, 1-8 die Anwesenheit von Eunuchen und Fremden in einer religiösen Gemeinschaft, die den Sabbat und den Vertrag mit Gott einhält, voraus.37 Diese ungelöste Spannung zwischen der Aufnahmebereitschaft und der Ausgrenzung seitens des Volkes Gottes schafft den Kontext für das geistliche Amt von Jesus. Indem er die Wichtigkeit der Gastfreundschaft anderen gegenüber drastisch interpretierte, identifizierte sich Jesus nicht nur mit den Armen, sondern hieß alle, die umkehrten und die gute Nachricht von Gottes Herrschaft annahmen, willkommen, einschließlich der Armen, der Frauen, der Sünder, der Prostituierten, der Nichtjuden/Heiden, der Samaritaner und der Steuereintreiber. Das ethisch-politische Paradigma der Option für die Ränder kann eine solche Praxis, besonders im Hinblick auf die Einbeziehung der Steuereintreiber und römischen Soldaten, nicht verstehen. Eben jene (Selbst-)Verpflichtung, fest an einer Bevorzugung der Opfer des politischen und ökonomischen Systems festzuhalten, ermöglichte es Jesus, jene in die Gemeinschaft Gottes einzuschließen, die vom Volk Gottes aus anderen Gründen daraus ausgeschlossen worden waren. Die frühe Kirche, wie auch das postexilische Israel, fuhr fort, weiter mit der Dynamik von Ausgrenzung und Aufnahme zu kämpfen. Die Apostelgeschichte beschreibt die vom Geist gelenkte Aufnahme der Samaritaner, eines afrikanischen Eunuchen und der Nichtjuden/Heiden. Diese Aufnahme weist die Aufteilung in reine und unreine Kategorien zurück sowie die Annahme, dass die Nichtjuden die jüdisch-kulturelle Identität annehmen müssten, um von Gott akzeptiert zu werden. Paulus bestätigt die Verpflichtung Gottes gegenüber den Armen, jedoch liegt die Betonung seiner Botschaft und Theologie auf dem Willkommenheißen der Nichtjuden in dem Volk, das mit Gott einen neuen Vertrag geschlossen hat.38 Er legt den Schwerpunkt bei der Aufnahme darauf, Andersartigkeit zu respektieren, und lehnt es ab, den Nichtjuden jüdische Rituale aufzuzwingen und sie zu nötigen, für die Juden ein Jude und für die Griechen ein Grieche zu werden. Doch seine Schriften bezeugen seinen Kampf, herauszuarbeiten, was diese Inklusivität in Bezug auf den Status von Frauen und Sklaven bedeutet. Diese Dynamik des Willkommenheißens Anderer darf jedoch nicht nur als Offenheit in Bezug auf Unterschiede verstanden werden. In der Wirkungszeit von Jesus nimmt die Aufnahme verschiedene Formen an. Sie schließt die Zurückweisung aller illegitimen Aufteilungen, die auf ritueller Reinheit basieren, zurück; die Heilung und Wiederherstellung jener, deren Leben durch die Macht des Bösen, durch Krankheit und durch Sünde zerstört 37 38
Siehe die Diskussion in Paul D. Henson, The People Called. The Growth of Community in the Bible, SanFrancisco 1986, 253-324. Man bemerke wie in Gal 2,7-10 die Akzeptanz von Paulus´ Dienst an den Nichtjuden von seiner Verpflichtung, die Armen zu bedenken, abhängt.
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wurde; die Bekehrung jener, die an der Ausbeutung und Unterdrückung anderer beteiligt waren; und die Reue und den Wandel aller (einschließlich der Opfer), wenn sie Jesus folgen würden.39 Paulus’ Theologie der Einbeziehung weist die Forderung, dass die Nichtjuden ihr ethnisches Erbe verleugnen und vom Judentum assimiliert werden sollten, zurück; jedoch wird aufgrund des Bundes mit Christus das ethische Verhalten der nichtjüdischen Konvertiten transformiert. Da die Ausgeschlossenen nicht über eine ethisch-politische Norm definiert werden und eine kulturelle Assimilation abgelehnt wird, ist die Aufnahmedynamik nicht amoralisch. Sie verlangt eine ethisch-moralische Transformation, die mit dem Eindringen der Herrschaft Gottes in Jesus unter den Ausgeschlossenen übereinstimmt.40 Die Kopplung der Aufnahmedynamik innerhalb der biblischen Bezeugung eines Gottes, der „auf Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit für alle, die unterdrückt sind, hinarbeitet“ (Ps 103, 6), mit der multidimensionalen, auf vielen Ebenen stattfindenden Ausschlussdynamik der zeitgenössischen Gesellschaft bringt eine übergeordnete Nuance und Komplexität in die theologische Rekonfiguration des Zentrums und der Ränder. Gottes Option für die Ränder umfasst eine große Vielfalt von Menschen, die von den hegemonialen Mächten, die in der Gesellschaft - einschließlich der religiösen - am Werk sind, ausgeschlossen werden. Die Umarmung der Ausgeschlossenen wird nicht durch die Ausdehnung der Grenzen und somit durch die kulturelle Assimilation erreicht, sondern eher durch die Entstehung eines neuen Zentrums, Jesus Christus, das innerhalb der verschiedenen Gruppen der Ausgeschlossenen gefunden werden kann. Theologie findet statt, wenn ChristInnen Christus „außerhalb des Lagers“ treffen und sein Ausgeschlossensein teilen. Desmond Tutus Theologie, die ihre Wurzeln im afrikanischen Verständnis von Humanität und anglo-katholischer Spiritualität hat, stellt ein suggestives aber nicht unproblematisches Beispiel einer starken Emphase Gottes auf beide Optionen, nämlich der für die Unterdrückten und der der Aufnahme der Ausgeschlossenen, zur Verfügung.41 Das Hauptanliegen von Tutus Theologie war die Bestätigung von Gottes bevorzugter Option für die Armen und die Unterdrückten. Schon auf dem Höhepunkt der Unterdrückung durch die Apartheid schrieb er dem damaligen Premierminister von Südafrika, B. J. Forster, „als ein menschliches Wesen einem anderen menschlichen Wesen“ und „als ein Christ einem anderen Christen“.42 Er argumentierte, dass sie vereint wären durch ihre gemeinsame Erschaffung als Abbild Gottes, ihre gemeinsame Erlösung durch Christus, ihre gemeinsame Weihung durch den Heiligen Geist und durch ihre gemeinsame Taufe und die Aufnahme in den 39 40
41 42
Siehe Volf, Exclusion and Embrance, 72, 74, 111-19. Das Neue Testament beschreibt den disziplinären Ausschluss, wenn Jünger von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, um ihr Verhalten mit dem Ethos von Gottes Herrschaft in Übereinstimmung zu bringen. Dieser ist nicht als permanenter Ausschluss gedacht, sondern daraufhin ausgerichtet, den bereuenden Jünger wieder aufzunehmen. Die Bedingungen sind ethischer Natur und, nach den Autoren des Neuen Testaments, nicht durch Faktoren begründet, die jenseits der Kontrolle der betreffenden Menschen liegen. Siehe sein: Gott segne Afrika und The Rainbow People of God, London 1994. Tutu, Rainbow People of God, 8.
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Leib Christi. Tutu sprach sich nicht nur gegen das Töten von Menschen aus, die angeklagt waren, Informanten der Polizei zu sein, sondern er intervenierte, um solchen Menschen ihr Leben zu retten und riskierte dabei sein eigenes Leben. In den späten 1980ern und 1990ern berief er sich auf das Bild der „Rainbow People“ („Regenbogen-Leute“), um eine Inklusivität darzustellen, die Unterschiede respektierte. Später demonstrierte er diese Inklusivität, indem er manchmal kontrovers den Vorsitz in der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission führte.43 Es war eben diese Aufnahmedynamik, die ihn dazu führte, gegen dominante Strömungen in vielen afrikanischen Kulturen Fürsprecher für die Ordination von Frauen zu werden und, noch kontroverser, für die volle Einbeziehung homosexueller und lesbischer Menschen in das kirchliche Leben Stellung zu beziehen und so homosexuelle und lesbische Partnerschaften als legitime Formen christlichen Sexualverhaltens zu bestätigen.44
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Siehe Tutus Keine Zukunft ohne Versöhnung als eine theologische Kritik der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Siehe Tinyeko Sam Maluleke, Truth, Unity and Reconciliation in South Africa. Aspects of the Emerging Theological Agenda, in: Missionalia 25 (1997), 59-86; Ders., ‘Dealing Lightly with the Wound of my People’?. The TRC Process in Theological Perspective, in: Missionalia 25 (1997), 324-43; und Ders., The Truth and Reconciliation Discourse. A Black Theological Evaluation, in: Facing the Truth. South African Faith Communities and the Truth and Recionciliation Commission, hg. v. James Cochrane / John de Gruchy / Stephen Martin, Cape Town /Athens 1999, 101-13. Siehe sein „Geleitwort“ zu Paul Germond / Steve de Gruchy, Aliens in the Household of God. Homosexuality and Christian Faith in South Africa, Cape Town 1997, ix-x. Eine Diskussion der Bedeutung einer Theologie des Willkommenheißens in Bezug auf schwule und lesbische Menschen liegt jenseits der Möglichkeit dieses Aufsatzes. Für das Fazit, dass eine solche Theologie die volle Akzeptanz dieser Menschen fordert und somit die Beteuerung, dass schwule und lesbische Partnerschaften normale Formen des christlichen Sexualverhaltens sind, siehe Germond / de Gruchy, Aliens in the Household of God. Für das Fazit, dass eine solche Theologie die volle Akzeptanz dieser Menschen fordert, aber nicht die Bestätigung schwuler und lesbischer Partnerschaften, siehe Stanley J. Grenz, Welcoming but Not Affirming. An Evangelical Response to Homosexuality, Louisville 1998. Für das post-christliche Fazit, dass das Christentum unwiderruflich heterosexuell ist und für schwule und lesbische Menschen keine guten Nachrichten bereithält, siehe Heather Garner / Michael Worsnip, Oil and Water. The Impossibility of Gay and Lesbian Identity within the Church, in: Towards an Agenda for Contextual Theology. Essays in Honour of Albert Nolan, hg. v. Mc Glory T. Speckman / Larry T. Kaufmann, Pietermaritzburg 2001, 205-30.
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Andersartigkeit, Widerstand und die Ränder Afrikanisches christliches Denken: Siehe protestantische Theologie. Südafrika.45
Paradoxerweise hat die Konzentration auf die ethischen und politischen Dimensionen der Option für die Ränder zur Marginalisierung bedeutender Stimmen von der Unterseite innerhalb des vorherrschenden theologischen Diskurses beigetragen. Trotz des phänomenalen Wachstums der Christenheit in Afrika wurden die populären Stimmen des Christentums (in diesem Fall die von Afrika initiierten Kirchen) und die afrikanischen Theologien (mit Ausnahme der südafrikanischen Befreiungstheologien) selbst innerhalb des progressiven nordatlantischen theologischen Diskurses marginalisiert. Die traditionellen afrikanischen Gottheiten, der Ahnenkult, das Heilen und Ähnliches waren der konzeptuellen Welt progressiver westlicher Theologen völlig fremd und schienen wenig soziopolitische Bedeutung zu haben. DritteWelt-Theologie war für den nordatlantischen Theologiekonsumenten nur interessant, wenn sie sich auf die neueste politische Mode bezog. Die südafrikanische Theologie mit ihrem ethisch-politischen Fokus fand auf eine Art Nachhall in den Interessen progressiver nordatlantischer Theologen, wie dies für die restlichen Theologien Afrikas nicht der Fall war. Afrikanische Theologien wurden den dominanten Definitionen von Armut und Befreiung untergeordnet – und für unzulänglich befunden. Diese Beurteilung zeigt sich beispielhaft an der Behauptung Jürgen Moltmanns, dass, obwohl afrikanische und asiatische Theologien wichtig sind, sie keine „befreienden Theologien der Unterdrückten“ sind.46 Obwohl die Befreiung von sozio-ökonomischer Armut für viele afrikanische Theologen außerhalb Südafrikas kein bedeutendes Thema ist, wird sie nicht ignoriert.47 Die Betonung auf Inkulturation, die die afrikanischen Theologien charakterisiert, rührt von alternativen Erfahrungen und Konzeptualisierungen von Armut, Widerstand und Befreiung her. Der Aufstieg und die Vorherrschaft der nordatlantischen Randzone als ein politisch-ökonomisches Zentrum gingen direkt mit der Ausbeutung Afrikas durch den Sklavenhandel und die Kolonisierung einher.48 Die Jahrhunderte gewaltsamer, unterdrückender und ausbeuterischer 45 46 47
48
Alistair McGrath, (Hg.), The Blackwell Encyclopedia of Modern Christian Thought, Oxford 1993, 3. Jürgen Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999, 166. Siehe z.B. Éla, Mein Glaube als Afrikaner; Ders. African Cry, Maryknoll 1986; und Kwesi A. Dickson, Theology in Africa, London / Maryknoll 1984, 129-40. Nach dem Kalten Krieg hat das Aufkommen von Wiederaufbautheologien erneut die Aufmerksamkeit auf die soziopolitischen Dimensionen des afrikanischen Kontextes gezogen. Siehe J. N. K. Mugambi, From Liberation to Reconstruction. African Christian Theology after the Cold War, Nairobi 1995; J. N. K. Mugambi (Hg.), The Church and the Reconstruction of Africa. Theological Considerations, Nairobi 1997; und José B. Chipenda u.a., The Church in Africa. Towards a Theology of Reconstruction, Nairobi 1991. Siehe u.a. Andre Gunder Frank, World Accumulation. 1492-1789, London 1978; John H. Parry, Europe and the Wider World. 1415-1715, London 1966; Walter Rodney,
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Zusammenstöße zwischen Europa und Afrika haben eine Armutssituation geschaffen, die weit über die sozio-ökonomische Armut hinausgeht. Gesellschaften wurden zerstört, Menschen versklavt, Kulturen wurden umgestaltet und sogar zerstört, Land wurde gestohlen und eine neue Art zu leben wurde aufgezwungen. Somit hat die Armut Afrikas viel mehr zur Folge als nur sozioökonomische Armut; sie ist, wie Bénézet Bujo es ausdrückt, „ein[…] totale[r] Identitätsverlust und eine[…] totale[…] Entfremdung, […] denn es handelt sich um eine Verneinung des Menschseins des Menschen bis in seine kulturellen Wurzeln hinein“49. Diese anthropologische Armut hat eine besondere theologische Bedeutung als Konsequenz der Rolle, die die Missionare in der Unterdrückung afrikanischer Kulturen und der Etablierung der nordatlantischen Vorherrschaft über Afrika spielten. Somit ist die Betonung der Inkulturation, die die afrikanische Theologie charakterisiert, ein Akt des Widerstandes gegen die Vorherrschaft der nordatlantischen Randzone. Obwohl der Fokus oft darauf liegt, „afrikanische Kirchen in ihrer Theologie, in ihrer Verehrung Gottes und in ihren Strukturen“ zu befreien,50 war und ist er nicht darauf begrenzt. Die Entfremdung, die die Kirche charakterisiert, ist eine Reflexion der Entfremdung und Armut, die die afrikanische Gesellschaft charakterisiert. Deshalb sind afrikanische Theologien durch die Einbeziehung von und den Dialog mit afrikanischer Kultur, Tradition und Religion51 „darauf ausgerichtet gewesen, die Afrikaner von Zwängen zu befreien, die ihn (oder sie) daran hindern, völlig als menschliches Wesen zu leben“52. Diese Traditionen bieten eine integrierte und holistische Vision der Lebensfülle, die sich ergibt, wenn die menschliche Gemeinschaft in dynamischer Harmonie mit Gott und der spirituellen Welt,
49 50
51 52
Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung, Berlin 1980; Immanuel Wallerstein, The Modern System. Bd. 1: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy in the Sixteenth Century, New York 1974 (übersetzt als: Das moderne Weltsystem. Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986); und Ders., The Modern System. Bd. 2: Mercantilism and the Consolidation of the European World Economy. 1600-1750, New York 1980. Bénézet Bujo, Die ethische Dimension der Gemeinschaft. Das afrikanische Modell im Nord-Süd-Dialog, Freiburg 1993, 128. ohn S. Pobee, Skenosis. Christian Faith in an African Context. Gweru 1992, 41. Siehe auch Dickson, Theology in Africa; John S. Pobee, Grundlinien einer afrikanischen Theologie, Göttingen 1981; und J. N. K. Mugambi, African Heritage and Contemporary Christianity, Nairobi 1989. Siehe Bénézet Bujo, Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext, Düsseldorf 1986. J. N. K. Mugambi, African Christian Theology. An Introduction, Nairobi 1989, 12. Mugambi hat seither argumentiert, dass das Rekonstruktionsmotiv in der Ära nach dem Kalten Krieg für die afrikanische Theologie eher angemessen ist. Siehe seinen Aufsatz: From Liberation to Reconstruction. Diese Alternative wurde von Tinyeko Sam Maluleke problematisiert, Recent Developments in the Christian Theologies of Africa. Toward the 21st Century, in: Journal of Constructive Theology 2.2 (1996), 33-60; und Ders., Half a Century of African Christian Theologies. Elements of the Emerging Agenda for the Twenty-First Century, in: Journal of Theology for Southern Africa 99 (1997), 4-23.
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den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft und der Erde lebt.53 Dieser Zusammenstoß von afrikanischen Traditionen und christlicher Theologie hat zu einer kritischen Wiedergewinnung, Neuinterpretation und Neubewertung von beiden geführt. Während afrikanische Akademiker darüber theoretisiert haben, afrikanische Traditionen ins Christentum zu integrieren, hat sich der kreativste Ausdruck davon ohne ihre Hilfe innerhalb der ‚African Initiated Churches‘ gezeigt. Obwohl die ‚African Initiated Churches‘ und afrikanische Theologien nicht als Kirchen und Theologien der Unterdrückten und Ausgegrenzten, in denen sie ihren symbolischen und ideellen Widerstand gegen die hegemonialen Kräfte der Modernität zeigen, idealisiert werden sollten, stellen sie doch ein bedeutendes Korrektiv zu dominanten Formen des Christentums sowohl innerhalb als auch außerhalb Afrikas zur Verfügung.54 Dieser Prozess der Belebung und Neuinterpretation ist von entscheidender Bedeutung für die postmoderne Welt. Der globalisierte Kapitalismus der Verbraucher beherrscht und beeinflusst zunehmend die Produktion der Kultur und trägt zu einem andauernden Prozess der Zerstörung und Assimilation afrikanischer Kultur durch die Massenmedien bei. Die afrikanische Theologie ist eine Praxis des Widerstandes nicht nur gegen die destruktiven Kräfte der Moderne, sondern auch gegen die destruktiven Kräfte der Postmoderne. So stellen die verborgenen, unterjochten und ignorierten Stimmen Afrikas bedeutende Ressourcen zur Verfügung, um die negativen Dimensionen der Postmoderne zu transzendieren, um eine authentische postmoderne Theologie zu entwickeln. Doch müssen sie in ihren Andersartigkeiten gehört werden – wobei anerkannt werden muss, dass ihre Stimmen nicht notwendigerweise mit der neuesten kulturellen und ideologischen Mode der nordatlantischen Randzone übereinstimmen müssen. Respekt für Andersartigkeit ist kein ausreichendes Kriterium für eine ethische Beurteilung. Afrikanische Kulturen, Religionen und Traditionen sind charakterisiert durch Spannungen, Mannigfaltigkeit und Veränderung, wenn sie untereinander oder mit anderen Kulturen in Kontakt treten und wenn die Materie und die Umgebungsbedingungen sich verändern.55 Der Prozess, Theologie im reellen Leben der Afrikaner ihren Ursprung nehmen 53 54
55
Siehe Laurenti Magesa, African Religion. The Moral Traditions of Abundant Life, Maryknoll 1997. Bzgl. der ‚African Initiated Churches‘ siehe Petersen, Liberation Theology beyond Modernity; Ders., Articulating the Prophetic and the Popular. Proposals for a Neomodernist Liberation Theology, in: Bulletin for Contextual Theology in Southern Africa and Africa 5.1-2 (1998), 36-43; Ders., The AIC’s and the TRC. Resistance Redefined, in: Facing the Truth. South African Faith Communities and the Truth and Reconciliation Commision, hg. v. James Cochrane / John de Gruchy / Stephen Martin, Cape Town / Athens 1999, 114-25; Pobee, Skenosis, 71-94; und M. L. Daneel, African Earthkeepers. Bd. 1: Interface Mission in Earth-Care, Pretoria 1998; und Ders., African Earthkeepers. Bd. 2: Environmental Mission and Liberation in Christian Perspective, Pretoria 1999. Siehe Pobee, Skenosis, 23-41, 58-70; Bénézet Bujo, African Christian Morality at the Age of Inculturation, Nairobi 1990, 119-30; und Tinyeko S. Maluleke, African Culture, African Intellectuals and the White Academy in South Africa. Some Implications for Christian Theology in Africa, in: Religion and Theology 3 (1996), 1742.
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zu lassen, die mitten im Kampf ums Überleben sind, hat ein größeres Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit afrikanischer Kulturen und Traditionen gebracht.56 Besonders die afrikanischen Theologinnen haben betont, dass nicht alle afrikanischen Traditionen befreiend sind, besonders da, wo afrikanische patriarchale Traditionen durch das Patriarchat der nordatlantischen Länder wieder bestärkt wurden.57 Eine Befreiungstheologie, die Andersartigkeit respektiert, wird eine Theologie sein, die in den soziokulturellen Realitäten der gewöhnlichen Afrikaner wurzelt, wenn sie der Macht des Todes widerstehen und für Befreiung und das Leben kämpfen.58
Unterwegs jenseits des eigenen Lagers: Die Optionen für die Randzonen und eine Theologie für die postmoderne Mittelklasse Die Kirche als Gottes Besitztum muss dort stehen, wo [Gott] steht, vor allem gegen Ungerechtigkeit und bei denen, denen Unrecht geschieht, und indem sie Jesus nachfolgt, muss sie Zeugnis ablegen gegen alle Mächtigen und Privilegierten, die selbstsüchtig ihre eigenen Interessen verfolgen und dabei die Anderen kontrollieren und ihnen Leid zufügen.59
Es ist eine Sache, zu argumentieren, dass durch Christus die Welt auf den Kopf gestellt wurde und dass die sozioökonomischen Ränder die theologischen Zentren sind; die Realität ist jedoch, dass die Kirchen und die Theologie der sozioökonomischen Zentren weiterhin das Christentum weltweit kontrollieren. Der Grund dafür liegt genau darin, dass diese Theologen Zugang zu den ökonomischen Ressourcen haben und darin, dass sie befreit sind vom Überlebenskampf, der das Leben der Ausgebeuteten und Vergessenen charakterisiert. Wenn das Eingreifen Gottes jedoch die Zentren und die Ränder neu ordnet, muss uns klar werden, dass jene von uns, die Teil der Elite sind, sich in einem schwerwiegenden theologischen Nachteil befinden. Wenn unsere Theologie eine authentische Reflektion über Gott und Zeugnis von Gott sein soll, der sich in Jesus Christus als der Gott der Ausgeschlossenen enthüllt hat, dann müssen wir uns auf die oft schmerzliche Reise mit Jesus begeben, um Christus außerhalb des eigenen Lagers, zwischen den Ausgeschlos-
56
57
58 59
Siehe Simon S. Maimela (Hg.), Culture, Religion and Liberation. Proceedings of the EATWOT Pan African Theological Conference, Harare, Zimbabwe, January 6-11, 1991, Pretoria 1994. Siehe Mercy Amba Oduyoye / Musimbi R.A. Kanyoro, The Will to Arise. Women Tradition and the Church in Africa, Maryknoll 1992; und Mercy Amba Oduyoye, Daughters of Anowa, African Women and Patriarchy, Maryknoll 1997. Siehe Éla, Mein Glaube als Afrikaner und African Cry; und Xolile Keteyi, Inculturation as a Strategy for Liberation, Pietermaritzburg 1998. Belhar-Bekenntnis, Absatz 4.
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senen, zu begegnen. So eine Reise wird uns in der „karnevalistischen“60 postmodernen Welt unbehaglich und deplatziert zurücklassen. Das Verständnis, dass Theologie eine Pilgerfahrt zu den Rändern ist, zieht keine Vernachlässigung des christlichen Kontextes in den nordatlantischen Randzonen oder den Zentren der Macht nach sich. Vielmehr erkennt es an, dass ein bestimmter Kontext vorrangig in Beziehung zu jenen, die ausgeschlossen und schikaniert sind, analysiert werden muss. Die kontextuelle Spezifität von Theologien entspringt aus ihren verschiedenen Beziehungen zu den Realitäten der Ränder. Wie Douglas John Hall bemerkt: Um sich an ein echtes Verständnis des fraglichen Kontextes anzunähern, müssen wir uns für jene öffnen, die sich in seinem Zentrum befinden, an seine Opfer. So ein Wachsen des Verständnisses kann nur durch Teilnahme erreicht werden […], das heißt, durch einen Prozess, durch den wir existentiell etwas von unserer Verantwortung als Bürger der Ersten Welt für die Gegebenheiten in der Dritten Welt erkennen – in anderen Worten, durch eine schmerzliche Konfrontation mit den Realitäten von unserem spezifischen Kontext.61
Es ist die Orientierung der Theologie hin zu den Opfern, die den gemeinsamen Raum schafft, der die verschiedenen Kontexte der zeitgenössischen Welt miteinander verbindet. Sie ist, oder sollte es zumindest sein, das „gemeinsame Interesse“62, um Frederick Herzogs Ausdruck zu gebrauchen, aller kontextuellen Theologien. Wie Hall zu erkennen gibt, beginnt die Pilgerreise da, wo wir unsere Komplizenschaft mit den Mächten, die vergessen, unterdrücken und ausschließen, annehmen und die Verantwortung dafür übernehmen. In dem komplexen ökonomischen und politischen Beziehungsgeflecht, das die globalisierte Gesellschaft charakterisiert, haben wir von den Machtzentren, ob als Bürger der nordatlantischen Randzone oder als Mitglied der südlichen Bourgeoisie, Anteil an einer gemeinsamen Mittäterschaft, die das Leiden der Machtlosen bedingt. Diese Mittäterschaft sollte nicht dualistisch wie die zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem verstanden werden, sondern eher als ein komplexes Beziehungsgeflecht, das Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Nutznießertum und Vergessen nach sich zieht, in dem Individuen zu anderen auf verschiedene Art und Weise in Beziehung stehen, als Täter, Opfer und/oder als Nutznießer. Mittäterschaft am Leiden der Machtlosen ist nicht beschränkt auf die Regierungen und das Big Business. Die durchschnittlichen Mittelklassebürger, deren Ersparnisse und Rentenfonds in Finanz- und Aktienmärkten investiert sind, deren Wunsch nach billigen Konsumgütern zur Ausbeutung der Machtlosen führt, und die Regierungen wäh60 61 62
J. Richard Middleton / Brian J. Walsh, Truth Is Stranger Than It Used to Be. Biblical Faith in a Postmodern Age, Downers Grove 1995, 42. Douglas John Hall, Thinking in Faith. Christian Theology in a North American Context, Minneapolis 1991, 80 (Originalbetonung). Siehe Frederick Herzog, United Methodism in Agony, in: Doctrine and Theology of the United Methodist Church, hg. v. T. A. Langford, Nashville 1991, 33-34. Joerg Rieger hat dies weiter ausgeführt in: Developing a Common Interest Theology from the Underside, in: Liberating the Future. God, Mammon and Theology, hg. v. ders., Minneapolis 1998; und Ders., God and the Excluded. Visions and Blind Spots in Contemporary Theology, Minneapolis 2001, 124-41.
Eine Euro-Afrikanische Perspektive auf die Option für die Armen
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len, die ihre ökonomischen Interessen auf Kosten armer Länder schützen und die korrupte und unterdrückende Eliten unterstützen, wenn es ihren ökonomischen und geopolitischen Interessen förderlich ist, haben daran Anteil. Für jene, die dem ausgegrenzten Christus treu sein wollen, gibt es keinen Raum für eine Pseudounschuld, da unser tägliches Streben nach Leben von der Ausbeutung anderer abhängt.63 Die Gefahr, dem anderen die Schuld zu geben, ist immer da. Die ökonomischen und politischen Eliten südlicher Länder geben der Politik der nordatlantischen Randzonenländer oft die Schuld am Leid ihrer Länder und erkennen nicht ihr eigenes Beteiligtsein an Korruption, Ausbeutung und Unterdrückung. Gleichermaßen schieben die Bewohner der nordatlantischen Randzone den korrupten und repressiven Regierungen südlicher Länder die Schuld zu, ohne ihre eigene Mittäterschaft in der Ausbeutung der Armen zu untersuchen. In einer globalisierten Gesellschaft hat unser Handeln und Nichthandeln Auswirkungen auf andere und beutet sie aus; daher ist es zwingend erforderlich, dass jede/r von uns seine/ihre eigene Mittäterschaft am Leiden anderer unter die Lupe nimmt, anstatt Unschuld für sich zu beanspruchen und danach zu trachten, anderen die Schuld zu geben. Unsere Pilgerfahrt zu den Rändern ist keine Reise einsamer Reisender; eher ist sie ein Prozess, neue Konversationspartner zu gewinnen, wenn wir in den Dialog mit den Opfern und Vergessenen gehen. Es ist ein Prozess, ihren Überlegungen zum Handeln Gottes zuzuhören, der Artikulation ihrer Antworten auf Glaube und Praxis und ihrer Kritik an unserem Glauben, unserer Praxis und Theologie.64 Solche Konversationen sind immer eingebunden in die komplexen Machtverhältnisse und die Ungleichheit der Ressourcen. Es muss stets anerkannt werden, dass „die Stimme des anderen eine Stimme ist, die nicht einfach nur durch andere Stimmen, sondern durch Machtverhältnisse verdreht, zum Schweigen gebracht und unterdrückt wird“65. Dies ist sogar so, wenn wir Akademikerkollegen einstellen, die von den Machtzentralen der Wirtschaft an den Rand gedrängt wurden – und noch viel mehr, wenn wir versuchen, arme und ausgegrenzte Gemeinschaften zu beteiligen. An sich hat es ein befreiendes Zurücktreten zur Folge, das Schaffen von Raum für die Stimme der Ausgegrenzten und einen Prozess des Vertrauens-
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65
Siehe Karl Barth, Ethics, New York 1981, 164-65. (Deutsch: Ethik. Sommer-Semester 1928, Genf 1929). Siehe James R. Cochrane, Circles of Dignity. Community Wisdom and Theological Reflection, Minneapolis 1999; Gerald West, The Academy of the Poor. Towards a Dialogical Reading of the Bible, Sheffield 1999; Ders., Contextual Bible Study in South Africa. A Resource for Reclaiming Land, Dignity and Identity, in: Towards an Agenda for Contextual Theology. Essays in Honour of Albert Nolan, hg. v. McGlory T. Speckman / Larry T. Kaufmann, Pietermaritzburg 2001, 169-84; Piet Naudé, The Zionist Christian Church. A Case Study in Oral Theology, Queenston 1995; Graham Philpot, Jesus is Tricky and God is Undemocratic. The Kingdom of God in Amawoti, Pietermaritzburg 1993. James R. Cochrane, Questioning Contextual Theology, in: Towards an Agenda for Contextual Theology. Essays in Honour of Albert Nolan, hg. v. McGlory T. Speckman / Larry T. Kaufmann, Pietermaritzburg 2001, 75.
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aufbaus. Dies kann nur stattfinden, wenn wir unsere eigenen Interessen, unsere Position und Ressourcen anerkennen und in den Vordergrund holen.66 Eine postmoderne Theologie, die innerhalb des eigenen Lagers bleibt, isoliert von den Realitäten der Ausgebeuteten und Ausgegrenzten, hat darin versagt, die Beschränkungen der Moderne zu transzendieren. Die dominanten Stimmen der Moderne haben die Stimmen der Afrikaner ausgeschlossen, da die Traditionen, die Präsenz und die Praxis der Afrikaner eine Bedrohung für ihre Hegemonie waren. Nur wenn wir die Stimmen von den Opfern beider, der Modernität und der aufkommenden Postmoderne, hören und privilegieren, ist es der Theologie möglich, die Moderne zu transzendieren und authentisch postmodern zu werden – und somit zu populären und akademischen afrikanischen Theologien, wie zum Beispiel der Wiederbehauptung der Handlungsmacht der Afrikaner, die den entmenschlichenden Zwängen der Moderne und dem globalisierten Kapitalismus Widerstand leisten.67 Diese Stimmen bieten eine alternative Vision von christlichem Glauben und christlicher Praxis, die eine bedeutsame Kritik und ein Korrektiv der nordatlantischen Theologien ist. Es sind diese Kritik und dieses Korrektiv, die ihre Befreiung aus der Gefangenschaft von beiden, der Modernität und der Genusssucht und Frivolität des postmodernen Konsumentenkapitalismus, initiieren können.68 Wenn wir die verschiedenen Charaktere der ausgegrenzten Gruppen, unter denen sich Christus niedergelassen hat, anerkennen, dann erschafft die Rekonfigurierung des Zentrums und der Ränder nicht nur ein neues Zentrum. Vielmehr bekräftigt sie den polyzentrischen Charakter einer theologischen Reflektion, die von, mit und über diverse Schauplätze der Ausgrenzung stattfindet.69 Während nicht alle Gebiete der Ausgrenzung, auf die sich die oben zitierte südafrikanische Verfassung bezieht, rechtmäßige Orte für christliche theologische Reflektionen sind, sind sie alle rechtmäßige Gesprächspartner 66
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Einen Bericht, was es bedeutet, einem Ausgegrenzten authentisch zu begegnen, findet man in Anthony Bellagamba, Christian Journey toward Discovering the Struggling Poor, in: Towards African Christian Maturity, hg. v. Aylward Shorter u.a., Kampala 1987. Siehe Tinyeko S. Maluleke,The Rediscovery of the Agency of Africans. The Emerging Paradigms of Post-Cold War and Post-Apartheid Black and African Theology, in: Journal of Theology for Southern Africa 108 (2000), 19-37. Während Maluleke den Fokus auf gegenwärtige Entwicklungen richtet, würde ich behaupten, dass die Betonung der afrikanischen Handlungsmacht in früheren Entwicklungen gefunden werden kann. Siehe zum Beispiel Neville Richardson, Can Christian Ethics find Its Way, and Itself, in Africa?, in: Journal of Theology for Southern Africa 95 (1996), 37-54; Ders., Community in Christian Ethics and African Culture, in: Scriptura 62 (1997), 373-85; Peter Fulljames, God and Creation in Intercultural Perspective. Dialogue between the Theologies of Barth, Dickson, Pobee, Nyamiti, and Pannenberg (Studies in the Intercultural History of Christianty 86), Frankfurt a. M. 1993; und Lee E. Snook, What in the World is God Doing?. Re-Imagining Spirit and Power, Minneapolis 1999. Siehe Frans J. Verstraelens Argumentation für eine polyzentrische Annäherung an die Theologie in: Christianity in a New Key. New Vistas and Voices through Intercontinental Communication, Gweru 1996. Verstraelens Fokus richtet sich auf verschiedene geografische Zentren und nicht auf die verschiedenen ausgegrenzten Zentren innerhalb eines geografischen Gebietes.
Eine Euro-Afrikanische Perspektive auf die Option für die Armen
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für eine befreiende Theologie. Jedoch können der Respekt für die Andersartigkeit der Willkommensdynamik und die Option für die Armen nicht aufeinander zurückgeführt werden. Wie Robin Petersen argumentiert: „Unterschied ist nicht gleich Unterschied. Einige Unterschiede sind beladen mit einer Fracht an Unterdrückung und Unterjochung sowie mit einer Geschichte der Repression.“70 Wenn man die Vielfältigkeit der Orte der Ausgrenzung berücksichtigt, können theologische Reflektionen die unterjochte Person nicht stiefmütterlich behandeln. Dietrich Bonhoeffers Idee vom cantus firmus liefert ein fruchtbares Werkzeug, um eine Theologiesierung von Differenz und die Option für die Ränder, die die Option für die Armen nicht in schlichte Offenheit für Unterschiede auflöst, aufeinander zu beziehen. In seiner Diskussion über die Beziehung zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Leben bedient sich Bonhoeffer der musikalischen Analogie von der Beziehung zwischen dem cantus firmus und der Polyphonie kontrapunktischer Themen. Er argumentiert, dass „[w]o der cantus firmus klar und deutlich ist, […] sich der Kontrapunkt so gewaltig entfalten [kann] wie nur möglich“71. In Bezug auf die Option für die Ausgegrenzten muss der cantus firmus immer ein Zugeständnis an die Opfer einer vorgegebenen sozioökonomischen und politischen Matrix sein. Wenn dies einmal stark und eindeutig betont wird, kann die Polyphonie der anderen Dimensionen von Andersartigkeit und Ausgrenzung vollständig hinzugefügt werden. Dann wird die Theologie zu einem dynamischen Dialog (oder Multilog) zwischen den Zentren, die durch ihren gemeinsamen cantus firmus miteinander verknüpft sind. Der Charakter der Pilgerreise jenseits des eigenen Lagers ist im Wesentlichen kenotisch.72 Er entspringt dem Zugeständnis an eine doppelte Solidarität. Die erste ist eine Identifikation mit unseren Mitbewohnern der Zentren sozioökonomischer Macht bezüglich unserer Mittäterschaft an der Ausbeutung und Unterdrückung der ausgegrenzten Anderen. Die zweite ist eine Solidarität mit den ausgegrenzten Anderen. Dies führt zu einer Praxis, die durch Selbsthingabe, Selbstentzug und Empfangen vom Anderen charakterisiert wird. Kenosis wird oft als Ausdruck von Selbsthingabe verstanden und somit als selbst-opferndes Geben der eigenen Besitztümer, Talente, Ressourcen, Annehmlichkeiten und sogar seiner selbst im Dienst an den Armen und Ausgeschlossenen. Da dies eine integrale Komponente ist, kann Selbsthingabe alleine leicht zum gönnerhaften Paternalismus werden, anstatt zu echter Solidarität mit den Anderen. So muss Selbsthingabe einhergehen mit einem Selbstrückzug, um Raum für die ausgeschlossenen Anderen zu schaffen. Die genaue Dynamik dessen wird von Kontext zu Kontext und von Person zu Person variieren. Sie könnte den Rückzug von Positionen der Macht und des Einflusses beinhalten, um den Weg zu ebnen für jemanden, der ausgeschlossen war, die Weigerung, Macht und Kontrolle über Andere oder über Ressourcen auszuüben zum Vorteil anderer, und die kreative Transformation 70 71 72
Robin M. Petersen, Towards a South African Theology of Non-Racialism, in: Journal of Theology for Southern Africa 77 (1991), 25. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München u.a. 1998, 441. Ich habe dies detaillierter untersucht in: Participating in the Kenois of God.
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institutioneller Strukturen, um Raum zu schaffen für die Stimme und die Präsenz der Ausgeschlossenen. Selbsthingabe und Selbstrückzug werden zu authentischen Ausdrücken der Kenosis in dem Maße, in dem eine Annahme und ein Anhören der Anderen sie begleiten. Es ist der Wechsel vom Geben zum Empfangen, der die Machtbeziehungen transformiert und in der Praxis bestätigt, dass die soziopolitischen Ränder die Zentren sind, von denen Gottes Segen und seine Erlösung ausgehen. Obwohl Selbsthingabe, Selbstrückzug und Empfangen vom Anderen Dimensionen persönlicher Jüngerschaft sind, dürfen sie nicht darauf beschränkt bleiben. Wenn sie eine entscheidende Auswirkung auf das Leben der Ausgegrenzten haben sollen, müssen sie in strukturellem Wandel und Erneuerung ausgedrückt werden. So bedeutet die Reise jenseits des Gatters, sich in einer Jüngerschaft für soziale Transformationen zu engagieren.
Schlussfolgerung Die Pilgerreise jenseits des eigenen Lagers ist nicht leicht, aber die Alternativen sind Theologien, die lediglich die Interessen der Mächtigen spiegeln. Doch ist es leicht, in den Zentren der Macht und Privilegien zu verbleiben und zu meinen, dies wäre die ganze Welt. Weiße südafrikanische Theologinnen und Theologen haben einen Vorteil, da sie mit einem dramatischen Prozess des Wandels in den vergangenen zehn Jahren konfrontiert worden sind, durch den sich die Ränder in einem Prozess der Neuzentrierung befinden. Obwohl wir nach wie vor ökonomische Macht haben, haben wir die politische Macht verloren. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat uns mit unserer Komplizenschaft mit der Apartheid konfrontiert, entsprechendes Handeln hat unsere Aussichten auf Beschäftigung bedroht und unsere soziokulturellen Interessen sind nicht länger vorherrschend. Jene, die die Sicherheit der weißen Ghettos verlassen haben und eine Reise außerhalb des eigenen Lagers unternehmen, haben entdeckt, dass dort die Wurzel tiefer spiritueller und theologischer Erneuerung liegt. Die Bejahung von Gottes Option für die Ränder fordert uns alle heraus, uns auf eine ähnliche Reise in den verschiedenen Kontexten, in denen wir uns befinden, einzulassen. Erstveröffentlichung als: David N. Field, On (Re)Centering the Margins. A Euro-African Perspective on the Option for the Poor, in: Opting for the Margins. Postmodernity and Liberation in Christian Theology, hg. v. Joerg Rieger, Oxford 2003, 45-69.
Die Liebe im Postkolonialismus. Theologie in den Zwischenräumen des Empire Catherine Keller
Das Empire verlangt notwendigerweise, dass alle Relationen zufällig sind.1 Es wird letztendlich gesagt, dass die Mühen um Positionierungen von der präzisen Abstimmung der vielen Identitäten abhängig sind. Wo ist die Liebe?2 Wir reden davon, dass wir den am stärksten mobilisierenden Diskurs der Welt auf ganz bestimmte Weise nutzen, für die gesamte Welt, nicht nur zur Ermutigung der Vierten Welt […]. Dieses Lernen kann nur versucht werden durch die Ergänzung aller Bemühungen durch die Liebe.3
Die christliche Theologie leidet unter einem imperialen Zustand. Sollten wir da ansetzen mit dieser Behauptung - aber als einer theologischen Behauptung? Nicht als Denunziation einer erbosten Gruppe, die von außen kritisiert. Auch soll es keine händeringende Beichte oder ein liberal härenes Hemd des Christentums sein. Nein, diese Behauptung soll vor allem beschreibenden Charakter haben. Das ‚Empire’ stellt eine organisatorisch-geschichtliche Krankheit dar, die zwar tödlich ist, aber nicht unausweichlich. Über den korrupten Zustand des Empires schreiben Hardt und Negri: „Die imperiale Gesellschaft bricht immer und überall zusammen, was aber nicht heißt, dass sie zwangsläufig dem völligen Ruin entgegengeht.“4 Wir wollen davon ausgehen, dass das Empire ein wiederkehrender Zustand ist, eine außerordentlich anpassungsfähige Herrschaft, die in jeder neuen Erscheinung wächst und die unersättlich jeden möglichen Spielraum einnimmt. Es vermischt Kulturen, die sonst getrennt erscheinen. Es bringt Bevölkerungen in Beziehungen, die ihrer jeweiligen einheimischen Integrität fremd sind, die aber in dem von Hardt und Negri gemeinten klassischen Sinn „zufällig“ sind - gegen ihre eigene „Notwendigkeit“, ihre „wesentlichen“ Identitätsmerkmale gerichtet. Dennoch kann innerhalb des imperialen Raumes die Allergie zu einer Attraktion werden: Fremde Traditionen können sich im Verborgenen verständigen und zusammenschmelzen. Dabei entstehen alle möglichen merkwürdigen religiös-kulturellen Hybriditäten. Das Christentum ist die größte unter ihnen. Wenn immer es seinen jungen Mund auftat, redete es in den vielen Zungen des Empire, Nationen und Spra1 2 3 4
Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. / New York 2002, 214. T. Minh-Ha Trinh, An Acoustic Journey, in: Rethinking Borders, hg. v. John C. Welchman, Minneapolis 1996, 16. Gayatri Chakravorty Spivak: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge 1990, 383. Hardt / Negri, Empire, 214.
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chen, die von Rom kolonisiert worden waren, davor von Griechenland und noch davor von Babylon, das die Juden zuerst im imperialen Raum zerstreut hatte. Diese Diaspora war überall in den Städten des Reiches anzutreffen und ihre Repräsentanten pendelten unentwegt entlang der römischen Straßen nach Jerusalem. Dennoch blieben gerade diese Besucher sich gegenseitig fremd, durch Differenz gespalten und beherrscht. So hat das Sprachwunder jener Tage, das Pfingsten der Vielsprachigkeit, die JüngerInnen (Frauen und Männer, jung und alt, Heiden und Juden) überwältigt und in die Mission getrieben. Sie glaubten in ihrer Verzückung, ohne naiv in Bezug auf die Risiken zu sein, über die Grenzen hinaus mit anderen kommunizieren zu können und dass die Gemeinschaft ihre vielen Glieder in Harmonie halten könne, während sie selbst in Bewegung bleibt. Ein globaler Trick: dass in den Übersetzungen die Liebe nicht verloren geht. Sie lagen nicht falsch. Es hätte auch anders kommen können. Wir wissen aber, dass im Interesse der Übersetzung die Sprache, der Logos des Hellenismus, den theo-logos selbst bereitgestellt hat. Die ‚Theologie’ als platonisches Konzept hat den Synkretismus von einem kolonialisierten Judentum und einem kolonisierenden Hellenismus beeinflusst. Christliche Argumente – und der Glaube wurde zunehmend zu einem Gegenstand von Argumenten statt einem Zeugnis – überzeugten insofern, als sie die imperiale Metaphysik aufgesogen hatten. Die Ontologie des unveränderlichen nüchternen Seins, eines allgegenwärtigen Wesens, das über die „Zufälle“ von Ort, Zeit und Werden bestimmend ist, hat ihren Einfluss auch auf die Kirche selbst geltend gemacht. Beziehungen zwischen den Wesen werden als „zufällig“ gesehen, d.h. diese Beziehungen berühren weder das „Wesen“ noch die Identität eines Lebewesens. Wie könnte die Liebe diese Metaphysik überleben? Denn was ist Liebe, wenn ihre Beziehungen einseitig sind und zufällig für denjenigen, der liebt? Wie unterscheidet sich die Liebe von der Macht? Dennoch hat diese metaphysische Verlagerung allein die Kirche nicht zu einem Werkzeug des Empire gemacht. Die Kirche konnte dem Götzendienst des Empire, seinen Göttern der Macht, des Reichtums und der Eroberung bis zu Konstantin widerstehen - zum Teil gerade weil es auf seiner philosophischen Grundlage argumentieren und nicht nur in seinen Sprachen Zeugnis geben konnte. Der hermeneutische Preis jedoch, der für die Absorbierung der Metaphysik des Empire gezahlt werden musste, war hoch. Mit ihrem imperialen Erfolg, könnte man behaupten, habe die Kirche den „Götzendienst der Identität“ angenommen: ein metaphysisches Babel der Einheit, eine Identität, die die Vielfältigkeiten, die sie in sich vereinnahmt, homogenisiert, die jedes kreatürliche Andere, Fremde, Subalterne unterordnet. Gott wurde im Bild dieser ontologischen Identität entworfen und mit einer Macht ausgestattet, die alles kontrollieren konnte und dabei jeglicher Rezeptivität und Reziprozität entbehrte. So wurde der jüdische SchöpferRichter der Geschichte mit dem unbewegten Beweger hybridisiert. Und bald wurde der höchste Vater der Orthodoxie – „Gott der Macht und Stärke“, wie viele unserer Liturgien es immer noch singen, – in mannhafter Weise mit der
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Souveränität des Staates fusioniert. Das Projekt der „Globalatinisierung“, wie es Jacques Derrida genannt hatte,5 hat die ursprüngliche Vielstimmigkeit überholt. Wir brauchen hier die sich anschließende Geschichte von Eroberungen, Kreuzzügen, Verbannungen und neuen, moderneren Eroberungen für Christus, Handel und König und der „Anglobalisierung“ der Erde nicht eigens zu erwähnen.6 Doch ob kolonisiert oder kolonisierend, das Christentum hat niemals unter Abstraktion des Empire existiert. Es gibt kein vorkoloniales Christentum. Gibt es dann aber ein postkoloniales Christentum? Die gegenwärtige Diskussion bietet einen sinnvollen Gebrauch des Konzeptes an. Der postkoloniale Beitrag kommt eigentlich von den Peripherien, Diasporas und Grenzzonen des Empire. Er stammt von Menschen, die in einer bestimmten Hinsicht für diejenigen Menschen sprechen, die über den Zeitraum der letzten eineinhalb Jahrhunderte ihre nationale Unabhängigkeit erreicht haben und die sich dennoch neuen Formen der imperialen Unterwerfung unterordnen müssen. Aus Lateinamerika, der Karibik, Asien, Afrika, Ozeanien, die pro forma eine postkoloniale Situation erreicht hatten, kommen die neuen Stimmen des Christentums, eines sich selbst erneuernden Christentums, in der Vielsprachigkeit zu Gehör. Nicht selten gehen diese in die pfingstlerische Richtung und werden von der Glossolalie begleitet, einem Sprechen nicht nur in vielen Sprachen, sondern Sprache überhaupt überschreitend. Und da all diese Kontinente ihre Bevölkerung zurück in die Stadtzentren des Westens ausgießen, wird die postkoloniale Theologie in der merkwürdigen Räumlichkeit unseres postmodernen Globus sowohl „hier“ als auch „dort“ stattfinden. Ist es dann „unsere Theologie“ und „ihre Theologie“? Es bleibt aber immer noch unklar, ob jemand wie ich (als Euroamerikanerin privilegiert, von Geburt auf anglisiert, eine lebenslängliche Feministin usw.), eine „postkoloniale Theologie“ schreiben kann (genauso wie früher eine Befreiungstheologie). In der Gemeinschaft des Diskurses, der zum Beispiel in dem Band Divinity and Empire7 aufgezeichnet wird und angesichts der durchlöcherten Grenzen und der nicht verwirklichten Hoffnungen, die er untersucht und dabei riskiert, lässt sich fragen: Warum denn nicht? Wenn man sich progressive kontextualisierte Theologie nicht nur als Ausdruck einer reinen Identität und ihrer Politik vorstellt, dann ist es wichtig, dass Abtrünnige von der imperialistischen Überheblichkeit die postkoloniale Hoffnung in sich aufnehmen. Zumindest kann ich um einer konstruktiven christlichen Theologie willen das postkoloniale Potential der Theologie - und das theologische Potential der postkolonialen Theorie berücksichtigen.
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Jacques Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ‘Religion’ an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Die Religion, hg. v. ders. / Gianni Vattimo, Frankfurt a. M. 2001, 25. „Anglobalisierung” ist der Begriff, den Niall Ferguson für die Geschichte der Globalisierung einsetzt, wie er in Großbritannien und seinen Kolonien verwendet wird. Niall Ferguson, Empire. The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons of Global Power, New York 2002, xxvi ff. Keller bezieht sich hier auf den englischsprachigen Band Divinity and Empire, in dem ihr Beitrag zuerst erschienen ist.
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Eine konstruktive Theologie bezieht sich auf das breite Bestreben, den spirituellen Diskurs innerhalb eines nicht hintergehbaren Verständnisses von Kontext zu positionieren. Konstruktive Theologie, so meine These, wird Postkolonialismus als unverzichtbar ansehen, um die Überschneidungen, Bewegungen und konstitutiven Verhältnisse innerhalb und zwischen den Kontexten zu begreifen. Aber diese Kontexte fügen sich durch ihre „Zwischenperspektiven“ präzise in den globalen Raum ein, der nicht nur postkolonial, sondern auch transnational ist. Diese transnationale Globalisierung gibt sich selbst als die neue Erscheinungsform des Empire aus. Was noch entschieden werden muss, ist, ob eine postkoloniale Theorie uns bei der Prüfung der gegenwärtigen globalen Situation hilft: Ob der Zwischenraum uns bei der Konfrontation mit der Macht des Empire behilflich sein wird. Es steht eine Vielzahl von kritischen Lesarten des „Empire“ im theologischen Diskurs zur Verfügung. Einige der überzeugendsten sind misstrauisch gegenüber der postkolonialen Theorie. In diesem Aufsatz sollen zwei dieser Kritiken in den Blick genommen werden, nämlich die grundlegende säkulare politische Analyse von Hardt und Negri und die der fundamentalen christlichen Theologie von John Milbank. Beide sind Sozialisten mit beachtlichem Weitblick, aber beide reagieren allergisch auf die postkoloniale Theorie. Hier soll auch die Selbstkritik der postkolonialen Theorie, vertreten durch Gayatri Spivaks Critique of Postcolonial Reason diskutiert werden – und zwar gerade weil sie sich an dem theologischen Aspekt des ‚Globalen’ stößt. In dem, was nun folgt, vertrete ich die Ansicht, dass die postkoloniale Theorie nur insofern als sie hilft, die raum-zeitliche Bedingtheit der gegenwärtigen Globalisierung zu verstehen, eine Orientierung für TheologInnen in unserem konstruktiven Projekt (das heißt nicht nur biblisch-historisch-kritisch) sein kann. Die Arbeit der Theologie war von Anfang an global ausgerichtet. Das war unvermeidlich wegen ihrer imperialen Situation. Ich möchte aber hervorheben, dass diese christliche Globalität auch mit der anti-imperialen Ökologie der Liebe zu tun hat. Die Globalität der christlichen Perspektive würde daher das Potential und auch die Verpflichtung beinhalten, der imperialen Globalisierung zu widerstehen. Sicherlich von innen heraus, aber von einem Inneren, das nicht beschränkt ist, sondern durchlässig in Raum und Zeit, herauskristallisiert und durch seine eigenen Diasporas und Randerscheinungen verkompliziert. Es ist eingebettet in eine nicht-menschliche und nun gleichfalls kolonialisierte Natur. Durch das Eintreten in bestimmte aktuelle Diskussionen um Religion, Herrschaft und das Postkoloniale als eine Methode der Kontextualisierung des Christentums innerhalb der gegenwärtigen globalen Ordnung bekommen wir aufrüttelnde und, wie ich hoffe, mobilisierende Einsichten für die Theopolitik planetarischer Liebe – einer nach dem Göttlichen suchenden Liebe und damit auch einer Liebe Gottes.
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Gegenseitig versicherte Verletzlichkeit Was ist die Räumlichkeit der aktuellen globalen Ordnung? Kurz nachdem die USA ihren ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ erklärt hatten, hat der Soziologe Zygmunt Bauman mit einem Schuss apokalyptischer Übertreibung erklärt, dass unsere Zeit das „Ende des Raumes“ eingeleitet hat. In der Tat meinte er das Ende einer gewissen gebundenen nationalen Räumlichkeit, das „Ausschalten der beschützenden Kapazität des Raumes“. Er führt weiter aus, dass dieses Ende ein „zweischneidiges Schwert“ ist, (das aber nichts mit dem zweischneidigen Schwert aus der johanneischen Apokalypse zu tun hat). Dieses Ende beinhalte „die neuen Voraussetzungen für die gegenseitig versicherte Verletzlichkeit aller politisch getrennten Bereiche der Welt“. Der endlose neue Krieg gegen den Terrorismus setzt ein neues extraterritoriales Verständnis von Raum voraus. Das resultiert, wie er betont, aus einer Art nachahmender Gewalt zwischen Terroristen und Staat. Wie er weiter ausführt, unterwandern „beide die Hemmnisse, die ihrer Freiheit entgegenstehen, indem sie ‚nationale Gesetze’ ignorieren oder beiseite schieben, die ihren aktuellen Zwecken im Wege stehen“8. Dieser außerterritoriale „(Nicht-)Raum“ mit seinem manövrierfähigen, ungebundenen und nicht zu gewinnenden Krieg, seinen „fließenden Koalitionen“ (Donald Rumsfelds erklärte Politik9) schließt eine „neue Front“ mit ein. Bauman nennt den alten Raum der begrenzten Staatseinheiten „modern“ und erklärt die Postmoderne des neuen, Grenzen überschreitenden Globalen als „un-räumlich“. Wir werden erinnert an David Harveys Beschreibung der „Umstände der Postmoderne“ als eine „Aufhebung von Raum in der Zeit“ (durch den sofortigen Transfer von Kapital und Information, so wie auch neue Reisegewohnheiten und Migrationsbewegungen). Dieser Zusammenbruch der Grenzen der modernen Raum-Zeitlichkeit ergibt einen postmodernen „Raum des Flusses“. Und dennoch tendiert dieser Raum zur Homogenität und nicht zur betonten Unterschiedlichkeit und dem Pluralismus der postmodernen Theorie. Die sakrosankte Unterteilung von Innen und Außen, die den Bereich der existenziellen Sicherheit bestimmt hatte und die Reise in die zukünftige Transzendenz vorprogrammiert hatte, wurde so gut wie ausgelöscht. „Es gibt kein Außen mehr“, so Bauman. „Wir sind alle ‚drinnen’ ohne dass es ein Draußen gibt.“10 Die theologische Anspielung ist nicht beiläufig. Was bedeutet solch ein Verlust der Transzendenz von Raum und Zeit über diese Welt hinaus? Geschichtlich gesehen wurde die Grenze, die das ‚Innen‘ der triumphierenden Kirche, des ‚Neuen Jerusalems’ oder der Stadt Gottes von dem 8 9
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Zygmunt Bauman, Living and Dying in the Planetary Frontier-Land, in: Tikkun 17 (2), März/April 2002, 42. Donald H. Rumsfeld, Verteidigungsminister der USA, warnte, dass dieser Krieg „nicht von einem großen Bündnis geführt wird, das sich gegen eine Achse von feindlichen Mächten zusammenschließt. Stattdessen wird es fließende Koalitionen von Ländern geben, die wechseln und sich je neu entwickeln mögen.“ International Herald Tribune, 28 Sept. 2001, zitiert in Bauman, Living and Dying. Bauman, Living and Dying, 42.
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‚Außen‘ der unerlösbaren Welt trennt, an die Grenzen des christlichen (Welt)Reiches verlagert und fungiert noch in den säkularen modernen Staaten als das sacra ihrer sakrosankten Trennung.11 Nichts bleibt draußen: Dieses kann den banalen Atheismus und den Zerfall von Bedeutung zusammen mit dem Raum der Transzendenz bedeuten. Es kann aber auch bedeuten, dass man das Göttliche nicht mehr in einem einfach gedachten theistischen Jenseits findet und dass es daher auch keine falsche Sicherheit mehr bieten kann, die verschlüsselt ist in dem klassischen Konstrukt der unwandelbaren Transzendenz mit ihrer Omnipotenz, die von sich aus eingreifen kann, um zu belohnen, zu strafen oder zu retten. Gibt es also eine Möglichkeit, dass eine radikalere Beziehungstheologie aus der Postmoderne entstehen kann? Kann es der Menschheit gelingen, innerhalb dieser Räumlichkeit der gegenseitig zugestandenen Verletzlichkeit diese gegenseitige und universale Anfälligkeit anzuerkennen? Für Bauman wurde das „eine Vortäuschung der örtlichen Lösungen für planetarische Probleme“. Er plädiert für einen neuen Kosmopolitanismus, der die „eifrige Suche nach der allgemeinen Menschlichkeit“ wieder aufnimmt, in welcher „eine Ethik der Gastfreundlichkeit“12 eine Tautologie ist, da „Ethik als Gastfreundlichkeit“13 angesehen wird. Wenn diese gemeinsame Verletzlichkeit weder auf ihre biologische Grundlage noch auf einen imperialen Traum reduziert werden kann, ruft ihre Praxis da nicht nach einer alternativen Theologie? Beschwört diese Verletzlichkeit nicht den geistlichen Kosmopolitanismus, der in dem alten Imperativ der Gastlichkeit gegenüber dem ger, dem Fremden oder Immigranten gründet? Lädt ein solcher Kosmopolitanismus nicht auch alle lokalen Kontexte - innerhalb des gemeinsam geteilten kosmos, der so problematisch ist - ein, in seinen Zweigen zu nisten?
Das Weltreich des Dritten Jahrtausends Bauman hat nicht den einflussreichen Text von Hardt und Negri erwähnt, der mutig diesen globalisierten Ort des Flusses von „Geld, Technologie, Menschen und Gütern“ auflistet: „Das Empire nimmt vor unseren Augen Gestalt an.“ Der moderne Nationalstaat hat noch nie so wenig Macht gehabt, um diesen „Fluss“ zu regulieren. „Der Niedergang der Souveränität von Nationalstaaten bedeutet jedoch nicht, dass Souveränität als solche im Niedergang begriffen wäre.“14 Hardt und Negri verstehen aber den Begriff „Empire“ ganz 11
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Siehe Michael Nausners Vermittlung zu dem theologischen Raum der Grenzen in seinem Aufsatz Homeland as Borderland (im vorliegenden Band übersetzt als Heimat als Grenzland). Bauman, Living and Dying, 42. Für die Reflexionen von Jacques Derrida zum Thema Ethik als Gastfreundlichkeit, siehe bes. Jacques Derrida, On Cosmopolitanism and Forgiveness, Thinking in Action, London / New York 2001, 16f. übersetzt als: Weltbürger aller Länder, noch eine Anstrengung!, Berlin 2003. Hardt / Negri, Empire, 10.
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sicherlich nicht im Sinne von „Imperialismus“ der europäischen Staaten, sehen ihn aber als „dezentriert und deterritorialisierend, ein Herrschaftsapparat, der Schritt für Schritt den globalen Raum in seiner Gesamtheit aufnimmt, ihn seinem offenen und sich weitenden Horizont einverleibt.“ Man beachte, wie unheimlich ihre Analyse die Hybridität der postkolonialen Theorie wiedergibt: „Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch abgestimmte Netzwerke des Kommandos. Die unterschiedlichen Nationalfarben der imperialistischen Landkarte fließen zusammen und münden in den weltumspannenden Regenbogen des Empire.“15 Die Autoren beschreiben den Übergang von der modernen zu der imperialen Herrschaft als Bewegungen „vom dialektischen Gegensatz zur Koordination von Hybriden, vom Ort moderner Souveränität zum Nicht-Ort des Empire, von der Krise zur Korruption.“16 Empire versteht die Globalisierung als eine „wirtschaftliche Postmodernisierung“. Was ist dann mit der Produktion des theoretischen Wissens, die oft vermengt wird mit dem ‚Postmodernen‘, insbesondere dem Postkolonialismus und dem verwandten Diskurs des Poststrukturalismus? Mit einer gewissen Sympathie bestimmen sie beide als Symptome des Übergangs zum Empire.17 Sie verstehen die postmoderne Konzentration auf den Einfluss der Aufklärung als die Ursache von Dominanz und den postkolonialen Kampf mit den Überresten des begleitenden europäischen Kolonialismus als mangelnde Wahrnehmung der neuen Form von Dominanz, die heute über uns schwebt. „Was, wenn die herrschenden Mächte, die Ziel der Kritik sind, sich so verändert haben, dass sie jede postmoderne Infragestellung mühelos entkräften? Kurz: Was, wenn ein neues Paradigma der Macht, eine postmoderne Souveränität an die Stelle des modernen Paradigmas getreten ist und gerade mit Hilfe von Differenzhierarchien der hybriden und fragmentarischen Subjektivitäten, die diese Theoretiker so frohgemut verkünden, herrscht?“
Dies ist eine Frage, die jede postmoderne Theologie beantworten sollte. Hardt und Negri klagen sogar an, dass diejenigen, „die für eine Politik der Differenz, des Fließens und der Hybridität plädieren, um die binäre Struktur und den Essentialismus moderner Souveränität in Frage zu stellen, von den Strategien der Macht überlistet worden sind“18. Denn: „Das Empire ist nicht lediglich ein schwaches Echo der modernen Imperialismen, sondern eine
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Hardt / Negri, Empire, 11. Hardt / Negri, Empire, 214. Kürzlich aufgedeckte Machenschaften von Großunternehmen geben ihrer Beschreibung der Korruption Glaubwürdigkeit. Es ist keine Fehlentwicklung, sondern die „eigentliche Grundlage und modus operandi“ des Empire. Die nach 9/11 erfolgte militärische Aggression der USA mit ihrer nationalen Souveränität ist nicht dasselbe wie dieses neue Reich. Es bestätigt ihre Erwartung einer neuen Art von Macht ohne Grenzen, deren militärische Macht zuerst einen neuen transnationalen moralische Code („gerechter Krieg“, UN-Sanktion usw.) verlangt. Ihre Kraft kann die neuen Gesetze der globalen Rechte bestimmen. Hardt / Negri, Empire, 127-172. Hardt / Negri, Empire, 151.
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grundlegend neue Herrschaftsform.“19 Wenn Macht, wie sie uns im transnationalen Groß-Kapitalismus begegnet, jetzt mit Differenz und Hybridität hantiert, dann, so Hardt und Negri, rennen diese postmodernen und postkolonialen TheoretikerInnen „offene Türen ein“20. Ich finde, dass diese Kritik zugleich essentiell und irgendwie auch ein bisschen essentialistisch ist. Empire, in dem Herrschaft als Korruption und sogar als „unrein oder hybrid“ definiert wird, scheint von zweierlei auszugehen, einer beklemmenden Reinheit der nationalen Identität und einer möglichen zukünftigen Reinheit, gewiss eine ontologische Notwendigkeit, des Aufstandes. Postkoloniale Theorie mag zu sehr auf die binären Muster der Moderne konzentriert sein - aber doch gerade als Täuschungen einer nichtexistenten Reinheit. Im Übrigen, welcher postkoloniale Theoretiker „feiert“, wie Kritiker immer wieder behaupten, „die Hybridität? Ganz sicherlich trifft das nicht auf Homi Bhabha zu, der die Hybridität als ein Produkt der Kolonisierung versteht. Er stellt sich „gegen die Puristen der Unterschiede“ und plädiert für eine produktive Ambivalenz, die aus eben dieser Hybridität stammt.21 Die Hybridität mit ihren flexibel verwalteten „Chamäleon-Menschen“22 kann sich sicherlich in das nicht mehr Handhabbare verwandeln, zu einer unkontrollierten Parodie ihrer Verwalter. Dennoch bleibt die Frage weiterhin bestehen: Wie „subversiv“ ist die parodistische Mimikry, die die Hybridität hervorbringt? Ist sie wirklich mehr als eine stilisierte Verspottung der alten europäischen Formen der Herrschaft? Hardt und Negri nehmen es dabei mit Bhabha direkt auf: „Wir sollten jedoch beachten, welche Form von herrschender Macht in diesem postkolonialistischen Rahmen als Gegner (und damit als negative Begründung) dient. Macht, so die Annahme, wird ausschließlich durch eine dialektische und binäre Struktur ausgeübt. Mit anderen Worten: Die einzige Form von Herrschaft, die bei Bhabha eine Rolle spielt, ist diejenige moderner Souveränität.“23
Nach der Ansicht der beiden Autoren reitet die postkoloniale Theorie ein totes Pferd. Und ihre Kritik ist relevant - inwieweit auch immer solche binäre Macht und die Verfestigung der Grenzen wirksam verflüssigt worden ist durch die Fluidität auf dem postmodernen Markt. Unmittelbar nachdem Empire herausgebracht worden ist, stand die Welt erneut unter dem Einfluss einer Manifestation der Staatssouveränität der USA, die aggressive nationalistische Züge trug und die auf Abgrenzung bedacht war. Dennoch, so Bauman, hat dies auch das moderne Verständnis von Raum, Gesetz und Grenzen geprägt. Welche Deutung von „Empire“ ist nun
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Hardt / Negri, Empire, 159. Hardt / Negri, Empire, 151. Bhabba schreibt dazu: „Widerstand ist weder zwangsläufig ein politisch motivierter oppositioneller Akt, noch stellt er einfach die Negation oder den Ausschluß des „Inhalts“ einer anderen Kultur als einer einmal wahrgenommenen Differenz dar. Er ist das Resultat einer Ambivalenz, die innerhalb der Erkenntnisregeln der dominanten Diskurse produziert wird […].“ Homi K. Bhabba, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 163. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 129. Hardt / Negri, Empire, 158.
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am hilfreichsten?24 Ist es die fließend postmoderne Wirtschaft, die triumphierend die Grenzen der modernen Staaten in der spätkapitalistischen ‚Freihandels‘-Globalisierung überschreitet? Oder ist es der Nationalismus des amerikanischen Empire, das eine vorher nicht da gewesene militärische Macht und die präventiven ‚Rechte‘ über die Welt ausübt? Sind diese beiden Projekte identisch oder eher verbündete, aber möglicherweise gegensätzliche Formen von Hegemonie? Keines der beiden würde identisch sein mit der kolonialen Macht, die ursprünglich innerhalb des literarisch-geschichtlichen Bereiches der postkolonialen Theorie angesprochen wurde. Aber auch trotz des Wandels von einer in erster Linie wirtschaftlichen zu einer militärischen Macht sollten wir nicht annehmen, dass festgelegte Grenzen der Vergangenheit angehören (und dass postkoloniale Theorie deshalb nur für die Geschichte taugt). Ein Beispiel: Mehr Menschen starben an der mexikanisch-amerikanischen Grenze in den fünf Jahren vor dem Terroranschlag von 9/11 als in der gesamten Geschichte der Berliner Mauer.25 Man muss die Kapazität der globalen Wirtschaft (Flexibilität!) erkennen, um rigide und nach Rassen unterteilte Grenzen setzen zu können. Eben das ist es, was Hardt und Negri tun, wenn sie die spezifische Form der „imperialen rassistischen Theorie“ eher als eine „Theorie der Trennung“ analysieren, anstatt als Hierarchie, eher kulturell als biologisch, aber „kaum weniger ‚essentialistisch’ als die biologische Theorie“ in der Begründung „sozialer Absonderung und Trennung“. Innerhalb des Empire „sind der Flexibilität und Kompatibilität von Kulturen jedoch enge Grenzen gesetzt“26. Gerade dies ist aber das Anliegen der 24
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Über Jahrzehnte haben Wörter wie Imperialismus und Neokolonialismus die kolonisierende Dynamik bezeichnet, die während der „postkolonialen“ Ära aktiv war, d.h. in der Zeit, die der politischen Unabhängigkeit der europäischen Kolonien gefolgt ist. „Globalisierung“ benennt den neueren Effekt der transnationalen Zusammenarbeit in der Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung. Aber die Ereignisse um 9/11 haben (Apokalypse ist beabsichtigt) die außerordentliche politisch-militärische Rolle der USA in Beziehung zur globalen Wirtschaft offenbart, in der sie ein Hauptakteur, aber nicht der einzige waren. Für eine ausführliche Behandlung des historischen Verhältnisses von „Postkolonialismus“ und antikolonialen Bewegungen wie auch zu andauernden Prozessen der Kolonisierung und des Imperialismus, siehe Robert J. C. Young, Postcolonialism, An Historical Introduction, Oxford 2001. „Ohne Einschränkungen wird Geld in Umlauf gesetzt. Die Weltmächte verlangen ‚offene Weltmärkte‘ für ihre hergestellte Ware, besonders in den untergeordneten Ländern, obwohl sie ihre eigene Produktion weitgehend schützen und subventionieren. Dennoch wird die Politik der Migration sehr eingeschränkt, sodass Menschen daran gehindert werden, dorthin zu gehen, wo ihr Geld fließt. Es ist interessant zu beobachten, dass die kapitalistische Welt, während sie den Fall der Berliner Mauer umjubelt hat und ihn als ein Triumph der Freiheit und Demokratie erklärt hat, gleichzeitig an anderen Mauern baut, nicht nur symbolischen, sondern physischen Mauern zwischen armen und reichen Ländern, z.B. die Grenze zwischen Mexiko und den USA, oder als Schutz von reichen Vierteln innerhalb ausgehungerter Länder, oder wie in den letzten Monaten um die „geächteten“ palästinensischen Gebiete, die in große Konzentrationslager verwandelt wurden. Da der Markt die Armen nicht integrieren kann, bleiben sie außerhalb der Mauer.“ Nestor Miguez, The Old Creation in the New. The New Creation in the Old, ein Papier, das dem Oxford Institute for Methodist Theological Studies, Christ Church College, überreicht worden ist. Oxford University, August 2002. Hardt / Negri, Empire, 204.
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postkolonialen Theorie. Dieses postmoderne Empire – in seiner wirtschaftlichen wie auch in seiner militärischen Form – führt die unbeugsam modernen binären Muster nach Gutdünken wieder ein. Und es vervielfältigt schleichend die Grenzen, kaum weniger binär, um sich so schnell und beweglich über die angeglichenen Räume der staatlichen Souveränität ausbreiten zu können. Wenn der neue Widerstand „zuallerst [heißt,] innerhalb des Empire zu kämpfen und auf seinem hybriden, modulierenden Terrain einen Gegenentwurf zum Empire zu entwickeln“27, ist dann nicht die postkoloniale Theorie geeignet, solches Terrain zu bestimmen? Vorstellungen wie „subversive Mimikry“, „strategischer Essentialismus“, die Dekonstruktion von Macht/Wissen, wie zum Beispiel der ‚Orientalismus’, oder Saids „kontrapunktische“ im Gegensatz zu einer oppositionellen Strategie - kurz, der ganze theoretische Apparat des Postkolonialismus - arbeitet aufschlussreich „innerhalb“ dieser imperialen Struktur, innerhalb seiner historischen Gegenwart, „der Geschichte der Gegenwart“ (Foucault). Um es mit Bhabha auszudrücken, „wird die ‚vergangene Gegenwart’ ein Teil der Notwendigkeit des Überlebens und nicht der Nostalgie“28. Dennoch bleibt die historische Bandbreite der meisten postkolonialen Analysen beschränkt. Hardt und Negri zitieren einen anderen Kritiker der postkolonialen Theorie, nämlich Gyan Prakash. Er kritisiert, dass „das Postkoloniale als ein Nachwehen existiert, als ein Nachher, das vom Kolonialismus mitgenommen worden ist“. Hardt und Negri kommentieren dazu, dass es möglich sei, die „postkolonialistische Theorie zu einem sehr brauchbaren Instrument [zu] machen, um Geschichte neu zu interpretieren, aber es reicht bei weitem nicht dazu aus, die heutige globale Macht theoretisch zu erfassen“29. Es ist tatsächlich so, dass der Postkolonialismus sich gerade als historische Analyse für die biblisch-historischen Fächer angeboten hat. Im Gegensatz dazu bekommt die Theologie - eben aus dieser Geschichte - eine eschatologische Ausrichtung: eine sich allmählich manifestierende Zukunft. Wenn aber die Hinlänglichkeit das Kriterium ist, dann zeigt die Umwandlung des „Empire“ nach dem 11. September 2001 in eine neonationalistische Expansion auch die Grenzen des Modells von Hardt und Negri an. Sicherlich scheint die Diagnose der postkolonialen Theorien als „Durchgangssymptome“ in Empire zutreffend zu sein. Dennoch ist sie unredlich, denn wie können Hardt und Negri ihre eigene Arbeit, nämlich „sich von innen heraus zu wehren und ein Gegenstück zum Empire zu konstruieren“, nicht auch als ein Symptom verstehen? Immerhin haben sie ihr eigenes revolutionäres Projekt auch vollständig innerhalb der „Ebene der Immanenz“ und insbesondere auf dem „hybriden Terrain“ der postmodernen imperialen Zustände angesiedelt. Diese Immanenz beinhaltet auch, wenn schon keine Selbsttranszendenz, so doch gewiss ein Potential, sich selbst zu verwandeln. Ebenso wie nach Marx der moderne Kapitalismus einen besseren Widerstand als der Feudalismus ermöglicht, so bietet „dieses neue imperiale Terrain größere Möglich-
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Hardt / Negri, Empire, 230. Bhabba, Die Verortung der Kultur, 10. Hardt / Negri, Empire, 158.
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keiten für schöpferische Tätigkeit und Befreiung“30. In ihrem Text bleiben diese Möglichkeiten vage. Vielleicht finden sich im politischen Potential der transnationalen gesellschaftlichen Bewegungen - der Anti-Globalisierungsbewegung, dem progressiven Internet - Hinweise darauf. Hardt und Negri haben sich lobend zu dem neuen Geist dieser unwahrscheinlichen Möglichkeiten geäußert: Es „verwandelt Widerstand in Gegenmacht und Rebellion in ein Projekt der Liebe“. Wahrscheinlich sollte es theologische LeserInnen nicht überraschen, wenn wir im letzten Teil eines vollkommen säkular-sozialistischen Textes plötzlich mit einer Manifestation der Liebe konfrontiert werden. Wenn nach einer gerade noch möglichen Hoffnung gerufen wird, dann wird die Eschatologie unwiderstehlich. Aus der „nicht zu unterdrückende[n] Leichtigkeit und d[em] Glück, Kommunist zu sein“ schlagen beide ein einfaches Modell vor: Es ist kein anderes als das des Heiligen Franziskus. Sein „glückliches Leben“, gegründet auf freiwilliger Armut, das „alles Sein und die gesamte Natur, die Tiere, Schwester Mond, Bruder Sonne“ einschließt, bietet eine „unschuldige“ Revolution an, als eine, die „keine Macht kontrollieren können“ wird. Man fühlt sich sofort entwaffnet und beunruhigt bei einer solchen Leichtigkeit in der Theologie. Diese Wandlung in der letzten Minute zum Christentum (amor ex machina?) kann von einem mehr kontextabhängigen Engagement in der Liebesmystik profitieren. Es kann dabei seine Unschuld verlieren, aber es gewinnt an Glaubwürdigkeit. In seiner Leidenschaft für die Gerechtigkeit einzutreten, die Freude aus der Fülle des Lebens und des Raums der Schöpfung schöpft, erkennen wir nicht nur Anzeichen einer langen Tradition des christlichen Kommunismus, in dem die revolutionären Kräfte in Europa apokalyptisch kodiert sind. Wir sehen darin auch die folgenschwere zeitgenössische Tradition der ökologischen Theologie. Uns bleibt der unverzichtbare theopolitische Hinweis - ein Hinweis, dem nicht ausgewichen, der vielmehr durch eine postkoloniale Theologie weiterentwickelt werden soll, die Hardt und Negri als Theologie und postkoloniale Theorie ablehnen würden - auf einen Geist, der materiell alles einschließt, was ist.
Keine Liebe geht verloren Passenderweise hat Empire seinen Weg in die Theologie gefunden, just in dem gleichen Artikel, in dem sich eine selten anzutreffende theologische Diskussion der postkolonialen Theorie findet. John Milbank, der Befürworter einer „gotischen Vision“ in seiner sozialistischen, christlichen Variante,31 gibt eine starke Antwort auf die Anschläge des 11. Septembers. Es ist eine, die nach vielen Jahren immer noch ihre Gültigkeit hat. Er deutete die „unge30 31
Hardt / Negri, Empire, 230. John Milbank. The Word Oxford/Cambridge 1997, 285.
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wohnte Wut“, die den Anschlägen folgte, als ein Zeichen einer „Krise der Staatshoheit“ in den USA.32 Denn es war eine nicht-staatliche Größe, die einen Staat in einer kriegsähnlichen Manier angreift, und so „die eigentliche Idee des Staates bedroht“. Uns zeigt so die „versteckte Freude in der offiziellen Aufgebrachtheit“, dass gewisse Fraktionen eine Möglichkeit gefunden haben, die „Souveränität des Staates neu festzulegen“. Sie konnten sich jetzt in einen permanenten Krieg einbringen, um „zu sichern, dass der Handel auf dem freien Markt nicht von den Feinden des Kapitalismus missbraucht werden kann“33. Milbank beruft sich auf Hardt und Negris Darstellung des „amerikanischen, neo-römischen Imperialismus“, der den Anderen „einschließt“, indem er ihn einer „unvermeidlichen Uniformität“ unterordnet. Er stellt das gegenwärtige Empire dem älteren europäischen Imperialismus gegenüber, „der das Andere auf Distanz hielt, sein Anderssein erlaubte, es aber dennoch untergeordnet hat zum Zweck der Ausbeutung der natürlichen und menschlichen Ressourcen“. Milbank begnügt sich damit, dass „Hardt und Negri zugeben, dass das Neo-Empire das alte Empire in seiner Widerwärtigkeit übertrifft“34. Dabei trifft er aber nicht das zentrale Anliegen von Empire. Hardt und Negri vertreten den Standpunkt, dass eine neue Souveränität gerade nicht diejenige des Nationalstaates wieder einschreibt, sondern sie ersetzt. Darüber hinaus sehen sie die neue Herrschaft nicht notwendigerweise als schlechter an als die ehemaligen Projekte der Dominanz. Vielmehr warnen sie vor einer Nostalgie des gebundenen Nationalstaates. Sie glauben, dass die gleiche Globalisierung, die den Raum auf heimtückische Weise zusammenbrechen ließ und in passable Information verwandelt hat, neue eigene Formen des Widerstandes hervorbringen wird. Milbank allerdings bekennt sich klar zu der Superiorität des Britischen Reiches, das „viele utopische imperialistische Modelle eingeschlossen hat, die sogar über diese Unterordnung hinaus gingen und dahin tendierten, die Ränder und ‚Wilden‘ einzusetzen, um das Zentrum und die ‚Zivilisierten‘ zu verspotten“. Könnte es sein, dass Milbank die postkoloniale Theorie in ihrer Analyse der parodierenden Mimikry von Kolonisierern und Kolonisierten widerspiegelt? Keinesfalls! „Solche Nuancen werden auf schockierende Weise in den pseudo-linken amerikanischen kolonialen Diskursen übersehen. Diese unterstützen vielmehr die Ideologie der amerikanischen Rechten, in der die ursprüngliche ‚Unschuld‘ der Vereinigten Staaten als eine frühere kolonisierte Nation und ihre natürliche Solidarität mit allen Kolonisierten unterstellt wird.“35
Das ist, ebenfalls „schockierend“, eine ziemliche Fehlinterpretation. „Natürliche Solidarität“ gehört in den Diskurs der feststehenden Identitäten, die in Frage zu stellen die postkoloniale Theorie ja gerade angetreten ist. Es gibt kein Werk der postkolonialen Theorie, das seiner Karikatur des ‚amerikani32 33 34 35
John Milbank. Sovereignty, Empire, Capital and Terror, in: Strike Terror No More, hg. v. Jon L. Berquist, St. Louis 2002. Milbank. Sovereignty, 66. Milbank, Sovereignty, 67. Milbank, Sovereignty, 67.
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schen‘ Postkolonialismus auch nur ähnlich ist. Es ist zu vermuten, dass er dabei an solche immigrierten Intellektuellen wie Said, Bhabha und Spivak denkt. Robert Young betrachtet in seiner geschichtlichen Studie „die etwas komplexere Situation der USA, die eben sowohl eine Siedlerkolonie als auch eine imperiale Macht waren“. Damit impliziert er aber an dieser Stelle keine Unschuld.36 Nach Milbank tendieren diese Implikationen einer „ursprünglichen Unschuld“ (die nirgendwo expliziert werden) dahin, „die Tatsache zu verschleiern, dass der amerikanische Neo-Kolonialismus sehr viel hinterlistiger ist als die ältere Fassung. Er zieht die kulturellen Unterschiede (wie z.B. die englischen Gesetze in Indien) nicht in Betracht.“37 Allerdings verfolgt das amerikanische Empire durch einen faktischen Wilden Westen an diplomatischer Gemeinheit, durch kulturelle Gleichschaltung und durch größtmögliche Feuerkraft eine unersättliche und damit wirklich globale Dominanz, wie man sie zuvor nicht gekannt hat. Sicherlich wurde die postkoloniale Theorie mit einem literar-historischen Fokus auf die historischen Auswirkungen des europäischen Kolonialismus entwickelt. Aber der weiße britische Theologe hängt den nicht-weißen, britisch ausgebildeten, postkolonialen Theoretikern ohne eine sichtbare Spur von Ironie an, dass sie „pseudo-radikal“ (im Gegensatz zur wahren „radikalen Orthodoxie“) seien, weil sie es versäumt hätten, die Sensibilität des britischen Imperiums für Differenz anzuerkennen. Nichtsdestoweniger gehört Milbanks Ruf, „unseren globalen Götzendienst einer säkularisierten vollkommenen Souveränität und seinem leeren Bestreben nach Macht, im Westen wie im Osten gleichermaßen“38, abzulegen, in die Reihe der prophetischen Diskurse der jüdischen, christlichen und muslimischen sozialen Gerechtigkeit. Milbank plädiert für eine Rückkehr zu dem „biblischen und platonisch-aristotelischen metaphysischen Erbe, das dem Christentum, Judentum und Islam gemeinsam ist“. Diese „gemeinsame Vision“ würde sicherstellen, „dass menschliche Weisheit etwas von der ewigen Gerechtigkeitsordnung, wenn auch unzulänglich, so doch wahrhaftig nachahmen würde“.39 Dennoch stellt solch eine Vision von einer einzigen unwandelbaren Ordnung, einem zeitlosen Ursprung, den die Menschheit gemeinsam nachahmen sollte, gerade die falsche Basis für Gerechtigkeit dar so jedenfalls, wenn man allen postkolonialen und postmodernen Theorien von Differenz glaubt. Diese bedeuten eine Herausforderung für die eurozentrische und allzu geschichtlich gewordene Grundform gerade dieser „ewigen Ordnung“. Die „gemeinsame Vision“ von radikaler Orthodoxie nimmt, anders als der Kosmopolitanismus von Bauman oder auch von Hardt und Negri, eine weitgehend negative Form der Polemik gegen den Poststrukturalismus an.40 36 37 38 39 40
Young, Postcolonialism, 32. Unterstützt durch die historisch-vergleichende Arbeit von Henry Maine. Milbank, Sovereignty, 67. Milbank, Sovereignty, 74. Milbank, Sovereignty, 75. (Kursiv von mir) Dieser Vorschlag ist für mich einerseits einladend. Ich empfinde auch die geistliche Affinität zu dem neoplatonisch gefärbten Mystizismus des Kabbalismus und der Sufis. Milbanks Theologie weicht aber immer wieder deutlich von den bodenlosen Tiefen dieses Mystizismus ab, hin zu ihrer begründenden Vernunft. Milbanks
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Hat Milbank, der nur an solchen Elementen des Islams interessiert ist, die aus dem (platonisch-aristotelischen) Westen entlehnt sind, ein grobes und neuzeitliches Paradigma der Homogenisierung durch ein älteres ersetzt, durch das Original, die Metaphysik des Ursprungs? Inmitten einer historischen „Krise der Herrschaft“ bietet er eine absolut ungeschichtliche Lösung an: die Metaphysik einer ewigen Ordnung, von der menschliche Gerechtigkeit durch die Hierarchie der ‚Nachahmung’ abgeleitet werden kann. Diese platonische Mimesis liefert das eigentliche ‚Original’, das die Dekonstruktion dekonstruiert – eine Dekonstruktion, die durch die postkoloniale Theorie politisiert wird.41 Bhabha entdeckt die politische Brisanz dieses Erbes des westlichen ‚Ursprungs’ in den kolonialisierten ‚Mimic Men’, die als nicht ganz und nicht weiß („not quite, not white“) eine schattenhafte Kopie des europäischen „Originals“ bleiben.42 Sie werden verglichen - und sie vergleichen sich - mit der Euro-Norm. Es ist aber genau dieses klassische Erbe, dessen Vergehen Milbank beklagt, wenn er an anderer Stelle von einer „gotischen Sphäre“ spricht. Das Gotische würde „alle nicht-sozialistischen Gemeinschaftsgedanken von ihrer faschistische Tendenz“ befreien. Es ist ein „vielschichtiger Raum“, als Gegenmittel zur Homogenität des Raumes im Spätkapitalismus, der in seiner gegenwärtigen einseitigen Form in der Tat die Frage nach dem „Faschismus“ aufwirft.43 Er unterscheidet es auch von der päpstlichen Ekklesiologie, dem „Raum“ der „erhabenen zuversichtlichen Autorität“.44 In derselben Weise trennt er den gotischen Raum aber auch von einem anderen Katholizismus, nämlich dem der Theologie der Befreiung, die er auf „Zeit“ reduziert: eine „Fusion von teleologischer Geschichtlichkeit mit einem mystischen Aktivismus, der Ergebnisse wie Fetische vergöttert“45. Es ist anzunehmen, dass „Fetisch“ sich auf die eschatologische Hoffnung auf eine ferne Geschichte beziehen wird und zwar von einer platonischen Ewigkeit her! Leider ist dieser „komplexe Raum“ zu simpel, um zu ermöglichen, das Engagement der Freiheitsbewegungen angemessen aufzunehmen, ganz zu schweigen von ihren postkolonialen Varianten. Andererseits bewegt er
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Geringschätzung für die poststrukturalistische Entdeckung der negativen Theologie verhindert eine komplexere Prüfung dieses gemeinsamen Mystizismus in seinen eigenen subversiven Möglichkeiten. Die postkoloniale Theorie ist abhängig von dem dekonstruktiven Diskurs: Es versteht den Poststrukturalismus als eine interne Dekonstruktion des Eurozentrischen selbst. Robert Young verortet die Dekonstruktion, besonders den algerischen Juden Derrida, im Kontext des algerischen Unabhängigkeitskrieges mit seinem enormen Einfluss auf Generationen von französischen Intellektuellen. „Von was ist Dekonstruktion eigentlich Dekonstruktion?“, fragt Young. „Die Antwort lautet, vom Konzept der Autorität und der angenommenen Vorrangstellung der Kategorie ‚des Westens’. Die beste Definition für die Postmoderne ist die Selbstwahrnehmung der europäischen Kultur, nicht mehr das alleinige und unangefochten dominante Zentrum der Welt zu sein.“ Young, White Mythologies. Writing History and the West, London / New York 1990, 19. Bhabba,Die Verortung der Kultur, 127. Richard Falk, Will the Empire be Fascist?, in: The Declining World Order. America´s Imperial Geopolitics, New York 2004, 241-252. Milbank, Word Made Strange, 269. Milbank, Word Made Strange, 270.
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sich aber auch nicht in Richtung einer notwendigen ökologischen Herausforderung für die freiheitliche Zielsetzung der (menschlichen) Geschichte auf Kosten der (nicht-menschlichen) Natur.46 Dennoch beruft er sich auf eine gewisse Ökologie der göttlichen Liebe. Milbank gibt dem komplexen Raum kaum eine positive Deutung, außer dem Hinweis auf den „zweifach überschreitenden Leib Christi als dem anderen Raum unserer Geschichte“47. Aber es ist doch ein weiterer schöner Hinweis. Wieder wird uns dort, wo politische Hoffnung in vage Vermutungen verdreht wird, gerade noch die physische Liebe gelassen. Wenn die Theologie „das Bedürfnis hat, Gottes Liebe zu denken und die Schöpfung als Manifestation dieser Liebe“ - so wie wir es sicherlich alle tun - „dann muss sie die gesamte Philosophie außen vor halten, die ja eigentlich Metaphysik ist“.48 Zu „Philosophie“ zählt er hier beispielsweise nicht den späten Platon, (auf dessen Theorie der Partizipation und auf dessen „außer-kosmischen Logos“ er sich stützt). Er meint irgendeine Theorie, die nicht durch das orthodoxe Glaubens-Christentum abgesegnet ist, das, so wie es nun einmal der Fall war, vom Römischen Reich legitimiert worden ist. Wie viele der postliberalen Theologen braucht er seine postmoderne Anti-Metaphysik und isst dabei gleichzeitig vom Kuchen der klassischen Metaphysik.49 Es ist kein Wunder, dass dieser orthodoxe Anti-Modernismus den Ton eines polemischen Streits mit den postkolonialen/poststrukturalistischen Theorien beibehält. Die späteren Postmodernisten fordern den Eurozentrismus der Modernen heraus, während die anderen die Ansprüche des Zentrums zu vertiefen suchen. Allerdings wird der Verlust der Autorität der Universalordnung, (die Ordnung von Essenz und Akzidenz), die sich aus den Ruinen von Rom - gotisch - erhoben hat, nun beklagt. Es bleiben Ironien. Die imperialen Apologeten der Außenpolitik nehmen ebenfalls eine gotische Vision für sich in Anspruch: „Das 21. Jahrhundert ist wie das europäische Mittelalter gekennzeichnet von der universalen, wenn auch problematischen Hochkultur mit einer universalen Sprache. Das amerikanische Militär spielt dabei eine außerordentliche und unnachahmliche Rolle. Es hat sich, ob die Amerikaner oder andere es wollen oder nicht, zum ultimativen Garanten der internationalen Ordnung entwickelt.“50
Diese politische Ordnung widerstrebt Milbank und jedem anderen progressiven Christen. Und dennoch wird die von dem britischen Empire eingeführte Anglobalisierung der Welt vom amerikanischen Empire seiner Vollendung 46
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Er übt herbe Kritik an der unorthodoxen Immanenz der ökologischen Theologien. Ich teile diese Kritik: Vielleicht hat sich die Befreiungstheologie in einer eschatologischen Geschichte bewegt, die gegenüber der nicht-menschlichen Komponente des materiellen Raumes gleichgültig geblieben ist, indem sie die Indifferenz des Klassensystems in seinem Einfluss auf die landlosen Bauern reflektiert hat. Milbank hat aber den ökologischen Raum auch nicht mehr als Hardt und Negri und die postkoloniale Theorie im Blick. Milbank, Word Made Strange, 285. Milbank, Word Made Strange, 50. Siehe John Milbank, Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Signposts in Theology, Oxford/Cambridge 1990. Eliot A. Cohen, A Tale of Two Secretaries, in: Foreign Affairs 81 (2002), 46.
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entgegengeführt. Das derzeitige Projekt der Beherrschung ist theoretisch gerechtfertigt durch das Gemisch eines bestimmten Christentums und der ausdrücklich klassischen, universalen politischen Philosophie der Neokonservativen, angegliedert an das ‚New American Century’, dem think tank, der schon lange vor dem 11. September für den Irakkrieg geworben hat.51 Angesichts einer „Welt, die in der Gefahr einer lawinenartigen Unordnung steht“ wird dadurch „Ordnung“ garantiert“52 (es ist eine Ordnung, die der Komödiant Jon Stewart mit dem Begriff „Mess-o-‚potamia’ bezeichnet). Eine solche Ordnung bindet ihren eigenen universalen Anspruch nicht an Liebe, sondern an Macht. Sie macht sich selbst zum Original, dem Essentiellen, dem Unerlässlichen, das andere Systeme dann nachahmen sollten. In Bezug auf die Gotik teile ich mit Milbank eine gewisse Ehrfurcht vor dem geschützten Mysterium dieser Kathedralen. Ist es möglich, zu dieser komplexen Räumlichkeit - und ihrem menschlichen, leidenden Christus zurückzukehren, ohne eine Rückkehr zum Vertikalismus der Vision, die in ihrer zeitlosen Wahrheit Kreuzfahrer im Raum nach Osten gesandt hat? Ist es möglich, ohne eine Rückkehr zu irgendeiner der unhinterfragbaren Ordnungen, die der Westen allen anderen übergestülpt hat? Wir haben zwei einflussreiche sozialistische Anklageschriften gegen das gegenwärtige Empire gelesen, die eine ein Kommunismus der reinen Immanenz, die andere eine Theologie der klassischen Transzendenz. Letztendlich rufen beide zu einer mittelalterlichen christlichen Heiligkeit der Liebe auf. Beide appellieren an den Raum der Schöpfung. Beide zapfen tiefgehende christliche Träume von einer neuen Ordnung an. Ich versuche diesen gemeinsamen Traum zu respektieren. Aus diesem Grund habe ich ihre jeweiligen Ablehnungen postkolonialer Theorie auch genau angesehen. Unterschiedliche, aber dennoch parallele Formen eines Purismus liegen der Zurückweisung einer Theorie zugrunde, die jeden Anspruch auf Reinheit dekonstruiert, ganz gleich, wie progressiv er sein mag. Das wird uns dabei behilflich sein, den Krypto-Imperialismus einer exklusivistischen Wahrheit und die KryptoTheologie der revolutionären Unschuld zu vermeiden. Wir wenden uns jetzt einer bedeutenden postkolonialen Denkerin zu, und doch einer weiteren unpassenden Epiphanie der Liebe, inmitten der Ruinen und Erneuerungen des Empire.
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Für eine ausgezeichnete Analyse des Einflusses von Strauss’ Klassizismus in der zeitgenössischen Politik und seiner Einflüsse auf Paul Wolfowitz, William Kristol und Abram Schulz, siehe Mark Lewis Taylor, Liberals, Neocons & The Christian Right. Options for Proactive Christian Witness in Post 9/11 USA, in: Constellation. Journal of Progressive Christian Thought (Dezember 2003), Center for Progressive Christianity, www.tcpc.org/resources/constellation/fall.03/taylor.htm. Der Schlüsseltext ist Leo Strauss, The Rebirth of Classical Political Rationalism, hg. v. Thomas L Pangle, Chicago 1989, 6. Michael J. Glennon, Why the Security Council Failed, in: Foreign Affairs 82, (2002), 34. Über das neue amerikanische Jahrhundert schreiben William Krostol und andere: „Die Alternative zur amerikanischen Führung ist eine chaotische Welt á la Hobbes, in der es keine Autorität gibt, die der Aggression widerstehen kann und die den Frieden und Sicherheit sichern und internationale Normen durchsetzen kann.“
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Das Liebes-Supplement In der Tat, es ist meine Überzeugung, dass die Internationalität der ökologischen Gerechtigkeit in einer unmöglichen und unzertrennlichen Welt ist, von der man träumen muss angesichts ihrer Unerreichbarkeit und für die man deshalb leidenschaftlich arbeiten muss, die nicht dadurch erreicht werden kann, dass man sich auf eine der so genannten großen Religionen der Welt beruft. Der Grund hierfür ist, dass die Geschichte ihrer Größe zu tief mit dem Narrativ von Ebbe und Flut der Macht verflochten ist.53
Gayatri Spivak hat postkoloniale Theorie stets unter geschlechts- und ökonomischen Perspektiven entwickelt, insofern als diese die rassistischen Repräsentationen der Subalternen durchziehen. In dem hier vorliegenden Absatz tritt sie in den ökologischen Diskurs ein. Die Phrase von der „unmöglichen unzertrennlichen Welt“ entlehnt Spivak - nebenbei gesagt, in einer langen kritischen Auseinandersetzung - von Jacques Derridas Verständnis des „Unmöglichen“.54 Für keinen der beiden ist damit Unmöglichkeit im buchstäblichen Sinn gemeint. Es gehört in den Kreis seiner Tropen vom „Messianischen“, dem „Versprechen“, dem „Kommenden“. Diese biblisch aufgeladenen Signifikanten künden nicht das Kommen des eigentlichen oder nationalen Messias an, sondern den politischen Raum der „kommenden Demokratie“ (einer Demokratie, die bisher noch nicht in Sicht ist) und einer ziemlich eschatologischen „Nicht-Dekonstruierbarkeit von Gerechtigkeit“.55 Wenn ich den Abstand zwischen „dem Versprechen“ und der Gegenwart eher als „unwahrscheinlich“ denn als unmöglich bezeichne, dann nur deshalb, um die Arbeit zu ermöglichen (oder zumindest den Anschein davon) und auch die Welt, die Spivak im Sinn hat. Spivak positioniert ihren „Traum“ - in seiner eschatologischen Unwahrscheinlichkeit - genau in dem Raum, der in diesem Aufsatz untersucht werden sollte. In seinem Internationalismus teilt er mit Bhabha das Beharren auf dem „Zwischen“-Raum, dem Raum zwischen Nationen, Kulturen und ihren ambivalenten Subjekten. Sie bestärkt darin die postkoloniale Kritik an den selbst ernannten „großen Weltreligionen“, an den Patriarchaten, die sich mit der Energie von Empires großartig ausgebreitet hatten. Aber anders als die anderen PostkolonialistInnen hat sie begonnen, ihre Intentionen auch auf die natürliche Welt zu projizieren. Da die westlichen Religionen die Natur unterdrückt haben (zusammen mit den Frauen und anderen „Anderen“), hat sie 53 54 55
Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 382. Siehe das Nachwort in Spivak, Critique of Postcolonial Reason. Derridas Verständnis von Gerechtigkeit ist eingestandenermaßen „verfolgt” von dem Messianischen, wie es im unerfüllten Versprechen der Demokratie und des Kommunismus widerhallt: „[…] diese absolut unbestimmte messianische Hoffnung in Ihrem Herzen tragen und tragen zu müssen, den eschatologischen Bezug auf die Zukunft eines Ereignisses und einer Singularität einer nicht antizipierbaren Andersheit. Erwartung ohne Erwartungshorizont, Erwartung dessen, was man noch nicht oder nicht mehr erwartet, vorbehaltlose Gastfreundlichkeit […].“, Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2004, 96.
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sich mit der „globalen Bewegung für eine nicht-eurozentrische ökologische Gerechtigkeit verbündet“.56 Mit dieser Geste der Ökologie, d.h. einer neuen Bewegung aus und im Postkolonialismus, spricht sie die Frage an, die in diesem Aufsatz verhandelt wird, wie nämlich die Verbindung zwischen den Zwischenräumen und dem Globalen zu denken ist. Dieser die ganze Erde umgreifende Globalismus wird gegen Ende ihres anspruchsvollen Buchs mit dem Titel Critique of Postcolonial Reason („Kritik der postkolonialen Vernunft“) angesprochen. Sie kritisiert die postkoloniale Theorie von innen heraus und ahmt somit Kants Kritik der reinen Vernunft - der großartigen Überprüfung der westlichen Vernunft - nach. Dabei hat sie weder Reinheit beansprucht, noch das Vernünftige mit dem Westen verwechselt. Sie nimmt aber sowohl die „triumphierenden selbsternannten Hybriden“ ins Gebet, (die, indem sie jegliche marxistische Wirtschaftsanalyse außer Kraft setzen, mit der kapitalistischen Globalisierung konspirieren), als auch die linken Intellektuellen, (die, indem sie einer Täuschung des unmittelbaren Handelns unterliegen, den Eurozentrismus von Marx verkennen).57 Es ist faszinierend, wie die Ergänzung des Ökonomischen durch die ökologische Analyse ihre eigene Position verändert hat. Auf dem Gebilde dieser Nord/Süd-Welt, um bei der fantastischen Kartografie der Weltbank-Karte zu bleiben, wird eine andere Art der Vereinigung praktiziert […] Was wir hier in Besonderheit feststellen müssen, ist, dass die Entwicklungsländer nicht nur durch ein gemeinsames Band des grundsätzlichen ökologischen Verlustes, dem Verlust von Wald und Fluss als Grundlagen des Lebens, verbunden sind, sondern dass sie durch die Mitschuld einer, wenn auch entfernten, Komplizenschaft in den Machtstrukturen zwischen den örtlichen Entwicklern und den Mächten des globalen Kapitals geplagt werden.58
Indem sie diesen globalen oikos, der sich aus der Interaktion der wirtschaftlichen und ökologischen Kräfte zusammensetzt, skizziert, rügt sie „die aalglatten Theoretiker des Globalitäts-Geredes“, die neoliberalen VerfechterInnen der Globalisierung. Sie zielt mit ihrer Kritik auch auf die, „die immer noch dem Imperialismus alten Stils nachtrauern“ (moderne Marxisten und, wie ich vermute, postkoloniale TheoretikerInnen, die sich noch nicht mit dem neuen Trans-Nationalismus des Empire abgefunden haben). Sie spricht von der physischen Verbindung von Gerechtigkeit, Geschlecht und der globalen Ökologie. Dabei klingt sie plötzlich wie eine Ökofeministin. In zukünftigen Publikationen will sie „den Vorschlag unterbreiten, dass anstatt von ‚Welt’ vom ‚Planeten’ gesprochen werden soll“. Sie kündigt an: „Heute ist es das planetarische Wesen, das unsere Vorstellungen bemühen sollte.“59 Sie überwindet dabei den abstrakten, vermarktbaren Begriff der „Welt“ tiefer als 56 57 58 59
Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 380. Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 361. Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 380. Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2003, 72, 74. „Die Welt ist in unseren Computern. Niemand wohnt dort. Sie ermöglicht uns, dass wir uns vorstellen, dass wir versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen. Der Planet ist eine Art von Alterität, der zu einem anderen System gehört; und dennoch leben wir auf ihm als Leihgabe.“ (72). Mein Dank geht an Mayra Rivera, die mich auf diese fortschreitende ökotheologische Entwicklung hingewiesen hat.
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andere PoststrukturalistInnen und PostkolonialistInnen es wagten oder wünschten. Ich möchte aber innerhalb ihres Critique of Postcolonial Reason verweilen, um der Entstehung dieser fruchtbaren Idee folgen zu können. Um ihr Argument weiter zu entwickeln, dekonstruiert sie ein Werk einer feministischen Marxistin aus der Ersten Welt, die selber die Grundlagen einer feministischen Aktivistin aus Bangladesch dekonstruiert hat. Diese Bangladeschi hat sich auf die weibliche reproduktive Eigenschaft bezogen als „einer natürlichen Kraft, die wir in uns tragen“60. Die Herausforderung an einen bekannten feministischen Anti-Essentialismus (der Verdacht gegenüber jeglicher Verallgemeinerung von Natur oder dem Weiblichen) zeigt, wie Spivaks berühmter „strategischer Essentialismus“ funktioniert. Man sollte sich daran erinnern, dass ihr eigener Poststrukturalismus eine fundamentale Kritik am Essentialismus ist, d.h. an der binären Struktur von Wesen und Akzidenz, an einer zugrundeliegenden, ursprünglichen Identität und ihrer äußerlichen, wechselnden Relationen. Aber dieser formelhafte Anti-Essentialismus könnte jede Beziehung zu unseren Körpern, zu unseren Gemeinschaften und zu unserer Erde zum Schweigen bringen. Und wir könnten anfügen, dass der Anti-Essentialismus selbst jedes Verständnis von Identität und somit auch alle Beziehungen genauso auf ein nicht Wesentliches reduziert, wie ein imperialer Essentialismus auch. Ihre „Geschichte der verschwindenden Gegenwart“ (das ist der poetische Untertitel des Buches) aktiviert nicht nur eine Reihe von verschwindenden kulturellen Praktiken, sondern zeichnet auch das Dahinschwinden jeglicher Identität auf, die nicht an eine ewige Gegenwart, eine essentielle Präsenz geknüpft ist. Das Verschwinden ist jedoch nicht rein zufällig, sondern es ist wertvoll und im Moment des eigenen Vorübergehens der Trauer würdig. Spivak macht noch einen, wenn auch unerwarteten, Schritt, den wir nur als theologisch bezeichnen können. „Nachdem wir die starke und riskante Rolle, die die christliche Befreiungstheologie gespielt hat, erkannt haben, haben manche von uns von einer animistischen Befreiungstheologie zu träumen begonnen, um uns vielleicht mit einer unrealisierbaren Vision einer ökologisch gerechten Welt zu umgeben.“61
In einem einzigen ungewöhnlichen Satz bejaht sie die Arbeit der Befreiungstheologie, die bis zu diesem Zeitpunkt von der postkolonialen Theorie außer Acht gelassen worden war, auch wenn sie sich vom Christentum entfernt oder davon träumt, dies zu tun. Bevor wir uns aber vorstellen, wie Spivak sich der Theologie annähert, lesen wir, dass „der Name Theologie diesem Denken fremd ist“62. Beinahe thomistisch bejaht und verneint sie die Sprache der Theologie. „Animismus“ repräsentiert keine alternative Theologie, sondern steht für eine Sensibilität gegenüber dem Nicht-Menschlichen, das seine Spuren bei den subalternen Völkern hinterlassen hat, den Völkern, die zwischen und neben den selbsternannten „großen Weltreligionen“ in die
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Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 386. Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 382. Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 382. (Kursiv von mir).
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Falle geraten sind. Die Spuren haben die „metropolitische Migrantin“ in die Richtung einer postkolonialen Theologie gelockt. Warum ist der Name der Theologie, wenn auch, wie anderes Fremdes, unumgänglich, dem animistischen Traum von Befreiung fremd? Spivak deutet darauf hin, wenn sie schreibt: „Natur ist im animistischen Denken und Wissen auch eine Supernatur. […] Denn die Natur, das heilige Andere zur menschlichen Gemeinschaft, ist in diesem Denken auch an die Struktur ethischer Verantwortung gebunden.“63 Sie scheint gegen die im Christentum angelegte Doppelstruktur von einem übernatürlichen Schöpfer, in dessen Bildnis der rational-verantwortliche Mensch geschaffen worden ist und dem Rest der geschaffenen Natur anzugehen. Mit diesem Gegenüber hat die klassische Theologie den tatsächlichen Weg zu der modernen Dichotomie von menschlicher (essentieller) Kultur und amoralischer (akzidentieller, unwesentlicher, verzichtbarer) Natur gebahnt. Die animistische, umfassend lebendige Natur entzieht sich sowohl der gefallenen christlichen Natur als auch der unbelebten Natur der wissenschaftlichen Moderne und übersteigt sie zugleich. Die christliche Orthodoxie hat diesen Dualismus auf die nicht-biblische Lehre der creatio ex nihilo projiziert. Die Bewegung der Befreiungstheologie hin zu einer Vision von ökologischer Gerechtigkeit - inklusive einer Anerkennung tribaler, einheimischer oder animistischer Lebensformen wurde durch die Privilegierung von „Geschichte“ gegenüber der „Natur“ verhindert. BefreiungstheologInnen wie Leonardo Boff und Ivone Gebara, aber auch europäisch-amerikanische ÖkotheologInnen wie Rosemary Ruether, Sallie McFague, Jay McDaniel und John Cobb haben sich in ihrem Denken jedoch so nahe an der hier vorgeschlagenen „animistischen Befreiungstheologie“ bewegt, und zugleich so weit entfernt von jeglicher Dichotomie von Natur/Übernatur, dass man sich fragt, ob die Theologie so „fremd“ ist, weil Spivak sie nicht zur Kenntnis genommen hat.64 Diese selbst-kritischen Theologien bleiben innerhalb der „Ebbe und Flut“ der christlichen Macht, was bedeutet, dass sie innerhalb des progressiven Rahmens der Kirche, die meistens Ebbe hat, bleiben. All diese verschiedenen ökologischen Theisten würden darin übereinstimmen, dass die Natur „als heiliges Anderes der menschlichen Gemeinschaft“ in der Tat „gebunden ist an die Struktur ethischer Verantwortung“. Das heißt nicht, dass man Tiere, Pflanzen und Gesteine nicht auch nach menschlichen Normen beurteilen kann, aber dass sie sich innerhalb des Geflechtes der menschlichen Welt verantwortlich beteiligen. Zudem würden all diese ökologisch orientierten Theologien Spivaks Aussage zustimmen, wenn sie schreibt: „Keine individuell transzendente Theologie vom Gerechtsein in dieser Welt angesichts der nächsten, wie auch immer 63 64
Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 382. Zu meinen Studienzeiten hat der britische Prozesstheologe Pittenger in seinen Vorlesungen die Natur als „super“ bezeichnet. Er verwendete die damals übliche jugendliche Umgangssprache. Sally McFague hat diese antidualistische Trope verstärkt. Siehe Sally McFague, Super, Natural Christians. How We Should Love Nature, Minneapolis 1997.
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die nächste heruntergespielt wird, kann uns dahin bringen.“65 Sie scheint zu glauben, dass sie durch diese Aussage die Befreiungstheologie dekonstruiert hat. Spivaks oberflächliche Kritik geht aber am Ziel vorbei. Vielleicht hat ein Großteil der Befreiungstheologie den patriarchalischen Anthropomorphismus eines transzendenten Herrn intakt gelassen. Aber selbst dort, wo ein ökologisches oder feministisches Motiv fehlt, hat die Befreiungstheologie die stereotype „individuelle Transzendenz-Theologie“ nicht einfach „heruntergespielt“. Es lässt die ganze Stärke seines neuen kollektiven Subjektes in der Geschichte gegen diese antreten.66 Vielleicht haben nur TheologInnen Bedenken wegen der nichttheologischen Karikaturen von „Theologie“. Aber können wir in einem Text, der ein pauschales Urteil fällt wie: „US-Feminismus ist nicht in der Lage, die theoretische Gewandtheit im Süden wahrzunehmen“67, nicht erwarten, dass seine Autorin die theoretische Gewandtheit im Süden der religiösen Bewegungen in den Blick nimmt? Mit anderen Worten, ich frage mich, ob dieser Traum realer wäre, wenn sie nicht bewusst die subversiven Geschichten und Potentiale einer riesigen Gruppe von Hybriden ausgeklammert hätte, nämlich die des prägenden Synkretismus der „großen Religionen“ mit dem „Animismus“. Die kreativen ambivalenten Mischungen, die daraus in den kosmopolitischen Winkeln und ländlichen Rändern des Empire entstanden sind und immer noch entstehen, dort, wo der Glaube der Kolonisierer unbeschwert mit schamanistischen, indigenen, tribalen, afrikanischen und anderen alternativen Praktiken vermischt wird.68 Nichtsdestotrotz ist die ökotheologische Tendenz in Spivaks Denken ein Symptom für einen „Zwischen-Raum“ eines großen Versprechens: Indem sie sich von orthodoxen Formen des Sozialismus und der Religion befreit, zeichnet sich eine planetarische Spiritualität der Zwischenräume ab. Es kann kein Ort ohne die Beziehungen zu anderen lokalisiert werden. Nahestehend und fremd, innerlich und systemisch, sie machen das Globale aus. Aber das Planetarische ist größer als die Summe der globalen Teile. Keine Theorie kann das Monopol für seine Spatialität beanspruchen. Ich hoffe, dass ich zum Ausdruck bringen konnte, dass sich in diesem Raum auch eine Metamorphose des Christentums vollzieht, und zwar, dass es nicht länger an religiösem Triumph interessiert ist, sondern an „Gerechtigkeit, Frieden und der Bewahrung der Schöpfung“.69 In seiner Leidenschaft 65 66
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Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 382. Lateinamerikanische Kritiker haben unermüdlich diese Gewohnheiten aufgedeckt: Siehe Ivon Gebara, Longing for Running Water. Ecofeminism and Liberation, Minneapolis 1999; oder Marcella Althaus-Reid, Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, New York 2000. Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 388. Solche Hybriden waren seit langem Gegenstand ausgiebiger Forschung in der Religionsethnologie, darunter auch die von Kolleginnen wie Karen McCarthy Brown und Ada Maria Isasi-Diaz, auch wenn die Denkstrukturen, die sie entdecken, nichtzufällige Ähnlichkeiten zu der Entwicklung eines theologischen Pan-entheismus aufweisen. Zwischen der sechsten (1983) und der siebenten (1991) Vollversammlung rief der ÖRK die Kirchen auf, sich öffentlich gegen die Bedrohung des Lebens in den Bereichen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung auszusprechen und dagegen gemeinsamen etwas zu unternehmen, und zwar als Teil der Grundlage
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für die Schöpfung als ein sozio-ökologisches Engagement bietet es Anregung für eine planetarische Motivation, einen kosmopolitischen Geist in einer radikalen ökumenischen Form an. So setzt es sich, wie ich glaube, mit der interreligiösen (Un-)Möglichkeit in Beziehung, die auch Spivak zu vermuten scheint: „Es besteht kein Zweifel für mich, dass wir lernen müssen, Lehren aus den ursprünglichen praktischen ökologischen Philosophien der Welt zu ziehen. Um es noch einmal auszudrücken, ich will hier nicht ins Schwärmen kommen, auch die Befreiungstheologie will nicht jeden Christen verklären. Wir reden davon, wie wir den am eindeutigsten mobilisierenden Diskurs der Welt auf eine bestimmte Weise für den ganzen Globus und nicht nur den Aufbruch der Vierten Welt einsetzen können […] Dieses Lernen kann nur durch eine Ergänzung des kollektiven Bemühens durch die Liebe angestrebt werden.“70
So taucht die Liebe wieder einmal auf. Es ist aufschlussreich, dass postkoloniale „Liebe“ in der Mimikry der christlichen Befreiungstheologie ausgedrückt wird und somit in der Schöpfung dieses neuen befreiungs-animistischen Öko-Hybriden. Denn schließlich entstammt der Wunsch nach einem Diskurs neuer internationaler Koalitionen dem Zentrum postkolonialer Theorie. Hier können die fließenden Grenzen nicht auf eine neo-imperiale Globalisierung reduziert werden. Das notwendige „kollektive Bestreben“ kann nur über oder zwischen den Grenzen von Völkern, Glaubensrichtungen, Gruppen und Geschlechtern an die Oberfläche gelangen. Spivaks Supplement der Liebe geht aber noch weiter: „Was den Namen Liebe verdient, ist eine Anstrengung (über die man keine Kontrolle hat, die man jedoch auch nicht übertreiben darf), die langwierig ist und auf beiden Seiten Aufmerksamkeit erfordert (wie erlangt man die Aufmerksamkeit der Subalternen ohne Zwang oder Krise?), die auf beiden Seiten zu einer Veränderung der Einstellung führt.[…] Die notwendigen kollektiven Anstrengungen sind: Änderung der Gesetze, des Produktionsgefüges, des Bildungssystems und der Gesundheitsfürsorge. Doch ohne den einstellungsverändernden eins-zu-eins verantwortlichen Kontakt wird nichts haften bleiben.“71
„Die Liebe ist langmütig […] sie sucht nicht das ihre […]“ (1 Kor 13, 4f.). Natürlich hat Spivak Paulus nicht zitiert. Wenn sie aber die Liebe als Veränderung der Einstellung beschreibt, könnte sie das neutestamentliche metanoia übersetzt haben. Das Christentum ist an ihr verloren gegangen. Das braucht sie nicht. Vielleicht aber kann die christliche Theologie etwas aus der postkolonialen Übersetzung für sich nutzbar machen? In einem Empire, das Raum in Information auflöst und die Erde in eine Kolonie zusammenbrechen lässt, in dem Differenz zum Produkt wird und in dem erhöhte Anschubs-Belohnungen für einige Wenige die Hoffnung auf dauerhafte Verbesserung für Alle zu Nichte machen, dort sieht sich das „verantwortliche Ich“ (Richard Niebuhr) neuen Versuchungen und Hindernissen gegenüber. Das Eins-zueins der Liebe darf nie zugunsten der Gesamtheit verhöhnt werden. Umge-
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dessen, was es bedeutet, Kirche zu sein. Siehe: coe.org/wcc/what/jpc/hist-e-html. Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 383. (Kursiv von mir). Spivak, Critique of Postcolonial Reason, 383.
http://www.wcc-
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kehrt wird es zunehmend unverantwortlich, jegliche Hoffnung auf eine allgemeine Menschlichkeit, das globale Bürgerliche, das allgemeine kreatürliche Schicksal und somit die „kollektiven Bemühungen“ zu verschmähen. Gerade weil es kein fixiertes Wesen hat, muss die allgemeine Menschlichkeit geschaffen werden, immer wieder neu und niemals aus dem Nichts. Denn in unserer irdischen Ökologie sind wir alle bereits miteinander verbunden. Wenn jegliche Existenz innerhalb und jenseits seiner Entfremdung durch Vertrag gebunden ist, religare, „wieder verbunden“, „durch die Struktur der ethischen Verantwortung“, dann hat jeder Körper Gewicht (matter). Diese Vision bedarf aber eines fast unmenschlichen Übermaßes an Sorgfalt. Wenn wir, die wir einen alten Text und die Praxis der „Liebe“ mit anderen teilen, sehen, dass die postkoloniale Theorie - in einem wichtigen Versuch, jenseits ihrer eigenen Beschäftigung mit einer älteren imperialen Geschichte zu denken - auf einen geistlichen Diskurs der Liebe aufspringt und dabei die Theologie sowohl verspottet als auch nachahmt, sollten wir dann diese Initiative nicht willkommen heißen?
Postkoloniale Verleiblichung Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, […] sie ist die Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten […].72
Wir haben gesehen, wie eine ökologische Spiritualität anfängt - nur anfängt die Raum-Zeit der Postmoderne umzugestalten. Die unterschiedlichen Texte, die wir in diesem Aufsatz besprochen haben, zeigen, dass es nichts theologisch Zufälliges gibt in der Entwicklung eines ökologischen Motivs, besonders dort, wo die Liebe beginnt, in seine politische Umsetzung überzufließen. Denn Liebe kann nicht entkörpert werden. Und Körper decken - an den Zwischenräumen ihrer essentiellen und nicht akzidentiellen Bezogenheit zu anderen Körpern - unsere planetarische Ökologie auf. Wenn wir es schaffen, die Theologie von der entkörperlichten Vaterschaft zu befreien, mit anderen Worten, wenn sie die offene Kreativität, an der alle Kreaturen teilhaben, entdeckt, dann kann sie den weitesten Zusammenhang unseres leiblichen Lebens erschließen. Diese kreatürliche Weite übertrifft das Ausmaß eines jeden Empires und dennoch wurde sie in der Geschichte des Westens eingebunden und gedeutet durch die aufeinander folgenden imperialen Mächte. Das Christentum hat aber immer von einer Raum-Zeit-Größe gesprochen, die über einen bestimmten Kontext hinaus geht. Dieses Verständnis der Transzendenz hat die vergötterte Unermesslichkeit des imperialen Raumes sowohl durchzogen als auch immer wieder behindert. Mit anderen Worten, diese universale Vision hat sich sowohl für das Empire als auch für den Anti-Imperialismus hergegeben. Es kann uns jetzt in einer Befreiungsapokalypse aufru72
Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt a. M. 1952, S.755.
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fen, „herauszutreten aus dem Empire“73 - die Befreiungsapokalypse. „Komm aus ihr heraus, mein Volk.“74 Oder weniger geläutert, in einem umfassenderen Raum: aus dem Imperialismus herauszukommen. Wir sind in, aber nicht von diesem Empire. Die „Welt“ als korrupter und verseuchter imperialer Raum lebt wie ein Parasit innerhalb der „Schöpfung“.75 Infolgedessen ist die Erde selbst nicht „von dieser Welt“, aber von der Schöpfung. Selbst innerhalb Baumans „Zeit der Schließung des (modern konstruierten) Raumes“ bildet sich der Raum der Schöpfung nicht nach innen. Er ist nicht von innen heraus durch reine Immanenz gebunden oder von außen durch eine übernatürliche Transzendenz. Die Schöpfung nimmt innerhalb einer unendlichen Ökologie der Beziehungen Konturen an. Ohne einen Blick in irgendeine Orthodoxie zu werfen, lasst uns registrieren, dass wir innerhalb der biblischen Traditionen diese Unbegrenztheit der Beziehungen als „Du“ anreden dürfen. Die Unbegrenztheit kann intim werden. Sie kann liebenswert werden. Sie kann die Liebe verkörpern, auch wenn diese „Liebe nicht entkörpert“ werden kann. So spricht die Theologin Ivone Gebara von dem Göttlichen als unserem heiligen Körper. Andere haben das Universum den Leib Gottes genannt.76 Es ist gerade diese Verkörperung, die das Christliche der Liebe ausmacht. Diese Inkarnation, diese Inkarnalität transzendiert nicht die radikale Immanenz des sich unendlich ausbreitenden postmodernen Raumes. Wir bleiben „innerhalb“ der globalen Bedingung, aber nicht so wie in einer Enklave von zufälligen Bindungen nach außen. Keine Beziehung ist rein zufällig oder reine Vorherbestimmung. Jede Beziehung ist an der Schaffung ihrer Umwelt beteiligt, zum Guten wie zum Schlechten. In den Zwischenräumen der Schöpfung werden ständig neue Verknüpfungen geschaffen. Diese gemeinsame Kreativität bietet wenig Sicherheit. Gleichzeitig schafft sie unsere gegenseitig versicherte Anfälligkeit. Wenn keine menschliche Handlungsmacht (persönlich, wirtschaftlich, militärisch) außerhalb des Beziehungsgeflechtes steht, dann unterliegen alle -jetzt mit einer bloß technisch-globalen Notwendigkeit - einem blowback77. Menschliche gegenseitige 73 74
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Miguez, The Old Creation in the New. Ich habe zwischen der krypto-, retro-, und neo-Apokalypse unterschieden und zwar im letztendlichen Interesse nicht einer Anti- sondern einer Gegen-Apokalypse, siehe Catherine Keller, Apocalpyse Now and Then. A Feminist Guide to the End of the World, Boston 1996. Ich habe an anderer Stelle dieses „tehom“ aus 1 Mose 1, 2 einer Tiefenanalyse unterzogen. Siehe Catherine Keller, Face of the deep. A theology of Becoming, London 2003. Charles Hartshorne, Grace Jantzen, Sally McFague. Der englische Ausdruck „blowback” stammt aus der Central Intelligence Agency und wurde zuerst intern verwendet. Jetzt ist er bei Studierenden der internationalen Beziehungen im Gebrauch. Es bezieht sich auf die unbeabsichtigten Konsequenzen in der Politik, die vor dem amerikanischen Volk unter Verschluss geblieben sind. Was die öffentlichen Medien als bösartigen Akt von „Terroristen“ oder „Drogenbossen“ oder „aggressiven/feindlichen Staaten“ oder „illegalen Waffenhändlern“ bezeichnen, erweist sich oftmals als „blowbacks“ früherer amerikanischer Aktionen. Chalmers A. Johnson, Blowback. The Cost and Consequences of American Empire, New York 2000, 8.
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Abhängigkeit bleibt genauso schrecklich wie auch liebenswert. Die komplexe Raum-Zeitlichkeit der Welt wird die augenblickliche Bedrohung - dass alles, was nicht für die imperiale Monokultur nutzbar gemacht werden kann, ausgelöscht wird - nicht entschärfen. Die Feuerzungen, die auf den Köpfen unserer Vielfalt tanzen, können gelöscht werden. Das Empire wird zuschlagen und wieder zurückgeschlagen werden. Die Liebe aus dem Hohelied Salomos, die Liebe, die so stark ist wie der Tod, wird kaum die Macht der Dominanz besiegen können. Aber sie wird, zwischen uns, Thomas Manns „vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit“ zulassen. Sie wird, unter uns, Minh-Ha Trinhs „genaues Einstimmen unserer vielen Selbste“ zulassen. Ambivalenz kann, wie Homi Bhabha betont, gerade in der „Intimität des Zwischenraums“ von zunehmend sich mischenden und vermischten Existenzen produktiv werden. Die Zungen werden sich weiter hin- und her bewegen, tanzen und brennen. Eine ökologisch nachhaltige und ethisch gastfreundliche Erde bleibt auf unerträgliche Weise möglich. Erstveröffentlichung als: Catherine Keller, The Love of Postcolonialism. Theology in the Interstices of Empire, in: Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, hg v. Catherine Keller / Michael Nausner / Mayra Rivera, St. Louis 2004, 221-242.
Subalternität und Fürsprache als Kairos für die Theologie Mark Lewis Taylor
I sometimes think of subaltern studies as a secular version of the „preferential option for the poor“ of liberation theology, one which shares with liberation theology the essential methodology of what Gustavo Gutiérrez calls „listening to the poor.“ John Beverley, Subalternity and Representation. Arguments in Cultural Theory Die Subalterne kann nicht sprechen. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?1 Mit ihrer aus vier Worten bestehenden Formulierung identifiziert Gayatri Spivak, eine feministische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin aus Indien, in ihren Äußerungen zu den Welten der „städtischen sub-proletarischen Frauen“ in Südasien2 ein für John Beverley tief greifendes Problem. Beverley ist sich, wie wir sehen werden, des Problems sehr wohl bewusst. Dies ist zudem ein Problem für alle, die es sich erlauben, für, mit oder über die Armen, Marginalisierten, Ausgegrenzten, Unterdrückten oder Ausgebeuteten zu sprechen oder ihnen überhaupt zuzuhören, d. h. jenen „subalternen“ Völkern, die von mächtigeren Systemen sowohl untergeordnet als auch zu anderen (Lateinisch alter) gemacht werden.3 Dies ist nicht für jeden ein Problem. Im Prinzip ist es ein Problem für diejenigen, die aufgrund eines kulturellen Anspruchs, der ihnen durch ihren Zugang zu Reichtum, ihre ethnische Identität, Geschlechtszugehörigkeit, Bildungschancen oder andere kulturelle/politische Machtbereiche ermöglicht 1
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Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, Postkolonialität und subalterne Artikulation. hg. v. Hito Steyerl, übers. v. Joskowicz, Alexander / Nowotny, Stefan, Wien 2008, 106. Gayatri Chakravorty Spivak, In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York 1988, 218. Spivak wurde in Indien geboren und ausgebildet (bis zur Zeit ihres Promotionsstudiums). Sie ist eine hochrangige Gastprofessorin an Instituten weltweit gewesen und lehrt zurzeit an der Columbia University. Dieses Buch behandelt Kulturtheorie und analysiert Beziehungen zwischen Sprache, Frauen und Kultur sowohl in westlichen als auch nicht-westlichen Kontexten. Guha definiert die Vorstellung der Subalternen als „einen Namen für das allgemeine Attribut der Unterordnung […] ob dies nun in Bezug auf Klasse, Kaste, Alter, Gender und Amt oder in irgendeiner anderen Weise ausgedrückt wird“. Siehe Ranajit Guha, Preface, in: Ders. / Gayatri Spivak, Selected Studies in Subaltern Studies, New York 1988, 35.
Subalternität und Fürsprache als Kairos für die Theologie
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wird, Zugang zu kolonisierenden und einflussreichen Schichten haben. Ich werde über das Problem in diesem Essay als dem Problem der „berechtigten Fürsprecher“ [entitled advocates] untergeordneter Völker sprechen.4 Spivak selbst bezieht sich auf diese Fürsprecher als „benevolent Western intellectuals“ [wohlwollende westliche Intellektuelle].5 Meine Verwendung des Wortes berechtigt bedarf einer Klarstellung. Ich verwende es in diesem Essay einfach in seiner Grunddefinition und beschreibe damit diejenigen, die einen Anspruch, ein Anrecht oder die Macht erhalten haben, etwas zu tun, das andere nicht Berechtigte nicht tun oder nicht so ohne Weiteres tun können. Jemand, der in diesem Sinn berechtigt ist, ist nicht unbedingt ein besserer oder tugendhafterer Mensch, egal wie man diese Wertungen beurteilen mag. Auch sollte nicht angenommen werden, dass diejenigen, die sich in Positionen befinden, sich auf eine Berechtigung zu berufen, sich in einer für sie selbst besseren Situation befinden und irgendwie glücklicher, gesünder oder erfüllter sind. Manche nehmen an, dass berechtigte Personen unbedingt tugendhafter oder erfüllter sind, aber das folgt nicht notwendigerweise. Es mag so sein, ist es oft aber nicht. Ganz gewiss sollte dies niemals angenommen werden. Die Berechtigten sind einfach diejenigen, die – gewöhnlich aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit (Klasse, ethnische Identität, Gender, Bildungserfahrung, politische Position) oder durch eine Kombination dieser Zugehörigkeiten – Zugang zu einer Ermächtigung haben, den andere nicht besitzen. Spivak macht klar, dass es für solcherart Berechtigte kein leichter Prozess ist, das Sprechen der Subalternen zu hören, derer, denen gewisse Formen der ermächtigenden Berechtigung fehlen. Es gibt noch viele weitere Beispiele für berechtigte Fürsprecher, und sie alle werden von dem Problem herausgefordert, das Spivak erläutert. Dies kann pro-feministische Männer einschließen, die versuchen, gemeinsame Sache mit ihren feministischen Kolleginnen zu machen, weiße Leute, die versuchen, Seite an Seite mit schwarzen Leuten gegen ihre eigene weiße Vormachtstellung zu kämpfen, Heterosexuelle, die an der Skala der sexuellen Orientierung entlang schlittern, um eine unterstützende Haltung zu ihren schwulen/bisexuellen/lesbischen oder transsexuellen Freunden zu finden. Es schließt Frauen mit hohem Einkommen ein, die im Namen armer Frauen zu arbeiten und zu sprechen versuchen, US-amerikanische Bürger in Peru oder Guatemala, die dem US-amerikanischen Imperialismus Seite an Seite mit zentralamerikanischen Akteuren Widerstand leisten, Europäer aus entwickelten Ländern, die „menschliche“ oder befreiende „Entwicklung“ in ärmeren Ländern anstreben, Befreiungstheologen überall, die Bücher veröffentlichen und diese so schwer fassbare sogenannte „Solidarität“ mit den Gemeinschaften der Armen anstreben, und arme Gemeindearbeiter, die mit 4
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Ich habe einige der Gedanken zu diesem Thema zuerst in Vorträgen an der Ewha Womans University entwickelt und bin ihrer Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Studierenden dankbar für ihren kritischen und unterstützenden Dialog zu jener Zeit. Siehe The Postmodern Era in the Trilateral North, part 3, the 2nd Distinguished University Lectures, Ewha Womans University, Seoul, Korea, May 26, 1992. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. Cary Nelson / Lawrence Grossberg, Urbana 1988, 292.
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ihren eigenen Nachbarn arbeiten, um „Bewusstsein herzustellen“. Tatsächlich stehen postkoloniale Fürsprecher der Subalternen-Forschung wie Spivak selbst auch nicht außerhalb des Problems mit ihrer Suche, strategische Allianzen und Untersuchungen der Armen in Indien zu konstruieren, wie dies innerhalb des radikalen Kollektivs indischer Wissenschaftler in dem von Ranajit Guha angeführten Projekt der Subalternen-Forschung geschehen ist.6 In allen diesen und weiteren Fällen gibt es das Problem, vor das untergeordnete Völker den berechtigten Fürsprecher stellen, der es wagt, ein gemeinsames Gespräch mit ihnen zu beginnen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Hier soll dieses Problem entfaltet werden, und wir wollen versuchen zu klären, worin es besteht, zugleich aber auch unterschiedliche Antworten darauf anbieten. Das Problem des berechtigten Fürsprechers, des „wohlwollenden westlichen Intellektuellen“ bringt den theologischen Diskurs – vor allem die Befreiungstheologie und die Theologien der Marginalisierten – in einen Krisenzustand. Über diese Krise nachzudenken kann jedoch auch eine Chance für neue Schritte nach vorn sein. Daher sorgen die zwischen Subalternität und Fürsprache auftauchenden Probleme für ein Kairos-Moment im theologischen Diskurs: Dilemma und Verwirrung entstehen (Krise), die auch neues Wachstum (Chance) hervorrufen und ermöglichen könnten. Nähern wir uns dem Kairos, indem wir auf das Problem eingehen und es Schritt für Schritt entwickeln.
Eine Aporie postmodernistischer Politik: Auf der Suche nach einem befreienden a priori Das Problem der Subalternen für den berechtigten Fürsprecher muss im Zusammenhang mit der Gesamtproblematik der postmodernistischen Politik gesehen werden. Um diese Problematik zu verstehen, müssen wir wiederum einige Arbeitsdefinitionen von Schlüsselbegriffen anbieten. „Postmodernismus“, wie ich ihn in diesem Essay benutze, ist ein Satz von Diskursen, die für theoretische und kulturelle Betonungen bekannt sind, die Differenz feiern, Fundamente meiden und die für Merkmale wie Fragmentierung, Hybridität, das Ephemere, Oberflächen (mehr als „die Tiefen“), Fluss, Spiel und Karneval eintreten.7 Ich unterscheide Postmodernismus als einen Satz von Diskursen von einem anderen Begriff, dem der Postmoderne. Dieser letztgenannte Begriff bezieht sich auf die komplexen Verhältnisse und verbindet ökonomische, politische und soziale Dynamiken, die die Matrix bereitstellen, innerhalb derer der postmodernistische Diskurs zirkuliert. Häufig 6
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Zu einer Kritik Spivaks und der Poststrukturalisten in dieser Richtung siehe Neil Larsen, Postmodernism and Imperialism. Theory and Politics in Latin America, in: The Postmodernism Debate in Latin America, hg. v. John Beverley / José Oviedo u. a., Durham 1995, 121. Ihab Hassan, The Postmodern Turn. Essays in Postmodern Theory and Culture, Columbus 1987, 85ff.
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sind die Verhältnisse der Postmoderne auch bestimmte Kräfte, die den Postmodernismus hervorrufen und sein weit verbreitetes Auftreten als Diskurs erklären, besonders unter den „kapitalistischen“ Bedingungen „des späten 20. Jahrhunderts“.8 Aber was genau diese Bedingungen sind, die den postmodernistischen Diskurs hervorbringen und wie bestimmend ihre Rolle dabei gewesen ist, den postmodernistischen Diskurs zu produzieren, sind Themen einer wichtigen Debatte, auf die ich jetzt nicht eingehen muss.9 Der Hauptpunkt hier ist, dass die Anliegen des Postmodernismus zum größten Teil diskursive, besonders ausgearbeitete Formen des Sprechens und Schreibens sind, die mit anderen Faktoren wie z. B. den historischen Bedingungen des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens in Zusammenhang stehen und oft von diesen abhängig sind. Dies bedeutet, dass Postmodernismus, der zum größten Teil in den reicheren Regionen der Welt weit verbreitet ist, prächtig auf einer Ebene gedeiht, die manche eine „ideologische“ nennen würden, obwohl ich diesen Begriff hier nicht in einem abschätzigen Sinn, sondern deskriptiv gebrauche. Die wichtige Frage ist, welche Auswirkung Postmodernismus hat, wenn er, als Diskurs oder Ideologie, seine Ideen und Vorstellungen in den Bereich der politischen Verhältnisse zurückspeist. Es ist in diesem Feedback, dass wir einer „Aporie“ begegnen, und zwar im Sinn einer beunruhigenden Erfahrung von widersprüchlichen Belastungen. Es ist diese Konfliktsituation, die die Beziehung des Postmodernismus zum politischen Leben kennzeichnet. Der postmodernistische Diskurs hat zutiefst ambivalente Auswirkungen auf den politischen Bereich gehabt, wo marginalisierte Völker mit überwältigenden gemäßigten und mächtigeren Kräften ringen. Auf der einen Seite kann Postmodernismus eine Politik des Widerstands schüren. Im Jahr 1983 schrieb Hal Foster über einen „Postmodernismus des Widerstands“, in dem eine homogene und massive Moderne aus dem Gleichgewicht gebracht und unterminiert würde. Postmodernismus könnte hier zahlreiche destabilisierende Schocks injizieren, um repressive Regime und Systeme zu zerstören.10 Der Religionsphilosoph und „A-Theologe“ Mark C. Taylor erhoffte sich ein Feiern der Differenz, das „die Ökonomien der
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David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford 1989. Harvey argumentiert meines Erachtens überzeugend, dass die Bedingungen, die das hervorbringen, was ich den postmodernistischen Diskurs nenne, genau genommen besser nicht als Postmoderne bezeichnet werden, sondern Moderne in ihrer jüngsten Form, z. B. in einer Phase des „Postfordismus“ des Kapitalismus, der eine Form der „flexibleren“ Anhäufung von Kapital benutzt. Zu „Fordismus“ und „Postfordismus“ siehe auch Alain Lipietz, Fata Morgana und Wunder. Probleme der Industrialisierung in der Dritten Welt, New York 1985. Zusätzlich zu Harvey siehe auch Beverley / Oviedo u. a. (Hg.), Postmodern Debate in Latin America; Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert / Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M. / New York 2002; und Fredric Jameson, Postmodernism. or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. Hal Foster, The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture, Port Townsend 1983, 16-30, 31-42.
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Beherrschung“ auflösen würde, sodass die gesamte Grundlage der Herrschaft „zerbricht“.11 Das sind eindeutig große Hoffnungen. Tatsächlich ist etwas Wahres daran, auf fruchtbares, destabilisierendes Handeln in der Gesellschaft, Politik und akademischen Institutionen zu vertrauen, was auf die Arten und Weisen hinweist, in denen der postmodernistische Diskurs eingeschränkte Kräfte aus dem Gleichgewicht bringen kann. Postmodernistischer Diskurs hat oft eine größere Offenheit für Multikulturalismus-Studien in den Universitäten gepflegt und die festen Überzeugungen erschüttert, die in vorausgegangen Zeiten dazu benutzt wurden, um das Andere aus den Machtzentren herauszuhalten. So verwendeten z. B. Feministinnen in nordamerikanischen wissenschaftlichen Einrichtungen und auch anderswo postmodernistische Kritiken der Moderne und der Fundamente, um die „Objektivitätskulte“ zu kritisieren und um einer rekonstruierten weiblichen Differenz12 eine Stimme, einen Ort und eine Verortung zu geben, sodass Geschlecht und Gender, selbst instabile Kategorien, in neuen wissenschaftlichen Paradigmen der Intersubjektivität „epistemologisch relevant“ wurden.13 Andernorts halfen postmodernistische Unterwanderungen und ein Destabilisieren der Metaerzählungen, wie dies John Beverley und Marc Zimmerman für die revolutionären Zeiträume in Zentralamerika feststellen, ein Terrain für unterschiedliche Formen des kulturellen Widerstands vorzubereiten.14 Auf der anderen Seite haben einige der gleichen Quellen, ergänzt von anderen Kritikern, die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass postmodernistische Werte die Ökonomien und Ideologien der Herrschaft tatsächlich verstärken. Manuel Castells z. B. bemerkt in Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, dass während der Postmodernismus gleichzeitig zuvor ausgeschlossenen Menschen und Gebieten einen Ort und eine Verortung geben kann, er aber auch Folgendes tut: „Er [der größte Teil des Postmodernismus] bringt in nahezu direkter Weise die neue herrschende Ideologie zum Ausdruck – das Ende der Geschichte und die Auflösung der Orte im Raum der Ströme“.15 In dem jüngsten Buch von Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, werden die diskursiven Qualitäten des Postmodernismus als post-modernisierende Kräfte analysiert, welche die neuen imperialistischen Räume verstärken, die von Netzwerken transnationaler korporativer Macht besetzt sind, die in der USamerikanischen Hegemonie über den globalen Einsatz militärischer Macht verankert sind.16 11 12 13
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Mark C. Taylor, Erring. Postmodern A/theology, Chicago 1984, 112-113. Linda J. Nicholson, Introduction, in: Feminism/Postmodernism, hg. v. dies., New York 1990, 1-16. Lorraine Code, Is the Sex of the Knower Epistemologically Significant, in: Dies., What Can She Know? Feminist Theory and the Construction of Knowledge, New York 1991, 1-26. John Beverley / Marc Zimmerman, Literature and Politics in the Central American Revolutions, Austin 1990, xii. Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Bd. 1, ders: Das Informationszeitalter. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, übers. v. Reinhart Kößler, Opladen 2004, 475. Michael Hardt / Antonio Negri, Empire, Cambridge 2000, 38, 138-139, 150; und zur
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Unter Feministinnen wurde Kritik an der politisch problematischen Seite des Postmodernismus nachhaltig von Susan Bordo in ihrer Klage über das Timing postmodernistischer Kritiken im Hinblick auf „weibliche Realität“ geäußert: „Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Feministinnen die Integrität der Vorstellung einer ‚weiblichen Realität‘ genau dann in Frage stellen, wenn wir beginnen. in denjenigen Berufen Fuß fassen, die durch unser (geschichtlich entwickeltes) Anderssein am radikalsten verwandelt werden könnten und die historisch am meisten davor geschützt gewesen sind.“17
Ähnliche Klagen sind auch von anderen lange unterdrückten Gruppen, die eine neue Subjektivität fordern, erhoben worden, wenn postmodernistische Kritiken neu gewonnene Identitäten als ein „Essentialisieren“ abtun (z. B. Maya, amerikanische Ureinwohner, Womanistinnen).18 Gibt es eine von uns identifizierbare beherrschende Eigenschaft des postmodernistischen Diskurses, die am besten die postmodernistische Neigung zur Verstärkung von Herrschaftsideologien und -strukturen erklärt, seien diese nun patriarchal, neoliberal oder einem anderen Typ zugehörig? Ich glaube, dass die grundlegende Eigenschaft die Tendenz des Postmodernismus ist, seine charakteristischen Merkmale zu fetischisieren, besonders die des Spiels, des Flusses, der Unbeständigkeit, selbst der Komplexität. Diese selbst sind natürlich nicht problematisch; sie sind in der Tat notwendig, wann immer Formen der Herrschaft immer neue Repressionen und Ordnungen wieder geltend machen, die Hierarchien ersinnen und Stagnation verstärken. Postmodernistische Feiern des Flusses und der Differenz bleiben politisch fruchtbar für eine Infragestellung solcher Herrschaftsmächte. Die Fetischisierung des Spiels im Postmodernismus, was manche als „ludischen Postmodernismus“ bezeichnet haben, zieht die Vernachlässigung dessen nach sich, was ich in diesem Essay als befreiendes a priori bezeichnen werde, wenn auch in einem ein wenig exzentrischen philosophischen Sinn. Der Begriff ähnelt hier dem, was normalerweise ein a priori genannt wird, da ich ihn hier verwende, um ein anhaltendes Interesse daran zu signalisieren, die Freiheit zu schätzen, die tief in menschlichem Denken und Handeln verwurzelt und dort eingebrannt ist. Dennoch, und hierin besteht die Exzentrizität, diesem a priori begegnet man in sich verändernden und immer neuen, vielleicht überraschenden Erscheinungsformen. Ich mache es nicht zu einer transzendentalen Universalie, selbst wenn viele Denker und Akteure es für notwendig halten, sich immer wieder darauf zu berufen. Ich benutze das Wort befreiend für diese beharrliche Tendenz, Freiheit zu schätzen, weil „Befreiung“ und damit verwandte Begriffe (befreien, befreiend) oftmals die äußerst wichtigen politischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen der Freiheit konnotieren. Ich kann hier keine detaillierte Theo-
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US-amerikanischen Hegemonie, die die transnationale Oberherrschaft verankert, 309. Susan Bordo, Feminism, Postmodernism and Gender-Scepticism, in: Nicholson (Hg.), Feminism/Postmodernism, 151. Zu dieser in postmodernen Kritiken indigener „Maya“-Identitäten wirksamen Dynamik siehe June C. Nash, Mayan Visions. The Quest for Autonomy in an Age of Globalization, New York 2000, 17-20, 261 n. 16.
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rie der Freiheit anbieten, ich setze aber voraus, dass es diese strukturellen Freiheiten sind (politische, ökonomische, soziale, kulturelle), die die ermöglichende Matrix für die persönlicheren oder inneren Freiheiten („liberties“) bereitstellen. Ein befreiendes a priori ist eine beharrliche Tendenz, diese Formen strukturierter Freiheiten vorauszusetzen, zu wünschen und sich vorzustellen. Feiern von Differenz und Spiel, die dem befreienden a priori keine Beachtung schenken, sind fetischisierend in dem Sinne, dass sie Differenz und Spiel übermäßige Aufmerksamkeit und Verehrung entgegenbringen, und zwar in einer Art und Weise, die das befreiende a priori verdeckt und die Aufmerksamkeit von ihm fortlenkt, was genau genommen notwendig ist, um das positive Funktionieren von Differenz und Spiel zu schützen.19 Diese Fetischisierung führt nicht nur häufig dazu, dass das Spiel zum Fetisch gemacht wird, sondern auch zu einer Ästhetisierung von Unterdrückung und Repression. Der chilenische Ökonom Martin Hopenhayn drückt dies gut für die heutige Zeit aus: Die sozialen Widersprüche des Kapitalismus, die sich an der lateinamerikanischen Peripherie hervorheben, verschwinden hinter der Begeisterung für Formen und Sprachen. Die ökonomische Krise – die schlimmste, die wir in diesem Jahrhundert erlebt haben – verbirgt sich hinter dem Euphemismus einer großartigen Anarchie, und strukturelle Heterogenität wird in die kreative Kombination des Modernen und des Archaischen umgewandelt, „unsere“ periphere Inkarnation und Antizipation des Postmodernen.20
Diese Fetischisierung oder Ästhetisierung (Hopenhayns Begriff) kann auf vielfache Weise geschehen. Ein anschauliches Beispiel gibt Nancy ScheperHughes in ihrem Death without Weeping, wo im Zusammenhang mit weit verbreiteter, von Armut und Hunger verursachter Mütter- und Kindersterblichkeit „Karneval“ als ein Mittel zur strukturellen Übertretung präsentiert wird. Es stimmt, dass er Hierarchie auflöst und ein Ausbrechen aus vielen normalen Rollen ermöglicht, die (für Frauen und andere) unterdrückerisch sind; und während des karnevalistischen Spiels geraten normale Ordnungen in Fluss, und ein „Tanzen gegen den Tod“ kann zu einem geschickten Widerstand gegen tägliche Unterdrückungen werden.21 Trotzdem, wenn die Notwendigkeit, sich aus den Strukturen der Armut zu befreien, nicht identifiziert und direkt angesprochen wird, haben ludische 19
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Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass man in politisch bewussten VoodooKulturen des Widerstands auf Haiti sehen kann, wie ein explizites Engagement für die Befreiung von der Sklaverei eine polyforme Art des Spiels und der Differenzierung ermöglichte, die es mit dem, wovon der meiste ludische Postmodernismus in hegemonialen westlichen Mächten heute nur träumen könnte, aufnehmen kann. Siehe Mark C. Taylor, Vodou Resistance/Vodou Hope. Forging a Postmodernism that Liberates, in: Liberation Theologies, Postmodernity, and the Americas, hg. v. David Batstone / Eduardo Mendieta u. a., New York 1997, 169-187. Martin Hopenhayn, Postmodernism and Neoliberalism in Latin America, in: Beverley/Oviedo u. a. (Hg.), The Postmodernism Debate in Latin America, 100 (Betonung hinzugefügt). Nancy Scheper-Hughes, Death without Weeping. The Violence of Everyday Life in Brazil, Berkeley 1999, 480-483.
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Praktiken wie der Karneval in Brasilien selbst nicht die gewünschten politischen Konsequenzen. Im Gegenteil, sie können die Strukturen von Gewalt und Unterdrückung verdecken und aufrechterhalten oder sie lassen, wie im Fall von Scheper-Hughes Kontext, die Bedürfnisse der am stärksten Verletzten, die in den Strukturen der Unterdrückung verfangen sind, unangesprochen; derjenigen, die nicht am Karnevalistischen teilhaben oder teilhaben können: „Wie kann ich mich vergnügen, wenn ich ein Haus voll kranker Kinder habe? Carnaval ist etwas für Männer und für Kühe“, bemerkte eine Mutter zu Scheper-Hughes in Bom Jesus da Mata in Brasilien.22 Was dann also neben, in und vielleicht durch postmodernistisches Spiel und Karneval gebraucht wird, ist ein befreiendes a priori. Als ein a priori ist es kein festes Fundament, keine klar identifizierbare Ursache oder ein wie auch immer ausgearbeitetes „erstes Prinzip“. Es ist eher wie eine nagende, unausweichliche Vermutung, die schwer zu verneinen ist, trotz vieler postmodernistischer Neigungen, dies zu tun. Ein befreiendes a priori mag wie eine Rückkehr zu einer modernistischen, diskreditierten Welt der ersten Prinzipien, ersten Dinge, der nichtkonstruierten Essenzen und all dem Rest erscheinen; aber genau genommen geht es einfach darum, die Weise zu benennen, wie das Verlangen nach und der Antrieb zu völliger, struktureller Freiheit die tiefen Orte unseres Denkens, unseres Handelns und unseres Lebens heimsuchen. Es ist wie ein Gespenst, um eine der Vorstellungen Derridas aufzunehmen,23 das sich von Zeit zu Zeit zeigt, wie z. B. als Foucault etwas zusammenhanglos unter dem Druck des Fragens eines Gesprächspartners insistierte: „Die Garantie für Freiheit ist Freiheit.“24 Dem befreienden a priori kann natürlich ein bisschen mehr Struktur als Foucaults Mitteilung gegeben werden, ohne dabei den postmodernen Respekt vor Fluss und Vielfalt zu verlieren. Vielleicht optierte Hopenhayn für ein etwas zu formalisiertes a priori, als er „eine emanzipatorische Dynamik“ postulierte, „die unter den Ereignissen verläuft oder die das Handeln der Menschheit leitet“, aber selbst diese Sprache ist nicht das Ergebnis eines einfachen modernistischen Denkens, das nach einer festen Basis für eine Großerzählung der Befreiung sucht. Nein, für Hopenhayn war es mehr eine Art der Zufluchtssuche unter Druck, ein Voraussetzen, das auf bestimmten praktischen Anfragen basierte, die von den in einer Krise steckenden lateinamerikanischen Ökonomien aufgeworfen wurden – und die alle notwendig erschienen, falls überhaupt Fragen in Bezug auf Entfremdung und Marginalisierung und andere Leiden aufrechterhalten oder gar erst gestellt werden sollten.25 Kurz gesagt, im Hinblick auf seine politischen Auswirkungen besteht die Aporie des Postmodernismus aus einer akuten Spannung: Auf der einen Seite kann postmodernistischer Diskurs (seine Theorien und Praktiken) die vor22 23 24 25
Scheper-Hughes, Death without Weeping, 495. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a. M. 1996. Michel Foucault, Space, Knowledge and Power, in: The Foucault Reader, hg. v. Paul Rabinow, übers. v. Christian Hubert, New York 1984, 245. Hopenhayn, Postmodernism and Neoliberalism in Latin America, 99.
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herrschenden Hierarchien westlicher Strukturen (die großen modernistischen Metaerzählungen) effektiv aus dem Gleichgewicht bringen; auf der anderen Seite kann er leicht zu einem weiteren Verstärker von Herrschaft werden, insbesondere im Kontext jüngster neoliberaler Formen transnationaler kapitalistischer Hegemonie (die aktuelle Metaerzählung der heutigen „Globalisierung“). Was den Postmodernismus vor seiner negativeren Funktion bewahren und ihn so besser durch seine Aporie führen kann, ist ein Respekt vor einem befreienden a priori, und zwar in der Form, dass der heimsuchenden, gespenstischen Präsenz des menschlichen Bedürfnisses nach Befreiung Aufmerksamkeit geschenkt und ihm eine theoretische Form gegeben wird.
Die Subalternen: Postmodernistischer Ausdruck eines befreienden a priori Im Zusammenhang mit der Aporie der Politik des Postmodernismus, in der wir dazu veranlasst werden, ein befreiendes a priori anzuerkennen, können wir zur Vorstellung der Subalternen zurückkehren und ihren Wert besser verstehen. Subaltern ist ein wertvoller Begriff für zeitgenössische Analysten, die Fürsprache zur eigenen Unterstützung und für andere, die unter Unterdrückung leiden, erreichen wollen. Der Begriff wird auch tiefere Reflexionen über die Probleme der Fürsprache und Solidarität ermöglichen. Schon die linguistische Konstruktion des Begriffs subaltern zeugt davon, wie er kritisch in die Welt des postmodernistischen Diskurses eingreifen kann und wie er selbst ein Teil dieser Welt ist. Zweifellos signalisiert der Begriff durch sein linguistisches Hauptelement „-altern“ (aus dem Lateinischen alter, „das andere“) ein Interesse am Anderssein (Differenz, Vielfalt, Verschiebung in einem Fluss von Bedeutung und Verortung). Nichtsdestoweniger vertieft und orientiert sein Präfix „sub-“ seine Interessen an Alterität hin zu Erfahrungen der Unter-Ordnung. Die Subalternen zu untersuchen bedeutet, die untergeordneten anderen zu untersuchen, gewöhnlich die anderen, die wegen ihres Andersseins untergeordnet worden sind, oder deren Anderssein ein praktischer stigmatisierender Mechanismus für die Organisation ihrer Unterordnung gewesen ist. Die Vorstellung der Subalternen zu nutzen heißt, das Interesse des postmodernen Milieus am Anderssein aufzunehmen und zu bekräftigen. Noch wichtiger jedoch, drückt dies auch eine Anerkennung eines befreienden a priori aus, das sich weigert, Unterordnung einfach nur als eine weitere Form des Andersseins zu sehen. Der Begriff betrifft dann sowohl „Hybridität“ als dem komplexen Verbinden von Formen in Prozessen des Othering, während er einen binären Charakter in seinem Bezug auf untergeordnete Völker, die von elitären Strukturen beherrscht werden (und von denen sie Befreiung suchen), beibehält.26 26
John Beverley widmet der Frage, ob subalterne Identitäten binär oder hybrid sind, ein ganzes Kapitel. Siehe John Beverley, Subalternity and Representation. Arguments in
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Ein Begriff, der das befreiende a priori mit einem Interesse an Alterität verbindet, hat zwei Vorteile für Theologen und andere Wissenschaftler, die sich um eine Rhetorik des Widerstandes und der Solidarität mit marginalisierten Gruppen und Völkern bemühen. Angesichts dessen, was ich schon über die Aporie postmoderner Politik diskutiert habe, werden diese funktionalen Vorteile nicht überraschen. Ich muss sie aber noch deutlicher zum Ausdruck bringen. Erstens gibt es den Vorteil der Entlarvung. Indem einige in einem Meer der anderen explizit als untergeordnete andere bezeichnet werden, indem einige Dimensionen der Alterität als Subalterität identifiziert werden, reißen wir den postmodernen Karnevalsbesuchern, die nicht nur spielen, sondern Spiel fetischisieren, die Maske ab, d. h. denen, die jedes Merkmal ihrer Welt als im Grunde äquivalent feiern, als einfach ein faszinierendes Spiel verschiedener Entitäten. Dies ist ein Weg, dem zu widerstehen, was der Medizinanthropologe Paul Farmer die Tendenz vieler Wissenschaftler heute genannt hat, „strukturelle Gewalt und kulturelle Differenz zusammenzufassen“.27 Das Vorhandensein der Subalternen zu benennen, zu identifizieren und zu respektieren hat den Vorteil, die Ideologie des postmodernen Milieus zu entlarven, das es vorziehen würde, nicht über diejenigen nachzudenken, deren Arbeit ihr „Spiel“ erst möglich macht. Es entlarvt die Tatsache, dass viel von dem postmodernen Spiel der Erste-Welt-Wissenschaftler im trilateralen Norden (Europa/Nordamerika/Nordasien)28 in akademischen Strukturen stattfindet, die an der Dynamik der Unterordnung, die das Leiden und Trauma derer „im Süden“ verursacht, beteiligt und von dieser abhängig sind.29 Paradigmatisch für diese Entlarvung ist wiederum, wie Scheper-Hughes die Maske der Karnevalsbesucher in Brasilien hebt und darunter hauptsächlich Männer und Jungen findet, wodurch dann die Türen aufgestoßen werden, durch die sich die armen Frauen zeigen, die zurückgelassen werden, um sich um kranke Kinder in der Karnevalszeit zu kümmern. Für Wissenschaftler, die versuchen, der zu erforschenden Welt Beachtung zu schenken, ist es von Vorteil, einen Begriff zu haben, der präzise diesen Unterschied innerhalb der Alterität markiert, die Differenz derer, die untergeordnete andere, die Subalternen, sind. Man sollte aber feststellen, dass dies nicht einfach die Entlarvung von Opfern und Leidenden mit sich bringt. Das ist zwar tatsächlich so, aber einer der Vorteile des Begriffs subaltern ist, dass er nicht nur Leiden, sondern auch Widerstand beinhaltet. Die Untergeordneten kämpfen auf unterschiedliche Arten gegen die Unterordnung. Darin enthüllen sie die befreiende Energie, ein Bemühen, sich zu befreien, selbst wenn es nur darum geht, etwas Raum zum Atmen zu gewinnen, eine Form des Überlebens unter ungünstigen Bedingungen. Wenn die untergeordneten ande-
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Cultural Theory, Durham 1999, 87-113. Paul Farmer, Infections and Inequalities. The Modern Plagues, überarbeitete Ausgabe, Berkeley 2000, 7, 82, 85, 95. Mark C. Taylor, The Postmodern Era in the Trilateral North, Part 1: The Distinguished University Lectures, Ewha Woman’s University, Seoul, Korea, May 24, 1992. Beverley, Subalternity and Representation, 14, 34, 71.
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ren im Meer der Alterität zum Vorschein kommen, dann ist das, was wir sehen, die anderen, die ausgebeutet werden, die aber auch in irgendeiner befreienden Form Widerstand leisten. Der zweite Vorteil bei der Verwendung der Idee der Subalternen ist, was ich den Vorteil der Komplexität nennen möchte, den Befreiungstheologen stärker in ihre Methodologien zum Verständnis der Unterdrückung und in die Analyse der von ihnen in ihren Arbeiten so häufig essentialisierten Armen aufnehmen müssten.30 Die Vorstellung der Subalternen lässt uns in immer neuen Weisen konkret, genau, vielfältig, hybrid, ganz pluralistisch bleiben, wenn wir in Bezug auf Erfahrungen der Unterordnung sprechen und handeln. Wie schon der Begriff subaltern andeutet, muss Unterordnung in Bezug auf Alterität, auf die vielen und anderen unterschiedlichen Formen und Manifestationen gedacht werden. Sicherlich können wir darüber schreiben und theoretisieren, was untergeordnete Völker gemeinsam haben könnten. Aber wir hören sie nicht, sehen sie nicht oder handeln nicht mit ihnen zusammen, wenn wir es versäumen anzuerkennen, dass es viele Arten und Formen von ihnen gibt. Die Subaltern Studies Group hat immer wieder betont, dass sie fest entschlossen ist, in ihren Untersuchungen die Komplexität der Unterdrückung herauszuarbeiten: zum Beispiel wie die gleichen Menschen in einer geografischen Region unterdrückt werden können, in einer anderen aber nicht; wie die gleiche Gruppe mit der Zeit vom Unterdrückten zum Unterdrücker werden kann; wie Unterdrückung nicht nur auf zwei Ebenen (Unterdrücker gegen Unterdrückte), sondern multilateral, auf vielen Ebenen und von vielen Seiten wirksam ist.31 In jüngster Zeit hat John Beverley in The Latin American Subaltern Studies Reader darauf hingewiesen, dass die Subalternen-Forschung von einer „radikalen Heterogenität“ geprägt ist, die Wissenschaftler ständig auf die Komplexität der Differenz eingestellt bleiben lässt.32 Zu diesen Komplexitäten können wir noch andere hinzufügen und uns selbst so immer wieder an die von Menschen wimmelnden und vielfältigen Welten der Alterität erinnern, die unter subalternen Völkern und ihren Identitäten eine Rolle spielen. Einige dieser zusätzlichen Komplexitäten sind offensichtlich, aber sie sind nicht immer von denen beachtet worden, die behaupten, dass sie über die Unterdrückten nachdenken oder ihnen zuhören. Diese Komplexitäten sind in Erinnerung zu rufen: (a) dass unterdrückte Völker durch unterschiedliche Arten kollektiver Identitäten charakterisiert sind, als Frauen, Arbeiter, ethnische Gruppen, kulturelle Traditionen, religiöse Gruppierungen und Bewegungen; (b) dass ebendiese Vorstellung der Unterdrückung in vielfältiger Weise mit anderen Vorstellungen verbunden ist, die 30
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Für zwei Kritiken des problematischen Bezugs auf die Armen in lateinamerikanischer Befreiungstheologie siehe Elina Vuola, The Limits of Liberation. The Theology and Ethics of Reproduction, London 2002; und Arthur C. McGovern, Liberation Theology and Its Critics. Toward an Assessment, Maryknoll 1993, 227-233. Ranajit Guha (Hg.), Subaltern Studies, Vol. 1: Writings on South Asian History and Society, Delhi 1984, 8. John Beverley, The Im/possibility of Politics. Subalternity, Modernity, Hegemony, in: The Latin American Subaltern Studies Reader, hg. v. Ileana Rodriguez, Durham 2001, 55.
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eine umfassende theoretische Ausarbeitung erfordern, wie z. B. Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Repression u. s. w.; (c) dass unterdrückte Völker auch ihre individuellen Geschichten haben, mit charakteristischen psychologischen Tiefen, Aufruhr und Einsicht, die sich entlang von Lebensgeschichten entwickeln, die nicht immer die von anderen in derselben Gruppierung widerspiegeln; (d) dass unterdrückte Völker nicht die einzigen anderen sind, sondern dass auch die Unterdrücker andere sind, die in all ihrer Spezifität sichtbar gemacht werden müssen (Scherzrituale bei den Apachen z. B. haben eine neue, reichere und vollständigere Kenntnis des „weißen männlichen“ anderen in Nordamerika hervorgebracht), und (e) dass unterdrückte Völker nicht nur unterschiedliche räumliche Identitäten (kulturelle, nationale, soziale, sexuelle etc.), sondern auch unterschiedliche temporale Identitäten aufweisen, die dadurch produziert werden, dass sie historischem Wandel ausgesetzt sind, und welche oft die Essentialisierungen von Kultur, Nation, Gesellschaft und sexueller Identität untergraben. Die zwei vorteilhaften Strategien, die von dem Einsatz der Vorstellung der Subalternen ausgehen (Entlarvung ludischer Sichtweisen auf Anderssein und Aufgreifen der Komplexitäten), ermöglichen uns eine Rhetorik, die notwendig ist, um ein befreiendes a priori in theoretischen Analysen der Armen in postmodernen Kontexten zum Ausdruck zu bringen. Doch auch dies ist noch nicht ausreichend. Befreiungstheologen, aber auch alle anderen Theologen, die beabsichtigen, in Solidarität mit den Marginalisierten zu denken und zu handeln, müssen auch dem Problem der subalternen Sprachlosigkeit gegenübertreten.
Das Problem der subalternen Sprachlosigkeit Mit diesem Problem kommen wir zum Kern von Gayatri Spivaks Anliegen in ihrem Essay „Can the Subaltern Speak?“. Wenn Spivak sich auf die Subalternen bezieht, bezieht sie sich, wie oben notiert, auf jene, die sie als „städtische sub-proletarische Frauen“ bezeichnet, die durch sich gegenseitig beeinflussende Kräfte des internationalen Kapitals, Sexismus und Rassismus ausgebeutet werden, die oft in städtischen Gegenden, insbesondere in den Fabriken vieler Exportzonen überall in Asien, Lateinamerika und der Karibik und in ländlichen Gebieten zu finden sind. Exemplarisch für die Subalternen, über die Spivak schreibt, sind auch diejenigen, über die James Cockcroft in Mexico’s Hope schreibt: „die super-ausgebeuteten“ Frauen Mexikos, Asiens und Zentralamerikas, die gezwungen sind, in den Städten zu leben und in den maquiladoras [Montagebetriebe, d. Ü.] zu arbeiten.33 Die Hürden für das Sprechen von solchen Frauen sind nicht einfach die physische Lebensmüdigkeit durch Armut und Überarbeitung, wie real diese Hindernisse in Bezug auf Sprache, Denken und Handeln auch sein mögen. 33
James Cockcroft, Mexico’s Hope. An Encounter with Politics and History, New York 1998, 368-369.
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Auch ist es nicht so, dass subalternen Frauen die Ressourcen, der Wille oder die Artikulations- und Handlungsfähigkeit fehlen, um sich Gehör zu verschaffen. Ganz im Gegenteil, ihre Sprech- und Handlungsfähigkeit sind sehr wohl mit im Spiel, wie sich dies an den Arbeiterinnenbewegungen und Widerstandsaktionen überall auf der Welt zeigt, und zwar gerade in den Fabrikwelten, in denen ihr Leiden am akutesten zu sein scheint.34 Das Problem ist oft, dass trotz der eindrucksvollen Artikulation ihrer Stimme und ihres Schmiedens von Widerstand die Meinungen der subalternen Frau verunglimpft werden und, eben weil sie die ihren sind, als „arm“ und somit als „unprofessionell“, „einfältig“ angesehen werden. Das Problem so zu charakterisieren ist jedoch zu einfach. Es hat noch eine subtilere Form. Ich meine damit eine vielleicht noch wirksamere Dynamik, die eine noch größere Unterdrückung der subalternen Stimmen bewirkt als die direkteren Formen des physischen Zwangs und der verbalen Herabsetzung. Ich beziehe mich darauf, wie die Sprachlosigkeit der Subalternen durch die angeblich wohlmeinenden und wohlwollenden Erste-Welt-Intellektuellen verstärkt, sogar geschaffen und geformt wird, die die Bedürfnisse von Gruppen, wie z. B. der sogenannten „armen Frauen“, „armen DritteWelt-Frauen“ oder auch der „subalternen Frauen“, konstruieren und auf diese aufmerksam machen. Es ist immer wieder das Programm des wohlwollenden westlichen Intellektuellen gewesen, Menschen aus der Dritten Welt zu identifizieren und diese dann als andere zu assimilieren, ihnen einen Ort zuzuweisen und dabei zu glauben, damit ein gutes Werk zu tun. Dieses Wohlwollen kann genau genommen als eine Schlüsseldynamik des Imperialismus gesehen werden.35 Die Selbstbilder von Imperialisten sind häufig mit einer Sicht ihrer kolonisierenden Gesellschaften verbunden, die davon ausgeht, die gute Gesellschaft aufzubauen. Wie Spivak in Bezug auf subalterne Frauen betont, haben Kolonisten oft von der Notwendigkeit gesprochen, für die Bedürfnisse der Frauen einzutreten, um sie inmitten ihres akuten Leidens zu schützen. Unglücklicherweise hieß dies bei den rassistischen und sexistischen Haltungen der westlichen Kolonialkulturen nicht, die Frauen vor der Ausbeutung durch westliche Konzerne als Ressourcen billiger Arbeitskraft zu schützen. Es bedeutete normalerweise, die „Frau“ vor vorgestellten Gefahren vonseiten ihrer eigenen Leute zu beschützen. Wie Spivak schreibt, dachten westliche Imperialisten, und unter ihnen standen auch Intellektuelle im Vordergrund, normalerweise in Begriffen von „weißen Männern [und manchmal weißen Frauen], die braune Frauen vor braunen Männern retten“.36 Selbst dies ist jedoch ein zu offensichtliches Beispiel dafür, wie imperialistische Logik in elitären Diskursen und Praktiken fortbestehen kann und folglich subalterne Völker sprachlos macht. In dem schieren Akt, auf diese Gruppen hinzuweisen, hier auf die Subalternen, haben wir uns an einer Akti34
35 36
Cockcroft, Mexico’s Hope, 282-283, 318; Cynthia Enloe, Bananas, Beaches, and Bases. Making Feminist Sense of International Politics, Berkeley 1990; vgl. Annette Fuentes / Barbara Ehrenreich, Women in the Global Factory, Boston 1991. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 298-299. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 297.
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vität beteiligt, die problematisch ist. Das Problem der subalternen Sprachlosigkeit fängt an, sich mit dieser Konstruktion zu entwickeln, da wir genau dadurch eine Art von Kontrolle ausgeübt haben. Wie radikal und emanzipatorisch unsere Absichten auch sein mögen, diese Kontrollausübung kann berechtigte Fürsprecher zu Teilnehmenden an dem schon lange bestehenden Privileg westlicher Kontrollpraktiken machen, die sich im Imperialismus und vielfältigen Formen der Herrschaft zeigen. So wird eine Form der Objektifizierung (hier der Armen oder Subalternen) auf den Weg gebracht, die, wie Farmer in der sozialwissenschaftlichen Literatur argumentiert hat, oftmals ein erster Schritt in die strukturelle Gewalt ist, die den Armen auferlegt wird.37 Mir geht es hier nicht um eine leicht abweisbare Übersensibilität einer ‚political correctness‘. Unser Wunsch, die Anliegen subalterner Völker zu repräsentieren – im doppelten Sinn des ‚Repräsentierens‘ als dem Vorbringen von Worten über und Worten für und im Namen von –, wird leicht zu einem Teil des Gesamtprozesses, den Beverley aufgedeckt hat, womit „Literatur und die Universität zu den Praktiken gehören, die Subalternität erzeugen und aufrechterhalten“.38 Beverley denkt dabei an die Art und Weise, in der gerade die Entwicklung von Wissensgilden, die Finanzierung von Bildungszentren mit strengen Zulassungskriterien und dem sorgfältigen Lehren disziplinierter Diskussion in den Universitäten eine Tendenz zur Ausgrenzung haben. (Wenn man bedenkt, welche Rolle systemische Verzerrungen durch Klasse, Rasse und Gender dabei oftmals spielen, „Literatur und die Universität“ zu schaffen, ist Beverleys Sorge umso berechtigter). Beverleys Behauptung macht die besonders verzwickte Lage des berechtigten Fürsprechers noch akuter. Wer in irgendeiner Form die Anliegen und Identitäten der Subalternen repräsentieren wollte, wird „selbst-widersprüchlich“39 und spinnt einen Diskurs, der genau das Problem fortbestehen lässt, welches beklagt wird. Wir verfangen uns umso mehr in Selbstwidersprüchen, wenn wir behaupten, uns selbst zurücknehmen zu können und die anderen durch uns sprechen zu lassen. Dieses „gefährliche[re] Wohlwollen“, um mit Spivaks Vorstellung fortzufahren, taucht besonders dann auf, wenn wir vorgeben, abwesend zu sein und unterdrückten anderen zu erlauben, „für sich selbst zu sprechen“. Wir können in der Tat ihre Schriften oder ihre wiedergegebenen Äußerungen zitieren, ihre Erzählungen (oral und schriftlich) aufzeichnen und reproduzieren, aber damit erzeugen wir immer noch keinen Diskurs, der frei 37
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Zu dem „dreifachen Fluch“, der den mittellosen Armen durch wissenschaftliche Forschung oftmals widerfährt und der mit „Objektifizierung“ beginnt, bevor er zur „institutionalisierten Machtlosigkeit“ wird und schließlich zur „Schuld an ihrer eigenen Situation“, siehe Farmer, Infections and Inequalities, 84. Beverley, Subalternity and Representation, 71. Über sein gesamtes Buch schreibt Beverley: „Ich habe dieses Buch mit der Frage nach der Beziehung der Subalternen zur Universität als einem Wissenszentrum begonnen, weil ich glaubte, dass es bei dem Projekt der Subalternen-Forschung nicht nur um Repräsentation der Subalternen ging (wieder im doppelten Sinn des ‚Sprechens über‘ und des ‚Sprechens für‘), sondern um das Verstehen, wie unsere eigene Arbeit in der Akademie aktiv dazu dient, Subalternität herzustellen oder zunichte zu machen.“ (166, Kursivdruck durch den Autor). Beverley, Subalternity and Representation, 30.
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von unseren eigenen persönlichen und kulturellen Konstruktionen wäre. Kurz gesagt, es ist für Mitglieder, die in einem Ethos der Legitimation arbeiten, ein ziemlich unmögliches Unterfangen, sich selbst auszuradieren. Die Bezeichnungen arm und subaltern sind konstruktive Aktivitäten legitimierter Wissenschaftler, die diese mit Kontrollaktivitäten in Verbindung bringen, die großzügig mit Verweisen auf „sie“ oder „ihren“ Kampf, „ihre“ Befreiung ausgestattet sind. So kommt es, dass der wohlwollende Intellektuelle, selbst wenn er als Kritiker schreibend Befreiung fordert, in einer Klemme steckt: Wie ist es möglich, die Stimme und Sprache der Subalternen zu hören und anzuerkennen, ohne sich an der Ausübung von Kontrolle zu beteiligen, die ihre Sprachlosigkeit verstärkt?
Auf der Suche nach Formen authentischer Fürsprache Es gibt keine einfachen Lösungen für das Problem der subalternen Sprachlosigkeit. Obwohl Beverley die Subalternen-Forschung mit dem „den Armen zuhören“ der Befreiungstheologie verglichen hat, werden sowohl er als auch diese Theologie von dieser Schwierigkeit herausgefordert. Der Wille, die Armen zu hören, „der kleinen Stimme der Geschichte zuzuhören“, um es in Ranajit Guhas Worten auszudrücken, bringt eine Art von Krise mit sich, und Beverleys dickes Buch Subalternity and Representation ist ein eloquentes und sorgfältiges Zeugnis dieser Krise für den Wissenschaftler – ob nun Theologe, Historiker oder Literaturtheoretiker. Es gibt hier eine Krise im doppelten Sinn. Erstens wird der Wissenschaftler, der sich an solchen Untersuchungen und solchem Zuhören beteiligt, konfrontiert mit seiner oder ihrer eigenen Beteiligung daran, dieses Hören zu verhindern. Zweitens gibt es eine Krise dahingehend, dass man nicht weiß, wie man angesichts der Vielschichtigkeiten der von Spivak und anderen analysierten Mittäterschaft überhaupt mit irgendeiner Art von Zuhören, Untersuchung und Fürsprache weitermachen kann. Genau genommen gibt es angesichts dieser zweiten Krisenstimmung eine Neigung, einer Fürsprache aus dem Weg zu gehen, wie auch dem Anschein, überhaupt hören und „repräsentieren“ zu können. In der Tat gibt es in der akademischen Welt, zusätzlich zu dem üblichen Elitismus und der eklatanten Unempfindlichkeit gegenüber Welten außerhalb der akademischen, eine Art von kultiviertem Bewusstsein von der Komplexität, wenn über die Welten der Armen gesprochen wird oder diese unterstützt werden, was viele davon abhält, dies überhaupt zu versuchen. Ich möchte trotzdem vorschlagen, dass es einen Weg nach vorn gibt, einen Weg, der nicht alle Probleme löst, aber den man gehen kann und der eine Möglichkeit sein könnte, die Beziehung der Theologie zur Politik des Hörens und der Fürsprache in Bezug auf die Welten der Subalternen neu zu verstehen. Mit dieser Möglichkeit wird dann die Krise auch Elemente des Kairos enthalten.
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Ich werde hier vier Formen authentischer Fürsprache zur Diskussion stellen, die notwendig scheinen, wenn ein Weg durch die Krise hin zu einer Chance möglich sein soll. Mit „authentisch“ meine ich eine Form der Fürsprache, die so weit wie möglich die im vorangegangen Abschnitt dargelegten Probleme der subalternen Sprachlosigkeit vermeidet. Jede der folgenden vier Formen der Fürsprache ist notwendig und wichtig. Sie bauen aufeinander auf, wobei die früheren Formen die späteren ermöglichen. Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass es äußerst wichtig ist, das Problem, vor das wir gestellt sind, schlicht anzuerkennen, nämlich dass jeder von uns, wenn wir die Subalternen als berechtigte Fürsprecher repräsentieren, um über sie oder für sie zu sprechen, sich auf den Weg des Selbstwiderspruchs begibt. In einer Art der via negativa des Wissenschaftlers müssen wir zugeben, dass wir Kontrolle über und Objektifizierung der Subalternen riskieren, die bewirkt, dass diese auch in unseren Versuchen, sie zu repräsentieren, nicht repräsentiert oder unterrepräsentiert werden. Wir können niemals der Tatsache ausweichen, wie dies Beverley so gut ausgedrückt hat, dass „akademisches Wissen eine Praxis ist, die aktiv Subalternität produziert (es produziert Subalternität, wenn es sie repräsentiert)“.40 Dieses Eingeständnis ist umso wichtiger, wenn wir Wissenschaftler sind, die traditionell berechtigte Räume im trilateralen Norden und anderen Machtzentren einnehmen, während wir versuchen, die Dritte Welt, die Armen oder andere Gruppen, wo ähnliche Machtunterschiede am Werk sind, zu untersuchen und Aussagen über diese zu machen. Ohne dieses Eingeständnis als einem wichtigen ersten Schritt sehe ich keinen Weg, uns angesichts der Kritik und Herausforderung, vor die Spivak uns stellt, voran zu bewegen. Wir männlichen Wissenschaftler, um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nehmen, insbesondere wenn wir über oder für Frauenbewegungen und Befreiung sprechen wollen, müssen anerkennen, dass es schwierig ist, frei von den patriarchalen Strukturen zu denken und handeln, die in den von Gender bestimmten politischen Räumen wirksam sind, innerhalb derer wir berechtigt sind. Selbst wenn wir durch diese Schwierigkeit irgendwie hindurchgehen, riskieren wir immer noch, unseren Gegenstand sprachlos zu machen, egal wie vehement unsere Ansprüche auf Solidarität mit Frauen als Akteurinnen ihrer Befreiung auch sein mögen. Mit dieser ersten Form von Fürsprache – und ich glaube, sie sollte als solche gesehen werden und nicht nur als ein Problem für die Fürsprache – beginnt der Weg der Fürsprache in Ungewissheit. Er ist von einem Bewusstsein des Selbstwiderspruchs durchdrungen, einer Neigung zu einer via negativa. Ein Sprechen über Solidarität mit den Subalternen ist schwer aufrechtzuerhalten, da dieser Begriff oftmals eine zu zuversichtliche Kenntnis des anderen, eine zu hochtrabende Identifizierung mit ihrer Not und eine zu anmaßende Verbindung zu einem mit ihnen geteilten Kampf andeutet. Es kann sein, wie dies die Anthropologin Diane Nelson vorschlägt, dass wir unsere Beziehung zu den Subalternen, besonders über kulturelle Grenzen hinweg, als eine Beziehung der „fluidarity“ denken sollten, in der es nur wenig gibt, das fest ist. Unsere Identitäten sind „verblüffte Identitäten – offen, durch40
Beverley, Subalternity and Representation, 2 (Betonung im Original).
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einander und politisch“.41 Eine der wichtigsten Grenzen, der wir hier begegnen, ist die zwischen Wissen und Nicht-Wissen, selbst darüber, über wen, wie oder ob wir überhaupt über und für subalterne Völker sprechen können. Zweitens, wenn sich Sprache und Wissenschaft einer authentischen Fürsprache inmitten subalterner Sprachlosigkeit annähern sollen, müssen wir, wenn wir nach Möglichkeiten suchen, über die Subalternen überall zu sprechen, uns auch in Opposition zu der Ausbeutung der Untergeordneten an unseren eigenen akademischen und sozialen Standorten begeben. Unsere Sprache und unser partizipatorisches Handeln mit und für subalterne Völker muss sich in einer Praxis des Widerstandes ausdrücken, dort, wo wir sind – in unseren Institutionen, in Bezug auf die Körperschaften in unseren Städten, in der Zusammenarbeit mit unterdrückten Gruppen in unseren Nachbarschaften, persönlichen Beziehungen, Schulen und Familien. Mit dieser Form authentischer Fürsprache wird die Notwendigkeit lokalen Widerstands vorrangig. Ich riskiere hier, dessen bin ich mir bewusst, einen abgedroschenen Moralismus zu formulieren, so etwas wie: „Praktiziere selbst zu Hause, was du für oder über andere woanders predigst.“ Vielleicht sind es sein abgedroschener Charakter und das ihn oft begleitende anklagende Verhalten, die diesen als eine moralistische Übung erscheinen lassen, die es zu vermeiden gilt. Ich denke aber, dass dies immer noch und immer wieder neu gesagt werden muss. Es fehlt etwas, wenn wir US-amerikanischen Wissenschaftler z. B. die Arbeit von Amnesty International für politische Gefangene in der Türkei unterstützen, ohne uns auf die Probleme politischer Gefangener in den Vereinigten Staaten zu konzentrieren und an diesen zu arbeiten.42 Es ist mehr als nur ein Versehen, wenn wir als US-amerikanische Theologen die Unterdrückung der Armen in Lateinamerika beklagen, ohne uns auf die vielen zu konzentrieren, die in den Vereinigten Staaten in Armut leben und die die größte Gruppe der unter Armut Leidenden in den entwickelten, industrialisierten Nationen ausmachen.43 Es ist unbefriedigend, wenn wir über die Unterdrückung in den Afghanistans, den Sudans, den Kolumbiens dieser Welt sprechen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, wie ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Polizeibrutalität und das Wachsen einer Gefängnisindustrie als eine systemische Unterdrückung der Menschenrechte Bürger in den Vereinigten Staaten betreffen.44 Es ist mehr als einfach nur widersprüchlich, wenn wir männliche Wissenschaftler uns eloquent über Frauenbewegungen und für mehr Freiheiten im Ausland oder im Allgemeinen äußern, ohne mit ganzer Kraft für die Anstrengungen von Frauen in unseren Instituten und Fakultäten für die Einführung von Praktiken einzutreten, die solche Freiheiten unterstützen. 41
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Zur Entwicklung dieser Vorstellung von fluidarity in Bezug auf „Gringa Positionierung“ und „verletzliche Körper“ in Zentralamerika siehe Diane M. Nelson, A Finger in the Wound. Body Politics in Quincentennial Guatemala, Berkeley 1999, 4173, 367. Zu US-amerikanischen politischen Gefangenen siehe Ward Churchill / J. J. Vander Wall, Cages of Steel. The Politics of Imprisonment in the United States, Washington 1992. Richard Jolly, The Human Development Report 1998, New York 1998, 2. Amnesty International, United States of America. Rights for All, London 1998.
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Das Aufnehmen solcher lokaler Fürsprachen ist mehr als nur der Versuch, der Maxime einer linken Kultur zu gehorchen, dass es wichtig sei, „lokal zu handeln und global zu handeln“. Wichtiger noch: Fürsprache für subalterne Völker nur im Allgemeinen oder nur im Ausland verschärft das Problem der Objektifizierung, das die Subalternen sprachlos macht. Sie macht den untergeordneten anderen zu einem fernen Objekt, exotisch und von der Welt des Wissenschaftlers meist weit entfernt. Die Folge ist, dass Wissenschaftler weitgehend vor Kritik der Subalternen geschützt werden und so keine Chance haben, ein wechselseitiges Spiel von Kritik und Gegenkritik zu entwickeln, das mit lokalem Engagement einhergeht. Es mag in Ordnung sein, die fernen Subalternen zu untersuchen, aber ohne die lokalen Subalternen einzubeziehen, wird jede Fürsprache leicht zu einer Art des zum Schweigen Bringens und der Assimilation. Die dritte Form authentischer Fürsprache ist etwas schwierig auszudrücken, aber auch sie ist unverzichtbar. Wenn berechtigte Fürsprecher für subalterne Völker vermeiden wollen, die „gefährlichen, wohlwollenden Intellektuellen“ zu sein, dann müssen sie wissen, dass ihre eigene Freiheit und Ganzheit auf dem Spiel steht und nicht nur die irgendeines diskriminierten subalternen Anderen. Wir in den Akademien des trilateralen Nordens oder in anderen Machtzentren, die wir für Aktionen und Theorien für und über subalterne Völker eintreten, wagen es nicht, uns für eine gebildetere Art von befreienden Philanthropen zu halten, die gute Argumente, Daten und Ressourcen für die Entwicklung oder Solidarität mit den Unterdrückten mitbringen. Solch eine Haltung setzt voraus, dass wir die guten Träger schöner Geschenke sind. Dies ist jedoch eine Lüge. Wir, in unseren Welten der Ermächtigung, und dies wissen subalterne Völker oft nur zu gut, sind etwas anderes: gebrochene und unsichere Menschen, die beständig und oft aus Angst und Vorurteil unsere Identitäten und unsere Macht brutal aufrechterhalten, und zwar häufig auf dem Rücken der Arbeit der Armen oder auf der Basis tief verwurzelter Stereotypen von ethnisch stigmatisierten anderen, was wiederum unser eigenes übertriebenes Selbstgefühl und unsere Gruppenprivilegien verstärkt.45 Der Prozess der Objektifizierung der Armen, der ein wesentlicher Aspekt der subalternen Sprachlosigkeit ist, muss durch die Eingeständnisse der berechtigten Fürsprecher unterbrochen werden, dass ihre Untersuchungen über die subalternen Anderen ein Teil ihres eigenen Strebens nach Freiheit und Wohlergehen sind. Noch einmal, dies ist insofern eine erstrebenswerte Unterbrechung, als sie verhindert, dass die Subalternen als Objekt isoliert werden, als Objekt des Leidens, das Befreiung braucht, während der Forscher der Subalternen an einem Ort der Ermächtigung frei von Leid und frei von der potentiellen Möglichkeit ist, als Leidender objektifiziert zu werden. Mit diesem Eingeständnis wird der Mythos der Ermächtigung wenigstens eingeschränkt, wenn nicht glattweg aufgehoben. Jeder Fürsprecher für die Kämpfe 45
Zur Diskussion, wie die Kräfte und Identitäten berechtigter Personen häufig diesen Charakter haben und ihre Kraft aus der Herrschaft über die Armen ziehen, siehe das Kapitel über weiße Vorherrschaft in: Derrick Bell, Faces at the Bottom of the Well. The Permanence of Racism, New York 1992; und Hardt / Negri, Empire.
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subalterner Völker, der die Befreiung des subalternen Sprechens unterstützen möchte, tut gut daran, einen Sinn für den Kampf und die Hoffung für sich selbst zu haben sowie auch für die Unterdrückten, die Armen, die Subalternen. Daher hat Gustavo Gutiérrez einmal versucht, den Hang von Teilen des nordamerikanischen Publikums, über ihre „Solidarität mit den Armen“ zu sprechen, dadurch zu unterbrechen, dass er sagte, er wolle nicht, dass Nordamerikaner mit den lateinamerikanischen Armen arbeiten, wenn sie an diesem Kampf nicht auch irgendwie für sich selbst beteiligt seien.46 Damit will ich nicht behaupten, dass es eine Art von Vergleichbarkeit oder sogar eine Gleichheit des Leidens zwischen der Welt der berechtigten Fürsprecher und der Welt der subalternen Völker gäbe. Ganz und gar nicht. Es bedeutet jedoch, dass genug Verbindungen zwischen diesen Welten existieren, sodass eine Untersuchung der Dynamik des subalternen Leidens für beide Seiten nützliches Wissen und Handeln provozieren kann. Diese Möglichkeit zu bekräftigen und darauf hinzuarbeiten, stellt eine andere Form authentischer Fürsprache inmitten des Problems der subalternen Sprachlosigkeit dar. Die vierte und letzte Form authentischer Fürsprache mag vielleicht noch schwieriger zu artikulieren sein. Diese ist jedoch insbesondere für eine theologische Fürsprache für subalterne Völker relevant. Außerdem öffnet sie eine mystische Dimension im Kern des politischen Kampfes in Bezug auf subalterne Völker, die Auswirkungen für christliche Befreiungstheologen, andere religiöse Denker und vielleicht auch für säkulare Freunde der Befreiungstheologie in der Subalternen-Forschung hat. Ich betone, dass diese letzte Form sowohl ein Verständnis der vorausgehenden drei Formen authentischer Fürsprache voraussetzt, als auch auf ihnen aufbaut. Was ich in Bezug auf die vierte Form weiter unten diskutiere, wird wenig Sinn machen, ohne die Einsichten der vorangegangenen Formen beleuchtet zu haben. Diese vierte Form authentischer Fürsprache ist ein bereitwilliges Übernehmen einer sehr speziellen Art des „Deliriums“, das die Subalternen-Forschung begleitet. Worin besteht dieses? Wir können das vielleicht so verstehen: Wenn ein berechtigter Fürsprecher nach Praktiken und einem Denken sucht, die sowohl für sie (die Subalternen) als auch für sie/ihn selbst (den/die berechtigte/n FürsprecherIn) von Bedeutung sind, wie ich dies zuvor in der Diskussion der dritten Form authentischer Fürsprache vorgeschlagen habe, dann ist die Stimme des untergeordneten Anderen in gewisser Weise nicht länger nur außerhalb des Fürsprechers. Dieser Andere ist sowohl in uns als auch außerhalb von uns. Wenn ein Fürsprecher diese Erfahrung macht, dann kommt es zu einer Art von Stimmenverdoppelung. In dieser Verdoppelung spricht die Stimme der Subalternen weder ein leicht verstandenes noch ein angenehmes Wort. Es wird oft ein verwirrendes Wort sein, aber eines, das ertragreich bleibt – ertragreich in dem Sinn, dass die subalterne Stimme im Fürsprecher das Wesen des Fürsprechers zerreißt und neu orientiert. Zumindest wird das Selbst eines berechtigten Fürsprechers komplexer gemacht, seine oder ihre Identität wird 46
Gustavo Gutiérrez, informelle Präsentation bei einer Diskussionsrunde in der American Academy of Religion, Jahresversammlung, The Palmer House, Chicago, 21.11.1989.
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problematisiert. Das Selbst des Fürsprechers hat Regionen entdeckt, die unvertraut, vielleicht unbekannt sind. In dieser Desorientierung und Neuausrichtung gibt es einen Wirbel und Destabilisierung. Ich habe diesen Begriff „Delirium“ von Jacques Derrida übernommen. Er ist hilfreich, den Zustand zu benennen, in dem wir mit verdoppelter Stimme leben und arbeiten. Derrida beschreibt diese Situation als „ein deliriös werden lassen jener inneren Stimme, die die Stimme des Anderen in uns ist“.47 Derrida selbst äußert sich nicht zur Bedeutung dieser Aussage für Wissenschaft in Umgebungen der Berechtigung und Macht, aber die indische Imperialismuskritikerin Spivak argumentiert zu Recht, dass das Anerkennen dieses Deliriums für eine Praxis des Kampfes und der Fürsprache mit subalternen Völkern gegen Kolonialismus und Imperialismus äußert wichtig ist. Es ist ihres Erachtens insofern entscheidend, als so die Gefahr in „wohlwollenden westlichen Intellektuellen“ reduziert werden kann, wie so oft nur ihre eigene Macht und Identität zu verstärken, indem sie die Armen oder die Subalternen als andere konstituieren.48 Diese Verdoppelung der Stimmen kann insbesondere bei subalternen Wissenschaftlern auftreten, da sie trotz all ihres postmodernen Interesses an Andersheit und Hybridität auch in einem Bereich arbeiten, der eine gewisse binäre Struktur bewahrt und von einem Machtkonflikt entlang einer Achse „der Elite“ und „der Untergeordneten“ ausgeht.49 Die Binarität von Elite/Untergeordneten bedeutet, dass „die Stimme des Anderen in uns“, wie Derrida es ausdrückt, nicht einfach die irgendeines anderen ist, sondern die des untergeordneten anderen. Die verdoppelte Stimme innerhalb des berechtigten Fürsprechers für die Subalternen ist dann eine Stimme, die einen Konflikt im Inneren einschreibt. Vielleicht deutet Derridas Begriff, Delirium, ein bisschen zu viel von dem fetischisierten Fluss und Spiel an, das so oft zu einem karnevalistischen Ethos führt, das einem befreienden a priori nur selten Aufmerksamkeit schenkt. Die Art von Delirium, die aus der Erfahrung des subalternen Wissenschaftlers mit der verdoppelten Stimme entsteht, behält jedoch eine gewisse strukturelle Form, die es davor bewahrt, schieres Spiel und Fließen zu sein. Sicherlich rechtfertigt die beunruhigende Natur der verdoppelten Stimme den Begriff Delirium, da Raserei, Durcheinander, Qual, Unordnung und aufgeregter Tumult angedeutet werden. Aber das Delirium des subalternen Wissenschaftlers verliert nicht den Charakter des Hin- und Herpendelns zwischen den Stimmen, zwischen dem Selbst des Fürsprechers und den subalternen Selbst außerhalb des Fürsprechers oder zwischen der Stimme des Fürsprechers im Inneren und der Stimme des Subalternen im Inneren. In beiden Fällen dieses Hin- und Herpendelns gibt es eine gewisse gemusterte und strukturierte Bewegung. Es ist kein fetischisierter Fluss puren Karnevals, weil Subalternen47 48 49
Jacques Derrida, Of An Apocalyptic Tone Recently Adopted in Philosophy, übers. v. John P. Leavy Jr., in: Semia 71, zitiert v. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 294. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 294. Zu dieser strukturellen Frage in der Subalternen-Forschung siehe John Beverley, Hybrid or Binary? On the Category of ‘the People’ in Subaltern and Cultural Studies, in: Beverley, Subalternity and Representation, 85-113.
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Forschung immer einen Sinn für das befreiende a priori behält, das dem subalternen Kampf inmitten von Unterordnung innewohnt. Diese Art von Delirium hat eine Art von Rhythmus, der auf der einen Seite von den Klagen, Forderungen, Weltsichten der Subalternen bestimmt wird, und auf der anderen Seite von den Anliegen, Solidaritäten, wissenschaftlichen Projekten der berechtigten Fürsprecher. Die Bewegung ähnelt vielleicht jener der Stanforder Anthropologin Scheper-Hughes, die das ganze Potential für epistemologischen und ethischen Anspruch in ihrer eigenen Arbeit mit hungernden Frauen im Nordosten von Brasilien sieht, aber dann im Vorwort ihres 600-seitigen Buches folgende Worte schreibt: Daher glaube ich trotz des Spotts von Clifford Geertz (1988) über das anthropologische „I-witnessing“, dass es immer noch Wert hat, zu versuchen, „der Macht die Wahrheit zu sagen“ … Sehen, Zuhören, Berühren, Aufzeichnen können, wenn dies mit Sorgfalt und Sensibilität geschieht, Akte der Geschwisterlichkeit sein, Akte der Solidarität. Vor allem sind sie das Werk der Anerkennung. Nicht hinzusehen, nicht zu berühren, nicht aufzuzeichnen kann der feindselige Akt sein, der Akt der Gleichgültigkeit und des sich Abwendens.50
Vielleicht ist der subalterne Wissenschaftler während dieser Art von Delirium an einer Art Tanz beteiligt, an der Hingabe des eigenen Lebens und Körpers an den kontinuierlichen und sich verändernden Kontrapunkt von Ruf und Antwort – eine Art binärer Twostep entlang einer angenommenen Achse von Elite/Subalternen, der sich auch in einer Myriade von immer komplexeren Räumen und unterschiedlichen Gesten abspielt. Dies, wenn wir eine Analogie suchen, macht eine Art Tanz des sich im Taumel befindenden subalternen Wissenschaftlers aus. Nicht alle Fürsprecher für subalterne Völker sind bereit, die Erfahrungen von Tumult und Abgrund des Sich-selbst-in-Frage-Stellens und des Selbstzweifels zu machen, die in diesem Delirium entstehen. Mein Punkt ist: Wenn berechtigte Fürsprecher nicht in dieses Delirium eintreten und es nicht als einen notwendigen Teil ihrer Repräsentation von und für subalterne Völker aufgreifen, riskieren sie, zu bloßen Wohltätern zu werden, die sich wieder einmal an kolonisierenden und imperialistischen Projekten der Objektifizierung und Assimilation von anderen beteiligen und das Sprechen eben dieser Subalternen, die sie zu hören beanspruchen, dämpfen und behindern. 50
Scheper-Hughes, Death Without Weeping, 28. Auf derselben Seite teilt ScheperHughes weitere Einsichten zu dem in diesem Essay als subalterne Sprachlosigkeit diskutieren Problem mit: „Ich bin dieser postmodernistischen Kritiken überdrüssig, und angesichts der gefährlichen Zeiten, in denen wir und unsere Subjekte leben, bin ich bereit zu einem Kompromiss, der nach der Praxis einer Ethnographie verlangt, die ‚gut genug‘ ist. Der Anthropologe ist ein Instrument kultureller Übersetzung, die notwendigerweise fehlerhaft und voreingenommen ist. Wir können uns ebenso wenig von unserem kulturellem Selbst befreien, das wir mit ins Feld nehmen, wie wir unsere Augen, Ohren und Haut verleugnen können, durch die wir unsere intuitiven Wahrnehmungen der neuen und fremden Welt, in die wir eingetreten sind, aufnehmen. Trotzdem kämpfen wir wie jeder Meisterhandwerker (und ich wage zu sagen, dass wir in Höchstform genau dies sind) darum, das Beste aus den begrenzten Ressourcen zu machen, die uns zur Verfügung stehen – unserer Fähigkeit, aufmerksam, emphatisch und voller Mitgefühl zuzuhören und zu beobachten.“
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Die Desorientierungen und Neuausrichtungen, die durch die verdoppelten Stimmen zustande kommen und die dieses Delirium produzieren, können auch als eine Region des Rätselhaften interpretiert werden, das die hermeneutische Praxis der Subalternen-Forschung heimsucht. Diese geheimnisvolle Dimension hat viele Bedeutungen. Es ist eine Erfahrung des subalternen Anderen, aber nicht nur das. Es ist auch ein Ruf an das bereits bekannte Selbst, aber wiederum nicht nur an das Selbst, sondern auch an ein unterschiedliches, oftmals überraschendes Selbst, ein Selbst in einem neuen, in Frage gestellten und oftmals verwirrenden Zusammenspiel von Selbst und Anderem. Möglich ist dann auch ein wachsendes Staunen über die Art der Matrix, in der Selbst und andere in einem neu pluralisierten, vielfältigen und sich immer wandelnden Kampf zusammenkommen können, um – wenn schon nicht eine neue Solidarität – dann doch wenigstens eine „fluidarity“ zu erforschen, in der ein echtes Teilen auf dem unsicheren Boden des Aufeinandertreffens inmitten von Differenz entsteht. In all diesen Weisen und darüber hinaus verbinden sich Unsicherheiten und das Unbekannte mit der Subalternen-Forschung und geben ihr eine Qualität des Rätselhaften. Ich betone, dass authentische Fürsprache bedeutet, solche Rätsel anzunehmen, aber dass ein Eintreten in dieses Delirium nicht die Notwendigkeit disziplinierter wissenschaftlicher Anstrengungen in der Subalternen-Forschung ersetzt oder dieser ausweicht. Keineswegs. Rätsel und Delirium betreffen nur eine wichtige Dimension der Subalternen-Forschung, eine, die anzuerkennen besonders wichtig ist, wenn wir die Ansprüche und Assimilationen, zu denen berechtigte subalterne Fürsprecher besonders neigen, untergraben wollen. Wie nützt das Delirium der Subalternen-Forschung? Es untergräbt den sicheren Status des berechtigten Fürsprechers, ohne das grundlegende Bewusstsein der Relevanz einer Unterscheidung zwischen den Welten der Eliten und den Welten der Untergeordneten abzuschaffen. Das Delirium ist ein wichtiger Aspekt der Subalternen-Forschung, wo sich ein Tanz des Verzichts ereignet – eines Verzichts auf Objektifizierung und Assimilation, der Bruch und Umorientierung fördert, sodass die Subalternen eine Stimme finden können. Ich sage „Stimme finden können“, da es im Tanz dieses Deliriums, auch wenn wir durch dieses eine bessere Chance haben, das Problem der subalternen Sprachlosigkeit zu überwinden, keine Garantie gibt, dass wir dies auch tun werden. Verschiedene konkrete Begegnungen und Projekte werden sich immer unterschiedlich entwickeln, wenn berechtigte Fürsprecher und subalterne Gruppen es wagen, zusammenzukommen und die Ergebnisse werden eine gewisse Unvorhersehbarkeit behalten. Es gibt ebenso wenig eine Garantie, dass berechtigte Fürsprecher erfolgreich die Probleme subalterner Sprachlosigkeit überwinden können, noch dafür, dass zwei Tänzer, die einander auf der Tanzfläche begegnen, zur beiderseitigen Zufriedenheit „gut miteinander tanzen“ werden. Die Rhythmen beider Tänzer, die Fähigkeit beider, angesichts der Musik, Stimmung und dem Milieu der Nacht miteinander im Takt zu sein, verschwören sich und prägen das Ergebnis. Ohne jedoch in den Tanz einzutreten und ohne das produktive Delirium zu suchen, das aus dem Heraustreten entstehen kann, gibt es nur wenige Wege nach vorn. Es scheint sicherlich nur wenige andere Wege für den berechtigten
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Fürsprecher zu geben, der einen Weg aus dem Problem der subalternen Sprachlosigkeit sucht.
Schlussfolgerung: Ein Kairos für Theologie Die in diesem Essay dargestellte Untersuchung von Subalternität und Fürsprache, die mit dem Vorschlag der angebotenen Formen von authentischer Fürsprache endet, bedarf keines langen Abschlusses. Jeder Theologe, der ein Interesse an der Repräsentation der Subalternen hat (der gesellschaftlichen Außenseiter, der Unterdrückten, der Armen), wird mit den Herausforderungen durch die Subalternen, die „nicht sprechen können“ (Spivak), und der Herausforderung durch die subalterne Sprachlosigkeit selbst zu kämpfen haben. Auf diese Weise sehen sich Theologen einer Krise gegenüber, der jeder Wissenschaftler, der sich mit den Subalternen beschäftigt, begegnet, und Befreiungstheologen, die gemäß ihrem Auftrag und Wunsch arbeiten, den Armen zuzuhören, können diese Krise akuter als andere Theologen erfahren. Die vorhergehende Diskussion des Problems der subalternen Sprachlosigkeit war ein Versuch, diese Krise zu verstehen. Ein Kairos jedoch ist mehr als einfach eine Krise. Es ist auch eine Chance für Wandel. Für die Theologie heute gibt es eine deutliche Chance, die sich mit der Vorstellung der Subalternen anbietet, da diese die Vorteile erschließt, ludischen Postmodernismus zu entlarven und die befreiungstheologische Vorstellung von den Armen komplexer zu machen. Wenn Theologen darüber hinaus die Krise subalterner Sprachlosigkeit als etwas aufnehmen können, das sie zu einer authentischeren Fürsprache antreibt, dann gibt es darin auch eine Chance für Wandel. Von offensichtlichem Interesse für Theologen ist vielleicht die vierte Form der authentischen Fürsprache: das Aufnehmen von Delirium und Rätsel. Darin entsteht eine richtig mystische Dimension auf dem Weg einer Suche nach authentischer Fürsprache im politischen Kampf mit und für subalterne Völker. Christliche Befreiungstheologen würden gut daran tun, dieser Dimension größere Beachtung zu schenken. Es gibt für die Theologie noch viele weitere Fragen. Was könnten die Verbindungen zwischen christlichen Verständnissen von Symbolen wie Gott, Jesus Christus, Heiliger Geist und Kirche zu genau dieser Erfahrung des Heiligen sein? Was ist ihre Beziehung zu dieser Begegnung mit den anderen, die die Subalternen sind und die oft nicht sprechen können? Theologen können zu Derrida zurückkehren, um diesen anderen, der im Zustand des Deliriums in der Subalternen-Forschung angetroffen wird, zu verdeutlichen. Der andere, den wir in der Dimension des Deliriums treffen, ist nicht, in den Worten Derridas, ein „selbst-konsolidierender“ anderer, sondern ist stattdessen, wie er auch sagt, der „ganz Andere“ (tout-autre).51 51
Derrida, Of an Apocalyptic Tone Recently Adopted in Philosophy, 71, zitiert v. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 294.
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Dieser „ganz Andere“ ist ein sehr konkretes und diesseitiges Rätsel. Es gestattet kein leichtfertiges theologisches Reden über „den völlig Anderen“ oder eine „transzendente Realität“. Es ist jedoch eine Region des Rätselhaften, ein irdischer Lokus des Geistes, der zu Reflexionen über den Mythos einlädt, die es uns ermöglichen können, diesem „ganz Anderen“ tiefer gehend und sicherer zu begegnen.52 Theologen können eine spezielle zukünftige Aufgabe haben, nämlich einen Mythos für den „ganz Anderen“ anzubieten, dem/denen wir in dem Delirium unserer Suche nach unserem Weg nach vorn in der Subalternen-Forschung begegnen. Außerhalb der Christentumsforschung können wir uns, als abschließenden Gedanken, fragen, ob andere Traditionen (religiös oder säkular) die Aufgabe übernehmen können, über die Dimension des Deliriums nachzudenken, die entsteht, wenn Subalternität und Fürsprache zusammen durchdacht werden. Kann es auch Maya, irokesische, muslimische, jüdische, buddhistische und andere mythische Formen geben, diese Art des tout-autre zu konzeptualisieren? Gibt es einen säkularen Mythos, den wir erkennen können und der es uns ermöglicht, noch tiefer in das Verständnis des Deliriums der Subalternen-Forschung einzudringen? Wie eingangs in diesem Text notiert, deutet Beverleys Vorschlag einiger gemeinsamer Interessen von säkularer Forschung und Befreiungstheologie an, dass Erstere in dieser Aufgabe Punkte gemeinsamer Anliegen mit der Theologie finden kann, wo beide gemeinsam die tiefen Orte ihrer Diskurse untersuchen und sich der komplexen Herausforderungen annehmen, vor die sie das ‚den-Armen-Zuhören‘ stellt. Wenn Subalternen-Forschung und Fürsprache mit einer mystischen Dimension verbunden werden, wie ich dies vorgeschlagen habe, und wenn Beverley recht hat mit seiner Behauptung der Ähnlichkeit von SubalternenForschung und Befreiungstheologie, dann kann die Zukunft die Hoffnung auf einen multi-religiösen Dialog über die Herausforderungen der SubalternenForschung enthalten, einen Dialog, der auch fruchtbar die Grenzen der Kluft zwischen dem Säkularen und dem Religiösen überschreitet. Erstveröffentlichung als: Mark Lewis Taylor, Subalternity and Advocacy as Kairos for Theology, in: Opting for the Margins. Postmodernity and Liberation in Christian Theology, hg. v. Joerg Rieger, Oxford 2003, 23-44.
52
Zum Beitrag eines mythischen Diskurses zu konkreten Befreiungskämpfen siehe mein: The Need for Empowering Mythos, in: Remembering Esperanza. A Cultural-Political Theology for North American Praxis, hg. v. Mark Kline Taylor, Maryknoll 1990, 162170.
Göttlicher Handel. Eine postkoloniale Christologie für die Zeiten des neokolonialen Empires Marion Grau
„Wirtschaft ist wie die Theologie eine alte Wissenschaft der menschlichen Beziehungen.“1 So schreibt Marcella Althaus-Reid in ihrem argentinischen feministischen Beitrag zur postkolonialen Theologie. Dieser Aufsatz2 versucht eine effektive theologische Antwort auf die anhaltenden Formen des ökonomischen Neokolonialismus zu geben. Verschiedene Bilder, die sich mit dem Geheimnis Christi auseinandersetzen, deuten auf verschiedene Stufen der Verschuldung, des Verlustes der Freiheit, der Dienerschaft und der Schikane hin. Erlösung ist zutiefst, wenn auch ungemütlicherweise, in den Symbolismus des ökonomischen Geschäftsabkommens verstrickt. Das englische Wort „redemption“ (Erlösung) ist entlehnt von dem lateinischen Begriff für „Kaufen“ (emptio) und bedeutet so viel wie zurückkaufen, zurückgewinnen, wiedererlangen.3 Gleichzeitig hat der antike Tropus der Vermählung zwischen Christus und dem Gläubigen die Erlösung durch die Heirat in den göttlichen Wohlstand anvisiert. Ich erachte diese theologische Hochzeit zwischen gender- und ökonomischem Status als reif für die postkoloniale Analyse, sowohl in dekonstruktivistischer als auch rekonstruktiver Weise. Indem ich einige weniger bekannte theologische Bilder verwende, wie zum Beispiel Christus als gefälschtes Lösegeld, wird die folgende Rekonstruktion ein chaotisches Durcheinander in die wirtschaftlichen Ordnungen und theologischen Orthodoxien bringen. Insbesondere schlage ich eine Christologie des göttlichen Handels vor, in der ein Trickster-ähnlicher Christus die Grenzen des Besitzes und der Sklaverei nachahmt und verspottet. Dieser Christus entpuppt sich als ein Agent, dessen Geschäftsaktionen die Absurdität der Gesetze des Besitzes aufdeckt und die Gesetze des Marktes in Frage stellt. Ausgehend von Gregors von Nyssa Deutung von Gottes „Handel 1 2 3
Marcella Althaus-Reid, Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, New York 2000, 112. Siehe ausführlicher dazu auch Marion Grau, Of Divine Economy. Refinancing Redemption, New York 2004. Siehe Stanislas Lyonnet / Leopold Sabourin, Sin, Redemption, and Sacrifice. A Biblical and Patristic Study, Analecta Biblica 48, Rome 1970, 98; und Oxford English Dictionary, s.v. „redeem”. Der Begriff ransom ist ein Gegensatz zu redemption und meint „die Handlung des Herbeiführens der Freilassung eines Gefangenen durch Zahlung einer Geldsumme”, s.v. „ransom”. „Redemption” übersetzt höchstwahrscheinlich den hebräischen Ausdruck ga’al und den griechischen Terminus antallage, während „ransom” sein griechisches Äquivalent in dem Ausdruck lutron findet.
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mit dem Teufel“ kommt dieser erlösende Austausch durch die Täuschung zustande. Gregors göttlicher Täuscher, ein menschlich-göttlicher Hybride, gibt sich menschlich und täuscht den Teufel, dass er sich von einer versklavten Menschheit entfernt. Der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha beschreibt die Ambivalenz und Nachahmung im kolonialen Diskurs. Dieses ist ein eminent fruchtbarer Ansatzpunkt, um eine Christologie des göttlichen Handels zu entwickeln, die PastorInnen und LehrerInnen Hilfen an die Hand gibt, die schmerzhafte Komplexität unserer wirtschaftlichen Beziehungen und ihre Verknüpfung mit Ausbeutung im Kontext des Neoimperialismus zu sehen und zu behandeln. Theologie ist ein zutiefst sexueller Akt und der göttliche Handel beinhaltet Austausch unter den Geschlechtern. Eine Rekonstruktion des göttlichen Handels muss deshalb die der Erlösung zugrunde liegenden wirtschaftlichen Geschäfte „umschulden“. Es muss die Hierarchien der darin eingebundenen Geschlechter neu berechnen. Dies bedeutet eine Herausforderung für die heterosexistischen traditionellen Vorstellungen der Erlösung mit ihren Geschlechter-Unterschieden, wo ein vergötterter männlicher, reicher Besitzer eine weibliche, arme oder versklavte Empfängerin erlöst. Meine Rekonstruktion lässt einen geschlechtsambivalenten göttlichen Täuscher aus Elementen der zeitgenössischen Pop-Kultur und anderen postmodernen Bruchstücken sich selbst aufbauen. Diese Gestalt fängt an, die heterosexistischen Ideen von „anständigen“ Theologien durcheinanderzubringen, die weiterhin den unterdrückenden Einfluss eines kolonisierenden, androzentrischen „homo oeconomicus“ ignorieren, der auf der Basis der traditionellen westlichen Idee von Handel und ehelichem Leben steht. Stattdessen deutet die Rekonstruktion auf eine weniger dualistische, weniger essentialistisch geschlechtsspezifische, tatsächlich „unanständige“ Soteriologie hin.4 Ein göttlicher Handel der ambivalenten Geschlechtlichkeit ist weder eine rein feministische Wirtschaft des Schenkens, noch ein Tausch von Ehefrauen und Sklaven zwischen männlichen Wesen, sondern ein wunderbarer Austausch, der bemüht ist, die Erlösung zu dekolonialisieren. Somit stellt göttlicher Handel den wirtschaftlichen Status in Frage und lässt die Geschlechterhierarchien als zweifelhaft erscheinen, um sich von wirtschaftlicher Unterdrückung und der Geschlechterhierarchie loszulösen und in diesem Vollzug eine Richtung einzuschlagen, die zu erlösenden Formen wirtschaftlichen Handels führt.5 Diese besondere Neubewertung des göttlichen Handels, die hier vorgeschlagen wird, versteht Erlösung nicht als einen einseitig, nach einer Seite ausgerichteten und allmächtig „vollendeten Kontrakt“ mit Gott/Christus als 4 5
Althaus-Reid, Indecent Theology, 36. Die Kritik der Sühnelehre Anselms begann mit Abaelard, erlangte mit der historischen Kritik erneut Gehör und stieß feministische Theologinnen, beeinflusst von GenderAnalysen, dazu an, Soteriologie kritisch in Frage zu stellen. Der klassische Artikel zu diesem Thema ist: Joanne Carlson Brown / Rebecca Parker, For God So Loved the World?, in: Violence against Women and Children. A Christian Theological Sourcebook, hg. v. Carol J. Adams / Marie M. Fortune, New York 1995, 36-59. Siehe außerdem Rita Nakashima Brock / Rebecca Ann Parker, Proverbs of Ashes. Violence, Redemptive Suffering, and the Search for What Saves Us, Boston 2001.
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der alleinigen Instanz und dem allgegenwärtigen Lieferanten der Errettung. Der göttliche Handel richtet die Erlösung vielmehr neu als göttliches Instrument in eine Schöpfung ein, die auf Gott reagiert und mit ihm in einem gemeinsamen, fortlaufenden Prozess der redemptio continua kommuniziert. Die Metapher des göttlichen Handels hebt den Austausch zwischen göttlichen und menschlichen Wesen hervor. Dabei gebraucht es ein wirtschaftliches Konzept, um die tiefen Beziehungen und die Mit-Kreativität des Kosmos als Band, das alles in der göttlichen Wirtschaft der Schöpfung zusammenbindet, zu betonen. Der göttliche Handel bezieht sich nicht allein auf die erlösenden Formen des Handelns, so wie sie durch Inkarnation, Tod und Auferstehung Christi verstanden werden können, sondern bezieht auch die Gedanken und Taten derjenigen mit ein, die solches Handeln der Erlösung in ihrem Leben nachvollziehen wollen. Als ein Motiv bleibt der göttliche Handel ethisch unbequem und hält an der Mehrdeutigkeit fest, die es ablehnt, sicher zu sein. Die erlösende Wirtschaft des göttlichen Handels untergräbt machtvoll die wirtschaftliche Rangordnung von Sklaverei, Besitztum und Geschlechtsbeziehung und schreibt sie gleichzeitig neu ein. Diese Dynamik beschreibt in allen Details das komplexe wirtschaftliche Gewebe unseres Lebens. Schließlich werden die Kleider, die wir tragen, in überseeischen Ausbeutungsbetrieben gewoben. Das sind zeitgenössische Formen der wirtschaftlichen Abhängigkeit, des transnationalen Rassismus und der sexuellen Ausbeutung. Ein neues Verständnis des göttlichen Handels kann nicht die vergangenen und gegenwärtigen Strukturen der Unterdrückung außer Acht lassen, in dem es sich auf eine romantisierende Lesart der Erlösung einlässt. Es entdeckt in den Texten der frühen christlichen Tradition neue subversive Strategien der Erlösung. In seinem täuschungsähnlichen göttlichen Handel inspiriert es kreatives Leben in der Gegenwart seiner kontinuierlichen Zweideutigkeit und Stückwerkhaftigkeit aller dieser Bemühungen. Das sich daraus ergebende provokative Modell der imitatio christi inspiriert subtile, aber wie ich glaube, effektive erlösende Strategien eines gewissenhaften Täuschertums und einer heiligen Irreführung.
Untersuchung der erlösenden Eigenschaften der traditionellen Christologie „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein; denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mt 20, 25-28)
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„Postkolonialität ihrerseits ist eine heilsame Erinnerung an die andauernden „neokolonialen“ Beziehungen innerhalb der „neuen“ Weltordnung und der multinationalen Arbeitsteilung.“6
Der Jesus des Matthäus-Evangeliums, der in der Zeit des Römischen Reiches gelebt hat, wusste genau, dass Hierarchien und von oben nach unten strukturierte Machtverwaltungen die meisten menschlichen Gemeinschaften prägen. Doch anstatt seine BegleiterInnen zu ermutigen, nach den höheren Positionen zu streben, scheint er die Machtstruktur umzukehren. Der Sklave, der das unfreieste Mitglied in dieser Gesellschaft ist und dessen Arbeit und Leben nichts als Waren sind, entpuppt sich als Befreiungsagent. Durch eine Form des göttlichen Handels wird das Lösegeld für das Loskaufen von anderen, die herrschende Machtwirtschaft, metaphorisch gesehen, finanziell umgeschichtet. Weiter verlangt Jesus von seinen BegleiterInnen, diese Wirtschaftsbeziehung der freiwilligen Versklavung als Modell für die Erlösungsbeziehung nachzuahmen. Biblische Texte wie das obige Beispiel konstituieren eine Art ‚kolonialen Diskurs‘. Das heißt, sie beschreiben die Entstehung von persönlicher und nationaler Identität, Möglichkeiten des Widerstands und eine unter dem Einfluss kolonialer Macht bestehende Gemeinschaft. Die meisten Bibeltexte entstanden im Umfeld früher Inkarnationen des Imperiums, sei es assyrisch, babylonisch oder römisch. Die biblischen Abbildungen von menschlicher und göttlicher Macht, Befreiung, Widerstand und Unterdrückung drücken die verschiedenen Auswirkungen der Formen der vorherrschenden Macht aus. Reiche kommen und gehen; über Menschen wird regiert, sie werden unterdrückt, versklavt, exiliert und befreit. Postkoloniale TheoretikerInnen und DenkerInnen haben sich schon über ähnliche Themen Gedanken gemacht, wenn auch in anderen historischen Zusammenhängen. Ungeachtet ihres Rufes als hochakademische, zu Zeiten esoterische und verschleierte Diskurse, haben postkoloniale Gedanken viel zur derzeitigen Neustrukturierung der Theologie beizutragen. Postkoloniale AutorInnen wie Homi Bhabha haben die oft unvorhersagbaren und komplizierten Wege, auf denen die Macht sich durch menschliche Beziehungen bewegt, besonders im Kontext des Imperiums, abgebildet. Bhabhas Beobachtung der Ambivalenz der Macht und der Praxis der kolonialen Mimikry haben zu einer postkolonialen hermeneutischen Linse beigetragen, die einen verschärften Blick auf die Veränderungen und Herausforderungen der christlichen Tradition, ihre Komplizenschaft mit den etablierten Machtstrukturen sowie ihre Subversivität und ihren Widerstand gegen diese ermöglicht. Das patristische Motiv der Erlösung als göttlicher Handel - der nützliche Austausch von göttlicher Macht und menschlicher Schwachheit, der durch das göttliche Abkommen mit dem Teufel bewirkt wird - ist in die historischen und metaphorischen Konzeptionen der Sklaverei und Heirat, das heißt in eine problematische Unausgewogenheit der Macht, eingebettet. Sklaverei, Dienstbarkeit und Befreiung sind in den biblischen und patristischen Texten vielfältig chiffriert und sind in der Geschichte der Interpretation christlicher 6
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 9.
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Tradition vielfach in Frage gestellt worden.7 Die Gleichnisse Jesu zeigen oft ein Bild des göttlichen Verwaltungsbereiches, das die wirtschaftlichen Strukturen in jenen Tagen widerspiegelt und zugleich unterwandert. An dieser spannungsgeladenen interpretativen Nahtstelle, an der Sklaverei, Heirat und Errettung sich vor unseren Augen entfalten, da muss ein postkoloniales Verständnis des erlösenden Handels in Erscheinung treten.8 Christliche Traditionen ahmen ausbeuterische Strukturen wie die Sklaverei oder das Patriarchat oft nach oder verspotten diese. Wenn man die Gleichnisse Jesu von der basileia mit dem Konzept der Mimikry bei Bhabha liest, dann finde ich, dass sie den derzeitigen wirtschaftlichen Kontext nachahmen, das heißt ungenau repräsentieren: „fast identisch, aber doch nicht ganz“, während sie die eingebetteten Unterstellungen über Macht, Hierarchie und Geschlechter lächerlich machen. „Mimikry und Posse“ erzeugen somit eine konsistente ambivalente Erzählung.9 „Die Ambivalenz am Ursprung der traditionellen Diskurse über Autorität ermöglicht eine Form der Subversion, die auf der Unentscheidbarkeit beruht, die die diskursiven Bedingungen der Beherrschung in die Ausgangsbasis der Intervention verwandelt.“10
Bhabha legt dar, dass solch ein „Diskurs der Nachahmung“ eine vorherrschende Logik wiederholt und in Frage stellt, da diese Logik der innewohnenden „Ambivalenz“ der Sprache und der wirtschaftlichen Beziehungen nicht entgehen kann. Die Gefahren und Chancen der Ambivalenz bleiben bestehen, wenn wir das Neue Testament heute lesen. Das bedeutet, dass der Text die Möglichkeit eröffnet, die Strukturen der Herrschaft in Frage zu stellen. Gleichzeitig kann derselbe Text bewirken, den status quo wieder einzuführen. Somit ist „Mimikry Ähnlichkeit und Bedrohung in einem“11.
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Siehe Dale Martins Lesart der paulinischen Wendung von „Sklaverei als Erlösung”. Obwohl Sklaverei in dieser Rekonstruktion nur am Rande als Erlösung verstanden wird, so waren Martins Text und die Ambivalenz von Sklaverei als Praxis und theologische Metapher aufschlussreich für dieses Projekt. Siehe Dale B. Martin, Slavery as Salvation. The Metaphor of Slavery in Pauline Christianity, New Haven 1990. Viele Interpreten haben sich von einer ökonomischen Interpretation der Erlösung verabschiedet. Bedauernswerterweise hat das zu einer Distanzierung vieler Theologinnen und Theologen von einer erneuten Hinwendung zu diesem Motiv geführt. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Darby K. Ray, deren feministische Neuinterpretation Christi als ein Gewalt und Missbrauch besiegender Gauner eine Inspiration für die vorliegende Rekonstruktion darstellt. Ray, Deceiving the Devil. Atonement, Abuse, and Randsom, Cleveland 1998. Es sollte hier festgehalten werden, dass das Motiv des admirabile commercium oder „wundersamen Wechsels” eine eher randständige Tradition darstellt. Obwohl es von mehreren antiken Autoren benutzt wurde, wurde es von Anselms Satisfaktionslehre effektiv verdrängt und ist seitdem in Misskredit, wenn nicht sogar in Finsternis gefallen. Es gibt nur eine Handvoll von Untersuchungen zu diesem Motiv, von denen die meisten aus den 1950er oder 80er Jahren stammen. Bhabha, Location of Culture, 86. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 166. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 127.
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In ähnlicher Weise hat der frühe christliche Diskurs über Sklaverei, über Befreiung von der Sklaverei durch die Zahlung eines Lösegeldes, die Konditionen für eine Sklavenwirtschaft betont, während er die Art und Weise des Austausches untersuchte. Die Ambivalenz dieser Texte kann mindestens zu zwei Lesearten führen.12 Bhabha schlägt vor, dass „[die Mimikry] jene Momente bürgerlichen Ungehorsams innerhalb der Disziplin der Bürgerlichkeit [markiert]: Zeichen spektakulären Widerstands. Dann werden die Worte des Herren zum Ort der Hybridität“13. Frühe christliche Erzählungen haben oft solchen kolonialen Diskurs wiederholt, jedoch mit einer überraschenden Wendung, nämlich der Verspottung der kolonialen Stellung zur Macht. Somit wird die vorherrschende Sprache der Macht angefochten. Eine biblische Schlüsselstelle, aus der ‚kommerzielle‘ Theologien herausfließen, findet sich im Zusammenhang von Mt 20, 20-28. In diesem Abschnitt zeichnet Jesus ein rätselhaftes Bild der Macht, eines, das Leiden und Sklaverei mit einbezieht: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein; denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Mt 20, 25-28)
Die Worte Jesu zeichnen den Unterschied zwischen den tyrannischen Hierarchien der „Völker“ und der alternativen Vorstellung der Macht in der basileia nach.14 Deutlich abweichend von dem bestehenden Modell des Patronats in der römischen Antike stellt Jesus fest, dass im kommenden himmlischen Haushalt Positionen der Macht und des Einflusses nicht vergeben werden durch die Ausnutzung der Beziehungen mit Menschen, die als mächtig angesehen werden.15 In dieser Perikope von Mt 20, 20-28 ist das Thema der Sklaverei in Beziehung zur nachahmenden Struktur der Jüngerschaft gestellt. Warren Carter schreibt: „Versklavung für Gott statt Herrschaft über andere
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Ein solches Beispiel ist das Magnifikat. Obwohl dort die Rede von einem Ende der Unterdrückung durch die Mächtigen und Einflussreichen ist, scheint das Magnifikat eine Form von hierarchischem Unilateralismus durch einen anderen zu ersetzen. Die Machtstrukturen bleiben als solche unhinterfragt. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 179. Wissenschaftler wie Richard Saller und Bruce Malina haben die Verbreitung der Patron-Empfänger-Beziehungen in der römischen Antike unterstrichen. Siehe Richard P. Saller, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge / New York 1982; und Bruce J. Malina, The Social Gospel of Jesus. The Kingdom of God in Mediterrannean Perspective, Minneapolis 2001. Die Vorschrift, zu dienen, scheint direkt an die männlichen Jünger adressiert zu sein und vorwiegend gegen den Ausbruch eines männlichen Wunsches, zu beherrschen, gerichtet, ohne dabei jedoch weibliche Jüngerinnen von der sekundären Audienz dieser Worte auszuschließen. Vergleiche Victoria Phillips, Full Disclosure. Towards a Complete Characterization of the Women Who Followed Jesus in the Gospel According to Mark, in: Transformative Encounters. Jesus and Women Re-viewed, hg. v. Ingrid R. Kitzberger, Biblical interpretation 43, Boston 1999, 13-32.
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ist das Kennzeichen der Antistruktur für den alternativen Haushalt.“16 Ist aber das, was wir hier dargestellt sehen, nur eine Umkehr der Strukturen, die letztendlich die Rangordnung ohne Infragestellung bestehen lässt? Oder verschlüsselt es vielleicht die tiefere Frage nach den Klassenunterschieden, die angesprochen werden? Soll diese Nachahmung doch noch als ein „ironischer Kompromiss“ zwischen Stasis und Wandel, zwischen Identität und Differenz, als eine „Repräsentation einer Differenz, die ihrerseits ein Prozeß der Verleugnung ist“17 angesehen werden? Und wirft dieser Abschnitt darüber hinaus nicht mehr Fragen auf, als er Antworten liefert, indem er Jesus als „Stellvertretung und Lösegeld für die Sünden vieler“ abbildet? So fragt ein Kommentar: „Was ist der Zustand der ‚Vielen‘? Warum bedürfen diese des Freikaufs? Wem wird das Lösegeld bezahlt – Gott … dem Teufel … oder keinem von beiden? Ist die Vergebung schon jetzt wirksam oder erst beim letzten Gericht, oder sogar beides? Wie wird diese Vergebung bewirkt?“18
Wie soll das geschehen? Es scheint, dass das Matthäus-Evangelium durchweg den Körper des Sklaven als den „Ort der Misshandlung“ versteht. Jesu Identifikation mit dem Sklaven macht ihn somit strafbar und des Todes eines Sklaven würdig.19 Der vorpaulinische christologische Hymnus in Phil 2 könnte dahin gedeutet werden, dass Christus die Voraussetzung des Gehorsams und einen versklavten, leibhaft gewordenen Körper als Vorbedingung für seinen erlösenden Tod verstanden haben will. Es ist, als ob Gott nur als versklavter Körper bestraft werden kann, indem er einen Körper annimmt, den man bestrafen kann: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2, 6-8). Kann die kenosis, der göttliche Verzicht auf Privilegien, als Vorbedingung für das Bild der Wirtschaft der Erlösung dienen? Wie aber verhält es sich mit der Umkehrung der kenosis, die dann folgt? Was ist mit dem daraus resultierenden Jubel und der, etwas Besorgnis erregend rächenden, Restitution Christi zu einer fortgeschrittenen Herrschaft, wo „alle Knie“ sich zum Dienst beugen sollen (V. 10)?20 Solche Rangordnungen lassen sich auch in 16 17 18 19
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Warren Carter, Households and Discipleship. A Study of Matthew 19-20, in: Journal for the Study of the New Testament, Supplement Series 103, Sheffield 1994, 191. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 126. W. D. Davies / Dale C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to Saint Matthew, vol. 3, Edinburgh 1988, 100. Jennifer A. Glancy, Slaves and Slavery in the Mattean Parables, in: JBL 119, Nr. 1 (2000), 72; Stephen D. Moore, God’s Gym. Divine male Bodies of the Bible, New York 1996, 25. Mehrere Kommentatoren verstehen die Bezüge zu Sklaverei und Herrschaft in Phil 2 rein metaphorisch oder als theologische Ausdrücke und werten direkte Rückschlüsse auf das Wissen der Zuhörer über Sklaverei damit ab. Aus diesem Verständnis folgt häufig, dass Selbstbescheidung einer definitiven göttlichen Heilszusage vorausgeht. Ulrich B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 11/1, Leipzig 1993, 110-1, 111. Entsprechend hat Dale Martin Paulus‘ Gebrauch von Versklavung als „metaphorischen Ausdruck der
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den Bildern von Herr und Sklave und Bräutigam und Braut erkennen, Paulus´ bevorzugten Metaphern für das Nachdenken über die Sünde, das Gesetz und die Gerechtigkeit. Diese Bilder haben großes Gewicht in der patristischen Theologie besessen, wo hierarchische Beziehungen im Haushalt, wie die zwischen Herrscher und Sklave, Ehemann und Ehefrau, als allgemeine Bilder der Erlösung gebraucht wurden.21 Viele nehmen an, dass die Sklaverei der Vergangenheit angehört. Heute scheinen Pflichtarbeit und Sklavenarbeit für viele Bürger der reichen Länder in der Ferne zu liegen. Dennoch ist Sklaverei eine Tatsache und mit unserem Leben verwoben, wie in vergangenen Zeiten.22 Menschen, die auf den Profit angewiesen oder abhängig von dieser Arbeit sind, verharren in Verleugnung oder Lähmung angesichts dieser neokolonialistischen Abhängigkeiten.23 Unsere Abhängigkeit und die Sucht nach den Bequemlichkeiten, die die fossilen Brennstoffe und andere natürliche Ressourcen ermöglichen, können zur Ausbeutung und Versklavung anderer führen. Die Fleischtöpfe Ägyptens sind heute die Ölquellen Saudi Arabiens und des Irak. Die industrialisierten Länder sind süchtig nach Öl, Tee, Kaffee, Tabak, billigen Arbeitskräften, Sex und dem weltweiten Handel mit Organen und haben sich so der Unterdrückung anderer Menschen verschrieben, damit die Bedürfnisse der Süchtigen befriedigt werden können.24 Die Abhängigkeit der neokolonialen Länder von den Rohstoffen der ehemaligen Kolonien geht weiter. In der Zwischenzeit leben die amerikanischen Konsumenten mit geliehener Zeit in einer
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sozialen Selbsterniedrigung und sozialem Aufstieg” beschrieben, der als „Bühne für Paulus Soteriologie“ diene. Martin, Slavery as Salvation, 129. Sheila Briggs, Can an Enslaved God Liberate?. Hermeneutical Reflections on Philippians 2:6-11, in: Semeia 47 (1989), 142. Vergleiche Kevin Bales, Disposable People. New Slavery in the Global Economy, Berkeley / Los Angeles 1999; und Grace Chang, Disposable Domestics. Immigrant Women Workers in the Global Economy, Cambridge 2000. So befinden sich viele Einwohner des Staats Kalifornien in einem „Zustand der Verleugnung”, wenn es darum geht, wie der Schutz der Umwelt in Kalifornien zur Zerstörung natürlicher Ressourcen und Schutzgebiete anderswo führt. Siehe Tom Knudson, State of Denial. A Special Report on the Environment, in: Sacramento Bee, 27 April 2003, www.sacbee.com/denial. Im Jahr 2003 hat sich selbst der Freihandelsadvokat Thomas Friedman über diese Sucht beklagt: „Wir sprechen nie Klartext mit Saudi Arabien, weil wir nach seinem Öl süchtig sind. Abhängige erzählen ihren Dealern nie die Wahrheit. [… Wir müssen uns selbst die Wahrheit eingestehen über] unseren gefräßigen Umgang mit Energie, erneuerte Gewöhnung an große Autos und unseren Präsidenten, der ‚Bewahrung‘ zu einem dreckigen Wort gemacht hat. Im Sog des Irakkriegs hat die EPA (Amerikanische Umweltschutzbehörde, ST) bekanntgegeben, dass die durchschnittliche Wirtschaftlichkeit des Kraftstoffverbrauchs der amerikanischen Autos und LKWs auf den niedrigsten Stand der letzten 22 Jahre mit dem Jahr 2002 als Vergleichswert, gefallen ist. Das ist eine Travestie. Kein Wunder, denken Ausländer, dass wir unsere U.S. Army Humvees in den Irak schicken, nur damit wir hier mehr G.M. Hummer fahren können. Wenn unser Präsident darauf besteht, dass wir alles haben können - große Autos, viel Öl, niedrigere Steuern, ohne Einschränkungen oder Bewahrung der Umwelt- warum sollte die Welt dann nicht glauben, dass es uns nur darum gehe, unser Recht zu schlemmen zu verteidigen?” Thomas Friedman, Hummers Here, Hummers There, in: The New York Times, 25 Mai 2003, www.nytimes.com/2003/05/25/opinion/25FRIE.html.
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Kultur, in der der Konsumentenkredit um sich greift.25 Eine Rekonstruktion der Erlösung in einem solch vernetzten wirtschaftlichen Kontext muss die Menschen dort ansprechen, wo sie betroffen sind. Sie muss sie als geistige und wirtschaftliche Individuen ansprechen und einen Weg anbieten, Jesu erlösende Tat zu verstehen. Damit kann eine Neudefinition einen Beitrag leisten, die Menschen zu erlösen, d. h., ihr Leben von wirtschaftlicher Ausbeutung und Knechtschaft zurück zu kaufen. Erlösung ist damit eher Widerstand gegen die Unterdrückung als die Bereitschaft, Opfer zu sein. Die Idealisierung des freiwilligen wirtschaftlichen Gebundenseins Christi in Phil 2 ist als höchst ambivalent zu bezeichnen, weil es geschichtlich nicht zu einem Überdenken der Sklaverei geführt hat. Dennoch scheint es, dass dieses nachahmende Bild die Sklavenhalter-Gesellschaften tatsächlich verhöhnt hat, indem es die „nicht rückgängig zu machende Spannung eines Gottes, der selbst zum Sklaven geworden ist“, eingeführt hat. Sheila Briggs argumentiert, dass es „möglich ist, die Umkehrung der Rangordnung von Sein und Besitz in den antiken Gesellschaften von da her zu begreifen“26. Die Neigung der Theologien der Sühne, Missbrauch zu ermöglichen oder zumindest diesen nicht zu bekämpfen, bleibt Teil der eingravierten Ambivalenz des Bildes: Wie kann „ein versklavter Gott befreien?“27
Ein neuer Handel: Christus, der göttliche Fälscher Dies ist ein wunderbarer Austausch: das göttliche Handelsgeschäft, die Transaktion, die in dieser Welt zum Tragen kommt durch den himmlischen Händler.28 Wie Lacan uns erinnert, ist die Mimikry gleich der Tarnung keine harmonisierte Form der Unterdrückung von Differenz, sondern eine Form von Ähnlichkeit, die sich von der Präsenz dadurch unterscheidet (oder sie dadurch abwehrt), daß sie sie zum Teil, nämlich metonymisch, zur Schau stellt.29
In seinem Buch Oratio Catechetica zeichnet Gregor von Nyssa ein Bild des versklavten Christus als eines schwer zu fassenden Tricksters im Zentrum des göttlichen Handels zwischen Gott und dem Teufel. Christus bringt Erlösung durch die nachgeahmte Verkörperung eines Sklaven; er wird als „Falschgeld“ angesehen und wird in der Transaktion eingesetzt, in der Gott in der Rolle des Geschäftsmannes den Teufel verspottet und betrügt.30 Hier funktioniert
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Lendol Glen Calder, Financing the American Dream. A Cultural History of Consumer Credit, Princeton 1999. Briggs, Can an Enslaved God Liberate?, 148-150. Briggs, Can an Enslaved God Liberate?, 148-150. Aurelius Augustinus, Enarrationes in Psalmos 30:3; in deutscher Sprache ausgewählt und übertragen von Hans Urs von Balthasar, Leipzig 1936. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 133. Der Ausdruck „lebendige Währung” ist geborgt von Pierre Klossowski, La monnaie vivante, Paris 1994.
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die Nachahmungspraxis als Strategie des Widerstandes gegen die Versklavung. In der Tat, der göttliche Handel parodiert die Täuschung des Teufels. Gregor von Nyssa versucht, solche göttliche Fälschung zu erklären und kann nicht umhin, zuzugeben, dass die göttliche Täuschung „bis zu einem gewissen Grad Unterschlagung und Täuschung ist“. Gregor enthüllt eine heitere Gerechtigkeit und Weisheit, mit der dieser göttliche Handel betrieben wird. Das göttliche Lösegeld wurde bezahlt, um diejenigen zu erlösen, „die ihre Freiheit gegen Geld eingetauscht haben“. „Der Gefangene suchte einen Erlöser, der Gefesselte einen Helfer, der Sklave unter dem Joch einen Befreier.“ Gott respektiert den menschlichen Handel mit dem „Feind“ und übt nicht ungerechte „Gewalt gegen denjenigen aus, der den Sklaven erkauft hat“. Gregor kommt zu der Schlussfolgerung: Bei der Befreiung der Sklaven, „wenn einer sich des Verkauften annähme und gegen den Käufer Gewalt gebrauchte, so würde er als Schuldiger gelten, weil er den gesetzmäßig Verkauften auf tyrannische Weise (seinem Eigentümer) entreißen würde“. Ein gerechter Gott muss auch solche problematischen Vereinbarungen respektieren und für die Erlösung der rechtmäßig besessenen Sklaven dem Sklavenhalter ein Lösegeld zahlen, das dieser bereit ist, anzunehmen. Doch welcher Besitz, welche Waren können bereitgestellt werden, damit der Widersacher „diesen Austausch akzeptiert“? Das Lösegeld muss wertvoller, begehrenswerter sein und zudem muss „der ihm vorgeschlagene ihm mehr [geben], als er selbst besaß“31. Christus bietet „besondere Eigenschaften“32 mit großem Wert an: Gezeugt ohne „fleischliche Verbindung“, durch eine reine Geburt von einer Jungfrau und mit „Stimmen aus unsichtbaren Bereichen, die für die Hoheit der Geburt zeugen“, hat Jesus diesen Preis gewonnen. Der Feind „wählte [ihn] als Lösegeld für die im Kerker des Todes zurückgehaltenen (Gefangenen)“. Ebenso schreibt Bhabha, dass die „Mimikry gleich der Tarnung […] eine Form von Ähnlichkeit [ist], die sich von der Präsenz dadurch unterscheidet (oder sie dadurch abwehrt), dass sie sie zum Teil, nämlich metonymisch, zur Schau stellt“33. Christi Menschwerdung als Sklave verschleiert, „vernebelt“, das wahre Ausmaß der göttlichen Macht: „Deshalb verhüllte sich die Gottheit mit Fleisch, damit (der Feind) beim Anblick des vertrauten und verwandten (Fleisches) nicht durch die Nähe der höchsten Gewalt erschreckt würde.“ Der Teufel, dieser Kolonialist der Menschheit, ist ausgetrickst durch die göttliche Nachahmung. Die nachgeahmte Ähnlichkeit bedroht das Unterdrückungssystem und spottet gleichzeitig seiner. Der getarnte Trickster Christus maskiert seine Göttlichkeit, um in die Sklaverei verkauft werden zu können, mit dem Ziel, die versklavte Menschheit zu befreien. Diese geheime Investition bringt die teuflische Bank zum Explodieren, bricht die Ketten und kauft oder erschwindelt Erlösung für alle. „Deshalb verhüllte sich die Gottheit mit dem Schleier unserer Natur in dem Bestreben, dem, der uns gegen eine kostbare Sache einzutauschen suchte, die Sa31 32 33
Gregor von Nyssa, Die große katechetische Rede. Oratio Catechetica Magna, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Joseph Barbel, Stuttgart 1971, 38ff. Ein vergleichbares Phänomen der Populärkultur wäre das des Wertvollsten Spielers – ‚Most Valuable Player‘ (MVP) im Bereich des Sports. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 133.
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che leichter zu machen. Mit dem Köder des Fleisches sollte er, wie gierige Fische es tun, zugleich den Angelhaken der Gottheit hinunterschlucken. Da so das Leben dem Tode einwohnte … sah man das verschwinden, was als Gegensatz zum Licht und zum Leben gesehen wird.“ 34
Gregor gibt zu, dass die „Gottheit verschleiert war ohne Wissen des Feindes“ und deshalb vordringen konnte „zu den Linien dessen, der die Menschen in seiner Macht hatte“. Dies bedeutet, dass es sich hier „zu einem gewissen Grad um Unterschlagung und Überraschung handelt“. Dennoch argumentiert Gregor, dass die göttliche Verhüllung als eine „überfällige Entschädigung“ „eine Rückzahlung entsprechend der Schuld ist, bei dem der Täuschende wiederum getäuscht wurde“. Es stellt „die Gerechtigkeit des Transaktion“ heraus, wenn „Er, der den Menschen getäuscht hatte, durch den Köder der Lust, wird selbst getäuscht durch das Lockmittel des Menschen“.35 Aus diesem gefährlichen und ambivalenten Handel, einer gerechten und dennoch betrügerischen Abmachung, tritt Satan, der seinen ganzen Besitz verloren hat, als der getäuschte Betrüger hervor. Dieses höchst ambivalente Bild eines dahin gegebenen Sklavenlebens betrügt die betrügerische Basis der Sklavenwirtschaft, früher wie heute. Der göttliche Handel repräsentiert unaufrichtig, „fast, aber doch nicht ganz dasselbe“, den derzeitigen wirtschaftlichen Gesamtkontext, während er die eingebauten Annahmen über Macht, Hierarchie und Geschlecht verspottet. So produzieren „Mimikry und Posse“ eine konsistente ambivalente Geschichte.36 Die Ambivalenz an der Quelle der traditionellen Diskurse über Autorität ermöglicht eine Form der Subversion, die sich auf die Unentschiedenheit dieser Ambivalenz stützt und die diskursiven Bedingungen der Herrschaft zu einem Feld möglicher Intervention werden lässt.37 Bhabha behauptet, dass solch ein „Diskurs der Mimikry“ die vorherrschende Logik wiederholt und in Frage stellt, weil er die anhaftende „Ambivalenz“ der Sprache und der wirtschaftlichen Beziehungen nicht umgehen kann. Die Gefahren und Möglichkeiten der Ambivalenz bleiben auch bestehen, wenn wir die Texte heute lesen. Das bedeutet, dass ein Text das Potential hat, Herrschaftsstrukturen in Frage zu stellen. Gleichzeitig kann er jedoch die Funktion der Wiedereinschreibung des Status quos erfüllen. Somit „ist die Mimikry Ähnlichkeit und Bedrohung in einem“38. Bhabha regt an, dass „[die Mimikry] jene Momente bürgerlichen Ungehorsams innerhalb der Disziplin der Bürgerlichkeit [markiert]: Zeichen spektakulären Widerstands. Dann werden die Worte des Herren zum Ort der Hybridität“39.
In gleicher Weise gehören zum Bild des göttlichen Handels, wie es von Gregor von Nyssa beschrieben wird, die Themen der Sklaverei und der Befreiung durch die Zahlung eines Lösegeldes. Es wiederholt die Bedingungen der antiken Sklaverei, indem es das Modell des Austausches untersucht. 34 35 36 37 38 39
Gregor von Nyssa, Die große katechetische Rede, 67. Gregor von Nyssa, Die große katechetische Rede, 69. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 127. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 126. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 127. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 179.
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Die Ambivalenz dieser Texte kann zu mindestens zwei Lesearten führen. Die eine verstärkt die Dynamik des hierarchischen Austausches. Die andere stellt diesen in Frage. Wenn es der letzteren Lesart nicht gelingen sollte, darüber hinausgehende Visionen zu entwickeln, so wird auch diese im Status quo gefangen bleiben.
O Admirabile Commercium: Von unmoralischen Angeboten und festen Bindungen „Ihr sollt aber wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi“ (1 Kor 11, 3) „Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen!“ (1 Kor 7, 23)
In Zeiten einer boomenden Wirtschaft hat NBC im Jahr 2000 eine neue Unterhaltungssendung mit dem Titel „Wer will einen Multimillionär heiraten?“ ausgestrahlt. Eingereiht in die scheinbar endlose Kette von TV-Sendungen, die um das Wort „Millionär“ kreisen oder den Traum vom schnellen Reichtum bebildern, stellte diese Sendung eine bizarre Transaktion zur Schau. Im Rahmen eines „Schönheitswettbewerbs mit überraschender Wendung“ wird dabei ein männlicher Multimillionär mit einer von 50 Frauen verkuppelt, die sich bereit erklärt hatten, einen anonymen Mann zu heiraten, falls er sie aus der Gruppe auswählt.40 Die Einschaltquoten überstiegen die kühnsten Erwartungen, als diese libidinöse Wirtschaft einen reichen Mann mit einer Frau, die willens war, ihn zu heiraten und mit einem Fremden zu schlafen, verkuppeln wollte. Manche Kommentatoren fühlten sich eher an eine Sklavenauktion erinnert, als an eine romantische Hochzeit: „Dieser besondere Wettstreit, bei dem der Preis ein reicher Ehemann war, enthüllte das Hochzeitsgewerbe, bedeutete einen Schlag ins Gesicht aller drei Wellen des Feminismus und gab dem Wort ‚Trophäenfrau‘ eine völlig neue Bedeutung.“41 Obwohl manche dies als einen weiteren bizarren Ausdruck der Pop-Kultur abtun werden, beleuchtet es dennoch ein grundlegendes Verständnis gegenwärtiger Formen von Konsumhaltung. Sex und Romanze wurden so eng mit dem konsumorientierten Kapitalismus verbunden, dass sie in der Populärkultur zunehmend verschmelzen. Triebhafte Wirtschaftssysteme haben sich schon seit langem im westlichen Christentum angesiedelt. Das frühchristliche Motiv des conubium (das zivile Recht, zu heiraten) und 40
41
Die Sendung entwickelte sich als ein Scherz bizarren Ausmaßes. Der vermeintliche Millionär Rick Rockwell erwies sich nicht als solcher, sondern wurde als ein Stand-upComedian mit einer einstweiligen Verfügung gegen seine Freundin enthüllt. Die Frau, die er zur Hochzeit auswählte, ließ sich unmittelbar im Anschluss wieder scheiden und verschwand wieder im Dunkel. Deborah Shapiro, Leave It to Fox, FEEDmag 2000, 16. Februar 2000. Shapiro, Leave It to Fox.
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commercium (das Recht, Geschäfte mit anderen abzuschließen) werden hier von Martin Luther in einer charakteristisch scharfen Weise umgeformt: „Ist nun das nicht eine fröhliche Hochzeit, wo der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie entledigt von allem Übel, zieret mit allen Gütern.“42 Luthers „fröhlicher Wechsel“, den die zeitgenössischen Fernsehshows wiederholen und mit einem Dreh versehen, spielt die wirtschaftlichen Transaktionen nach, die den antiken Konzepten von Heirat und Sklaverei eigen waren und die den Rahmen für die westliche Christenheit bieten. Geschlechterhierarchie und Dienstbarkeit sind eingebettet in einen zentralen theologischen Tropus. Erich Przywara beschreibt die unheimliche Verbindung zwischen commercium (wirtschaftlicher Austausch) und conubium (Heiratsvertrag) so: „Commercium als Austausch auf dem Sklavenmarkt ist also zugleich das innerste Geheimnis des Menschlichen und Christlichen und folgerichtig das Zeichen, dem man widerspricht als der ‚Torheit‘ und dem ‚Ärgernis‘. Der ‚Sklavenmarkt‘ besteht durch die ganze Geschichte hindurch, so dass sich die Hochzeit zwischen Gott und Mensch vollziehe.“43
Die soteriologischen bildhaften Ausdrücke der Sklaverei und der Hochzeit erscheinen im Allgemeinen in den Texten der christlichen Tradition getrennt. Przywaras Analyse der theologischen Kombination beider Motive, die vielleicht auf den ersten Blick schockierend wirkt, repräsentiert eine Klammer von christlicher Theologie und westlichem Gedankengut: Klassen- und Geschlechterhierarchien haben sich oft gegenseitig bedingt. So kombinierte Paulus routinemäßig beide Themen in seinen Briefen. „Sein grundsätzliches Nachdenken über Sünde, Gesetz und Gerechtigkeit im Römerbrief alterniert zwischen Metaphern, die man dem Verhältnis Herrscher-Sklave entnehmen kann und solchen, die sich aus dem sozialen Verhältnis zwischen Mann und Frau ergeben.“44 In ähnlicher Weise hat Paige DuBois für antike griechische Texte herausgefunden, „dass Analogien zwischen der Frau und dem Sklaven bestehen. Der Körper des Sklaven und der Körper der Frau sind als Besitz des Herren gekennzeichnet. Der griechische männliche Bürger beherrschte seine Untertanen, Tiere, barbarischen Sklaven und Frauen, die in ihrer Unterordnung als gleich viel wert angesehen wurden.“45 Im römischen Gesetz verbinden das conubium und das commercium den Ehestand und geschäftliche Transaktionen aufs engste miteinander.46 Sie werden hauptsächlich von besitzenden männlichen Bürgern des Römischen Reichs getätigt. Przywara beschreibt die christologische Idee, dass das 42
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Für die deutsche Fassung, siehe Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, 25, 26-27,7. Die englische Übersetzung im Originalartikel folgt Career of the Reformer, Luther’s Works 31, hg. v. Harold J. Grimm. Philadelphia 1957, 352. Erich Przywara, Logos. Logos, Abendland, Reich, Commercium, Düsseldorf 1964, 164. Briggs, Can an Enslaved God Liberate?, 142. Page DuBois, Torture and Truth, New York 1991, 90. Martin Florian Herz, Sacrum commercium. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur Theologie der Römischen Liturgiesprache, München 1958, 9,11-12.
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conubium mit dem commercium verflochten ist, als ein Beziehungsgeflecht, das Gott und Mensch zusammenhält. Das syndesmos in Kol 3, 14 (Bindung, Verflechtung, Knechtschaft, Fessel) wird zur zentralen christologischen Formel der Knechtschaft, sowohl bei der Sklaverei als auch im Ehestand, bei Sklaven oder der Frau zu Gott dem Herrn und Ehemann: „Syndesmos ist zugleich Fessel (des gefangenen Sklaven) wie Ring (hochzeitlicher Vereinigung).“47 Przywara scheint sich nicht darüber klar zu sein, was er seinen zeitgenössischen Lesern da offenbart: die Komplizenschaft der Tradition und vielleicht seine eigene - mit der geschlechtsspezifischen wirtschaftlichen Unterdrückung, mit den theologischen „Anständigkeiten“ unterwürfiger soteriologischer Bildnisse.48 Przywara räumt ein, dass die theologische Verwicklung von commercium und conubium ein „Skandal“ und ein Ärgernis ist. In seiner Analyse von commercium / conubium bleiben die Hierarchien jedoch intakt und werden lediglich auf die göttlich-menschliche Ebene gehoben. Die subversiven Möglichkeiten dieser Motive werden wieder domestiziert, indem sie in die kirchlichen Hierarchien eingebunden werden: Der Erlöser, wie er von patristischen Autoren gezeichnet wird, wird in den Mutterleib der Jungfrau gegeben und wird ohne fruchtbare Beteiligung von Männlichkeit geboren. Der Christus-Sklave wird selbst zur Währung im göttlichen Handel, vielleicht sogar im Handel mit dem Teufel. Bald aber wird das Lösegeld über den Weg der patriarchalischen Reproduktion in der nizänischen Orthodoxie eingelöst. Der Ausdruck „gezeugt, nicht geschaffen“ geht davon aus, dass der Sohn aus der gleichen Substanz und dem gleichen Reichtum ist wie der Vater, da „die Logik der Theologie dem Modell des Samenflusses folgt. Diese Ideen der männlichen Reproduktion trotzen der modernen Wissenschaft, sie sind jedoch in der sexuellen Symbolik der Theologie fest verankert.“49 Althaus-Reids postkoloniale „unanständige Theologie“ stellt (mit der Beihilfe von einem viertel Jahrhundert feministischer Theologie) den unterdrückenden Gebrauch von Geschlechtermetaphorik und theologischen Mustern heraus: „Theologie ist ein sexueller Akt, eine sexuelle Handlung, die auf der Konstruktion von Gott und göttlichen Systemen basiert, die männlich sind und in der Opposition (auch sexuellen Opposition) zu Frauen wirkten.“50 Die Bedeutung der christlichen Erlösung wurde sehr eng mit der „heterosexuellen Systematischen Theologie“ verknüpft und zwar mit einer „starken Betonung auf der Erlösung von sexuellen Sünden“51. In diesem Zusammen47 48
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Przywara, Logos, 123. Ein Schuldschein kann zur Legitimation für Versklavung und die Feminisierung des Schuldners werden. Althaus-Reid streicht heraus, wie diese Dynamik als eine sexuelle Geschichte im Falle der argentinischen Versklavung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) und dessen „Strukturanpassungsprogramme” funktioniert hat. Die staatlichen ökonomischen Programme verfügten einen Machismo im Rahmen heterosexistischer Maßnahmen, die „unanständige” Frauen, die sich ihre geistigen Fähigkeiten zu Nutze machen wollten, auf den Kieker nahmen. Es gab zudem Pläne, ein Ghetto für Schwule und Lesben in Patagonien einzurichten, um diese Gruppen von der Gesellschaft auszuschließen. Althaus-Reid, Indecent Theology, 184-185. Althaus-Reid, Indecent Theology, 155. Althaus-Reid, Indecent Theology, 36. Althaus-Reid, Indecent Theology, 152.
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hang wird Leiden zu einer notwendigen Ergänzung für die Erlösung. Für Althaus-Reids argentinisch-katholischen Hintergrund war dann „die Geschichte der Bestrafung der Körper der Heiligen eine göttliche Pädagogik, um die Realität zu verstehen. Ich sah das Herz der Menschen, durchbohrt von Schwertern des Hungers, der politischen Unterdrückung und wirtschaflichen Ungerechtigkeit.“ Dieses betrügerische Einverständnis von theologischer, wirtschaftlicher und politischer Ausbeutung führte zur „Resignation [der Theologin] gegenüber der sadistischen Wirtschaftspolitik meines Landes, die von der Kirche abgesegnet und unterstützt wurde. Dies war die Spiritualität des politischen Sadismus.“ Diese Hierarchien der Macht und Erlösung gleichen den „Geschichten des sexuellen Fetischismus“ als eine „Nachahmung der Erlösung […], bei der die Beziehung Gott, der Herr und die Christen als unterwürfige Sklavensubjekte, das Oben-Unten-Verhältnis von S/M-Menschen, einen kunstvollen, schnell gezeichneten Sketch des Christentums widerspiegelt“52. Ein „anständiges“ Verständnis von Christus als Sklave kann die stillschweigende Duldung und Unterwerfung unter derzeitige Formen der Sklaverei und Ausbeutung untermauern und verstärken. Althaus-Reid legt den Finger in die Wunde der Theologien des stellvertretenden Leidens und der Sühne und verweist auf Schmerz und Freude: Die Gefahr, die darin liegt, das Bejahen des Leidens durch eine Theologie der Erlösung, die Leiden als notwendig erachtet, mit dem ZumSchweigen-Bringen der Opfer der Unterdrückung zu verbinden. Und dennoch können wir nicht immer den Schmerzen entkommen. Es mag sein, dass aller Widerstand, zumindest als Möglichkeit, mit einschließt, dass wir das Leiden als ein Ergebnis des Kampfes hinnehmen müssen.53 Wie sollen wir nun also den Christus in Phil 2 verstehen, der sich ganz unterwirft, um ein Mensch zu werden (kenosis), sich in die Schöpfung zu entleeren und so ein Sklave bar des väterlichen Reichtums und der väterlichen Macht wird. Wie sollen wir Jesus als göttliche Währung, als Lösegeld, das Erlösung bewirkt, verstehen? Das fleischliche Lösegeld – dieser hybride Körper, der vollkommen menschlich und vollkommen göttlich ist – bleibt mehrdeutig, eine mixtura, eine amalgamierte Münze, die einer Täuschung gefährlich nahe kommt: eine simple Wiederholung des männlichen Wirtschaftsmodells? Oder Ursache, eine sonderbare Dekolonisierung des göttlichen Handels zu entwerfen?
Der getäuschte/täuschende Christus Gregors von Nyssa Darstellung des göttlichen Handels beschreibt die Menschwerdung Christi als einen Betrug am Teufel. Die göttliche Gegenwart ist unter dem Fleisch versteckt. Dieser getäuschte/täuschende Christus im göttlichen Handel verkörpert somit die Nachahmung als etwa einen „ironi52 53
Althaus-Reid, Indecent Theology, 153. Althaus-Reid, Indecent Theology, 154.
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schen Kompromiss“ zwischen „Identität, Stasis“ und „Tausch, Unterschied“.54 Wie ein heiliger Betrüger zeigt er das Schockierende; verhält sich niederträchtig; begrüßt das Hysterische, schafft eine Hermeneutik der Übertreibung, eine Zusammensetzung aus Sarkasmus; und er erfindet Redensarten der Ironie. Betrüger sind Nachahmer und verkörpern die Ambivalenz. Dieser skandalöse und andere Christus, eine etwas suspekte und marginale „persona“ oder Maske für das göttliche Handeln, erscheint dann als der heilige Narr und göttliche Trickster. Indem er den Teufel irreführt, den Täuscher täuscht, kann uns Christus der Trickster dabei helfen, Möglichkeiten zu entwickeln, die Hochstapler unserer Zeit zu entlarven und ihnen zu widerstehen. Der Anfang des dritten Jahrtausends bescherte uns eine Vielzahl an Offenbarungen von finanziellen Skandalen, die beruhigt, wenn nicht sogar ermutigt werden sollten durch die Austauschwirtschaften eines den Markt dominierenden Börsenkapitalismus. Zunehmend entblößt, ähneln Profitmacherei und Augenwischerei in diesem Zeitalter merkwürdigerweise der Ära der 1830er Jahre, des „Gilded Age“, der Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft, mit ihren Räuberbaronen und self-made-Finanziers. Lewis Hyde postuliert in seiner Untersuchung der Betrügerei, dass wir oft versucht sind, mit Protagonisten wie den Trickstern, die ihre Opfer betrügen, zu sympathisieren und diese insgeheim sogar zu bewundern, ja ganz in den Sog der Romanze der Trickster und Gauner und „Rebels without causes“ zu geraten. Hyde argwöhnt, dass solche Hochstapler Dinge verkörpern, die tief im Wesen Amerikas liegen, aber nicht öffentlich bekannt gemacht werden können (wie zum Beispiel das Ausmaß, in dem der Kapitalismus uns veranlasst, unsere Nachbarn zu bestehlen, oder inwieweit Institutionen wie der Aktienmarkt das gleiche Vertrauen benötigen wie die kriminellen Hochstapler).55 Wenn aber, wie Hyde vorschlägt, „Amerika“ als das „Land der Möglichkeiten und daher auch der Opportunisten“ die „pandemische“ Verkörperung von Trickstern (und Tricksterinnen)56 produziert und anzieht, ist dieser Agent nicht allzu ambivalent, vielleicht zu gefährlich, zu nahe an der Konstruktion und Nachahmung einer subversiven, aber dennoch heiligen Täuschergestalt? Oder ist dieser imitierende Trickster, der aus der Perspektive der postkolonialen Konzepte gesehen wird, nicht doch eine hilfreiche Beschreibung dessen, was viele als Realität in der Gegenwart erleben? Die Situation, der Ort und die verschiedenen Bedingungen der Aktionen eines Tricksters bleiben offen für Interpretationen. Diese Täuschergestalten werden nicht immer eine Nachfolge hervorrufen oder mustergültiges Verhalten anstreben. Ihre kulturelle Funktion kann auch negative Beispiele bieten, die dafür sorgen, dass der Status quo erhalten und verstärkt wird. Und dennoch könnten sie uns genauso gut animieren, mit den göttlichen Kräften der Kreativität durch die Inspiration des Geistes zusammenzuwirken.
54 55 56
Bhabha, Location of Culture, 86. Lewis Hyde, Trickster Makes This World. Mischief, Myth, and Art, New York 1998, 11. Hyde, Trickster Makes This World, 11.
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Währungswirtschaftliche Tauschaktionen und das Schreiben beinhalten nach Derrida bereits immer eine Fälschung.57 Jede Form von Währung kann nur einen Wert repräsentieren oder gegenwärtig machen, ohne jedoch einen Wert zu besitzen. Im Deutschen bedeutet Konterfei ein Bildnis oder Bild einer Person, eine Ähnlichkeit oder ein Faksimile. Kein Bild, keine Münze, keine Rechnung, kein Scheck oder Kreditkarte ist identisch mit dem „wirklichen Gegenstand“ und muss es fehlerhaft und ungenau repräsentieren. Es ist eine Täuschung, eine Imitation dessen, was repräsentiert werden soll. Eine Täuschung repräsentiert und vermag das gleichzeitig nicht zu tun.58 Die Tradition der Negativen Theologie weist darauf hin, dass jede Theologie schon immer Gott, und im weiteren Sinne den göttlichen Handel, verfälscht. Solches Reden von Gott ist nicht gänzlich eine Irreführung, aber es ist sicherlich keine „wahrheitsgemäße“ Repräsentation, da die Ausbreitung unserer Worte über Gott immer und überall stattfindet. Dementsprechend haben die Theologien, die wir entwickeln, den Charakter einer Täuschung oder Nachahmung. Aber, wie Derrida meint, der Kreislauf der Täuschungswährung kann selbst für „kleine Spekulanten“ echten Anteil am wahren Reichtum erzeugen. Falschgeld kann so zu echtem Geld werden.59 Unsere theologischen Wagnisse können Gott repräsentieren, obwohl sie immer in der Gefahr stehen, Gott falsch zu repräsentieren.60 Christus, der gefälschte Erlöser, bringt ein unstetes Chaos in die steifen wirtschaftlichen Ordnungen und Orthodoxien, ob göttlich oder menschlich. Der göttliche Betrüger zeigt die Fluktuation des Chaotischen, des mäandernden, trickreichen „Rand des Chaos“ im göttlichen Handel und empfiehlt, dass eine rekonstruierte Erlösung kontextgemäß und sensibel im Blick auf Kontext und Anfangsbedingungen ist.61 Christus erscheint als Agent des gött57 58
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Das englische Wort counterfeit wird von dem französischen contre-faire (OED) abgeleitet. Es ist somit ein Beispiel einer derridaschen „absenten Präsenz”. Benedict Anderson geht davon aus, dass Ausweise, entwickelt um Identität und Nationalität zu beweisen, entsprechend „gewichtige Wahrheitsbehauptungen” machen, tatsächlich jedoch Täuschungen in dem Sinn sind, „dass sie weniger den Beweis einer Staatsbürgerschaft, geschweige denn der Loyalität zu einem protegierenden Nationalstaat” darstellen, als vielmehr „Berechtigungen zur Teilnahme an einem Arbeitsmarkt”. Anderson schlussfolgert, „die unterschiedlichen Schlangen, die alle von uns an der Flughafen Einreise-Absperrung erfahren, spiegeln viel mehr den ökonomischen Status als jegliche politische Bindung. In ihrer Wirkung legen sie unterschiedliche Löhne für menschliche Arbeit fest.” Zitiert nach Amitava Kumar, Passport Photos, Berkeley / Los Angeles 2000, 40-41. Jacques Derrida, Given Time, Chicago 1992, 124. übersetzt als: Falschgeld. Zeit geben I. übers. v. Andreas Knop / Michael Wetzel, München 1993. Christus als Fälscher/ Christus zu fälschen bezieht sich hier auf zwei Aspekte: Zuerst, mit Origenes und Gregor von Nyssa, einen fälschenden Christus als Akteur des göttlichen Handels festzumachen; zweitens, die Aufgabe der Theologie als eine Übung in Christus verfälschen wahrzunehmen - das heißt, versuchen, Christus in einem anderen Kontext darzustellen, einer anderen Zeit an einem anderen Ort, in dem Bewusstsein, dass all diese Bemühungen letzten Endes Fälschungen sind, das heißt, dass sie Christus missrepräsentieren. Dennoch bleibt uns nichts anderes übrig, als Theologie zu treiben. Catherine Keller, Face of the Deep. A Theology of Becoming, London 2003, 5.
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lichen Handels, dessen verbale und physische Transaktionen die Gesetze des Marktes zugleich imitieren und verspotten. Nach Bhabha bedeutet die Nachahmung auch „das Zeichen des Un(an)geeigneten (inappropriate)“ und der „Bedrohung“ „für ‚normalisierte‘ Arten des Wissens“ der Kultur, der Orthodoxie und anderer „disziplinäre[r] Mächte“62. Die in den Gleichnissen eingebettete Imitation ist zugleich „Mimikry und Posse“63. Jesu Gleichnisse, die in der Welt der römischen und palästinischen Haushalte, die die Sklaverei und die Unterdrückung der Frauen billigen, ihren Ort haben, ähneln dem Status quo und doch bedrohen sie ihn auch. Wie die frühe Christenheit begann, die Grenzen zwischen einer als authentisch angesehenen traditio und den Lehrmeinungen derer, die anders denken, Häretiker, zu unterscheiden, schien diese Bedrohung zurückgegangen zu sein. Die Häretiker haben die Orthodoxie „bedroht“. Wenn wir aber die Realität der den Texten innewohnenden Ambivalenz bedenken, wie könnte es da anders sein? Ungeachtet der Bemühungen der doktrinären Wachhunde, früher und heute, breiten sich die vielen möglichen Interpretationen der Texte inmitten der ansonsten höchst effektiven imperialistischen Strategien der Orthodoxie aus. Postkoloniales Denken hilft, diese Ambivalenz, die in der scheinbar statischen Konstruktion der Lehre eingeschlossen ist, zu sehen. Es beflügelt ihre Unbotmäßigkeit und trägt dazu bei, die Möglichkeiten zu beleben, relevante Theologien für die Gegenwart zu schaffen. Gregors von Nyssa Bericht über den gefälschten Christus unterstreicht die Ambivalenz und Imitation des Motivs. Es animiert zu aufrührerischen Lesarten des göttlichen Handels zum Zweck der allgemeinen Befreiung. Gregors Christus verhält sich wie ein Trickster mit der Eigenschaft des Vermittlers, oder wie eine Währung, die das Bindeglied zwischen zwei Wirtschaftssystemen, himmlisch und irdisch, darstellt.64 Dieser Christus verkörpert die Mehrdeutigkeit in einem göttlich-menschlichen hybriden Körper. Dieser Körper handelt wie ein „Betrüger“ des „Feindes“, eine echte Fälschung und ein „Gestaltenwandler“, der seine wirkliche Leiblichkeit und Erscheinung unter einem Deckmantel versteckt. Christus handelt als „derjenige, der die Situation wendet“, der nicht nur die Menschheit von der Sklaverei befreit hat, sondern auch seine eigene Versklavung durch einen Trick verhindert, indem er in die ursprüngliche Gestalt zurückkehrt. Der göttliche Betrügersklave ist ein „heiliger Bastler“, der sich einer hoffnungslosen Situation gegenüber sieht. Er arbeitet mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in einer unterdrückenden Situation, um eine Befreiung zu erwirken. Sein „kosmisches Zwischenspiel bezieht unbeschränkt Anlagen des Zuständigkeitsbereichs des Gegenspielers mit ein. Er ist ein Grenzgänger und symbolisiert Multiva-
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Bhabha, Die Verortung der Kultur, 127. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 127. Ruthann Knechel Johansen, The Narrative Secret of Flannery O’Connor. The Trickster as Interpreter, Tuscaloosa 1994, 166.
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lenz.“65 Es ist vielmehr mit „Durchtriebenheit und Kreativität als mit Gewalt“, dass Gott „das Übel überlistet“.66 Origenes und Gregor von Nyssa waren beide seltsamerweise darauf bedacht, einen gewitzten göttlichen Ökonom zu beschreiben, statt eines brutalen Gewaltherrschers mit Omnipotenz. Göttlicher Handel stellt keine absolute göttliche Dominanz dar, sondern nimmt vielmehr die überzeugende Kraft göttlicher Weisheit und Gerechtigkeit wahr. Die göttliche Weisheit kennt die unersättliche Gier des Feindes, die endlose Suche nach Wachstum des Besitzes und Reichtums. Sie verwendet diese „triebhafte Wirtschaft“, um den Feind mit einer höchst begehrten Ware zu ködern, nämlich dem reinen, glänzenden, mächtigen Wort. Wie Raymund Schwager es formuliert hat, wird der Tausch zur Täuschung, die die Verschuldeten und Versklavten befreit.67 Christi göttlicher Handel ist eine Täuschung. Der Täuscher ist auch ein alternativer Wirtschafter, der den dualistischen Strukturen einer weiblichen Geschenk-Wirtschaft, die ausgespielt wird gegen den Gedanken eines perfekt ausbalancierten männlichen Kreislaufs, widersteht, indem er über wundersame Tauschgeschäfte spricht, diese aufzeigt, einführt und verkörpert. Wir können den geschlechtsspezifischen und ökonomischen Machtungleichheiten des conubium und commercium widerstehen, indem wir den göttlichen Handel als ein Gemeinschaftsprojekt, com-mercere, als eine gemeinsame Investition in einen Gesamttopf verstehen. Diese theologischen Entscheidungen formen nicht nur unser Verständnis von Christus, sondern auch wie wir uns selber als wirtschaftlich Handelnde sehen.
Die Umschuldungstheologien der heiligen Sklaverei Oh, wie sehr stehe ich in der Schuld deiner Gnade, und täglich bin ich daran gebunden, lass die Gnade wie eine Fessel mein suchendes Herz an dich binden.68
Die Erinnerung an die endemische Ambivalenz des Betrügers kann uns helfen, dieselben alten Gegensätze wie Herrscher/Sklave, reich/arm, männlich/weiblich zu vermeiden, wenn wir uns diesen göttlichen Handel vorstellen. Wir werden zu Mitinvestoren mit Gott, nicht zu neuen versklavten Schuldigern eines allmächtigen Gottes, die auf ewig in der Schuld eines göttlichen Internationalen Währungsfonds stehen. Wir erlauben uns, die offene 65
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William J. Hynes, Mapping The Characteristics of Mythic Tricksters. A Heuristic Guide, in: Mythical Trickster Figures. Contours, Contexts, and Criticisms, hg. v. William J. Hynes / William G. Doty, Tuscaloosa 1993, 34. Darby Kathleen Ray, Deceiving he Devi. Atonement, Abuse and Ransom, Cleveland 1998, 140. Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre, München 1986, 34. Aus dem Hymnus Come Thou Font Of Every Blessing, Text von Robert Robinson, 1758.
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Komplexität der göttlichen Wirtschaft zu erfahren und verwenden diesen theologischen bildlichen Ausdruck nicht als Technik, um unseren Profit auf Kosten der weniger Informierten, Reichen oder Fähigen zu mehren, sondern als Investition/Inkarnation in das Netz der geschaffenen Welt. Der heilige Betrüger „vergewissert sich, dass es einen Handel gibt“. Er scheint „eine amoralische Handlung, etwas richtiges/falsches vorzuschlagen, das das Leben in Schwung bringt“69. Um den großangelegten Betrug der existierenden Mächte aus dem Konzept zu bringen, hat der göttliche Betrüger „konventionelle Orte in Aufruhr gebracht“ und im Gegenzug „ontologisch schmutzige“ und „behelfsmäßige“ Gelegenheiten für den göttlichen Handel geschaffen.70 Diese betrügerischen Ökonomien haben vieles gemeinsam mit Althaus-Reids „unmoralischen ökonomischen Angeboten“, die dazu beigetragen können, „unsere geistigen Seelen, die auch wirtschaftliche Seelen sind, zu entkolonialisieren“.71 Betrüger können geschlechtsneutral, geschlechtsumgewandelt oder Transvestiten sein. Einem solchen Betrüger Jesus kann man an den ungewöhnlichsten Orten, wie etwa in Jean-Francois Lyotards Libidinöse Ökonomie begegnen. Hier verkörpert der Transvestit Jesus eine Imitation der Erlösung. Indem er/sie sich als Prostituierte/r ausgibt, betätigt er/sie sich in einer Wirtschaft der Begierde und bietet seinen/ihren Körper als göttliche Währung in einer sexualisierten Erlösung dar. Lyotard beschreibt Jesus als eine „berechnende[…] Prostituierte[…]“ die zu Gott sagt: „Du läßt mich sterben, das tut mir weh, aber alle werden dadurch auf ihre Kosten kommen: Perverse und Kretins (»sie wissen nicht, was sie tun«) werden in den gnadenreichen Körper der Schöpfung, das heißt des Kapitals, wiederaufgenommen. Und Gott ist ein Zuhälter, der zu seiner Frau Jesus genauso wie zu Schreber sagt: mach es für mich, mach es für sie. Was Jesus dabei gewinnt, fragt ihr? Und ich antworte, was gewinnt eine Prostituierte, wenn sie alle möglichen Teile ihres Körpers verkauft […].“72
Indem der Transvestit Christus, den Lyotard beschreibt, „die Prostitution im Namen eines höheren Interesse [akzeptiert]“73, wird Luthers Christusbild vom reichen Ehemann und dem Sünder als Hure umgekehrt und Christus als die Prostituierte in die göttliche Transaktion eingeführt. Bei diesem Handel funktioniert die Prostitution des Körpers - eine andere Form der kenosis, der Inkarnation - als Lösegeld, das die Versklavten befreit. Obwohl Lyotard die gegenwärtige Interpretation nicht beabsichtigt haben mag, enthüllt sein Text, wie der Frauenhandel Bereiche der christlichen Erlösung imitiert/verspottet und er deckt die religiös-wirtschaftlichen Untertöne der sexuellen Ausbeutung wirtschaftlich unterdrückter Mädchen und Frauen, deren Körper den Mehrertrag eines erlösenden Lösegeldes für das wirtschaftliche Überleben 69 70
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William J. Hynes, Mapping The Characteristics of Mythic Tricksters, 7. Donna Jean Haraway, Modest Witness@Second-Millenium. Femaleman_Meets_Oncomouse. Feminism and Technoscience, New York 1997, 127, 275, Nr. 2. Althaus-Reid, Indecent Theology, 194. Jean François Lyotard, Libidinöse Ökonomie, übers. v. Gabriele Ricke / Ronald Voullié, durchgesehene und überarbeitete Fassung der Ausgabe: Ökonomie des Wunsches, Bremen 1984, 81. Lyotard, Libidinöse Ökonomie, 77.
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ihrer Familien zahlen, auf.74 Ein transgeschlechtlicher Trickster Christus stellt die „schwer zu fassende Fluidität Jesu“ heraus.75 Er/Sie wechselt den Körper, wird zur echten Währung und entschlüsselt den Handel der sexuellen Wirtschaft. Gott symbolisiert als Zuhälter, als Kunde, die Macht der finanziellen und sexuellen Unterdrückung. Christus, der versklavte und Christus, der prostituierende Betrüger imitiert Ereignisse des göttlichen Handels, der die Realität und Perversität der patriarchalischen Machtstrukturen betont. Wenn wir uns Christus als eine weibliche Prostituierte vorstellen, die dem vorherrschenden Patriarchat mehrdeutig innewohnt und es spottend entschleiert, so gelangen die libidinösen Ökonomien von Geschlecht und Klasse in unser Blickfeld. Lyotards Christus überschreitet die Grenze des Anstands, wenn er/sie ihren Körper als Ware anbietet und den göttlichen Handel besiegelt. Dieser göttliche Handel mit seinem queer-gegenderten und mehrdeutigen akzeptablen/inakzeptablen Tausch stellt die patriarchalische Konstruktion der menschlichen und theologischen Ökonomien in Frage. Trotz allem ist eine Queer-Theologie an und für sich nicht resistent gegenüber dem Heterosexismus. Althaus-Reid erinnert uns daran, dass auch „ein transgeschlechtlicher Ausdruck des Heiligen“ in der aztekischen Anbetung nicht notwendigerweise „eine transformierende Macht in den wirtschaftlich-sozialen Beziehungen“ darstellte.76 Eine queere Geschlechtlichkeit stellt kritische Fragen an die patriarchalisch geprägte Geschlechtlichkeit und die theologischen Erzählungen nur bis zu dem Punkt, an dem es nicht selbst ein Produkt wird, das konsumierbar und damit leicht kopierbar ist. In ähnlicher Weise verhält sich der Aufstieg einer wachsenden Anzahl von AfroAmerikanerInnen und Latino/as in die amerikanische Mittelklasse nur wenig subversiv gegenüber einer Kultur, die zunehmend Privilegien und Teilhabe auf diejenigen beschränkt, die einen gewissen ökonomischen Status haben. Der alte calvinistische Anspruch, dass eine gewisse wirtschaftliche Stufe im Leben an die religiöse oder ökonomische Erlösung gekoppelt ist, wird dabei bewahrt. Obwohl es scheint, dass andere Geschlechter und Farben der Menschen zunehmend von den Strukturen des späten Kapitalismus profitieren, sind die Muster des Ausschlusses und der Unterdrückung im selben Zug bestätigt, oftmals sogar verschärft. Obwohl solche kulturellen hybriden Persönlichkeiten, die sich erfolgreich das Informationszeitalter zunutze gemacht haben, den Erfolg der postkolonialen Integration zu repräsentieren scheinen, sind die Klassenschranken und die ökonomischen Grenzen fest verankert, wie eh und je, und werden in den USA sowie in anderen Ländern immer mehr betont. Gleichzeitig sind die Schulden, die viele Länder an die globale Wirtschaftspolitik ketten, größer geworden, sogar als sich die Versprechun-
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Siehe Rita Nakashima Brock / Susan Brooks Thistlethwaite, Casting Stones. Prostitution and Liberation in Asia and the United States, Minneapolis 1996; und Sietske Altink, Stolen Lives. Trading Women into Sex and Slavery, London / New York 1995. Althaus-Reid, Indecent Theology, 112. Althaus-Reid, Indecent Theology, 18.
Göttlicher Handel. Eine postkoloniale Christologie …
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gen der Welthandelsorganisation und des Internationalen Währungsfonds als leer erwiesen haben.77 Unsere geistigen Praktiken, unsere Theologien, müssen auf diesen Rhythmus antworten, da sie ein Teil der gelebten Realität sind. In die redemptio continua involviert zu sein, heißt, im verwandelnden Kontext zu sein, zu leben und dafür einzutreten. Dieser Kontext ist verbunden mit einem auf Rückmeldungen reagierenden Kreislauf, der regelmäßig die Effektivität und Aktualität der Strategien des göttlichen Handels überprüft. Für die Praxis der Theologie bedeutet es, dass wir über die dogmatischen Lehren in ihrer Mehrdeutigkeit nachsinnen sollten, ohne zu versuchen, diese aufzulösen, was für so viele Theologien eine Versuchung ist. Nach Marcella Althaus-Reid würde eine postkoloniale Theologie eher einräumen, dass „es viele Ungereimtheiten gibt“ als „zu einer Kunst zu werden, wie man diese auslöscht“78. Postkoloniale Theorien können den TheologInnen helfen, mit den Fragen, die sie zu schnell beantworten wollen, weiter zu leben und diese weiter zu bearbeiten. Ein Leben in der Gegenwart der Mehrdeutigkeit weigert sich, Schales, Dogmatisches zuzulassen, ohne Reaktion auf die Lebendigkeit des Textes und der Tradition, sondern es bedeutet, offen zu sein für die prozesshaften Eigenschaften des gesamten göttlichen Handels. So fordert uns die Mehrdeutigkeit und Imitation, die eingebettet ist in den göttlichen Handel, auf, die volle Realität Gottes und des Lebens zu erkunden und zwar über unsere Versuche, das Göttliche zu domestizieren, hinausgehend. Für die Christen ist die göttliche Investition in die Inkarnation Jesu ein entscheidender Ausdruck der göttlichen Wirtschaft. Die jetzige Rekonstruktion der göttlichen Wirtschaft versteht diese Investition mehr als eine Anzahlung oder „matching grant“, zu der auch wir eher unseren Beitrag leisten müssen, als dass ein „voller Preis“ bezahlt wird. Der göttliche Handel schafft eine Umtauschrate zwischen menschlichem und göttlichem Wirtschaften, durch die gemeinsame und gegenseitige Investition, zu der wir fortlaufend Formen des widerständigen ökonomischen Handelns beisteuern können. So erscheint Christus nicht als Botschafter für eine göttliche Omnipotenz oder als einer, der alles besitzt, sondern als eine berechenbare, weise und gerechte Macht die - wie ein Betrüger - in und durch die Situationen der Unterdrückung arbeitet. Der göttliche Wirtschaftsexperte ist stets schon im Geschäft (bekleidet), verankert und verkörpert in der Wirtschaft der Schöpfung. Wie Gregor von Nyssa es bezeichnet: „Wer ist so schwach im Geiste, daß er beim Anblick des Alls nicht zu dem Glauben käme, daß die Gottheit in allem ist, (alles) umhüllt und umarmt und bewohnt?“79 Der göttliche Handel weist auf erlösende Formen des Handelns hin, die nicht nur als Jesu Menschwerdung, Tod und Auferstehung verstanden werden sollen, sondern sich auch auf die Gedanken und Handlungen derjenigen ausdehnen, die solche Taten der Erlösung in ihrem eigenen Leben nachahmen und imitieren. Wir können den geschlechtsspezifischen und wirtschaftlichen 77 78 79
Siehe z.B. die scharfen Beschuldigungen eines früheren Weltbankoffiziellen: Joseph E. Stiglitz, Globalization and Its Discontents, New York / London 2002. Althaus-Reid, Indecent Theology, 42. Gregor von Nyssa, Die große katechetische Rede, 68.
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Ungleichheiten von conubium und commercium entgegenwirken, indem wir den göttlichen Handel als gemeinsames Unternehmen, com-mercere, eine Form von beziehungsmäßigem, intersubjektivem Austausch, als eine gemeinschaftliche Investition in einen „allgemeinen Fond“ rekonstruieren. Diese theologischen Entscheidungen formen nicht nur unser Verständnis von Christus, sondern auch, wie wir uns selbst als wirtschaftlich Handelnde wahrnehmen. Es ist meine Hoffnung, dass dieses rekonstruierte Bildnis des göttlichen Handels zu erlösenden Praktiken und Wechselwährungen anregt, ohne dass die vielfältigen, verwickelten und aufeinander bezogenen schmutzigen Ökonomien in unserer Welt geleugnet werden. Erstveröffentlichung als: Marion Grau, Divine Commerce. A Postcolonial Christology for Times of Neocolonial Empire, in: Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, hg. v. Catherine Keller / Michael Nausner / Mayra Rivera, St. Louis 2004, 164-185.
Die Verbindungen herstellen. Postkolonialismus-Studien und feministische Bibelinterpretation Kwok Pui Lan
In their feminist practices of reading and writing, Two-Thirds World women call for the decolonization of inherited colonial education systems, languages, literary canon, reading methods, and the Christian religion, in order to arrest the colonizing ideology packed in the claims of religious conversion, Western civilization, modernization, development, democratization, and globalization. Musa W. Dube1 Vor einiger Zeit stieß ich in einem Bibliotheksarchiv beim Lesen der Schriften von Missionarinnen auf eine faszinierende Geschichte über eine chinesische Frau. Eine Missionarin berichtete an der Wende zum 20. Jahrhundert, dass eine chinesische Frau, die kaum lesen konnte, mit einer Nadel Bibelverse ausschnitt, in denen Paulus Frauen anwies, gehorsam zu sein und in der Kirche zu schweigen. Ich habe längst vergessen, wo ich diese Geschichte gelesen habe, aber sie ist mir als lebendiges Zeugnis für die Tatsache im Gedächtnis geblieben, dass chinesische Frauen nicht passive Empfängerinnen biblischer Lehren waren. Anstatt sich der sexistischen Ideologie des Paulus anzuschließen, machte diese Frau von der Freiheit Gebrauch, auszuwählen und das, was sie als schädlich für Frauen ansah, zurückzuweisen. Eine postkoloniale feministische Interpretation der Bibel schafft einen Raum, sodass das Lesen dieser und anderer Frauen in ähnlichen kolonialen und semi-kolonialen Situationen in Erinnerung gebracht werden kann, um so unsere historische und moralische Vorstellungskraft anzuregen. Denn diese Geschichte zeigt, wie unterdrückte Frauen die Bibel, ein von den Kolonialbeamten, Missionaren und Pädagogen eingeführtes Produkt, in eine Stätte der Auseinandersetzung und des Widerstandes für ihre eigene Emanzipation verwandelt haben. Postkoloniale feministische Kritiker und Kritikerinnen setzen diese wichtige Aufgabe fort und gewinnen nicht nur Einsichten in die Praxis gewöhnlicher Leserinnen, sondern decken auch die unzähligen Arten und Weisen auf, in denen Bibelwissenschaftler und Bibelwissenschaftlerinnen, unter ihnen auch FeministInnen, entweder an Kolonialismus und
1
Musa W. Dube, Postcoloniality, Feminist Spaces, and Religion, in: Postcolonialism, Feminism, and Religious Discourse, hg. v. Laura E. Donaldson / Kwok Pui-lan, New York 2002, 115.
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Neokolonialismus beteiligt gewesen sind oder sich des Kolonialismus und Neokolonialismus nicht bewusst waren.
Postkoloniale Kritik und feministische Bibelinterpretation Während postkoloniale Kritik von Literaturkritikern und in den Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften schon seit einiger Zeit eingesetzt worden ist, wird sie auf dem Gebiet der Religionswissenschaft und Christentumsforschung erst seit Kurzem verwendet. Postkoloniale Theorien wurden im Bereich der Bibelwissenschaft in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt, hauptsächlich durch die Werke von Kritikern aus der Dritten Welt und von ethnischen Minderheiten in den Vereinigten Staaten. In Decolonizing Biblical Studies zeichnet Fernando Segovia die Entwicklung der historisch-kritischen Bibelexegese vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nach.2 Er erörtert, dass bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts historische Kritik das herrschende Paradigma in der Disziplin gewesen ist. Seit dem Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hat es in der historisch-kritischen Bibelexegese eine rapide Zunahme von Literaturkritik und Kultur- und Sozialkritik gegeben. Die späten achtziger und frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts sahen das Eindringen der Kulturwissenschaften und die sich daraus ergebenden konkurrierenden Formen des Diskurses. Er charakterisiert eine solche Entwicklung als einen Prozess der „Befreiung“ und „Dekolonisierung“, in dem der universale, objektive Leser allmählich durch den interessierten, lokalen und perspektivischen Leser ersetzt wird. Er merkt an, dass das Feld der Bibelwissenschaft nicht länger von weißen Männern aus der Mittelschicht monopolisiert wird. Die Aufnahme von westlichen Frauen, von Männern und Frauen von außerhalb des Westens sowie auch von nichtwestlichen Minderheiten im Westen hat eine Vielfalt von Methoden und Theorien zur Folge gehabt, eine Erweiterung des Untersuchungsumfangs und eine Explosion der interpretierenden Stimmen. Es ist wichtig zu betonen, dass postkoloniale Kritik die Einsichten der historisch-kritischen Forschung nicht ablehnt, weil vieles aus dieser Arbeit zu einem Verständnis der „Weltlichkeit“ der Texte beiträgt, d. h. der materiellen und ideologischen Hintergründe, vor denen die Texte entstanden und auf welche die Texte antworteten. Der Unterschied liegt darin, dass postkoloniale Kritiker und Kritikerinnen neue Fragen in Bezug auf die historischen und literarischen Kontexte stellen und dadurch die moralische Vorstellungskraft des Interpretationsprozesses erweitern. Zum Beispiel untersuchen postkoloniale Kritiker die kolonialen Verstrickungen in den Texten und heben den Einfluss von Weltreich und Kolonisierung auf die Prägung des kollektiven 2
Fernando F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies. A View from the Margins, Maryknoll 2000, 121-122.
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Gedächtnisses des jüdischen Volkes hervor, auf die literarische Produktion und Redaktion biblischer Texte und den Prozess der Kanonbildung. Die kulturelle Produktion und literarische Vorstellungskraft des hebräischen Volkes und der frühen Christen wurden ausnahmslos von der sozialen und politischen Herrschaft aufeinanderfolgender Weltreiche geprägt: in Assyrien, Babylon, Persien, Griechenland und Rom. Postkoloniale Kritiker arbeiten in ihren rekonstruierenden Interpretationen des Textes die Kämpfe und den Widerstand in den unterschiedlichen kolonialen Kontexten heraus, nehmen die Stimmen der Frauen und anderer Subalterner auf und berücksichtigen postkoloniale Anliegen wie Hybridität, Deterritorialisierung und Bindestrichoder multiple Identitäten.3 Daher hat postkoloniale Kritik das Potential, den Interpretationsprozess zu erweitern und dabei die Bibel zu einer hoch relevanten und unschätzbaren Quelle für unsere postkoloniale Situation zu machen. Manche mögen sich fragen, ob postkoloniale Analyse, die sich hauptsächlich aus den Erfahrungen des modernen Kolonialismus entwickelte, auf Situationen in der Antike angewendet werden kann, die vielleicht nicht mit modernen Situationen vergleichbar sind.4 Ich möchte darauf hinweisen, dass Geschichte innerhalb des mentalen Apparates und Rahmens, den wir konstruiert haben, interpretiert wird. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich Bibelwissenschaftler nicht gescheut, unter Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden, auch denen mit einer marxistischen Neigung, „moderne“ Theorien einzusetzen, um antike Gesellschaften zu beleuchten. Postkoloniale Theorien fügen eine kritische Dimension hinzu, indem sie sich auf das Weltreich und die Kolonisation, das Zentrum und die Peripherie, die Exilierten und die in die Diaspora Gedrängten konzentrieren. Zum Beispiel argumentiert Archie Lee in seinem Vergleich von Trito-Jesaja und der postkolonialen Lage Hongkongs nicht, dass imperiale/koloniale Erfahrung sich quer durch Zeit und Kultur ähneln würde, obwohl es Ähnlichkeiten geben könnte.5 Was er zu zeigen versucht, ist, dass die Probleme, denen sich die hybridisierten Menschen in Hongkong angesichts ihrer Rückkehr nach China gegenübersehen, vielleicht ein neues Licht auf die Bedeutung von Rückkehr sowie auch auf die Auseinandersetzungen und Kontroversen in der post-exilischen Gemeinschaft werfen können. Dabei lädt er uns ein, eine postkoloniale Vorstellungskraft zu benutzen, um die kulturelle Welt der aus dem Exil Zurückkehrenden zu betreten und dadurch die komplexen und schmerzlichen Identitätsbildungsprozesse besser zu verstehen. Neben der Beleuchtung antiker Texte macht postkoloniale Kritik sichtbar, wie moderne Formen der Textlektüre mit kolonialen Interessen im Westen unter einer Decke stecken. Die historisch-kritische Methode entstand während der Expansion der europäischen Mächte und gewann an Dynamik, als 3 4 5
R. S. Sugirtharajah, The Bible and the Third World. Precolonial, Colonial and Postcolonial Encounters, Cambridge 2001, 251-253. Siehe David Joblings Beitrag in: The Postcolonial Bible. Four Reviews, in: Journal for the Study of the New Testament 74 (1999), 117-119. Archie C. C. Lee, Identity, Reading Strategy and Doing Theology, in: Biblical Interpretation 7 (1999), 156-173.
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Imperialismus und Kolonialisierung ihren Zenith im späten 19. Jahrhundert erreichten. Geprägt vom Streben nach Rationalität und der Entwicklung eines historischen Bewusstseins, das in der Aufklärung seinen Anfang nahm, war die historisch-kritische Methode im soziokulturellen Ethos ihrer bestimmten Zeit verwurzelt. Als wissenschaftlich, akademisch und objektiv begrüßt, setzten die sie Praktizierenden im 19. Jahrhundert orientalistische Philologie, Rassentheorie und ein evolutionäres Verständnis von „Religionen“ ein.6 Sobald sich die historisch-kritische Methode als die Norm für die Untersuchung der Bibel durchgesetzt hatte, schloss sie die Gültigkeit anderer kontextueller Lesarten aus und wertete die Beiträge nichtakademischer Interpretationen ab. Neben der Untersuchung biblischer Interpretationspraktiken im Westen stellen die Postkolonialismus-Studien einen hilfreichen Rahmen zur Verfügung, um die Geschichte der Bibelinterpretation in der Dritten Welt zu beurteilen. In den letzten drei Jahrzehnten haben aus der Dritten Welt und aus indigenen und Dalit-Gemeinschaften stammende Bibelwissenschaftler und Theologen eine stattliche Reihe biblischer Kritiken vorgestellt, die Einsichten aus oraler Hermeneutik, Literaturtheorie, Rezeptionsästhetik und anderen indigenen Methoden nutzen. R. S. Sugirtharajah hat einen hilfreichen vergleichenden Rahmen zur Verfügung gestellt, um den aus Afrika, Asien und Lateinamerika kommenden wachsenden Datenbestand biblischer Interpretationen zu organisieren und deren unterschiedliche hermeneutische Interessen wahrnehmbar zu machen und die vielen Ansätze vergleichen und kontrastieren zu können.7 Sugirtharajah bezieht sich in erster Linie auf Bibelinterpretationen und Kommentare aus dem südasiatischen Kontext und schlägt vier unterschiedliche Ansätze in Bezug auf eine asiatische Hermeneutik vor, die, wie er argumentiert, auch in anderen Teilen der Dritten Welt gefunden werden können. Die orientalistische Methode hat das Goldene Zeitalter der indischen Zivilisation beschworen, das auf Sanskrit und auf brahmanischen Texten gründet. Im Gegensatz dazu versuchten die Anglizisten, die indigenen Texte durch westliche Bildung zu ersetzen, sodass die Kolonisierten in die Kultur der Kolonisierenden assimiliert werden können. Die nativistische Methode stellt sowohl westliche Theorien als auch den elitären orientalistischen Ansatz in Frage, indem sie die vernakulare Tradition und die Verwendung volkstümlicher Quellen wiederbelebt. Sugirtharajah tritt für den postkolonialen Ansatz ein, der, wie er meint, am besten die kolonialen Zeichen in biblischen Texten analysiert und alternative Lesarten anbietet, die Nationalismus, Identität, Ethnizität und subalterne und feministische Fragen ansprechen, aber auch koloniale sowie auch metropolitane Interpretationen hinterfragen. Auch wenn die Arbeiten postkolonialer männlicher Kritiker manchmal die wissenschaftlichen Arbeiten von Frauen diskutieren, bleibt Gender ein nebensächliches Thema in ihrer Gesamtanalyse. Postkoloniale feministische 6
7
Kwok Pui-lan, Jesus/The Native. Biblical Studies from a Postcolonial Perspective, in: Teaching the Bible. The Discourses and Politics of Biblical Pedagogy, hg. v. Fernando F. Segovia / Mary Ann Tolbert, Maryknoll 1998, 69-85. Sugirtharajah, The Bible and the Third World; und R. S. Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism. Contesting the Interpretations, Maryknoll 1998.
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Kritiker und Kritikerinnen haben die komplexe Beziehung zwischen Kolonialismus und Patriarchat so stark herausgestellt, dass die Analyse des einen ohne das andere unvollständig bleibt. Jene männlichen postkolonialen Kritiker, die die Frage nach dem Geschlecht übergehen, laufen Gefahr, zu übersehen, dass Kolonialismus den Disput der männlichen Macht betrifft und dass patriarchale Ideologie im kolonialen Prozess ständig umgeformt und umformuliert wird. Auf der anderen Seite spielen diejenigen feministischen Kritiker, die Gender von dem größeren ökonomischen und kolonialen Kontext trennen, mit der Gefahr, eine schiefe Interpretation zu liefern, die dazu tendiert, die Interessen der sozial und ökonomisch Privilegierten zu reflektieren. Die Untersuchung der Fugen zwischen unterschiedlichen Formen der Unterdrückung unter dem Schatten des Weltreichs macht das spannende postkoloniale feministische Projekt aus. Wie die asiatisch-amerikanische Bibelwissenschaftlerin Gale Yee gesagt hat: „Ich bin über die Jahre in meinen feministischen Untersuchungen der Bibel zu der Überzeugung gekommen, dass die Gender-Forschung Rasse, Klasse und kolonialen Status als Analysekategorien einbeziehen muss.“8
An postkolonialer Kritik interessierte feministische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen übernehmen unterschiedliche Interpretationsansätze, von der Ideologiekritik bis hin zur literarisch-rhetorischen Methode, aber sie verbindet einige gemeinsame Fragen. Erstens wollen sie untersuchen, wie die Symbolisierung von Frauen und der Einsatz von Gender im Text zu Klasseninteressen, Produktionsmethoden, Konzentration von Staatsmacht und kolonialer Herrschaft in Beziehung stehen. In Poor Banished Children of Eve setzt Gale Yee eine anspruchsvolle Ideologiekritik ein, um zu zeigen, wie die „bösen Frauen“ in der hebräischen Bibel als „sexuelle Metaphern“ und „symbolische Alibis“ für die Kämpfe der männlichen Eliten dienen, die politische, wirtschaftliche und soziale Macht ausüben. Zum Beispiel wurden in Hesekiel 23 zwei sexuell unersättliche Schwestern benutzt, um zwei rivalisierende Königreiche zu symbolisieren, personifiziert als Ohola (Samaria) und Oholiba (Jerusalem), die in die fremden Nationen Ägypten, Assyrien und Babylon verliebt waren. Yee argumentiert, dass die brutale pornografische Geschichte im Zusammenhang der kolonialen Beziehung zwischen Israel und Juda und den fremden Mächten gesehen werden muss, die schließlich zur Eroberung und dem Exil der Eliten führte.9 Die Geschichte wurde durch die Linse eines kolonisierten Mannes aus der priesterlichen Elite während der letzten Tage der Nation und dem bevorstehenden Exil des Sektors der oberen Klasse gesehen. Im Text wurde die Frau als Trope für das Land und die Nation benutzt und sexuelle Bilder wurden zu Tropen für koloniale Herrschaft. Hesekiel pflichtet der patriarchalischen Geschlechterideologie bei und stellt Juda und Israel als weiblich dar, als die unterworfenen kolonialen Untertanen, während die fremden Aggressoren hypermaskulin sind. Die fremden anderen wurden rassifiziert und sexualisiert, und zwar mit weit höherer Po8 9
Gale A. Yee, Poor Banished Children of Eve. Women as Evil in the Hebrew Bible, Minneapolis 2003, 4. Yee, Poor Banished Children of Eve, 111-134.
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tenz und Virilität als die entkräftete Führung Judäas. Für Yee war Hesekiel 23 ein Versuch des Propheten, mit dem persönlichen und kollektiven Trauma der Kolonisation, Eroberung und des Exils der königlichen und priesterlichen judäischen Aristokratie, zu der auch er gehörte, fertig zu werden. Ihre multiaxiale Interpretation zeigt, warum die ausschließliche Konzentration auf Gender und Sexualität bei einigen feministischen Interpreten verfehlt, die polyvalente Bedeutung der sexuellen Metaphern zu erfassen. Sie schreibt: „Die Pornographie dieser Texte sollte nicht einfach als eine andere Form patriarchaler Gewalt chiffriert werden, sondern als kolonialer ethnischer Konflikt, der als sexualisierte Begegnung gerahmt ist.“10 Zweitens richten postkoloniale feministische Kritiker und Kritikerinnen besondere Aufmerksamkeit auf die biblischen Frauengestalten in der ‚Kontaktzone‘ und präsentieren rekonstruierende Interpretationen als Gegenerzählung. Eine Kontaktzone ist der Raum kolonialer Begegnungen, in dem Menschen mit unterschiedlicher geografischer und historischer Herkunft miteinander in Kontakt gebracht werden und der normalerweise von Ungleichheit und konfliktbeladenen Beziehungen geprägt ist.11 Eine solche Figur ist die Prostituierte Rahab in Josua 2 während der Belagerung Jerichos. In der Geschichte wurde Rahab dafür belohnt, dass sie die von Josua gesandten Spione geschützt hatte, und sie, als eine kanaanitische Andere, wechselte über, um in Israel zu leben, und sie erhielt einen hohen Status als die Ahnin von David und Jesus (Mt 1, 5). Laura Donaldson liest die Rahab-Geschichte nicht aus der jüdischen, sondern aus der kanaanitischen Perspektive und stellt sie in den Kontext der kulturellen und historischen Notlage indigener Frauen während einer Eroberung. Rahabs Geschichte erinnert sie an die Ko-Optierung und Ausbeutung der Sexualität indigener Frauen als einem integralen Bestandteil der weißen kolonialen Mythen und Ideologie.12 Rahabs Geschichte veranschaulicht die doppelte Kolonisierung von Frauen: Über ihre Körper wird von fremden Männern verfügt und ihr Land wird in Besitz genommen. Musa Dube aus Botswana benutzt diese Geschichte als ein Sprungbrett für ihre postkoloniale feministische Methode und nennt diese „Rahabs Interpretationsprisma“, durch das „die historische Tatsache kolonisierender und dekolonisierender Gemeinschaften, die den feministischen Raum der Befreiungspraktiken bewohnen“, hervorgehoben wird.13 Dube argumentiert, dass jene feministischen Leser und Leserinnen, die zur kolonisierenden Gemeinschaft gehören, einen dekolonisierenden Standpunkt einnehmen müssen, während zweifach kolonisierte Frauen imperiale Unterdrückung über patriarchale Unterdrückung zu privilegieren haben werden. Eine dekolonisierende Interpretation müsste eine Gegenerzählung präsentieren, indem sie die Erinnerung der vielen „Rahabs“ aufnimmt, die sich gegen die Kolonisierenden erhoben und das Meistergenre untergraben haben. Solch eine Interpretation 10 11 12 13
Yee, Poor Banished Children of Eve, 111. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992, 6. Laura E. Donaldson, The Sign of Orpah. Reading Ruth through Native Eyes, in: Vernacular Hermeneutics, hg. v. R. S. Sugirtharajah, Sheffield 1999, 29-32. Musa W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 122.
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wird neue postkoloniale Räume kultivieren, in denen neue Erzählungen, die von Gleichheit und Freiheit sprechen, gesponnen werden. Drittens untersuchen postkoloniale feministische Kritiker und Kritikerinnen metropolitane Interpretationen, einschließlich jener, die sowohl von männlichen als auch von feministischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen angebotenen werden, um zu sehen, ob deren Interpretationen die kolonisierende Ideologie dadurch stützen, dass sie den imperialen Kontext und dessen Agenda unter den Teppich kehren, oder ob sie zur Dekolonisierung der imperialisierenden Texte um der Befreiung willen beitragen. Indem sie die Geschichte der kanaanäischen Frau in Mt 15, 21-28 als Fallstudie interpretiert, zeigt Dube, dass weiße männliche Wissenschaftler keine Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, wie die göttlichen Behauptungen der Heilsgeschichte, davidisches Königtum und universelle Mission als kolonisierende Ideologie eingesetzt werden können. Ferner haben sie keine Anstrengungen gezeigt, die Beziehung zwischen Gender, Mission und Weltreich zu untersuchen. Kurz, ihr mit ihrer Geschlechts-, ethnischen und Klassenzugehörigkeit verbundenes Privileg erklärt ihr mangelndes Interesse, die im Text eingeschriebenen Machtbeziehungen zu problematisieren.14 Obwohl weiße feministische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich auf Gender als einer Hauptkategorie der Analyse konzentriert haben, betrachten ihre Arbeiten im Allgemeinen nicht den imperialen Kontext des Matthäusevangeliums und wie die unterschiedlichen lokalen Gruppen um die Gunst des Weltreiches wetteiferten. Sie haben auch versäumt, die Missionsideologie im Text zu befragen und nehmen weiterhin an, dass biblische Traditionen für alle Kulturen allgemeingültig sind. Folglich und trotz der guten Absicht, die nichtjüdische Frau als eine Vorfahrin innerhalb der Geschichte der frühen Christenheit zurückzugewinnen, dekonstruiert ihr rekonstruierendes Projekt nicht die in die Missionspassagen verwurzelten Machtbeziehungen. Aus ihren Analysen der Arbeiten männlicher und weiblicher metropolitaner Interpreten schließt Dube, dass diese im Großen und Ganzen den Imperialismus eingeklammert und ihm auf diese Weise beigepflichtet haben. Zudem hat ihre Untersuchung weißer feministischer Interpretationen gezeigt, dass „die patriarchale Analysekategorie sich nicht zwangsläufig in imperiale Kritik übersetzt“.15 Viertens, um die herrschenden westlichen patriarchalen Interpretationen zu unterminieren, betonen postkoloniale feministische Kritiker und Kritikerinnen, besonders in Afrika, die Rolle und die Beiträge von gewöhnlichen Lesern und Leserinnen. Wie Dube erklärt, sind gewöhnliche Leser nicht einfach nur nicht-akademische Leser – zu ihnen gehören die meisten Leser aus der Dritten Welt, die außerhalb der anerkannten akademischen Traditionen der Bibelinterpretation stehen und die an die Peripherie der globalen ökonomischen Strukturen gedrängt werden. Die Einbeziehung gewöhnlicher Leser soll die interpretierende Gemeinschaft vergrößern und betonen, dass diese Leser „unterdrücktes Wissen“ besitzen, das akademische Eliten oftmals abtun. Als Dube und ihre Kolleginnen Frauen in den Afrikanischen Unabhängi14 15
Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, 168-169. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, 184.
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gen Kirchen besuchten, gingen sie nicht davon aus, als akademisch ausgebildete Frauen ein besonderes Wissen zu besitzen, um diese Frauen zu belehren. Sie gingen zu diesen nicht-akademischen Frauen nicht nur, um mit ihnen zu lesen, sondern auch, um von ihnen zu lesen, weil sie glaubten, dass diese Frauen Interpretationsstrategien anbieten, die aus ihren Kämpfen mit Imperialismus und Sexismus entstehen.16 Sie sehen, dass diese gewöhnlichen Leserinnen sich nicht mit einem textorientierten Ansatz beschäftigen, sondern durch den Einsatz von Liedern, dramatisierter Erzählung und Interpretation durch Wiederholung gemeinschaftliche und partizipatorische Interpretationsmethoden verfolgen. Als Mitglieder der professionellen Gilde stellen die akademisch ausgebildeten Frauen häufig fest, dass sie nicht darauf vorbereitet sind, diese lebendigen mündlichen Formen der Auseinandersetzung mit der Bibel zu verstehen. Aus dieser Erfahrung heraus müssen sie sich umstellen und umlernen.17 Schließlich schenken postkoloniale feministische Kritikerinnen dem immer größere Aufmerksamkeit, was Mary Ann Tolbert die Politik und Poetik der Verortung genannt hat. Die Politik der Verortung bedeutet für Tolbert die Komplexität des sozialen Hintergrundes einer Person, wie z. B. Gender, rassebezogene Herkunft und sexuelle Orientierung sowie auch der nationale und institutionelle Kontext und der ökonomische Status und Bildungsstand, die bestimmen, wer spricht und wer wahrscheinlich zuhören wird. Zur Poetik der Verortung sagt sie: „Jede Interpretation eines Textes, insbesondere eines traditionell so einflussreichen Textes wie der Bibel, muss nicht nur im Hinblick darauf beurteilt werden, was ihr literarischer oder historischer Gehalt sein kann, sondern auch in Bezug auf ihre theologischen und ethischen Auswirkungen auf die Integrität und Würde von Gottes Schöpfung.“18
Weiße Frauen, die sich an postkolonialer Interpretation beteiligen, sind sich ihrer vielfältigen Identitäten sowohl als Unterdrückerinnen, aber auch als Unterdrückte bewusst. Sharon Ringe hat z. B. artikuliert, wie sich weiße Feministinnen und andere mit Macht mit dem ambivalenten Status, sowohl Kolonisierte als auch Kolonisierende zu sein, anstrengen müssen, um die Praktiken der kolonialen Herrschaft zu entschärfen und die Tischgemeinschaft mit anderen für eine größere Inklusivität zu teilen.19 Ähnlich erkennen die wissenschaftlich ausgebildeten afrikanischen Frauen die Privilegien, die sie gegenüber gewöhnlichen Leserinnen aufgrund ihres ökonomisch und bildungsmäßig Erreichten haben. Sie sind sich der ambivalenten Anstrengungen sehr bewusst, für diese zu sprechen oder deren Sichtweisen in der aka16
17 18
19
Musa Dube, Readings of Semoya. Batswana Women Interpretations of Matt. 15:21-28, in: Semeia 73 (1996), 111-129; Gloria Kehilve Plaatjie, Toward a Post-apartheid Black Feminist Reading of the Bible. A Case of Luke 2:36-38, in: Other Ways of Reading. African Women and the Bible, hg. v. Musa W. Dube, Atlanta 2001, 114-142. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, 190-192. Mary Ann Tolbert, When Resistance Becomes Repression. Mark 13:9-27 and the Poetics of Location, in: Reading from This Place, hg. v. Fernando F. Segovia / Dies., Bd. 2, Minneapolis 1995, 333. Sharon H. Ringe, Places at the Table. Feminist and Postcolonial Biblical Interpretation, in: The Postcolonial Bible, hg. v. R. S. Sugirtharajah, Sheffield 1998, 136-151.
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demischen Umgebung zu präsentieren.20 Gale Yee bemerkt dazu, dass in der amerikanischen Populärkultur asiatische und asiatisch-amerikanische Frauen als hoch erotisierte Figuren dargestellt werden, um so rassistische Ängste und die Angst vor Fremden aufzulösen. Solch stereotypen kulturellen Repräsentationen haben sie sensibel gemacht für die Symbolisierung von Frauen in der hebräischen Bibel als böse.21 Ihre Aufmerksamkeit auf die Verwendung einer Rhetorik der Sexualität in der Bibel ist also stark von ihrer asiatisch-amerikanischen sozialen Verortung beeinflusst.
Postkolonialismus, Gender und frühes Christentum Postkoloniale Kritik bietet wichtige Einblicke, um den Schnittpunkt zwischen Gender, Weltreich und der Bildung christlicher Gemeinschaften im Neuen Testament zu untersuchen. Dennoch haben feministische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Vergangenheit selten solche Einblicke in ihren Untersuchungen der Positionen von Frauen oder der Konstruktion von Gender im frühen Christentum genutzt, weil sie den römischen imperialen Kontext, in dem Juden und auch Christen lebten, nicht in den Vordergrund gerückt haben. Einer der Gründe dafür ist, dass die Bibelwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert den kulturellen Kontext der christlichen Ursprünge in Judaismus versus Hellenismus dichotomisiert hat. Viele Anstrengungen wurden unternommen, um festzustellen, ob die Herkunft eines christlichen Textes zu seinen jüdischen oder hellenistischen Quellen oder Einflüssen zurückverfolgt werden kann. Nachdem die Diskussion solche Formen angenommen hat, und zwar oft mit anti-jüdischer Voreingenommenheit, wurden römische imperiale Ideologie und Politik weitgehend verschleiert und als unbedeutend für die vorliegende Interpretationsarbeit erachtet.22 Außerdem, wie Mary Rose D’Angelo eindringlich bemerkt hat: „Die imperialen Kulturen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in denen klassische und bibelexegetische Studien betrieben wurden (Deutschland, England, Frankreich, die Vereinigten Staaten), wurden sehr und explizit entweder mit dem
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21 22
Plaatjie, Toward a Post-apartheid Black Feminist Reading, 119-120; Beverley G. Haddad, Constructing Theologies of Survival in the South African Context. The Necessity of a Critical Engagement between Postmodern and Liberation Theology, in: Journal of Feminist Studies in Religion 14/2 (1998), 5-18. Yee, Poor Banished Children of Eve, 159. Mary Rose D’Angelo, Early Christian Sexual Politics and Roman Imperial Family Values. Rereading Christ and Culture, in: The Papers of the Henry Luce III Fellows in Theology, 6, hg. v. Christopher I. Wilkins, Pittsburgh 2003, 24-25. Warren Carter bemerkt auch, dass sich die Forschung des Matthäusevangeliums stark mit dessen jüdischem Kontext beschäftigt hat, und zwar unter Vernachlässigung des Einflusses des Römischen Reiches; siehe Warren Carter, Matthew and Empire. Initial Explorations, Harrisburg 2001.
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Römischen Reich selbst (Deutschland, England, Frankreich) oder mit der imperialen Republik (Frankreich und die Vereinigten Staaten) identifiziert.“23
Wissenschaftler tendierten aufgrund ihrer sozialen Verortung dazu, das Weltreich entweder als nützlich oder neutral zu betrachten, und haben den politischen Kontext nicht so scharf in Frage gestellt, so wie dies Befreiungstheologen getan haben. Ohne diesen größeren kulturellen und politischen Kontext der Bibelwissenschaft zu übergehen, möchte ich behaupten, dass es auch bestimmte Gründe gibt, warum die von feministischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen konstruierten interpretativen Modelle den römischen imperialen Kontext heruntergespielt haben. Das historisch-rekonstruktionistische Modell entzaubert die Ansprüche auf Objektivität, die von androzentrischen Historikern erhoben werden, und macht sich daran, die Geschichte der Frauen im Zentrum der Entwicklung des frühen Christentums wiederzugewinnen. Der Fokus liegt auf der Rückgewinnung des Erbes der Frauen, insbesondere der Geschichten der christlichen Vorfahrinnen, die in so wichtigen Rollen wie Apostel, Prophetinnen, Missionarinnen und Gründerinnen und Führerinnen von Hauskirchen in Erscheinung traten. Da die Betonung darauf liegt, die wichtigen Führungsrollen der Frauen in der frühen Kirche wiederzugewinnen, neigen Forscher und Forscherinnen dazu, sich auf Führerinnen oder weibliche Kirchenälteste zu konzentrieren, und zwar oftmals unter Vernachlässigung der Frauen aus den unteren Klassen. Wie Musa Dube hervorgehoben hat, kann die Betonung des Patriarchats und die Wiederbelebung der Geschichte der Frauen den imperialen Rahmen des frühen Christentums herunterspielen und die imperialen Vorschriften und Konstruktionen biblischer Texte einklammern. Die Hervorhebung der frühen christlichen Vorfahrinnen kann dazu führen, dass das Leben nichtchristlicher Frauen übersehen und die Machtdynamik der Missionsstrategien in der biblischen Erzählung nur flüchtig abgehandelt wird. Der zweite Ansatz untersucht Frauen in der sozialen Welt der frühen Kirche und versucht, eine feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums zu präsentieren. Während einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Anleihen bei dem Ehre-und-Schande-Modell der Kulturanthropologen gemacht haben, haben andere unterschiedliche soziologische und theoretische Rahmen eingesetzt. Anstatt sich auf die Führerinnen und Frauen der Elite zu konzentrieren, ergibt dieser Ansatz eine Fülle von Daten über das gewöhnliche Leben von Frauen in der Zeit der frühen Kirche, vom Kampf der Frauen um Brot und Geld, ihre Arbeit und Beruf, bis hin zum Leben von Sklavinnen und Witwen. Ferner wird das Familienleben von Frauen, Arbeit, Einkommen, Krankheit und Widerstand in den Kontext der römischen imperialen Gesellschaft gestellt, die von der Institution der Ehe, Rechtsnormen und ökonomischen Systemen bestimmt war.24 Was ich vermisse, ist ein nuanciertes Verständnis der Vielfalt der sozialen Welten der Frauen, wie sie von den lokalen, regionalen und verborgenen Geschichten innerhalb des Rö23 24
D’Angelo, Early Christian Sexual Politics, 30. Siehe z. B. Luise Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Darmstadt 2001.
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mischen Reiches geprägt waren. Postkoloniale Historiografie hat zunehmend ihre Aufmerksamkeit auf die Gefahr gerichtet, generalisierende Aussagen zu machen, und darauf gezielt, subalterne Geschichten wiederaufleben zu lassen.25 Ein anderes Problem besteht darin, dass zwar die Unterdrückung von Frauen hervorgehoben wird, es aber eine nur unzureichende Diskussion über Gender als einem konstituierenden Faktor gibt, der sich mit Ethnizität, Klasse und sozialem Status überschneidet und nicht nur das Patriarchat, sondern auch die imperiale Kontrolle und Autorität aufrechterhält. Das dritte Modell ist ein rhetorisches Modell, das den Text nicht als ein Fenster zur historischen Realität sieht, sondern als ein soziales und linguistisches Konstrukt, das bestimmte rhetorische Funktionen erfüllt, um Handeln und Ethos der Gemeinschaft zu formen. Rhetorische Kritik konzentriert sich auf die Überzeugungskraft des Textes, das Publikum zum Handeln zu motivieren, sowie auf seine kommunikativen Funktionen in bestimmten historischen und politischen Kontexten. Anstatt die androzentrische Sprache und Realitätskonstruktion der biblischen Texte zu akzeptieren, legt rhetorische Kritik die Kämpfe der Frauen im frühen Christentum um Mitbestimmung und Macht frei und weist auf sie hin. Ihre Lesestrategie definiert Patriarchat nicht als Männer, die Frauen dominieren, sondern als ein ineinandergreifendes System der Unterdrückung aufgrund von Rassismus, Klassismus, Kolonialismus und Sexismus. Ihr Ziel ist es, einen alternativen feministischen rhetorischen Raum zu schaffen, in dem Frauen den Männern gleichgestellt wirken können und der durch eine Logik radikaler Demokratie definiert wird.26 Feministische rhetorische Kritik des Neuen Testaments hat bisher einen Großteil ihrer Energie darauf konzentriert, die Rhetorik des patriarchalen Haushalts und die Patriarchalisierung der frühen Kirche aufzudecken. Es muss noch eine Menge mehr getan werden, um zu untersuchen, wie sich imperiale Rhetorik, Kultus, Propaganda und Ideologie auf das ineinandergreifende System der Unterdrückung ausgewirkt und wie sie die Rhetorik und Verkündigung der frühen Kirche beeinflusst haben. Wir müssen vielleicht auch fragen, wie dieser feministische rhetorische Raum ein anti-imperialer Raum sein kann, sodass in ihm auch Frauen aus der Dritten Welt und Frauen anderen Glaubens willkommen sind. Ich denke, dass diese drei unterschiedlichen Modelle feministischer neutestamentlicher Forschung von postkolonialen Einsichten darin profitieren können, wie Gender, Rasse und Sexualität in kolonialen Situationen zusammenspielen. Die Arbeiten von Ann Laura Stoler und Anne McClintock haben auf die Tatsache hingewiesen, dass die Gender-Ungleichheiten grundlegend waren für die Aufrechterhaltung der Struktur des kolonialen Rassismus und 25
26
Richard A. Horsley hat die Notwendigkeit betont, die lokalen Geschichten hervorzuheben; siehe z. B. Ders., Subverting Disciplines. The Possibilities and Limitations of Postcolonial Theory for New Testament Studies, in: Toward a New Heaven and a New Earth. Essays in Honor of Elisabeth Schüssler Fiorenza, hg. v. Fernando F. Segovia, Maryknoll 2003, 93-94. Zur Diskussion regionaler Differenzierung der römischen Familie siehe Beryl Rawson, ‚The Roman Family‘ in Recent Research. State of the Question, in: Biblical Interpretation 11 (2003), 132. Elisabeth Schüssler Fiorenza, But She Said. Feminist Practices of Biblical Interpretation, Boston 1992, 40-47, 150-151.
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der imperialen Autorität. Stolers Untersuchungen südostasiatischer Kolonien erklären, wie imperiale Autorität und rassebezogene Unterschiede auf der Basis von Gender strukturiert waren. Die Regelung der sexuellen Aktivitäten von Frauen, der Fortpflanzung und Mischehen war grundlegend, um die Unterschiede zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten aufrechtzuerhalten und imperiale Macht zu zeigen.27 Anne McClintocks Arbeit über koloniale Diskurse in Großbritannien zeigt, dass Gender benutzt wurde, um kulturelle und rassebezogene Unterschiede zu markieren sowie auch, um Klassenunterschiede abzusichern. Gender ist nicht „einfach eine Frage der Sexualität, sondern auch eine Frage kontrollierter Arbeit und imperialer Ausbeutung; Rasse ist nicht nur eine Frage der Hautfarbe, sondern auch eine Frage der Arbeitskraft, die von Gender schraffiert wird“.28 Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem frühen Christentum beschäftigen, haben solch einen vielschichtigen und interaktiven Ansatz auf die Untersuchung von Gender-Beziehungen in der komplexen Aushandlung kultureller und religiöser Identitäten innerhalb der palästinischen jüdischen Gemeinschaft und der hellenistischen jüdischen Diaspora unter dem Römischen Reich angewandt. Zum Beispiel hat Mary Rose D’Angelo scharfsinnig die Debatte über Jesu Bezugnahme auf Gott als Abba innerhalb des Kontextes der römischen imperialen Theologie erweitert. Während feministische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den vorherrschenden Gebrauch patriarchaler und elterlicher Metaphorik für Gott angeprangert haben, haben einige liberale Theologen versucht, solch eine Kritik herunterzuspielen, indem sie darauf bestanden, dass Jesus eine besondere und vertraute „Abba-Erfahrung“ hatte. Die Diskussion basiert zum größten Teil auf der einflussreichen Studie von Joachim Jeremias, der behauptet, dass das Wort „Abba“ eine enge Beziehung zu Gott zum Ausdruck brachte, was etwas Neues und im Judentum nicht zu finden war.29 Jüdische Wissenschaftler haben diese Behauptung bestritten und argumentiert, dass der Gebrauch von „Vater“ für Gott in jüdischer Frömmigkeit gefunden werden kann und dem jüdischen Publikum leicht kommunizierbar gewesen wäre. Während sich die Diskussion auf den jüdischen Kontext konzentriert hat, fügt D’Angelo eine neue Dimension hinzu, indem sie den Gebrauch von „Vater“ im römischen imperialen Kontext beschreibt. Sie weist darauf hin, dass der Titel des Vaters Julius Cäsar verliehen wurde und „ein Verständnis des Weltreiches als einer großen familia“ reflektierte, „in der der Kaiser als ein Pater familias fungierte“.30 Während der Herrschaft des Augustus wurde die Konsolidierung seines Weltreiches mit rechtlichen Maßnahmen gestützt, die darauf zielten, die patriarchale Familie zu stärken. Angesichts der Tatsache, dass Jesus durch die Hände der Römer starb, vermutet D’Angelo, dass Jesu 27 28 29 30
Ann Laura Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley 2002. nne McClintock, Imperial Leather. Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995, 5. Joachim Jeremias, Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966. Mary Rose D’Angelo, Abba and ‚Father‘. Imperial Theology and the Jesus Traditions, in: Journal of Biblical Literature 111 (1992), 623.
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Gebrauch des „Abba“ die imperiale und elterliche Autorität herausgefordert hat, da der Vater, auf den er sich bezieht, nicht der römische imperiale Vater ist, sondern der Vater, der über Himmel und Erde herrscht. Dennoch warnt sie, dass der Gebrauch von „Vater“ nicht für nicht-patriarchal gehalten werden kann, da der Name immer noch ein soziales System reflektiert, in dem privilegierte Männer Macht über Frauen, Kinder, Sklaven und andere niedriger stehende Männer hatten.31 Auch Richard Horsleys postkoloniale Interpretation des Markusevangeliums stellt die Gender-Beziehungen in die größeren ökonomischpolitischen Machtbeziehungen, die unter römischer imperialer Herrschaft wirksam waren.32 Als eine Geschichte der Kämpfe von Galiläern und Juden im Widerstand gegen die strenge römische Herrschaft beschreibt das Markusevangelium Frauen, die entscheidende und maßgebliche Rollen in der Erneuerungsbewegung spielen, und zwar in scharfem Kontrast zum mangelnden Glauben der Jünger. Interessanterweise interpretiert Horsley die blutflüssige Frau (Mk 5, 25-34) und die zwölfjährige Tochter des Gemeindevorstehers (Mk 5, 35-45) nicht als Individuen, sondern als für Israel typische Figuren, ein blutendes und unter römischer Ausbeutung praktisch sterbendes Volk. Er berücksichtigt lokale Geschichten und diskutiert, wie Magdala, die Region, aus der Maria Magdalena kam, unter starker Militärgewalt und Versklavung unter den römischen Armeen litt sowie auch unter finanzieller Not, die der Familie durch hohe Steuern auferlegt wurde. Die Eroberung Palästinas durch die Römer brachte akuten Druck und Instabilität ins dörfliche Leben und die patriarchale Familie und unterminierte die Autorität vieler Väter als Haushaltsvorstände. In diesem größeren Kontext rief Jesus das ganze Dorf auf, eine auf dem mosaischen Gebot des Bundes basierende „familiale“ Gemeinschaft zu bilden, um die unterstützenden Funktionen, die zuvor von der Familie übernommen wurden, zu leisten. Horsley meint, dass es anachronistisch wäre, zu sagen, dass Markus’ Jesus die patriarchale Ehe (Mk 10, 2-9) ablehnte und für eine egalitäre soziale Ordnung eintrat, aber Jesu Bundesverständnis der Ehe stellte diese auf eine weniger patriarchale Basis, verglichen mit den Lehren der Pharisäer.33 Jesus wollte die Familie nicht abschaffen und sein Beharren auf der Unauflösbarkeit der Ehe war nicht einfach ein Fall von Lehre über Sexualethik, sondern ein Argument für den 31 32
33
Mary Rose D’Angelo, Theology in Mark and Q. Abba and ‚Father‘ in Context, in: Harvard Theological Review 85 (1992), 174. Richard A. Horsley, Hearing the Whole Story. The Politics of Plot in Mark’s Gospel, Louisville 2001, 203-229; und eine kürzere Version in: Ders., Feminist Scholarship and Postcolonial Criticism. Subverting Imperial Discourse and Reclaiming Submerged Histories, in: Walk in the Ways of Wisdom. Essays in Honor of Elisabeth Schüssler Fiorenza, hg. v. Shelly Matthews / Cynthia Briggs Kittredge et al., Harrisburg 2003, 301-305. Für weitere Interpretationen Jesu und der patriarchalen Familie siehe Elisabeth Schüssler Fiorenza, In Memory of Her. A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1994, 140-151; (übersetzt als: Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis … . Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München 1988) und für eine gegensätzliche Sicht John H. Elliot, Jesus Was Not an Egalitarian. A Critique of an Anachronistic and Idealist Theory, in: Biblical Theology Bulletin 32. 3 (2002), 75-91.
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Schutz der Familie als der fundamentalen sozioökonomischen Einheit. Solch eine Vorkehrung garantierte die ökonomische Sicherheit von Frauen und Kindern gegen die Liberalisierung der Scheidung durch die Pharisäer, was die Konsolidierung von Landbesitz der herodischen und anderer Eliten ermöglichte. Horsley interpretiert Gender und die Geschichten von Frauen in dem größeren politischen Plot des Markusevangeliums und präsentiert die unterschiedlichen Formen der Unterdrückung als miteinander verwoben und multiplikativ. Neutestamentliche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben auch der imperialen Kultur und Ideologie in der Interpretation des Kontextes von Paulus und dem Korpus seiner Schriften mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In der Vergangenheit haben Wissenschaftler den jüdischen Hintergrund und den hellenistischen Einfluss bei Paulus polarisiert oder Paulus entweder als einen Juden oder als einen Christ zweigeteilt. Das herrschende Interesse ist es gewesen, „partikularistisches“ und „ethnozentrisches“ Judentum dem „Universalismus“ des Paulus als dem Apostel, der die nichtjüdische Christenheit begründete, gegenüberzustellen. Aber Paulus’ Identität war niemals so klar und im heutigen postkolonialen Sprachgebrauch muss seine Identität als hoch hybridisiert angesehen werden. Paulus hat sich nicht vorgestellt, einer neuen religiösen Bewegung beizutreten, sondern sah es vielmehr als eine Entwicklung israelitischer Traditionen an und musste daher seine Position gegenüber den jüdischen Führern, die an einer traditionelleren Lebensweise festhielten, klären. Als ein Griechisch sprechender Jude aus der Diaspora, der offensichtlich im Exil geboren wurde, trat Paulus einer populären Bewegung bei und zog aus zu den Nichtjuden, womit er die Entfremdung von seinen Mit-“Judäern“ riskierte.34 Paulus’ Debatten mit den anderen Aposteln über Beschneidung und das Verzehren von Götzenopfer-Speisen waren zu der Zeit von großer Wichtigkeit, weil Beschneidung und Speisen als wichtige Marker der religiösen und kulturellen Differenz dienten. Und zur selben Zeit sah Paulus, wie Antoinette Clark Wire bemerkt hat, als frei geborener und gebildeter jüdischer Mann, auch die Unabhängigkeit des Griechisch sprechenden städtischen Adels „unter römischer Herrschaft zerbrechen“.35 Paulus erfuhr einen Statusverlust als Ergebnis seines Beitritts zur Jesus-Bewegung. Dadurch beschnitt er selbst die Privilegien seines jüdischen Status als Pharisäer und die christliche Lehre des Gehorsams gegenüber Christus schränkte sein Fortkommen im Römischen Reich ein. Paulus’ politische Haltung zu Staat und Weltreich ist unter Bibelwissenschaftlern und Theologen seit Langem ein Gegenstand des Streites gewesen. Für manche war Paulus als ein römischer Bürger ein Sozialkonservativer, der den Status quo akzeptierte und seine Anhänger ermahnte, Untertanen der regierenden Obrigkeit zu sein (Röm 13, 1-7). Für andere war Paulus antiimperial und die Bewegung, an der er sich beteiligte, und die lokalen Gemeinschaften, die er aufbaute, repräsentierten eine alternative Gesellschaft im 34 35
Richard A. Horsley, Submerged Biblical Histories and Imperial Biblical Studies, in: Sugirtharajah, The Postcolonial Bible, 162-163. Antoinette Clark Wire, The Corinthian Women Prophets. A Reconstruction through Paul’s Rhetoric, Minneapolis 1990, 70.
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Gegensatz zur römischen imperialen Ordnung. Neil Elliot argumentiert, dass Paulus’ Bemerkungen zum Gehorsam aus einem bestimmten historischen Kontext heraus geäußert wurden und dass es sein Ziel war, die verletzlichsten unter den römischen Christen vor der antijüdischen Meinung in Rom zu schützen.36 Horsley wendet rhetorische Kritik an, um 1. Korinther zu untersuchen und argumentiert, dass Paulus Begriffe und Sprache der griechischrömischen Rhetorik und der römischen imperialen Ideologie benutzte, um sich der imperialen Ordnung zu widersetzen.37 Aber wenn wir die Dimension Gender hinzufügen, um Paulus’ anti-imperiale Haltung zu untersuchen, wird das Bild, das sich bietet, komplizierter, da Paulus für die Unterordnung der Frauen unter die Männer eintrat (1 Kor 11, 2-16; 14, 33b-36), (obwohl manche das Letztere als deutero-paulinisch ansehen). Manche argumentieren, dass es bei Paulus eine „Doppelmoral“ gibt, da er, obwohl er den Wandel in der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden berücksichtigte und vielleicht Widerstand gegen die römische Ordnung befürwortete, die Geschlechterrollen und sexuellen Beziehungen nicht in Frage stellte. In der Untersuchung moderner antikolonialer Bewegungen haben postkoloniale Feministen und Feministinnen auch gezeigt, dass der Kampf gegen Kolonialregime Männer nicht automatisch dazu führt, ihre patriarchalen Privilegien aufzugeben, und in vielen Fällen wollen sie männlich dominierte Normen erneut festschreiben, um ihre „Männlichkeit“ zu schützen. In ihrer Analyse der Rhetorik in 1. Korinther vertritt Cynthia Briggs Kittredge den Standpunkt, dass Paulus die Sprache des römischen PatronatsSystems benutzte, um ein Muster einer verknüpften hierarchischen Beziehung in der korinthischen Kirche zu konstruieren. Sie sagt: „Gottes Unterwerfung unter Christus ist die ultimative symbolische Legitimation der Position des Vaters zwischen den Kindern und Christus und der Position des Ehemannes zwischen seiner Ehefrau und Gott.“38 Folglich fragt sie sich, ob Paulus die Sprache der Unterordnung im Patronats-System kopiert und dadurch erneut imperiale Machtbeziehungen festgeschrieben hat. Wenn Paulus Geschlechterungleichheit wieder festgeschrieben und in seinen Briefen gepredigt hat, dass Ehefrauen sich ihren Ehemännern unterordnen sollen, so war er dabei nicht der Einzige. Mary Rose D’Angelo hat gezeigt, dass die Autoren der Apostelgeschichte des Lukas, der Pastoralbriefe (deutero-paulinisch) und des Hirten von Hermas Männlichkeit und Gender-Beziehungen im Kontext der Verbreitung imperialer Familienwerte während der Herrschaft von Trajan und Hadrian im späten ersten und frühen zweiten Jahrhundert konstruieren mussten. Um die Harmonie der römischen Ordnung aufrechtzuerhalten, wurde die anständige Führung des Haushalts als notwendig angesehen, was eine Demonstration der Unterwerfung der Frauen, Kinder 36
37 38
Neil Elliott, Romans 13:1-7 in the Context of Imperial Propaganda, in: Paul and Empire. Religion and Power in the Roman Imperial Society, hg. v. Richard A. Horsley, Harrisburg 1997, 184-204. Richard A. Horsley, Rhetoric and Empire. And 1 Corinthians, in: Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation, hg. v. Ders., Harrisburg 2000, 91. Cynthia Briggs Kittredge, Corinthian Women Prophets and Paul’s Argumentation in 1 Corinthians, in: Horsley, Paul and Politics, 107.
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und Sklaven erforderte. Wegen der Gefahr einer Verfolgung wollten diese christlichen Autoren dafür sprechen, dass Christen vorbildlichen moralischen Charakter und Familienleben zeigen sollten, um Denunziation zu vermeiden. Auf diese Weise übten römische Familienwerte ihren Einfluss auf die Formulierung einer Sexualethik in der frühen christlichen Gemeinschaft aus.39 Sheila Briggs untersucht die Rhetorik bei Paulus aus einem anderen Blickwinkel und konzentriert sich dabei auf seine Diskurse über Sklaverei und Freiheit.40 Briggs Untersuchung könnte auch die Behauptung einer antiimperialen Haltung bei Paulus verkomplizieren, da Paulus die Institution der Sklaverei nicht verdammte, die neben dem Kaiserkult, dem Paterfamilias und dem Patronats-System die imperiale Ordnung aufrechterhielt und die den gesamten materiellen und ideologischen Bereich durchzog. Von besonderer Bedeutung ist hier ihre Interpretation des Zusammenspiels von Gender, Sexualität und Sklaverei in Paulus’ Rhetorik in Galater 3-4 und 1. Korinther 6-7. Während Wissenschaftler die Taufformel in Galater 3, 28 verwendet haben, um zu argumentieren, dass Paulus eine sozial-egalitäre Vision hatte, die alle Grenzen und Unterschiede aufhebt, kontextualisiert Briggs hilfreich die Formel im dualen System des sklavenhaltenden Patriarchats zu Paulus’ Zeit und hebt die Not der Sklavinnen hervor, die in solch einer Gesellschaft leben.41 Sie bemerkt, dass Gender immer durch Sexualität konstruiert und der untergeordnete Status der Sklaven (sowohl männlicher als auch weiblicher) durch ihre sexuelle Verfügbarkeit markiert war. Sexualität wurde eingesetzt, um eine hierarchische Ordnung aufrechtzuerhalten und um den rechtlichen und sozialen Status von Personen zum Ausdruck zu bringen. Zum Beispiel wurde die höhere Stellung der freien Frau aufgrund ihrer Ehre und Keuschheit der mangelnden Ehre und sexuellen Erniedrigung der Sklavin gegenübergestellt. Aus solchem Kontext interpretierend vermeidet Briggs die übereinstimmende Interpretation, die behauptet, dass die Taufformel in paralleler Weise von drei Unterschieden zwischen Menschen spricht: Ethnizität, Klasse und Gender. Stattdessen schlägt sie vor, dass „eine Analogie zwischen den gewöhnlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Jüdischen und dem Griechischen und den konfliktreichen Beziehungen, die dem patriarchalen dualen System von Sklaverei und Gender inhärent sind, gezogen wird“42. Für Briggs versuchte die Taufformel, Ethnizität im bürgerlichen Leben und dem Haushalt als Quellen der Identität und des Konflikts durch die neue Identität in Christus zu ersetzen.
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Mary Rose D’Angelo, ‚Knowing How to Preside over His Own Household‘. Imperial Masculinity and Christian Asceticism in the Pastorals, Hermas, and Luke-Acts, in: New Testament Masculinity, hg. v. Stephen D. Moore / Janice Capel Anderson, Atlanta 2003, 265-295. Sheila Briggs, Paul on Bondage and Freedom in Imperial Roman Society, in: Horsley, Paul and Politics, 110-123. Sheila Briggs, Slavery and Gender, in: On the Cutting Edge. The Study of Women in the Biblical Worlds, hg. v. Jane Schaberg / Alice Bach et al., New York 2003, 171192. Briggs, Slavery and Gender, 182.
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Briggs stellt fest, dass Paulus in seiner Konstruktion der Geschichte von Sara und Hagar, die er benutzte, um die beiden Bünde zu symbolisieren (Gal 4, 21-31), sich nicht auf den egalitären und emanzipatorischen Sinn der Taufformel bezog. Er misst Sara an Hagar und Saras Kinder an Hagars Kindern in dem dualen System von Gender und Sklaverei. Während Christen als die wahren Nachfahren Abrahams angesehen wurden und am Bund teilhatten, konnten die in der Sklaverei geborenen Kinder Hagars nicht das Erbe von Gottes Versprechen teilen. Und in 1. Korinther findet Briggs es problematisch, dass Paulus einen ‚Diskurs des Ausweichens‘ benutzte, wenn er die soziale Institution der Sklaverei zwar ansprach, ihr aber auswich. Insbesondere verdammte er, zu Prostituierten zu gehen (1 Kor 6, 15-16), als unvereinbar mit christlichem Verhalten, aber er kritisierte nicht die sexuelle Benutzung von Sklaven, was im römischen moralischen und rechtlichen Kodex als akzeptabel angesehen wurde. Genau genommen waren die meisten Prostituierten in der Regel Sklaven, die zu dieser unehrenhaften Tätigkeit gezwungen wurden.43 Paulus nutzte Sklaverei auch als eine theologische Metapher, um die Beziehung der Christen zu Christus zu beschreiben, und behauptet, dass Christen „teuer erkauft sind“ (1 Kor 6, 20; 7, 23). Solch eine Metapher würde sich für den frei Geborenen ganz anders anhören als für den Versklavten. Was würde sie für eine Sklavin bedeuten, die doppelte Sklaverei erfahren hat? Nachdem sie alle diese Fragen zu Paulus’ Position in Bezug auf Weltreich, Frauen und Sklaverei aufgeworfen haben, bestehen diese feministischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen darauf, dass Paulus nur eine von vielen Stimmen im frühen Christentum gewesen ist. Elisabeth Schüssler Fiorenza argumentiert für eine Hermeneutik der Ekklesia, die danach strebt, „die Politik und Rhetorik der Unterordnung und des Andersseins, die der paulinischen Korrespondenz eingeschrieben [sind], durch eine Hermeneutik und Rhetorik der Gleichheit und Verantwortung zu ersetzen“44. Antoinette Clark Wire nimmt die untergegangen „Stimmen in Paulus’ Stimme“ auf und hebt die Prophetinnen in Korinth hervor.45 Sheila Briggs erinnert uns daran, Gender und Sklaverei als ein duales System zu interpretieren und die stummen Stimmen der versklavten Frau im Text in Erinnerung zu behalten. Das frühe Christentum war eine vielstimmige Bewegung von Frauen und Männern aus vielen sozialen Verortungen und eine postkoloniale Interpretation hilft uns, neue Fragen zu stellen und Verbindungen herzustellen.
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Briggs, Paul on Bondage and Freedom, 114-115. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Paul and the Politics of Interpretation, in: Horsley, Paul and Politics, 54. Wire, The Corinthian Women Prophets.
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Postkolonialismus, Feminismus und Antijudaismus Postkoloniale feministische Interpretierende der Bibel müssen den tief sitzenden antijüdischen Voreingenommenheiten im christlichen Denken und ihren Erscheinungsformen in unterschiedlichen Kontexten Aufmerksamkeit schenken. Amy-Jill Levine hat beklagt, dass in den Schriften von DritteWelt-Theologen und -Theologinnen und -Bibelwissenschaftlern und -Bibelwissenschaftlerinnen, die aus einem feministisch-befreienden Rahmen heraus arbeiten, antijüdische Interpretationen gefunden werden können.46 Um Jesus wie einen Feministen aussehen zu lassen, wurde der jüdische Kontext im ersten Jahrhundert als offensichtlich frauenfeindlich beschrieben und abgestempelt. Jüdische Feministinnen und vor allem Judith Plaskow und Susannah Heschel haben solche antijüdischen Tendenzen in der weißen christlichen feministischen Bibelinterpretation in den siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts angegriffen.47 Levine ist besorgt über das Wiederauftauchen solcher Voreingenommenheiten im globalen feministischen biblischen Diskurs in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es hat nicht viel Gespräch und Dialog zwischen feministischen Wissenschaftlerinnen aus der Dritten Welt, die aus postkolonialen Kontexten kommen, einerseits, und jüdischen Feministinnen andererseits stattgefunden. Judentum und Christentum existieren als zwei verschiedene Traditionen und operieren innerhalb sehr unterschiedlicher Kreise in der Dritten Welt. Selbst wo es eine lokale jüdische Bevölkerung gibt, gibt es nur wenige Möglichkeiten für christliche und jüdische Feministinnen, zusammenzukommen und zusammenzuarbeiten. In den meisten Fällen sind die Arbeiten jüdischer Feministinnen und anderer jüdischer Quellen über das Judentum im ersten Jahrhundert nicht leicht verfügbar und es gibt nur wenige, die eine angemessene Ausbildung haben, um mit diesen Materialien umzugehen. Außerdem hat das Bekämpfen von Antijudaismus in globalen christlichen feministischen Netzwerken und in den ökumenischen Kreisen keinen Vorrang gehabt. Und am wichtigsten, Feministinnen aus der Dritten Welt tendieren dahin, den Holocaust als die Last nur der Europäer zu sehen. Da sich ihre Länder nicht direkt an der Verfolgung der Juden beteiligt haben, haben sie nicht so unter dem Druck gestanden, Antijudaismus als ein kritisches Problem zu sehen, mit dem zu rechnen ist. Außerdem tendieren sie dazu, im andauernden Konflikt im 46
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Amy-Jill Levine, Lilies of the Field and Wandering Jews. Biblical Scholarship, Women’s Roles, and Social Location, in: Transformative Encounters. Jesus and Women Re-viewed, hg. v. Ingrid Rosa Kitzberger, Leiden 2000, 329-352. Eine Version, die sich auf Texte von Frauen aus der Dritten Welt konzentriert, findet sich in: Amy-Jill Levine, The Disease of Postcolonial New Testament Studies and the Hermeneutics of Healing, in: Journal of Feminist Studies in Religion 20/1(2004), 9199. Judith Plaskow, Blaming the Jews for the Birth of Patriarchy, in: Lilith 7 (1980), 1112, 14-17; und Dies., Anti-Judaism in Feminist Christian Interpretation, in: Searching the Scriptures, Bd. 1, A Feminist Introduction, hg. v. Elisabeth Schüssler Fiorenza, New York 1993, 117-129; Susannah Heschel, Anti-Judaism in Christian Feminist Theology, in: Tikkun 5/3 (1990), 25-28, 95-97.
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Mittleren Osten solidarisch mit den Palästinensern zu sein, die von ihrem Land vertrieben werden und unter der Militärmacht des Staates Israel leiden, der von der Regierung der Vereinigten Staaten unterstützt wird. Aber Feministinnen aus der Dritten Welt und jüdische Feministinnen haben eine Menge voneinander zu lernen, um auf einer tieferen Ebene zu verstehen, wie Antisemitismus sich mit kolonialem Diskurs kreuzt, insbesondere während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – wie z. B. die Juden von christlichen Kolonisten als die internen anderen behandelt wurden, die verfolgt und unterdrückt wurden, während die Kolonisierten die anderen von draußen waren, die versklavt und erobert wurden. Als das Christentum aus dem Westen in andere Teile der Welt gebracht wurde, war es fast vollständig von seinem jüdischen Kontext gesäubert worden, sodass die von Jesus initiierte universelle Tradition als eine neue Religion angesehen wurde, die die alte jüdische Tradition abgelöst hat. Eine postkoloniale Analyse wird DritteWelt-Wissenschaftlern und -Wissenschaftlerinnen helfen, deutlicher zu sehen, wie solch eine Mystifizierung der christlichen Ursprünge sowohl Antisemitismus als auch christlichen Imperialismus stützt. Wenn wir die JesusBewegung nicht als eine Innovation von Jesus, sondern als Reform oder emanzipatorische Bewegung innerhalb des Judentums sehen würden, könnten christliche Feministinnen aus der Dritten Welt mit jüdischen Feministinnen einen Dialog darüber führen, wie die emanzipatorische Natur dieser Bewegung zu beurteilen ist.48 Es ist daher wichtig, darauf zu achten, was Levine als problematisch und antijüdisch in der biblischen Interpretation von Frauen aus der Dritten Welt identifiziert. Erstens gibt es oftmals eine pauschale und monolithische Darstellung der jüdischen Tradition als patriarchal. Jüdische Frauen wurden als marginalisiert und von der religiösen Führung und öffentlichen Rollen ausgeschlossen dargestellt, eine Sicht, die schon seit Langem von feministischen Historikern und Historikerinnen angegriffen worden ist, die diese Zeitperiode untersucht haben. Zweitens wird Jesus vor diesem negativen Gegenstück des Judentums so gesehen, als wäre er entweder nicht von seinem jüdischen Kontext beeinflusst oder würde diesen ablehnen, als ein gegenkultureller Radikaler, der sich mit Frauen anfreundete, sie heilte und ihnen predigte. Drittens wird die Forderung der jüdischen Gesetze nach ritueller Reinheit und Reinlichkeit hervorgehoben, die als voreingenommen gegenüber Frauen und Nichtjuden betrachtet wird. Gegen solche Tabus in Bezug auf Verunreinigung und Unreinheit wird Jesus so dargestellt, als überwinde er die Grenzen zwischen dem Reinen und dem Unreinen und zwischen Juden und Nichtjuden. Viertens wurde die Unterdrückung und Machtlosigkeit von Frauen in ihrer modernen sozialen Verortung auf die jüdische Antike projiziert, als ob transkulturelle und transhistorische Vergleiche gezogen werden könnten. 48
Elisabeth Schüssler Fiorenza hat die Jesus-Bewegung früher als „Erneuerungs- oder Reformbewegung“ charakterisiert, dies aber in eine „emanzipatorische“ oder „basileia“-Bewegung geändert, um anzuzeigen, dass der Bezugspunkt solcher Emanzipation nicht das Judentum, sondern die römische imperiale Herrschaft war. Siehe: Of Specks, Beams, and Methods. Anti-Judaism and Antifeminism, in: Dies., Jesus and the Politics of Interpretation, New York 2000, 119.
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Fünftens tendieren Frauen aus der Dritten Welt, die außerhalb der Gilden der Bibelwissenschaft stehen und keinen Zugang zur Bibelwissenschaft haben, nicht dazu, antijüdische Interpretationen zu reproduzieren.49 Wenn wir diese Anklagepunkte untersuchen, können wir sehen, dass einige von ihnen eine große Ähnlichkeit zu dem aufweisen, was Missionare die „eingeborenen“ Christen gelehrt haben. Levine stellt auch scharfsinnig fest, dass „viel von dem Anti-Judaismus, der in dieser Arbeit genannt wird, folglich ein weiteres koloniales Produkt des globalen Symbolkapitals zu sein scheint, das zusammen mit getrocknetem Tabak und DDT exportiert worden ist“50. Die Behauptung, Jesus wäre ein Frauenbefreier gewesen, der mit der jüdischen Tradition gebrochen habe, wurde in der Dritten Welt nicht zuerst durch westliche akademische Wissenschaft, sondern von Missionaren eingeführt, die einheimische Frauen zum Christentum bekehren wollten. Zum Beispiel führten Missionare an, dass Jesus sich mit Frauen angefreundet hat, dass er sie tiefe spirituelle Wahrheiten lehrte, dass er die Frau, die unter Blutfluss litt, rettete und Sympathie für die in Sünde verfangene Frau empfand und er nach seiner Auferstehung den Frauen erschien.51 Die Unterordnung von Frauen in den einheimischen Traditionen wurde als symptomatisch für die Unterlegenheit ihrer Kulturen betrachtet. Viele einheimische Frauen, die ihre Tradition verlassen, um Christinnen zu werden, glauben, dass Jesus Frauen nicht diskriminiert und dass das Christentum Frauen eine bessere Chance für ihr Leben bietet. Wegen dieser langen Tradition, Jesus als ikonoklastischen Helden im missionarischen Diskurs, aber auch im Diskurs einheimischer christlicher Frauen zu feiern, bin ich nicht davon überzeugt, dass nur westlich gebildete Dritte-Welt-Feministinnen antijüdische Bemerkungen machen und dass gewöhnliche Leser, die nicht theologisch gebildet sind, dies nicht tun. Da gewöhnliche Leser dazu tendieren, die Bibel wörtlicher zu lesen, ist es schwer zu glauben, dass antijüdische Aussagen, die im Text selbst, besonders in den Passionsgeschichten, zu finden sind, sie nicht beeinflussen würden. Was sind also die Gründe für antijüdische Interpretationen in den feministischen Arbeiten aus der Dritten Welt, die Levine als problematisch identifiziert? Ich stimme mit ihr überein, dass es möglich ist, dass feministische Theologen und Theologinnen aus der Dritten Welt vielleicht einfach die koloniale Position wieder festschreiben und die Ablehnung der Juden durch die Kolonisierenden internalisieren. Oder sie mögen die Art von Argument wiederholt haben, „Jesus war ein Feminist“, das in westlicher christlicher feministischer Interpretation in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu finden ist. Aber den Kolonisten, Missionaren und frühen Feministinnen die Schuld zu geben, kann dazu führen, dass wir eine tiefere kulturelle Politik, die hier am Werk ist, übersehen. Anders als im Westen hegen die Kulturen in der Dritten Welt keine langjährige Animosität gegenüber den Juden. Wenige Dritte-Welt-Feministinnen haben genügend anhaltenden Kontakt mit dem jüdischen Volk gehabt oder im Dialog mit jüdischen Feministinnen gestanden, um zu wissen, was sie von der jüdischen Tradition zu 49 50 51
Levine, Lilies of the Field, 331-350. Levine, Lilies of the Field, 348-349. Kwok Pui-lan, Chinese Women and Christianity. 1860-1927, Atlanta 1992, 47-51.
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halten haben. Levine schlägt vor, dass die Reproduktion des antijüdischen Diskurses durch Feministinnen aus der Dritten Welt als eine koloniale Mimikry und eine Wiederholung dessen interpretiert werden kann, was sie von ihren westlichen Lehrern gelernt haben. Ich möchte die ambivalente Natur der Mimikry hervorheben, die Homi Bhabha beschrieben hat als „fast das Gleiche, aber nicht ganz“. Bhabha betont die Unbestimmtheit und doppelte Artikulation der Mimikry: Auf der einen Seite kann sie koloniale Autorität (versuchen, weiß zu sein) wieder festschreiben, auf der anderen Seite kann sie eine komplexe Strategie sein, um die von „normalisiertem“ Wissen („aber nicht ganz“) konstruierte Identität und Differenz in Frage zu stellen und um sich den herrschenden Diskurs anzueignen, ihn zu zerbrechen und gegen Widerstand auszutauschen.52 Während Levine Mimikry als eine Wiederholung und Wiedereinschreibung des westlichen christlichen antijüdischen Diskurses (versuchen, weiß zu sein) sieht, möchte ich untersuchen, in welchen Weisen feministische Schriften aus der Dritten Welt sich von denen ihrer Kolonialherren und -herrinnen unterscheiden („fast das Gleiche, aber nicht weiß“)53. Ich schlage vor, dass die Kritik am Patriarchat in der jüdischen Kultur als ein rhetorisches Mittel gedient haben kann, nicht nur, um Jesus gut aussehen zu lassen, sondern auch, um das Patriarchat in ihren eigenen Kulturen scharf hervortreten zu lassen. Da Jesus seine eigene Kultur kritisierte (einige ihrer Aspekte, aber nicht alle), finden diese Frauen Unterstützung und Ermutigung, ihre eigene Kultur in Frage zu stellen. Wie Elsa Tamez bemerkt hat: Die manchmal scharfe Kritik, die Jesus seiner eigenen jüdischen Kultur gegenüber übt, spiegelt keine antijüdische Haltung wider. Wie wir wissen, ist Jesus ein Jude und schließt sich daher selbst in die Kritik am Patriarchat des Judentums und der römischen Kultur ein, die sich in repressiven Praktiken geäußert haben. Wichtig ist, dass sich Frauen heute in derselben Weise an einer konstruktiven Kritik ihrer religiösen und sozialen Kultur beteiligen.54
Aus einer Befreiungsperspektive wird Jesus so gesehen, als würde er nicht nur das Patriarchat, sondern auch Imperialismus, Kolonialismus und Militarismus angreifen. Daher haben sich diese Dritte-Welt-Feministinnen vielleicht nicht an einer einfachen Form kolonialer Mimikry beteiligt, sondern sie könnten versucht haben, den herrschenden kolonialen Diskurs umzuarbeiten, um eine Sprache des Widerstandes zu schaffen, die das Patriarchat in einheimischen Kulturen, aber gleichzeitig auch den Imperialismus angreift. Dennoch müssen wir die Ethik einer Darstellung des Judentums als offensichtlich sexistisch in Frage stellen, die als negatives Gegenbild dazu dient, das Patriarchat in einheimischen Kulturen zu kritisieren. Um auf Levines Aufruf zu hören, müssen wir vermeiden, verallgemeinernde und monolithische Beschreibungen der jüdischen Tradition oder indigener Kulturen zu benutzen. Eine bedeutende postkoloniale Einsicht lautet, dass das, was sogenannte nationale Kultur ist, immer konstruiert, in Frage gestellt, durch De52 53 54
Homi K. Bhabha, Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses, in: Ders., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2001, 125-136. Bhabha, Von Mimikry und Menschen, 89. Elsa Tamez, Jesus and Courageous Women, New York 2001, viii.
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batte, Verhandlung und manchmal Konfrontation geschmiedet wird. Dies wird von uns verlangen, die unterschiedlichen Gruppen und Fraktionen im Judentum des ersten Jahrhunderts besser kennenzulernen: ihre täglichen Praktiken, lokalen Geschichten und religiösen und politischen Ideologien. Anstatt die patriarchalen Praktiken der Juden herauszugreifen, müssen wir diese in die größeren Zusammenhänge der römischen imperialen Herrschaft stellen. Levine hat bemerkt, dass Feministinnen aus der Dritten Welt „die Juden“ transhistorisch und transkulturell mit ihren Unterdrückern assoziiert haben, aber selten mit „den Römern“. Ein einleuchtender Grund hierfür ist, dass in der kolonialen Umgebung die Unterdrückung durch die Kolonialisten oft nicht genau und unmittelbar gefühlt wird, da die Kolonialisten als Mitglieder der oberen Klasse sich nicht oft unter das Volk gemischt haben. Es ist die disziplinarische Macht der als Kolonialagenten und Komplizen eingesetzten indigenen Eliten, die am schärfsten gefühlt wird. Zum jetzigen Zeitpunkt kann postkoloniale Kritik ein Korrektiv gegen ein einseitiges Beschuldigen „der Juden“ liefern, da postkoloniale Bibelwissenschaft sich auf die Auswirkung des Weltreiches, antik und modern, und auf seine Repräsentationen im Text konzentriert. Zum Beispiel kann postkoloniale feministische Bibelforschung untersuchen, wie die römische imperiale Herrschaft die jüdischen Kulturen und Bräuche geprägt und verändert hatte, insbesondere im Blick auf Gender-Beziehungen und die Rollen der Frauen in ihrer Glaubensgemeinschaft. Und, wenn die Konflikte zwischen Jesus und den Pharisäern und den jüdischen Führern nicht christlich-jüdische Konflikte, sondern innerjüdische Auseinandersetzungen waren, wäre es ertragreich, die politischen Implikationen solcher Konflikte im Schatten des Weltreichs zu untersuchen. Eine postkoloniale Interpretation wird die Rollen hervorheben, die diese religiösen Führer dabei gespielt haben, die traditionelle jüdische Lebensweise aufrechtzuerhalten, während sie auch als Mittler zwischen dem jüdischen Volk und der römischen Ordnung dienten.55 Außerdem muss die Jesus-Bewegung als eine Bewegung innerhalb des Kontexts des Judentums erkannt werden, und postkoloniale Feministen und Feministinnen sind daran interessiert, zu erfahren, ob diese Bewegung jüdischen Frauen Möglichkeiten bot, nicht nur das Patriarchat, sondern auch die imperiale Herrschaft in Frage zu stellen. Levine legt die Last, antijüdische Interpretation wahrzunehmen und zu korrigieren, auf die Schultern derjenigen, die theologisch ausgebildet sind, und bemerkt, dass die Hauptströmung der neutestamentlichen Wissenschaft solche Interpretationen aufrechterhalten und sogar gefördert hat. In der Dritten Welt ist dieses Problem besonders akut, da manche der theologischen Ausbildungsstätten immer noch westliche „Standard“-Wörterbücher und Kommentare benutzen, die vor einer Generation veröffentlicht wurden. Einige dieser Texte enthalten nicht nur antijüdische Äußerungen, sondern präsentieren auch ein überholtes und schiefes Bild der christlichen Ursprünge. Zum Beispiel hat Susannah Heschel bemerkt, dass Rudolf Bultmanns sehr negative Beschreibungen des jüdischen Legalismus die neutestamentliche Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflusst hat, insbesondere in der 55
Horsley, Paul and Empire, 207-208.
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neuen Suche nach dem historischen Jesus.56 Bevor die Bibliotheken in der Dritten Welt auf den neuesten Stand gebracht sind, müssen wir beim Gebrauch dieser Quellen Vorsicht und Umsicht walten lassen und eine gesunde Dosis Misstrauen bewahren, wann immer jüdische Kultur in einem negativen Licht dargestellt wird. Ich unterstütze viele von Levines Strategien, um Menschen für die antijüdischen Voreingenommenheiten in der Bibelforschung und Theologie zu sensibilisieren: mehr über die jüdische Geschichte lernen, vermeiden, generalisierte negative Aussagen über das Judentum zu machen, die Einbeziehung jüdischer Stimmen in Anthologien, die Aktualisierung der Bibliotheken (insbesondere in der Dritten Welt) mit jüdischen Quellen und die Probleme beim Namen nennen, wenn wir sie erkennen. Im Zusammenhang mit dem Prozess stehen pädagogische Fragen bezüglich der Weitergabe des Materials der aus der Dritten Welt stammenden feministischen Texte. Levine ist besorgt, dass das Lehren dieser multikulturellen Stimmen mit antijüdischen Inhalten die nächste Generation von Studierenden infizieren wird und dass die Infektion globale Auswirkungen haben würde. Ich denke, dass diese Dritte-Welt-Texte mit einem Verständnis der Geschichte und Kulturen ihrer Kontexte und den rhetorischen Strategien, die sie verwenden, gelehrt werden müssen. Zu einer Zeit, in der der amerikanische Imperialismus im Ansteigen begriffen ist, müssen diejenigen von uns, die in den Vereinigten Staaten lehren, darauf bestehen, Stimmen von außerhalb der Vereinigten Staaten einzubeziehen, um die „sanktionierte Ignoranz“, die von dem herrschenden weißen Bildungssystem, den Massenmedien und dem Staatsapparat aufrechterhalten werden, in Frage zu stellen. Eine Round-Table-Diskussion von Levines Arbeit von einigen der Autorinnen, die sie kritisiert, kann genutzt werden, um Studierenden zu helfen, die komplexen und vielschichtigen Dimensionen der Probleme zu verstehen und zu illustrieren, dass diese Feministinnen keine Angst haben, einen Dialog über schwierige Fragen über alle Differenzen hinweg zu führen.57 Ich begrüße Levines Einladung an Feministinnen, die biblischen Texte gemeinsam zu lesen, sodass wir unseren Vorurteilen begegnen und uns bewusst werden können, wie unsere soziale Verortung unsere Lesepraxis beeinflusst.58 Gemeinsam mit denen zu lesen, die nicht unsere ständigen Dialogpartner gewesen sind, hat den zusätzlichen Vorteil, unsere Verortung innerhalb einer sich wandelnden Konfiguration von sozialen Beziehungen zu verschieben. Zum Beispiel ist Levine als Nordamerikanerin besorgt, dass ihre Kritik an den Arbeiten einer asiatischen, afrikanischen, australischen oder lateinamerikanischen Frau als „herablassender Rassismus“ aufgefasst werden könnte.59 Aber außerhalb der Vereinigten Staaten, wo die Probleme des Ras56
57 58 59
Susannah Heschel, The Image of Judaism in Nineteenth-Century Christian New Testament Scholarship in Germany, in: Jewish – Christian Encounters over the Centuries. Symbiosis, Prejudice, Holocaust, Dialogue, hg. v. Marvin Perry / Frederick M. Schweitzer, New York 1994, 234. Anti-Judaism and Postcolonial Biblical Interpretation, in: Journal of Feminist Studies in Religion 20/1 (2004), 91-132. Levine, Lilies of the Field, 350. Levine, Lilies of the Field, 350.
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sismus und Antisemitismus anders verstanden werden, können ihre Gesprächspartnerinnen ihr auf andere Arten als ihr amerikanisches Publikum antworten. Ähnlich werden ihre asiatischen, afrikanischen, australischen und lateinamerikanischen Kolleginnen die Möglichkeit haben, ihre hybridisierte christliche Identität neu zu definieren, wenn sie jüdischen Feministinnen in der Diaspora begegnen. Feministische Interpretation der Bibel hat einen langen Weg zurückgelegt seit dem Tag, an dem die chinesische Frau paulinische Bibelstellen aus ihrer Bibel herausschnitt, die sie für frauenfeindlich hielt. Sie ist zu einer globalen Bewegung geworden, da Frauen mit unterschiedlichen Geschichten und Kulturen patriarchale Interpretationen in Frage stellen und ihren Glauben und ihr Verständnis von Gott zum Ausdruck bringen. Wenn die Bibel der „große Code“ gewesen ist, der die westliche Zivilisation untermauert, wie Northrop Frye dies gesagt hat,60 dann beanspruchen Frauen überall auf der Welt die Macht und Autorität, dieses wichtige Dokument neu zu erzählen, zu überarbeiten und zu reinterpretieren. Insbesondere haben sie auf den Schnittpunkt zwischen Antisemitismus, globalem Rassismus und Sexismus in der kolonialistischen Vorstellung hingewiesen. Frauen können davon profitieren, in Gemeinschaft mit anderen zu lesen, um unsere eigenen Voreingenommenheiten und Investitionen in eine bestimmte interpretative Methode in Frage zu stellen. Wir stehen vor der Herausforderung, die postkolonialen „Kontaktzonen“ in Orte gegenseitigen Lernens zu verwandeln und in Orte, an denen neue Ideen und Strategien für die Emanzipation aller ausprobiert werden können. Erstveröffentlichung als: Kwok Pui Lan, Making the Connections. Postcolonial Studies and Feminist Biblical Interpretation, in: Kwok Pui Lan, Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005, 187-208.
60
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Register
Achebe, Chinua 124 Advani, Rukun 144 Ahmad, Aijaz 223 Allen, Roland 133 Althaus-Reid, Marcella 66, 300, 313, 314, 319, 320, 321 Amadiume, Ifi 95, 100, 103, 104, 105, 107, 108 Amado, Jorge 184 Amore, Roy C. 139 Anzaldúa, Gloria 195 Appasamy, Aiyadurai Jesudasen 126 Ashoka 139 Auerbach, Erich 176, 177, 178, 180 Bachtin, Michail 174 Barth, Karl 63, 126 Bauman, Zygmunt 154, 155, 255, 256, 258, 263, 274 Bediako, Kwame 225 Behdad, Ali 143 Bengel, Johann Albrecht 133 Beverley, John 276, 280, 286, 289, 290, 291, 299 Bhabha, Homi 30, 31, 32, 42, 43, 44, 124, 125, 149, 151, 156, 157, 164, 173, 174, 175, 176, 182, 183, 187, 190, 191, 192, 193, 195, 199, 202, 218, 258, 260, 263, 264, 267, 275, 301, 303, 304, 305, 309, 310, 317, 343 Boff, Clodovis 59, 61 Boff, Leonardo 63, 270 Bolivar, Simón 184 Bonhoeffer, Dietrich 248, 249 Bordo, Susan 281 Borges, Jorge Luis 151, 152, 185 Bosch, David 128 Boyarin, Daniel 82, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 90 Briggs Kittredge, Cynthia 337 Briggs, Sheila 308, 338, 339 Bruns, Edgar 141 Bujo, Bénézet 243 Bultmann, Rudolf 126, 344 Cabral, Amilcar
124
Caird, G. B. 138 Caldera, Alejandro Serrano 181 Calvin, Johannes 130 Canclini, Néstor García 173, 174 Cárdenas Pallares, José 67 Carey, William 127, 128, 129, 130, 131, 134, 137 Carpentier, Alejo 181, 184 Carter, Warren 305 Casaldáliga, lvon Pedro 171 Castells, Manuel 280 Césaires, Aimé 15, 25, 124 Chakrabarty, Dipesh 17, 33 Chikane, Frank 234 Clark Wire, Antoinette 336, 339 Cobb, John 270 Cockcroft, James 287 Coetzee, John Maxwell 14 Connor, Walker 75 Cotton, John 188 Crosby, Alfred 77 Cutrufelli, Maria Rosa 95, 96 Daly, Mary 98 D’Angelo, Mary Rose 331, 334, 337 de Andrade, Mário 184, 185 de Andrade, Oswald 182 de la Parra, Teresa 181 de Lubac, Henri 139 de Moraes, Vinicius 171 de Nebrija, António 182 de Rivero, Oswaldo 228 Deleuze, Gilles 147, 197 Derrida, Jacques 253, 267, 283, 295, 298, 316 Dershowitz, Alan 115 Dharmaraj, Jacob S. 137 Donaldson, Laura 66, 328 Douglas, Mary 39, 165 Dube, Musa W. 323, 328, 329, 332 DuBois, Paige 312 Ekpo, Denis 142 Èla, Jean-Marc 235 Elliot, Neil 126, 337 Emerson, Ralph Waldo 43 Engels, Friedrich 19, 20
Register
354 England, John 136, 137 Fanon, Frantz 16, 17, 25, 27, 42, 43, 99, 124 Farmer, Paul 285, 289 Field, David N. 45 Forster, B. J. 240 Foster, Hal 279 Foucault, Michel 29, 32, 114, 167, 170, 214, 260, 283 Franz von Assisi 261 Freud, Sigmund 19 Frye, Northrop 346 Gandhi, M. K. 43, 224 García Márquez, Gabriel 181, 184 Gebara, Ivone 270, 274 Geertz, Clifford 296 Gill, Sam 196, 197, 198 Gilliam, Angela 93 Girault, Arthur 221 Goethe, Johann Wolfgang von 180 Gramsci, Antonio 20, 21, 22, 31, 169 Grau, Marion 45 Gregor von Nyssa 300, 301, 308, 309, 310, 314, 317, 318, 321 Guattari, Félix 147, 197 Guha, Ranajit 278, 290 Guimaraes Rosa, Joao 184 Gutiérrez, Gustavo 52, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 276, 294 Gutmann, Bruno 222 Habermas, Jürgen 175 Hall, Douglas John 246 Hall, Stuart 20, 24, 26, 27, 40, 41, 120 Hardt, Michael 25, 36, 149, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 161, 163, 195, 251, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 280 Harvey, David 255 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 166 Heidegger, Martin 191 Hepp, Andreas 22, 23 Herzog, Frederick 246 Heschel, Susannah 340, 344 Hobsbawm, Eric 167 Hopenhayn, Martin 282, 283 Horsley, Richard 49, 200, 335, 336, 337 Hyde, Lewis 315
Iersel, Bas van 126 Itumeleng, Mosala 51 James, Cyril Lionel Robert 124 Jameson, Frederic 158 Jenkins, Philip 12 Jeremias, Joachim 54, 55, 334 Johnson, David E. 201 Johnson, Joseph 137 Kalu, Anthonia C. 95, 100, 107, 108, 109 Kant, Immanuel 170, 268 Kelber, Werner 199 Keller, Catherine 45, 199 Kermani, Navid 12 Kinukawa, Hisako 126 Koutzii, Flávio 179 Kreider, Alan 128, 129 Kristeva, Juliia 213 Kuhn, Thomas 167 Kundera, Milan 181 Lacan, Jacques 175, 308 Lee, Archie 325 Levine, Amy-Jill 340, 341, 342, 343, 344, 345 Loomba, Ania 14, 95, 98, 99, 100, 108, 109 López, Eleazar 62 Lukács, Georg 180, 181 Luther, Martin 312, 319 Lyon, David 228 Lyotard, Jean-François 158, 319, 320 Macaulay, Thomas Babington 43 Mann, Thomas 275 Marx, Karl 19, 20, 31, 63, 168, 260, 268 McClintock, Anne 333, 334 McDaniel, Jay 270 McFague, Sallie 270 McLuhan, Marshall 169 Mehrez, Samia 126 Memmi, Albert 124 Mgadla, Patrick 107 Michaelsen, Scott 201 Mignolo, Walter 157, 164 Miguez-Bonino, José 54 Milbank, John 254, 261, 262, 263, 264, 265, 266 Mohanty, Chandra Talpade 95, 96, 98, 99, 100, 211
Register
355
Moltmann, Jürgen 242 Moulton, Harold 132 Mufti, Aamir 194 Mukherjee, Arun 144 Nausner, Michael 45 Negri, Antonio 25, 36, 149, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 161, 163, 195, 251, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 280 Nelson, Diane 291 Niebuhr, Richard 272 Nobili, Roberto de 127 Nock, Arthur Darby 129 Nyabongo, Akiki 47 O`Hanlon, Rosalind 32 O’Gorman, Edmundo 167 Origenes 318 Osborne, Robert 140 Paine, Tom 137 Pamuk, Orhan 150 Paulus 57, 58, 59, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 123, 127, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 139, 173, 178, 239, 240, 272, 307, 312, 323, 336, 337, 338, 339 Paz, Octavio 175 Petersen, Robin 248 Philip, T. V. 136 Pieris, Aloysius 63, 67, 208 Pile, Steve 42 Plaskow, Judith 340 Platon 265 Prakash, Gyan 260 Pratt, Mary Louise 42 Probst Solomon, Barbara 181 Przywara, Erich 312, 313 Pui-Lan, Kwok 45, 50, 200 Quinby, Lee
189, 194
Radford Ruether, Rosemary 212, 213, 214, 215, 270 Raj, Jaswant 127 Rawls, John 175 Richard, Pablo 61, 62, 63, 64 Ridge, Tom 188, 199 Rieger, Joerg 224 Ringe, Sharon 330 Rivera Rivera, Mayra 45 Rolens, Victor 101
Rousseau, Jean-Jacques 186 Rumsfeld, Donald 255 Sábato, Ernesto 185 Safran, William 74, 75 SAID 37 Said, Edward 27, 28, 29, 30, 31, 32, 36, 42, 119, 120, 124, 125, 126, 143, 167, 177, 180, 205, 215, 260, 263 Sandoval, Chela 152, 157, 158, 160, 161, 162, 164 Satchidanandan, Koyamparambath 142 Sawicki, Marianne 200 Scheper-Hughes, Nancy 282, 283, 285, 296 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 339 Schwager, Raymund 318 Schwartz, Christian Friedrich 128 Segovia, Fernando F. 45, 324 Shakespeare, William 182 Shohat, Ella 194 Soja, Edward 164 Song, Choan-Seng 208 Spivak, Gayatri Chakravorty 30, 31, 32, 38, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 108, 109, 120, 124, 125, 150, 151, 156, 159, 168, 170, 207, 213, 217, 223, 254, 263, 267, 269, 270, 271, 272, 276, 277, 278, 287, 288, 289, 290, 291, 295, 298 Stanford Friedman, Susan 194, 198, 199 Stewart, Jon 266 Stoler, Ann Laura 333, 334 Sugirtharajah, R.S. 12, 45, 46, 50, 145, 149, 150, 152, 171, 200, 222, 223, 326 Tagore, Rabindranath 223 Tamez, Elsa 52, 57, 58, 59, 60, 126, 343 Tanner, Kathryn 191, 195, 202 Taylor, Mark C. 279 Taylor, Mark Lewis 45 Thiong’o, Ngũgĩ wa 124 Thoreau, Henry David 43 Thrift, Nigel 42 Thundy, Zacharias 141 Tillich, Paul 38, 191, 195, 196 Tolbert, Mary Ann 330 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 43
Register
356 Townsend, John Trinh, Minh-Ha Trivedi, Harish Tutu, Desmond Tweed, Thomas
132, 133 216, 275 123 240, 241 190, 198
Walker, Thomas 132 Walls, Andrew 78, 79 Ward, Graham 201 Ward, William 134 Westhelle, Vítor 38, 45 Wilfred, Felix 224 Winter, Carsten 22, 23
Wollstonecraft, Mary 137 Woolf, Virginia 176 Xavier, Francis
134
Yeats, William Butler 173 Yee, Gale 327, 328, 331 Young, Robert J. C. 10, 18, 263 Zalamea, Jorge 186 Zimmerman, Marc 280
Autorenverzeichnis
R. S. Sugirtharajah ist Professor of Biblical Hermeneutics am Department of Theology and Religion der University of Birmingham. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Hg., Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll 1991. – Hg., Still at the Margins. Biblical Scholarship fifteen years after the Voices from the Margins, London 2008. – The Bible and Empire. Postcolonial Explorations, Cambridge, 2005. Fernando F. Segovia ist Oberlin Graduate Professor of New Testament and Early Christianity an der Vanderbilt University, Nashville, Tennessee. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Decolonizing Biblical Studies. A View from the Margins, Maryknoll 2000. – Interpreting Beyond Borders, Sheffield 2000. – Hg. mit R.S. Sugirtharaja, A postcolonial commentary on the New Testament writings, London 2009. Musa W. Dube ist Associate Professor of Religious Studies an der University of Botswana. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Postcolonial feminist interpretation of the Bible, St. Louis 2000. – Hg. mit Rachel Angogo Kanyoro, Grant me justice! HIV/AIDS & gender readings of the Bible, Pietermaritzburg, South Africa / Maryknoll 2004. – The HIV & AIDS Bible. Selected Essays, Chicago 2008. Kwok Pui Lan ist Professor of Christian Theology and Spirituality an der Episcopal Divinity School in Cambridge, Massachusetts. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Discovering the Bible in the Non-Biblical World, Maryknoll 1995, übersetzt als: Interpretation als Dialog. Eine Biblische Hermeneutik aus Asien, Luzern 1996. – Introducing Asian Feminist Theology, Sheffield 2000. – Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005. Mayra Rivera Rivera ist Assistant Professor of Theology and Latina/o Studies an der Harvard Divinity School in Cambridge, Massachusetts. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – The Touch of Transcendence. A Postcolonial Theology of God, Louisville 2007. – Hg. mit Stephen Moore, Planetary Loves. Spivak, Postcoloniality, and Theology, New York 2010.
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Autorenverzeichnis
Vítor Westhelle ist Professor of Systematic Theology an der Lutheran School of Theology in Chicago. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – The Scandalous God. The Use and Abuse of the Cross, Minneapolis 2006. – After Heresy. Colonial Theologies and Post-Colonial Practices, Eugene 2010. Michael Nausner ist Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Hg. mit Catherine Keller / Mayra Rivera Rivera, Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, St. Louis, 2004. – Kirchliches Leben in methodistischer Tradition. Perspektiven aus drei Kontinenten, Göttingen 2010. Namsoon Kang ist Professor of World Christianity and Religions an der Brite Divinity School in Fort Worth, Texas. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Feminist Theology. Gender, Life, Spirituality, Seoul 2002. – A Comparative Study of Life Thought in the Third World Theologies, Seoul 2002. – Way of Faith/ Way of Awakening, Seoul 2003. David N. Field ist Koordinator der Methodist e-Academy in Winterthur, Schweiz. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Mit Ernst Conradie, A Rainbow over the Land. A South African Guide on the Church and Environmental Justice, Cape Town 2000. Catherine Keller ist Professor of Constructive Theology an der Theological and Graduate Schools of Drew University in Madison, New Jersey. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – From a Broken Web. Separation, Sexism and Self, Boston 1986. übersetzt als: Der Ich-Wahn. Abkehr von einem lebensfeindlichen Ideal. übers. v. Erika Wisselinck, Zürich 1989. Neu aufgelegt als: Penelope verläßt Odysseus. Auf dem Weg zu neuen Selbsterfahrungen, Gütersloh 1993. – Apocalypse Now and Then. A Feminist Guide to the End of the World, Boston 1996. – On the Mystery. Discerning Divinity in Process, Minneapolis 2008. Mark Lewis Taylor ist Maxwell M. Upson Professor of Theology and Culture am Princeton Theological Seminary. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – The Executed God. The Way of the Cross in Lockdown America, Minneapolis 2001.
Autorenverzeichnis
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– Religion, Politics, and the Christian Right. Post-9/11 Politics and American Empire, Minneapolis 2005. – The Theological and the Political. On the Weight of the World, Minneapolis 2011. Marion Grau ist Associate Professor of Theology an der Church Divinity School of the Pacific der Graduate Theological Union in Berkeley, California. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: – Of Divine Economy. Refinancing Redemption, New York u.a. 2004. – Hg. mit Rosemary Radford Ruether, Interpreting Postmodernity. Responses to Radical Orthodoxy, New York u.a. 2006. – Rethinking Mission in the Postcolony. Salvation, Society, and Subversion, New York u.a. 2011.